Salafismus in Deutschland: Jugendkulturelle Aspekte, pädagogische Perspektiven [2. Aufl.] 978-3-658-25836-8;978-3-658-25837-5

Der Band untersucht den Salafismus als Phänomen einer spezifischen Jugendkultur - die nicht nur auf Jugendliche mit Migr

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Salafismus in Deutschland: Jugendkulturelle Aspekte, pädagogische Perspektiven [2. Aufl.]
 978-3-658-25836-8;978-3-658-25837-5

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-X
Front Matter ....Pages 1-1
Historisch-theologische Hintergründe des Salafismus (Thorsten Gerald Schneiders)....Pages 3-25
Front Matter ....Pages 27-27
Grundlagen juveniler Vergemeinschaftung (Uli Kowol)....Pages 29-46
Warum Salafismus den jugendkulturellen Aspekt erfüllt (Ahmet Toprak, Gerrit Weitzel)....Pages 47-59
Attraktivität, Anziehungskraft und Akteure des politischen und militanten Salafismus in Deutschland (Claudia Dantschke)....Pages 61-76
Provokation und Plausibilität – Eigenlogik und soziale Rahmung des jugendkulturellen Salafismus (Aladin El-Mafaalani)....Pages 77-90
Vom Klassenzimmer in den Heiligen Krieg – Warum Jugendliche islamistische Fundamentalisten werden (Lamya Kaddor)....Pages 91-102
Jugendliche als Zielgruppe salafistischer Internetaktivität (Alev Inan)....Pages 103-118
Front Matter ....Pages 119-119
Radikalisierungsprävention in Deutschland – ein Problemaufriss (Michael Kiefer)....Pages 121-134
Dem politischen Salafismus wirkungsvoll begegnen: De-Radikalisierung, politische Bildung und pädagogische Prävention als Herausforderung (Kemal Bozay)....Pages 135-153
Zum Umgang mit Entfremdung, Verunsicherung und Unbehagen – Ansätze der Prävention salafistischer Ansprachen in Unterricht und Schulalltag (Götz Nordbruch)....Pages 155-165
Akzeptierende Jugendarbeit mit Jugendlichen mit (neo-)salafistischen Orientierungs- und Handlungsmustern. Theoretische Reflexionen zu pädagogischen Voraussetzungen (David Yuzva Clement)....Pages 167-183
Können konfrontative Gespräche im Kontext des Salafismus stattfinden? (Ahmet Toprak, Gerrit Weitzel)....Pages 185-196

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Edition Centaurus – Jugend, Migration und Diversity

Ahmet Toprak Gerrit Weitzel Hrsg.

Salafismus in Deutschland Jugendkulturelle Aspekte, pädagogische Perspektiven 2. Auflage

Edition Centaurus – Jugend, Migration und Diversity Reihe herausgegeben von Katja Nowacki, Faculty of Social Sciences, Dortmund, Deutschland Ahmet Toprak, Fachhochschule Dortmund, Dortmund, Deutschland

In der Reihe „Edition Centaurus – Jugend, Migration und Diversity“ erscheinen Arbeiten, die sich mit den Belangen von Kindern und Jugendlichen, den Themen der Migration/Integration oder der Diversity im Sinne der Vielfalt befassen. Vor dem Hintergrund der These, dass wir in einer Gesellschaft kultureller Vielfalt mit verschiedenen Anliegen spezifischer Zielgruppen leben, sollen zum einen deren Besonderheiten herausgearbeitet und mögliche Unterstützungsansätze aber auch gesellschaftliche sowie politische Implikationen diskutiert werden. Insgesamt wird eine inter- bzw. transdisziplinäre Herangehensweise gewünscht. Die Reihe ist ursprünglich mit dem Titel „Gender and Diversity“ im Centaurus Verlag erschienen.

Weitere Bände in dieser Reihe http://www.springer.com/series/13830

Ahmet Toprak · Gerrit Weitzel (Hrsg.)

Salafismus in Deutschland Jugendkulturelle Aspekte, ­pädagogische Perspektiven 2., Auflage

Hrsg. Ahmet Toprak Fachhochschule Dortmund Dortmund, Deutschland

Gerrit Weitzel Fachhochschule Münster Münster, Deutschland

ISSN 2510-0971 ISSN 2569-9288  (electronic) Edition Centaurus – Jugend, Migration und Diversity ISBN 978-3-658-25836-8 ISBN 978-3-658-25837-5  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-25837-5 Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2017, 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Verantwortlich im Verlag: Cori Antonia Mackrodt Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Einleitung

Der vorliegende Sammelband „Salafismus in Deutschland: Jugendkulturelle Aspekte und pädagogische Perspektiven“ geht auf eine vierteilige Veranstaltungsreihe zurück, die im Oktober/November 2015 am Fachbereich für „Angewandte Sozialwissenschaften“ der Fachhochschule Dortmund stattfand. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe haben wir uns mit der Frage beschäftigt, was die salafistische Bewegung so attraktiv für junge Menschen macht und worin die Gründe für das Erstarken einer Bewegung liegen, die schon seit mehreren Jahrhunderten existiert, aber erst seit etwa zehn Jahren in der deutschen Öffentlichkeit präsent ist. Um einerseits die Ergebnisse der Veranstaltungsreihe festzuhalten und andererseits dem Thema weitere Konturen und Tiefe zu verleihen, haben wir uns dazu entschlossen, weitere im Feld bekannte Autorinnen und Autoren hinzuzuziehen, um diese Publikation in der vorliegenden Form vorlegen zu können. Der Band ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil führt Thorsten Gerald Schneiders in die historisch-theologischen Hintergründe des Salafismus ein und zeigt auf, welche Strömungen es gibt. Im zweiten Teil wird der Schwerpunkt auf die jugendkulturellen Aspekte des Salafismus gelegt. Die Lebensphase Jugend wirft Fragen nach Werten, Normen, gesellschaftlichen Zusammenhängen und Identität auf – komplexe Fragen, für die es in modernen und ausdifferenzierten Gesellschaften keine einfachen Antworten gibt. An diesem Punkt entfaltet der Salafismus seinen Reiz. Auch wenn innerhalb salafistischer Ideologien im Grunde all das verboten ist, was in der Lebensphase Jugend unter „Spaß“ verstanden wird, weist das Phänomen Analogien zu Jugendprotestbewegungen auf. Zum genaueren Verständnis dieser Analogien müssen zunächst gesellschaftliche Modernisierungsprozesse und die daraus resultierende Entwicklung der Lebensphase Jugend in den Blick genommen werden.

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Einleitung

Im ersten Artikel „Grundlagen juveniler Vergemeinschaftung“ baut Uli Kowol genau diese theoretische Brücke zwischen gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen, der Lebensphase Jugend und dem Phänomen des Salafismus in Deutschland. Im zweiten Beitrag erörtern Ahmet Toprak und Gerrit Weitzel Strukturen und Bedingungen, die sich aus der Lebenssituation junger Menschen heraus ergeben und die dazu führen können, dass salafistische Angebote an Attraktivität für junge Menschen gewinnen können. Claudia Dantschke diskutiert die unterschiedlichen Szeneakteure, geschlechtsspezifische Aspekte und die Fragen, was die Anziehungskraft der Szene ausmacht und wie sie rekrutiert. Aladin El-Mafaalani arbeitet heraus, dass gerade die Radikalität der salafistischen Lebensweise eine funktionale Alternative bietet, um die Komplexität der Lebensphase Jugend zu reduzieren. Askese erweist sich zum einen als Provokation gegenüber modernen, pluralisierten Gesellschaften, zum anderen bietet sie die Möglichkeit, das Grundbedürfnis nach Autonomie, Selbstwirksamkeit und Zugehörigkeit zu befriedigen. Lamya Kaddor beschäftigt sich mit der extremsten Form des Salafismus: dem Dschihadismus. Sie hat als Lehrerin selber junge Menschen unterrichtet, die später in Kriegsgebiete auswanderten, und geht in ihrem Beitrag „Vom Klassenzimmer in den Heiligen Krieg“ der Frage nach, warum Jugendliche zu islamistischen Fundamentalisten werden. Das Social Web hat eine hohe Anschlussfähigkeit an das Leben der Jugendlichen. Es ist lebensweltnah, wird täglich und flexibel genutzt und bietet diverse Kommunikationsmöglichkeiten. Salafistische Gruppierungen wissen dies gezielt für ihre Agitationszwecke zu nutzen. Alev Inan beschäftigt sich in ihrem Beitrag „Jugendliche als Zielgruppe salafistischer Internetaktivität“ mit der OnlineRekrutierung junger Menschen für salafistische Zwecke. Der dritte und abschließende Teil fragt nach den pädagogischen Perspektiven in Bezug auf das salafistische Phänomen. Wie lässt sich verhindern, dass junge Menschen salafistischen Ideologien anheimfallen? Häufig werden Prävention und De-Radikalisierung als Allheilmittel genannt. Doch inwieweit können Präventionsangebote und De-Radikalisierungsangebote diese Versprechen auch einlösen? Michael Kiefer diskutiert in seinem Beitrag „Radikalisierungsprävention in Deutschland – ein Problemaufriss“, wie komplex sich Prävention im Kontext des Salafismus gestaltet. Politische Bildung soll dabei helfen, zu kritischem Denken zu erziehen. Ihr Ziel ist es, dass junge Menschen nicht all das glauben, was sie im Internet oder

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auf der Straße lesen oder hören. In seinem Beitrag erörtert Kemal Bozay die Herausforderungen von De-Radikalisierung, politischer Bildung und pädagogischer Prävention. Die Schule prägt, neben dem Elternhaus und dem Lebensumfeld, junge Menschen am intensivsten. Auf dieser Basis diskutiert Götz Nordbruch in seinem Beitrag Ansätze der Prävention salafistischer Ansprachen im Unterricht und Schulalltag. Das salafistische Phänomen in Deutschland ist noch sehr jung, evaluierte Konzepte sind somit noch nicht vorhanden. Ausgehend von dieser Tatsache greift David Yuzva Clement auf Altbewährtes zurück und „entdeckt“ den von Franz-Josef Krafeld formulierten „akzeptierenden Ansatz“ in Bezug auf die Arbeit mit jungen Menschen, die salafistische Orientierungs- und Handlungsmuster zeigen, neu. Der Band schließt mit einem Aufsatz von Ahmet Toprak und Gerrit Weitzel, der die Möglichkeiten des konfrontativen Gesprächsansatzes im Kontext des Salafismus untersucht. Der konfrontative Ansatz kann dazu beitragen, einen Gesprächszugang zu Jugendlichen zu schaffen, die offenkundig mit salafistischen Ideologien sympathisieren, und ist sowohl in der Schule als auch in der Jugendarbeit einsetzbar. Ahmet Toprak Gerrit Weitzel

Inhaltsverzeichnis

Teil I  Theologisch-historische Verortung Historisch-theologische Hintergründe des Salafismus . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Thorsten Gerald Schneiders Teil II  Jugendkulturelle Aspekte Grundlagen juveniler Vergemeinschaftung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Uli Kowol Warum Salafismus den jugendkulturellen Aspekt erfüllt. . . . . . . . . . . . . . 47 Ahmet Toprak und Gerrit Weitzel Attraktivität, Anziehungskraft und Akteure des politischen und militanten Salafismus in Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Claudia Dantschke Provokation und Plausibilität – Eigenlogik und soziale Rahmung des jugendkulturellen Salafismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Aladin El-Mafaalani Vom Klassenzimmer in den Heiligen Krieg – Warum Jugendliche islamistische Fundamentalisten werden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Lamya Kaddor Jugendliche als Zielgruppe salafistischer Internetaktivität . . . . . . . . . . . . 103 Alev Inan

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Inhaltsverzeichnis

Teil III  Prävention und pädagogische Ansätze Radikalisierungsprävention in Deutschland – ein Problemaufriss . . . . . . 121 Michael Kiefer Dem politischen Salafismus wirkungsvoll begegnen: De-Radikalisierung, politische Bildung und pädagogische Prävention als Herausforderung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Kemal Bozay Zum Umgang mit Entfremdung, Verunsicherung und Unbehagen – Ansätze der Prävention salafistischer Ansprachen in Unterricht und Schulalltag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Götz Nordbruch Akzeptierende Jugendarbeit mit Jugendlichen mit (neo-)salafistischen Orientierungs- und Handlungsmustern. Theoretische Reflexionen zu pädagogischen Voraussetzungen. . . . . . . . . . 167 David Yuzva Clement Können konfrontative Gespräche im Kontext des Salafismus stattfinden?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Ahmet Toprak und Gerrit Weitzel

Teil I Theologisch-historische Verortung

Historisch-theologische Hintergründe des Salafismus Thorsten Gerald Schneiders

1 Die Entstehung eines Begriffs Salafismus ist eine relativ neue Erscheinung und erst seit wenigen Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung präsent (Lauzière 2010). Bis dato war vorwiegend von islamischem Fundamentalismus, politischem Islam oder ganz allgemein von Islamismus die Rede. Etwa gleichzeitig mit „Salafismus“ begann sich auch der Begriff „Dschihadismus“ im öffentlichen Sprachgebrauch durchzusetzen. Darin zeigt sich die Einsicht in die Notwendigkeit, auch das Spektrum des islamisch geprägten Aktivismus bzw. Radikalismus differenzierter zu sehen. Der Begriff Salafismus bezeichnet eine moderne Strömung im Islam, die sich im Spannungsfeld von religiösem Fundamentalismus und politischem Machtstreben bewegt. Salafismus ist Teil der Religion des sunnitischen Islams. Wie in anderen Religionen gibt es im Islam liberale, konservative und fundamentalistische Hauptströmungen, deren Unterschiede im Kern auf dem Verständnis der religiösen Quellen und der Bewertung der Religionsgeschichte basieren. Der Salafismus, wie man ihn heute in wissenschaftlichen Kreisen versteht, gehört zum fundamentalistischen Spektrum des Islams. Das heißt, seine Auffassungen sind rückwärtsgewandt, streng, wenig kompromissbereit. Fundamentalisten im Islam wie im Judentum oder im Christentum haben laut Josef van Ess eine grundlegende Gemeinsamkeit: Ihre Vertreter nehmen die Ausführungen in Thora, Bibel und

T. G. Schneiders (*)  Deutschlandfunk, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Toprak und G. Weitzel (Hrsg.), Salafismus in Deutschland, Edition Centaurus – Jugend, Migration und Diversity, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25837-5_1

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Koran wortwörtlich. Sie lehnen jeden Versuch ab, die Kluft zwischen dem historischen Moment des Eintretens dieser Schriften in die Geschichte und den ­späteren zeitlichen Kontexten in ihren Überlegungen zu beachten. Sie betonen die Unfehlbarkeit der heiligen Texte, die für sie nichts anderes sind als Gottes eigenes Wort, das um keinen Preis verfälscht oder verändert werden darf (van Ess 1996, S. 149). Zugleich sind sie davon überzeugt, dass sie allein die Wahrheit kennen. Ferner betrachten Fundamentalisten alles, was die Menschheit an Wissen schafft, zunächst einmal skeptisch, weil solche „Neuerungen“ nach ihrer Auffassung die Gefahr bergen, von Gott wegzuführen. Dabei machen Fundamentalisten in der Regel einen Unterschied zwischen technischen und geisteswissenschaftlichen, philosophischen Erkenntnissen. So sind sie bereit, neue Geräte wie Kühlschränke, Computer oder Mobiltelefone (unter bestimmten Voraussetzungen) zu nutzen, missbilligen aber neues Wissen über das menschliche Dasein in der Morallehre, der Genderfrage, der Pädagogik etc. Dem liegt eine radikale epistemologische Reduktion zugrunde, die die rationalen Fähigkeiten des Menschen beim Erwerb von Wissen bzw. beim Validieren dessen weitgehend ausblendet. Ausschließlich religiöse Schriften werden als uneingeschränkte Quelle von Erkenntnis akzeptiert. Verkürzt kann man sagen, alles, was auf menschlicher Vernunft basiert und sich nicht in materiellen Erfindungen niederschlägt, wird negiert – jedenfalls dann, wenn es gemäß der jeweils verfolgten Lesart den heiligen Schriften widerspricht. Die Begriffe Salafismus und Salafist haben dieselbe sprachliche Wurzel wie der ältere vor allem im Bereich der Islamwissenschaft bekannte Begriff: Salafit/ Salafiten. Josef van Ess bekennt: „Bisher kannte ich nur Salafiten (ohne s); den Begriff gab es (als Eindeutschung von ahl as-salaf [Anhänger der Altvorderen]) schon in meiner Jugend. Aber er war positiv besetzt und ist nun sang- und klanglos aus dem Verkehr gezogen worden.“ Spöttisch fragt er: „Wer hat sich denn diesen Begriff nun wieder ausgedacht? Und wer bestimmt, wie man ihn definiert?“ (vgl. Schneiders 2014a, S. 9). Bei den Salafiten (auch Salafi/Salafis, Salafiyya oder ahl al-salaf genannt) handelt es sich um Vertreter einer Bewegung, die Mitte des 19. Jahrhunderts im zusammenbrechenden Osmanischen Reich entstanden ist, beeinflusst von Entwicklungen im indo-pakistanischen Raum – insbesondere durch die klassische Ahl-i Hadith-Bewegung. Sie wollten die verkrusteten ­Strukturen der damals vorherrschenden und etablierten islamischen Gelehrtenwelt aufbrechen und modernisieren. Angesichts dieser Reformbemühungen war der Begriff Salafiyya lange Zeit positiv besetzt, wie van Ess meint, und nicht mit Engstirnigkeit und Antimodernismus verbunden, wie es der Begriff Salafismus heute ist. Weder der Begriff Salafisten noch der Begriff Salafiyya ist ursprünglich eine Eigenbezeichnung. Beide wurden von europäischen Wissenschaftlern geprägt. Henri Lauzière, der sich auf die Spuren der Begriffsbildung begeben hat, kommt

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zu dem Ergebnis, dass das Wort Salafiyya erstmals von dem französischen ­Orientalisten Louis Massignon in den 1910er Jahren benutzt wurde (2010, S. 374, 380 f.). Auch für den Begriff Salafismus findet sich demnach ein relativ früher Beleg. Hier weist die Spur ebenfalls nach Frankreich ins Jahr 1932. Der Orientalist François Laoust verwendet „salafisme“ in seinem Beitrag „Le réformisme orthodoxe des Salafiya et les caractères généraux de son orientation actuelle“ in der Revue d’Études Islamiques. Die Bezeichnungen setzten sich aber nur langsam durch. Wer das Standardwerk zu den Modernisierungsbestrebungen zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert in der islamischen Welt liest, das 1962 von Albert Hourani veröffentlichte Buch „Arabic Thought in the Liberal Age 1798–1939“, wird den Begriff Salafiyya dort nicht finden. In Hans Wehrs „Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart Arabisch – Deutsch“ indes, das 1952 erarbeitet und danach mehrfach wieder aufgelegt wurde, taucht der Begriff „Salafiyya“ auf. Auch in der arabisch-islamischen Welt selbst wurde der Begriff übernommen. Itzchak Weismann zufolge vermag man jedoch nicht zu sagen, ab wann sich auch die Vertreter der Salafi-Bewegung so nannten (Weismann 2001, S. 231). Einige Jahrzehnte vor den Salafiten war im Zentrum der arabischen Halbinsel, im Nadschd, bereits eine andere Reformbewegung entstanden: die Wahhabiten (arab.: Wahhābiyya). Sie kennzeichnete ein dogmatischer Rigorismus, der sich vor allem gegen andere islamische Strömungen richtete und die im Volk populären, aber von den ersten Muslimen nicht ausgeübten Praktiken wie Hei­ ligenverehrung oder Maulid (Geburtstagsfeiern vor allem zu Ehren des Propheten Mohammed) auslöschen wollten. Zwischen Salafiten und Wahhabiten gibt es inhaltliche Übereinstimmungen, es trennte sie aber auch einiges, insbe­ sondere weil sich die Anhänger des Gründers Muhammad Ibn Abd al-Wahhab (gest. 1792) an den bereits damals mächtigen Stamm der Saud gebunden hatten. Während die einen ihre Doktrin durchsetzen wollten, wollten die anderen die politische Macht in der Region erlangen. Da sie glaubten, jeweils voneinander profitieren zu können, gingen sie eine Allianz ein, die bis in die Gegenwart des modernen Saudi-Arabiens anhält. Diese spezifische politische Prägung des Wahhabismus ist mithin das auffälligste Unterscheidungsmerkmal zu den Salafiten. Zur Mitte des 20. Jahrhunderts verlor die Salafiyya zunächst wieder an Bedeutung. In den meisten arabischen Ländern – vorneweg Ägypten, Syrien, Irak – sowie unter den Palästinensern erlebten die aus Europa stammenden säkularen Ideologien Nationalismus, Sozialismus und Kommunismus einen Aufschwung. Mit dem zunehmenden Gefühl von deren Scheitern erhielten die salafitischen Ideen wieder neuen Auftrieb. International brachten sich deren Vertreter erstmals 1979 wieder stärker ins Gespräch, als eine Abspaltung der indischen Neo-Ahl-i Hadith-Bewegung die Große Moschee von Mekka erstürmte. Nach Deutschland kam die Bewegung erst Mitte der 90er Jahre, zunächst in Gestalt kleinerer, ­relativ

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unauffälliger Gruppen von Exilanten. Ab 2004/2005 wurde sie dann durch das offensive Auftreten politisch-missionarischer Aktivisten auch öffentlich stärker wahrnehmbar. Für das aktuelle Phänomen wird nunmehr vorwiegend die Bezeichnung Sala­ fismus mit dem Suffix -ismus als Hinweis auf eine starre, dogmatische Einstel­ lung benutzt. Das ist gerechtfertigt und angemessen. Alle Vertreter des Salafismus verbindet eine bestimmte Radikalität sowohl hinsichtlich ihrer Glaubensvorstel­ lungen als auch hinsichtlich der Abgrenzung zu Menschen mit anderen Auffas­ sungen. Zugleich hat das heutige Auftreten der Salafisten wenig mit dem der Salafiten vor 100 Jahren zu tun. Trotzdem wurden in der Vergangenheit beide Begriff oftmals synonym benutzt, etwa von Bassam Tibi in seinem 1985 erschie­ nenen Buch „Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozialen Wandels“, und auch heute geschieht das gelegentlich immer noch. Auch im Arabischen wird der Begriff salafī für einen Vertreter und salafiyya für die Bewegung selbst auf die gesamte Zeitspanne angewandt. Der gegenwärtige Salafismus aber ist von seinem Wesen her neu und eigenständig. Hinzu kommt eine politische Komponente, die ganz eindeutig auf die realen Bedingungen des 21. Jahrhunderts ausgerichtet ist. Sie ist verbunden mit einer Abgrenzung sowohl zu dem „Westen“, womit primär die USA und Europa gemeint sind, als auch zu den Regierungen der Staaten in der islamischen Welt. Der Salafismus, manche setzen auch das Präfix „Neo-“ davor, hebt sich mithin deutlich von der Bewegung der Salafiten ab. Itzchak Weismann formuliert: „Die Salafiten im späten Osmanischen Reich würden sich vermutlich im Grabe umdrehen bei dem Gedanken daran, [wer heute alles als Abkömmling von ihnen gilt]“ (Weismann 2014, S. 114). Eine saubere begriffliche Trennung zwischen Salafisten und Salafiten wäre mithin wünschenswert, auch wenn die Salafisten theologische Anleihen bei den Salafiten und noch früheren Denkrichtungen nehmen.

2 Historische Vorläufer Weder die Salafisten noch die Salafiten oder die Wahhabiten haben eine grundlegend neue Denkrichtung im Islam geschaffen. Ihre Vertreter knüpfen i­nhaltlich an klassisch-islamische Gelehrte (vor dem Jahr 1800) an, die ähnliche Auffas­ sungen bzw. Bestandteile davon durch beinah die gesamte islamische Geschichte hindurch in der einen oder anderen Form vertreten haben. Nach van Ess bilden diese Positionen seit dem 9. Jahrhundert eine grundlegende Lehrmeinung in der islamischen Theologie (1996, S. 192). Die bekanntesten Vertreter sind Ibn ­Hanbal

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im 9. Jahrhundert, Ibn Taymiyya im 14. Jahrhundert und Muhammad Ibn Abd alWahhab im 18. Jahrhundert. Sie stehen im weiteren Verlauf des Beitrags im Fokus. Ebenfalls bedeutend für die salafistische Bewegung sind aber auch die Protagonisten der Salafi-Bewegung im 19. Jahrhundert Jamal al-Din al-Afghani, Muhammad Abduh und Rashid Rida. Ihr Wirken steht vor allem für zwei Aspekte: Zum einen sorgten sie dafür, dass sich die Aufmerksamkeit auf die erstarrte Verfasstheit des Islams während des Niedergangs des Osmanischen Reichs richtete, zum anderen brachten sie den Widerstandsgedanken gegen die wachsende koloniale Fremdherrschaft durch die Europäer in den theologischen Diskurs ein. Weitere wichtige Personen für den Salafismus wirkten im 20. Jahrhundert. Diese Männer adaptierten die theologischen Konzepte an die Moderne und justierten die Idee der Widerstandsbewegung neu. Dabei entwickelten sie auch die Grundlagen für die heutigen Dschihad-Konzepte des bewaffneten Kampfs gegen Feinde. Zu nennen ist hier zunächst der 1914 in Albanien geborene und später vor allem in Syrien, Saudi-Arabien und Jordanien lehrende Nasir al-Din al-Albani (gestorben 1999) (Lacroix 2009). Sein Wirken zeichnete sich besonders dadurch aus, dass er einen islamischen Puritanismus predigte. Mittels Hadith-Lehre bemühte er sich um ein genaues Bild von der Frühzeit des Islams, um danach Vorschriften für ein möglichst „authentisches“ Leben entsprechend dem Vorbild des Propheten und seiner Gefährten in der Gegenwart zu entwickeln. Zum Beispiel widmete er sich der korrekten Ausführung des täglichen fünfmaligen Pflichtgebets. Jede Bewegung während des Gebets ist im Detail geregelt. Doch unter Muslimen gibt es (oft je nach kultureller Herkunft bzw. nach Rechtsschulzugehörigkeit) feine Unterschiede etwa in der Haltung des Körpers, der Hände oder der Finger. Al-Albani zufolge zeigen diese Unterschiede, dass das Gebet im Laufe der Jahrhunderte selbst unter den Augen der großen früheren Gelehrten verändert wurde, sodass nicht mehr genau so gebetet wird, wie es der Prophet Mohammed einst vorgemacht hat (Al-Albani 1983, S. 37). In seinem Buch „Ṣifat ṣala t al-nabi“ versucht al-Albani nun, diese „Fehler“ auszumerzen und den korrekten Gebetsablauf aus den überlieferten Quellen zu rekapitulieren. Wichtige moderne Vordenker des Salafismus sind neben al-Albani die hochrangigen saudischen Gelehrten Abd al-Aziz Ibn Baz (1910–1999) und Muhammad Ibn Salih al-Uthaymin (1925–2001), die bereits zu Lebzeiten als die bedeutendsten wahhabitischen Gelehrten galten. Auch sie stehen insbesondere für die Betonung des Hadith, also der Überlieferungen von Handlungsweisen des Propheten Mohammed, als Quelle islamrechtlicher Vorschriften für die Gegenwart. Wie viele Gelehrte in Saudi-Arabien pendelten sie zwischen Arrangement mit und Opposi­ tion zum Herrscherhaus des Königreichs. Während Ibn Bāz auch als Großmufti

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seines Landes fungierte, hielt al-Uthaymin stets Abstand zur Staatsführung. Schließlich fällt der Blick auf Abu Muhammad al-Maqdisi. Der jordanische Palästinenser gilt als der einflussreichste noch lebende Vordenker des Salafismus – insbesondere des dschihadistischen Salafismus (Wagemakers 2012). Al-Maqdisī war Lehrer und Mentor von Abu Mus’ab al-Zarqawi, dem 2006 getöteten Anfüh­ rer der Terror-Organisation al-Qaida im Irak (AQI), auf dessen Konto zahlreiche Anschläge vor allem gegen Schiiten gehen.

2.1 Ahmad Ibn Hanbal Mit den jüngsten terroristischen Entwicklungen hat ein Mann wie Ahmad Ibn Hanbal wenig zu tun. Er gilt allerdings als eine Art geistiger Urvater heutiger konservativer und fundamentalistischer Glaubensüberzeugungen (für eine ausführliche Darstellung Ibn Hanbals siehe Schneiders 2014b). Ibn Hanbal wird gerne die Rolle eines Fanatikers zugeschrieben, der am strengsten im Vergleich zu Abu Hanifa, Malik Ibn Anas und al-Schafi’i geurteilt habe, mit deren Namen die heute noch verbliebenen großen Rechtsschulen (Sg. maḏhab/Pl. maḏāhib) des sunnitischen Islams verbunden sind – in chronologischer Reihenfolge ihres Entstehens im 8. und 9. Jahrhundert: die Hanafiten, die Malikiten, die Schafiiten und eben die vierte, die jüngste Rechtsschule, deren Eponym Ahmad Ibn Hanbal ist: die Hanbaliten. Diese Rechtsschulen bestehen bis heute. Sie erfahren vor allem durch Gelehrtendiskurse ihre Bedeutung. Zum einen stehen sie für bestimmte Verfahrensweisen, wie mit den Quellen des Islams umgegangen wird (usūl alfiqh), zum anderen für die konkreten Ergebnisse, zu denen diese Verfahrenswei­ sen letztlich führen (furu’ al-fiqh). Ahmad Ibn Hanbal wurde 780, knapp 150 Jahre nach dem Tod des P ­ ropheten Mohammed, als Sohn Muhammad Ibn Hanbals, eines Soldaten der Armee von Khorasan, in Bagdad geboren. Im schwangeren Zustand hatte Ahmads Mutter ihre Heimatstadt Merw (im heutigen Turkmenistan) verlassen und sich wie so viele andere in die 18 Jahre zuvor neu gegründete Hauptstadt des Kalifenreichs aufgemacht. Ahmad lebte in einer spannenden Zeit. Nur knapp 30 Jahre vor seiner Geburt hatte der Aufstieg der Abbasiden-Dynastie, also jenes Kalifenge­ schlechts, unter dessen Herrschaft sich die sogenannte Blütezeit des Islams entwi­ ckelte, seinen Anfang genommen. Da sein Vater früh mit etwa 30 Jahren starb, wuchs Ahmad Ibn Hanbal bei seiner Mutter auf. Schon in jungen Jahren bemühte er sich, Aussprüche des Propheten Mohammed zusammenzutragen. Sein Ansinnen führte ihn nach Kufa, Basra, Mekka, Medina, in den Jemen und nach Syrien. Davon abgesehen verbrachte er

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aber fast sein ganzes Leben in Bagdad. In der Zeit der Regentschaft des Kalifen Harun al-Raschid hatte er eine umfangreiche Ausbildung in verschiedenen Berei­ chen des Islams erhalten. Gemäß dem sich entwickelnden Kanon islamischer Ausbildung studierte er zunächst die Sprache; nach bis heute herrschender Auffassung ist das Studium des Arabischen unerlässliche Voraussetzung für eine islamische Bildung. In allen Bereichen des Glaubens kommt es auf das Verständnis des Wortlauts in den Quellentexten an. Darüber hinaus nahm Ibn Hanbal Unterricht im islamischen Recht (fiqh) in einer Zeit, die von heftigen Diskussionen um die künftige Handhabung der Religionsgrundlagen geprägt war. Der Tod des Propheten und der Prophetengenossen lag bereits mehr als 150 Jahre zurück, die Unsicherheiten in religiösen Fragen nahmen zu und der Wunsch nach verbindlichen Regeln wurde größer. Zudem waren immer mehr Hadithe in Umlauf gelangt, die erfunden worden waren, etwa um bestimmten Ansichten Legitimation zu verleihen. Das Zentrum der Hadithtreue lag damals im Hidschāz, der Wirkungsstätte Mohammeds. Schon rein geografische Gesichtspunkte machten es somit vom politischen Zentrum des islamischen Reichs in Bagdad aus schwierig, stets an glaubwürdige Hadithe zu gelangen bzw. deren Glaubwürdigkeit zu überprüfen. Entsprechend wuchs die Skepsis gegenüber Hadithen. Abu Hanifa nahm dies zum Anlass, verstärkt durch Vernunftmetho­ den zur Scharia zu gelangen, und auch andere schenkten alternativen Methoden der Rechtsmethodologie größere Beachtung. Aus dieser Entwicklung wiederum gingen „spekulative Auswüchse“ hervor, die einerseits den Wunsch nach einer stärkeren Systematisierung des Rechts hervorbrachten – hier kommt der Rechtsschulgründer al-Schafi’i ins Spiel – und andererseits den frommen Wunsch nach Rückkehr zur Anfangszeit des Islams – hier kommt Ahmad Ibn Hanbal ins Spiel. Das Unterrichtsangebot in dieser ersten formativen Periode des islamischen Rechts (fiqh) war entsprechend reichhaltig. So kam er mit führenden Persönlichkeiten seiner Zeit in Kontakt. Frömmigkeit und Beharrlichkeit durchziehen sein privates und öffentliches Leben. Schon al-Schafi’i wird mit den Worten zitiert: „Ich verließ in Bagdad keinen Frömmeren und Gelehrteren als Ahmad Ibn Hanbal“ (Ibn al-Ǧawzī 2013, S. 191; Ibn Ḥanbal 1969, Bd. 1, S. 4). Als Vertreter der Hadithgelehrten galt er ohne Frage als Koryphäe, als Rechtsgelehrten (faqīh) indes haben manche seiner Zeitgenossen und der nachfolgenden Generationen ihn nicht gesehen. Das spiegelt sich in der Auslassung seines Namens im Buch des bedeutenden Historikers al-Tabari (gest. 923) „Die verschiedenen Ansichten der Rechtsgelehrten“ wider (1902). Ibn Hanbal selbst bezeichnete sich als „widerwilligen Rechtsgelehrten“ doch „überzeugten Traditionarier“ (Spectorsky 1982, S. 461). Entsprechend ist Ibn Hanbals bedeutendstes Werk, das bis heute universal Wertschätzung genießt,

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eine Hadithsammlung: „al-Musnad“ (der Titel bezeichnet eine bestimmte Form, gesammelte Hadithe aufzuführen). Das Buch umfasst 28.000 Überlieferungen, die Ibn Hanbal aus der 25-fachen Menge ausgewählt hat (Ibn al-Ǧawzī 2013, S. 357). Der Höhepunkt der abbasidischen Macht war zu Ibn Hanbals Lebzeiten erreicht. Mit den Söhnen Harun al-Raschids, al-Amin und al-Ma’mun, begann bereits der Abstieg der Familiendynastie. Machtkämpfe und Intrigen führten in den folgenden Jahrzehnten zu raschen Wechseln auf dem Kalifenthron und zu Einflussverlust. Im Reich gab es diverse Aufstände. Das an einigen Stellen entstandene Machtvakuum wurde genutzt, um neue Teilreiche zu errichten – etwa durch die Tahiriden in Khorasan oder später die Tuluniden in Ägypten. Die Abbasiden wurden von ihnen nur noch pro forma anerkannt. Diese Entwicklungen blieben nicht ohne Auswirkungen auf die Religion des Islams, offiziell ist der Kalif (der Nachfolger/Stellvertreter des Propheten Mohammed) immer noch derjenige, der neben der weltlichen auch die geistliche Macht auf sich vereint. Aber durch die wachsende Bedeutung der Rechtsgelehrten wurde seine Autorität auch auf diesem Gebiet zunehmend herausgefordert. Es ist daher nicht allzu überraschend, dass es in den 830er Jahren zu einer Machtprobe kam, die am Ende zu einer nachhaltigen theologischen Zäsur führte. Ausgangspunkt war ein erbitterter Streit über ein vermeintliches Detail: Es ging um die Frage, ob der Koran das erschaffene oder unerschaffene Wort Gottes ist (Madelung 1974). Die Abbasiden-Kalifen erhoben die Erschaffenheit des Korans zu einem Dogma. Der Traditionalist Ahmad Ibn Hanbal, der im Laufe seines Lebens zunehmend engstirniger geworden zu sein scheint, lehnte diese Auffassung aber kategorisch ab. Laut van Ess brach er sogar den Kontakt zu all jenen Traditionariern ab, die sich der Vorgabe des Kalifen gebeugt hatten, und vermied es, hernach noch Hadith-Aufzeichnungen von ihnen zu nutzen (1991 ff., Bd. 3, S. 470). Für Ibn Hanbal war die Herleitung der Lehre von der Erschaffenheit des Korans auch deshalb unglaubwürdig, weil sie auf menschlichen Überlegungen fußte und nicht aus den Quellen des Korans und der Sunna geschöpft werden konnte. Er plädierte dafür, die Frage unbeantwortet zu lassen. Mit der Verfügung des Kalifen begann eine rund 16-jährige Zeit der Inquisition (miḥna) von 833 bis etwa 848. Die Gelehrten wurden allesamt nach ihrer Haltung zu der Doktrin befragt und sollten die Vorgabe des Kalifen öffentlich anerkennen. Während fast alle der Aufforderung nachkamen, widersetzte sich Ahmad Ibn Hanbal. Daraufhin wurde er eingekerkert. Unter den Augen der Herr­ scher wurde er später noch einmal öffentlich befragt. Er blieb bei seiner Ableh­ nung und wurde ausgepeitscht. Pro-hanbalitischen Autoren zufolge blieb er auch unter den Schmerzen der Peitschenhiebe standhaft. Letzten Endes wurde der

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geschundene Ahmad Ibn Hanbal – vielleicht aus Angst vor der Reaktion des Volkes – aus der Haft entlassen. Für viele Zeitgenossen und spätere Generationen avancierte er durch diese Episode in seinem Leben zu einer Symbolfigur für den Widerstand gegen hoheitliche Instanzen. Mit seinem oppositionellen Verhalten besiegelte er seinen Ruhm als frommer, standhafter und den eigenen Prinzipien treuer Muslim (Patton 1897). Vermutlich würde man sich seiner ohne diese Inquisition weit weniger stark erinnern. Josef van Ess konstatiert: „In Ibn Hanbal hat die Obrigkeit einen Märtyrer geschaffen; er verkörpert für den sunnitischen Muslim den Kampf des Einzelnen gegen den ungerechten und weltlichen Staat“ (vgl. 1991 ff., Bd. 3, S. 456).

2.2 Ibn Taymiyya Ibn Taymiyya gehörte im 13./14. Jahrhundert zu den Bewunderern von Ahmad Ibn Hanbal. Nach Birgit Krawietz ist Ibn Taymiyya „der wichtigste Vertreter“ der Hanbaliten (2014). Sein Leben begann als Flüchtling, worin gewissermaßen eine Ironie der Geschichte liegt. Geboren wurde er 1263 ausgerechnet in jener Region zwischen der heutigen Türkei und dem heutigen Syrien, in der seit 2014/2015 die Anhänger der Terrororganisation „Islamischer Staat“, die sich in ihren religiösen Auslegungen gerade auch auf Ibn Taymiyya berufen, eine der Ursachen für massive Fluchtbewegungen sind. Im 13. Jahrhundert war es seine Familie, die vor den herannahenden Mongolen-Horden fliehen musste, die seine Heimatstadt in Schutt und Asche legten. Ähnlich wie die IS-Terroristen heute, wurden die Mongolen damals wegen ihrer Brutalität und Erbarmungslosigkeit gefürchtet. Zu dieser Zeit war Ibn Taymiyya gerade mal sechs oder sieben Jahre alt. Die Familie ging nach Damaskus, wo gerade die Mamluken herrschten. Sein Vater, ein hanbalitischer Religionsgelehrter, nahm eine Stelle an einer Madrasa, einer Islam-Schule, an. Auch Ibn Taymiyya besuchte diese Schule und wurde dort später ebenfalls L ­ ehrer. 1258 hatten die Mongolen Bagdad erobert. Die Einnahme der Stadt besiegelte das endgültige Ende der Abbasiden-Dynastie. Die Mongolen drängten weiter in Richtung Syrien. Dort stießen sie aber auf stärkeren Widerstand. Die ­Einnahme der Region verlief nicht mehr im Handumdrehen, wie bei den gewaltigen Erobe­ rungen in den Jahren zuvor. Ibn Taymiyya lebte also mit der ständigen Bedrohung durch eine Invasion der Mongolen. Das wirkte sich auf sein religiöses Verständnis und seine Lehren aus. Ähnlich konnte man das bei Martin Luther beobachten, der im 16. Jahrhundert in ständiger Angst vor einem Einfall der Osmanen lebte und wirkte (Ehmann 2008).

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Ebenfalls nicht primär, aber zumindest konkreter als Ahmad Ibn Hanbal wandte sich Ibn Taymiyya dem Recht zu. Berühmt gemacht haben ihn im weitesten Sinne die kritischen Auseinandersetzungen mit der Theologie (kalām) und der Mystik beziehungsweise des Sufismus (taṣawwuf). Er stellte klar: Die dogmatischen Theologen gründeten ihr System auf die Vernunft (’aql), die Traditionarier ihres auf den Hadith (naql) und die Sufis ihres auf den freien Willen (irāda) (Laoust 1971, S. 953). Als Traditionalist und Hanbalit positionierte sich Ibn Taymiyya mit solchen Aussagen gegen Theologen und Sufis, also jene, die sich mit dem Rüstzeug des menschlichen Verstands auf die Spuren Gottes begaben und Koran und Sunna vor allem als Ausgangspunkt und Inspiration sahen. Im engeren Sinne lässt sich Ibn Taymiyya mithin als Kämpfer gegen jegliche Form dessen begreifen, was er als bid’a verstand, also Praktiken und Vorstellungen, die nicht unmittelbar auf den Koran oder die Sunna zurückzuführen sind, sondern nachträglich in den Islam eingeführt wurden. An allem, was nach seiner Meinung dem Verhalten der Umma (der Gemeinschaft aller Muslime) zu Lebzeiten Mohammeds widerspricht, übte er heftige Kritik, indem er laut Johann Fück „rücksichtslos (…) an alle Erscheinun­ gen des öffentlichen und häuslichen Lebens die untrüglichen Maßstäbe des Korans und der Sunna [anlegte]“ (1939, S. 30). Eine vertraute Ansicht, wenn man sich die Schriften heutiger Salafisten anschaut. Auch wenn die islamische Rechtswissenschaft in Ibn Taymiyyas originärem Wirken nicht die Hauptrolle spielte, oblag ihm dennoch der bedeutendste Impuls zur Genese der hanbalitischen Rechtsschule (Melchert 1997, S. 137). Die Hanbaliten mussten sich von einer extremen theologischen Gruppierung zu einer moderaten Rechtsschule entwickeln, um im Sunnitentum ab Ende des 3. Jahrhunderts nicht unterzugehen, ein Schicksal, das mehrere Rechtsschulen traf, wie etwa die Hashwiyya (Hallaq 1993, S. 294). Für eine solche Entwicklung zum Moderaten hin war es unumgänglich, der islamischen Rechtswissenschaft gewisse Aufmerksamkeit zu schenken. Schon damals war es den meisten islamischen Gelehrten klar, dass man die Scharia (das göttliche Recht) nicht allein mit dem Koran und der Sunna erkennen konnte. Zu viele Fragen und Details blieben offen, da beide Quellen nicht genügend explizite Antworten lieferten. Es mussten somit neue Methoden zur Rechtsfindung entwickelt werden, die auf der menschlichen Vernunft basierten. Dieses Bestreben aber führte in den Augen Ibn Taymiyyas zu inakzeptablen Auswüchsen. Daher setzte er sich daran, gegen eine Reihe der damals verbreiteten Rechtsmethoden zu Felde zu ziehen, die dazu benutzt wurden, die göttlichen Bestimmungen herauszufinden. Joseph Schacht konstatierte: „Es blieb dem großen hanbalitischen Denker Ibn ­Taymiyya über­ lassen, die allumfassende Funktion des Konsenses der Gelehrten zurückzuweisen und gleichzeitig die Notwendigkeit eines verbesserten Argumentierens mithilfe von Analo­ gien [qiyās] zu bekräftigen“ (1986, S. 63).

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Der Konsens (iǧmā’) gilt in der Regel als dritte Quelle für das islamische Recht nach dem Koran und der Sunna. Er geht zurück auf einen berühmten Hadith, wonach Mohammed gesagt hat, seine Gemeinde werde sich nicht auf einen F ­ ehler einigen. Einige Zeit nach dem Tod des Propheten kam allerdings ein Streit auf, der bis heute währt. Es geht darum, wen dieser Konsens in Rechtsfragen ­einschließen muss: die Prophetengenossen, die islamischen Gelehrten, die gesamte Umma? Bei den letzten beiden Varianten kommt noch die Frage hinzu, in welchem Z ­ eitraum diese Übereinkunft gelten muss, damit sie göttliches Recht markieren kann – über alle Generationen oder nur über bestimmte Generationen hinweg. Ibn Taymiyya wertete die Bedeutung des Konsenses in seinen Schriften ab (Hourani 1964, S. 36). Er erkannte zwar den berühmten Hadith über die Unfehlbarkeit der Gesamtge­ meinde an, aber er weigerte sich, diese Annahme auch für seine zeitgenössische Umma gelten zu lassen. Er begründete dies mit der unüberschaubaren Dimension der Gemeinde und den Neuerungen (bida`), die sie nach seiner Ansicht prakti­ zierte. Er fragte: „Warum sollte sie nicht einem Fehler unterliegen, solang sie nicht nah am Propheten ist?“ (Hourani 1964, S. 37). Ibn Taymiyya konzentrierte sich folglich ebenso wie Ahmad Ibn Hanbal auf den Konsens aus dem Kreis der Pro­ phetengenossen, die Mohammeds Lehre am nächsten gestanden haben. ­Allerdings geht er noch einen Schritt weiter und gesteht den Meinungen von den frühen Nach­ folgern des Propheten (tābi’ūn) bis hin zu den Gründern der Rechtsschulen Verbindlichkeit zu, wenn sie sich über etwas einig gewesen sind (Laoust 1971, S. 954).

2.3 Ibn Abd al-Wahhab Wie schon bei Ibn Hanbal und Ibn Taymiyya fällt das Auftreten Ibn Abd al-­Wahhabs mit einer Krise der arabisch-islamischen Welt zusammen. Während Ibn Hanbal mit dem Macht- und Bedeutungsverlust der Abbasiden im Allgemeinen und des Kalifen im Speziellen konfrontiert war und Ibn Taymiyya den Einfluss der Mongolen in der islamischen Welt fürchtete, trieb Ibn Abd al-Wahhab die Sorge vor den Auswirkungen des zunehmend von Zerfallserscheinungen gezeichneten Osmanischen Reichs um. Alle drei richteten das Hauptaugenmerk auf die Bewahrung der Religion. Ibn Hanbal war von den Bemühungen beseelt, die authentische Religion des Propheten Mohammed gegen Neuerungen in der Rechtsmethodik zu bewahren und Abd al-Wahhab versuchte wie Ibn Taymiyya äußere Einflüsse und „unislamische“ Verhaltensweisen zu bekämpfen, die angeblich die Religion verwässerten. Darun­ ter gehörten für ihn volksislamische Praktiken wie die Heiligenverehrung oder die Geburtstagsfeiern (maulid). Abd al-Wahhab verwies darauf, dass der Prophet solche Dinge nicht praktiziert habe.

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Darüber hinaus griff er den Gedanken des Widerstands gegen den taqlīd auf und formierte ihn neu. Taqlīd ist ein damals weitgehend herrschendes Rechtsprin­ zip, wonach man sich an den Lehrmeinungen großer Gelehrter insbesondere der eigenen Rechtsschule orientieren sollte. Abd al-Wahhab argumentierte, dass die Gelehrten in der Vergangenheit nicht frei von Fehlern gewesen seien und auch über sie Neuerungen Eingang in die Religion gefunden hätten. Er bekennt: „Dabei kannte ich zu jener Zeit weder die [wahre] Bedeutung des lā ilāha illā llāh noch die Religion des Islam (…). Auch unter meinen Lehrern gab es keinen einzigen Mann, der dies kannte. Und wer von den Gelehrten (…) glaubte, daß einer seiner Lehrer dies gewußt hätte – der hat gelogen und Lügen ersonnen“ (Ibn Abd al-Wahhab zit. nach Peskes 1993, S. 38). Eine zentrale Fehlerquelle besteht seiner Meinung nach darin, dass die Gelehrten Hadithe berücksichtigt hätten, die nicht authentisch waren. War bisher festzustellen, dass weder Ahmad Ibn Hanbal noch Ibn Taymiyya in erster Linie Rechtsgelehrte waren, so trifft dies auf Ibn Abd al-Wahhab noch mehr zu. Der Mann aus dem Nadschd zeichnete sich prinzipiell durch seine theologi­ schen Schriften aus und durch die Politisierung seiner Theologie durch die Koalition mit den politischen Machthabern der Familie Saud im heutigen Saudi-Arabien. Ibn Abd al-Wahhab steht im Grunde für den Bruch der Traditionalisten mit der Tradition. Er wirkte aus der Lehrtradition der hanbalitischen Rechtsschule heraus. In seiner Dogmatik aber knüpfte er entgegen dem auch für ihn nach herkömmlicher sunnitischer Auffassung weiterhin verpflichtenden taqlīd nicht an die führenden Gelehrten vor ihm an. Michael Cook schreibt: „Sogar Ibn Hanbal selbst spielte für die Etablierung der zentralen Lehren des Wahhabismus keine echte Rolle“ (1992, S. 198). Doch auch wenn Abd al-Wahhab auf dessen Lehren wenig rekurrierte, so war seine Autorität für ihn unbestritten, denn er argumentierte mit ihm und berief sich in seinem eigenen Handeln auf die vorbildliche Standhaftigkeit Ibn Hanbals während der Inquisition (Peskes 1993, S. 40, 46). Sein bedeutendster Bezugspunkt zur Geschichte der hanbalitischen Rechtsschule ist jedoch die Lehre Ibn Taymiyyas und dessen berühmten Schülers Ibn Qayyim al-Dschauziyya. Das lässt sich unmittelbar aus den Schriften Ibn Abd al-Wahhabs ableiten. In Cooks Untersuchung heißt es: „Beide zählten für ihn zu den herausragendsten ‚späteren Gelehrten‘. Ibn Taymiyya erscheint häufig auf den Seiten der Schriften unseres Scheichs“ (1992, S. 200). Ibn Abd al-Wahhabs Gegner indes werfen ihm vor, aus den Werken der „großen Hanbaliten“ nur das entnommen zu haben, was sich in sein Lehrgebäude einfüge, und das Übrige zu übergehen (Peskes 1993, S. 105). Der wichtigste Ansatzpunkt in der theologischen Lehre Ibn Abd al-Wahhabs verdeutlicht zugleich sein Verständnis und seine Bewertung der zeitgenössischen

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islamischen Jurisprudenz. In seinem „Kitāb at-tauhīd“ stellt Ibn Abd al-Wahhab die provokante Gleichung auf: fiqh = širk, taqlīd = širk – also Rechtswissenschaft und taqlīd fallen unter die Kategorie Vielgötterei (Polytheismus) (Peskes 1993, S. 41). Ibn Abd al-Wahhab begründete diese Haltung damit, dass sich die Vertreter aller Rechtsschulen auf den Konsens geeinigt hätten, wonach es ausreiche, das Glaubensbekenntnis, die erste Pflicht eines Muslim, auszusprechen. Somit seien alle, die dieser Lehre im taqlīd folgten, mušrikūn (Polytheisten). Nach seinem rigorosen Islam-Verständnis ist das ein Anhaltspunkt für die Qualifizierung als kāfirūn (Ungläubige). Diese Gedanken spiegeln sich in der Eigenbe­zeichnung der Wahhabiten als „ahl al-islām“ = „Anhänger des Islam“ wider – als seien dies alle anderen nicht. Koran und Hadith forderten von Muslimen mehr als das bloße Lippenbekenntnis, meinte Ibn Abd al-Wahhab. So müsse das Glau­ bensbekenntnis über Herz (qalb), Zunge (lisān) und Handeln (’amal) zum Ausdruck gebracht werden. Hierin zeigt sich ein weiteres Mal die Affinität Ibn Abd al-Wahhabs zu Ibn Taymiyya. Letzterer war der Auffassung, zur Erfüllung des Glaubens seien die Kategorien qalb, lisān und’amal zwar empfehlenswert, jedoch nicht unabdingbar (Peskes 1993, S. 27). In ihrem Konsens haben sich die Gelehrten – in Ibn Abd al-Wahhabs Sicht – auf etwas Unislamisches geeinigt. Indem er nun einen Großteil seiner Vorfahren und Zeitgenossen zu Abtrünnigen erklärte, eröffnete er sich selbst die Möglichkeit, den taqlīd zu verwerfen und damit vom iǧtihād Gebrauch zu machen. Iǧtihād ist das freie, eigenständige Forschen in den religiösen Quellen zum Aufstellen religiöser Gesetze; nach dem Prinzip des taqlīd ist das nicht gestattet, da man sich an die früheren Lehrmeinungen halten muss. Seine Überlegungen mündeten in der Feststellung, dass Koran und Sunna immer über den Regelungen einer Rechtsschule stehen müssten. Wie Ibn Taymiyya erkennt er nur den Konsens der Prophetengenossen an (Peskes 1993, S. 93). Für Ibn Abd al-Wahhab ist die Konsequenz daraus, die blinde Autoritätshörigkeit zu einer einzigen Rechtsschule schlicht zu verbieten (Peters 1980, S. 141 ff.). Er erklärt: „Und ebenso habe ich zahlreiche klare ­Argumente, auf die ihr keine Antwort habt: (Koran 9/31) ‚Sie nahmen ihre Gelehrten und Geistlichen zu Herren neben Gott.‘ Der Gesandte Gottes und die Imame nach ihm haben diesen Vers mit dem erläutert (…), was ihr fiqh nennt; das ist was Gott als širk bezeichnet und sie zu Herren nehmen“ (zit. nach Peskes 1993, S. 36). Der fiqh des 18. Jahrhunderts erfährt hier eine massive Abwertung und korreliert mit der Forderung nach einer Art Renaissance der frühen islamischen Gemeinschaft, wo es weder fiqh, noch taqlīd oder iǧtihād gegeben habe (Peskes 1993, S. 43). Trotz allem kann Ibn Abd al-Wahhab den fiqh natürlich nicht komplett verwerfen, da ein komplexes Rechtssystem, wie es im Islam ­vorherrscht, ohne Überlegungen, die über Koran und Sunna hinausgehen, nicht möglich ist. Bei Joseph Schacht heißt es daher: „Die Wahhabiten haben,

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zusammen mit den theologischen Lehren Ibn Taymiyyas auch seine komplette Rechtstheorie übernommen, einschließlich der Ablehnung des taqlīd; zugleich haben sie das positive Recht der Hanbaliten so, wie es vor Ibn Taymiyya in der Rechtsschule entwickelt worden war, unverändert beibehalten“ (Vgl. 1986, S. 72 f.). Auch Rudolph Peters konstatiert, die Wahhabiten hätten keine genuin neuen Rechtstheorien geschaffen, sondern hingen de facto der hanbalitischen Rechtsschule an (1980, S. 97). Die zum Teil verkrampft wirkenden Bemühungen, äußerlich eine Distanz zu früheren Gelehrten einzuhalten, letztlich aber doch den Ideen der Vorläufer zu folgen, ist typisch für diese fundamentalistische Lehrmei­ nung im Islam. Sie steht immer im Spannungsverhältnis von Anspruch und Wirk­ lichkeit. Durch die Koalition Abd al-Wahhabs mit der Politik drängt sich ferner die Vermutung auf – noch mehr als bei Ibn Taymiyya –, dass es ihm vorrangig um strategische Überlegungen ging, die die Rechtfertigung für das Etablieren einer neuen Bewegung bieten sollten. Die Ablehnung des taqlīd und die Abwertung der Rechtsmethodik bilden heute eine Grundlage für die Salafisten, sich über die Konventionen der islamischen Rechtsgeschichte hinwegzusetzen, um ihre eigenen, meist radikaleren Vorstellungen zu propagieren. Deshalb kommt so häufig eine Diskrepanz zwischen der aktuellen Praxis vieler Fundamentalisten und der klassisch-islamischen zum Vorschein. Wegweisend für viele Salafisten ist außerdem die erfolgreiche Koalition Ibn Abd al-Wahhabs mit der Politik. Sie liefert bis heute den Anstoß dafür, mittels theologischer Überlegungen nach Macht zu streben.

3 Der gegenwärtige Streit um die Dogmatik In der Tradition von Ibn Hanbal, Ibn Taymiyya und Ibn Abd al-Wahhab stehen die modernen Vordenker des Salafismus al-Albani, Ibn Baz, al-Uthaymin und al-­ Maqdisi. Trotz der gemeinsamen Genese der vertretenen Dogmatik gibt es jedoch nach wie vor diverse Streitpunkte, die auch innerhalb der fundamentalistischen bzw. salafistischen Szene zu teils massiven Konfrontationen führen. Es wäre ein Trugschluss zu glauben, innerhalb dieser Strömung herrsche besondere Einigkeit. Eher das Gegenteil ist der Fall. Spitzfindigkeiten führen zu erheblichen Ausein­ andersetzungen. Das gilt überwiegend hinsichtlich islamrechtlicher Themen. Die Theologie bzw. die Frage danach, wie Gott ist, etwas, das insbesondere im Chris­ tentum eine Rolle spielt, ist gerade bei islamisch-fundamentalistischen Strömungen im Allgemeinen nachgeordnet. Für alle ist es selbstverständlich, dass die drei Glaubensgrundsätze das Fundament bilden: „al-islām“ – die Unterwerfung (damit sind die fünf Säulen gemeint: das Glaubensbekenntnis, das Gebet, das Fasten,

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das Almosen-Geben und die Pilgerfahrt nach Mekka), „al-imān“ – der Glaube (damit ist der Glaube an Gott, seine Engel, seine Bücher, seine Propheten, an den Jüngsten Tag und die Vorherbestimmung aller Dinge durch Gott gemeint) sowie al-ihsān – die Perfektion (damit ist gemeint, dass man Gott so dient, als würde man ihn sehen). Auch bestimmte theologische Einzelaspekte wie der tauhīd – also die Betonung der absoluten Einheit und Einzigkeit Gottes – werden in diesen Kreisen von niemandem bestritten. All das spielt allerdings für die Gestaltung des Alltags auch keine Rolle. Um den Zugriff auf den Alltag der Menschen aber geht es den Fundamentalisten. Religiöse Zwistigkeiten werden über die Umsetzung der theologischen Vorgaben ausgetragen. Die Glaubensgrundsätze, die das Verhältnis zwischen Mensch und Gott regeln, gelten grundsätzlich für alle islamischen Strömungen – ob liberal, konservativ oder fundamentalistisch. Der Unterschied zwischen diesen Strömungen knüpft sich primär an die praktische Ausgestaltung des Glaubens. Dafür die Regeln aufzustellen, ist Aufgabe des islamischen Rechts, und das konzentriert sich vorwiegend auf das Verhältnis von Menschen zu Mensch. Insbesondere der Fundamentalismus nun zielt darauf ab, das komplette Leben der Gläubigen zu regeln. Der wohl kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Salafisten mit Blick auf die Glaubenspraxis bringen lassen, lautet: Alle preisen das Vorbild der Urgemeinde als perfekten Zustand der Umma (der islamischen Gemeinschaft). Zu dieser Urgemeinde zählen die ersten drei muslimischen Generationen, die sogenannten al-salaf al-sālih (die frommen Altvorderen). Von diesen leitet sich sowohl die Bezeichnung Salafiten als auch die Bezeichnung Salafisten im Sinne von Anhänger der Altvorderen ab. Deren Handeln gilt Salafiten wie Salafisten als das einzig richtige Verständnis der Religion des Islams. Die Art und Weise, wie diese Altvorderen Gottes Offenbarungen begriffen haben und dem Vorbild des Propheten gefolgt sind, dient ihnen als absolute Richtschnur für die jeweilige Gegenwart – unabhängig vom Lauf der Zeit. Die Referenzfunktion dieser ersten drei Generationen ergibt sich zum einen daraus, dass sie zeitlich am nächsten am Propheten Mohammed gewesen sind und deshalb am besten beurteilen konnten, wie dieser Gottes Offenbarungen verstanden und gelebt hat. Zum anderen wird die Ausnahmestellung der al-salaf al-sālih und ihre Begrenzung auf drei Generationen durch einen Hadith vorgegeben, den die beiden wichtigsten Überlieferer, Muhammad al-Bukhari (gest. 870) und Muslim Ibn al-Hajjaj (gest. 875), in ihren kanonischen Sammlungen ausführen. Demnach hat der Prophet Mohammed gesagt: „Die besten Menschen sind diejenigen, die in meiner Gemeinde leben, dann diejenigen, die nach ihnen kommen, dann diejenigen, die nach diesen kommen.“ Ganz praktisch stellt sich allerdings die Frage: Welche gesicherten Erkenntnisse gibt es überhaupt über die al-salaf al-sālih und deren Theologie bzw. deren Rechtsverständnis? Diese

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Frage ist weitgehend offen. Es gibt nicht viele Wissenschaftler, die sich näher damit befassen oder befasst haben. Angesichts der dürftigen Quellenlage ist das Studium der Frühzeit des Islams mühsam. So liegen ausgerechnet aus dem 7. und 8. Jahrhundert, also jener Zeit, die für Salafisten und andere Fundamentalisten so zentral ist, kaum schriftliche Zeugnisse vor, und die späteren Aufzeichnungen sind quellenkritisch nicht unproblematisch (Görke und Melchert 2014). Wie schon Ibn Abd al-Wahhab lehnen Salafisten die Verpflichtung auf Rechts­ schulen ab, sodass sie sich nicht zwangsläufig an die Lehren ihrer ­ Vertreter gebunden fühlen. Damit eröffnen sich die Salafisten die Möglichkeit, altherge­ brachte Lehren aus 1200 Jahren islamischer Theologiegeschichte auszusortie­ ren, zu ignorieren oder zu verwerfen. Nur solche traditionellen Haltungen, die zu ihren Auffassungen passen, werden übernommen. Dies ermöglicht es den Salafisten auch, sich in der Praxis maßgeblich an neuen „Gelehrten“ wie al-Albani, Ibn Baz, al-Uthaymin und al-Maqdisi zu orientieren.

4 takfīr Eine Reihe bestimmter theologischer und religionsrechtlicher Konzepte, die insbesondere unter den Traditionalisten verbreitet sind und von ihnen ausgearbeitet wurden, spielen für Salafisten eine zentrale Rolle – mithin sind sie Hauptquell für die zahlreichen Streitigkeiten untereinander. Das wohl auffälligste ­islamrechtliche Prinzip der Salafisten ist eines, das inzwischen sogar eingedeutscht Eingang in die Fachsprache gefunden hat: Takfirismus. Das Wort leitet sich von dem arabi­ schen Begriff takfīr ab. Es bedeutet, jemanden zum Ungläubigen (kāfir) zu erklä­ ren (Abu-Zaid 1995; Adang et al. 2016). In der Hand von Salafisten ist das ein besonders scharfes Schwert. Es dient zum einen der Einschüchterung der eigenen Anhänger und zum anderen der Konturierung des Feindes, denn wenn über einen das Urteil des Unglaubens ausgesprochen wurde, gilt man im Sinne der salafistischen Radikalität gewissermaßen als vogelfrei – als Feind, der bekämpft werden darf. In der Geschichte des Islams hatte dieses Instrument – von Ausnah­ men radikaler Gruppierungen wie etwa den Charidschiten abgesehen – in der Alltagspraxis eher eine untergeordnete Bedeutung. Es galt in der Regel als verpönt, mitunter sogar als verboten, jemanden gegen seinen Willen zum Ungläubigen zu erklären, da es letztlich Gott obliegt, die Gläubigkeit eines Menschen zu bewerten. Dort, wo der takfīr nicht als verboten galt, wurden strenge Regeln für die Anwendung aufgestellt (Adang et al. 2016). Dynamik bekam das Prinzip durch Ibn Abd al-Wahhab. Ausgangspunkt für dessen takfīr war zwar allein der ­Vorwurf des Polytheismus, doch erkannte er dieses Vergehen bei seinen ­ Mitmenschen

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und Vorfahren in einem weit größeren Ausmaß, als es Gelehrte vor ihm getan haben. Somit erklärte Ibn Abd al-Wahhab letztlich einen Großteil derer, die seinen Vorstellungen nicht folgen wollten, zu Ungläubigen. Der heutige i­nflationäre Gebrauch des Instruments – im Internet werden permanent Personen zu Ungläu­ bigen erklärt – ist ein Phänomen der Moderne und hat vor allem mit politischen Machtbestrebungen kleinerer Gruppen zu tun.

5 bid’a In der islamischen Geschichte bedeutender als der takfīr ist das bereits erwähnte Konzept der bid’a – der Neuerung, des Einbringens von Gedanken, Lehren und Praktiken in den Islam, die sich (angeblich) nicht auf den Koran und die Sunna zurückführen lassen, sondern allein auf menschlichen Überlegungen beruhen (al-Ghazālī 2010; Rispler-Chaim 1991; Fierro 1992). Diese Neuerungen können bewusst oder unbewusst aufgrund der Fehlerhaftigkeit des Menschen Eingang in die islamischen Glaubensvorstellungen gefunden haben. Wie schon für die frühen Eiferer der islamischen Geschichte, ist bid’a auch für das Gedankengebäude der Salafisten wichtig. Das Konzept hat in ihren Händen zudem eine gruppendyna­ mische Funktion. Es dient als Instrument, um Grenzen zu anderen zu ziehen und missliebige Auslegungen religiöser Quellen abzulehnen. Das Problem bei der bid’a wie bei anderen islamischen Prinzipien besteht darin, dass es keine universellen Maßstäbe für die Anwendung gibt, sondern diese jeweils von den religiösen Quel­ len und Autoritäten abhängen, die man selbst für authentisch und maßgeblich hält.

6 al-amr bi-l-ma’rūf wa-n-nahy’an al-munkar Zu den zentralen Konzepten des Salafismus zählt ferner das Prinzip des „al-amr bi-l-ma’rūf wa-n-nahy’an al-munkar“. Es besagt, dass ein Muslim sich dafür einsetzen soll, das Rechte zu verbreiten und das Unrechte abzuwehren (Cook 2000). Dieser Terminus technicus findet sich wörtlich so im Koran wieder und wurde im Laufe der islamischen Geschichte systematisiert. Es gibt ellenlange schriftlich niedergelegte Abhandlungen dazu. Noch heute basiert etwa in Saudi-Arabien das Konzept der Religionspolizei auf diesem Prinzip: Die Religionspolizei, die über ein korrektes islamisches Verhalten der Menschen wacht, trägt diese Wortwahl „al-amr bi-l-ma’rūf wa-n-nahy’an al-munkar“ in ihrer offiziellen Bezeichnung. Auch die sogenannte „Scharia-Polizei“ deutscher Salafisten, die 2014 in Wuppertal für Aufsehen sorgte, knüpft ideell an dieses Prinzip an. Zudem spielt es in die Begründung

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für die eifrige Missionsarbeit (da’wa) der Salafisten mit hinein (Stichwort: Koranverteilaktion „Lies!“). Auch im Alltag des Einzelnen findet dieses Prinzip häufig Anwendung, wenn Glaubensgeschwister mal freundlicher, mal weniger freundlicher auf (vermeintliches) Fehlverhalten hingewiesen werden (Kaddor 2012).

7 al-walā’ wa-l-barā’ Ähnlich bedeutend ist das Prinzip der Loyalität und der Lossagung – ­arabisch: al-walā’ wa-l-barā’. Es besagt, dass man der eigenen Gemeinschaft ­beizustehen hat, während man sich von den Außenstehenden fernhalten muss – strenge Ausle­ gungen besagen sogar, dass man ihnen feindlich gesinnt sein muss (Wagemakers 2014). Dieses Prinzip erfüllt in der Realität ebenfalls eine gemeinschaftsstiftende Funktion im Sinne eines Freund-Feind-Denkens. Indem man sich gegenseitig der Loyalität der Anhänger zur eigenen Gruppe oder zum Anführer (nach klassisch-­ islamischer Vorstellung: der Kalif) vergewissert, hält man die Gruppe zusammen. Die logische Konsequenz aus diesem Denken ist die Abgrenzung Andersdenken­ der. Besonders hervorgehoben wird diese Abgrenzung hinsichtlich der Schiiten, der Sufis und des Westens. Vor allem gegen Schiiten wird Hass und Abneigung gepredigt. Von ihnen ist bereits seit dem 8./9. Jahrhundert als rāfida die Rede – also Ablehner. In der sunnitischen Häresiografie bezieht sich das darauf, dass schiitische Gruppierungen Ali als Nachfolger des Propheten sehen und die ersten drei Kalifen Abu Bakr, Umar und Uthman ablehnen. Dieser überlieferte Anti-­ Schiismus, der heute ebenfalls prägend für die Salafisten ist, spielte in den ersten Jahrhunderten des Islams keine wesentlich Rolle; es gibt zumindest keine jahrtausendealte Blutfehde zwischen Sunniten und Schiiten, wie man angesichts der gegenwärtigen Spannungen vermuten könnte. Der Konflikt verschärfte sich erst in der Neueren und Neuesten Geschichte – ganz besonders nach dem ­Aufstieg des Iran als schiitische Regionalmacht. Auch die Feindschaft gegenüber dem „Westen“ ist mehr politisch begründet als theologisch. Lediglich anti-sufische Haltungen gründen sich primär auf die Ablehnung von Glaubensverständnissen.

8 al-firqa al-nāǧiyya Salafisten verstehen sich selbst als diejenige Gruppe, die als einzige den Islam richtig praktiziert. Diese Haltung wird unter dem Begriff „al-firqa al-nāǧiyya“ subsumiert. In einem bekannten Hadith heißt es: „Meine Gemeinde wird sich in 73 Gruppen spalten, von denen alle mit Ausnahme von einer in das (höllische)

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Feuer eingehen.“ Die Frage, die viele Muslime umtreibt, ist natürlich die, welche nun diese eine Gruppe ist. Die Salafisten sind wie andere Fundamentalisten davon überzeugt, dass jeweils sie die besagte Gruppe bilden. Wie in anderen Religionen, in denen es die Vorstellung von Gottes Auserwählten gibt, geht es auch hier darum, sich der eigenen Besonderheit zu vergewissern sowie der Verpflichtung auf die Religion, um sich dadurch über andere Menschen zu erheben.

9 Formen des Salafismus Die zahlreichen Streitigkeiten unter Salafisten zeigen, dass die Strömung sehr heterogen ist. Wenn man sich an eine Gliederung der salafistischen Bewegung begeben möchte, gibt es die Möglichkeit, die Trennlinien nach dieser Binnenpers­ pektive auf die zentralen theologischen und religionsrechtlichen Konzepte zu ziehen – also nach der jeweiligen aqīda, dem Dogma, dem sie folgen. Eine weitere Möglichkeit ergibt sich aus der Außenperspektive. Während die Innenansicht für theologische, islamwissenschaftliche Fragestellungen von Relevanz ist, ist diese Außenansicht vor allem für den Umgang des Staates und der Zivilgesellschaft mit Salafisten sinnvoll, denn anhand dieser Gliederung lassen sich Antiradikalisierungsansätze anwenden. Heute werden gemäß dieser Außenansicht gemeinhin drei Hauptströmungen unterschieden: Da ist zunächst der puristische oder auch quietistische Salafismus. Dessen Anhänger halten sich in ihrem Privatleben am strengsten an die theoretischen und theologischen Überlegungen. Sie gelten als die Frommsten und sind am ehesten darauf erpicht, ihr Leben bis ins Detail an den Vorgaben des Propheten Mohammed auszurichten. Es dreht sich alles um ihren Glauben, alles andere wird dem untergeordnet. Um authentisch zu sein und alle Einflüsse der modernen Welt auszuklammern, versuchen diese Salafisten die Anfangszeit des Islams in ihrem Alltag möglichst weitgehend nachzuahmen. Viele von ihnen kleiden sich in knöchellange Gewänder, tragen Vollbärte (häufig mit abrasiertem Oberlippenbart) und eine Kopfbedeckung. Nach ihren Überzeugungen entspricht dies weitgehend dem äußeren Erscheinungsbild des Prophet Mohammed und dessen Gefährten. Die zweite Richtung ist die des politischen oder aktivistischen Salafismus. Dessen Anhänger vertreten prinzipiell dieselben Vorstellungen wie puristische Salafisten, verfolgen aber zugleich das Ziel, die Gesellschaft und den Staat nach ihren Vorstellungen umzugestalten. Zu ihrem Glaubensverständnis gehört die Pflicht, da’wa zu betreiben – also zu missionieren, Nichtmuslime zum Islam ­einzuladen und Muslime zur Vertiefung ihres Glaubens anzuhalten. Dabei wollen sie sowohl Muslime wie auch Nichtmuslime von ihrem Glaubensverständnis

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überzeugen. Zudem arbeiten sie aktiv gegen die gegenwärtigen politischen Systeme. Weil sie aber, wie in der Politik üblich, hier und da Kompromisse eingehen müssen, um ihre Ziele im Wettstreit mit den anderen Ideologien zu erreichen, sind sie in ihren Auffassungen mitunter weniger prinzipientreu als die Anhänger puristischer Strömungen. Sie sind pragmatischer und bereit, bestimmte Vorstellungen zurückzustellen, bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um sie umzusetzen. Dadurch können sie auch vorgeben, sich so lange an die demokratische Verfassung eines Staates zu halten, bis sie eine Mehrheit haben. Die dritte Richtung ist der dschihadistische Salafismus. Dessen Anhänger sind auch politische Salafisten, auch sie wollen den Wandel der bestehenden sozialen und politischen Verhältnisse – allerdings unter expliziter Einbeziehung von Gewalt. Sie wähnen sich in einem Dschihad, verstanden als Heiliger Krieg gegen Ungläubige. Um ihre Ziele zu erreichen, nehmen sie nicht nur in Kauf, dass Menschen getötet werden, sondern sie rufen aktiv dazu auf. Sie werben für Anschläge und Kriegseinsätze und werten eine Beteiligung daran als religiöse Pflicht. Dieser Dschihadismus tritt nicht nur in Kombination mit Salafismus auf, sondern auch in Kombinationen mit anderen islamistischen, fundamentalistischen Strömungen – seien es die Taliban in Afghanistan und Pakistan, das Al-Qaida-Netzwerk, die nigerianische Terrorgruppe Boko Haram oder Teile der Muslimbrüder bzw. ihrer Ableger wie die palästinensische Hamas-Organisation. Zur Rechtfertigung ihres Vorgehens ziehen Dschihadisten vor allem völkerrechtliche und menschenrechtliche Verfehlungen der USA und Europas heran. Hier fallen Stichworte wie der Irakkrieg von 2003, das Gefangenenlager Guantanamo oder der US-geführte Drohnenkrieg in Pakistan, Afghanistan und Jemen, bei dem immer wieder unschuldige Menschen ums Leben kommen. Außerdem wird auf die Diskriminierung und die ungerechte Behandlung von Muslimen insbesondere in den USA und in Europa hingewiesen – Stichwort: Islamfeindlichkeit. In der Realität verschwimmen die Grenzen der drei Hauptströmungen. Vorherrschend sind Mischformen. Puristen bedienen sich der Methoden politischer Salafisten, politische Salafisten greifen auf dschihadistische Elemente zurück. Das hängt unter anderem mit dem Verständnis zentraler Begriffe zusammen. So lässt sich das Adjektiv „dschihadistisch“ nicht nur auf den aktiven Einsatz von Waffengewalt gegen Ungläubige anwenden, sondern auch auf eine logistische und finanzielle Unterstützung von Kämpfern. Manche Experten lehnen vor diesem Hintergrund eine Unterteilung des Salafismus in drei Strömungen ab (Abou Taam und Sarhan 2014). Die Propaganda der politischen und dschihadistischen Salafisten richtet sich zuallererst nach innen, d. h. mit ihren radikalen Botschaften wollen sie andere Muslime anwerben (Abu Zayd 2010, S. 167). Erst dann wollen sie die ihnen

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feindlich gesinnte Umgebung ansprechen und einschüchtern. Zu dieser Umge­ bung zählen ohne Unterschied auch Muslime, die die Auffassungen der Salafisten nicht teilen wollen. Sowohl beim politischen Salafismus als auch beim dschihadistischen Salafismus bewegt man sich im Bereich des Islamismus. Der Islamismus vereint Muslime, die direkten Einfluss auf die politische Gestaltung ihrer Gesellschaft nehmen wollen. Dabei gibt es gemäßigte und radikale Flügel. Islamismus ist nicht automatisch mit Fundamentalismus und Extremismus gleichzusetzen. Manche islamistische Parteien wollen sich durchaus innerhalb bestehender politischer Systeme einbringen und verzichten auf Gewaltanwendung wie die MSP in Algerien, die PJD in Marokko oder al-Wasat in Ägypten. Als Überbegriff für das Phänomen Salafismus taugt der Begriff Islamismus allerdings nicht. ­Während alle salafistischen Strömungen Schnittmengen mit dem Fundamentalismus haben, verfolgen nicht alle politische Ambitionen: Die puristischen Salafisten fallen raus. Außerdem sind die Schwerpunkte bei salafistischen und islamistischen Bewe­ gungen anders gesetzt. So spielen der Dogmatismus und die Umgestaltung der Gesellschaft von unten bei Salafisten eine größere Rolle, während Islamisten vor allem auf das Erlangen politischer Macht aus sind, um dann von oben die Gesell­ schaft neu zu formen.

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Schneiders, Thorsten Gerald  M.A., Dipl.-Soz.-paed., ist Politik- und Islamwissenschaft­ ler und ausgebildeter Redakteur. Er lehrte zuletzt am Centrum für Religiöse Studien der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Von ihm sind zahlreiche wissenschaftliche Fachpublikationen zu den Themen islamischer Extremismus, islamisches Recht, Islam in Deutschland/Europa sowie zur arabischen Welt erschienen. Er arbeitet als Redakteur beim Deutschlandfunk in Köln.

Teil II Jugendkulturelle Aspekte

Grundlagen juveniler Vergemeinschaftung Uli Kowol

Die Lebensphase Jugend ist eng verbunden mit gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen. In traditionalen Gesellschaften vollzieht sich der Übergang von der Kindheit zum Erwachsenen in der Regel sehr schnell. Feststehende Rituale und Initiationsriten begründen diese Übergänge. Mit der Entstehung der Industriegesellschaft, der Entkopplung von Arbeitszeit und Freizeit und der sich schrittweise durchsetzenden Scholarisierung kommt es für die Heranwachsenden allmählich zu einem Moratorium beim Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter. Mit der Lebensphase „Jugend“ entstehen variable Räume für jugendkulturelle Gemeinschaftsbildungen, zunächst häufig in altershomogenen Gruppen (peers), Subkulturen und Cliquen. Individualisierungsprozesse führen im weiteren Modernisierungsverlauf zu Veränderungen von ständischen Lagen und Klassenlagen (Beck 1986), mit erheblichen Folgen für die Ausdifferenzierung, Entstrukturierung und Pluralisierung der Lebenslagen von „Jugendlichen“. Auf diesem Hintergrund entsteht eine Vielzahl von heterogenen juvenilen Vergemeinschaftungsformen, heute oft Szenen genannt. Szenen gelten als posttraditionale Vergemeinschaftungsformen, deren Kennzeichen Juvenilität, aber nicht mehr unbedingt Jugend im Sinne einer Lebensphase ist.

U. Kowol (*)  Fachhochschule Dortmund, Dortmund, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Toprak und G. Weitzel (Hrsg.), Salafismus in Deutschland, Edition Centaurus – Jugend, Migration und Diversity, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25837-5_2

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1 Jugend in vormodernen Gesellschaften Kinder gelten im Frühmittelalter als junge Erwachsene, die relativ schnell in alle Tätigkeiten der Erwachsenenwelt einbezogen werden (Ariès 1975, S. 45 f.). Erst ab dem 12. Jahrhundert mit der Entstehung der mittelalterlichen Städte entstehen ständespezifische Jugendgruppen.1 Bis dahin waren die Übergänge zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt ziemlich jäh. In den vormodernen, traditionalen Gesellschaften Europas, als es noch keine Schulpflicht gab und annähernd 85 % der Bevölkerung auf dem Land lebten, waren die Übergänge ins berufliche Leben recht abrupt, schon Sieben- oder Achtjährige wurden bei der bäuerlichen Arbeit auf dem Feld mit einbezogen oder sie wurden, spätestens mit zehn bis zwölf Jahren, in andere Haushalte weggegeben. Die adeligen Söhne gingen in England schon als durchschnittlich 15-Jährige zur Universität (Gillis 1980, S. 21 f.). Kinder wurden sehr schnell in alle Tätigkeiten des „ganzen Hauses“ miteinbezogen. Die Familien bildeten eine „Arbeits- und Wirtschaftsgemeinschaft“, in der „die Grunderfahrung (…) der wechselseitigen Abhängigkeit“ den „Zwang zur Solidarität“ generiert (Beck-Gernsheim 1994, S. 120 f.). In dieser engen Gemeinschaft blieb wenig Raum für „persönliche Neigungen, Gefühle, Motive“ (Beck-Gernsheim 1994, S. 120). Für die Heranwachsenden bedeutete dies, dass sie erst mit der Heirat oder einer Erbschaft einen neuen sozialen Status, den eines Haushaltsvorstandes, erreichten (Mitterauer 1986, S. 46 f.). In den Städten regelten Gesetze, dass erst nach dem Abschluss der Lehre geheiratet werden konnte, es gab Ausgangssperren, die Meister passten auf, dass die Heranwachsenden nicht tranken, und die Patrons, in deren Häusern die Heranwachsenden lebten, achteten sehr auf die Einhaltung dieser Regeln. Daneben spielten im 17. und 18. Jahrhundert die „Brüderschaften“ eine zentrale Rolle. Diese finden sich „in allen gewerblichen und akademischen Berufen“ (Gillis 1980, S. 36). Ein Eintritt in die Bruderschaft war mit ausgeprägten Initiationsriten verbunden, so mussten die Jungen die Zugehörigkeit zur Familie aufgeben, sie mussten sich einer symbolischen Taufe unterziehen und sie bekamen einen Spitznamen, der nur innerhalb der Bruderschaft bekannt war (Gillis 1980, S. 36). Weitere Initiationsriten in den traditionalen Gesellschaften Europas im ausgehenden 17. und dem beginnenden 18. Jahrhundert waren, neben der umfassenden Bedeutung der Wehrhaftigkeit, die Konfirmation und die katholische Firmung, verbunden mit vielen weiteren

1Eine

Ausnahme hiervon bildeten die griechischen Stadtstaaten sowie das römische Reich (Schäfers 2001, S. 41 ff.).

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Rechten: Religionsmündigkeit, Trauerriten, die Erlaubnis zum Besuch von Wirtshäusern, die Aufnahme des Gesindedienstes und nicht zuletzt drückte die Anredeform „Sie“ den neuen Status aus (Mitterauer 1986, S. 61 ff.).2 Mit der Expansion der Städte und der einsetzenden Urbanisierung, dem Rückgang bäuerlicher Landwirtschaftsorganisationen, der Entstehung kapitalistischer Fabrikordnungen und damit der massenhaften Verwandlung von Bauern in Arbeiter und der Zunahme staatlicher Kontrolle entstanden nun allmählich neue Perspektiven für die Jugend.

2 Die Okkupation des Raums: Jugend, Jugendkulturen und Subkulturen Die Modernisierungsprozesse im 17. und 18. Jahrhundert sind Ausdruck tief greifender sozialer, ökonomischer, sozialdemografischer, politischer und kultureller Veränderungen, in deren Folge die agrarisch strukturierten Gesellschaften Europas allmählich in Industrienationen und Stadtgesellschaften transformiert wurden. Die lange dominierende Form der familienwirtschaftlichen Kooperation, die Produktion und Reproduktion vereinte, wurde transformiert in individuelle Lohnarbeit, die diese Einheit von Produktion und Reproduktion aufbrach. Arbeitszeit und Freizeit wurden zu getrennten Sphären. Damit ging ein umfassender Wandel der Sozialstruktur einher: Der Auflösung der Ständegesellschaft folgte die Entstehung der Klassengesellschaft (Loo und Reijen 1992). Mit der Industrialisierung und Urbanisierung verbunden war eine Änderung der Familienformen. Ammen, Mägde und Knechte, die in der vorindustriellen Gesellschaft noch zur Familie, zum „ganzen Haus“ gehörten, mussten nun eigene Wege gehen. In den Städten entstand ein neues Familienmodell. Der Zwang zur Solidarität setzte sich in veränderter Form fort. Männer gingen zunehmend einer außerhäuslichen Erwerbstätigkeit nach. Frauen waren im engen Raum des Privaten vornehmlich mit Aufgaben der Kindererziehung und der Führung des Haushalts beschäftigt (Beck-Gernsheim 1994, S. 121). Die Arbeits- und Wirtschaftsgemeinschaft, so wie sie in den bäuerlichen und handwerklichen Familien der vorindustriellen Zeit existiert hatte, zerfiel, und es kam zu einer Trennung von Haushalt und Erwerb. Die nun deutlich niedrigere Kindersterblichkeit, die niedrigere Geburtenrate der Frauen sowie das allmählich durchgesetzte ­Verbot

2Weitere

Beispiele für Initiationsriten finden sich bei Schäfers (2001, S. 23 ff.).

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der Kinderarbeit begünstigten dann die Entstehung des Jugendalters, deren erste Kennzeichen die Familialisierung und Scholarisierung waren (Zeiher 1996, S. 27 ff.). Zeitschriften für Kleinkinder, Jugendliche und Erwachsene verbreiteten sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts und wurden vor allem von den wohlhabenden Familien abonniert (Gillis 1980, S. 115). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Schulpflicht dann in der Weimarer Verfassung verankert. Mit den steigenden Löhnen, der Verbesserung der hygienischen und der Wohnverhältnisse entwickelte sich für die bessergestellten Teile der Arbeiterklasse ein Trend zur Familienplanung. Jungen und Mädchen gingen nun länger zur Schule, die mit der Bildung verbundenen Aufstiegschancen wurden zunehmend geschätzt. Zum Ende des 19. Jahrhunderts entstanden zahlreiche Jugendklubs, das Freizeitverhalten der Jugendlichen konzentrierte sich auf Musik- und Tanzveranstaltungen, Kinobesuche, Sportveranstaltungen, Wirtshäuser und Rummelplätze (Gillis 1980, S. 137; Mitterauer 1986, S. 222). Zu beachten ist, dass die Entfaltungsmöglichkeiten für Mädchen nach wie vor erheblich eingeschränkt waren (Mitterauer 1986, S. 38). Und auch die Kinder der ärmeren Arbeiterfamilien konnten nicht an den genannten Freizeitaktivitäten partizipieren. Sie arbeiteten und trugen so zum Familieneinkommen bei (Gillis 1980, S. 138). Ihr wichtigster Freizeitort war die „die Straße“, wo es zwischen rivalisierenden Jugendbanden zu härteren Auseinandersetzungen kam (Gillis 1980, S. 138). Dieser Teil der Arbeiterjugend heiratete sehr früh und reproduzierte dann schnell die Armutserfahrungen der Eltern. Über diese lokal und territorial ausgerichteten Gemeinschaftsformen von (männlichen) Jugendlichen ist weit weniger bekannt als über die Burschen- und Landsmannschaften oder die studentischen Gemeinschaftsformen, zumal sie aus der Perspektive des Bürgertums schon begrifflich als Gangs, Straßenbanden oder Rudel diskreditiert wurden (Mitterauer 1986, S. 206 ff.). Im Berlin der 20er Jahre formierten sich einige dieser (sub-)kulturellen Jugendgemeinschaften als „wilde Cliquen“, deren Hauptgegner die nationalsozialistischen Jugendgruppen waren (Mitterauer 1986, S. 206 ff.). In dem Maße aber, wie sich der Schulbesuch in allen Schichten verallgemeinerte und die Schulzeit sich ausdehnte, nahmen auch die Freizeitaktivitäten der Heranwachsenden zu. Jugendliche schafften sich ihre eigenen Räume, zwar in Abhängigkeit von ihrer sozialen Herkunft sehr unterschiedlich und auch in der zeitlichen Spanne differenziert, doch immer klarer wurde um 1900 herum zwischen der Statusgruppe Kindheit und der Statusgruppe der Erwachsenen die Lebensphase Jugend sichtbar. Mit ihrer Konsolidierung und allmählichen Ausweitung kommt es dann mit dem Wandervogel zur ersten jugendkulturellen Bewegung, die eine eigene und einheitliche Alltagskultur mit eigener Kleidung, eigenem Stil, Aussehen und Verhalten begründet (Breyvogel 2005, S. 12 ff.). Die

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Wandervögel distanzierten und verselbstständigten sich radikal gegenüber der Erwachsenenwelt. Wandern ermöglichte die räumliche, zeitliche, sachliche und soziale Distanz zu Familie, Kirche und Schule. Zu dieser Zeit entstand auch die erste eigene Organisationsform der Arbeiterjugendbewegung, die sich 1904 aus dem „Verein der Lehrlinge und jugendlichen Arbeiter“ entwickelt hatte (Mitterauer 1986, S. 141 f., 225 f.). Dieser Autonomiegedanke findet sich weiterhin bei den 1907 gegründeten Pfadfindern und bei den bereits erwähnten „wilden Cliquen“. Die infolge der weiteren Industrialisierung voranschreitende Separierung von sozialen Schichten und Altersgruppen findet ihre Entsprechung in lebensphasenspezifischen Einrichtungen, wie Kinderheimen, Jugendheimen und Altersheimen (Schäfers 2001, S. 53). Die gesellschaftliche Anerkennung des Status Jugend drückt sich auch in den verschiedenen Institutionalisierungsprozessen aus, deren Gegenstand „Jugend“ ist: Jugendschutz, Jugendgerichte und Jugendgefängnisse, Wohlfahrtseinrichtungen und besondere Arbeitsvermittlungen für Jugendliche (Gillis 1980, S. 141). Weiterhin haben ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts die Jugendvereine einen großen Zulauf. Ein generelles Ziel dieser Institutionen war (und ist) es, die gesellschaftlichen Erwartungen der Mittelschicht und deren Verständnis von Jugendlichkeit auf alle Jugendlichen zu übertragen, was aber so nicht gelang. Das Ergebnis war einerseits enger angepaßtes und andererseits stärker abweichendes Verhalten, weil die Lebensbedingungen, die das Jugendalter begünstigen, in den verschiedenen Schichten der europäischen Gesellschaft nicht überall in gleichem Maße gegeben waren (Gillis 1980, S. 142).

Die Differenzierung von Jugendkultur und jugendlicher Subkultur begann. Zudem wurde nun die Jugend unter dem Generalverdacht des delinquenten Verhaltens betrachtet, welches „ungeachtet ihrer sozialen Herkunft“ (Gillis 1980, S. 177) potenziell bei allen Jugendlichen vermutet wurde. Wohlgemerkt, vermutet wurde, denn „es gibt keine Beweise für die Existenz einer kriminellen Subkultur“ (Gillis 1980, S. 184) von Jugendlichen um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert. Die axiomatische Vorstellung einer einheitlichen Jugendkultur (und sich davon abspaltende deviante Subkulturen) verhinderte lange Zeit die Sicht auf die Vielfalt von Jugendkulturen, innerhalb derer Jugendliche in Abhängigkeit von ihrer sozialen Lage selbstorganisierend eigene Werte, Normen und kulturelle Ausdrucksformen generieren. Die Entwicklung vielfältiger Jugendkulturen wurde jäh unterbrochen durch den Ersten Weltkrieg. Viele Jugendliche zogen freiwillig in den Krieg. Während

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sich die Arbeiterjugendlichen dem Krieg gegenüber ablehnend verhielten, zogen viele Jugendliche aus dem Wandervogel begeistert in den Krieg. In der Zeit zwischen den Weltkriegen formierten sich verschiedene politische Lager, die Parteien gründeten Jugendorganisationen und die Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Jugendorganisationen nahmen zu und wurden blutiger. Mitterauer (1986, S. 230) verweist darauf, dass 1927 ca. 40 % der Jugendlichen organisiert waren, was ein sehr hoher Organisationsgrad ist. Nur im Nationalsozialismus – die Hitlerjugend vereinte 1939 fast 98 % der 10- bis 18-Jährigen – war der Organisationsgrad höher (Mitterauer 1986, S. 232 sowie Klönne 1955). Die Swing-Jugend im nationalsozialistischen Deutschland gilt als „die erste moderne, d. h. städtische und großstädtisch-metropolitane (…) Jugendsubkultur“ (Breyvogel 2005, S. 21), da sie zum einen die herrschende faschistische Ideologie unterlief und zum anderen die zentralen bürgerlichen Werthaltungen (Leistungsideologie, Ordnungs- und Anstandsbegriff, traditioneller Antiamerikanismus) ablehnte (Breyvogel 2005, S. 21). Äußere Kennzeichen der Swing-Jugend, zu der auch schon Mädchen gehörten, waren die Art der Kleidung, lange Haare, das Tragen von Abzeichen und bei den Mädchen gefärbte Lippen und lackierte Fingernägel (Breyvogel 2005, S. 25). Grammofon, Schallplatten und später Kassettenrekorder waren die „signifikanten Objekte“ (Breyvogel 2005, S. 25). Nicht unerwähnt bleiben darf, dass es auch verschiedene jugendliche Gruppen gab, die aktiv Widerstand leisteten und deren bekannteste die studentische Gruppe um die Geschwister Scholl mit dem Namen „Weiße Rose“ war (Klönne 2003). Nach 1945 bildete sich zunächst ein Vakuum jugendkultureller Aktivitäten, welches bis in die Wiederaufbauphase der 1950er Jahre hineinreichte. Zwar reorganisierten sich die parteinahen, die evangelischen und die katholischen Jugendverbände, die Gewerkschaftsjugend und einige Teile der bündischen Jugendverbände, sie knüpften aber an ihre Traditionen aus der Weimarer Republik an und erzeugten keinen neuen jugendkulturellen Aufbruch, mithin keine autonome Jugendkultur (Breyvogel 2005, S. 35 f.). Schelsky (1957) spricht angesichts einer unpolitischen Jugend, für die existenzielle Fragen im Vordergrund stehen, von einer „skeptischen Generation“. Zu einem jugendkulturellen Aufbruch kam es erst infolge des Wirtschaftsaufschwungs (dem sogenannten Wirtschaftswunder) in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre. Viele Autoren und Autorinnen sehen in den Halbstarken und den Rockern eine subkulturelle Jugendkultur, die sich aus den bildungsfernen Schichten rekrutiert und deren Verhaltensmerkmale vergleichbar mit denen der Arbeiterjugendlichen von vor 1914 sind und die Gemeinsamkeiten mit den Wilden Cliquen und den Edelweißpiraten der 20er und 30er Jahre hat (Lange 2015). Dies ändert sich allmählich mit den Bildungsreformen, ausgelöst durch Pichts

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Veröffentlichung über die „Bildungskatastrophe“ (1964) und Ralf Dahrendorfs „Bürgerrecht auf Bildung“ (1965). Die 60er Jahre sind der Beginn der weiteren Ausdifferenzierung jugendlicher Gemeinschaften. Gegenüber den formellen Ordnungen der Vereinsjugend, den Burschenschaften, den berufsständischen Gruppen und den territorial und lokal abgegrenzten Jugendcliquen wird nun das jugendliche Gemeinschaftsleben weitgehend entritualisiert und entformalisiert (Mitterauer 1986, S. 236 ff.).

3 Expansion und Differenzierung von Jugendkulturen und Subkulturen Für Neidhardt (1970), hier folgt er Schelsky (1957), ist auch noch in den 1970er Jahren „Jugend eine Übergangssituation zwischen sozialer Unreife und sozialer Reife, ein Nichtmehr und Nochnicht“ (Neidhardt 1970, S. 14), wobei er darauf hinweist, dass exakte Altersabgrenzungen kaum bestimmt werden können. Am ehestens könne dies für Gesellschaften mit Initiationsriten analysiert werden, da in solchen Gesellschaften klar war, wer welchen Altersstatus besaß (Neidhardt 1970, S. 14). Neidhardt legt dar, dass Gesellschaften sich danach unterschieden haben, ob mit einem solchen Initiationsritus der Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter vollzogen wurde oder ob es zwei solcher Rituale gab, einmal für den Wechsel von der Kindheit zur Jugend und dann von der Jugend zum Erwachsenen, denn nur in dem letzten Fall gibt es für die Lebensphase Jugend eine deutliche Zäsur zur Kindheit und zur Erwachsenenwelt (Neidhardt 1970, S. 15). In modernen säkularisierten Gesellschaften verflüchtigen sich solche Initiationsriten (Kommunion, Konfirmation, Jugendweihe etc.), was sowohl für die Jugendlichen selbst den Verlust klarer Zuordnungen zu den Altersphasen beinhaltet als auch für die soziologische Beobachtung altersspezifische Differenzierungen erschwert. Mit der allgemeinen Tendenz zur Deinstitutionalisierung der Ehe verliert auch die Hochzeit ihren eindeutigen Status als Übergangsritus ­(Mitterauer 1986, S. 47, 87). In Anschluss an die grundlegenden Untersuchungen von Eisenstadt (1966) entstehen altershomogene Gruppen mit hoher Wahrscheinlichkeit dann, wenn eine Gesellschaft arbeitsteiliger, differenzierter und komplexer wird und Institutionen ausbildet, in denen gesellschaftliche Normen und Werte vermittelt werden. Wenn in diesen öffentlichen Institutionen Normen und Wertorientierungen gelehrt werden, die von denen der Familien abweichen, diese also nicht von den Eltern vermittelt bzw. gelehrt werden, muss das heranwachsende Individuum dann an einem Scheidepunkt in seinem Lebensweg das familiär geprägte Normen- und

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Wertesystem verlassen, um seinen eigenen Status in der Gesellschaft zu festigen. Die entstehende Differenz zwischen dem Werte- und Normensystem der Familie und dem Normensystem der Gesellschaft generiert Eisenstadt zufolge die „Tendenz zu altershomogenen Beziehungen und Gruppenbildungen“ (Eisenstadt 1966, S. 37). Diese Tendenz verstärkt sich, wenn sich die Spannungen zwischen Jugendlichen und Erwachsenen vergrößern, entweder weil ein rascher sozialer Wandel zu einer größeren Kluft zwischen den Generationen führt oder weil der Aufstieg der jüngeren durch die ältere Generation behindert wird (Neidhardt 1970, S. 66 f.). Altershomogene Gruppen (peers) erfahren durch Schulen und die dortige Klasseneinteilung eine gesellschaftliche Institutionalisierung. Auch wenn strukturfunktionalistische Erklärungen skeptisch betrachtet werden können (Mitterauer 1986, S. 42 f.; Griese 1987), so lässt sich heute zeigen, dass es sehr klare und divergente Altersbestimmungen innerhalb der gesellschaftlichen Teilsysteme gibt, so im Rechtssystem (z. B. im Jugendstrafrecht), in der Politik (aktives und passives Wahlrecht), im Bildungswesen (Schulpflicht), in der Religion (Religionsmündigkeit) oder auch der Wirtschaft (volle Geschäftsfähigkeit) (Scherr 2009, S. 133 ff.). Es gibt aufgrund der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften keinen übergeordneten Fluchtpunkt mehr, von dem Jugend einheitlich zu bestimmen wäre. Je nach Funktionssystem (Politik, Bildung, Religion, Recht etc.) werden heute unterschiedliche Konstrukte des Begriffs Jugend verwendet. Definitionen des Begriffs Jugend sind also heute aufgrund gesellschaftlicher Ausdifferenzierungsprozesse genuin heterogen. Als weitere Schwierigkeit kommt hinzu, dass die Semantik von „der Jugend“ das Problem mitführt, dass eigentlich aufgrund der starken Binnendifferenzierung der Lebensphase Jugend sowie der unterschiedlichen Lagen, (Herkunfts-)Milieus und Schichten konsequenterweise im Plural von den „Jugenden“ gesprochen werden müsste (Scherr 2009, S. 24). Schon in den 1960er Jahren hat Friedrich Tenbruck darauf hingewiesen, dass sich die Lebensphase Jugend „stetig und jüngst beschleunigt ausdehnt“ (Tenbruck 1971, S. 87). Aus seiner Sicht hat sich eine „enorme Verlängerung der Jugendspanne“ (Tenbruck 1971, S. 87) vollzogen. Im Kontext dieser Ausweitung entwickle die Jugend eine eigene „Teilkultur“ (S. 88), die sich durch „Eigenart und Autarkie“ (Tenbruck 1971, S. 88) gegenüber der Erwachsenenkultur absondere. Gleichwohl beobachtet er einen „Puerilismus der Gesamtkultur“ (Tenbruck 1971, S. 88), denn „Umgang, Vergnügen, Lektüre, Freizeit, Moral, Sprache, Sitte der Erwachsenen weisen zunehmend jugendliche Züge auf“ (Tenbruck 1971, S. 88), sodass die Jugend nicht nur eine eigene Teilkultur besitze, sondern „sie ist in mancher Hinsicht zur dominanten Teilkultur geworden“ (S. 89).

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Mit dem Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft entsteht, insbesondere ausgelöst durch die Bildungsexpansion, aber auch durch die umfassende Bedeutung der Massenmedien, die Zunahme differenzierter Konsummuster, die weitere Säkularisierung der Gesellschaft und nicht zuletzt durch die Liberalisierung von Sexualnormen eine nachjugendliche Lebensphase (Postadoleszenz), in der die Jugendlichen – die der Mittelschichten mehr als die Arbeiterjugendlichen – zwar nicht im ökonomischen Sinne, dafür aber in intellektueller, politischer, kultureller und sexueller Hinsicht weitgehend unabhängig sind, „und damit haben sie reichlichere Gelegenheit für soziale Experimente und politische Umtriebe, die ihre Generation von den vorangegangenen unterscheidet“ (Gillis 1980, S. 209). Die Eigensinnigkeit der Lebensphase Jugend wird nun in vielen gesellschaftlichen Bereichen überdeutlich: eigenes Zimmer, selbstbestimmte Freizeitaktivitäten und Konsummuster, Musik, Kleidung, Sexualität und Motorisierung. Die lange Zeit geltende „Koinzidenz von Haushaltsgründung und Eheschließung“ (Mitterauer 1986, S. 116) zerbricht und den männlichen wie weiblichen Jugendlichen wird gesellschaftlich zugestanden, allein oder in Wohngemeinschaften zu leben. Auch löst sich der über Jahrhunderte in bäuerlichen Gesellschaften geltende Zusammenhang zwischen Besitztransfer und Heirat weitgehend auf (Mitterauer 1986, S. 120 f.), individuelle Partnerwahl wird in der modernen Gesellschaft zum Leitbild jugendlicher Selbstbestimmung. Ausgehend von der Studentenbewegung der 1968er Jahre differenzieren sich nun unterschiedliche jugendkulturelle Bewegungen aus, die zum Teil nebeneinander, zum Teil nacheinander eine jeweils relevante Rolle in der Bundesrepublik innehatten. Hierbei spielen vor allem Musik, Drogen, hedonistische Einstellungen und die Negation bürgerlicher Normen eine zentrale Rolle. (Hartwig 1980) Jugendliche Gegen- bzw. Alternativkultur (Hollstein 1979) findet sich in den 70er und 80er Jahren unter anderem in der Jugendzentrumsbewegung, der Hausbesetzerszene, der Schülerbewegung, bei den Punks und Gothics. Nach und nach werden diese aber durch Kommerzialisierung (Konzertveranstalter, Plattenindustrie, Elektronikhersteller, Discokultur usw.) ihres Charakters einer Alternativkultur beraubt. Mit den rechtsextremen Jugendlichen tritt erstmals Ende der 80er Jahre eine nichtprogressive, antimoderne jugendkulturelle Bewegung auf, die seitdem in verschiedenen gesellschaftlichen Räumen von sich reden macht: Schulhof-CDs mit rechtsradikalen, xenophobischen Aussagen, rechtsradikale Konzerte, Graffiti und kryptische Symbole auf der Kleidung einschlägiger Modefabrikate sollen entsprechende Sinnangebote vermitteln (Innenministerium des Landes NRW 2007). In der Differenz der Jugendkultur zur Erwachsenenkultur wird der Zusammenhang zwischen Subkultur und Devianz aber allmählich relativiert, da den Jugendlichen die Legitimität einer eigenständigen Kultur zugesprochen und diese als ein

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transitorisches Phänomen akzeptiert wird. Dem Begriff der Jugendkultur, darauf verweisen Pfadenhauer und Eisewicht (2015, S. 292), ist nicht mehr die Widerständigkeit inhärent, so wie dies für den Begriff der Subkultur galt, sondern die Eigenständigkeit der Lebensphase Jugend, die angesichts gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse zunehmend entstrukturiert und destandardisiert wird. Während Tenbruck (1971, S. 88) davon sprach, dass Jugendliche eine „Teilkultur“ entwickeln, wurde der Begriff der Subkultur von Robert R. Bell (1971, S. 83) synonym benutzt, um damit „strukturelle und funktionale Eigenheiten“ dieser Phase zu kennzeichnen, die sich von der übrigen Gesellschaft unterscheiden. Die jugendliche Subkultur wird von ihm als ein transitorisches Phänomen, als eine „Entwicklungsphase“ (S. 86) gesehen, „durch die der Jugendliche hindurchgeht und der er wieder entwächst“ (ebd.). Mit 16 Jahren Rock and Roll zu hören sei in Ordnung, „bedenklich wird es aber, wenn sich jemand noch mit 26 Jahren mit dieser Art von Musik identifiziert“ (ebd.). Ein anderer Akzent wird gesetzt, wenn mit dem Begriff der Subkultur das Spannungsverhältnis zwischen den widerstreitenden Normen und Werten von Arbeiterjugendlichen und Mittelstandsjugendlichen gekennzeichnet werden soll, wie dies in den prominenten Studien des Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) konzeptualisiert wurde. Subkulturen wurden dort in Anlehnung an die traditionellen „cultural studies“ als alternativer Lebensentwurf derjenigen (benachteiligten) Arbeiterjugendlichen verstanden, die sich in einer prekären sozialen Lage befinden (Pfadenhauer und Eisewicht 2015, S. 290). Die Subkultur wurde dementsprechend als Widerstandskultur interpretiert, als Widerstand sowohl gegen die Erwachsenenwelt als auch gegen die hegemoniale Kultur des Kapitalismus. Unter diesem Vorzeichen wurden klassenspezifische Jugendkulturen wie die Skins, Mods, Rocker, Hip-Hopper und Punks analysiert. „Jugendkultur als Widerstand“ (Clarke 1979) hieß eine der bekanntesten Monografien aus dieser Zeit. Heute lassen sich erhebliche Relativierungen gegen das Subkulturkonzept vorbringen3, beispielsweise, dass die darin mitschwingende Nähe zu abweichendem Verhalten durch die Vielfalt und weitgehende Kommerzialisierung jugendlicher Gemeinschaftsbildungen obsolet geworden ist, dass der Begriff „Subkultur“ die Separierung eines einheitlichen aktuellen kulturellen Mainstreams voraussetzt, dass es eine klare Trennung zwischen Jugend- und Erwachsenenkultur gibt (was, wie weiter oben gezeigt, schon Tenbruck verneinte), dass es schwierig ist, bei einer Pluralisierung und Individualisierung von Lebenslagen und Lebensphasen

3Grundlegend

schon Vaskovics (1989).

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von weitgehend gemeinsam geteilten Normen und Werten g­rößerer Gruppen, also einem kulturell homogenen Gebilde auszugehen, von dem einige dann subkulturell abweichen, dass klare Grenzziehungen zwischen einer subkulturellen Widerstandskultur und der kommerziellen Popkultur schwieriger werden und dass sich verschiedene jugendkulturelle Praktiken klassenspezifisch zuordnen lassen (Farin 2001, S. 17 ff.; Hartwig 1980, S. 65 ff.; Scherr 2009, S. 186 ff.; Sūna und Hoffmann 2011, S. 220 f.). Empirisch konnte zudem gezeigt werden, dass der Musikgeschmack von Schülern und Schülerinnen „bis auf das Geschlecht von ethnischen und sozialen Zugehörigkeiten unabhängig ist“ (Sūna und Hoffmann 2011, S. 222). Eine weitere Bruchlinie zum Konzept der Subkultur bzw. zum Jugendkulturkonzept kann darin gesehen werden, dass Szenen ihren Ausschließlichkeitscharakter als allein durch Jugendliche frequentiert verlieren und an die Stelle des Jugendlichen die „juvenil orientierten Personen [treten – U.K.], worunter Akteure jeden Alters zu verstehen sind, die eine dezidiert jugendliche Haltung an den Tag legen“ (Pfadenhauer und Eisewicht 2015, S. 294). So finden sich auf dem Wave-Gotik-Treffen in Leipzig oder dem Wacken Festival in Schleswig-Holstein keinesfalls nur Jugendliche im klassischen jugendsoziologischen Sinne. Dies gilt für weitere Szenen in vergleichbarer Form (Veganer, Heavy Metal, Techno). Nicht nur der Zusammenhang von Szene und gemeinsam geteiltem sozialen Hintergrund bzw. sozialer Herkunft relativiert sich, sondern auch der Zusammenhang von Szene und Alter. Insgesamt lässt sich resümieren: Die Prägekräfte der klassen- und milieuspezifischen Determinanten für die Bildung jugendkultureller Gemeinschaften nehmen ab. Gegenwärtige Individualisierungsprozesse im Rahmen weiter fortschreitender Modernisierung relativieren komplexe klassen-, schicht-, gender- und milieuspezifische Vorgaben, jedenfalls im Bereich soziokultureller Entwicklungen. „Die Kontinuitätslinien von sozialen Klassen und Schichten mit ihren kulturell prägenden Milieus lösen sich in diesem Vorgang der Geschichte der Jugendkulturen des 20. Jahrhunderts weitgehend auf“ (Breyvogel 2005, S. 68). Das schließt aber keinesfalls aus, dass solche Vorgaben in anderen jugendkulturellen Gemeinschaften (z. B. im Sport oder in politischen Szenen) weiterhin gesucht werden. Im Folgenden wird nun auf die theoretische Ausarbeitung des Szene-Konzepts eingegangen, um dann den Punkt der Sub- und Jugendkulturen nochmals aufzunehmen (Hitzler 1998; Hitzler et al. 2008; Hitzler und Niederbacher 2010).

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4 Individualisierungsprozesse und juvenile Vergemeinschaftungsformen Seit den 1980er Jahren nehmen die soziologischen Beobachtungen eines weiteren historischen Wandlungsprozesses zu. Argumentiert wird, dass die klassischen industriegesellschaftlichen Muster (Normalarbeitsverhältnis, Normalfamilie, Normalbiografie) brüchig werden (Matthes 1982; Beck 1986, 1994; Giddens 1995): Beck-Gernsheim (1994) analysiert, wie im 20. Jahrhundert mit der Entstehung und dem Ausbau des Sozialstaates, der Veränderung der Familienformen, der Bildungsexpansion und der Entstandardisierung der Erwerbsarbeit der Trend in Richtung Individualisierung voranschreitet. Dabei bezieht sie sich auf die Individualisierungstheorie von Beck, der Individualisierung als einen „historisch widersprüchlichen Prozess der Vergesellschaftung“ beschreibt, in dem die Menschen aus vorgegebenen Sozialformen (Klasse, Schicht, Religionsgemeinschaft, Milieu, Familie, Beruf) herausgelöst werden (Beck 1994, S. 43) und „verstärkt auf sich selbst und ihr individuelles (Arbeitsmarkt-)Schicksal mit allen Risiken, Chancen und Widersprüchen verwiesen“ (Beck 1994, S. 44) werden. Der Arbeitsmarkt mit seinen Teilkomponenten Bildung, Mobilität und Konkurrenz wird von Beck als „Motor“ dieses Individualisierungsprozesses bezeichnet (1994, S. 46 ff.). Beck-Gernsheim (1994) sieht in diesem Individualisierungsprozess auch das Binnenverhältnis der Familienmitglieder tangiert und führt dazu aus, dass die „auseinanderstrebenden Einzelbiografien … immer mehr Abstimmung“ (S. 123) benötigen. Familie wird zum „Balance-Akt“, Frauen entwickeln eigene Ansprüche an Bildung, Beruf und Arbeitsmarkt, und indem sie diese Ansprüche realisieren, lösen sie sich aus dem Modell der (männlichen) Versorgungsfamilie heraus. Im Ergebnis ist die industriegesellschaftliche Normalfamilie nicht mehr der alleinige Standard, alternative Lebensformen verbreiten sich. Diese Ausdifferenzierung von Lebens- und Familienformen geht einher mit der weiteren Pluralisierung und Individualisierung von Kindheit und Jugend (Rolff und Zimmermann 1997, S. 195 ff.). Vorangetrieben wird diese Pluralisierung und Individualisierung auch durch eine zunehmende Entstandardisierung der Erwerbsarbeit. Daraus ergibt sich Beck zufolge ein historischer Möglichkeitsraum für vielschichtige und vielgestaltige neue Entwicklungen in der Privatsphäre. Neue Lebensformen und Sozialbeziehungen werden erprobt, ein „Labyrinth der Selbstverunsicherung, Selbstbefragung und Selbstvergewisserung“ (Beck 1994, S. 55) entsteht und führt zu experimentellen Umgangsweisen mit sozialen Beziehungen, dem eigenen Leben, dem Körper usw. In der individualisierten Gesellschaft gilt erstmals die Heirat nicht mehr als der bedeutendste familiale Statusübergang. Auch ist der Übergang in die Erwerbsarbeit und damit die Erlangung eines eigenständigen ökonomischen

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­tatus nicht mehr als Zäsur des Abschlusses der Jugendphase anzusehen. S Dagegen ist die Konsumentenrolle für die meisten Jugendlichen sehr früh unbeschränkt zugänglich (Hurrelmann und Quenzel 2013, S. 42 f.). Die eindeutige Bestimmung des Endes der Jugendphase wird also schwieriger, da klare Statusübergänge fehlen. „Jugend endet heute nicht mit einem einschneidenden Erlebnis, sondern sie franst irgendwann einfach aus, verabschiedet sich stillschweigend“ (Janke und Niehaus 1995, S. 12). Jugend ist ein offener Lebensbereich geworden, keine Vorbereitung mehr auf etwas anderes, eine eigene Welt (Ferchhoff 2007, S. 85 ff.). Damit einher geht eine „Entstrukturierung“, „Biographisierung“ bzw. „Individualisierung“ von Jugend(-en) (Ferchhoff 2007, S. 96 f.). In diesem Kontext haben sich die jugendkulturellen Differenzierungsprozesse fortgesetzt und heute eine schwer zu überschauende Vielfalt erreicht. Sie sind geprägt durch unterschiedlichste jugendkulturelle Stile, Einstellungen, Rituale, Symbole und Ausdrucksformen. Da die lebenspraktische Relevanz von Klassen- und Schichtkonzepten abgenommen hat, so Hitzler und Niederbacher (2010, S. 11), ändern sich auch die klassischen Gesellungsformen (Familie, Nachbarschaften, Kirchengemeinden, Verbände etc.). Jugendliche suchen sich dementsprechend neue Vergemeinschaftungsformen mit „eigene(n) Regeln, Relevanzen, Routinen und Weltdeutungsschemata“ (Hitzler und Niederbacher 2010, S. 14), allerdings mit situationsspezifisch beschränkter, also partieller Geltung. Darüber hinaus sind die Angebote plural, d. h. abwählbar. Die Angebote zur Gemeinschaftsbildung belassen die Chancen ebenso wie die Risiken der materiellen Sorge, der Lebensführung und Sinngebung beim Einzelnen (Hitzler und Niederbacher 2010, S. 14 f.). Hitzler und Niederbacher (2010) schlagen vor, für diese posttraditionalen Vergemeinschaftungsangebote den Begriff der Szene zu nutzen, da dieser gegenüber dem Begriff der Peergroup den Vorteil aufweise, weder nur altershomogene Gruppen noch lokale Gemeinschaften zu assoziieren. Szenen werden verstanden als eine „Form von lockerem Netzwerk, einem Netzwerk, in dem sich unbestimmt viele beteiligte Personen und Personengruppen vergemeinschaften. In eine Szene wird man nicht hineingeboren oder hineinsozialisiert, sondern man sucht sie sich aufgrund irgendwelcher Interessen selber aus und fühlt sich in ihr eine Zeit lang mehr oder weniger ‚zu Hause‘“ (ebd. S. 15 f.). Szenen sind nicht unbedingt lokal begrenzt, obwohl sie durchaus lokales Kolorit aufweisen können. Das unterscheidet sie von Cliquen, die lokal begrenzt sind. Sie basieren nicht auf Mitgliedschaft, sondern stellen eher „Gesinnungsgemeinschaften“ (ebd. S. 16) dar. Szenen haben jeweils einen bestimmten Fokus (Musik, Sport, Weltanschauung, Konsumgegenstände etc.), ein zentrales Thema,

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um das herum mit dem „Gebrauch szenetypischer Symbole, Zeichen und Rituale“ (ebd. S. 17). Zugehörigkeit inszeniert wird. Diese „Inszenierungsphänomene“ dienen den Jugendlichen der sozialen Verortung. Gleichwohl sind Szenen labile Gebilde (ebd. S. 19), denn sie beruhen allein auf freiwilliger Selbstbindung und können von den Jugendlichen jederzeit verlassen und ausgetauscht werden. Das unterscheidet sie von Milieus, die eine stärkere Kohäsion aufweisen und die eher aus ähnlichen bzw. gleichen Lebenslagen entstehen. Zu den Szenen gehören unverzichtbar Events, die „nach szenetypischen ästhetischen Kriterien kompiliert oder synthetisiert werden“ (ebd. S. 22). Die Organisation solcher Events setzt in der Regel eine (oder mehrere) Organisationseliten voraus.4 Die hohe Dynamik von Szenen zeigt sich besonders darin, dass die Forscher „eine erkennbar zunehmende Neigung von Jugendlichen zum Szene-Hopping bzw. zum ‚Crossover‘“ (ebd. S. 26) ausmachen. Szenen werden als eine Sozialisationsinstanz eigener Art, jenseits von Familie, Schule und Sportverein verstanden, in denen dennoch nicht nur Spaß im Zentrum steht, sondern ebenso Kompetenzerwerb und Lernen (Hitzler und Pfadenhauer 2007; Pfadenhauer und Eisewicht 2015). Ging es in den Anfängen noch allein um Jugendszenen (Hitzler et al. 2001), wird heute in Ansätzen eine „Juvenilisierung der Lebensphase Erwachsener“ erkennbar, deren Kehrseite die „Adulterisierung der Lebensphase Jugend“ darstellt (Hurrelmann und Quenzel 2013, S. 52). Ferchhoff und Dewe (2016) schreiben: „Kindheit, Jugend und Erwachsensein gehen manchmal ineinander über und können sich auf paradoxe Art vermischen“ (S. 40). In der Konsequenz habe sich der „Jugendstatus … vom Altersstatus abgekoppelt. Jugendliche Leitbilder strahlen … als Placeboeffekte in alle Altersklassen hinein“ (Ferchhoff und Dewe 2016, S. 44). Innerhalb der neueren Forschung werden deshalb Szenen keiner Teilkultur oder Jugendkultur mehr zugerechnet, sondern in Abgrenzung dazu werden sie „als teilkulturelle Formationen der Gesellschaft und damit nicht lediglich als Teil der Jugend verstanden“ (Pfadenhauer und Eisewicht 2015, S. 294). Die Szeneforschung gibt damit ihre bisherige Begrenzung auf die Jugendkultur auf (Niederbacher und Hitzler 2015). Wird also mit dem Begriff der Jugendkultur eine deutliche Grenze zur Erwachsenenkultur vollzogen, geht es beim

4Auf

der Website www.jugendszenen.com werden eine Reihe aktueller Jugendszenen hinsichtlich verschiedener Erlebniselemente (thematischer Fokus, Einstellungen, Lifestyle, Symbole und Rituale, Treffpunkte und Events und Medien) analysiert.

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Szenekonzept vor allem um die Abgrenzung zu anderen Szenen. Szenen werden also heute (altersunabhängig) als „Vergemeinschaftung juveniler Menschen“ (Niederbacher und Hitzler 2015, S. 340) verstanden. Gleichzeitig verweist Hitzler nachdrücklich darauf, dass Szenen nicht „als modisches Synonym zu verstehen sein sollten für jede Art von Jugendkulturen schlechthin“ (Hitzler 2008, S. 62). Neben den Szenen bestehen dementsprechend weiterhin Subkulturen, die er als „relativ geschlossen“ (Hitzler 2008, S. 62) bezeichnet und die „zusammengehalten werden durch einen mehr oder minder radikalen Gegen-Entwurf“ (Hitzler 2008, S. 62) zur vorherrschenden Kultur, zu Milieus oder auch Gangs und Cliquen. Nicht alle jugendkulturellen Vergemeinschaftungen lassen sich deshalb als Szenen analysieren.

5 Jugendkulturen, Szenen und Antimodernismus: ein kurzer Ausblick Modernisierung ist kein unilinearer Prozess gesellschaftlichen Fortschritts (Wehler 1975), eher geht es „um [ein] ständiges Erzeugen von Anderssein“ (Luhmann 1992). Mit der salafistischen Jugendkultur (Toprak und Weitzel 2015; MIK 2015), Thema dieses Bandes, ist eine antimoderne und provokatorische Gegenbzw. Subkultur entstanden, die eine unverkennbar antiposttraditionale rigide und autoritäre Form juveniler Vergemeinschaftung darstellt. Als Szene kann diese jugendkulturelle Gesellungsform nicht bezeichnet werden, es fehlen die Events, die eher lockere Vernetzung und die freiwilligen Ein- und Austritte. Der Offenheit von Szenen steht hier die Uniformität der vertretenen Werte und Normen entgegen, auch wenn diese sehr wohl als jugendliche Suchbewegung und Antwort auf die Verunsicherungen der Moderne gelesen werden können. Wenn die Diagnose der Rückkehr antimoderner Formen von Jugendkultur zutreffend sein sollte, spricht nichts dagegen anzunehmen, dass wir zukünftig mit ähnlichen (religiösen, politischen, philosophischen, ästhetischen) antimodernen Jugendkulturen zu rechnen haben. Das ist nicht gerade beruhigend, aber für Gesellschaft und Politik, Schule und Soziale Arbeit eine an- und ernstzunehmende Herausforderung.

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Kowol, Uli,  Jg. 1957, Prof. Dr. rer. soc. Dipl.-Soz.Päd., Dipl.-Soz., Professor für Sozialmanagement und Sozialwirtschaft am Fachbereich „Angewandte Sozialwissenschaften“ der Fachhochschule Dortmund.

Warum Salafismus den jugendkulturellen Aspekt erfüllt Ahmet Toprak und Gerrit Weitzel

Der Salafismus, eine erzkonservative theologische Auslegung des Islam, welche einen eng umgrenzten Korpus an Texten wortgenau in die Tat umsetzen möchte und sich im Spannungsfeld zwischen konservativem Islam und politischem Islamismus bewegt, ist mittlerweile in den deutschen Mainstreamdebatten angekommen. Die öffentlich geführten Auseinandersetzungen legen den Schwerpunkt auf die sicherheitspolitischen Interessen. Der folgende Beitrag wird den Versuch unternehmen, das Phänomen aus der Perspektive junger Menschen zu analysieren, die in der Bundesrepublik Deutschland leben. Eine der entscheidenden Fragen wird sein, worin die Gründe für das Erstarken einer Bewegung liegen, die schon seit mehreren Jahrhunderten existiert, aber erst seit etwa zehn Jahren in der deutschen Öffentlichkeit präsent ist. Sind all die jungen Menschen, die sich für den Salafismus begeistern, potenzielle Terroristen? Unsere These ist, dass für einen Großteil der Jugendlichen einerseits die Strukturen und Bedingungen ausschlaggebend sind, die sich aus ihrer Lebenssituation ergeben. Andererseits sind Pierre Vogel und Sven Lau aus ihrer Sicht charismatische Prediger, deren Argumentation sich auf ihre Lebenswelt bezieht und genau hier ansetzt. Die salafistische Ideologie soll nicht verharmlost werden. Denn Ideologien, die für sich in Anspruch nehmen, das einzig Wahre zu sein, und die andere Lebensformen somit negieren, sind abzulehnen. A. Toprak (*)  Fachhochschule Dortmund, Dortmund, Deutschland E-Mail: [email protected] G. Weitzel  Fachhochschule Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Toprak und G. Weitzel (Hrsg.), Salafismus in Deutschland, Edition Centaurus – Jugend, Migration und Diversity, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25837-5_3

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Bevor die These diskutiert wird, dass der Salafismus für einen Teil der Jugendlichen eine attraktive Jugendbewegung darstellt, wird Salafismus kurz definiert. Anschließend werden unterschiedliche Typen bzw. Strömungen des Salafismus beschrieben. Darauf basierend werden vier zentrale Gründe genannt, warum Jugendliche sich zum Salafismus hingezogen fühlen.

1 Was ist Salafismus? Wie in jeder Religion gibt es auch im Islam unterschiedliche Strömungen, z. B. Konservative, Liberale oder Fundamentalisten. Der Salafismus wird vereinfacht als Teil des sunnitischen Islam beschrieben (vgl. Schneiders 2014, S. 11). Für Salafisten entspricht das Leben des Propheten Mohammed und der ersten drei Generationen von Muslimen ihrer Vorstellung vom idealen Islam. Ihr Ziel ist es, „die idealisierte Gesellschaft des Ur-Islam, wie sie im Mekka und Medina des 7. und 8. Jahrhunderts existiert haben soll, zu neuem Leben zu erwecken“ (Steinberg 2012, S. 1). Deshalb betrachtet diese „neue“ Strömung die Wiederherstellung des Ur-Islam als das Maß aller Dinge (vgl. Ceylan und Kiefer 2013, S. 14). Laut Dantschke (2014) wird der Salafismus dem fundamentalistischen Spektrum des sunnitischen Islam zugeordnet. Unter Fundamentalismus wird hier Treue zu kanonischen Texten verstanden; der ursprüngliche Sinn der Texte wird zum einzig wahren erklärt (vgl. Tillschneider 2014, S. 125). Das heißt, historische Einflüsse und sich daraus ergebende Interpretationen werden abgelehnt. Auch wenn der Salafismus in Deutschland als ein neues Phänomen wahrgenommen wird, sind die Diskussionen um seine Prämissen in der innerislamischen Debatte keineswegs neu und nahezu fortlaufend. Das genuin Neue am Salafismus in Deutschland ergibt sich aus zwei Punkten: • der Verlagerung der Debatte in die deutsche Gesellschaft und • der sukzessiv wachsenden Anziehungskraft des Salafismus auf junge Menschen in Deutschland. Laut Abou-Taam (2012) wurde bereits im 9. Jahrhundert gefordert, die reine Textgläubigkeit zur religiösen Vorgabe zu machen. Denn laut dieser Auslegung empfängt der Text seinen auf ewig gültigen und maßgeblichen Sinn zum Zeitpunkt seiner Entstehung (vgl. Tillschneider 2014, S. 125). Die Anhänger des Salafismus werden folgendermaßen beschrieben: Sie sind rückwärtsgewandt, wenig kompromissbereit, radikal, streng und beanspruchen für sich, den alleinigen Weg ins Paradies zu kennen. Andersdenkenden Muslimen,

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welche der reinen Lehre des Salafismus nicht folgen, wird das Muslimsein abgesprochen. Sie gelten wie die Anhänger anderer Religionen als Ungläubige. Die Hauptquellen des Glaubens sind der Koran und die Wegweisung des Propheten Mohammed. Die zentrale Forderung der Salafisten ist die strikte Befolgung dieser Wegweisung und ihre ständige Nachahmung. Salafisten übernehmen die Traditionen unverändert in die Gegenwart und leben sie im Alltag (vgl. Abou-Taam 2012; Schneiders 2014, S. 12), was in reflexiven Gesellschaften zwangsläufig zu Irritationen und/oder Konfrontationen führt.

2 Strömungen im Salafismus Laut Steinbach (2012) und Ceylan und Kiefer (2013) gibt es drei Typen salafistischer Gruppierungen, die hier kurz und vereinfacht dargelegt werden sollen: • Puristen: Dieser Gruppe geht es in erster Linie um die reine Lehre des Islam und ein gottgefälliges Leben (vgl. Steinbach 2012, S. 2). Der Islam soll von allen späteren und fremden Einflüssen befreit und die reine Lehre wiederhergestellt werden. Diese Strömung basiert auf dem Gedanken einer religiös-spirituellen Restauration. Vor allem durch frommes Handeln nach dem Vorbild des Propheten in allen gesellschaftlichen und sozialen Lebenslagen soll die Frömmigkeit gesteigert und somit das Goldene Zeitalter eingeleitet werden (vgl. Ceylan und Kiefer 2013, S. 83 ff.). Puristen lehnen Gewalt ab, sie konzentrieren sich darauf, streng die religiösen Rituale, wie z. B. Gebete und körperliche Reinheit, einzuhalten, und sie folgen einer rigiden religiösen Erziehung (vgl. Clement und Dickmann 2015, S. 68). Puristen enthalten sich politischer Debatten und entwickeln keine Positionen zur Innen- oder Außenpolitik. Ihre politischen Ansichten äußern sie in erster Linie im privaten Rahmen (vgl. Wagemakers 2014, S. 58). • Politische Salafisten: Mit einem gottgefälligen Lebensstil verbinden die politischen Salafisten die Forderung nach einer Einführung der Scharia, vor allem aber einer religiösen Ordnung (vgl. Steinberg 2012, S. 3), die den salafistischen Interpretationen entspricht (vgl. Dantschke 2014, S. 179). Deshalb engagiert sich diese Gruppe aktiv, um ein politisches System zu etablieren, indem sie z. B. in der religiösen Rhetorik tagespolitische und soziale Missstände aufgreift, um die eigene Ideologie von einer gerechten Welt zu bestätigen. Hierbei wird die Etablierung eines mit dem Koran konformen politischen Systems als Garant für eine fromme Lebensführung betrachtet (vgl. Ceylan und Kiefer 2013, S. 86). Um dieses Ziel zu erreichen, wird eine Abgrenzung

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von Andersdenkenden praktiziert und der bewaffnete Dschihad gegen Ungläubige unter bestimmten Bedingungen legitimiert (vgl. Clement und Dickmann 2015, S. 68). Dantschke (2014) differenziert die politischen Salafisten in Gewalt ablehnende und Gewalt befürwortende. Es ist aber anzunehmen, dass die Grenze fließend ist. • Dschihadistische Salafisten: Laut Steinberg (2012) steht im Mittelpunkt des Denkens der dschihadistischen Salafisten der bewaffnete Kampf im „Heiligen Krieg“. Nicht alle Dschihadisten werden den Salafisten zugeordnet. Aber die Verbindung beider Ideologien hat sich in den letzten Jahren verfestigt. Dschihadistische Salafisten stellen im Vergleich zu den beiden anderen Gruppierungen eine relativ kleine Gruppe dar. Der Versuch, militante Anschläge vorzubereiten und auszuführen – Beispiele sind die Sauerland-Connection oder der Kofferbomber von Köln –, zeigt, dass Dschihadisten durchaus in der Lage sind, auch in Deutschland Gewalt auszuüben und eine Aura des Schreckens zu verbreiten (vgl. Ceylan und Kiefer 2013, S. 86). Die Anzahl der Dschihadisten, die aus Deutschland nach Syrien oder in andere Kriegsgebiete ausgereist sind, um die Ungläubigen zu bekämpfen, wird auf ca. 1300 geschätzt. Das salafistische Phänomen, dem wir in Deutschland derzeit gegenüberstehen, lässt sich nicht auf einen der drei Typen festlegen, da die Übergänge teils fließend sind. Die Mehrheit sind jedoch puristische und politische Salafisten.

3 Salafismus als attraktive Gegenbewegung zu gängigen Jugendkulturen Im Vorfeld muss betont werden, dass in Deutschland ca. vier Millionen Menschen muslimischen Glaubens leben und Salafisten nur eine kleine Splittergruppe darstellen, deren Anzahl aber laut Verfassungsschutz und Experten schnell steigt. Die Szene ist nicht homogen, es gibt zahlreiche Netzwerke, Namen, Bündnisse, Internetpräsenzen und damit einhergehend vielfältige Interessen, neue Bündnisse und Verwerfungen (vgl. Dantschke 2014, S. 172). Die Anzahl der politischen Salafisten wird in Deutschland auf ca. 6000 geschätzt (vgl. Dantschke 2014, S. 179). Aus der Heterogenität der Szene und den oben aufgeführten Typen wird klar, dass nicht alle salafistischen Gruppierungen Gewalt als Mittel legitimieren. Wie dort erwähnt, sind auch nicht alle politischen Salafisten gewaltbereit. Wir glauben, dass Gewaltbereitschaft als Risiko vorhanden und nicht zu unterschätzen

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ist. Dennoch scheint der Salafismus auch die Funktionen einer Jugendkultur zu erfüllen. Die entscheidende Frage lautet: Warum finden immer mehr Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland den Salafismus so attraktiv, obwohl seine Ansichten rigide bzw. radikal sind, er auf eine Rekonstruktion von überlieferten Lebensweisen aus ist und im Grunde all das verbietet, was junge Menschen unter Spaß verstehen? Aus der Jugendforschung ist bekannt, dass Heranwachsende in der Adoleszenz auf der Suche nach Orientierung sind. Finden Jugendliche in dieser Orientierungsphase den Salafismus aus intrinsischen Motiven identitätsstiftend? Oder ist bei der Hinwendung zum Salafismus eine extrinsische Motivation wirksam? Werden die Jugendlichen bewusst in dieser Orientierungsphase angesprochen? Nach Auswertung der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur lassen sich aus Sicht der Autoren vier zentrale Bedingungen identifizieren, die den Weg zum Salafismus ebnen können. Im Folgenden sollen diese Bedingungen genauer betrachtet werden.

3.1 Identität und Zusammengehörigkeit In der Phase der Adoleszenz sind Jugendliche auf der Suche nach Orientierung und Freundschaften. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmte Gruppe, einem Freundeskreis scheint von zentraler Bedeutung zu sein. Jugendliche nicht deutscher Herkunft – und dabei vor allem die Jungen – messen den informellen Peergruppen eine besondere Bedeutung zu. Das Gleiche ist auch bei deutschstämmigen Jugendlichen zu beobachten. Den Peers oder Freundeskreisen wird auch deshalb starker Einfluss auf Sozialisations- und Bildungsprozesse beigemessen, weil es plausibel erscheint, dass Gleichaltrige die eigenen Wahrnehmungen, Bewertungen und Deutungen besser nachvollziehen können als Erwachsene. Und der emotionale Rückhalt durch die Peergroup verschafft den Jugendlichen die Möglichkeit, Distanz zu Institutionen herzustellen (vgl. Scherr 2010, S. 82). Bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund tritt der Prozess der Gruppenbildung verstärkt und früher auf, da zur gesellschaftlichen Umorientierung eine kulturelle hinzukommt. Das ist deshalb so, weil die Widersprüche der eigenen Situation z. B. durch Arbeitslosigkeit, schlechte Voraussetzungen für das Berufsleben sowie Diskriminierung vehementer erlebt werden und die Eltern oft nicht in der Lage sind, Identifikationsmöglichkeiten für eine angemessene Lebensweise und Zukunftsorientierung zu bieten. Diese Umstände können vor allem bei muslimischen Jungen die Annäherung an salafistische Gruppierungen begünstigen. Hinzu kommt, dass die gesellschaftlichen

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Bedingungen komplexer und unübersichtlicher werden, sodass den Jugendlichen in der Orientierungsphase einfache und klare Antworten verlockend erscheinen. Genau an diesem Punkt setzen salafistische Prediger wie Pierre Vogel1 an. In seinen Videobotschaften spricht er die Sprache der Jugendlichen und gibt einfache und klare Antworten auf die „scheinbar“ komplizierten und komplexen Fragen, die Jugendliche interessieren. Reduktion ist die oberste Botschaft: Die Welt wird in Gut und Böse eingeteilt, es existiert eine „Schwarz-Weiß-Welt“, Zwiespälte gibt es nicht – die Salafisten kennen die Wahrheit und gehören zu den Guten. Aus dem Koran wird häufig zitiert und er ist als Nachschlagewerk in Videos präsent; der Islam erscheint als ein klares Regelwerk, dem man nur folgen muss. Die Botschaften sind einfach und verständlich: An Gottes Wort ist nicht zu rütteln; für alle lebenspraktischen Situationen lassen sich aus dem Koran eindeutige Vorgaben ableiten (vgl. Nordbruch et al. 2014, S. 364). Begriffe, wie „aber“, „könnte“ oder „vielleicht“ kommen in den Videobotschaften von Salafisten nicht vor. Die Ansprachen beginnen immer wieder mit dem Refrain „bismillahirahmanirahim“ (im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen) sowie der Formel „meine Brüder und meine Schwestern“, um den Jugendlichen das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu signalisieren und zu unterstreichen, dass sie Teil einer festen Gemeinschaft sind. Um das Zusammengehörigkeitsgefühl unter Muslimen zu betonen, engagieren sich die salafistischen Gruppierungen für die Interessen und Rechte der Muslime in Deutschland. Dadurch unterscheiden sich die salafistischen Initiativen aus Sicht der Jugendlichen von etablierten Verbänden, deren Aktivitäten für sie kaum sichtbar sind (vgl. Nordbruch et al. 2014, S. 365). Außerdem sind die salafistischen Gruppierungen und Initiativen sehr heterogen. Es ist nicht so, dass nur die sogenannten Verlierer der Gesellschaft in der salafistischen Szene für sich eine neue Heimat gefunden haben: Auch Studierende, Mädchen, Jugendliche ohne Migrationshintergrund, Konvertiten oder aber Gangsta-Rapper zählen zu den Anhängern des Salafismus, ihr Anteil wird aber als gering eingeschätzt.

1Pierre

Vogel (geb. 1978) wird als einer der einflussreichsten Prediger der salafistischen Szene beschrieben. Er wurde als Kind evangelisch getauft, konvertierte aber 2001 zum Islam. Er hat zwar Abitur, hat aber ein begonnenes Studium nicht abgeschlossen.

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3.2 Protest und Provokation Viele soziale Protestbewegungen – wenn auch nicht alle – werden als Jugendbewegungen wahrgenommen (vgl. Roth und Rucht 2000, S. 14), wie das folgenden Beispiel belegt: „Dann kamen die Gammler. Sie probten keinen Aufstand, sie erhoben sich nicht. Sie legten sich nieder und schlugen nicht zu. Die jungen Helden waren müde. Sie kreierten die langsamste Jugendbewegung aller Zeiten: den Müßiggang“ (Der Spiegel 1966, zit. nach. Geiling 2000, S. 165). Das exemplarische Zitat zeigt, dass Jugendliche gegenüber sozialen Problemen oder Missständen immer sensibilisiert waren und auf ihre Art darauf reagiert haben, und zwar durch Protest. Die sogenannten Gammler (sie wurden damals in der Tat so bezeichnet) wollten mit ihrem Protest zum Ausdruck bringen, dass sie von Bürgerlichkeit, Fleiß, Karriere und Ordnung nicht viel hielten. Der damalige Bundeskanzler Erhard betonte: „Solange ich regiere, werde ich alles tun, um dieses Unwesen zu zerstören“ (Der Spiegel 1966, zit. nach. Geiling 2000, S. 165). Die Gammler wurden in den 1980er Jahren von Punks abgelöst. An beiden Protestbewegungen schieden sich die Geister. Die NPD schlug vor, das Problem im Sinne des gesunden Volksempfindens zu lösen (vgl. Geiling 2000, S. 165). Das Ende der 1960er und die 1970er Jahre waren geprägt von einer sexuellen Revolution: Die Forderung nach sexueller Freiheit stieß bei der 1968er Studentenbewegung auf großes Interesse. Der Wunsch nach sexueller Freiheit war auch die Antwort auf die prüde Sexualmoral der 1950er Jahre und ist als Protest zu bezeichnen. Diese kurzen Ausführungen markieren zwei zentrale Aspekte: • Jugendliche und junge Erwachsene haben immer auf soziale Aspekte, Missstände oder Rahmenbedingungen reagiert, indem sie auf ihre Art protestiert und/oder provoziert haben. • Jugendliche und junge Erwachsene waren und sind immer politisch, auch wenn das aktuell anders wahrgenommen wird. Ein Thema muss so ausgereift sein, dass es die Jugendlichen interessiert. Der Salafismus bewegt nicht ausreichend viele Jugendliche, dass man ihn als soziale Protestbewegung bezeichnen kann. Aber innerhalb der Subkultur hat der Salafismus durchaus das Potenzial, als Protestbewegung wahrgenommen zu werden. Der Zungenkuss auf der Parkbank, ein bauchfreies Oberteil, das den Blick auf ein Nabelpiercing freigibt, grün oder lila gefärbtes Haar oder ein händchenhaltendes gleichgeschlechtliches Paar – all das gehört zum alltäglichen ­Straßenbild in Deutschland. Kaum jemand regt sich darüber noch auf, noch machen Politik

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oder Medien ein großes Thema daraus, solche Bilder sind Teil des Mainstreams geworden. Sie eignen sich längst nicht mehr als Ausdruck von Protest; denn Protest ist dann besonders wirksam, wenn er von einer Provokation flankiert wird. Sex und Drogen scheinen den Mainstream aber nicht mehr zu provozieren. Salafismus hingegen eignet sich deshalb als Protestbewegung, weil er als Gegenbewegung zu Kommerz und Konsum wahrgenommen wird. Die selbst angeleitete Askese, der Verzicht auf überzogenen Konsum und voreheliche sexuelle Enthaltsamkeit (für beide Geschlechter) scheinen auf den ersten Blick keine typischen Indikatoren für jugendliches Protestverhalten zu sein. Jugendliche und junge Erwachsene, die den Salafismus attraktiv finden, müssen nämlich auf alles verzichten, was in der Adoleszenz mit Spaß und dem Testen von Grenzen in Verbindung gebracht wird: Alkoholkonsum, neue Mode, sexuelle Orientierung, Partnersuche, Feiern/Partys und auch Drogen. Salafisten provozieren, indem sie freiwillig und offensiv darauf verzichten. Somit funktioniert Salafismus in Deutschland als Provokation deshalb sehr gut, weil er zwei zentralen Errungenschaften der deutschen Gesellschaft und der aufgeklärten und progressiven muslimischen Milieus widerspricht: Aufklärung/Zivilisation und emanzipierten Geschlechterbildern. Aufklärung/Zivilisation: Oben wurde betont, dass die salafistische Ideologie rückwärtsgewandt ist. Der Islam des 7. und 8. Jahrhunderts wird in eine zivilisierte und aufgeklärte Gesellschaft übertragen. Das erscheint nicht praktikabel, denn die Bedingungen des 8. Jahrhunderts waren nun mal andere als die des 21. Diese Auslegung der Religion ist nicht nur für die deutsche Mehrheitsgesellschaft, sondern auch für progressive und moderne Muslime eine Provokation, weil Salafisten den Islam sehr eng auslegen und Andersdenkenden und anders praktizierenden Muslimen das Muslimsein absprechen. Die Salafisten lassen die Ideologie des Ur-Islam auch in ihrem Erscheinungsbild sichtbar werden und fallen damit im Straßenbild umso mehr als Provokation auf. Die Männer tragen den nicht gestutzten Bart lang, rasieren sich nicht und ziehen lange Gewänder an, wie sie zu Mohammeds Lebzeiten üblich waren. Frauen verhüllen sich in Ganzkörperbedeckung, bedecken den Kopf und das Gesicht sehr streng und zeigen sich nur selten in der Öffentlichkeit. Das selbstbewusste und aggressive öffentliche Auftreten männlicher Gläubiger trägt dazu bei, dass Salafisten als Provokation empfunden werden. Geschlechterbilder: Sowohl in der Mehrheitsgesellschaft als auch unter progressiven Muslimen haben die anachronistischen Geschlechterbilder, die von Salafisten praktiziert werden, längst ausgedient. Die stereotypen Geschlechterrollen, in denen der Frau Haushalt und Kindererziehung und dem Mann

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­rwerbstätigkeit und die Versorgerrolle zugewiesen werden, schienen überE wunden zu sein. Dass vor allem Mädchen und junge Frauen diese überwunden geglaubten Geschlechterrollen attraktiv finden, provoziert progressive und moderne Frauen. Die Attraktivität des Modells liegt darin, dass es eine klare Orientierung bietet und kein Gegenmodell zulässt: Es ist alles einfach und vorgegeben; das Individuum muss nicht erst in langwierigen Prozessen in der Gesellschaft und in der Gruppe der Peers seine Rolle finden. Es muss an dieser Stelle betont werden, dass die salafistische Ideologie beiden Geschlechtern rigide Vorschriften macht.

3.3 Desintegration Es gibt viele Studien, die nachweisen, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund, vor allem aber Muslime, Diskriminierungen und Benachteiligungen ausgesetzt sind (vgl. Baier et al. 2010; Jünschke 2003). Dies bestätigt auch die neue Studie von Mansel und Spaiser (2013), wonach Jugendliche mit muslimischem Migrationshintergrund am häufigsten Diskriminierungen und Benachteiligungen erfahren. Die Gruppe wird – sei es unter der Kategorie „Türken“, „Muslime“ oder „Deutsch-Türken“ – als homogen wahrgenommen und stigmatisiert. Junge Muslime empfinden sich in ihrer kulturellen Verortung häufig als Hybrid, d. h., sie sehen sich selber als halb deutsch und halb muslimisch. Daraus kann sich ein Identitätsdilemma ergeben, wenn sie weder als Deutsche noch als Muslime Anerkennung erfahren. Als Konsequenz daraus kann ein Assimilierungsdruck entstehen, welcher einerseits die Normen, Werte und kulturellen Orientierungen der Elterngeneration in den Hintergrund rückt und auf der anderen Seite nicht die Anerkennung als in der Mehrheitsgesellschaft angekommen garantiert. Aus diesem Spannungsverhältnis heraus kann es zur Bildung einer negativen Identität kommen: Minderwertigkeitsgefühle werden zu einem negativen Selbstbild verinnerlicht und abweichendes Verhalten wird zur Lösungsstrategie eines bewussten oder unbewussten Identitätskonfliktes. Zugespitzt kann das zur Abgrenzung von den anderen und zur Abwertung der vermeintlich Schuldigen führen – in diesem Fall der Mehrheitsgesellschaft (vgl. Foroutan und Schäfer 2009, S. 13). Ergänzend hierzu ist anzumerken, dass auch Jugendliche ohne Migrationshintergrund aufgrund der in Deutschland bestehenden engen Verbindung von sozialer Herkunft und sozialer Anerkennung Diskriminierungspraxen ausgesetzt sind und sich somit auch der Formen einer negativen Identität zur Problemlösung bedienen können. Wohin diese Form des Identitätsmanagements führt, ist nicht

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vorherzusehen. Möglich ist allerdings, dass die Jugendlichen in der salafistischen Szene auf Gleichgesinnte treffen, die Identität und Orientierung bieten.

3.4 Neubeginn durch Konvertierung Nordbruch et al. (2014) beschreiben den Salafismus als Ausweg. Der Salafismus bietet die Möglichkeit eines radikalen Neubeginns, hier ist es unbedeutend, was vorher war: Es ist noch nicht zu spät, sein Leben zu ändern und den richtigen Pfad zu betreten. Die Umma (Gemeinde) ist bereit, nahezu jeden Menschen aufzunehmen, sie kennt keine Herkunft, kein Geschlecht, sie ist global strukturiert und findet für jeden einen Platz und eine Rolle. Der Eintritt in ein neues Leben erfolgt schnell und unbürokratisch, er setzt lediglich eine Konvertierung voraus, die im Schnellverfahren vor dem Infostand oder auf öffentlichen Veranstaltungen vollzogen werden kann. Alles, was die Geläuterten dafür tun müssen, ist die vorgegebene Formel nachzusprechen. Die gesamte Prozedur der Konvertierung dauert, inklusive einer vorherigen Übersetzung der Formel, etwa 35 s. Mit der Konvertierung sind – symbolisch betrachtet – die herkunftsbedingten, geschlechtsspezifischen, sozialstrukturellen und gesellschaftlichen Benachteiligungen negiert. Zur Ausdifferenzierung des Phänomens hebt El-Mafaalani (2014) den Begriff der Prekarität hervor. Dieser kann als Sammelbecken diverser biografischer Bedingungen verstanden werden. Zum einen finden sich dort die sogenannten „Bildungsverlierer“ wieder, zum anderen junge Menschen, die zwar eine gute Schulbildung haben, bei denen sich aber das Versprechen „Aufstieg durch Bildung“ und einer damit einhergehenden gesellschaftlichen Anerkennung nicht im erhofften Ausmaß erfüllt hat. Präziser formuliert bedeutet das Folgendes: Wenn Bildungsaufsteiger durch unterschiedliche Formen sozialer Ungleichheit nicht die notwendige Anerkennung und gleichberechtigte Partizipation an Ressourcen erlangen, sind sie ebenso anfällig für salafistische Ansprache. Gute Bildung scheint nicht das Allheilmittel zu sein, wenn die politische und gesellschaftliche Anerkennung fehlen.

4 Konsequenzen Dieser Beitrag zeigt auf, dass die Entstehung salafistischer Strömungen in Deutschland kein Problem ist, das von außerhalb herangetragen wurde und nun vor Ort stellvertretend verhandelt wird. Die in Deutschland diskutierte Form

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des Salafismus ist hier entstanden, und zwar durch eine Verbindung von gesell­ schaftlichen Verhältnissen und den Erfordernissen, die sich aus der Jugendphase heraus konstituieren. Ein Gefühl der Unzufriedenheit, der Wunsch nach Anerkennung und Provokation öffnen die Gedanken für das Angebot salafistischer Prediger. Durch die Interaktion mit salafistischen Angeboten verändert sich die Wirklichkeitswahrnehmung der jungen Menschen. Folglich entwickelt sich eine dualistische Welteinteilung: gläubig/ungläubig, gut/böse, wir/ihr. Demokratische Modelle werden abgelehnt, weil sie nicht zu vereinbaren sind mit dem frommen Lebensentwurf der reinen Lehre (vgl. Abou-Taam 2012). Die Tatsache aber, dass der Salafismus in Verbindung mit strukturellen Bedingungen und der Jugendphase steht, gibt Hoffnung, dass ein Teil seiner Anhänger mit pädagogischen Mitteln zu erreichen ist. Unabhängig davon, wie irrational und provozierend die Äußerungen junger Menschen salafistischen Glaubens sind, müssen diese Äußerungen ernst genommen werden, um ihnen entsprechend pädagogisch entgegenzuwirken. Bloße Antihaltungen dekonstruieren diese Weltsicht nicht, sie verstärken sie bloß (vgl. Spielhaus 2011). Je stärker die jungen Menschen von der Szene absorbiert sind, umso schwieriger wird es, sie wieder für andere Lebensentwürfe zu gewinnen. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, systematisch bereits auf die ersten Anzeichen der Radikalisierung konstruktiv zu reagieren und Gegenangebote zu machen. Diese Angebote können sich im Rahmen von Erfahrungs- und Aushandlungsräumen vollziehen. Innerhalb dieser Räume soll es möglich werden, Provokationen zuzulassen und auszuhandeln sowie lebensweltrelevante Fragen zu klären und Selbstwirksamkeit zu entfalten. Die Verortung der Räume ist zweitrangig. Möglichkeiten können sich innerhalb eines reflexiven Religionsunterrichtes, in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit oder innerhalb anderer sozialpädagogischer oder schulischer Angebote ergeben. Wichtig ist die methodische Ausgestaltung dieser Angebote.

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Toprak, Ahmet,  Dr. phil., Dipl.-Pad. Professor für Erziehungswissenschaft an der Fachhochschule Dortmund, Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Migration, Integration, Geschlechterforschung im Kontext der Migration. Weitzel, Gerrit,  Fachhochschule Münster- Institut für Gesellschaft und Digitales. Arbeitsschwerpunkte: Jugenforschung, Diskriminierungs- und Rassismusforschung.

Attraktivität, Anziehungskraft und Akteure des politischen und militanten Salafismus in Deutschland Claudia Dantschke 1 Vorbemerkung Wenn heute von islamistischer Radikalisierung gesprochen wird, dann bezieht sich das inzwischen fast ausschließlich auf den politischen Salafismus. Seit über zehn Jahren ist eine zunehmende Hinwendung von Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und Sozialisation zu dieser fundamentalistischen Strömung zu beobachten. Dazu beigetragen haben die zahlreichen Aktivitäten salafistischer „Missionare“. Gab es 2005 nur eine Handvoll Prediger, die durch die Lande zogen und auf Seminaren und in Vorträgen für die salafistische Islaminterpretation warben, so geht ihre Zahl heute in die Dutzende. Selbst in kleinen Gemeinden besteht die große Wahrscheinlichkeit, auf Anhänger und Verkünder dieses Sinnangebots zu treffen. Hinzu kommt das umfangreiche Angebot salafistischer Inhalte im Internet, vor allem in den von Jugendlichen stark frequentierten sozialen Medien wie Facebook, YouTube, Twitter und seit neuem auch Telegram. Es sind aber oft gar nicht die Prediger selbst, sondern bereits radikalisierte Gleichaltrige aus dem eigenen sozialen Umfeld, die den Weg in die salafistische Szene ebnen – ob vor Ort oder virtuell in Chatgruppen. Und auch wenn es auf den ersten Blick so aussehen mag, die Verbreitung des Salafismus ist nur oberflächlich gesehen ein religiöses Phänomen. Wie aber lässt sich das Phänomen dann beschreiben und worin liegt das Problem? Mit einem Blick auf die zwar religiös begründeten, aber in ihrem Kern C. Dantschke (*)  ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH, HAYAT-Deutschland, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Toprak und G. Weitzel (Hrsg.), Salafismus in Deutschland, Edition Centaurus – Jugend, Migration und Diversity, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25837-5_4

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g­esellschaftspolitischen Inhalte und die daraus abgeleiteten Handlungsauffor­ derungen lässt sich der politische Salafismus einordnen in die Riege der Ideologien der Ungleichwertigkeit. Die Selbstaufwertung als Angehöriger der „einzig wahren“ Interpretation des Islam geht im politischen Salafismus einher mit der Abwertung nicht nur der Nichtmuslime generell, sondern auch der Muslime, die einer anderen islamischen Interpretation folgen. Zwar propagiert und befürwortet nur eine Minderheit des politisch-salafistischen Spektrums den Einsatz von Gewalt als legitimes Mittel sowohl gegen die demokratische Grundordnung als auch gegen Personen, die zuvor ideologisch begründet zum Feindbild aufgebaut wurden. Gemeinsam ist allen politischen Strömungen jedoch die Ablehnung wichtiger demokratischer Grundwerte, wie Pluralismus, Gleichwertigkeit, Selbstbestimmungsrecht und individuelle Freiheitsrechte. Aus diesem Grund sollte der politische Salafismus nicht nur als Thema der Sicherheitsorgane betrachtet werden, sondern als Thema der Gesellschaft insgesamt.

2 Salafistische Strömungen in Deutschland Im medialen und damit im öffentlichen Diskurs hat sich mit Bezug auf die Sicherheitsbehörden inzwischen der Begriff „Salafismus“ zur Charakterisierung einer radikalen, demokratiefeindlichen Ideologie durchgesetzt. Dabei wird oft ignoriert, dass die „Salafiyya“ zunächst eine religiöse Strömung im sunnitischen Islam ist, die sich in literalistischer Lesart an den rechtschaffenen Vorfahren, den „Altvorderen“ (arab. as-salaf as-salih), orientiert. Gemeint sind damit die Gefährten des Propheten Mohammed und die ersten drei Generationen der Muslime. Das, was wir aktuell unter dem Schlagwort „Salafismus“ thematisieren, basiert zwar religiös auf dieser Rückbesinnung auf die „Altvorderen“ mit Bezug vor allem auf saudi-arabische und ägyptische Gelehrte, es handelt sich aber um eine moderne Bewegung. Denn oft ist dieser religiöse Rückbezug nicht viel mehr als eine Konstruktion. Im Hinblick auf die Thematik „Radikalisierung“ ist deshalb die Bezeichnung „politischer Salafismus“ angebracht, auch in Abgrenzung zum ebenfalls aktuell in Deutschland existierenden puristischen salafistischen Spektrum, das ich als apolitisch im ideologischen Sinn charakterisieren würde. Die puristische Salafiyya in Deutschland umfasst Personen, oft Familien, die in ihrem privaten Bereich streng religiös entsprechend der salafistischen Islaminterpretation leben wollen und von Staat und Gesellschaft erwarten, dass ihnen dies gewährt wird. Im Gegenzug dazu sehen es die Anhänger dieser Szene als verpflichtend an, die öffentliche Ordnung und die Verfasstheit des Staates, der ihnen diese Lebensweise zubilligt, nicht infrage zu stellen. Die Islaminterpretation

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der Puristen orientiert sich an den wahhabitisch-salafistischen Großgelehrten in Saudi-Arabien, die das saudische Königshaus als „gottgegebene Ordnung“ nicht infrage stellen, ja es sogar stützen und deshalb auch von radikaleren Vertretern des Salafismus als „Palast-Gelehrte“ diffamiert werden. Einige Vereine der Puristen gibt es u. a. in Nordrhein-Westfalen. Da diese weder Staat noch Verfassung angreifen, werden sie auch nicht vom Verfassungsschutz beobachtet. Empirische Studien über diese und auch die weiteren salafistischen Strömungen in Deutschland liegen bisher leider nicht vor. Dem puristischen steht der politische Salafismus gegenüber, den ich entsprechend der Frage der Akzeptanz politischer Gewalt nicht wie der Verfassungsschutz in zwei1, sondern in drei Strömungen unterteile: 1. politisch-missionarisch, Ablehnung von Gewalt (Mehrheit) 2. politisch-missionarisch, einschließlich der Legitimation des bewaffneten Dschihad 3. dschihadistisch Allen drei Strömungen des politischen Salafismus gemein ist das gesellschaftspolitische Ziel, die demokratische Ordnung durch eine „religiöse“ Ordnung entsprechend salafistischen Interpretationen zu ersetzen. Die Aktivitäten dieser Gruppen und Prediger in Deutschland sind dabei als lokaler Beitrag zur Umsetzung dieses globalen Zieles zu verstehen. Die politisch-missionarische Mehrheit will dieses Ziel nicht wie bei den militanten Strömungen durch Gewalt, sondern durch Missionierung von Muslimen wie Nichtmuslimen erreichen. Mit persönlichen Ansprachen, Street-Da’awa (Straßenmission), Infoständen, Seminaren und weiteren Propagandaaktivitäten wird versucht, Muslime „zurück auf den richtigen Weg“ zu führen oder Nichtmuslime durch Konversion, also den Übertritt zum Islam salafistischer Ausrichtung, für die Etablierung der „besseren Ordnung“ zu gewinnen. Eine Minderheit dieses politisch-missionarischen Spektrums legitimiert dabei auch den Einsatz von politischer Gewalt (bewaffneter Dschihad) als angemessen und notwendig, wenn irgendwo in der Welt „der Islam oder die Muslime angegriffen oder unterdrückt“ werden. Dabei nehmen sie für sich in Anspruch zu definieren, wann und wo ein solcher Angriff vorliegt: Von dieser Strömung ist der Übergang nicht mehr weit ins dschihadistische Spektrum, wo die Anhänger nicht mehr nur reden, sondern handeln. Die vom Verfassungsschutz veröffentlichten Zahlen für das Spektrum des politischen Salafismus belaufen sich aktuell auf 8350 für ganz Deutschland (Stand

1Politisch-missionarisch

und dschihadistisch.

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März 2016), wobei Nordrhein-Westfalen, aber auch Hessen und die Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg als Schwerpunktländer angesehen werden können. Was das weiteste militante Spektrum betrifft, so soll dieses – laut Verfassungsschutz – 1100 Personen in ganz Deutschland umfassen. Davon gelten inzwischen etwa 450 Personen als sogenannte Gefährder, also Personen, die bereits in einem Dschihad-Camp waren, eine Ausbildung genossen haben und denen man jederzeit eine terroristische Tat zutraut. Diese Differenzierungen sind wichtig, auch um die inneren Reibungen der Szene zu begreifen. Eine pauschale Kriminalisierung „DER Salafisten“ ist vor allem in Hinblick auf die Isolierung derjenigen, die sich der politischen Gewalt verschrieben haben, kontraproduktiv. Es sind die nicht-gewaltbereiten missionarischen Gruppen und vor allem die Puristen, die sich innerhalb des salafistischen Spektrums am stärksten gegen die Dschihad-Propaganda stellen, diese kritisieren und zum Teil auch aktiv versuchen – mit Bezug auf salafistische Großgelehrte – dagegen zu argumentieren. In der öffentlichen Auseinandersetzung sollten deshalb die Akteure und Strömungen klar benannt und pauschale Beschreibungen unterlassen werden.

3 Politischer Salafismus als radikale Jugendsubkultur 3.1 Was macht Salafismus attraktiv? In den letzten Jahren hat sich der politische Salafismus zu einer radikalen Jugendsubkultur entwickelt. Diese Jugendkultur spricht Jugendliche aller sozialen Schichten und unterschiedlicher religiöser, nationaler und kultureller Herkunft an. So unterschiedlich diese Jugendlichen sind, eines haben sie gemeinsam: Sie sind im religiös-theologischen Sinne Analphabeten. Ob muslimischer oder nichtmuslimischer Herkunft, ob mit Migrationshintergrund oder ohne, sie alle haben nie eine reflektierte religiöse Sozialisation erfahren, die sie befähigt, sich mit theologischen Fragen selbstständig und kritisch auseinandersetzen zu können. Sie haben Religion als formale Familientradition kennengelernt oder kommen aus Strukturen, wo Religion in politisierter Form verkündet und gelebt wurde. Viele von ihnen haben aber auch nie etwas mit Religion zu tun gehabt, stammen aus sehr weltlichen Elternhäusern. Hinzu kommen oft auch gebrochene Familien oder Verlusterfahrungen durch den Tod eines nahen Angehörigen oder Freundes. Die Jugendlichen sind auf der Suche nach Geborgenheit, Zugehörigkeit, Orientierung und auch ein wenig Spiritualität. Bei den Salafisten finden diese ganz

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u­ nterschiedlich sozialisierten Jugendlichen die Befriedigung dieser Bedürfnisse und eine vermeintliche Antwort auf ihre Fragen: Zunächst ist es das Versprechen, „fundiertes Wissen“ über den Islam geboten zu bekommen. Jugendliche, die tief in die Religion einsteigen wollen, Erklärungen und Begründungen suchen, die sie verstehen und die auch ihren Lebensalltag tangieren, finden dies vermeintlich bei den Salafisten. Hier treffen sie auf charismatische Prediger, die mit der Lebenssituation in Deutschland vertraut sind und „den Islam“ in einer jugendgerechten Sprache auf Deutsch erklären. Dadurch, dass diese Jugendlichen kein wirklich theologisches Wissen haben, verfügen sie auch nicht über die Kompetenz, die dargebotenen Erklärungen und Vorträge einzuordnen und zu werten. Entscheidend für sie ist, ob sie emotional berührt werden, ob sie sich in diesen Erklärungen wiederfinden und ob ihre Fragen an die Welt oder nach dem Sinn des Lebens beantwortet werden. Eine abstrakte, nicht an den eigenen Bedürfnissen orientierte Erklärung würde sie nicht an diese Szene binden. Ein weiterer wichtiger Aspekt, der den Salafismus für so unterschiedliche Jugendliche attraktiv macht, ist die Behauptung, die „einzig wahre Islaminterpretation“ zu vertreten. Die Salafisten suggerieren den Jugendlichen mit ihrem exklusiven Wahrheitsanspruch die Garantie auf das Paradies, während alle anderen Wege in die Irre und damit in die Hölle führen würden. Hinzu kommt die Eindeutigkeit im Hinblick auf Werte, die die Jugendlichen bei den Salafisten finden. In einer globalisierten Welt mit komplexen Entwicklungen, die alte Gewissheiten immer wieder infrage stellen, bietet die dichotome Weltsicht der Salafisten von Richtig und Falsch, Gut und Böse eine klare Orientierung und Eindeutigkeit. Das reicht von der persönlichen Ebene (Alltagsverhalten, Freundschaften) bis zu den großen politischen Entwicklungen und greift vor allem bei Menschen mit einem schwachen Selbstwertgefühl. Salafistische Prediger nehmen für sich in Anspruch, den wahren Willen Gottes zu vertreten. Das führt dazu, dass ein kritisches Hinterfragen dieser selbst ernannten Autoritäten einem Zweifel an Gottes Wort gleichkommt. Der Gehorsam, der von ihnen gegenüber Gottes Willen eingefordert wird, erstreckt sich also auch auf sie selbst. Damit werden sie zu Vorbildern und Leitfiguren, an denen sich die Anhänger (männliche wie weibliche) orientieren können und auch sollen. Auch das ist für nicht wenige Jugendliche ein attraktives Angebot, vor allem, wenn diese Autoritäten charismatisch sind. Sie erklären, wie der/die Gläubige sich zu kleiden hat, was er/sie essen darf und was nicht, wie er/sie seinen/ihren Tag zu strukturieren hat, ob er/sie eine Ausbildungs- oder Arbeitsstelle annehmen darf oder nicht, mit welchen Personen er/sie Umgang pflegen soll und welche er/sie zu meiden hat – jede Lebensentscheidung wird abgenommen. Viele Jugendliche sind

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auf der Suche nach Vorbildern, da sie diese in ihrer Familie (z. B. fehlender oder abwesender Vater) oder ihrem sozialen Umfeld bisher vermisst haben. Speziell Jugendliche mit muslimischem Migrationshintergrund spricht ein weiterer Aspekt an, den sich die Salafisten zunutze gemacht haben. In Deutschland ist der Islam noch längst keine allseits anerkannte und gleichberechtigte Religion und viele Muslime haben das Gefühl, aufgrund ihrer Religion nicht wirklich dazuzugehören. Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen, die permanente Ansprache als Muslim und nicht als Individuum (z. B. einfach als Jugendlicher) können Minderwertigkeitskomplexe befördern und die Empfindung nähren, ein Außenseiter zu sein. In salafistischen Gruppen finden diese Jugendlichen nicht nur eine Akzeptanz aufgrund ihrer Herkunft und Identität als Muslim, sondern gerade deshalb auch eine Aufwertung. Sie werden mit Eintritt in diese Szene nicht nur Teil einer (fiktiven) Weltgemeinschaft, der Umma des Propheten Mohammed, sondern – und das unterscheidet die salafistischen Gruppen von den sehr hierarchisch gegliederten oder national ausgerichteten traditionellen Islamverbänden und Moscheegemeinden – sie werden Teil einer egalitären Gemeinschaft von Gleichen unter Gleichen. Es gibt keine Hierarchien aufgrund der Herkunft, des Ansehens oder des Reichtums der Familie. Entscheidend für die Akzeptanz durch die Gruppe ist ausschließlich das eigene Verhalten, die Frage, ob sich das neue Mitglied der Norm der Gruppe vollständig unterwirft oder nicht. Alle sind Brüder und Schwestern und der Kopf der Gruppe gilt nur deshalb als Autorität, weil er oder sie über mehr Wissen als die einfachen Mitglieder verfügt. Jeder und jede der Gemeinschaft kann sich aber um dieses Wissen bemühen und demzufolge auch einen Vorbildstatus erlangen. Salafistische Prediger vermitteln den Jugendlichen immer wieder das Gefühl, Teil einer großen und starken Gemeinschaft zu sein und innerhalb dieser Umma der Gruppe anzugehören, die den exklusiven Wahrheitsanspruch vertritt. Vor allem für Jugendliche, die sich zuvor überall fremd fühlten, ist das ein sehr verlockendes Angebot. Hinzu kommt, dass dieser exklusive Wahrheitsanspruch verbunden ist mit der Garantie auf ein perfektes und glückliches Leben in der Ewigkeit nach dem Tode. Dem gegenüber steht die ewige Qual in der Hölle für jede und jeden, die/der im diesseitigen Leben vermeintlich reich und glücklich ist, aber nicht dem einzig „wahren“ Weg folgt, so wie ihn salafistische Ideologen interpretieren. Salafistische Prediger führen den Jugendlichen ihre Sterblichkeit permanent vor Augen und verknüpfen dies mit der permanenten Einschüchterung, dass bereits die kleinste Sünde ihre vermeintlich einzige Perspektive auf Glück zunichtemachen kann. Diese Form der Angstpädagogik ist sehr wirkungsmächtig und führt im militanten Milieu dazu, jegliche Todesangst abzubauen. Mindestens 20 junge Leute aus Deutschland, die sich einer der dschihadistischen Gruppen in Syrien und dem

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Irak angeschlossen haben, sind durch sogenannte „Märtyrer-Operationen“, also durch Selbstmordanschläge, zu Tode gekommen. Immer wieder posten junge „Mujaheddin“ („Kämpfer des Dschihad“) Großaufnahmen der Gesichter ihrer toten „Kameraden“ mit dem Hinweis: „Seht ihr das Lächeln auf seinem Gesicht? Er hat im Tod bereits das Paradies gesehen.“ Das salafistische Identitätsversprechen an die Jugendlichen ist aber auch eines, das nicht nur klar abgrenzend und selbstaufwertend ist, es lässt sich auch durch das Outfit (Pluderhosen, Bart und Käppi bei Männern, Kopftuch und weite Kleidung, die den ganzen Körper bis auf Hände und Füße verhüllt, bei Frauen) nach außen deutlich demonstrieren. Die Weltgemeinschaft, die Umma, ist gleichermaßen eine Gemeinschaft in Not. Sie wird bedrängt und angegriffen. Die Opferidentität, die durch die Salafisten in extremer Weise zugespitzt wird, ist aber keine resignative, sondern eine wehrhafte. Vor allem die Gewalt legitimierenden Strömungen nutzen die vielen aktuellen Konflikte und Kriege, um daraus das Narrativ des weltweiten Kampfes der Ungläubigen (kuffar) bzw. „des Westens“ gegen „den Islam und die Muslime“ zu stricken. Auch Diskriminierungs- oder Ausgrenzungserfahrungen junger Muslime in Deutschland, sei es in der Schule, am Ausbildungsplatz oder in der Gesellschaft, werden in dieses Narrativ eingeordnet. Es sei nun an den Jugendlichen, sich gegen diese Unterdrückung zu wehren – mit vielfältigen Mitteln (Gebet, Mission, Propaganda, Spenden) bis hin zum Kampf. Eine Form, den Jugendlichen diese Option näherzubringen, sind die zahlreichen Dschihad-Naschids2, die über das Internet verbreitet werden. Und der permanente Rückgriff salafistischer Prediger auf die Anfeindungen, denen der Prophet Mohammed und seine Gefährten in der Frühphase des Islam in Mekka ausgesetzt waren, lassen Rückschläge und mangelnde Erfolge verkraftbar erscheinen. Denn nicht nur in Deutschland distanziert sich schließlich die Mehrheit der Muslime von den Salafisten. Und auch im privaten Umfeld stoßen die Salafismus-Einsteiger nicht selten auf massive Ablehnung. Damit sie sich davon nicht beirren lassen, führen salafistische Prediger immer wieder gern eine Überlieferung (hadith) des Propheten Mohammed ins Feld, die besagt, dass der Islam als etwas Fremdes begonnen habe und am Ende (also vor dem Sieg) als etwas Fremdes wiederkommen werde. „Die wahren Gewinner sind die Fremden – die Ghuraba“, bringt es u. a. Abu Dujana, ein Prediger des radikalen Netzwerkes „Die Wahre Religion“, in einem seiner

2Naschids

sind religiöse Gesänge ohne instrumentale Begleitung und für viele Muslime eine selbstverständliche Ausdrucksform ihrer Religiosität. Salafisten und Dschihadisten haben diese Gesangsform für sich entdeckt und mit ihren Inhalten versehen.

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zahlreichen Vorträge auf den Punkt.3 Das, worunter viele Jugendliche zuvor gelitten haben – als fremd wahrgenommen zu werden, nicht dazuzugehören –, wird hier umgekehrt in ein Gefühl der Überlegenheit und des Auserwähltseins, denn „das Paradies ist für die Fremden“, wie es in der Überlieferung heißt. An ihnen ist es jetzt, die göttliche Vorhersagung zu erfüllen, durch Mission oder durch Kampf. Für welchen Weg sie sich entscheiden, hängt von verschiedenen Faktoren ab: dem Umfeld, in dem sie sich bewegen, und den Autoritäten, an denen sie sich orientieren, ihrer persönlichen Prägung, z. B. ihr Hang zur Militanz, den Reaktionen von Staat, Gesellschaft und Familie auf ihre Wandlung zum „wahren Muslim“ sowie den politischen Entwicklungen, z. B. kriegerische Konflikte, mit denen sie sich identifizieren. Doppelte Standards westlicher Politik z. B. im Umgang mit Menschenrechtsverletzungen tragen ihres dazu bei, das Gerechtigkeitsempfinden empfindlich zu stören. Schließlich nehmen ganz besonders Salafisten für sich in Anspruch, auf der Seite des Rechts und der Gerechtigkeit gegen das Unrecht und die Ungerechtigkeit einzustehen und treffen damit auf ein bei Jugendlichen oft sehr stark ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden. Anders als oft angenommen, ist das salafistische Identitätsversprechen mit all den hier geschilderten Facetten nicht nur attraktiv für männliche Jugendliche. Im Gegenteil. Es spricht ebenso junge Mädchen und Frauen an. Speziell für Mädchen aus traditionellen muslimisch-patriarchalen Familien kommt jedoch hinzu, dass ihnen die strikte Geschlechtertrennung mit einer klar definierten Aufgabenverteilung sowohl für „die Brüder“ als auch für „die Schwestern“ ein Gefühl von Gleichberechtigung vermittelt. Sie haben in ihrem Umfeld die Bevorzugung der Brüder und Cousins erlebt, denen fast jedes Fehlverhalten nachgesehen wird, während sie als Mädchen einer strikten Kontrolle und zahlreichen Verboten unterliegen. Salafistische Prediger greifen diese Diskrepanz in der Behandlung der Geschlechter kritisch auf, ohne dabei die generelle Dominanz der Männer über die Frauen infrage zu stellen. Dieser Dominanzanspruch ist aber an feste moralisch-ethische Vorgaben gekoppelt, die auch für die Jungen und Männer gelten und von diesen einzuhalten sind. Und junge Frauen aus nichtmuslimischen Elternhäusern sehen im salafistischen Angebot die Möglichkeit, als Frau anerkannt und geachtet zu werden, auch wenn sie „nur“ der klassischen Frauenrolle von Ehefrau, Hausfrau und Mutter folgen.

3Abu

Dujana, „Die Fremden (Ghuraba)“, hochgeladen am 16.12.2010, URL: www.youtube.com/watch?v=XUvYZWAFxOI (letzter Zugriff: 27.11.2013).

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Aber auch im militanten Milieu der salafistischen Szene haben Frauen die Möglichkeit, sich zu beweisen. Radikale salafistische und dschihadistische Portale bieten extra Plattformen und Foren, in denen Frauen ihre muslimischen Schwestern gezielt ansprechen und werben. Selbst die Beteiligung am bewaffneten Kampf ist nicht ausgeschlossen, wie die Brüder vom „Sham Center“, eine ehemalige deutschsprachige dschihadistische Propagandaplattform aus Nordsyrien, in einem Interview mit einem salafistischen Medienportal erklären: „Hier im Gebiet von Latakia gibt es nur vereinzelt Schwestern, die aktiv kämpfen.“ Wichtig sei aber, so die Dschihadisten aus Nordsyrien weiter, dass „viele Muhajirin [Auswanderer] mit ihren Familien sesshaft geworden (sind). Es gibt auch viele unverheiratete Brüder, die gerne in den sicheren Gebieten eine kleine Familie gründen würden. Auch sind die Mujahidin bereit, ehrenhafte Schwestern als zweite, dritte oder vierte anzuheiraten.“4 Frauen mit guten Sprachkenntnissen und der „richtigen Überzeugung“ können sich darüber hinaus auch aktiv an der Propaganda-Arbeit beteiligen. Nicht wenige Übersetzungen dschihadistischer Pamphlete ins Deutsche dürften aus weiblicher Hand stammen, betrachtet man das Bildungsniveau mancher selbst ernannter „Gotteskrieger“. Die Möglichkeiten für Frauen, „der Sache“ zu dienen und sich damit ein „Leben im Paradies“ zu verdienen, sind also vielfältig. Die unterschiedlichen salafistischen Strömungen bieten einen jeweils klar definierten Rahmen, innerhalb dessen sich auch Mädchen und Frauen verwirklichen können. Letztendlich ist Salafismus heutzutage aber auch ein Lebensentwurf, mit dem sich Jugendliche beiderlei Geschlechts am deutlichsten vom Lebensentwurf der Eltern oder den Werten und Normen der Gesellschaft distanzieren und ihre Ablehnung zum Ausdruck bringen können. Die Hinwendung zu einer salafistischen Gruppe kann auch Ausdruck des Protestes sein oder schlussendlich nicht mehr als der Wunsch nach Aufmerksamkeit durch Provokation. Allein das Erscheinen im salafistischen Outfit löst beispielsweise im Klassenzimmer nicht selten eine allgemeine Verwirrung und zum Teil auch Angst aus, vor allem dann, wenn „der Sieg des Islam“ prophezeit wird oder „die Mujaheddin als die Löwen der Umma“ glorifiziert werden. Diese Attraktivität bietet der Salafismus aber nur, solange er statt sachlicher Auseinandersetzung hysterische Reaktionen hervorruft und lediglich unter sicherheitspolitischen Aspekten diskutiert wird.

4Independent

Journalist, Interview mit ShamCenter, vom 19.09.2013, URL: www.facebook.com/Independentjournal (letzter Zugriff 27.11.2013).

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4 Generation Pop-Dschihad Mit der im Herbst 2011 von Ibrahim Abou Nagie gestarteten Aktion „Lies!“ – die kostenlose Verteilung deutschsprachiger Koranexemplare in Fußgängerzonen – gelang es dem radikalen Lager um die Prediger des Netzwerkes „Die wahre Religion“, sich als führende salafistische Kraft auch im nicht gewaltbereiten missionarischen Feld durchzusetzen. Gleichzeitig formierte sich unter dem Label „Millatu-Ibrahim“5 ein Jugendnetzwerk als pop-dschihadistischer und militanter Arm dieses radikalen Lagers nach dem Vorbild und in Verbindung mit den Gruppen „Islam4UK“ (ehemals Al Ghurabaa), SalafiMedia und Tawheed Movement von Anjem Choudary und Abu Waleed in Großbritannien. Ein Dreivierteljahr später, am 14. Juni 2012, wurde „Millatu-Ibrahim“ vom Bundesinnenminister verboten, denn Millatu-Ibrahim ruft Muslime in Deutschland zum aktiven Kampf gegen die verfassungsmäßige Ordnung auf. Die aggressiv-kämpferische Grundhaltung der Vereinigung manifestiert sich in der Beförderung und Inkaufnahme strafrechtswidrigen Verhaltens, einschließlich des Einsatzes von Gewalt als Mittel im Kampf gegen die bestehende verfassungsmäßige Ordnung. Dies belegen exemplarisch die gewaltsamen Ausschreitungen Anfang Mai 2012 in Solingen und Bonn. Millatu-Ibrahim hat diese in sogenannten Kampfvideos legitimiert und zu weiteren Gewalttaten aufgerufen, wie das Bundesinnenministeriums dieses Verbot begründete.6

Dieses pop-dschihadistische Netzwerk war nicht aus dem Nichts gekommen. Die führenden Köpfe, wie der Österreicher Mohammad Mahmoud (Abu Usama al Gharieb), der aus dem sauerländischen Hemer stammende Abu Ibrahim (Hasan Keskin) und der Berliner Abu Talha al Almani (Denis Mamadou Cuspert bzw. Deso Dogg), hatten bereits eine längere Karriere der salafistischen Radikalisierung hinter sich. Sie gehören zu einer Generation Jugendlicher, die in Deutschland bzw. Österreich geboren und aufgewachsen sind, ohne jedoch ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Exemplarisch lässt sich das am Beispiel des Berliner Ex-Rappers Deso Dogg verdeutlichen.

5„Millatu

Ibrahim“ ist eines der Werke von Abu Muhammad al-Maqdisi (geb. 1959), einer der wichtigsten Ideologen des Dschihadismus. Die deutsche „Millatu Ibrahim“-Gruppe sah in al-Maqdisi eines ihrer Vorbilder. Al-Maqdisi hat sich jedoch vom sogenannten „Islamischen Staat“ und dessen „Kalifat“ öffentlich distanziert, was zur Spaltung seiner militanten Anhängerschaft auch in Deutschland geführt hat. 6Siehe: www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2012/06/vereinsverbot.html (letzter Zugriff: 29.11.2013).

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4.1 Vom Gangsta-Rapper zum DschihadPropagandisten Missionarische salafistische Prediger, wie beispielsweise der Berliner Abdul Adhim Kamouss7, predigen weder Gewalt noch schwärmen sie vom bewaffneten Dschihad. Ihr Ansatz ist die aktive Straßensozialarbeit und Straßenmission. Sie gehen auf muslimische Jugendliche zu, die aus ihrer Sicht falsch leben. Im Vordergrund stehen dabei Jugendliche, die in Gangs oder Cliquen ihr Leben auf der Straße verbringen, sozial eher am Rande der Gesellschaft stehen und sich doch nach Teilhabe und materiellem Wohlstand sehnen. In Ermangelung anderer Alternativen versuchen sie oft, diese Sehnsucht durch Kleinkriminalität oder auch Drogen zu stillen bzw. zu betäuben. Die salafistische Mission besteht nun darin, diesen Jugendlichen einen Ausweg zu bieten: durch die Integration in die salafistische Gemeinschaft und Identität. Viele dieser Jugendlichen erleben in dieser Gemeinschaft zum ersten Mal so etwas wie Geborgenheit und Familie. Ihnen wird die Zugehörigkeit zu einer vermeintlich starken und überlegenen Gruppe suggeriert, ihr bisher schwaches Selbstwertgefühl durch Abgrenzung und Ablehnung von allem „Nichtislamischen“ aufgerüstet. Eine Aufarbeitung dessen, was diese Jugendlichen zu Drogen und Kriminalität getrieben hat, findet jedoch nicht statt. Ihre Sehnsucht nach Teilhabe wird reduziert auf den „Wunsch nach materiellem Wohlstand“ – ein Übel, das vom Wesentlichen ablenke. Das Wesentliche sei die Vorbereitung auf das eigentliche Leben nach dem Tod, die Hoffnung auf das Paradies. Und ein Leben nach salafistischer Vorstellung sei die beste Garantie, dass diese Hoffnung auch in Erfüllung gehe. Um diese Jugendlichen direkt ansprechen zu können, setzen salafistische Missionare auf Multiplikatoren, die den Jugendlichen nicht nur vertraut sind, sondern auch eine ähnliche Sozialisation haben. Ein Beispiel ist der Berliner Gangsta-Rapper Deso Dogg, der über salafistische „Streetworker“ dem Hip-Hop, den Drogen und der Gewaltkriminalität entsagte und fortan als Reborn-Muslim seinen Seelenfrieden gefunden zu haben schien. Doch das genügte Deso Dogg, der sich nun Abou Maleeq nannte, nicht. Er wollte mehr. Die große Aufmerksamkeit, die er erhielt, als ihn das radikale Netzwerk „Die wahre Religion“ Ende 2010 zu

7Abdu

Adhim Kamouss setzt sich inzwischen sehr kritisch nicht nur mit salafistischen Islaminterpretationen auseinander, sondern reflektiert auch selbstkritisch seine ehemalige Rolle als missionarisch-salafistischer Prediger. Er geht immer mehr auf Abstand zu den von ihm früher vertretenen Positionen und versucht inzwischen, Jugendliche vor einer Radikalisierung zu bewahren.

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seinem Aushängeschild machte, war zu verlockend. Endlich schien sich das zu erfüllen, was er bereits als 14-Jähriger gegenüber einer Berliner Jugendrichterin als sein Lebensziel formuliert hatte: „Ich möchte einmal berühmt werden, egal wie.“ Die militante salafistische Strömung bot ihm nun genau das, kam sie doch seiner gewalttätigen Vergangenheit sehr entgegen. Mit radikaler Dschihad-Propaganda zog er mehr und mehr die Aufmerksamkeit auf sich, betrachtet man die zahlreichen Medienberichte, auch international, über ihn. So wurde aus dem Gangsta-Rapper Deso Dogg zunächst der Naschid-Sänger Abou Maleeq, der in seinen Liedern und Vorträgen die eigenen Lebenserfahrungen der Ausgrenzung und sozialen Marginalisierung mit Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen von Muslimen in Deutschland und dem Leid der Muslime weltweit verknüpft, um daraus das Bild einer globalen Opfergemeinschaft zu stricken. Jungen Salafisten wie ihm obliege es nun, diese große Gemeinschaft auch unter Einsatz ihres Lebens von Leid und Unterdrückung zu befreien, wofür ihnen der Status eines Märtyrers sicher sei. Deso Dogg wurde 1975 als Denis Mamadou Cuspert in Berlin-Kreuzberg geboren, sein Vater stammt aus Ghana, seine Mutter ist gebürtige Deutsche. Der Vater verließ die Familie, sein Stiefvater war Angehöriger des amerikanischen Militärs. Er selbst kam bereits früh mit dem Gesetz in Konflikt, verkehrte in kriminellen Milieus, war Gang-Mitglied und bis 2004 mehrfach wegen diverser Delikte inhaftiert, u. a. wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Während seines Gefängnisaufenthaltes 1995 habe er mit der Musik begonnen, um „das sagen zu können, was ich gedacht habe“. Ab 2002 stieg er unter dem Pseudonym Deso Dogg zu einer Größe der Gangsta-Rap-Szene (ein Subgenre des Hip-Hop) auf, auch wenn er nie die Bekanntheit eines Bushido erreichte. Ab 2007 begann er sich wegen mangelnden Erfolges und Enttäuschungen über fehlende Anerkennung von der deutschen Rap-Szene mehr und mehr zu distanzieren. „Eigentlich waren es immer nur Tiefen, bloß manchmal hatte ich eben nicht wahrgenommen, wie tief ich eigentlich stand! Als ich auf die Größen dieser Musikbranche traf, habe ich erst gemerkt, dass ich doch nicht so tief stand, wie ich dachte. Da, wo diese Musiker waren, wollte ich nicht landen“, so sein Fazit in dem Interview mit dem Portal „Dajjal-TV“.8 Sein letztes Album „Alle Augen Auf Mich“ erschien im November 2009 und im November 2010 gab Deso Dogg bekannt, dass er seine Musikkarriere beendet habe und fortan als islamischer Prediger unter dem Namen Abou Maleeq auftreten

8Dajjal

TV – das Endzeit Magazin, URL: www.dajjal.tv/download/get/von-deso-dogg-zuabou-maleeq-dajjal-tv/51/ (letzter Zugriff: 2. April 2012).

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werde. Den Weg dahin hatte er bereits Ende 2009 eingeschlagen, zunächst über den missionarisch-salafistischen Zweig. Als Deso Dogg im Herbst 2010 vom radikalen Netzwerk „Die wahre Religion“ (DWR) als authentischer Multiplikator der Ideologie entdeckt und gefördert wurde, gingen die missionarischen Salafisten zwar immer mehr auf Abstand zu ihm, seine Sogwirkung auf einen Teil der Jugendlichen beeinträchtigte das jedoch nicht. Gemeinsam mit dem Österreicher Mohammad Mahmoud (Abu Usama al Gharieb) gründete er im Herbst 2011 in Berlin die militante Kameradschaft „Millatu-Ibrahim“ und übernahm das Amt des Pressesprechers. Wie jedes Mal, wenn Cuspert sich neu erfand, brachte er dies mit einem Namenswechsel zum Ausdruck. Als Propagandist des militanten Dschihads adaptierte er den Kampfnamen des 2010 beim Sturm auf eine US-Basis in Afghanistan als „Märtyrer“ gefallenen Deutsch-Marokkaners Bekkay Harrach: Abu Talha al-Almani (Abu Talha, der Deutsche). In zahlreichen Videos stilisierten sich nun der neue Abu Talha al-Almani und seine Kameraden von „Millatu-Ibrahim“ als deutscher Arm des globalen Dschihad, jederzeit bereit zu kämpfen und dafür in den Tod zu gehen. Flecktarn und Paschtunenmütze, Patronengürtel und Kalaschnikow prägten fortan das Outfit der selbst ernannten „Löwen von Deutschland“. Unterstützung und Anerkennung erhielten sie vom Prediger-Netzwerk DWR, das mit seiner Koranverteilaktion und der teilweise alarmistischen Berichterstattung darüber immer mehr das veröffentlichte Bild des Salafismus in Deutschland prägte. Als die rechtsradikale Pro NRW 2012 den kommunalen Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen zum Anlass für islamfeindliche Aktionen nahm, sahen beide Gruppen ihre Chance gekommen, sich gemeinsam als „die wahren und einzigen Verteidiger des Islam und der Muslime in Deutschland“ zu profilieren. Dass sie dabei auch von der Sehnsucht nach Anerkennung durch die Muslime weltweit und besonders der „Mujaheddin“ getrieben waren, wurde in einem Gespräch mit Abu Talha (Denis Cuspert) Mitte April 2012 in Berlin deutlich. „Pro NRW wird uns die Bilder liefern, die wir brauchen“, erklärte Abu Talha gegenüber der Autorin in diesem Gespräch. „Wir müssen sie nur in entsprechenden Foren verbreiten und dann wird die Antwort aus der islamischen Welt kommen.“ Davon sei er felsenfest überzeugt, denn der Islam werde siegen, so sei es offenbart und alles deute darauf hin, dass wir kurz vor der Entscheidung stehen. Als am 1. Mai in Solingen die Polizei recht rabiat gegen die Millatu-Ibrahim-Demonstranten vorging, um einen gewaltsamen Durchbruch und Angriff auf die genehmigte Pro-NRW-Demonstration zu verhindern, schien sich Abu Talhas Erwartung zu erfüllen. Fotos prügelnder Polizisten und am Boden liegender, gefesselter Millatu-Ibrahim-Kämpfer landeten noch am selben Tag in einschlägigen al-Qaida-nahen Foren. Doch die erhoffte Resonanz „DER“ Muslime blieb aus.

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Auch der Versuch, einige Tage später in Bonn die Bilder von Solingen zu toppen, zeitigte keinen Erfolg. Im Gegenteil. Die ausufernde Gewalt und vor allem die Messerattacken auf Polizisten isolierten Millatu-Ibrahim endgültig innerhalb der deutschen Salafisten-Szene. Und international blieb die Resonanz verhalten, auch wenn der Deutsch-Marokkaner Yassin Chouka per Video aus Waziristan das Lob der al-Qaida-nahen Dschihad-Gruppe „Islamische Bewegung Usbekistan“ übermittelte und zu weiteren Aktionen in Deutschland aufrief. Nach dem Verbot durch das Bundesinnenministerium am 14. Juni 2012 setzte sich Abu Talha zunächst nach Kairo und im Frühjahr 2013 nach Nord-Syrien ab, von wo er sich immer wieder mit kurzen Droh-Videos meldet. Zahlreiche gestylte Fotos zeigen ihn in Kampfmontur im Umfeld der dschihadistisch-salafistischen Organisation „Islamischer Staat im Irak und Großsyrien“ (ad-dawlat al-islamiya fil-iraq wasch-scham) oder an der Seite radikaler dschihadistischer Scheichs. Am 11.4.2014 leistete er den Treueeid (Baya) auf den Führer der ISIS und gehört heute zu den wichtigsten Protagonisten der deutschen Propagandaabteilung des im Juni 2014 ausgerufenen „Islamischen Staates“ („Kalifat“).

4.2 Ikonografie der Ideologie Typisch für diese pop-dschihadistische Jugendszene ist das veränderte mediale Auftreten. Klassische salafistische, aber auch dschihadistische Inhalte werden mit Mitteln der westlichen Pop-Kultur (Outfit, Embleme, Musikstil, Grafiken usw.) verbreitet und damit für Jugendliche – egal welcher Herkunft – attraktiv. Akteure der Propaganda sind nicht mehr die geistlichen Autoritäten, sondern die Stars der eigenen Szene, Jugendliche und Jungerwachsene, die ihre eigene Entwicklung und ihren Weg in den bewaffneten Dschihad ins Zentrum der Propaganda stellen als Ausweg aus einer Lebens- und Sinnkrise. Zur ersten Generation salafistischer Gelehrter, den Sheikhs, die meist in den 1990er Jahren als Erwachsene nach Deutschland kamen und hier die charismatischen Wanderprediger ausgebildet haben (z. B. die Prediger des DWR-Netzwerkes), haben diese Jugendlichen so gut wie keinen Kontakt mehr. Ihre Kenntnisse der Theologie der Salafiyya reduzieren sich auf Floskeln, mit denen sie ihre Alltagsrealität zu beschreiben versuchen und ihre Feindbilder, Abgrenzungen und die Ablehnung dieser Gesellschaft begründen. Sie haben oft einen Prozess hinter sich, in dem sie sich von der Familie, der Peergroup und der Gesellschaft entfremdet haben. Im Salafismus fanden sie einen Lösungsweg für ihren persönlich empfundenen Unmut und eine ideologische Welterklärung. Dieses Zusammenspiel aus emotionaler Befriedigung und Ideologie macht sie für Gleichaltrige mit einer ähnlichen Sozialisation und

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analogen Empfindungen nicht nur zu authentischen Vorbildern, sondern auch zu glaubwürdigen Vermittlern der ideologischen Begründungsmuster. Für männliche und weibliche Jugendliche in Deutschland sind die in Syrien beim „IS“ kämpfenden „Löwen des Islam“, wie der Berliner Denis Cuspert, längst authentischere Identifikationsfiguren als selbst die radikalsten Prediger des DWR-Netzwerkes. Die Formen der Vermittlung reichen von Videobotschaften bis hin zu Collagen und Grafiken, Comic-Filmchen und der Adaption der Naschid-Tradition in die westliche Hip-Hop-Kultur. Mit der kreierten Symbolik, in Sprache und Bild, lässt sich zudem das eigene Outfit (T-Shirts, Basecaps usw.) auch außerhalb der virtuellen Welt verzieren und der Umwelt als Botschaft demonstrieren. Es erfolgt also eine Reduktion des Salafismus und Dschihadismus auf deren ideologische Kerngedanken. Auch die Umsetzung dieser Propaganda unterscheidet sich: Die Videos sind insgesamt wesentlich kürzer und durch kurz geschnittene Bildfolgen geprägt, haben eine hippe Aufmachung im „MTV-Style“ und knüpfen damit an die Mediennutzungsgewohnheiten der Jugendlichen an. Auch die Verbreitungswege dieser Propaganda über die jugendkulturellen Medien (Facebook, Twitter, WhatsApp, Telegram) sorgen für wesentlich mehr Aufmerksamkeit bei der jugendlichen Zielgruppe als klassische salafistische Traktate oder Videos von einstündigen Predigten. Der sogenannte „Islamische Staat“ hat sich diese Art der „pop-dschihadistischen“ Propaganda zu eigen gemacht. Im Herbst 2015 eröffnete der „IS“ auf Telegram in verschiedenen Sprachen eigene Kanäle. Telegram ist ein sogenannter Instant-Messenger-Dienst, erhältlich für Smartphones, Tablets und Computer. Er vereint Chatprogramme mit der Möglichkeit, Channels zu eröffnen, auf denen Fotos und Videos für eine unbegrenzte Zahl von Abonnenten öffentlich gemacht werden können. Das Kommunikationsprinzip: extrem kurze Text-Botschaft gekoppelt mit unzähligen Fotos sowie Videos. Thema: Alltag im Kalifat – perfektes „islamgerechtes“ Leben, Kampf zur Verteidigung gegen Angriffe von außen und innen und heroisches Sterben. Die demonstrierte Militanz dieser Jugendlichen hat selbst die radikalen Prediger des Netzwerkes DWR veranlasst, diese Jugendszene hart zu kritisieren und zu maßregeln. Sie sehen darin ihr Konzept der schrittweisen Hineinführung in die salafistische Ideologie gefährdet, da diese Militanz neue Anhänger abschrecken könnte. Doch die militante Jugendszene hat sich längst von ihren ehemaligen Autoritäten gelöst. Sie haben von diesen gelernt, selbst religiöse Autoritäten zu verspotten und sich über sie zu erheben, wenn diese „nicht dem richtigen Weg folgen“, so wie sie ihn interpretieren. Dass sie das nun auch gegenüber den Köpfen der eigenen Szene praktizieren zeigt, dass sich hier längst eine eigenständige radikale Jugendsubkultur entwickelt hat, die selbst durch salafistische H ­ ardliner

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nur noch bedingt dirigier- und kontrollierbar ist. Die Jugendlichen greifen sich aus dem salafistischen und dschihadistischen Komplettangebot die Argumente und Botschaften heraus, mit denen sie sich am besten identifizieren können, die ihnen das bieten, wonach sie suchen. Die Ikonografie der Ideologie, die Authentizität der Protagonisten, die Vermittlungswege und die Symbolsprache bis hin zum Outfit erlauben es deshalb, beim „Pop-Dschihadismus“ von einer radikalen Jugendsubkultur als Produkt der westlichen Pop-Kultur zu sprechen.

Dantschke, Claudia,  geboren 1963 in Leipzig, studierte Arabistik an der Universität Leipzig. Seit Ende 2001 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin der ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH Berlin. Themen- und Arbeitsschwerpunkte: Migration, Islam und Islamismus. Seit Juli 2010 leitet sie im ZDK die „Arbeitsstelle Islamismus und Ultranationalismus“ (AStIU) und seit Ende 2011 die Beratungsstelle „Hayat“, in der Angehörige sich salafistisch oder dschihadistisch radikalisierender Jugendlicher und Jungerwachsene betreut und beraten werden.

Provokation und Plausibilität – Eigenlogik und soziale Rahmung des jugendkulturellen Salafismus Aladin El-Mafaalani 1 Einleitung Aus heutiger Sicht hat man keine großen Probleme, die sexuelle Befreiungsbewe­ gung oder auch Protestbewegungen – wie etwa Punk – zu verstehen. Es handelt sich um radikale Gegenpositionen, die zugleich „Spaß“ machen. Jugendbewegungen bzw. -subkulturen verbinden in der Regel bestimmte generationenspezifische (politische) Interessen mit einer affektiv-emotionalen Ebene – häufig auch in Kombination mit Musik und Rauschmitteln. Zugleich hatten Protestbewegungen und auch Jugendsubkulturen häufig eine optimistische Zukunftsvision. Genau hierin liegen die zentralen Besonderheiten des Salafismus. Diese könnten zugleich die besondere Attraktivität dieser Strömung begründen – so zumindest die im Folgenden verfolgte These. Der Salafismus ist grundlegend vergangenheitsorientiert und bietet keine positive Zukunftsvision – zumindest nicht im „Diesseits“. Und er verbietet alles, was (Jugendlichen) Spaß macht. Es handelt sich wahrscheinlich um das strengste

Hierbei handelt es sich um eine überarbeite und erweiterte Fassung des Beitrags „Salafismus als jugendkulturelle Provokation – Zwischen dem Bedürfnis nach Abgrenzung und der Suche nach habitueller Übereinstimmung“, erschienen 2014 in: T. G. Schneiders (Hrsg.). Salafismus. Bielefeld: transkript. A. El-Mafaalani (*)  Fachhochschule Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Toprak und G. Weitzel (Hrsg.), Salafismus in Deutschland, Edition Centaurus – Jugend, Migration und Diversity, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25837-5_5

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Regelwerk überhaupt. Eine fehlende Zukunftsperspektive und umfassende Reglementierungen sind für eine wachsende Jugendbewegung zunächst irritierende, intuitiv nicht nachvollziehbare Eigentümlichkeiten. Dennoch sind vereinzelt Analogien zu Jugendprotestbewegungen (Abou-Taam 2012b), insbesondere auch zum Punk (Nordbruch 2014; El-Mafaalani 2014), angedeutet worden. Im folgenden Beitrag soll dem Phänomen der zunehmend wachsenden Beliebtheit des Salafismus nachgegangen werden. Hierfür wird das Phänomen als Jugendbewegung mit zahlreichen Merkmalen einer Jugendkultur begriffen. Zunächst werden die zentralen Begriffe „Radikalität“ und „Provokation“ im Allgemeinen beleuchtet. Mit diesem begrifflichen Instrumentarium hat man notwendige, aber noch nicht hinreichende Erklärungsansätze zur Entstehung der Jugendbewegung gewonnen. In einem weiteren Schritt werden die gesellschaftlichen, politischen und internationalen Rahmungen für die Entwicklung einer salafistischen Jugendkultur dargestellt. Abschließend werden die Erkenntnisse auf milieutypische Besonderheiten – und hier insbesondere auf benachteiligte Jugendliche sowie Aufsteiger – bezogen.

2 Radikalität als Jugendphänomen Dass Jugendliche besonders anfällig für extreme Positionen sind und gelegentlich über die Stränge schlagen, ist bekannt und wird weitgehend geduldet. Menschen, die pragmatisch denken und handeln, müssen Widersprüche aushalten und sich auch von Idealvorstellungen entfernen. Pragmatismus ist insbesondere dann gefragt, wenn für das eigene Handeln Verantwortung übernommen werden muss. Die Jugendphase ist dadurch geprägt, dass vergleichsweise wenig Verantwortung übernommen werden muss bzw. kann, wodurch es zumindest keinen strukturellen „Zwang zum Pragmatismus“ gibt. Hinzu kommen in der Jugendphase eine noch nicht vollständig ausgereifte Impulskontrolle, eine insgesamt höhere Risikobereitschaft und das Bedürfnis, sich von der Elterngeneration abzugrenzen. Entsprechend ist es nicht überraschend, dass gerade Jugendliche anfällig für radikale politische Ideologien und religiöse Strömungen sind (Hurrelmann 2005). Extreme Positionen haben darüber hinaus eine besondere Anziehungskraft, nämlich die radikale Reduktion von Komplexität – und zwar in zweierlei Hinsicht. 1. Erstens: Die Komplexität der Welt hat eine Geschichte, ist historisch gewachsen und verwoben. Radikalismen führen zu einer starken Reduktion von Komplexität, indem sie sich nicht für diese Geschichte interessieren, sondern mit der Verheißung eines „an der Wurzel“ ansetzenden Neuanfangs lockend sehr selektive Geschichtsbilder propagieren und klare Feindbilder benennen können.

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2. Zweitens: Die Zieldimension dieses Neuanfangs wird mit einer einfachen und zugleich positiven Idee festgelegt. Dieser Neuanfang hat dabei in der Regel einen unmittelbaren Einfluss auf die alltägliche Handlungsebene. Da die Komplexitätsreduktion in Bezug auf den Status quo und die Zieldimension wiederum wenig realitätsnah bzw. praxistauglich ist, liegt eine gewisse Affinität zu Verschwörungstheorien nahe. Verschwörungen können die drei zentralen Dimensionen (Sozial-, Sach- und Zeitebene) von Gesellschaftsanalyse (Luhmann 1998) im eigenen Sinne kontextualisieren: Auf der Sozialebene wird einer – meist abstrakten – Gruppe (globale) Steuerungsmacht zugeschrieben; auf der Sachebene wird eine zu dieser Gruppe passende (globale) Steuerungsideologie identifiziert; und auf der Zeitebene wird dieser Ideologie die Deutungshoheit über die Geschichtsschreibung und Gegenwartsdiagnose zugeschrieben. Betrachtet man nun den Salafismus ausschließlich aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive, lässt sich feststellen, dass diese ultrakonservative islamische Strömung diese allgemein beschriebenen Funktionslogiken weitgehend erfüllt (ähnlich auch Abou-Taam 2012a, b). Allerdings lassen sich auch deutliche Unterschiede feststellen, die im Folgenden dargestellt werden.

3 Die Macht der Provokation Auf der alltagspraktischen Handlungsebene bieten salafistische Jugendgruppen in zweifacher Hinsicht Provokationsmöglichkeiten: Zum einen die Provokation der Askese, zum anderen die Provokation der ideologischen Nostalgie. Beide lassen sich als viable Provokationen der Postmoderne beschreiben: Askese und Nostalgie sind in zeitgenössischen Trends insgesamt durchaus auffindbar – meist im Kontext von kapitalismus- bzw. konsumkritischen Bewegungen. Aber anders als in anderen Subkulturen sind diese beiden Provokationen schichtübergreifend, also insbesondere auch für Jugendliche der unteren Schichten nachvollziehbar und realisierbar.

3.1 Provokation der kollektiven Askese Jugendliche neigen dazu, sich von ihren Vorgängergenerationen abzugrenzen. Dabei können extreme Gegenpositionen zutage kommen. Ein veränderter Lebensstil ist hierfür typisch. Kleidung, Frisuren, Drogen und Musik waren häufig sinnlich wahrnehmbarer Ausdruck von Abgrenzung und Provokation. So war es bei

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Studentenbewegungen, den Punks, der Hip-Hop-Kultur. Und heute? ­Jugendliche haben kiffende Lehrer und Eltern mit Piercing und gefärbtem Haar. Adelige Bundesminister gehen auf Heavy-Metal-Konzerte, First Ladys sind tätowiert. Sex, Drugs and Rock’n’ Roll – dieser in die Jahre gekommene Spirit lässt sich heute bestenfalls noch auf Ü 40 Partys finden. Alle Kombinationen von Sex, Rauschmitteln und Musik hat es schon gegeben. In einer Zeit, in der für jedes Bedürfnis vielfältige Konsumangebote vorliegen und mit Sexualität offen umgegangen wird, ist die größte Provokation und die radikalste Abgrenzung vom Mainstream bzw. von der Mehrheitsgesellschaft die Enthaltsamkeit im Kollektiv. Diese Provokation wirkt dabei sowohl nach innen als auch nach außen. Da die eigenen Eltern nicht streng religiös und teilweise nicht einmal Muslime sind, wirkt die salafistische Lebensführung auch als Abgrenzung von der eigenen Familie und dem gesamten Umfeld. Gleichzeitig kehrt man gewissermaßen zurück zu den (eigenen) Wurzeln. Die übliche Kritik, nämlich dass man durch ein religiös-konservatives Elternhaus geprägt wurde, prallt hier vollständig an den Jugendlichen ab – im Gegenteil: In ihrem Selbstverständnis ist die Tatsache, dass sie die Religiosität deutlich radikaler praktizieren als die eigenen Eltern, ein Ausdruck von Eigenständigkeit und Selbstbestimmung. Diese selbstbestimmte Abgrenzung wird als Autonomie erlebt. Konvertiten haben hier eine noch prominentere Position, da sie vollständig gegen die Tradition ihrer Familien „den richtigen Weg“ eingeschlagen haben. Die Askese selbst übt zugleich nach innen und außen eine gewisse Faszination aus. Der weitgehende Verzicht führt teilweise dazu, dass den Jugendlichen auch von nicht streng religiösen Menschen Respekt entgegengebracht wird. Aber anders als beispielsweise bei Veganern oder konsumkritischen Gruppen beschränkt sich bei Salafisten der Verzicht nicht auf einen Lebensbereich, sondern praktisch auf den gesamten Alltag. Der „entfesselten Spaßgesellschaft“ wird ein Gegenentwurf gegenübergestellt, bei dem alles abgelehnt bzw. umfassend reglementiert wird, was als jugendtypisch gilt: Konsum, Sexualität, ausgelassenes Feiern. Die Ablehnung dessen, was Spaß macht, ist mit Anstrengung und Selbstkontrolle verbunden. Dies führt nicht nur zu Anerkennung, sondern darüber hinaus auch zu einem Gefühl der Selbstwirksamkeit: Man schafft es durch eigene Handlungen, Einfluss auf sich und das Umfeld zu nehmen. Dieses Gefühl der Handlungsfähigkeit ist umso größer, je häufiger und intensiver zuvor Ohnmachtserfahrungen gemacht wurden. Die asketische Orientierung gegen den Mainstream hat nicht nur erkennbare Züge von Gesellschaftskritik, sondern stärkt zudem das Kollektiv. Die Erfahrung von Gemeinschaft, insbesondere von familienähnlicher Solidarität und engen

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Freundschaften, stärkt angesichts wahrgenommener brüchiger solidarischer Strukturen in der Mehrheitsgesellschaft die Bindung nachhaltig. Dieses Zugehörigkeitsgefühl kann als substanzieller Bestandteil der Attraktivität begriffen werden. Das selbstbewusste Auftreten und die Sichtbarkeit dieser Zugehörigkeit (insbesondere Bärte, Kopftuch, spezifische Sprache usw.) führen nicht nur zu der beschriebenen Anerkennung, sondern auch zu (extremer) Ablehnung. Diese ist jedoch bereits antizipiert: Ähnlich wie vor einigen Jahrzehnten bei den Punks ist auch bei Salafisten bereits vor Eintritt bekannt, dass die sichtbare Zugehörigkeit zum „strengen Islam“ in der Mehrheitsgesellschaft – und nicht nur dort – zu offener Ablehnung führen wird. Es ist erwünscht, dass diejenigen, gegen die man sich stellt, der Gruppe gegenüber feindselig eingestellt sind. Hierbei handelt es sich um eine aktive Umkehrung des Exklusionsprozesses, bei dem „nur ausgeschlossen scheint, wer sich selbst ausschließt“ (Bourdieu und Passeron 1971, S. 44). Diese drei Aspekte – Gefühl der Autonomie, der Selbstwirksamkeit und der Zugehörigkeit – können auch als soziale Grundbedürfnisse bzw. Motivationsmotoren verstanden werden (Deci und Ryan 1993). Sie werden besonders intensiv erlebt und sind umso relevanter, wenn zuvor die Gefühle von Fremdbestimmtheit, Ohnmacht und Isolation prägend waren. Insbesondere in sozioökonomisch prekären Lebenslagen (Armut) sowie in identifikatorisch prekären Kontexten – hierzu können u. a. fehlende (positive) Zugehörigkeit, Ausschlussund Diskriminierungserfahrungen gefasst werden – sind solche negativen Ausgangsbedingungen wahrscheinlich. Allerdings lassen sich diese Grundbedürfnisse auch in anderen Jugendsubkulturen befriedigen. Neben diesen drei fundamentalen sozialen Bedürfnissen ist auch die enorme Komplexitätsreduktion von hoher Attraktivität. Dabei geht es nicht mehr nur um eine klare Wir-Die-Grenze sowie die extremen und klaren Reaktionen auf salafistische Gruppen (Respekt/ Anerkennung vs. Ablehnung/Feindseligkeit), sondern insbesondere um die ideologische Nostalgie.

3.2 Provokation der ideologischen Nostalgie Die salafistische Strömung zeichnet sich durch eine radikale, an den Wurzeln ansetzende Reorientierung an den Gründergenerationen des Islams aus (AbouTaam 2012a). Der Schlüssel ist nicht etwas, was zur Diskussion steht, wobei man abwägen oder verhandeln muss. Der Schlüssel liegt in der Vergangenheit, die Utopie ist Geschichte, der es sich wieder anzunähern gilt. Die rückwärtsorientierte Utopie bietet nicht nur einen Kompass, sondern bereits einen vorgezeichneten Weg, bei dem das eigene Handeln, nämlich die strikte Einhaltung der

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­ eglementierungen, entscheidend ist. Dabei bietet der Salafismus zum einen eine R funktionale und zum anderen eine normative Komplexitätsreduktion. Bei der ideologischen Nostalgie handelt es sich um eine funktionale Komplexitätsreduktion, die in besonderer Weise auch für benachteiligte Jugendliche zugänglich ist. Die meisten zeitgemäßen Individualitäts- und Identitätsformen konstituieren sich über intellektuelle Unterscheidungen und Konsumangebote. Diese beiden Aspekte münden in einem Zwang zur Kreativität (Reckwitz 2012). In benachteiligten Positionen kann man zumindest das Spektrum an Konsummöglichkeiten nicht (auf legalem Wege) ausschöpfen. Die ideologische Nostalgie macht dabei aus der Not eine Tugend: Dem Kreativitätszwang wird der Konformitätszwang entgegengestellt. Die Konsumangebote, die ohnehin außerhalb des Möglichen liegen, werden weitgehend verachtet; statt Intellektualität geht es um Spiritualität. Gleichzeitig werden den Jugendlichen klare Regeln, klare Orientierung und klare Ordnungen angeboten. Diese Eindeutigkeiten beziehen sich insbesondere auf traditionelle Geschlechterrollen, präferierte Sexualität, aber auch auf die Kleiderordnung u. v. m. Die Anziehungskraft des Salafismus ist besonders vor dem Hintergrund einer fehlenden innovativen Zukunftsvision interessant. Die Orientierung an der Frühzeit des Islams, die häufig mit dem „richtigen“ oder „echten“ Glauben rhetorisch zum Ausdruck gebracht wird, ist für eine Jugendkultur eher untypisch. Allerdings handelt es sich auch hierbei um eine weitreichende normative Komplexitätsreduktion: Zum einen gibt es insgesamt kaum noch ideologische Angebote bzw. zukunftsweisende Jugend- oder Protestbewegungen, an denen sich unzufriedene Jugendliche orientieren können – und die meisten Ansätze basieren auf sehr komplexen Ideen, die bisher ausschließlich Jugendliche der Mittel- und Oberschicht ansprechen; zum anderen bietet der Salafismus auf den ersten Blick eine Lösung für die großen Probleme der Gegenwart. So scheint etwa die Vorstellung, dass alle Weltprobleme – vom Klimawandel über Wirtschafts- und Finanzkrisen bis hin zum Welthunger – nicht existierten, wenn alle Menschen nach dem „echten“ Glauben leben würden, für Jugendliche äußerst attraktiv. Diese sich hart am Rande der Tautologie bewegende Vorstellung wirkt auf Jugendliche insbesondere deshalb so überzeugend, weil derzeit in der Tat kaum Lösungsansätze für die globalen Herausforderungen wahrnehmbar sind (Einige Elemente der nostalgischen Note lassen sich auch in der zunehmenden Beliebtheit von Neo-Puritanismus, Naturreligionen, Esoterik, Bio-Nahrung oder Yoga erkennen – allerdings alles ich bezogene Formen der Sinnsuche. Der Salafismus hingegen bietet zudem eine nostalgische Perspektive auf Gemeinschaftlichkeit).

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4 Die Macht der Plausibilität Neben dem Provokationspotenzial ist ein hohes Maß an Plausibilität der Selbstund Weltdeutung von zentraler Bedeutung, damit eine Bewegung entsteht. Es geht nämlich immer auch darum, zu den „Guten“ zu gehören, zu denen nämlich, die (ein Mehr an) Gerechtigkeit wollen. Hierfür müssen viele Jugendliche in ähnlicher Weise Ungerechtigkeitserfahrungen gemacht haben sowie zugänglich sein für Ungerechtigkeitsdeutungen. In Bezug auf die Plausibilität der salafistischen Deutungsangebote lässt sich konstatieren: Diese erscheinen jungen Menschen, auch solchen, die nicht in der Szene aktiv sind, in hohem Maße plausibel und mit den lebensweltlichen Erfahrungen kompatibel. Insbesondere im Hinblick auf die politischen und gesellschaftlichen Diskurse sind sie auch zu weiten Teilen nicht falsch. Lediglich die Lösungsangebote erscheinen problematisch – im Übrigen auch aus der Perspektive der meisten Jugendlichen, die offensichtlich nicht anfällig für die salafistische Ideologie sind. Typische Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen auf der persönlichen Ebene werden in Predigten aufgegriffen und immer wieder mit nationalen und internationalen Entwicklungen kontextualisiert. Auf diesem Wege wird eine globale Opfergemeinschaft gebildet. So wird beschrieben, dass der Islam im Allgemeinen und Muslime im Speziellen Feindbilder seien. Sich über Muslime auszulassen sei selbstverständlich. Muslime seien aber nur die Bösen, solange sie kein Buch gegen den Islam geschrieben hätten. Als Muslim ein Islamkritiker zu sein, wäre hingegen karriereförderlich. Man lese und höre permanent im medialen Diskurs Fragen wie „Gehört der Islam zu Deutschland?“ oder „Wie gefährlich ist der Islam?“. Und tatsächlich zwingt der nationale Diskurs die muslimischen Verbände und Vereine in eine defensive Haltung, in der sie klarstellen, zurechtrücken, sich distanzieren müssen – ein mühsames Geschäft, das einem niemand dankt und bei dieser Gemengelage vielleicht sogar zum Scheitern verurteilt ist. Dieses Verhalten wird von vielen Jugendlichen als weiterer Beleg für die Schwäche der gemäßigten Muslime (in Deutschland und Europa) gesehen. Auf der internationalen Ebene wird die Doppelmoral „westlicher Politik“ – gleich von welchem westlichen Staat – immer wieder betont: Wenn Muslime Erdöl haben und verlässliche Geschäftspartner sind, seien sie plötzlich „Freunde“, selbst wenn es Diktatoren und Wahhabiten sind. Werden Muslime demokratisch gewählt, wie etwa in Algerien oder Ägypten, würden sie hingegen durch „den Westen“ entmachtet. Als in Bosnien und Tschetschenien Muslime in Massen getötet wurden, habe der Westen zugesehen. Auch in Syrien und dem Irak sei die Staatengemeinschaft – und hier

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insbesondere Europa und die USA – erst richtig aktiv geworden, als Nichtmuslime (beispielsweise Jesiden oder Franzosen) bedroht oder ermordet wurden. Solange lediglich mehrere hunderttausend Muslime die Opfer des Bürgerkriegs waren, habe es geheißen, man könne sich nicht einmischen. Und an den persönlichen Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen ansetzend werden ausgrenzende Handlungen im Alltag (z. B. wie sie in der Schule oder in Diskotheken behandelt werden) sowie die soziale Situation der Herkunftsfamilien (z. B. Armut und der niedrige Status der eigenen Eltern) dargestellt. Eine beispielhafte Ansprache eines Predigers: Brüder, eure Eltern, das sind doch nette Menschen. Die haben niemandem was getan. Haben die das verdient, behandelt zu werden wie Abschaum? Haben diese alten Menschen verdient arm zu sein, kein Geld, kein Ansehen und einen kaputten Rücken von der ganzen Arbeit zu haben? Guckt euch doch an, was eure Eltern sich für Mühe gegeben haben, was sie alles geleistet haben. Und jetzt, liebe Brüder, wo stehen sie jetzt. Ist das gerecht? Erklärt mir das! Aber Brüder, wir brauchen nicht über eure Eltern sprechen. Ihr selbst seid doch nette Menschen. Alle Geschwister, wie sie hier sitzen. Und jetzt erklärt mir, warum alle meinen, mit euch würde etwas nicht stimmen. Brüder, erklärt mir, wie es sein kann, dass ihr alle irgendwie in Schule oder beim Arbeitsamt oder in der Ausbildung irgendwie vielleicht zurechtkommt. Aber Brüder, werdet ihr mit Respekt behandelt? Macht ihr in eurem Leben etwas Sinnvolles? Braucht ihr dieses ganze dumme Zeugs, teure Uhren, Schuhe, Goldkette? So viele Brüder nehmen Drogen und dealen. Schlafen mit Frauen für Geld. Brüder, das ist doch kein Leben. Guckt euch diese Leute an, die sind alle älter als ihr. Sind die glücklich? Sagt mir, sehen die glücklich aus? Brüder, sagt mir bitte, sind das Vorbilder? Was ist das für eine Gesellschaft? Alles dreht sich um Geld. Verkauf Drogen, du bekommst Geld. Verkauf deinen Körper, du bekommst Geld. Verkauf deine Seele, du bekommst Geld. Wofür das Geld? Damit du dir dieses überflüssige Zeug kaufen kannst, was dich nur noch unglücklicher macht. Und dann sind überall auf der Welt Menschen, die hungern. Egal, wir machen hier weiter. Egal, wir zerstören so unseren Planeten. Jeder für sich alleine. Keine Gemeinschaft, kein Sinn, keine Würde. Egal, egal, alles egal. Die Leute werden betäubt damit. Brüder, die Menschen kriegen gar nicht mehr mit, dass etwas falsch läuft. Wenn ihr euch dabei unwohl fühlt, wenn ihr das Gefühl habt, dass hier etwas nicht richtig läuft. Wenn ihr meint, hier stimmt doch was nicht. Wenn ihr das fühlt, dann lebt eure Seele noch. Dann seid ihr noch gesund in dieser kranken Gesellschaft. Nicht mit euch stimmt was nicht. Hier stimmt was nicht. Brüder, überall, wo wir Muslime dieses Spiel mitspielen, werden wir schwach. Überall werden wir verarscht. Warum? Weil wir das Spiel der Kufar mitspielen. Aber das ist nicht unser Spiel. Wir müssen zurück zu unserem Glauben. Wir müssen uns ernst nehmen. Gemeinschaft und Glaube, meine Brüder. Das ist die Botschaft Gottes. Das hat uns stark gemacht. Seitdem wir das nicht mehr ernst nehmen, sind wir schwach. Und die anderen sagen, wie wären gefährlich. Warum meinen die das? Weil wir sagen, dass wir dagegen sind, dass Menschen ihren Körper, ihre Seele verkaufen? Weil wir sagen, dass wir

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dagegen sind, dass Menschen ihren Körper und ihre Seele betäuben. Deswegen sind wir gefährlich? Was ist hier bitte los, Brüder? Da beschimpft jemand Allah und seinen letzten Propheten. Was passiert? Er wird ein Superstar, Brüder, in dieser Gesellschaft wird er ein Superstar. Er wird reich, bekommt Anerkennung, er ist beliebt. Und wir sind gefährlich, wenn wir die Probleme unserer Brüder ansprechen? Was? Wir sind den Leuten egal. Muslime sind denen egal. Wenn unsere Brüder in Tschetschenien sterben, in Syrien, in Irak, wen hat das interessiert? Ich frage euch, was haben sie getan? Wenn irgendwo in der Welt zwei europäische Christen sterben, sind die Fahnen auf Halbmast. Wenn 2000 unserer Brüder sterben, es interessiert doch niemanden. Ihr interessiert niemanden. Aber ihr solltet euch für euch und eure Brüder interessieren. Wir alle müssen zurück zu unserem Glauben, zur Wahrheit, zum wahren Islam. Wir müssen uns ernst nehmen. Gemeinschaft und Glaube, meine Brüder. Das ist die Botschaft Gottes. Das hat uns damals stark gemacht und das macht euch heute wieder stark.

Es lässt sich also die folgende Argumentationskette rekonstruieren: Muslime haben eine randständige Existenz. Sie sind schwach, werden diskriminiert, zum Teil auch unterdrückt und verfolgt. Dabei ist es egal, ob sie eine Minderheit darstellen, wie in Deutschland und Europa, oder ob sie die Mehrheit bilden, wie beispielsweise in Syrien. Wie kann das sein? Die angebotene Antwort impliziert zugleich die Lösung: Die Muslime sind schwach, weil sie ihren Glauben nicht mehr ernst nehmen. Wieder zu der alten Stärke zurückzukehren bedeutet, den Glauben wieder ernst zu nehmen – so, wie es zu den Gründerzeiten des Islams der Fall war. Auf diese Weise wird die ultrakonservative Ideologie mit einem Gerechtigkeitsdefizit, einer progressive Intention und der Konstruktion eines Gemeinschaftsgefühls kontextualisiert. Nichts weniger als die Emanzipation von den wahrgenommenen Sackgassen der Moderne steht letztlich auf dem Programm. Exkurs: Emanzipation junger Frauen in der salafistischen Szene Die alltagspraktische Funktion eines Kopftuchs (oder gar einer Burka) weist – bei allen Unterschieden – unglaublich viele Ähnlichkeiten mit dem punkigen Irokesen in den 1970ern auf: Man wird unmittelbar erkannt, erntet skeptische Blicke, offene Ablehnung, tiefe Verachtung und erzeugt Angst. Alle Zutaten für gelungene Rebellion. Schlimm, wenn es unter Zwang geschieht, überaus funktional, wenn man die Öffentlichkeit und die eigenen Eltern provozieren möchte. Neben dem Provokationspotenzial wurde bisher kaum reflektiert, dass aus der lebensweltlichen Perspektive vieler Mädchen und junger Frauen auch Emanzipation das zentrale Motiv sein kann. In der salafistischen Szene gelten strenge Regeln für Mann und Frau – in traditionellen, wenig religiösen Familien häufig nur für das weibliche Geschlecht. Nicht ohne Grund erleben viele junge Frauen in dieser

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Jugendbewegung ein höheres Maß an Gleichstellung als in ihren zum Teil resignierten Herkunftsmilieus. Gleichstellung in die andere Richtung. Es kommt also auf den Kontext an: Im Iran oder in Saudi-Arabien ist eine Kopftuch tragende Frau eine anonyme Ameise im Ameisenhaufen; in Deutschland ist sie das auffällige schwarze Schaf. Daher sind die Motive für oder gegen religiöse Radikalisierung je nach Gesellschaft und Zeitgeist ganz unterschiedlich. Somit lassen sich zwischen den salafistischen Bewegungen in Europa und in den arabischen Staaten deutliche Unterschiede feststellen. In Europa ist es praktisch ausschließlich eine Jugendbewegung innerhalb der Minderheit, in den arabischen Staaten ist es eine islamische Strömung meist innerhalb der Mehrheit. Was hier mit den Begriffen Provokation und Plausibilität gefasst wurde, spricht Jugendliche nur unter gewissen Umständen an. Die Analyse schichtspezifischer Denk- und Handlungsmuster (Habitus) kann hierfür allgemeine Erklärungen bieten. Diese werden im Folgenden skizziert.

5 Schichtspezifische habituelle Muster und Jugendkulturen Untere Schichten zeichnen sich nach Bourdieu (1987) durch einen Habitus der Notwendigkeit aus, ein Habitus also, der bei der Wahrnehmung einer Situation die Funktionalität, Anwendbarkeit oder eben die Notwendigkeit in den Vordergrund stellt. Dies erscheint plausibel, da die Sozialisationsbedingungen in unteren Schichten durch Knappheit an ökonomischem Kapital (Geld, Besitz) und kulturellem Kapital (Wissen, Bildung), aber auch an sozialem Kapital (soziale Netzwerke, Anerkennung) gekennzeichnet sind und der Habitus auf ein Management dieser Knappheit ausgerichtet ist. Im Zustand höchster Knappheit muss permanent gefragt werden, ob etwas auch wirklich (kurzfristig) notwendig ist, wofür man etwas macht, ob es „etwas bringt“, welcher konkrete Sinn dahintersteckt. Ein Kind, das in solchen Verhältnissen aufwächst, entwickelt eine „Mentalität“, in der derartige Nutzenabwägungen in allen Lebensbereichen handlungsleitend sind. So ist beispielsweise der Zugang zu Bildung als Selbstzweck, zu Wissen, das keiner unmittelbaren lebenspraktischen Anwendung dient sowie zur Kompetenzentwicklung und -ausweitung in Bereichen, die im Herkunftsmilieu keine Anerkennung finden, weitgehend habituell versperrt. Aber auch Ästhetik und Moral folgen Notwendigkeits- und Eindeutigkeitsmustern. Die Fähigkeit zur Abstraktion sowie das Denken in Alternativen werden durch die Sozialisationsbedingungen kaum unterstützt. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass diese habituellen Muster nicht nur aus den Lebenserfahrungen und Sozialisationsbedingungen – also aus den

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jeweiligen Biografien – heraus plausibel rekonstruiert werden können, sondern darüber hinaus zur Bewältigung des Alltags auch tatsächlich funktional und nützlich sind (El-Mafaalani 2012; Willis 1977). Daher lässt sich zunächst festhalten: Menschen, die in ähnlichen Milieus aufgewachsen sind und entsprechend homologe Habitusformen ausbilden, teilen in hohem Maße explizites und implizites Wissen, Routinen, Symbole usw. Demgegenüber verursachen soziale Kontexte, die eine große soziale Distanz zu den Entstehensbedingungen des Habitus (dem Herkunftsmilieu) aufweisen, Unsicherheit, Unwohlsein oder gar Vermeidungshandeln; hier fühlt man sich „fehl am Platz“ oder hat das Gefühl, „das ist nichts für mich/uns“. In jedem Fall fehlen Intuition und Automatismen für das richtige Verhalten. Solche Situationen werden anschließend (zumindest tendenziell) vermieden. Entsprechend ist aus habitustheoretischer Perspektive die wahrscheinlichste Praxis ein Verbleib im Herkunftsmilieu. Allerdings besteht bei Jugendlichen gleichzeitig ein Abgrenzungsbedürfnis von den Vorgängergenerationen. Jugendsubkulturen können als Ergebnis des Wechselspiels zwischen dem Bedürfnis nach Abgrenzung von Altem auf der einen Seite und der „Suche nach habitueller Übereinstimmung“ (Bohnsack 2002) auf der anderen Seite verstanden werden. Während die Abgrenzung alle eint, bildet die Suche nach habitueller Übereinstimmung selbst in Jugendgruppen sozialstrukturelle Differenzen aus. So zieht die Punkszene durch ihre gesellschaftskritische Haltung und eine Negierung von Körper- und Geschlechterverhältnissen (insbesondere in Hinblick auf Gleichheit) besonders Mittelschichtskinder an, in der Gangsta-Rap-Szene wird genau das Gegenteil präferiert, indem soziale Hierarchien und körperliche Stärke sowie ungleiche Geschlechterverhältnisse hier auf extreme Weise fortgeführt werden, wodurch sich die hohe Anziehungskraft für Unterschichtskinder erklären lässt (El-Mafaalani 2014b; Dietrich und Seeliger 2012). In gewisser Weise bietet der Salafismus eine Kombination aus einer radikal gesellschaftskritischen Haltung und sichtbarer Provokation auf der einen Seite und einer extremen Klarheit auf der alltagspraktischen Handlungsebene. Auf einer abstrakten Ebene lassen sich also durchaus Vergleiche zu Punk oder HipHop ziehen, allerdings mit den deutlichen Unterschieden im Hinblick auf Askese und Nostalgie sowie mit einer abweichenden aktuellen Problemstellung der Jugendlichen. Dass Jugendliche in prekären Lebenslagen aufgrund fehlender Zugehörigkeit und Anerkennung für Salafisten zugänglich sind, erscheint plausibel. Deutlich komplexer ist die Erklärung bei Abiturienten und Studierenden. In der Regel handelt es sich bei diesen Personen um Aufsteiger, also um junge Menschen aus

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einem Arbeiter- bzw. Unterschichtshaushalt. Bildungsaufsteiger zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie in einer Zwischenposition stehen (El-Mafaalani 2012). Einerseits entfernen sie sich vom Herkunftsmilieu und verlieren soziale Netzwerke, andererseits ist die Zugehörigkeit zu höheren Milieus dauerhaft prekär. Während des Aufstiegsprozesses erfahrene Abwertungen durch askriptive Kategorisierung (Othering) und Stigmatisierung im Sinne Goffmans (1963) können ganz besonders schmerzhaft sein. Diskriminierungs- und Ausschlusserfahrungen sowie dauerhafte habituelle Differenzerfahrungen können dann eine Rückbesinnung auf die eigenen habituellen und religiösen Wurzeln und damit Radikalisierung begünstigen. Diese Enttäuschung bzw. erlebte Diskriminierung kann zu Radikalisierungsprozessen führen. Bereits Bourdieu hat vermutet, dass sich viele französische Aufsteiger, die von den elitären Kreisen aufgrund ihrer sozialen Herkunft abgelehnt wurden, in die politisch rechte Szene orientiert haben (El-Mafaalani et al. 2016a).

6 Fazit Der Beitrag hat einen skizzenhaften Versuch unternommen, das Phänomen des Salafismus aus der Perspektive der Jugendlichen soziologisch zu rekonstruieren. Dabei standen die Funktionalität von asketischer Alltagspraxis (Unterbau) und nostalgischer Ideologie (Überbau) im Vordergrund, ohne dass dabei theologische, historische oder international vergleichende Analysen vollzogen wurden. Vielmehr erscheint der Zugang einer sinnverstehenden Rekonstruktion der Anziehungskraft dem jugendkulturellen Phänomen näherzukommen. Es konnte gezeigt werden, dass verschiedene jugendtypische Bedürfnisse und Handlungspraktiken hier auf eigentümliche Weise auf Widerhall treffen. Aus der hier skizzierten sozialpsychologischen und soziologischen Analyse wurde deutlich, dass in der salafistischen Jugendkultur das Erleben von Autonomie, Selbstwirksamkeit und Zugehörigkeit ermöglicht wird und dadurch Selbstbewusstsein und Selbstwert gesteigert werden. Die Anfälligkeit scheint besonders groß bei benachteiligten Jugendlichen mit mehrfachen und dauerhaften Diskriminierungsbzw. Ausschlusserfahrungen sowie bei enttäuschten Aufsteigern zu sein. Die historisch seltene Konstellation, als junger Mensch mit radikaler Askese und Nostalgie provozieren zu können, bietet einen Resonanzboden für benachteiligte Jugendliche, indem nämlich aus der Not eine Tugend wird. Wer nicht teilhaben kann oder ausgegrenzt wird, gibt nicht viel auf, wenn er sich einer radikalen Gruppe anschließt. Im Gegenteil: Aus dem Gefühl der Ohnmacht wird Selbstbestimmtheit. Entsprechend lässt sich vermuten, dass ungleiche Teilhabechancen

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auf der einen und Islamfeindlichkeit auf der anderen Seite das Provokationspotenzial steigern und dadurch zu einer anhaltenden Attraktivität beitragen werden. Wie Jugend und Provokation auf Dauer zu einer ultrakonservativen Strömung passen, bleibt zu beobachten. Abspaltungen sind wahrscheinlich, dies kennen wir aus vielen Bewegungen. Wenige werden Terroristen, einige sympathisieren gewaltlos, die meisten bleiben ungefährlich. Die säkularen Muslime innerhalb Europas zu isolieren, damit sie in der Isolation radikalisierbar werden, war ein zentrales Ziel der internationalen Terrorgruppen. Diese Strategie war bemerkenswert erfolgreich. Die Erzeugung von Angst ist hierfür zentral. Eine systematische Auseinandersetzung damit, dass offene Gesellschaften auf diese Strategien nach wie vor hereinfallen, hat bisher nicht stattgefunden. Die jungen Menschen, die heute anfällig sind für diese Form der Radikalisierung, sind im Klima der enormen Skepsis gegenüber dem Islam und Muslimen in der Folge des 11. September 2001 aufgewachsen. Diesen Nährboden für Radikalisierungsprozesse auszutrocknen ist eine große Herausforderung. Neben den diversen Strategien in Bezug auf die Prävention und Deradikalisierung (El-Mafaalani et al. 2016b) gilt es insbesondere die gesamtgesellschaftliche Dimension stärker zu fokussieren. Auf der anderen Seite gilt es natürlich auch, den innerislamischen Diskurs im Hinblick auf die offenkundige Anfälligkeit der Muslime – und vielleicht auch des Islams – für Radikalisierung und politische Instrumentalisierung zu fördern.

Literatur Abou-Taam, M. (2012a). Die Salafiyya – eine kritische Betrachtung. In Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Islamismus. http://www.bpb.de/politik/extremismus/islamismus. Abou-Taam, M. (2012b). Die Salafiyya-Bewegung in Deutschland. In Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Islamismus. http://www.bpb.de/politik/extremismus/islamismus. Bohnsack, R. (2002). „Die Ehre des Mannes“. Orientierungen am tradierten Habitus zwischen Identifikation und Distanz bei Jugendlichen türkischer Herkunft. In M. Kaul & W. Marotzki (Hrsg.), Biographische Arbeit (S. 117–141). Opladen: Leske + Budrich. Bourdieu, P. (1987). Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bourdieu, P., & Passeron, J. C. (1971). Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Stuttgart: Klett. Deci, E. L., & Ryan, R. M. (1993). Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik. Zeitschrift für Pädagogik, 39(2), 224–238.

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El-Mafaalani, Aladin,  Dr. rer. soc., ist Professor für Politikwissenschaft/Politische Soziologie an der Fachhochschule Münster. Seine Forschungsschwerpunkte sind Bildungs-, Jugend-, Migrations- und Stadtforschung.

Vom Klassenzimmer in den Heiligen Krieg – Warum Jugendliche islamistische Fundamentalisten werden Lamya Kaddor 1 Salafismus – ein neues Phänomen des Extremismus in Deutschland Es gibt wenige Begriffe, die in unserer Gesellschaft so schnell Karriere gemacht haben wie der des „Salafismus“. Das Wort „Salafismus“ war vor weniger als zehn Jahren gerade mal einer Handvoll Experten bekannt. Wir haben es hier mit einem neuen Phänomen des Extremismus zu tun, das neben die bekannten Formen des Rechts- und des Linksextremismus getreten ist. Der Verfassungsschutz befasst sich seit 2006 damit. Kurz davor hatte einer der bis heute prägenden Köpfe der Bewegung in Deutschland, Pierre Vogel, die Öffentlichkeit gesucht. Bereits damals sorgte er mit öffentlichen Auftritten und mit Darstellungen im Internet unter Jugendlichen für Aufsehen. Islamwissenschaftler und islamische Religionspädagogen haben das Phänomen vielleicht schon ein paar Jahre früher verstärkt wahrgenommen. Allerdings war dieses Thema zu diesem Zeitpunkt aus ihrer Sicht nicht sonderlich spektakulär, da es schon immer ähnliche Strömungen in der islamischen Geschichte gegeben hat. Erst mit der zunehmenden gesellschaftlichen Relevanz in den nachfolgenden Jahren änderte sich die Bewertung des Phänomens Salafismus. Da die Bewegung noch so jung ist, stehen Forscher, Behörden und Praktiker noch weitgehend am Anfang, wenn es darum geht, das Problem zu begreifen. Dieser Beitrag ist ein Nachdruck aus dem 2016 erschienenen Beitrag in: Lehren & Lernen 42 (2016), Heft 2, S. 25–30. Neckar Verlag Villingen-Schwenningen. L. Kaddor (*)  Bendorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Toprak und G. Weitzel (Hrsg.), Salafismus in Deutschland, Edition Centaurus – Jugend, Migration und Diversity, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25837-5_6

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Denn von der Wahrnehmung eines gesellschaftlichen Phänomens bis zu seiner Transferierung zu einem konkreten Forschungsgegenstand dauert es gemeinhin eine Weile. Zum jetzigen Zeitpunkt kann also niemand allgemein verbindliche Aussagen auf der Grundlage von wissenschaftlichen Daten machen. Vieles basiert auf Beobachtungen und ersten Analysen aus verschiedenen Fachrichtungen. Alle gemeinsam müssen sich folglich dem Problem noch weiter annähern; denn man kann dem Salafismus in Deutschland erst dann gezielt und effektiv etwas entgegenstellen, wenn man ihn richtig versteht. Ganz wichtig ist: Alle Mitglieder der Gesellschaft sind vom Thema Salafismus betroffen – entweder direkt oder indirekt. Der Salafismus bedroht Jugendliche sowohl deutscher als auch ausländischer Herkunft. Er wendet sich gegen Nichtmuslime und gegen Muslime. Niemand kann sich vor den Gefahren des Salafismus geschützt sehen, nur weil in seiner eigenen Familie nicht an den Islam geglaubt wird. Daher ist es wichtig zu erkennen, dass die heute verbreitete Auffassung, Salafismus habe vor allem mit dem Islam und der Suche nach einer Glaubensheimat zu tun, falsch ist, auch wenn die alleinige Erklärung des Phänomens mit dem Hinweis auf den Islam klar und einfach scheint und dies vielen erlauben würde, sich bequem zurückzulehnen. Letztlich ist eine solche Haltung gefährlich, wiegt sie Nichtmuslime doch in der falschen Gewissheit, ihre Familiengehörigen könnten nicht in diese Szene abrutschen. Wer sich als Nichtmuslim dem Salafismus verschreibt, der konvertiert eben – die Gefahr besteht also unabhängig davon, ob man sich vorher schon zum Islam bekannt hat oder nicht. Der Salafismus, von dem hier die Rede ist, ist ein Phänomen, das ganz Deutschland betrifft. Es sagt genauso viel über unsere Gesellschaft im Ganzen aus wie über unsere muslimische Community im Speziellen. Natürlich hat Salafismus mit dem Islam zu tun – kein vernünftig denkender Mensch kann und wird das abstreiten. Aber die Auslöser für das Abgleiten in die Szene beispielsweise sind nach Auffassung aller Experten vom Verfassungsschutz bis zu den Beratungsstellen vor Ort ganz weltlich deutsch. Die Radikalisierung hat primär mit unseren Familien zu tun und mit dem Alltag in unseren Dörfern und Städten. Die Religion gibt dem Ganzen lediglich eine ideologische Richtung und wird zur Rechtfertigung missbraucht. Zudem wirkt sie verstärkend auf den Zusammenhalt der Gruppierungen. Daher müssen die muslimischen Gemeinden natürlich mitarbeiten, ihre Verantwortung erkennen, und in der Tat weisen sie derzeit noch erhebliche Mängel in dieser Hinsicht auf. Nur eines muss man sich klarmachen: Allein werden die muslimischen Gemeinden die Gesellschaft von dem höchst gefährlichen Problem des Salafismus nicht befreien können.

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2 Was ist Salafismus? Zunächst ist kurz zu klären, was Salafismus überhaupt ist. Der Salafismus ist eine Strömung innerhalb des Islams. Im Islam gibt es verschiedene Glaubensrichtungen wie die der Sunniten und der Schiiten. Der Salafismus gehört zum sunnitischen Islam. Wie in jeder Religion gibt es auch im Islam liberale, konservative und auch fundamentalistische Hauptströmungen. Diese Hauptströmungen gliedern sich wiederum in verschiedene Richtungen auf, die sich zum Teil überschneiden. Der Salafismus ist ein Teil des fundamentalistischen Spektrums. Fundamentalisten geben vor, sich auf die Ursprünge der Religion zu konzentrieren. Sie nehmen für sich in Anspruch, den Koran wortwörtlich zu verstehen, und lehnen den Einfluss des menschlichen Verstandes ab. Damit ignorieren sie, dass die Zeit stetig fortschreitet und ständig neue Erkenntnisse bringt. Fundamentalisten sind streng, verweigern Kompromisse und missachten jegliche Kritik an ihren Auffassungen. Darüber hinaus pflegen sie eine streng dichotomische Weltsicht. Wer nicht buchstabengetreu der vorgegebenen Lehre folgt, steht außerhalb. Es gibt für Salafisten nur Richtig und Falsch, Schwarz und Weiß. Einige Muslime verbinden ihre Religion mit politischen Zielen. Das heißt, sie wollen eine Gesellschaft, einen Staat nach ihren Vorstellungen umgestalten. Sobald bei Muslimen dieses Ziel hinzukommt, sprechen wir von Islamisten bzw. vom Islamismus. Dieser tritt häufig zusammen mit einem fundamentalistischen Islamverständnis auf, muss es aber nicht. Ein gemäßigter Islamismus ließe sich vergleichen mit Vorstellungen, wie sie christliche Parteien vertreten, die sich in ihrer Grundausrichtung ebenso auf eine Religion beziehen. Islamismus muss also nicht zwangsläufig mit Gewaltanwendung einhergehen. In der öffentlichen Wahrnehmung stehen aber islamistisch-fundamentalistische Gruppierungen, die bereit zu Gewalt sind oder dazu aufrufen, im Vordergrund: die Taliban in Afghanistan, die Hamas im Gazastreifen, Boko Haram in Nigeria usw. Der Salafismus selbst lässt sich wiederum in mehrere Strömungen unterteilen: eine Strömung, die mit Politik nichts zu tun hat, in der es den Anhängern nur darum geht, ihre religiösen Vorstellungen privat zu leben. Hier spricht man von puristischem Salafismus, der vergleichbar mit evangelikalen Strömungen im Christentum ist. Dann gibt es politische Salafisten, die gezielt die Gesellschaft und den Staat, in dem sie leben, nach ihren Vorstellungen verändern wollen. Schließlich gibt es dschihadistische Salafisten. Sie wollen auch die Gesellschaften verändern, das aber unter ausdrücklicher Einbeziehung von Gewalt. Insbesondere bei Letzteren wird die dichotomische Weltsicht genutzt, um ein radikales FreundFeind-Schema aufzubauen: „Wer nicht für sie ist, ist gegen sie“.

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Die Bezeichnung „dschihadistisch“ kommt vom arabischen Wort dschihad. Im Deutschen wird das Wort zumeist mit „Heiliger Krieg“ übersetzt und bezeichnet einen bewaffneten Kampf bzw. einen Krieg für die Religion des Islam. Diese Übersetzung ist unglücklich, weil sich die Vorstellung von „heilig“, wie man sie im Christentum kennt, nicht so einfach auf den Islam übertragen lässt. Allerdings hat sich die Bezeichnung „Heiliger Krieg“ im deutschen Sprachgebrauch weitgehend durchgesetzt, sodass es mühsam und wenig erfolgversprechend wäre, dagegen noch anzugehen. Zudem hat „Dschihad“ rein islamtheologisch noch eine andere Dimension, die in der islamischen Religionsgeschichte eigentlich vorherrschend war: nämlich der Kampf gegen den „inneren Schweinehund“, gegen das Über-Ich, um mit Sigmund Freud zu sprechen, das einen Menschen zu falschen Taten verleiten will oder ihn von guten Taten abhält. Bezeichnenderweise wird dieser „unbewaffnete Kampf“ in der islamischen Theologie „großer Dschihad“ genannt, während der bewaffnete Kampf nur als „kleiner Dschihad“ gilt. Doch auch hier muss man die Realität zur Kenntnis nehmen: der Begriff „Dschihad“ hat sich im Deutschen mit der Bedeutungskomponente „Krieg“ durchgesetzt. Bei den politischen und dschihadistischen Strömungen des Salafismus bewegt man sich im Bereich des Islamismus, d. h. im Bereich des politischen Islam. Im Alltag verschwimmen allerdings die Grenzen zwischen Fundamentalismus und Islamismus, zwischen puristischen, politischen oder dschihadistischen Strömungen. Nur wenige Menschen lassen sich eindeutig dem einen oder anderen Spektrum zuordnen. Ist jemand, der Spenden und Handys für IS-Terroristen sammelt, aber nicht selbst zur Waffe greift, nur politischer oder dschihadistischer Salafist? Hier wird die Differenzierung schwierig. Trotzdem sind diese theoretischen Unterscheidungen wichtig, um die Mechanismen der Salafisten-Szene richtig zu verstehen und die Abwehrmaßnahmen schließlich passgenau ansetzen zu können.

3 Salafismus in Deutschland und sein Gefährdungspotenzial Für Deutschland und unseren Einsatz gegen den Salafismus bedeutet dies, dass wir zum einen Salafisten haben, die vorwiegend als Prediger wirken und nicht direkt zu Gewalt aufrufen, zum anderen haben wir hier Salafisten, die aktiv um Unterstützung für den dschihadistischen Salafismus werben. Letztere werden von Staat und Polizei verfolgt, abgeschoben oder inhaftiert. Was jemand glaubt, geht niemanden etwas an. Gegen öffentliche Prediger, die nicht zu Gewalt aufrufen, können die Sicherheitsbehörden eines demokratischen Rechtsstaats nicht vorgehen. Solche Prediger sind ein gesellschaftliches Problem und müssen von der

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gesamten Zivilgesellschaft bekämpft werden; denn gefährlich sind auch die Salafisten, die sich friedlich geben. Es sind vor allem sie, die Jugendliche anlocken, sie mit salafistischem Gedankengut und der Szene selbst in Kontakt bringen. Und wer erst in der Szene ist, kommt irgendwann gewiss auch in Kontakt mit dschihadistischen Salafisten. An der Persönlichkeitsstruktur des Einzelnen entscheidet sich dann, ob er sich den Gewaltbereiten anschließt. Nicht jeder Jugendliche, der Salafist wird, ist oder wird automatisch zum Gewalttäter, der in anderen Ländern Menschen enthauptet. Aber der Weg, der zu solchen Taten führen kann, wird für ihn mit geebnet, sodass sich jeder Salafist auch für diesen Weg entscheiden könnte. Das heißt zugleich, dass man den Salafismus in Deutschland nicht mit der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ gleichsetzen kann. Diese nutzt zwar den Salafismus, um ihren Terror zu legitimieren, aber nicht jeder Salafist unterstützt sie oder schließt sich dieser Gruppe gleich an, die im Irak und in Syrien mit bestialischer und schockierender Gewalt eine Region besetzt und den Menschen dort ihre Schreckensherrschaft aufgezwungen hat. Früher schlossen sich kampfbereite deutsche Salafisten noch unterschiedlichen islamistischen Terrorgruppen in Syrien an, seit dem Aufstieg der IS-Dschihadisten im Sommer 2014 üben diese nun die größte Anziehungskraft auf gewaltbereite Salafisten in Deutschland aus. Das liegt vor allem daran, dass sie die Erfolgreichsten im Terrorgeschäft sind, weil sie mit ihren Taten die größte Furcht verbreiten. Sie haben das zuvor dominierende Terrornetzwerk al-Qaida in den Schatten gestellt. Bis Anfang 2015 waren nach Angaben der deutschen Behörden mehr als 600 Menschen aus Deutschland ausgereist, um im Irak und in Syrien zu kämpfen. Davon kehrten einige wieder zurück und leben nun wieder in Deutschland. Die Salafisten-Szene vergrößerte sich nach Darstellung des Verfassungsschutzes auf mehr als 7000 Mitglieder. Die Zahlen beziehen sich allerdings nur auf den harten Kern, Sympathisanten im Umfeld sind dabei nicht eingeschlossen. Es ist jedoch weniger die reine Zahl der Mitglieder, die die Szene so gefährlich macht. Das Bedrohungspotenzial im rechtsextremistischen Bereich ist beispielsweise noch wesentlich größer. Auch die Linksextremisten können wesentlich mehr Menschen mobilisieren. Darüber hinaus machen die Salafisten unter 4,5 Mio. Muslimen in Deutschland nur einen verschwindend geringen Anteil aus, erst recht in Relation zu mehr 80 Mio. Deutschen in diesem Land. Was beim Salafismus größere Sorgen bereitet als das quantitative Ausmaß der Szene, ist seine Dynamik. Die Zahl der Mitglieder wächst stetig und durchaus rasant. Immer mehr Jugendliche schließen sich an. Die Zahlen haben sich in wenigen Jahren vervielfacht. Bei diesen Zahlen muss man berücksichtigen, dass sie allein auf Angaben des Verfassungsschutzes und der deutschen Sicherheitsbehörden basieren. Bei ihnen

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hängen finanzielle Ressourcen und die Ausstattung natürlich auch davon ab, als wie brisant eine Szene eingestuft wird. Angesichts des Forschungsstandes gibt es bislang so gut wie keine unabhängigen Erhebungen, alle Experten gehen jedoch davon aus, dass die aufgezeigten Tendenzen grundsätzlich korrekt sind.

4 Was bewegt junge Menschen dazu, sich dem Salafismus anzuschließen? Der Salafismus stellt also ein ernstes Problem dar und die zentrale Frage ist: Was bewegt junge Menschen dazu, sich den Salafisten anzuschließen? Die Gründe sind zahlreich. Es gibt keine allgemeinen Erklärungen, kein Grundmuster der Radikalisierung. Weder sind nur benachteiligte Menschen betroffen, noch sind es besonders gläubige Menschen. Letztlich muss man sich jeden Fall einzeln anschauen: Um die genauen Ursachen für die Radikalisierung eines Menschen zu eruieren, ist eine individuelle Anamnese nötig. Es gibt allerdings zwei Aspekte, die bei vielen Personen auftreten, die in den Salafismus abgerutscht sind.

5 Frust und Wut. Sehnsucht nach Aufmerksamkeit und Wertschätzung Diese zwei Aspekte sind zum einen Frust und Wut über eine als ungerecht empfundene Behandlung durch die Gesellschaft oder die eigene Familie und zum anderen die Sehnsucht nach Aufmerksamkeit und Wertschätzung. Interviews mit Mitgliedern und ehemaligen Mitgliedern der Szene weisen häufig in diese beiden Richtungen. Die zumeist jungen Mitläufer sind gefrustet von ihrem Leben, von mangelnden Zukunftschancen, von Ablehnung und Diskriminierung durch die Mehrheitsgesellschaft. Das Gefühl der Ausgrenzung kann durch wiederholt negative Erlebnisse in der Schule, mit der Polizei, mit Ämtern, mit einer Supermarktkassiererin oder Ärztin genährt werden. Dabei müssen dies nicht unbedingt eigene Erlebnisse sein. Auch die Erfahrungen anderer lassen in manch einem das Bild eines Bürgers zweiter Klasse entstehen. Es kann sich um Schilderungen aus dem privaten Umfeld handeln oder auch um einen der vielen negativen Kontexte, in die Muslime und ihre Religion seit einigen Jahren in öffentlichen Diskussionen gestellt werden. Es gibt zahlreiche Personen, die seit dem 11. September 2001 viel Geld in Deutschland verdienen, indem sie als „Islamkritiker“ auftreten. Doch statt konstruktiver Kritik verbreiteten sie vor allem Stereotype, Vorurteile und Beleidigungen,

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erklären gesellschaftliche Phänomene wie Gewalt monokausal mit Religion – eine Einseitigkeit, die in soziologischen Kontexten grundsätzlich unmöglich ist. Die frühesten Vertreter dieser vermeintlichen „Islamkritik“ sind unter anderen Personen wie der Journalist Henryk M. Broder, der inzwischen verstorbene Schriftsteller Ralph Giordano oder die Soziologin Necla Kelek. Jahrelang vertraten sie pauschale Abwertungen gegenüber der Religion des Islams und mithin gegenüber Muslimen. Doch ungeachtet dessen wurde insbesondere Necla Kelek mit renommierten Preisen bedacht, ließen sich Minister von ihr beraten und Wissenschaftler von ihr inspirieren. Journalisten schätzten Keleks Ausführungen, der SPD-­Politiker Thilo Sarrazin suchte bei der Präsentation seines Skandalbuchs „Deutschland schafft sich ab“ ihre Nähe. Das zeigt, wie weit so genannte Islamkritiker in die Mitte der deutschen Gesellschaft vordringen konnten und immer noch können. Seit Jahren tragen sie mehr oder weniger insgeheim dazu bei, den Boden für islamfeindliche Phänomene zu bereiten. Dazu zählen auch die Kundgebungen der Pegida-­ Organisation. Nun signalisiert jede Sarrazin-Debatte, jeder Pegida-Aufmarsch Muslimen: Eigentlich gehört ihr nicht zu Deutschland. Wie soll man als Muslim in Deutschland damit umgehen? Die meisten Muslime versuchen, solche Entwicklungen bestmöglich zu ignorieren. Sie schalten ab, sie schauen weg. Doch nicht alle können das. Bei manchen hält sich die brisante Gefühlsmischung aus Ohnmacht und Wut hartnäckig. Und einige von diesen wiederum verspüren den Wunsch, Rache zu nehmen, es dieser ungerechten Gesellschaft heimzuzahlen. An dieser Stelle kommen die salafistischen Vordenker ins Spiel; denn diese bieten eine Ideologie an, mit der sich diese Mangelgefühle scheinbar kompensieren lassen und die am Ende scheinbar die Möglichkeit bieten, der Wut eine Richtung zu geben und den Wunsch nach Rache umzusetzen. Das gilt zuvorderst für junge Männer, aber auch junge Frauen können solche Gefühle verspüren. Etwa 10 bis 15 % der Salafistenszene in Deutschland sind Frauen.

6 Gemeinschaftsgefühl Ferner setzen Salafisten auf ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl. Sie begrüßen Neulinge mit offenen Armen. Gerne sind sie bereit, als „Paten“ mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Da etwa 85 bis 90 % der Mitglieder der Salafistenszene einen Migrationshintergrund haben, spiegelt sich in dieser offenen Haltung gegenüber Neuen auch die von vielen noch in Ehren gehaltene Tradition der Gastfreundschaft wider. Diese „Patenschaften“ unter den Salafisten führen dazu, dass die Neulinge kaum Chancen haben, sich noch frei über den Islam zu informieren. Aus Sicht der Salafisten sollen sie das auch nicht. Sie sollen gehorchen und sich

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an die Vorgaben halten. Gerade die Konvertiten fühlen sich meist unwissend und fremd und nehmen jedes Hilfsangebot dankend, aber unkritisch an. Der Anschluss an diese Szene mag viele private und persönliche Einschränkungen erfordern – kein Alkohol, keine Drogen, keine Party, keine Musik, dafür beten, fasten, religiöse Texte lesen –, doch diese Einschränkungen werden durch den Zusammenhalt und die eingeredete Stärke der salafistischen Gruppe kompensiert. Die Einschränkungen sind quasi der Preis, den man für das Gefühl, angenommen zu sein und dazuzugehören, bezahlen muss. Dann entsteht mitunter sogar ein Wettstreit, wer der Frömmste ist, wer die Regeln am genauesten einhält und wer den größten Einsatz für seine neue Gemeinschaft zeigt. Gerade Letzteres kann dann dazu führen, dass junge Salafisten die Entscheidung treffen, in den selbst ernannten Dschihad nach Syrien oder in den Irak auszureisen. Die meisten Anhänger des Salafismus hatten zuvor in ihrem Leben wenig oder gar nichts mit Religion zu tun, und plötzlich bekommt der Islam die höchste Priorität in ihrem Leben. Daran ändern auch die massive Kritik und die Anfeindungen, die Salafisten von außen erfahren, nichts. Im Gegenteil. Es bestärkt sie. Die Jugendlichen werden zu einer Gemeinschaft, zu einer kleinen Umma, die sich an der ursprünglichen Bedeutung von Umma orientiert. Der Begriff umfasst eigentlich die weltweite Gemeinschaft aller Muslime. Mit dem Gedanken einer Mini-Umma wird suggeriert, sie befänden sich in einer ähnlichen Situation wie die Urgemeinde um den Propheten Mohammed. Mohammed wurde zu Zeiten Mekkas, in der Entstehungsgeschichte des Islam, mit seiner neuen kleinen Gefolgschaft verfolgt, kritisiert, diffamiert. Damit vergleichen sich heutige Salafisten, wenn sie von Staat und Öffentlichkeit angegangen werden. Sie verkehren und verwenden die berechtigte Kritik der Öffentlichkeit und das Vorgehen des Staates also für ihre Zwecke und appellieren verstärkt an die Mitglieder, zusammenzuhalten, sich als verfolgte Minderheit zu sehen und gegen die unterdrückende Mehrheit aufzubegehren – so wie Mohammed und seine ersten Gefährten es einst auch getan haben.

7 Sektenähnliche Strukturen. Unterwerfung unter eine Hierarchie Viele Konvertiten geraten so fast unausweichlich in ein Dilemma. Sie entfernen sich immer weiter von ihren Familien und alten Freunden, um zur neuen Gruppe dazuzugehören. Wenn sie dann aber an einen Punkt gelangen, an dem sie merken, dass sie nicht mehr sie selbst sind, und vor allem, dass sie nicht glücklich sind, gibt es bei den Salafisten oftmals keinen Weg mehr zurück. In der Salafisten-Szene

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entfalten sich sektenähnliche Strukturen – man ist gefangen. Das gilt umso mehr, wenn man sich bereits in Kriegsgebiete wie Syrien begeben hat, wo die Rechtsordnung ausgesetzt ist bzw. von Terroristen wie denen des sogenannten Islamischen Staats bestimmt wird. Dort weiß jeder: Wer sich Aufgaben verweigert oder sich gar von der Gruppe absetzen will, dem droht, dass er erschossen wird – oder Schlimmeres. Unter Salafisten in Kriegsgebieten geschieht vieles durch Gruppendruck oder indirekten bzw. direkten Zwang. Nicht alle Handlungsentscheidungen werden nach freiem Willen getroffen. Der Islam ist für diese Gruppen der Kitt. Das primäre Ziel ist aber nicht, Glaubenswahrheiten zu erlangen, sondern den Salafisten geht es letztlich um hierarchische Strukturen, um politische Relevanz und Machtanspruch. Das zeigen die IS-Terroristen, die ein Kalifat ausgerufen und ein staatsähnliches Gebilde geschaffen haben. Das zeigen ebenso die salafistischen Gruppierungen in Deutschland, die sich meist um bestimmte Autoritäten sammeln und diesen dadurch Ansehen, Stärke und Macht verleihen.

8 Was kann getan werden? Auch wenn der Islam eine untergeordnete Rolle in der Auseinandersetzung mit dem Salafismus spielt, haben Eltern, Imame und Religionspädagogen doch eine zentrale Funktion; denn es gibt in muslimischen Kreisen in Deutschland durchaus Strukturen, die die Hinwendung zum Fundamentalismus begünstigen können.

9 Das Bild des strafenden Gottes Da wäre unter anderem das vorherrschende Gottesbild zu nennen. Religion wird mit Pflichten und Verboten verknüpft, die durch Angst in der Erziehung vermittelt werden sollen – also mit Mechanismen der sogenannten „Schwarzen Pädagogik“. Studien zufolge sind diese nach wie vor weit verbreitet. Mit dem Begriff „Schwarze Pädagogik“ werden Erziehungsmethoden beschrieben, die darauf angelegt sind, Kinder einzuschüchtern, ihnen körperliche wie seelische Schmerzen zuzufügen und Liebe zu entziehen. Bei solchen Erziehungsmethoden wird dann Gott herbeizitiert als Zeuge und Richter: „Gott sieht alles. Gott wird dich schwer bestrafen, du kommst in die Hölle, Gott kennt keine Gnade mit dir!“. Wie man zum Beispiel im islamischen Religionsunterricht leicht beobachten kann, ist das Verhältnis vieler Schüler zu Gott nicht selten von Angst geprägt. In meiner Tätigkeit als Lehrerin in Nordrhein-Westfalen erlebe ich immer wieder,

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dass Gott mit Unterwerfung, unbedingtem Gehorsam und Kontrolle verknüpft wird. In der Kindheit stellen sich viele junge Muslime Gott als alten, weisen Menschen vor, der streng und allmächtig ist. Später, in der Pubertät, wird Gott in der Regel zwar nicht mehr als menschenähnlich angesehen, dennoch dominieren weiterhin Vorstellungen, die für eine gesunde religiöse und moralische Entwicklung nicht förderlich sein können. Im Rahmen meiner Forschungsarbeiten über das Gottesverständnis muslimischer Hauptschüler kamen teilweise erschreckende, aber zu erwartende Ergebnisse zutage. Die meisten der befragten Schüler waren der Ansicht, dass Gott ausschließlich strafend und nicht gerecht ist. In persönlichen Gesprächen zeichnete sich ein höchst widersprüchliches Verständnis von Gott ab: Er ist unser Schöpfer, aber auch unser Richter, er beobachtet und prüft uns, dennoch kennt auch er Ungerechtigkeit. Der Aspekt der Barmherzigkeit, der in der islamischen Theologie als wichtigstes Attribut Gottes genannt wird, ist unzureichend bekannt. Die jungen Muslime sehen sich häufig in einer Art Bringschuld Gott gegenüber, der sie hoffnungslos ausgeliefert sind. Er bestimmt unsere Geschicke, und wir Menschen haben eigentlich nur zu parieren, zu reagieren.

10 Der Koran – ein heiliger Text? Ein Beispiel aus dem Schulalltag Um die Erschaffung des Menschen nach den Aussagen des Korans zu thematisieren, hatte ich für meinen Islamunterricht in einer 8. Klasse verschiedene Koranverse mit der deutschen Übersetzung auf eine Folie kopiert. Ich legte sie auf den Overhead-Projektor und fragte, ob jemand Arabisch lesen könne. Etwa sechs Jugendliche meldeten sich. Ich bat einen, den arabischen Text vorzutragen. Der Junge weigerte sich jedoch und rief entsetzt: „Das ist doch der Koran, den lese ich nicht ohne abdest!“ „Abdest“ ist der türkische Begriff für die rituelle Waschung. Mit dieser Weigerung entfachte er eine lange Diskussion. Unter anderem warf er mir vor, keine gute Muslimin zu sein, wenn ich den Korantext von jemandem lesen ließe, der sich keiner rituellen Waschung unterzogen habe. Ich versuchte ihm zu erklären, dass kein Problem darin liege, den arabischen Text von einer Wand abzulesen, schließlich müsse er dabei nicht mal etwas anfassen. Der Junge ließ sich nicht überzeugen. Daraufhin bat ich ihn, die deutschsprachige Interpretation vorzulesen, und er weigerte sich abermals: „Der deutsche Text ist auch der Koran, den lese ich auch nicht!“ Einige Tage später fing mich der Vater des Jungen in der Pause ab, um mich zur Rede zu stellen. Er fragte, warum ich seinen Sohn gezwungen hätte, den Koran ohne abdest vorzutragen. Ich versuchte dem

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Vater zu verdeutlichen, dass es dasselbe sei, als wenn er an einer Moschee vorbeilaufe und dabei den arabischen Korantext an den Wänden ohne abdest mitlesen würde. Ich erläuterte ihm, dass es im Schulunterricht nicht um die Rezitation des Korans gehe, wie es in der Moschee geübt werde. Während man die Rezitation als gottesdienstliche Handlung verstehen könne, diene der Schulunterricht der Informationsvermittlung, für die nach herrschender Lehre im Islam weniger strenge Vorgaben im Umgang mit dem Koran gälten. Meine Ausführungen leuchteten dem Mann nicht ein. Soweit das Beispiel.

11 Religiöse und weltliche Autorität: Die Aufgaben der Islamischen Theologie und Religionspädagogik Aufgabe der Islamischen Theologie und Religionspädagogik muss es sein, ein grundlegend anderes Konzept, einen positiven Zugang zu Gott zu vermitteln. Denn das ambivalente, ja mitunter gestörte Gottesverhältnis in manchen Familien setzt sich konkret im Alltag der Menschen fort. Häufig geht mit der angstbesetzten Bindung zu Gott ein strukturell ähnliches Verhältnis zum eigenen Vater einher. Auch der Vater ist eine besondere Autoritätsperson, der man zu gehorchen hat. Es hat sich gezeigt, dass signifikant viele der auffällig gewordenen jungen Salafisten Probleme mit dem Vater haben. Der Gedanke lässt sich noch weiterführen. Insbesondere traditionelle Imame beanspruchen für sich ebenfalls besondere Autorität. Widersprüche von deutlich jüngeren Gemeindemitgliedern gelten als ungehörig. Schüler berichten immer wieder davon, dass sie dem Imam mit höchstem Respekt begegnen und sich viele nicht trauen, Fragen – vor allem kritische – zu stellen. Solche Strukturen bereiten den salafistischen Vordenkern gewissermaßen den Weg bzw. es wird leichter für sie, mit ihren Vorstellungen von Respekt und Gehorsam auf Menschenfang zu gehen. Für viele Jugendliche mit muslimischem Familienhintergrund ist es zudem nicht ungewöhnlich, dass jemand vor sie tritt und über religiöses Wissen spricht – Religion ist unter Muslimen ein übliches Gesprächsthema.

12 Wie weiter? Die Gefahren des politischen und dschihadistischen Salafismus sind vielfältig. Sie entfalten sich nicht nur als direkte Bedrohung etablierter Staats- und Gesellschaftsformen oder gegnerischer Gruppierungen. In den Entwicklungen des Salafismus

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liegt weiterer sozialer Sprengstoff. Weil der Salafismus Teil des religiösen Spektrums des Islam ist, nutzen Teile der Gesellschaft diese Verbindung aus, um die Islamfeindlichkeit in Deutschland zu schüren. Islamfeinde und auch sogenannte „Islamkritiker“ instrumentalisieren die Gefahren, die von Salafisten und IS-Terroristen ausgehen, indem sie diese im Hinblick auf den Islam insgesamt pauschalisieren. Sie wollen die Religion per se als gefährlich und verdorben darstellen. Salafisten reklamieren wie andere Fundamentalisten für sich, den Kern des Islam darzustellen. Das nehmen Islamfeinde gerne auf. Diese Sichtweise klammert jedoch mehr als 1000 Jahre Religionsgeschichte und intensiven theologischen Austausch weitgehend aus. Darüber hinaus ist die Quellenlage ausgerechnet zur Frühzeit des Islams, die die Salafisten vorgeben nachzuahmen, äußerste dürftig und kaum gesichert. Und ferner verleugnen Salafisten den epistemologischen Fortschritt, der sich über die Jahrhunderte zwangsläufig einstellt. Um das alles zu erkennen, ist ein tieferer Einblick in die islamische Geschichte nötig. Über den verfügt kaum jemand, sodass die Botschaften der Islamfeinde leicht verfangen können. Umgekehrt nutzen die Salafisten dann die wachsende Islamfeindlichkeit, um potenzielle Rekruten davon zu überzeugen, dass die deutsche Gesellschaft tatsächlich gegen den Islam eingestellt sei und man sich dagegen wehren müsse. Bei der Auseinandersetzung mit dem Salafismus besteht somit die Gefahr, dass man den Islamfeinden unfreiwillig in die Hände spielt, indem man ihrer Propaganda vom „wahren Islam“ auf den Leim geht und seinerseits mit pauschalen oder vorschnellen und unbegründeten Argumenten hinsichtlich der Religion operiert. Hier ist also Vorsicht geboten. Diese darf allerdings nicht dazu führen, dass man sich in der Auseinandersetzung mit dem Salafismus selbst Fesseln anlegt. Das Problem der Islamfeindlichkeit muss zwar mitgedacht werden, es kann aber niemals ein Argument dafür sein, auch schärfste Zurückweisungen salafistischer Tendenzen zu bremsen. Im Gegenteil: Islamfeindlichkeit und Salafismus sind von der Struktur her zwei Seiten ein und derselben Medaille. Sie fördern und bedingen sich gegenseitig. Beides muss daher gleichzeitig angegangen werden, sonst droht in unserer Gesellschaft eine gefährliche Polarisierung.

Kaddor, Lamya,  ist eine deutsch-muslimische Religionspädagogin, Islamwissenschaftlerin und Autorin mit syrischen Wurzeln. Sie ist Mitglied im Vorstand des Liberal-Islamischen Bundes und publiziert in verschiedenen Medien. 2010 wurde sie zu einer der einflussreichsten muslimischen Frauen Europas gewählt. Ihre Bücher wurden schon mehrfach ausgezeichnet. So auch ihr neustes Buch „Zum Töten bereit – Warum deutsche Jugendliche in den Dschihad ziehen“, dass den Buchpreis „Das politische Buch“ 2016 erhielt.

Jugendliche als Zielgruppe salafistischer Internetaktivität Alev Inan

1 Einleitung Das Jugendalter gilt als die Lebensphase, in der Medien am intensivsten genutzt werden. Laut der aktuellen JIM-Studie 2015 rangiert bei der täglichen Mediennutzung das Handy bzw. das internetfähige Smartphone mit 89 % auf Platz eins, dicht gefolgt von der Internetnutzung im Allgemeinen mit 80 %. Gefragt nach der subjektiven Wichtigkeit wählten die Zwölf- bis 19-Jährigen das Internet mit 90 % an erster Stelle (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2015, S. 11, 14). Als digital natives beherrschen und verwenden Jugendliche mühelos die gängigen Internetanwendungen. Beachtenswert im Hinblick auf die Thematik dieses Artikels ist, dass das Videoportal YouTube von 94 % der Jugendlichen genutzt wird (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2015, S. 35). Aus der Perspektive von Salafisten ist es allein schon aufgrund dieser Sachlage sinnvoll, gezielt Botschaften im Internet zu platzieren, z. B. auf YouTube, Facebook oder Twitter. Hinzu kommen weitere Vorteile des Netzes: Es bietet eine extrem hohe Reichweite bei relativ geringem finanziellen und technischen Aufwand. Außerdem können die Salafisten, da es keine redaktionellen Einschränkungen wie bei herkömmlichen Medien gibt, hier ihr Weltbild ungefiltert präsentieren. Und das tun sie auch. In den letzten Jahren – vor allem seit der Verbreitung von SocialMedia-Anwendungen – ist die salafistische Onlinepräsenz extrem angestiegen (vgl. Strunk 2014, S. 73). Social Media im Speziellen stellen noch mehr Vorzüge

A. Inan (*)  Universität Passau, Passau, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Toprak und G. Weitzel (Hrsg.), Salafismus in Deutschland, Edition Centaurus – Jugend, Migration und Diversity, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25837-5_7

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bereit. Mit internetfähigen Smartphones müssen jugendliche Nutzer Neuigkeiten aus der Szene nicht erst lange recherchieren, sondern erhalten z. B. neueste Tweets direkt auf ihrem Display. Auch die digitalen Kommunikationsräume weisen vorteilhafte Funktionen auf: Bei Facebook (Chat, Messenger) beispielsweise können Jugendliche direkt angesprochen werden. Anwerber können sie so schrittweise von der für sie einzig „wahren Religion“ überzeugen (vgl. Difraoui 2012, S. 67). Obwohl die Internetpräsenz und -aktivität der Salafisten stetig zunimmt, findet sich dazu im deutschsprachigen Raum nur eine überschaubare Anzahl wissenschaftlicher Publikationen. Ein Grund hierfür ist sicherlich der ständige Wandel des Untersuchungsgegenstandes. Internetseiten und deren Inhalte verschwinden und/ oder werden unter anderen Webadressen mit gleichem Inhalt oder leicht abgeändert wieder veröffentlicht. Dies und auch die Tatsache, dass die Masse an salafistischen Internetinhalten generell so groß ist, erschwert die Analyse. Gleichwohl gibt es einschlägige wissenschaftliche Analysen, die sich einem einzelnen Phänomen z. B. Naschid-Gesängen (Farschid 2014) oder ganzen Themenkomplexen wie beispielsweise Dschihad im Internet (Steinberg 2012a) widmen. In diesem Beitrag werden ausgewählte Erscheinungsformen salafistischer Internetaktivität und deren immer wiederkehrenden Inhalte dargestellt. Das Hauptanliegen dieses Artikels ist es, herauszuarbeiten, wie sich das Zusammenspiel von Medienauswahl und salafistischer Ideologie gestaltet. Eine Engführung der Thematik ergibt sich durch die Fokussierung auf Jugendliche als Zielgruppe. Die zentralen Fragen lauten: Wie nutzen Salafisten das Medium Internet, um ihre Inhalte besonders für Jugendliche attraktiv zu machen? Und warum sind gerade Jugendliche für die salafistische Weltanschauung und Lebensform offen?

2 Erscheinungsformen salafistischer Internetaktivität Bei der salafistischen Internetaktivität gibt es eine Vielzahl von Erscheinungsformen, die man näher betrachten könnte. An dieser Stelle werden lediglich drei davon behandelt: Die „Missionierung (da’wa)“ wird angesprochen, da diese wohl zu den häufigsten Online-Aktivitäten von Salafisten gehört. Das Hauptargument, die „Propaganda für den ‚Heiligen Krieg‘“ aufzugreifen, ist, dass sie zu den spektakulärsten Online-Aktivitäten von Salafisten zählt. Und die „Naschid-Gesänge“ werden hier behandelt, weil der Stellenwert der Musik gerade in der Jugend sehr hoch ist und weil über diese Schiene emotional aufgeladene Botschaften besonders gut transportiert werden können.

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2.1 Missionierung (da’wa) Vorab sei auf die Paradoxie des Interneteinsatzes seitens der Salafisten hingewiesen. Obwohl sie jegliche moderne Lebensführung ablehnen, zögern sie nicht, elektronische Medien für die Verbreitung ihrer Weltanschauung einzusetzen. Gerade die islamische Missionierung (da’wa) wird intensiv im Internet betrieben. Dazu werden multimediale Inhalte (Schriftstücke, Audiodateien, Videos) in gängigen Internetapplikationen (Chats, Foren, Videoportale) platziert, um sie so innerhalb kürzester Zeit effektiv in Umlauf zu bringen (vgl. Strunk 2014, S. 73). Ziel dieser Tätigkeit ist es, Nichtmuslime und auch Muslime, die ihren Glauben nach Auffassung der Salafisten falsch ausüben, vom „wahren Glauben“ zu überzeugen. Gerade Salafisten, die der politischen (aktivistischen) Richtung zuzuordnen sind, betreiben zahlreiche dieser da’wa-Websites. Im deutschsprachigen Raum zählen vor allem die salafistischen Prediger Ibrahim Abou-Nagie und Pierre Vogel durch ihre intensive da’wa-Tätigkeit – sowohl online als auch offline in Form von verschiedenen Aktivitäten (Vorträge, Schulungen, Kampagnen etc.) – zu den prominentesten Persönlichkeiten der Szene. Abou-Nagie ist in der breiten Öffentlichkeit seit der „Lies!“-Kampagne im Jahre 2011 bekannt. Dabei wurden von jungen salafistischen Anhängern kostenlose Koranexemplare in Fußgängerzonen verteilt, allein bis April 2014 waren es in Deutschland 1,1 Mio. Exemplare (vgl. Wiedl und Becker 2014, S. 203). Auf der zur Koranverteilungskampagne gehörenden Internetseite hausdesqurans.de ist zu lesen, dass die Kampagne auch in weiteren Ländern wie Spanien, Frankreich, Ukraine, Bosnien, Österreich, Schweiz und Albanien stattfinden soll. Interessant auf dieser Website ist, dass die Rubrik „Bestellungen“ unterteilt ist in „Nichtmuslime“ und „Muslime“: Nichtmuslime erhalten den Koran kostenlos, Muslime können den Koran in der jeweiligen Landessprache (Bosnisch, Englisch, Französisch, Russisch, Spanisch, Albanisch, Polnisch, Mazedonisch, Italienisch) zum Preis von 9 € bestellen. Es fällt schwer, den Angaben des Initiators zu glauben, dass dies ausschließlich durch Spenden von Muslimen finanziert wird und nicht auch von Geldgebern im Ausland. Die Website diewahrereligion.de, die seit 2005 mit Unterbrechungen im Netz ist, gehört zu Abou-Nagies zentralen Onlineaktivitäten. Der Hauptbestandteil sind Videos von Vorträgen, gehalten von Predigern des Netzwerkes „Die wahre Religion“ (DWR), und Aufnahmen aktueller Aktionen und Kampagnen, die häufig Diskussionen an Infoständen zeigen. Meist sind an den Infoständen junge Muslime zusammen mit Abou-Nagie als Mentor zu sehen, wobei dieser in der Regel mit den Interessenten spricht. Neben seinen Aktivitäten als Prediger ist auch die Privatperson Ibrahim Abou-Nagie negativ in

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die Schlagzeilen geraten. Anfang 2016 wurde er verurteilt, weil er unberechtigterweise Sozialleistungen vom deutschen Staat bezogen hat.1 Zu den bekanntesten salafistischen Predigern in Deutschland gehört außerdem Pierre Vogel (Abu Hamsa), der sich der da’wa-Aktivität verschrieben hat. Der gebürtige Deutsche, der mit 22 Jahren zum Islam konvertierte, sticht allein schon durch sein Äußeres hervor: mit langem roten Bart, Gebetskäppi und Pluderhose inszeniert er sich auf Großveranstaltungen öffentlichkeitswirksam. Seine Aktivitäten im Netz sind enorm, gerade weil er verschiedene Plattformen nutzt, wodurch sich sein Verbreitungsradius vergrößerte. Zu seinen Websites gehörten bis 2014: pierrevogel.de, abuhamsa.net, dawa-news.net und diewahrheitimherzen.net (vgl. ­Holtmann 2014, S. 266). Momentan kommen noch die Social-Media-Anwendungen Facebook, Twitter, YouTube und Google+ hinzu. Vergleicht man die Professionalität in der Gestaltung der Internetseiten diewahrereligion.de und pierrevogel.de, dann übertrifft die Seite pierrevogel.de die von Abou-Nagie bei weitem. Während die Seite diewahrereligion.de vom Design her veraltet wirkt, ist der Onlineauftritt pierrevogel.de modern und anwenderfreundlich. Typische Elemente, die unter Jugendlichen als hip und angesagt gelten, sind dort exponiert eingebettet. So sind gleich am Anfang der Seite In-Ear-Kopfhörer abgebildet mit dem Verweis, dass man Pierre Vogels Vorträge nun auch als mp3 auf soundcloud.com hören könne.2 Seit Ende Januar 2016 sind jedoch einige der offiziellen Websites nicht mehr aktiv – pierrevogel.de beispielsweise verlinkt direkt auf den offiziellen Facebook-Auftritt. Es wird sich zeigen, was das zu bedeuten hat und in welche Richtung sich die Pause oder der Verzicht auf die Website pierrevogel.de entwickeln wird. Die Allianzen zwischen dem Netzwerk „Die wahre Religion“ und Pierre Vogel, der zunächst ein Schützling von Abou-Nagie war, sind wechselhaft. So hatte sich Pierre Vogel vom DWR gelöst, um das Netzwerk „Einladung zum Paradies“ (EZP) voranzutreiben. Vorstand der EZP war der deutsche Konvertit und Prediger Sven Lau (Abu Adam), der 2014 durch seine Aktion „Scharia Polizei“ in Wuppertal für Aufmerksamkeit sorgte und Ende 2015 sogar festgenommen wurde, da der dringende Tatverdacht bestand, dass er terroristische Vereinigungen im Ausland unterstützt haben soll.3 Von Vogel heißt es zwar, dass er sich von

1Vgl. http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2016/01/21/prozess-reicher-islamist-erschlich-sich-sozial-leistungen/, 07.02.2016. 2https://www.pierrevogel.de, Zugegriffen: 21. Januar 2016 und https://soundcloud.com/pierrevogel, Zugegriffen: 22. Januar 2016. 3 Vgl. http://www.focus.de/politik/deutschland/terrorverdacht-gegen-sven-lau-bundesanwaltschaft-verhaftet-salafisten-prediger_id_5154717.html. Zugegriffen: 7. Februar 2016.

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Gewalt distanziere, allerdings sind sowohl seine Worte als auch seine Taten ambivalent. So wollte er zum Beispiel im Jahre 2011 ein islamisches Totengebet für Osama bin Laden abhalten. Im gleichen Jahr wurde seine Vereinigung „Einladung zum Paradies“ (EZP) aufgelöst und er kehrte zurück zum Netzwerk „Die wahre Religion“ (DWR) (vgl. Holtmann 2014, S. 266).

2.2 Propaganda für den „Heiligen Krieg“ Mittlerweile gehört es schon zu unseren Rezeptionsgewohnheiten, dass Nachrichtensender und Zeitungen Bezug auf Propaganda-Videos nehmen, in denen Dschihadisten Botschaften an die westliche Welt richten. Hier zeigt sich die Zerschlagung des Machtmonopols traditioneller Medien am deutlichsten. Das Internet, das keinem redaktionellen Kontrollmechanismus unterliegt, erlaubt es Individuen oder Gruppierungen, eigene Inhalte ins Netz zu stellen. Je nach Bedeutung und Gewicht für den/die Empfänger werden einzelne Botschaften aus der überbordenden Informationsfülle des Netzes ausgewählt. Im Fall von Hinrichtungsvideos oder Drohbotschaften gegenüber bestimmten Staaten sind die Chancen für die Dschihadisten hoch, dass sie wahrgenommen werden. Dschihadistische Propagandavideos zeichnen sich durch die Legitimierung von Gewaltanwendung aus. Dies geschieht meist, indem Krisengebiete wie Irak, Afghanistan oder Syrien angeführt werden, in denen Muslime Opfer einer westlichen imperialistischen Politik sind, sodass eine notgedrungene Verteidigungssituation die Gewaltanwendung gegenüber den Aggressoren berechtigt erscheinen lässt. Ein weiteres Element ist die religiöse Untermauerung, indem Koransuren den „Heiligen Krieg“ legitimieren. Dazu gehört, dass auch das Märtyrertum medial aufbereitet wird. So findet man z. B. Videos von Männern, die im Kampf mit einem Lächeln sterben, da sie durch ihren Einsatz für den „Heiligen Krieg“ ins Paradies eingehen werden. Hinterbliebene müssten nicht trauern, sondern sollen stolz auf sie sein. Dazu kann eine Hommage der überlebenden Mitkämpfer kommen, die den Märtyrer als tapferen Krieger zu Lebzeiten preisen.4 Eine kompakte Form, um für den „Heiligen Krieg“ zu werben, sind Dschihad-­ Magazine im Internet. Beispiele hierfür sind die Online-Magazine Inspire von

4Vgl.

https://www.youtube.com/watch?v=YoUH40UcTs4. Zugegriffen: 7. Februar 2016.

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al-Qaida und Dabiq vom Islamischen Staat (IS). Beachtenswert ist das zielgruppenspezifische Design, das versucht, modern und peppig „rüberzukommen“: Die Aufmachung ist auf die spezielle Zielgruppe der im Westen lebenden Sympathisanten abgestimmt, die aufgrund ihrer urbanen Lebensumstände mit Hochglanz-Zeitschriften vertraut sind. Ins Auge fallen vor allem die ‚Jihad-Ads‘, die ähnlich wie klassische Werbeanzeigen in Magazinen gestaltet sind und auf einprägsame Weise ideologische Grundlagen vermitteln. Der Terrorismusforscher Bruce Hoffman bezeichnete Inspire vor diesem Hintergrund als ‚die Vanity Fair der Jihadi-Publikationen‘ (Peil 2012, S. 32).

Doch verschwindet das Gefühl der Leichtigkeit und des Glamours, wenn man bedenkt, welch verheerende Konsequenzen die Verbreitung solcher OnlineMagazine nach sich zieht. Das Magazin publizierte nämlich unter der Rubrik „Open Source Jihad“ konkrete Techniken und Handlungsanweisungen wie z. B. den Artikel „How to make a bomb in the kitchen of your mom“ für potenzielle Märtyrer im Westen. Und dass diese Art der Adressierung tatsächlich auch Wirkung hat, lässt sich daran erkennen, dass man im Zusammenhang mit vereitelten Terroranschlägen bei den Verhafteten ebendiesen Artikel fand. Während man vor 2010 hauptsächlich auf von der Führung organisierte Anschläge setzte, sollen mittlerweile auch Individuen eigenmächtig Attentate ausführen. Dieser „individuelle Dschihad“ ist seit ein paar Jahren eine weitere Strategie seitens der Terrororganisation al-Qaida. Die Attentäter bedienen sich des Wissens, das in Online-Magazinen oder anderweitig in elektronischen Medien bereitgestellt wird (vgl. Peil 2012, S. 33 f.). Auch der Islamische Staat (IS) publiziert regelmäßig ein Online-Propagandamagazin: Dabiq. Ebenso wie bei Inspire werden auch hier westliche Rezeptionsmuster geschickt eingesetzt, um Sympathisanten im Westen anzusprechen. Als markantes Beispiel kann hier das Poster aus der 13. Ausgabe von Dabiq angeführt werden, das die Pariser Attentäter vom 13. November 2015 wie auf einem Plakat eines Hollywood-Blockbusters präsentiert. Vor der Kulisse der Hauptstadt Frankreichs sind die Männer, zum Teil bewaffnet, in heroischer Pose abgebildet.5 Aber nicht nur die Assoziation mit Actionfilmen kommt auf, sondern das Poster erinnert auch an ein Cover von gewalthaltigen Computerspielen. Gerade für männliche Jugendliche sind digitale Spiele die mediale Freizeitbeschäftigung Nummer eins (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2015, S. 42).

5Vgl.

http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/4908154/Die-ParisAttentaeter-als-Posterboys-des-IS. Zugegriffen: 26. Januar 2016.

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In der Fachliteratur ist man sich uneinig, inwieweit Propagandavideos allein zur Radikalisierung beitragen können. Die Thematik ist zwar noch nicht hinreichend mit empirischen Studien belegt, eine Studie aus dem Jahre 2013 besagt jedoch, dass spielfilmähnliche Propagandavideos den stärksten Effekt auf die Probanden hatten (vgl. Rieger et al. 2013, S. 68). Darüber hinaus gibt es Selbstzeugnisse von Attentätern oder ausgewanderten Gotteskriegern, die angaben, über Videos im Internet zu ihren Taten angeregt worden zu sein. Der bekannteste Fall ist Arid Uka, der 2011 zwei amerikanische Soldaten in Frankfurt tötete. Der junge Mann hat sich allein durch Videos im Internet radikalisiert. Dies ist nur ein Beispiel für den führerlosen oder individuellen Dschihad (vgl. Steinberg 2012b, S. 5).

2.3 Naschid-Gesänge Naschids sind A-cappella-Gesänge mit religiösen Inhalten und haben eine lange Tradition. Unter anderem wurden sie von mystischen islamischen Richtungen wie dem Sufismus genutzt (vgl. Said 2014, S. 319). Gerade in den letzten Jahren bedienen sich Salafisten der Naschids. Auf der Videoplattform YouTube finden sich viele Videos, die auf der Bildebene leidende Muslime aus Krisengebieten abbilden oder Kampfszenen mit neu erobertem Territorium zeigen. Auf der Audioebene werden die Bilder von emotionalisierenden Naschid-Gesängen begleitet. Meist sind diese in arabischer Sprache, manchmal mit englischen Untertiteln. Weltliche Musik ist im Salafismus eigentlich verboten. Dass Naschids trotzdem für Propagandazwecke genutzt werden, liegt an der pragmatischen Haltung der Salafisten – genauso wie die Nutzung moderner Technologien. Als religiöse Legitimation wird manchmal noch angeführt, dass es sich um eine reine A-cappella-Darbietung handle und auf Instrumente komplett verzichtet werde. Da gerade in der Jugendphase das Interesse an Musik sehr hoch ist, sind Naschids für Jugendliche attraktiv. Die Fachliteratur verweist hier u.a. auf die Funktion des Mood-Managements: Jugendliche wählen Musik, die zu ihrer gegenwärtigen Stimmung passt und/oder diese noch verstärkt (vgl. Friedemann und Hoffmann 2013, S. 372). Seit ein paar Jahren gibt es auch deutschsprachige Naschids von Dschihadisten, die aus Deutschland in muslimische Kriegsgebiete ausgewandert sind und sich dem „Heiligen Krieg“ verschrieben haben. Dazu gehören die aus Bonn stammenden Brüder Yassin (Abu Ibrahim) und Mounir Chouka (Abu Adam), die 2008 nach Pakistan auswanderten und sich dort der „Islamischen Bewegung Usbekistan“ (IBU) anschlossen, und auch Denis Cuspert (Abu Malik, später Abu

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Talha al-Almani), der seit 2012 in muslimischen Krisengebieten u.a. für den Islamischen Staat (IS) tätig war (vgl. Dantschke 2014, S. 208). Es wird zwar vermutet, dass Cuspert mittlerweile tot ist, aber es gibt immer wieder gegenteilige ­Meldungen.6 Vorreiter im deutschsprachigen Naschid ist Mounir Chouka (Abu Adam) mit seinem Lied „al-Mukalla – Sterben um zu Leben“ aus dem Jahr 2009, das eindeutig ein Aufruf zum Dschihad ist. Auch das Kampf-Naschid „Mutter bleibe standhaft“ aus dem Jahr 2010 wirbt für den „Heiligen Krieg“ (vgl. Farschid 2014, S. 87). Ein besonderes Augenmerk gerade auch im Hinblick auf die Anziehungskraft auf Jugendliche verdient Denis Cuspert, da er vor seiner Konversion zum Islam bereits als Gangsta-Rapper unter dem Künstlernamen Deso Dogg bekannt war. Er beendete seine Künstlerkarriere in der Rap-Szene mit der Begründung, dass in dem besagten Milieu verwerfliche Praktiken (Waffen, Drogen, Alkohol, Unzucht) verbreitet seien (vgl. Farschid 2014, S. 89). Interessant ist, dass Cuspert bereits etabliert war in der Jugendszene, und diesen „Vorteil“ konnte man anfangs gut in unterschiedlichen salafistischen (Online)-Netzwerken wie z. B. „Die wahre Religion“ oder „Einladung zum Paradies“ nutzen, um Jugendliche anzuwerben. Seine zunehmende Radikalisierung mündete schließlich in seinem Engagement im Netzwerk „Millatu Ibrahim“ (Gemeinschaft Abrahams), das 2012 samt der dazugehörigen Onlineauftritte (u. a. Salafimedia) verboten wurde. Die Lyrics von Cusperts Naschids sind geprägt von salafistischem Vokabular und Grundsätzen wie: Nichtmuslime sind Ungläubige (Sg. kafir, Pl. kuffar), Kneipen und Klubs sind „verbotene“ Orte (haram) usw. (vgl. Farschid 2014, S. 90). Was macht nun die Attraktivität der Person Cusperts für Jugendliche aus? Zunächst kann man seine Biografie anführen. Cuspert wurde 1975 in Berlin als Sohn eines Ghanaers und einer Deutschen geboren. Die Familie verbrachte auch einige Zeit in Afrika. Als sie wieder zurück in Deutschland war, wurde der Vater jedoch abgeschoben. Später macht Cuspert den deutschen Staat verantwortlich für diese schmerzhafte Erfahrung. Viele Jugendliche mit Migrationshintergrund haben ähnliche Dinge erlebt. Einem Großteil ist auch die Verbindung zum Islam ist in die Wiege gelegt und je nach Religiosität der Eltern haben sie mehr oder weniger Wissen über ihre Religion. Nachdem Denis Cuspert nicht den erhofften Erfolg im Musikbusiness hatte, gab ihm die Religion Halt und Antworten. Cuspert galt fortan als „Reborn Muslim“. Ein weiterer Faktor für die ­Anziehungskraft Cusperts

6Vgl. http://www.spiegel.de/politik/ausland/islamischer-staat-denis-cuspert-deso-dogg-ist-moeglicherweise-am-leben-a-1063393.html. Zugegriffen: 6. Mai 2016.

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ist die Rap-Musik, die gerade Jugendliche mit Migrationshintergrund anspricht. Auch andere Rapper wie Bushido und Eko Fresh haben mindestens einen muslimischen Elternteil. Ihre Texte handeln oft von Ausgrenzung und den Schattenseiten eines Lebens als Migrant in Deutschland. Cuspert wandte sich zwar vom Rap ab, aber die Texte seiner Naschids nehmen diese Themen zugespitzt auf die religiöse Dimension (Ausgrenzung, Opferrolle von Muslimen) auf, sodass sich die Jugendlichen nach wie vor emotional damit identifizieren können (vgl. Dantschke 2014, S. 209).

3 Inhalte salafistischer Internetaktivität und ihre Attraktivität für Jugendliche Eine Einteilung in Erscheinungsformen und Inhalte kann nur theoriegeleitet erfolgen und beschränkt sich darauf, das Phänomen an sich zu beschreiben. Denn alle Erscheinungsformen haben gemeinsam, dass sie die folgenden Inhalte immer wieder mit unterschiedlicher Gewichtung und Intensität thematisieren. In den nächsten Kapiteln werden zunächst inhaltliche Kernpunkte vorgestellt und anhand von Beispielen veranschaulicht (Abschn. „Identität und Zusammengehörigkeit“). Grundsätzlich lässt sich konstatieren, dass Salafisten auf ihren Internetseiten ein dichotomes Weltbild präsentieren. Es gibt eine klare Einteilung der Welt in Muslime und Nichtmuslime, Gut und Böse, Freund und Feind, Erlaubtes und Verbotenes. Die Inhalte salafistischer Internetaktivität werden deshalb anhand folgender Gegensatzpaare dargestellt: Gläubige versus Ungläubige, Diesseitsorientierung versus Jenseitsorientierung, Scharia versus Demokratie, Gleichberechtigung versus salafistische Geschlechterkonzeption. Anschließend wird in einem zweiten Schritt gezeigt, warum gerade Jugendliche für diese Botschaften im Internet empfänglich sind (Abschn. „Anziehungskraft der Botschaften auf Jugendliche“).

3.1 Dichotomes Weltbild Gläubige versus Ungläubige Zunächst zu der zentralen Prämisse, die gravierende Konsequenzen für alle anderen Bereiche hat: Salafisten unterteilen die Welt in die der Muslime, die dem wahren Glauben folgen, und in die der Ungläubigen (kuffar). Unter die Kategorie der Ungläubigen fallen: erstens alle Personen, die einen anderen Glauben praktizieren, zweitens Muslime, die nicht der salafistischen Islaminterpretation

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folgen, sowie drittens Atheisten. Ungläubige werden grundsätzlich abgelehnt, da ihre Lebensweise im Gegensatz zur salafistischen Religionsausübung steht. Die Darstellung des Ungläubigen dient somit immer als Kontrastfolie zum tugendhaften Muslim. Beispiele vonseiten der bekannten salafistischen Prediger Ibrahim Abou-Nagie und Pierre Vogel, die sich der Missionierung verschrieben haben, gibt es zahlreiche.7 Auch das Naschid „Wacht doch auf“ von Denis Cuspert (Abu Maleeq) bedient das Schwarz-Weiß-Denken durch die Unterteilung in Muslime und Ungläubige. Das Naschid, das frei zugänglich auf YouTube zu finden ist, enthält diese Botschaften: Stilisierung der Muslime als Opfer, Plädoyer für die Einführung der Scharia und Aufruf zum Dschihad gegen die Ungläubigen (kuffar).8 Generell kann konstatiert werden, dass diese Grundprämisse in höchstem Maße zu einer Abkapselung von der nicht salafistischen Mehrheitsgesellschaft beiträgt (vgl. Strunk 2014, S. 76). Diesseitsorientierung versus Jenseitsorientierung Viele der Vorträge, die man auf salafistischen Online-Plattformen findet, sind jenseitsorientiert: Allah wird Fehlverhalten mit dem Höllenfeuer bestrafen bzw. der Gläubige darf wegen seines tugendhaften Verhaltens ins Paradies eingehen. Dieses Straf- und Belohnungssystem im Jenseits wird eingesetzt, um erwünschtes Verhalten im Diesseits zu bewirken. Und zum anderen wird die Abkehr von einer konsum- und lustorientierten Lebensweise (Musikverbot, sexuelle Enthaltsamkeit etc.) propagiert. Wie eingangs erwähnt, ist der Kernpunkt die Einteilung in eine Welt der Muslime einerseits und der Ungläubigen andererseits. Ibrahim Abou-Nagie beschreibt beispielsweise in einem seiner Vorträge, was mit einem Ungläubigen (kuffar) passiert, wenn er stirbt. So hieße es in den islamischen Quellen, dass die Innereien eines Ungläubigen (kuffar) im Sterbeprozess zerfetzt würden. Außerdem würden sie unglaubliche seelische Bestrafungen erleiden.9 Das Höchstmaß der Jenseitsorientierung zeigt sich jedoch in der Märtyrerideologie, denn hier wird am deutlichsten, dass das Diesseits keinerlei Anreize zu bieten hat. Wie könnte man auch einen Märtyrer von seinem Vorhaben, für den Islam

7Vgl. exemplarisch: Allah(swt) hat jeden (sic!) Kafir versprochen, niemals die Zufriedenheit im Herzen zu besitzen!!, https://www.youtube.com/watch?v=6gtXosYu2Ik. Zugegriffen. 12. Februar 2016. 8Vgl. Abu Maleeq – Wacht doch auf (Nasheed), https://www.youtube.com/watch?v=oQb8ilPETbk. Zugegriffen: 12. Februar 2016. 9Vgl. Ibrahim Abu Nagi erzählt uns was mit Kuffar (Ungläubige) nach dem Tod passiert 1/4, https://www.youtube.com/watch?v=NHqzqAvofz4. Zugegriffen: 12. Februar 2016.

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zu sterben, abbringen, wenn damit unwiderruflich die höchste Belohnung – der Eingang ins Paradies – verbunden ist? Kein weltliches Lockmittel (Geld, Freuden etc.) kann dem entgegengesetzt werden. Scharia versus Demokratie Eines der zentralen Ziele der Salafisten ist die Einführung der Scharia, d. h. des islamischen Rechtssystems, das sich auf die religiösen Quellen (Koran und Hadithe) bezieht. Einige islamische Regierungen wie z. B. Saudi-Arabien wenden ausschließlich die Scharia an. Kritisiert wird die Scharia wegen zahlreicher Aspekte, die mit demokratischer Rechtsstaatlichkeit unvereinbar sind. Salafisten äußern ihren Wunsch bezüglich der Einführung der Scharia offen und wiederkehrend (vgl. Strunk 2014, S. 77 ff.). Aus diesem Grund ist es nötig, sich vor Augen zu führen, was die Scharia beinhaltet und in welche Lebensrealität dies führen würde. Zu nennen wären hier als Erstes die drakonischen Strafen wie z. B. das Abhacken der Hände bei Diebstahl oder die Steinigung bei Ehebruch etc. Außerdem werden Frauen systematisch benachteiligt. So müssen sie mit doppelt so vielen Zeugen eine Straftat nachweisen, weil ihre Urteilkraft als geringer angesehen wird. Ferner bekommen sie nur die Hälfte des Erbanteils und so weiter. Es hilft in diesem Zusammenhang auch nicht, dass immer wieder angeführt wird, Mohammed sei im Vergleich zur damaligen kulturellen Handhabung reformatorisch gewesen. Fakt ist, dass wir im 21. Jahrhundert leben und in westlichen Demokratien die Gleichberechtigung von Mann und Frau Bedingung für diese ist. Gleichberechtigung versus salafistische Geschlechterkonzeption Salafisten werben gezielt Frauen an. Dies mag zunächst paradox erscheinen, wenn man sich die rigide Geschlechterkonzeption strenger islamischer Strömungen vor Augen führt. Von den salafistischen Anwerbern wird den Frauen eine starke eigenständige Stellung in der salafistischen Gesellschaftsform versprochen. Tatsächlich endet die reale Lebenssituation aber meist in einer untergeordneten gesellschaftlichen Stellung. Diese Vorgehensweise, dass Islamisten gerade mit dem Bild der emanzipierten Muslima arbeiten, kann man schon seit Jahren beobachten (vgl. Inan 2007, S. 222). Neuere Untersuchungen zur Onlineaktivität von salafistischen Frauen ergeben ein variantenreiches Bild: So zeigt Strunk (2013), dass es sowohl zu einer Betonung der aktiven Rolle der Frau als auch zu einer zunehmenden (Online-)Abschottung kommen kann. Strunk schildert unterschiedliche virtuelle Werdegänge von Salafistinnen. Ein Beispiel ist Umma Safiyya, die mit ihrem Mann nach Waziristan aufgebrochen war, um sich dem „Heiligen Krieg“ anzuschließen. Nachdem ihr Mann als Märtyrer gestorben ist, nutzt sie das Netz weiter, um Propaganda für den Dschihad zu machen. Sie

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beschreibt die erfüllende heilige Pflicht und ruft gezielt Frauen in Deutschland dazu auf, auch in Kampfgebiete zu reisen und sich am Dschihad zu beteiligen (vgl. Strunk 2013, S. 82 ff.). Ein fiktives Beispiel ist Samira L., die sich auf Facebook in einem idealtypischen Verlauf immer mehr radikalisiert, allerdings ist ihre Entwicklung eng an einen tatsächlichen Radikalisierungsverlauf einer jungen Muslima angelehnt. Ein Charakteristikum ist, dass die Freundesliste allmählich nur noch aus Salafisten besteht, in einem weiteren Schritt sind es dann ausschließlich Salafistinnen. Das bedeutet, dass geschlechtergetrennte virtuelle Räume im Netz entstehen. In diesen weiblichen virtuellen Räumen ist es keine Seltenheit, dass radikale Äußerungen und Aufrufe zum Dschihad zu finden sind (vgl. Strunk 2013, S. 85 ff.).

3.2 Anziehungskraft der Botschaften auf Jugendliche Nun stellt sich die Frage, warum die salafistischen Botschaften gerade bei Jugendlichen auf einen so fruchtbaren Nährboden treffen. Dazu kann es hilfreich sein, die altersspezifischen Charakteristika der Zielgruppe zu betrachten: Die Pubertät ist eine Lebensphase der Umbrüche. Zu den Herausforderungen dieser Phase gehört es, dass aufgrund wachsender Selbstständigkeit eigene Entscheidungen getroffen werden müssen. Die Fülle an Möglichkeiten, die unsere moderne individualisierte Gesellschaft zu bieten hat, kann allerdings auf Heranwachsende verunsichernd wirken. Gerade an diesem Punkt geben strikte Handlungsanweisungen und ein einfaches Schwarz-Weiß-Weltbild Halt. Die unter dem Punkt des dichotomen Weltbildes ausgeführten Aspekte (siehe Abschn. 3.1) sind nur ein Teil dessen, denn auch die religiösen Pflichten an sich – wie z. B. das fünfmalige Beten am Tag – sind klar vorgegeben. Aussteiger aus der salafistischen Szene betonen die Halt gebende Funktion der strengen religiösen Vorgaben.10 Zweitens stellt auch die Abnabelung von den Eltern einen wichtigen Entwicklungsschritt in der Pubertät dar. Die Hinwendung eines Jugendlichen zum Salafismus kann in vielerlei Hinsicht als Rebellion gegen das Elternhaus gesehen werden. Bei deutschen Konvertiten könnte der Kontrast zum Lebensstil der Eltern nicht größer sein. Allein die äußere Veränderung, die mit der Annahme der salafistischen Lebensweise einhergeht, ist unübersehbar. Bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund, deren Eltern einen Kulturislam leben, impliziert die

10Vgl.

„Ich kam mir vor wie ein Rebell“ http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/ 44159.

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Ausübung des „wahren Islam“ nach salafistischer Auslegung die Geringschätzung und die Ablehnung des Religionsverständnisses der Elterngeneration. Vergleichbares finden wir auch bei den sogenannten Neo-Muslimas: Sie kommen durch die intensive religiöse Auseinandersetzung zu dem Entschluss, das Kopftuch zu tragen, obwohl die Müttergeneration dies nicht tut, und behaupten, so den einzig „wahren Islam“ zu praktizieren (vgl. Inan 2007, S. 81). Dantschke formuliert dieses Verhalten treffend mit den folgenden Worten: Das salafistische Identitätsversprechen an die Jugendlichen ist zudem auch eines, das nicht nur eindeutig, klar abgrenzend und selbstaufwertend ist, es lässt sich auch durch das Outfit (Pluderhosen, Bart und Käppi bei Männern, Kopftuch und weite Kleidung, die den ganzen Körper bis auf Hände und Füße verhüllt, bei Frauen) nach außen deutlich demonstrieren (Dantschke 2014, S. 199).

Als dritten Punkt kann man die pubertätsspezifische Hinwendung zu einer Gleichaltrigengruppe und deren Bedeutung für den Heranwachsenden dahin gehend betrachten, ob hierdurch die Entscheidung für den salafistischen Lebensentwurf befeuert wird. Es scheint jedoch, dass die salafistische Gemeinschaft als solche diese Funktion übernimmt. Nicht explizit eine Clique von Gleichaltrigen bedient das Bedürfnis nach Geborgenheit und Rückhalt, sondern die gesamte salafistische Gemeinschaft vermittelt den Jugendlichen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Durch die strikte Abgrenzung zur nicht-muslimischen Gesellschaft wird der Effekt noch verstärkt. Gleichwohl finden sich hier Charakteristika, wie sie auch in jugendlichen Subkulturen zu finden sind. Dieses Phänomen wird als Pop-Dschihadismus bezeichnet. Unter Pop-Dschihadismus versteht man die geschickte Kombination aus dschihadistischen Inhalten und westlicher Popkultur. Jugendliche Subkulturen setzen sich aus mehreren Komponenten zusammen. So haben Musik, Kleidung, Slang und Medien identitätsstiftenden Charakter. In dieser Weise lassen sich die Subkulturen (Hipster, Punker, Hip-Hopper etc.) klar auseinanderhalten. Gekonnt verknüpfen Idole wie Denis Cuspert die Elemente des Gangsta-Rap mit dem Salafismus. Nicht nur die Songtexte der Naschids mit dschihadistischen Inhalten, sondern auch der Habitus des Gangsta-Rappers kommen bei den Jugendlichen gut an (vgl. Dantschke 2014, S. 205). Als nächster Aspekt sind Medien als elementarer Bestandteile von Jugendkulturen zu nennen. Die Vermittlung salafistischer Inhalte im Internet holt die Adressaten genau da ab, wo ihre medialen Rezeptionsgewohnheiten (Social Media, YouTube, Videogames etc.) sie sowieso hinführen. So kann man

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gewiss sein, dass Jugendliche die Angebote intensiv nutzen. Obwohl die salafistischen Botschaften streng konservativ sind, ist es zutiefst verwunderlich, dass junge Menschen gerade darin ihr Seelenheil zu finden hoffen oder zumindest auf die angebotenen dichotomen Orientierungshilfen setzen. Es wird bewusst an die Rezeptionsgewohnheiten von Jugendlichen angeknüpft, wie man am Beispiel der Dschihad-Magazine und der zahlreichen spielfilmähnlichen YouTube-Videos sehen kann. Die Produzenten salafistischer Medienprodukte sind meist sogar in der westlichen Medienkultur sozialisiert (vgl. Prucha 2012, S. 45 ff.).

4 Fazit Die vorliegende Analyse setzt den Schwerpunkt auf die Senderseite, sodass das Hauptaugenmerk darauf lag, wie Salafisten das Internet einsetzen. In den ausgewählten Erscheinungsformen sind die immer wiederkehrenden Botschaften zu finden, die bezüglich des Lebensumfeldes der Jugendlichen eine zutiefst desintegrative Wirkung zur Folge haben können. Im Hinblick auf Jugendliche als bevorzugte Zielgruppe salafistischer Internetaktivität kann festgehalten werden, dass die jugendspezifischen Charakteristika systematisch genutzt werden, um bei Jugendlichen Neugier zu wecken und sie schließlich dauerhaft an die salafistische Weltsicht bzw. Lebensweise zu binden. Die Anziehungskraft des Salafismus ist selbstverständlich in den letzten Jahren nicht allein durch den Medieneinsatz angestiegen, sondern im Zusammenspiel mit intensiven Missionierungstätigkeiten (Vorträge, Schulungen). Doch soll als Schlussbemerkung noch einmal die immense Tragweite des Internets herausgestellt werden. Versuche, nicht adäquate Inhalte aus dem Internet zu entfernen, sind langfristig nicht durchsetzbar. Anfang Februar 2016 hat Twitter zwar 125.000 Accounts mit IS-Propaganda geschlossen.11 Doch kann man dadurch die Verbreitung dieses Gedankengutes nicht stoppen, denn andere Kanäle im Internet bieten jederzeit Ausweichmöglichkeiten. Aus diesem Grund liegt die effektivste Alternative zur Prävention auf der Empfängerseite: bei den jungen Heranwachsenden. Die Herausforderung wird sein, gute Präventionsmaßnahmen zu entwickeln, um Jugendliche zu befähigen, das Weltbild der Salafisten kritisch zu hinterfragen.

11Vgl.

http://www.handelsblatt.com/unternehmen/it-medien/twitter-und-terrorismus-125-000accounts-wegen-is-propaganda-geschlossen/12929472.html. Zugegriffen: 28. März 2016.

Jugendliche als Zielgruppe salafistischer Internetaktivität

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Inan, Alev,  Jg. 1974, Studium der Pädagogik (Diplom), Studium der Romanistik/Pädagogik (Magister) an der Universität Regensburg, 2007 Promotion zu „Islamischen Organisationen im Internet“ an der Universität Passau, seit 2009 Lehrkraft für besondere Aufgaben am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik an der Universität Passau.

Teil III Prävention und pädagogische Ansätze

Radikalisierungsprävention in Deutschland – ein Problemaufriss Michael Kiefer

1 Einleitung Die Radikalisierungsprävention gegen religiös begründeten Extremismus in Deutschland, aber auch in den anderen europäischen Staaten, war noch vor fünf Jahren eine randständige Disziplin, die im akademischen Bereich und in der pädagogischen Praxis in Schule und Jugendhilfe faktisch keine Berücksichtigung fand. Einen raschen Wandel brachten die militärischen Erfolge des sogenannten Islamischen Staates in Syrien und Irak – insbesondere die Ausrufung des „Kalifats“ am 29. Juni 2014 durch Abu Bakr Al-Baghdadi, die in einigen westeuropäischen Staaten zur vermehrten Ausreise junger Menschen in die syrischen Bürgerkriegsgebiete führte. Heute gehen Sicherheitsbehörden davon aus, dass allein im Hellfeld ca. 1000 zumeist junge Männer und Frauen in die Gebiete des Islamischen Staates ausgereist sind, um sich dort unter anderem als Kombattanten zu engagieren. Bund, Länder und Kommunen reagierten auf diese Entwicklung beginnend ab der zweiten Jahreshälfte 2014 neben umfassenden Sicherheitsmaßnahmen mit einer Intensivierung und Ausweitung von Präventionsprogrammen. Zwischenzeitlich

Die nachfolgenden Ausführungen, insbesondere die Darstellung der Problemfelder, basieren auf dem Kapitel „Grundlegende Probleme der Prävention“, das in dem Band Ceylan und Kiefer (2013, S. 101–109) erschien. Das Kapitel wurde grundlegend überarbeitet, erweitert und aktualisiert. M. Kiefer (*)  Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Toprak und G. Weitzel (Hrsg.), Salafismus in Deutschland, Edition Centaurus – Jugend, Migration und Diversity, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25837-5_8

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konnten eine Vielzahl von Maßnahmen und Programmen implementiert werden, die sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht jedoch erheblich unterscheiden. An erster Stelle kann hier das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ angeführt werden, das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) im Jahr 2015 aufgelegt wurde.1 Das Programm umfasst fünf Förderbereiche und hat eine Laufzeit von fünf Jahren. Insgesamt stehen 50,5 Mio. EUR jährlich für die Demokratieförderung und Extremismusprävention bereit.2 Geht es nach dem Willen der Fachministerin, Manuela Schwesig, sollen die Mittel noch im Laufe des Jahres 2016 auf ca. 100 Mio. EUR pro Jahr aufgestockt werden. Gefördert werden mit den derzeit vorhandenen Mitteln auch eine Reihe von Modellprojekten, die sich dem Phänomen Neosalafismus3 widmen. Ferner erhalten Träger mit einer bundesweiten Relevanz eine projektunabhängige Strukturförderung. Eine weitere wichtige Komponente bilden die „Partnerschaften für Demokratie“. Dieser Programmteil wird in immerhin 217 Kommunen umgesetzt. Viele teilnehmende Kommunen fokussieren in ihren Handlungsfeldern Phänomene des religiös begründeten Extremismus. Ebenfalls vom Bund verantwortet und finanziert wird die „Beratungsstelle Radikalisierung“, die beim Bundesamt für

1Umfangreiche

Informationen finden sich auf der Homepage des Bundesprogramms: https://www.demokratie-leben.de/bundesprogramm/ueber-demokratie-leben.html. 2Darunter auch mit erheblichen Mitteln die Prävention gegen Rechtsextremismus und weitere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. 3In der Fachliteratur, aber auch in den Medien wird seit geraumer Zeit der Begriff Salafismus zur Kennzeichnung extremer islamistischer Bewegungen verwendet, deren krude und einfältige Religionsauffassung sich auf einen idealisierten frühen Islam der Prophetengefährten bezieht. Aus der Perspektive der islamischen Theologie und der Sicht vieler Muslime ist diese Bezeichnungspraxis durchaus nicht unproblematisch. Zunächst muss gesehen werden, dass der Begriff Salafi für viele Muslime eine sehr positive Konnotation aufweist. Der Begriff Salaf (Altvordere) bezeichnet die Gefährten des Propheten, deren Wirken in der traditionellen islamischen Literatur unisono als vorbildlich zur Darstellung gebracht wird. Hinzu kommt, dass bereits im 9. Jahrhundert Ahmad Ibn Hanbal eine Rechtsschule begründete (Hanbaliyya), in der der Koran „sola scriptura“ gelesen wurde und als weitere Quelle lediglich die Sunna und die Berichte der Salaf hinzugezogen wurden. Die Anhänger dieser Rechtsschule werden seit dem zweiten islamischen Jahrhundert in der innerislamischen Diskussion häufig mit dem Terminus Salafi belegt. Ausgehend von dieser historisch verbürgten Betrachtungsweise erscheint eine Übertragung des Begriffs Salafiyya auf heutige radikal islamistische Gruppen nicht sinnvoll, da er in der Diskussion mit Muslimen zu gravierenden Missverständnissen führen kann. Nachfolgend wird hier zur Abgrenzung deshalb der Begriff Neosalafiyya oder Neosalafismus verwandt.

Radikalisierungsprävention in Deutschland – ein Problemaufriss

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Migration für Flüchtlinge (BAMF) angesiedelt ist. Die Beratungsstelle und das mit ihr verbundene Trägernetzwerk – darunter „HAYAT“ in Berlin und Bonn, „Legato“ in Hamburg und „beRATen“ in Niedersachsen – stehen insbesondere Angehörigen von jugendlichen Radikalisierten mit Rat und Tat zur Seite.4 Auch die Bundesländer sind seit dem Jahr 2014 in allen Handlungsfeldern der Radikalisierungsprävention tätig geworden. Das bevölkerungsreichste Bundesland Nordrhein-Westfalen verfolgt mit dem sukzessive ausgeweiteten „Wegweiser“-Programm ein dezentrales Konzept. Das Ziel besteht darin, in urbanen Siedlungsräumen flächendeckend Fachberatungsstätten anzusiedeln, die sich mit den Fachakteuren aus Schule und Jugendhilfe vor Ort verschränken. Die Präventionsakteure sind in den Kommunen in der Regel sehr gut vernetzt und können auf die spezifischen Erfordernisse der Sozialräume in einem hohen Maße eingehen. Exemplarisch angeführt werden kann hier die Arbeit des Düsseldorfer „Wegweiser“-Standorts, der in den Räumlichkeiten einer Moscheestiftung bereits 2014 seine Arbeit aufnahm. Für die Präventionsarbeit wurde eigens ein neuer Verein gegründet, der alle relevanten kommunalen Partner aus Gemeinde, Jugendamt, Schule, und Polizei unter einem Dach vereinigt. Hierzu zählen auch Vertreterinnen und Vertreter von Moscheegemeinden und professionelle Akteure von Jugendhilfeträgern. Der Verein kann so seine Arbeit auf bereits bestehenden und gut funktionierenden Netzwerkbeziehungen aufbauen. Mithilfe der Stadt Düsseldorf konnten die personellen Ressourcen zwischenzeitlich auf zwei Vollzeitstellen ausgebaut werden. Der Düsseldorfer „Wegweiser“-Standort verfügt damit über eine Personalausstattung, mit der eine angemessene Bearbeitung des Themenfelds in den kommunalen Handlungsfeldern – insbesondere Schule und Jugendhilfe – möglich ist. Neben dem Netz der „Wegweiser“- Standorte unterhält das Land NRW auch das „Aussteigerprogramm Islamismus“. Dieses Programm liegt in alleiniger Verantwortung des Verfassungsschutzes. Es umfasst unter anderem eine Reihe von konkreten Hilfestellungen (nachholende Qualifikationen, Arbeits- und Wohnungssuche), die Szeneaussteigern ein selbst verantwortetes Leben ohne Straftaten ermöglichen sollen.5 Andere Bundesländer verfolgen Konzepte, die auf zentrale Präventionsprogramme und damit verbundene Beratungseinrichtungen setzen. Hierzu zählen derzeit Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Bayern und Baden-Württemberg. Innovativ ist insbesondere das niedersächsische Konzept, in dessen Mittelpunkt

4Selbstdarstellung

unter: http://www.bamf.de/DE/DasBAMF/Beratung/beratung-node.html. hierzu unter: http://www.mik.nrw.de/verfassungsschutz/islamismus/aussteigerprogramm-islamismus.html.

5Informationen

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der „Verein für jugend- und familienpädagogische Beratung Niedersachsen – beRATen e. V.“ steht. Der neu gegründete Träger zählt zu seinen Mitgliedern unter anderem die in Niedersachsen tätigen muslimischen Spitzenverbände (DITIB und Schura), die Universität Osnabrück und das niedersächsische Sozialministerium. Der erste und zweite Vereinsvorsitz wird durch die muslimischen Organisationen gestellt. Niedersachsen hat damit als erstes Bundesland einen Präventionsträger implementiert, in dem Muslime und weitere zivilgesellschaftliche Akteure gleichberechtigt Angebote der Radikalisierungsprävention tragen und verantworten. Schließlich sollten die kommunalen Maßnahmen im Bereich der Radikali­ sierungsprävention Erwähnung finden. Viele Städte, die in den vergangenen Jahren hohe Szeneaktivitäten und Ausreisezahlen zu verzeichnen hatten, haben ein ganzes Bündel von Maßnahmen ergriffen, um der neosalafistischen Mobilisierung Einhalt zu gebieten. Teilweise – so in Düsseldorf, Wuppertal und Solingen – wurden Landesmittel aus dem „Wegweiser“-Programm mit kommunalen Mitteln aufgestockt, um in den Beratungseinrichtungen eine höhere Personalstärke zu erreichen. Darüber hinaus gab es vielerorts für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Informationsveranstaltungen und Fortbildungen, die insbesondere der Sensibilisierung dienten. Teilweise wurden auch neue Fachgruppen ins Leben gerufen, die sich ausschließlich mit Extremismus befassen. So wurden in einigen Städten die Arbeitsbereiche der seit vielen Jahren bestehenden kriminalpräventiven Räte auf die Radikalisierungsprävention ausgeweitet. Durch diese Funktionserweiterung konnte der Informationsfluss zwischen den Fachämtern, Jugendhilfeträgern und der Polizei deutlich verbessert werden. Insgesamt betrachtet, zeigen die aufgeführten Beispiele, dass Bund, Länder und Kommunen bemerkenswerte Anstrengungen unternommen haben, um der Radikalisierung junger Menschen etwas entgegenzusetzen. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine nicht unerhebliche Zahl von Projekten ihre Arbeit in eher provisorischen Settings vollzieht. Es fehlt insbesondere an ausreichend qualifiziertem Personal und ausgewiesenen Methoden. Darüber hinaus sind Präventionsakteure in allen Handlungsbereichen mit einer Reihe von grundlegenden Problemen befasst, die nachfolgend ausführlich dargestellt werden sollen.

2 Grundlegende Probleme der Prävention 2.1 Rolle des Problemdefinierers Das erste grundlegende Problem der Präventionsarbeit ist, dass die Akteure im Rahmen ihrer Projekte auf der Grundlage einer Problemdefinition bzw. einer mehr oder

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weniger ausführlichen Defizitbeschreibung tätig werden. In der Radikalisierungsprävention umfasst die Problemdefinition in der Regel die Beschreibung negativer Haltungen bzw. Einstellungen und daraus resultierender möglicher Handlungen der Zielgruppe, die der demokratischen Grundordnung und den Freiheitsrechten anderer Menschen widersprechen könnten. Aufgrund dieses Sachverhalts sind Präventionsprojekte nicht selten als defizitorientierte Projekte konzipiert, die Menschen anhand ausgewählter negativer Merkmale in den Fokus nehmen.

2.2 Normative Setzungen – was ist überhaupt normal? Die in Kiel lehrende Pädagogin Reingard Knauer hat schon vor einigen Jahren darauf hingewiesen, dass es in der Natur der Präventionslogik liegt, dass vor allem „das nicht-normale, das verhindert werden soll; im Mittelpunkt steht“ (Knauer 2006, S. 2). Hier drängt sich mit Nachdruck die Frage auf, was für normal gehalten wird und welche Nicht-Normalität verhindert werden soll. Dieser Frage kommt in der Radikalisierungsprävention, die sich auch gegen religiös begründete Auffassungen richten kann, eine herausragende Bedeutung zu. In der Prävention gegen religiös begründeten Extremismus werden derzeit zahlreiche Negativmerkmale gehandelt, die abgewehrt werden sollen. So gilt z. B. der Neosalafismus in seinen verschiedenen Ausdrucksformen pauschal als ein unerwünschtes Phänomen. Diese Sicht der Dinge wird jedoch von vielen Muslimen nicht geteilt, da die Salaf (die Altvorderen) in der sunnitischen Tradition als nachahmenswerte Vorbilder erscheinen. Folglich wird der Neosalafismus oder die Salafiyya, die sich an den Vorbildern der Prophetengefährten orientiert, nicht grundsätzlich für negativ erachtet. Das Beispiel zeigt, dass normative Setzungen von Präventionsakteuren nicht unbedingt den ungeteilten Zuspruch der Zielgruppe erfahren. Folglich kann eine Präventionsabsicht in der Zielgruppe und deren Umfeld auf Skepsis und mitunter auf offene Ablehnung stoßen. Darüber hinaus sollte in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen werden, dass religiöse Auffassungen und Handlungen, die nicht explizit gegen geltendes Recht verstoßen, durch die in der Verfassung garantierte Religionsfreiheit geschützt sind. Eine Präventionsarbeit, die in das religiöse Leben durch negative Markierungen eingreift, sollte sich dieses Wirkzusammenhangs in einem hohen Maße bewusst sein. Eine fehlgeleitete und damit unangemessene Prävention kann von der Zielgruppe als massiver Eingriff in die Religionsfreiheit angesehen werden.

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2.3 Negative Markierung bzw. Stigmatisierung Die Logik des Verdachts kann dazu führen, die Zielgruppe negativ zu markieren bzw. zu stigmatisieren. Diese Gefahr besteht insbesondere dann, wenn über die Zielgruppe langwierige gesellschaftliche Debatten geführt werden, in der die Betroffenen als problembeladene oder gar gefährliche Gruppe dargestellt werden (Labeling Approach). Dieser Sachverhalt ist u. a. in der seit mehr als einer Dekade geführten Integrations- und Islamdebatte zu beobachten. Einige Diskutanten, die durchaus auch in der bürgerlichen Mitte zu verorten sind, betrachten den Islam als eine rückständige Religion, die weder eine Reformation noch Aufklärung erfahren habe. Folglich werden Muslime häufig verdächtigt, archaisch und intolerant zu sein. Selbst in Qualitätsmedien wurde ihnen vorgehalten, sie würden wesentliche Grundwerte unserer freiheitlichen Grundordnung nicht vorbehaltlos teilen. Diese und andere Vorwürfe haben in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass die Grenzziehungen zwischen normaler muslimischer Religiosität, die gänzlich frei ist von politischen Ambitionen und den politischen Ideologien des Islamismus, zunehmend an Trennschärfe verloren haben. Das Resultat war vielerorts ein Generalverdacht, der Muslime ungeachtet ihrer tatsächlichen Denkweise zu einer Problemgruppe erklärte. Für die muslimischen Gemeinden hatten diese Bezichtigungsdiskurse zum Teil erhebliche Folgen. So gab es im Rahmen der polizeilichen Präventionsarbeit in Niedersachsen, die auf der Grundlage von § 12 Abs. 6 Nds. SOG von 2004 bis 2010 durchgeführt wurde, verdachtsunabhängige Kontrollen vor Moscheegemeinden. Konkret bedeutete dies, dass circa fünfmal im Jahr eine der 250 niedersächsischen Moscheegemeinden abgeriegelt wurde, um Ausweise und Taschen der Besucher des Freitagsgebets zu kontrollieren (Die Welt, 03.02.2010).

2.4 Akteursproblematik Radikalisierungsprävention greift in die Lebenswelt junger Menschen ein, indem sie u. a. normative Setzungen vornimmt sowie unerwünschte Ereignisse, Personengruppen (z. B. die neosalafistischen Prediger) und Entwicklungswege beschreibt. Akteure der Präventionsarbeit müssen sich dieses Sachverhalts bewusst sein und mit großer Sensibilität und Umsicht agieren. Ferner ist es wichtig, dass Präventionsmaßnahmen auf einem fundierten Wissen über drohende Ereignisse und ihre möglichen Wirkfaktoren basieren. Die Entwicklung präventiver Handlungsstrategien ist daher ein anspruchsvolles Unterfangen, das in pädagogischer und sozialwissenschaftlicher Hinsicht hohe fachliche Standards und umfangreiche

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Erfahrungen voraussetzt. Im noch jungen Bereich der Radikalisierungsprävention ist derzeit die gebotene Fachlichkeit nicht überall gegeben. Akteure der Präventionsarbeit besitzen häufig nur rudimentäre Kenntnisse über den Verlauf von Radikalisierungsprozessen und die Faktoren, die diesen zugrunde liegen. Folglich gibt es keine auf belastbaren Ergebnissen fußenden standardisierten Ansätze einer pädagogischen Präventionsarbeit. Ferner bestehen zurzeit erhebliche Unklarheiten, wer für die Entwicklung und Durchführung der Präventionsarbeit verantwortlich sein soll. Seit einigen Jahren ist zu beobachten, dass die Verfassungsschutzbehörden ihr Tätigkeitsfeld im Bereich der Extremismusprävention sukzessiv auf den Bereich der primären Prävention ausdehnen. Die Angebote der Behörden umfassen mittlerweile ein ganzes Bündel von Maßnahmen. Hierzu zählen: • jugendgerechte Comichefte (http://www.andi.nrw.de/) • Planspiele für Schülerinnen und Schüler • Referententätigkeit in Schule, Bildungseinrichtungen und Vereinen • Entwicklung von landesweiten Beratungskonzepten • Lehrerfortbildungen • Ausbildung von ehrenamtlichen „Demokratie-Lotsen“. Kritisch gefragt werden kann hier, ob klassische Bildungsbereiche der Schule und Jugendhilfe für die Verfassungsschutzbehörden ein sinnvolles Terrain für Präventionsarbeit darstellen können. Die Kooperation von Jugendhilfeträgern und Schulen mit Verfassungsschutzbehörden kann allein aus rein fachlichen Erwägungen als fragwürdig gelten, da Referenten der Verfassungsschutzbehörden im Regelfall im Bereich der Pädagogik und Sozialarbeit keine fachliche Expertise vorweisen können. Ferner ist zu konstatieren, dass die Verknüpfung der Faktoren Sicherheit und Prävention zu einer unerwünschten Verstärkung der Verdachtslogik führen kann.

2.5 Unerwünschte Effekte Der präventive Blick im Praxisfeld und die Herausstellung von Risikolagen können zu einer Verstärkung des in der Öffentlichkeit bereits vorhandenen Generalverdachts führen. Allerorts wird folglich nach Indizien für ein zu erwartendes künftiges Übel gesucht. In der Radikalisierungsprävention kann der präventive Blick zu einer überzogenen oder gar falschen Risikoeinschätzung führen. Junge Männer, die Veranstaltungen von neosalafistischen Predigern besuchen, geraten nicht automatisch in eine irreversible Radikalisierungsspirale, an deren Ende

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das offene Bekenntnis zum Dschihadismus steht. In Bezug auf das Themenfeld Islamismus neigen professionelle Akteure aus Schule und Jugendhilfe gelegentlich zu einer dramatisierenden Betrachtungsweise. Schüleräußerungen neosalafistischer Couleur sind z. B. nicht zwangsläufig Ausdruck einer verfestigten Haltung. Zuschreibungen, Übertreibungen und falsche Bezichtigungen können junge Menschen verletzen. Darüber hinaus können sie ohnehin störungsanfällige Inklusionsprozesse be- oder gar verhindern. Übertriebene bzw. unangemessene Prävention kann schlimmstenfalls zu einer Umkehrung der Zielperspektive führen. Im Sinne der self-fulfilling prophecy bedeutet dies: Wenn Akteure der Prävention eine „Gefährdungssituation“ als real definieren, dann sind sie in ihren Konsequenzen real.

2.6 ,,Risiko-Paradox“ Nach Reingard Knauer will Prävention durch vorbeugendes Handeln eine Minimierung von Risiken erreichen. Dies führe zu einem Widerspruch, den man mit dem Begriff „Risiko-Paradox“ bezeichnen könne. In der Prävention gelte das Risiko zunächst als Gefahr, die vermieden werden sollte. Ziel präventiver Maßnahmen sei es daher, Risikoverhalten von Kindern zu vermeiden bzw. zu reduzieren. Gleichzeitig könne jedoch konstatiert werden, dass Risiken in unserer Gesellschaft alltäglich seien. Deshalb sei „Risikokompetenz (…) eine wichtige Grundqualifikation für eine gelingende Lebensführung“ (Knauer 2006, S. 4). Was bedeutet dieser grundlegende Sachverhalt für die Radikalisierungsprävention? Zunächst einmal gilt es festzustellen, dass es faktisch nicht möglich ist, junge Menschen von möglicherweise radikalisierenden Faktoren fernzuhalten. Besonders deutlich wird dies am Beispiel des Internets. Nahezu jeder Jugendliche besitzt mittlerweile ein Smartphone und verfügt damit ungehindert über Internetzugang. Da es bekanntlich nicht möglich ist, alle missliebigen Inhalte aus dem Netz zu verbannen, müssen Jugendliche den Umgang mit problematischen Internetseiten erlernen. Nicht die Risikovermeidung, sondern der Erwerb von Risikokompetenz muss hier das Ziel sein. Diese Zielbeschreibung gilt nicht nur für den Medienbereich. Junge Menschen wählen mit zunehmender Selbstständigkeit mitunter problematische Erfahrungsfelder. Das kurzfristige Eintauchen von Jugendlichen in neosalafistische Subkulturen mag im familiären und schulischen Umfeld Sorgen hervorrufen. Forderungen nach Verboten und Interventionen stehen schnell im Raum. In solchen Situationen sollte jedoch bedacht werden, dass gerade Verbote kontraproduktiv wirken können. Risikoverminderung ist auch hier nur durch das Eingehen von Risiken möglich. Ernst Bloch soll einmal gesagt

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haben: „Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt in ihr um.“ Dieser Satz gilt auch für die Radikalisierungsprävention. Kontrollierte Risiken gehören zum Leben. Präventionsarbeit soll junge Menschen ermutigen, ihre Grenzen zu erweitern (vgl. Knauer 2006, S. 4).

2.7 Wirksamkeit Bisher ist deutlich geworden, dass Präventionsmaßnahmen mit vielen unbekannten Variablen einhergehen. Das Leben bietet eine Vielzahl von Risiken und selbst eine fürsorgliche Rund-um-die-Uhr-Betreuung kann nicht verhindern, dass Jugendliche in Gefahrensituationen geraten. Aus diesem Grund sind Akteure der Präventionsarbeit gut beraten, wenn sie mit Versprechungen äußerst zurückhaltend sind. Dies gilt gleichermaßen für die Radikalisierungsprävention. Projekte und Maßnahmen, die sich wöchentlich zwei oder vier Stunden mit Jugendlichen befassen, sind in ihren Wirkmöglichkeiten ohne jede Frage eingeschränkt. So kann z. B. eine interreligiöse Begegnungsarbeit die Ambiguitätstoleranz bei Jugendlichen stärken, sie kann aber auch wirkungslos verpuffen. Selbst wenn Maßnahmen der Prävention scheinbar Früchte tragen und sich Jugendliche im Sinne der Präventionsziele entwickeln, ist der Nachweis einer unmittelbaren Wirksamkeit schwierig. Der Grund hierfür sind zunächst methodologische Probleme. Die üblichen Evaluationsinstrumente in der pädagogischen Arbeit (z. B. einmalige schriftliche oder mündliche Befragungen) sind wenig geeignet, um eine Korrelation von Ursachenbündeln nachvollziehen zu können. Wichtig ist ferner der Hinweis, dass Prävention auch scheitern kann. Zahlreiche Beispiele hierfür gibt es unter anderem in der Drogen- und Gewaltprävention. Obwohl in beiden Bereichen teilweise seit Jahrzehnten erprobte Formate zur Verfügung stehen, kommt es dennoch zu Misserfolgen.

2.8 Nachhaltigkeit Wenn über die Wirksamkeit von präventiven Maßnahmen gesprochen wird, geht es oft auch um die sogenannte „Nachhaltigkeit“. In der Sozialplanung und pädagogischen Arbeit kann der Terminus „Nachhaltigkeit“ mittlerweile auf eine beeindruckende Karriere zurückblicken. Modellprojekte, Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen sowie die Regelarbeit in Kindergärten und Jugendeinrichtungen sollen mit dem Label der „Nachhaltigkeit“ die Erreichung ihrer Zielsetzungen garantieren. Dies bedeutet, dass die Effekte pädagogischer Arbeit in

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zeitlicher Hinsicht weit über den unmittelbaren Wirk- bzw. Projektzusammenhang hinausreichen sollen. Dieser Anspruch gilt auch in einem hohen Maße in der Präventionsarbeit. Die Verhinderung des Unerwünschten gilt grundsätzlich als eine langfristige Aufgabe. Forderungen nach Prävention schließen daher nicht selten ein weitreichendes Sicherheitsversprechen ein. In der Radikalisierungsprävention produziert die Forderung nach dauerhafter Sicherheit ein unauflösbares Dilemma. Akteure aus Präventionsprojekten, die fast immer in überschaubaren Zeiträumen stattfinden, können für ihre Zielgruppe keine seriösen Langzeitprognosen abgeben. Gleiches gilt für die Arbeit der noch jungen Beratungsstellen. Vier oder fünf Gespräche mit gefährdeten Jugendlichen und deren Angehörigen können wertvolle Impulse darstellen, sind jedoch kein Garant für das langfristige Ausbleiben von Radikalisierung und Delinquenz. Bröckling hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Prävention grundsätzlich ein „unabschließbares Projekt“ darstellt (Bröckling 2008, S. 42). Politik – als Auftraggeberin von Prävention – und die künftigen Träger von Prävention sollten sich dieses Sachverhalts bewusst sein. Maßvolle und realistische Zielsetzungen für überschaubare Zeiträume helfen dabei, Erfahrungen des Scheiterns und der Resignation bei allen Beteiligten zu vermeiden.

2.9 Prävention in der Dimension der Machtrelation Vor dem Hintergrund einer wachsenden Terrorgefahr ist eine hochwirksame Radikalisierungsprävention in erster Linie ein staatliches Desiderat, das in vielen Bereichen von Sicherheitsinteressen überlagert ist. Akteure der Präventionsarbeit benötigen nicht nur ein Konzept, sondern sie brauchen vielmehr auch einen Handlungsrahmen und entsprechende Durchsetzungsmöglichkeiten. Prävention in Kombination mit Sanktionsgewalt begründet einen asymmetrischen Präventionskontext, in dem die Zielgruppe den Präventionsakteuren unterlegen ist. Für die Präventionsarbeit können ungleiche Machtverhältnisse zu großen Problemen führen. Ulrich Bröckling hat die Auswirkung von Präventionshandeln in Machtrelationen pointiert beschrieben: Wo Macht ausgeübt wird, gibt es auch Widerstand: Prävention ist stets konfrontiert mit Gegenkräften, die ihre Anstrengungen unterlaufen, bremsen oder blockieren, und sie gewinnt erst in der Auseinandersetzung mit dieser Kontur. Von den lieb gewonnenen aber riskanten Gewohnheiten, an deren Schwerkraft Aufklärungskampagnen ebenso scheitern, bis zu politischen Kontroversen, in denen präventive mit

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nichtpräventiven und verschiedene präventive Optionen miteinander konkurrieren – immer operiert das vorbeugende Handeln in einer komplexen strategischen Konstellation, in der Kräfteverhältnisse abzuschätzen, Allianzen zu schließen oder aufzukündigen, taktische Festlegungen zu treffen und bei jedem Schritt die Operationen der anderen beteiligten Akteure zu berücksichtigen sind (Bröckling 2008, S. 46 f.).

Bröcklings Aussagen gelten in einem hohen Maße für das Spannungsfeld, das zwischen staatlichen Sicherheitsakteuren und den muslimischen Gemeinden besteht. Partnerschaften in der Radikalisierungsprävention gestalteten sich für viele Jahre hindernisreich, da unter anderem einige muslimische Organisationen – so die Muslimische Jugend Deutschlands (MJD) – unter Extremismusverdacht standen. Zwischenzeitlich wurde die Beobachtung der MJD und auch andere muslimischer Organisationen durch Teile der Verfassungsschutzbehörden eingestellt. Die MJD ist mittlerweile ein gern gesehener Projektpartner in der Radikalisierungsprävention und wird auch mit Bundesmitteln gefördert.

2.10 Kosten und Nutzen der Präventionsarbeit „Prävention ist besser als strafrechtliche Intervention“ – so könnte man mit wenigen Worten das Credo der Radikalisierungsprävention umschreiben. Interventionen der Sicherheitsbehörden im Radikalisierungsbereich sind zumeist mit extrem hohen Kosten verbunden. Die Ausreise von sogenannten „Gefährdern“ nach Syrien, in den Irak und andere Kriegsgebiete, in denen Dschihadisten ihr Unwesen treiben, löst recht aufwendige Fahndungsaktivitäten aus, die mit erheblichen Kosten einhergehen. Gleiches gilt für die Verfolgung dschihadistischer Gewalttäter innerhalb von Deutschland, die im Falle einer Verurteilung langjährige Haftstrafen erhalten. Deshalb wurde eigentlich der Grundsatz erhoben, dass Vorbeugemaßnahmen in langfristiger Perspektive kostengünstiger ausfallen als aufwendige Interventionsmaßnahmen. Jedoch hat auch eine qualitativ hochwertige Präventionsarbeit ihren Preis. In Zeiten, in denen die öffentliche Hand unter chronischer Geldnot leidet, hat Radikalisierungsprävention, insbesondere im Bereich der primären Prävention, einen schweren Stand. Während die Sicherheits- und Verfassungsschutzbehörden in Bund und Ländern in den vergangenen zehn Jahren mit erheblichen Geldmitteln ausgestattet wurden, um u. a. weit über 200 Islamwissenschaftler anzustellen, blieb der Bereich der primären und sekundären Prävention über einen langen Zeitraum nahezu mittellos. Erste Anzeichen eines Umdenkens sind erst seit wenigen Jahren zu erkennen. Mit den bislang bereitgestellten Mitteln (u. a. im Bundesprogramm „Demokratie leben“) ist es

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jedoch auch mit großem Engagement der Zuwendungsempfänger nicht möglich, eine auf Dauer angelegte effektive Präventionsarbeit aufzubauen. Hinzu kommt, dass die Mittelvergaben nach wie vor Befristungen unterliegen, die mit Sicherheit dazu führen werden, dass sinnvolle Projektansätze nicht weitergeführt werden können. Überdies ist unter den gegenwärtigen Förderbedingungen eine notwendige umfassende wissenschaftliche Evaluierung nicht in dem gebotenen Ausmaß möglich.

2.11 Fehlendes Wissen – fehlende Erfahrungen Soziale Prozesse und menschliches Verhalten können in der Regel nicht auf eindeutige Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zurückgeführt werden. Akteure der Präventionsarbeit isolieren und mutmaßen Korrelationen zwischen Risikofaktoren und versuchen auf der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse Handlungsstrategien zu entwickeln. Bröckling hat mit deutlichen Worten darauf hingewiesen, dass das Präventionswissen stets lückenhaft bleibt: „Wer vorbeugen will, weiß nie genug“ (Bröckling 2008, S. 43). Auch dieser Sachverhalt verweist auf ein schwer auflösbares Dilemma. Holthusen, Hoops und Lüders formulieren für eine seriöse Präventionsarbeit den Anspruch, dass diese auf einem „reflexiven und wissensbasierte[n] Fundament“ stehen müsse (Holthusen et al. 2011, S. 25). Aufgrund der eingangs erwähnten unklaren Wirkzusammenhänge ist es in vielen Präventionsprojekten schlecht um das „wissensbasierte Fundament“ bestellt. Leider kann dies auch in einem hohen Maß für die Radikalisierungsprävention konstatiert werden. In Deutschland gibt es bislang keine umfassenden wissenschaftlichen Studien, die Radikalisierungsverläufe neosalafistischer „Gefährder“ oder verurteilter Straftäter zum Gegenstand haben. Folglich gibt es keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse, auf deren Grundlage aussichtsreiche Handlungsstrategien entworfen werden könnten. Die Präventionsarbeit stützt sich daher fast ausschließlich auf unsystematische Beobachtungen, Kolportagen von Sozialraumakteuren (Lehrern, Sozialpädagogen etc.) und darauf aufbauenden Mutmaßungen. Sozialraumbezogene Forschungsprojekte, die unter anderem die Biografien von radikalisierten jungen Menschen und deren Umfeld analysieren, befinden sich erst im Anfang. Ein weiteres Problemfeld ist in der unzureichenden Ausbildung der Akteure in der Radikalisierungsprävention zu sehen. Zunächst muss konstatiert werden, dass in den meisten Präventionsprojekten Personal arbeitet, das über keine oder nur geringe Vorerfahrungen mit neosalafistisch geprägten Milieus verfügt. Als ein noch größeres Manko ist anzusehen, dass manche Akteure nur unzureichende

Radikalisierungsprävention in Deutschland – ein Problemaufriss

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pädagogische Fachkenntnisse haben. Ein Islamwissenschaftler ist mit Sicherheit in der Lage, neosalafistische Diskurse zu analysieren, er verfügt jedoch über kein pädagogisches Handlungswissen. Wie soll er angesichts dieser Tatsache ein Beratungsgespräch durchführen oder niedrigschwellige pädagogische Angebote konzipieren? Hier ist deutlich mehr verlangt als islamwissenschaftliche Expertise. Umgekehrt ist bei pädagogischen Fachkräften das Fehlen einer islamwissenschaftlichen Perspektive zu bemängeln. Schließlich muss in diesem Zusammenhang auch darauf verwiesen werden, dass es bislang innerhalb der Projekte keinen wissenschaftlich begleiteten Erfahrungsaustausch gibt, welcher der Optimierung der Präventionsformate dienlich sein könnte. Folglich werden Projektergebnisse – sofern sie überhaupt in Berichten festgehalten werden – keiner wissenschaftlichen Auswertung zugeführt.

3 Fazit Der Problemaufriss, der keineswegs den Anspruch erhebt vollständig zu sein, zeigt, dass die Radikalisierungsprävention ein voraussetzungsreiches und kompliziertes Unterfangen darstellt (Kiefer 2014). Aus der Praxisperspektive wäre zu wünschen, dass die Projekte und ihre verschiedenen methodischen Ansätze vermehrt in einen systematischen Austausch treten, der von externen wissenschaftlichen Einrichtungen begleitet wird. Nur so lassen sich pädagogische Konzepte, aber auch Interventionsinstrumente weiter entwickeln. Ferner könnte ein solches Netzwerk die Wissensbasierung des präventiven Handelns deutlich verbessern. Leider ist ein solches bundesweites Netzwerk derzeit nicht erkennbar. Bestehende Projekte wie das von der EU finanzierte Radicalisation Awareness Network binden nur einen kleinen der in Deutschland tätigen Projekte ein und stellen daher zu einem bundesweiten Netzwerk mit Fachsektionen zu allen Handlungsfeldern der Radikalisierungsprävention keine Alternative dar.

Literatur Bröckling, U. (2008). Vorbeugen ist besser … Zur Soziologie der Prävention. Behemoth. A Journal of Civilisation, 2008(1), 38–48. Ceylan, R., & Kiefer, M. (2013). Salafismus. Fundamentalistische Strömungen und Radikalisierungsprävention. Wiesbaden: Springer. Holthusen, B., Hoops, S., Lüders, C., & Ziegleder, D. (2011). Über die Notwendigkeit einer fachgerechten und reflektierten Prävention. Kritische Anmerkungen zum Diskurs. DJI Impulse. Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts, 2011(2), 22–25.

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Kiefer, M. (2014). Thesen zum Umgang mit der neosalafistischen Mobilisierung – Zwischen Hilflosigkeit und gezielter pädagogischer Intervention. In R. Ceylan & B. Jokisch (Hrsg.), Salafismus in Deutschland. Entstehung, Radikalisierung und Prävention. Frankfurt a. M.: Lang. Knauer, R. (2006). Prävention braucht Partizipation. KiTa spezial. 2006(3).https://www. kinder-beteiligen.de/dnld/praeventionbrauchtpartizipation.pdf. Zugegriffen: 7. Juli 2016.

Michael Kiefer,  Dr. phil., ist Islamwissenschaftler an der Universität Osnabrück. Darüber hinaus arbeitet er bei einem Düsseldorfer Jugendhilfeträger.

Dem politischen Salafismus wirkungsvoll begegnen: De-Radikalisierung, politische Bildung und pädagogische Prävention als Herausforderung Kemal Bozay

1 Einleitung Unter dem Dach des „Salafismus“ hat sich seit 2005 eine fanatische und gewaltbereite Spielart des Islamismus entwickelt, deren Anhänger vor allem muslimische Jugendliche sind. Durch missionierende „Da’wa“-Arbeit, mediale Präsenz, öffentliche Veranstaltungen, Koran-Verteilungsaktionen (Aktion „LIES!“), Hilfsaktionen, Gewaltbereitschaft, Protest und Provozierung von Konflikten fordern die verschiedenen salafistischen Jugendgruppen die gesamte Gesellschaft heraus und entwickeln eine religiöse Legitimation für eine zunehmend verhärtete ideologische Auseinandersetzung im globalen Kontext. Die jüngsten Entwicklungen in Paris, Suruç, Ankara, Istanbul und Brüssel zeigen, welche Folgen diese gewalttätigen Auseinandersetzungen zeitigen können. Die bisher im deutschsprachigen Raum veröffentlichten Untersuchungen versuchen einerseits die Anziehungskraft des Phänomens Salafismus mit Blick insbesondere auf junge Menschen zu erklären (vgl. Ceylan und Kiefer 2013; Dantschke 2014; El-Mafaalani 2014a; Toprak 2016), andererseits konzentrieren sich populäre Veröffentlichungen (vgl. Kaddor 2015; Mansour 2015; Schmitz 2016) auf die gegenwärtigen politischen Auswirkungen sowie die Gefahren des

K. Bozay (*)  Fachhochschule Dortmund, Dortmund, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Toprak und G. Weitzel (Hrsg.), Salafismus in Deutschland, Edition Centaurus – Jugend, Migration und Diversity, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25837-5_9

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Islamismus und Salafismus. Nahezu alle Publikationen stimmen darin überein, dass die zunehmende Dynamik des Salafismus hierzulande in erster Linie auf die politischen Entwicklungen im globalen Kontext und auf die sozialen Ursachen und Motive in der Aufnahmegesellschaft zurückzuführen sind. Dabei sind die Gründe innerhalb der Jugendgruppen vielfältig: die Anziehungskraft des in den Medien heroisierten Machtkrieges für den „Sieg des Islams“, die Suche nach kollektiver Identität und Gemeinschaft angelehnt an religiöse Werte, familiäre Krisen und Widerstände, Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen, Perspektivlosigkeit, schulisches und berufliches Scheitern u. v. m. Die salafistischen Bewegungen setzen gerade an diesen gesellschaftlich produzierten Ablösungsprozessen an und vermitteln den Jugendlichen eine neue Identität in der muslimischen Gemeinschaft (Umma), egal welche (stigmatisierenden) Erfahrungen sie im Alltag gemacht haben. Ihnen wird eine Ersatzidentität jenseits von Ethnie und sozialer Orientierung vermittelt, u. a. Zugehörigkeit, Geborgenheit, Orientierung und Spiritualität. In aktuellen Untersuchungen problematisieren Jugendforscher_ innen ebenso das Erscheinungsbild des Salafismus auch als eine neue Jugendkultur (vgl. El-Mafaalani 2014b; Dantschke 2014; Toprak 2016), die eine eigene Identität mit Sprachkodex, Riten, Mode, Trends, Liedern u. Ä. aufweist. Daher beschäftigt sich dieser Aufsatz mit den unterschiedlichen Präventionsund Interventionsstrategien zur Überwindung der Radikalisierung von muslimischen Jugendlichen insbesondere in salafistischen Milieus und geht in diesem Kontext auch auf verschiedene Konzepte der De-Radikalisierung, der politischen Bildung und pädagogischen Prävention ein.

2 Zur Dimension der „De-Radikalisierung“ Im Ursprung heißt „Radikalität“, politische, intellektuelle oder religiöse Positionen von der Wurzel her anzugehen, ohne Rücksicht auf mögliche Kompromisse zu nehmen. Radikalisierung jedoch bedeutet, ausgehend von gesellschaftlichen Konfliktlinien die zunehmende Hinwendung von Personen oder Gruppen zu einem kompromisslosen Beharren auf Grundpositionen, die gegenüber den Einstellungen und Werten anderer intolerant sind und demokratische Grundwerte ablehnen: „In gesellschaftlichen Konflikten bezeichnet Radikalisierung einen Prozess, in dem die Abgrenzung zwischen Gruppen zunehmend verschärft und mit feindseligen Gefühlen aufgeladen wird. Dieser Prozess ist zumeist verbunden mit einer Betonung der sozialen Identität, die durch die positive Bewertung der Eigengruppe und die Ablehnung einer anderen Gruppe verbunden ist“ (Eckert 2012, S. 10). Hierin gründet auch ein sehr wichtiges Grundphänomen

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der Ungleichwertigkeit, nämlich die Abwertung und Delegitimierung der anderen. Zur Durchsetzung eigener Ziele kann daher die Radikalisierung auch zur Anwendung von Gewalt führen. Im Kontext der Radikalisierungstendenzen bei muslimischen Jugendlichen machen El-Mafaalani (2014a) und Toprak (2016) auf die salafistische Radikalität als Jugendkultur aufmerksam und heben deren Wirkungsmechanismen hervor. So wird durch Radikalität die Komplexität der Welt stark reduziert und bietet die Aussicht, die Probleme „an den Wurzeln“ zu packen. Auf alltagspraktischer Ebene wird den Jugendlichen ebenso in Aussicht gestellt, zum einen durch die „kollektive Askese“ und zum anderen durch die „religiöse Nostalgie“ zu provozieren und zu protestieren. Gerade durch die Askese können Jugendliche zuvor gemachte Ohnmachtserfahrungen (Ausgrenzung und Diskriminierung) durch eine hohe Selbstwirksamkeitserfahrung ersetzen und gleichzeitig Zugehörigkeit zu einer kollektiven Gemeinschaft erleben. Die religiöse Nostalgie bietet dabei die Gelegenheit, sich nicht mit Zukunftsthemen zu beschäftigen, da die Zukunft (das Paradies) für die „wahren Gläubigen“ bereits gesichert sei (vgl. El-Mafaalani 2014a, S. 355 ff.). Unter De-Radikalisierung versteht man einen individuellen Prozess, bei dem eine radikalisierte Person ihr Bekenntnis und Engagement für extremistische Denk- und Handlungsweisen, insbesondere zur Befürwortung und Durchsetzung von Gewalt, aufgibt. Gleichzeitig werden hierzu auch Maßnahmen gezählt, welche das Ziel haben, Personen dazu zu bewegen und darin zu unterstützen, sich aus dem extremistischen Umfeld herauszulösen und extremistische Handlungen aufzugeben (disengagement) sowie entsprechende Denkweisen abzulegen (vgl. Abou Taam 2015). Der Verzicht auf Gewalt und Gewalt fördernde Handlungen bildet dabei den zentralen Punkt im De-Radikalisierungsprozess. Judy Korn und Thomas Mücke (2015, S. 30) machen auf eine differenzierte und aufeinander abgestimmte De-Radikalisierungsarbeit aufmerksam, die im pädagogischen Sinne folgende Aspekte mit einbeziehen müsste: • Beratung, Begleitung und spezifisches Training für radikalisierungsgefährdete junge Menschen im Vorfeld von Straffälligkeit • Intervenierende Maßnahmen in Fällen sich abzeichnender Radikalisierung • De-Radikalisierung, Beratung und Begleitung im Strafvollzug • Aussteigerbegleitung: Beratungs- und Dialogmaßnahmen mit Radikalisierten, Ausreisewilligen und Rückkehrern • Beratung für Angehörige in der Auseinandersetzung mit religiös begründetem Extremismus zur Erreichung der Zielgruppe.

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Von der De-Radikalisierung abzugrenzen sind vorbeugende Maßnahmen zur Verhinderung oder Eindämmung von Radikalisierung und zur Erreichbarkeit der gefährdeten Personen. Hierunter fallen konkrete Strategien, Handlungsmöglichkeiten und Programme, die das Ziel haben, die Gründe und Umstände ausfindig zu machen und zu beeinflussen, welche zur Radikalisierung führen.

2.1 Radikalisierungsprozesse in islamischen Milieus Peter Waldmann (2009) ist es in seiner Studie zur „Radikalisierung in der Diaspora“ gelungen, entscheidende Hypothesen vor dem Hintergrund der sozialen Meso- (Diaspora, Migration) und Mikroebene (individuelle Entwicklungsprozesse, Zusammenspiel von lokalen und globalen Ereignissen) zu formulieren. Waldmann betont, dass die „Eigendynamik sektenartiger Kleingruppen“ schärfer ins Blickfeld der Forschungen gerückt werden muss (vgl. Peter Waldmann 2009). Dabei unterscheidet er auf der Mesoebene zwischen den Pullund Push-Faktoren sowie den auslösenden Ereignissen: Zu den Pull-Faktoren zählen: • salafistische Ideologien – Dschihadisten als „radikalisierendes Ferment“ – al-Qaida als „Propagandastelle und Ideologie“ Als Push-Faktoren gelten: • fehlende soziale Integration – kulturelle Kluft zwischen Muslimen und Einheimischen – Islamfeindlichkeit im Westen Zu diesen Faktoren kommen auslösende Ereignisse hinzu, die den Radikalisierungsprozess unmittelbar in Bewegung bringen oder zu einem Gewaltausbruch führen, beispielsweise ein Karikaturenstreit oder ein Propagandavideo, welches die vermeintliche Unterdrückung von Muslimen zeigt. Auch die islamfeindliche Stimmung durch rechtspopulistische Bewegungen (AfD, Pro NRW u. Ä.) provoziert den Radikalisierungsprozess. Auf der Mikroebene zeigen sich Identitäts- und Persönlichkeitskrisen als auslösende Faktoren für Radikalisierungsprozesse. Dies betrifft vor allem junge Menschen, die in ihrer Sozialisation auf der Suche nach dem Sinn des Lebens sind. Hinzu kommen Ausgrenzungs- und Stigmatisierungserfahrungen sowie

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familiäre Ablösungsprozesse. In dieser „besonderen“ Situation sind Jugendliche besonders anfällig für salafistische Ideologien und deren Propaganda. Auch die neuen Medien wie Internet, Social Web, Youtube u. ä. bieten vielfältige Möglichkeiten für die individuelle „Selbstradikalisierung“ bei Jugendlichen (vgl. Logvinov 2014, S. 114 f.). Oftmals findet hier die Radikalisierung Einzelner im Gruppenkontext statt. Die Gruppe oder Clique verschmilzt zu einer „brüderlichen Gemeinschaft“, in der das „Wir-Gefühl“ wächst. „Die Gruppe wird somit zum Resonanzraum für eine sakrale Botschaft und zur Trägerin einer wichtigen Mission“ (Logvinov 2014, S. 116). Die Gruppenidentität überschattet in den salafistischen Milieus die individuellen Identitäten mit allen ihren Schwächen. Abou Taam konstatiert: „Die salafistische Gruppe hat eine eigene Gruppenkultur mit spezifischen Traditionen und Werten, die prinzipiell totalitär sind und vom Einzelnen die absolute Solidarität mit der Gruppe in ihrer Gesamtheit, nicht unbedingt mit dem einzelnen Individuum verlangen“ (Abou Taam 2015, o. S.). Deshalb wird innerhalb der salafistischen Strukturen der Außenkontakt sanktioniert und verhindert, um eine Identität im Kollektiv herzustellen: „Je stärker sich eine Person in die Gruppe eingliedert, umso weiter entfernt sie sich von ihrer ursprünglichen Lebenswelt“ (Abou Taam 2015, o. S.), wird indoktriniert, in die Hierarchie eingebunden und unterliegt einer totalen Kontrolle.

2.2 Radikalisierungsverläufe bei Jugendlichen Radikalisierungsprozesse sind komplex und zeigen sich auf unterschiedlichen Ebenen, sie haben sowohl eine individuelle als auch eine gruppenbezogene Facette. Folgende Beispiele zeigen, wie im gesellschaftlichen Kontext Radikalisierungsverläufe mit den individuellen und gruppenbezogenen Lebensgeschichten der Jugendlichen einhergehen: Tarek (19 Jahre) hatte ein intaktes familiäres Leben, bis sich vor zwei Jahren die Eltern getrennt haben. Seitdem lebt er bei der Mutter und hat ein angespanntes Verhältnis zu ihr. Kontakt zum Vater hat er kaum. Hinzu kommt, dass sich seine Schulleistungen verschlechtert haben, sodass er den Hauptschulabschluss nicht geschafft hat. Seitdem ist der arbeitslos. Über seine Freunde bekam er Kontakt zur salafistischen Szene in Mönchengladbach. Hier fühlt er sich akzeptiert, geborgen und aufgehoben. Er hält sich nur noch bei seinen salafistischen „Brüdern“ auf und möchte mit anderen Jugendlichen zusammen nach Syrien, um an der „IS-Front“ gegen die „globale Ungerechtigkeit“ zu kämpfen. Seine Mutter ist ratlos und weiß nicht, wie sie die Radikalisierung von Tarek verhindern kann.

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Manuela ist 19 Jahre alt und hat große Probleme mit ihrem Vater. Nachdem ihre Mutter gestorben ist, hat sie sich mehr und mehr zurückgezogen und den Kontakt zu Freunden und zur Familie abgebrochen. Sie vertraut sich nur noch Aicha an, einer sehr guten Freundin. Durch Aicha wird sie für den Islam begeistert und gewinnt dadurch in ihrem Leben einen neuen Ankerpunkt. Sie lernt Abdul kennen und konvertiert zum Islam. Gemeinsam mit ihrem Freund Abdul flüchtet sie nach Syrien. Der Vater ist betroffen und hat keinen Kontakt mehr zu seiner Tochter. Auf ihrem Schreibtisch findet er einen Brief vor, in dem sie sich von ihm verabschiedet und ihren Wunsch zum Ausdruck bringt, in Syrien ein muslimisches Leben zu führen. Außerdem hätte ein Imam sie mit Abdul verheiratet. Ahmet (17 Jahre), türkeistämmiger Schüler eines Berufskollegs in Dinslaken und Muslim, zieht sich stark zurück und verhält sich auffällig, teilweise auch sehr aggressiv. Er erzählt den Lehrern, dass er in der Türkei eine religiöse Ausbildung absolvieren muss, um in Syrien gegen die Ungläubigen (kufr) kämpfen zu können. Dies löst im Lehrerkollegium heftige Diskussionen aus. Zeitgleich kontaktiert Ahmets Mutter den Klassenlehrer und berichtet, dass ihr Sohn in letzter Zeit sehr aggressiv sei und sie geschlagen habe. Darüber hinaus erzählt sie, dass Ahmet sich regelmäßig mit Jugendlichen aus salafistischen Milieus trifft und sein Verhalten geändert hat. Zu Hause schwärmt er für die Siege des „IS“ und zeigt sich interessiert, diesen Krieg aktiv zu unterstützen. Die Mutter ist sehr besorgt und vermutet, dass Ahmet untertauchen und nach Syrien ausreisen wird. Die Schule wendet sich an den Staatsschutz, der aktiv wird und Ahmets Wohnung durchsucht. All dies löst bei Ahmet Widerstand aus und er taucht unter. Abdul (19 Jahre) saß wegen mehrerer Raubdelikte und Körperverletzung zwei Jahre im Jugendvollzug. Dort lernte er Jugendliche aus der salafistischen Szene kennen. Nach einer Gewaltkarriere suchte er nach einer Legitimation für seine Radikalität und seinen Hass. Neuerdings identifiziert er sich mit den salafistischen Idealen und strebt nach dem „wahren Islam“. Er sieht darin einen neuen radikalen Weg. Als er aus dem Jugendvollzug entlassen wird, holen ihn Freunde aus der salafistischen Szene ab. Er wohnt bei ihnen, verbringt seine gesamte Zeit mit ihnen und fühlt zum ersten Mal in seinem Leben Wärme und Geborgenheit. Hier entwickelt er eine neue muslimische Identität und möchte nun nach Syrien ausreisen. Die oben skizzierten verschiedenen biografischen Entwicklungen, die bei verschiedenen Anlässen der Beratungsarbeit und der Bildungsarbeit mit Lehrer_ innen, Pädagog_innen und Sozialarbeiter_innen berichtet wurden, zeigen, dass die Radikalisierung bei Jugendlichen keineswegs linear verläuft. Sie skizzieren keinen

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einheitlichen Verlauf und sind in ihren biografischen Auswirkungen sehr unterschiedlich. Das Verbindende ist jedoch die Suche nach einer neuen Identität, die religiös legitimiert wird und einen neuen Ankerpunkt ausmacht. Korn und Mücke (2015) stellen ebenso fest, dass in den empirischen Betrachtungen verschiedener Radikalisierungsverläufe bei Jugendlichen, die nach Syrien ausreisten oder ausreisen wollen, kein einheitliches Bild existiert: „Das Alter variiert, der Bildungsgrad ist unterschiedlich, ein Großteil der Ausreisenden, die nicht mehr zur Schule gingen, lebte in prekären Einkommensverhältnissen. Die überwiegende Mehrzahl der Ausgereisten hat einen Migrationshintergrund in dem Sinne, dass sie oder mindestens ein Elternteil im Ausland geboren sind. Einige von ihnen sind Konvertiten“ (Korn und Mücke 2015, S. 26). Allen gemeinsam ist, dass diese biografischen Entwicklungen und Verläufe einen kausalen Zusammenhang zwischen Radikalisierungsprozessen und negativen Erfahrungen des Scheiterns in vielen Lebenszusammenhängen (familiäre Krisen, schulische Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Diskriminierungs- und Marginalisierungserfahrungen u. Ä.) sowie der Mobilisierung und Ideologisierung durch Personen aus dem Umfeld (Freunde, Familienmitglieder, Bezugspersonen) herstellen. Dabei bezieht sich ein wesentlicher Aspekt der Radikalität bei Jugendlichen auf die Rolle und Interpretation des Islams. Nach Logvinov (2014, S. 118 f.) lassen sich hierbei zwei Argumentationsstränge im Radikalisierungsprozess hervorheben: • Der vertikale Ansatz stellt einen Zusammenhang zwischen Radikalisierungsprozessen und dem Islam her. Logvinov stellt hier die These auf, dass die salafistische Ausrichtung relevante Radikalisierungsfaktoren bei Muslimen fördert. Er stellt dar, dass die ideologische Radikalisierung ein Teil der theologischen Radikalisierung sei, wobei der Islam als Legitimationsquelle, die salafistische Ideologie als Schlüssel und die Indoktrination als Rekrutierungsstrategie gelten. • Der horizontale Ansatz behandelt die islamische Radikalisierung als eine neue Protestform des Anti-Imperialismus unter dem Deckmantel der Religion, der auch in Europa eine Verbreitung hat. Die Herausforderung im pädagogischen Kontext besteht also darin, gemeinsam für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sorgen und den Polarisierungsversuchen derer, die ihre menschenverachtenden und extremistischen Einstellungen religiös begründen, präventiv entgegenzuwirken.

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3 Politische Bildung und pädagogische Prävention als Herausforderung Präventionskonzepte gegen islamistische und salafistische Ungleichwertigkeitsideologien folgen in diesem Kontext einem bestimmten Handlungsmuster und haben das Ziel, frühzeitig zu erkennen und zu handeln: „Prävention hat ganz allgemein die Aufgabe, mögliche Problemlagen frühzeitig zu identifizieren, bestehende und mögliche Risiken kritisch einzuschätzen und auf der Grundlage dieser Einschätzungen spezifische Vorsorgemaßnahmen zu ergreifen“ (Ceylan und Kiefer 2013, S. 100 f.). Einen wichtigen präventiven Ansatz bietet dabei das Konzept der politischen Bildungsarbeit, das sehr eng mit dem Aspekt der Aufklärungsarbeit in Verbindung gestellt werden muss. Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass pädagogische Bildungskonzepte eine Politik gegen islamistische und salafistische Einstellungen nicht ersetzen können, aber dennoch eine flankierende bzw. ergänzende Funktion innehaben können.

3.1 Pädagogische Präventionsansätze in der Arbeit mit Jugendlichen In der Radikalisierungsprävention werden gegenwärtig zwei klassische Modelle zur Systematisierung und Differenzierung von Präventionskonzepten eingesetzt: Das klassische Präventionsmodell des Psychiaters Caplan (1964) entwickelte sich aus der Sucht- bzw. aus der Gesundheitsprävention und wurde in die Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention unterteilt. Dieses Modell wurde 1996 von Munoz, Mrazek und Haggarty in Anlehnung an Gordon (1983) weiterentwickelt und ausdifferenziert. Es wird dabei zwischen universeller (universal) und gezielter (targeted) Prävention unterschieden. Universelle Prävention richtet sich in erster Linie an Personen ohne Auffälligkeiten oder erhöhte Risiken für Verhaltensauffälligkeiten. Gezielte Prävention lässt sich in selektive Prävention und indizierte Prävention differenzieren: Dabei ist die selektive Prävention auf bestimmte Zielgruppen ausgelegt, welche sich durch eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung bestimmter Probleme auszeichnen. Wohingegen sich indizierte Prävention an diejenigen Personen richtet, die bereits eine geringe Ausprägung des Problems oder Vorläuferprobleme aufweisen (vgl. Beelmann und Raabe 2007, S. 131). Rauf Ceylan und Michael Kiefer (2013) unterscheiden drei Formen der Radikalisierungsprävention: Primäre Prävention: Die „primäre“ Prävention richtet ihre Maßnahmen nicht auf eine bestimmte Zielgruppe, sondern beabsichtigt, alle gesellschaftlichen Gruppen anzusprechen, wobei es dabei mehr um die Stabilisierung und Festigung

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der Lebensbedingungen von jungen Menschen geht. Wichtige Stationen dieser Prävention sind beispielsweise die Schule oder Jugendeinrichtungen (vgl. Ceylan und Kiefer 2013, S. 111). Sekundäre Prävention: Die „sekundäre“ oder auch selektive Prävention beschäftigt sich mit Angeboten für Menschen mit einer „belasteten“ Lebenssituation oder mit definierten Risikofaktoren. Hierbei handelt es sich vor allem um präventive Angebote wie beispielsweise die „Beratungsstelle Radikalisierung“, die Berliner Beratungsstelle „Hayat“ sowie die Bochumer Beratungsstelle „Beratungsnetzwerk für Toleranz und Miteinander“ (vgl. Ceylan und Kiefer 2013, S. 112 f.). Hierzu zählen zweifelsohne auch die landesweiten Präventionsprogramme wie „Wegweiser NRW“ oder das „Hessische Präventionsnetzwerk gegen Salafismus“. Tertiäre Prävention: Schließlich bleibt die „tertiäre“ oder auch „indizierte“ Prävention zu erwähnen, welche sich grundsätzlich an Menschen in manifesten Problemlagen richtet und die weitere Eskalation zu verhindern sucht. Menschen sollen aus der Sucht, Gewalt, Kriminalität oder auch aus gewaltbereiten extremistischen Bewegungen herausgelöst werden und es soll dafür Sorge getragen werden, dass sie ihr Leben ohne weitere Delinquenz gestalten. Diese Art der Prävention ist die schwierigste, da es oft aufwendig und mühsam ist, Zugang zu den Zielpersonen zu bekommen (vgl. Ceylan und Kiefer 2013, S. 114). Den salafistischen Milieus gelingt es, gezielt in die biografischen Verläufe von Jugendlichen am Übergang ins Erwachsenenleben einzugreifen. In dieser sensiblen Lebensphase identifizieren die salafistischen Prediger vorhandene Defizite und Leerstellen im Leben junger Menschen und besetzen sie mit religiös-radikalen Inhalten. Hier wäre es notwendig, in der Jugend- und Sozialforschung Antworten auf die Frage zu finden, wie Jugendarbeit gegenwärtig strukturiert und mit welchen Inhalten sie gefüllt werden muss, um Jugendliche trotz aller individuellen und gesellschaftlichen Belastungsfaktoren zum Initiator eines selbstbestimmten und lebenswerten Lebens zu befähigen. Im Bereich der primären und sekundären Radikalisierungsprävention kann insbesondere die Kinder- und Jugendhilfe einen gewichtigen Beitrag zur Prävention leisten. In der Jugendhilfe können daher drei Handlungsfelder beschrieben werden: 1. ressourcenorientierte Projekte, die insbesondere auf eine Stärkung der Ambiguitätstoleranz und Dialogkompetenz zielen 2. eine intervenierende Präventionsarbeit, die unter Einbindung des familiären und sozialen Umfelds in zu beobachtende Radikalisierungsabläufe eingreifen kann 3. eine umfassende Beratungsarbeit, die sich an Eltern, Angehörige, Lehrer_ innen oder Mitarbeiter_innen von institutionellen und sozialen Einrichtungen richtet.

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Junge Menschen müssen in erster Linie jedoch das Gefühl von Akzeptanz, Zugehörigkeit und Selbstwert erhalten und erfahren. Sie müssen in ihren Fragen, Wünschen und Ängsten ernst genommen werden. Diesen Raum zu bieten ist Aufgabe von Schule, Jugendarbeit und Elternhaus. Grundsätzlich sollte eine Haltung von Respekt und Empathie gegenüber religiös eingestellten Jugendlichen eingenommen werden. Mit dieser Haltung kann kontrovers und kritisch mit Jugendlichen über alle Lebenslagen und religiösen Einstellungen diskutiert werden. Muslimischen Jugendlichen sollte nicht das Gefühl vermittelt werden, ihre Religion werde grundsätzlich infrage gestellt. Das würde sie auch nicht in die Lage bringen, ihre Religion gegenüber Nichtmuslimen verteidigen zu müssen (vgl. Dantschke 2014, S. 490). Auch Wensierski und Lübcke (2007) stellen dar, dass Jugendliche muslimischer Herkunft, selbst ohne Bezug zur eigenen Religion durch Stereotype und Vorurteile gegenüber dem Islam sowie die Stigmatisierung als Muslim ausgegrenzt und marginalisiert werden und infolgedessen Radikalisierungstendenzen und -einstellungen entwickeln. Daher müssen Erwachsene gerade in der Jugendarbeit in der Lage sein, sich auf Augenhöhe mit den Jugendlichen auf Diskussionen über Religion wertfrei und kontrovers einzulassen. Vor allem aber sollten Eltern, Lehrer_innen, Sozialarbeiter_innen und Multiplikator_innen selber als Vorbild fungieren, ein offenes, tolerantes und pluralistisches Weltbild haben und verteidigen, denn dies ist für junge Menschen auf Dauer attraktiver und überzeugender als rigide Regeln und eine einseitige ideologisierte Einstellung (vgl. Dantschke 2014, S. 493). Sozialarbeiter_innen können in den zahlreichen Projekten und Initiativen als kulturell ausgebildete Multiplikator_innen aktiviert werden, die für die verbesserte Partizipation von Muslimen tätig werden und die Zusammenarbeit zwischen Migrationsverbänden und kommunalen Institutionen fördern. Sie können auch runde Tische inszenieren und begleiten, themenbezogene Bildungsangebote, Fortund Weiterbildungen initiieren. Durch ihr Wissen in kulturellen Fragen und durch ihre pädagogische Affinität können sie Lehrer_innen und Schüler_innen gleichermaßen unterstützen und sensibilisieren. Sie können Schüler_innen bei der Orientierung in Bezug auf Lebens- und Weltanschauung beratend zur Seite stehen. Die Radikalisierungsprävention in der Schule zeigt sich als mit Abstand wichtigstes Handlungsfeld. Daher müssen sich die präventiven Angebote im schulischen Kontext auf einen stärkenorientierten Ansatz konzentrieren und die Jugendlichen – egal welcher Nationalität, Kultur oder Religion – da abholen können, wo sie sind. Vor diesem Hintergrund sollten Schulen ihre Rolle als Institutionen der Vermittlung von demokratisch-pluralistischen Werten und Einstellungen stärker nutzen.

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So kann die Schule als wichtige gesellschaftliche Institution über einen längeren Zeitraum die Entwicklung und Sozialisation von jungen Menschen nachhaltig beeinflussen, denn neben der Bildung muss die Schule auch grundlegende demokratische und partizipative Kompetenzen vermitteln, damit junge Menschen lernen, einander vorurteilsfrei zu begegnen, und es ihnen gelingt, die Werte, Lebenseinstellungen und religiösen Ansichten unterschiedlicher Kulturen und Glaubensrichtungen kennenzulernen und zu reflektieren, um eine Grundlage für ein friedliches Miteinander zu entwickeln. Hier geht es auch darum, einerseits (selbst-)bewusst mit unterschiedlichen kulturellen und religiösen Einstellungen umzugehen und andererseits einen kritischen Umgang mit demokratieresistenten Einstellungen von Jugendlichen (die teilweise auch religiös, kulturell und/oder ethnisch legitimiert werden) zu entwickeln. Dabei reicht es nicht allein mit dem Motto „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ Gesinnung zu dokumentieren, sondern diese Inhalte müssen im schulischen Kontext als Grundlage des Miteinanders festgelegt und im schulischen Alltag erlebbar gemacht werden. Neben klassischer Bildung bietet die Schule die Vermittlung von wichtigen zivilgesellschaftlichen Kompetenzen, wie Toleranz und Respekt vor anderen Menschen, Kulturen und Religionen. Jugendliche sollen für die pluralistische Gesellschaft einstehen und an einem friedlichen Zusammenleben mitwirken. Die Schüler_innen sollen in der Lage sein, den fundamentalistisch-extremistischen Einstellungen kritisch und reflektiert zu begegnen und für ein selbstbestimmtes und demokratisches Weltbild einzutreten. Neben dem Politik-, Pädagogik- und Geschichtsunterricht sind der Religions-, Ethik- und Philosophieunterricht, aber auch die klassischen Unterrichtsfächer wichtig, um demokratische Grundwerte und Wissen über unterschiedliche Religionen und Weltanschauungen zu vermitteln. Auch aufseiten der Lehrerschaft wäre ein fundiertes Fachwissen in diesem Themenfeld wünschenswert. Vor allem die Medienkompetenz bei Lehrkräften weist einen hohen Bedarf an qualifizierten Fortbildungsmaßnahmen auf. Lehrkräfte müssen in der Lage sein, islamistische Propaganda auch im Internet aufzuspüren und mit angemessenen pädagogischen Mitteln zu intervenieren. Betrachtet man die anhaltende Ausreisewelle insbesondere von muslimischen Jugendlichen nach Afghanistan, Syrien oder in den Irak, muss man sich die Frage stellen, ob pädagogische Institutionen, Einrichtungen und Schulen die bestehenden Problemlagen angemessen wahrnehmen, reflektieren und nachhaltig bearbeiten können. Gerade Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter_innen sehen sich gegenwärtig mit einem immer weiter wachsenden Aufgabenfeld konfrontiert, obwohl die personellen und finanziellen Ressourcen weiterhin sehr begrenzt bleiben. Eine ideal funktionierende Radikalisierungsprävention in der Schule umzusetzen ist unter den heutigen Umständen kaum möglich. Daher werden nach

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Kiefer (2015) mittelfristig zusätzliche personelle Mittel und insbesondere eine gute Vernetzung benötigt: „Es bedarf gemeinsamer konzeptioneller Überlegungen und letztendlich einer abgestimmten Präventionsstrategie, die sich auf der alltäglichen Agenda der schulrelevanten Akteure niederschlägt.“ Zuletzt steht nach Kiefer (vgl. Kiefer 2015) auch die wissenschaftliche Fundierung der benötigten Präventionsarbeit im Raum, damit die Praxis, Methoden und Instrumente und Prozesse optimiert werden können.

3.2 Präventionen durch politische Bildung In der Diskussion über mögliche Gegenstrategien, Prävention, alternative Handlungs- und Interventionsmöglichkeiten zum Themenfeld „Islamismus“ und „Salafismus“ gewinnt auch der Ansatz einer politischen Bildungsarbeit immer deutlicher an Gewicht (vgl. Bozay 2016). Auf die Bedeutung der politischen Bildung wird gegenwärtig immer nur dann verwiesen, wenn „Gefahr und Gefährdung der Demokratie“ besteht. Die politische Bildung nimmt gerade in solchen Situationen vielfach die Rolle der „Feuerwehr“ ein (vgl. Hafeneger 2000, S. 269). Wenn die politische Bildung ihrer Bedeutung wirklich gerecht werden möchte, sind daher Kontinuität, Stetigkeit, vor allem aber die Entwicklung und Ausarbeitung differenzierter Ansätze notwendig. Andreas Zick und Anna Klein (2014) haben sich in ihrer Studie „Fragile Mitte – feindselige Zustände“ mit den demokratiefeindlichen Einstellungen in Deutschland auseinandergesetzt und fünf „Bruchstellen“ hervorgehoben: „1. Rechtsextreme Orientierungen und Einstellungen zum Rechtsextremismus; 2. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit; 3. Distanzen zur Demokratie; 4. Kalte ökonomische Haltungen zum Sozialleben; 5. Feindliche Gesinnungen gegen die europäische Einheit und andere Länder“ (Zick und Klein 2014, S. 139). Zweifelsohne gehören im Kontext der Ungleichwertigkeitsideologien auch die Aspekte „Islamismus“ und „Salafismus“ zu diesen „Bruchstellen“. Nicht jede dieser „Bruchstellen“ kann im Einzelnen per se als rechtsextrem oder islamistisch betrachtet werden, doch jedes dieser Erscheinungsbilder kann unter verschiedenen gesellschaftlichen Umständen zu einer Schnittstelle zum Rechtsextremismus oder Islamismus führen und somit den Rahmen für eine antidemokratische Denkweise bilden. Die politische Bildung hat gerade in diesem Prozess die Schlüsselaufgabe, diese Zusammenhänge zu analysieren und durch vielfältige Bildungsangebote mit und für Pädagog_innen, Sozialarbeiter_innen, Erzieher_innen, Multiplikator_innen u. a. deutlich zu machen. Ferner soll daraus ein Handlungsansatz für eine demokratische Zivilgesellschaft gefördert werden (vgl. Lützenkirchen 2015, S. 39).

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Da die politische Bildung im gesellschaftlichen Bildungsprozess einen wichtigen Platz einnimmt, kann sie viele gesellschaftspolitische Akteure bewegen, damit sie einen Beitrag zur Gefahrenabwehr von antidemokratischen Tendenzen aller Couleurs leisten. Sie hat hier vor allem die Aufgabe, alle gesellschaftlichen Akteure und Multiplikator_innen aufzuklären und zu befähigen, sowohl über die gesellschaftspolitischen Auswirkungen nachzudenken als auch das antidemokratische Denken und Handeln des gewaltbereiten Islamismus und Salafismus zu erkennen sowie Möglichkeiten des zivilgesellschaftlichen Handelns zu fördern. Den Kern der politischen Bildung als Vermittler von „selbstgesteuerten Lernund Wissensangeboten“ stellt Benno Hafeneger wie folgt dar: Politische Bildung hat einen spezifischen Kern und originell-abgrenzbare Inhalte im Spektrum der vielfältigen institutionell organisierten und selbstgesteuerten Lernund Wissensangebote. Sie dechiffriert und klärt auf über das Politische in den Prozessen, Krisen und Entwicklungen von Ökonomie, Politik, Gesellschaft und Kultur; sie nimmt vordenkend und nachdenklich zukunftsorientierte Folgeabschätzungen vor. Ihr Bemühen ist rationaler und kritischer Aufklärung sowie der Herstellung von Handlungsfähigkeit in humaner und demokratischer Perspektive verpflichtet ­(Hafeneger 2000, S. 272).

Daher soll die politische Bildung – aus der Perspektive vieler politischer und gesellschaftlicher Akteure – einen Beitrag zur Gefahrenabwehr gegen alle demokratiefeindlichen Einstellungen und Tendenzen leisten. Die politische Bildung in Deutschland hält vor allem auf dem Gebiet der Rechtsextremismusprävention und der De-Radikalisierung umfangreiche Angebote bereit. So können die Bundeszentrale für politische Bildung, aber auch die Landeszentralen für politische Bildung eine Vielzahl von Maßnahmen und Programmen vorweisen, die zur Präventionsarbeit dienen. Im Umgang mit religiös begründetem Extremismus und dem gewaltbereiten Salafismus sind die gegenwärtigen präventiven Maßnahmen und Angebote jedoch begrenzt.1 Ein wesentliches Moment der politischen Bildung bildet der Aspekt der Freiwilligkeit. Bildungsangebote können nur dann wahrgenommen werden, wenn die Teilnehmer sie annehmen, sich also auf freiwilliger Basis bereit erklären, „lernen zu wollen“: sich auf die vorgeschlagenen Inhalte einlassen können, am

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positiven Sinne muss hier auf das Online-Angebot www.ufuq.de (gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung) hingewiesen werden, das eine gelungene Informationsarbeit leistet.

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Lerngegenstand interessiert sind, ihn für sich selbst als relevant erleben. Ist dies nicht der Fall, vermag die politische Bildung nichts zu erreichen, denn hier wird nicht „beigebracht“ oder „zu etwas erzogen“, sondern hier wird „angeregt“. Der motivierende Aspekt der politischen Bildung ist insofern wichtig, als er auf die Methodik verweist, die die Grundlage der politischen Bildung darstellt. Ebenso ist nochmals darauf hinzuweisen, dass die Themen der politischen Bildungsarbeit gesellschaftliche Relevanz und Aktualität aufweisen sollten. Im Rahmen der in dieser Forschungsarbeit skizzierten Problemkonstellation ist es von Bedeutung, die politische Bildungs- und Aufklärungsarbeit als ein zentrales Element zu verstehen. Die politische Bildungs- und Aufklärungsarbeit sollte sich dabei nicht allein darauf konzentrieren, nur Betroffene, also Jugendliche aus den Milieus des gewaltbereiten Salafismus, sondern auch Lehrer_innen, Pädagog_innen, Sozialarbeiter_innen, Erzieher_innen u. a., die im Alltag mit diesem Problem konfrontiert sind, anzusprechen. Gerade Schulen, Jugend- und Sporteinrichtungen kommt hier eine wichtige Bedeutung zu. Auch für die Biografieentwicklung, Lebensentscheidung und die Ausprägung tragfähiger und langfristiger Mentalitäten kann politische Bildung eine erhebliche Bedeutung haben. „Sie kann zu Erfahrungen mit Repräsentanten, mit Vor- und Leitbildern führen, die als integer, ehrlich und glaubwürdig erlebt werden“ (Hafeneger 2000, S. 276). Zugleich stellt sich hierbei auch die Frage, wie in Schulen oder pädagogischen Einrichtungen jenseits bildungspolitischer Entscheidungen mit salafistischen oder islamistischen Einstellungsprofilen, Kollektivsymbolen (das Tragen von Abzeichen, Symbolen) und Organisationsformen umgegangen werden soll. Die Antwort ist so widersprüchlich und vielfältig wie das Thema selbst. In der Jugendforschung wird häufig auch davor gewarnt, bestehende Differenzen zwischen Jugendlichen zum Thema zu machen, weil jede Thematisierung von Unterschieden zugleich zu einer Stigmatisierung führen kann. Man tue Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund keinen Gefallen, wenn man ihnen öffentlich eine ethnische Zugehörigkeit zuschreibe. Im Rahmen des sozialen Lernens sollen Empathie, Solidarität und Konfliktfähigkeit eingeübt werden. Diese Lernprozesse setzen im pädagogischen Handlungsfeld eine Analyse der Probleme und Konflikte voraus: a) Gerade muslimische Jugendliche werden sowohl in pädagogischen Konzepten als auch im medial-öffentlichen Diskurs häufig negativ etikettiert. Migrant_innen dürfen daher nicht als Objekte behandelt werden, sie müssen als Subjekte in Erscheinung treten. Es sollte darauf geachtet werden, dass sich Demokratiekompetenz nicht auf eine moralisierende Perspektive reduziert wird oder dass nicht statt Empathie lediglich Mitleid erzeugt und damit nur

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eine verfeinerte, gesellschaftlich akzeptable Form der Diskriminierung eingeübt wird. b) Konflikte sind sozialer und politischer Natur. Schule kann zwar politische Bildungs- und Präventionsarbeit leisten, doch die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Probleme können nicht im Klassenzimmer, in der Bildungseinrichtung, im Jugendzentrum u. Ä. gelöst werden. Die Schule kann Verständnis für globale Zusammenhänge, für soziale und ökonomische Hintergründe eines Problems wecken, aber sie kann keine politischen Lösungen ersetzen. c) Es ist notwendig, dass Betroffene selber zu Wort kommen, d. h. von den Mitschüler_innen auch gehört werden sollen, so „dass explorative Ansätze gewählt werden, die eher theoriegenerierend als überprüfend sind und nicht mit vorgegebenen Begrifflichkeiten und Forschungsdesigns und -methoden die Lebenswirklichkeit in unzulässiger Weise verengen“ (Skubsch 2002, S. 343). Im Rahmen einer multiperspektivischen Allgemeinbildung können die sozialen und politischen Ursachen des Salafismus insbesondere unter Migrationsjugendlichen untersucht werden. Dabei können auch dahinterstehende Kausalzusammenhänge, Hintergründe und Motive erforscht und verdeutlicht werden. Mangelnde oder defizitäre Verständnisse für sozio-ökonomische und politische Zusammenhänge führen häufig zur Verunsicherung von Sozialarbeiter_innen, Sozialpädagog_innen, Lehrer_innen und Erzieher_innen. Deshalb ist es notwendig, Hintergründe und Zusammenhänge aus verschiedenen Perspektiven auch bildungspolitisch zu vermitteln und alternative Möglichkeiten zur Verhinderung salafistischer Einstellungen und Betätigungsformen zu entwickeln. Als wichtige Impulse für eine multiperspektivische Bildungsarbeit können deshalb gelten: • Antirassistische und interkulturelle Praxisansätze sollten in ihren Inhalten jede mögliche Form von Islamismus, Salafismus und Rechtsextremismus zwar ablehnen, aber die Jugendlichen dabei nicht vorschnell etikettieren. Viele Jugendliche sind sich nicht bewusst, welche ideologischen Konstellationen sich hinter diesen Bewegungen und Organisationsformen verbergen. Meist sind es Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen, die sie zur Suche nach Gemeinschaften drängen, in der ihre Identitäts- und Zugehörigkeitsdiffusion scheinbar überwunden wird. Aber auch familiäre und gruppenspezifische Motive und Bruchstellen führen dazu, dass islamistische und salafistische Bewegungen als Anlaufstelle fungieren. • Inter- und transkulturelle Handlungskompetenz als Herausforderung erfordert nicht nur die Auseinandersetzung mit „anderen“ Kulturen, sondern auch die

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Reflexion der „eigenen“ Kultur. Daher ist eine „kulturelle Selbstanalyse“ als Voraussetzung zum Verstehen von Menschen „aus anderen Kulturen“ wichtig. Öffentlich-mediale Diskurse müssen in diesem Zusammenhang dazu beitragen aufzuklären, Vorurteile und Stereotypen abzubauen bzw. diese kritisch zu reflektieren (vgl. Fischer et al. 2009). • In Bildungs- und Jugendeinrichtungen sowie im Unterricht könnte man anhand von Zeitungsartikeln, Dokumenten, Filmen u. ä., die die Problematik behandeln, Zuschreibungen (wie „kriminell“, „terroristisch“, „wild“ u. a.) genauer untersuchen, um heterostereotypen Fremdethnisierungsansätzen entgegenzuwirken. Die grundsätzlichen Anforderungen an ein mögliches Präventionsmodell lauten: a) Soziale Identität von Jugendlichen mit Migrationshintergrund wahrnehmen und fördern. Ihre kulturellen Werte und Eigenschaften als Bereicherung anerkennen! b) Dialog und Kompromissbereitschaft entwickeln, fördern und unterstützen! c) Konflikte lösen und Konfliktlösungsstrategien entwickeln! d) Jugendliche mit Migrationshintergrund in ihren beruflichen, schulischen und gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten fördern, entwickeln und Optionen der Partizipation bereitstellen! Eine Verbesserung der Lebenswelten und -einstellungen Jugendlicher mit Migrationshintergrund ist nicht nur eine Herausforderung für Bildungs- und Freizeiteinrichtungen (Schule, Jugendsozialarbeit u. Ä.), sondern benötigt auch eine gemeinsame Verantwortung in einer offenen demokratischen und interkulturellen Gesellschaft.

4 Schlussfolgerungen Die politische Bildungsarbeit und pädagogische Prävention sowie Intervention im Kontext der Hinwendung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu salafistischen Bewegungen stellt gegenwärtig eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung dar, die verschiedene Faktoren und Ausgangsbedingungen berücksichtigen muss. Hier gilt es insbesondere Jugendliche unterschiedlicher Herkunft, Kultur und Religion abzuholen, ihnen im gesellschaftlichen Zusammenhang Raum für Lebensperspektiven, Partizipation und Zugehörigkeit zu ermöglichen. So gibt es im pädagogischen Zusammenhang unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten,

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um Radikalisierungsprozessen bei Jugendlichen präventiv zu begegnen und einen Umdenkungsprozess zu fördern. Dabei sind sowohl Angebote der politischen Bildungsarbeit als auch präventive Angebote in Schule, offener Jugendarbeit u. Ä. grundlegend. Hierzu zählen aufklärende Angebote in öffentlichen Einrichtungen (Jugendzentren, Sportklubs), Beratungs- und Informationsangebote für Familien und Umfeld der betroffenen Jugendlichen sowie Präventionsprogramme und Modellprojekte, die darauf abzielen, Jugendliche zu unterstützen und sie aus salafistischen Milieus herauszulösen. Es geht dabei häufig auch darum, Belastungen durch instabile Lebenslagen, Diskriminierungserfahrungen, Orientierungsprobleme in einer komplexen Umwelt sowie weitere Faktoren bei jungen Menschen zu erkennen, zu intervenieren und präventiv einzugreifen. Die Verantwortung für die Einstellungen und Probleme der Jugendlichen unterschiedlicher Nationalitäten und Religionen muss in einer Einwanderungsgesellschaft gemeinsam getragen werden. Die bisherige politische Praxis war darauf ausgerichtet, die Zuwanderer künstlich in die deutsche Gesellschaft zu „integrieren“, doch Erfolge hat dieses Konzept kaum erzielen können. Gefordert ist jetzt die gesellschaftliche Bereitschaft, nicht nur Toleranz und Verständigung anzustreben, sondern auch mit Konflikten umzugehen und gemeinsame Lösungsansätze für die Zukunft zu entwickeln. Der Weg zu einer interkulturell ausgerichteten demokratischen Gesellschaft, in der alle gesellschaftlichen Gruppen die gleichen Chancen haben und gemeinsam Verantwortung übernehmen, löst sich immer mehr von der Auffassung einer in „Wir“ und „Sie“ gespaltenen Gesellschaft. Gerade Jugendliche unterschiedlicher Kulturen sollten die Chance nutzen, von anderen Kulturen zu lernen, statt übereinander zu sprechen. Ferner geht es in der partizipativen politischen und pädagogischen Arbeit darum, den Bedingungen und Verhältnissen entgegenzuwirken, die die Hinwendung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zur radikalen salafistischen Szene begünstigen. Nur so können Wege eingeschlagen werden, die den Radikalisierungsbiografien von Tarek, Manuela, Ahmet und Abdul erfolgreich präventiv begegnen.

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Mansour, A. (2015). Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen. Frankfurt a. M.: Fischer. Munoz, R. F., Mrazek, P. J., & Haggarty, R. J. (1996). Institute of Medicine report on prevention of mental disorders. American Psychologist, 51, 1116–1122. Schmitz, D. M. (2016). Ich war ein Salafist. Meine Zeit in der salafistischen Parallelwelt. Berlin: Econ. Skubsch, S. (2002). Kurdische Migration und deutsche (Bildungs-)Politik. Münster: Unrast. Toprak, A. (32016). Jungen und Gewalt. Die Anwendung der Konfrontativen Pädagogik mit türkeistämmigen Jungen. Wiesbaden: Springer VS. Waldmann, P. (2009). Radikalisierung in der Diaspora. Wie Islamisten im Westen zu Terroristen werden. Hamburg: Murmann. Wensierski, H.-J., von & Lübcke, C. (Hrsg.). (2007). Junge Muslime in Deutschland. Lebenslagen, Aufwachsprozesse und Jugendkulturen. Opladen: Budrich. Zick, A., & Klein, A. (2014). Fragile Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014. Bonn: FES.

Bozay Kemal,  Dr., Professor an der IUBH Düsseldorf. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Ethnisierungs- und Ausgrenzungsprozesse, Rassismus, Nationalismus und Ungleichwertigkeitsideologien, Jugend- und Erwachsenenbildung.

Zum Umgang mit Entfremdung, Verunsicherung und Unbehagen – Ansätze der Prävention salafistischer Ansprachen in Unterricht und Schulalltag Götz Nordbruch

„Der neue Jude: der ewige Moslem“ – so lautet der Titel eines Videos, das auf Youtube über 100.000 Mal geschaut wurde (https://www.youtube.com). Im Mittelpunkt des aufwendig gestalteten Videos, das im Januar 2015 von der islamistischen Initiative „Generation Islam“ veröffentlicht wurde, steht die wachsende Sorge vieler Muslime vor islamfeindlichen Einstellungen und antimuslimischen Gewalttaten in Deutschland. Im Video selbst geht es weder um religiöse Botschaften, wie sie von salafistischen Akteuren vertreten werden, noch um einen Aufruf zur Gewalt – dennoch steht es für die wachsende Sichtbarkeit salafistischer Positionen unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Die Verbreitung dieser Positionen spiegelt sich nicht zuletzt in Konflikten im Unterricht und Schulalltag. Das Video berichtet von der Zunahme rassistischer Gewalt gegen Muslime und betont die Rolle von Politik und Medien, die den Hass auf Muslime schürten. Tatsächlich verweisen diverse Studien der letzten Jahre auf eine wachsende Islamfeindschaft in der Bevölkerung, die sich immer wieder auch in direkten Angriffen auf Muslime und auf islamische Einrichtungen niederschlägt (vgl. Zick et al. 2011). Zugleich unterstellen die Macher des Videos eine groß angelegte und gezielte Kampagne, durch die Muslime ähnlich bedroht würden wie die Juden in den 1930er Jahren.

G. Nordbruch (*)  Ufuq, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Toprak und G. Weitzel (Hrsg.), Salafismus in Deutschland, Edition Centaurus – Jugend, Migration und Diversity, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25837-5_10

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Diese Botschaft deckt sich mit Darstellungen, wie sie seit einigen Jahren von salafistischen Akteuren verbreitet werden. Sie greifen reale Erfahrungen mit Rassismus und Diskriminierungen auf und instrumentalisieren sie, um das Bild eines existenziellen Konfliktes zwischen Muslimen und Nichtmuslimen zu bestärken. Dabei geht es den Machern dieser Videos nicht um die Bekämpfung von Diskriminierung und Rassismus, im Mittelpunkt steht vielmehr die Verbreitung einer Opferideologie, in der der Konflikt zwischen Muslimen und Nichtmuslimen unausweichlich scheint. Der „Westen“ führe einen Krieg gegen den Islam, weshalb ein Zusammenleben für wahrhaft Gläubige mit Nichtmuslimen unmöglich sei. Um in diesem Konflikt zu bestehen, helfe allein ein Rückzug aus der Gesellschaft in die „umma“, die Gemeinschaft der Muslime. Bei der Prävention salafistischer Einstellungen und Orientierungen spielen Unterricht und Schule eine zentrale Rolle. Dabei geht es nicht allein um Auseinandersetzungen mit religiösen Themen, sondern insbesondere auch mit lebensweltlichen Erfahrungen und Interessen, die viele Muslime teilen. Präventionsarbeit besteht darin, Alternativen zu salafistischen Angeboten aufzuzeigen und dem Alleinstellungsmerkmal salafistischer Akteure entgegenzuwirken.

1 Lebenswelten von Jugendlichen: Was macht den Salafismus attraktiv? Die große Reichweite salafistischer Angebote zeigt sich nicht nur in der Vielzahl von Informationsständen in Fußgängerzonen und Islam-Seminaren in Moscheen, die von salafistischen Initiativen bundesweit organisiert werden, sondern auch in der Vielzahl von Websites und Beiträgen in sozialen Medien. Neben der Missionsarbeit auf öffentlichen Plätzen („Street-Dawa“), in Wasserpfeifencafés und Spielkasinos zählen Online-Angebote zu den wichtigsten Orten, über die Jugendliche und junge Erwachsene mit salafistischen Ansprachen in Kontakt kommen (vgl. Dantschke 2015). So erreichen die Facebook-Seiten von Initiativen wie „Die wahre Religion“ oder „PierreVogel.de“ weit über 150.000 Nutzer. Dabei sind die wenigsten dieser Nutzer bereits überzeugte Anhänger dieser Strömung; die meisten dürften sich vor allem durch die Themen angesprochen fühlen, die hier aufgegriffen werden – und die andernorts oft nur am Rande zur Sprache kommen. Die Gründe, die den Salafismus für manche Menschen attraktiv machen, sind so vielfältig wie die Biografien seiner Anhänger. In der Szene finden sich nicht nur gesellschaftliche Verlierer, deren Vergangenheit durch Kriminalität und Drogenprobleme geprägt war. So verweisen verschiedene Studien über die Biografien

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von Salafisten gerade auf die Unterschiedlichkeit der Lebenswege, die im salafistischen Spektrum anzutreffen sind. Dort gibt es Akademiker genauso wie ehemalige Gangsta-Rapper, Jugendliche mit Migrationshintergrund genauso wie Herkunftsdeutsche und Konvertiten. Zugleich bestätigen Zahlen aus anderen europäischen Ländern die wachsende Attraktivität insbesondere des dschihadistischen Spektrums für junge Frauen.1 Trotz aller biografischen Unterschiede lassen sich Faktoren ausmachen, die den Salafismus gerade für Jugendliche und junge Heranwachsende interessant machen. Der Salafismus bietet vermeintlich klares und eindeutiges Wissen: Jugendliche interessieren sich für religiöse Fragen und suchen nach Informationen in einer Sprache, die sie verstehen. Das gilt auch für türkei- oder arabischstämmige Jugendliche, die im Alltag nicht mit religiösen Praktiken und Glaubenslehren sozialisiert wurden. Gerade im Jugendalter – und in der Begegnung mit Personen, die einen unabhängig von der individuellen Glaubenspraxis als „Muslim“ wahrnehmen – stellen sich Fragen nach den Hintergründen der „eigenen“ Religion („Wie ist das denn bei euch mit dem Ramadan?“, „Was sagt der Islam zur Gewalt?“). Hinzu kommen Fragen nach der Vereinbarkeit der religiösen Werte mit jugendkulturellen Interessen: Darf ich als Muslim Halloween feiern? Was sagt der Islam zum Augenbrauenzupfen? Darf ich als Muslim wählen? Bei der Suche nach Antworten beschränken sich viele Jugendliche nicht auf Moscheegemeinden und Eltern, sondern suchen im Internet nach entsprechenden Inhalten. Dabei stoßen sie fast zwangsläufig auf salafistische Angebote, die in den vergangenen Jahren in vielen Foren eine Deutungshoheit erlangt haben. Gerade „religiöse Analphabeten“ mit wenig Wissen über islamische Traditionen finden hier leicht verständliche und vor allem eindeutige Antworten, die eigene Überlegungen zur Bedeutung von Ritualen und Werten überflüssig machen. Dabei beanspruchen Salafisten absolute Wahrheit: In der salafistischen Weltsicht gibt es weder Zwiespälte noch offene Fragen. In dieser Vorstellung lässt sich die Welt in richtig und falsch, gut und böse, moralisch und unmoralisch unterteilen. Ein solches Schwarz-Weiß-Denken ist den meisten Menschen fremd, dennoch kann es in bestimmten Situationen attraktiv sein. Gerade in biografischen Krisen und Umbrüchen bietet es klare Orientierung und befreit von der Verantwortung, eigene Entscheidungen zu fällen: Wenn etwas von Gott befohlen ist, bin ich selbst für mein Tun nicht verantwortlich. Die Möglichkeit, zwischen

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fanden sich unter den 84 minderjährigen Franzosen, deren Ausreise den Behörden im März 2016 bekannt war, 51 Frauen.

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verschiedenen Lebensstilen zu wählen und eigene Wege zu finden, verbinden die meisten Menschen mit Freiheit; diese Freiheit kann auch eine Last sein, wenn es zum Beispiel darum geht, die eigene Entscheidung auch gegenüber den unterschiedlichen Erwartungen von Familie, Freunden und Gesellschaft zu vertreten. Der Anspruch auf Wahrheit verbindet sich für Salafisten mit der Pflicht zum Gehorsam: Sich an Autoritäten zu reiben und das Aufbegehren gegen Gewissheiten ist typisch für viele Jugendkulturen. Zugleich ist Protest auch eine Quelle von Unsicherheit. Für Salafisten ist Gottes Wort verbindlich, Gott allein gilt als Autorität, der sich der Mensch zu unterwerfen habe. Damit schafft dieses Weltbild Klarheit und eine Hierarchie, der sich der Gläubige unterzuordnen hat. Dazu gehört auch das Bestehen auf Ritualen und Regeln, die den Alltag strukturieren. In dieser Welt herrscht Ordnung, in der es leicht fällt, sich zu orientieren. Salafisten bieten darüber hinaus eine Gemeinschaft: Als „Bruder“ oder „Schwester“, wie sich Salafisten untereinander verstehen, ist man Teil einer eingeschworenen Gemeinschaft. Man teilt den Glauben, aber auch viele andere Dinge, die den Alltag bestimmen. Das „Muslim-Sein“ wird zur alles bestimmenden Identität. Jugendliche mit arabischem oder türkischem Migrationshintergrund machen oft die Erfahrung, in ihrer Zugehörigkeit als Deutsche infrage gestellt zu werden. Die „umma“, die globale Gemeinschaft der Muslime, verspricht hier eine Alternative. Der Zugang zu dieser Gemeinschaft ist niedrigschwellig und unabhängig von sozialem Status, Herkunft der Eltern, Habitus oder dem Besitz von Markenartikeln – entscheidend ist allein das Bekenntnis zum Glauben, wie er von Salafisten verstanden wird. Als „Bruder“ oder „Schwester“ erlebt man starke soziale Bindungen, mit denen auch konkrete emotionale und materielle Hilfestellungen verbunden sind. Die Gemeinschaft bietet ein Netz, das einen auffängt, wo andere Bindungen gerissen sind. Und es ist klar, welche Rolle von einem erwartet wird: Als Mann ist man „großer Bruder“ und für Jüngere väterliche Autorität, als Frau emotionale Stütze und Hüterin über Fragen, die das Wohlergehen der Familie betreffen. Dies ist ein Grund, warum der Salafismus auch für manche Frauen attraktiv ist: Rollenkonflikte, in denen sich viele junge Frauen zwischen den Erwartungen der Gesellschaft und des Elternhauses befinden, werden hier gelöst. Als gläubige und gottergebene Mutter und Begleiterin des Mannes entkommt man der schwierigen Entscheidung, für sich selbst einen Weg zwischen Familie und Karriere zu finden. Klare Rollenbilder treten an die Stelle von Selbstzweifeln und mühseligen Diskussionen über Gleichberechtigung und Emanzipation. Hinzu kommt, dass Frauen im salafistischen Weltbild – sofern sie die zugewiesene Rolle ausfüllen – ausdrücklich Wertschätzung erfahren. Für manche Frauen aus familiären Kontexten, die von willkürlicher männlicher Dominanz geprägt sind, bedeutet eine religiös begründete Rollensicherheit subjektiv eine Verbesserung.

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In salafistischen Angeboten geht es oft um Gerechtigkeit: Erfahrungen mit Diskriminierungen und Anfeindungen und das Wissen um Leid und Elend in vielen Teilen der Welt prägen das Erleben vieler Jugendlicher. Das ist ein Grund, weshalb sich Jugendliche politisch engagieren. Gerade die Konflikte im Nahen Osten bewegen viele muslimische Jugendliche, die sich der Region aus familiären oder religiösen Gründen verbunden fühlen. Dabei geht es nicht vorrangig um persönlich erlebtes Unrecht, sondern vielfach um das Leid „der Muslime“, mit denen sich viele junge Muslime identifizieren. Salafisten greifen diese Empörung auf und instrumentalisieren sie für ihre Zwecke. Ziel ist es nicht, rassistische Diskriminierungen und Benachteiligungen zu überwinden oder Hintergründe von Konflikten wie in Israel/Palästina, Irak, Afghanistan oder Syrien aufzuzeigen. Salafisten „erklären“ diese Konflikte als Teil eines weltweiten Kampfes zwischen Recht und Unrecht, in dem der Einzelne eine Seite wählen müsse. Sie sehen sich als Avantgarde, die für das Gute, d. h. für die Sache der Muslime und den Islam, kämpft. Sie schüren eine Opferideologie, in der der Widerstand zur Pflicht eines jeden Muslim wird – und fördern damit die Bereitschaft zur Gewalt. In der Empörung über die Ungerechtigkeiten in der Welt erscheint ihnen der Kampf gegen die Ungläubigen als gerechte Sache. Salafismus ist daher auch eine Form des Protestes und des Bruchs gesellschaftlicher Normen: Als Streiter für eine islamische Ordnung präsentieren sich Salafisten als Gegenkultur, die sich dem Materialismus, dem Individualismus und der Unmoral entgegenstellt. Dies spiegelt sich äußerlich in der Ablehnung gesellschaftlicher Gepflogenheiten, zum Beispiel durch das Tragen traditioneller Kleidung, die floskelhafte Verwendung arabischer Ausdrücke oder das demonstrative und öffentlich sichtbare Festhalten an Ritualen. Zugleich bedeuten salafistische Vorstellungen einen radikalen Bruch mit der Gesellschaft: Die Gemeinschaft steht hier über dem Einzelnen, Gehorsam über individueller Freiheit, Regeln über Werten, das Jenseits über dem Diesseits. Dieser Bruch beschränkt sich allerdings nicht auf die Gesellschaft, sondern beinhaltet oft auch die Abwendung von der Familie. Auch hier kommt das salafistische Weltbild den jugendtypischen Interessen entgegen, indem es die Loslösung von den Eltern erleichtert. Nicht selten erscheint der Salafismus als Möglichkeit, sich von den „gescheiterten“ oder „verwestlichen“ Eltern zu distanzieren und zur ursprünglichen Religion, die von diesen „verraten“ wurde, zurückzukehren. Protest und Provokation, wie sie der Salafismus ermöglicht, bietet dabei auch Erfahrungen von Selbstwirksamkeit, die vielen Jugendlichen sonst nur selten zuteilwerden. Salafistische Symbole und Bekenntnisse provozieren, erregen Aufmerksamkeit und garantieren eine Reaktion von Lehrern, Eltern und eventuell sogar Medien und Polizei. Tattoos, Piercings oder Flesh Tunnel – all dies

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lässt die Umwelt kalt, mit dem Tragen eines langen Barts oder eines Niqabs wird man fast zwangsläufig zum Gesprächsthema unter Mitschülern und Lehrern. Die dschihadistische Propaganda geht über den Wunsch nach Provokation noch hinaus und verspricht einen Ausweg aus dem Gefühl von Ohnmacht: Als Kämpfer für den Islam nimmt man das Heft selbst in die Hand, in der kämpfenden Gruppe kann man die Welt verändern, „Gerechtigkeit schaffen“ und – so heißt es vor allem in der Propaganda des Islamischen Staates – eine wahrhaft islamische Gesellschaft aufbauen. Nicht zufällig spielt dieser Aspekt in der Propaganda der Dschihad-Kämpfer aus Syrien und Irak eine wichtige Rolle: Bilder einer vermeintlichen Normalität der dortigen Gesellschaft, in der Straßenlaternen repariert, das öffentliche Transportsystem in Schuss gebracht und Nahrungsmittel verteilt werden. Die Ideologie des Salafismus ist ein sinnstiftendes Angebot, das in einer nur schwer durchschaubaren Welt Halt und Orientierung bietet. Das Gefühl von Unsicherheit und Unbehagen in der Gesellschaft wird hier durch klare Vorgaben erleichtert. Zugleich verspricht der Salafismus konkrete Erfahrungen von Gemeinschaft, Bindungen und Verantwortung und greift damit Entfremdungserfahrungen und Rollenunsicherheiten auf, die den Alltag vieler Jugendlicher prägen.

2 Ansätze der Prävention im Unterricht und Schulalltag Für die schulische Arbeit ergeben sich aus den unterschiedlichen Angeboten, die in salafistischen Ansprachen vermittelt werden, zahlreiche Herausforderungen, entsprechenden Einstellungen und Verhaltensweisen vorzubeugen und entgegenzuwirken. Dazu zählt insbesondere die Notwendigkeit, Themen wie den Islam und muslimische Religiosität, aber auch Migrationsbiografien und die damit verbundenen Erfahrungen und Perspektiven, als selbstverständlichen Teil von Schulalltag und Unterricht anzuerkennen und aufzugreifen. Gerade unter jungen Muslimen lässt sich ein Interesse an religiösen Fragen beobachten, das vielfach direkt an lebensweltlichen Erfahrungen ansetzt. In diesem Zusammenhang spielt der islamische Religionsunterricht eine zentrale Rolle, um reflektierte Annäherungen an religiöse Orientierungen und Glaubenspraktiken zu ermöglichen. Ziel des Religionsunterrichts ist es, so der islamische Religionspädagoge Mouhanad Khorchide, der an der Universität Münster für die Ausbildung angehender Islamlehrer zuständig ist, „Schülerinnen und Schüler zu befähigen, ihre eigene Religiosität zu entwickeln und wahrzunehmen, sowie die Bedeutung religiöser Inhalte individuell zu reflektieren, damit sie ihre Religiosi-

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tät selbst verantworten können“ (Khorchide 2015). Dazu gehört insbesondere auch die Förderung eines Bewusstseins für innerislamische Diversität und der Bereitschaft, entsprechende Unterschiede anzuerkennen. Der Anspruch auf Wahrheit, der von Salafisten erhoben wird, ist Ausdruck einer fehlenden Ambiguitätstoleranz, die den Umgang mit religiöser Vielfalt und widersprüchlichen Deutungen ermöglichen würde. In diesem Zusammenhang bietet der Hinweis auf unterschiedliche Formen muslimischer Religiosität im Alltag (unterschiedliche konfessionelle Strömungen, Rechtsschulen, aber auch unterschiedliche religiöse Selbstverständnisse als „konservativ“, „liberal“, „säkular“ etc.) die Chance, der Vorstellung eines monolithischen und eindeutig zu bestimmenden Islams entgegenzuwirken. Statt eines einheitlichen Islams werden so unterschiedliche „Islame“ sichtbar, die aus Sicht ihrer jeweiligen Vertreter legitimer Ausdruck der islamischen Tradition sind. Trotz der fortwährenden Kontroversen, die in der fachwissenschaftlichen und politischen Öffentlichkeit über die Ausrichtung und inhaltliche Gestaltung des Islamunterrichts geführt werden, zeigen sich hier die Chancen, die mit dem Islamunterricht verbunden sind. Gleichwohl sollte man die Auseinandersetzung mit religiösen Fragen nicht auf den bekenntnisorientierten Unterricht beschränken (vgl. Nordbruch 2016). Auch in anderen Unterrichtskontexten lassen sich religiöse Traditionen und Glaubensvorstellungen aufgreifen, ohne dabei religiöse Lehren selbst zu vermitteln. So kann man auch ohne weitergehende Kenntnisse des Islams Fragen zur Übertragbarkeit von Traditionen auf unterschiedliche historische und geografische Kontexte aufwerfen. Am Beispiel des Ramadans lässt sich dies verdeutlichen: Für Muslime steht der Ramadan für das Fasten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, zu dem jeder Muslim (mit einigen Ausnahmen) angehalten ist. Durch die Anlehnung an den Mondkalender „wandert“ der Ramadan allerdings, in den vergangenen Jahren fiel er in die Sommermonate. Muslime im norwegischen Tromsø sahen sich daher mit der Frage konfrontiert, wie mit einer solchen vermeintlich klaren Regelung umzugehen sei – schließlich geht die Sonne in Tromsø in den Sommermonaten nicht unter (vgl. FAZ 2014). Ein am Wortlaut orientiertes, kontextloses Verständnis der religiösen Traditionen würde bedeuten, dass ein Leben als Muslim in Tromsø undenkbar ist, während ein werteorientiertes und historisierendes Verständnis der Traditionen („Worum geht es beim Ramadan?“, „Was ist das Entscheidende – das Einhalten der Zeiten oder die Enthaltsamkeit?“) die Suche nach pragmatischen Lösungen ermöglichen würde, z. B. die Orientierung an den Fastenzeiten in Mekka. Dem Wunsch nach Klarheit und Eindeutigkeit, der sich nicht nur auf religiöse Traditionen bezieht, lässt sich damit ein Verständnis der Kontextabhängigkeit und ein Bewusstsein für den Wandel von Werten und Traditionen entgegenstellen.

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Ebenso wichtig sind Räume, in denen Jugendliche religiös-motivierte Fragen mit nicht religiösen Themen und Perspektiven in Bezug setzen können. Dabei sind neben interreligiösen und interkulturellen Zugängen beispielsweise zum Fasten oder zu Speiseregeln insbesondere auch wertorientierte Herangehensweisen denkbar, in denen religiöse Interessen in allgemeine ethische und gesellschaftliche Themen „übersetzt“ werden. So lassen sich Fragen nach dem Kopftuch („Wie ist das denn nun, muss ich ein Kopftuch tragen oder nicht?“) für Gespräche über die Bedeutung von (religiösen) Symbolen, die Wirkung von Kleidung und den Zusammenhang von Kleidung, Körperlichkeit und Identität nutzen, in denen religiöse wie nicht religiöse Zugänge eine Rolle spielen. Dies gilt in gleicher Weise für Fragen nach dem Jenseits oder Gott, die für religiöse Jugendliche eine wichtige Rolle spielen, aber auch für nicht religiöse Jugendliche interessant sein können. Als Fragen nach dem Sinn des Lebens („Wer ist ein guter Muslim? Wer ist ein guter Mensch? Ist das das Gleiche?“) oder nach der (Un-)Möglichkeit, die Welt zu erklären, bieten sich Gelegenheiten, den dahinterstehenden Wunsch nach Orientierung aufzuzeigen. Dabei geht es nicht in erster Linie um Antworten, sondern darum, das Interesse an diesen Fragen anzuerkennen und die Gemeinsamkeiten bei der Suche nach Antworten herauszustellen. Eine solche Anerkennung bestärkt die Bereitschaft, auch andere Perspektiven wahrzunehmen, und macht es zugleich leichter, sich dem sozialen Druck und den Missionierungsversuchen salafistischer Akteure zu widersetzen. Die Attraktivität der salafistischen Ansprachen gründet allerdings nicht allein in religiösen Angeboten, sondern besteht auch in Angeboten von Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Vor diesem Hintergrund kommt der Auseinandersetzung mit Migrationsbiografien und Fragen der Identität eine besondere Bedeutung zu. Trotz deutlicher Verbesserungen finden sich diese Themen bisher nur am Rande in Schulbüchern und Lehrmaterialien – und bestärken dort, wo sie behandelt werden, oft vor allem das Gefühl der Nichtzugehörigkeit von Jugendlichen mit Migrationshintergrund (vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2015). So beschränken sich viele Darstellungen bis heute auf gesellschaftliche Konflikte, die mit Einwanderung verbunden sind, und bestärken damit den Eindruck, Migrationsbiografien seien „problematisch“. Angesichts der Attraktivität des salafistischen Gemeinschaftsangebotes als Alternative zum „Deutschsein“ kommt der Anerkennung von Migrationsgeschichte als gesellschaftliche Normalität daher eine besondere Rolle zu. Denkbar sind hier beispielsweise Auseinandersetzungen mit Biografien von Personen wie dem Publizisten Navid Kermani, dem Filmemacher Fatih Akin oder von Politikern wie Cemile Giousouf, die als Menschen mit Migrationsgeschichte den gesellschaftlichen Alltag selbstverständlich mitgestalten. „Normalität“ bedeutet dabei nicht, eine „Besonderheit“ dieser Personen herauszustellen, sondern sie als Personen unter vielen abzubilden.

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Dies betrifft in ähnlicher Weise die Anerkennung von deutsch-muslimischen Identitäten als legitime Möglichkeit, Religiosität und Staatsbürgerschaft zusammenzudenken. In diesem Zusammenhang stehen die Debatten um die Thesen von Thilo Sarrazin oder die islamfeindlichen Positionen aus dem Umfeld der PEGIDA für weitverbreitete Vorbehalte gegenüber der Vereinbarkeit von islamischer Religiosität und demokratischen Werten. Verkannt wird dabei die Selbstverständlichkeit, mit der islamische Theologen genauso wie religiöse Laien religiöse und gesellschaftliche Werte zusammendenken. Beispielhaft hierfür steht die weitverbreitete Deutung des Begriffs „Scharia“ als archaisches Gesetz, das von Körperstrafen, Frauenfeindlichkeit etc. geprägt sei. Tatsächlich spielt die Scharia für viele Muslime eine zentrale Rolle, umso wichtiger ist es auch hier, alternative Verständnisse des Begriffes aufzuzeigen. So wenden sich islamische Theologen wie Bülent Uçar, Professor für Islamische Religionspädagogik an der Universität Osnabrück, gegen ein unhistorisches Verständnis der Scharia, wie es in islamfeindlichen, aber auch in salafistischen Argumentationen vertreten wird. So steht die Scharia aus seiner Sicht für einen Wertekanon, der aus der Zeit der Offenbarung in die jeweiligen gesellschaftlichen Kontexte übertragen werden müsse (vgl. Uçar 2012). Scharia und Grundgesetz bilden in dieser Perspektive eben keinen Gegensatz, sondern lassen sich miteinander verbinden. Gerade für junge Muslime bietet die Auseinandersetzung mit entsprechenden Deutungen die Möglichkeit, eigene Zugänge zur Religion zu entwickeln, ohne dabei vor eine Wahl zwischen Islam und Gesellschaft gestellt zu sein. Angesichts der Bedeutung einer Opferideologie in salafistischen Vorstellungen kommt auch der Auseinandersetzung mit Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen eine wichtige Rolle in der schulischen Präventionsarbeit zu. So beklagen Jugendliche immer wieder den Mangel an Möglichkeiten, Diskriminierungen und Anfeindungen als Muslime auch im Unterricht zu thematisieren. Auffallend ist in diesem Zusammenhang auch das weitgehende Fehlen von Kenntnissen über die Antidiskriminierungsgesetzgebung und Beratungs- und Unterstützungsstrukturen, die Betroffenen Hilfestellung bieten könnten. Insofern stellt der Unterricht einen wichtigen Raum dar, um entsprechende Erfahrungen sichtbar zu machen und zugleich Möglichkeiten aufzuzeigen, eigene Interessen und Rechte geltend zu machen. Ähnliche Erfahrungen verbinden viele Jugendliche auch mit den diversen Konflikten und Kriegen im Nahen Osten (vgl. Müller 2009). Auch hier beklagen sie, dass diese Konflikte im Unterricht kaum thematisiert würden. Tatsächlich stellen diese Themen Lehrkräfte angesichts der komplexen Hintergründe und der Aktualität und damit auch Kontroversität der Ereignisse vor große Herausforderungen. Im Hinblick auf die große Bedeutung dieser Konflikte für Muslime, die vielfach durch familiäre und emotionale Bindungen bestärkt wird, ist

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eine Auseinandersetzung mit den Ursachen und Folgen der Konflikte allerdings umso wichtiger. So sind oft schon Kinder über soziale Medien mit realen Darstellungen von Opfern konfrontiert, die emotional belasten und einfache Feindbilder befördern können. In der Auseinandersetzung mit entsprechenden Erfahrungen geht es dabei nicht in erster Linie darum, die historischen Hintergründe im Detail zu erläutern und konkrete Lösungswege aufzuzeigen. Gerade im Zusammenhang mit aktuellen Konflikten wie in Syrien und Irak steht vielmehr die Anerkennung der Emotionen und Betroffenheit im Vordergrund, an die sich inhaltliche Gespräche über Ursachen und Verantwortlichkeiten anschließen können. Auch hier bietet sich im Unterricht die Möglichkeit, der Deutungsmacht von salafistischen Angeboten entgegenzuwirken und alternative Zugänge zu eröffnen. Dies betrifft nicht zuletzt auch den Versuch, dem weitverbreiteten Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit angesichts von internationalen Konflikten, aber auch von Rassismus und Diskriminierungen in Deutschland, konkrete Handlungsoptionen beispielsweise durch die Organisation von Spendensammlungen für die Opfer der Konflikte in Syrien, Irak etc., Ausstellungen, Leitbilddiskussionen oder Informations- und Diskussionsveranstaltungen entgegenzustellen.

3 Zusammenfassung Prävention in Unterricht und Schule zielt auf Empowerment und das Aufzeigen alternativer Sinn- und Gemeinschaftsangebote. Dies erfordert auch, etablierte Inhalte und Herangehensweisen zu hinterfragen. Hier spielen die Haltungen der Lehrkräfte, aber vor allem auch reale Mitgestaltungsmöglichkeiten in Schule und sozialer Umgebung eine zentrale Rolle, um Entfremdungserfahrungen entgegenzuwirken und reale Teilhabe zu ermöglichen. Dabei geht es keineswegs darum, das Rad neu zu erfinden. Sowohl aus der Demokratieerziehung als auch aus der Gewaltprävention lassen sich hier zahlreiche Erfahrungen aufgreifen, die sich auf die Prävention salafistischer Einstellungen und Verhaltensweisen übertragen lassen.

Literatur Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. (2015). Schulbuchstudie Migration und Integration. Berlin. Dantschke, C. (2015). Radikalisierung von Jugendlichen durch salafistische Strömungen in Deutschland. In D. Molthagen (Hrsg.), Handlungsempfehlungen zur Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus und Islamfeindlichkeit (S. 133–142). Berlin: Friedrich Ebert Stiftung – Forum.

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FAZ.NET. (30. Juni 2014). „Wann essen, wenn die Sonne nie untergeht?“. Khorchide, M. (2015). Islamischer Fundamentalismus in Deutschland: Ein soziales Phänomen? In W. Eppler (Hrsg.), Fundamentalismus als religionspädagogische Herausforderung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Müller, J. (2009). „Warum ist alles so ungerecht?“. Pädagogische Interventionen zu Nahostkonflikt, Antisemitismus und Israelhass bei Jugendlichen. In Amadeu Antonio Stiftung (Hrsg.), „Die Juden sind schuld“ – Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft am Beispiel muslimisch sozialisierter Milieus (S. 30–36). Berlin: Amadeu Antonio Stiftung. Nordbruch, G. (2016). Lebenswelten anerkennen! Religion im Unterricht und die Prävention salafistischer Einstellungen. In J. Biene & J. Junk (Hrsg.), Salafismus und Dschihadismus in Deutschland. Herausforderungen für Politik und Gesellschaft (S. 127–132). Frankfurt a. M.: Campus. Uçar, B. (2012). Islam und Verfassungsstaat vor dem Hintergrund der Scharia-Regelungen. In L. Häberle & J. Hattler (Hrsg.), Islam – Säkularismus – Verfassungsrecht. Aspekte und Gefährdungen der Religionsfreiheit. Berlin: Springer. Zick, A., Küpper, B., & Hövermann, A. (2011). Die Abwertung der Anderen. Eine europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung (S. 69–72). Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.

Nordbruch Götz,  Dr. Islam- und Sozialwissenschaftler, Mitbegründer und Co-Geschäftsführer des Vereins ufuq.de. Nordbruch war als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut de recherches et d’études sur le monde arabe et musulman in Aix-en-Provence und am Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut – für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig tätig. Von 2008–2011 war er Assistenzprofessor am Center for Contemporary Middle East Studies der Süddänischen Universität Odense. Arbeitsschwerpunkte: Jugendkulturen zwischen Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus, Mediennutzung von jungen Muslim_innen und Migrant_innen sowie Prävention von islamistischen Einstellungen in schulischer und außerschulischer Bildungsarbeit.

Akzeptierende Jugendarbeit mit Jugendlichen mit (neo-)salafistischen Orientierungs- und Handlungsmustern. Theoretische Reflexionen zu pädagogischen Voraussetzungen David Yuzva Clement

Ausgangslage Jugendarbeit (näher definiert und rechtlich kodifiziert in §§ 1, 11 KJHG) agiert im Allgemeinen nach ihrem methodologischen Selbstverständnis und Bildungsauftrag nicht unter dem Vorzeichen von Prävention (vgl. Lindner 2005, S. 254–262). Dort aber, wo Jugendliche mit menschenfeindlichen Orientierungs- und Handlungsmustern durch Angebote der Jugendarbeit erreicht werden, kann dies auch unter präventiven Gesichtspunkten einer beziehungsorientierten und zielgruppenspezifischen „Förderung positiver Lebensverhältnisse“ (vgl. Lindner 2005, S. 259) geschehen. Die akzeptierende Jugendarbeit mit Jugendlichen in rechtsextremen Jugendcliquen ist diesen Weg gegangen. Im Folgenden wird versucht, dieses Konzept auf die Jugendarbeit mit Jugendlichen mit (neo-)salafistischen1

1Ceylan

und Kiefer (2013), die sich auf den Neofundamentalismus-Begriff von Roy beziehen, haben den Begriff des Neo-Salafismus eingeführt. Die Verwendung, wie hier vorgeschlagen, des Arbeitsbegriffs „(neo-)salafistische Orientierungs- und Handlungsmuster“ scheint für eine pädagogische Praxis bislang geeignet zu sein, da diese Begriffsverwendung das Prozesshafte sowie das Suchende von Erklärungs- und Einstellungsmustern von Jugendlichen in den Vordergrund rückt. Eine andere, wenn auch verwandte, Begriffsverwendung

D. Y. Clement (*)  Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Toprak und G. Weitzel (Hrsg.), Salafismus in Deutschland, Edition Centaurus – Jugend, Migration und Diversity, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25837-5_11

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Orientierungs- und Handlungsmustern zu übertragen. Bislang liegen für diese Art von zielgruppenspezifischer Jugendarbeit keine gesicherten empirischen Erkenntnisse vor, eine Praxisforschung und wissenschaftlich überprüfte Konzeptionsentwicklung stehen noch aus. Die Auseinandersetzung mit Spezialthemen (Rechtsextremismus, [Neo-]Salafismus etc.) in Regeleinrichtungen und -angeboten der Jugendarbeit, d. h. in Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit sowie in der aufsuchenden Jugendarbeit, und Schule ist abhängig von Ressourcen, aber auch „von den verschiedenen Perspektiven und Arbeitsaufträgen, die für die Arbeit mit den Zielgruppen bestehen, sowie den Handlungsformen, die das jeweilige Berufsfeld als konstituierenden Rahmen zur Verfügung stellt“ (Palloks 2009, S. 271). Übertragen auf das Thema (Neo-)Salafismus würde der Anspruch einer Verzahnung zwischen Spezialthemen und Regeleinrichtungen der Jugendarbeit bedeuten, das Wissen um (neo-)salafistische Orientierungs- und Handlungsmuster zumindest in Bezug auf eine allgemeine Sensibilität und das berufliche Handeln vom Status eines Sonderthemas zu befreien und grundlegende Standards der Auseinandersetzung zu integrieren. Spezialisierte Ergänzungsstrukturen (wie z. B. spezifische Beratungsangebote) sowie sozialraumorientierte Vernetzung nehmen dabei eine herausragende Rolle ein. Die folgenden Überlegungen versuchen dieser Verzahnung und Bedarfsorientierung gerecht zu werden. (Neo-)salafistische Orientierungs- und Handlungsmuster als Phänomen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit Für Roy stellt religiöser Fundamentalismus ein „Phänomen der Exkulturation“ (2011, S. 167) dar. Religiöses Wissen wird demnach aus einem kulturellen Kontext herausgelöst und die Religion auf einen summarischen Kodex von universalistischen Regeln gegründet. Das hat für Roy zur Folge, dass der Beitritt zwar ein individueller freiwilliger Schritt ist, die Gruppierungen aber gleichzeitig und verstärkt mit Verfahren der Exkommunizierung ‚spielen‘, im (Neo-)Salafismus das sogenannte „takfir“. Das Unterscheidungsmerkmal in „Wir“ und „Ihr“

haben Clement und Dickmann vorgeschlagen: Sie sprechen, in Anlehnung an Krafeld, von einer Jugendarbeit mit Jugendlichen in neo-salafistischen Gruppen (vgl. 2015, S. 71 ff.). Des Weiteren werden Hinwendungsprozesse zum Phänomen des Neo-Salafismus im Folgenden vor der Theorie der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit eingeordnet und bieten daher die Möglichkeit einer Vergleichbarkeit mit dem Phänomen des Rechtsextremismus.

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wird zur aktiven Orthopraxie, etwas dazwischen gibt es nicht, denn der Glaube muss eindeutig erkennbar sein. (Neo-)salafistische Milieus sind durch diesen Dogmatismus einer geschlossenen Gesellschaft geprägt, der sich hinsichtlich der Anwendung des „takfir“ unterscheidet. Die dualistische Differenzierung in „Wir“ und „Ihr“ verstärkt und legitimiert religiös begründete Ungleichheitskonstrukte vor dem Hintergrund einer gruppenbezogenen Abwertung von Nichtmuslimen, den sogenannten „Ungläubigen“ (vgl. Clement und Dickmann 2015). Der ausschnitthafte, verkürzte Kontinuitätsbezug zu den sogenannten „as-salaf aṣ-ṣalih“ garantiert diesem subkulturellen Milieu in der Öffentlichkeit sowie in der islamischen Community besondere Aufmerksamkeit. Die politischen und religiösen Positionierungen und Suchprozesse von Jugendlichen in Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit und in der aufsuchenden Jugendarbeit decken eine große Bandbreite ab: Von einem unpolitischen und nicht religiösen Selbstverständnis über unklare Positionen verbunden mit einem Interesse an Politik oder Religion, der Affinität zu einer politischen oder religiösen Überzeugung, politische oder religiöse Selbstdefinitionen bis hin zu politisch oder religiös legitimierten Mustern gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Dazu gehören auch Jugendliche mit (neo-)salafistischen Orientierungs- und Handlungsmustern. Auch hier ist die Bandbreite weit gefächert. Gegenwärtige (neo-)salafistische Orientierungs- und Handlungsmuster konturieren sich im Allgemeinen als Gegenentwurf zum Projekt einer demokratisch verfassten, sozial und kulturell heterogenen Migrationsgesellschaft. Werden diese Muster als „Spitze des Eisbergs“ aufgefasst, dann müssen auf politischer Ebene offensive Auseinandersetzungen, insbesondere über sozial-, bildungs- und integrationspolitische Ermöglichungsbedingungen von (Neo-)Salafismus einsetzen.

1 Zur Entstehung der akzeptierenden Jugendarbeit Das Konzept einer akzeptierenden Jugendarbeit wurde von Franz Josef Krafeld als Versuch entwickelt, einen niederschwelligen sowie lebenswelt- und beziehungsorientierten Zugang zu Jugendcliquen mit einer rechtsextremen Orientierung in Bremer Stadtteilen zu erhalten. Hervorgegangen ist das Konzept aus einem Projekt an der Hochschule Bremen, dessen Ziel es war, den Aufbau eines Bürger- und Sozialzentrums im Stadtteil Huchting zu unterstützen und zu begleiten. In der Sozialraumanalyse wurde festgestellt, dass das Gelände, auf dem das neue Zentrum errichtet werden sollte, gar nicht so unbenutzt war, wie vermutet wurde. Auf dem Gelände traf sich regelmäßig eine Jugendclique, die mit rechtsextremen Äußerungen und Praktiken auffällig geworden war (vgl. Krafeld 1996, S. 46).

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Darüber hinaus entwickelte sich im Stadtteil Mahndorf und in der Straßensozialarbeit in Horn-Lehe ab 1988/1989 eine cliquenorientierte, aufsuchende Jugendarbeit, die den Grundstein für eine akzeptierende Jugendarbeit legte. Die konzeptionelle Entwicklung wurde durch eine wissenschaftliche Begleitforschung komplettiert. Durch die Gründung des „Vereins zur Förde­ rung Akzeptierender Jugendarbeit“ (VAJA) im Juli 1992 setzte eine Professionalisierung und Verstetigung ein (vgl. Krafeld 1996, S. 62–63). Schnell stieß der akzeptierende Ansatz auf bundesweites Interesse und es wurden Versuche unternommen, das Konzept insbesondere im Zusammenhang mit dem „Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt“, in ostdeutsche Kontexte zu transferieren. Grundlegende Kritik am akzeptierenden Ansatz Von Beginn an wurde der Ansatz der akzeptierenden Jugendarbeit sowohl in der (Fach-)Öffentlichkeit als auch in der Politik kontrovers diskutiert. Die Kritikpunkte waren, dass der Ansatz auf pädagogisch nicht angemessenen Prämissen basiere, das Phänomen Rechtsextremismus entpolitisiere und das Risiko nicht ausgeschlossen werden könne, Rechtsextremismus zu stabilisieren, anstatt einzudämmen (vgl. Krafeld 2007, S. 305–308). Es wurde also befürchtet, akzeptierende Jugendarbeit enthalte das Risiko, Rechtsextremismus, Gewalt und sogenannte „national befreite Zonen“ zu unterstützen und zu fördern. Mit Beginn des „Aktionsprogramms gegen Aggression und Gewalt“, mit dem die Bundesregierung ab 1992/1993 auf Pogrome, wie etwa in Hoyerswerda und Rostock reagierte, kam es zum Eklat, als bekannt wurde, „dass in Projekten (…) Sozialarbeiter mit rechtsextremer Gesinnung beschäftigt wurden (…)“. (IDA o. J., S. 3). So lautete der Vorwurf, der Ansatz befördere die Logik der „Kumpanei“ und eine Rekrutierungsbasis für rechtsextremistische Akteure. Es wird davon berichtet, dass Rechtsextremisten „ein Jugendzentrum [bekamen] und Rechtsrock-Bands Übungsräume. Teilweise leisteten SozialarbeiterInnen logistische Unterstützung, indem sie ihr Klientel mit dem Bus zu Kameradschaftstreffen fuhren oder in lokalen Verteilungskämpfen finanzielle Mittel auf Kosten andersgesinnter Jugendlicher erstritten“ (IDA o. J., S. 4). Krafeld und weitere Vertreter (vgl. Scherr 2007, S. 330) haben wiederholt darauf hingewiesen, dass weniger das Konzept einer akzeptierenden Jugendarbeit problematisch sei, sondern seine unreflektierte und teilweise naive Übertragung. Auch sei der Ansatz einer akzeptierenden Jugendarbeit als Deckmantel für die Ausblendung politischer Aspekte missbraucht worden. „Seither wird von ‚akzeptierender Jugendarbeit‘ ganz häufig ausgerechnet dort geredet, wo auf den Abbau rechtsextremistischer Orientierungen und entsprechender Gewaltbereitschaft verzichtet oder kein Gewicht gelegt wird (…)“ (Krafeld 2001, S. 277;

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zitiert nach IDA o. J., S. 7; Hervorhebung im Original). Vor dem Hintergrund dieser Debatte führt Krafeld ab 2000 den Begriff der Gerechtigkeitsorientierung als Wertebasis in die akzeptierende Jugendarbeit ein, um die pädagogische wie politische Dimension des Problemzusammenhangs zu betonen und stärker zu berücksichtigen (vgl. 2000, S. 266–268).

2 Grundsätze und Handlungsansätze akzeptierender Jugendarbeit mit Jugendlichen mit (neo-)salafistischen Orientierungs- und Handlungsmustern Bisher ist deutlich geworden, dass der Begriff der Akzeptanz bzw. des Akzeptierens dazu zwingt, genauer zu differenzieren. Denn mit dem Ansatz prallen gegensätzliche Verständnislinien aufeinander, Krafeld spricht hier von einem „paradoxen Ebenenwechsel“ (1998, S. 44). Eine ähnliche Ambivalenz haftet dem Milieubegriff an: „Milieugeborgenheit und -zusammenhalt darf nicht auf kosten anderer gehen (…)“ Böhnisch (1997, S. 84). Die Fokussierung auf die Ausbreitung von Rechtsextremismus und Gewalt in der Gesellschaft impliziert die Forderung, „daß man das nicht akzeptieren darf, was da passiert (…). Und das stimmt ja auch! – Wer dagegen Jugendliche im Blick hat, die mit rechtsextremistischen Orientierungen und Gewalt auffallen, der muß von der erwähnten sozialarbeiterischen Grundregel ausgehen, daß man ‚die Klienten dort abholen muß, wo sie stehen‘“ Böhnisch (1997, S. 43; Hervorhebung im Original). Im Sinne Krafelds heißt Akzeptieren dreierlei: Erstens verlangt eine Jugendarbeit, die das Akzeptieren betont, Fachkräfte mit sehr gegensätzlichen Auffassungen und Verhaltensweisen und eben nicht nach „gleichgesinnten Nationalsozialarbeitern“ Böhnisch (1997, S. 45). Zweitens heißt es, den Blick nicht auf politische oder religiöse Orientierungen und Verhaltensweisen zu fixieren ‚die ich überhaupt nicht akzeptieren kann‘, sondern sich als Personen füreinander zu interessieren und aufeinander einzulassen – Akzeptieren stellt keine Einbahnstraße dar. Drittens begreift eine akzeptierende Jugendarbeit die Orientierungsmuster und Verhaltensweisen der Jugendlichen „als deren subjektiv geleitete Versuche, sich in ihrer Welt zurechtzufinden und Wege zu entfalten, aus dem eignen Leben etwas zu machen. (…) Ihre dabei entwickelten Auffassungen und Verhaltensweisen holen sie sich fast durchweg aus der Gesellschaft“ Böhnisch (1997, S. 46). Akzeptieren umschreibt schließlich einen niederschwelligen Zugang zu einem Jugendmilieu, ist also vor allem auch eine Methode einer lebenswelt-, cliquenund milieuorientierten Ansprache von Jugendlichen.

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„Es geht um Probleme dieser Jugendlichen, nicht um Probleme, die sie machen“ – zentrale Grundsätze akzeptierender Jugendarbeit Die angesprochene Grundregel, Jugendliche dort abzuholen, wo sie stehen, basiert darauf, dass „sie irgendwann auch woanders ankommen“ (Krafeld 2007, S. 309). Für die Jugendarbeit mit Jugendlichen mit rechtsextremen Orientierungs- und Handlungsmustern – und dies gilt gleichermaßen für Jugendliche in (neo-)salafistischen Milieus – heißt dies zunächst davon auszugehen, dass jene milieuspezifischen Orientierungs- und Handlungsmuster vielen Jugendlichen im Moment subjektiv überzeugendere Orientierungen und Zugehörigkeitsgefühle bieten als andere Orientierungsmuster. Böhnisch hebt im Hinblick auf Jugendliche, die zur Lebensbewältigung und Sozialisation auf den sozialen Nahraum sowie die Jugendclique angewiesen sind, den Aspekt der Milieubindung hervor. „Milieustrukturen sind durch intersubjektive, biografische und räumliche Erfahrungen charakterisiert und als solche hoch emotional besetzt. Milieubeziehungen bestimmen (…) die Lebensbewältigung, strukturieren das Bewältigungsverhalten bei psychosozialen Belastungen und in kritischen Lebensereignissen“ (Böhnisch 1997, S. 84). In Milieus formieren sich Normalität ebenso wie soziale Ausgrenzung, d. h. es „entwickeln sich Deutungsmuster bezüglich dessen, was konform und was als abweichend gelten kann“ (Böhnisch 1997, S. 84). Dies impliziert für Krafeld, dass sich Menschen meist nur dann ändern, „wenn es subjektiv für sie Sinn macht, das heißt: wenn sie selbst sich etwas davon versprechen“ (Krafeld 2007, S. 309; Hervorhebungen im Original). Krafeld und seine Studierendengruppe gingen nun davon aus, dass „die Entfaltung von Jugendszenen und Jugendkulturen gerade heute in einer Phase gesellschaftlicher Erosionen und Umbrüche den wohl deutlichsten, im Lebensalltag von Jugendlichen praktisch werdenden Versuch darstellt, sich subjektgeleitet gesellschaftliche und soziale Wirklichkeit handelnd anzueignen“ (Heim et al. 1992, S. 71). Diese Annahme geht auf den durch Heitmeyer geprägten individualisierungs- und modernisierungstheoretischen Erklärungsansatz von Extremismus zurück. „Der Individualisierungsdruck ist gesellschaftlich, die Suche nach neuen sozialintegrativen Mustern eher vom Subjekt und seiner biografischen Befindlichkeit geprägt“ (Böhnisch 1997, S. 83). Krafeld spricht hier von einer geschichtlichen Situation, „in der sich das Aufwachsen nicht mehr selbstverständlich in einer kalkulierbaren Abfolge von Sozialisations-, Bildungs- und Ausbildungsinstanzen vollzieht“ (Krafeld 2007, S. 307). Die Berücksichtigung der milieubildenden Struktur von Jugendcliquen ermöglicht nicht nur eine Reflexion der aktuellen Lebenswelt der Jugendlichen, sondern auch des Spannungsfeldes zwischen unterschiedlich geschichteten radikalisierungsbegünstigenden Faktoren. Frindte et al. (2016) zeigen, dass individuelle Radikalisierungsverläufe einem multifaktoriellen Bedingungsgefüge unterliegen. Theoretisch und empirisch

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verdeutlichen die Autoren dies anhand einer sozialpsychologischen und soziologischen Mehrebenenanalyse hinsichtlich makro-, meso- und mikro-sozialer sowie individueller. Krafeld et al., die sich hier auf Möller beziehen, postulieren, dass Jugendarbeit mit rechtsextremen Jugendlichen deren Stile, Rituale und Symbolpraktiken entsprechend als provokativen Charakter in ihren oft ungelenkten „Formulierungen eines diffusen sozialen Protestes gegen eine empfundene Perspektivlosigkeit des Daseins“ (Heim et al. 1992, S. 67) wahrzunehmen hat. El-Mafaalani analysiert (Neo-)Salafismus in einer ähnlichen Weise als eine Jugendsubkultur, die im Ergebnis als ein Wechselspiel zwischen dem jugendphasentypischen Bedürfnis nach jugendkultureller Provokation einerseits sowie der Abgrenzung von der Elternund Erwachsenengeneration andererseits, verstanden werden kann (vgl. 2014, S. 355 ff.) Bohnsack, der bei Bourdieu anknüpft, beschreibt diese adoleszenzspezifischen Prozesse als eine „Suche nach habitueller Übereinstimmung“ (2014, S. 64). Krafeld et al. sprechen daher „von ‚Jugendarbeit in rechten Jugendcliquen‘, um die in deren Cliquen gängigen Alltagsgestaltungs-, Orientierungs- und Lebensbewältigungsmuster skizzierend einzuordnen, ohne gleich substantielle Bewertungen und Beurteilungen damit zu implizieren, die das Verhältnis zu solchen Jugendlichen vordefinieren“ (1992, S. 71; Hervorhebung im Original). Zielformulierungen akzeptierender Jugendarbeit Akzeptierende Jugendarbeit wird grundlegend von zwei Hypothesen, die gleichsam die zentralen Zielformulierungen darstellen, getragen: Dass „mit wachsenden Integrations- und Selbstentfaltungschancen durchweg auch Bereitschaften und Fähigkeiten zu sozialverträglichen Verhaltensweisen zunehmen, und daß mit wachsenden Kompetenzen und Möglichkeiten zu entfaltender Lebensbewältigung auch die Bedeutung rechtextremistischer Deutungsmuster abnehmen“ (Heim et al. 1992, S. 72–73). Dazu dient nicht zuletzt die in den akzeptierenden Ansatz eingebettete personale Konfrontation mit dem „tiefgreifenden Anderssein, die wir ihnen bieten. Wir treten nicht als Besserwisser und Zurechtweiser auf, sondern als Personen mit anderen Grundhaltungen, Wertorientierungen und Verhaltensweisen, mit anderen Vorstellungen und Mustern der Alltags- und Lebensbewältigung.“ (Krafeld 1996, S. 15. Zum konfrontativen Ansatz siehe Toprak/Weitzel in diesem Band). Die Veränderung riskanter, gewaltbereiter und menschenfeindlicher (neo-)salafistischer Orientierungs- und Handlungsmuster wird nicht als Bedingung, sondern als Ziel eines pädagogischen Prozesses ­verstanden. VAJA beschreibt die Ziele akzeptierender Jugendarbeit als die Sicherung der Distanz bzw. die Förderung von Distanzierungsprozessen gegenüber rechtsextremen und menschenfeindlichen Orientierungen. Dazu gehören u. a. eine

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verlässliche und emotional positive Beziehung zu den Eltern, (…) sinnstiftende Schulerfahrungen mit der Möglichkeit zum Aufbau von Selbstwert, (…) politische und gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten, (…) extremismus-, ausgrenzungs-, und gewaltdistanzierende Haltungen des sozialen Umfelds, u. a. auch der Peers, (…) die Entdeckung biografisch neuartiger Quellen von Selbstwerterleben und Anerkennung außerhalb rechtsextrem (und menschenfeindlich) geprägter Cliquen (…) (VAJA 2007, S. 5).

Diese Zielformulierungen unterstreichen die These, dass menschenfeindliche Orientierungen „nur dann adäquat bearbeitbar [sind], wenn man sie als Prozessmomente und Resultate von Lebensgestaltungsversuchen ansieht“ (VAJA 2007, S. 5.). D. h., die grundsätzliche Klärung der aktuellen Lebenssituation und eine aussichtsreiche Bearbeitung existenzieller Notlagen „sind in der Regel Voraussetzung, um politische Einstellungen und Verhaltensweisen überhaupt thematisieren und konstruktiv bearbeiten zu können“ (VAJA 2007, S. 20). So verstanden, richtet sich das Projekt JamiL2 mit seiner Jugendarbeit an „Jugendliche und junge Erwachsene, die sich in religiösen Hinwendungsprozessen zum Islam befinden. Diese Jugendlichen stehen in einer Auseinandersetzung mit Fragen von Identität, Glaube und Zugehörigkeit und sympathisieren dabei möglicherweise mit dem Gedankengut des politischen oder dschihadistischen Salafismus“ (JamiL und VAJA o. J.). Somit entfaltet eine akzeptierende Jugendarbeit mit Jugendlichen in (neo-) salafistischen Milieus dann eine präventiv-deradikalisierende Wirkung, wenn sie auf die Orientierungs- und Sinnsuche von Jugendlichen eingeht. Dabei darf sie Diskurse über Religiosität und soziale Anerkennung nicht ausklammern und muss die Jugendlichen sowohl in ihrer Subjektwerdung als auch bei ihrer Lebensbewältigung unterstützten. Handlungsebenen und Handlungsansätze akzeptierender Jugendarbeit Die folgenden vier zentralen Handlungsebenen, die nicht isoliert voneinander bearbeitet werden sollten, charakterisieren für Krafeld die akzeptierende Jugendarbeit: Das Angebot sozialer Räume, die Beziehungsarbeit, die Akzeptanz bestehender Gruppen sowie die lebensweltorientierte infrastrukturelle Arbeit (vgl. 1996, S. 17 ff.). Die letztere Handlungsebene wurde zu einer „einmischenden Jugendarbeit“ weiterentwickelt, die stärker das zivilgesellschaftliche Umfeld betont und einbezieht (vgl. Krafeld 2007). Die sozialintegrative und bildungstheoretische

2Das

Modellprojekt JamiL (Jugendarbeit in muslimischen und interkulturellen Lebenswelten) wird durch das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ (Kurztitel) gefördert und in Trägerschaft des Vereins VAJA durchgeführt.

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Anerkennung des Jugendlichen als Subjekt durchzieht die vier Handlungsebenen und die sich daraus ergebenen Handlungsansätze. Diese Subjektwerdung wird durch die Zugehörigkeit zu wichtigen gesellschaftlichen Teilsystemen und sozialen Einheiten, durch die Partizipation an den von ihnen zur Verfügung gestellten Ressourcen und an öffentlichen Diskurs- und Entscheidungsprozessen sowie durch die Anerkennung als gesellschaftlich relevantes Subjekt und als Persönlichkeit, die als Individuum wertgeschätzt wird, erreicht. Wie lassen sich die bisherigen theoretischen Anknüpfungspunkte und Grundsätze akzeptierender Jugendarbeit in der pädagogische Praxis umsetzen? Sozialraumorientierte, infrastrukturelle Vernetzung Ausgehend von der vierten Handlungsebene einer lebensweltorientierten infrastrukturellen Arbeit ist die akzeptierende Jugendarbeit stark von einer Sozialraum- und Ressourcenorientierung geprägt. Es kann aktuell beobachtet werden, dass Regeleinrichtungen (Jugendarbeit, Schule) mit spezialisierten Modellprojekten/Sonderprogrammen („JamiL“, „180 Grad Wende“ u. v. m.) sowie Beratungsangeboten (z. B. die „Wegweiser“-Beratungsstellen des Verfassungsschutzes des Landes NRW) immer enger kooperieren. Zum einen wird ein interdisziplinärer Fachaustausch und Wissenstransfer angestrebt, zum anderen können einzelne Fälle gemeinsam erörtert oder, wie zurzeit in Bonn erprobt wird, im Rahmen einer sogenannten Fallkonferenz lösungsorientiert besprochen werden. Die akzeptierende Jugendarbeit versteht sich als Lobbyist für Jugendliche im Gemeinwesen. Dort, wo die Probleme, die die Jugendlichen haben, aus dem Blickfeld geraten, muss sich Jugendarbeit dafür einsetzen, diese Probleme in den Mittelpunkt zu rücken. Dies schließt ein, Vertretern der Politik, Verwaltung und der Polizei das professionelle Akzeptanz- und Beziehungsverhältnis als notwendige Dispositionen für die pädagogische Arbeit mit diesen Jugendlichen zu erläutern, ebenso die Aufklärung über aktuelle Lebenswelten von Jugendlichen, verbunden mit dem Ziel diese zu nachhaltig zu verändern. Cliquenarbeit, Gruppenangebote und Einzelfallhilfe Akzeptierende Jugendarbeit findet sozialraumbezogen oder auch sozialraumübergreifend statt, einerseits wo ein besonderer Bedarf der Jugendlichen an einer Auseinandersetzung mit Fragen des Glaubens, der Identität und Zugehörigkeit besteht, und andererseits dort, wo soziale Desintegration und milieubedingte Normalisierungsprozesse menschenfeindlicher Orientierungen besonders gefährden. „Die Straßensozialarbeit von JamiL folgt dabei der Mobilität der Jugendlichen an ihren Treffpunkten in den Stadtteilen und begleitet sie in ihrem Freizeitverhalten“ (JamiL und VAJA o. J.). Die Grundlage für diese Arbeit ist

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Beziehungsarbeit, die als personales Angebot verstanden wird. Für Krafeld ergibt sich, dass inhaltsvolle Gespräche nur dann stattfinden können, „wenn dabei vorrangig persönliche Begegnung, persönlicher Austausch stattfindet. Die Jugendlichen wollen Meinungen und Auffassungen von vertrauten Personen kennenlernen, um daraus Anregungen und Anstöße für sich zu ziehen. Nicht um sachbezogenes Überzeugen, sondern um personenbezogenen Austausch geht es hier also vorrangig“ (Krafeld 1996, S. 18). Akzeptierende Jugendarbeit kann Einzelfallhilfe, d.  h. die ressourcenorientierte Unterstützung einzelner Jugendlicher bei Problemen in verschiedenen Lebensbereichen (etwa in Schule, Ausbildung oder im familiären Umfeld), ebenso wie eine freizeit-, sport- und erlebnispädagogische Adressierung von Jugendcliquen beinhalten. Insbesondere, wenn sich das Angebot einer akzeptierenden Jugendarbeit, an dem die Jugendlichen auf freiwilliger Basis teilnehmen, aus Sicht der Jugendclique (schließlich) als Freizeit- und Sozialisationsinstanz bewährt und subjektiv Sinn macht, wird ihr auch zunehmend Offenheit im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit menschenfeindlichen Orientierungs- und Handlungsmustern und deren Reflexion entgegengebracht. Nach Krafeld ist es diesbezüglich wichtig, „das eigene Funktions- und Aufgabenverständnis durchsichtig zu machen [und] die Jugendlichen immer wieder damit vertraut zu machen, daß wir andere Umgehensweisen und Konfliktregelungsmuster verwenden als sie – und daß wir diese auch vergleichsweise für geeigneter halten“ (1996, S. 27). Daraus lässt sich schlussfolgern, dass neben der Adressierung der Jugendclique mit pädagogischen Angeboten, eine akzeptierende Jugendarbeit ebenfalls aktionsoffene soziale Räume ermöglichen sollte, die informelle Bildungsprozesse beinhalten. Mit dem Ansatz der Peer-Edukation, basierend u. a. auf dem cliquenorientierten Muster, wird der Aufbau eines solchen informellen Angebots gegenseitiger Peer-to-Peer-Unterstützung, Freizeitgestaltung und Einflussnahme unter Gleichaltrigen ermöglicht, auf das pädagogische Fachkräfte im Sinne eines modifizierten Rollenverständnisses zurückgreifen können (vgl. Clement und ­Dickmann 2015). Aus der Arbeit mit Jugendcliquen erwächst darüber hinaus die Chance mit einzelnen Jugendlichen im Rahmen einer beziehungsorientierten Einzelfallhilfe zusammenzuarbeiten, um biografisch neuartige Bewältigungsmechanismen und äquivalente Anerkennungs- und Zugehörigkeitsmomente zu ermöglichen und gemeinsam zu entwickeln. Nicht selten geht dieser Einzelfallhilfe eine cliquenorientierte, mehrmonatige Kontakt- und Vertrauensphase voraus. Eventuell wird dabei ein Bedarf nach weiteren Hilfen der Jugendhilfe (sogenannte Hilfen zur Erziehung, §§ 27 KJHG) erkannt und im Familiensystem thematisiert.

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Projekt- und Stadtteilarbeit sowie das Angebot neuer äquivalenter sozialer Räume (Neo-)salafistische Orientierungs- und Handlungsmuster weisen einen integrativen Charakter auf. Vor diesem Hintergrund setzen nun Versuche einer ressourcenorientierten (Re-)Integrationsarbeit ein: „Junge Erwachsene sollen sich als Teil ihres Stadtteils und ihrer gesellschaftlichen Umgebung integriert, eingebunden und wertgeschätzt fühlen können“ (JamiL und VAJA o. J.). Jugendarbeit kann dazu beitragen, „solch ein zivilgesellschaftlich lebendiges Umfeld mit einer wachsenden Attraktivität von Vielfalt zu fördern“ (Krafeld 2007, S. 308). Durch stadtteilbezogene oder jugendpolitische Partizipationsprojekte werden neue soziale Räume und demokratische Milieus ermöglicht, in denen die Jugendlichen an demokratischen und alltagsnahen Entscheidungsprozessen teilnehmen. Akzeptierende Jugendarbeit erhält dann eine milieuvermittelnde Funktion, sowohl innerhalb der Jugendclique als auch zwischen Jugendclique und Erwachsenenwelt. Laut Sturzenhecker werden damit „klassische Formulierungen eines emanzipatorischen Bildungskonzepts aufgegriffen. Da Bildung nicht isoliert individuell, sondern im sozialen, gesellschaftlichen Zusammenhang entsteht, muss Bildung also auch die Mitverantwortung und Mitgestaltung der Gesellschaft und des sozialen Gemeinwesens beinhalten“ (2008, S. 152). Wissenstransfer, Weiterbildung und Elternarbeit In den Vorgängerprojekten des aktuellen Bundesprogramms „Demokratie leben!“ (Kurztitel) hat sich gezeigt, dass Angebote und Maßnahmen dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn sie in den Alltag pädagogischer Regeleinrichtungen und Angebote einfließen und dort Nachhaltigkeit entfalten. Eine Vielzahl der damaligen sowie aktuellen Modellprojekte legen daher bewusst den Schwerpunkt auf die Fortbildung und Qualifizierung von pädagogischem Personal, das in der Regel bereits ein professionelles Beziehungs- und Vertrauensverhältnis entwickelt hat, sodass eine Einflussnahme auf Sozialisationsbedingungen möglich ist (vgl. Palloks 2009, S. 270 f.). Eine enge Kooperation und die Entwicklung von integrierten Konzepten zwischen Regeleinrichtungen und Ergänzungsstrukturen ermöglichen die Erweiterung beruflicher Handlungskompetenzen und die Vergrößerung der Wissensbasis. „Ähnlich wie bei dem pädagogischen Personal ist auch im Hinblick auf Eltern das Bewusstsein dafür gestiegen, diese im Rahmen pädagogischer Projekte ­ebenfalls anzusprechen, um kontraproduktive Einflüsse durch die Elternhäuser zu vermeiden“ (Rieker 2007, S. 301).

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3 Prozesse wahrnehmen, um Grenzen zu setzen In der akzeptierenden Jugendarbeit werden Grenzziehungen als Entwicklungsprozesse zwischen der auf Akzeptanz beruhenden Beziehungsarbeit einerseits und dem Risiko, dass Normalisierungs- und Instrumentalisierungseffekte menschenfeindlicher Orientierungen einsetzen oder sich verstetigen könnten, andererseits reflektiert. Krafeld zufolge ist das Bedürfnis nach eindeutigen und unverrückbaren Grenzziehungen häufig wirklichkeitsfremd, was nicht heißt, dass es keine Grenzziehungen geben soll (vgl. Krafeld 1992a, S. 185). Eine Grenzziehung sollte erfolgen, • „wo konkret eine deutliche körperliche oder eine tief greifende psychische Verletzung ansteht, • wo ein deutliches Risiko besteht, daß man selbst als Deckung oder zur Unterstützung bei rechtswidrigen Aktivitäten instrumentalisiert wird, • wo Akzeptanz zur Einbahnstraße verkommt, also einem selbst, den eigenen Vorstellungen und Maßstäben gegenüber, keine ausreichende Akzeptanz entgegengebracht wird, • wo einem eine Kumpelrolle abverlangt wird, die nicht die nötige Rollendistanz zuläßt, • wo problematische Handlungsweisen zu Widerholungsritualen verkümmert sind und dadurch auf ein Senken der Akzeptanzgrenze drängen, • wo gezielt rechtsextremistische politische oder politisch-propagandistische Wirkungen beabsichtigt sind“ (Krafeld 1996, S. 28). In der akzeptierenden Jugendarbeit erleben die pädagogischen Fachkräfte aus dem Modellprojekt JamiL, dass „Jugendliche und junge Erwachsene, die sich in religiösen Hinwendungsprozessen befinden und auf der Suche nach Antworten sind, ein soziales Umfeld [benötigen], dem sie vertrauen und in dem sie ihre Gedanken frei äußern dürfen“ (JamiL und VAJA o. J.). Vor diesem Hintergrund gelangt Krafeld zu dem Ansatz, dass die Grenzziehungen „jedenfalls nicht so eng gefaßt sein [dürfen], daß sie gängige, wesentliche oder gar zentrale Lebensäußerungen, Verhaltensstile, Symbole oder Rituale der jeweiligen Jugendcliquen abschneiden und ausgrenzen – welche auch immer das sein mögen: Grenzziehungen dürfen erst um etliches jenseits des Wesenskerns einer Clique beginnen“ (1992b, S. 186). Ferner vertritt Krafeld die Auffassung, dass Grenzen gezogen werden, ohne dabei Jugendliche auszugrenzen

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und ohne dass sie durch Cliquen hindurch verlaufen. Dies gilt insbesondere für eine aufsuchende Jugendarbeit, die stärker als die einrichtungsbezogene Jugendarbeit cliquen- und szeneorientiert ausgerichtet ist. Die Haltung des Verstehenwollens Für pädagogische Fachkräfte in der Jugendarbeit ergibt sich kontinuierlich die Notwendigkeit hinsichtlich der Beobachtung und Beurteilungen von wahrgenommenem Verhalten. Diesbezüglich können Erfahrungs- und Wissensdefizite festgestellt werden: Pädagogische Fachkräfte stehen vor der Aufgabe, zwischen selbstbestimmter Religionsausübung und subjektivierter Religiosität von (muslimischen) Jugendlichen einerseits und (neo-)salafistischen Orientierungs- und Handlungsmustern bzw. Hinwendungsprozessen andererseits zu differenzieren. Als Haltungs- und Handlungskompetenz tritt Köttig daher für eine genaue Wahrnehmung einzelner Jugendlicher und deren Bezugsgruppen sowie für die Befremdung des eigenen Arbeitsfeldes ein. Sie plädiert dafür, den Handlungsdruck in Bezug auf die Bereitstellung von Angeboten zu reduzieren, um „zunächst einmal herauszufinden, welche politischen Handlungs- und Orientierungsmuster in der Gruppe vertreten sind“ (Köttig 2008, S. 265). Pädagogische Fachkräfte sollen ihr Arbeitsfeld bewusst befremden, um sich dabei als „Lernender zu begreifen, der in einen für ihn fremden Gesellschaftsausschnitt auf abgekürzte Weise partiell sozialisiert wird – dies im Sinne des Einwanderers, der sich in einer fremden Gesellschaft zurechtfinden muss“ (Schütze 1994, S. 223; zit. n. Köttig 2008, S. 266). „Es ist anzunehmen, dass Betreuende in der Offenen Jugendarbeit davon ausgehen, ihre Gruppe und das, was dort geschieht, gut zu kennen. Aus dieser vermeintlichen Vertrautheit des Feldes folgt in der Regel, dass die Bedeutung von Ereignissen oft vorschnell in bisherige Zuordnungsschemata eingeordnet und damit erklärt wird“ (Köttig 2008, S. 266). Die Haltung des Verstehenwollens soll dieser vorschnellen Interpretation und Wahrnehmungsverzerrung entgegenwirken. Dadurch entsteht Raum für Fragen und Reflexionen zu einem wahrgenommenen Phänomen. Ausschluss aus dem Jugendzentrum In ihrer Untersuchung kam Köttig zu dem Ergebnis, dass es Jugendlichen, die sich eindeutig dem rechtsextremen Spektrum zuwenden, in der Regel gelingt, Angebote der Jugendarbeit in ihrem Sinne zu nutzen und auch ihre Ziele umzusetzen. „Das jedoch erkennen die Mitarbeiter/innen (…) oft nicht, sondern gehen davon aus, dass ihre Arbeit gegen rechtsextremistische Tendenzen gerichtet ist“ (2008, S. 262). Die Folge ist dann, dass sich rechtsextremistische Orientierungen und Handlungsweisen

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weiter ausbreiten, daher empfiehlt Köttig, stärker mit einem Ausschluss von der Jugendarbeit zu arbeiten, um einer strategischen Funktionalisierung zu entgehen. „Im Hinblick auf den Umgang mit eindeutig rechtsextremen Jugendlichen und solchen, die die Offene Jugendarbeit strategisch für ihre Zwecke nutzen“ (ebd.), liegt für Köttig die Handhabe für die pädagogischen Fachkräfte vorwiegend in der Schadensbegrenzung. Dies kann auch für die Jugendarbeit mit Jugendlichen mit (neo-)salafistischen Orientierungs- und Handlungsmustern gelten, insbesondere wenn Jugendliche wiederholt artikulieren, dass sie nicht an einer Jugendarbeit und pädagogischen Beziehungsarbeit interessiert sind, wenn sie sich abkapseln und versuchen andere Jugendliche gezielt zu agitieren bzw. zu rekrutieren und wenn menschenfeindliche Orientierungen und Handlungen den Alltag der Jugendarbeit immer mehr einnehmen und die Jugendarbeit zur Bühne für diese Ansichten verkommt. Dort, wo Jugendliche aus der Jugendarbeit ausgeschlossen werden, muss reflektiert werden, dass das Beziehungs- und Vertrauensverhältnis höchstwahrscheinlich abbricht.

4 Fazit Es ist deutlich geworden, dass eine an den Alltags- und Lebenswelten der Jugendlichen orientierte akzeptierende Jugendarbeit eine Reflexion des Phänomens der Religion bzw. eine hermeneutische Sicht auf religiöse Orientierungs- und Handlungsmuster erfordert. Es geht also nicht darum, eine substanzielle Definition von Religion abzuliefern, sondern die Jugendarbeit muss sich auf die Funktionen der Religion beziehen. Vor diesem Hintergrund, so die These, müssen pädagogische Fachkräfte sowohl biografische Identitätsbildungsprozesse, adoleszenzspezifische Milieuorientierungen von Jugendlichen und subjektive, individuelle Aneignungsprozesse von Religion, als auch Problemlagen und Krisen in den Alltagswelten von Jugendlichen und die sich möglicherweise daraus ergebenden Radikalisierungs- bzw. Hinwendungsprozesse zu menschenfeindlichen, (neo-)salafistischen Orientierungsmustern reflektieren und in diesem Kontext pädagogisch intervenieren.

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Clement, David Yuzva, Diplom Sozialpädagoge/Sozialarbeiter und Religionswissenschaftler, M.A. (Schwerpunkt Islamwissenschaft), arbeitet als Jugendpfleger im Amt für Kinder, Jugend und Familie der Bundesstadt Bonn. Zuvor arbeitete Clement für die Jugendmigrationsdienste (JMD) in Erfurt und im Rhein-Kreis-Neuss. Er promoviert am Institut für Religionswissenschaft der Universität Erfurt mit einer qualitativ-rekonstruktiven Studie zum Thema Jugendarbeit und Neo-Salafismus.

Können konfrontative Gespräche im Kontext des Salafismus stattfinden? Ahmet Toprak und Gerrit Weitzel

Das im Titel auftauchende Adjektiv konfrontativ geht auf das lateinische Verb „confrontare“ = „Stirn gegen Stirn zusammenstellen“ zurück. Konfrontative Pädagoginnen und Pädagogen bieten devianten sowie delinquenten Kindern und Jugendlichen somit – im wörtlichen Sinne – die Stirn (vgl. Weidner et al. 2003, S. 11). Die Konfrontative Pädagogik bezeichnet einen pädagogischen Handlungsstil, der eine Förderung der Selbstverantwortung des Klienten beabsichtigt (vgl. Kilb 2009, S. 45). Sie bietet Methoden und Techniken an, die als sinnvolle Ergänzung zu den klassischen pädagogischen Arbeitsweisen zu betrachten sind. Entscheidende Hinweise, wie aggressivem und unkooperativem Verhalten von Jugendlichen didaktisch effektiv begegnet werden kann, sind inbegriffen. Der pädagogische Handlungsstil ist als Ultima Ratio zu verstehen, als letztes Mittel, wenn akzeptierende, erklärende und auffordernde Interventionen keine positive Wirkung zeigen konnten. Die Anwendung ist demnach für Jugendliche geeignet, die mit herkömmlichen pädagogischen Vorstellungen und Handlungsweisen nicht mehr erreicht und beeinflusst werden können. Auf der Folie des theoretischen Aufsatzes (vgl. den vorhergehenden Beitrag der Autoren) soll versucht werden, die konfrontative Methode in der Beratungssituation mit einzelnen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen vorzustellen. Diese ist als eine Erweiterung im Bereich der Methodenkompetenz zu betrachten, wie mit A. Toprak (*)  Fachhochschule Dortmund, Dortmund, Deutschland E-Mail: [email protected] G. Weitzel  Fachhochschule Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Toprak und G. Weitzel (Hrsg.), Salafismus in Deutschland, Edition Centaurus – Jugend, Migration und Diversity, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25837-5_12

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auffälligen, aber noch nicht gewalttätigen Jungen oder Mädchen gearbeitet werden kann. Bei besonders sensiblen Jugendlichen – ob mit oder ohne Migrationshintergrund – ist die konfrontative Methode nicht sinnvoll. Aber bei Jugendlichen, bei denen der akzeptierende und verständnisvolle Ansatz nicht greift, kann sie durchaus geeignet sein, um den pädagogischen Alltag mit ihnen positiver zu gestalten. Im Folgenden sollen zunächst die Grundlagen der konfrontativen Methode vorgestellt werden, um sie später im Hinblick auf Jugendliche zu reflektieren, die mit der salafistischen Ideologie argumentieren.

1 Was heißt konfrontative Gesprächsführung und wo wird sie eingesetzt? Konfrontative Gesprächsführung heißt, dass der Betreuer oder die Betreuerin Motive, die für das deviante (abweichende) Verhalten nicht relevant sind, zwar versteht, sie aber als Begründung nicht akzeptiert. Die Fachkraft bezieht sich nur auf die mit dem Jugendlichen getroffenen Vereinbarungen, Regeln oder Grenzziehungen und konfrontiert ihn permanent mit deren Nichteinhaltung. Die Gründe dafür sind zwar als Hintergrundwissen von Bedeutung, spielen aber bei der konkreten Handlung und Einhaltung der Vereinbarung keine Rolle. Primäres Ziel ist es, den Jugendlichen damit zu konfrontieren, warum er sich nicht an die Regeln gehalten hat. Im Folgenden soll diese Definition kurz erklärt und interpretiert werden. In jeder Jugendeinrichtung und in jeder Schule gibt es selbstverständlich Regeln. Allerdings gehen in der Praxis häufig verschiedene Personen derselben Institution unterschiedlich damit um. Wer kennt das nicht aus dem beruflichen pädagogischen Alltag: Eine Kollegin reagiert auf einen Regelverstoß eines Jugendlichen, ein anderer Kollege schaut im gleichen Fall einfach weg und wieder ein anderer ist überzeugt, dass in diesem Fall nicht reagiert werden muss. Bei Fortbildungen zum Thema wird immer wieder gefragt: „Wann muss ich denn Grenzen ziehen und wann muss ich unbedingt eingreifen?“ Konfrontativ arbeitende Pädagoginnen und Pädagogen orientieren sich diesbezüglich an dem Erziehungswissenschaftler Flitner, der pädagogische Grenzziehung und ein pädagogisches Eingreifen in folgenden Fällen für zwingend erforderlich hält: 1. Grenzen sind dort zu ziehen, wo dem Kind eindeutig Gefahren drohen. 2. Grenzziehung ist dort nötig, wo ohne eine solche Grenzziehung Menschen verletzt, geplagt, gekränkt würden (vgl. Weidner und Kilb 2004, S. 13). 3. Es gibt Grenzen, die durch unser gemeinschaftliches Leben und die gemeinsamen Sitten bestimmt sind, und es gibt Grenzen der eigenen Belastbarkeit (vgl. Flitner 2009).

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Bei Rangeleien wollen viele Fachkräfte häufig nicht eingreifen, da das Verhalten der Kinder bzw. Jugendlichen oft harmlos erscheint: „Man will doch kein Spielverderber sein und ‚Ringkämpfchen‘ gehören doch bei Jungs dazu.“ Dabei wird übersehen, dass aus Spiel oft Ernst wird und dass auch nicht immer erkennbar ist, ob es wirklich nur Spaß ist. Daher sollten „Spaßkämpfchen“ nur im spielerischen Rahmen, z. B. im Sportunterricht, angeleitet und kontrolliert zugelassen sein. Wenn dies eine festgelegte Regel einer Schule oder eines Jugendhauses ist, hat man als Fachkraft klarere Strukturen für sich und die Kinder/Jugendlichen. Das zieht dann automatisch die Verpflichtung einzugreifen nach sich, wenn so etwas nicht im vorgegebenen Rahmen stattfindet – und man spart sich die Diskussion darüber, ob es nur Spaß ist oder nicht.

2 Worauf bei der konfrontativen Gesprächsführung geachtet werden muss Es muss betont werden, dass die konfrontative Gesprächsführung eine Ergänzung im pädagogischen Methodenbereich darstellt. Ihr Einsatz ist begleitet von anderen Handlungen, wie z. B. die Stärken des Jugendlichen hervorzuheben, ihn zu loben und empathisch auf seine persönlichen und sozialen Rahmenbedingungen einzugehen. Diese Rahmenbedingungen müssen allerdings aus dem konfrontativen Setting herausgehalten werden. Nur Konfrontation allein reicht allerdings nicht aus, denn hinter den Auffälligkeiten stehen meist tatsächlich tief greifende Probleme der Jugendlichen, bei deren Lösung sie Unterstützung benötigen. Wenn wir sie diesbezüglich ernst nehmen und ihnen zu helfen versuchen, können sie auch die Konfrontation von uns annehmen. Das bedeutet, wenn wir beispielsweise in einem Gespräch erfahren, dass der Vater Alkoholiker ist und das Kind/ den Jugendlichen schlägt, werden wir Hilfe anbieten. Wir werden aber diesen Hintergrund nicht als Entschuldigung für die Gewalttätigkeit des Jugendlichen dulden. Wenn er gerade selbst zugeschlagen hat, zählt nur diese Situation und seine eigene Verantwortung dafür. Folgende Prinzipien sind bei dieser Methode zu beachten: • Oberstes Prinzip ist die Akzeptanz der Person – bei klarer Verurteilung des Fehlverhaltens und der Taten. Dies muss eine Grundeinstellung des Pädagogen oder der Pädagogin sein, und er oder sie muss dies auch glaubhaft vermitteln können. • Vor jeder Konfrontation steht der Beziehungsaufbau. Nur eine tragfähige Beziehung verträgt Konfrontation.

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• Konfrontative Gesprächsführung ist als eine Art Ultima Ratio zu verstehen, als letztes Mittel, wenn akzeptierende, erklärende, auffordernde Interventionen keine positive Wirkung hatten. • Es gilt das Prinzip: Schon bei Kleinigkeiten reagieren, um Größeres zu verhindern. • Festgelegte Regeln müssen transparent sein, es darf keine Willkür herrschen. Die festgelegten Regeln gelten nicht nur heute, sondern auch morgen, auch wenn der Sozialarbeiter oder die Sozialarbeiterin gerade selbst keinen guten Tag hat oder im Stress ist. • Das Bewusstmachen der eigenen Vorbildfunktion ist eine wichtige Voraussetzung für erfolgreiches Arbeiten. Ich bin als pädagogische Fachkraft nur glaubwürdig, wenn ich vorlebe, was ich einfordere (z. B. selbst pünktlich sein, Umgangsformen selbst einhalten usw.). • Es wird mit ritualisierter Grenzziehung gearbeitet. Dabei sollte man nicht lockerlassen, das erwünschte Verhalten wird immer wieder eingefordert. • Für Fehlverhalten angekündigte Konsequenzen müssen unbedingt und zeitnah erfolgen, da sonst die Glaubwürdigkeit infrage gestellt ist. • Rechtfertigungsstrategien der Jugendlichen werden nicht zugelassen. Der Konfrontierer lässt sich nicht auf Diskussionen ein, wie: „Ich habe ja nur getreten, weil der X zu mir ‚schwule Sau‘ gesagt hat.“ • Konfrontatives Arbeiten beinhaltet die Stärkung des Selbstwertgefühls des Jugendlichen und die Vermittlung von sozialer Kompetenz, denn genau hier sind bei den meisten „Auffälligen“ Defizite vorhanden. Kriterien und Voraussetzungen für die konfrontative Gesprächsführung Folgende Kriterien sollten bei der konfrontativen Gesprächsführung beachtet werden: 1. Fingerspitzengefühl und Beziehungsebene: Nicht für jedes Kind und jeden Jugendlichen ist dieser Stil geeignet. Das Kind/der Jugendliche muss persönlich und intellektuell in der Lage sein, die Konfrontation anzunehmen. Bei ruhigen und zurückhaltenden Kindern und Jugendlichen sollte man eher auf sie verzichten. Wichtig ist, dass die Konfrontation erst dann zum Einsatz kommt, wenn der Jugendliche sie – latent oder bewusst – sucht und zwischen ihm und der Fachkraft eine Beziehungsebene aufgebaut wurde. 2. Regelbruch: Die Konfrontation wird primär eingesetzt, wenn eine Regel oder eine Vereinbarung nicht eingehalten wird. Der Pädagoge/die Pädagogin konfrontiert den Jugendlichen mit dem Regelverstoß.

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3. Konfliktfall: Hier wird die Konfrontation als Konfliktlösungsstrategie eingesetzt und die Entscheidung nicht den Kontrahenten überlassen. Der Pädagoge/die Pädagogin konfrontiert jeden nur mit seinem eigenen Verhalten. Es geht nicht darum, wer Recht hat, sondern um die Übernahme der Teilverantwortung: Denn beide Parteien haben zur Eskalation des Konflikts beigetragen. Ziel ist es, dass jede Konfliktpartei ihren Teil der Verantwortung übernimmt. 4. Grenzziehung als Prävention: Hier ist die Haltung der Pädagogin/des Pädagogen von entscheidender Bedeutung. Wenn die pädagogische Fachkraft die konfrontative Haltung beibehält und alltägliche „kleinere“ Grenzüberschreitung konfrontiert, werden die Kinder und Jugendlichen weniger und seltener auffällig. Bei diesem Gesprächsstil können Fachkräfte folgende Bestandteile als „roten Faden“ nutzen 1. Zielvereinbarung: Unabhängig davon, um welche konkreten Probleme es geht, möchten die Pädagoginnen von den Jugendlichen zunächst nur wissen, warum die Vereinbarungen nicht eingehalten bzw. die Aufgaben nicht erledigt wurden. „Wichtige“ Nebenfaktoren, die als Erklärung angeführt werden, werden nicht akzeptiert. Die Nichteinhaltung der Vereinbarung oder Regel zieht sich als „roter Faden“ durch das Gespräch. 2. Unnachgiebigkeit: Unabhängig davon, welche Gründe vorliegen, dürfen die Pädagoginnen nicht nachgeben. Auffällige Jungen und Mädchen legen Nachgiebigkeit und Basisdemokratie häufig als Schwäche aus. Die meisten Jugendlichen wissen sehr wohl, wie ihr Gegenüber „funktioniert“, denn sie sind „pädagogentrainiert“. Gerade der verständnisvolle Ansatz wird von vielen Gewalt anwendenden Jugendlichen missbraucht und gegen die Fachkräfte gewendet. Eine gängige Devise der Jugendlichen heißt: „Ich erzähle ihm meine schlechte und traurige Kindheit, schon habe ich meine Ruhe.“ 3. Widerlegen: Aussagen der Kinder und Jugendlichen sollten von den Fachkräften aufgeschrieben werden, damit Widersprüche offenkundig werden. Die meisten Kinder und Jugendlichen widersprechen sich selbst. In diesem Fall sollen sie nicht der Lüge bezichtigt werden, sondern ihre Aussagen sollen mit gezielten provokativen und konfrontativen Fragen abgeschwächt bzw. außer Kraft gesetzt werden. 4. Ständiges Wiederholen: Auffällige Jugendliche versuchen permanent, die Verantwortung für ihr Verhalten auf andere abzuwälzen. Entweder sind andere

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Jugendliche daran schuld oder die kranke Mutter etc. Hier müssen die Pädagoginnen beharrlich bleiben, bis der Jugendliche genervt aufgibt, seine Teilverantwortung übernimmt und keine Ausflüchte mehr sucht. 5. Unterbrechen und verunsichern: Wenn der Jugendliche nicht zum Punkt kommt oder bewusst vom Problem ablenkt, dann sollte man ihn unterbrechen und wieder konfrontieren. Das permanente Unterbrechen und immer wieder Auf-den-Punkt-Bringen zeigt, dass man in erster Linie an den Fakten interessiert ist und den Rest für sekundär hält. Dieser Stil trägt dazu bei, dass der Jugendliche die Lust verliert, sein Verhalten schönzureden bzw. zu rechtfertigen. 6. Keine Einsicht verlangen: Einsicht verlangen ist ein gängiges pädagogisches Verfahren in Deutschland, wenn ein Konflikt gelöst werden soll. Dabei wird vom devianten Kind oder Jugendlichen Reue, Einsicht und schließlich eine Entschuldigung gefordert. Die Kinder und Jugendlichen sollen erkennen, dass ihr Fehlverhalten negative Konsequenzen hat, dies kann aber nicht durch die Forderung der pädagogischen Fachkräfte erreicht werden. In dieser Situation sind Jugendliche schnell bereit, Bedauern zu äußern, um der unangenehmen Situation zu entkommen und den Pädagogen los zu sein. Allerdings sollten Pädagoginnen bei Jugendlichen, die kein Mitgefühl zeigen, in anderen Zusammenhängen versuchen, das Gefühl der Empathie zu fördern. Empathie ist nicht angeboren, sie wird bei einer positiven Sozialisation erworben. Wenn Jugendliche diesbezüglich ein Defizit haben, sollte diese Fähigkeit gefördert werden.

3 Konfrontation im Kontext des Salafismus? Wenn man konfrontative Gesprächsführung bei jungen Salafisten einsetzt, muss berücksichtigt werden, dass die salafistische Szene schwer zugänglich ist. Der Zugang zu solchen Gruppen kann in den verschiedenen Öffentlichkeiten im Gemeinwesen mit der konfrontativen Methode nicht geleistet werden, zumal die Gruppe sehr heterogen ist. Mittlerweile laufen in der Praxis der Sozialen Arbeit allerdings einige Versuche, um auch diese Zielgruppe (sozial-)pädagogisch zu erreichen. Als Beispiel kann der Ansatz der „Akzeptierenden Jugendarbeit“ nach Krafeld 1996 bezeichnet werden. Das Konzept wurde in den 1990er Jahren von Franz Josef Krafeld entwickelt, um gewaltbereite rechte Jugendliche zu erreichen (vgl. Clement und Dickmann 2015, S. 71 ff.). Auch für die (aufsuchende) Jugendarbeit bezogen auf salafistische Gruppen scheint die Methode „Akzeptierende

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Jugendarbeit“ angemessen und erprobenswert zu sein. Auch wenn sich die Jugendlichen in pädagogischen und schulischen Einrichtungen befinden, sich (noch) nicht radikalisiert haben, mehr oder weniger „Mitläufer“ sind, kann aus Sicht der Autoren die konfrontative Gesprächsführung in Betracht gezogen werden. Die Regeln für den Einsatz der konfrontativen Gesprächsführung gelten auch bei Jugendlichen, die mit Salafismus argumentieren oder die salafistische Szene attraktiv finden. Wenn man das unten aufgeführte Beispiel der konfrontativen Gesprächsführung genauer betrachtet, kann sehr schnell festgestellt werden, dass Pädagoginnen und Pädagogen dabei nicht über ein tief greifendes Wissen über kulturelle oder religiöse Besonderheiten verfügen müssen. Allerdings sollten die pädagogischen Fachkräfte die widersprüchlichen, bisweilen auch oberflächlichen Argumentationslinien der Jugendlichen erkennen können, um darauf konfrontativ zu reagieren. Ein gewisses interkulturelles und interreligiöses Wissen dient dazu, von Stereotypen und Vorurteilen geprägte Argumentationen zu vermeiden. Konfrontation ist nicht nur ratsam, sondern sogar zwingend notwendig, wenn man zwei weitere zentrale Aspekte betrachtet: 1. Pädagogische Fachkräfte sind in ihrem Alltag des Öfteren mit der Tatsache konfrontiert, dass immer mehr Kinder und Jugendliche behaupten, bestimmte Dinge (Make-up bei Mädchen, langer Bart bei Jungen etc.) nicht tun zu dürfen bzw. machen zu müssen, weil ihre Religion dies verbiete oder vorschreibe. Bei der Konfrontation geht es dann nicht darum, was Religion ist und ob man diesen „Vorgaben“ folgen soll. Vielmehr sollen die Pädagoginnen und Pädagogen wertfreie und einfache Fragen stellen, um die Widersprüche herauszuarbeiten. Denn der Großteil der Kinder und Jugendlichen, die in den Jugendhilfeeinrichtungen direkt oder indirekt mit Salafismus argumentieren, sind als „Mitläufer“ zu bezeichnen und haben sich keine tief greifenden Gedanken darüber gemacht. Konfrontation hilft in diesem Fall und gibt den Kindern und Jugendlichen Orientierung, um das eigene Verhalten bzw. die eigene Argumentation zu reflektieren. 2. In der Adoleszenz neigen Heranwachsende dazu, mit ihrem Verhalten vor allem Erwachsene – auch Lehrkräfte und Sozialpädagoginnen und -pädagogen – zu provozieren. Um der Provokation Nachdruck zu verleihen, sind sie im Auftreten scheinbar selbstsicher und selbstbewusst. Das verunsichert die Fachkräfte, weil sie – u. a. wegen des eingeschränkten Wissens – keine Fehler riskieren möchten. Es ist zu empfehlen, sich vom scheinbar selbstbewussten Auftritt der Jugendlichen nicht beeindrucken zu lassen. Denn hinter der Fassade verbergen sich oft Unwissenheit, Unsicherheit und oberflächliche Worthülsen, die nach der Konfrontation zum Vorschein kommen.

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Die Konfrontation im Kontext des Salafismus wollen wir anhand eines Fallbeispiels präzisieren. Fallbeispiel: Ein Jugendlicher möchte mit „Ungläubigen“ nicht diskutieren. Dieser Fall wurde im Jahre 2013 während einer zweitägigen Fortbildung in Hannover geschildert. Ein möglicher Gesprächsverlauf wurde in der Fortbildungsgruppe konstruiert. Vorbemerkungen  Der 16-jährige Muhammet besucht die neunte Klasse einer Gesamtschule in Hannover. Von der fünften bis zur achten Klasse fällt Muhammet in der Schule nicht besonders auf. Er ist zwar kein besonders guter Schüler, aber er ist auch nicht so schlecht, dass seine Versetzung gefährdet wäre. Er spielt Fußball in der Schülermannschaft sowie im Verein und hat in der achten Klasse eine Freundin. In seiner Freizeit geht er mit Freunden ins Kino, besucht McDonalds oder spielt Computerspiele. Mit anderen Worten: „typisches“ Verhalten für einen Jungen seines Alters. Gegen Ende der achten Klasse trennt er sich von seiner Freundin Melanie mit der Begründung, dass sie keine Muslimin sei. Ab der neunten Klasse verändert er sich auch äußerlich: Er lässt sich einen Bart wachsen, zieht keine Jeans oder engen Hosen mehr an und spricht nicht mehr mit den Mädchen in seiner Klasse. Wenn er sich im Unterricht zu Wort meldet, dann versucht er zu erklären, warum die anderen Ungläubige sind und Sünden begehen. Er beschimpft und beleidigt Mitschüler als Ungläubige. Er sprengt jede Unterrichtsstunde mit der gleichen Vorgehensweise. Während des Sozialkundeunterrichts konfrontiert ihn sein Lehrer mit seinem Verhalten und seiner Argumentation, es sei ein Zeichen von „Ungläubigkeit“, wenn Mädchen und Jungen im selben Raum unterrichtet würden: R.: Muhammet, was findest du ungläubig? M.: Ja, alles halt. R.: Was meinst du mit „alles“? M.: Ja, wenn Mädchen und Jungen hier zusammen sitzen und solche Dinge. R.: Was genau ist daran schlimm? M.: Meine Religion sagt: Das ist Sünde! R.: Was meinst du mit „meine Religion“? M.: Islam halt. Im Islam sollen Frauen und Männer getrennt sitzen und sich anständig benehmen. R.: Ehrlich gesagt, habe ich das so nicht gehört. In der Türkei gehen Mädchen und Jungen auch in die gleiche Schule und sitzen gemeinsam in der Klasse.

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M.: Die begehen auch Sünde und kommen in die Hölle! R.:  Was genau ist Sünde? Wir sitzen, diskutieren und lernen doch hier zusammen. M.: Trotzdem ist das Sünde. Gott hat das so nicht vorgesehen! R.: Wie hat Gott das denn vorgesehen? M.: Meine Religion sagt, du sollst beten, anständig sein und dich von allen Sünden fernhalten. R.: Du hast mir aber immer noch nicht gesagt, was diese Sünden sind? M.: Kein Genuss, weißt du: keine Cola, kein McDonalds, Alkohol sowieso nicht und für die Religion da sein. R.: Das kannst du ja machen. Hindert dich doch keiner. Warum kommst du damit hierhin? M.: Weil die anderen mich nerven. R.: Und was ist mit dir? Du nervst die anderen auch. Warum willst du die anderen verändern, wenn du selber nicht weißt, was du willst? M.: Ich weiß schon, was ich will … R.: Was denn? M.: Ja ja, ist schon gut! R.: Sag’s doch! M.: Nee, ist gut! R.: Wenn das so ist, beachte die Regeln in der Schule und im Unterricht. Keine Beleidigungen, keine Beschimpfungen, keine Bevormundung. Außerdem würde ich gerne mal mit deinen Eltern reden. M.: Warum denn? Was haben meine Eltern damit zu tun? R.: Einfach so. Und jetzt beenden wir diese Diskussion. Vorteile der Konfrontation Muhammet nimmt zwar den Begriff „Salafismus“ nicht in den Mund und „argumentiert“ ausschließlich auf der religiösen Folie. Aber genau das scheint das Problem zu sein: Denn die Salafisten vermitteln den Jugendlichen ihre Ideologie als genuine religiöse Einstellung. Mit einfachen, wertfreien Fragen und – wenn es notwendig ist – mit Vergleichen hinterfragt der Lehrer die Argumente des Jugendlichen. Es zeigt sich, dass Muhammet die Inhalte seiner Religion nicht sehr überzeugend darlegen kann. Außerdem macht der Lehrer deutlich, dass er ihn im Auge behält, indem er das Gespräch mit seinen Eltern sucht. Denn Konfrontation allein ist nicht immer hilfreich. Mit der Hilfe der Eltern muss herausgefunden werden, warum Muhammet sich verändert hat. Es ist durchaus möglich, dass die Eltern hilfreiche Impulse geben, indem sie ihre Sicht von Muhammets Entwicklung und ihre Einstellung zur Religion schildern. Dann können die Eltern, Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter gemeinsam eruieren, wie Muhammet „geholfen“ werden kann.

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4 Grenzen der konfrontativen Gesprächsführung Wie alle pädagogischen Methoden hat auch die konfrontative Gesprächsführung ihre Grenzen, die in drei Punkten zusammengefasst werden können: Unterstützung durch flankierende Maßnahmen Wie oben mehrfach betont wurde, ist der konfrontative Ansatz kein Allheilmittel, sondern nur ein Baustein in der pädagogischen Arbeit mit schwierigen und sozial auffälligen Kindern und Jugendlichen. Es ist wichtig, dass die Konfrontation von flankierenden Maßnahmen begleitet wird. Denn eine Konfrontation verpufft, wenn die Kinder und Jugendlichen nicht durch Einzelgespräche, Einbeziehung der Eltern und/oder durch die Stabilisierung der persönlichen Situation aufgefangen werden. Wenn die Konfrontation nicht auf der Beziehungsebene eingesetzt wird, kann sie den Kindern und Jugendlichen mehr Schaden zufügen als nutzen. Das soll anhand eines Beispiels dargestellt werden: Eine Lehrerin, die gerade in ihrer neuen Schule den Dienst aufnimmt, konfrontiert am ersten Tag den 13 Jahre alten Umut, der aus der Pause zu spät in den Unterricht kommt. Der Junge reagiert nicht auf die Konfrontation und setzt sich auf seinen Stuhl. Er weint die ganze Stunde über und ist nicht zu beruhigen. Wenn die Lehrerin Umut besser gekannt hätte, hätte sie auf die Konfrontation vermutlich verzichtet, da sie bei sensiblen und introvertierten Kindern und Jugendlichen kontraproduktiv ist. Kommunikative Kompetenzen bzw. Gesprächsbereitschaft  Die meisten pädagogischen Maßnahmen sind an gute und ausgewogene kommunikative Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen gekoppelt, wie beispielsweise Mediation, TäterOpfer-Ausgleich oder Konfliktschlichtungsprogramme. So werden auch bei der Methode der konfrontativen Gesprächsführung gute sprachliche und argumentative Kompetenzen vorausgesetzt. Wenn diese oder die nötige Gesprächsbereitschaft fehlen, kommt die Methode an ihre Grenzen. Kognitive Kompetenzen und Fähigkeiten Neben kommunikativen Kompetenzen wird bei der konfrontativen Gesprächsführung erwartet, dass die Kinder und Jugendlichen kognitiv und intellektuell in der Lage sind, die Konfrontation richtig einzuordnen bzw. einzuschätzen. Wenn diese Fähigkeiten vermindert sind oder eine geistige Behinderung vorliegt, kann die konfrontative Gesprächsführung nicht erfolgreich sein.

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5 Fazit Wer mit Methoden der Konfrontativen Pädagogik Jugendliche migrationssensibel, also unter Berücksichtigung ihrer spezifischen Lebensumstände und besonderen Ressourcen, fördern will, damit sie ihr Leben und ihre Zukunft im Sinne des Gesetzes und einer liberalen Gesellschaft gestalten können, kommt nicht umhin, eine Brücke zu schlagen zwischen den migrationsspezifischen Rahmenbedingungen und den Zielen der Institutionen. Wie bei einem Architekten, der für die Konstruktion einer Brücke die Distanz und die Beschaffenheit beider (Ufer-)Seiten analysiert, bevor er mit der konkreten Arbeit beginnt, sind Vorbereitung und Hintergrundwissen auch in der pädagogischen Arbeit von fundamentaler Bedeutung. Konfrontation ist also latent immer auch eine Form der Verständigung bzw. ein erster Schritt zur Verständigung. Dabei sei betont: Was dem Architekten das Gesetz der Schwerkraft, ist dem Pädagogen das deutsche Recht. Das Motto muss lauten: Grundsätzlich gleiche Regeln, aber nach Notwendigkeit ein anderer Zugang und eine andere Umsetzung! Das bedeutet, die besonderen Bedingungen, unter denen Jugendliche mit Migrationshintergrund aufwachsen, immer im Hinterkopf zu behalten. Insbesondere die identifikativen Krisen aufgrund der kulturellen und sozialschichtbezogenen Herkunft stellen für sie Belastungen dar, die zusätzlich zu den adoleszenz- und geschlechtsspezifischen Problemlagen die Jugendphase erschweren. Die Konfrontation sollte also als Sprungbrett für Verständigung gesehen werden. Wie bereits dargestellt, kann die konfrontative Methode nicht für sich beanspruchen, ein Allheilmittel gegen die Angebote salafistischer Gruppierungen zu sein. Sollen Deradikalisierungsstrategien Erfolg versprechend sein, müssen sie zu einem möglichst frühen Zeitpunkt zum Einsatz kommen. So wie im Beispiel angewendet, ermöglichen sie einen Zugang zur Argumentation und Argumentationslogik des Adressaten/der Adressatin. So wird ein erster Einblick in seine/ihre Aneignungsstufe erreicht. Je stärker und festgefahrener die Argumentation, desto weiter scheint auch die Einbindung in entsprechende Gruppierungen zu sein. Ausgehend von dieser Erkenntnis werden Möglichkeiten weiterer Vernetzung mit den Eltern, Fachlehrern und Beratungsstellen und die Planung weiterer pädagogischer Maßnahmen ermöglicht.

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Literatur Clement, D., & Dickmann, L. (2015). Jugendarbeit mit Jugendlichen in neo-salafistischen Gruppen. Migration und Soziale Arbeit, 37(1), 67–75. Flitner, A. (22009). Konrad, sprach die Frau Mama. Über Erziehung und Nicht-Erziehung. Weinheim: Beltz. Kilb, R. (2009). Gewalttätigkeit als „adoleszente Botschaft“ und „Sprache“. Entwicklungsphase Adoleszenz und die jugendliche Offenheit für Gewalthandlungen. In R. Kilb, J. Weidner, & R. Gall (Hrsg.), Konfrontative Pädagogik in der Schule. Anti-Aggressivitäts- und Coolnesstraining (2. Aufl.). Weinheim: Beltz Juventa. Krafeld, F. J. (1996). Die Praxis akzeptierender Jugendarbeit. Konzepte, Erfahrungen, Analysen aus der Arbeit mit rechten Jugendcliquen. Opladen: Leske + Budrich. Weidner, J., & Kilb, R. (2004). Konfrontative Pädagogik. Konfliktbearbeitung in Sozialer Arbeit und Erziehung. Wiesbaden: VS Verlag. Weidner, J., Kilb, R., & Jehn, O. (Hrsg.). (2003). Gewalt im Griff. Weiterentwicklung des Anti-Aggressivitäts- und Coolness-Trainings (Bd. 3). Weinheim: Beltz Juventa.

Toprak, Ahmet, für Erziehungswissenschaft an der Fachhochschule Dortmund, Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Migration, Integration, Geschlechterforschung im Kontext der Migration. Weitzel, Gerrit,  Fachhochschule Münster- Institut für Gesellschaft und Digitales. Arbeitsschwerpunkte: Jugenforschung, Diskriminierungs- und Rassismusforschung.