Russlands imperiale Macht: Integrationsstrategien und ihre Reichweite in transnationaler Perspektive 9783412215507, 9783412209490

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Russlands imperiale Macht: Integrationsstrategien und ihre Reichweite in transnationaler Perspektive
 9783412215507, 9783412209490

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Russlands imperiale Macht Integrationsstrategien und ihre Reichweite in transnationaler Perspektive

herausgegeben von Bianka Pietrow-Ennker

2012 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Dieses Buch wurde gefördert mit Mitteln des im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder eingerichteten Exzellenzclusters der Universität Konstanz „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über   http://dnb.d-nb.de  abrufbar.

Umschlagabbildung: Wassily Kandinsky: Ein Zentrum, 1925 (R. 728). Öl auf Leinwand, 140,6 x 99,4 cm. Dauerleihgabe der Solomom Guggenheim Foundation, New York. © akg-images / VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20949-0

Inhaltsverzeichnis

Bianka Pietrow-Ennker Einleitung: Konzept, Themen und Forschungsstrategien.......................... 9

I. Hegemoniale Konzeptbildungen Ricarda Vulpius Kulturgeschichte und Imperium im russischen 18. Jahrhundert............... 37 Jan C. Behrends Metropole der Macht. Der Moskaudiskurs im Stalinismus (1931–1954)............................................................................................ 55 Nikolaus Katzer Die sportive Gesellschaft als ideale Ordnung. Zum sowjetischen Konzept der Körperkultur........................................................................ 85 Olga Pavlenko Geopolitical Visions in Russia: The Post-Soviet Interpretations................ 103

II. Repräsentationsformen von imperialer Macht Malte Rolf Imperiale Herrschaft im städtischen Raum: Zarische Beamte und urbane Öffentlichkeit in Warschau (1870–1914)..................................... 123 Lars Karl Helden zwischen Moskau und Medina: Imam Sˇamil’, Babäk und Alisˇer Navoi als imperiale Integrationsfiguren in den muslimischen Regionen der Sowjetunion....................................................................... 155 Oliver Reisner Die Erforschung Kaukasiens im Zarenreich und der frühen Sowjetunion – Der Wandel von Interessen und Konzepten in den Regionalwissenschaften............................................................................ 179

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Inhaltsverzeichnis

Elena Zubkova, Sergej Zubkov Das große PR-Projekt »Nikita Chrusˇˇcev für den Westen«. Konstruktionsmechanismen und Repräsentationsstrategien eines neuen Sowjetunionbildes ......................................................................... 209

III. Trans- und Internationalität diskursiver Machtstrategien Brigitte Studer Die Komintern: Herrschaftspraktiken, Machtmechanismen, kollektive und individuelle Handlungsspielräume.................................... 229 Martin Lutz Ein transnationales Geschäft. Kommunikation und Institutionalisierungsprozesse zwischen Siemens und dem sowjetischen Außenhandelsapparat während der Weimarer Republik....... 259 Isabelle de Keghel Ungleiche Freunde. Visuelle Repräsentationen der ostdeutschsowjetischen Beziehungen in der Illustrierten Ogonek............................... 283 Ragna Boden Weltmacht kommunizieren: Möglichkeiten und Grenzen sowjetischer Verständigung mit außereuropäischen Partnern am Beispiel Indonesiens.............................................................................................. 305

IV. Widerständigkeiten und Gegenentwürfe als Formen von Desintegration Natalia Donig Reisen ins »Arbeiterparadies«. Deutsche Delegationen in der Sowjetunion zwischen Inszenierung und Eigensinn (1953–1957)............ 325 Robert Brier Solidarität in unübersichtlichen Zeiten. Zu den kulturhistorischen Kontexten der »Außenpolitik« polnischer Oppositioneller in den 1980er Jahren .......................................................................................... 357

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Alvydas Nikžentaitis Zwischen Erinnerungs- und Gedächtniskultur: Die Bedeutung von Vergangenheitsvorstellungen der Zwischenkriegszeit für die heutige Außenpolitik in Ostmitteleuropa ............................................................. 383

Autorenverzeichnis........................................................................... 397 Karten................................................................................................... 399

Einleitung: Konzept, Themen und Forschungsstrategien Bianka Pietrow-Ennker

Zum Konzept des Bandes Der vorliegende Band ist ein Ergebnis des Konstanzer Exzellenzclusters »Kulturelle Grundlagen von Integration«. Durch interdisziplinäre Kooperationen, vielfältige Anregungen über Projekte, Vorträge, Tagungen und Diskussionen mit Gästen hat sich das Konzept des Bandes ergeben, das sich als ein Osteuropa bezogener, geschichtswissenschaftlicher Beitrag zum Problemfeld von Integration versteht. Die Erforschung dieses Problemfeldes mit kulturwissenschaftlichen Ansätzen verweist im Verständnis der Forschungsgemeinschaft des Clusters darauf, dass Kultur nicht als Vorrat an unhinterfragbaren Gemeinsamkeiten zu betrachten ist. Vielmehr soll Kultur als Bereich der Sinnproduktion verstanden werden, in dem der Bogen von gelungener, sozial integrativer Sinnstiftung bis zu Differenzen, Spannungen und Dysfunktionalitäten reicht.1 Der Band soll zudem einen Beitrag zu einem der Forschungsfelder des Exzellenzclusters leisten, der sich auf die Erforschung »transkultureller Hierarchien« bezieht. Dabei wird davon ausgegangen, dass Hierarchie eine universale, aber zugleich kulturgebundende Form von Integration ist. Im Exzellenzcluster werden zeit- und raumabhängig sowie in Dimensionen sozialer und politischer Ordnung Hierarchiestile in inter- und transkulturellen Kontexten untersucht. Man fragt etwa nach den kulturellen Konstruktionen von Hierarchien sowie nach deren integrierenden Wirkungen.2 Die Perspektive der Inter- bzw. Transkulturalität bietet sich für unseren Band insbesondere durch den multiethnischen Charakter von Imperien an, an deren Peripherien verschiedenartige Kulturen (im Sinne von Zivilisationen) verstärkt zusammentrafen und auf der Grundlage von dichten transnationalen Kulturkontakten und Transfers die unterschiedlichsten Verflechtungen entstehen ließen. Hinzu kamen universalistische Zivilisierungsmissionen des Imperiums, durch die Außenkontakte in viel-

1 (Zugriff 07.02.2012). Zum cultural turn synthetisierend: Andreas Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilserwist 2006, S. 15 ff. 2 (Zugriff 07.02.2012).

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fältiger Weise gestaltet wurden.3 In unserem Untersuchungskontext soll der übergreifende Begriff, der die Transferleistungen zwischen unterschiedlichen Gruppen von Akteuren charakterisiert, das »Transnationale« sein. Aspekten der transnationalen Kommunikation und der transnationalen Beziehungen wird in den Beiträgen besondere Aufmerksamkeit gewidmet, um Machtstrategien zu ermitteln. Der in der Geschichtswissenschaft noch recht neue Ansatz der Transnationalen Geschichte bietet für uns den Vorteil, vielgestaltige Beziehungen, Abhängigkeiten und Verflechtungen unterschiedlicher Akteure nicht nur auf der rein staatlichen Ebene der Diplomatie in den Blick zu nehmen. Wie etwa Kiran Klaus Patel betont hat, ist der Bezug der Transnationalen Geschichte letztlich aber stets der (National‑)Staat, selbst wenn es um Abgrenzungen geht. Der Hauptunterschied zwischen internationaler und transnationaler Geschichte liegt jedoch darin, dass Letztere von ihren Fragestellungen und der historiographischen Tradition, aus der sie sich speist, primär aus der Binnengeschichte kommt, diese nun aber durch neue Verknüpfungen zu durchbrechen und zu erweitern versucht und den politischsozialen Raum der Nationalgesellschaft [in unserem Fall des imperialen Staates, B. P.E.] nicht unhinterfragt akzeptiert.4

Von grundsätzlicher Bedeutung sind dabei neben politischen soziale und kulturelle Interaktionsprozesse sowie die Konsequenzen, die sich daraus für Akteure und Strukturen ergeben.5 3 Zu Begriff, Gestalt und Funktion von Grenzräumen: Jürgen Osterhammel, »Kulturelle Grenzen in der Expansion Europas«, in: ders., Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen 2001, S. 203– 239; zur Definition interkulturellen Transfers und transnationaler Grenzräume: Johannes Paulmann, »Grenzüberschreitungen und Grenzräume. Überlegungen zur Geschichte transnationaler Beziehungen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Zeitgeschichte«, in: Eckart Conze u. a. (Hg.), Geschichte der internationalen Beziehungen. Erneuerung und Erweiterung einer historischen Disziplin, Köln u. a. 2004, S. 169–196, bes. S. 182 ff. 4 Kiran Klaus Patel, »Überlegungen zu einer transnationalen Geschichte«, in: Geschichte und Gesellschaft, 29 (2003), S. 626–645, hier S. 633. Zur Begriffsdifferenzierung: Jürgen Osterhammel, »Globalgeschichte«, in: Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 592–610, bes. S. 594–597. Wertvolle Perspektiven unterschiedlicher Art bieten z. B. die Bände von Gunilla Budde u. a. (Hg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006; Wilfried Loth, Jürgen Osterhammel (Hg.), Internationale Geschichte. Themen – Ergebnisse – Aussichten, München 2000; Eckart Conze u. a. (Hg.), Geschichte der internationalen Beziehungen. Erneuerung und Erweiterung einer historischen Disziplin, Köln u. a. 2004. 5 Jürgen Mittag u. Berthold Unfried, »Transnationale Netzwerke – Annährungen an ein Medium des Transfers und der Machtausübung«, in: Berthold Unfried u. a. (Hg.), Trans-

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Das Schwergewicht in diesem Band wird auf der trans- und interkulturellen Übertragung von Denkmustern und Sehweisen liegen, wobei der Begriff des Transkulturellen in enger Anlehnung an das formulierte Verständnis von Transnationaler Geschichte gebraucht werden soll. Während interkultureller Transfer in der Forschung eher auf der Mikroebene angesiedelt wird und das kleinste Handlungsfeld markiert, in dem sich trans- und internationale Beziehungen manifestieren,6 soll sich Transkulturalität auf größere Zusammenhänge oder Reichweiten und bezüglich unseres Untersuchungsgegenstands auf die kulturelle Wirkmächtigkeit des russländischen Imperiums und seiner Nachfolgestaaten beziehen.7 Unser Team von Autorinnen und Autoren hat sich als räumlichen Fokus das russländische Imperium und seine Nachfolgestaaten, die Sowjetunion und die Russländische Föderation, gewählt. Die Merkmale der Herrschaftsbildung von Imperien wurden von Jürgen Osterhammel als Mitglied des Konstanzer Exzellenzclusters vor kurzem auf der Grundlage einer breiten Forschungssynthese zusammengestellt und dabei zugleich als Problemlagen von Integration ins Auge gefasst, die exemplarisch auf das russländische Beispiel bezogen werden sollen. Als charakteristisch für ein Imperium gelten demnach der hierarchisch geordnete Herrschaftsverband, die Großräumigkeit, Heterogenität, Multiethnizität und soziokulturelle Vielfalt. Eine asymmetrische Zentrum-PeripherieStruktur, bei radialer Anordnung der Peripherien auf das Zentrum, sowie die Spezifik von Imperien als politisch zentrifugale Verbände schaffen einen besonnationale Netzwerke im 20. Jahrhundert. Historische Erkundungen zu Ideen und Praktiken, Individuen und Organisationen, Wien 2008, bes. S. 9 ff. 6 Z. B. Paulmann, »Grenzüberschreitungen«, S. 180; ders., »Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts«, in: Historische Zeitschrift, 267 (1998), S. 649–685. 7 Die Definition des Begriffs der Transkulturalität variiert in Abhängigkeit von den Erkenntnisinteressen und je nach wissenschaftlichen Disziplinen stark: Andreas Hepp, Martin Löffelholz (Hg.), Grundlagentexte zur transkulturellen Kommunikation, Konstanz 2002, bes. S. 346 f. beziehen den Begriff auf zivilgesellschaftliche Strukturen von Gegenwartsgesellschaften; Wolfgang Welsch, »Transculturality – the Puzzling Form of Cultures Today«, in: Mike Featherstone, Scott Lash (Hg.), Spaces of Culture: City, Nation, World, London 1999, S. 194–213, bezeichnet mit dem Begriff der Transkulturalität in postmodernen Gesellschaften die Hybridität kultureller Identität, lässt aber auch eine historische Perspektive zu und unterscheidet zudem zwischen kosmopolitischen und partikularen Elementen. Dadurch erscheint das Konzept ausbaufähig zu sein und Raum für hegemoniale Tendenzen gegenüber lokal-resistenten zu gewähren. Jürgen Osterhammel, »Transkulturell vergleichende Geschichtswissenschaft«, in: ders., Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen 2001, S. 11­–45, verwendet den Begriff im Kontext von Universalgeschichte und daher in seiner größtmöglichen Breite.

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deren Integrationsbedarf der reichsweiten Herrschaft auf horizontaler und vertikaler Ebene. Horizontal müssen die einzelnen Gebiete politisch auf das Zentrum ausgerichtet werden, vertikal haben vom Zentrum ausgehende Elitenbildungen Herrschaft von oben nach unten sicherzustellen. Kohärenz wird durch verbindliche rechtliche Normen, Verwaltungs- und Gewaltstrukturen hergestellt; hinzu kommen eine universalistische Programmatik und Symbolik der imperialen Eliten, Wirtschaftsverflechtungen, vernetzende Kommunikationsmittel und ­­ -strategien sowie eine zentralisierte Außen- und Militärpolitik, die die wesentlichen Elemente der politischen Integration bilden. Dennoch, so betont Jürgen Osterhammel, kann anders als im Nationalstaat keine gesamtgesellschaftliche Integration und keine gemeinsame imperiale Kultur erreicht werden. Durch den Einsatz von symbolischen Ressourcen wird jedoch ein integrativer Zusammenhalt über Sinnstiftungen verschiedener Art zur Herrschaftssicherung angestrebt. Besondere Problemlagen der Herrschaftsstabilisierung an der Peripherie bestanden, wenn wir bei unserem Beispiel des russländischen Imperiums bleiben, durch unterschiedliche, z. T. hohe Entwicklungsniveaus imperial angegliederter Territorien und deren traditionelle, außerrussische kulturelle Vernetzungen, die besonderes Widerstandspotenzial in sich bergen konnten, denkt man etwa an den russisch besetzten Teil Polens im 19. Jahrhundert als ein Exempel für eine hohe, westlich orientierte Zivilisation. Schwierigkeiten der imperialen Durchdringung etwa des Kaukasus ergaben sich durch die dortigen Traditionen, die z. T. auf islamischen kulturellen Bindungen oder eigenständigen alten Kulturen wie der georgischen beruhten.8 Die 8 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 607–672, bes. S. 610–616; ders., »Europamodelle und imperiale Kontexte«, in: Journal of Modern European History, 2 (2004), H. 2, S. 157–182, bes. S. 172; zu neuer Literatur und aktuellen Forschungsergebnissen auch Ulrike von Hirschhausen, Jörn Leonhard, Zwischen Historisierung und Globalisierung: Titel, Themen und Trends in der neueren Empire-Forschung, in: Neue Politische Literatur 56 (2011), Nr. 1, S. 389-404; Definitionen und Beschreibungen zum russischen bzw. sowjetischen Imperium u. a.: Dominic Lieven, The Russian Empire and its Rivals, London 2000, S. 3 ff. u. 201 ff.; ders., Empire on Europe’s Periphery: Russian and Western Comparisons, in: Aleksej I. Miller, Alfred J. Rieber (Hrsg.), Imperial Rule. Budapest 2004, S. 133-150; Andreas Kappeler, Russland als Vielvölkerreich: Entstehung – Geschichte – Zerfall, München 1993; Dietrich Geyer, Der russische Imperialismus. Studien über den Zusammenhang zwischen innerer und auswärtiger Politik 1860-1914, Göttingen 1977; Geoffrey Hosking, Nation und Imperium 1552–1917, (aus dem Engl.) Berlin 2000; Ilya Gerasimov u. a. (Hg.), Empire Speaks Out. Languages of Rationalization and Self-Description in the Russian Empire, Leiden, Boston 2009, bes. Teil I, S. 3–58; A. I. Aksenov u. a. (Hg.), Rossijskaja imperia: ot istokov do načala XIX veka, Moskau 2011; Kerstin S. Jobst, Julia Obertreis, Ricarda Vulpius, »Neuere Imperiumsforschung in der Osteuropäischen Geschichte: die Habsburgermonarchie, das Russländische

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Untersuchungen in unserem Band setzen bei den Formen von imperialer Symbolpolitik an, um Varianten zu erarbeiten. Differierende Strategien imperialer Symbolpolitik ergeben sich grundsätzlich durch den Unterschied zwischen dem russländischen und dem sowjetischen Imperium. Es bestand für die Autorinnen und Autoren kein Diskussionsbedarf bezüglich der Frage, ob denn die Sowjetunion ein Imperium gewesen sei, weil man sich von vornherein den Forschungspositionen anschloss, die die Kontinuität zwischen den beiden Imperien betonen, ja darüber hinaus auch das imperiale Erbe, das die Russische Föderation gegenwärtig zu bewältigen hat. Die Forschungsthese von der Sowjetunion als Imperium wird durch die im Band vorgestellten Machtstrategien, die auf innere und äußere Integration abzielten, gestützt. Zu bedenken ist allerdings, dass es sich im Falle des russländischen und des sowjetischen Imperiums um zwei Varianten imperialer Staatlichkeit handelte: Das Zarenreich beruhte auf einem »vornationalen dynastischen Reichspatriotismus«9. Die Sowjetunion wurde demgegenüber auf einem Konzept von Nationsbildung als einem notwendigen Durchgangsstadium zum sozialistischen Internationalismus begründet, doch waren von Beginn an Zentralisierung von Herrschaft, Hierarchisierung der Nationalitäten, Durchführung von Zivilisierungsmissionen oder die Entwicklung spezifischer, nunmehr kommunistisch legitimierter Symbolpolitiken Merkmale von imperialer Kontinuität.10 Neben der Kategorie des Raumes hat das Konzept des vorliegenden Bandes die Kategorie der Zeit im Fokus der Untersuchung, bezogen auf neuzeitliche Reich und die Sowjetunion«, in: Comparativ, 18 (2008), Nr. 2, S. 27–56, hier S. 27­–45; Jürgen Osterhammel, »Russland und der Vergleich zwischen Imperien. Einige Anknüpfungspunkte«, ebd., S. 11–26. 9 Kappeler, Russland als Vielvölkerreich, S. 283. 10 Ronald Grigor Suny, »The Empire Strikes Out: Imperial Russia, ›National‹ Identity, and Theories of Empire«, in: ders., Terry Martin (Hg.), A State of Nations. Empire and NationMaking in the Age of Lenin and Stalin, Oxford 2001, S. 23–66; Terry Martin, »An Affirmative Action Empire: the Soviet Union as the Highest Form of Imperialism«, ebd., S. 67–90; Francine Hirsch, Empire of Nations. Ethnographic Knowledge and the Making of the Soviet Union, Ithaca, London 2005; Gerhard Simon, Nationalismus und Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion. Von der totalitären Diktatur zur nachstalinschen Gesellschaft, Baden-Baden 1986; John L. H. Keep, Last of the Empires. A History of the Soviet Union 1945–1991, Oxford, New York 1996; Hélène Carrère d’Encausse, Risse im Roten Imperium. Das Nationalitätenproblem in der Sowjetunion, (aus dem Franz.) Wien u. a. 1979; Dietrich Geyer, Der Zerfall des Sowjetimperiums und die Renaissance des Nationalismus, in: Henrich-August Winkler, Hartmut Kaeble (Hg.), Nationalismus – Nationalitäten – Supranationalität, Stuttgart 1993, S. 156-186; Aleksej I. Miller (Hg.), Nasledie imperij i buduščee Rossii, Moskau 2008. Jobst, Obertreis, Vulpius, »Neuere Imperiumsforschung«, heben die Bipolarität der sowjetischen Nationalitätenpolitik hervor, die zwischen den Konstruktionen von Sowjetvolk und Nationalkulturen oszillierte, S. 47 ff.

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Modernisierungsprozesse, die vom 18. Jahrhundert an dynamisch verliefen und in grundsätzlicher Abhängigkeit von der jeweiligen soziopolitischen Ordnung des russländischen Herrschaftsverbandes auf das Engste mit »Verwestlichung« und einem »Lernen vom Westen« verbunden waren.11 Unter sowjetischer Herrschaft blieb diese Orientierung ebenfalls bestehen und drückte sich u. a. im Motto vom »Einholen und Überholen« des Kapitalismus aus. Doch gab es auch durch den universalistischen Herrschaftsanspruch auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus eine starke Dynamik des Transfers in Richtung westlicher Gesellschaften, so dass auch kulturelle Ost-West-Strömungen von prägender Bedeutung waren. Die Modernisierungsprozesse hatten sozialökonomische, politische und kulturelle Dimensionen, die Kulturkontakte im weitesten Sinne und Amalgame west-östlicher Entwicklungen hervorbrachten.12 In diesem Kontext ergeben sich zwei Perspektiven der Analyse: erstens zu untersuchen, welche kulturellen Entlehnungen aus dem »Westen« für das russländische/sowjetische Imperium zur Stabilisierung von Herrschaft im eigenen Hegemonialbereich bedeutsam waren;13 und zweitens, inwiefern sich ein kultureller Ost-WestTransfer entwickelte, der vom russischen Zentrum ausging. Es wird zu beobachten sein, welche Zivilisierungsmissionen von dort kommuniziert wur-

11 In der Imperiumsforschung wird betont, dass Prozesse von Modernisierung und Wandel vornehmlich von außen in die Imperien eindrangen und dass die Modernisierungsmaßnahmen grundsätzlich auf die Stärkung des imperialen Staates und seiner Position in der internationalen Politik abzielten. Vgl. Jürgen Osterhammel, Commentary. Measuring Imperial «Success» and «Failure», in: Jörn Leonhard, Ulrike von Hirschhausen (Hg.), Comparing Empires. Encouters and Transfers in the Long Nineteenth Century, Göttingen 2011, S. 472–476. 12 Zum Begriff der Modernisierung Carsten Goehrke, Bianka Pietrow-Ennker (Hg.), Städte im östlichen Europa. Zur Problematik von Modernisierung und Raum vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert, Zürich 2006, darin: Bianka Pietrow-Ennker, »Einführung in die Thematik«, S. 7–32, hier S. 8–13. Das Konzept der Modernisierung wird in enger Anlehnung an die Analyse von Hans van der Loo und Willem van Reijen, Modernisierung: Projekt und Paradox, München 21997, verwendet. Zum Thema der Kulturkontakte vgl. Bianka Pietrow-Ennker (Hg.), Kultur in der Geschichte Russlands. Räume, Medien, Identitäten, Lebenswelten, Göttingen 2007, bes. dies., »Voraussetzungen und Formen des Perspektivwechsels«, S. 11–42, S. 11 f. 13 Hierzu grundlegend als breit angelegte Zusammenschau von Wahrnehmungen der russischen Eliten: Martin Aust, Rikarda Vul’pius, Aleksej Miller (Hg.), Imperium inter pares: Rol’ transferov v istorii Rossijskoj imperii (1700–1917), Moskau 2010; Aleksej Miller, Ingrid Schierle, Denis Sdvižkov (Hg.), »Ponjatija o Rossii«. K istoričeskoj semantike imperskogo perioda, 2 Bde., Moskau 2012.

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den und unter welchen Bedingungen diese zu Integrationsleistungen zugunsten des Imperiums führten.14 Der Band soll exemplarisch ermitteln, welche kulturellen Ressourcen die angewandten Machtstrategien aufwiesen und zu welchen Repräsentationen sie führten.15 Hierbei wird von dem Team der Autorinnen und Autoren vorausgesetzt, dass die Machtbeziehungen innerhalb eines Imperiums zwischen Zentrum und Peripherie, aber auch in der Außenkommunikation des imperialen Staates keineswegs statisch waren, sondern ständig neu ausgehandelt werden mussten. In diesen Machtbeziehungen hatten alle Beteiligten gewisse Verhaltens-, Reaktions- und Handlungsspielräume. Kompromisse konnten Freiräume ausdehnen, Freiräume Eigen-Sinn bis hin zu Strategien des Widerstands hervorbringen.16 Die Auseinandersetzung mit den Begriffen »Herrschaft« und »Macht« nimmt von den Definitionen Max Webers ihren Ausgang: »Macht bedeutet 14 Zum Begriff der Zivilisierungsmission – verstanden als einer besonderen Variante der Fortschrittsidee, von einem erziehend eingreifenden Staat in fremde Gemeinschaften getragen – und zu analytischen Kriterien der historischen Erforschung von Zivilisierungsmissionen: Boris Barth u. Jürgen Osterhammel, »Vorwort«, in: dies. (Hg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005, S. 7–12; Jürgen Osterhammel, »›The Great Work of Uplifting Mankind‹. Zivilisierungsmissionen und Moderne«, ebd., S. 363–426, hier S. 365 f. (zu Russland vgl. ebd., S. 394–396); Dittmar Dahlmann, »Sibirien: Der Prozess der Eroberung des Subkontinents und die russische Zivilisierungsmission im 17. und 18. Jahrhundert«, ebd., S. 55–72. Siehe auch Jörg Baberowski, »Auf der Suche nach Eindeutigkeit: Kolonialismus und zivilisatorische Mission im Zarenreich und in der Sowjetunion«, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 47 (1999), Nr. 4, S. 482–503. Hier wird auch die Zivilisierungsmission der Sowjetunion analysiert: »Das bolschewistische Credo verband ›aufgeklärten‹ Machbarkeitswahn und Fortschrittsoptimismus mit einem utopischen Gesellschaftsentwurf. Menschheitsgeschichte war europäische Geschichte. [...] Die eurozentristischen Phasenmodelle implizierten, dass die rückständigen Völker auch die Sitten und Gebräuche, die Kultur des Westens übernahmen.« Ebd., S. 500. Zur sowjetischen imperialen Politik im Kaukasus siehe ders., Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus, München 2003. 15 Vgl. zu historischen Formen der Repräsentation im Zarenreich Richard Wortman, Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy from Peter the Great to the Abdication of Nicholas II., 2 Bde., Princeton, N. J. 1995 u. 2000; Jörg Baberowski u. a. (Hg.), Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt am Main u. a. 2008 und ders. (Hg.), Dem Anderen begegnen: eigene und fremde Repräsentationen in sozialen Gemeinschaften, Frankfurt am Main u. a. 2008; Leonhard, von Hirschhausen (Hg.), Comparing Empires. Encouters and Transfers in the Long Nineteenth Century, bes. S. 219-310. 16 Zum Begriff des Eigen-Sinns: Thomas Lindenberger, »Die Diktatur der Grenzen«, in: ders. (Hg.), Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln u. a. 1999, S. 13–44.

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jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.«17 Wenn Weber den Begriff der Macht auch als soziologisch »amorph« bezeichnet und ihm keine weiteren Ausführungen widmet, ist doch festzuhalten, dass Macht nicht als Eigenschaft oder Besitz aufzufassen ist, sondern immer als kommunikatives und faktisches Ergebnis sozialer Interaktion, wie dies u. a. Sofsky und Paris herausgearbeitet haben.18 Macht ist als relational und situativ zu verstehen, während Herrschaft Dauerhaftigkeit impliziert und eine institutionalisierte Form von Über- und Unterordnung ist, die sich auf Eliten, Verwaltungs- und Gewaltapparate etc. stützt. Max Weber definierte Herrschaft folgendermaßen: »Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden [...]«19. Der Soziologe reihte verschiedene Motive für diese Fügsamkeit aneinander: zweckrationale Erwägungen von Vor- und Nachteilen, »dumpfe« Gewohnheit oder persönliche Neigung des Beherrschten. Besondere Bedeutung für die Stabilisierung von Herrschaft maß er Rechtsgründen bei, sowie der »Legitimität«, also einem bestimmten Maß an Akzeptanz der Herrschaft durch die Beherrschten, wobei er betonte: »[...] und die Erschütterung dieses Legitimitätsglaubens pflegt weitgehende Folgen zu haben.«20 Die wissenschaftliche Nutzung der drei Idealtypen legitimer Herrschaft, die traditionale, charismatische und rationale, macht eine Differenzierung dahingehend möglich, was die Beherrschten dazu bringt, die jeweilige Herrschaft zu akzeptieren. Im vorliegenden Sammelband konzentrieren die Autorinnen und Autoren ihr Forschungsinteresse auf die Machtmittel, die zur Stabilisierung von spezifischen Herrschaftsformen eingesetzt werden. Das Ergebnis des Prozesses der Machtausübung kann zugleich Auskunft über die Reichweite und Dichte der Akzeptanz von Herrschaft geben. Es war den Autorinnen und Autoren freigestellt, Konzepte der Macht für ihre historische Analyse zu wählen. Im Ergebnis hat sich der große theoretische und methodische Einfluss von Michel Foucault gezeigt. Vorteil seines Verständnisses von Macht ist die Verschiebung des Erkenntnisinteresses von Machtha17 Max Weber, »Soziologische Grundbegriffe«, in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 51980, S. 28; vgl. auch den Beitrag von Brigitte Studer im vorliegenden Band. 18 Wolfgang Sofsky u. Rainer Paris, Figurationen sozialer Macht. Autorität, Stellvertretung, Koalition, Frankfurt am Main 1994, bes. S. 9 ff. Vgl. auch Thomas Schwietring, »Macht, Herrschaft, Gewalt«, in: Hans J. Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, 3 Bde., Hamburg 2010, S. 1476–1488. 19 Max Weber, »Soziologische Grundbegriffe«, S. 28. 20 Max Weber, »Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft«, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 41973, S. 475–488, hier S. 475.

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bern und Institutionen auf die diskursive Konstruktion von Machtverhältnissen, im Sinne der Einflussnahme und Durchsetzung von Deutungen und Denkmustern. Macht entsteht in einem sozialen Kräftefeld, das Herrscher und Beherrschte aktiv gestalten, Macht ist ein Wirkungszusammenhang, der auf Verflechtungen beruht. Unter Macht, scheint mir, ist zunächst zu verstehen: die Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kräfteverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; die Stützen, die diese Kräfteverhältnisse aneinander finden, indem sie sich zu Systemen verketten – oder die Verschiebungen und Widersprüche, die sie gegeneinander isolieren; und schließlich die Strategien, in denen sie zur Wirkung gelangen und deren große Linien und institutionelle Kristallisierungen sich in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und in den gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern.21

Macht wird also als Beziehung, als Handeln in Beziehungen bzw. Beziehungsnetzen gedacht, wobei Hegemoniebildungen möglich sind. Die Machtbeziehungen werden in Deutungskämpfen ausgehandelt und sollen deshalb in Prozessen von Kommunikation, Interaktion und ihren Manifestationen beobachtet werden. Ein besonderes Interesse gilt in unserem Band nicht nur den integrativen Leistungen der Machtdiskurse, sondern auch dem Widerstand, der innerhalb der Machtkommunikation erzeugt werden kann.22 In einzelnen Beiträgen des Sammelbands wird daher ein Machtbegriff gebraucht, der von Foucaults Spätwerk inspiriert ist, in dem das Subjekt und der subjektive Eigen-Sinn im Vergleich zu seinen früheren Arbeiten aufgewertet wurde.23 Die Produktivität von Macht ist besonders in dem Sinn für uns relevant, dass Machtstrategien – also die Mittel, die eingesetzt werden, um auf das mögliche und erwartete Handeln anderer einzuwirken – immer auch Gegenreaktionen hervorbringen kön21 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt am Main 1998, S. 93; ders., Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978; ders., »Das Subjekt und die Macht«, in: Hubert L. Dreyfus, Paul Rabinow, Michel Foucault, Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, mit einem Nachwort von und einem Interview mit Michel Foucault, Frankfurt am Main 1987, S. 243­–264; ders., Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt am Main 112010, S. 7–50. 22 Z. B. Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 96 f. 23 Vgl. Georg Kneer, »Die Analytik der Macht bei Michel Foucault«, in: Peter Imbusch (Hg.), Macht und Herrschaft. Sozialwissenschaftliche Konzeptionen und Theorien, Opladen 1988, S. 239–254, hier S. 251 ff.; Reckwitz, Transformation, S. 293 ff.; Michael Maset, Diskurs, Macht und Geschichte. Foucaults Analysetechniken und die historische Forschung, Frankfurt am Main, New York 2002, bes. S. 80 ff. und 124 ff.

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nen. In unseren Forschungen widmen wir daher den durch Macht eröffneten Handlungsmöglichkeiten und ihren Konsequenzen besondere Aufmerksamkeit, wobei die Formen von Widerstand, die als Reaktion auf Machtstrategien entstehen, möglichst differenziert erfasst werden sollen. Unsere Forschungen unterscheiden sich insofern von Foucaults Überlegungen, als Foucault sich mit den Wirkungen von Macht auf Individuen und innerhalb einzelner Gesellschaften beschäftigt hat. Doch es scheint produktiv zu sein, Foucaults Überlegungen auch auf trans- und internationale Machtbeziehungen zu übertragen. Dabei behandeln wir jedoch die untersuchten Staaten nicht als handelnde »Subjekte«. Vielmehr gehen wir davon aus, dass die trans- und internationalen Beziehungen am besten in Form von Beziehungsgeflechten beschrieben und analysiert werden können, um die unterschiedlichen individuellen und kollektiven Akteure zu unterscheiden.24 Die Interaktionen zwischen Zentrum und Peripherien in einem hierarchisch strukturierten Feld – dem imperialen Raum –, die Aushandlung von Machtbeziehungen in trans- und internationalen Kontexten werden in unserem Band auf der Ebene von Kommunikationsprozessen, in Diskurszusammenhängen, in Hinblick auf Machtrepräsentationen und Integrationsleistungen untersucht. Dabei beobachten wir, welcherart Akteursgruppen in welchen Arenen welche Strategien bzw. Gegenstrategien verfolgen und in welcher Richtung diese Prozesse verlaufen: vom Zentrum zur Peripherie oder umgekehrt. Auch über die Grenzen des Imperiums hinaus werden Machtbeziehungen als kommunikatives Beziehungsgeflecht untersucht und ihr Wirkungsgrad bzw. ihre Reichweite verfolgt. In diesem Sinn liegt das Schwergewicht der hier vorgestellten Forschungen besonders auf inter- und transkultureller Kommunikation und sozialer Interaktion. Dabei behalten wir die staatlichen Modernisierungsprojekte und die Herrschaftsbedingungen im Blick, die u. a. Aufschluss über die Formen und die geographische Zielrichtung von Macht gestützten Zivilisierungsmissionen geben. Mit einer breiten Palette von Themen werden zum einen empirisch innovative Studien vorgestellt, da besonders die kulturelle Dimension zarischer bzw. sowjetischer Imperiumsgeschichte noch intensiver Forschung bedarf. Zum anderen ist es das ebenso wichtige Anliegen des Bandes, Konzepte und Methoden für eine kulturwissenschaftlich orientierte Erforschung von trans- und internationalen Beziehungen vorzustellen, die Osteuropa bezogen weitgehend noch

24 Zur Forschungstendenz z. B. Cornelia Ulbert, Christoph Weller (Hg.), Konstruktivistische Analysen der internationalen Politik, Wiesbaden u. a. 2005, S. 24 f. u. 35 ff.

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Forschungsdesiderate sind.25 Eine Gliederung des Bandes hätte auch nach Konzepten – etwa der Modernisierung oder der Integration – erfolgen oder aber rein chronologisch gestaltet sein können. Entschieden haben wir uns für eine Anordnung der Beiträge, die kulturwissenschaftlichen Fragestellungen folgen. Dabei sehen wir den wesentlichen Gewinn von kulturologischen Ansätzen in der Geschichtswissenschaft darin, das Wie als das Prozesshafte zu ermitteln, im Gegensatz zu Untersuchungen, durch die Tatbestände beschrieben werden. Allerdings müssen die beobachteten Prozesse von Sinnstiftung eine Kontextualisierung erfahren, die den Referenzrahmen für die jeweilige Einzeluntersuchung bildet und zugleich Auskunft über ihre Bedeutung in sozialen Kontexten gibt. Im ersten Teil wird es um diskursiv hergestellte hegemoniale Konzeptbildungen gehen, Teil II wird Repräsentationsformen von Macht und ihre Integrationsleistungen beleuchten; im dritten Teil liegt der Akzent auf inter- und transnationalen Varianten von Kommunikation, durch die es zu Konstruktionen von transkulturellen Hierarchien unterschiedlicher Stärke und Reichweite kommt. Zugleich sind die dispositiven Felder im Blick zu behalten, in dem diese Kommunikation das von Foucault beschriebene »Spiel der Kräfte« hervorbringen kann. Die ersten drei Teile konzentrieren sich zugleich auf soziale und politische Integrationsleistungen. Die Reichweite dieser Integration ist eine Leitfrage, die sich aus der oben erläuterten Definition von Imperien ergibt, nach der gesamtgesellschaftliche Integration aufgrund der Heterogenität des Großverbandes und seiner gewaltsamen Zusammenfügung grundsätzlich nicht möglich ist. Der Einsatz kultureller Ressourcen fungiert daher als ein ebenso unverzichtbares Mittel für Integration, wie dies Gewalt und Gewaltandrohung sind, um Herrschaft durchzusetzen und zu stabilisieren. Der vierte Teil beleuchtet unterschiedliche Formen der Widerständigkeit gegen imperiale Machtstrategien. Auch hier kann die kulturwissenschaftliche Perspektive ebenso wie in den vorhergehenden Kapiteln in dem Sinn Gewinn bringend sein, dass gezeigt wird, wie sich diese Widerständigkeiten diskursiv herausbilden, welche symbolischen Repräsentationen sie hervorbringen und welche gesellschaftlichen Kräfte sie an sich binden. Die konzeptionellen Schwerpunkte, die die Kapitel gliedern, sind allerdings nicht modellhaft voneinander zu trennen; vielmehr verweist die Zuordnung zu einem Kapitelschwerpunkt nur auf die Betonung eines jeweiligen Fokus, der sich auch in den anderen Kapiteln finden lässt. Die Diskursanalyse und der Ansatz der transnationalen bzw. inter25 Zu neuer, kulturwissenschaftlich ausgerichteter Literatur siehe Anm. 12, sowie auch: Gerasimov, Empire Speaks Out. Eine Schlüsselrolle spielt die Zeitschrift Ab imperio; eine Auswahl von Aufsätzen wurde wiederholt in Form von Sammelbänden publiziert, siehe z. B. Andrej Kurilkin (Hg.), Izobretrenie imperii: Jazyki i praktiki, Moskau 2011.

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nationalen Kommunikation bilden die gemeinsame Plattform kulturwissenschaftlichen Arbeitens an der Auslotung von Russlands imperialer Macht.

Themen und Forschungsstrategien Teil I, »Hegemoniale Konzeptbildungen«, thematisiert das Imperiale an ausgewählten Beispielen nicht historiographisch als ein Faktum, sondern es wird vielmehr gezeigt, wie es sich als ein kultureller Code entwickelte, der auf spezifischen Transferleistungen beruhte und bis zu einem gewissen Grad integrativ wirkt. Zunächst bietet der Beitrag von Ricarda Vulpius26 einen Einblick in den aufgeklärten Diskurs des 18. Jahrhunderts, aufgrund dessen zu beobachten ist, wie Russland Anschluss an das imperiale Denken westeuropäischer Mächte fand. In diesem Prozess der Inklusion in das Konzert der europäischen Mächte flossen Transferleistungen in Form von Rezeptionen von West nach Ost. Die Studie erweitert kulturologische Forschungsperspektiven auf die klassische Politik- und Imperiumsgeschichte insofern, als mit den Methoden von Diskursanalyse und Begriffsgeschichte ermittelt wird, ab wann imperiales Denken im Russischen Reich sprachlich nachweisbar war und in welchen Begrifflichkeiten es sich äußerte. Durch die Konzentration auf zeitgenössische Selbstbeschreibungen ordnet sich der Beitrag ­– wie im Folgenden andere auch – der Neuen Imperiumsgeschichte zu, die ihren Forschungsakzent u. a. auf diskursive Konstruktionen von Identitäten, des Eigenen und des Fremden legt. Ricarda Vulpius analysiert, welche Begriffe im Kontext des groß angelegten russländischen Modernisierungsprogramms seit dem frühen 18. Jahrhundert aus dem Polnischen und Ukrainischen entlehnt wurden, welche anfänglichen kommunikativen Funktionen sie hatten und inwiefern sie zur Abgrenzung des russländischen Zentrums von seinen Peripherien sowie einer Hierarchisierung dienten, indem das Zentrum als »zivilisiert« überhöht wurde im Gegensatz zu den neu in das »Imperium« inkorporierten Völkern, die als barbarisch galten. Ihnen gegenüber formulierten die russischen Herrscher und ihre Verwaltungseliten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Zivilisierungsmission, deren Inhalte sich im Verlauf der Zeit immer weiter konkretisierten. Der Diskurs der russischen Eliten transportierte Macht insofern, als er die Maßstäbe für Kultur als Zivilisation setzte und sie im Zuge einer materiellen und transkulturellen Expansion auf die Peripherie übertrug.

26 Vgl. Ricarda Vulpius, »Kulturgeschichte und Imperium im russischen 18. Jahrhundert«, in diesem Band.

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Der Moskau-Diskurs in der frühen Sowjetzeit und im Stalinismus27 ist ebenfalls auf die Beobachtung angelegt, wie sich ein spezifisches Konzept – hier das der Hauptstadt – etablierte. Dieser Diskurs ähnelt in innersowjetischer Perspektive der Struktur des Imperiumsdiskurses, denn er war wie dieser von Eliten geprägt und in eine Herrschaftsordnung eingebunden, deren Gewalt- und Machtmittel kaum Spielräume für Widerständigkeiten ließen. Darüber hinaus zeigt dieses Beispiel, dass »Moskau« als Konzept zudem stark auf Außenwirkung angelegt war, um auch als Zentrum der Weltrevolution integrative Wirkung zu entfalten. Daher sind zwei Reichweiten, eine innere und eine äußere, zu unterscheiden. Jan C. Behrends ordnet von vornherein die Bedeutungen, die Moskau durch die Bol’ševiki zugesprochen erhielt, den Traditionen einer imperialen Staatlichkeit zu, die seit Jahrhunderten bestanden und auf das Sowjetreich übertragen wurden. Der Autor eröffnet dabei keine Diskussion über den imperialen Charakter der Sowjetunion, sondern zeigt am Beispiel des Mythos Moskau, wie der Metropole zeitgenössisch imperiale Eigenschaften zugeschrieben wurden, die sie als Zentrum des Reiches und Weltkommunismus sowie als allgemeines zivilisatorisches Vorbild positionierten. Der normierte Diskurs über Moskau in den Dispositiven der Kommunikation über die sowjetische Modernisierung und den Wettkampf der antagonistischen Systeme ließ die Stadt als Beispiel einer widerspruchsfreien Moderne, als Höhepunkt aller Zivilisation und als Zentrum des wiederhergestellten Imperiums mit hoher Ausstrahlungskraft erscheinen. Die Deutungsmacht lag bei dem bolschewistischen bzw. stalinistischen Regime, das die Vision von Moskau als kulturelle Strategie einsetzte, um seine Herrschaft nach innen und außen als die fortschrittlichste zu legitimieren. In der Nachkriegszeit weitete sich der Moskau-Diskurs auf den Hegemonialraum der UdSSR aus, um Bereitschaft für die Übernahme sowjetischer Errungenschaften zu erzeugen. Symbolische Repräsentationen von Macht waren von Beginn an Ergebnis dieses Diskurses, die sich in der Architektur oder in ritualisierten Feiern niederschlugen. Dem Roten Platz als Zentrum der Stadt und des Reiches mit seinem kommunistischen Weltherrschaftsanspruch wurde durch das Lenin-Mausoleum eine transzendente Dimension verliehen. Besuche von Ausländern inszenierte man als mythisches Erlebnis, um sie als Träger des Moskau-Diskurses in der transnationalen Kommunikation über die Sowjetunion zu gewinnen. Die große Reichweite der Macht und die integrative Wirkung, die der Diskurs vermittelte, kommen in eindrucksvollen zeitgenössischen

27 Vgl. Jan C. Behrends, »Metropole der Macht. Der Moskaudiskurs im Stalinismus (1931– 1954)«, ebd.

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Stellungnahmen zum Ausdruck, auch wenn Gegendiskurse die Grenzen der Integrationskraft des Mythos Moskau markieren. Der Beitrag von Nikolaus Katzer28 thematisiert ebenfalls die Konstruktion kultureller Überlegenheit und ihre machtgestützte Kommunikation nach innen und außen, hier am Beispiel der Körperkultur. Dieses Konzept als ein Element der auf Integration angelegten Symbolpolitik der aufstrebenden UdSSR schloss an die sowjetische Modellierung des Neuen Menschen an, der das Fundament einer überlegenen Staats- und Gesellschaftsordnung bilden sollte. Es war intendiert, durch den sportiv modellierten Sowjetkörper Wissenschaft, Technik und Ressourcenmobilisierung optimal zusammenzuführen. In der frühen Sowjetzeit lernte man vom Westen, indem Erfahrungen der Turnbewegung übernommen und weiterentwickelt wurden. Durch die Verschmelzung westlicher Sportkultur mit dem sozialistischen Modernisierungskonzept entwickelte sich die Körperkultur analog zu den Phasen des Sowjetsystems. Im Stalinismus siegte der Leistungsgedanke und wurde auf den Massensport ausgedehnt. Die öffentlichen Repräsentationen des Sportes wurden immer imposanter als Symbole für die höchste Modernität und eine durch Sport homogenisierte und harmonisierte Sowjetgesellschaft ausgestaltet sowie transnational kommuniziert. Zu den Integrationsleistungen des zentralisierten und normierten sowjetischen Sportkonzeptes zählte die Durchdringung der sowjetischen Provinz und der Peripherien des Imperiums im Sinne einer Zivilisierungsmission, die vom Zentrum ausging. Darüber hinaus beanspruchte das Konzept Weltgeltung und wurde als eine wirksame »soft power« in der Systemkonkurrenz eingesetzt. Die damit zusammenhängenden transkulturellen Machtstrategien flossen in einem Prozess des Kulturtransfers nunmehr verstärkt von Ost nach »West« (womit die Zentren der kapitalistischen Welt beschrieben sein sollen), insbesondere zielten sie im Verlauf der Sowjetisierung nach 1945 darauf ab, im sowjetischen Hegemonialbereich Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas Integration zu stiften. Hauptsponsor und -organisator war der Staat. Je mehr dessen Konformitätsdruck in der späten Sowjetzeit nachließ, desto stärker konnten sich im Sportdiskurs Gegentendenzen im Sinne einer Individualisierung entfalten. Solcher »Eigen-Sinn« wurde durch die transnationale Kommunikation, besonders im Rahmen von Begegnungen wie internationalen Sportfesten, begünstigt und führte zur Abschwächung des normierten sowjetischen Diskurses über den sozialistischen Sport und damit zu einer Unterhöhlung der Machtstrategien, die der Diskurs transportierte.

28 Vgl. Nikolaus Katzer, »Die sportive Gesellschaft als ideale Ordnung. Zum sowjetischen Konzept der Körperkultur«, ebd.

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Das Kapitel schließt mit einem Beitrag über die Bedeutung geopolitischer Diskurse im postsowjetischen Russland.29 Olga Pavlenko kann zeigen, dass bisher die unterschiedlichsten außenpolitischen Konzepte zur Integration der Russischen Föderation in das internationale System diskursiv entwickelt wurden; sie oszillierten zwischen prowestlichen und antiwestlichen Einstellungen, wobei die Rezeption der Reichstraditionen sowie der russischen politischen Ideengeschichte – gerade auch in ihrer eurasischen Variante – prägenden Einfluss auf die Neuorientierungen ausübte. Die Deutungsmacht haben tendenziell die Vertreter geopolitischer Richtungen gewonnen, die offensichtlich Interesse an einer Tradierung des russischen Reichsverständnisses haben: Als Minimalkonsens gelten die Ausrichtung auf einen starken Staat und eine zentristische Innenpolitik, deren Kernaufgabe darin gesehen wird, das multiethnische, gigantische Staatsterritorium zu erhalten und zugleich die äußeren Einflusssphären zu erweitern. So verbinden sich die Perzeptionen von Russland als historischer imperialer Macht diskursiv mit Zukunftsvisionen, die die Russische Föderation als hegemoniale Regionalmacht – wenn nicht Supermacht – erscheinen lassen. Im II. Teil richtet sich der Fokus auf Integrationsleistungen von Repräsentationen imperialer Macht. Symbolpolitik und mit ihr verbundene Machtstrategien des russländischen bzw. sowjetischen Staates werden an vier Beispielen untersucht: Raumgestaltung, Geschichts- und Wissenschaftskonstruktionen sowie personale Image-Bildung. Die Ausstrahlung dieser Repräsentationen von Macht reicht dabei von einer interkulturellen in die westliche und südliche Peripherie des Reiches bis hin zu transkulturellen Wirkungen des Führerbildes auf die internationale Politik. Malte Rolf stellt das Thema der Raumgestaltung Warschaus im russisch beherrschten Polen des 19. Jahrhunderts als Modernisierungsprojekt vor,30 das zu einer beschränkten, aber nachhaltigen Interessenkongruenz der zentralen und regionalen russischen Eliten sowie der städtischen Gesellschaft führte. Die Modernisierungsprojekte wurden vielfach durch die Warschauer Bürger selbst angestoßen und von den imperialen Verwaltungseliten aufgegriffen, wobei es zu einer dichten Interaktion zwischen Provinz und Zentrum kam. Durch deren geteilte Vision von Innovation und Prosperität gewann imperiale Symbolpolitik – wie sich am Beispiel bestimmter Repräsentationen sozialer Raumgestaltung zeigen lässt – so viel Flexibilität, dass sie den lokalen Bedürfnissen entge29 Vgl. Olga Pavlenko, »Geopolitical Visions in Russia: The Post-Soviet Interpretations«, ebd. 30 Vgl. Malte Rolf, »Imperiale Herrschaft im städtischen Raum: Zarische Beamte und urbane Öffentlichkeit in Warschau (1870–1914)«, ebd.

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genkam. Sie konnte deshalb in gewissen Schranken eine Integration der Stadt in das Reich und der zarischen Beamten in die Warschauer Gesellschaft bewirken. Die Analyse des Diskurses um die repräsentative Gestaltung des städtischen Raums bringt deutlich die Sinnzuschreibungen, die vom Zentrum und der Peripherie artikuliert wurden, sowie ihre Antagonismen und Übereinstimmungen, zum Ausdruck. Die Perspektive der zarischen Beamten von St. Petersburg war eine innerrussische; vor diesem Erfahrungshorizont bildete Warschau bereits einen westlichen, europäisch-urbanen Vorposten des Reiches. Dieser sollte nach imperialen Maßstäben ausgestaltet werden und die dynamische Machtentfaltung und Dominanz des Imperiums spiegeln. Entsprechend wurden die Orte der Repräsentation des imperialen Russischen gestaltet, welches die städtische Bevölkerung von Warschau allerdings als Wahrzeichen der Fremdherrschaft ablehnte. Doch dabei blieb es nicht. Denn das Bestreben, an einem möglichst prestigereichen Ort tätig zu sein, prägte das Selbstverständnis der russischen Verwaltungseliten allgemein. So kam es zu einer gewissen Verflechtung zwischen den lokalen imperialen Eliten und der städtischen Gesellschaft. Diese konnte ihren Eigen-Sinn gegenüber den Verwaltungsbehörden geltend machen und den imperialen Machtanspruch z. T. so umdeuten, dass er Ausdruck von lokalpatriotischen Interessen wurde. Dennoch blieb die diskursive Verständigung über die symbolische Gestaltung des Raumes in einem engen Rahmen. Der transnationale Diskurs bildete gleichsam ein spezifisches Machtfeld zwischen zwei antagonistischen Dispositiven: auf der russischen Seite dem imperialen, auf der polnischen dem des freiheitsorientierten Nationalismus. Die Stärke des Eigen-Sinns der Warschauer beruhte auf der Erinnerung der alten polnischen Nation, ihren kulturellen Traditionen, der Reform- und Innovationskraft, zu der Polen nach der ersten Teilung gefunden hatte sowie der Modernisierungspolitik, die nach der Gründung des Königreichs 1815 betrieben worden war. Da die polnische Gesellschaft das Bild von Polen als einer führenden europäischen Kulturnation trotz der Teilungssituation tradierte, galt im nationalen Diskurs das Zarenreich in jeder Hinsicht als eine rückständige Besatzungsmacht. Und auch die russischen imperialen Eliten erkannten den Modernisierungsvorsprung des russischen Teilungsgebietes an, so dass hierdurch das spezifische Feld der diskursiven Verständigung über Repräsentationen der Moderne im städtischen Raum Warschaus entstehen konnte. Für das Beispiel der südlichen Peripherie, des Nordkaukasus, gelten grundsätzlich andere historisch-kulturelle Voraussetzungen. Hier kämpften traditionell politisch organisierte Bergvölker, die maßgeblich durch ihre islamische Religion und darauf fußende Normen sozial integriert waren, gegen die russländische imperiale Macht, die gleichsam auf ihren Bajonetten ihre Zivilisierungsmission in diese Region trug und sich als grundsätzlich kulturell über-

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legen deutete. Es fand nach der Eroberung der Territorien ein transkultureller Transfer vom Zentrum in die Peripherie statt, den die imperialen Eliten des Zarenreiches und der Sowjetunion in Bezug auf ihre Zivilisierungsmission strukturell ähnlich gestalteten. Eine Kontinuität der imperialen Herrschaftspraktiken lässt sich durch die Untersuchung von Lars Karl überzeugend nachweisen,31 auch wenn beide Reiche eine unterschiedliche imperiale Staatlichkeit und Nationalitätenpolitik voneinander unterschied. Die imperiale Symbolpolitik bezog sich jeweils auf die Geschichte der nordkaukasischen Völker. Am Beispiel ihrer Führer wurde eine Geschichtspolitik gestaltet, die in keinem Fall der historischen Realität und den kulturellen Codes dieser Völker entsprach. Die multikulturellen Peripherien wurden in geschichtslose Räume, ihre Bevölkerung in verhinderte Nationen umgedeutet und zivilisatorisch degradiert. Eine Re-Nationalisierung fand später dann unter den Prämissen von Sozialismus und Sowjetpatriotismus statt, wobei allerdings Übereinstimmungen zwischen der Geschichtsdeutung des Zentrums und der Peripherie geschaffen wurden, die dem lokalen Bewusstsein von Geschichte und (religiöser) Tradition ebenso wenig entsprachen wie die Konstruktionen der Zarenzeit. Deutlich werden die Repräsentationsformen imperialer Geschichtspolitik durch die Modellierung von Führerfiguren. Mehrfache Überschreibungen – je nach offizieller Geschichtspolitik des imperialen Zentrums – weisen auf eine wechselvolle Symbolpolitik hin, die die gewaltsame Unterwerfung und Beherrschung begleitete. »Geschichte« und Mythenbildung fungierten als eine transkulturelle Machtstrategie, die auf die Erzeugung von Integration gerichtet war. Eine strukturell ähnliche imperiale Symbolpolitik skizziert der Autor für Usbekistan als ein Beispiel für die sowjetische Beherrschung Zentralasiens, das in der Zarenzeit kolonial verwaltet worden war. Wiederum wurde ein staatlicher »Retorten-Kult« geschaffen, der eine historische Persönlichkeit aus der Blütezeit der islamischen Hochkultur mit europäischen Merkmalen überschrieb, um mit Repräsentationsformen dieser Art eine integrative kulturelle Verbindung zwischen Zentrum und Peripherie zu schaffen. Beim dritten Beispiel liegt der Akzent auf den Repräsentationsformen von Wissenschaft, hier den kaukasischen Regionalstudien. Oliver Reisner kommt es darauf an herauszuarbeiten,32 dass die Entwicklung geographischer Projekte innerhalb eines Imperiums in einem bestimmten Machtfeld stattfindet, das 31 Vgl. Lars Karl, »Helden zwischen Moskau und Medina: Imam Šamil’, Babäk und Ališer Navoi als imperiale Integrationsfiguren in den muslimischen Regionen der Sowjetunion«, ebd. 32 Vgl. Oliver Reisner, »Die Erforschung Kaukasiens im Zarenreich und der frühen Sowjetunion – Der Wandel von Interessen und Konzepten in den Regionalwissenschaften«, ebd.

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Wahrnehmungen und Einstellungen der Wissenschaftler formt. Durch imperiale Herrschaft strukturieren normstiftende »Wahrheitsdiskurse« (Foucault) die Realität, in unserem Fall die der Wissenschaftsproduktion. Die Kaukasiologie begann im Zarenreich institutionell gefördert zu werden, als es darum ging, den gewaltsam angeeigneten Raum an der Peripherie des Reiches herrschaftlich zu durchdringen. Herrschaftssicherung wurde auch über die Konstruktion von Wissensbeständen und ihre Organisierung betrieben. Die Ausführungen des Autors über die Entstehung der Kaukasienstudien und ihrer Träger lassen sich treffend dem Konzept der »Gouvernementalité« (Michel Foucault) zuordnen: Denn die Wissenschaftler formten ihr Profil in strategischen Machtbeziehungen durch Regierungs- und Selbsttechnologien. So produzierten sie zunächst herrschaftskonformes Wissen über die Großregion. Die Fachrichtung stellte sich als eine Repräsentationsform imperialer Symbolpolitik dar, die darauf abzielte, den Kaukasus als südliche Peripherie in das Imperium zu integrieren. Wieder finden wir hier von Beginn an die politische Vorgabe des Zentrums, mit Hilfe der Kaukasiologie eine zivilisatorische, aufklärende Mission gegenüber dieser Peripherie durchzuführen, sie aber auch ökonomisch zu nutzen. Im Machtdiskurs zeichnete sich deutlich eine transkulturelle Hierarchisierung ab, durch die im Zentrum produzierte Wertvorstellungen auf die Peripherie übertragen wurden. Der Ort der Kaukasus-Forschung war St. Petersburg, eine Institutionalisierung in den Repräsentationsformen von Professur und Fakultät begann Mitte des 19. Jahrhunderts, es forschten ausländische und georgische Gelehrte z. B. unter der staatsloyalen Prämisse zusammen, die russische Aneignung des Königreichs Georgien als selbstlose Hilfe eines mächtigen Glaubensbruders gegen die drohende Vernichtung des georgischen Volkes durch islamische Mächte zu mystifizieren. Die Reichweite der Integration der Peripherie in das imperiale Wissen war durch diese personellen und konzeptionellen Verflechtungen beträchtlich. Auch als um die Jahrhundertwende dann in Georgien selbst geforscht werden konnte und der Wissenschaftsbetrieb institutionell erweitert wurde, dauerte die Integration der kaukasischen Forscher in das imperiale Wissenssystem fort. Dazu verhalf ein Machtdiskurs, in den sich ein – in die imperialen Hierarchien fest integrierter – georgischer Wissenschaftler maßgeblich einschrieb: Das von Niko Marr gegründete Forschungsinstitut untersuchte die Kaukasusvölker in einem asiatischen kulturellen Kontext. Allerdings brachte dieser Diskurs auch Gegenmacht dergestalt hervor, dass mit einer privaten georgischen Universität in Tbilisi eine gegenläufige nationale Wissenschaftstradition begründet wurde, die Georgiens Entwicklung eng an die geistigen Traditionen des christlichen Europas band. In der Sowjetzeit wurde von den Bol’ševiki ein eigenständiges sozialistisches, an Zensusnationalitäten orientiertes geographisches Entwicklungskonzept durchgesetzt, das von der Akademie der Wis-

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senschaften als hegemoniales Wissenschaftszentrum gestaltet wurde. Ein nationalterritoriales Prinzip bestimmte fortan die Kaukasienforschung, die Regionalforschung wurde auf Kosten ihrer Vielfalt »nationalisiert«. Das vierte Beispiel für Repräsentationsformen hat den Körper des Herrschers zum Gegenstand, hier am Beispiel des sowjetischen Partei- und Staatschefs Nikita Chruščev.33 Die Image-Bildung wird als eine Machtressource in der nationalen und internationalen Politik beschrieben, ihre diskursive Konstruktion beobachtet, diese auf die Dispositive der Macht bezogen und die Reichweite der Integrationskraft dieser Form von staatlicher Symbolpolitik analysiert. Elena Zubkova und Sergej Zubkov arbeiten heraus, welche Symbolik das Imaginative einer Machtstrategie begleitete, die darauf abzielte, die Sowjetunion effektiver als zuvor in die internationale Politik zu integrieren und den Wechsel des Codes vom Kalten Krieg zur Entspannungspolitik zu fördern. Im Bestreben, das Feindbild von der Sowjetunion abzubauen und zu einer »gemeinsamen Sprache« zu finden, wurde in der Sowjetunion der Körper des Führers erstmals nach westlichen Maßstäben modelliert und multimedial kommuniziert. Zum Image gehörte dabei nicht nur das Aussehen einschließlich der Kleidung, sondern auch die Körpersprache und die mediale Inszenierung von Chruščevs Auftritten im In- und Ausland. So wurde er zum ersten großen PRProjekt der Sowjetunion im Kontext einer auf den Westen ausgerichteten Machtstrategie. Zu den Merkmalen der intensivierten Ost-West-Kommunikation über den Körper des Führers gehörte u. a. seine Volksnähe, seine Reisediplomatie, seine Friedensmission – mit den Effekten, dass er zu einem Medienereignis in der westlichen Welt wurde und in nicht gekannter Weise Vertrauen als kulturelles Kapital der Politik anhäufen konnte. Zugleich verband sich durch die spezifische Image-Bildung seine Person mit dem sowjetischen Staat, dem Chruščev ein fortschrittliches, verwestlichtes Profil zu geben versuchte. Hinzu kam die Stilisierung als der Erste Kommunist, dessen Auftreten eine besondere Volksverbundenheit suggerierte und seine Führungsqualitäten noch hob. Mit diesem Beitrag wird gezeigt, dass sich die Sowjetunion in der nachstalinistischen Zeit auf eine »modernisierte« Symbolpolitik einstellen konnte, die über das Image des Führers eine nicht gekannte Reichweite erzielte. Teil III des Bandes stellt vier unterschiedliche Arten sowjetischer imperiumsüberschreitender Machtstrategien vor. Die Kommunikation vollzog sich auf verschiedenen Ebenen: auf Parteiebene, auf staatlicher und diplomatischer 33 Vgl. Elena Zubkova, Sergej Zubkov, »Das große PR-Projekt ›Nikita Chruščev für den Westen‹. Konstruktionsmechanismen und Repräsentationsstrategien eines neuen Sowjetunionbildes«, ebd.

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sowie auf gesellschaftlicher. Es lässt sich ersehen, dass es – abhängig vom jeweiligen politischen Kurs des Sowjetregimes und von den Konstellationen der internationalen Politik – zu einer beträchtlichen Varianz der sowjetischen Strategien und entsprechend zu flexiblen Konstruktionen transkultureller Hierarchien kommen konnte. Diese wurden von sowjetischer Seite jeweils im Bewusstsein, eine kommunistische Zivilisierungsmission durchzuführen bzw. ein überlegenes System zu repräsentieren, angestrebt. Die damit verbundene Symbolpolitik stabilisierte Herrschaft in unterschiedlichen Kontexten, stets jedoch unter den Bedingungen des so genannten Wettkampfs der Systeme, in dem sich das Sowjetregime mit der kapitalistischen Welt verwickelt sah und in dem es seine Herrschafts- und Machttechniken gezielt einsetzte. Die jeweiligen Machtstrategien wurden innerhalb des sowjetischen Herrschaftsapparates aufgebaut, in deren Zentrum die kommunistische Partei die Fäden zog. Welche Abhängigkeiten auf transnationaler Ebene wirksam wurden, zeigt Brigitte Studer am Beispiel der Kommunistischen Internationale.34 Dieser war eine spezifische Architektur als einer transnationalen Organisation eigen, die in nationalen Räumen gründete, zentralistisch aufgebaut und eng an die politische Herrschaft in der Sowjetunion gebunden war. Diese Bindung ergab sich durch die gemeinsamen kommunistischen Wertvorstellungen, das politische Kapital der Bol’ševiki infolge der Gründung des ersten sozialistischen Staates, durch den internationalistischen Herrschaftsanspruch des bolschewistischen Regimes und die personellen, materiellen und symbolischen Ressourcen, auf denen die bolschewistische Herrschaft beruhte. In der Beziehung zwischen dem Apparat der Komintern und den sowjetischen Institutionen baute sich eine stark ausgeprägte transkulturelle Hierarchie auf, innerhalb derer die (diktatorischen) Deutungsmuster der Bol’ševiki durch gezielte Machtstrategien auf die Komintern übertragen wurden. Als eine Folge wurde die ursprüngliche primäre Zielsetzung der Komintern, die Weltrevolution, zugunsten des Schutzes der Sowjetunion zurückgestellt. Die Reichweite der kommunizierten Macht der Sowjetunion als »des Zentrums der Weltrevolution« wurde immer umfassender, je weiter konkurrierende Diskurse in der transnationalen kommunistischen Kommunikation ausgeschaltet werden konnten, bis schließlich Herrschaftstechniken in Form des stalinistischen Terrors selbst die Träger der Gegendiskurse physisch eliminierten. Disziplinarpraktiken des Überwachens und Strafens galten schließlich für den Apparat der Komintern ebenso wie für die Kader der nationalen kommunistischen Parteien.

34 Vgl. Brigitte Studer, »Die Komintern: Herrschaftspraktiken, Machtmechanismen, kollektive und individuelle Handlungsspielräume«, ebd.

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Die kulturelle Anpassungsfähigkeit der kommunistischen Kader der Komintern an die politischen Vorgaben der Sowjetmacht erschließt die Autorin mit Hilfe des Foucaultschen Konzeptes der Gouvernementalität, das die Machttechnologien der Fremd- und Selbstführung beschreibt. Durch »Techniken des Selbst« kann das Subjekt zum integralen Träger des Machtdiskurses und Repräsentanten des Herrschaftssystems werden. Die Anpassungsleistungen der Mitglieder der Komintern erbrachten ihnen erheblichen sozial-integrativen Gewinn: Anschluss an eine Solidargemeinschaft, Zugriff auf einen fest umrissenen Erklärungs- und Orientierungsrahmen der sozialen Welt und Einschreibung in ein visionäres Großprojekt. Mit ihrem Beitrag argumentiert Brigitte Studer somit auf mehreren Ebenen transnationalen sozialen Handelns, wobei auch die des Subjektes und seine Einbindung in Machtstrategien beleuchtet wird. Im Beitrag von Martin Lutz steht als Akteur das deutsche Industrieunternehmen Siemens im Mittelpunkt der Betrachtungen,35 das im transnationalen Geschäft mit Sowjetrussland bzw. der Sowjetunion auf symbolisches Kapital ebenso wie auf stabile institutionelle Strukturen angewiesen war. In der Untersuchung werden die Dispositive der Macht auf beiden Seiten berücksichtigt: Siemens konnte erheblichen Einfluss auf die Regierung der Weimarer Republik nehmen, die das Ostgeschäft zur Ankurbelung der deutschen Wirtschaft fördern wollte. Außerdem gelang durch die Gründung des »Russlandausschusses der deutschen Wirtschaft« eine Bündelung der deutschen Wirtschaftskräfte und zugleich eine Stärkung der Machtkommunikation mit den sowjetischen Außenhandelsbehörden, an der Siemens maßgeblich beteiligt war. Auf sowjetischer Seite war insofern der Primat der Innenpolitik prägend, als man unter allen Umständen am sozialistischen Wirtschaftskurs und dem staatlichen Außenhandelsmonopol festzuhalten gedachte. Die transnationale Kommunikation, die vor allem die Handlungsspielräume der Wirtschaftspartner sowie die institutionelle Absicherung der Beziehungen zum Gegenstand hatte, wurde durch sowjetische Herrschafts- und Machttechniken schließlich so stark dominiert, dass die deutsche Seite immer wieder zu ihren Ungunsten nachgeben musste. Ein wirtschaftsliberaler Einfluss auf den sowjetischen Kommunikationspartner, der seine Dominanz ausspielte und hohen Gewinn daraus zog, war nicht möglich. Integration im Sinne von längerfristiger, transnationaler und wirtschaftspolitischer Verständigung auf der Basis institutioneller Sicherheit konnte aufgrund der asymmetrischen sowjetischen Machtstrategien grundsätzlich nicht gelingen. 35 Vgl. Martin Lutz, »Ein transnationales Geschäft: Kommunikation und Institutionalisierungsprozesse zwischen Siemens und dem sowjetischen Außenhandelsapparat während der Weimarer Republik«, ebd.

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Innerhalb des sowjetischen Hegemonialraums waren am Beispiel der DDR in den 1950er und 1960er Jahren eine wachsende Integration des »Juniorpartners« und die Festigung einer transkulturellen Hierarchiebildung zu beobachten. Isabelle de Keghel wählt die Methode der seriell-ikonografischen Fotoanalyse,36 die mit einem diskursanalytischen Zugang kombiniert wird, um die visuellen Repräsentationen der sowjetischen Hegemonie innerhalb der Machtbeziehungen zwischen der UdSSR und der DDR zu verfolgen. Ihr Beitrag bildet daher zugleich eine Brücke zwischen Teil II und Teil III des Bandes, weil die transnationale Kommunikation der Repräsentationsform »Foto« gewählt worden ist. Die ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen waren im Untersuchungszeitraum trotz der proklamierten »großen Freundschaft« in mehrfacher Weise durch die traumatischen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und ihre Folgen belastet, aber auch durch Meinungsverschiedenheiten und Interessenkonflikte zwischen den politischen Führungen beider Länder. Hinzu kam das Problem, dass die DDR der Sowjetunion in mancher Hinsicht, etwa konsumkulturell und technologisch, überlegen war, was der beanspruchten Hegemonialrolle der UdSSR und dem politisch-militärischen Machtgefälle zwischen beiden Staaten widersprach. Die Analyse der Fotos in der sowjetischen Illustrierten Ogonek macht deutlich, in welchen Phasen und mit welchen Machtstrategien eine Integration der DDR in den sowjetischen Hegemonialraum erfolgte, die keinesfalls auf eine Gleichberechtigung hinauslief. Vielmehr wies die Integration durch die Wahl der Bildmotive und Bildstrukturen eine deutliche Hierarchiebildung im Verhältnis zwischen der UdSSR und der DDR auf, die thematisch mit der Führungsrolle der Sowjetunion verbunden wurde. Das vierte Beispiel von sowjetischer Machtkommunikation zeigt demgegenüber eine pragmatische Flexibilität, die mit den Herrschaftstechniken verbunden war, die die politischen Führer bevorzugten. Ragna Boden kann durch ihren kommunikationstheoretischen Ansatz Machtfelder und Effekte von Kommunikation ausloten, die im politischen Dialog zwischen der Sowjetunion und Indonesien entstanden.37 Sie betrachtet Kommunikationsformen und die Wirksamkeit transkultureller Hierarchien in zwei Zeiträumen, der politischen Herrschaft unter Stalin und unter Chruščev, sowie auf unterschiedlichen Ebenen. Das Fallbeispiel Indonesien repräsentiert den Umgang des Sowjetregimes mit einem außereuropäischen Entwicklungsland, das sich in einem Prozess der Dekolonisierung und Staatsbildung befand. Als kulturelle Konstante wird auch 36 Vgl. Isabelle de Keghel, »Ungleiche Freunde. Visuelle Repräsentationen der ostdeutschsowjetischen Beziehungen in der Illustrierten Ogonek«, ebd. 37 Vgl. Ragna Boden, »Weltmacht kommunizieren: Möglichkeiten und Grenzen sowjetischer Verständigung mit außereuropäischen Partnern am Beispiel Indonesiens«, ebd.

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in diesem Beitrag der Missionsgedanke der Sowjetunion als Vorreiter des Kommunismus herausgestellt, der ihre inter- und transnationale Politik lenkte. Um den Herrschaftsradius auszuweiten und integrierend auf die Außenwelt zu wirken, waren Strategien der Verständigung notwendig, die mit dem sowjetischen Führungsanspruch in Einklang gebracht werden mussten. Politik als kommunikatives Handeln zu untersuchen, bringt hier den Gewinn, die Spielräume auszuloten, die sich die indonesische KP erwarb. Obwohl Stalin eine Haltung der Überlegenheit pflegte, gelang es weder ihm noch der Komintern, die Politik der PKI zu bestimmen. Diese holte sich Rat, bewahrte sich aber eine relative Selbständigkeit, die auch mit der Vermittlerrolle der KP Chinas und letztlich der Macht, die diese diskursiv ausübte, zusammenhing. Der zweite Untersuchungszeitraum, die Ära Chruščev, schafft eine produktive Verbindung zum Beitrag von Elena Zubkova und Sergej Zubkov in diesem Band. Denn es wird wiederum nachgewiesen, wie stark sich die mediale Inszenierung Chruščevs auf die transkulturelle und internationale Kommunikation der Sowjetunion mit Indonesien auswirkte. Chruščevs spezifisches Image und die damit verbundene performative Machtstrategie war auf Partei- und Staatsebene höchst erfolgreich; die Flexibilität der sowjetischen Kommunikationsführung suggerierte einen Dialog »auf Augenhöhe«. Dass Kulturkontakte dennoch keine breite gesellschaftliche Dimension erlangen konnten, lag am Einfluss des Islams in Indonesien, dem die dezidiert antireligiöse Politik unter Chruščev entgegenstand. Eine diesbezügliche taktische Symbolpolitik vermochte keine Gräben zuzuschütten, doch gelang eine weitreichende Verständigung auf Staatsebene, die den Einfluss der Sowjetunion in Indonesien festigte. Der abschließende vierte Teil nimmt besonders die Gegenstrategien, die sich aus Machtdiskursen ergeben, in Augenschein. Die Beiträge zeigen Widerständigkeiten abgestuft und in Varianz, von der zaghaften Herausbildung eines Eigen-Sinns in transnationalen Kontexten bis hin zu breiten öffentlichen Gegendiskursen. Zugleich sollen die Grenzen imperialer Macht im Zusammenhang mit den soziokulturellen Prozessen, die die Reichweite der Macht beschränken, deutlich herausgehoben werden. Der Beitrag von Natalia Donig bildet ein Bindeglied zwischen allen vier Teilen des Bandes.38 Er greift die hegemoniale Konzeptbildung auf, die in der Sowjetunion – und bei enger Kooperation zwischen sowjetischen und ostdeutschen Organisationen – stattfand, um ein Idealbild von der UdSSR als »Arbeiterparadies« zu kreieren und es mit dem Impetus einer Zivilisierungsmis38 Vgl. Natalia Donig, »Reisen ins ›Arbeiterparadies‹. Deutsche Delegationen in der Sowjetunion zwischen Inszenierung und Eigensinn (1953–1957)«, ebd.

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sion nach außen zu kommunizieren. Eine integrative Wirkung konnte durch solchen Sowjetunion-Diskurs nur dort erzielt werden, wo über kommunistische Netzwerke und Sympathisanten transkulturelle Hierarchien wirksam waren. Die Kommunikation gelang daher eher in der Deutschen Demokratischen Republik als in der Bundesrepublik, entsprechend den unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen und dem jeweils vorherrschenden Bild von der Sowjetunion. Notwendig schien aus sowjetischer Sicht das groß angelegte transnationale Projekt wegen der negativen Erfahrungen in beiden deutschen Staaten mit sowjetischer Kriegführung und Besatzungspolitik im Zweiten Weltkrieg sowie aufgrund der hegemonialen Gewaltpolitik der Sowjetunion. Die Wahrnehmung der UdSSR sollte durch eine systematische Beeinflussung der Vorstellungswelt präzis ausgewählter deutscher Delegationen und ihrer multiplikatorischen Tätigkeit positiv und integrationsfördernd beeinflusst werden. Die Teilnehmer blieben in einem vorstrukturierten Raum aus symbolischer Kommunikation und ritualisierter Performanz eingeschlossen, in dem sie »schöne« Repräsentationsformen sowjetischer Macht verinnerlichen und anschließend in ihrer Heimat als interkulturelle Mittler fungieren sollten, um ihren Landsleuten ein überzeugendes Bild von der Sowjetunion zu bieten. Es gelang den beteiligten sowjetischen Institutionen und Organisationen allerdings nur in beschränktem Maß, die gewünschte Vision zu vermitteln, da die Gäste nicht den Erwartungshorizont besaßen, der für den Glauben an die sowjetische Meistererzählung nötig gewesen wäre. Zum einen kommunizierten die Besucher neben positiven Eindrücken auch Vorbehalte, zum anderen akzeptierte die westdeutsche Öffentlichkeit prosowjetische Berichte im Untersuchungszeitraum grundsätzlich nicht. So wurde trotz Erfolgen im Delegationstourismus das sowjetische Fernziel nicht erreicht, die Überlegenheit des sowjetischen Gesellschaftsmodells transkulturell glaubwürdig zu kommunizieren. Der systematische Blick auf Formen von Widerstand in diesem vierten Teil führt vom vereinzelten, individuellen zum breiten, kollektiv vertretenen EigenSinn, aus dem sich wirksame Gegenstrategien der Macht entwickeln. Am Beispiel des sowjetischen Hegemonialraums bietet sich das Beispiel Polen an, in dem die erste Massenbewegung entstand, die eine politische Transformation einleitete. Robert Brier setzt in seinem Beitrag über die Solidarność-Bewegung zwei für die konzeptionelle Ausrichtung des Bandes wichtige Akzente:39 er verwendet methodisch die Transnationale Geschichte als Verflechtungsgeschichte mit einem Akzent auf dem Transfer von politischen Ideen und er beschreibt die 39 Vgl. Robert Brier, »Solidarität in unübersichtlichen Zeiten. Zu den kulturhistorischen Kontexten der ›Außenpolitik‹ polnischer Oppositioneller in den 1980er Jahren«, ebd.

Einleitung 

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transnationale diskursive Konstruktion von Gegenmacht gegen die Herrschaft und politische Deutungsmacht der kommunistischen Regime Polens und der Sowjetunion. Dazu teilt der Autor Beobachtungen auf mehreren analytischen Ebenen mit, die sich in der Praxis verschränken: Eine Ebene bildet der Diskurs der polnischen Opposition, die ihre Anliegen und Ziele erfolgreich als geteilte Wertvorstellungen einer transnationalen Öffentlichkeit kommunizierte. Die andere Ebene besteht aus den innergesellschaftlichen Diskursen der Staaten, für die die Solidarność eine Art »Legitimitätsressource« für den eigenen politischen Kurs bildete. Dieser gestaltete sich in den innenpolitischen Auseinandersetzungen um Freiheit und Demokratie einerseits, kommunistischen, sowjetischen »Totalitarismus« andererseits. Eine weitere Ebene besteht im transnationalen diskursiven Engagement von westlichen Regierungen zugunsten der polnischen Opposition, die das Regime der Volksrepublik Polen durchaus beeinflusste. Aus den Analysen folgt, dass westliche Prozesse politischer Selbstverständigung im Ost-West-Konflikt auf die Situation in Polen projiziert wurden, dass es dadurch aber zu einer politischen Dynamik kam, die u. a. das Prestige der Sowjetunion deutlich herabsetzte, das sie für linke Gruppierungen in einzelnen westlichen Demokratien gehabt hatte. Die polnische Opposition war ihrerseits bemüht, ihre politischen Anliegen mit denen westlicher Demokratiebewegungen in Verbindung zu bringen und daraus politisches Kapital zu schlagen. Ferner wurden Foren von Gegenmacht durch die polnische Opposition geschaffen, die schon in der Frühphase der Solidarność-Bewegung eine transnationale Ausrichtung hatten und in der Zeit des Kriegsrechts z. T. auch außerhalb Polens institutionalisiert wurden. Aus den vielschichtigen Diskursen ergeben sich erhebliche Kongruenzen zwischen dem politischen Denken polnischer Oppositioneller und westlicher Gruppierungen, wobei man sich vor allem klar gegen die UdSSR als totalitärem und aggressivem Hegemonialstaat abgrenzte, dessen Einfluss zurückgedrängt werden sollte. Der abschließende Beitrag des Bandes kommt auf die Konstruktion von Geschichte, auf Erinnerungskultur und Geschichtspolitik zurück, die bereits in Teil II behandelt worden sind. Doch findet nun ein Perspektivwechsel statt: Es wird gezeigt, wie sich ehemals von der Sowjetunion hegemonial beherrschte ostmitteleuropäische Staaten gegenwärtig außenpolitisch positionieren und mit welchen Geschichtskonstruktionen die Regierungen ihre Konzepte diskursiv nach innen und außen absichern.40 Alvydas Nikžentaitis erläutert, dass die Bewältigung des verordneten sowjetischen Kommunismus dazu geführt hat, die 40 Vgl. Alvydas Nikžentaitis, »Zwischen Erinnerungs- und Gedächtniskultur: Die Bedeutung von Vergangenheitsvorstellungen der Zwischenkriegszeit für die heutige Außenpolitik in Ostmitteleuropa«, ebd.

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Zwischenkriegszeit als die »normale Zeit« zu erinnern. Darüber hinaus greift man in Polen und Litauen auf solche Narrative des Mittelalters und der Frühen Neuzeit zurück, die eine gemeinsame Erinnerung konstituieren und dadurch ein symbolisches Fundament für eine regionale Kooperation stiften können. Aber auch alternative Geschichtsbilder werden in Polen international kommuniziert, um das zunächst nach der »Wende« ausgegrenzte Russland in die polnische Europapolitik zurückzuholen. Demgegenüber dominiert in der Erinnerungskultur der Russischen Föderation der Siegesmythos vom Großen Vaterländischen Krieg, aber es werden auch immer stärker Mythen früherer Jahrhunderte revitalisiert, um Herrschaftstraditionen aufzunehmen. Wenn man zum Beitrag Olga Pavlenkos in Teil I zurückkehrt, in dem ebenfalls Machtstrategien der Gegenwart auf Konzepten längst vergangener Zeiten beruhen, schließt sich der Kreis. Man nimmt wahr, wie sich gegenwärtige Tendenzen in alte Kontinuitäten fügen. Die Themenauswahl des Bandes folgt ebenso wenig dem Anspruch auf Vollständigkeit wie die Auswahl der Autorinnen und Autoren, wenn es um die Neue Imperiumsforschung im deutschen Sprachraum geht. Die Beiträge werden durch die gemeinsame Intention verbunden, die jeweils individuellen Forschungen in eine gemeinsame Studie über die Reichweite von Integrationsleistungen der imperialen Macht Russlands einzubringen. Die Beiträge geben zugleich Auskunft darüber, in welchen nationalen und transnationalen Netzwerken die einzelnen Autorinnen und Autoren forschen und welche weiteren Studien, auf die sich ihre Aufsätze stützen, das Verständnis der gewählten Themen und wissenschaftlichen Ansätze vertiefen können. Wir alle wünschen uns, mit dem Band der kulturgeschichtlichen, Russland bezogenen Imperiumsforschung neue Impulse zu geben und zugleich einen innovativen Beitrag zum Forschungsbereich der »kulturellen Grundlagen von Integration« zu leisten. Mein Dank gilt allen, die am Entstehen des Buches mitgewirkt haben. Vor allem gebührt dem Konstanzer Exzellenzcluster »Kulturelle Grundlagen von Integration« und seinem Sprecher Professor Dr. Rudolf Schlögl Dank für die ideelle Inspiration und materielle Unterstützung. Den Autorinnen und Autoren möchte ich herzlich dafür danken, sich mit großem Einsatz an dem Buchprojekt beteiligt zu haben. Ebenso danke ich dem Korrektor Dr. Stephan Kossmann für seine vorzügliche Betreuung des Bandes sowie den Übersetzern Hartmute Trepper, Dr. David Brenner und Mark Seidel für ihre engagierte Arbeit. Besonderen Dank möchte ich schließlich an den Böhlau-Verlag für die Aufnahme des Bandes in sein Programm richten.

Kulturgeschichte und Imperium im russischen 18. Jahrhundert1 Ricarda Vulpius Längst hat die Kulturgeschichte auch die Historiographie zu Themen durchdrungen, die einst als Bastionen klassischer Politikgeschichte galten. Ein vielversprechendes Gebiet ist hierbei die Imperiumsgeschichte des Russländischen Reiches, bei der im Sinne der »Neuen Imperiumsgeschichte« die Sprache der Selbstbeschreibung der Zeitgenossen im Vordergrund steht.2 In den achtziger und neunziger Jahren konnte die Nationsbildung und der Nationalismus dekonstruiert und im Rückgriff auf Ernest Renan gezeigt werden, dass Nationen keine festen Entitäten, sondern vom »plébiscite de tous les jours« abhängig und damit vor allem »vorgestellte Gemeinschaften« waren und sind. Der »imperial turn« der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts zieht die Frage nach sich, inwieweit auch moderne Imperien als kulturelle Konstrukte zu fassen sind, die einer bewussten Identitätsbildung bedurften. Analog zur Nationalismusforschung eignet sich insbesondere die Diskursanalyse, um das Aufkommen und die Entfaltung imperialen Denkens nachzuvollziehen. Im Rahmen dieses Beitrags steht dabei die historische Semantik, die sich der Begriffsgeschichte bedient, im Vordergrund. Im Sinne Reinhard Kosellecks wird zwar davon ausgegangen, dass keine »Wirklichkeit« sich auf ihre sprachliche Deutung und Gestaltung reduzieren lässt; dass es aber ohne solche sprachliche Leistungen – jedenfalls für uns Menschen – auch keine »Wirklichkeit« gibt.3 Mithin 1 Ich danke der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für ihre Unterstützung meines mehrjährigen Forschungsprojektes zu diesem Thema. 2 Zur Ausrichtung der »Neuen Imperiumsgeschichte« um die Ab Imperio-Redaktion siehe »Jazyki Samoopisanija Imperii i Nacii kak issledovatel’skaja Problema i Političeskaja Dilemma«, in: Ab Imperio 1 (2005), S. 11–22. Daneben I. V. Gerasimov, S. V. Glebov, A. P. Kaplunovskij, M. B. Mogil’ner, A. M. Semenov (Hg.), Novaja imperskaja istorija postsovetskogo prostranstva: Sbornik statej (Biblioteka žurnala Ab Imperio), Kazan’ 2004; Aleksej Miller, Imperija Romanovych i Nacionalizm. Essė po metodologii istoričeskogo issledovanija, Moskau 2006. – Zum Überblick zur Imperiumshistoriographie siehe Ricarda Vulpius, »Das Imperium als Thema der russischen Geschichte. Tendenzen und Perspektiven der jüngeren Forschung«, in: Martin Schulze Wessel (Hg.), Eine Standortbestimmung der osteuropäischen Geschichte = Zeitenblicke 6 (2007), Nr. 2 [24.12.2007], URL: (eingesehen am 07.03.2010). 3 Reinhart Koselleck, »Die Geschichte der Begriffe und Begriffe der Geschichte«, in: ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt am Main 2006, S. 56–76, hier S. 62.

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geht es in diesem Beitrag darum, Begriffe in der Sprache der Zeitgenossen aufzuspüren, die Einblick vermitteln, wie und ab wann imperiales Denken im Russländischen Reich sprachlich nachzuweisen ist bzw. inwieweit Sprache Anzeichen für Veränderungen im eigenen Selbstverständnis sowie im Verhältnis zu Anderen liefert. Eine schwierige Frage ist dabei nach wie vor, wie imperiales Denken, wie Imperien zu definieren sind. Ohne an dieser Stelle auf die Vielfalt an Definitionsversuchen in der Literatur einzugehen, wird im folgenden davon ausgegangen, imperiales Denken im Kern als ein Denken zu begreifen, in dem Differenz zum Ausdruck gebracht wird – und zwar Differenz innerhalb eines staatlichen Gefüges zwischen »sich« (einer vorgestellten, meist sprachlich und religiös homogenen Kerngruppe) und »Anderen«.4 Eine zentrale Kategorie imperialen Denkens, die sich im 19. Jahrhundert in ganz Europa zu einem wichtigen Distinktionsmerkmal sowohl innerhalb eines Imperiums (zwischen dem dominanten Volk und den nicht-dominanten Völkern) als auch zwischen Imperien untereinander herausbildete, war der Begriff der Zivilisation oder Zivilisiertheit (civilisation (frz.); civilization (engl.); Zivilisation bzw. der civilizacija). Sein Ursprung, die lateinische Übersetzung civis für das griechische polites (»Bürger«), sowie civilitas wurde schon im ausgehenden Mittelalter zu einem Konzept, das Identität etablierte, indem es zur Abgrenzung von »uns« und »ihnen« diente. In England und Frankreich kam er in der Landessprache Mitte des 18. Jahrhunderts im Zuge der Spätaufklärung auf, wurde allerdings erst im ausgehenden 18. Jahrhundert zu einer bedeutsamen Kategorie. Die Begriffssemantik erhielt in jedem sprachlichen Kontext andere Schattierungen. In der englischen Sprache verband sie sich eng mit der Idee ei4 Vgl. die Einleitung in Catherine Hall (Hg.), Cultures of Empire: Colonizers in Britain and the Empire in the nineteenth and twentieth century, New York 2000, S. 16. Aus der unüberschaubar gewordenen Literatur zur Definition von Imperien seien hier nur Titel genannt, die ihrerseits einen Überblick über Definitionen vermitteln: Jürgen Osterhammel, »Imperialgeschichte«, in: Christoph Cornelißen (Hg.), Geschichtswissenschaften. Eine Einführung, Frankfurt am Main 2000, S. 221–232; Alexander J. Motyl, Imperial Ends. The Decay, Collapse, and Revival of Empires, New York 2001, bes. S. 15–30; ders., »Thinking About Empire«, in: Karen Bareky, Marc v. Hagen (Hg), After Empire. Multiethnic Societies and Nation-Building. The Soviet Union and the Russian, Ottoman, and Habsburg Empires, Boulder 1997, S. 19–29. – Einen hilfreichen Einstieg in die Begriffsgeschichte von »Imperium« bietet Dominic Lieven, Empire. The Russian Empire and Its Rivals, London 2000, bes. Kap. 1 (»Empire: A Word and its Meanings«), S. 3–26; daneben Seymour Becker, »Russia and the Concept of Empire«, in: Ab Imperio 3–4 (2000), S. 329–342. – Zur Abgrenzung von Imperium, Imperialismus und Kolonialismus: Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 1995; Wolfgang Reinhard, Kleine Geschichte des Kolonialismus, Stuttgart 1996.

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ner vernünftigen wirtschaftlichen Entwicklung, welche die Verfeinerung der Sitten anregt und zur Aufklärung beiträgt. Auch dem Französischen Wort hing diese Bedeutung an, allerdings mit dem besonderen Augenmerk auf der Befreiung des Menschen aus seiner sozialen und wirtschaftlichen Abhängigkeit. In Deutschland stand der Begriff der Zivilisation rasch in einem Spannungsfeld zu »Kultur« und »Bildung«, welche für die anzustrebenden inneren Werte standen, während »Zivilisation« zunehmend mit materiellen äußeren, als zweitrangig betrachteten Errungenschaften verbunden wurde.5 Im 19. Jahrhundert spielte der Begriff eine Schlüsselrolle im Diskurs der Kolonisierung in Afrika, Asien und Amerika. In Russland erschwerte das Problem der lang anhaltenden Bilingualität die Herausbildung einer entsprechenden Vokabel in der russischen Sprache. Während von civilisation schon Ende des 18. Jahrhunderts und vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts viel die Rede war, ging civilizacija erst in den 1830er Jahren in die russische Sprache ein, wo es sich gegen Ende der 1860er Jahre endgültig etablierte.6 Von Anfang an spielte bei der Begriffsgeschichte von Zivilisation/Zivilisiertheit in Russland der besondere Umstand eine Rolle, dass seit Peter die russische Gesellschaft in einen sich zunehmend europäisierten Adel als dünne Oberschicht (obščestvo) und in eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung (narod) unterteilte, die vom Adel als rückständig empfunden wurde. Zwar gab es diese Kluft in der einen oder anderen Form in allen Ländern, doch hatte in Russland und noch mehr in den westeuropäischen Ländern seit dem frühen 18. Jahrhundert die Vorstellung an Boden gewonnen, dass die 5 Dem Begriff der Zivilisation in westeuropäischen Sprachen sind eine Reihe fundierter Studien gewidmet: Lucien Febvre, »Zur Entwicklung des Wortes und der Vorstellung von ›civilisation‹«, in: ders., Das Gewissen des Historikers, übers. v. Ulrich Raulff, Berlin 1988 (Erstveröffentl. 1930), S. 39–77; Ėmile Benveniste, »Civilisation. Contribution à l’histoire du mot«, in: Éventail de l’histoire vivante, hg. v. Fernand Braudel, Bd. 1, Paris 1953, S. 47 ff.; Jean Starobinski, »Le mot civilisation«, in: Le temps de la réflexion Bd. 4, Paris 1983, S. 30 ff; Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich. 1680–1820, hg. v. R. Reichardt, Heft 8, München 1988; Jörg Fisch, »Zivilisation, Kultur«, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 679–774; Pim den Boer, »Civilization: Comparing Concepts and Identities«, in: Contributions to the History of Concepts 1 (2005), S. 51–62. 6 Wolfgang Stephan Kissel, »Im Zeichen der Ambivalenz: Zur Geschichte des russischen Begriffs ›civilizacija‹ im frühen 19. Jahrhundert«, in: Peter Thiergen (Hg.), Russische Begriffsgeschichte der Neuzeit. Beiträge zu einem Forschungsdesiderat, Köln u.a. 2006, S. 189–202; Michail Veližev, »Ponjatie ›civilizacija‹ v Rossii (konec XVIII-pervaja polovina XIX v.)«, in: Aleksej Miller, Denis Sdivžkov (Hg.), Obščestvenno-političeskaja sfera v Rossii ot Petra I do 1914 g. Istorija ključevych ponjatij i koncepcij, erscheint 2011/2012.

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petrinische kulturelle Revolution vor allem als ein Programm zur Zivilisierung des russischen Volkes selbst (und nicht anderer Völker) anzusehen sei.7 Vor diesem Hintergrund ist auch in der Historiographie der imperiale Aspekt von Zivilisation/Zivilisiertheit im Russland des 18. Jahrhunderts häufig übersehen worden. Nachdem Zar Peter I. sich zum »Imperator« hatte ausrufen lassen, verwandelte sich das Russländische Reich immerhin nominell schon 1721 in ein Imperium. Es stellt sich die Frage, inwieweit diese Umbenennung auch mit der Formierung imperialer Denkweisen einherging. War ein imperiales Selbstverständnis noch gar nicht vorhanden? Gab es vor civilizacija im 19. Jahrhundert noch kein Begriffsfeld, in dem sich das Gefühl eigener Größe und Überlegenheit gegenüber anderen Völkern ausdrückte? Im folgenden wird argumentiert, dass sich auch vor der linguistischen Innovation von civilizacija Ende des 18. Jahrhunderts das Begriffsfeld und mithin auch die Vorstellung von Zivilisation mit imperialer Dimension entwickelte. Dabei können im Rahmen dieses Beitrags bloß wenige Wörter und diese auch nur schlaglichtartig beleuchtet werden. Gleichwohl wird versucht, sowohl der sprachnormativen Ebene mit einer Untersuchung lexikographischer Quellen Rechnung zu tragen als auch das Vokabular der Politik und Bürokratie, also die öffentlich-politische Ebene, zu berücksichtigen.

1. Politicˇnyj Im 17. Jahrhundert blieb der Moskauer Staat von westeuropäischen Debatten zu den Konzepten des sogenannten Naturrechts und zu den Regeln des Völkerrechts noch weitgehend isoliert. Das weit verbreitete Misstrauen gegenüber ausländischen Einflüssen hinderte den Transfer und die Beschäftigung mit westlichen Schriften. Erst unter Peter wurden die bedeutendsten Texte des frühen Völkerrechts übersetzt. Von jetzt an fanden europäische Rechtsbegriffe Eingang in die russische Gesetzgebung und diplomatische Korrespondenz.8 Traditionelle Begriffe veränderten ihre Bedeutungen, neue Begriffe tauchten im Rahmen der Aneignung neuer Praktiken auf. 7 Zum westeuropäischen, vor allem französischen Blick auf Russland im 18. Jahrhundert siehe die Beiträge von S. A. Mezin (»Petr I kak civilizator Rossii: dva vzgljada«, S. 5–15), Džanluidži Godži (»Kolonizacija i civilizacija: russkaja model’ glasami Didro«, S. 212– 237) und Žorž Dulak [George Dulak] (»Ribeiro Sanches o Politike Kolonizacii i Kolonijach v Rossii (1765–1766)«, S. 264-–80), in: S. Ja. Karp, S. A. Mezin (Hg.), Evropejskoe Prosveščenie i civilizacija Rossii, Moskau 2004. 8 Gary Marker, Publishing, Printing and the Origins of Intellectual Life in Russia, 1700–1800, New Jersey 1984.

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Das Buch von Petr Šafirov kann als ein Beispiel für die Transformation des russischen politischen Diskurses als direkte Folge verstärkter europäischer Einflüsse dienen. Šafirov begleitete Zar Peter als Übersetzer während seiner Reise nach Westeuropa. Dank seiner besonderen Fähigkeiten bleib er auch anschließend im näheren Umkreis des Zaren. 1717 wurde er zum Vize-Kanzler des Kollegiums für auswärtige Angelegenheiten ernannt. Im selben Jahr legte Šafirov die Basis für eine völlig neue Kultur in der russländischen Politik. Er verfasste eine historische Rechtfertigung für den russischen Krieg gegen Schweden. Šafirov beschrieb darin detailliert die Diplomatiegeschichte beider Staaten und stellte es als selbstverständlich dar, dass Russland zur europäischen Diplomatie gehöre. Zudem legte er den russischen Standpunkt dar, wonach die schwedische Seite das Völkerrecht verletzt und Russland keine Möglichkeit mehr gelassen habe, den Krieg zu vermeiden. Russland hielte sich vollständig an die Normen des Völkerrechts und unternähme keinerlei Handlungen, die nicht dem internationalen Verhaltenskodex der Staatengemeinschaft entsprächen.9 Vor dem Hintergrund dieser Darlegungen zählte Šafirov das eigene Land zum Kreis der sogenannten političnye narody. Dieser neue Ausdruck, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts aus dem Polnischen und Ukrainischen importiert worden war, fand innerhalb kürzester Zeit große Verbreitung unter der russländischen Elite. Das Teutsch-Lateinische- und Rußische Lexicon von 1731 übersetzte es mit »gelernt/zivilisiert«, andere Werke nutzen den Ausdruck im engeren Sinne und verbanden ihn mit dem Wort političeskij. Dieser Begriff wurde inhaltlich dem zeitgenössischen »höflich« nahe gestellt, also dem Verhalten eines Menschen, der die Regeln der Gesellschaft einzuhalten weiß.10 Der unmittelbare Zusammenhang des Textes legt nahe, den neuartigen Begriff mit »sich wohl benehmenden« oder mit »zivilisierten Völkern« zu übersetzen. Es ging dem Autor darum, unter dieser Völkergemeinschaft neben dem Russländischen Reich jene Länder Westeuropas zu verstehen, die sich dem Völkerrecht verpflichtet fühlten. Damit war klar die Vorstellung verbunden, dass es auch Völker gab, die nicht zu diesem Kreis gezählt wurden – eine damals für russische Verhältnisse neue Sichtweise. Ein Zeitgenosse Šafirovs sorgte schließlich für eine englische Übersetzung des Buches und beförderte das russische Bestreben, 9 P. P. Shavirov, A Discourse Concerning the Just Causes of the War between Sweden and Russia: 1700–1721, hg. u. eingel. v. W. E. Butler, Dobbs Ferry, New York 1973 (das russ. Original: P. P. Šafirov, Razsuždenie kakie zakonnye pričiny ego carskoe Veličestvo Petr’’ Pervyj Car’ i Povelitel’ vserossiskij, St. Petersburg 1717). 10 Ingrid Schierle, »Semantiken des Politischen im Russland des 18. Jahrhunderts«, in: Willibald Steinmetz (Hg.), »Politik«. Situationen eines Wortgebrauchs im Europa der Neuzeit, Frankfurt am Main, New York 2007, S. 226–247.

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die russische Politik nun auch gegenüber einem ausländischen Forum so zu rechtfertigen, wie es die europäischen Monarchen taten. In der englischen Schrift wurde der Ausdruck političnye narody direkt mit »civilized nations« übersetzt. Šafirovs Schrift war indes nur der Auftakt der semantischen und diskursiven Veränderungen im öffentlichen Russland, die unter Peter I. einsetzten. Wenige Jahre nach Erscheinen des Werkes hatte der Zar den Nordischen Krieg gegen Schweden siegreich mit dem »Ewigen Frieden« beendet (1721). Auf Bitten des Senats und des Heiligen Synods erklärte sich der Zar nun bereit, neben anderen Titeln jenen des »Allrussländischen Kaisers« (Imperator Vserossijskij) anzunehmen.11 Was stellten sich die Zeitgenossen vor, inwieweit sollte sich das Land jetzt verändern? Was verstanden sie unter dem Titel eines Imperators? Die Reden, die anlässlich der feierlichen Titel-Vergabe gehalten wurden, zeigen, dass keiner der Aspekte, die heute mit dem Begriff des Imperiums typischerweise verbunden werden, in den Köpfen der Zeitgenossen vorherrschten: Sie betonten nicht Russlands großes Territorium, nicht seine Multiethnizität oder Multikonfessionalität und auch nicht die Vielstufigkeit seiner politischen Organisation. Stattdessen offenbarte die Lobesrede des Kanzlers Graf Golovkin auf Peter I. ein ganz anderes semantisches Verständnis von Imperium. Zunächst pries er die großen Verdienste Peters, mit denen dieser Ruhm und Ansehen des Staates vermehrt habe. Zweitens betonte Golovkin die Stärke und Stabilität des Staates. Drittens, und dies ist in unserem Kontext das Interessanteste, ging es Golovkin darum, zu würdigen, dass der Zar durch seine Taten »seine treuen Untertanen aus der Dunkelheit der Unwissenheit zum Theater des Ruhms der ganzen Welt und auf diese Weise aus dem Nichtsein zum Sein geführt hat«. Und, das neue Wort političnyj aufgreifend, habe Peter, so Golovkin, seine Untertanen »der Gemeinschaft der zivilisierten Völker zugeführt (vo obščestvo političnych narodov)«.12 An dieser Stelle tritt das sich anbahnende Bewusstsein für Zivilisation als einem zu erstrebenden Stadium staatlich-gesellschaftlicher Entwicklung noch deutlicher zu Tage als in Šafirovs Buch. Golovkin geht ausdrücklich von zwei Möglichkeiten aus: entweder ein Volk gehört zur »Dunkelheit der Unwissenheit«, die an eine »Nicht-Existenz« grenzt, oder es hat »das Theater des Ruhms der ganzen Welt« betreten und gehört damit zu den »zivilisierten Völkern«. 11 Zum vollständigen Titel Peters I. von 1721 siehe Polnoe Sobranie Zakonov Rossijskoj Imperii (PSZRI), sobr. I. Nr. 3850. Bd. 6, S. 453. 12 »Akt podnesenija gosudarju carju Petru I titula imperatora Vserossijskogo i naimenovanija Velikogo i Otca Otečestva 22 oktjabrja 1721 g«, in: PSZRI sobr. 1 (1830), Bd. 6, Nr. 3840, S. 444.

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Diese Dichtomie enthüllt die neue, frühaufklärerische Denkweise von Russlands Elite. Jetzt hatten diejenigen, die nicht zu den »zivilisierten Völkern« gehörten, eine Beschreibung ihrer Situation erhalten: »Dunkelheit« und »NichtExistenz«. Die Sprache offenbart den Beginn eines vom Westen übernommenen Überlegenheitsgefühls gegenüber den sog. nicht-zivilisierten Völkern. Da Russland nach dieser Sichtweise auch erst kürzlich das neue Stadium erreicht hatte, wird zugleich der Gedanke vermittelt, dass die »zivilisierten Völker« keine geschlossene Gesellschaft darstellten, sondern auch neuen »Mitgliedern« offen standen. Die Gemeinschaft der »zivilisierten« Völker jedenfalls bildete ein großes Ganzes, an dem jedes Volk teilhaben konnte, sofern es sich darum bemühte.

2. Ljudskost’ Der Ausdruck ljudskost’ wurde ebenso wie političnyj aus Polen bzw. über die Ukraine nach Russland importiert. Polnische wie ukrainische Lexika belegen, dass er dort bereits seit dem 16. Jahrhundert sowohl im Sinne von »Güte«, »Menschlichkeit« und »Großzügigkeit« als auch im Sinne von Sittenkultur, Schliff und Bildung kursierte (ludzkość, ljudskost’).13 Damit entsprach die Vokabel ganz dem lateinischen civilitas, das schon seit dem späten Mittelalter einerseits als Synonym für Humanität galt, andererseits im Zuge der Entwicklung verschiedener Umgangssprachen zunehmend auch als »gute Manieren«, »Höflichkeit« und »Umgänglichkeit« verstanden wurde.14 In Russland wurde das Wort erstmals Anfang des 18. Jahrhunderts verwandt und behielt beide Bedeutungen: Menschenliebe auf der einen Seite, Bescheidenheit, Höflichkeit, Erziehung und gutes Benehmen in der Gesellschaft auf der anderen Seite.15 Die Einführung dieses Wortes in die Umgangssprache war eng mit der Absicht Peters I. verbunden, einen neuen Verhaltenskodex aufzustellen.

13 Słownik Polszczyzny XVI wieku, Bd. XII, Wroclaw-Warszawa-Krakow-Gdansk 1979, S. 402–204. – Auch im Mittelukrainischen/Mittelruthenischen der Frühen Neuzeit gibt es jede Menge Belege für die Verwendung von ljudz(s)kost’. Ich danke Michael Moser für die Konsultation der Karthothek des Kryp’’jakevyč-Instituts in Lemberg sowie das Nachschlagen bei Jevhen Tymčenko, Materialy do slovnya pysemnoji ta knyžnoji movi XV–XVIII st., Bd. 1–2, Kiev 2003. 14 Den Boer, »Civilization«, S. 53 f. 15 Slovar’ russkogo jazyka XVIII veka, Bd. 1–19, Leningrad 1984–2007, hier Bd. 12 (2001), S. 21.

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Der Eintritt in die Gesellschaft forderte vom Adligen weniger umfassende Bildung als vielmehr die Fertigkeit, sich angemessen zu verhalten, was damals durch das Wort »ljudskost’« definiert wurde. Tanzen, Fechten, Reitgewohnheiten und das Wissen darüber, wie man sich galant und gesellschaftlich umgänglich gab, galt in der Ausbildung adliger Kinder als unverzichtbar. Das gesellschaftliche Verhalten beschränkte sich nicht auf die Kenntnis der Normen des Etiketts, es hatte zudem natürlich und ungezwungen zu sein, selbstbewusst und weich zugleich, wobei die eigenen Gefühle streng kontrolliert werden mussten.16

Während der Ausdruck ljudskost’ zur Zeit Peters I. sich weitgehend auf das soziale Verhalten des Adels bezog, veränderte und verbreiterte sich im Laufe des Jahrhunderts die Bezugsgröße. Als Beispiel dafür dient ein Bericht des Generalmajors Aleksej Tevkelev und eines ranghohen Beamten, Petr Ryčkov, an die Zarenregierung, in welchem sie 1759 über die Situation in der Kleinen und Mittleren Horde der Kasachen Auskunft geben (in den russischen Quellen der Zeit wurden die Kasachen kirgiz-kajsaki genannt). Tevkelev und Ryčkov führten im Namen des Zaren Verhandlungen mit den Kasachen und verfolgten das Ziel, sie endgültig in die russländische Untertanenschaft und in den Gehorsam zu überführen. In ihrem Vortrag reflektierten die Beamten über die Erfahrung der imperialen Eliten bei der Umwandlung von Kulturen neu inkorporierter Völker am Beispiel des baschkirischen Volkes: Auch wenn es eine überaus schwierige Sache ist, bei einem ganzen Volk die nationalen Sitten und die veralteten Gebräuche zu verändern, so muss man doch bei der Beurteilung der Verwaltung neu-untertäniger Völker, welche es auch immer seien, festhalten, dass es ein wesentlicher Vorteil ist, wenn sie von Anfang an dahingehend geführt und daran ausgerichtet werden, was das Staatsinteresse von ihnen verlangt. Dabei sollen ihre Sitten und ihr Zustand anerkannt und ihnen gegenüber jegliche Form von Gerechtigkeit und Maßhaltung angewendet werden. Dafür dient als nächstliegendes Beispiel und Beweis das hiesige baschkirische Volk, bei denen zu Beginn ihrer Untertanenschaft nach Einschätzung und Beobachtung der zuständigen Behörde es nicht absehbar war, dass sie in die ljudskost’ sowie in den untertänigen Gehorsam überführt werden könnten. Ohne diese [Überführung] wäre es [das Volk] mit zunehmender Stärke und zunehmendem Reichtum sowie angesichts seines groben Zustands und seiner Wildheit (dikost’) in eine große Willkür (svoevol’stvo) geraten. So geschah es allerdings, dass es nun erst in den Zustand der ljudskost’

16 O. L. Beličenko, »Tema detstva v russkoj memuaristike«, URL: (eingesehen am 07.03.2010).

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(v sostojanie ljudskosti) überzugehen begann, obwohl es sich schon seit 200 Jahren untertänig nennt.17

Die Bezugsgröße von ljudskost’ waren nicht länger einzelne Individuen oder soziale Schichten, sondern ganze Kollektive bzw. Völker. Das Überlegenheitsgefühl der Beamten offenbart sich bereits bei der Beschreibung des Vorhabens selbst, nämlich in der Absicht, die »veralteten Gebräuche« (zastarelye obščnosti) des Volkes zu verändern. An der Notwendigkeit, das einverleibte Volk in seiner Lebensweise zu verändern, wurde kein Zweifel gelassen. Als klares Ziel der Veränderung für die Baschkiren diente dabei die ljudskost’. Dieses Ziel (sostojanie ljudskosti) sei nach Ansicht der Beamten zwar nur mühsam, aber eben doch nach zweihundert Jahren der Untertanenschaft zumindest in Ansätzen erreicht worden. Wie das Wort sostojanie deutlich machte, war ljudskost’ hier als statischer, nicht als dynamischer Begriff gemeint. Nach diesen Ausführungen ließen die Beamten Tevkelev und Ryčkov ihre Gedanken zu den Kasachen folgen: Im Übrigen kann man über sie alle berichten, dass sie [das kirgis-kasachische Volk] nicht so überaus rau und biegsam wie die Baschkiren sind und in allem weitaus verständiger, und dass besonders unter den Landeigentümern und unter den Ältesten sich solche finden, welche durch den kurzzeitigen Umgang (obchoždenie) [mit den Russen] in einen solchen Zustand der Vernunft (razum) gekommen sind, dass bei ihnen ljudskost’ und ein gesunder Menschenverstand (dovol’noe razsuždenie) sichtbar sind, was es bei den Baschkiren bis heute nicht gibt. Man kann mit einem Wort schließen: Sie sind einem zivilisierten Umgang weitaus geneigter (k obchoždeniju gorazdo sklonnee) als es die Baschkiren und Kalmyken sind.18

Ljudskost’ wurde hier mit einem bestimmten »Zustand der Vernunft« sowie mit einem »gesunden Menschenverstand« assoziiert und beide Eigenschaften hielt man durch den Umgang mit den Russen für erreichbar. Zudem waren in der Wahrnehmung der Beamten die wilden (dikie) Völker in ihrer Wildheit nicht einfach alle gleich, sondern zeigten sich in unterschiedlichem Grad zur ljudskost’ geneigt (die Beamten setzen hier obchoždenie als Synonym für ljudskost’ ein). Die Idee einer Zivilisationsleiter, bei der jedes Volk sich auf unterschiedlichen 17 »Predstavlenie general-majora A. Tevkeleva i koll. sovetnika P. Ryčkova kollegii inostrannych del o položenii v Malom i Srednem Žuzach (22.1.1759)«, in: Kazachsko-russkie otnošenija v XVI-XVIII vekach (Sbornik dokumentov i materialov), Alma-Ata 1961, Nr. 225, S. 571–591, hier S. 575. 18 Ebd., S. 576.

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Sprossen befindet, die unterschiedlichen Niveaus von Zivilisation entsprechen, schien nicht mehr fern. Am Ende ihrer Überlegungen traten die Beamten für eine weiche Pädagogik bei der Erziehung »ihrer« neuen Untertanen ein: […] für die Widerlichkeiten der Chane und Sultane sowie für die von ihnen nicht ausgeführten Aufgaben ausnahmslos alle zu bestrafen und zu töten steht auf keinen Fall an, da auch unter den zivilisiertesten Völkern der Erde (meždu samymi političnymi narodami v svete) nicht eines zustande bringt, dass es unter ihnen keine Räuber und Übeltäter gäbe, um so weniger kann man dies von den Kirgisen einfordern, welche bis zur Untertanenschaft fast keine ljudskost’ kannten.19

Hier beweist die Verwendung des Adjektivs političnyj nicht nur, dass seine Bedeutung, welche zu Beginn des Beitrags analysiert wurde, sich mindestens bis zur Mitte des Jahrhunderts hielt. Die Passage belegt zudem die enge semantische Verbindung zu ljudskost’. Diese und die anderen herangezogenen Beispiele können bezeugen, dass beide Ausdrücke zu demselben semantischen Feld um den Begriff der Zivilisiertheit zu zählen sind. Dabei ging es in den Verwendungsbeispielen jeweils deutlich um die Gesellschaft als Ganzes (in diesem Fall vor allem um die Kasachen), welche ihren vorherigen Zustand zurückgelassen und nun einen neuen Zustand erreichen könnte, welcher von Vernunft, gesundem Menschenverstand und vor allem von der Abwesenheit von Wildheit (dikost’) geprägt war. Neue Nuancen beim Verständnis des Wortes ljudskost’ lassen sich beim Orenburger Gouverneur Ivan Varfolomeevič Jakobi (1726–1803) finden. Auch er verwandte den Ausdruck in Verbindung mit der Politik gegenüber den »KirgisKasachen«. Jakobi merkte 1780 an, dass Katharina II. beschlossen habe, Moscheen zu errichten, nachdem sie die Versuche als zum Scheitern verurteilt angesehen habe, »den Kirgisen ljudskost’ (vselit’ v kirgizach ljudskost’) und bessere Umgänglichkeit (lučšee obchoždenie)« mit Hilfe der Schulung ihrer Geiseln in russischer Sprache und im Lesen und Schreiben auf Russisch beizubringen.20 Für Jakobi ist ljudskost’ und obchoždenie mithin eng mit Alphabetisierung und

19 Ebd., S. 586. 20 Zitat von 1780. Hier zitiert nach Sergej Rakovski, »Jakobi Ivan Varfolomeevič«, URL:

(eingesehen am 03.11.2010). Vgl. auch V. G. Semenov u. V. P. Semenova, Gubernatory Orenburgskogo kraja, Orenburg 1999, ‚. 104–110.

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Bildung verbunden, was den Zeitgeist seit den Bildungsbemühungen Katharinas II. im ausgehenden 18. Jahrhundert adäquat widerspiegelt.21 Auch beim Astrachaner Gouverneur Petr Krečetnikov war die Vorstellung von Zivilisierung eng mit der Alphabetisierung verbunden. In einem Vermerk von 1775 legte er dar, wie seiner Meinung nach die Politik der Einverleibung der Kleinen Kabardei erfolgen solle. »Ich wage es vorzutragen«, schrieb der Gouverneur Krečetnikov an die russische Regierung, dass sie alle [die Kabarden] aufgrund ihrer barbarischen Rohheit (po varvarskomu svoemu nevežestvu) sich gegeneinander in Bosheit und äußerster Uneinigkeit gegenüberstehen und sich gegenseitig bestehlen, einander verwüsten und untereinander Gefangene nehmen […]. Vor diesem Hintergrund […], da sie keine Bücher, kein Alphabet haben […] muss man leicht erwarten können, dass sie alle den christlichen Glauben annehmen, ja und es wird nicht schwierig sein, mittels des Umgangs mit unserem Volk gänzlich ihre Sprache, die jeder Grundlage entbehrt, sowie ihre Gebräuche auszulöschen. […] Und ebenso wird es auch mit dem Ukaz […] vom 8. April 1763 sein, mit dem befohlen wird, danach zu streben, die in Kizljar sich aufhaltenden Berggefangenen zum Erlernen des Lesens und Schreibens der russländischen Sprache zu bewegen und sie in die Zivilisiertheit zu führen und sie von den barbarischen Sitten wegzuführen (privodit’ v ljudkost’, a ot varvarskich nravov otvodit’).22

Wenn man die Formierung eines russischen Überlegenheitsgefühls und die Herausbildung einer russischen Zivilisierungsmission als Prozess begreift, der sich über mehrere Jahrzehnte hinzog, dann scheint dieses Dokument die Vollendung des Prozesses widerzuspiegeln. Die Russen werden der »barbarischen Rohheit« des eroberten Volkes mit ihrem christlichen Glauben, ihrer Schriftund Sprachkultur als klar überlegen gegenübergestellt. Eine rasche Assimilierung erscheint nur mehr als eine Frage der Zeit. Semantisch wird dabei deutlich, dass ljudskost’ dem Begriff varvarskij diametral gegenübersteht (von den barbarischen Sitten weg-, zur Zivilisation/Zivilisiertheit hinführend) – ganz im Geiste der alten antithetischen Begriffe griechisch-barbarisch, römisch-barbarisch und christlich-heidnisch.

21 Siehe dazu Jan Kusber, Eliten- und Volksbildung während des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Studien zu Diskurs, Gesetzgebung und Umsetzung, Kiel 2001. 22 »Predstavlenie astrachanskogo gubernatora P. Krečetnikova o Maloj Kabarde, s izloženiem ego mnenija o politike, po osvoeniju ėtogo kraja«, in: Kabardino-russkie otnošenija Bd. 2, XVIII vek, Nr. 220 (1775g.), S. 310–317, hier S. 312 u. S. 316.

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In der Mehrzahl der russisch-fremdsprachigen Wörterbücher des 18. Jahrhunderts fehlte hingegen der Terminus ljudskost’.23 Nur im Neuen RußländischFranzösisch-Deutschen Wörterbuch, das nach dem Wörterbuch der Russländischen Akademie von Ivan Hejm (1799) zusammengestellt wurde, findet sich die Übersetzung von ljudskost’ ins Französische: »la politesse, l’urbanité, le savoir-vivre«, und ins Deutsche: »die Höflichkeit, die gute Lebensart«.24 Im ersten einsprachigen russischen Wörterbuch, in dem 6-bändigen Wörterbuch der Russländischen Akademie, welches in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts veröffentlicht wurde, wird der Ausdruck ljudskost’ ähnlich erklärt: »höfliches Auftreten bei Handlungen und Reden; Achtung, Wohlgesinntheit gegenüber Anderen«.25 Nach diesen zuletzt herangezogenen Zitaten stellt sich die Semantik von ljudskost’ wesentlich enger dar als in den Ausdrucksweisen der zuvor zitierten russischen Beamten: Nach den lexikographischen Angaben bezog sich der Ausdruck auf das Verhalten eines einzelnen Menschen, während er sich im Bericht von Tevkelev und Ryčkov auf den Zustand ganzer Völker bezog. Im Falle des Wörterbuchs – so lässt sich schließen – war die Semantik eher mit dem Konzept der Selbst-Zivilisierung im petrinischen Sinne verbunden. Im Falle der Äußerungen der Beamten entstammte das Konzept einem Überlegenheitsgefühl über andere Völker, verbunden mit der Überzeugung, dass es notwendig sei, ihnen zur Zivilisierung zu verhelfen. Diese Zweideutigkeit von ljudskost’ spiegelt die Zweideutigkeit des Zivilisationsprozesses in Russland wider: Auf der einen Seite drückt die Semantik das Bemühen der Zaren seit den Zeiten Peters I. aus, ljudskost’ zur Erziehung der eigenen russischen Gesellschaft einzuführen (vvesti ljudskost’).26 Auf der anderen Seite wurde der Ausdruck imperial verstanden, das heißt, er wurde in Verbindung mit der Umgestaltung des Lebens der neu unterworfenen Völker wie der Kasachen gebraucht, welche aus Sicht der Russen auf einem bedauernswerten Entwicklungsniveau standen. 23 Fedor Polikarpov, Leksikon trejazyčny. Dictionarium trilingue, Moskau 1704; [Ehrenreich Weissmann] Teutsch-Lateinisch- und Rußisches Lexikon samt denen Anfangs-Gründen der Rußischen Sprache, St. Petersburg 1731. Reprint München 1982–1983.; [Franciscus Hölterhof ] Rossijskij Cellarius, ili ėtimologičeskoj rossijskoj leksikon, izdannyj F. Geltergofom, Moskau 1771. 24 [Ivan Hejm] Novyj i polnyj slovar’. 1-oe otd., sod. Nemecko-rossijsko-francuzskij slvoar’, izd. I. Gejmom, Moskau 1799. 25 Slovar‘ Akademii Rossijskoj Bd. 1–6, St. Petersburg ²1806–1822 (Erstveröffentl. 1789– 1794), hier Bd. 3 (1814), S. 657. 26 V. O. Ključevskij, Kurs russkoj istorii. Sočinenija v devjati tomach. Moskau 1987–1990, hier: Bd. IV (1989), Leksija 68, S. 185 (die Vorlesung Klučevskijs stammt aus den 1890er Jahren).

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Eine innerrussische Lesart von ljudskost’ findet sich Anfang des 18. Jahrhunderts beim bekannten Historiker Nikolaj Michajlovič Karamzin. Unter der Überschrift »Über die Liebe zum Vaterland und über den Nationalstolz« schrieb er: »Unsere ljudskost’, der Ton der Gesellschaft (ton obščestva), der Geschmack im Leben (vkus v žizni) erstaunt die Ausländer, die nach Russland mit einer verlogenen Vorstellung über unser Volk herreisen, das zu Beginn des 18. Jahrhunderts als barbarisch galt.«27 Karamzins Worten war hier keine imperiale Dimension abzulesen. Vielmehr bezog sich ljudskost’ auf den von Peter begonnenen Selbst-Zivilisierungsprozess. Die Bezugsgröße war dabei trotz einer innerrussischen Lesart nicht das Individuum, sondern die gesamte russländische Gesellschaft. Ihrer aller Zivilisierung war in Karamzins Augen erfolgreich verlaufen. Diese Semantik wird durch die klassische Gegenüberstellung von ljudskost’ (als dem tatsächlichen Zustand Russlands) und dem Begriff der Barbarei (als dem von Ausländern vermuteten Zustand Russlands) unterstrichen. Die Thematisierung der Vorstellungen, die Ausländer von Russland haben, nahm dabei vorweg, welch bedeutende Rolle für Russlands Elite im 19. Jahrhundert die Auseinandersetzung mit der Eigen- und der Fremdsicht, mit der eigenen und der westeuropäischen Identität, spielen sollte. Auch hier ging es um die Frage von Differenz, von Überlegenheits- und Unterlegenheitsgefühlen, von Selbstbewusstsein. Doch in den folgenden Dekaden hatte hierfür ljudskost’ zunehmend ausgedient und wurde aufgrund der intensivierten Rezeption westlicher Diskurse von civilizacija sowie später von graždanstvennost’ verdrängt.

3. Prosvesˇcˇenie Ein weiterer Ausdruck, der dem Begriffsfeld von Zivilisiertheit/Zivilisation zuzuordnen ist, ist das Wort prosveščenie. Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts war prosveščenie (Erleuchtung, Bildung) fest mit dem religiösen Kontext verbunden. Wenn auch eine der Bedeutungen des Verbes prosveščat’ schon im 17. Jahrhundert lautete, »zur geistigen und seelischen Vollendung befähigen«, so war es doch nicht denkbar, ihn aus dem Zusammenhang mit der christlichen Offenbarung zu lösen.28

27 N. M. Karamzin, »O ljubvi k otečestvu i narodnoj gordosti (1803)«, in: ders., Izbrannye sočinenija, Bd. VII. Moskau, Leningrad 1964, S. 194. 28 Slovar‘ russkogo jazyka XI-XVII vv., Bd. 1–28, Moskau 1975–2008, hier Bd. 20 (1995), S. 213.

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Seit der kulturellen Revolution Peters I. erweiterte sich das Verständnis von prosveščenie. Zwar war der Ausdruck weiterhin mit der christlichen Taufe verbunden, doch wurde bei der Verwendung dieses Wortes mehr und mehr der Akzent auf den Aspekt der geistigen Entwicklung gelegt (als Grundlage für die Aufnahme von Lese- und Schreibfähigkeit) sowie auf eine ganz bestimmte Lebensform (Sesshaftigkeit und Ackerbau). Diese Veränderung drückte sich nicht zuletzt in der Missionspolitik der Regierung und der Russisch-Orthodoxen Kirche aus. Seit den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts konzentrierte sich die Kirche weniger mehr auf den Akt der Taufe selbst als auf das ernsthafte Verständnis des Evangeliums. Kirchliche und staatliche Beamte nannten die ehemaligen Heiden nun nicht mehr »Neu-Getaufte« (novo-kreščennye), sondern »Neu-Erleuchtete« (novo-prosveščennye).29 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beinhaltete das Konzept der prosveščenie einen ganz bestimmten Schritt auf dem Weg zur Zivilisation. So legte der Gouverneur von Astrachan, Petr Krečetnikov, der Regierung diejenige Strategie vor, die nach der geplanten Eroberung der Kleinen Kabardei vorgesehen war: »Das Volk wird sich durch den christlichen Glauben bilden (prosvetitca) und gelangt in eine bessere Art und Weise des Zusammenlebens (lučee obraščenie obščežitel’stva), und könnte damit allmählich dazu herangeführt werden, richtige (nastojaščija) Untertanen Eurer Kaiserlichen Hoheit zu werden.«30 Der skizzierte Weg begann also mit der »christlichen Bildung/Erleuchtung«, führte zum zivilisierten Leben (lučee obraščenie obščežitel’stva) und zum Schluss zu »wahren Untertanen«. »Erleuchtet/gebildet« bezeichnete mithin deutlich mehr als den Akt der Taufe. Krečetnikov verstand unter dem Wort vermutlich einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu Sesshaftigkeit sowie zum Erlernen der russischen Sprache. In einem Beitrag zu prosveščenie im Wörterbuch der Russländischen Akademie von 1789 spielte die religiöse Bedeutung bereits eine völlig untergeordnete Rolle. Dort überwog die Semantik der Philosophie der Aufklärung: »Die Reini-

29 Michael Khodarkovsky, »The Conversion of Non-Christians The Conversion of NonChristians in Early Modern Russia«, in: Robert P. Geraci, Michael Khodarkovsky (Hg.), Of Religion and Empire. Missions, Conversion, and Tolerance in Tsarist Russia, Ithaca, London 2001, S. 115–143, hier S. 130; Hans-Heinrich Nolte, »Verständnis und Bedeutung der religiösen Toleranz in Rußland 1600–1725«, in: Jahrbücher zur Geschichte Osteuropas 17 (1969), S. 494–530, hier S. 515. 30 »Predstavlenie astrachanskogo gubernatora P. Krečetnikova o Maloj Kabarde, s izloženiem ego mnenija o politike, po osvoeniju ėtogo kraja (24.4.1775)«, in: Kabardino-russkie otnošenija v XVI–XVIII vv. Dokumenty i materialy v 2-ch tomach, Bd. 2: XVIII v. Moskau 1957, S. 310–317, hier S. 311.

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gung der Vernunft von verlogenen, vorurteilsgeladenen Begriffen, Schlussfolgerungen; stellt sich gegen die Ignoranz/Unkenntnis (nevežestvo).«31 Im russisch-französischen Wörterbuch, das auf der Ausgabe der Französischen Akademie von 1786 beruht, wurden die französischen Ausdrücke der Zeit, civiliser und civilité, wie folgt übersetzt: »zu Höflichkeit erziehen (delat’ učtivym, vežlivym), aus dem wilden/barbarischen (dikij) Zustand herausholen, prosveščat’«. Der französische Ausdruck »civiliser une nation« wurde mit »das Volk aufklären« (prosvetit’ narod) übersetzt.32 Gegen Ende des Jahrhunderts findet sich auch die Semantik, in der das Wort prosveščennyj als direkte Übersetzung für das französische policé dient – so im Zusammenhang mit dem Ausdruck »pays policés« – also »zivilisierte Länder«, zu deren Gruppe sich jetzt auch Russland dazuzählte.33 Mit einem Wort: Im Laufe des 18. Jahrhunderts säkularisierte sich der Begriff prosveščenie. Den kirchlichen Missionsbemühungen, die von der Regierung beauftragt wurden, lag die Logik zugrunde, dass nach der Taufe die Aufklärung (prosveščenie) sowie die Einführung guter Sitten folgte. Unter Christianisierung wurde mithin Bildung verstanden, und Bildung bedeutete, aus den Schülern Russen werden zu lassen. Es galt, Religion und die richtige Sprache in das Bewusstsein der unwissenden Ureinwohner Russlands zu bringen, um sie aus der Dunkelheit zum Licht zu führen.34 Wie bereits einige der angeführten Quellen gezeigt haben, tauchen neben den Termini političnyj, ljudskost’ und prosveščenie auch andere Ausdrücke auf, deren Semantik im Laufe des 18. Jahrhundert dem Begriffsfeld von Zivilisiertheit zuzuordnen war. Zu ihnen gehörten Wörter wie učtivstvo, učtivost’, vežlivost’, svetskost’ (Höflichkeit, Umgänglichkeit) und Wendungen wie blagopristojnoe obchoždenie oder obchoditel’nost’ (vornehmer, zivilisierter Umgang).35 Im Ver31 Slovar‘ Akademii Rossijskoj, St. Peterburg ²1819, Bd. 5, S. 624. 32 Dictionnaire complet François et Russe, composé sur la Dernière Édition de celui de L’Académie Françoise par une Société de Gens de Lettres, Tome I: A-K., St. Petersburg 1786 (Polnoj Francuzskoj i Rossijskoj Leksikon s posledenjago izdanija leksikona Francuzskoj Akademii na Rossijskoj Jazyk perevedennyj Sobraniem učenych ljudej, Č. I ot A do K., St. Peterburg 1786). 33 Siehe die russische Übersetzung des Buches von Jacob Friedrich v. Bielfeld, Institutions politiques, Leide 1772. Hier wird das frz. »policé« mit »prosveščennym« übersetzt. Jakob Friedrich Bielfeld, Nastavlenija političeskija barona Bil’felda, Bd. 1–2, Moskau 1768–1775, hier Bd. 1, Kap. 4 § 2; Ingrid Schierle, »Semantiken des Politischen im Russland des 18. Jahrhunderts«, in: Willibald Steinmetz (Hg.), »Politik«.S. 226–247, hier S. 233. 34 Diese Denkweise findet sich sogar bereits Anfang des 18. Jahrhunderts bei I. T. Posoškov, Zaveščanie otečeskoe. Sočinenie Ivana Posoškova, Moskau 1893, S. 322 u. S. 326. 35 Siehe Dictionnaire complet François et Russe, composé sur la dernière édition de celui de l’Academie Française, par une société de gens de lettres. Bd. 1-2, St. Petersburg 1786, hier Bd. 1: A-K, Stichwort »civilité«.

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gleich zu den drei bereits untersuchten Ausdrücken političnyj, ljudskost’ und prosveščenie spielten die genannten Termini im Kontext imperialer Gedanken jedoch eine eher nachgeordnete Rolle.

Schlussbemerkung In diesem Beitrag konnte eine Begriffsgeschichte zum semantischen Feld von Zivilisation/Zivilisiertheit im Russland des 18. Jahrhunderts nur skizziert werden. Eine weit umfangreichere Studie ist erforderlich. Die Untersuchung der drei ausgewählten Wörter des Begriffsfeldes demonstrierte aber immerhin, dass die russische Sprache Anfang des 18. Jahrhunderts tiefgreifenden Veränderungen unterlag. Die analysierten Ausdrücke zeigen, dass infolge der Bemühungen Peters I., neue technische Termini und Ausdrücke aus verschiedenen Sprachen einzuführen, auch neue Begriffe politisch-philosophischen Inhalts Eingang in die Umgangssprache fanden. Zugleich veränderten seit langem bekannte Wörter politisch-philosophischen Inhalts ihre Bedeutung. In diesen Veränderungen spiegelte sich auch der Wandel in der Einstellung gegenüber anderen Völkern wider. Noch über die russischen Kosaken des 17. Jahrhunderts schrieb der Historiker Yuri Slezkine, dass sie nicht-russische Völker an der südlichen und östlichen Peripherie im 17. Jahrhundert zwar als andersartig wahrnahmen. Jedoch habe man sie nicht als Wilde, Barbaren oder Heiden (mit negativer Konnotation) beschimpft, sondern vielmehr ihre Andersartigkeit hingenommen. Die Eingeborenen blieben inozemcy (Fremdländische), sie fuhren fort, ihre Götter anzubeten, in ihren Sprachen zu reden, sie behielten ihre Namen. Es kam nur darauf an, dass sie die Tributzahlungen an den Zaren leisteten.36 Beginnend mit der Epoche Peters I. verweisen linguistische Neologismen (političnyj, ljudskost’) sowie semantische Veränderungen (prosveščenie) auf einen tiefgreifenden Wandel sowohl in der eigenen Selbstwahrnehmung als auch in der Beziehung zu Völkern im Süden und Osten des Reiches. Das aufkeimende Gefühl russischer Überlegenheit, festgemacht am Begriffsfeld von Zivilisiertheit, legt nahe: Im Laufe des 18. Jahrhunderts und damit erst 550 Jahre nach der Eroberung Kazans und Astrachans Mitte des 16. Jahrhunderts bildete sich in Russland ein imperiales Selbstverständnis im Sinne von Differenzempfinden zwischen »sich« und »den Anderen« heraus. Dieser Beginn einer imperialen Ideologie führte zu einer Kehrtwende im politischen Denken: Jetzt drang die 36 Yuri Slezkine, »The Sovereign’s Foreigners: Classifying the Native Peoples in SeventeenthCentury Siberia«, in: Russian History 19 (1992), S. 475–486.

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imperiale Elite – zumindest in ihrer Sprache – auf staatliche Einmischung und Umwandlung der Kultur jener Völker, von denen sie meinte, sie befänden sich auf einem nicht adäquaten Entwicklungsniveau. Auf der Grundlage einer semantischen Analyse hatte das russländische Imperium nicht später als in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Vorstellung seiner Zivilisierungsmission entwickelt. Diese Mission unterlag freilich noch nicht einer Nationalisierung. Die russländische imperiale Elite sah sich und das russische Volk vielmehr als Teil einer universellen Zivilisation, die in der Lage war, mit der Zeit die Wildheit von noch barbarisch verbliebenen Völkern zu bezwingen. Vor dem Hintergrund der petrinischen Reformen bildeten sich innerhalb des Begriffsfeldes von Zivilisiertheit zwei Dimensionen heraus – eine innerrussische und eine imperiale. Die innerrussische Lesart, die im Kontext der Zivilisierung des eigenen Volkes stand, bezog im 18. Jahrhundert insbesondere den Ausdruck der ljudskost’ auf das »Wohlbenehmen« des Einzelnen. Die imperiale Dimension von ljudskost’ bezog sich hingegen auf Kollektive, auf andere Völker. Zivilisierheit/Zivilisierung bedeutete hier in erster Linie die Errichtung eines Behördenstaates. Von Recht und Ordnung, von der Einhaltung des Völkerrechts und Gesetzen versprach man sich den größten Erfolg für die Bändigung »wilder« Völker. Die geistige Entwicklung, die Bildung, erschien dabei zumindest im 18. Jahrhundert mehr als Mittel denn als Selbstzweck der Zivilisierung.

Metropole der Macht Der Moskaudiskurs im Stalinismus (1931–1954) Jan C. Behrends In der modernen Geschichte Russlands bedeutete die Stadt Moskau stets mehr als die Summe ihrer Bauten und Bewohner. Lange bevor die russische Revolution sie auf die Bühne der Weltgeschichte katapultierte, wurden ihr imperiale Bedeutungen zugeschrieben – bei der »Sammlung des russischen Landes« und als »drittes Rom.«1 Ein imperiales Gen trug sie seit dem 16. Jahrhundert in ihrem kulturellen Code; ihr Zentrum mit dem Kreml und seinen Kirchen war Symbol und Ausweis zarischer Macht. Die enge Verbindung von Autokratie und Orthodoxie, die sich im Stadtbild mit seinen Klöstern und Kirchen niederschlug, bedingte zudem eine religiöse Aufladung der imperialen Staatlichkeit.2 Dieser Bedeutungshorizont erhielt sich nach dem Verlust der Hauptstadtwürde an St. Petersburg 1712 in der Funktion als Krönungsstadt der russischen Zaren. Hier, im Inneren des Imperiums, im Moskauer Kreml wurden sie zu Autokraten erhoben. Mit dem Eintritt des Russischen Reiches in die Hochmoderne war es die Regierung Nikolaj II., die seit den 1890er Jahren begann, die Bedeutung der Geschichte Moskaus für die russische Gegenwart zu betonen. Eine zarische Geschichtspolitik, die in der Rus’ ein Vorbild sah, inszenierte in Moskau die Einheit zwischen Zar und Untertanen, die angeblich das vorpetrinische Russland geprägt hatte.3 So erklärte die Autokratie im Angesicht ihrer Legitimitätskrise eine Stadt, die wie kaum eine andere vom Anpassungsdruck an die Moderne geprägt war, zu einem Symbol für die russische Zivilisation. Die Bol’ševiki, die ihren Regierungssitz nur Monate nach der Revolution an die Moskva verlegten, schrieben der russischen Metropole neue Bedeutungen 1 Vgl. Peter J. C. Duncan, Russian Messianism. Third Rome, Revolution, Communism and after, London 2000, S. 10–16. 2 Boris A. Uspenskij, Car’ i patriarch. Charizma vlasti v Rossii. Vizantijskaja model’ i ee russkoe pereomyslenie, Moskva 1998. Zum Russischen Reich als Imperium, siehe: Dominic Lieven, »Russia as Empire and Periphery«, in: ders. (Hg.), The Cambridge History of Russia, Volume  II. Imperial Russia, 1689­–1917, Cambridge, UK 2006, S. 9–26. Siehe auch in vergleichender Perspektive ders., Empire. The Russian Empire and its Rivals, London 2000; allgemein: Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 565–672. 3 Richard S. Wortman, Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy. From Peter the Great to the Abdication of Nicholas II., Princeton, NJ 2006, S. 282–301.

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zu. Bereits in den Jahren des Bürgerkriegs, die auch in Moskau von Hunger, Chaos und Gewalt geprägt waren, benutzen sie die Stadt als Kulisse zur Repräsentation ihrer Macht.4 Den ersten Jahrestag der Revolution inszenierten sie als Massenspektakel und mit der Gründung der Komintern 1919, die in Moskau ihren Sitz nahm, entstand die Vorstellung von der Hauptstadt der Weltrevolution. Auch im Stadtbild nahmen die Bol’ševiki erste Veränderungen vor: Sie entfernten einige Attribute zarischer Macht, errichteten ihre eigenen, zunächst provisorischen, Denkmäler und feierten ihre Feste.5 Nach Lenins Tod setzten sie 1924 mit dem Bau seines Mausoleums auf dem Roten Platz einen wichtigen Akzent.6 Dieses neue sacrum des Imperiums ergänzte die Repräsentation der sowjetischen Macht um eine metaphysische Komponente. Moskau war nun Zentrum bolschewistischer Macht und Weihestätte sowjetischer Mythen. Dennoch blieb der parteistaatliche Eingriff in den urbanen Raum in den zwanziger Jahren punktuell; es entstanden einzelne Leuchttürme der sowjetischen Macht, aber ausländische Besucher wie Walter Benjamin im Winter 1927 fanden weiterhin ein bäuerlich geprägtes, traditionell strukturiertes Stadtbild vor.7 Die Zuwanderer vom Land prägten das Gesicht und die soziale Situation der Hauptstadt.8 Dennoch hatten die Herrscher begonnen, Moskau zum Sinnbild der sowjetischen Zivilisation zu stilisieren. Es bedurfte des entgrenzten Gestaltungs- und Zerstörungswillens der zweiten Revolution Stalins, die sich seit 1929 mit der Unterwerfung der Bauernschaft und den Fünfjahresplänen Bahn brach, um den Versuch zu unternehmen, auch die Hauptstadt neu zu erschaffen. Dabei ging es einerseits um den Umbau – in der Begriffswelt der Zeit die rekonstrukcija – der Metropole, um den Versuch, ihr ein sowjetisches Gesicht zu geben und die vorrevolutionäre Epoche bis auf einige folkloristische Einsprengsel auszulöschen. Außerdem ging 4 Zur Zeit des Bürgerkriegs in Moskau siehe: Mauricio Borrero, Hungry Moscow. Scarcity and Urban Society in the Russian Civil War, 1917–1921, New York 2003; vgl. auch umfassend zur Stadtpolitik in Moskau unter Lenin und Stalin: Timothy J. Colton, Moscow. Governing the Socialist Metropolis, Cambridge, Mass. 1995, S. 71–248. 5 Malte Rolf, Das sowjetische Massenfest, Hamburg 2006, S. 62–119. 6 Benno Ennker, Die Anfänge des Leninkultes in der Sowjetunion, Köln 1997. 7 Walter Benjamin, Moskauer Tagebuch, Frankfurt am Main 1980. 8 Zur Sozialgeschichte Moskaus in den zwanziger und dreißiger Jahren siehe: William J. Chase, Workers, Society, and the Soviet State. Labor and Life in Moscow, Urbana, Ill. 1987; David L. Hoffmann, Peasant Metropolis. Social Identities in Moscow, 1929–1941, Ithaca, NY 1994; als sozialhistorischen Überblick: Dietmar Neutatz, »Zwischen Planung und Chaos. Moskaus Aufstieg Megastadt des Sozialismus, 1900–1940«, in: Wolfgang Schwentker (Hg.), Megastädte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 56–79. Vgl. auch als kulturhistorische Stadtumschau: Karl Schlögel, Moskau lesen, Berlin 1984 und als histoire totale des Jahres 1937: Karl Schlögel, Terror und Traum. Moskau 1937, München 2008.

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es um die Wiederherstellung imperialer Größe. Die bolschewistische Führung verfolgte das Ziel, die Rückständigkeit Russlands nicht nur auf dem Land, sondern mit ebensolchem Furor im urbanen Raum auszumerzen. Andererseits entspann sich – nur lose verbunden mit den Realitäten der urbanen Veränderung – ein Diskurs um die sowjetische Hauptstadt als utopischer Ort und Epizentrum der sowjetischen Moderne. Dieser Moskaudiskurs, der in größere, normierte Redeweisen über die Sowjetunion eingebettet war, sollte die Herrschaft der Bol’ševiki im Inneren und gegenüber dem Ausland legitimieren. Diese normierte Rede von Moskau war ein Mosaikstein im großen Bild einer widerspruchsfreien Moderne, von der die sowjetischen Texte erzählen. In ihr erschien Moskau als Kern der sowjetischen Zivilisation – als Zentrum des wiederhergestellten Imperiums. In diesem Beitrag untersuche ich an ausgewählten Beispielen, wie sich der Moskaudiskurs seit Beginn der dreißiger Jahre entfaltete, welche Topoi ihn charakterisierten und wie er in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg auf das sowjetische Nachkriegsimperium ausgedehnt wurde. Dazu nutze ich die offizielle Literatur über Moskau, die in der UdSSR herausgegeben wurde, ebenso wie Reiseberichte und Propagandamaterialien aus dem kommunistischen Polen und der SBZ/DDR. Moskau wurde darin als Ort utopischer Strahlkraft konstruiert, dessen Bedeutung schließlich über das sowjetische Imperium selbst hinauswies: Es war nicht nur das Rom, sondern auch das himmlische Jerusalem des Kommunismus. In der Analyse interessieren mich im Sinne Michel Foucaults die Wahrheiten, die in diesen Diskursen produziert wurden und mit denen sich die kommunistische Diktatur eine Bevölkerung unterwerfen wollte, die lernen sollte, dass »die Wahrheit Gesetz macht; es ist der wahre Diskurs, der zumindest teilweise entscheidet und Machtwirkungen mit sich führt und vorantreibt. Schließlich werden wir beurteilt, verurteilt, klassifiziert und zu Aufgaben gezwungen, wird uns eine bestimmte Art zu leben und zu sterben entsprechend wahrer Diskurse mit spezifischen Machtwirkungen auferlegt.«9 Der Diskurs über die sowjetische Metropole war eine Repräsentation der Macht; die Bol’ševiki versuchten zu bestimmen, wie die Bevölkerung ihre Herrschaft wahrnahm. Zugleich zielte er aber auch auf das Verhalten der Subjekte – er verpflichtete sie zur Teilhabe an den Projekten der Herrschenden. Zugleich beinhaltete der Moskaudiskurs einen totalen Deutungsanspruch; er war in eine Werte- und Wahrheitsordnung eingebettet, die sich im hermetischen Herrschaftsgefüge des Stalinismus herausbildete. Zugleich 9 Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975– 76), Frankfurt am Main 1999, S. 39. Den Diskursbegriff verwende ich in der von Michel Foucault begründeten Tradition. Vgl. ders., Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt am Main 1996.

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bieten seine Begriffe und Erzählungen »Verständnisschlüssel« (Reinhart Koselleck) zur politischen Semantik sowjetischer Herrschaft und verweisen damit zurück auf gesellschaftliche Realitäten, auf die der Diskurs selbst den Blick verstellen sollte.10 Der Moskaudiskurs beschrieb das Zentrum des Imperiums in verschiedenen Medien und Sprachen; er wurde im In- und Ausland und von Einheimischen und Besuchern reproduziert – damit ist er Bestandteil der imperial geprägten russischen Geschichte.

Das Moskau Stalins planen und vorstellen Auf dem Juniplenum des Zentralkomitees der Bol’ševiki 1931 beschloss die Parteiführung die Erarbeitung eines Generalplans zum Umbau der sowjetischen Hauptstadt zu lancieren.11 Es handelte sich um die Definition der sozialistischen Stadt in der Sowjetunion und den Startschuss für die Neuerfindung der russischen Metropole.12 Die radikale Umgestaltung, der die Staatspartei das ganze Land unterzog, sollte in Moskau ein Schaufenster bekommen. Die Bol’ševiki formulierten den Anspruch, eine sozialistische Stadt zu erschaffen; doch solange konkrete Ergebnisse auf sich warten ließen, war es wichtig, dass das alte Moskau hinter einer neuen Meistererzählung verschwindet. Dieses Credo wurde 1932 von dem deutschen Kommunisten Horst Fröhlich in einer Broschüre über Moskau formuliert: »Objektiv sein heißt: dem Neuen helfen. Denn objektiv sein heißt: offen seine Liebe zur Sowjetunion enthüllen und sich nicht hinter einer ›Neutralität‹ zu verstecken, die in Wahrheit den Haß gegen das Neue, gegen den Sozialismus, gegen die Sowjetunion in sich birgt.«13 Zu Beginn der dreißiger Jahre war die Rede über das neue Moskau von drei Themen bestimmt: vom Projekt des Sowjetpalastes, vom Bau der Metro und 10 Reinhart Koselleck, »Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte«, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 42000, S. 107–129, der Begriff S. 113. 11 Lazar’ M. Kaganovič, Za socialističeskuju rekonstrukciju Moskvy i gorodov SSSR, Moskau 1931. Vgl. zum sozialistischen Umbau Moskau: Monica Rüthers, Moskau bauen. Von Lenin bis Chruščev, Köln 2007; zur kulturellen Bedeutung der stalinistischen Architektur siehe Vladimir Paperny, Architecture in the Age of Stalin: Culture Two, Cambridge 2002. Siehe auch zusammenfassend zum Umbau: Colton, Moscow, S. 249–358. 12 Bereits in den zwanziger Jahren wurden erste Pläne zur Neugestaltung Moskaus als moderner Stadt erstellt, die aber nun explizit verworfen wurden. Siehe Neutatz, »Zwischen Planung und Chaos«, S. 64–70. Siehe auch mit zahlreichen Illustrationen Harald Bodenschatz, Christiane Post (Hg.), Städtebau im Schatten Stalins. Die internationale Suche nach der sozialistischen Stadt in der Sowjetunion, 1929–1935, Berlin 2003, S. 63–90, S. 134–150. 13 Hörst Fröhlich, Die lachende Stadt, Moskau 1932, S. 8.

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Abb. 1:  Entwurf zur Umgestaltung des Roten Platzes (1936) © Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz.

vom »Generalplan zur Rekonstruktion der Stadt Moskau«. Diesen drei Projekten, die diskursiv miteinander verbunden wurden, schrieben die Herrschenden Bedeutungen zu, die über den Städtebau hinausgingen. Sie standen für die Überlegenheit der sowjetischen Moderne, sie sollten die sowjetischen Bürger und das ausländische Publikum davon überzeugen, dass die Bol’ševiki ihre Utopien zu steinerner Wirklichkeit werden ließen. Stalin persönlich überwachte den Fortgang der Planungen und ihre öffentliche Darstellung.14 Der Palast der Sowjets sollte den Mittelpunkt des sowjetischen Moskau bilden; er war nicht nur ein ambitioniertes, sondern ein phantastisches Projekt.15 Die neuere Forschung hat gezeigt, dass die Entwicklung des Bauprojektes nicht primär als Auseinandersetzung zwischen Befürwortern moderner und klassischer Formensprache zu verstehen ist. Vielmehr handelte es sich um eine Hinwendung zum Monumentalen: Sowjetische Macht sollte durch den Bau des Palastes repräsentiert und durch das Überflügeln New Yorker Wolkenkratzer die eigene Überlegenheit be14 Colton, Moscow, S. 322–325. 15 Vgl. zum architektonischen Design: Helen Adkins u.a. (Hg.), Naum Gabo and the Competition for the Palace of the Soviets, 1931–1933, Berlin 1993; Peter Lizon, The Palace of the Soviets: The Paradigm of Architecture in the USSR, Colorado Springs, Colo. 1995; Bodenschatz/Post, Städtebau im Schatten Stalins, S. 101–106; S. 170–174. Siehe auch die offizielle Dokumentation: Dvorets Sovetov, Vsesojuznij konkurs 1932 g., Moskau 1933.

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wiesen werden.16 Die Stufen des Architektenwettbewerbs zum Palast der Sowjets verdeutlichen zudem, wie der Bau gelingen sollte – aus eigener Kraft. Trotz prominenter internationaler Beiträge wurden sowjetische Vorschläge bevorzugt, was ausländische Koryphäen wie Le Corbusier verärgerte, die vergeblich bei Stalin intervenierten.17 Es gehörte zu den Charakteristika der Epoche, dass die Sowjetunion sich vom Ausland abwandte. Der Bau des Palastes durch sowjetische Architekten und damit verbunden die Abkehr von der modernen Ästhetik und vom internationalen Urbanismus ist ein Ausdruck dieser selbstgewählten Isolation. Der Beschluss, den Palast nicht wie ursprünglich beabsichtigt am Ochotnij rjad zu bauen, sondern die Erlöserkathedrale abzureißen, zeigt wie das Gebäude bereits in der Planungsphase mit Bedeutungen aufgeladen wurde – nun sollte ein Symbol des Imperiums durch ein neues ersetzt werden.18 Dadurch, dass dieser Turm der Macht auf sakralem Grund errichtet werden sollte, knüpfte er an die Mystifizierung sowjetischer Staatlichkeit an, der das Leninmausoleum bereits Vorschub geleistet hatte. Der Sinn des Projektes erschöpfte sich weitgehend in der Repräsentation von Macht und Größe – Aufgaben, die darüber hinausgingen, wurden ihm kaum zugeschrieben. Mit der Leninstatue, die den Palast krönen sollte, wurde die Verbindung zwischen Führerkult und der Neugestaltung der Stadt fortgesetzt, die mit dem Mausoleum begonnen hatte.19 Die Moskauer Untergrundbahn, deren erste Linien in den dreißiger Jahren eröffnet wurden, war ein weiteres zentrales Bauprojekt, das diskursiv überhöht wurde. Der Philosoph Boris Groys nennt sie »die wahre utopische Stadt Moskau« und »Entwurf einer wahren Stadt der kommunistischen Zukunft«.20 Der Metrobau war – im Unterschied zum Palast der Sowjets – eine städtebauliche 16 Sona Stephan Hoisington, »›Ever Higher‹. The Evolution of the Project of the Palace of Soviets«, in: Slavic Review 62 (2003), S. 41–68. Eine Beschreibung des Bauplanes von 1939 findet sich bei Colton, Moscow, S. 331–334. 17 Jean-Louis Cohen, Le Corbusier et la mystique de l’URSS. Théories et projets pour Moscou 1928–1936, Paris 1987, S. 235–236. 18 Die Moskauer Erlöserkathedrale war zur Erinnerung an den Sieg des Russischen Reiches über Napoleon errichtet worden und verkörperte damit auch den Triumph gegen den Westen. Vgl. auch Evgenija I. Kiričenko, Chram Christa Spasitelja v Moskve. Istorija proektirovanija i sozdanija sobora. Stranicy žizni i gibeli, 1813–1931, Moskau 1992; Andrew Gentes, »The Life, Death and Resurrection oft he Cathedral of Christ the Saviour, Moscow«, in: History Workshop Journal 46 (1998), S. 63–95. 19 Zum Führerkult in der UdSSR vgl. Jan Plamper, Alchimija vlasti: Kul’t Stalina v izobrazitel’nom iskusstve, Moskau 2010. 20 Boris Groys, »U-Bahn als U-Topie«, in: ders., Die Erfindung Rußlands, München 1995, S. 156–166, hier S. 159–160. Zur Sozialgeschichte des Metrobaus siehe Dietmar Neutatz, Die Moskauer Metro. Von den ersten Plänen bis zur Großbaustelle des Stalinismus, Köln 2001.

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Notwendigkeit. Bereits das vorrevolutionäre Moskau hatte darunter gelitten, dass seine Verkehrsinfrastruktur dem Bevölkerungswachstum nicht standhielt. Doch die Bauausführung und die Redeweise über dieses Großprojekt zeigen, dass seine Bedeutung sich nicht in der Lösung drängender Fragen des Personenverkehrs erschöpfte. Der Philosoph Michail Ryklin hat in seinen Studien zum »Metrodiskurs« gezeigt, dass das »ideale, aus unterirdischen Palästen bestehende Transportmittel das Vorbild für das überirdische Aussehen der neuen Welthauptstadt« sein sollte.21 Er erkannte in der Metro ein zentrales Symbol des sozialistischen Umbaus. Doch ihre Beschreibung lässt auch konkrete Rückschlüsse über sowjetische Herrschaft zu. So betonten die Erzählungen über die Metrobauer die totale Mobilmachung der Arbeitskraft auf den Baustellen. Sie bekräftigten die Rolle der Partei als Befehlshaber und des Moskauer Parteichefs Lazar’ M. Kaganovič als Führer der Werktätigen und Schöpfer des Baus.22 Der Metrodiskurs schwieg hingegen über die militärische Bedeutung der Untergrundbahn, deren Stationen Luftschutzkeller sind und Verbindungen zu Stabsbunkern aufweisen. Wie beim Palast der Sowjets wurde betont, dass die UdSSR Hilfe aus dem Ausland nicht benötigte. Das Lob der Autarkie war Teil der Mythologie. Zudem schwangen bei der Beschreibung der Metro metaphysische Elemente mit: Einzelnen Stationen wurde eine sakrale Aura zugeschrieben. Ihre Schönheit und Reinheit, so die offizielle Rede, unterscheide sie von westlichen U-Bahnen, deren Wesen sich in profaner Funktionalität erschöpfe. Trotz seiner phantastischen Überzeichnungen verweist der Metrodiskurs auf den Kern des stalinistischen Systems: Er sei, so Ryklin, selbst eine »gewalttätige Redepraxis«, denn »totale Mobilmachung und Krieg werden in ihm zu etwas Natürlichem und Unvermeidbaren.«23 Der Metrobauer, der als Held der neuen Zeit gefeiert wurde, war ein kommunistischer Krieger. Der 1931 angeforderte Generalplan zur »Rekonstruktion« der Hauptstadt wurde am 10. Juni 1935 vom Zentralkomitee angenommen und im folgenden Jahr in einer prächtigen Ausgabe gedruckt.24 Während der Palast der Sowjets als

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Vgl. auch Josette Bouvard, Le métro de Moscou. La construction d’un mythe soviétique, Paris 2005, besonders S. 113–166. Michail Ryklin, »Metrodiskurs I«, in: ders., Räume des Jubels. Totalitarismus und Differenz, Frankfurt am Main 1987, S. 87–110, hier S. 102. Ryklins zentrale Quelle ist Pjat‘ let Moskovskogo Metro, Moskau 1940. Zur Rolle von Lazar’ M. Kaganovič in der Moskauer Partei, siehe Colton, Moscow, S. 281– 285. Ryklin, »Metrodiskurs I«, S. 99. General’nyj plan rekonstrukcii goroda Moskvy, Moskau 1936. Einen propagandistischen Überblick zur Moskauer Stadtplanung bietet L. Perchik, The Reconstruction of Moscow, Moskau 1936. Eine englische Übersetzung der zentralen Passagen des Generalplanes findet

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Abb. 2:  Panorama des neuen Moskau mit Sowjetpalast (1936) © Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz.

Superlativ in der Höhe und die Metro als Palastbau in der Tiefe interpretiert werden können, berauscht sich der Umbauplan Moskaus an der riesigen Fläche, die es neu zu ordnen galt. Es handelte sich um eine Utopie des durchherrschten Raumes. Er setzte nicht nur einzelne Akzente, sondern erklärte den urbanen Raum in toto zum Spielfeld der Mächtigen. Rücksichten sollten bei der Umgestaltung nicht genommen werden; weder Kultur, Natur noch Bevölkerung verdienten Schonung. Der Generalplan versinnbildlichte die Idee eines Stadtumbaus als Ausweis totaler Herrschaft und im Zeichen der imperialen Macht. Ohne auf ausländische Traditionen zu verweisen stand der Generalplan in der Tradition der Aufklärung, die geordnete Musterstädte hervorbrachte sowie in der Nachfolge des Barons Haussmann und anderer Baumeister, die Hauptstädte als repräsentativen Raum gestalteten.25 Doch er beanspruchte Neues sich in Sir E. D. Simon u.a., Moscow in the Making, London, New York 1937, S. 184–197. Zur Entstehung des Planes siehe auch Colton, Moscow, S. 272–281 und zum westlichen Einfluss auf die Planung Cohen, Le Corbusier, S. 163–204. Vgl. auch Schlögel, Terror und Traum, S. 63–71, der den Beitrag des Generalplanes zur Lösung der urbanen Probleme betont und Bodenschatz/Post, Städtebau im Schatten Stalins, S. 153–169, S. 212–267. 25 David H. Pinkney, Napoleon III and the Rebuilding of Paris, Princeton, N.J. 1958.

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zu schaffen, eine Form des urbanen Lebens, in der die Aporien der modernen Stadt überwunden wurden. Schließlich konkurrierten die Ordnungsvorstellungen der Bol’ševiki noch mit den anderen europäischen Diktaturen: Das faschistische Italien und das nationalsozialistische Deutschland verfolgten ebenfalls Pläne zur Monumentalisierung ihrer Herrschaft in den Hauptstädten Rom und Berlin.26 Diese uneingestandene Konkurrenz zwischen den Regimen wurde jedoch nur in der internationalen Arena explizit, wie etwa auf der Pariser Weltausstellung von 1937. Der Text des Generalplans schwieg sich über Gegner und Vorbilder aus.27 Er war vom Ideal gerader Linien, geometrischer Flächen und symmetrischer Anordnungen geprägt. Gleichförmige Fassaden entlang breiter Alleen, befestigte Wasserstraßen und riesige Aufmarschplätze symbolisierten die Ideale der neuen Stadt. Jenseits des Zentrums mit seinen Regierungspalästen und breiten Plätzen und Sichtachsen war der Plan außerdem einer städtebaulichen Strömung seiner Zeit verpflichtet: der Gartenstadt.28 Aus den kolorierten Karten des erweiterten Stadtgebietes, die der Druckausgabe beigefügt sind, leuchtet dem Betrachter noch heute das helle Grün der großzügigen Parkanlagen entgegen. Erst aus dieser Vogelperspektive und auf den Karten wurden die Ausmaße deutlich; der Blick aus der Luft auf die zukünftige Stadt legte ihre neue Ordnung und das Verschwinden des alten Weichbildes frei. Auch die Parkanlagen sollten durch ihre Größe beeindrucken; zugleich fügten sie sich als gezähmte Natur in die urbane Ordnung ein. In Anlehnung an die Metapher des »Gärtner-Staates« von Zygmunt Bauman lässt sich behaupten, dass diese Umgestaltung nur auf Kosten der weitgehenden Zerstörung der vorhandenen Strukturen Moskaus zu erreichen war.29 Die bolschewistischen Stadtgärtner träumten von einer artifiziellen Stadt, die keine unübersichtlichen Orte und Rückzugsräume mehr kannte, 26 Vgl. Bordon W. Painter, Jr., Mussolini’s Rome. Rebuilding the Eternal City, New York 2005; Joachim C. Fest, Speer. Eine Biographie, Berlin 1999. Vgl. zur Pariser Ausstellung Schlögel, Terror und Traum, S. 274–279. 27 Der Moskauer Plan blieb der monumental-modernen Ästhetik verpflichtet, die 1909 die Planungen für Chicago und 1910 die Entwürfe für ein neues Berlin dominiert hatten. Umfassend zur Stadtplanung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Harald Bodenschatz u.a. (Hg.), Stadtvisionen 1910/2010. Berlin, Paris, London, Chicago, Berlin 2010. 28 Zur Gartenstadtbewegung in vergleichender Perspektive vgl. Peter Hall, Cities of Tomorrow. An Intellectual History of Urban Planning and Design in the Twentieth Century, Malden, Mass. 2002, S. 87–141. 29 Zygmunt Bauman sieht die Moderne als »das Zeitalter artifizieller gesellschaftspolitischer Entwürfe, das Zeitalter der Planer, Visionäre – und der ›Gärtner‹, die eine Gesellschaft als jungfräuliches Stück Land ansehen, das unter fachmännischer Obhut zu bestellen und zu kultivieren ist.« Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992, S. 128.

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in der keine Strukturen existierten, die sich ihrer Herrschaft entzogen. Wie die Gesellschaft so unterlag auch die Stadt einem entgrenzten Veränderungswillen: Der Generalplan von 1935 war utopische Vision und Kriegserklärung an die vorhandene Stadt. Dies sahen auch die Verantwortlichen selbst so. Lazar’ Kaganovič sprach gegenüber Untergebenen von einem »Kriegsplan« und erklärte das alte Moskau zu seinem Feind.30 Kernstbestandteile des Generalplanes waren die Fertigstellung der Metro, des Moskva-Wolga-Kanals und anderer künstlicher Wasserstraßen, die Befestigung der Flussufer, der Bau neuer Brücken sowie die Begradigung großer Straßen, die Anlage neuer Alleen und der Ausbau bestehender Plätze.31 Die Bedürfnisse der Bevölkerung, wie etwa der Bau neuer Wohnungen für die überbevölkerte Metropole, spielten eine geringere Rolle. Wenig spezifisch hieß es in der Resolution, der Bau »hunderter Schulen, Kindergärten und Geschäfte« sei geplant.32 Dem Ausbau der Wasserstraßen und der Verbindung zur Wolga wurde hingegen ein besonderes Gewicht zugeschrieben. Dieser Kanalbau, der von Tausenden Zwangsarbeitern durchgeführt wurde, war ebenfalls ein genuin stalinistisches Projekt: Es brachte eine Großbaustelle des GULag in die Stadt. Die künstlichen Wasserwege dienten als Beleg dafür, dass die Unterwerfung der Natur auch vor den Grenzen der Stadt nicht halt machte.33 Flüsse sollten zu steinern umsäumten Wasserstraßen werden – die Ufergestaltung von Moskva und Jausa, ihre Einfassung in Granit, genoss großen Stellenwert.34 Hier kam dem Stein als modernem Baumaterial wieder eine Bedeutung zu, die er in Russland schon unter Peter I. beim Bau seiner Hauptstadt an den Wassern der Neva erhalten hatte – er symbolisierte eine neue, moderne und beständige Ordnung. Die Tatsache, dass Wasserstraßen in der russischen Geschichte eine zentrale Rolle spielen, erklärt den im Stalinismus betriebenen Kult des Kanalbaus. Die künstlichen Wasserstraßen, die dem Land eine neue Struktur geben sollten, waren Stalins Äquivalent zur Autobahn – sie zogen Verbindungslinien vom hohen Norden bis hinunter zum Kaspischen Meer 30 Zitat bei Colton, Moscow, S. 280. 31 »Postanovlenie SNK SSSR i CK VKP (b), 10. Juni 1935«, in: General’nyj plan rekonstrukcii goroda Moskvy, Moskau 1936, S. 1–20. 32 Ebd., S. 12. 33 Vgl. zu den Baustellen des Moskau-Wolga-Kanals Oleg V. Khlevniuk, The History of the Gulag. From Collectivization to the Great Terror, New Haven, Conn. 2004, S. 110–117. Siehe auch: Klaus Gestwa, »Auf Wasser und Blut gebaut. Der hydrologische Archipel Gulag, 1931–1958«, in: Osteuropa 57 (2007), Nr. 6, S. 239–266; und Schlögel, Terror und Traum, S. 361–385. 34 P. I. Gol’denberg, L. S. Aksel’rod, Naberežnye Moskvy. Architektura i konstrukcija, Moskau 1940.

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und trafen sich in Moskau, das nun den Titel eines »Hafens von fünf Meeren« führte.35 Wo das nationalsozialistische Deutschland die »Straßen des Führers« zum nationalsozialistischen Ausweis der Moderne stilisierte, feierte die Sowjetunion die Kanäle Stalins.36 Beide waren Infrastrukturprojekte im Namen der Führer. Im Plan fehlen Verweise auf historische Vorbilder für den Moskauer Stadtumbau.37 Die Präzedenzlosigkeit des Unternehmens sollte dadurch unterstrichen werden, dass man die Planungstraditionen der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ignorierte. Als negative Kontrastfolie dient das Moskau der Jahrhundertwende, das dem verbreiteten Klischee entsprechend als »großes Dorf« charakterisiert wird.38 Nur allgemein erläutert der Generalplan die Vorzüge sozialistischen Städtebaus. Da die Planer keine Rücksicht auf privaten Grundbesitz zu nehmen hätten, könnten die Fehler vermieden werden, die im Kapitalismus aus den Partikularinteressen Einzelner entsprängen.39 Der Zeithorizont für die Umsetzung war eng bemessen: Wie bei anderen stalinistischen Großprojekten postulierte hier der Parteistaat, dass die Arbeiten in einem präzedenzlosen Tempo vorangehen sollten. Innerhalb von nur zehn Jahren – bis 1945 – sollte der Umbau vollendet sein.40 Dieses Zeitfenster schrieb fest, dass der Stadtumbau im Modus totaler Mobilmachung erfolgen würde. Zugleich grenzte sich die sowjetische Regierung durch dieses Tempo von historischen Vorbildern im In- und Ausland ab. Der Bau St. Petersburgs war eine Jahrhundertaufgabe gewesen und der Umbau von Paris hatte Jahrzehnte in Anspruch genommen – die Neugestaltung des sowjetischen Moskau sollte in einer Dekade abgeschlossen sein. Es nimmt kein Wunder, dass Nikolaj Bucharin auf die »magischen« Dimensionen des Planes hinwies.41

35 P. Lopatin, Volga idet v Moskvu, Moskau 1938. 36 Vgl. Erhard Schütz, Eckhard Gruber, Mythos Reichsautobahn. Bau und Inszenierung der »Straßen des Führers«, 1933–1941, Berlin 1996. 37 Das unterscheidet den Moskauer Generalplan von anderen städtebaulichen Visionen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie etwa dem Chicagoer Plan von 1909, der sich durch eine Vielzahl von Verweisen auf andere Städte auszeichnet. Daniel H. Burnham, Edward H. Bennett, The Plan of Chicago [1909], New York, NY 1993. Vgl. dazu auch Laura E. Baker, »Civic Ideals, Mass Culture, and the Public: Reconsidering the 1909 Plan of Chicago«, in: Journal of Urban History 36 (2010), S. 747–770. 38 »Materialy o general’nom plane rekonstrukcii Moskvy«, in: General’nyj plan rekonstrukcii goroda Moskvy, Moskau 1936, S. 43–134, hier S. 56. 39 Ebd., S. 78. 40 »Postanovlenie SNK SSSR i CK VKP (b), 10. Juni 1935«, in: General’nyj plan rekonstrukcii goroda Moskvy, Moskau 1936, S. 20. 41 Zitat bei Colton, Moscow, S. 326.

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In einer gemeinsamen Erklärung vom Juli 1935 dankten die Moskauer Parteiführung und der Mossovet Stalin, der mit dem Generalplan ein weiteres »Dokument des siegenden Sozialismus« geschaffen habe, sie lobten ihren Parteichef Lazar’ I. Kaganovič, der die Planungen durch seine »Stalinsche Führung« ermöglicht habe und versprachen, die Voraussetzungen für eine rasche Umsetzung zu schaffen und die gesamte Kraft der Werktätigen zu mobilisieren.42 Auch an zahlreichen anderen Stellen wurde der Plan mit der Huldigung Stalinscher Macht eng verwoben. In einem Grußwort an Stalin wurde die Notwendigkeit des Stadtumbaus noch einmal erklärt und historisch eingeordnet: Die Defizite des alten Moskau seien der ganzen Welt bekannt gewesen. Es war das Zentrum des »dunklen, unkultivierten Russland«. Bereits heute sei Moskau »die rote Hauptstadt des sowjetischen Landes, wo das heiße Herz der Weltrevolution schlägt« und Fanal der Hoffnung für die unterdrückte Menschheit: »Die revolutionären Kämpfer der ganzen Welt sehen in Moskau die Hauptstadt ihrer sozialistischen Heimat.«43 Damit wurde der Generalplan als Teil der Stalinschen Neuerschaffung der sowjetischen Heimat dargestellt – zugleich schrieb man ihm und der Stadt Moskau eine welthistorische Bedeutung zu. Die Bol’ševiki entwarfen nicht nur eine neue Fassade der Macht, die sie als unumschränkte Herrscher im eigenen Lande auswies. Sie beanspruchten, die Hauptstadt einer neuen Welt zu schaffen, deren Vorbildlichkeit anerkannt würde und die als Symbol für ihre Befreiungsmission stand. Im sowjetischen Alltag der dreißiger Jahre war der Diskurs über das neue Moskau durchaus präsent. Die Um- und Neubauten erfassten zwar nicht das ganze Stadtbild, doch zentrale Orte wurden umgestaltet, neue Ausfallstraßen eingerichtet und die Kanalbauten vollendet. Bereits 1938 präsentierte man ein aufwendiges Album der Öffentlichkeit.44 Hier wurde das Neue in Diagrammen und Bildern mit dem überwundenen Alten konfrontiert. Die abstrakten Darstellungen und die architektonische Fachsprache sollten die Realisierbarkeit der Planungen betonen. Der Utopismus der Bol’ševiki konnte gleichzeitig kuriose Züge annehmen. Wolfgang Leonhardt, der in den dreißiger Jahren als Sohn einer deutschen Kommunistin nach Moskau emigrierte, erinnerte sich, dass zwischenzeitlich nur noch Stadtpläne verkauft wurden, die ein imaginäres Moskau des Jahres 1945 zeigten.45 So erschwerten parteistaatliche Visionen die Orien42 »Postanovlenie ob‘‘edinennogo plenuma MGK VKP (b) i Mossoveta, 10.-11. ijulja 1935 goda«, in: General’nyj plan rekonstrukcii goroda Moskvy, Moskau 1936, S. 21–26, hier S. 22. 43 »Privetstvija ob‘‘edinnogo plenuma MGK VKP (b) i Mossoveta. CK VKP (b) tovarišču Stalinu«, in: General’nyj plan rekonstrukcii goroda Moskvy, Moskau 1936, S. 33–35, hier S. 34. 44 Moskva rekonstruiruetsja. Al’bom diagramm, toposchem i fotografij po rekonstrukcii goroda Moskvy, Moskau 1938. 45 Wolfgang Leonhardt, Die Revolution entläßt ihre Kinder [1955], Köln 1990, S. 21.

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tierung im Alltag. Doch das zukünftige Moskau war nicht nur in Form der Stadtpläne Teil der Gegenwart. Es fand sich auch auf den Großformaten des Sozialistischen Realismus, denen es als Kulisse diente, oder auf den Leinwänden des sowjetischen Kinos. Karl Schlögel hat am Beispiel von Jurij Pimenovs Gemälde »Das neue Moskau« und Aleksandr Medvedkins gleichnamigen Film gezeigt, wie die neue Silhouette der Stadt, die nur auf dem Reißbrett existierte, vom Sozialistischen Realismus als Realität gezeichnet wurde.46 Auch gegenüber ausländischen Besuchern bemühte sich die sowjetische Führung, ihre Sichtweise auf Moskau zu vermitteln. Über die Grenzen der UdSSR hinaus sollte der Moskaudiskurs schließlich die Vorbildhaftigkeit und Überlegenheit dieser urbanen Vision festschreiben. Die berühmtesten ausländischen Besucher der Jahre 1936/37 hinterließen widersprüchliche Zeugnisse ihres Moskauaufenthalts.47 Der französische Schriftsteller André Gide kritisierte in Retour de L’URSS den Paternalismus der Herrschenden und sah im Gorkij-Park, einem der zentralen Projekte der Neugestaltung der Stadt, einen Spielplatz für Erwachsene. 48 Die »Hässlichkeit« der sowjetischen Welt, das Unbehagen an der Ästhetik des Stalinismus zieht sich als Thema durch sein Buch – diese Urteile waren ein Affront, da die sowjetische Selbstbeschreibung beständig die »Schönheit« ihrer Welt und ihrer Menschen pries. André Gides Verärgerung über die Großmannssucht der sowjetischen Bürger, die sämtliche »Errungenschaften« des Stalinismus in höchsten Tönen priesen, sein Unwille, als Ausländer die Vorbildhaftigkeit der UdSSR vorbehaltlos zu akzeptieren, machten seine Urteile für die sowjetische Seite inakzeptabel. Gide verstand nicht oder wollte nicht verstehen, dass von denjenigen, die er traf und treffen sollte, erwartet wurde, dass sie ihm den offiziellen Diskurs vortrugen. Die ständige Wiederholung der stalinistischen Selbstbeschreibung stieß ihn ab. Der deutsche Exilant Lion Feuchtwanger zeigte sich offener für die Diskurse der sowjetischen Macht.49 Bereits im Vorwort seines Reiseberichts Mos46 Schlögel, Terror und Traum, S. 61–62. 47 Zu den Sowjetunionreisenden der zwanziger und dreißiger Jahre vgl. Paul Hollander, Political Pilgrims. Western Intellectuals in Search of the Good Society, London 1998, S. 102–176, S. 347–399. Siehe auch: David Caute, The Fellow-Travellers. Intellectual Friends of Communism, New Haven, Conn. 1988; Matthias Heecke, Reisen zu den Sowjets. Der ausländische Tourismus in Russland, 1921–1941, Münster 2003. 48 André Gide, »Zurück aus Sowjetrußland« [1937], in: ders., Gesammelte Werke VI, Band 2, Reisen und Politik, Stuttgart 1996, S. 41–116, hier S. 52–53. Zum Moskauer Gorkij-Park siehe auch Katharina Kucher, Der Gorki-Park. Freizeitkultur im Stalinismus, Köln 2007. 49 Zum Kontext der Sowjetunionreise Lion Feuchtwangers siehe Katerina Clark, »Germanophone Intellectuals in Stalin’s Russia: Diaspora and Cultural Identity in the 1930s«, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 2 (2001), S. 529–552.

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kau 1937 übernahm er den stalinistischen Topos vom rapiden Wandel Moskaus. Es nähere sich so rasch der Zukunft, dass es unmöglich sei, seine Gegenwart zu beschreiben.50 Für den bürgerlichen Sympathisanten Feuchtwanger verkörperte der Generalplan wie kein anderes Projekt die Diktatur der Vernunft, die er in der Stalinschen Sowjetunion zu erblicken meinte. In einem elektrifizierten Modell der Stadt sah er das Versprechen einer besseren Zukunft. Feuchtwanger pries Größe und Schönheit des neuen Moskau und nannte es in Abgrenzung zu Gide einen »ästhetischen Genuss«.51 Der Reisende reproduzierte die sowjetische Auffassung, dass der Staat in der UdSSR das Allgemeinwohl verkörpere und es – ohne von individuellen Eigentumsrechten eingeschränkt zu werden – durchzusetzen vermöge. Feuchtwanger war fasziniert von der sowjetischen Moderne; er bekannte sich zum totalen Staat und seinem Durchherrschungsanspruch. Dabei fragte er weder nach den Kosten noch nach der Durchführbarkeit der präsentierten Projekte. Im Gegenteil: Die utopischen Dimensionen fesselten den Betrachter offenbar so weit, dass er sie nicht mehr wahrnahm. Feuchtwanger wollte die Diktatur der Vernunft erleben und lobte am Generalplan das »Mathematische, Vernünftige, das dem ganzen Leben in der Sowjetunion den Stempel aufdrückt […]«.52 Er glaubte aufgrund seiner Erfahrungen sicher zu sein, dass die Planungen vollständig umgesetzt würden. Wie ein Bol’ševik konnte auch er Moskaus Zukunft sehen. En passant machte er der sowjetischen Hauptstadt ein Kompliment, das bereits auf den Moskaudiskurs der Nachkriegsjahre verweist: Feuchtwanger erklärte, nicht New York oder Chicago, sondern Moskau habe »amerikanisches Tempo«.53 Damit verifizierte er die sowjetische Behauptung, innerhalb weniger Jahre den Vorsprung des Westens aufzuholen und verfiel gegenüber seinen wachsamen Gastgebern in jenen Gestus der Bewunderung, den André Gide ihnen verweigert hatte. Dass die Verdammung der Sowjetunion durch Gide und der Lobgesang Feuchtwangers nicht alternativlos waren, zeigt die Broschüre des englischen Politikers E. D. Simon Moscow in the Making, die 1937 in London erschien. Der Verfasser stellte sich hier als erfahrener Kommunalpolitiker dar, der mehrere Jahre Bürgermeister von Manchester war. Simon behielt ein waches Auge für die Kosten des sowjetischen Urbanismus. Er war weniger über die giganti50 Lion Feuchtwanger, Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde [1937], Berlin 1993, S. 7. 51 Vgl. ebd., S. 27. 52 Ebd., S. 23 53 Ebd., S. 33. Dies war auch eine Replik auf André Gide, der die russische Trägheit bemängelte.

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Abb. 3:  Linienführung der Moskauer Metro (1936) © Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz.

schen Dimensionen der Planung verwundert – schließlich handelte es sich international um die Epoche der Planungsgläubigkeit – als vielmehr darüber, dass es in der Sowjetunion möglich sei, so eingreifende Einschnitte ohne öffentliche Diskussion und ohne Proteste vorzunehmen. Diese Form der Regierung schlage sich, so Simon, allerdings in der Stimmung nieder. Wo Feuchtwanger Menschen sah, die glücklicher seien als im Westen, erklärte Simon: »There is to an Englishman an extraordinary atmosphere of suspicion about Moscow.«54 Sein Resümee über die Planungen lautete: »It seems to me broadly true that hardship and even injustice to individuals are not seriously considered in Moscow if they are held to be necessary for the general plan.«55 Simon hatte verstanden, dass die Moskauer bestenfalls Zuschauer, aber häufig auch Opfer kommunistischer Ordnungsvorstellungen waren. Damit hatte er den Kern der bolschewistischen Herrschaft im urbanen Raum erfasst, ohne den Terror auch nur zu erwähnen, der 1937 und 1938 in Moskau wütete.56 Genau wie André Gide war er sicher, keine vorbildliche Zivilisation besucht zu haben. 54 Sir E. D. Simon u.a., Moscow in the Making, London, New York 1937, S. 198–234, hier S. 224. 55 Ebd., S. 226. 56 Zum Großen Terror in Moskau siehe Colton, Moscow, S. 285–291 und Schlögel, Terror und Traum, S. 177–197, S. 239–266, S. 603–643.

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Moskau feiern nah und fern: Das Stadtjubiläum von 1947 Der Beginn des Zweiten Weltkriegs und der deutsche Überfall auf die Sowjetunion unterbrachen den sozialistischen Aufbau. Im Sommer 1945 feierte die Sowjetunion nicht die Fertigstellung der »Rekonstruktion« Moskaus, sondern den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland. Mit Ausnahme der Metro, die nicht zuletzt eine erhebliche militärische Bedeutung hatte, ruhte die Arbeit am Stadtumbau weitgehend. Die Wucht des Krieges verschob die Gewichte; er bildete eine städtebauliche und diskursive Zäsur. Einzelne Projekte, wie etwa der Bau des Palastes der Sowjets, wurden nach 1945 nicht mehr vorangetrieben, andere wie der Bau der acht Moskauer Hochhäuser kamen hinzu und genossen bald Priorität.57 Dieses Projekt verwies bereits auf die Auseinandersetzung mit den USA. Nikita Chruščev erinnerte sich, dass Stalin mit den Hochhäusern ausländische Besucher der Siegermacht Sowjetunion beeindrucken wollte.58 Auch wenn man sich diskursiv von ihnen abgrenzte, waren die Vereinigten Staaten hier das Vorbild. Galt es in den dreißiger Jahren noch, die Modernität der Stadt im europäischen Kontext festzuschreiben, so avancierten nun die Vereinigten Staaten und ihre Städte immer stärker zur Vergleichsfolie. Der Kalte Krieg strukturierte auch den Moskaudiskurs. Auf der diskursiven Ebene vollzogen sich Korrekturen an der Beschreibung der Stadt: Die Verteidigung im Winter 1941 rückte bereits während des Krieges in den Kreis fester Topoi des Moskaudiskurses auf.59 Hier hatten die Moskauer bewiesen, dass sie nicht nur Kämpfer im Aufbau, sondern auch im Kriege waren. Dies geschah unter der Führung Stalins, dessen Ausharren in der Stadt als Basis des Sieges gedeutet wurde.60 Überhaupt verschmolzen der Kult um Stalin und der Moskaudiskurs im Hochstalinismus noch weiter. Die Hauptstadt war mehr denn je die Stadt Stalins; der Kult um den Führer setzte den Rahmen für die Entfaltung imperialer Macht in der Metropole. Doch auch in anderer Hinsicht änderte sich die Bedeutung der sowjetischen Hauptstadt. Während sie als Zentrum der kommunistischen Weltbewegung seit den zwanziger Jahren als imaginäre Kapitale aller Werktätigen gefeiert wurde, fungierte sie nach 1945 als 57 Schlögel, Moskau lesen, S. 19–26. 58 Khrushchev Remembers. The Last Testament, hg. u. übers. v. Strobe Talbott, Boston 1974, S. 141–142. 59 I. Bačelis, Bitva za Moskvu, Moskau 1943. 60 Zur Verbindung zwischen dem Sieg über Deutschland und dem Stalin-Kult, vgl. Jeffrey Brooks, Thank You, Comrade Stalin. Soviet Public Culture from Revolution to Cold War, Princeton, NJ 2000, S. 159–232. Vgl. auch Jutta Scherrer, »Siegesmythos versus Vergangenheitsaufarbeitung«, in: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. 1945 Arena der Erinnerungen, Band II, Berlin 2004, S. 619–657.

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Zentrum des neu entstandenen sowjetischen Nachkriegsimperiums. Die Öffentlichkeit Polens, Bulgariens, der Tschechoslowakei oder Rumäniens sollten nun von den »Errungenschaften« der sowjetischen Metropole erfahren. Es galt, ihnen bewusst zu machen, warum Moskau der erste Platz unter den Städten des Imperiums gebührte, warum es notwendig war, seine Geschichte und seine Sehenswürdigkeiten zu kennen und warum es eine große Ehre bedeutete, mit einer Delegation zu einer Pilgerreise an die Moskva eingeladen zu werden. Die Bevölkerungen würden schließlich nur dann in der Lage sein, ihren eigenen Ländern den Sozialismus aufzubauen, wenn sie um die sowjetischen Erfahrungen wüssten. So war die Verbreitung und Anpassung der Mythen der dreißiger Jahre zentraler Bestandteil eines diskursiven empire-building. Das 800-jährige Stadtjubiläum im Jahre 1947 bot die Gelegenheit, die sowjetischen Bürger und die ganze Welt erneut mit der Einzigartigkeit der sowjetischen Metropole zu konfrontieren. In sowjetischer Manier verlieh der Oberste Sowjet aus diesem Anlass der Stadt Moskau in Anerkennung ihrer Verdienste für die Verteidigung der Heimat und um die Umsetzung des Generalplans den Leninorden.61 Stalin betonte in seiner Grußadresse an Moskau, dass das ganze Land an diesem Feiertage »Liebe und Hochachtung« angesichts der »großen Verdienste« der Stadt um die »Heimat [rodina]« spüre. Er erhob die Stadt in den Rang einer historischen Person, eines Akteurs, der achthundert Jahre russische Staatlichkeit ebenso verkörperte wie die Größe des sowjetischen Aufbaus. Moskau sei, so Stalin, die Wiege des russischen Zentralstaates und habe daher die Voraussetzung für russische Größe erst geschaffen.62 Doch neben dieser nationalen Aufladung des Moskaubildes stand bei Stalin weiterhin die internationale Bedeutung der Stadt als »Banner im Kampfe der arbeitenden Menschen in der Welt«. Sie sei das Vorbild aller Hauptstädte der Welt, da sie ihre Elendsviertel (truščoby) liquidiert und den Arbeitenden die Möglichkeit eröffnet habe, in die Viertel der Bourgeoisie oder in neue, von der Sowjetmacht errichtete Häuser zu ziehen. Damit sanktionierte Stalin nochmals die soziale Revolution von 1917. Schließlich verwies er noch auf die internationale Komponente des Jubiläums. Er erklärte Moskau nicht nur zum Symbol russischer Staatlichkeit und sozialer Gerechtigkeit, sondern auch zum »Herold des Kampfes um dauerhaften Frieden, Herold des Kampfes gegen die Brandstifter eines neuen Krieges«. 61 »Ukaz prezidiuma Verchovnogo Soveta SSSR. O nagraždenii goroda Moskvy ordenom Lenina«, in: Pravda, 7.9.1947, S. 1. 62 »Privetstvie tov. I. V. Stalina«, in: Pravda, 07.09.1947, S. 1. Zum sowjetischen Nationalismus der Nachkriegszeit, der auch auf einzelne Topoi aus der Zarenzeit zurückgriff, vgl. David Brandenberger, National Bolshevism. Stalinist Mass Culture and the Formation of Russian National Identity, 1931–1956, Cambridge, Mass. 2002.

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Die »friedliebenden Völker« sähen in Moskau ein »mächtiges Bollwerk des Friedens«.63 Damit umfasste Stalins Rede eine große Bandbreite der Bedeutungen: Er sprach von historischer Größe, legitimierte die revolutionäre Umwälzung und positionierte die Stadt im Kalten Krieg. Die Betonung der russischen Vergangenheit, die bereits seit dem Ende der dreißiger Jahre und besonders im Zweiten Weltkrieg vollzogen wurde, drückte sich in einem neuen Denkmal für den Stadtgründer, den Fürsten Jurij Dolgorukij, im Zentrum Moskaus aus.64 Das sowjetische Moskau wurde zur Krönung einer imperialen Geschichte stilisiert. Das Schwelgen in Superlativen, das bereits die dreißiger Jahre gekennzeichnet hatte, charakterisierte auch die Feiern von 1947.65 Am 15. August 1947, wenige Wochen vor dem offiziellen Jubiläum, hielt der Moskauer Hochschullehrer V. I. Dokunin eine öffentliche Vorlesung zur Geschichte Moskaus im Freilufttheater des Stalin-Parks in Izmajlovo. Der Festredner betonte einerseits, dass Moskau die Hauptstadt der »progressiven Menschheit« sei und versuchte andererseits, den Mythos des Stalinschen Moskaus (stalinskaja Moskva) in der Geschichte Russlands und der Stadt zu verankern.66 In dieser Sichtweise symbolisierte die russische Metropole von alters her die Größe russischer Staatlichkeit. Er unterstrich ihre Rolle bei der Verteidigung russischer Souveränität – seine Bürger hätten 1610, 1812 und 1941 die Besatzer aus dem Land getrieben. Während das moderne Moskau der Jahrhundertwende Dokunin als Negativfolie diente, von der die »Errungenschaften« der sowjetischen Epoche sich strahlend abheben, zeigte er, dass die Stadt aus ihrer Geschichte heraus zu Größe bestimmt sei. Damit variierte er das Thema des Stadtjubiläums, das darauf zielte, Moskau als organische Einheit aus historischer, gegenwärtiger und zukünftiger Größe zu präsentieren. Die Veröffentlichung dieser Vorlesung war Teil eines Reigens von Publikationen zum Stadtjubiläum.67 Ein ähnlicher Text, dem noch Statistiken beigefügt wurden, sollte als Orientierungshilfe für Referenten die-

63 »Privetstvie tov. I. V. Stalina«, a.a.O. 64 »Zakladka pamjatnika Juriju Dolgorukomu«, in: Pravda, 8.9.1947, S. 2. Nach Timothy Colton ging die Initiative für den Bau des Denkmals von Stalin aus. Colton, Moscow, S. 324. 65 Vgl. auch am Beispiel der Wissenschaft und Kultur Moskva – centr nauki i kul’tury. Material dlja besed o 800-letii stolicy, Moskau 1947. 66 V. I. Dokunin, Moskva – stolica velikogo sovetskogo gosudarstva, Moskau 1947, S. 3. 67 Vgl. auch Il’ja Katcen, Metro Moskvy, Moskau 1947, der an den Metrodiskurs der dreißiger Jahre anknüpft und ihn mit den Erzählungen über den »großen vaterländischen Krieg« verbindet. Eine Kurzfassung dieses Buches erschien bereits 1946 im Verlag der sowjetischen Militäradministration in Berlin: Ilja Katzen, Die Moskauer Metro, Berlin 1946.

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nen.68 Wie bei Dokunin wurden auch hier die Triumphe der Vergangenheit mit den Erfolgen der Gegenwart verbunden. Zugleich zog der Autor E. D. Simonov eine erste Bilanz des Generalplans und betonte, wie eng seine Realisierung mit der persönlichen Anwesenheit Stalins zusammenhinge, der ständig Baustellen besuche und mit den Ingenieuren an den Planungen feile. Die GorkijStraße und den Gartenring, einen »sechszehnkilometerlangen ebenen Fluss aus Asphalt«, beschrieb er als Magistralen, die bereits das Gesicht der neuen Stadt trügen.69 Zugleich kam er auf die Themen der dreißiger Jahre zurück, erneuerte die Bewunderung für die Metro, die die »beste der Welt« sei und deren »unterirdische Paläste« die sowjetischen Bürger mit Stolz erfüllten.70 Er pries die Leistungen der Kanalbauer und prahlte, dass die Moskauer im Wasserverbrauch die Bewohner von Paris und London bereits überträfen.71 Die eigentliche Meistererzählung zum Stadtjubiläum lieferte Anatoli Loginov mit seinem Buch Naša Moskva.72 Es wurde in gekürzter Fassung auch von der sowjetischen Militäradministration auf Deutsch veröffentlicht.73 Auf mehr als 250 Seiten gelang es ihm, Moskau als sowjetisches Idyll facettenreich zu beschreiben und sich individueller Akzente zu enthalten; der Verfasser verschwindet fast vollständig hinter den immer gleichen Bildern des Moskaudiskurses. Wie bei Stalin so wurde auch bei Loginov die Stadt selbst zum Akteur in der russischen Geschichte. Auch er beschrieb die Stadt als Synthese aus Alt und Neu und betont ihre Verbindung zum russischen Staat. In der Gegenwart sah er ihre Bedeutung durch Stalins Präsenz begründet: »Zu Treffen mit dem Genossen Stalin kommen Führer von Parteien und Staaten, Vertreter von Staaten und Völkern aus der ganzen Welt nach Moskau.«74 Auch bei Loginov wurden Ausländer zu Zeugen für das Glück der sowjetischen Menschen erhoben. So zitierte er einen kalifornischen Professor, der während seines Aufenthalts in Moskau erklärte, der »stärkste Eindruck« sei für ihn das »leuchtende Glück [plamennaja radost’]« gewesen. Beim Blick in die Gesichter der Werktätigen sei

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E. D. Simonov, Moskva stolica našej rodiny, Moskau 1947. Ebd., S. 13. Ebd., S. 27. Ebd., S. 21. Anatolij Loginov, Naša Moskva, Moskau 1947. Der Titel verweist bereits auf die nationale Aufladung des Moskaudiskurses der Nachkriegszeit. Alle Zitate folgen der russischen Ausgabe. 73 A. Loginow, Das 800-jährige Moskau, Berlin 1947. Die deutsche Ausgabe ist deutlich weniger dem Führerkult um Stalin verpflichtet. 74 Loginov, Naša Moskva, S. 12.

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es ihm vorgekommen, als gingen sie »ins gelobte Land«.75 In religiös gefärbter Sprache wurde Moskau zu einem paradiesischen Ort erklärt. Aufgrund des Kalten Krieges wurde in Naša Moskva stärker kontrastierend argumentiert als in den Texten der Vorkriegszeit. Während der Moskaudiskurs der dreißiger Jahre selbstreferentiell blieb und sich in der Regel mit dem Verweis auf die russische Vergangenheit legitimierte, war es nun notwendig, die Überlegenheit gegenüber dem Westen offensiv herauszustellen. So erläuterte Loginov die Vorzüge des Generalplans gegenüber dem Stadtumbau Haussmanns, der zu viel Zeit in Anspruch genommen habe, und erklärte, in Berlin, Paris und New York gäbe es keine Schönheit unter der Erde – nur die Moskauer Metro sei ein »unterirdisches Königreich der Elektrizität«.76 In der nahen Zukunft Moskaus sah der Verfasser noch den Palast der Sowjets entstehen und berauschte sich daran, dass seine Leninstatue »kilometerweit zu sehen« sein werde. Im gleichen Atemzug bekräftigte er, dass sie die New Yorker Freiheitsstatue noch an Größe übertreffen solle.77 Das stalinistische Pastoral Naša Moskva endete mit der Vorstellung, dass die aufgehende Sonne zukünftig zuerst von Iljitsch – der Leninstatue auf dem Palast – gesehen werde und dass sich in diesem Moment der wohlwollende Blick seines Nachfolgers im Kreml auf die goldene Figur richten würde. Wo der Träger der Macht auf seine Repräsentationen trifft, entsteht eine sowjetische Idylle. Auch die orthodoxe Kirche, deren Stellung sich während des Krieges verbessert hatte, stimmte 1947 in die Lobpreisung der Hauptstadt ein. Sie nannte Moskau das »Zentrum des gesellschaftlichen Lebens der Menschheit« sowie »Zentrum der wahren Orthodoxie« und betonte, dass es bei allen Slaven als Symbol einer besseren Zukunft gesehen werde.78 Damit verwiesen die Kirchenführer auf die sowjetische Strategie, Moskau zu einem Zentrum der slawischen Welt zu stilisieren. In dieser Apologie der auserwählten Stadt schwang die Vorstellung von Moskau als drittem Rom mit; der religiöse Messianismus vermählte sich hier mit dem stalinistischen. Die 800-Jahr-Feiern bildeten den Auftakt dafür, das sowjetische Nachkriegsimperium mit dem Moskaudiskurs zu überziehen. Dies geschah beispielsweise in der Zeitschrift Slavjane, die in mehreren Sprachen erschien und sich an die Nachbarstaaten wandte. Sie war während des Zweiten Weltkriegs gegründet worden, um die slawischen Nationen für den Krieg gegen das natio-

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Ebd., S. 47. Ebd., S. 110–111 und 165. Ebd., S. 257. Zitat bei Duncan, Russian Messianism, S. 59.

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nalsozialistische Deutschland zu mobilisieren.79 Seit Kriegsende verschob sich das Feindbild der panslawischen Rhetorik; die Abgrenzung gegenüber dem Westen und die Feindschaft zu den USA ersetzten seit 1947 den Kampf gegen Deutschland als zentrale Themen. Es war das Anliegen der panslawischen Argumentation, die enge Bindung der Nachbarstaaten an die Sowjetunion völkisch zu legitimieren.80 Da der Kreml wusste, dass große Teile der osteuropäischen Eliten das kommunistische Projekt beargwöhnten, versuchte die Sowjetunion ethnische Nähe zu akzentuieren, wo politische Distanz herrschte. Im Sommer 1947 druckte Slavjane drei Artikel, die die Verbündeten mit den sowjetischen Redeweisen über Moskau vertraut machen sollten. Sie informierten die Peripherie über das Selbstbild des Zentrums; indem sie Moskau überhöhten, verdeutlichten sie seinen Rang als Sitz der Macht. Sie flochten einen Kranz von Superlativen um die sowjetische Hauptstadt, beschworen die sakrale Aura des Zentrums und trugen somit dazu bei, die imperiale Ordnung in Osteuropa festzuschreiben. Der einleitende Artikel bezeichnete Moskau als »Symbol der Freiheit, des sozialen Fortschritts […], Symbol des Kampfes für die Menschenrechte und den Sozialismus«. Auch hier wurde die Stadt wieder zum Subjekt der Geschichte: »Moskau befreite die ganze Menschheit und ihre Zivilisation vom Faschismus« hieß es und der Text ließ keinen Zweifel daran, dass dies nicht nur ein militärischer, sondern ein »moralisch-politischer Sieg« sei, der die sowjetische Hegemonie begründete. 81 Der Historiker Sergej Bachrušin erklärte seinen ausländischen Lesern die Bedeutung der sowjetischen Hauptstadt als historischen Ausdruck russischer Staatlichkeit und Macht. Auch bei ihm stand jedoch neben dieser nationalen Komponente ein universaler Anspruch. Moskau sei als »Hauptstadt der progressiven Menschheit« auch ein »Symbol der neuen Welt«.82 Der sowjetische Schriftsteller und Stalinpreisträger Nikolaj Tichonov bemühte sich in Slavjane um eine poetische Darstellung imperialer Größe. Der Perspektive des Generalplans verpflichtet, begann er seinen Aufsatz mit dem 79 Zur vom Kreml inszenierten »slawischen Bewegung« der vierziger Jahre vgl. Jan C. Behrends, »Die ›sowjetische Rus’‹ und ihre Brüder. Die slawische Idee in Russlands langem 20. Jahrhundert«, in: Osteuropa 59 (2009), Nr. 12, S. 95–114. 80 Jan C. Behrends, »Vom Panslavismus zum ›Friedenskampf‹. Außenpolitik, Herrschaftslegitimation und Massenmobilisierung im sowjetischen Nachkriegsimperium (1944–1953)«, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 56 (2008), S. 27–53. 81 »Oplot mirovoj civilizacii i progressa«, in: Slavjane 1947, Nr. 8, S. 3–6, hier S. 3, S. 6. 82 S. V. Bachrušin, »Moskva«, in: Slavjane 1947, Nr. 8, S. 7–13, hier S. 13. Der Verfasser schrieb zum Jubiläum auch für das russische Publikum einen Abriss der Geschichte Moskaus. Vgl. S. V. Bachrušin, Moskve 800 let, Moskau 1947.

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Blick aus dem Flugzeug auf die sowjetische Metropole. Tichonov verstand, dass sich die Größe der neuen Ordnung am besten aus der Vogelperspektive erschloss. Er betonte, der Moskauer Bürger lebe ohne Nöte und Sorgen, er sei der »demokratischste Mensch der Welt«. Die Stadt sei wie eine Sonne, die das friedliche Leben beleuchte. Diese Sonnenmetapher zieht sich durch einen Text, dem es gelingt, Stalin-Kult und Moskaudiskurs zu verschmelzen. Bei Tichonov ergänzen sich diese beiden Stränge der sowjetischen Selbstbeschreibung vortrefflich: Die Metropole ist für ihn Heimat der neuen Menschen und Kulisse für den Auftritt des »großen Stalin«. Moskau beschreibt er als Ort »bolschewistischer Energie« und Geschäftigkeit, die Moskauer als Menschen, die im Kreml noch ein Licht sehen – im Zimmer des arbeitenden Stalin – wenn die Sonne schon untergangen ist. Denn erst im Kontrast mit dem Leben der Metropole wird für ihn deutlich, wie »der große Stalin« ruhig und still seiner Arbeit nachgeht.83 Stalin sei der ruhende Pol in der brausenden Stadt – in ihm vereinige sich der Gegensatz zwischen Veränderung und Beharrung. Seinem Publikum im sowjetischen Nachkriegsimperium präsentierte er die räumlichen Hierarchien – er verwies auf das Zentrum der Macht, das nun als Vorbild für die neuen Regime dienen sollte. Die diskursive Verbindung zwischen sowjetischer Macht und universalen Werten sollte Moskaus moralisches Gewicht festschreiben, das an den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland gekoppelt war. Die Expansion sowjetischer Macht war dabei potenziell grenzenlos – Moskau wurde als Kern eines kommunistischen Reiches vorgestellt, dass die ganze Menschheit umfasste. In den Jahren nach 1947 wurde Moskau zum Zentrum einer imperialen Öffentlichkeit, die sämtliche Länder Osteuropas einschloss. Die Kampagnen sowjetischer Macht – der 1. Mai, die Jahrestage des Sieges und der Oktoberrevolution, die Friedenskampagnen – wurden fortan nicht nur in der UdSSR durchgeführt, sondern auch in den anderen sozialistischen Staaten. Stets wurde peinlich darauf geachtet, dass der Primat der Moskauer Feiern gewahrt blieb. Einen Höhepunkt dieser Schauspiele imperialer Macht bildeten die Feiern zu Stalins 70. Geburtstag im Dezember 1949. Es trafen sich die Führer des Weltkommunismus in Moskau, um dem Schöpfer der sowjetischen Macht zu huldigen. Geschenke aus der UdSSR, dem sowjetischen Imperium und allen Teilen der Welt wurden als Ausweis emotionaler Vergemeinschaftung an die Moskva gebracht und dort ausgestellt. Moskau gab die Bühne für diesen späten Höhepunkt des Stalin-Kultes, der weisungsgemäß in den anderen Hauptstädten nachgespielt wurde. Doch nicht nur die sowjetische Festkultur prägte die Hauptstädte im Osteuropa der Nachkriegszeit. Die Macht der Sowjetunion 83 Nikolaj Tichonov, »Slovo o Moskve«, in: Slavjane 1947, Nr. 8, S. 14–19.

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drückte sich auch in der Architektur aus. Die Ästhetik des Hochstalinismus wurde zu einem verpflichtenden Bestandteil des Aufbaus: Das Akademiegebäude in Riga, der Warschauer Kulturpalast oder die Berliner Stalinallee bezeugen die Strahlkraft der Moskauer Vorbilder. Diskursiv wurde bei diesen Bauten stets die Verbindung zur Sowjetunion hervorgehoben.84

Reisen ins imperiale Zentrum: Die letzte Welle der fellow travellers Der Reisebericht, der bereits in den dreißiger Jahren als Genre »authentischer« Erfahrung eine wichtige Rolle im Moskaudiskurs entfaltete, erlebte in den Nachkriegsjahren eine Renaissance. Nun waren es nicht mehr primär westliche Sympathisanten, die sich in die Sowjetunion aufmachten, um die kommunistische Utopie als gesellschaftliche Realität zu beschreiben, sondern Intellektuelle und Funktionäre von der Peripherie des sowjetischen Imperiums, die im Auftrage der Staatspartei nach Moskau fuhren, um ihren misstrauischen Gesellschaften von der Größe der sowjetischen Metropole zu erzählen. Wie ihre Vorgänger in den dreißiger Jahren sollten sie bestätigen, dass die Verheißungen des Kommunismus bereits Wirklichkeit waren. Ihr Ziel war es, der von Moskau definierten »Wahrheit« über die UdSSR in ihren Ländern Geltung zu verschaffen. Das Zielpublikum war nun breiter: Während die Berichte der dreißiger Jahre vornehmlich auf Intellektuelle zielten, die als Sympathisanten gewonnen werden sollten, rückten nun die gesamten Gesellschaften ins Blickfeld der Propaganda. Jede und jeder sollte über die Sowjetunion lernen und von der Schönheit Moskaus erfahren. Diese Form oktroyierter Aufklärung war aufgrund der negativen Erinnerungen und Erfahrungen dringend notwendig. Nun gelte es, so der polnische Publizist Józef Wasowski 1945, die »Mauer der Lüge« zu überwinden, denn »Täuschungen, Unsinn und unwahre Legenden« seien der eigentliche Grund für das gespannte Verhältnis zwischen den Polen und ihren russischen Nachbarn.85 Die polnischen Besucher Henryk Świątkowski, Wanda Melcer und Stefan Żółkiewski betonten im Jahr des Stadtjubiläums 1947 einstimmig die Schönheit, Kultiviertheit und Einzigartigkeit der sowjetischen Hauptstadt.86 Der Jus84 Jan C. Behrends, Die erfundene Freundschaft. Propaganda für die Sowjetunion in Polen und in der DDR, Köln 2006 , S. 172–225; S. 254–262. 85 Józef Wasowski, Podróż w Z.S.S.R., Lublin 1945, S. 4. 86 Wanda Melcer, 6 tygodni w ZSRR, Warschau 1947; Henryk Świątkowski, Z mego pobytu w ZSRR, Warschau 1947; Stefan Żółkiewski, »Pierwsze wraźenia z Moskwy«, in: Przyjaźń

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tizminister Świątkowski schrieb in seiner Funktion als Vorsitzender der Gesellschaft für polnisch-sowjetische Freundschaft.87 In dieser Rolle hatte er bereits im November 1946 eine polnische Delegation zur Feier des Jahrestages der Oktoberrevolution begleitet. In seiner Broschüre betonte er die historische Größe der Stadt und ihre bedeutende Rolle bei der Verteidigung der Sowjetunion.88 Auch Wanda Melcer unterstrich, auf den sowjetischen Moskaudiskurs rekurrierend, die geschichtliche Bedeutung der Stadt für den russischen Staat. Besonders hob sie die Bedeutung der Stadt für Wissenschaft und Kultur hervor. Die Autorin bemühte sich, die Vorstellung eines kulturellen Gefälles zwischen West und Ost umzukehren, und erklärte, dass Tanz, Theater, Musik ebenso wie Bildung, Wissenschaft und Forschung den sowjetischen Alltag bestimmten.89 Sie erhob Moskau zum Zentrum moderner Kultur und Zivilisation. Eine deutsche Schriftstellerdelegation knüpfte 1948 an Lion Feuchtwangers Erzählungen über Moskau an.90 Das Ehepaar Bernhard und Ellen Kellermann berichtete, es fand »ein von Grund auf verändertes Moskau vor. Ich traute meinen Augen kaum: Moskau war zur Weltstadt [...] geworden. Man konnte es getrost mit London oder Paris vergleichen.« Bernhard Kellermann sah »Omnibusse, Trolleybusse und Automobile, so schön und mächtig, daß sie ebensogut in Paris oder New York laufen könnten.«91 Im Vergleich mit dem Westen wurde die Ebenbürtigkeit Moskaus festgestellt. Der polnische Ökonom Włodzimierz Brus führte aus, was die sowjetische Hauptstadt dem Westen voraus habe. Die Gorkistraße sei zwar noch nicht so mondän wie der Picadilly Circus, aber: »Wir sollten nicht vergessen, dass Moskau auch nicht die Armut des East End kennt,

1947, Nr. 1, S. 12–13. Siehe auch Adam Gallis, »Wycieczka po Moskwie«, in: Przyjaźń 1947, Nr. 4, S. 14–16. 87 Zur Rolle der Freundschaftsgesellschaft im polnischen Stalinismus siehe: Jan C. Behrends, »Agitation, Organisation, Mobilisation. The League for Polish-Soviet Friendship in Stalinist Poland«, in: Balázs Apor u.a. (Hg.), New Perspectives on Sovietisation and Modernity in Central and Eastern Europe, 1945–1964, Washington, DC 2008, S. 179–197. 88 Świątkowski, Z mego pobytu, S. 10. 89 Melcer, 6 tygodni, S. 66–107. 90 Zur ostdeutschen Schriftstellerdelegation von 1948, die ausführlich über Moskau schrieb, vgl. Anne Hartmann, Wolfram Eggeling, Sowjetische Präsenz im kulturellen Leben der SBZ und der frühen DDR 1945–1953, Berlin 1998, S. 273–288; als veröffentlichte Reiseberichte: Eduard Claudius, Notizen nebenbei, Berlin (Ost) 1948; Michael Hell, Rußland antwortet. Ein Reisebericht, Berlin (Ost) o. J. [1948]; Stephan Hermlin, Russische Eindrücke, Berlin (Ost) 1948; Bernhard u. Ellen Kellermann, Wir kommen aus Sowjetrußland, Berlin (Ost) 1948; Anna Seghers, Sowjetmenschen. Lebensbeschreibungen nach ihren Berichten, Berlin (Ost) 1948. 91 Kellermann, Wir kommen, S. 23.

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und dass das, was wir im Zentrum Moskaus erblicken, den entferntesten Vorstädten ähnelt.«92 Soziale Gleichheit war das Signum der sozialistischen Stadt. In der Ästhetik sowjetischer Großprojekte manifestierte sich für die Besucher die Überlegenheit des sozialistischen Städtebaus. Moskau sei schöner als westliche Städte. Kellermann lobt den »ruhigen, einheitlichen Stil« sowjetischer Hochhäuser: »Es gelang den Architekten indessen, den banalen Stil der amerikanischen Turmhäuser zu vermeiden!«93 Im Jahr 1952 erklärte der Funktionär der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft Franz Wenzel: »Die neuen Hochhäuser, von denen jetzt 8 fertig bzw. im Bau sind, haben absolut nichts mit den Wolkenkratzern in New York zu tun. Es sind keine Steinkästen ohne Schönheit, ohne Leben, sondern alle zeigen eine stilvolle Gestaltung im Bau und in der Verkleidung. [...] Zugleich aber wird die Hauptstadt der Sozialistischen Sowjetunion von Tag zu Tag schöner. Dabei ist Moskau schon heute die schönste Stadt der Welt.«94 Moskau stand für eine zauberhafte Moderne, die sich nicht durch kühle Sachlichkeit, sondern durch Wärme und Schönheit auszeichne. Die sozialistische Zukunft manifestierte sich in den Bauvorhaben der Gegenwart. In einem Beitrag zur Zeitschrift der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft hieß es, in Moskau genüge der »Blick aus dem Fenster« um die Zukunft zu sehen: Dort erschienen dann »die scharfen Umrisse der entstehenden Hochhäuser« und »auf den Leninbergen die Silhouette der Moskauer Universität«. Jetzt gelte es sich nur noch »den über alles hinausragenden Turm des Sowjetpalastes vorzustellen, dann erkennen wir schon das Bild der Zukunft. Und mit jedem Tag wird uns klarer, wie die Menschen in Moskau [...] in der Epoche des Kommunismus arbeiten und leben werden.«95 Diese Zukunft Moskaus beinhaltete die Erlösung der Menschheit: »Moskau ist der Künder der Befreiung aller werktätigen Menschen [...], die erste Hauptstadt der neuen Welt«, heißt es da, denn »in allen Sprachen der Welt bedeutet das Wort Moskau, daß es in der Welt Wahrheit und Gerechtigkeit gibt.«96 Der Rote Platz gehörte als Zentrum sowjetischer Macht zum Programm der Moskaubesucher. Auch ihm wurde eine überhöhte Bedeutung zugeschrieben. Hier versöhnte sich das historische mit dem sowjetischen Russland. Außerdem 92 Włodzimierz Brus, Urojenia i Rzeczywistość. Prawda o ZSRR, Warschau 1947, S. 47. 93 Kellermann, Wir kommen, S. 20. 94 Franz Wenzel, »Zu Gast im Sowjetland«, in: Die Neue Gesellschaft 1952, Nr. 8, S. 619–622, hier S. 621. 95 Michail Iljin, »Ein Blick in die Zukunft«, in: Die Neue Gesellschaft 1950, Nr. 4, S. 295– 302, hier S. 295. 96 Michail Iljin, »Es gibt auf der Welt ein Moskau«, in: Die Neue Gesellschaft 1949, Nr. 6, S. 426–433, hier S. 432.

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bildete er das Forum für die Huldigung der sowjetischen Führer. Während der großen Paraden konnten ausländische Gäste und sowjetische Bevölkerung hier eine Elite zu Gesicht bekommen, die sich sonst hinter die Kremlmauern und auf ihre Datschen zurückgezogen hatte. Zweimal im Jahr bot sich für die Moskauer und auserwählte Besucher die Möglichkeit, die Macht in Gestalt Stalins und seines Politbüros auf dem Leninmausoleum zu erleben. Stephan Hermlin, der den 1. Mai 1948 auf dem Roten Platz erlebte, stellte das Mausoleum ins Zentrum seiner Erzählung. Er blickt zur Tribüne des Bauwerks, wo er Stalin sah, bewunderte die Rote Armee und begeisterte sich für die Verschmelzung von Volk und Macht im Zug der Zehntausende: »Die Musik vermengt sich mit dem Geräusch zahlloser Schritte, mit den unaufhörlichen Rufen, dem in der Menge aufflackernden Beifall. Die meisten Rufe gelten Stalin, auch Molotows Name wird oft genannt […]. Dieser Zug ist endlos [...].«97 Ein anderer kommunistischer Dichter, Kurt Bartel (Kuba), schilderte zwei Jahre später den Moskauer Maifeiertag in ähnlich schillernden Farben: »Der Rote Platz ist um diese Stunde sehr still und sehr feierlich. Die Tribünen füllen sich mit Ehrengästen, Eis und Limonade werden angeboten. Äpfel aus Grusien, Orangen. [...] Die Regierung nimmt ihren Platz auf dem Leninmausoleum ein. Stalin grüßt, die Antwort kommt und klingt wie ein rauschender Regen, setzt sich fort über die ganze Weite des riesigen Platzes. – Aber kein Geschrei, nichts, was den Ohren weh tut.«98 An den sowjetischen Diskurs angelehnt, beschrieben die europäischen Gäste Moskau als Ort, wo »das Herz der ganzen fortschrittlichen Welt schlägt«. Das Zentrum der Macht war ein sakraler Raum: Jiri Marek bemerkte, auf dem Roten Platz »sprechen die Menschen nur gedämpft« und selbst die »Autos fahren leise. Hier fließt das Leben feierlicher.« Diese besondere Stimmung liege in der Präsenz Lenins begründet, der Menschen aus der ganzen Welt anziehe. Dreimal in der Woche sei das Mausoleum geöffnet und die Besucher, so belehrt Marek seine Leser, seien »die ruhigste und würdigste Menschenansammlung, die ihr jemals gesehen habt«.99 Noch 1954 beschrieb Stefan Heym wartende Menschen vor dem Leninmausoleum in feierlicher Diktion; für ihn repräsentierte der Rote Platz das »große Herz der Arbeiterklasse«.100 Im stalinistischen Diskurs bildete der Rote Platz den Mittelpunkt des Imperiums, der durch die Präsenz

97 Hermlin, Russische Eindrücke, S. 69. 98 Kurt Bartel, »Die fröhlichste Stadt der Welt«, in: Friedenspost 1950, Nr. 18, S. 1. 99 Jiri Marek, »Sieben Wunder Moskaus«, in: Friedenspost 1950, Nr. 38, S. 5. 100 Stefan Heym, Reise ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Ein Bericht von Stefan Heym, Berlin (Ost) 1954, S. 55.

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der toten Führer zusätzlich aufgewertet wurde. An diesem Ort sollte die transzendente Dimension sowjetischer Macht erlebbar werden. Die Delegationsreisen ins Moskau der Nachkriegszeit glichen Pilgerfahrten. Sie fanden in festen Gruppen statt, hatten ein ritualisiertes Programm und einen vorgegebenen Erwartungshorizont, orientierten sich am Feiertagskalender und dienten der Festigung des Glaubens an die sowjetische Meistererzählung. Ihr scheinreligiöser Charakter manifestierte sich in der gespannten Erwartungshaltung vor der Reise, dem mythischen Erlebnis auf dem Roten Platz und in den hymnischen Erzählungen nach der Rückkehr. Reisen und konzentriertes Erleben sollten Vertrauen aufbauen und den Glauben an eine gemeinsame Zukunft festigen. In der sowjetischen Selbstbeschreibung war Moskau ein mystischer Ort; die polnische Autorin Aniela Mariańska fasste 1950 ihren Aufenthalt in der Stadt folgendermaßen zusammen: »Aber das ist nicht das Leben. Das ist wie im Märchen.«101

Der Moskaudiskurs – Metaphorik imperialer Macht im Stalinismus Die stalinistische Epoche entwickelte ihre spezifischen Repräsentationen der Macht: dazu gehörte die Ideologie ebenso wie der Führerkult, die Künste oder eben der Moskaudiskurs. Die normierte Redeweise über die sowjetische Hauptstadt sollte die Legitimität der bolschewistischen Herrschaft festschreiben und die Zentralität Moskaus in ihrem Reich begründen. Diese Ausrufung Moskaus zur neuen Welthauptstadt hatte ihren Ursprung schon in den Jahren nach der Revolution; ihre kanonische Form entstand jedoch erst in der Beschreibung der Großprojekte der dreißiger Jahre und wurde dann nach dem Zweiten Weltkrieg in der russischen Geschichte begründet. Von Beginn an war der Moskaudiskurs nicht nur nach Innen gerichtet; er sollte immer auch die internationale Legitimität des Regimes und des Imperiums befördern. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er in die sozialistischen Staaten Osteuropas exportiert, wo er dazu diente, die Hierarchien des Imperiums abzubilden und festzuschreiben. Es handelte sich um eine diskursive Strategie, die sowjetische Macht darzustellen – seine Topoi sollten die Köpfe und Redeweisen über die UdSSR prägen. Im Zentrum stand die Behauptung, dass in Moskau eine neue kommunistische Zivilisation entstanden sei.

101 Aniela Mariańska, Szlakiem delegacji chłopów polskich po Ukrainie, Warschau 1950, S. 8.

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Wie die Ideologie der Bol’ševiki selbst, so war auch der Diskurs um Moskau von Widersprüchen geprägt, die nicht aufgelöst wurden.102 In der offiziellen Selbstbeschreibung sollte die Stadt verschiedenste Attribute verkörpern: Sie wurde als harmonische Melange aus Tradition und Innovation, Geschichte und Zukunft, nationalem Erbe und internationaler Bedeutung, russischer Größe und universalem Anspruch beschrieben. Nur das Moskau Stalins, so konnte man lernen, war in der Lage, diese Aporien zu vereinigen. Es war das Symbol einer anderen Moderne, in der die Bol’ševiki eine harmonische Ordnung durchgesetzt hatten. Seine Größe und Schönheit galt es zu bewundern. Das Ende dieser utopischen Vorstellungen setzte schon in den letzten Jahren der Herrschaft Stalins ein, als Nikita Chruščev als neuer Parteichef Moskaus begann, den Generalplan an die Realitäten der Stadtentwicklungen und die Bedürfnisse der Bewohner anzupassen.103 Die Utopie büßte ihre Magie ein. Zu Beginn der sechziger Jahre versuchten die Moskauer Stadtplaner, den Anschluss an die westliche Moderne und ihre architektonischen Paradigmen wiederherzustellen. Ihre Projekte, wie der Neue Arbat, waren nun bescheidener.104 Ihnen fehlte die utopische Dimension; sie bewegten sich wieder in den Bahnen moderner Stadtplanung. Dennoch betrieb die Sowjetunion bis zum Ende ihres Bestehens einen Kult um die eigene Hauptstadt, deren Vorzüge und Vorbildlichkeit auch unter den Nachfolgern Stalins hervorgehoben wurden. Als radikale Negation des sowjetischen Moskaudiskurses lässt sich die Novelle Moskva-Petuški von Venedikt Erofeev lesen, die 1973 im Samizdat erschien. Der Protagonist betont gleich eingangs, dass er nicht wisse, wie man zu den Orten imperialer Macht gelangt. Der Autor beginnt seine Erzählung mit den Worten: »Alle sagen: der Kreml, der Kreml. Alle haben mir von ihm erzählt, aber selbst habe ich ihn kein einziges Mal gesehen. Wie viele Male schon (tausende Male) habe ich im Rausch oder danach mit brummenden Schädel Moskau durchquert […], aber den Kreml habe ich kein einziges Mal gesehen.«105 Erofeev bewegt sich weg vom imperialen Zentrum und fährt geradezu abgestoßen von der ideologischen Bedeutungsschwere seiner Orte hinaus in das sowjetische Russland. Er berauscht sich nicht mehr an Utopie und imperialer Größe, sondern betrinkt sich in der Gegenwart mit jeder 102 Vgl. hierzu Boris Groys, »Die sowjetische ideologische Praxis«, in: ders., Die Erfindung Rußlands, München 1995, S. 75–92. 103 Colton, Moscow, S. 354. 104 Stephen V. Bittner, The Many Lives of Krushchev’s Thaw. Experience and Memory in Moscow’s Arbat, Ihtaca, NY 2008, S. 105–172. 105 Wenedikt Jerofejew, Die Reise nach Petuschki [1973], München, Zürich 51998, S. 9.

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Form von Alkohol. Den Kreml erreicht er erst an seinem letzten Lebenstage, als gehetzter, auf der Flucht vor anonymen Peinigern, die ihn umbringen. Das sacrum der Mächtigen blieb demjenigen verschlossen, der im profanum der sozialistischen Existenz lebte.

Die sportive Gesellschaft als ideale Ordnung Zum sowjetischen Konzept der Körperkultur Nikolaus Katzer Worin das »Sowjetische« in der Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert bestand und inwiefern das Sowjetische »sozialistisch« war, wird seit einigen Jahren aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert. Dabei werden alte Gewissheiten über die Konsistenz dessen, was »sowjetisches Erbe« oder »sowjetische Tradition« genannt wurde, in Frage gestellt. Bei der Rekonstruktion des Zusammenspiels von Symbolen, Festtagskultur, Ritualen und Konventionen im Alltag der Sowjetbürger kann die Analyse der Körperkultur (fizkul’tura) und des Sports wichtige Aufschlüsse vermitteln. Denn beide Elemente der modernen Kultur haben im Selbstverständnis und Erscheinungsbild des Sowjetsystems wichtige Funktionen nach innen und außen übernommen. Über die Jahrzehnte hinweg wurden ihnen in unterschiedlicher Gewichtung gemeinschaftsbildende, identitätsstiftende, repräsentative und exklusiv reklamierbare Eigenschaften zugeschrieben. Für die Entwürfe einer künftigen Gesellschaftsordnung und einer neuen Anthropologie waren sie konstitutiv. Mit ihnen verbanden sich spezifische Kontinuitäten und Vorstellungen von der Attraktivität und Jugendlichkeit des sowjetischen Modells. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Koordinaten der »sozialistischen Lebensweise« (socialističeskij obraz žizni) im »entwickelten Sozialismus« der Länder des »Ostblocks« neu bestimmt und schließlich fixiert wurden, gehörten Körperkultur und Sport unbestritten zu den tragenden Säulen. Neben der Erforschung der großen Perioden der Sowjetepoche kreisen die jüngsten Debatten zunehmend um »das Ganze« der Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert. In der Formel vom »Lauf des Sozialismus« und in Begriffen wie »Roboterathleten« oder »Sportwunder« äußert sich der hohe Stellenwert der Sportmetaphorik in den Selbst- und Fremdzuschreibungen des Systems. Zugleich klingt auch Bewunderung an für die Fähigkeit, Ressourcen effektiv zu bündeln, wissenschaftliche Expertise gezielt einzusetzen und alternative Methoden der Körperoptimierung zu entwickeln. Dieser funktionale Mechanismus des sowjetischen »Sportkörpers« verweist indessen auf die Verflechtung des sozialistischen Systems mit seinen ideologischen Rivalen, die in vergleichbarer Weise nach Perfektion durch Wissenschaft und Technik strebten. Auf allen Ebenen setzte sich der Primat der Planung durch. Das dem Militär anverwandelte Ordnungsmodell diente innenpolitisch als Instrument des social enginee-

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ring. In den internationalen Beziehungen besetzte die »Sportdiplomatie« ein noch wenig geregeltes Terrain, das rasch an Bedeutung gewann.1 Doch eröffnet die Sportgeschichte nicht nur Einsichten in neuartige Mobilisierungs- und Integrationspotentiale oder außenpolitische Aushilfen. Moderne Körperkultur schuf auch Entfaltungsräume für abweichende kollektive Verhaltensweisen und individuelle Praktiken. Die Subkulturen und Gegenwelten im Spannungsfeld aus reglementierten und regellosen Handlungsräumen verweisen auf die durchlässigen Grenzen des sowjetischen Gesellschaftsmodells und seine prekären Machtstrukturen. In der Geschichte von Sport und Körperkultur spiegelt sich diese Ambivalenz zwischen Instrumentalisierung und Autonomisierung. Gegenüber rückständigen Peripherien konnten moderne Bewegungskonzepte als Hebel zur Vermittlung einer überlegenen imperialen Kultur genutzt werden. Sie ließen die urbanen Zentren des Kernlandes als Quellen des Fortschritts, der Disziplin und der Ordnung erscheinen. Die Sowjetmacht erkannte früh das attraktive Potential, das in der vorrevolutionären Sportbewegung schlummerte, eignete es sich an und formte es zu einer sanften Strategie kultureller Überwältigung um. Zugleich setzte der heterogene und multifunktionale Sport dynamische Energien frei und eröffnete unbekannte Entfaltungsräume. Das massive Angebot an neuartigen kulturellen Zeichen und Körperpraktiken unterlief mit seinem Assoziationsreichtum die unifizierende Deutungshoheit der Machtapparate. Normative Sowjetzivilisation und moderne sportive Gesellschaft konnten somit nicht zur Deckung finden. Was einerseits zur Mobilisierung, Integration und Sinnstiftung taugte, förderte andererseits Individualisierungsprozesse, Distinktion und Eigensinn. Ebenso wie zwischen Ost und West bzw. kommunistischer und kapitalistischer Welt wirkte der Sport als Motor transkultureller Kommunikation zwischen den Regionen des Sowjetimperiums. Auf diese Weise bedingten die Sportsysteme einander mehr, als dass sie sich abgrenzten. Jenseits des wechselseitigen Anspruchs, den wahren und echten Sport zu repräsentieren, waren sie auf je eigene Weise Akteure der körperkulturellen Revolution des 20. Jahrhunderts. Ihre Rivalität beschleunigte lediglich den Aufstieg des Sports zu einem globalen Phänomen.

1 J. N. Washburn, »Sport as a Soviet Tool«, in: Foreign Affairs, 34 (1955/1956), Nr. 1/4, S. 490–499.

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Arbeiter-Staat und Sport-Sozialismus Für den Gründungsmythos des Sowjetsports ist »das Proletarische« nicht minder konstitutiv wie für das Narrativ vom »ersten sozialistischen Staat der Weltgeschichte«. Es war nicht entscheidend, dass Arbeiter die verschwindende Minderheit in einer bäuerlichen Gesellschaft bildeten. Im körperkulturellen Erziehungsprogramm der jungen Sowjetmacht lag das Versprechen, eine ideale Zukunft jenseits ethnischer, nationaler und kultureller Schranken aufbauen zu können. Um den »proletarischen« Kern der fizkul’tura entbrannte indessen bis in die 1930er Jahre hinein ein erbitterter Streit. Die Semantik des modernen Sports war unbestimmt. Wer sie definierte, legte auch fest, was das »Proletarische« sein sollte. Nicht die sozialen Dispositionen, sondern die Zweckbestimmung der Machtinstanzen entschieden über die Stichhaltigkeit der Argumente. Den Schlusspunkt dieses Aushandlungsprozesses bildete die bürokratische Kodifizierung eines Sportkonzepts, das international konkurrenzfähig sein sollte.2 Da dies die Anerkennung systemübergreifender Regeln und Standards, die Bereitschaft zu ständiger Kommunikation mit der Außenwelt und die Tolerierung kulturellen Transfers zur Bedingung machte, setzte sich der sowjetische Sport Einflüssen aus, die das gesamte Gesellschaftssystem tangierten. Darin lagen Risiken, die aber gegenüber den Vorzügen vernachlässigbar erschienen. Für die Frage nach dem Verhältnis von Sport und Sozialismus und damit nach der Besonderheit der sowjetischen Variante der Körperkultur ist in der Tat die Weichenstellung der dreißiger Jahre wegweisend. Die Körpererziehung wurde dem strikten Leistungsprinzip der Ökonomie und dem Mobilisierungsbedarf des Staates unterworfen. Das bedeutete das faktische Ende der vielfältigen Experimente in der frühsowjetischen Bewegungskultur. Sie umfassten militärsportliche Kurse für Jugendliche und angehende Rekruten, Schulungen in Psychotechnik oder biomechanische Laborversuche.3 Fizkul’tura meinte in den 1920er Jahren noch das gesamte vorrevolutionäre Erbe von Turngemeinschaften, Mannschafts- und Individualsportarten, Wettkämpfen und Freizeitspiel.4 Es war höchst ambitioniert, aus diesem reichen Fundus einen »proletarischen 2 Barbara J. Keys, Globalizing Sport: National Rivalry and International Community in the 1930s, Cambridge 2006. 3 Julia Vaingurt, »Poetry of Labor and Labor of Poetry: The Universal Language of Alexei Gastev’s Biomechanics«, in: The Russian Review 67 (2008), S. 209–229; Torsten Rüting, Pavlov und der neue Mensch. Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland, München 2002. 4 Zum Sport im Zarenreich siehe: Irina B. Chmel’nickaja, Sportivnye obščestva i dosug v stoličnom gorode načala XX veka: Peterburg i Moskva, Moskau 2011; Louise McReynolds, Russia at Play. Leisure Activities at the End of the Tsarist Era, Ithaca 2003.

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Sport« herauszufiltern. Tatsächlich war das sowjetische Modell so neu zunächst nicht. Die Debatten darüber, was für und was gegen den Sport als soziale Veranstaltung sprach, wurden kaum anders geführt als vor der Revolution. Schließlich erschöpfte sich das neue Konzept in einem Kanon erwünschter, geziemender oder moralisch unbedenklicher körperlicher Betätigung. Ohne paradoxe Kompromisse und mehrfache Korrekturen war eine solche Festlegung nicht möglich. So entsprachen beispielsweise Boxen oder Fußball schwerlich den Postulaten »gesunder« und »hygienischer« Bewegung, erfreuten sich aber größter Popularität. Schließlich kumulierten in der sowjetischen fizkul’tura mehr oder minder kompatible Bestandteile moderner Körperertüchtigung und Gesundheitsvorsorge, die von der Eurhythmie und dem Ausdruckstanz bis zu paramilitärischen Formationsspielen und Menschenpyramiden reichten.5 Sie waren entweder im Lande selbst erprobt oder dem internationalen Sport entlehnt. Was populär war, konnte aus der Öffentlichkeit ferngehalten, aber nicht einfach verboten werden. Es wurde nicht gefördert und entfaltete seine Attraktivität hinter den Kulissen der offiziellen Sportszene. Das Eigenleben dieser »versteckten« Sportarten gehört zur Defizitgeschichte der sowjetischen Bewegungskultur. Seit den Jahren des Bürgerkriegs hatten Aktivisten im Auftrag des Volkskommissariats für Gesundheit Kampagnen angestoßen und mit Slogans wie »Sonne, Luft, Wasser und natürliche Bewegung sind die besten proletarischen Ärzte!« oder »Fizkul’tura – 24 Stunden am Tag!« für eine gesunde Lebensführung, medizinische Prophylaxe, Hygiene und Eugenik geworben. Soldaten, Arbeiter und Bauern wurden daran erinnert, dass die lichte Zukunft und das neue Leben im gegenwärtigen Alltag begannen. Sich mit kaltem Wasser zu waschen, eine Zahnbürste zu benutzen oder das Anti-Alkohol-Gesetz zu beachten, zählten zu den Tugenden des »Proletariers«.6 Puristen dieser Art individueller Erziehung grenzten die »sanfte« Körperkultur scharf vom agonalen »Sport« ab. Dieser beruhte ihrer Ansicht nach auf dem Konkurrenzgedanken der westlichen bourgeoisen Gesellschaften und verstieß gegen die »proletarische Moral«. Die erbitterten Kontroversen entsprechen durchaus Erfahrungen aus der deutschen Turnbewegung oder dem tschechischen Sokol. Sie sind daher nicht 5 Richard Stites, Revolutionary Dreams: Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution, New York1989, S. 145–164. 6 Tricia Starks, The Body Soviet. Propaganda, Hygiene, and the Revolutionary State, Madison 2008. Vgl. zum größeren Kontext: Frances L. Bernstein, Christopher Burton, Dan Healey (Hg.), Soviet Medicine. Culture, Practice, and Science, DeKalb 2010; Paula A. Michaels, Curative Powers. Medicine and Empire in Stalin’s Central Asia, Pittsburgh 2003; Cassandra M. Cavanaugh, Backwardness and Biology. Medicine and Power in Russia and Soviet Central Asia, 1868–1934, New York 2001.

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ungewöhnlich, sondern spiegeln Ambivalenz und Dynamik der modernen Bewegungskulturen.7 Die deutschen Turner hatten sich zeitweise ausdrücklich vom englischen Sport abgegrenzt. Aus diesem Klärungsprozess ging in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der »Arbeitersport« hervor, der für Jahrzehnte einen bedeutenden Zweig der modernen Körperkultur ausmachte. Seit 1893 im Arbeiter-Turnerbund (ATB) organisiert, versuchte er ein eigenes Profil zu entwickeln und sich als drittes Modell gegenüber Jahns Turnkonzept und dem bürgerlichen (Leistungs-)Sport zu behaupten. Dabei wirkten Vorstellungen nach, die »Körperkultur« als Einheit physischer, rhythmischer und musischer Elemente zu begreifen. Doch setzten sich allmählich – neben Turnen, Gymnastik, Tanz, Akrobatik und Athletik – neue technische und Ballspiele durch. Arbeiterführer und sozialistische Intellektuelle gerieten in Erklärungsnot, wenn sie aus dieser Vielfalt alles ausscheiden wollten, was unter dem Generalverdacht stand, »Sport«, und damit der kapitalistischen Produktionsweise entlehnt zu sein und die Mechanik ihrer technischen Innovationen zu repetieren. Während diese klassenkämpferische Note im internationalen Arbeitersport abklang oder obsolet wurde, weil die Faszination des Sports ideologisch diffus wirkte, hielt sie sich als Legitimationsmuster im Sowjetkommunismus bzw. in den Ländern des späteren Staatssozialismus bedeutend länger. Im nach-revolutionären Russland war die Auseinandersetzung mit dem widersprüchlichen antiken Erbe, seiner nationalistischen Umformung im 19. Jahrhundert und seiner modernistischen Überhöhung Anfang des 20. Jahrhunderts noch einmal zeitlich gerafft und selektiv nachgeholt worden. Mit der beschleunigten Differenzierung physischer Betätigungsformen konnte die Theoriebildung indessen nicht Schritt halten. Eine Vielzahl von normativen Lehrwerken und Handbüchern polemisierte gegen das »bourgeoise« Sportmodell, folgte im Praxisteil aber vorrevolutionären russischen oder zeitgenössischen internationalen Mustern. Vom kontroversen Diskurs über Körperpraktiken und kinetische Innovationen überdauerte nur wenig das experimentelle Jahrzehnt nach der Revolution. An seine Stelle traten hybride Legitimationsstrategien, die den Brückenschlag zwischen »gesunder« Körperkultur und »athletischem« Sport leisten sollten. Sie duplizierten gleichsam die komplexen sozialökonomischen Begründungen der Neuen Ökonomischen Politik.

7 Michael Krüger, Körperkultur und Nationsbildung: Die Geschichte des Turnens in der Reichsgründungsära – eine Detailstudie über die Deutschen, Schorndorf 1996; M. Ruffini, J. Sivulka, Die historische Entwicklung der Sokolbewegung in Böhmen und Mähren im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Bezug auf das Deutsche Turnen, Phil. Diss., Bremen 2005.

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Immerhin war eindeutig, dass das Konzept des russischen »Turnvaters« Petr F. Lesgaft (1837–1909), der Fundus traditioneller Spiele im ehemaligen Zarenimperium, das grobmaschige Netz meist von Engländern gegründeter oder inspirierter Clubs sowie die Pfadfinderbewegung dem sowjetischen Sport als unverzichtbare organisatorische Ausgangsbasis dienten. Selbst die Idee einer »Allgemeinen militärischen Ausbildung« (Vsevobuč), die seit dem Frühjahr 1918 alle jungen Männer einer körperlichen Ertüchtigung für den Dienst in der roten Bürgerkriegsarmee zuführen sollte, und andere paramilitärische Strukturelemente des frühen Sowjetstaates folgten keiner genuin sozialistischen Tradition, sondern Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg.8 Insgesamt handelte es sich um den Versuch einer funktionalen Neuschöpfung eines Sportmodells, das der bolschewistischen und später der stalinistischen Erziehungs- und Mobilisierungsdiktatur als Medium gesellschaftlicher und politischer Vermittlung geeignet schien.9 Er wurde systematisch zu einer flexiblen Machttechnologie weiterentwickelt. Ihre Stärken bezog sie aus der Faszination, die Sport auf die Massen ausübte. Trotz seiner Vielfalt vertrauten Sportideologen auf sein vermeintlich eindeutiges Reglementierungspotential. Das Konstrukt eines »sozialistischen Wettbewerbs« imitierte dabei weniger sein »kapitalistisches« Gegenstück, als dass es vielmehr dem sportimmanenten agonalen Prinzip Tribut zollte. Es lief damit Attributen des internationalen »Arbeitersports« zuwider, der in der Tat eine alternative Körperkultur anstrebte.10 Mit der Gründung der Roten Sportinternationale kam es zur Spaltung. Die Sowjetunion wollte die Konkurrenz zur »bürgerlichen« Olympischen Bewegung allein anführen, tat damit aber einen entscheidenden politischen Schritt in Richtung auf eine Integration in den entstehenden Weltsport.11 Denn nach 1928, dem Jahr als letztmals eine Spartakiade (in Moskau) einer Olympiade (in Amsterdam) Paroli bot und für sich beanspruchte, den »wahren« Sport zu vertreten, wurde das »Proletarische« schrittweise abgelöst und – wie die ethnisch-nationale Disposition – ins »Sowjetische« überführt. Vor dem staatlichen Sportbetrieb waren in der Sowjetunion nun alle gleich. 8 Joshua A. Sanborn, Drafting the Russian Nation. Military Conscription, Total War, and Mass Politics, 1905–1925, DeKalb, Illinois, 2003, S. 137–139. 9 Dazu allgemein: David Priestland, Stalinism and the Politics of Mobilization. Ideas, Power and Terror in Interwar Russia, Oxford 2007. 10 André Gounot, »Between Revolutionary Demands and Diplomatic Necessity: The Uneasy Relationship between Soviet Sport and Worker and Bourgeois Sport in Europe from 1920 to 1937«, in: Pierre Arnaud, James Riordan (Hg.), Sport and International Politics: The Impact of Fascism and Communism on Sport, London 1998, S. 184–209. 11 André Gounot, Die Rote Sportinternationale 1921–1937. Kommunistische Massenpolitik im europäischen Arbeitersport, Münster 2002; Arnd Krüger, James Riordan (Hg), The Story of Worker Sport, Champaign 1996.

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Formvollendung und Abweichung In den Debatten über Körperkultur und Sport manifestierten sich widerstreitende politische Gruppeninteressen. Erst als dieser Streit politisch geregelt war, konnte ein hierarchisches System der Leitung, Kaderauswahl und Bewertung nach verbindlichen Kriterien eingeführt werden. Nach der Entscheidung für den beschleunigten »Aufbau des Sozialismus« Ende der 1920er Jahre rückte das sportliche Element der Körperkultur in den Blickpunkt. Der Leistungsgedanke aus der Ökonomie hielt Einzug in die Körpererziehung. Unter der Losung des »Höher, Weiter und Schneller« sollte das Land der Sowjets in das Industriezeitalter springen. Athletische und gesunde »Werktätige« marschierten in hohem Tempo voran, bauten das Land um und holten die Zukunft in die Gegenwart. »Schönheit« und »Kraft« des Sozialismus verbanden sich im gemeinsamen Werk. Im Allunionssportler sollten alle Energien des Imperiums zusammenfließen. Kollektivität und Uniformität fanden aber nicht erst jetzt zueinander. Seit dem Bürgerkrieg bildete das Zusammenspiel zwischen Rekrutenausbildung, Armeesport und Parade einen wichtigen Zweig öffentlicher Repräsentation. Hier war präfiguriert, was in den 1930er Jahren zu einem imposanten Panorama ausgestaltet wurde. Sportmotive nahmen darin einen zentralen Platz ein. Sie simulierten Modernität. Die Arbeiterolympiaden und Spartakiaden der 1920er Jahre wurden als traditionsbegründende Vorläufer des sozialistischen »Gesamtkunstwerks« ausgegeben, das in den grandiosen Sportparaden vollendete Form und Rhythmus fand. Entsprechend fungierten die neu geschaffenen Sportorgane als Bindeglieder zwischen staatlicher Administration und Gesellschaft. Sie überwölbten die anderen Massenorganisationen wie Komsomol oder Gewerkschaften, die ihrerseits eigene Sportkomplexe errichteten. Hier lagen die Ansätze zu einem Ertüchtigungs- und Wettbewerbssystem sui generis. Körperpolitik und Sportpraxis sollten bei der staatlichen Integrationsoffensive Hand in Hand gehen. In der Überzeugung, Sport tauge als Motor des gesamten sozialistischen Aufbauwerks, wurden die Programme zur kollektiven Körperertüchtigung zielstrebig und systematisch ausgebaut. Analogien zu den zeitgenössischen Diktaturen in Europa liegen auf der Hand. Trotz einander ausschließender Ideologien setzten sie gleichermaßen konsequent und aufwendig auf die Faszination des sportlichen Spektakels.12 »Masse« wurde in erhabener Homogenität und Harmonie vorgeführt. Ihr Gleichschritt sollte Macht, Entschlossenheit und Monumentalität ausstrahlen. 12 James A. Mangan, Shaping the Superman. Fascist Body as Political Icon, London 1999; Simonetta Falasca-Zamponi, Fascist Spectacle. The Aesthetics of Power in Mussolini’s Italy, Berkeley, Los Angeles u.a. 1997.

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In dieser Perspektive verwischten sich die Grenzen zwischen Uniform und Trikotage. Bewaffneter Sportler und sportlicher Soldat wurden austauschbar. Allerdings wiesen die Körperinszenierungen in den einzelnen Ländern, ungeachtet der Ähnlichkeit in Form und Muster, erhebliche Unterschiede in Zielsetzung und Wirkung auf: Beim sozialistischen Massenfest signalisierten die rasch wechselnden menschlichen Figurationen und die eingängigen politischen Losungen den Wunsch, einer in den Fundamenten erschütterten Gesellschaft Ordnung, Sicherheit und Gleichklang zu vermitteln.13 Im Stalinismus wurde beispielsweise das Fußballspiel zum kollektiven Mythos stilisiert. Analog zur Familienideologie der Zeit diente die Metaphorik des Sports dazu, abweichendes Verhalten zu markieren und die Vertreibung aus dem schützenden »Haus« (Stadion) anzudrohen.14 Bot der innere, geschlossene Raum Sicherheit und Geborgenheit, so herrschten im äußeren, ungeschützten Raum Chaos und Vernichtung. In der Zeichensprache des Sports bildete sich die reale Welt ab, sie schuf ein Ebenbild der Wirklichkeit.15 Im normativen Katalog erwünschter gesellschaftlicher Verhaltensweisen (kul’turnost’) erlebten nur ausgewählte Elemente der fizkul’tura – neben den nunmehr favorisierten des Sports – eine Renaissance.16 Im Vergleich damit herrschte in den nationalsozialistischen Choreographien das Schicksalhafte vor, unterlegt mit Motiven »völkischer Gemeinschaft« und rassenideologischem Kämpferkult. Hier wie dort fanden Bewegung und Kunst in einer spezifischen Massenästhetik zusammen. Sport wurde zum Muster für ein unbeschwertes, freies und schönes Leben, das allerdings erst noch hart erarbeitet und gegen übermächtige und allseits lauernde Feinde verteidigt werden musste.17

13 Karen Petrone, Life Has Become More Joyous, Comrades. Celebrations in the Time of Stalin, Bloomington, Ind. 2000; Malte Rolf, Das sowjetische Massenfest, Hamburg 2006; S. Ju. Malyševa, Sovetskaja prazdničnaja kul’tura v provincii: prostranstvo, simvoly, istoričeskie mify (1917–1927), Kazan’ 2005. 14 Vgl. Eliot Borenstein, Men without Women. Masculinity and Revolution in Russian Fiction, 1917–1929, Durham, London 2000, S. 125–161 (am Beispiel von Jurij Olešas Roman Zavist’); Keith A. Livers, »The Soccer Match as Stalinist Ritual: Constructing the Body Social in Lev Kassil’’s The Goalkeeper of the Republic«, in: The Russian Review 60 (2001), S. 592–613. 15 Jurij M. Lotman, Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur, Frankfurt am Main 2010, S. 258–269. Lotman erörtert das Verhältnis von Semiosphäre und Realität des »Hauses« am Beispiel von Bulgakovs Roman Meister und Margarita. 16 Vgl. Vadim Volkov, »The Concept of kul’turnost’: Notes on the Stalinist Civilizing Process«, in: Sheila Fitzpatrick (Hg.), Stalinism: New Directions, London 2000, S. 210–230. 17 Hubertus Gaßner, Eckhart Gillen, »Vom utopischen Ordnungsentwurf zur Versöhnungsideologie im ästhetischen Schein«, in: Hubertus Gaßner, Irmgard Schleier, Ka-

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Eine systematische komparatistische Untersuchung der sportmotivischen Semiotik und Metaphorik der Diktaturen und autoritären Regime des 20. Jahrhunderts, aber auch der demokratischen Gesellschaften steht noch aus. Wie der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus verband auch das stalinistische Regime mit der Körperkultur weitreichende politische, soziale und »menschbildnerische« Ziele.18 Neben einem Kernbestand ähnlicher Phänomene, Zuschreibungen und Erwartungen, die etwa den ausgeprägten Körperkult, die Monumentalarchitektur oder die Sozialpolitik betreffen, sind wesentliche Unterschiede aber unübersehbar. Sie betreffen etwa die Vereinsstrukturen, die Alimentierung von Sportlern und Funktionären, die soziale Basis einzelner Disziplinen, den Helden- und Starkult, die Entwürfe einer neuen Körperlichkeit, die ethnisch-nationalen Kontexte, die Popularität und gesellschaftliche Akzeptanz von Sportarten und nicht zuletzt die Fankulturen, in denen die transnationale Dynamik des Sports am unmittelbarsten wirkte. Schon die sowjetische Kollektivformensprache der 1930er Jahre zeichnete ein markanter individualistischer Zug aus. Aus den diffusen biopolitischen Konzepten zur Schaffung eines Neuen Menschen, die seit der Jahrhundertwende in Russland erörtert wurden, kristallisierten sich nun ein männlicher und ein weiblicher Idealtypus heraus.19 Ihre wohlgeformten, durchtrainierten, jugendlichen Körper ließen, mit modischem Sportdress gekleidet, alle Unbilden des Alltags, selbstverständlich aber auch jeden Klassenfeind leichtfüßig hinter sich.20 An der ethnisch heterogenen Peripherie des Imperiums verlief die Vermittlung moderner Körperkultur in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Einige Frauen nutzten die Emanzipationsmöglichkeiten, die der Sport bot. Sie rin Stengel (Hg.), Agitation zum Glück. Sowjetische Kunst der Stalinzeit, Bremen 1994, S. 27–59, bes. S. 30. 18 Fernando Esposito, Mythische Moderne. Aviatik, Faschismus und die Sehnsucht nach Ordnung in Deutschland und Italien, München 2011; Jutta Braun, René Wiese (Hg.), Sport und Diktatur. Zur politischen und sozialen Rolle des Sports in den deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts, Köln 2007; Brian Pronger, Body fascism. Salvation in the Technology of Physical Fitness, Toronto 2002; James A. Mangan (Hg.), Superman supreme. Fascist Body as Political Icon – Global Fascism, London 2000. 19 Evelyn Mertin, »Presenting Heroes: Athletes as Role Models for the New Soviet Person«, in: The International Journal of the History of Sport 26 (2009), S. 469–483. Über die ambivalente Bedeutung des Sports für die Gleichstellung der Frauen: Alison Rowley, »Sport in the Service of the State. Images of Physical Culture and Soviet Women, 1917–1941«, in: The International Journal of the History of Sport 23 (2006), S. 1314–1340. 20 Eindrucksvoll gestaltet etwa in den Sportgemälden Dejnekas oder in der künstlerischen Sportphotographie der Zeit. Später, während des Kalten Krieges, trat die Karikatur hinzu. Vgl. dazu Mike O’Mahony, Sport in the USSR: Physical Culture – Visual Culture, London 2006.

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gerieten dabei in Konflikt mit den patriarchalischen Verhältnissen, aber oftmals auch mit den wechselnden Frauenbildern der zentralen Parteielite.21 Internationale Jugendfestivals und Spartakiaden, später Weltmeisterschaften und Olympiaden, erlaubten Austausch- und Kommunikationsformen, die nur schwer kontrollierbar waren. Der hierarchische Sportkomplex stieß bei der Steuerung der in Spiel und Wettkampf freigesetzten Energien an seine Grenzen. Durch die Exklusivität und den Feiertagscharakter von Sportparaden und sportiven Großereignissen fanden unterschiedliche Gesellschaftskonzepte eine außerordentlich wirksame symbolische Verdichtung. Dieser Vorgang war offenbar nicht an die Zäsuren der Weltkriege gekoppelt. Unbestreitbar standen die Olympiaden von Berlin 1936, Rom 1960, München 1972 oder Moskau 1980 in sehr verschiedenen historischen Kontexten. Dennoch stehen sie für eine Kontinuität in der Anwendung und Umdeutung der Olympischen Idee bzw. der transnationalen sportlichen Kommunikation, die über Epochen-Brüche, ideologische Gegensätze und politische Systemgrenzen hinweg wirksam war.22 Mit der Ausrichtung der Spiele und anderer großer Sportereignisse wollten sich die gastgebenden Staaten international exponieren und im freundlichen Licht technologischen Fortschritts und modernen Lebensgefühls präsentieren.23 »Neutral« waren diese Mega-Events des 20. Jahrhunderts nicht, eher ein alternativer, innovativer Aushandlungsraum der Weltpolitik, dessen Regeln die traditionelle Diplomatie teils parallelisierten, teils ergänzten oder unterliefen. Sportler übernahmen Funktionen von »Botschaftern«, repräsentierten ihr Land und traten offiziell nicht im Eigeninteresse auf. Besonders differenziert kann dies am Beispiel der deutsch-sowjetischen Sportbeziehungen aufgezeigt werden.24 Sport überdeckte in der Nachkriegszeit politische Restaurationen und fortdauernde autoritäre Strukturen, zeigte aber ebenso politischen Wandel an und überhöhte ihn symbolisch oder ließ kulturelle Traditionen in neuem Glanz 21 H. Goscillo, A. Lanoux (Hg.), Gender and National Identity in Twentieth Century Russian Culture, DeKalb 2006. 22 Kay Schiller u. Christopher Young, The 1972 Munich Olympics and the Making of Modern Germany, Berkeley 2010; Holger Preuß, The Economics of Staging the Olympics. A Comparison of the Games 1972–2008, Cheltenham 2006; Alan Tomlinson, Christopher Young, Richard Holt (Hg.): Sport and the Transformation of Modern Europe. States, Media and Markets 1950–2010, London, New York 2011. 23 John Horne, Sports Mega-events. Social Scientific Analyses of a Global Phenomenon, Malden, Mass. 2006; David Rowe, Popular Cultures. Rock Music, Sport and the Politics of Pleasure, London 1995, S. 122–143. 24 Evelyn Mertin, Sowjetisch-deutsche Sportbeziehungen im »Kalten Krieg«, Sankt Augustin 2009; Michail Ju. Prozumenščikov, Bol’šoj sport i bol’šaja politika, Moskau 2004; Victor Peppard u. James Riordan, Playing Politics. Soviet Sport Diplomacy to 1992, Greenwich 1993.

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erscheinen. Solche politische Indienstnahme beschränkte sich nicht auf Deutschland, Italien oder die Sowjetunion.25

Sportiver Lebensstil Wie unscharf die Grenzen zwischen den vermeintlich grundverschiedenen Sportkonzepten waren, zeigen die Versuche, Sport und Körperkultur in den Ländern des »real existierenden Sozialismus«, d. h. unter den Bedingungen des Kalten Krieges, theoretisch zu legitimieren und als einzigartig auszugeben. Vordergründig folgten die »Sportlich-administrativen-Komplexe« des sozialistischen Lagers dem sowjetischen Modell. Allmählich traten aber mehr oder weniger ausgeprägt nationale Varianten des modernen Sports zutage.26 Turnund Sportfestivals setzten überall das Zusammenspiel von Sportlern, Übungsleitern, Choreographen und Komponisten voraus. Überall nutzten die staatlichen Medien das herausragende Kulturereignis, um es als Kunstwerk zu stilisieren und als Spiegel realer Verhältnisse zu postulieren.27 Diese Massenübungen repräsentierten im Herrschaftsdiskurs »sozialistische Lebensweise«. Auf den ästhetischen Effekt der Sportschauen pochten die Propagandisten besonders dann, wenn Leistungssport und Massensport als untrennbare Einheit erscheinen sollten. Je besser diese Verbindung bei den Inszenierungen glückte, desto näher glaubte man einem »Ethos des sozialistischen Sports« zu sein, das zugleich ein »sozialistisches Leistungsethos« abbildete.28 Unverkenn-

25 Vgl. dazu Christian Tagsold, Die Inszenierung der kulturellen Identität in Japan. Das Beispiel der Olympischen Spiele in Tokio, München 2002. 26 S. Wagg, D. L. Andrews (Hg.), East Plays West: Sport and the Cold War, London 2007; Arie Malz, Stefan Rohdewald, Stefan Wiederkehr (Hg.), Sport zwischen Ost und West. Beiträge zur Sportgeschichte Osteuropas im 19. und 20. Jahrhundert, Osnabrück 2007. 27 Rowley, »Sport in the Service of the State«; Petr Roubal, »›Today the Masses Will Speak‹. Mass Gymnastic Displays as Visual Representation of the Communist State«, in: Arnold Bartetzky (Hg.), Neue Staaten – neue Bilder? Visuelle Kultur im Dienst staatlicher Selbstdarstellung in Zentral- und Osteuropa seit 1918, Köln 2005, S. 323–336. 28 So ein Grundsatzbeitrag über Körperkultur und Sport im Sozialismus und ihr Verhältnis zur sozialistischen Lebensweise in der DDR-Zeitschrift Theorie und Praxis der Körperkultur aus dem Jahre 1977 (zit. Stefan Jacob, Sport im 20. Jahrhundert: Werden, Wirklichkeit, Würdigung eines soziokulturellen Phänomens, Marburg an der Lahn 22000, S. 149). Der Beitrag erschien anlässlich des VI. Turn- und Sportfestes des DTSB der DDR in Leipzig und der zeitgleichen VI. Kinder- und Jugendspartakiade mit etwa 61.500 Teilnehmern, von denen etwa ein Viertel an den Masseninszenierungen teilnahm.

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bar sollte das importierte sowjetische Modell nicht nur adaptiert, sondern auch perfektioniert und tendenziell re-nationalisiert werden.29 Wie die »sozialistische Lebensweise« (socialističeskij obraz žizni) zum Sport kam oder, umgekehrt, wie der moderne Sport zum Bindegewebe des »sowjetischen Lebensstils« wurde, wäre erst noch von einer vergleichenden Sportgeschichte zu untersuchen. Wenn der Sport stärker als andere Elemente der Freizeitkultur die Gesellschaften des 20. Jahrhunderts gleichermaßen in Bann zog, seien es Diktaturen oder Demokratien, besaß er offenkundig sowohl genuine Mobilisierungspotentiale als auch emanzipatorische Energien. In Verbindung mit dem Gesundheitstourismus und dem Massenkonsum schuf er ein Koordinatensystem, das zeitlich verschoben, unterschiedlich gewichtet und variabel einsetzbar verschiedene Wege zur »Modernität« abbildete. Von dieser gleichförmigen Ungleichförmigkeit zeugen Programme und Konzepte, Legitimationen und Distinktionen, deren Semantik trotz gleicher Begriffe und Metaphern differierte. Für das Jahrhundertprojekt »Neuer Mensch« bildeten Körperkultur und Sport tragende Säulen. Erstere stand für Ästhetik und Harmonie, letzterer für Dynamik und Wandel. So gesehen entfaltete sich die sowjetische Lebensweise in einem jahrzehntelangen widersprüchlichen Prozess, bevor sie in den 1970er Jahren kodifiziert wurde.30 In ihr verbanden sich unverändert Rudimente der Hygiene-Debatten der 1920er Jahre, des Kanons sowjetischer Lebensgestaltung der 1930er Jahre und des Modells vom »entwickelten Sowjetmenschen« der 1960er Jahre.31 Das Bild vom sportiven Menschen im Sozialismus verlor seine (klassen-)kämpferische Note niemals gänzlich. Allerdings büßte sie seit der Entstalinisierung und mit der zunehmenden Verflechtung der gegensätzlichen Gesellschaftssysteme deutlich an Schärfe ein. Der revolutionäre Impetus der frühsowjetischen Bewegungskultur löste sich im Konservatismus einer entleerten Integrationsideologie auf. Militärische Attribute wurden dem Sowjetsport stets nachgesagt. Für den Leistungsbereich, öffentliche Inszenierungen oder Pflichtprogramme in Schu-

29 Vgl. Molly Wilkinson Johnson, Training Socialist Citizens. Sports and the State in East Germany, Leiden, Boston 2008, S. 59–64. 30 Vladislav I. Stoljarov, Zigmund Kravčik (Hg.), Sport i obraz žizni. Sbornik statej, Moskau 1979. 31 Georgij L. Smirnov, Sovetskij čelovek. Formirovanie socialističeskogo tipa ličnosti, Moskau 31980; Nadežda Grigor’eva, »Zapros na igru: Homo ludens 1930–1940-ch godov kak predvoschiščenie obščestva razvlečenij 1960-ch godov«, in: V. I. Tjupa, O. V. Fedunina (Hg.), Sociokul’turnyj fenomen šestidesjatych, Moskau 2008, S. 161–174.

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len und Höheren Lehranstalten galt dies sicherlich sehr weitgehend.32 Indessen war die Körperkultur im Unterschied zu den zahlreichen Kampagnen der 1920er Jahre allmählich doch in die Alltagskultur eingegangen. Im Zuge der Normalisierung der Lebensverhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg, der Verkürzung der Arbeitszeiten, der Anerkennung des Bedürfnisses nicht nur nach Erholung, sondern auch nach »freier« Zeit und Konsum entstand im Schatten des Spitzensports ein vielfältiges System individueller und kollektiver körperlich-sportlicher Betätigung.33 Im Umfeld der großen Sportclubs in den Hauptstädten fanden auch private Aktivitäten abgegrenzte und apolitische Entfaltungsräume. Häufig fehlten dafür die infrastrukturellen Voraussetzungen, je weiter man sich von den urbanen Ballungsgebieten entfernte. Gleichwohl gehörten alternative Sportarten und der Zuschauersport zu den Fermenten sowjetischen Alltagslebens. Trotz zahlreicher Bemühungen und beträchtlicher Investitionen stieß indessen der offiziell propagierte Massensport in ländlichen Gebieten an unüberwindliche Grenzen. Selbst der Schulsport oder das Angebot regionaler und lokaler Vereinigungen, von industriellen und agrarischen Betrieben oder von Gewerkschaften und Genossenschaften konnten den Mangel an Gerät und Ausstattung selten ausgleichen. Im Vergleich mit vielen kapitalistischen Ländern war der Breitensport deutlich im Hintertreffen. Dennoch zählten Gymnastik, Bewegungsspiel und Ausdauerübung zu den selbstverständlichen Postulaten einer gesunden und bewussten modernen Lebensführung. Sowjetmensch zu sein bedeutete idealiter: sportlich aktiv zu sein.

Dynamik und Statik Als der Sozialismus in das Stadium der »Normalität« eintrat und ein gesicherter elementarer Lebensstandard in den Horizont der Sowjetbürger rückte, schwand die Bereitschaft, den weiterhin propagierten Sekundärtugenden Disziplin, Kollektivismus und Kameradschaft im öffentlichen Raum oder in der verlässlicher als früher abgrenzbaren Privatsphäre vorbehaltlos Genüge zu tun.34 Die regel32 Jim Riordan, Sport and the Military (With Special Reference to the USSR), Bradford 1976; Everett Mendelsohn, »Science, Scientists, and the Military«, in: John Krige, Dominique Pestre (Hg.), Science in the Twentieth Century, Amsterdam 1997, S. 175–202. 33 Vgl. Susan E. Reid, David Crowley (Hg.), Style and Socialism. Modernity and Material Culture in Post-War Eastern Europe, Oxford, New York 2000. 34 Dietrich Beyrau, »Das sowjetische Modell – Über Fiktionen zu den Realitäten«, in: Peter Hübner, Christoph Kleßmann, Klaus Tenfelde (Hg.), Arbeiter im Staatssozialismus. Ideologischer Anspruch und soziale Wirklichkeit, Köln, Weimar u.a. 2005, S. 47–70; Gabor T. Rittersporn, Malte Rolf, Jan C. Behrends (Hg.), Sphären von Öffentlichkeit in Gesellschaften

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mäßige individuelle Morgengymnastik, ein unverwüstlicher Mythos des sowjetischen Alltags, setzte, im Unterschied zur Produktionsgymnastik oder zu anderen gemeinschaftlichen körperlichen Aktivitäten, als nicht kontrollierbare Loyalitätsbekundung gegenüber dem offiziellen Wertekodex heroische Selbstüberwindung voraus. Sie versprach keinen unmittelbaren Vorteil, verlangte ein hohes Maß an Ich-Orientierung und Selbstdisziplin. Hier tat sich – exemplarisch für gesellschaftliche Einstellungen und Verhaltensweisen – eine Kluft zwischen den abstrakten Konstruktionen einer Wir-Identität und der alltäglichen Praxis auf. In diesem Übergangsbereich zwischen offizieller Kultur, der man aus Eigennutz Referenz erwies, und nicht-öffentlicher Sphäre, in der der Konformitätsdruck nachließ, entstanden sportbezogene Subkulturen und Gegenwelten.35 Worin genau ihr spezifischer Beitrag zu den Verschiebungen zwischen offiziell-öffentlicher und privat-öffentlicher bzw. kollektiven und individuellen oder alternativ-kollektiven Konnotationen bestand, die seit den 1960er Jahren zu beobachten waren, ist bislang wenig erforscht.36 In jedem Fall zeigen sich hier eigendynamische Momente der sowjetischen Gesellschaftsgeschichte und ihrer internationalen Ausstrahlung, die unterhalb der mit dem Staats- und Parteiapparat verwobenen administrativen Strukturen und jenseits des äußeren Erscheinungsbildes wirkten. Stilbildend für das sowjetische Sportsystem, wie es sich in den 1930er Jahren herausbildete und danach nicht mehr wesentlich änderte, war die unmissverständliche Zweckbestimmung, alternativlos zu erscheinen. Gegen die Ambivalenz der Moderne im Allgemeinen und des modernen Sports im Besonderen ging es um den Aufbau eines idealtypischen Modells. Von daher verband sich auch hier ein tief verwurzelter Fortschrittsglaube mit einem ambitionierten Planungsoptimismus.37 Wer nach höchster Organisation und Effektivität strebte, musste den Eigengesetzen des Spiels und der Suggestivkraft des Spontanen sowjetischen Typs. Zwischen partei-staatlicher Selbstinszenierung und kirchlichen Gegenwelten, Frankfurt am Main, New York 2003. 35 Am Beispiel von Fankulturen im Fußball: Manfred Zeller, »›The Second Stalingrad‹: Soccer Fandom, Popular Memory and the Legacy of the Stalinist Past«, in: Nikolaus Katzer, Sandra Budy, Alexandra Köhring, Manfred Zeller (Hg.), Euphoria and Exhaustion. Modern Sport in Soviet Culture and Society, Frankfurt am Main, New York 2010, S. 201–224; Robert Edelman, Spartak Moscow. The people’s team in the workers’ state, Ithaca 2009. 36 Vgl. Lewis H. Siegelbaum (Hg.), Borders of Socialism. Private Spheres of Soviet Russia, New York 2006; Petr Vajl, Aleksandr Genis, 60-e. Mir sovetskogo čeloveka, Moskau 2001, S. 206– 214. 37 Thomas Etzemüller (Hg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009; Anselm Doering-Manteuffel, »Ordnung jenseits der politischen Systeme. Planung im 20. Jahrhundert«, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 398–406; Lutz Raphael, »Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptio-

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misstrauen. Nicht zufällig glaubten die Architekten des sport-industriellen Komplexes, diese Unwägbarkeiten durch Regelung zähmen zu können. In ihren seit Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelten Konzepten für die Erziehung eines neuen Menschengeschlechts und die Formung eines funktionalen Gesellschaftskörpers spiegeln sich die Theorien moderner Arbeitsorganisation und transnationaler Expertenkultur, die in unterschiedlicher Weise physische Perfektion mit psychologischer Disziplinierung verbanden.38 Sukzessive und in wechselnder Kombination fanden Taylorismus, Fordismus, Biomechanik, Psychotechnik, Physiologie und Kybernetik in den Diskursen über Körperkultur und Sport Resonanz. »Wissenschaftlichkeit« versprach die Lösung aller Probleme. Es musste nur die nötige Anzahl Experten ausgebildet und auf die Praxis vorbereitet werden, um das ethnisch, sozial und kulturell heterogene Riesenreich zu einer Einheit zu formen. Das eingeschlagene Tempo bei der Umgestaltung des Landes öffnete alsbald die Schere zwischen Bedarf und Angebot an Sportkadern, obwohl hohe Investitionen in das Bildungswesen flossen. Insofern war die frühe Privilegierung des Spitzensports nicht nur dem Ziel geschuldet, den bürgerlichen Sport durch Rekorde zu überflügeln.39 Vielmehr resultierte sie ebenso aus der Ressourcenknappheit. Es verlangte Geduld und war extrem teuer, den Massensport flächendeckend auszubauen. Wirkungsvoller bei der Vermittlung des Erfolgsprodukts Spitzensport in alle Winkel des Imperiums waren die Medien, insbesondere Radio und Fernsehen.40 Sie vermittelten ein neues Gefühl, unmittelbar am Geschehen teilzuhaben. Zugleich popularisierten sie den Zuschauersport als Form passiven Konsums. Der ausgeprägte Technologiefetischismus verschärfte die Mangelsituation bei Fachpersonal und Gerät. Das Sportestablishment war entweder zu beständiger Innovation oder zur Entlehnung und Anpassung fremder wissenschaftlicher und technischer Systeme gezwungen. nelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts«, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193. 38 Susanne Schattenberg, »Stalinismus in den Köpfen. Ingenieure konstruieren ihre Welt«, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 94–117; Mark R. Beissinger, Scientific Management, Socialist Discipline and Soviet Power, Cambridge 1988; Kendall E. Bailes, »The American Connection. Ideology and the Transfer of American Technology to the Soviet Union, 1917–1941«, in: Comparative Studies in Society and History 23 (1981), S. 421–448; Melanie Tatur, Wissenschaftliche Arbeitsorganisation. Arbeitswissenschaften und Arbeitsorganisation in der Sowjetunion 1921–1935, Wiesbaden 1979. 39 Sowjetische Teams belegten bei 20 Weltsportereignissen seit 1952 16 Mal den ersten Rang in der Gesamtklassifikation. 40 Kristin Roth-Ey, »Finding a Home for Television in the USSR, 1950–1970«, in: Slavic Review 66 (2007), S. 278–306; Ellen Mickiewicz, Split Signals. Television and Politics in the Soviet Union, New York 1988.

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Gegen die wachsende Misere im Breitensport moderner Konsumgesellschaften vermochten Rekorde und Starkult wenig auszurichten. Bei den Spitzenathleten hingegen trugen »Sportwissenschaftler«, »Sportmediziner« und Pharmazeuten maßgeblich dazu bei, die Grenzen der Leistungsfähigkeit ständig nach vorn zu verschieben. Das »Staatsgeheimnis« Doping in der DDR ist inzwischen gelüftet. Vom sowjetischen Fall sind nur Bruchstücke bekannt.41 Privilegierter Nutznießer des massiven Ausbaus der sowjetischen Humanwissenschaften in den 1930er Jahren war zweifellos der Spitzensport nach dem Zweiten Weltkrieg. Mehr noch: Er war Anstoß, Experimentierfeld und Triebkraft des »wissenschaftlichen Sozialismus«. In den Vorformen des wissenschaftlich-technologischen Komplexes aus Biologie, Medizin, Physiologie und Genetik, der im Wettrennen des Kalten Krieges um die Vorherrschaft in den »Big Sciences« massiv ausgebaut wurde, wurzeln die Anfänge der sowjetischen Sportmedizin – eine interdisziplinäre Novität, die den gestiegenen Anforderungen eines komplexen Anwendungsgebietes gerecht werden sollte.42

Nachspiele Es wäre verfehlt anzunehmen, die sowjetischen Sportfunktionäre und Athleten seien nach der Revolution von der Hauptstraße des modernen Sports abgebogen und einen Sonderweg gegangen. Ganz im Gegenteil erkannten sie frühzeitig den weltweiten Trend zur Rationalisierung der Körperpraktiken und folgten ihm konsequent. Indem sie diesen zum Leitprinzip erhoben, nahmen sie Entwicklungen vorweg, die im Weltsport nach dem Zweiten Weltkrieg dominant wurden. Nicht nur die Verwissenschaftlichung der Sportsphäre, sondern auch ihre Kommerzialisierung und Mediatisierung erfuhren durch die Systemrivalität zusätzliche, starke Impulse. Auch der Wettlauf um die besten Methoden der künstlichen Körperoptimierung folgte dem Hauptpfad der Globalgeschichte des Sports. Armeesport und Produktionsgymnastik waren in ihrer Zeit nicht minder umstritten wie spätere andere Konzepte für Perfektibilität. Der Drang 41 Nikolaus Katzer, »Am Rande der Vollkommenheit: Aspekte einer Geschichte sowjetischer Körperoptimierung«, in: Klaus Latzel, Lutz Niethammer (Hg.), Hormone und Hochleistung: Doping in Ost und West, Köln 2008, S. 205–230. 42 Alexei B. Kojevnikov, Stalin’s Great Science: The Times and Adventures of Soviet Physicists, London 2004; Konstantin Ivanov, »Science after Stalin. Forging a New Image of Soviet Science«, in: Science in Context 15 (2002), Nr. 2, S. 317–338. Vgl. Klaus Gestwa, Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus. Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte, 1948–1967, München 2010; Loren R. Graham, What Have We Learned about Science and Technology from the Russian Experience?, Stanford 1998.

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nach Beschleunigung, Normierung und Vollkommenheit verband den Sport mit der Arbeitswelt. Die Gründe, warum der Sowjetsozialismus von Beginn an dazu neigte, Körperertüchtigung und Bewegungskultur zu reglementieren und zu systematisieren, lagen in der besonderen historischen Situation nach dem Ersten Weltkrieg und der Revolution, aber auch grundsätzlich in der chronischen Schwäche administrativer Strukturen in Russland. Führende Bol’ševiki hatten sich im Unterschied etwa zu den konservativen Eliten im eigenen Land oder zur Arbeiterbewegung und politischen Linken in Großbritannien Gehör für das Argument verschafft, dass der Sport ein Machtfaktor und eine flexible Ressource beim Aufbau des Sozialismus sein könne.43 Wann immer zum Kampf gegen die Hydra »Rückständigkeit« geblasen wurde, vom Sport erwarteten seine Befürworter wundersame Heilungseffekte. So wie der »proletarische« zum »sowjetischen« Sport mutierte, ebenso zielte die gestufte Sozial- und Nationalitäten-Politik wenig später auf ethnische Homogenisierung und die Schaffung eines »Sowjetvolkes«. Schon aus den Programmen der paramilitärischen Kurse der Bürgerkriegszeit, als analphabetische und untrainierte Bauernsöhne kurzfristig zu kampffähigen Rotarmisten gemacht werden mussten, resultierte ein straffes Regime der Zeitökonomik und motorischen Schulung. Das in den dreißiger Jahren geformte Massenprogramm »Bereit zur Arbeit und Verteidigung» (Gotov k trudu i oborone, GTO) versuchte die Ausnahme zur Regel zu machen und wurde bis in die späte Sowjetzeit tradiert.44 Es büßte seine integrative und mobilisierende Kraft erst ein, als die Teilnahme zur bloßen Routine geworden war. Der Modernitätsschub durch Sport war für die Sowjetgesellschaft Ende der 1970er Jahre weitgehend aufgezehrt. An der Rolle des Staates als Hauptsponsor des Sportsystems bestand niemals ein Zweifel. Ein verzweigtes System von Gratifikationen und Privilegien band den Sport an Armee, Geheimdienst, Unternehmen und Gewerkschaften. Die Erfolge des Spitzensports und die Selbstbeschreibung der Sowjetunion als »Sportnation« und »sozialistische Gesellschaft in Bewegung« erklären sich nicht allein aus dem Staatsmonopol, sondern beruhen wesentlich auf diesen »patrimonialen« Netzwerkstrukturen. Der »Staatsamateur« war in ein Klientel-Verhältnis mit einem Patron (Mäzen) in Behörde, Betrieb oder Massenorganisation eingebunden.45 Entsprechend wäre es zu kurz gesprungen, die wachsende 43 John Hargreaves, »The body, sport and power relations«, in: John Horne, David Jary, Alan Tomlinson (Hg.), Sport, Leisure and Social Relations, London, New York 1987, S. 157. 44 Georgij Demeter, Očerki po istorii otečestvennoj fizku’ltury i olimpijskogo dviženija, Moskau 2005, S. 210–212. 45 Vgl. allgemein zu diesem Aspekt Andreas Oberender, »Die Partei der Patrone und Klienten. Formen personaler Herrschaft unter Leonid Brežnev«, in: Annette Schuhmann (Hg.),

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Rolle postsowjetischer Oligarchen im Sport unbesehen mit amerikanischen Investoren gleichzusetzen. Aussichtsreicher ist es, den Zusammenhang zwischen Sportmodell und sozialer Ordnung nicht nur am Einzelfall zu untersuchen.46 Körperkultur und Sport sind heute in der Wertschätzung der russischen Bevölkerung deutlich gesunken. Während das offizielle Neue Russland bestrebt ist, wieder in die erste Reihe potenter Ausrichter moderner Mega-Events vorzurücken, hat sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung von jeder aktiven sportlichen Betätigung abgewendet. Mit der Olympiade 2014, der FußballWeltmeisterschaft 2018 und einem Rennen der Formel 1 eroberte die russische Regierung binnen Jahresfrist gleich drei Trophäen bei der modernen Jagd nach Superlativen im Weltsport. Bis diese Großereignisse stattfinden, wird aber der Zuschauer und Mediensportkonsument zurückgewonnen werden müssen, denn auch bei ihm hält sich die Begeisterung in Grenzen.47 Vom homo sovieticus sportivus ist kaum mehr als eine nostalgische Erinnerung geblieben. Als Variante des modernen Sportlers blieb seine Erziehung ein unvollendetes Experiment, ebenso wie der Versuch, den »proletarischen Sport« zu einem exklusiven Modell im Weltmaßstab zu formen.48

Vernetzte Improvisationen. Gesellschaftliche Subsysteme in Ostmitteleuropa und in der DDR, Köln 2008, S. 57–76. 46 Exemplarisch dafür die ältere Studie, die vorwiegend dem amerikanischen Beispiel gewidmet ist: Donald W. Ball, John W. Loy (Hg.), Sport and Social Order. Contributions to the Sociology of Sport, Massachusetts, London 1975. Breiter angelegt ist der Kongressband: Ilse Hartmann-Tews (Hg.), Sport and Social Order. Challenges for Theory and Practice, Köln 2003. 47 Siehe das statistische Material bei Boris V. Dubin, »Sport v sovremennych obščestvach: primer Rossii«, in: Vestnik obščestvennogo mnenija: Dannye. Analiz. Diskussii 2004, Nr. 2 (70), S. 70–80. 48 Als Beispiel für die schwierige ideologische, aber auch die sachliche Unterscheidung zwischen »neutralem«, d. h. nicht klassengebundenem sowie »kapitalistischem«, »sozialistischem« und »Arbeitersport« siehe Helmut Wagner, Sport und Arbeitersport, Berlin 1931.

Geopolitical Visions in Russia The Post-Soviet Interpretations Olga Pavlenko For nearly twenty years debates about Russian/post-Soviet identity have been conducted by different groups in society and have focused on the constant “Russian questions”: What are Russia and the “Russian world”? Where are its imagined borders? What does the “virtual national sphere” include? What are the foundations of the Russian polity? What role should Russia play in world affairs and what is its place in the hierarchy of global powers? Who are its allies and foes? Is Russia a “superpower”? What are the resources and the potential of Russia’s international influence? The list of such questions is almost endless. The discussions held by different circles of politicians, academics and experts reveal a diversity of views and conceptions. Still, it is the Soviet geopolitical experience that holds back Russian intellectual efforts. It is not surprising that, while constructing vertical and horizontal hierarchies of the modern global order, the Russian authors proceed from the extremely exaggerated thesis that “Russia is a world power”. Yet they often avoid applying functional analysis of its resources and capabilities. This leads to a dominance of state-centric patterns of describing and forecasting international processes. It is worth noting that due to its history, territory, geopolitical location and nuclear status, Russia does possess significant status in the world. But its degree of influence on the international agenda varies in each and every case. Undoubtedly, the Kremlin has been “magically” influencing Russian intellectuals, who have sensibly responded to shifts in the power paradigms. This basic factor has defined the substance of descriptive patterns in Russian foreign policy. Quite often foreign policy expertise has been reduced to mere commentary rather than a constructively critical dialogue between analytical think-tanks and the authorities. The period of “acquiring the past” was characterized not only by the traditional bias of Russian intellectuals toward state-centric matters but also by the widespread “fashion” of inventing geopolitical theories.1 An “ideological pattern of negation” plays a no less important role in the post-Soviet construction 1 Olga Pavlenko, “Russia’s Foreign Politics in Research: The Themes for the Discussions”, in Readings in the Humanities at RSUH-2008: Plenary Sessions. Interdisciplinary Roundtables, Moscow: RGGU, 2008, pp. 171­–184; Galina Zvereva, “Prisvoenie proshlogo v postsovets-

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of collective identity, having become the most important element of the power projects which started every new cycle of Soviet history. Over the course of the USSR’s existence, official Communist discourse remained stable, despite changes of policy and cabinet reshuffles within the supreme leadership. The result was a paradoxical effect: each time the new party in power had to start from the beginning again. The political discourse was reformulated on the basis of efforts to discredit previous policies and historical experience. The only thing that remained unchanged was the primacy of Communism and general perceptions about it as the highest phase of the Soviet political process. The Bolsheviks rejected Russia’s imperial past and advanced the watchword of Communism. In Joseph Stalin’s era, the real history of the revolutionary movement and the October Revolution were condemned to oblivion. The older Bolsheviks, Lenin’s compatriots, were eliminated, and Leon Trotsky’s role in the formation of the Red Army and the victory of the Communist Party were forgotten. In its place, a cult was created of Joseph Stalin as the leader of nations and as the most “genuine and loyal of Lenin’s disciples”. Forcible collectivization, industrialization and the Cultural Revolution unfolded in the name of a “forthcoming Communism”. After his death, the cult of Stalin as a “great fighter for Communism” was overturned in the turbulent decade of Nikita Khrushchev. Anti-Stalinism became the major characteristic of the Soviet 1960s. It was important for Khrushchev to persuade the country that he was returning the party and the Soviet state to its origins – i.e., to Lenin – thus purifying it from authoritarian Stalinism.2 Never before had the personality of Lenin received such a large-scale cult mythologization as it did in the late 1950s and early 1960s. Lenin’s image became a sacred symbol, the oracle of official ideology. The October Revolution and the Civil War (without Trotsky and almost entirely without Stalin) became the basic mythologems of Soviet statehood.3 koj istoriosofii Rossii”, in Olga Pavlenko (eds.), Modern. Modernizm. Modernizatciya, Moscow: RGGU, 2004, pp. 292–323. 2 Olga Pavlenko, “Zwischen Pragmatismus und Ideologie. Der sowjetisch-amerikanische Verhandlungsprozess in der Chruschtschow-Ära”, in Stefan Karner, Barbara Stelzl-Marx, Alexander Tschubarjan (eds.), Der Wiener Gipfel 1961: Kennedy – Chruschtschow, Innsbruck, Wien et al., 2011, pp. 255­–258. 3 See: Levon Abramyan., “Lenin kak trikster”, in Marina Akhmetova (ed.), Sovremennaya rossijskaya mifologiya, Moscow, 2005, pp. 75–76; Tat`yana Luzina, Mif “razvyornutogo stroitelstva kommunizma” v sovetskom obshhestve v seredine 50-x-nachale 60-x gg. XX veka, Dissertaciya na soiskaniie stepeni kandidata istoricheskich nauk, Izhevsk, 2002; Aleksandr Fokin, Obrazy‘ kommunisticheskogo budushhego u vlasti i naseleniya SSSR na rubezhe 50-

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All of that, as Khrushchev assumed, should have been sufficient for ousting the cult of Stalin from public consciousness. And it should have provided Soviet citizens with new perspectives. Yet while the effect of mobilization was strong, it did not last long. By the second half of the 1960s, when Khrushchev was deposed from his party, the new leadership under Leonid Brezhnev accused Khrushchev of voluntarism, authoritarian methods of governing and of violating the same “principles of Lenin”. When perestroika was launched by M. Gorbachev, Brezhnev’s “policy of stagnation” was subjected to criticism. At the end of the 1980s and beginning of the 1990s, Boris Yeltzin and his supporters created the post-Soviet ideological system, in turn accusing Gorbachev of artificially controlling democratic processes. In the 2000s a new discriminatory image had emerged of the “evil, criminal 1990s”. All these “negations” in the Soviet – and then in the post-Soviet – system resulted in a vicious circle, the objective of which was to develop tactics of holding power at any price instead of strategies for modernizing the state system and substantively changing Soviet – or post-Soviet – society. Extraordinarily hierarchical in its structure and communicative practices, Soviet ideology maintained the “Communist” myth unchanged, notwithstanding the transformations which had taken place. The sense of the state and party processes in the USSR needed to be specified – who were we, where were we going, what principles were guiding us? The stability of the system and capacity for mobilization depended on a scheme that was clear and understandable. The illusions and hopes of the public depended on it – another reason why those in power, starting a new cycle each time, attempted to inspire people by discrediting the past. Historians, philologists and culture scientists are now showing greater interest in deciphering the Soviet party texts and the complex system of the “Soviet political language”. For without such analysis, it is impossible to understand both the codes of official Soviet discourse and contemporary post-Soviet rhetoric. Surprisingly, traditional Soviet symbols and perceptions have been

60-x gg. XX veka, Chelyabinsk, 2007; Andrei Trofimov, Sovetskoe obshhestvo 1953–1964 godov v otechestvennoj istoriografii: politika i e`konomika, Dissertaciya na soiskanie uchenoj stepeni doktora istoricheskix nauk, Ekaterinburg, 1999; Viktor Dryndin, Istoriya propagondirovaniya postulatov gosudarstvennoj ideologii v usloviyax nachala demokratizacii Sovetskogo obshchestva (na materiale Yuzhnogo Urala seredina 50-x- seredina 60-x gg.), Dissertaciya na soiskanie uchenoj stepeni kandidata istoricheskich nauk, Orenburg, 1997; Natal`ya Kovtun, Russkaya literaturnaya utopiya vtoroj poloviny‘ XX v., Dissertaciya na soiskanie uchenoj stepeni doktora filologicheskix nauk, Tomsk, 2005.

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continually reiterated, albeit disguised by external nominalization.4 There is no overstating the prevalence of geopolitical concepts of “vital space” and “world/regional leadership”, or of the idea of centralized, individualistic power. This vast country with a large population originally had two assets: territory and rich mineral resources. Yet it also suffered from a one-sided resource economy, an outdated infrastructure, and underdeveloped transportation and communication systems. After the collapse of the USSR, the former mobilization strategies that directed this complex space lost their meaning. Power as well as society needed new ideological constructs that could help unify the diverse regional entities within Russia’s territory. But even the first experience of constructing a post-Soviet ideology demonstrated that visions of the “space” and “its historic territories” overshadowed other reasoning on the quality and dynamics of democratic development. Vladimir Kolosov, a Russian scholar, explained the situation as exemplifying the post-Soviet mentality, thereby implying that the society needed a compensatory ideology. This gap would be filled by the works of the founders of German geopolitics, Haushofer and Ratzel. In the first half of the 1990s, their books were translated several times owing to the increased demand for such literature.5 This process commenced on the threshold of the 1980s and 1990s, and it acquired powerful momentum following the collapse of the U.S.S.R. The realization of Russia’s geopolitical failure in the Cold War boosted the creation of various compensatory models which served to assign Russia the role of a fullblown and equal actor in international relations. The majority of experts, regardless of politics or methodologies, participated in establishing geopolitical models (A. Gadjiev, S. Kortunov, V. Tzimburski, A. Panarin, A. Dugin, K. Sorokin, and D. Trenin).6

4 See, for example: Patrik Serio, “Russkij yazy’k i sovetskij politicheskij diskurs: analiz nominalizacii”, in Patrik Serio (ed.), Kvadratura smy‘sla: Francuzskaya shkola analiza diskursa, Moscow, 1999, pp. 352–353; Mircha Eliade, Izbranny‘e sochineniya. Mify‘ o vechnom vozvrashchenii, Moscow, 2000. 5 Vladimir Kolosov, Geopoliticheskoe polozhenie Rossii: predstavleniya i realnost`, Moscow, 2000. 6 See, for example: Vladimir Kolosov, Nikolai Mironenko, Geopolitika i politicheskaya geografiya, Moscow, 2002; Vladimir Kolosov, “Rossijskaya geopolitika: tradicionny‘e koncepcii i sovremenny‘e vy‘zovy‘”, in Obshhestvenny‘e nauki i sovremennost`, No. 3, 1996, pp. 90­–94; Konstantin Sorokin, Geopolitika sovremennosti i geostrategiya Rossii, Moscow, 1996; Aleksei Smirnov, “Urovni geopoliticheskogo vospriyatiya dejstvitelnosti v sovremennoj Rossii”, in Vestnik MGU, Vol. 12: Politicheskiie nauki, No. 3, 1999.

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Marina Lebedeva, one of the leading Russian researchers of the world political process, also observes such a trend. In explaining the increased attention of Russian political scientists to state-centred world models, she points at what could be motivating it: 1) Russia’s historical tendency toward a strong centralized state; and 2) the psychological reaction of post-Soviet society to weakened state power in the 1990s and the loss of global (“superpower”) geopolitical status.7 Threatened by “loss of status”, the Russian political class began to accept the theoretical heritage of German and Anglo-Saxon geopolitical schools of the early twentieth century. This led to the formation of entrenched myths of “heartland” and “global conspiracies” as well as perceptions that Russia was the key to global stability. Beginning in the early 1990s, discussions of Russia’s role in the modern world were conducted in accordance with the traditional “comparative” pattern elaborated (as early as) in the middle of the nineteenth century. It included the ideas of two groups: “Westerners” (“zapadniki” as they are called in Russia) and “anti-Westerners” (“antizapadniki”). The most widespread group among the latter were “traditionalists” and “Russian communitarians” (“pochvenniki”). It seemed as if history were repeating itself. The debates were no less emotional than in the past but were now accompanied by the “sweet aftertaste” of historiosophy. As in the nineteenth century, affective accounts prevailed over functional, pragmatic ones. A full range of combinations were constructed between these theoretical extremes. The descriptive patterns and political analysis directly depended on the “ideological filters” in the minds of the researchers. At the absolute level, such filters controlled the selection of information and determined what kind of comments were made. Apart from the influence of individual and collective preferences, “self-censorship” took place in many cases. There are several models for systematizing the broad flows of ideas and approaches that are a part of the Russian research community. One generalizing pattern was proposed by Ivan Tyulin, vice-rector of the Moscow State Institute of International Relations. He identified two main groups. The first consisted of the proponents of the “conservative approach” while the second included proponents of “liberal” views. A geopolitical paradigm was chosen as the criterion. The conservative approach (here Tyulin cites works by A. Dugin, L. Ivashov, S. Kortunov, A. Panarin and E. Pozdniakov)

7 Marina Lebedeva, Mirovaya politika i problemy‘ prepodavaniya mirovoj politiki v rossijskix vuzax. Desyat` let vneshnej politiki Rossii, Moscow, 2002, p. 765.

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was based on the absolutization of the state-centrist model, of the school of political realism, and of the neo-Eurasianism also being elaborated at that time.8 The second group, representing a liberal approach (according to Tyulin), consisted of researchers who proceeded from the realization that Russia needed closer transatlantic cooperation in business, finance, information technology, communication, environment and security. (Examples cited here are V. Baranovski, A. Zagorski, V. Inozemtsev, V. Kulagin, M. Lebedeva, A. Melvil, A. Piontkovski, V. Sergeev, D. Trenin, E. Fyodorov and L. Shevtsova.) It was impossible to think of Russia in terms of a “superpower”. Rather, it became necessary to develop a strategic culture of searching for tools to adapt to globalization. These encompassed “comparative advantage” and strategies of competition with other countries as well as searching for the most advantageous place for Russia in this process. For the liberals, Russia should have joined the process of creating the new Europe, and it should have abandoned the tactics of political and ideological standoff between East and West, instead favouring the framework of a united European civilization.9 But Tyulin’s prioritization of the intellectual environment made political rather than academic sense. It expressed the civic position of scholars in lieu of a research methodology. That is why geopolitics in Russia has not yet become a full-scale scholarly topic. A great number of texts and books on geopolitical issues have been produced. Departments and even an academy for geopolitical problems have been opened. Yet there is still no totality of academic norms, principles and methods for developing professional competence. For geopolitical visions have been too deeply integrated in the historical matrix of collective consciousness, from the concept of “Moscow as a Third Rome” to public discussions of Slavophilism with Westernizers, Pan-Slavic constructs of a “Russian-Slavic world” and N. Y. Danilevski’s dichotomy of “Russia/West”. Geopolitical visions in the Russian intellectual tradition are closely connected with perceptions of the state and its territorial or resource imperatives as the main subjects of political action. Social Studies of International Relations (2006), written by a father and his son – P. A. Tsygankov and A. P. Tsygankov – proposes another type of analysis. Their multi-level research presents a wide spectrum of Russian political thought. They undertake a detailed analysis of trends and identify various groups of authors and directions. In systematizing the views of modern liberals in Russia, the Tsygankovs identify three separate trends: “modernizers”, “national demo8 Ivan Tyulin, “Novy’e tendencii v rossijskix issledovaniyax mezhdunarodny’x otnoshenij”, in Anatoliy Turkunov (ed.), Sovremenny‘e mezhdunarodny‘e otnosheniya i mirovaya politik, Moscow: MGIMO, 2004, p. 57. 9 Ivan Tyulin, ibid., pp. 62­–63.

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crats” and “institutionalists”.10 Among researchers, this analysis has attracted the most attention and (doubtless) sympathy. The book reveals not only consolidated positions but also deep differences surrounding the three key concepts of intellectual-political discourse: the world order, “sovereignty and the national interest” and “foreign policy directions”. Indeed, the liberal (“Western-oriented”) approach shaped a system of analysis of Russian democracy in the second half of the 1980s that became especially popular in the first years following the collapse of the U.S.S.R. The liberal approach also designated this theory “democratic transit”; it prevailed in the first half of the 1990s as Western descriptive and conceptual patterns were being transmitted to the Russian political domain. To a certain extent, Russian researchers lacked their own definitions since there were only a small number to be found in the deficient methodological base of Marxism-Leninism. Many theories and ideas of Anglo-American, German or French schools that had appeared belatedly in Russia were now regarded as the latest research. They were not always translated well. New concepts and models of world interaction were based upon such knowledge. But as the Russian academic A. Chubarian put it, a number of Russian scientific schools were appearing, enhanced by these new methods and interdisciplinary methodologies, at a time when freedom of creativity played a central role with new approaches emerging out of the multiple foreign concepts.11

10 The author regards the advocates of the pro-Western trend as modernizers (in particular Andrei Kozyrev and Egor Gaidar). They are convinced that Russia has no alternative to integration with the West. By contrast, “institutionalists” believe that Russia needs to join international organizations rather than “modernize”. This does not rule out criticism of the existing global international organizations. Within this trend, Pavel Tsygankov and Andrei Tsygankov identify two competing groups, the first regarding the sovereign state as an outdated actor (Yuri Krasin, Boris Kapustin, Marina Lebedeva) and the second arguing that international organizations defend and reshape the role of the nation-states (Yuri Davidov). The authors of the book believe that the ideas of the “National Democrats” are close to those of the moderate institutionalists, but contend that “Russia does not need to copy any patterns or rely on the international organizations.” Instead it needs to find its own way in order to integrate its cultural peculiarities and move toward the global economic and political system. This group defends the interests of multilateral diplomacy. It includes Kamaludin Gadjiev, Michail Abolin, Leonid Polyakov, Sergey Kortunov, Boris Makarenko (Pavel Tsygankov, Andrei Tsygankov, Sociologiya mezhdunarodny’x otnoshenij, Moscow: MGIMO, 2006, pp. 27–31). 11 Aleksandr Chubarian, “Osnovny’e e`tapy’ vneshnej politiki Rossii”, in Anatoliy Torkunov (ed.), Sovremenny’e mezhdunarodny’e otnosheniya i mirovaya politika. Uchebnik, Moscow, 2004, pp. 29–31.

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The geostrategic model of the Western approach was based on the perception that Russia belonged to the civilized West on account of its values and experience with modernization. Rapprochement with the EU and the U.S.A., consensus with them about foreign affairs, development of business cooperation, and enhanced integration into the “superpowers’ club” (through applying for membership in NATO and/or the EU) – all these were thought to attract investment and modernize Russia’s economy. The protagonists of such Westernization created models for Russia’s integration into Atlantic civilization as well as for Westernization within the boundaries of the state (A. Yanov, A. Ahiezer). This blend of “liberal Western approaches” created a public illusion that Russia might be integrated as a full-blown partner into the league of leading countries. In the late 1990s and early 2000s, Professor Alexander Ahiezer developed a sociocultural methodology for analysing Russian society. His interpretation applied C. Levi-Strauss’ methodology. He introduced the category of the “dual opposition” in order to reflect the historical duality of Russia. For Ahiezer, the dynamism in the country’s development could be explained by constant interaction of two paradigms –“constitutional-democratic” and “Slavophile-royalist”. This created a specific situation: an inherent sociocultural division of Russian society. Only by analysing the dynamics of these opposing paradigms – their mutual interpenetration and destruction – was it possible to understand the cycle of dominance of one or the other. In Ahiezer’s works, which were unfortunately underestimated in Russia, conceptual categories were used for reflecting social reality (decision, the national catastrophe, archiving, etc.) and methodological ones for applying sociocultural analysis (dual opposition, ambiguity, measurement, interpretation, etc.).12 Despite a certain speculative quality to his research and the absence of a large empirical base, I find that he managed to escape the methodological deadlock resulting from Russian intellectuals’ (extreme) enthusiasm for geopolitical imperatives. As an alternative, Ahiezer insisted on extrapolating cultural-scientific methods while introducing the categories of “culture” and “morality” into a broader social context. He was the main opponent of interpretations that were “Slavophilic” or nationalist. Yet he also clearly realized the necessity of overcoming the narrow limits of the opposing paradigms by admitting the inherent nature of their dualist interaction.

12 See his main works: Aleksandr Ahiezer, Dinamika rossijskogo obshhestva: vklad v nauku. Trudy’, Moscow: Uchitel, 2006, 408 pp.; Aleksandr Yanov, Aleksandr Ahiezer, Aleksei Davy’dov, Kak istoriki ob``yasnyayut istoriyu? I mozhno li ob``yasnit` istoriyu istoriej?, in Znanije-sila, 2001, No. 3, pp. 21–43.

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In the meantime, however, concepts created under the influence of geographic determinism became more popular. Intellectual foreign patterns became dominant in the middle of the 1990s. By that time the first attempts had been made to formulate a homegrown conceptualization of international relations in which researchers attempted to make use of traditional Russian political thought and archetypes of consciousness. Geopolitics functioned as an antipode in that historical moment to the political idealism of the Gorbachev era and to B. Yeltzin’s first years in power. Indeed, the neo-Eurasianist paradigm had such enormous appeal in the second half of the 1990s that it became the first post-Soviet integration project after the collapse of the USSR. Even the official texts of the Russian Ministry of Foreign Affairs deployed the “civilizational” principle of neo-Eurasianism. The second half of the 1990s was characterized by references to the historical experiences of the Russian diplomatic school, by reevaluations of Soviet diplomatic strategies and by a deep interest in its legacies. Both academic and public discourses revealed the growing significance of “Eurasian civilization” as well as “Russian civilization”. This new “civilization” approach was integrated into the former geopolitical system of analysis. Personalities such as Duke A. M. Gorchakov, who had headed the Ministry of Foreign Affairs from 1853 to 1855 in the midst of the country’s diplomatic isolation, became increasingly popular. The diplomatic strategy of “concentrating resources”13 that he had devised in the middle of the nineteenth century achieved rehabilitation after a one-and-ahalf century hiatus. Russia’s integration into the system of international alliances not only gave it great power. Russia was constantly challenged with the task of finding an optimal balance between its international commitments, its own interests and the material resources that it should have been provided with. This gap between Russia’s foreign policy strategy and its resource capabilities had triggered grave setbacks in the Crimean War (1853–1855) and later in the Russo-Japanese War (1904) and the First World War (1914–1918). Another analogy might be the way the Soviet Union was overextended in the arms race of the second half of the twentieth century, the consequences of which are well known. Modern Russian “multilateral” diplomacy was enhanced by a strategy of “political equilibrium” and by a concentration of efforts at domestic reform (as formulated by Gorchakov). It was quite normal 13 A famous phrase from the 1866 Report of the Ministry of Foreign Affairs was: “Everybody is thinking that Russia is angry, but it’s concentrating its resources”. See also: Olga Pavlenko, “Vneshnyaya politika Rossii: 1992–2008 gg.”, in Aleksandr Bezborodov (ed.), Otechestvennaya istoriya novejshego vremeni, Moscow: RGGU, 2009, pp. 502–609.

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to emphasize that Russia’s objective was not to slow down the implementation of its foreign policy but to make it commensurate with the state’s actual resources. On the one hand, the neo-Eurasianist paradigm targeted the multilateral strategy of foreign policy. On the other hand, it presupposed balanced pragmatic policymaking. It involved piecemeal development, with the state first using its resource-based potential and then embarking on a complex modernization. There were no isolationist strategies in the domain of foreign policy. Freedom of action and pragmatic maneuvering between East and West were presupposed. Only a narrow circle of experts shared the idea of moderation in the second half of the 1990s. In addition to the notion of explicit loyalty to the West, Russian society was flooded with new views and interpretations of the “Russian national idea”. Ideas of interaction and interdependency went into retreat. Geopolitical isolationism, imperial thinking and the syndrome of a weak, humiliated country could all be found in countless debates. The themes and arguments shifted considerably in political and academic discourses. By that point, most of Russia’s political class understood what a great responsibility the process of choosing the paradigm of state development could be. If earlier the debates mostly had a philosophical-theoretical significance, near the end of the century they were of immediate political importance. Discussions were held on the issues of Westernism, Eurasianism, anti-Westernism, and statism. Each of these trends created its own model of geostrategic choice. Authoritative academicians and politicians supported one or the other idea depending on historical traditions as well as methods of guiding and predicting foreign policy. By then, the general conceptual pattern for Russian research had been established. Globalization had been described time and again in terms of geopolitical imperatives. The other methods of analysis were used indirectly and only in particular situations. The geopolitical approach had prevailed over the views of international realpolitik, creating a specific pattern that included different analyses and forecasts of Russia’s role in the world. The renaissance of “critical geopolitics” in the 1990s and early 2000s was a distinct feature in many nations. This fashionable trend was not unexpected in the academic and the expert communities because it originally corresponded to traditional ways of thinking in the Russian political class. In 1998 the academic L. Abalkin outlined the main features of Russian geopolitical thinking. For modelling the future of international relations, he identified three global scenarios: 1) a dominance of the U.S. “superpower” as the world leader;

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2) a dominance of the world elite (the so-called “rich world”), strictly controlling the global markets by means of transnational companies and by political lobbies of the leading economies; 3) a multipolar world with six to eight regional groups in their zones of attraction and influence that could establish the interoperability and diversity of the civilizational areas.14 He considered the third scenario the best for Russia’s future. But the development of global processes followed such an intricate and unpredictable path that in essence all three scenarios could be observed. At the same time, the Russian geopolitical tradition, no matter which models of world development had been created, was characterized by a significant degree of attention to Russia’s role and place. Whatever the geopolitical models were, as a rule they integrated three themes: 1) Russia’s integration in the world economic and political system, guided by the pattern of basic actor/incorporated member/outsider; 2) the predictable stability of the domestic situation and economic growth; 3) Russia’s capacity to ally with other countries and direct its foreign policy strategies. While a “Western-oriented” geostrategic choice was aimed at achieving an international consensus with the U.S.A., the EU and NATO, anti-Westerners by contrast aimed to apologize for Russia’s uniqueness and neo-imperial discourse. A central place was held by conspiracy theories claiming that the West sought the complete collapse of Russia and control over its natural resources. The sole meaning of self-defence would be to counteract any transatlantic policy. Such instinctive anti-Americanism and anti-Europeanism were essentially destructive. For did the country have the resources to repeat the Soviet experience of “global confrontation”? Westernism and anti-Westernism in Russian politics represented two contrasting systems of values. But they involved varying discourses that incorporated a number of concepts, images and myths. Here one might look for neoEurasianism.15 Its geosophy (a category of “self-development”) was inspiring in 14 Leonid Abalkin, “E`volyucionnaya e`konomika v sisteme pereosmy’sleniya bazovy’x osnov obshhestvovedeniya”, in Leonid Abalkin (ed.), E`volyucionnaya e`konomika i “me`jnstrim”: Doklady’ i vy’stupleniya uchastnikov mezhdunarodnogo simpoziuma, g. Pushhino, 29 maya – 1 iyunya 1998 g., Moscow, 2000, pp. 12–14. 15 Neo-Eurasianist doctrine was formed on the basis of historic Eurasianism, having been developed in the 1920s–1930s by Nikolai Trubetskoy, Piotr Savitzki, Lev Karsavin, Lev Gumilev I. Trubetskoy, P. Savitzki, L. Karsavun, and L. Gumilev, who called himself the

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the 1990s among representatives of the different directions. Nevertheless, it did not become the common theoretical-methodological platform for consolidating the Russian academic expertise. Used by several groups, it shared the notion of the original and “self ”-oriented nature of Russian civilization, interpreting P. Savitzki’s formula that “Russia is neither Europe, nor Asia, but a specific geographical ‘world’ that is called Eurasia”.16 Neo-Eurasianists did not perceive geopolitics in its new interdisciplinary dimension, as it had started to develop in Europe and the U.S. On the contrary, as before, they continued to regard it as the instrument for reconstructing and explaining the new “Eurasian reality”. One can identify certain features of the neo-Eurasianist doctrine: 1) Russia is the synthesis of Europe and Asia, a bridge between East and West; 2) Eurasians are a special cultural-historical type, a super-ethnic group; and 3) Russia, by virtue of its geographical location, represents a centre that integrates the entire system of the continent’s periphery, i.e. Europe, Central Asia, Iran, India, Indochina and Japan. One of its protagonists, V. Tzimburzski, viewed Russia as a part of global civilization but considered it a country whose specific role was derived from the border territory with the “great limitrophy” (a geocultural beltway from Finland to Korea, which united parts of other civilizational entities in the former Soviet sphere, such as the Caucasus, the Baltic states and Central Asia).17 The Russians, having created a tradition of dominance in Eurasia, comprised the core of this Russia. Tzimburzski supposed that in order to become competitive in the world, Russia needed to turn to its own geopolitics, exploring and settling its own civilizational sphere. Panarin and Tzimburzski proposed a theory of the so-called “big cycles” in Russian geopolitics. To find analogies with the methodology of Vernadski and Condratiev, each of them attempted to calculate the cyclical changes of world history and identify Russia’s role in them.18 The pattern was very interesting, but a thorough examination reveals that it can be considered purely theoretical, with the political process being strictly determined. Among the large number of geopolitical reflections, the works of Alexander Dugin occupied a specific place. Dugin influenced the creation of post-Soviet Russian nationalism in its extreme forms, shifting his views from National Bollast proponent of Eurasianism in the mid-twentieth century. Yet in a period when there was a disintegration of the Soviet Union, the Eurasianists received a second chance. 16 Piotr Savickij, Kontinent Evraziya, Moscow, 1997, p. 283. 17 Vadim Tzimburzski, “Ostrov Rossiya”, in Polis No. 5, 1993. 18 Aleksandr Dugin, Osnovy’ geopolitiki: Geopoliticheskoe budushhee Rossii. My’slit` prostranstvom, Moscow, 2000; Aleksandr Panarin, Iskushenie globalizmom, Moscow, 2002; id., Rossiya v ciklax mirovoj istorii, Moscow, 1999; Vadim Tzimburzski, “Sverxdlinny’e voenny’e cikly’ novogo i novejshego vremeni”, in Polis No. 3, 1996.

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shevism to an attraction with Freemasonry and Fascism. Dugin considered himself an adherent of the Eurasianist doctrine and wrote many works devoted to it. These are not of academic interest but serve as a source for analysing marginal projects of collective identity in modern Russia. One can identify several general theses that Dugin tried to advocate. For him, Russians had to fight constantly for global domination inasmuch as they were prepared “to suffer unthinkable losses and deprivation, only to develop the national idea, the Great Russian Dream”.19 Furthermore, he predicted a future “Eurasian Empire” that would include – besides the territory of modern Russia – new independent states and parts of Romania, northern Afghanistan, Mongolia, Manchuria and other territories.20 Dugin developed all these speculative games with maps against the background of statements such as that “the Atlantic West, led by the USA” would be the permanent enemy of Russia. By declaring its commitment to Eurasianist doctrine, Dugin’s ideas discredited tendencies in liberal and democratic circles. No wonder that there are many critics of Dugin’s theory who point out fundamental differences with neo-Eurasianism.21 Wherever Eurasianist ideas were discussed publicly – ranging from extreme, anti-Western ones (A. Dugin) to perceptions of Russia’s necessary trend towards integration in Europe (R. Evzerov) – they were all united in a special worship of the power and will of the state. The entire Eurasian sphere was witnessing dynamic processes of fragmentation and integration. Currently Russia has three external fronts to manage: a Western one – toward the countries of the Euro-Atlantic consensus; a Southern one – toward the diverse Islamic-Arab world; and an Eastern one – toward Asia and all of the Asia Pacific region. Each of these is of great importance. Eurasianism has preserved only a nominal appeal in modern political discourse. Traditionally it has been projected onto Eurasia’s space. According to this definition, Russian politicians started to design different projects for the economic and cultural integration of post-Soviet countries. Hence, Eurasianism was transformed from a sociocultural and geopolitical meta-theory into pragmatic integrational strategies of real policymaking. In 2001 the first conference was organized of the Russian Association of International Studies, based on the resources of Moscow State Institute of International Relations (MGIMO University). Leading international relations 19 Aleksandr Dugin, Osnovy’ geopolitiki, Moscow, 1997, p. 196. 20 Ibid., p. 415. 21 See, for example: Georgiy Sitnyanskij, “Geopolitika klassovaya protiv geopolitiki nacional`noj”, in Russkij zhurnal (internet-izdanie), 2004, 22 oktyabrya (sayt: ) [04.10.2012].

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scholars from all over Russia were invited to provide professional expertise on the successes and failures of Russia’s foreign policy. It was deemed important to create a professional community and to develop international research on Russia’s regions.22 Nevertheless, the situation in the sphere of international relations left much to be desired. T. A. Alekseeva, the leading expert in political philosophy, had to avow that “Russian political society failed to create its own, original politicaltheoretical project, including the sphere of international relations, perhaps because such a society has not yet been formed in Russia”. Russian research remained provincial, but not merely because the Russian language had retreated from its previous position in Russian academia. In addition, “scientific schools” had not yet been formed in Russia, and research strictly adhered to the “patterns” of Western theory and expertise. In addition, Russia was deficient in the index of citation and professional assessment. A system of constant communication, with a culture of dialogue and attention to others’ opinions, had not yet been established in the intellectual environment of the early 2000s.23 Nonetheless, various concepts developed by Russian intellectuals can be generally systematized by political-ideological criteria rather than theoreticalmethodological foundations.24 As P. A. Tsygankov and A. P. Tsygankov emphasized in their book, “Russian scholarship was a testing ground for clashing political positions: competition between supporters of Eurasianism and Westerners, between democrats and etatists, and between ethnic nationalists and defenders of civic identity”.25 The first decade of the new century witnessed a breakthrough in the development of Russian research. Apart from traditional infrastructures (such as universities and think-tanks), a significant growth could be seen of different centres that specialized in expert analysis and commentary, in the modelling of international processes and in strategies of development. Many of them had been created spontaneously to reflect on international processes, and yet they later ceased to exist, not having the necessary financing. The others, in contrast, represented stable structures, and they were authoritative and influential in the scientific community. They directly defined the agenda in political discussions 22 “Privetstvennoe slovo prezidenta RAMI Anatoliya Torkunova”, in Anatoliy Torkunov (ed.), Desyat` let vneshnej politiki Rossii. Materialy’ pervogo Konventa RAMI, Moscow, 2003, p. 11. 23 Tat`yana Alekseeva, “Mezhdunarodny’e otnosheniya kak politicheskaya teoriya”, ibid., p. 726. 24 Ivan Tyulin, “Novy’e tendencii v rossijskix issledovaniyax mezhdunarodny’x otnoshenij”, in Anatoliy Torkunov (ed.), Sovremenny’e mezhdunarodny’e otnosheniya i mirovaya politika. Uchebnik, Moscow, 2004, p. 57. 25 Andrei Tsygankov, Pavel Tsygankov, op. cit., p. 13.

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of modern Russia, but they were structured by their distance or closeness to Kremlin cabinets. Simultaneously with Eurasianism, a statist trend started to appear. While it only gained ground in the late 1990s, that period saw the emergence of key concepts of “power”, “national interests”, “nation-state sovereignty”, and “order and power”. The journal Political Class, in its official profile of June 2005, gave its first full-scale research prognosis: “The place and the role of Russia in the world by 2050 [will be] inevitable, possible, and necessary”. Participating in the project were fifty leading experts of Russia and ten young people under the age of thirty who were engaged in politics and political research. 26 Experts were asked to answer questions of diverse content, including futurist ones ranging from “What will the population of the Earth be by 2050?” and “Will the moon be inhabited?” to those making direct reference to the geopolitical place of Russia in a future world. One can identify several positions revealed in this type of analysis: – The majority of Russian experts were convinced that the process of disintegration and formation of new states would continue but that the notion of the “state’s independence” would be seriously transformed; – 31 out of the 60 experts asked said that three or four global powers – such as the U.S.A., EU, India and Russia – would dominate. Nine experts referred to two countries: the U.S.A. and China. But views differed as well. In answering the question of how many great powers there would be, 37 experts named Russia; India received the highest number of votes (41), and Italy received six votes – the lowest number. It was generally understood that the traditional notion of “great power” would disappear and that states would be dependent on certain centres or regional (or macro-regional) structures.27

26 “Rossiya i mir v 2050 godu. Chast` 1. Razdel 1. Obshhie predstavleniya o budushhem”, in Politicheskij klass No. 6, 2005, pp. 27–46. 27 The “superpowers” will represent the “major region”. The three powers in the Pan-American zone will be North America, Central America and South America. The other three powers will also represent the Euro-African zone: the European Union, the Arab Khalifat and black Africa. The next three states will comprise a Eurasian zone: “lesser” Eurasia (Russia plus the CIS countries), the Islamist (Iran-Turkey-Pakistan) continental empire, and India. Two states in the Pacific zone were mentioned: the two main countries (condominium) of China and Japan plus the separate Pacific “major region” of Malaysia, Indonesia, Australia (Alexander Dugin).

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– twenty-six experts tended to think that the forming of a world government was underway.28 – a majority of experts noted dynamic trends such as: an increased role for multinational companies in the world economy and politics; a transformation and expansion of the current NATO bloc; and a possible enlargement of the number of the nuclear states in the case that uncoordinated actions are taken by the existing “five”. The overall prognosis regarding the future of the hierarchy and roles of states in the world order continued to elicit genuine interest. Fifty-three experts were certain that there would be rapid development of the European Union and – moreover – that it would be enlarged in the future.29 Russian experts were no less certain of Israel’s future (as affirmed by 51 percent of all the respondents). Israel was regarded as a defensive U.S. stronghold and its existence was considered within the context of American safeguards.30 This same unanimity characterized the question of the creation of a united Arab state: 46 experts voted against such a perspective. This analytical pattern shows that geopolitics continues to play a very distinct role in Russia. It is not only a subject that construes spaces on a map. It also creates key images of collective identity in the post-Soviet period. The state thereby retains its centrality: the traditional monocentric model is based on a perception of the state’s ability to retain control over its territory and to spread its influence beyond its borders. That is why the issue of Russia being a “superpower” and whether it retains its international influence is so sensitive for the Russian political class. Geopolitical discourse in modern Russia encompasses 28 “Perhaps the world government will emerge on the basis of the modern Group of Eight (or ‘G8’) that will be enlarged with new members such as China, India and probably the European Union. Globalization and the problems it created will inevitably demand interstate cooperation and coordination of efforts, from the great powers most of all” (Vagif Guseinov). In addition, “[t]he world government will emerge because the global situation will become too complicated and fluid to leave it without permanent control. It implies a constant struggle to limit the sovereignty of small ‘problematic’ states that will become a source of unpredictability and a threat” (Dmitriy Oreshkin). 29 “The European Union will remain and it will consist of the territory stretching from Europe to Russia (maybe to Belorussia), with a high level of integration” (Boris Makarenko). “It seems unlikely. Especially if Turkey joins the EU” (Vitaliy Tretyakov). “The EU constitution will continue to exist. But its real significance will be minimal. The reason is the enlargement of the EU that will include Ukraine and Turkey by 2050. Such enlargement will inevitably contradict the deepening integration” (Dmitriy Suslov). 30 “[It is m]ore likely that Israel will be an associated member of the EU or that it will have another status under the patronage of the EU and the U.S.A.” (Vyacheslav Igrunov).

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two groups of concepts. The first one includes the notion of leadership: “world leader” and “world power” are defined by a necessity to focus public opinion on the “high political capital” of the country and its global strategies.31 The second group reflects an absolutization of the principle of sovereignty. In particular, politics is interpreted by a concept of “self-sovereignty” that enhances state sovereignty and defends national interests. Most of the Russian experts thoroughly agree that power is becoming increasingly monocentric.32 But the main problem is how efficient the centre has been in utilizing its authority. After deliberate efforts to create vertical channels of power and accumulate all the major economic and political channels in the Kremlin, the reverse process actually occurred. How, then, will the centre’s “deconstruction” of authorities’ privileges continue? An increasing number of geopolitical books that project new trajectories of research and of modelling world space have been published in Russia.33 But the limits of research, as a rule, are set by “effective geostrategic models” of the future world order. Despite all this, the majority of the researchers have tended to focus only on the idea of “heartland” – a geopolitical mission of Russia as a link between the East and the West. This situation is not surprising. Even though it is a country with 3% of the world’s population, Russia possesses 12.5% of global territory, 22% of global forest resources, 20% of the world’s fresh water and 30% of the Arctic shelf. This vast Eurasian space consisting of 17.1 million square meters and eleven time zones has been developed by the Russian state. Only centralized power was capable of organizing a complex set of cultural worlds spreading from the Baltic Sea to the Barents Sea. For each of the large regions – such as Siberia, the

31 Konstantin Kosachyov, the chairman of the State Duma Committee on Foreign Affairs: “Now it’s highly important for Russia to be the chairman [of the Group of Eight – O.P.]. To show that Russia not only can enter the Group of Eight by a number of objective criteria but can also be there as a world leader, as a world power – that we have never had before. And this leadership should be defined not only by the scale of our economy or military but also by our political potential, our preparedness to act in the interests of the entire world community.” Konstantin Kosachev, “Tak podobaet samodostatochnomu gosudarstvu”, in Rossijskaya Federaciya segodnya, 2005, dekabr`, No. 4, p. 3. 32 See, for example, the works of Alexei Zudin, the head of the department of political programs of the Center of Political Technologies. 33 Such research is worth mentioning: Vladimir Kolosov, Nikolai Mironenko, Geopolitika i politicheskaya geografiya, Moscow, 2002; Vladimir Kolosov, “Rossijskaya geopolitika: tradicionny’e koncepcii i sovremenny’e vy’zovy’”, in Obshhestvenny’e nauki i sovremennost`, No. 3, 1996; Kamaludin Gadzhiev, Vvedenie v geopolitiku, Moscow, 2003; Dmitriy Zamyatin, Vlast` prostranstva i prostranstvo vlasti, Moscow, 2004.

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Urals, the Volga Region, the Far East and the Northern Caucasus – has its own ethnic-national, confessional, and sociocultural specifics. Whatever stage of historical development Russia is currently in, “space”, “regional territories” and “state power” have always been of vital significance to it. These factors were the means to incorporate the multitude of ethnic-national entities, all of which contrast sharply in their dynamism and level of development. These factors also produce Russia’s primary geopolitical fear – the fear that the state’s historical territory will be fragmented and disrupted – while also producing the main requirement of all power projects in Russia’s history: the impulse to secure the state and territorial integrity of the nation. The geopolitical contours of Russia, both real and imaginary, have always been characterized by exceptional mobility. Russia has either constantly acquired territories or lost them. For centuries the trend has been towards permanently enlarging its geopolitical sphere by peaceful, economic or military means. After the collapse of the USSR, Russia managed to stabilize its territorial space despite significant strains and serious losses. Currently, state strategy is aimed at preserving the geopolitical status quo within the current balance of powers. It can thus be maintained that geopolitics will retain its dominant position in Russian historical and political studies. Having said all that, the reality of the modern world is much more “complex” than previous patterns deployed for mapping it. The enduring question, which has reached an impasse, is whether Russia is the geopolitical axis of the world.

Imperiale Herrschaft im städtischen Raum Zarische Beamte und urbane Öffentlichkeit in Warschau (1870–1914)1 Malte Rolf Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Geburtsphase der modernen europäischen Metropole. Städte wie London, Paris, Barcelona, Berlin, Budapest oder Wien wandelten in dieser Epoche rapider Verstädterung, technischstädtischer Modernisierung und kultureller Urbanisierung grundlegend ihre Gestalt und ihren Charakter. Auch im Russischen Zarenreich brach nach 1870 die »Zeit der Metropolen« an.2 In St. Petersburg, Riga oder Odessa vervielfachte sich nicht nur die Bevölkerung in rasantem Tempo, hier wurden auch die städtischen Zentren nach den Maßstäben der urbanen Moderne radikal neu ausgerichtet. Von der Jugendstilarchitektur bis zur elektrischen Straßenbahn, vom Boulevard bis zur Kanalisation wurden dabei paneuropäische Trends aufgegriffen und an die lokalen Bedingungen angepasst. Die ältere duale Grundstruktur russischer Städte wurde dabei verstärkt und der Unterschied zwischen modernisierten städtischen Kernbereichen und den unterprivilegierten Vorstädten zunehmend akzentuiert.3 Warschau stellte in diesem Zusammenhang keine Ausnahme dar. Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wandelte sich das Verwaltungszentrum des Königreichs Polen zur bevölkerungsstarken und modernen Metropole, die sich selber das Etikett »Paris des Ostens« anheften sollte. Auch hier kam es zur Herausbildung eines städtischen Doppelcharakters: Bürgerliche 1 Der vorliegende Aufsatz entstammt dem Habilitationsprojekt des Verfassers zur Petersburger Herrschaft im Königreich Polen (1864–1915). 2 Clemens Zimmermann, Die Zeit der Metropolen. Urbanisierung und Großstadtentwicklung, Frankfurt am Main 1996. Zu Urbanisierungsprozessen in Ostmitteleuropa und Russland vgl. u. a.: Carsten Goehrke, Bianka Pietrow-Ennker (Hg.), Städte im östlichen Europa. Zur Problematik von Modernisierung und Raum vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert, Zürich 2006; Michael F. Hamm (Hg.), The City in Late Imperial Russia, Bloomington 1986; Andreas R. Hofmann, Anna Veronika Wendland (Hg.), Stadt und Öffentlichkeit in Ostmitteleuropa 1900–1939. Beiträge zur Entstehung moderner Urbanität zwischen Berlin, Charkiv, Tallinn und Triest, Stuttgart 2002; Monika Platzer, Eve Blau, Friedrich Achleitner (Hg.), Mythos Großstadt. Architektur und Stadtbaukunst in Zentraleuropa. 1890­–1937, München 1999. 3 Vgl. grundsätzlich Daniel R. Brower, The Russian City between Tradition and Modernity, 1850–1900, Berkeley 1990, v. a. S. 22–23 u. S. 30–31.

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Vorzeigeviertel standen im schroffen Gegensatz zu städtischen Armenquartieren. Die Genese des modernen Warschau vollzog sich allerdings unter anderen Vorzeichen als die ihrer Metropolenschwestern in Westeuropa oder Russland. Denn der urbane Wandel der Stadt an der Weichsel ereignete sich unter den Bedingungen einer russischen Herrschaft, die eine externe Beamtenschaft zur munizipalen Verwaltung ernannte und die Behördenleiter aus Sankt Petersburg entsandte. Alle Versuche, auch im Königreich Polen Formen städtischer Selbstverwaltung einzuführen, scheiterten am Petersburger Widerstand. Warschau verfügte in den Zeiten der forcierten städtischen Modernisierung über kein gewähltes Selbstverwaltungsgremium und die indigene Bevölkerung war von den administrativen Entscheidungsprozessen weitgehend ausgeschlossen. Der Warschauer Magistrat und der ihm vorstehende Stadtpräsident blieben bis 1915 direkt dem Innenminister unterstellt und waren damit selber integraler Bestandteil der zarischen Staatsverwaltung. Eine städtische Modernisierung wurde auch in einer Metropole ohne Selbstverwaltung vorangetrieben. Aber wie gestaltete sich diese? Welches waren die Akteure, die den Wandel Warschaus vorantrieben? Und wie wirkte sich die imperiale Herrschaft auf diesen Prozess aus? Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Rolle, die die zarischen Beamten bei der städtischen Umgestaltung Warschaus im Fin-de-siècle spielten. Da die Stadtverwaltung in den Händen der Bürokratie lag, stellten die imperialen Eliten einen entscheidenden Akteur der urbanen Modernisierung. Es soll im Folgenden die Interaktion der verschiedenen Instanzen innerhalb der zarischen Administration herausgearbeitet und damit das bürokratische Geflecht von unterschiedlichen, teils kooperierenden, teils konkurrierenden Handlungsträgern beleuchtet werden. Generalgouverneure, Leiter der Polizeibehörde und die des städtischen Magistrats werden in ihrem Einfluss auf die städtische Transformation profiliert. Dabei tritt die Heterogenität der imperialen Elite vor Ort deutlich zu Tage, denn der Verwaltungsalltag produzierte zahlreiche interne Friktionen und offenbarte die unterschiedlichen Erfahrungshorizonte und divergenten Handlungsoptionen der Repräsentanten einer zarischen Bürokratie. Zugleich geht es darum, jene Kontaktformen herauszuarbeiten, mit denen eine polnisch-jüdische städtische Öffentlichkeit die Kommunikation mit der zarischen Administration aufnahm. Auch hier gilt es, die verschiedenen Handlungsoptionen offenzulegen. Einige polnische Meinungsträger bemühten sich um einen Modus der Zusammenarbeit, andere versuchten, jegliche Berührungsmomente zu vermeiden und wieder andere attackierten imperiale Würdenträger mit Bombe und Pistole. Im Beitrag soll es darum gehen, vor allem die erste Gruppe genauer in den Blick zu nehmen und nach jenen gewichtigen Akteuren zu fragen, die bewusst die durchaus spannungsvolle, aber gewaltfreie

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Interaktion mit den zarischen Beamten suchten. Es sind die Kreise in der Warschauer Gesellschaft zu identifizieren, die das Gespräch mit der staatlichen Administration aufnahmen, und es ist nach den Formen des Dialogs sowie den Themen, um die sich diese Kommunikation verdichtete, zu fragen. Anhand dieses Austausches lässt sich zugleich demonstrieren, wie sehr die zarischen Beamten in beständiger Kommunikation und Begegnung mit der polnischen Gesellschaft standen – wenngleich diese Kommunikation nicht unbedingt gegenseitiges Einvernehmen bedeutete, sondern oft genug konfliktreich verlief.

I. Imperiale Herrschaft an der Weichsel: Das Königreich Polen in der Teilungsperiode Die imperiale Herrschaft St. Petersburgs über den Großteil der ehemaligen polnisch-litauischen Adelsrepublik dauerte bekanntlich von den Teilungen (1772, 1793 und 1795) bis zum Rückzug der russischen Armee im Ersten Weltkrieg. 1815 hatte Zar Alexander I. zudem die Kontrolle über Warschau übernommen. Doch was bedeutete »imperiale Herrschaft« in diesem Zusammenhang? Welche Macht entfaltete sie? Der vorliegende Beitrag will zeigen, dass sich imperiale Herrschaft keinesfalls auf die formelle Oberhoheit des Zaren und die Machtfülle seiner Armee und Gesandten beschränkte. Vielmehr wirkte sie zugleich als neue, erzwungene Kontextsetzung in die lokalen Entwicklungen ein. Indem das Reich als Bezugsrahmen aufgezwungen wurde, veränderten sich das Denken und Handeln der lokalen Akteure grundlegend. Sie mussten sich nun relational zu den reichsweiten Wandlungsprozessen sowie deren politischen, sozialen und kulturellen Richtlinien verhalten. Nicht nur bewusste politische Affirmation oder erklärter Widerstand hatten sich auf den Kommunikations- und Referenzhorizont des Reiches zu beziehen, auch der soziale, ökonomische und kulturelle Alltag war eingebunden in das Beziehungsnetz des Imperiums. Wer einen Verein gründete, hatte die Reichsgesetze zu berücksichtigen, wer sich im Eisenbahnbau betätigte, musste sich mit den strategischen Überlegungen der Petersburger Minister auseinandersetzen, und wer allmorgendlich zum Schulgebet antrat, tat dies nach den Vorgaben eines fernen Bildungsministeriums. Insofern ist imperiale Herrschaft als dynamischer Prozess einer Horizontverschmelzung zu beschreiben, bei dem die lokalen Kontexte mit den übergeordneten Reichsstrukturen und Machtbeziehungen verknüpft werden. Imperiale Herrschaft stellte damit einen Faktor dar, der politische, soziale und kulturelle Entwicklungen vor Ort nachhaltig beeinflusste – und dies selbst dann, wenn sich die konkreten Direktiven von Vizekönigen und Generalgouverneuren als wirkungslos erwiesen, weiterführende Transforma-

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tions- und Russifizierungsprojekte scheiterten oder ambitionierte Zentralisierungsbemühungen versandeten. Die Rahmenbedingungen einer imperialen Herrschaft prägten die Wandlungen der polnischen Provinzen und ihrer Hauptstadt Warschau dennoch grundlegend, da sie auf die Mikrostrukturen gesellschaftlicher Kommunikation Einfluss nahmen.4 Die politische und administrative Umgestaltung der okkupierten polnischlitauischen Territorien ist schnell erzählt. Zunächst etablierte Alexander I. ein weitgehend autonomes polnisches Königreich, mit eigener Verfassung, Armee und Sejm. Nach zwei polnischen Aufständen in Russisch-Polen (1830/31 und 1863/64) wurden dem polnischen Königreich alle Sonderrechte entzogen und eine militärisch-administrative Beherrschung des unruhigen Landstriches forciert. Aus dem ehemaligen Königreich sollte nun eine gewöhnliche Reichsprovinz werden, die fest in den Zusammenhang des Imperiums integriert war. Selbst die amtliche Titulatur repräsentierte diese Zäsur. Seit 1864 hieß das Territorium offiziell Weichselland (Privislinskij kraj). Die zarischen Behörden vermieden den Hinweis auf eine eigenständige polnische Staatstradition.5 Seit dem Januaraufstand von 1863/64 wurde das Königreich Polen durchgängig durch eine zarische, von Petersburg eingesetzte Administration verwaltet, an deren Spitze bis zum Tod des namestnik General Fedor F. Berg zunächst ein Vizekönig, seit 1874 ein Generalgouverneur stand. Dieser war ein direkter Gesandter des Zaren, unterstand in manchen Fragen aber auch dem Innenminister und musste sich gegenüber den interministeriellen Komitee für die Angelegenheiten des Königreichs Polen (Komitet po delam Carstva Pol’skogo) in St. Petersburg rechtfertigen. Der Generalgouverneur residierte in Warschau und war zugleich der Oberkommandierende der zarischen Truppen im Warschauer Wehrbezirk. Aber auch alle weiteren oberen Posten der Bürokratie – vom Pro4 Zu einer solchen Interpretation zu den Wirkungszusammenhängen von imperialen Strukturen und der Mächtigkeit imperialer Herrschaft siehe u. a. David Lambert u. Alan Lester, »Introduction. Imperial Spaces, Imperial Subjects«, in: David Lambert, Alan Lester (Hg.), Colonial Lives Across the British Empire: Imperial Careering in the Long Nineteenth Century, Cambridge 2006, S. 1–31; Ann Laura Stoler u. Frederick Cooper, »Between Metropole and Colony. Rethinking a Research Agenda«, in: Ann Laura Stoler, Frederick Cooper (Hg.), Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley 1997, S. 1–56; Kathleen Wilson, »Introduction: histories, empires, modernities«, in: Kathleen Wilson (Hg.), A New Imperial History. Culture, Identity, and Modernity in Britain and the Empire, 1660–1840, Cambridge 2004, S. 1–26. 5 Der westliche Teil der vom russischen Reich besetzten Territorien der ehemaligen polnisch-litauischen Adelsrepublik hieß nach 1864 offiziell Weichselland (Privislinskij kraj). Allerdings wurde selbst von Regierungsbehörden die Bezeichnung Königreich Polen fortgeführt. Im folgenden Artikel werden Weichselland und Königreich Polen als Synonyme verwendet.

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vinzgouverneur bis zum Oberpolizeimeister – waren von externen Beamten, vor allem Russen, besetzt.6 Die Bedeutung, die der russisch dominierten imperialen Elite im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert im Königreich Polen und in Warschau zukam, ist dabei mit den bloßen Zahlen der Bevölkerungsstatistik kaum zu fassen. Die Volkszählung von 1897 dokumentiert, dass im Warschau der Jahrhundertwende knapp 50.000 Bewohner lebten, die Russisch als Muttersprache angaben und die damit 7,5 Prozent der Stadtbevölkerung ausmachten.7 Im Königreich insgesamt war der Anteil der russischen Muttersprachler noch geringer. Hier stellten die knapp 270.000 Russen weniger als drei Prozent der circa 9,4 Millionen Einwohner.8 Der Stellenwert der Petersburger Gesandten in der Reichsprovinz wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sie nach der Niederschlagung des polnischen Januaraufstandes von 1863 nicht nur die oberen Dienstränge der Verwaltung stellten, sondern ebenso den Polizeiapparat und das Bildungssystem dominierten9 und das Land militärisch kontrollierten.10 Kongresspolen und sein Verwaltungszentrum Warschau wurden nach 1863 durch eine ortsfremde, aus dem Reichsinneren importierte und in der Regel russisch-orthodoxe Beamtenschaft beherrscht. Die militärische und administrative Befriedung der zehn polnischen Gouvernements nach 1863 erwies sich dabei in der Perspektive des Petersburger 6 Vgl. dazu Łukasz Chimiak, Gubernatorzy rosyjscy w Królestwie Polskim 1863–1915. Szkic do portretu zbiorowego, Wrocław 1999, S. 70–87; L. E. Gorizontov, Paradoksy imperskoj politiki: Poljaki v Rossii i russkie v Pol’še (XIX – načalo XX v.), Moskau 1999, S. 157–185; Katya Vladimirov, The World of Provincial Bureaucracy in Late 19th and 20th Century Russian Poland, Lewiston 2004, S. 54–61 u. S. 107–112. 7 Vgl. Stephen D. Corrsin, Warsaw before the First World War. Poles and Jews in the Third City of the Russian Empire 1880–1914, Boulder/Col. 1989, S. 145. 1897 lebten 46.787 russisch-orthodoxe Bewohner in Warschau, das zu diesem Zeitpunkt über 683.692 Einwohner verfügte. Leicht abweichende Zahlen finden sich bei Henning Bauer, Andreas Kappeler, Brigitte Roth (Hg.), Die Nationalitäten des Russischen Reiches in der Volkszählung von 1897, Bd. B, Stuttgart 1991, S. 408: Hier stellten 49.997 Russen 7,31 % der Stadtbewohner. Das statistische Bestimmungskriterium für »Russen« war die Muttersprache. 8 Vgl. Bauer/Kappeler/Roth (Hg.), Die Nationalitäten des Russischen Reiches, S. 75–76 u. S. 214. Die 267.160 Russen machten 2,84 % der Gesamtbevölkerung des Königreichs aus. »Russen« wurden auch hier nach der Muttersprache klassifiziert. 9 Vgl. Józef Miąso, Szkolnictwo zawodowe w Królestwie Polskim w latach 1815–1915, Wrocław 1966; Leonard Szymanski, Zarys polityki caratu wobec szkolnictwa ogólnokształcącego w Królestwie Polskim w latach 1815–1915, Wrocław 1983. 10 Werner Benecke, Militär, Reform und Gesellschaft im Zarenreich. Die Wehrpflicht in Russland 1874–1914, Paderborn 2006, Kap. 4.1; Dietrich Beyrau, Militär und Gesellschaft im vorrevolutionären Rußland, Köln 1984, S. 238–249.

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Zentrums als durchaus erfolgreich. Angesichts der Stabilität des folgenden, noch über ein halbes Jahrhundert dauernden zarischen Diktats erscheint auch die Erschütterung, die die Revolution von 1905 mit sich brachte, als eine temporär begrenzte Irritation. Erst mit dem Verlust des Königreichs Polen im zweiten Kriegsjahr 1915 endete die russische Herrschaft im Weichselland.

II. Warschau im Wandel: Verslumung oder die Genese einer Metropole? Mit Blick auf das Königreich Polen wird das Zarenreich oft als großer Verhinderer von Modernisierung geschildert. Für den urbanen Wandel in Warschau scheint dies auf den ersten Blick auch zweifelsfrei zu gelten. Es gibt hier zahlreiche Beispiele, bei denen die zarische Bürokratie städtische Modernisierungsbemühungen blockierte. So wurde weder der chronische Mangel an städtischer Infrastruktur behoben noch die unhygienischen Zustände in der Altstadt angegangen.11 Vor allem aber tat die Verwaltung nichts, um die katastrophale Wohnsituation der überbevölkerten Stadt abzumildern.12 Warschau war die drittgrößte Stadt des Russischen Reiches und wuchs im ausgehenden 19. Jahrhundert in hohem Tempo: von 382.964 Einwohnern im Jahr 1882 über 683.692 zum Zeitpunkt der Volkszählung von 1897 auf 884.584 im Jahr 1914.13 Da die Zarenmacht sich bis zum Ende ihrer Herrschaft weigerte, die Siedlungsbeschränkungen aufzuheben, die ein dichter Festungsgürtel um Warschau diktierte, wuchs die Stadt »nach innen«. In weiten Teilen der Innenstadt betrug die Bevölkerungsdichte vor dem Ersten Weltkrieg 100.000 Personen pro Quadratkilometer.14 Eine extreme Überbelegung von Wohnraum war damit in 11 Corrsin, Warsaw before the First World War, S. 40–41. Ein solches Narrativ dominiert nicht nur die Historiographie zu Warschau, sondern allgemein die russische Herrschaft über das Königreich Polen. Die »123 Jahre« erscheinen als ein langes russisches Joch und werden traditionell als reine Unterdrückungsgeschichte beschrieben. Vgl. hier paradigmatisch Norman Davies, Heart of Europe. The Past in Poland’s Present, Oxford 2001; Adam Zamoyski, The Polish Way: A Thousand-Year History of the Poles and Their Culture, London 1987, Kap. »Captivity«, S. 301–323. 12 Eine eindringliche Beschreibung des miserablen Zustandes der überbevölkerten und vernachlässigten Warschauer Altstadt findet sich im Putevoditel’ po Varšave i ee okrestnostja, hrsg. v. V. Z., Warschau 1893, S. 61–63. 13 Naselenie g. Varšava/Ludnošč m. Warszawy, Trudy statističeskogo Otdela Varšavskogo magistrata/Prace Sekcij Statystycznej Magistru m. Warszawy, 3 Bd., Warschau 1909–1914. 14 Werner Huber, Warschau. Phönix aus der Asche. Ein architektonischer Stadtführer, Köln 2005, S. 28.

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Warschau die Regel für Unterschichtenquartiere. Gerechnet auf die ganze Stadt schwankte die Durchschnittszahl der Bewohner eines Zimmers zwischen 4 und 5 Personen kurz vor der Jahrhundertwende. Ein übliches Phänomen waren nicht nur zahlreiche Untermieter in einer Wohnung, sondern auch die sogenannten »Schlafgänger« – Personen, die über kein eigenes Bett verfügten und sich den Schlafplatz bei fremden Menschen anmieten mussten –, eine Massenerscheinung und eine nicht unwichtige Einnahmequelle für die wenigen Wohnungsbesitzer.15 Die große Mehrheit der Wohnungen waren dabei Einzimmerwohnungen im Keller oder in den Dachstuben.16 Aber auch in anderen Bereichen schien die zarische Herrschaft eine städtische Entwicklung auszubremsen. Nicht zuletzt drückte sich das in der chronischen Unterfinanzierung des städtischen Budgets und in der Verhinderung von städtischer Selbstverwaltung aus.17 Im Zuge der Großen Reformen 1870 war in den zentralrussischen Städten eine städtische Selbstverwaltung eingeführt worden, bei der eine nach Kurien gewählte Stadtduma, das Exekutivorgan der Stadtverwaltung (uprava) und das Stadtoberhaupt in wichtigen städtischen Belange mitentscheiden konnten.18 Warschau blieb – wie allen an15 Vgl. Anna Żarnowska, »Veränderungen der Wohnkultur im Prozess der Adaption von Zuwandern an das großstädtische Leben an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert am Beispiel von Warschau und Lodz«, in: Alena Janatková, Hanna Kozińska-Witt (Hg.), Wohnen in der Großstadt 1900–1939. Wohnsituation und Modernisierung im europäischen Vergleich, Stuttgart 2006, S. 41–54, hier S. 44–45. 16 Siehe Ute Caumanns, »Mietskasernen und ›Gläserne Häuser‹: Soziales Wohnen in Warschau zwischen Philanthropie und Genossenschaft 1900–1939«, in: Janatková/KozińskaWitt (Hg.), Wohnen in der Großstadt 1900-1939, S. 205–224, hier S. 206. 17 Vgl. zum knappen Budget des Warschauer Magistrats Corrsin, Warsaw before the First World War, S. 140–141. Allerdings konnten auch die Organe der städtischen Selbstverwaltung in russischen Städten nur über ca. 15% aller Haushaltsmittel verfügen und waren daher chronisch unterfinanziert. Vgl. dazu Guido Hausmann, »Stadt und Gesellschaft im ausgehenden Zarenreich«, in: Guido Hausmann (Hg.), Gesellschaft als lokale Veranstaltung. Selbstverwaltung, Assoziierung und Geselligkeit in den Städten des ausgehenden Zarenreiches, Göttingen 2002, S. 13–166, hier S. 67–73. 18 Die Reform der Stadtordnung aus dem Jahr 1870 bestätigte die Stadtduma (gorodskaja duma) als Organ der städtischen Selbstverwaltung. Wahlberechtigt waren alle männlichen Stadtbewohner, die seit mindestens zwei Jahren Abgaben aus Grundbesitz oder andere städtische Steuern zahlten. Die Wahl fand in drei Kurien statt, die entsprechend der Steuerleistung bestimmt wurden und die je über 1/3 der Stimme verfügten. Aus dem Kreis der Stadtduma wurde das Exekutivorgan der Stadtverwaltung (gorodskaja uprava) und das Stadtoberhaupt gewählt. Das Stadtoberhaupt stand beiden Gremien vor und war gegenüber den staatlichen Behörden für alle Vorkommnisse verantwortlich. Im Zuge der Gegenreform unter Alexander II. wurde der Zensus für die Stimmabgabe deutlich erhöht und die Kurien abgeschafft. Der Anteil der stimmberechtigten Bevölkerung sank in Folge in

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deren Städten im Königreich Polen auch – eine solche Form der städtischen Selbstverwaltung bis zum Ersten Weltkrieg vorenthalten. Die zarischen Behörden misstrauten der polnischen Gesellschaft nach den Erfahrungen zweier Aufstände zu sehr, als dass sie die städtischen Belange der Verantwortung der polnischen Einheimischen übergeben hätten.19 Die munizipale Administration lag dagegen in Warschau seit dem Kommunalgesetz von 1870 in den Händen eines vom Innenminister ernannten Magistrats, dem ein vom Innenminister eingesetzter Stadtpräsident (Prezident goroda/Prezydent miasta) vorstand, der als Staatsbeamter Teil der zarischen Bürokratie war. Seit 1892 hatte zudem der Generalgouverneur als direkter Gesandter des Zaren an der Weichsel das Recht, alle Beschlüsse des Magistrats auszusetzen.20 In größeren Finanzfragen (ab 5.000 Rubel) war ohnehin der Generalgouverneur als der direkte Gesandte des Zaren an der Weichsel die entscheidende Instanz; bei Investitionsvolumen von mehr als 10.000 Rubel musste sogar der Innenminister in St. Petersburg unmittelbar zustimmen. Oft genug intervenierten dort auch die Verkehrs- oder Verteidigungsministerien sowie das interministerielle Komitee für die Angelegenheiten des Königreichs Polen. Viele städtische Modernisierungsprojekte versandeten spätestens hier, in der konkurrenzträchtigen und konfliktgeladenen Interaktion der Zentralbehörden.21 Insofern hat es eine gewisse Berechtigung, die zarische Bürokratie vor allem als fremden Beherrschungs- und auch Unterdrückungsapparat zu charakterisieren, der wenig für die Entwicklung und die Belange des lokalen polnischen Landstriches und Warschaus als seinem administrativen Zentrum tat. Andererseits muss man zu bedenken geben, dass schon ein solches Urteil eine Perspektivenentscheidung darstellt. Es ist nämlich abhängig vom VergleichsMoskau auf 0,5% der Einwohner. Vgl. dazu W. Bruce Lincoln, The Great Reforms. Autocracy, Bureaucracy, and the Politics of Change in Imperial Russia, DeKalb 1990, S. 134–142. 19 Hauptarchiv der alten Akten, Warschau (Archiwum Głowne Akt Dawnych = AGAD), KGGW, Sygn. 1773, kart. 25 [Bericht des Warschauer Generalgouverneurs Gurko zur politischen Lage des Königreichs, 1884]. Wiederholte Versuche, eine städtische Selbstverwaltung auch im Königreich Polen einzuführen, scheiterten am Widerstand der zentralen Petersburger Instanzen. Staatsarchiv der Russländischen Föderation, Moskau (Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii = GARF), f. 215, op. 1, d. 76, ll. 33ob–36 und l. 72–75ob. 20 Hanna Kozińska-Witt, »Stadträte und polnische Presse: Die Fälle Warschau und Krakau 1900–1939. Ein Versuch«, in: Andreas R. Hofmann, Anna Veronika Wendland (Hg.), Stadt und Öffentlichkeit in Ostmitteleuropa 1900–1939, Stuttgart 2002, S. 281–298, hier S. 283. 21 AGAD, KGGW, Sygn. 5855, kart. 8–8ob [Schreiben des Warschauer Generalgouverneurs an das Innenministerium: Bitte um Genehmigung, 11. Mai 1907]. Vgl. dazu auch Edward Strasburger, Gospodarka naszych wielkich miast. Warszawa, Łódź, Kraków, Lwów, Poznań, Krakau 1913, S. 28.

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punkt, ob man zu einer derart negativen Einschätzung städtischer Entwicklung kommt. Wenn man Warschau mit Paris, Berlin, auch Wien oder Budapest vergleicht, dann stechen die Hemmnisse einer städtischen Modernisierung deutlich ins Auge. Eine städtische Erneuerung à la Baron Haussmann im Westen Paris, selbst eine begrenzte Stadtteilrenovation wie der Umbau der alten Wiener Festungsanlagen und die Errichtung der repräsentativen Ringstraße oder auch in der Prager Josefstadt um 1900 waren in Warschau undenkbar.22 Die Perspektive der russischen Beamten war dagegen eine ganz andere. Sie hatten einen innerrussischen Erfahrungshintergrund und waren auch deshalb immun gegenüber den Klagen der Warschauer Gesellschaft. Denn im Vergleich zu den Zuständen in russischen Städten, selbst in der Hauptstadt an der Newa, nahm sich Warschau eher als Ort des europäisch-urbanen Fortschrittes aus. Während auch russische Zeitgenossen den »asiatischen Charakter« der Städte Russlands wahrnahmen und bemängelten, war Warschau als der westliche Vorposten des Reichs ein eindeutig mit Europa assoziiertes Terrain.23 Als beispielsweise Nikolaus II. 1897 die Weichselmetropole besuchte, zeigte er sich beeindruckt von dem vorbildlichen Charakter der städtischen Verfasstheit und Verwaltung.24 Ob man die städtische Entwicklung in Warschau somit eher als »rückständig« oder als Ausdruck europäischer Modernität wahrnahm, hing also von der grundsätzlichen Wahl der Perspektive ab. Das Bild von der Zarenmacht als Modernisierungshemmschuh wird aber zudem durch neue Entwicklungen im ausgehenden 19. Jahrhunderts irritiert. Denn in diese Zeit fallen etliche Neuerungen, die die Gestalt Warschaus nachhaltig veränderten. Und so kam es in den letzten beiden Jahrzehnten im Fin-deSiècle zum Ausbau des repräsentativen Stadtteils zwischen der Ierusalemer Allee und der Mokotovskaja Straße, zur Umgestaltung der Marszałkowska-Straße, zur Anlage von Parks wie dem Park Ujazdowski und zur Eröffnung des Poly22 Vgl. zu Paris, Wien oder Budapest z. B. Judit Bodnár, Fin-de-Millénaire Budapest. Metamorphoses of Urban Life., Minneapolis 2001; Péter Hanák, »Urbanization and Civilization: Vienna and Budapest in the Nineteenth Century«, in: Péter Hanák (Hg.), The Garden and the Workshop. Essays on the Cultural History of Vienna and Budapest, Princeton 1998, S. 3–43; John Lukacs, Budapest 1900. A Historical Portrait of a City and its Culture, New York 1988; Donald J. Olsen, The City as a Work of Art. London – Paris – Vienna, New Haven 1986, S. 151–156. 23 Zum zeitgenössischen russischen Diskurs über die »asiatische« Rückständigkeit russischer Städte und Charakterisierung der russischen Stadt als »Un-Stadt« vgl. Brower, The Russian City, S. 14 und S. 28–30. 24 Russländisches Historisches Staatsarchiv, St. Petersburg (Rossijskij Gosudarstvennyj Istoričeskij Archiv = RGIA), f. 1284, op. 223, 1898, d. 60-lit.B.P., l. 6ob [Kommentar Nikolaus’ II. zum Bericht des Warschauer Oberpolizeimeisters, 1898].

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Abb. 1:  Ulica Marszałkowska

technikums.25 All diese einschneidenden städtischen Veränderungen wurden unter der Herrschaft Alexanders III. und Nikolaus II. angegangen. Insofern ergibt sich auch für die beiden letzten Zaren kein eindeutiges Bild der russischen Fremdherrschaft als große Modernisierungsverhinderung.

III. Generalgouverneure und Stadtpräsidenten: Zarische Beamte und der städtische Raum Ein genauerer Blick auf die zarische Bürokratie zeigt vielmehr: Es bestanden innerhalb der Verwaltung deutliche Unterschiede zwischen Befürwortern, Skeptikern oder auch Gegnern einer städtischen Erneuerung. Und es existierten zum Teil sehr verschiedene Konzeptionen von Modernität in diesem Wechselspiel verschiedener Instanzen und Motoren der Modernisierung, die in der Bürokratie oder zumindest in enger Zusammenarbeit mit ihr tätig wurden. Dabei treten deutliche Differenzen, auch Konflikte innerhalb der Administration zu Tage. So verlief die Kommunikation zwischen dem Generalgouver25 Dieses Stadtviertel wird durch seine »breiten, geraden Straßen mit repräsentativen Gebäuden« geprägt. »Hier wohnen viele Russen, die Wert auf ordentliche Verhältnisse, gute Luft und Wohnkomfort legen.« Putevoditel’ po Varšave i ee okrestnostja, hg. v. V. Z., Warschau 1893, S. 61.

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Abb. 2:  Sitzung des Warschauer Magistrats unter der Leitung von Sokrat Starynkevicˇ (am Kopfende des Tisches), 18. / 30. September 1892.

neur und den Instanzen in der fernen St. Petersburger Hauptstadt keinesfalls reibungslos. Vor allem aber verdichteten sich die Auseinandersetzungen in der Korrespondenz zwischen dem Generalgouverneur, als dem höchsten zarischen Gesandten vor Ort, und dem von ihm ernannten Stadtpräsidenten. Der Stadtpräsident Sokrat Ivanovič Starynkevič ist einer der wenigen Vertreter der Bürokratie, dem in der polnischen Überlieferung eine positive Einschätzung zuteil wird und der als engagierter Verfechter lokaler Belange beschrieben wird.26 Die Grenzen seines Handelns wurden im Wesentlichen durch die außerordentlichen Machtbefugnisse des Generalgouverneurs gesetzt. Dennoch gelang es dem Stadtpräsidenten und seinem Magistrat auch im partiellen Konflikt mit dem Generalgouverneur nachhaltige Aktivitäten im Bereich der städtischen Wohlfahrt, Verwaltung und Erneuerung zu entfalten. So engagierte sich der 26 Barbara Petrozolin-Skowrońska (Hg.), Encyklopedia Warszawy z suplementem, Warschau 1994, S. 807; Anna Słoniowa, Sokrates Starynkiewicz, Warschau 1981. Sokrat I. Starynkevič war von 1875 bis 1892 Stadtpräsident von Warschau.

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Magistrat seit den 1870er Jahren, um die gesellschaftliche Fürsorge in Warschau zu reformieren,27 war äußerst aktiv in der statistischen Erhebung von städtischen Daten und bemühte sich vergleichsweise erfolgreich um einen ausgeglichenen Haushalt.28 Der Magistrat initiierte eine Reihe von städtischen Bauprojekten und sorgte für die Verbesserungen der urbanen Infrastruktur. Vor allem der von 1875 bis 1892 amtierende Stadtpräsident Sokrat Starynkevič stach in seinem Engagement und seiner Fähigkeit, bei knappen Mitteln und Machtbefugnissen, Projekte zu realisieren, besonders hervor. Aber auch seine weniger prominenten Nachfolger zeichneten sich durch ihre Bereitschaft aus, städtische Innovationen auch gegen den Widerstand des Generalgouverneurs voranzubringen. Offensichtlich bedingte das Amt des Stadtpräsidenten einen anderen Blick auf die Stadt und ihre Bedürfnisse. Es ging dabei ganz grundsätzlich um unterschiedliche Vorstellungen von dem, was ein städtischer Raum bedeutete und was er zu leisten habe. Hier standen sich konträre Modelle eines herrschaftsrepräsentativen und eines modern-technisierten Raums gegenüber.29 Dieser Konflikt drückte sich in verschiedenen Handlungsfeldern aus. Umstritten waren so zum Beispiel die Lehren, die aus der großen Choleraepidemie von 1867 zu ziehen waren. Der Stadtpräsident drängte – basierend auf den Ergebnissen einer medizinischen Untersuchungskommission – auf den Ausbau des Kanalisationssystems und des Netzes städtischer Krankenhäuser, um die hygienischen Zustände der überbevölkerten Stadt zu verbessern. Aber weder hier noch in anderen Bereichen ließ sich der Generalgouverneur zu einer deutlichen Intensivierung städteplanerischen Handelns oder infrastrukturellen Maßnahmen bewegen. Zu ebenso wenig Engagement vermochte der Stadtpräsident den Gouverneur im Bereich der Stadterweiterung und des Wohnungsbaus zu bewegen. Der Generalgouverneur konnte und wollte nicht die Klassifizierung Warschaus als Festungsstadt in Frage stellen. Diese bedingte aber, dass ein System aus mehreren Forts an der Stadtperipherie das städtische Wachstum dauerhaft behinderte.30 27 Otčet o sostojanii obščestvennogo prizrenija v gorod Varšave za 1871 god, Warschau 1873; Otčet o sostojanii Obščestvennogo prizrenija v gorode Varšave za 1903 god, Warschau 1904; Otčet o sostojanii Obščestvennogo prizrenija v gorode Varšave za 1905 god, Warschau 1906. 28 Finansy goroda Varšavy za 22-letnyj period (1878–1899), hg. v. der Statističeskij Otdel Magistrata goroda Varšavy, Warschau 1901. 29 Zu Starynkevič Corrsin, Warsaw before the First World War, S. 12; Słoniowa, Starynkiewicz. Starynkevič folgten die Stadtpräsidenten Nikolaj Bibikov (Amtszeit 6. Oktober 1892 bis 29. Juni 1906), Viktor Litvinskij (Amtszeit Juli 1906 bis 26. April 1909) und Aleksander Miller (Amtszeit 4. September 1909 bis 4. August 1915). 30 Andrzej Wyrobisz, »Stadtplanung in polnischen Gebieten 1815–1914«, in: Hans-Jürgen Teuteberg (Hg.), Urbanisierung im 19. und 20. Jahrhundert. Historische und geographische Aspekte, Köln 1983, S. 475–497, hier S. 493.

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Ähnlich verhielt es sich auch bei Fragen der unterentwickelten Infrastruktur. Von der Einführung und Erweiterung der Straßenbahnlinien bis hin zur ständigen Diskussion um eine Erweiterung der städtischen Wasserver- und Abwasserentsorgung – in der Regel war es zunächst der jeweilige Stadtpräsident, der versuchte, den Generalgouverneur von der Bedeutung der Projekte zu überzeugen. Der Zugang des Stadtpräsidenten zu den brennenden Fragen der Stadterneuerung war dabei nicht nur von großem Pragmatismus geprägt. Hier offenbarte sich der auch qua Amt definierte Fokus auf die Lokalität. Diesem zarischen Beamten war durchaus an einer Regional- und Stadtentwicklung gelegen, bei der es primär tatsächlich um Polen- oder Warschauzentrierte Bedürfnisse – zumindest in ihrer Ausdeutung durch den jeweiligen Amtsinhaber ­– ging.31 Der Generalgouverneur war dagegen von einer ganz anderen Perspektive und auch von einer abweichenden Rauminterpretation geleitet. Nicht nur bei den Generalgouverneuren, die sich durch eine ausgesprochen antipolnische Politik auszeichneten – wie beispielsweise Iosif Gurko, einem Vertrauten Alexanders III. und notorischem Russifizierer; diesen dominierte die Deutung des Warschauer Stadtraums als Repräsentationsfläche russischer Herrschaft. Es ging auch bei seinen polenfreundlicheren Amtskollegen vorrangig um die Visualisierung russischer Dominanz an der westlichen Peripherie. Der städtische öffentliche Raum war dementsprechend vor allem ein Exzerzierfeld militärischer Paraden und anderer herrscherlicher Ritualhandlungen. Er war ebenso der Ort für symbolische Inszenierungen russischer Dominanz durch Denkmäler und – da die Orthodoxie in dieser katholisch-jüdischen Stadt als weitgehend deckungsgleich mit dem Russisch-Sein und der zarischen Macht wahrgenommen wurde – durch orthodoxe Kirchen.32 Die monumentale Alexander-Nevskij-Kathedrale im Zentrum ist sicherlich das bekannteste Beispiel für den Versuch, die Warschauer Topographie mit sichtbaren Symbolen russischer Hegemonie neu zu ordnen.33 Das im neo-by31 Vgl. dazu die Reihenpublikationen der Warschauer Statistischen Kommission: U.  a. Varšavskij statističeskij komitet. Desjat’ gubernij Carstva Pol’skogo v cifrach. Naselenie. Zemlevladenie. Promyšlennost’. Prosveščenie. Nravstvennost’. I proč. Otčet za 1907 god. Trudy Varšavskogo statističeskogo komiteta, Bd. 35, Warschau 1908. Insgesamt erschienen über 40 Bände zur lokalen und städtischen Entwicklung in dieser Reihe. 32 Zu russischen Denkmälern in Warschau vgl. Putevoditel’ po Varšave i ee okrestnostja, hg. v. V. Z., Warschau 1893, S. 83–85, S. 115–131 u. S. 144–145; N. F. Akaemov, Putevoditel’ po Varšave, Warschau 1907, S. 19–22. 33 Vgl. dazu ausführlicher Piotr Paszkiewicz, »The Russian Orthodox Cathedral of Saint Alexander Nevsky in Warsaw. From the History of Polish-Russian Relations«, in: Polish Art Studies 14 (1992), S. 64–71; Malte Rolf, »Russische Herrschaft in Warschau: Die AleksandrNevskij-Kathedrale im Konfliktraum politischer Kommunikation«, in: Walter Sperling

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zantinischen Stil gebaute grandiose Gotteshaus manifestierte ebenso den Herrschaftsanspruch wie auch die Fremdheit der »Moskowiter«, wie es in der Kritik der polnischen Gesellschaft hieß. Diese polnische Kritik benannte unter anderem das repräsentative Raumverständnis offen als ein Problem, wenn sie darauf verwies, dass die umfangreichen staatlichen Mittel, die für den Bau der orthodoxen Kathedrale verwendet wurden – die Basilika kostete insgesamt fast drei Millionen Rubel und wurde erst nach einer Bauzeit von knapp 20 Jahren fertig gestellt – bei dem Ausbau der städtischen Infrastruktur fehlen würden.34 Dies war eine Kritik, die der Stadtpräsident derart offen nicht teilte – deren Grundgedanken ihm als den Verwalter eines chronisch knappen städtischen Budgets aber nicht fern gelegen haben dürften. In einer Interpretation des Stadtraums als Schaubühne für die technisierte Moderne präferierte der Stadtpräsident viel stärker Demonstrationen von Fortschritt und Urbanität, so wie die Umgestaltung der Marszałkowska zum mondänen Boulevard (1880er Jahre), die Einführung einer Pferdebahnlinie (1882) und einer elektrischen Straßenbahn (1907), die Erweiterung des Telefonnetzes, die Eröffnung von modernen Markthallen oder auch den Ausbau von gepflegten städtischen Bürgerparks – unter denen der vom Stadtpräsidenten Starynkevič initiierte und 1896 eröffnete Park Ujazdowski sicherlich die bedeutendste und bis heute beliebteste Warschauer Anlage ist.35 Der Blick des Generalgouverneurs auf den öffentlichen Raum war aber nicht nur durch die Privilegierung von Herrschaftsinszenierungen ganz anders fokussiert. Oft spielten auch militärstrategische Zwänge eine wichtige Rolle bei den Grenzziehungen, mit denen der Generalgouverneur die Warschauer Stadtentwicklung behinderte. Die Verteidigungsstrategie, die Warschau als wichtigen Festungsvorposten gegenüber Preußen und dem Deutschen Reich definierte und die dazu führte, dass der Befestigungsring um Warschau seit den 1890er Jahren massiv ausgebaut wurde, war an den Tischen der Generalsstäbe der zarischen Armee entworfen worden. Hier war der Generalgouverneur selbst in seiner Position als Oberkommandierender des Warschauer Wehrkreises nur Ausführender einer in Petersburg zementierten militärischen Grundsatzent(Hg.), Jenseits der Zarenmacht. Dimensionen des Politischen im Russischen Reich 1800–1917, Frankfurt am Main 2008, S. 163–189. 34 Siehe zu Baukosten Dmitrij B. Nejdgart, Vsepoddannešij otčet o proizvedennoj v 1910 godu po vysočajšemy povelniju Gofmejsterom Dvora Ego Imperatorskago Veličestva Senatorom Nejdgartom revizii pravitel’stvennych i obščestvennych ustanovlenij Privislinskogo kraja i Varšavskogo voennogo okruga, St. Petersburg 1911., S. 148–149. 35 Vgl. dazu im Detail Nejdgart, Vsepoddannejšij otčet, S. 7–56. Ebenso Stanisław Herbst, Ulica Marszałkowska, Warschau 1978; Wyrobisz, »Stadtplanung in polnischen Gebieten«, S. 489–491.

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scheidung.36 Dennoch war die Zitadelle im Warschauer Kontext fest in die repräsentative Raumhierarchie eingebunden, denn kaum ein anderes Gebäude an der Weichsel dokumentierte vergleichsweise eindrucksvoll den russischen Hegemonialanspruch. Die Festungsanlage war daher für den Generalgouverneur weitaus mehr als eine bloße militärische Einrichtung. Orthodoxe Kirchen und russische Denkmäler auf dem Gelände der Zitadelle ließen hier einen Raum entstehen, in dem die russisch-zarische Herrschaft abgeschirmt und ungestört von den polnisch-jüdischen Ansprüchen zelebriert werden konnte. Die Alexander-Zitadelle stellte daher bei Ritualhandlungen wie Zarenbesuchen eine zentrale Inszenierungsstätte dar. Gegenüber einer solchen symbolischen Bedeutung des Ortes mussten alle pragmatischen Überlegungen einer urbanen Teilnutzung des weiträumigen Areals zurücktreten.37 Trotz all dieser Begrenzungen, mit denen der Generalgouverneur scheinbar der Stadtmodernisierung im Wege stand, lässt sich dennoch nicht von einer generellen Ignoranz des obersten zarischen Beamten im Königreich gegenüber der lokalen Entwicklung sprechen. Davon zeugen die Berichte, die der Generalgouverneur alljährlich nach Petersburg sandte, um über den Zustand der ihm unterstellten Verwaltungseinheit Rechenschaft abzulegen.38 Diese Landesreportagen dokumentieren vielmehr, wie stark das allgemeine Entwicklungsdenken auch die Wahrnehmung des Generalgouverneurs prägte. Zentraler Gegenstand der Berichte waren neben der Erhaltung von Ruhe und Ordnung im Landstrich vor allem dessen wachsende Prosperität. In der behördeninternen Korrespondenz war die ökonomische und kulturelle Entwicklung des Königreiches ein ganz wesentliches Argument, wenn es um Kompetenzerweiterungen oder Statusfragen innerhalb der Bürokratie ging. Ein Fortschrittsdenken war fest im Wertehorizont der Beamten verankert – und der Warschauer Generalgouverneur verwies regelmäßig stolz darauf, dass er der Verwaltungschef der ökonomisch entwickeltesten Reichsprovinz war und »sein« Warschau die drittgrößte Metropole des Imperiums insgesamt darstellte. Die zunehmende Technisierung der industriellen Produktion wurde in diesen Berichten ebenso vermerkt wie Modernisierungsmaßnahmen in den Städten – der allgemeine öffentliche 36 Dies gilt ebenso für den Ausbau des Eisenbahnnetzes im Königreich Polen. GARF, f. 215, op. 1, d. 94, ll. 58–59 [Veröffentlichungen der Beschlüsse des Ministerkomitees, 17.2.1898]. 37 In der Zitadelle befand sich die 1835 gebaute und nach dem Schutzpatron Aleksandr Nevskij benannte Garnisonskirche. Vgl. K. Moskvin, Pol’nyj putevoditel’ po Varšave i ee okrestnostjam, Warschau 1902, S. 75–76. 38 Vsepoddannejšie otčety o sostojanii Varšavskogo General-Gubernatorstva, RGIA, Biblioteka, op. 1, d. 9, ll. 1–24ob (1884), ll. 63–80 (1897), ll. 96–111 (1899), ll. 112–119ob (1899), op. 1, d. 10, l. 5 (1903).

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Wohlstand war im ausgehenden 19. Jahrhundert längst ein zentraler Punkt auf der Agenda der Staatsbeamten und eine wichtige symbolische Ressource in den zahlreichen Hierarchiestreitigkeiten innerhalb der zarischen Verwaltung.39 Anders jedoch als der Stadtpräsident war ein solcher auf Fortschritt und Modernisierung gerichtete Blick beim Generalgouverneur immer orientiert am imperialen Maßstab. Der Bezugspunkt war der Reichszusammenhang insgesamt, weniger die spezifische Entwicklung vor Ort. Und so betonte der Generalgouverneur in seinen Berichten die reichsweite Relevanz von Projekten wie Eisenbahn- oder Brückenbau. Nicht das Königreich oder Warschau an und für sich standen im Mittelpunkt seines Fokus, sondern deren Entwicklung im Rahmen der Machtentfaltung des Imperiums. Diese Differenz in der Perspektive erklärt dann auch die Unterschiede in den Akzentsetzungen von Modernisierungsmaßnahmen, die zwischen dem Stadtpräsidenten und dem Generalgouverneur bestanden. Ein solcher Fokus galt um so mehr für jene Instanzen, die in der Petersburger Hauptstadt über größere Investitionen zu entscheiden hatten. Das Petersburger Komitee für die Angelegenheiten des Königreichs Polen (Komitet po delam Carstva Pol’skogo) und die hauptstädtischen Ministerien – und hier vor allem das Innen- und Finanzministerium – waren für alle Grundsatzentscheidungen im Königreich und ebenso im Bereich der städtischen Modernisierung zuständig.40 Aber auch mit Blick auf die Petersburger Bürokraten ergibt sich kein eindeutiges Bild. Sie bewegten sich selber zwischen den Polen der Modernisierungsbremser und den Initiatoren von Veränderung. Die Festungsanlagen sind als Beispiel für eine Petersburger Unbeweglichkeit schon benannt worden. Auf der anderen Seite verdient es das Polytechnische Institut in Warschau ausführlicher erwähnt zu werden. Die Einrichtung des Politechnika Warszawska war durch die Technische Sektion der Warschauer Gesellschaft zur Förderung von Handel und Industrie initiiert worden und hatte im Generalgouverneur Imeretinskij einen gewichtigen Fürsprecher gefunden. Die Gründung des Instituts wurde nach der Befürwortung Nikolaus II. durch das Petersburger Ministerkomitee im Februar 1898 beschlossen und schon im September gleichen Jahres in Warschau eröffnet. Es war als Einrichtung konzipiert, die ausdrück-

39 GARF, f. 215, op. 1, d. 94, l. 59ob [Veröffentlichungen der Beschlüsse des Ministerkomitees, 17.2.1898]. GARF, f. 215, op. 1, d. 97, ll. 30–45 [Brief der Kanzlei des Warschauer Generalgouverneurs Michail I. Čertkov an das Innenministerium und den Innenminister V. K. Plehve, 12.3.1902]. 40 Strasburger, Gospodarka naszych wielkich miast, S. 28.

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Abb. 3:  Das Polytechnische Institut in Warschau

lich dafür bestimmt war, Modernisierungsträger in Gestalt von technischen Experten zu produzieren.41 Das Polytechnische Institut – zunächst symbolisch an der repräsentativen ul. Marszałkowska (Nr. 81) gelegen und im Folgenden in einem aufwändig, von Stefan Szyller im Stil der Neorenaissance gestalteten Gebäuden untergebracht – war die zweite Hochschule im Königreich überhaupt und spielte bei der Ausbildung einer lokalen technischen Elite in den folgenden Jahren eine wichtige Rolle.42 Hier wurde eine Kohorte von Ingenieuren und Spezialisten ausgebildet, die noch im Zarenreich, aber dann auch in der Zweiten Polnischen Republik der Zwischenkriegszeit eine zentrale Rolle bei Modernisierungsvorhaben einnehmen sollten. Über sie wird noch später ausführlicher die Rede sein. Dennoch lässt sich auch beim Polytechnischen Institut eindeutig aufzeigen, dass es den zentralen Petersburger Instanzen nicht primär um Regionalförderung ging. Die Eröffnung des Polytechnischen Instituts in Warschau stand im Kontext einer ganzen Reihe von Institutsgründungen im Russischen Reich. Zu einer solchen Institutsschwemme hatte die Einsicht geführt, dass die bisherige technische Ausbildung im Rahmen von elitären Bildungsstätten für den Adel nicht die ständig wachsende Nachfrage an technischem Personal in einem sich

41 GARF, f. 215, op. 1, d. 94, ll. 11–13, ll. 31–32 [Auszüge aus dem Memorandum des Warschauer Generalgouverneurs Fürst Aleksandr K. Imeretinskij, 12.1.1898]. und f. 215, op. 1, d. 94, l. 47. [Veröffentlichungen der Beschlüsse des Ministerkomitees, 10.2.1898]. 42 Neben dem Polytechnischen Institut bestand noch die Kaiserliche Warschauer Universität als höhere Bildungsinstitution im Königreich Polen. Vgl. allg. zum Bildungssystem in Kongresspolen Miąso, Szkolnictwo zawodowe; Robert L. Przygrodzki, »Tsar Vasilii Shuiskii, the Staszic Palace, and Nineteenth-Century Russian Politics in Warsaw«, in: David L. Ransel, Bozena Shallcross (Hg.), Polish Encounters, Russian Identity, Bloomington 2005, S. 144–159; Leszek Zasztowt, »Popularyzacja nauki w Królestwie Polskim 1864–1905«, in: Stanisław Brzozowski, Bogdan Suchodolski (Hg.), Historia nauki polskiej, Bd. IV, Wrocław 1987, S. 599–633.

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rapide industrialisierenden Land decken konnte.43 Es ging dabei auch ausdrücklich darum, die Dominanz der ausländischen Ingenieure und Meister zurückzudrängen.44 Das Warschauer Polytechnische Institut stellte somit einen Baustein in dem größeren Projekt dar, eine neue technische Spezialistengruppe im Imperium heranzubilden. Dass es viele ortsansässige Polen waren, die an dem Polytechnische Institut in Warschau studierten, nahm man dabei eher in Kauf, als dass dies ein erklärtes Bildungsziel gewesen wäre. Das stand im Übrigen im expliziten Gegensatz zur Wahrnehmung der lokalen Behörden, die die jahrelange, auch durch den Mangel an Bildungsinstitutionen bedingte Abwanderung der polnischen Intelligenz ins Ausland durchaus als Problem wahrnahmen. Der Generalgouverneur betonte den Stellenwert einer solchen Bildungsstätte auch bei der »inneren Beeinflussung« der indigenen Jugend. Der ablehnenden Haltung junger Polen gegenüber der zarischen Herrschaft, die im Auslands- oder Untergrundstudium nur perpetuiert werden würde, sollte hier in legalen weltlichen Bildungseinrichtungen entgegengewirkt werden.45 Um noch ein weiteres Beispiel für den imperialen Fokus von Petersburger Entscheidungen deutlich zu machen, sei hier der Bau der dritten, nach Nikolaus II. benannten Weichselbrücke erwähnt. Diese infrastrukturelle Maßnahme hatte enorme Bedeutung für Warschau, denn die trzeci most erleichterte den direkten Warenverkehr zwischen den west- und ostufrigen Stadtteilen sowie den westlichen und östlichen Bahnhöfen erheblich. Sie führte zudem im Zuge der umfangreichen Bautätigkeit zur Neugestaltung des Stadtviertels in der Weichselniederung.46 Der Brückenbau, der sich von 1904 bis 1914 hinzog, wurde erst durch die Bewilligung eines größeren Kredites durch die St. Petersburger Zentralinstanzen ermöglicht. Die Fixierung einer beträchtlichen Summe dieses Kredites für den Brückenbau47 war dabei nicht primär aus dem Bestreben der 43 So wurden um die Jahrhundertwende Polytechnische Institut u. a. in St. Petersburg, Tomsk, Novočerkask und Kiev gegründet. Vgl. dazu Gregory Guroff, »The Legacy of PreRevolutionary Economic Education: St. Petersburg Polytechnic Institute«, in: Russian Review, 31 (1972), S. 272–281, hier v. a. S. 274–276. 44 GARF, f. 215, op. 1, d. 94, l. l. 47. [Veröffentlichungen der Beschlüsse des Ministerkomitees, 10.2.1898]. 45 GARF, f. 215, op. 1, d. 94, ll. 11–12 [Auszüge aus dem Memorandum des Warschauer Generalgouverneurs Fürst Aleksandr K. Imeretinskij, 12.1.1898]. Zur weiblichen Bildungsemigration vgl. allg. Bianka Pietrow-Ennker, Rußlands »neue Menschen«. Die Entwicklung der Frauenbewegung von den Anfängen bis zur Oktoberrevolution, Frankfurt am Main 1999. 46 Nejdgart, Vsepoddannejšij otčet, S. 24–32 (Sooruženie tretego mosta čerez r. Visly). Zu den Warschauer Weichselbrücken vgl. auch Staatsarchiv der Hauptstadt Warschau (Archiwum Państwowe m. st. Warszawy = APW), T. 25, Sygn. 267, kart. 1–43 (1911–1914). 47 Insgesamt war der Stadt Warschau im Juni 1903 ein Kredit von 33 Millionen Rubel gewährt worden. 4,5 Millionen Rubel dieser Summe waren für den Brückenbau vorgesehen.

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Regionalentwicklung heraus erfolgt, sondern stand im Zusammenhang mit reichsweiten ökonomischen und militärstrategischen Überlegungen.48 Die Perspektive des Zentrums auf die lokale Modernisierung wurde also vom imperialen Maßstab beherrscht. Dementsprechend nahmen sich die Entscheidungspräferenzen aus, was für den lokalen Kontext eine erratische Entwicklungspolitik bedeutete. Gelegentlich berührten sich die Interessensphären einer imperialen und lokalen Orientierung – oft genug schlossen sie sich aber gegenseitig aus und führten zu einer Blockade regionaler Bedürfnisse. Die imperiale Bürokratie präsentiert sich bei einem genaueren Blick also keineswegs als einheitlicher Monolith. Vielmehr lassen sich sehr unterschiedliche Handlungsoptionen und Referenzrahmen auf den verschiedenen Ebenen der zarischen Verwaltung nachzeichnen. Hier trafen äußerst heterogene Vorstellungen aufeinander, wie eine Modernisierung von Stadt und Land auszusehen habe und wie sie zu bewerkstelligen sei. Dies war im Übrigen kein Spezifikum für Warschau oder das Königreich Polen. Robert Thurston, Guido Hausmann, Felix Schnell und andere haben am Beispiel russischer Städte die Konflikte nachgezeichnet, die zwischen der gorodskaja uprava, dem obersten Staatsbeamten in der Stadt und dem Innenministerium bestanden.49 Die unklaren Linien einer städtischen Modernisierungspolitik waren kein Warschauer Privileg. Das war aber aus Warschauer Sicht nur ein schwacher Trost, wenn man vor allem die heimischen Hemmungen vor Augen hatte. In Warschau bestand zudem die Sondersituation, dass angesichts der fehlenden städtischen Selbstverwaltung alle Entscheidungskompetenzen in den Händen von in St. Petersburg ernannten Staatsbeamten lagen. Das Machtmonopol einer externen Bürokratie verfestigte bei der lokalen Gesellschaft das Gefühl, durch eine Fremdherrschaft von den Segnungen der Modernität willentlich abgeschnitten zu werden.50

Vgl. Nejdgart, Vsepoddannejšij otčet, S. 25. Die tatsächlichen Baukosten beliefen sich 1910 allerdings bereits auf 8,2 Millionen Rubel, S. 31. 48 Petrozolin-Skowrońska (Hg.), Encyklopedia Warszawy, S. 511. 49 Vgl. z. B. Robert W. Thurston, Liberal City, Conservative State: Moscow and Russia’s Urban Crisis, 1906–1914, New York 1987, v. a, S. 85–99; Guido Hausmann, »Stadt und Gesellschaft im ausgehenden Zarenreich«, in: ders. (Hg.), Gesellschaft als lokale Veranstaltung. Selbstverwaltung, Assoziierung und Geselligkeit in den Städten des ausgehenden Zarenreiches, Göttingen 2002, S. 13-166, v. a. S. 42–73; Felix Schnell, Ordnungshüter auf Abwegen? Herrschaft und illegitime Gewalt in Moskau 1905–1914, Wiesbaden 2006, S. 82–102. 50 Zur Struktur und zum Personal der zarischen Bürokratie im Königreich vgl. allg. Chimiak, Gubernatorzy rosyjscy; Andrzej Chwalba, Polacy w służbie Moskali, Warschau 1999.

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IV. Positivisten und Mäzene: Die Warschauer Gesellschaft im Prozess städtischer Modernisierung Angesichts der administrativen Machtfülle setzte sich auch in Teilen der polnischen Gesellschaft in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gleichwohl die Einsicht durch, dass eine Kooperation mit den zarischen Behörden unabdingbar für die örtlichen Belange war. Man suchte und fand in den verschiedenen Verwaltungsinstanzen sehr unterschiedliche Ansprechpartner. Es waren die Anhänger eines sogenannten »Warschauer Positivismus«, die die Kommunikation mit den zarischen Amtsinhabern besonders forcierten. Ihre Gesprächsbemühungen verdeutlichen einerseits erneut den heterogenen Charakter der russisch dominierten Staatsbürokratie. Andererseits lässt sich anhand dieser Kontakte aber auch aufzeigen, dass die russischen Beamten in einem intensiven, wenn auch oft konfliktträchtigen Austausch mit der polnischen Gesellschaft standen. Der Warschauer Positivismus war eine einflussreiche Strömung innerhalb der gebildeten polnischen Gesellschaft in den 1880er und 1890er Jahren.51 Von Auguste Comtes philosophischen Positivismus beeinflusst, entwickelten die Warschauer Positivisten einen gesellschaftspolitischen Pragmatismus, der bewusst mit dem Pathos der romantischen Aufstandsperiode brach.52 Nicht mehr der heroische, aber scheiternde Revolutionär sollte das gesellschaftliche Leitbild stellen, sondern nur noch nüchtern-rationelles Handeln das Überleben der polnischen Nation ohne Staat sichern. Es ging um die »Arbeit an den Grundlagen«, wie es die Positivisten ausdrücklich formulierten – sie zielte auf die Modernisierung des Landes, der Städte und der Bevölkerung. In einer Verherrlichung von fortschrittsorientierter, sogenannter »organischer Arbeit« versuchten die Positivisten der traditionellen, adeligen Leitkultur mit ihrem Aufstandsheroismus eine neue bürgerliche Orientierung entgegenzusetzen.53 Dabei stand die Entwicklung der Bildung, der Wissenschaft und der Wirtschaft im Vordergrund und wurden zur patriotischen Tat überhöht. Die Eliten entdeckten das »Volk«, das sie durch zahlreiche Bildungsinitiativen aufzuklären 51 Zum »Warschauer Positivismus« vgl. Stanislaus A. Blejwas, Realism in Polish Politics: Warsaw Positivism and National Survival in Nineteenth Century Poland, Yale Russian and East European publications; no. 5, New Haven 1984. 52 Zum romantischem Habitus und zur entsprechenden Denkfigur vgl. Alix Landgrebe, »Wenn es Polen nicht gäbe, dann müsste es erfunden werden«. Die Entwicklung des polnischen Nationalbewusstseins im europäischen Kontext von 1830 bis in die 1880er Jahre, Wiesbaden 2003; Bronislaw Swiderski, Myth and Scholarship. University Students and Political Development in XIX Century Poland, Kopenhagen 1987. 53 Piotr S. Wandycz, The Lands of Partitioned Poland 1795–1918, Seattle 1974, S. 260–272.

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versuchten. Das erklärte Ziel war, aus Bauern Polen zu machen. Auch Bildung war eben ein patriotischer Akt. Es ging um die Stiftung eines Nationalbewusstseins bei der breiten Masse der Bevölkerung.54 Verbunden mit der Verklärung von »organischer Arbeit« stand eine Vorstellung von Modernität und einer modernen Nation, die stark von einem technisch-wissenschaftlichen Diskurs geprägt war. Technisch-wissenschaftliche Erneuerung versprach, die polnische Nation auf eine moderne und damit auch ohne eigenen Staat lebensfähige Grundlage zu stellen. Es gab zahlreiche einflussreiche Vertreter eines solchen positivistischen Pragmatismus, die sich in der politischen, öffentlichkeitsbildenden oder kulturellen Szene engagierten. Hier wären vor allem Marquis Zygmunt A. Wielopolski, Adolf Suligowski, Aleksander Świętochowski zu nennen. In Petersburg waren um die Zeitschrift Kraj vor allem Erazm Piltz, Aleksander Lednicki und Włodzimierz Spasowicz aktiv. Aber auch Schriftsteller und Wissenschaftler wie Bolesław Prus, Henryk Sienkiewicz oder Jan I. N. Baudouin de Courtenay machten sich für positivistische Positionen stark. Gerade die Warschauer Hauptschule (Szkoła głòwna) entwickelte sich in der kurzen Zeit ihrer Existenz zu einer Kaderschmiede von Positivisten.55 Sie alle strebten eine kulturelle, wissenschaftliche und ökonomische Entwicklung des Königreiches unter politisch-pragmatischen Vorzeichen an. Nicht die Forderungen nach Unabhängigkeit und Wiedervereinigung Polens, sondern höchstens nach einer ausgeweiteten Autonomie und partielle Selbstverwaltung in Sprach-, Bildungs- und Wirtschaftsfragen standen auf der Agenda der Positivisten.56 Auch das Thema der »Wohnungsfrage« und des sozialen und hygienischen Elends städtischer Unterschichten stand auf der Agenda der Positivisten. Damit verbunden war eine erhöhte Kooperationsbereitschaft mit den zarischen Behörden – denn im Zuge der erklärten Loyalität gegenüber dem Zaren erschienen Reformen nur im Rahmen der existierenden russischen Verwal54 Siehe dazu Brian A. Porter, When Nationalism Began to Hate. Imagining Modern Politics in Nineteenth-Century Poland, Oxford 2000, S. S. 104–128; Jan Piskurewicz und Leszek Zasztowt, »The Warsaw Scientific Society«, in: Annals of the Warsaw Scientific Society, XLIX (1986), S. 25–71. 55 Die Warschauer Hauptschule bestand von 1862 bis 1869. Basierend auf der Hauptschule wurde 1869 die gegründete Kaiserliche Warschauer Universität gegründet. Zur Hauptschule siehe u. a. Političeskie itogi. Russkaja politika v Pol’še. Očerk Varšavskogo publicista (Perevod s pol’skogo), anonym publiziert, Leipzig 1896, S. 33–41; I. P. Ščelkov, »Očerk istorii vysšich učebnych zavedenii v Varšave do otkrytija Imperatorskogo Varšavskogo Universiteta«, in: Varšavskie universitetskie izvestija, Nr. 9 (1893), S. 33–63. 56 Političeskie itogi. Russkaja politika v Pol’še. Očerk Varšavskogo publicista (Perevod s pol’skogo), anonym publiziert, Leipzig 1896, S. 33–41.

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tung möglich. Die explizite Monarchentreue betonte dabei zwar die direkte Verbindung der Untertanen zum Herrscher, der Pragmatismus im Alltagsgeschäft machte aber die Kooperation mit den lokalen Staatsbeamten unabdingbar. Daher kam es in den Hochzeiten des Positivismus im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem erstaunlich regen Austausch zwischen Positivisten und zarischen Instanzen – wenngleich zum Teil sehr unterschiedliche Berührungspunkte bestanden und auch verschiedenen Deutungen aufeinander trafen.57 Von schwierigen Konflikte geprägt verlief die Kommunikation zwischen dem russischen Generalgouverneur und den Positivisten. Selbst in der Amtsperiode des als liberal geltenden Generalgouverneurs Alexander K. Imeretinskij in den 1890er Jahren gab es zahlreiche Missverständnisse in diesem ungleichen Dialog und Imeretinskij ließ mehrfach die öffentlichen Auftritte des einflussreichen Positivisten Marquis Zygmunt Wielopolski zensieren.58 Aber es gab auch Momente der Zusammenarbeit. So beteiligten sich beispielsweise vom Positivismus inspirierte Polen sehr aktiv an den Vorbereitungen des Zarenbesuchs in Warschau 1897. (Nikolaus II. ersten Reise an die Weichsel). Hierbei ging es um eine städtische Demonstration von Modernität, die auch dem Generalgouverneur gelegen kam. Und so erleuchtete auf Initiative der Warschauer Bürger die Stadt beim abendlichen Empfang des Monarchen in hellem Licht. Gasleuchten und elektrisches Licht verwandelten die Nacht zum Tag und die Straßen zu Salons, wie der lokale Varšavskij dnevnik zu berichten wusste.59 Hier wurde festlich und zugleich öffentlich manifestiert, wie weit die Großstadt schon auf dem Weg der modernen Beleuchtungssysteme vorangeschritten war. In einer von den polnischen Positivsten und mit Zustimmung des Generalgouverneurs getragenen Spendenaktion wurden außerdem Mittel für den Aufbau einer städtischen Wohltätigkeitseinrichtung gesammelt, die in Gedächtnis an den Warschaubesuch Nikolaus II. gegründet werden sollte. Diese Einrichtung stand ganz unter den Vorzeichen der »Arbeit an den Grundlagen« und betonte den Bildungsanspruch der Einrichtung. Und auch bei der Gründung des Polytechnischen Instituts in Warschau beteiligten sich die Positivisten und be-

57 Siehe dazu im Detail Malte Rolf, »Der Zar an der Weichsel: Repräsentationen von Herrschaft und Imperium im fin de siècle«, in: Jörg Baberowski, David Feest, Christoph Gumb (Hg.), Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt am Main 2008, S. 145–171. 58 GARF, f. 215, op. 1, d. 277, ll. 16–20 [Brief des Warschauer Generalgouverneurs Aleksandr K. Imeretinskij an den Innenminister Ivan L. Goremykin, 31.7.1897]. 59 Varšavskij dnevnik, Nr. 221 (20. August [1. September] 1897), S. 3.

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mühten sich, zusammen mit dem Generalgouverneur, die Eröffnung der technischen Bildungsstätte zu beschleunigen.60 Dass die Kommunikation zwischen Positivisten und dem Generalgouverneur zumindest in Teilen funktionierte, hatte viele Gründe. Sicherlich spielte dabei auch die Standessolidarität eine Rolle. Denn der Generalgouverneur und einige der herausragenden positivistischen Vertreter – wie der Marquis Wielopolski – waren durch ihre hochadelige Herkunft dem Stand nach verbunden.61 Gemeinsam war ihnen zudem das Interesse an öffentlicher Ordnung und Stabilität. Und sie teilten das Entwicklungsdenken, mit dem sie versuchten, die Reichsprovinz voranzubringen. Nicht zuletzt sahen sie sich allesamt vor eine neue Herausforderung gestellt – denn in der jungen Generation von Nationaldemokraten und Sozialisten erwuchsen um die Jahrhundertwende sowohl dem russischen Generalgouverneur wie auch den etablierten polnischen Positivisten eine neue unberechenbare Gegnerschaft.62 Die Revolution von 1905–1907 bedeutet eine unmittelbare Gefahr dieses Establishments und erschütterte die Sicherheit der herrschenden und besitzenden Kreise.63 Diese Erfahrung von revolutionärem Chaos und Gewalt führte auch im Königreich dazu, dass es selbst im vom Generalgouverneur Georgij A. Skalon ausgerufenen und bis 1909 verlängerten Ausnahmezustand Gespräche zwischen späten Anhängern des Positivismus und den zarischen Beamten gab.64 Denn das Bedürfnis nach innerer Befriedung der Provinz wurde auch von ihnen geteilt. Allerdings waren die Positivisten zu diesem Zeitpunkt schon weitgehend in einer sich radikalisierenden polnischen Gesellschaft isoliert.

60 GARF, f. 215, op. 1, d. 277, ll. 1–3ob [Brief des Warschauer Generalgouverneurs an den Marquis Zygmunt A. Wielopolski, 17.5.1897] und ll. 4–5ob [Brief des Generalgouverneurs an den Innenminister, ohne Datum]. 61 So war der Generalgouverneur Aleksandr K. Bagration-Imeretinskij ein georgischer Prinz und entstammte der Generalgouverneur Georgij A. Skalon einer alten litauischen Magnatenfamilie. Zum noblen Hintergrund der Generalgouverneure und Gouverneure in Russland vgl. allg. Richard G. Robbins, The Tsar’s Viceroys: Russian Provincial Governors in the Last Years of the Empire, Ithaca 1987, S. 31–33. 62 Zur Entwicklung der Sozial- und Nationaldemokratien zu Massenbewegungen vgl. u. a. Robert E. Blobaum, Feliks Dzierżyński and the SDKPiL. A Study of the Origins of Polish Communism, New York 1984; Porter, When Nationalism Began to Hate; Joshua D. Zimmermann, Poles, Jews, and the Politics of Nationality. The Bund and the Polish Socialist Party in Late Tsarist Russia, 1892–1914, Madison 2004. 63 Zur Revolution von 1905–1907 im Königreich Polen siehe v. a. Robert E. Blobaum, Rewoljucja. Russian Poland, 1904–1907, Ithaca 1995. 64 Katarzyna Beylin, W Warszawie w latach 1900–1914, Warschau 1972, S. 437; KozińskaWitt, »Stadträte und polnische Presse«, S. 287.

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Auf der anderen Seite gab es ebenso deutliche Grenzen der Kooperation. Das gilt besonders für die frühen Jahre nach dem niedergeschlagenen polnischen Januaraufstand von 1863. Vor allem unter dem Generalgouverneur Iosif V. Gurko heizten scharfe Russifizierungsmaßnahmen den russisch-polnischen Antagonismus permanent an. Hier waren auch Fragen der Sprach- und Bildungspolitik umstritten und unterminierten jede Gesprächsgrundlage. Denn eine Einführung des Russischen als Schul- und Unterrichtssprache lag konträr zur positivistischen Zielvorstellung, dem Polnischsein in breiteren Gesellschaftsschichten zum Bewusstsein zu verhelfen.65 Aber auch in den späteren liberaleren Zeiten der Generalgouverneure Pavel A. Šuvalov (Generalgouverneur 1894–1896), Aleksandr K. Imeretinskij (Generalgouverneur 1896–1900) oder Michail I. Čertkov (1900–1905) sprengten etliche der Modernisierungsprojekte der polnischen Positivisten den Handlungsrahmen der Staatsbeamten. Denn bei aller Entwicklungsrhetorik war das Hauptaugenmerk des Generalgouverneurs doch darauf gerichtet, die öffentliche Ruhe und Ordnung, den inneren Frieden und damit den status quo zu wahren.66 Radikale Modernisierungskonzepte bedrohten einerseits die existierende gesellschaftliche Balance. Andererseits forderten sie auch eine ganz andere Rolle staatlichen Engagements ein, als es dem Denken und Selbstverständnis der Beamten entsprochen hätte. Der interventionistische Staat, der mit massiven Investitionen eine nachhaltige Umgestaltung der Verhältnisse anstieß, war eine Option, die vielleicht einem fortschrittsgläubigen Wirtschaftsminister wie Sergej Ju. Witte zur Verfügung stand. Die eher konservativen Warschauer Generalgouverneure hielten sich in diesem Bereich jedoch vornehm zurück und überließen die gesellschaftlich-ökonomische Entwicklung dem Kräftespiel des Marktes und der Privatinitiative – solange dieses die öffentliche Ordnung in der Provinz nicht zu gefährden schien.67 65 Generalgouverneur Iosif V. Gurko (Amtszeit 1883–1894) betrieb zusammen mit dem Kurator Aleksandr L. Apuchtin (Amtszeit 1879–1897) eine Politik, die die kulturelle Russifizierung des Königreichs vorantrieb. Von polnischer Seite wurde die lange Amtszeit Apuchtins (1879–1897) als »Apuchtinsche Nacht« bezeichnet. Vgl. dazu Aleksander A. Kraushar, Czasy szkolne za Apukhtina: kartka z pamiętnika (1879–1897), Warschau 1915. 66 Vgl. z. B. GARF, f. 215, op. 1, d. 89, l. 7ob [Brief des Warschauer Generalgouverneurs Imeretinskij an den Minister für Bildung Graf Ivan D. Deljanov, 18.9.1897]; f. 215, op. 1, d. 89, l. 31ob [Brief des Warschauer Generalgouverneurs Imeretinskij an den Minister für Bildung Graf Ivan D. Deljanov, 28.9.1897]. 67 Vgl. dazu grundsätzlich Anna Veronika Wendland, »›Europa‹ zivilisiert den ›Osten‹: Stadthygienische Interventionen, Wohnen und Konsum in Wilna und Lemberg 1900–1930«, in: Janatková/Kozińska-Witt (Hg.), Wohnen in der Großstadt 1900–1939, S. 271–296, hier S. 271–273.

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Konkrete Fragen der städtischen Modernisierung waren dann auch weniger mit dem Generalgouverneur zu debattieren als mit dem Warschauer Stadtpräsidenten. Hier fanden die polnischen Positivsten einen zum Teil engagierten, wenn auch nur begrenzt machtvollen, Ansprechpartner. Innerhalb des engen Rahmens des Machbaren kam es durchaus zur intensiven Zusammenarbeit. Dies gilt vor allem für den Zeitraum Sokrat Starynkevičs. Aber auch seine weniger profilierten Amtsnachfolger zeichneten sich zumindest durch eine »Ermöglichungspolitik« aus, bei der sie den Aktivitäten eines engagierten Stadtbürgertums keine weiteren Hindernisse in den Weg stellten. Am deutlichsten wird diese Melange aus Kooperation und Tolerierung an konkreten Einzelfällen städtischer Modernisierungsmaßnahmen. Ein gutes Beispiel ist der Umgang mit der chronischen, sich seit den 1880er Jahren verschärfenden Wohnungsnot. Staatliche Investitionen in diesem Bereich blieben fast vollständig aus.68 Allerdings ermöglichte der Stadtpräsident Einzelprojekte, wobei in Warschau als große Wohnanlage nur die Siedlung Wawelberg in der Wola-Vorstadt fertiggestellt wurde. Die Wawelberg-Sieldung war nach den Gründern der »Stiftung für billiges Wohnen« benannt – dem Bankiersehepaar Hipolit und Ludwika Wawelberg. Sie bot am Warschauer Stadtrand einen – allerdings sehr bescheidenen – Wohnkomfort für 330 Familien und wurde 1900 zum Bezug freigegeben. Die Familien verfügten hier über eine eigene Wohnung und es befand sich eine Gemeinschaftstoilette auf dem Flur. 1911 wohnten in der Siedlung immerhin schon 1.709 Bewohner.69 Die Wohnungsanlage war dabei als Projekt der jüdisch-katholischen Verständigung konzipiert. Ursprüngliches Ziel war es gewesen, in dem überwiegend katholischen Vorort eine Insel der konfessionell-paritätischen Wohngemeinschaft einzurichten, um damit auch eine Begegnungsstätte für christliche und jüdische Bewohner zu schaffen und das friedliche Zusammenleben der Konfessionen zu befördern. Die ehrgeizige Planung erwies sich aber als nicht realisierbar: Jüdische Familien mieden das katholisch dominierte Quartier und so lebten 1911 nur 43 jüdische Be-

68 AGAD, KGGW, Sygn. 284, kart. 1–5 [Korrespondenz des Innenministeriums mit dem Warschauer Generalgouverneur zur Wohnungsfrage und zur Warschauer Hygienegesellschaft]. Siehe auch Adolf Suligowski, Kwestya Mieszkań, Warschau 1889. Das war im Übrigen kein Warschauer Spezifikum, sondern galt ebenso für die innerrussischen Metropolen wie auch beispielsweise für Städte in der Habsburger Monarchie. Vgl. z. B. zu Brünn Andreas R. Hofmann, »Von der Spekulation zur Intervention. Formen des Arbeiterwohnungsbaus in Lodz und Brünn vor und nach dem Ersten Weltkrieg«, in: Janatková/ Kozińska-Witt (Hg.), Wohnen in der Großstadt 1900–1939, S. 225–247, hier S. 229–231 und S. 239–241. 69 Caumanns, »Soziales Wohnen in Warschau«, S. 212.

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wohner in der Wawelberganlage, während 1.429 Katholiken, 156 Protestanten und 72 Orthodoxe dort ihren Wohnsitz bezogen hatten.70 Bei den Planungen und der Ausführung des Wawelberg-Projektes war es zu keiner aktiven Förderung von Seiten der Behörden gekommen. Ebenso wenig lässt sich aber eine administrative Behinderung des Vorhabens beobachten. Immerhin äußerte selbst der Generalgouverneur Imeretinskij sein »persönliches Interesse« an der Wawelberg-Siedlung. Eine derartige von Interesse geleitete Duldung war dabei keinesfalls eine Selbstverständlichkeit: Denn die zarische Administration musste all solchen Aktivitäten und Stiftungsgründungen höchstoffiziell zustimmen und hatte oft genug Vereins- oder Verbandsinitiativen in anderen Bereichen abgelehnt oder deren Zulassung erheblich verzögert und erschwert.71 Ein ganz ähnliches Muster lässt sich aber auch beim bürgerlichen Engagement im Bereich der Kranken-, Waisen- und Altenversorgung beobachten. Auch hier duldete bzw. ermöglichte der Stadtpräsident Räume, in denen sich die philanthropische Tätigkeit der Warschauer Gesellschaft entfalten konnte – und dies im Übrigen sowohl im katholischen wie auch jüdischen städtischen Milieu.72 Die Motive der Bürgerschaft, sich im Feld der Philanthropie hervorzutun, waren dabei vielfältig. Unter anderem handelte es sich um eine bürgerliche Rezeption des adelig-karitativen Habitus. Ganz zweifellos war dieses Engagement aber ebenso stark von der positivistischen Denktradition einer Arbeit an den Grundlagen der Gesellschaft beeinflusst. Philanthropie wurde in diesen Kreisen als patriotischer Akt verstanden und als solcher inszeniert.73 Die zarische Bürokratie war auf der anderen Seite immer mehr bereit, derartige philanthropisch-motivierte Investitionen zuzulassen. Die Bereitschaft der 70 Vgl. dazu ebd., S. 211–212. 71 GARF, f. 215, op. 1, d. 97, ll. 30–45 [Brief der Kanzlei des Warschauer Generalgouverneurs Michail I. Čertkov an das Innenministerium und den Innenminister V. K. Plehve, 12.3.1902]. 72 GARF, f. 215, op. 1, d. 94, ll. 120­–137 [Veröffentlichungen der Beschlüsse des Ministerkomitees, 17.2.1898]. 73 Vgl. Jörg Gebhardt, »Elitenbildung in multiethnischer Spannungslage. Die Unternehmer Lublins im 19. und frühen 20. Jahrhundert«, in: Jörg Gebhardt, Rainer Lindner, Bianka Pietrow-Ennker (Hg.), Unternehmer im Russischen Reich. Sozialprofil, Symbolwelten, Integrationsstrategien im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Osnabrück 2006, S. 179–212, hier S. 206; Elżbieta Kaczyńska, »Unternehmer als Wohltäter. Staat, Unternehmertum und Sozialpolitik im Königreich Polen 1815–1914«, in: Gebhard/Lindner/Pietrow-Ennker (Hg.), Unternehmer im Russischen Reich, S. 77–90, hier S. 77–87; Mariola Siennicka-Kondracka, »Private und öffentliche Aktivitäten von Frauen aus Warschauer Unternehmerfamilien (Ende 19./Anfang 20. Jahrhundert)«, in: Gebhard/Lindner/Pietrow-Ennker (Hg.), Unternehmer im Russischen Reich, S. 91–108, hier v. a. S. 91–100.

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Administration zur Kooperation oder zumindest zur Tolerierung war darin begründet, dass sich die Staatsmacht vor die zunehmend schwieriger werdende Aufgabe gestellt sah, den wachsenden urbanen Moloch Warschau zu regieren. Sie musste die hygienischen Zustände auf erträglichem Niveau halten und war dabei selbst durch relativ enge Grenzen des städtischen Budgets gebunden. Nach dem Erlass des Grundgesetzes von 1906 waren zudem die rechtlichen Rahmenbedingungen für Stiftungsgründungen und Vereinsengagement auch deutlich verbessert.74 Insofern traf sich hier das Interesse an städtischen Modernisierungsprojekten, ohne dass dabei die Zielvorstellungen unbedingt die Gleichen waren. Diese zumindest punktuelle Zusammenarbeit drückte sich auch auf symbolischer Ebene aus: Der Stadtpräsident Sokrat Starynkevič war tatsächlich einer der wenigen Vertreter der zarischen Bürokratie, der Aufnahme in den Kreis der polnischen Gesellschaft fand, freundschaftliche Kontakte zu Warschauer Großbürgern pflegte und auf deren Festveranstaltungen eingeladen wurde.75 Dazu hatte zweifellos beigetragen, dass er schon früh versuchte, städtische Honoratioren und die polnische Öffentlichkeit in die Magistratsbeschlüsse einzubeziehen, indem er bei den Magistratsentscheidungen freiwillig ein Gremium angesehener Warschauer Bürger zu Rate zog und die lokale Presse informierte.76 Dabei kommunizierte der Starynkevič unterstehende Magistrat mit der einheimischen Bevölkerung bewusst auch auf Polnisch.77 Nachdem sich Starynkevič im Jahr 1892 aus Altergründen hatte pensionieren lassen, behielt er seinen Wohnsitz in Warschau und lebte bis 1902 in der Weichselmetropole. Seine Beerdigung im August 1902 geriet zu einer friedlichen Massendemonstration, bei der hunderttausende Menschen die Überführung des Leichnams auf dem orthodoxen Friedhof in Wola beiwohnten und dem geachte74 Allerdings blieb das Grundgesetz in Warschau während der Revolution bis zur Aufhebung des Ausnahmezustands im Jahr 1909 in weiten Teilen suspendiert. Vgl. dazu Blobaum, Rewoljucja, S. 275–279. 75 Vgl. Sokrates Starynkiewicz, »Mój Dziennik«, in: Rocznik Warszawski, XXXI (2002), S.  191–222, hier v. a. S. 210; Sokrates Starynkiewicz, Dziennik 1887–1897, Warschau 2005, z. B. S. 94–96. Diese Kontakte gingen weit über das hinaus, was als strategische Kontaktpflege zur zarischen Obrigkeit von Seiten der polnischen Gesellschaft und Geschäftswelt gepflegt wurde. Vgl. dazu grundsätzlich Andrzej Chwalba, Imperium korupcji w Rosji w Królestwie Polskim w latach 1861–1917, Krakau 1995; ebenso Gebhardt, »Elitenbildung in multiethnischer Spannungslage«, S. 208–209. Starynkevič war im Übrigen trotz seines polnisch klingenden Namens ein 1820 in Taganrog geborener orthodoxer Russe. Vgl. zu Starynkevič auch Słoniowa, Starynkiewicz. 76 Kozińska-Witt, »Stadträte und polnische Presse«, S. 283. 77 GARF, f. 215, op. 1, d. 76, l. 36ob. [Bericht des Generalgouverneurs Al’bedinskij, 27.12.1880].

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ten Stadtpräsidenten die Ehre erwiesen.78 Es sollte nicht die letzte sein: Denn der nach Starynkevič benannte zentrale städtische Platz wurde als einzige Ortsbezeichnung im Zuge der toponymischen Entrussifizierung Warschaus nach 1918 nicht umbenannt und existiert als Plac Sokrates Starynkiewicza bis heute.79 Aber auch die ihm folgenden Stadtpräsidenten waren intime Kenner der polnischen Warschauer Gesellschaft. So wusste der Generalgouverneur die Vermittlerrolle, die der oberste Magistratsbeamte zwischen der russischen Administration und der polnischen städtischen Elite einnahm, durchaus zu schätzen. Und so kontaktierte der Generalgouverneur oft genug den Stadtpräsidenten, wenn er das Gespräch und die Kooperation mit Warschauer Bürgern suchte, und bat um die Expertise des städtischen Oberhaupts.80 Die relativ guten und persönlichen Kontakte zwischen Stadtpräsidenten und Warschauer Gesellschaft beruhten im Wesentlichen auf konzeptionellen Schnittstellen der Amtsträger und des Milieus einer ortsansässigen städtischen Elite. Denn die Annahme, dass städtische Modernisierung grundsätzlich unabdingbar und diese nur durch technische Neuerungen sowie entsprechende Investitionen zu bewerkstelligen sei, wurde von diesen Gesprächspartnern geteilt. Verschlossen blieb dagegen auch einem Sympathisanten der polnischen Sache unter den zarischen Beamten wie Starynkevič die patriotische Dimension eines solchen Handelns im städtischen Raum. Der allgegenwärtige Pathos der Modernität vermochte jedoch solche Differenzen zu überbrücken. So unterschiedlich die Vorstellungen über die Bedeutungskonnotation des öffentlichen Raums der Metropole waren und so sehr sich die Bilder einer imperialen Großstadt als integraler Teil des Russischen Reiches einerseits und der Hauptstadt eines auf der mentalen Landkarte weiterhin als eins gedachten Polen andererseits eigentlich ausschlossen, so sehr konnten sich die beteiligten Akteure indes auf den gemeinsamen Nenner einer notwendigen Modernisierung des Stadtkörpers verständigen. Der Wandel Warschaus zur Metropole schuf hier durchaus Kommunikationsbrücken.

V. Imperiale Beamte und urbane Modernisierung – Ein Fazit An dem Projekt der städtischen Erneuerung Warschaus im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert waren zahlreiche Akteursgruppen beteiligt. Diese hatten zum Teil sehr unterschiedliche Vorstellung von dem, was Moder78 Petrozolin-Skowrońska (Hg.), Encyklopedia Warszawy, S. 807–808. 79 Kozińska-Witt, »Stadträte und polnische Presse«, S. 283. 80 GARF, f. 215, op. 1, d. 915, l. 35­–36 [Brief des Leiters der Kanzelei des Generalgouverneurs an Nikolaj Bibikov, Präsident der Stadt Warschau, 25 Juli 1897].

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nität bedeuten konnte und was sie bewirken sollte. Zum Teil traten sie als bekennende Modernisierungsverfechter in Aktion, zum Teil bremsten sie als Skeptiker oder Verweigerer die städtische Erneuerung erheblich. Dabei produzierten und popularisierten sie an der Schwelle der Moderne divergente, oft konkurrierende Bilder von Urbanität und Funktionszuschreibungen an den öffentlichen Raum.81 Der Blick auf die Interaktion dieser Gruppen zeigt zugleich eindeutig, dass sich das übliche Stigma der Zarenmacht als absoluten Modernisierungsverhinderer nicht aufrecht erhalten lässt. Die zarische Bürokratie war kein Monolith, der sich geschlossen gegen die Zwänge und Herausforderungen der Moderne stemmte. Vielmehr waren auch innerhalb dieser Verwaltungsstruktur sehr unterschiedliche Kräfte am Werk – einige davon haben entscheidend dazu beigetragen, das Warschau schon unter russischer Herrschaft eine zunehmend moderne Gestalt annahm. Zugleich hat der Beitrag aufgezeigt, wie sehr es gerade auch indigene Kreise der Warschauer Bürgerschaft waren, die zahlreiche Entwicklungen in der Metropole anstießen und realisierten. Sei es beim Polytechnischen Institut, sei es bei der Philharmonie, sei es bei der Zachęta, sei es beim privat finanzierten, parallelen Bildungssystem oder den Ansätzen von sozialem Wohnungsbau: Die Warschauer Gesellschaft verfügte über die Ressourcen, um weitreichende urbane Entwicklungen anzustoßen, an denen es den staatlichen Stellen so oft mangelte. Sie demonstrierte eindrücklich, dass sich der »Aufbruch der Gesellschaft« auch im zarischen Verordnungsstaat schon längst vollzogen hatte.82 Es war das Geflecht von interagierenden staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen, das die Modernisierung einer Metropole ohne Selbstverwaltung ermöglichte. Denn gesellschaftliches Engagement ohne administrative Duldung oder Befürwortung war ebenso wenig möglich, wie die Unternehmungen einer imperialen Bürokratie ohne die Kooperation der indigenen Elite Aussicht auf Erfolg gehabt hätten. Eine Obrigkeit, die mehr als die Aufrechterhaltung militärischer und polizeilicher Kontrolle wollte, war auf die Zusammenarbeit mit Teilen der lokalen Gesellschaft angewiesen. Es war diese an Spannungen, Missverständnissen und Verbitterungen reiche Interaktion einer »Konfliktgemeinschaft«, die den Wandel Warschaus vorantrieb. Immer wieder entstanden Kom-

81 Es konnten in diesem Beitrag längst nicht alle Akteursgruppen, die einen Anteil an der städtischen Modernisierung hatten, benannt werden. Hier wären ebenso Polizisten und Militärs, Hygieniker wie Ärzte, Industrielle und Investoren näher zu behandeln. 82 Heiko Haumann, Stefan Plaggenborg (Hg.), Aufbruch der Gesellschaft im verordneten Staat. Rußland in der Spätphase des Zarenreiches, Frankfurt am Main 1994.

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munikationsschnittpunkte von unterschiedlicher Dauer, die den städtischen Modernisierungsprozess förderten, gelegentlich sogar erheblich beschleunigten. Die imperiale Perspektive, mit der die zarischen Beamten auf Warschau blickten, stand dabei in keinem Widerspruch zu ihrem Engagement in lokalen Angelegenheiten: Man war eben auch an der Modernisierung Warschaus als Teil des Aufstiegs des Russischen Reichs interessiert. So sehr sich die Prioritäten zwischen solchen Amtsträgern wie den Stadtpräsidenten und den Generalgouverneuren unterscheiden mochten, ihnen allen war doch das Zusammendenken der beiden Größen Warschau und Imperium gemeinsam. Das erleichterte die Kontaktaufnahme zur Stadtgesellschaft und stellte eine stabile Basis für die pragmatische Kommunikation jenseits aller politischen Differenzen bereit. In diesem langen Austauschprozess waren die imperialen Beamten längst Teil jener Stadt geworden, deren Beherrschung ihr eigentlicher Amtsauftrag war. Diese über Jahre erfolgte Indigenisierung war partiell und führte nie dazu, dass imperiale Perspektiven zugunsten von polnischen Positionen aufgegeben wurden. Selbst ein erklärter Sympathisant polnischer Anliegen wie Sokrat Starynkevič blieb ein imperialer Beamter, dem an der guten Zusammenarbeit mit der lokalen Elite gelegen war, der aber kein Verständnis für die vielzitierten »polnischen Träumereien« von Autonomie oder gar Selbstständigkeit hatte. Und dennoch ist auffällig, dass die hier porträtierten Beamten sich als Teil des Stadtkörpers und nicht als fremde Besatzungsmacht verstanden. Denn anders als jene nationalistischen Scharfmacher in der russischen Gemeinde, die seit der Jahrhundertwende immer stärker auf die Nationalisierung des Imperiums drängten, sah die imperiale Beamtenschaft die Zukunft des Reiches nicht in Gestalt eines Apartheidregimes, in dem allen Nichtrussen nur noch in benachteiligten, segregierten und polizeilich überwachten Räumen ihr Dasein zu fristen hätten.83 Dass eine Vielzahl der zarischen Beamten selber keine ethnischen Russen waren, hat diese Skepsis gegenüber derartigen Forderungen sicherlich verstärkt. Es war aber auch die jahrelange Erfahrung konkreter Zusammenarbeit mit der lokalen Gesellschaft, die den Horizont zahlreicher Amtsträger prägte. Das gemeinsame Projekt einer urbanen Moderne, die Generalgouverneure, Stadtpräsidenten, Ingenieure und Wirtschaftsbürger immer wieder an einen Tisch brachte, hat hier nachhaltige Wirkungen gezeigt und damit indirekt die Praxis imperialer Herrschaft modifiziert. Dass der Generalgouverneur 83 Vgl. für derartige Positionen I. V. Skvorcov, Russkaja škola v Privisljan’e s 1879 po 1897 god, Warschau 1897; N. A. Veckij, K voprosu o Varšavskom Universitete, Warschau 1906; oder Vladimir A. Istomin, Nacional’no-patriotičeskie školy, Moskau 1907, v. a. S. 5–9: »O nacionalizaii gosudarstvennoj škol’noj sistemy.« Vladimir Istomin entstammte einer tatkräftigen russischen Verlegerfamilie in Warschau.

Zarische Beamte und urbane Öffentlichkeit in Warschau (1870–1914) 

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Georgij Skalon in Zeiten der politischen Krise von 1905­–1907 den Kontakt zu Teilen der Warschauer Gesellschaft nicht abbrach, sondern im Gegenteil intensivierte, zeugt davon, wie sehr die beteiligten Akteure verstanden hatten, dass sie aufeinander angewiesen waren. Mit dem noch in der russischen Teilungsperiode popularisierten Topos von Warschau als »Paris des Ostens« wurde in der Selbstbeschreibung der städtischen Öffentlichkeit die sich entfaltende Modernität der Weichselmetropole aufgegriffen. Die imperialen Beamten standen nicht abseits dieser Paris-Werdung im Osten, sondern waren einer ihrer produktiven Faktoren. Ihr Anteil an Warschaus Wandel zur modernen europäischen Metropole verdeutlicht die grundsätzlich formative Dimension, die die imperiale Herrschaft im Königreich hatte. Die Entstehung moderner Urbanität an der Weichsel ereignete sich nicht abseits oder entgegen der Rahmenbedingungen, die durch die zarische Bürokratie konstituiert wurden. Sie vollzog sich vielmehr im Zusammenspiel mit diesen. Imperiale Herrschaft ist daher nicht einfach als Unterdrückung und Verhinderung zu beschreiben, sondern als Kontextsetzung zu verstehen, die nachhaltig Entwicklungen in Gang setzte. Wenn Zeitgenossen von der sich entfaltenden Modernität der Weichselmetropole sprachen, dann hatten sie Boulevards wie die ul. Marszałkowska, Parkanlagen wie den Ujazdowski, Markthallen wie die Hala Mirowska oder Bauten wie »Dritte Weichselbrücke« vor Augen. Dies waren Inseln der Urbanität, die im ausgehenden Zarenreich ihren festen und privilegierten Platz auf der Werteskala der Warschauer einnahmen. Die russischen Beamten an der Weichsel stellten hier keine Ausnahme dar. Im Gegenteil: Sie haben einen ganz wesentlichen Anteil an Warschaus Wandel zur modernen europäischen Metropole gehabt.

Helden zwischen Moskau und Medina Imam Sˇamil’, Babäk und Alisˇer Navoi als imperiale Integrationsfiguren in den muslimischen Regionen der Sowjetunion Lars Karl Der Zusammenbruch der Utopie einer sowjetischen Völkerfamilie macht die geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit Nationsbildung und historischer Selbstwahrnehmung in den neu entstandenen Staaten in Osteuropa, dem Kaukasus und Zentralasien zu einem aktuellen Thema. Zu lange hat die westliche Forschung, darunter auch die Fachdisziplin der Osteuropäischen Geschichte, das Zarenreich und die Sowjetunion als monolithische Gebilde verstanden. Regionales Geschichtsverständnis und dessen institutionelle Verankerung in der russischen/sowjetischen Historiographie sowie die Instrumentalisierung von »Geschichte« durch politische Herrschaftsinstanzen wurden dabei stets aus dem Blickwinkel der Metropolen St. Petersburg und Moskau untersucht.1 Die zentralistische Perspektive degradierte die multiethnischen Peripheriegebiete wie das Baltikum, Weißrussland, die Ukraine, den Kaukasus und Mittelasien zu geschichtslosen Räumen und zu »verhinderten Nationen«2. Erst der Zugang zu den Regionalarchiven machte eine Umwertung möglich, die Peripherienationen wurden gleichsam in die Geschichte »zurückgeführt«. Es stellt sich die Frage, wie im 19. und 20. Jahrhundert, der Formationszeit der Nationalidee, regionale Herrschaftsinstanzen in Kiev, Tiflis, Baku, Buchara und Alma-Ata im Wechselspiel mit der Zentrale nationalgeschichtliche Mythen und Ideologien generierten und in den Grenzgesellschaften das Geschichtsbewusstsein der Bevölkerung reflektierten. Als grundlegende Studien zur Nationsbildung und Historiographie in den nichtrussischen Gebieten des Zarenreichs und der Sowjetunion gelten die Werke von Stephen Velychenko, bezogen auf

1 Vgl. Thomas M. Bohn, Russische Geschichtswissenschaft von 1880 bis 1905: Pavel Miljukov und die Moskauer Schule, Köln 1998; Joachim Hösler, Die sowjetische Geschichtswissenschaft 1953 bis 1991. Studien zur Methodologie- und Organisationsgeschichte, München 1995. 2 Manfred Hildermeier, »Verhinderte Nationen. Zu einigen Merkmalen und Besonderheiten nationaler Bewegungen in Russland und der Sowjetunion«, in: Archiv für Sozialgeschichte 34 (1994), S. 1–17.

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die Ukraine,3 und Stephen Astourian, bezogen auf den Kaukasus.4 Auch die Untersuchung Rainer Lindners zur weißrussischen Geschichtsschreibung5 stellt sich in diese Tradition. Analysen zur mittelasiatischen Historiographie sowie der muslimischen Geschichtskultur in der dortigen Region fehlen leider bisher weitgehend. Vor diesem Hintergrund thematisiert der vorliegende Beitrag die Funktion und Wirkung offizieller Geschichtspolitik und Geschichtskultur im späten Zarenreich6 und in der stalinistischen Sowjetunion. Gegenstand ist die (Re-)Kodifizierung, Medialisierung und Inszenierung von »Geschichte« in einem multiethnischen Imperium sowie die Umsetzung imperialer Geschichtspolitik als Herrschaftsstrategie in den muslimischen Gebieten des Russländischen und des sowjetischen Imperiums. In diesem Zusammenhang gilt es, Pendants zur nationalrussischen Geschichtskultur in den nichtrussischen Gebieten zu finden und diese hinsichtlich der Entstehung dortiger nationaler Geschichtskulturen und 3 Vgl. Stephen Velychenko, National History as Cultural Process: A Survey of the Interpretations of Ukraine’s Past in Polish, Russian, and Ukrainian Historical Writing from the Earliest Times to 1914, Edmonton-Alberta 1992; ders., Shaping Identity in Eastern Europe and Russia: Soviet and Polish Accounts of Ukrainian History, 1914–91, New York 1993. 4 Vgl. Stephan H. Astourian, »In Search of their Forefathers: National Identity and the Historiography and Politics of Armenian and Azerbaijani Ethnogeneses«, in: Donald B. Schwarz und Razmik Panossian (Hg.), Nationalism and History. The Politics of Nation Building in Post Soviet Armenia, Azerbaijian and Georgia, Toronto 1994, S. 41–94. 5 Vgl. Rainer Lindner, Historiker und Herrschaft. Nationsbildung und Geschichtspolitik in Weißrußland im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999. 6 Eine Geschichte der Gedächtnis- und Erinnerungskultur, ihrer Repräsentationen, Inszenierungen und Institutionen sowie deren Überführung in den politischen Diskurs fehlt für das Zarenreich fast vollständig, wenn man von jener zahlreichen Literatur absieht, welche die »öffentliche Meinung« und ihre politische Polarisierung vor und nach 1905/06 behandelt, etwa: Manfred Hagen, Die Entfaltung politischer Öffentlichkeit in Russland: 1906–1914, Wiesbaden 1982; Caspar Ferenczi, »Funktion und Bedeutung der Presse in Russland vor 1914«, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 30 (1982), S. 362–398. Ganz der Herrschaftskultur, der Repräsentation autokratischer Macht, ist die zweibändige Monographie von Richard S. Wortman gewidmet: Scenarios of Power: Myth and Ceremony in Russian Monarchy. Vol. 1: From Peter the Great to the Death of Nicholas I, Princeton 1995; Vol. 2: From Alexander II to the Abdication of Nicholas II, Princeton 2000. Zu den Hundertjahrfeiern zum »Vaterländischen Krieg« von 1812 und die offiziellen Erinnerungsfeierlichkeiten zum 300-jährigen Thronjubiläum der Romanovs im Jahre 1913 vgl. Konstantin Tsimbaev, »Die Orthodoxe Kirche im Einsatz für das Imperium. Kirche, Staat und Volk in den Jubiläumsfeiern des ausgehenden Zarenreichs«, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 52 (2004) 3, S. 405–420; ders., »›Jubiläumsfieber‹: Kriegserfahrung in den Erinnerungsfeiern in Russland vom Ende des 19. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts«, in: Gert Melville und Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Gründungsmythen, Genealogien und Memorialzeichen. Beiträge zur institutionellen Konstruktion von Kontinuität, Köln 2004, S. 75–107.

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nationaler Identität(en) sowohl unter zarischer als auch unter sowjetischer Ägide – etwa im Zuge einer Re-Nationalisierung unter dem Vorzeichen des Sowjetpatriotismus7 – mit Blick auf bestehende Brüche und Kontinuitäten zu skizzieren.

Zum imperialen Charakter des Zarenreiches und der Sowjetunion Nur Russland konnte sich am Ende des Ersten Weltkrieges unter den Verliererimperien der staatlichen Auflösung entlang nationalpolitischer Grenzziehungen weitgehend entziehen. Dazu trug der geringe Stand der Nationalisierung im Rußländischen Reich ebenso bei wie die bolschewistische Revolution, die ihr Programm zum Umbau der Gesellschaft zunächst mit einer Nationalitätenpolitik zu verbinden suchte, die den Nationen eine weit reichende Autonomie versprach. Die bolschewistische Sowjetunion schien ein neues Gesellschafts- und Staatsmodell zu entwickeln, das nationale Selbstbestimmung und Antiimperialismus ohne Zerschlagung des Imperiums in seine nationalen Bestandteile verhieß. »Dekolonisation« bedeutete deshalb hier nicht zwangsläufig staatliche Sezession. Die europäischen Vielvölkerreiche, für die der Sprachgebrauch seit langem den Begriff des »Imperiums« bereithält8, sind somit zwar unter gänzlich verschiedenartigen Voraussetzungen in den Prozess moderner Nations- und Nationalstaatsbildung eingetreten, doch sie gerieten alle unter den Druck der Autonomieforderungen ihrer »Völker«, seit sich diese als »Nationen« zu begreifen begannen.9 Die meisten dieser vornationalen, multiethnischen und vielsprachigen Reiche formten sich in einem Doppelprozess von Integration und Sezession zu Nationalstaaten um. 7 In Bezug auf eine stalinistische Massenkultur und die Formierung nationaler Identität(en) unter »sowjetpatriotischen« Vorzeichen vgl. David Brandenberger, National Bolshevism. Stalinist Mass Culture and the Formation of Modern Russian National Identity, 1931–1956, Cambridge, Mass. 2002; Terry Martin, Ronald G. Suny (Hg.), A State of Nations: Empire and Nation Making in the Age of Lenin and Stalin, Oxford 2001. 8 Zur Geschichte des Begriffs und zu dessen Umformung zu »Imperialismus« vgl. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bd., Stuttgart 1972–1997, s. v. Imperialismus, Bd. 3, S. 171–236. 9 Zur Transformation von »Volk« in einen »Erfahrungsbegriff« und zu dessen offenen Übergängen zum Begriff »Nation« vgl. Reinhard Koselleck, »›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹. Zwei historische Kategorien«, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1992, S. 735–744.

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Bei dem russischen Zarenreich bzw. der Sowjetunion handelte es sich um ein Imperium, das den Ersten Weltkrieg als staatliche Einheit überstand – im Gegensatz zu der Habsburgermonarchie und dem Osmanischen Reich, für die der Krieg in die Transformation zum stark verkleinerten Nationalstaat, verbunden mit einer Vielzahl von nationalstaatlichen Sezessionen mündete. Das Zarenreich und die Sowjetunion stehen zwar als Imperien in einer Kontinuität, bilden aber zwei Varianten imperialer Staatlichkeit, die auf ganz unterschiedlichen Grundsätzen aufgebaut waren. Das russische Kaiserreich beruhte auf einem »vornationalen dynastischen Reichspatriotismus«10, der spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts durch konkurrierende nationale Ansprüche in Frage gestellt wurde.11 Gleichwohl blieben bis zum Ende die Autokratie bzw. Monarchie, die Beamten- und Militärnobilität sowie der multiethnische Adel die staatstragenden Säulen des Imperiums. Es umfasste – in der Terminologie von A. D. Smith12 – staatsbildende Kernethnien, demotisch-vertikale, horizontal-aristokratische Streuvölker und schließlich kolonisierte Kulturen, die sich einer ethnischen Zuschreibung entziehen.13 Die Sowjetunion hingegen beruhte auf einem Projekt, das den Nationalismus durch territorialisierte Nationsbildung unschädlich machen und im Sozialismus aufheben wollte. Dabei wurde sie zu einem Laboratorium der Konstruktion von Nationen, aber auch zu einem »Laboratorium der Xenophobie«14. Der Nationen und Völker übergreifende Sozialismus sollte im »Sowjetpatriotismus« als Medium »internationalistischer« Inklusion jene Funktion übernehmen, die in westlichen Staaten der Nation als Letztwert zugeschrieben wird. Gegen diese formierten sich die Völker der Sowjetunion als eine »historisch neue Gemeinschaft«, die Klassenantagonismen überwunden habe und in der die Werktätigen zum ersten Mal zum Subjekt der Geschichte geworden seien.15 10 Andreas Kappeler, Russland als Vielvölkerreich. Entstehung – Geschichte – Zerfall, München 2001, S. 283. 11 Vgl. ders., »Nationsbildung und Nationalbewegungen im Russländischen Reich«, in: Archiv für Sozialgeschichte 40 (2000), S. 67–90; Andreas Renner, Russischer Nationalismus und Öffentlichkeit im Zarenreich, 1855–1875, Köln 2000. 12 Anthony D. Smith, The Ethnic Origin of Nations, Oxford 1986, S. 24 ff.; ders., National Identity (Ethnonationalism in Comparative Perspective), Reno 1993, S. 52 ff. 13 Vgl. Robert J. Kaiser, Geography of Nationalism in Russia and the USSR, Princeton 1994. 14 Vgl. Jörg Baberowski, Der Feind ist überall: Stalinismus im Kaukasus, München 2003, S. 17. 15 Die Inhalte von Sowjetpatriotismus sind in der Historiographie bisher nur in einzelnen diskursiven Feldern untersucht worden, als gewissermaßen direktive und amtliche »Ideologie« etwa bei Erwin Oberländer, Sowjetpatriotismus und Geschichte, Köln 1967; ders., »Sowjetpatriotismus und russischer Nationalismus«, in: Andreas Kappeler (Hg.), Die Russen. Ihr Nationalbewusstsein in Geschichte und Gegenwart, Köln 1990, S. 83–90; im Rahmen

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Sowjetpatriotismus verstand sich als ein Ausdruck dieser neuen Gemeinschaft, welche die Nation als transitorisches Stadium bürgerlicher oder nachholender Entwicklung dialektisch »aufhob« bzw. absorbierte. Nicht die Nation – als Organisationsform der bürgerlichen Welt – sondern der in der neuen sowjetischen Gemeinschaft aufgehobene Sozialismus und die Notwendigkeit seiner Verteidigung gegen eine äußere Welt von Feinden sollten den höchsten Bezugspunkt und »Leitwert« für die Sowjetbürger bilden.16 Dem Sowjetpatriotismus scheint mithin in seiner Verbindung von Partizipationsangebot und der Mobilisierung von Feindbildern und Aggressionen nach innen wie nach außen17 eine ähnliche Bedeutung zuzukommen wie dem Nationalismus.

»Fanatischer Despot« oder »edler Wilder«? Das widersprüchliche Bild Imam Sˇamil’s im späten Zarenreich Das Zarenreich und die Sowjetunion waren Vielvölkerreiche, an deren südlichen Rändern im Kaukasus mehrere Millionen Muslime sunnitischen und schiitischen Glaubens lebten. Das Imperium beherbergte mehr als hundert Sprachen und Dialekte, sesshafte und nomadische, städtische und ländliche Lebensformen. Das Sowjetimperium bestand nicht allein aus Russen und Slawen, auch wenn dieser Eindruck in der Geschichtswissenschaft über das Zarenliterarisch-dialektischer Diskurse bei Vera S. Dunham, In Stalin’s Time: Middleclass Values in Soviet Fiction, Cambridge 1976; Katerina Clark, The Soviet Novel. History as Ritual, Chicago, London 1991; Hans Günther, Der sozialistische Übermensch. M. Gor’kij und der sowjetische Heldenmythos, Stuttgart 1993; als Bestandteil von Stimmungsberichten der Organe bei Sarah Davies, »›Us Against Them‹. Social Identity in Soviet Russia, 1934–1941«, in: Sheila Fitzpatrick (Hg.), Stalinism. New Directions, London, New York 2000, S. 20–47. Zum Sowjetpatriotismus am Bespiel von Zuschriften, Beschwerden, Selbststilisierungen und Meinungsäußerungen als Teil des »Dialogs« zwischen den Sowjetbürgern und politische Instanzen vgl. Stephen Kotkin, Magnetic Mountain. Stalinism as Civilisation, Berkeley, Los Angeles u. a. 1995; Sheila Fitzpatrick, Stalin’s Peasants: Resistance and Survival in the Russian Village after Collectivisation, Oxford 1994; dies., Everyday Stalinism: Ordinary Life in Extraordinary Times, Oxford 1999. Die Frage der Geltung und Reichweite von Sowjetpatriotismus wurde bisher nur am Beispiel des »Großen Vaterländischen Krieges« kontrovers diskutiert: Bernd Bonwetsch, Robert W. Thurston (Hg.), The People’s War. Responses to World War II in the Soviet Union, Urbana 2000. 16 Zum sowjetischen Imperium und dem »Bau« seiner Nationen vgl. Dietrich Beyrau, Petrograd 1917. Die russische Revolution und der Aufstieg des Kommunismus, München 2001, S. 197–230. 17 Vgl. dazu Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000; ders., »Nation, Nationalismus Nationalstaat: Forschungsstand und Forschungsperspektiven«, in: Neue Politische Literatur 40 (1995), S. 190–236.

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reich und die Sowjetunion bisweilen erweckt wird.18 Niemand, weder die zarischen Bürokraten noch ihre bolschewistischen Nachfolger, konnten in ihren politischen Entscheidungen von dieser Vielfalt der Ethnien, Sprachen und Kulturen absehen. Industrialisierung, Verstädterung und Kommunikationsverdichtung brachten Menschen unterschiedlichster Herkunft, Sprache und Religion miteinander in Berührung. Vielerorts entfachten solche Kontakte Konflikte. Und wo die Staatsgewalt ihren Phantasien von einer »modernen« Welt keine Zügel anlegte, geriet sie am Ende selbst in Gegensatz zu jenen, die sie »russifizieren«, zivilisieren oder aufklären wollten.19 Einer der in diesem Zusammenhang auffälligsten – da in seiner narrativen Umcodierung und ikonographischen Wandlung zwischen ausgehender Zarenzeit und Stalins Tod besonders vielschichtigen – historischen Personenkulte an der nichtrussischen Peripherie bietet die Gestalt des Imam Šamil’ (1797–1871), des legendären Führers der islamischen Bergvölker (gorcy) und Sultans des nordkaukasischen Emirats im 19. Jahrhundert. Dreißig Jahre lang – von 1834 bis 1864 – hatte das Zarenreich seine ganze militärische Macht mobilisiert, um den religiös motivierten Aufstand, den ghasawat20 unter Führung des theokratisch regierenden Stammesführers Imam Šamil’ an der südlichen Reichsgrenze in den unzugänglichen Gebirgsregionen Dagestans, Tschetscheniens und Inguschetiens niederzuschlagen. Russland musste die Erfahrung machen, dass es leichter war, strukturierte Staaten zu erobern wie drei Jahrhunderte zuvor die Tatarenkhanate als vorstaatliche und vornationale, auf tribalen und lokalen Grundlagen beruhende Gemeinwesen wie der gorcy. Zeitgenössische russische Berichte beschrieben einen Guerillakrieg, bei dem der Gegner nicht fassbar war. Doch neben der Flexibilität und amorphen Erscheinung des Gegners, der 18 Vgl. etwa die Überblicksdarstellungen von Günther Stökl, Russische Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 1990; Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 1998. Dagegen: Kappeler, Russland als Vielvölkerreich. 19 Im Hinblick auf den islamischen Kaukasus vgl. Baberowski, Der Feind ist überall; Moshe Gammer, Muslim Resistance to the Tsar: Russian Conquest of the Caucasus: Special Issue in Memory of Dibir Mahomedov (1931–1998), Abingdon 2002. Zu Kulturkonflikten und Imperialismus im Kaukasus vgl. die Arbeiten von Eva-Maria Auch, Lebens- und Konfliktraum Kaukasien: gemeinsame Lebenswelten und politische Visionen der kaukasischen Völker in Geschichte und Gegenwart, Großbarkau 1996; dies. (Hg.), »Barbaren« und »weiße Teufel«: Kulturkonflikte und Imperialismus in Asien vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn 1997; dies. (Hg.), Muslim – Untertan – Bürger. Identitätswandel in gesellschaftlichen Transformationsprozessen der muslimischen Ostprovinzen Südkaukasiens (Ende 18. – Anfang 20. Jh.), Wiesbaden 2004. 20 Der »heilige Krieg« im Kaukasus erscheint fast durchweg unter der Bezeichnung ghasawat (arab. ghaswa – Offensive, Überfall; vgl. auch ghasi [Führer einer ghaswa]).

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sich keiner geordneten Feldschlacht stellte und alle topographischen Vorteile, die der Kaukasus bot, zur Entfaltung von Guerillataktiken nutzte, existierte noch eine weitere Dimension in der Wahrnehmung durch die russischen Akteure: eine enorme Organisiertheit, ein erstaunlicher Integrationsakt, bei dem die polyethnische, politisch zersplitterte Bevölkerung im östlichen Nordkaukasus zu einer festen Widerstandgemeinschaft, zu einem geregelten Staatswesen in einem »islamischen Staat« zusammengefasst wurde. Der Zusammenprall einer der größten Militärmächte der Erde mit peripheren Ethnien, die vordem in extremer politischer Zersplitterung gelebt hatten, bestimmte eine David-GoliathKonstellation, die in ganz Europa Sympathien für die vorher weitgehend unbekannten Bergvölker aufkommen ließ.21 Auch das russische Bild des Widerstands und seines Führers war von Anfang an widersprüchlich. Während die offizielle Propaganda diesbezüglich um eine ausgeprägte Negativzeichnung bemüht war und den Avaren Šamil’ zum Günstling britischer Kolonialinteressen im Kaukasus degradierte, mischte sich bei zeitgenössischen Schriftstellern – wie etwa dem als Offizier im Nordkaukasus dienenden Michail Lermontov – schwärmerische Begeisterung für die freiheitsliebenden Völker einer vermeintlich unberührten Bergwelt und ihre archaischen Kulturen. Allerdings gilt dies nur in Bezug auf ihre ethnische Selbstverteidigung, auf den »wilden Freiheitskampf« in den Bergen, und nicht auf das islamische Fundament dieses Widerstandes, das nicht nur in der russischen Publizistik durchweg unter dem Rubrum des »Fanatismus« behandelt wurde. Selbst ein Autor wie Aleksandr Marlinskij, der seinen Lesern die kämpfenden Bergvölker als »würdige Gegner« vermittelte, schrieb an einen Freund, wie schön dieser Kaukasus wäre, wenn es drei Dinge dort nicht gäbe: »Pest,

21 Zur russisch-tschetschenischen Konfliktgeschichte im 19. Jahrhundert vgl. V. O. Bobrovnikov, Musul’mane Severnogo Kavkaza: obyčai, pravo, nasilie. Očerki po istorii i etnografii prava Nagornogo Dagestana, Moskau 2002; John B. Dunlop, Russia confronts Chechnya. Roots of a Separatist Conflict, Cambridge 1998, S. 1–39; Moshe Gammer, Muslim resistance to the tsar. Shamil and the Conquest of Chechnia and Daghestan, London 1994; Uwe Halbach, »Von Mansur zu Dudajew? Widerstandstraditionen der nordkaukasischen Bergvölker«, in: Uwe Halbach, Andreas Kappeler (Hg.), Krisenherd Kaukasus, Baden-Baden 1995, S. 196–215; Thomas Sanders, Ernest Tucker, Gary Hamburg (Hg.), The Russian-Muslim confrontation in the Caucasus. Alternative visions of the conflict between Imam Shamil and the Russians, 1830–1859. With an extended commentary »War of the Worlds« by Gary Hamburg, London, New York 2004; Robert Seely, Russo-Chechen Conflict, 1800–2000. A Deadly Embrace, London 2000, S. 19–70; Clemens P. Sidorko, Dschihad im Kaukasus. Antikolonialer Widerstand der Dagestaner und Tschetschenen gegen das Zarenreich (18. Jahrhundert bis 1859), Wiesbaden 2007; Anna Zelkina, In Quest for God and Freedom: Sufi Responses to the Russian Advance in the North Caucasus, London 2000.

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Cholera und Mohammedanismus«.22 Nur wenige russische und europäische Zeitgenossen der Kaukasuskriege versuchten, unvoreingenommen in das Wesen des Muridismus und der Religion als Grundlage für transethnische Integration einzudringen. Somit blieb eine wesentliche Triebfeder des Widerstandes unverstanden.23 Dieser Widerstand hatte bereits die Aufstandsbewegungen vor Šamil’ durch ein entscheidendes Element geprägt, nämlich die Verbindung von ethnischer Selbstverteidigung mit einer religiösen Fundierung und Verklärung. Im Mittelpunkt stand dabei die Verbindung der Konzepte von ghasawat, dem religiös gebotenen Kampf gegen eine Oberherrschaft von Ungläubigen, mit der tariqat, den organisatorischen und ideologischen Ordnungsvorstellungen des Sufismus.24 Besonders in den Randzonen der islamischen Welt organisierten SufiOrden die enge Verbindung zwischen der Auseinandersetzung mit den – in der Regel europäischen – Kolonialmächten und einer vertiefenden Durchsetzung des Islam in der zu verteidigenden eigenen Region. Im nördlichen Kaukasus spielte dabei der sufische Universalorden mit der größten räumlichen Ausbreitung, der im 14. Jahrhundert in Buchara entstandene Nakschbandi-Orden, eine besonders aktive Rolle. Dessen Doktrin umfasste die Rückkehr zu einem reinen und asketischen Islam; der Kampf gegen dschahilliyya, die heidnische Unwissenheit, die sich im Gewohnheitsrecht der Stämme, dem adat, manifestierte, die sakrale Pflicht zur Verteidigung vor der Welt des Unglaubens sowie eine besondere Kultivierung der Beziehung zwischen dem Schüler (murid) und seinem Meister (murschid). Das Prestige eines Meisters hing dabei unter anderem von seinem Status als alim ab, als Gelehrter und Autorität in den islamischen Wissenschaften.25 22 Zit. in: K. Dalgat, (Hg.), Dagestan v russkoj literature, Machačkala 1960, S. 155; vgl. dazu auch R. F. Jusufov, Dagestan i Russkaja Literatura Konca XVIII i Pervoj Poloviny XIX v., Moskau 1964. 23 Vgl. Susan Layton, »Nineteenth-Century Russian Mythologies of Caucasian Savagery«, in: Daniel R. Brower, Edward J. Lazzerini (Hg.), Russia’s Orient: Imperial Borderlands and Peoples, 1700­–1917, Bloomington 1997, S. 80–99. Zur zeitgenössischen Publizistik vgl. etwa P. Alfer’ev, Očerki iz žizni Šamilja, Moskau 1905; N. Kovalevskij, Šamil’. Pokorenie Kavkaza, Moskau 1912; M. P. Slepcov, Pokoritel’ Čečni i Dagestana, Petrograd 1916; M. N. Čičagova, Šamil’ na Kavkaze i v Rossii, St. Petersburg 1889. Reprints: Moskau 1990, Moskau 1991. 24 Uwe Halbach, »›Heiliger Krieg‹ gegen den Zarismus. Zur Verbindung von Sufismus und Djihad im antikolonialen islamischen Widerstand gegen Rußland im 19. Jahrhundert«, in: Andreas Kappeler, Gerhard Simon, George Brunner (Hg.), Die Muslime in der Sowjetunion und in Jugoslawien, Köln 1989, S. 213–234. 25 Moshe Gammer, »The Beginnings of the Naqshbandiyya in Daghestan and the Russian Conquest of the Caucasus«, in: Die Welt des Islams 34 (1994), S. 204–217; Zeinab Mahom-

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Eine auf den arabischen Kulturraum orientierte Tradition, die von den gesellschaftlichen Autoritäten die Beherrschung des islamischen Schrifttums verlangte, hatte sich bereits seit dem 11. Jahrhundert vor allem in Dagestan etabliert. Diese nahm allerdings bereits in den nächsten zwei Jahrhunderten ab und ebnete den Weg für die Institution der »heiligen Männer«, welche das aus der arabischen Welt entlehnte islamische Glaubenssystem nach und nach durch traditionellen Wunderglauben und lokale wie regionale vorislamische Praktiken zu durchsetzen wussten. Sufi-Netzwerke hatten allerdings Bestand, insbesondere unter den Völkern im nördlichen Dagestan, wo bis ins 18. Jahrhundert Verbindungen zu den Nakschbandi-Orden Zentralasiens aufrecht erhalten werden konnten. Die mystische Ausbildung von Šamil’ und sein Aufstieg zum Imam (sheyk) wurde indes mit dem Mujaddidi-Chalidi-(Chalidiya)Zweig des Nakschbandi-Universalordens in Verbindung gebracht, welcher sich erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Dagestan etablieren konnte. Der Nordkaukasus gehörte somit zu den Regionen der islamischen Welt, in denen der Sufismus am spätesten Wurzeln schlug, dafür über umso breiter und tiefer.26 Insbesondere die Nakschbandi-Variante des Sufismus entwickelte eine besondere Hingabe an das Vorbild des Propheten, eine tariqa-al-muhammadiya:27 »Der wahre Sufismus ist […] das Neuerleben des Prophetenzeitalters durch inneren Zustand und äußere Handlung«. Dieses »Neuerleben« lag wohl auch dem nordkaukasischen Muridismus zugrunde, der vor allem eine historische Leistung des Propheten in dieser Region wiederholte, nämlich die Überwindung ethnischer Zersplitterung im Dienste einer verteidigungsfähigen Glaubensgemeinschaft.28 Zu einem beträchtlichen Grad versuchte wohl auch Šamil’ im Zuge gezielter Selbstinszenierung vor der eigenen Anhängerschaft sein Bild nach dem des Propheten zu formen. Wie einst Mohammed pflegte auch Šamil’ seine Befehle auf winzigen Stücken von Pergament zu notieren, obwohl im 19. Jahrhundert edova, »‘Abd-al-Rahman-Hajji al-Sughuri – Advocate of Sufi Ideals and Ideologue of the Naqshbandi Tariqa«, in: Moshe Gammer (Hg.), Islam and Sufism in Daghestan, Helsinki 2009, S. 57–70. 26 Zum Sufismus in Dagestan vgl. Moshe Gammer, »The Introduction of the Khalidiyya and the Qadiriyya into Daghestan in the Nineteenth Century«, in: Moshe Gammer, David J. Wasserstein (Hg.), Daghestan and the World of Islam, Helsinki 2006, S. 55–68; Makhach Mussayev, Diana Alkhasova, »Daghestani ‘Ulama’ in the Muslim World«, in: Moshe Gammer (Hg.), Islam and Sufism in Daghestan, S. 43–56. 27 Hamid Algar, »The Naqshbandi order: A preliminary survey of its history and significance«, in: Studia Islamica, XLIV (1977), S. 123. 28 Michael Kemper, »Khalidiyya Networks in Daghestan and the Question of Jihad«, in: Die Welt des Islams Bd. 42, 1 (2002), S. 41–71.

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in Dagestan kein Mangel an Papier herrschte. Bei vielen Gelegenheiten verwendete Šamil’ dieselbe Art von Rhetorik und metaphorischen Bilder wie das koranische Vorbild, um seine Gefolgschaft für militärische Misserfolge verantwortlich zu machen oder sie der Heuchelei und dem Mangel am Glauben an seinen Auftrag zu beschuldigen – so etwa gegenüber den Einwohnern seines Heimatortes Gimrah, die ihn vertrieben hatten und somit dazu veranlassten, sein Exil mit der hijra des Propheten von Mekka nach Medina zu vergleichen.29 Im Kaukasus wurde das zeitgenössische Bild von Šamil’ als eines Sufi-Meisters häufig folkloristisch vereinfacht und der vorislamischen Tradition folgend in das eines traditionellen »heiligen Mannes« oder Wundertäters umgedeutet. Dennoch behauptete Šamil’ wahrscheinlich niemals, irgendwelche Wunder vollbracht zu haben, noch deutete er implizit an, selbst ein Prophet zu sein. Es entsprach vielmehr der Jahrhunderte alten Sufi-Tradition, seine Legitimation als murschid – in manchen Fällen auch genealogisch – direkt vom Propheten Mohammed abzuleiten, der als endgültige Instanz in Glaubensfragen und Wegbereiter auf allen mystischen Reisen gesehen wurde. Für Šamil’ wurde diese mystische Verbindung mit dem Propheten noch durch seine weltliche Mission erhöht. Wie einst Mohammed bemühte er sich darum, die scharia durchzusetzen und verschiedene Gemeinschaften unter dem islamischen Recht zu vereinigen. Dabei war es nur konsequent, an das Vermächtnis des »Großen Propheten« zu appellieren und danach zu streben, mit ihm als politischer Führer zu wetteifern. Dem sufitischen Gelehrtenideal des alim entsprach Šamil’ somit wohl nur bedingt, konnte diesbezügliche Mängel allerdings durch seine Fähigkeiten als militärischer Führer kompensieren.30 Umso erstaunlicher scheint es, dass die religiöse Identität Šamil’s nach dessen Gefangenname im Jahre 1859 in zeitgenössischen russischen Darstellungen über seine Person so gut wie nicht mehr aufgegriffen wurde. Schriftsteller und 29 Vgl. Muhammad al-Qārakhī, Bāriqat al-Suyyūf al-Dāghistāniyya fī Ba’d al-Ghazawāt alShāmilyya, in d. Übersetzung von Aleksandr M. Barabanov, Chronika Muchameda Tachira al-Karachi o Dagestanskich voinach v period Šamilja, Moskau, Leningrad 1941, S. 76. 30 Moshe Gammer, »Collective Memory and Politics: Remarks on Some Competing Historical Narratives in the Caucasus and Russia and their Use of a ›National Hero‹«, in: Caucasian Regional Studies 4, (1/1999), S. 1–15. Zum tradierten Bild Šamil’s in der Folklore, Kunst und Literatur der nordkaukasischen Völker vgl. Uzdiat B. Dalgat, Folklor i Literatura Narodov Dagestana, Moskau 1967; Ch. Chalifov, Skazki Narodov Dagestana, Moskau 1965; P. Kiselev (Hg.), Čečeno-Ingušskij Folklor, Moskau 1940; Viktor B. Korzun, Folklor Gorskich Narodov Severnogo Kavkaza. Dooktjabrskij Period, Groznyj 1966; K. Kuliev, N. Džusoita, G. Registjan (Hg.), Pesni Narodov Severnogo Kavkaza, Leningrad 1976; Michael Zand, »The Literature of the Mountain Jews of the Caucasus«, in: Soviet Jewish Affairs, Bd. XV, Nr. 2 (Mai 1985), S. 3–22, Bd. XVI, Nr. 1 (Februar 1986), S. 35–51.

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Journalisten in Tiflis und anderen Städten Russlands, die über Šamil’ und seine Familie schrieben, versuchten, andere – im Grunde genommen durchwegs eurozentrische – Mythologien über die Bergvölker des nördlichen Kaukasus zu konstruieren. Dieses alternative, »imperiale« Bild der gorcy wurde vom Phänomen des Sufismus in den dortigen Regionen explizit getrennt.31 Die russische Tradition, die Wurzeln des Islam und generell das Vorhandensein sufistischer Strömungen im nördlichen Kaukasus infrage zu stellen, fand später in der sowjetischen Politik gegenüber den Muslimen des Kaukasus und in der sowjetischen Nachkriegshistoriographie über Šamil’ und die Kaukasuskriege ihre Fortsetzung.32 Anstatt die islamische Vergangenheit von Šamil’ zu betonen, feierte die russische Publizistik seit dem Jahre 1859 dessen Einführung in die Welt der Zivilisation und des technologischen Fortschritts und die Begegnungen des »Wilden« mit der Hochkultur des imperialen Russland. Europäische Werthaltungen und Verhaltensnormen hinterließen nach zeitgenössischen russischen Berichten bei Šamil’ schnell einen bleibenden Eindruck und schienen ihm weit humaner zu sein als die wilden und fanatischen Traditionen der Bergvölker.33 Obwohl ein Gefangener, wurde Šamil‘ zur gleichen Zeit von der Öffentlichkeit des Zarenreiches und dessen herrschenden Eliten umworben und respektiert. En route durch Russland und in die Gefangenschaft nach Kaluga befanden sich Šamil’ und seine Familie fast ständig im Zentrum von durch die Boulevardpresse perpetuierten Gerüchten und Kolonialmythologien, welche sich allesamt dadurch charakterisieren lassen, dass die religiöse Identität der Protagonisten konsequent ausgeblendet wurde.34 Šamil’, und insbesondere seine jüngeren Familienglieder, sollten im Sinne der russischen Mission »zivilisiert« werden – das russische Bild vom Šamil’ stand demnach gleichermaßen als pars pro toto für allgemeinere Sehnsüchte über die Zukunft der islamischen Bergvölker und 31 Vgl. Austin Lee Jersild, »Who was Shamil?: Russian colonial rule and Sufi Islam in the North Caucasus, 1859–1917«, in: Central Asian Survey, 2/1995, S. 205–223, hier: S. 208– 212. 32 Vgl. Michael Kemper, »The NorthCaucasian Khalidiyya and ›Muridism‹: Historiographical Problems«, in: Journal for the History of Sufism Bd. 5 (2006), S. 111–126. 33 Vgl. S. Ryžov, »Putešestvie Šamilja ot Guniba do Sanktpeterburga«, in: Sanktpeterburgskija Vedomosti, 212 (1. Oktober 1959), S. 923; »Šamil’«, in: Vilenskij Vestnik, 93 (27. November 1859), S. 1073. 34 Vgl. als Auswahl: A. Rudanovskij, »Kavkazkaja letopis’: Stavropol’«, in: Kavkaz 79 (8. Oktober 1859), S. 913; »Šamil’ v Malorossii«, in: Sanktpeterburgskija Vedomosti 213 (5. Oktober 1859), S. 929; I. Besjadovskij, »Šamil‘ v Kurske«, in: Kurskija Gubernskija Vedomosti, 43 (24. Oktober 1859), čast’ neoficial’naja S. 249; »Šamil‘ v Sanktpeterburge«, in: Severnaja Pčela, 210, (29. September 1859), S. 841; »Šamil’ v Kaluge«, in: Severnaja Pčela, 230 (25. Oktober 1859), S. 921.

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skizziert unfreiwillig sehr detailliert die Ziele der russischen Kolonialverwaltung im nördlichen Kaukasus.

»Gegner des Feudalismus« oder »Handlanger des türkischen Sultans«? Narrative Wend(ung)en im Zeichen der Sowjetmacht Das insbesondere von der zentralen Verwaltung in St. Petersburg und anderen staatlichen Stellen in Verwaltung und Armee perpetuierte Negativbild Šamil’s wurde von den Bol’ševiki anfänglich auf normativer Ebene übernommen – wenn auch entsprechend der nun herrschenden Doktrin des Marxismus-Leninismus in entsprechend umgedeuteter Form. Šamil’ galt nun als Verkörperung archaischer Gesellschaftsvorstellungen, zu deren Beseitigung nicht zuletzt die russischen Kommunisten in den islamischen Regionen des Kaukasus angetreten waren. Dazu trugen nicht zuletzt die infolge des Zerfalls des Russischen Reiches vor Ort in Erscheinung tretenden Einigungs- und Konföderationsbestrebungen bei, wie etwa die Republik der Bergvölker von 1918/19 und das sogenannte Nordkaukasische Emirat von 1919/20. Diese lehnten sich ideologisch an historischen Vorbildern an, in denen der gemeinsame Widerstand gegen die russische Kolonialpolitik die ethnische Zersplitterung überwand und transnationale Staatsbildungen förderte, namentlich dem Imamat Šamil’s im 19. Jahrhundert.35 Im Laufe der zwanziger Jahre erfuhr die Gestalt Šamil’s jedoch eine offizielle Neubewertung im Zeichen der korenizacija, eine Entwicklung, die kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges mit der Stilisierung Šamil’s zum »revolutionären Helden« ihren Höhepunkt finden sollte. Während der frühen sowjetischen Periode wurde Šamil’ als ein großer Kämpfer gegen die zaristische Kolonialmacht und – im Sinne einer noch weiter auszubauenden Kontinuitätsthese – progressiver Vorbote des Kommunismus im Nordkaukasus gelobt. Michail N. Prokrovskij, seines Zeichens prominentester marxistischer Historiker der zwanziger Jahre, bezeichnete Šamil’ als einen »Gegner des Feudalismus« und betrachtete den Muridismus als eine »im Wesentlichen demokratische 35 Zur zeitgenössischen sowjetischen Sicht und dem Beginn einer Revision dieses Geschichtsbildes vgl. Michail N. Pokrovskij, Zavoevanie Kavkaza, Moskau 1923. Zum russischen Bürgerkrieg im Nordkaukasus vgl. allgemein Orlando Figes, Die Tragödie eines Volkes, Berlin 1998; Manfred Hildermeier, Russische Revolution, Frankfurt am Main 2004; Nikolaus Katzer, Die Weiße Bewegung in Rußland, Köln 1999; Evan Mawdsley, The Russian Civil War, Edinburgh 2005; Richard Pipes, Russia under the Bolshevik Regime, New York 1994.

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Ideologie«.36 Ein im Jahre 1930 herausgegebenes Parteilehrbuch zur nationalen Frage erinnerte den Leser daran, dass die Tatsache, dass Šamil’ der Führer einer religiösen Bewegung gewesen war, nicht seine progressive Bedeutung schmälere, da »sogar unter den Bedingungen einer entwickelten kapitalistischen Gesellschaft der Klassenkampf häufig Formen annehmen kann, die seinen eigentlichen Inhalt verbergen.«37 Gemäß der neuen Doktrin bestimmte der große Volksaufstand der kaukasischen Bergvölker die gesamte Tätigkeit Šamil’s. Die gegen Russland und die einheimischen besitzenden Schichten gerichtete Bewegung war somit nach klassischer marxistischer Lesart ein antifeudaler Aufstand, in dem sich die sozialen Forderungen der Bergvölker unter dem Deckmantel der Religion verbargen. Šamil’ selbst erscheint hier als geistlicher und weltlicher Führer der Bewegung, der sich bei der Leitung des Aufstandes als hervorragender Politiker und großer Feldherr erwies und infolge dessen bei den Volksmassen außerordentliche Autorität genoss.38 Gemäß dieser Lesart war, als Šamil’ die Macht übernahm, der Aufstand im vollen Gange und hatte bereits den ganzen Kaukasus erfasst. Der Kampf wurde unter seiner Führung nun so intensiv und leidenschaftlich geführt, dass die Bevölkerung der Berge zeitweilig sogar das verhängnisvollste Übel aller Bauernaufstände – nämlich Uneinigkeit und Partikularismus – zeitweise überwand und sich unter dem Banner gemeinsamer religiös-politischer Ideen vereinte. Doch eine solch relative Einheit in einem viele Volksstämme umfassenden Bauernaufstand, an dessen Spitze nicht das Proletariat stand, konnte nach zeitgenössischer sowjetischer Lesart selbstverständlich nur von kurzer Dauer sein. Schnell begann das Lager der Aufständischen zu zerfallen. Tschetschenien sagte sich von Šamil’ los, und eine ganze Reihe von Verratshandlungen taten zusammen mit einer ganzen Reihe schwerer militärischer Niederlagen ihr übriges, um den bis dahin unbesiegbar geglaubten Aufstand in den unvermeidlichen Untergang münden zu lassen.39 Diese überschwänglich positive Codierung der Gestalt Šamil’s sollte allerdings nicht von 36 Vgl. Michail N. Pokrovskij, Diplomatija i voiny carskoj Rossii v XIX stoletij, Moskau 1928. 37 E. Drabkina, Nacionalnyj i kolonial’nyj vopros v carskoj Rossii, Moskau 1930. 38 Vgl. N. I. Pokrovskij, »Mjuridizm u vlasti. ›Teokratičeskaja deržava‹ Šamilija«, in: Istorikmarksist, 2/1934, S. 30–75; ders., »Obzor Istočnikov po Istorii Imamata«, in: Problemy Istočnikovedenija, Bd. 2 (1936), S. 187–234. Zur regionalen Publizistik vgl. R. Magomedov, Borba gorcev za nezavisimost’ pod rukovodstvom Šamilja, Machač-Kala 1939; ders., Šamil’, Machač-Kala 1940; ders., Junost’ Šamilja, Machač-Kala 1940; ders., Imam Šamil’, Machač-Kala 1941; P. A. Pavlenko, Šamil’, Machač-Kala 1942. 39 Zu dem hier zitierten Narrativ vgl. auch S. K. Bušuev, Borb’a gorcev za nezavisimost’ pod rukovodstvom Šamilja, Moskau 1940; N. Krovjakov, Šamil’. Očerk iz istorii bor’by narodov Kavkaza za nezavisimost’, Moskau 1939.

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langer Dauer sein – infolge einer um Durchsetzung des traditionellen großrussischen Geschichtsbildes bemühten Diskussion an der Moskauer Akademie der Wissenschaften erfolgte im Jahre 1947 ein weiterer Kurswechsel. Dieser verbannte Šamil’ abermals in den Orkus »reaktionärer« und eindeutig negativ besetzter historischer Gestalten, wobei die durch ihn geleitete Bewegung nun abermals als gegen das Volk gerichtet galt und darüber hinaus mit dem Stigma des »religiösen Obskurantismus« gebrandmarkt wurde.40 Im Kaukasus wurde der neue geschichtspolitische Kurs allerdings erst im Jahre 1950 mit voller Härte durchgesetzt, als in Baku ein bereits für die Arbeit des aserbaidschanischen Historikers Gejdar Gusejnov verliehener Stalin-Preis kurz darauf überraschend zurück gezogen wurde. 41 Die Aussage des Buches hatte bis dahin in ihrer Beurteilung des Šamil’-Aufstandes auf der Linie der Parteiführung gelegen, wurde nun allerdings offiziell verurteilt. Niemand geringerer als der erste Parteisekretär von Aserbaidschan, der von Stalin begünstigte Mir Džafar Bagirov, feuerte durch seinen Artikel in der sowjetischen Parteizeitschrift Bol’ševik die erste Salve in dieser Offensive ab.42 Bagirov verurteilt darin den Islam als eine Ansammlung von intoleranten und nationalistischen Prinzipien, die von Mohammed – »einem Vertreter der Feudalhandelsaristokratie« instrumentalisiert wurden, um seine Macht zu konsolidieren und die Araber auf anstehende Eroberungskriege vorzubereiten. Türken und Perser machten im Gegenzug ähnlichen Gebrauch von dieser aggressiven Religion und wurden im 19. Jahrhundert dahingehend von den Briten abgelöst.43 Als realpolitischer Hintergrund dieser historiographischen Kehrtwende kann die in den Jahren 1943/44 vollzogene Deportation mehrerer kaukasischer Völkerschaften gelten, insbesondere der Karatschaier, Balkaren, Inguschen und Tschetschenen. Diese wurden in Viehwaggons mit den Aufschriften »Banditen« und »Volksfeinde« nach Zentralasien und Sibirien transportiert, und dieser Akt genozidaler Gewalt ging mit dem Verbot jeder weiteren Erwähnung der deportierten Völker und einer Umdeutung ihrer und eines Teils der russischen Geschichte einher: Aus dem ghazawat des 19. Jahrhunderts als antikolonialer Wi40 Zum Verlauf der Diskussion vgl. A. Zaks, »Diskussija o dviženii Šamilija«, in: Voprosy istorii 11/1947, S. 134–140. 41 Gejdar Gusejnov, Iz istorii obščestvennoj i filosofskoj mysl’i v Azerbajdžane XIX veka, Baku 1949. 42 M. D. Bagirov, »K voprosu o charaktere dviženija Šamilija«, in: Bol’ševik 13/1950, S. 21– 37. Zur »Kurskorrektur» in der Bewertung Šamil’s und des »Muridismus« vgl. ders., Ob očerednych zadačach intelligencii Azerbajdžana: Pererab. dokl. na sobr. intelligencii g. Baku, 14 ijulja 1950 g., Baku 1950; N. A. Smirnov, Reakcionnaja suščnost’ dviženija mjuridizma i Šamilja na Kavkaze, Moskau 1952. 43 M. D. Bagirov, K voprosu o charaktere dviženija Šamilija, S. 24.

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derstand wurde nun ein Aufstand feudaler, reaktionärer Kräfte, aus dem Volkshelden Šamil’ ein fanatischer Mullah. In der verordneten Öffentlichkeit im europäischen Teil der Sowjetunion setzte sich das Bild der »kaukasischen Verräter und Kollaborateure« fest, denn die Propaganda verwies nicht umsonst auf die geopolitische Lage und die deutschen Interessen an den Naturressourcen Kaukasiens.44 In der sowjetischen Historiographie dominierte seit den frühen fünfziger Jahren die sogenannte Agenturthese, wonach dieser und nachfolgende »heilige Kriege« der Bergvölker vom türkischen und britischen Imperialismus gesteuert worden seien, um das zarische Russland in seinen Grundfesten zu schwächen.45 Dieses vor dem Hintergrund des Kalten Krieges periodisch beschworene Geschichtsbild einer »Fünften Kolonne« im Nordkaukasus ließ sich jedoch über die Jahrzehnte hinweg selbst in innersowjetischen Historikerkreisen immer schwieriger aufrecht erhalten. Zu dessen Erosion trugen nicht zuletzt zeitgenössische, auf der Grundlage Osmanischer Archivmaterialien verfasste Fachstudien westlicher und türkischer Provenienz bei.46 Diese zeigten, dass die Behörden des Osmanischen Reiches ein distanziertes, eher skeptisches Verhältnis zu dem religiösen Volksaufstand zeigten und die Zusammenarbeit eher mit den traditionellen Eliten, dem lokalen Adel und Stammesoberhäuptern suchten, um ihre militärisch-politischen Ziele im Kaukasus zu verfolgen.47

44 Vgl. dazu Norman Naimark, Fires of Hatred. Ethnic Cleansing in Twentieth-Century Europe, Cambridge, Mass. 2001, S. 85–107; Aleksandr M. Nekrich, Punished Peoples: The Deportation and fate of Soviet Minorities at the End of the Second World War, New York 1978; Eric D. Weitz, A Century of Genocide: Utopias of Race and Nation, Princeton 2003, S. 79–82; N. F. Bugaj u. A. M. Gonov, Kavkaz: narody v ešelonach. 20-60-gody, Moskau 1998, S. 118–222. 45 Šamil’ – stavlennik sultanskoj turcii i anglijskich kolonizatorov, Tiflis 1953. Vgl. dazu auch E. Adamov u. L. Kutakov, »Iz istorii proiskov inostrannoj Agentury vo vremja Kavkazskich voin«, in: Voprosy istori, 11/1950, S. 101–105; E. E. Burchuladze, »Krušenie anglo-tureckich planov v Gruzii v 1855–6 godach«, in: Voprosy istorii, 4/1952, S. 10–24. 46 Zur türkischen Nordkaukasus-Forschung vgl. die umfassende Bibliografie von Vedat Berzeg, Türkiye’de Kuzey Kafkasya ile Ilgili Yayınlar Bibliografiyası, 1928–1986, Samsun 1986. 47 Vgl. Pertev Boratav, »La Russie dans les Archives Ottomanes. Un Dossier Ottoman sur l’Imam Chamil«, in: Cahiers du Monde Russe et Soviétique, Vol. X, No. 3–4 (1969), S. 524– 535; Cabagi Wasan Giray, Kafkas-Rus Mucadelesi, Istanbul 1967; Cemal Gökçe, Kafkasya ve Osmanlı Imparatorlugu’nun Kafkasya Siyaseti, Istanbul 1979; Aytek Kundukh, Kafkasya Müridizmi (Gazavart Tarihi), Istanbul 1987; Zübeyir Yetik, Imam Şamil. Istanbul 1986.

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Babäk Xoramdin: »Väterchen« und »Verteidiger der Heimat« – Ein sowjetischer Historienkult aus der Retorte In Aserbaidschan ist eine eigenständige nationale Identität, im Gegensatz zu seinen armenischen und georgischen Nachbarn, ein Produkt des 20. Jahrhunderts.48 Zwar konnten sich auch Armenier und Georgier dem Phänomen einer sowjetischen invention of traditions nicht entziehen, doch verstanden sie sich schon viel früher im religiösen, sprachlichen und kulturellen Sinn als eigenständige Ethnie mit einer eigenen Geschichte. Die aserbaidschanischen Türken begannen sich dagegen erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts als ethnische Gruppe zu begreifen, die sich in Sprache, Kultur und Tradition von anderen muslimischen Völkern unterschied. Die Idee einer eigenen Geschichte Aserbaidschans war auch unter den führenden muslimischen Intellektuellen des Kaukasus im 19. Jahrhundert noch weitgehend unbekannt. Die historischen Werke, die in dieser Zeit von Aserbaidschanern verfasst wurden, standen in der Tradition islamischer Lokalgeschichtsschreibung49 oder im Zeichen eines pantürkischen Aktivismus, der die Idee einer ethnischen und kulturellen Einheit aller Türken des Russischen und Osmanischen Reiches propagierte.50 Die Bol’ševiki, die im April 1920 Aserbaidschan besetzten, wurden somit zu den eigentlichen Vätern der aserbaidschanischen Geschichtsschreibung. Seit den 20er und 30er Jahren bemühten sich die jeweiligen »nationalen« Historiker dabei, die Geschichte »ihrer« Republiken ganz im Sinne der vorgegebenen Staatlichkeit aufzuarbeiten. Die neu festgelegten Ethnonmyme wurden in ihrer Bedeutung teilweise bis in die Antike zurückprojiziert. Ein aserbaidschanisches Volk, Aserbaidschan als politische Idee und staatliche Realität schien es – folgt man den einschlägigen sowjetischen Geschichtsdarstellungen – nicht erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts, sondern schon immer gegeben zu haben. In den 1920er Jahren konnten Historiker an der südlichen Peripherie noch in einem relativ freien Klima forschen.51 Dabei war man vor allem bemüht, Quellen zu sammeln – darüber hinaus wurden einzelne Aspekte der aserbaid48 Zur Historiographiegeschichte Aserbaidschans im 20. Jahrhundert vgl. Volker Adam, »Umdeutung der Geschichte im Zeichen des Nationalismus seit dem Ende der Sowjetunion: das Beispiel Aserbaidschan«, in: Fikret Adanir, Bernd Bonwetsch (Hg.), Osmanismus, Nationalismus und der Kaukasus. Muslime und Christen, Türken und Armenier im 19. und 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2005, S. 21–41. Zu den Ausführungen in diesem Kapitel s. S. 22 f. u. S. 27–31. 49 Vgl. Äli Hüseynzadä, XIX äsrin ikinci yarısında Azärbaycan tarixşünalığı, Baku 1967. 50 Vgl. dazu die Artikelserie von Äli bäy Hüseynzadä unter dem Titel »Türklär kimdir vä kimlärdän ibarätdir?« in der Bakuer Zeitung Häyat Nr. 4, 9, 27, 28, 52, 81, 82 (1905). 51 Vgl. Alisojbat S. Sumbatzade, Azerbajdžanskaja istoriografija XIX-XX vekov, Moskau 1987.

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schanischen Geschichte in Fachzeitschriften diskutiert. Turkistische Ansätze, die davon ausgingen, dass schon die frühesten namentlich bekannten Ethnien, die auf dem Territorium Aserbaidschans gelebt hatten, türkischer Herkunft waren, konnten dabei durchaus vertreten werden. Die Geschichte Aserbaidschans umfasste auch die gleichnamigen iranischen Provinzen, ging also über die Grenzen des Sowjetstaates hinaus. Der Kongress der orientalischen Völker 1920 in Baku, der Turkologenkongress im Jahre 1926, die Schriftreform, Zeitschriften wie Şärq Qadını (Die Frau des Orients) usw. dokumentierten den sowjetischen Versuch, aus Aserbaidschan ein Sprungbrett für die Verbreitung sozialistischer Ideen im gesamten Orient zu machen. Historiker und Philologen aus Aserbaidschan konnten in ihren Arbeiten so einen nationalen Beitrag zur »Erweckung des Orients« sehen.52 Die Idee einer türkischen Einheit war somit in der Wissenschaft durchaus anzutreffen, die Geschichte Aserbaidschans – deren einzelne Epochen noch nicht zu einem einheitlichen Bild zusammengefügt worden waren – blieb bis Ende der 1920er Jahre ein Teil der türkischen Geschichte. Der Terror der 1930er Jahre beendete die Hoffnung auf die Entwicklung einer eigenständigen Historiographie blutig. Gleichzeitig erging die Weisung aus Moskau, nun endlich eine umfassende, standardisierte Darstellung der aserbaidschanischen Geschichte zu verfassen. Die ersten standardisierten Geschichtsbücher fielen zeitlich zusammen mit einer Tabuisierung alles Türkischen in Aserbaidschan. Der Name der Sprache und die ethnische Bezeichnung der einheimischen turksprachigen Bevölkerung wurden Ende der 1930er Jahre diktatorisch neu festgelegt. Die Staatssprache hieß nun Aserbaidschanisch, die Bewohner waren Aserbaidschaner. Anstelle der lateinischen Schrift wurde das kyrillische Alphabet eingeführt. Gleichzeitig verschwanden in den 1930er Jahren die kaukasischen Türken vollständig aus dem offiziellen Geschichtsbild. Der Begriff »türkisch« hatte sich von nun an definitiv auf den (osmanisch‑)türkischen Nachbarn zu beziehen. Damit gedachte man nicht nur, die kulturellen Kontakte zum Nachbarland Türkei zu erschweren, sondern auch die unterschiedlichen Turkvölker Russlands voneinander zu trennen. Für einen Aserbaidschaner hatten Tataren, Usbeken oder Turkmenen künftig Angehörige fremder Völker zu sein, mit denen man allenfalls über die gemeinsame Zugehörigkeit zum »Sowjetvolk« verwandt sein dürfte.53 52 Vgl. hierzu auch Ingeborg Baldauf, Schriftreform und Schriftwechsel bei den muslimischen Rußland- und Sowjettürken (1850–1937): Ein Symptom ideengeschichtlicher und kulturpolitischer Entwicklungen, Budapest 1993, S. 426 ff. 53 Vgl. Shahin Mustafayev, »The History of Sovereignty in Azerbaijan: A Preliminary Survey of Basic Approaches«, in: Bruce Grant, Lale Yalcin-Heckmann (Hg.), Caucasus Paradigms: Anthropologies, Histories, and the Making of the World Area, Münster 2008, S. 95–117; Sefa Martin Yürükel, »Nationalism and the Foundation of National Identity in Azerbaijan –

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Zu der in diesem Zusammenhang äußerst zentralen Frage der Ethnogenese äußern sich die Geschichtsbücher der Stalinära auf folgende Weise: Sprache könne im Falle Aserbaidschans nicht das einzige Kriterium der Volkszugehörigkeit sein. Darüber hinaus sei der Volkscharakter geprägt durch das Territorium und durch die materielle und immaterielle Kultur, die sich vor dem Hintergrund des Kampfes gegen fremdländische Invasoren entwickele. Das aserbaidschanische Volk habe damit seine charakteristische ethnische Ausformung sowohl durch sein spezifisches Territorium als auch durch den permanenten Kampf gegen äußere Feinde erhalten.54 Im offiziellen sowjetischen Geschichtsbild der 1930er Jahre nahmen neu aufgebaute Volkshelden wie Babäk55 (auch: Babäk Xoramdin, 798–838) breiten Raum ein. Babäks antiarabischer, antiislamischer Aufstand im 9. Jahrhundert56 sollte der Anfang einer Serie von Bauernerhebungen gegen Fremdherrschaft und Ausbeutung sein, die sich durch die gesamte Vergangenheit Aserbaidschans zogen und an deren Ende der bolschewistische Sieg im April 1920 stand. Die Bedeutung der hurramdinitischen Bewegung und ihres Führers Babäk war schon zu Beginn der 20er Jahre von russischen Historikern neu »entdeckt« worden.57 Vor dem Hintergrund der 1930er Jahre gewann die Figur Babäks zunehmend an Bedeutung. In russischer und aserbaidschanischer Sprache erschienen kämpferische Schriften, die sein Ringen gegen fremdländische Eindringlinge heroisierten.58 Das bei den Schilderungen auch antiislamische Gefühle geschürt wurden, lag vermutlich durchaus im Kalkül der politischen Past and Present«, in: Ole Høiris, Sefa Martin Yürükel (Hg.), Contrasts and Solutions in the Caucasus, Aarhus 1998, S. 247–290. 54 Vgl. Alisojbat S. Sumbatzade, Azerbajdžancy – ėtnogenez i formirovanie naroda, Baku 1990, S. 108–112. 55 Babäk (ursprünglich Papäk) bedeutet »Väterchen« und war wahrscheinlich nicht sein richtiger Name. 56 Mark Whittow, The Making of Byzantium: 600–1025, Berkeley 1996, S. 195, 203, 215: »[...] Azerbaijan was the scene of frequent anti-caliphal and anti-Arab revolts during the eighth and ninth centuries, and Byzantine sources talk of Persian warriors seeking refuge in the 830s from the caliph’s armies by taking service under the Byzantine emperor Theophilos. [...] Azerbaijan had a Persian population and was a traditional centre of the Zoroastrian religion. [...] The Khurramites were a [...] Persian sect, influenced by Shiite doctrines, but with their roots in a pre-Islamic Persian religious movement [...].« 57 Vasilij M. Sysoev, Kratkij očerk istorii Azerbajdžana. Severnogo, Baku 1925, S. 40, sprach diesbezüglich von einer kommunistischen Bewegung. Er konnte dabei an die Vorarbeiten eines damals in Baku tätigen arabischen Forschers (christlicher Herkunft) anknüpfen: Pantelejmon Krestovič Žuze, Papak i papakizm, Baku 1921. 58 Einen Überblick über die einzelnen Titel gibt Sumbatzade, Azerbajdžanskaja istoriografija, S. 101 f.

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Führung. Der Islam geriet im offiziellen Narrativ zu einer reinen Eroberungsideologie, die den originär zoroastrischen Glauben der Einheimischen zu verdrängen suchte, die arabischen Heere des Kalifen von Bagdad zu einer Horde barbarischer Eroberer. Zudem bot der lang zurückliegende Kampf gegen äußere Feinde auch eine gute Gelegenheit, von einer pankaukasischen Solidarität zu sprechen – Armenier, Georgier und Aserbaidschaner hätten bereits damals Schulter an Schulter ihre Heimat verteidigt.59 Der Kampf des aserbaidschanischen Volkes gegen Feudalherren und fremde Invasoren stand somit im Mittelpunkt vieler historischer Darstellungen der Stalinzeit.60 Im Falle Babäks hätten aserbaidschanische und armenische Bauern dabei nicht nur gemeinsam gegen arabische Heere, sondern auch gegen die eigenen – vom Feind korrumpierten – Fürsten gekämpft und dabei verloren. Äußere Feinde, gegen die das ganze Volk zu streiten hatte, seien seit der Antike aus dem Süden und aus dem Westen in ein originär aserbaidschanisches Territorium eingedrungen. Die Rettung kam folglich aus dem Norden: Feindlichen Invasionen von Seiten anderer Turkvölkern, die etwa den Chazaren, seien seit dem Mittelalter russische Vorstöße gefolgt, welche allerdings eher als Vorläufer einer langfristigen Anbindung des Kaukasus an Russland gewertet werden sollten. Auseinandersetzungen zwischen Georgiern, Armeniern und Aserbaidschanern wurden dabei – insofern sie überhaupt erwähnt wurden – als Konflikte zwischen Feudalherren interpretiert. Die Volksmassen hätten sich immer solidarisch zueinander verhalten. Die Feinde Babäks bedrohten dieser Konstruktion zufolge alle Kaukasier gleichermaßen. Da im 18. Jahrhundert – 1.000 Jahre nach Babäk – der Feudalismus immer noch nicht überwunden gewesen sei, sich die verschiedenen transkaukasischen Kleinfürstentümer immer noch aufs blutigste bekämpften und türkische wie persischen Invasoren im Zeichen des Islam die gesamte Region regelmäßig in ein blutiges Schlachtfeld zu verwandeln drohten, sei die einzige Chance zum Überleben – und dies war selbstverständlich wörtlich zu nehmen – der Anschluss an Russland gewesen, das trotz seiner imperialen Führung dauerhaften Fortschritt und Ordnung zu bringen in der Lage war. So wollte es die sowjetische Geschichtsschreibung seit den 1930er Jahren bis zum Anbruch der Ära Gorbačev.61

59 Vgl. etwa bei Ė. I. Jampol’skij, Vosstanie Babeka (kratkij ocerk), Baku 1941. 60 Vgl. zusammenfassend bei Alisojbat S. Sumbatzade, Azerbajdžancy – ėtnogenez i formirovanie naroda, Baku 1990, S. 108–112. 61 Zum Babäk-Narrativ im postkommunistischen Aserbaidschan vgl. Sulejman Alijarly, Istorija Azerbajdžana. S drevnejšich vremen do 70-x gg. XIX v., Baku 2008, S. 146–155.

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Alte Helden neu codiert – Alisˇer Navoi: Der »große usbekische Dichter« und »Humanist der Völker Zentralasiens« Anders als im Kaukasus verfolgte die imperiale Politik Russlands in Mittelasien eine andere Stoßrichtung. Die islamischen Hochkulturen Turkestans und der Oasenstädte kamen erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum russischen Reich und ähnelten bis 1917 einer typischen Kolonie. Der Status des geographisch extrem großen Territoriums unterschied sich von anderen Teilen des Reiches in mehrfacher Hinsicht. Seine Völker wurden als inorodcy, als »Fremde« betrachtet und ihre Oberschichten im Gegensatz zu denen der kaukasischen Völker nicht in den russischen Adel eingegliedert, obwohl sie den größten Teil ihrer bisherigen Machtbefugnisse unter einem russischen Generalgouverneur weiter ausüben durften. Zudem war das vorrevolutionäre Zentralasien niemals vollständig ins Reich eingegliedert: Das Khanat von Chiwa und das Emirat von Buchara blieben lediglich Protektorate, die durch einseitige Verträge an Russland gebunden, nominell aber selbstständig waren. In diesen Gebieten mischten sich die russischen Behörden in religiöse und kulturelle Angelegenheiten, in die örtliche Verwaltung oder ins Gerichtswesen nicht ein. All diese Bereiche waren traditionell muslimisch geprägt und so weit von der russischen Praxis entfernt, dass jeder Versuch, sie anzupassen, kaum Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Daher waren in dieser Region die meisten traditionellen gesellschaftlichen Hierarchien auf der mittleren und unteren Ebene von der größtenteils militärischen Macht des Reiches überlagert.62 Der staatlich verordnete Kult um den gebürtigen Perser und islamischen Renaissancegelehrten Ališer Navoi (persisch: Nizām-al-Din ‘Alī-Shīr Herawī, 1441–1501) war ein rein sowjetisches Phänomen, das seinerseits nur schwach an vorrevolutionäre Formen und Traditionen einer institutionalisierten Erinnerungskultur anknüpfen konnte. Zwar war der Topos Navoi in seiner Gestalt als Schriftsteller, Geistlicher und Staatsmann im traditionellen Weltbild der islamischen Eliten mit großer Wahrscheinlichkeit präsent, bezüglich der Formen und Funktionen dieser vormodernen und nicht an europäischen Mustern orientierten Geschichtskultur herrscht jedoch bis heute in vielerlei Hinsicht Unklarheit.63 62 Vgl. Seymour Becker, »Russia’s Central Asian Empire 1885–1917«, in: Michael Rywkin, Russian Colonial Expansion to 1917, London, New York 1988, S. 235–256; Edward A. Allworth, The Modern Uzbeks: From the Fourteenth Century to the Present: A Cultural History, Stanford 1990. 63 Vgl. Adeeb Khalid, »The Emergence of a Modern Central Asian Historical Consciousness«, in: Thomas Sanders (Hg.), Historiography of Imperial Russia: The Profession and Writing of History in a Multinational State, London 1999, S. 433–477.

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Die Sowjetmacht versuchte dagegen schon früh, diese historische Persönlichkeit aus der Blütezeit islamischer Hochkultur für sich zu monopolisieren und insbesondere in Usbekistan, aber auch in anderen Gebieten Zentralasiens einen integrativ intendierten, allerdings an europäischen Mustern ausgerichteten Historienkult um Ališer Navoi zu etablieren.64 Ein interessantes Kuriosum stellt in diesem Zusammenhang die dreimalige Inszenierung seines 500. Geburtstages dar (1928, 1941 und 1948), eine Tatsache, die offiziell u. a. mit der sich aus den voneinander abweichenden Überlieferungen bezüglich des Zeitpunkts seiner Geburt sowie den sich aus dem Gebrauch unterschiedlicher Kalendersystemen ergebenden Schwierigkeiten bei der Errechnung seines exakten Geburtsdatums begründet wurden.65 In jedem Falle bot dieser Anlass der Partei eine willkommene Gelegenheit zur Artikulation von Macht- und Herrschaftsinteressen, welche im Zuge der entsprechenden Kampagnen jeweils auch über eine geschichtspolitisch motivierte Umcodierung der Gestalt Navois in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen flächendeckend kommuniziert wurde. Seinen zeitlichen Ursprung hat der Kult um Navoi in den zwanziger Jahren, einer Zeit, die häufig als die »Blüte der Sowjetvölker« bezeichnet wurde. Im Innern genossen die Republiken eine weitgehende Autonomie, die vor allem Wissenschaft und Kunst breiten Raum gewährte. Alphabetisierungskampagnen, der Aufbau eines flächendeckenden Bildungssystems und die Förderung der Nationalsprachen standen im Mittelpunkt einer Entwicklung, die insbesondere in Zentralasien mit dem Schlagwort einer »kulturellen Renaissance« belegt war.66 Hier beeindruckte die zeitgenössische Politik Moskaus vor allem eine Gruppe islamischer Intellektueller, die in diesem Nationalkommunismus sowjetischer Prägung ein Modell für die Befreiung der unterdrückten islamischen Völker überhaupt zu sehen glaubten. Vor diesem Hintergrund wurde der 500. Geburtstag Ališer Navois im Jahre 1928 erstmalig im Umfeld laufender Alphabetisierungskampagnen begangen und die Kultfigur und ihr Leben als ein für alle islamischen Völker der Region relevanter, da humanistischer, aufkläreri-

64 A. A. Semenov, Materialy k bibliografičeskomu ukazatelju pečatnych proizvedenij Ališera Navoi i literatury o nem, Taškent 1940. 65 Vgl. die programmatische Rede von V. Ju. Zachidov, Velikij uzbekskij poet i myslitel’ Ališer Navoi, Taškent 1948. 66 Vgl. Edward E. Allworth, »The Focus of Literature«, in: ders. (Hg.), Central Asia: 120 Years of Russian Rule, London 1989; Aftandil Erkinov, »The Perception of Works by Classical Authors in the 18th and 19th centuries Central Asia: The Example of the Xamsa of Ali Shir Nawa’i «, in: Anke von Kügelgen, Michael Kemper, Allen Frank (Hg.), Muslim Culture in Russia and Central Asia from the 18th to the early 20th Centuries, Bd. 2, Inter-Regional and Inter-Ethnic Relations, Berlin 1998, S. 513–526.

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scher und irreligiöser Mythos sowie Träger der Renaissance in Zentralasien inszeniert.67 In den dreißiger Jahren setzte im Zuge von Stalins »Revolution von oben« auch in Zentralasien die »Säuberung« der Partei von sog. »nationalistischen« Abweichlern ein. Die entsprechenden Kampagnen trafen islamische Intellektuelle ebenso wie in den Landessprachen publizierende Wissenschaftler und Literaten sowie nationalkommunistisch orientierte Parteifunktionäre, die während des »Großen Terrors« zu annähernd 100 Prozent physisch liquidiert wurden. Das neue Schlagwort der Nationalitätenpolitik lautete nun »Sowjetpatriotismus« (sovetskij patriotizm), vor dessen Hintergrund auch der Kult um den usbekischen Nationalgelehrten mit neuen Bedeutungen zu füllen war. Im Mittelpunkt stand nun die vermeintliche »Volkstümlichkeit« (narodnost’) in den – nun vor allem in russischer Sprache publizierten – Werken Navois sowie dessen Geist der »Völkerfreundschaft« (družba narodov), durch die der vormoderne Staatsmann in eine Analogie zum modernen »Völkervater« Stalin zu setzen war.68 Spätestens in der Nachkriegszeit schwand das emanzipatorische Narrativ endgültig zugunsten einer staatstragenden, proimperialen Meistererzählung mit entsprechender Rhetorik und Metaphern (»Moskau – das ist Mekka und Medina für alle unterdrückten Völker«), welche den russischgeprägten Herrschaftsdiskurs an Momente einer integrativen Geschichtspolitik zu binden versuchte.69 Auch der abendfüllende Spielfilm Ališer Navoi von Kamil’ Ja. Jarmatov aus dem Jahre 1947 ist in diesem Kontext erwähnenswert.70

67 Zu den antiislamischen Kampagnen im Zentralasien der 1920er und 30er Jahre vgl. Shoshana Keller, To Moscow, not Mecca: The Soviet Campaign against Islam in Central Asia, 1917–1941, Westport, London 2001. 68 Vgl. dazu den offiziellen Jubiläumsband der usbekischen Filiale der Akademie der Wissenschaften der UdSSR: Jubilejnyj komitet Ališera Navoi: Rodonačal’nik uzbekskoj literatury. Sbornik statej ob Ališere Navoi, Taškent 1940; David C. Montgomery, »Stalin in the writings of Hamid Alimjan: A case study of manifestations of the cult of personality in the literature of Soviet Uzbekistan«, in: Central Asian Survey vol. 8, 3 (1989), S. 31–51. 69 Vgl. dazu den bei der Akademie der Wissenschaften der UdSSR erschienenen Sammelband von A. K. Borokova (Hg.), Ališer Navoi. Sbornik Statej, Moskau, Leningrad 1946. Das Institut für Sprache und Literatur der Usbekischen SSR zog zwei Jahre später mit einem ähnlich strukturierten Werk nach: M. T. Ajbeka (Hg.), Velikij uzbekskij poet. Sbornik statej, Taškent 1948. Zur Publizistik vgl. E. Ė. Bertel’s, Navoi. Opyt tvorčeskoj biografii, Moskau, Leningrad 1948. 70 Vgl. U. Sultanov, I. Ujgun u. V. Šklovskij, Velikij Ališer. Literaturnyj scenarij, Taškent 1948.

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Mythen für die muslimischen Massen? – Ein Fazit In Betrachtung der Sowjetunion ist im Zusammenhang mit deren (Selbst-) Inszenierung oft vom »totalitären Staat als Gesamtkunstwerk« die Rede. Nach Hans Günther besteht die Grundtendenz dieses Kulturtyps im »Streben nach gewaltsamer Harmonisierung aller Lebensbereiche, der erzwungenen organischen Ganzheit aller Teile. Da die gewalttätige Unterwerfung unter das Ganze keine reale Stimmigkeit der Lebensrealität begründen kann, ist sie auf die Erzeugung von Schein, d. h. auf den Einsatz ästhetischer Mittel zur Vortäuschung harmonischer Ganzheitlichkeit angewiesen«.71 Bezüglich der politischen Kultur der Sowjetunion waren in diesem Zusammenhang staatliche Inszenierungen um bestimmte historische Personen und Ereignisse von zentraler Bedeutung. Neben staatlich gelenkten Narrativierungsprozessen in der (Fach-)Publizistik gaben konkrete Feierlichkeiten und Jubiläumsveranstaltungen der Führung der Sowjetunion einen propagandistischen Anlass, um die Überlegenheit des Sozialismus zu unterstreichen, Herrschaft an der Peripherie zu legitimieren und daran hängende Herrschaftsansprüche zu artikulieren. »Geschichte« diente dabei als säkularer Religionsersatz, als Mobilisierungsressource zur Stärkung des Sowjetsystems. Um den – im Hobsbawmschen Sinne zu sprechen – invented traditions72 in der Bevölkerung eine möglichst breite Akzeptanz zu verschaffen, wurde insbesondere im muslimischen Nordkaukasus auf bereits vorhandene Traditionen zurückgegriffen. Das Prinzip der Leninschen Nationalitätenpolitik, »national in der Form, sozialistisch im Inhalt«, kann hier bei der Gestaltung geschichtspolitischer Integrationskulte als eine der Hauptmaximen sowjetischer Kulturplaner angesehen werden. Traditionelle, d. h. in ihrem Interpretationsgehalt bereits existierende Narrative wurden – am stärksten im Falle Imam Šamil’s – im Laufe der 1930er Jahre mit »sowjetpatriotischem« Inhalt versehen und als solche in den Kanon vermeintlich neu geschaffener, »sozialistischer« Narrative eingereiht. Darüber hinaus ist bei den hier untersuchten offiziellen Geschichtsbildern die Anfälligkeit der Protagonisten für politische Mythenbildung augenscheinlich – eine Tendenz, die wie im Falle Babäks oder Navois nicht selten in der Konstruktion inhaltlich weitgehend neuartiger »Retortenkulte« mündete. Auch wenn eine »Wahrheit des Mythos«73 für Politik und Gesellschaft der Moderne keine Geltung hat, muss die gesellschaftliche und politische Wirkung von My71 Günther, Der sozialistische Übermensch, S. 184. 72 Eric J. Hobsbawm, Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1984. 73 Kurt Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985.

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then anerkannt werden, ohne aber bei ihrer Analyse den fundamentalen Unterschied zwischen »echten« und »gemachten« Mythen zu übersehen.74 Mythen stehen für das Unabänderliche, für Ursprungserfahrungen, an denen nicht gerüttelt werden kann. Sie liefern Interpretationsmuster, mit denen die jeweilige Gegenwart nicht erklärt, ihr aber ein vordergründiger Sinn gegeben wird. Mythen sind vieldeutig und deshalb politisch nutzbar, legitimieren dort, wo Legalität fehlt. Die Mythen der Vergangenheit fanden ihren Zweck darin, den Menschen in den muslimischen Gebieten des Kaukasus und Zentralasiens die Dimension ihrer Gegenwart zu verdeutlichen. Diese Mythen waren für die Masse inszeniert. Aus diesem Grunde war der Grat zwischen dem wirklichen und dem funktionalen Mythos in der Sowjetunion nur sehr schmal. Auch wenn die Mythen an der Peripherie des Imperiums sicherlich auf einen Aspekt der intellektuellen Befindlichkeit der Mythenbildner verweisen, so bleibt doch festzuhalten, dass sie im Auftrag des Zentrums, d. h. der Regierung, entstanden. Beschwörungsformeln gleich, legitimierten sie den Vergangenheits- und Gegenwartsentwurf der sowjetischen Elite(n), handelte es sich doch um Bilder für das Volk, nicht um Bilder des Volkes.

74 Ernst Cassirer, Der Mythos des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens, Frankfurt am Main 1985. Für die von Seiten der Sowjetführung betriebene Mystifizierung der Vergangenheit zu Zwecken politischer Instrumentalisierung trifft das Urteil zu, das Berding über den »instrumentalen Charakter« der Lehre vom politischen Mythos Georges Sorels gefällt hat: Was für den Autor keinen objektiven Wahrheitsgehalt mehr hat und nur noch subjektive Sinnstiftung darstellt, bringt die Bewusstseinshaltung des Mythentheoretikers in Gegensatz zu der der Mythengläubigen. Diese Aporie in den Pseudomythen ist »unbehebbar und überall zu finden, wo in der Moderne auf den Mythos als ein Prinzip der politischen Praxis zurückgegriffen wird.« Helmut Berding, Rationalismus und Mythos. Gesellschaftsauffassung und politische Theorie bei Georges Sorel, München, Wien 1969, S. 251.

Die Erforschung Kaukasiens im Zarenreich und der frühen Sowjetunion – Der Wandel von Interessen und Konzepten in den Regionalwissenschaften1 Oliver Reisner

1. Einleitung – Herrschaft und Wissen in imperialen und kolonialen Kontexten Mit dem Ende der Systemkonfrontation ist der geographische Raum als Argument in die politische wie wissenschaftliche Debatte zurückgekehrt. 2 Dieses bezieht sich auf das Konzept »Territorialität«, mit dem in der Neuzeit zunehmend einzelne oder Gruppen versuchen, Bewohner, Phänomene oder Beziehungen zu beeinflussen oder zu kontrollieren, indem sie es unternehmen, einen geographischen Raum abzugrenzen oder ihn zu kontrollieren. Territorialität beschreibt insbesondere die Fähigkeit des modernen Staates, sein Territorium souverän zu organisieren. Die Intentionalität für menschlich wahrgenommene Räume ist dabei bezeichnend.3

1 Erste Studien in den Archiven der Akademie der Wissenschaften, für moderne und jüngste Geschichte sowie im Handschrifteninstitut konnten Dank eines DFG-Stipendiums im September 2001 in Tbilisi, Georgien vorgenommen werden. Außerdem möchte ich den Kolloquiumsteilnehmern am Zentralasienseminar der Humboldt Universität Berlin, am Historischen Seminar der Friedrich-Schiller-Universität Jena und einem Workshop an der Universität Konstanz für die kritischen Anmerkungen danken. 2 Jürgen Osterhammel, »Die Wiederkehr des Raumes: Geopolitik, Geohistorie und historische Geographie«, in: Neue Politische Literatur 43 (1998) S. 374–397; Hans-Dietrich Schultz, »Land – Volk – Staat. Der geografische Anteil an der ›Erfindung‹ der Nation«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 51 (2000) S. 4–16; Michael Lackner u. Michael Werner, Der cultural turn in den Humanwissenschaften. Area Studies im Auf- oder Abwind des Kulturalismus?, Bad Homburg 1999; das Kapitel »Tracking the Dinosaur. Area Studies in a time of ›Globalism‹« bei Harry A. Harootunian, History’s Disquiet. Modernity, Cultural Practice, and the Question of Everyday Life, New York 2000, S. 25–58; Karl Schlögel, »Die Wiederkehr des Raums – auch in der Osteuropakunde«, in: Osteuropa 55 (2005) 3, S. 5–16. 3 Robert David Sack, Homo Geographicus: A Framework for Action, Awareness, and Moral Concern, Baltimore 1997, S. 275; ders., Human Territoriality: Its Theory and History, Cambridge 1986, S. 19; Torsten Malmberg, Human Territoriality, The Hague, Paris u. a., 1988; Kevin R. Cox, »Redefining ›Territory‹«, in: Political Geography Quarterly 10 (1991) 1, S. 5–7.

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Wie verhält es sich aber mit der Geographie in Imperien, die sich zu modernisieren versuchen ohne in Nationalstaaten zu zerfallen? Imperien bildeten immer auch ein geographisches Projekt, wie es oft von Wissenschaftlern verfolgt wurde. Ihre Einstellung reichte von Indifferenz bis zur Legitimation gegenüber dem Zweck ihrer Untersuchung, der im imperialen Kontext oft mit Gewalt, Unterdrückung oder Ausbeutung verbunden war.4 Die meisten imperialen Geographien gingen deskriptiv und nicht kritisch-analytisch vor. Mit »kontextbezogenen« und »kritischen« Ansätzen kann heute wissenschaftsgeschichtlich die Evolution eines Imperiums rekonstruiert werden. Die Nähe der Geographie zu jenen, die territorial Macht zu erreichen suchen bzw. besitzen, ist charakteristisch. Sie äußert sich in wandelnden Paradigmen der raumbezogenen Forschung sowie der Konstitution der »Gemeinschaft der Geographen«.5 Entsprechend wird auch der Kolonialismus als »kulturelles Unternehmen« aufgefasst und rückt die Kolonialisierung von Vorstel­lungen durch die europäische Geographie und Ethnologie verstärkt in das Blickfeld des Forschungsinteresses. Die Folge ist eine meist ethnisch gefasste Separierung in kolonisierende und kolonisierte Bevölkerungsgruppen teils als ausbalancierende Herrschaftstechnik, teils als Projektion neuartiger westlicher Kriterien von Ethnizität auf Gesellschaften, deren Studium Ethnologen und Anthropologen aufgegeben wurde. Bei der herrschaftlichen Durchdringung fremder Räume sollten wissenschaftliche Kriterien praktische Anwendung finden. Damit geht die Frage des erkenntnisleitenden Interesses in der Auseinandersetzung mit den Ergebnissen von Regionalforschung in ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Dimension einher.6 4

Anne Godlewska, Neil Smith (Hg.), Geography and Empire, Oxford 1991, S. 1–8, hier S. 3: »No discipline ever has a single research agenda, but among the most powerful agendas in human geography today is a sustained commitment to understanding the social construction of geographical space and environment: how do specific societies produce equally specific geographies and, conversely, how do these geographies help to shape social change?« Russland bzw. die Sowjetunion fehlen allerdings in diesem Sammelband. 5 David Livingstone empfiehlt, sich auf die Erforschung der »Praxis der Geographie« zu konzentrieren, welche die Geschichten der Geographie mit historischen »Geographien« zu verbinden sucht. Vincent Berdoulay, »The Contextual Approach«, in: David Ross Stoddart (Hg.), Geography, Ideology and Social Concern, Oxford 1981, S. 13–14. 6 »[C]olonialism as a cultural enterprise« bei Michael Khodarkovsky, »Of Christianity, Enlightenment, and Colonialism: Russia in the North Caucasus, 1550–1800«, in: Journal of Modern History (1999) S. 394–430, hier S. 400. Ders., Russia’s Steppe Frontier. The Making of a Colonial Empire, 1500–1800, Bloomington, Indianapolis 2002. Mark Bassin, Imperial Visions: Nationalist Imagination and Geographical Expansion in the Russian Far East, 1840– 1865, Cambridge 1999; s. a. Jürgen Osterhammel, Kolonialismus: Geschichte – Formen – Folgen, München 1995, S. 98 f. Zum Konzept der »plural society« als »eine Gesellschaft,

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Regionalstudien erzeugen also – spezifischen Interessenlagen und Wahrnehmungstraditionen folgend – Wissen über einen geographischen Raum, das sich kontextabhängig wandelt. Zu einer wissenschafts­historischen »Problemgeschichte« der Regionalstudien weiterentwickelt, werden »nicht die ›sachlichen‹ Zusammenhänge der ›Dinge‹, sondern die ›gedanklichen‹ Zusammenhänge der ›Probleme‹« untersucht.7 Es geht also nicht um die Geschichte einzelner Fachdisziplinen, sondern die den fachlichen Fragestellungen zugrunde­lie­gen­den wissenschaftlichen wie lebensweltlichen Orientierungen der Wissenschaftler bzw. Wissenschaftler­ge­mein­schaften. Wissenschaft als Produkt der Erkenntnis wird als Teil einer im Alltag sinnbildenden und hand­lungs­leitenden Kultur und nicht etwa als teleologische Fortschrittsgeschichte betrachtet. Wissenschaftliche Er­kenntnisse werden also nicht »entdeckt«, sondern entspringen vielmehr sich wandelnden gegenwartsbezogenen Frage­stellungen.8 Im Mittelpunkt der Untersuchung regionalbezogener Wissenschaftspraxis steht somit das Spannungsfeld von thematischer Forschung einerseits und ihrem politischen Anwendungsbezug andererseits, das sich in ihren erkenntnisleitenden Interessen, dominanten Forschungsparadigmen und der konkreten Forschungsarbeit niederschlägt. In den letzten Jahren sind nach Überblicksskizzen und Forscherbiographien erste systematisierende und kritisch reflektierende Arbeiten zur Regionalfor­ schung im Zarenreich und der Sowjetunion erschienen. Allerdings haben weder eine sich auf die slavischen Völker konzentrierende osteuropäi­sche Geschichte noch die philologisch geprägte Orientalistik die Aus­wirkungen des zarischen wie sowjetischen Wissenschaftssystems auf die Erforschung Kaukasiin der zwei oder mehr Elemente und soziale Ordnungen nebeneinander innerhalb ein und derselben politischen Einheit leben, ohne sich zu vermischen«. 7 Max Weber, »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis« [1904], in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 51982, S. 146–214, hier S. 166, zit. bei Otto-Gerhard Oexle, »Max Weber – Geschichte als Problemgeschichte«, in: ders. (Hg.), Das Problem der Problemgeschichte 1880–1932, Göttingen 2001, S. 11–37, Zitat S. 13 f. 8 Hans-Georg Soeffner, Auslegung des Alltags – Alltag der Auslegung. Zur wissenssoziologischen Kon­zep­tion einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, Frankfurt am Main 1989, S. 31 f.: »Die Hermeneutik des Fixierten, der fixierten Erzeugnisse, ist zugleich Rekonstruk­tion der Produkte und ihrer Entstehungsbedingungen wie auch die Simulation ihrer Erzeugnisse. [...] Die wissen­schaft­liche Haltung konstituiert ein anderes Konzept von ›Wirklichkeit‹ als der kognitive Stil der Praxis.« Wir haben es also nicht nur mit einer analytischen Rekonstruktion, sondern auch einer prognostischen Hervorbringung oder auch »Entdeckung« von Wirklichkeit zu tun (ebd., S. 24 ff.). Vgl. auch Peter L. Berger u. Thomas Luckmann, The Social Construcion of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge, Garden City, New York 1967 (dt. 1969).

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ens bisher hin­reichend thematisiert. In den jungen post-sowjetischen Nationalstaaten wird hingegen der Anteil sowjetischer For­schung an den eigenen, nationalen Forschungstraditionen heute oft als Produkt von Fremd­be­stimmung, Unterdrückung bzw. Kolonisierung gedeutet oder ganz ignoriert. Bei der Etablierung der Kaukasiologie als Regionalwissenschaft, die im Mittelpunkt dieses Beitrags steht, werden einmal gewonnene Erkenntnisse nicht als feststehend, sondern als Teil des kulturell ausgehandelten Verständnisses der Region Kaukasien betrachtet.9 Die Untersuchung der Regionalstudien zu Kaukasien im Zarenreich und in der frühen Sowjetunion konzentriert sich auf drei »Erfahrungsräume«, welche die Wahrnehmung und Deu­tungs­muster der Akteure prä­gen sowie ihr Handeln strukturieren. Zuerst sind dies Orte und Trägergruppen der Forschung als konkreter »Klein­raum«, hier exemplarisch die Fakultät für Orientsprachen der Petersburger Universität, dem Kaukasischen Historisch-Archäologischen Institut und der Universität Tbilisi. Diese »Klein­räume« waren zweitens in das variierende politische und gesell­schaftliche Umfeld in Petersburg/Leningrad, Moskau und den Zentren der jeweiligen Regionen, hier Tbilisi (Tiflis) für Kaukasien, selbst eingebettet. Drittens beeinflusste der internationale Forschungs- und Erkenntnisaustausch die wissenschaftlichen Denk- und Handlungszusammenhänge im Land. Die Interdependenz dieser drei »Erfahrungsräume« wird in der Diskussion um die Rolle der Wissenschaften in Staat und Gesellschaft deutlich, da wissenschaftlicher Leistung eine besondere Bedeutung für imperial-staatliche sowie nationale Selbstverständigung und Repräsentation zukam.10

9 David Schimmelpenninck van der Oye, Russian Orientalism. Asia in the Russian Mind from Peter the Great to the Emigration, New Haven, London 2010; Vera Tolz, Russia’s Own Orient. The Politics of Identity and Oriental Studies in the Late Imperial and Early Soviet Periods, Oxford 2011; vgl. Wolfgang Höpken, »›Europäisierung‹ oder ›Autochthonie‹. Entwicklungsgeschichtliche Diskurse in Südosteuropa (19.­–20. Jahrhundert)«, in: Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e.V., Leipzig 1996, S. 91–108. 10 Neuere amerikanische Studien zur Forschungspraxis in der frühen Sowjetunion thematisieren v. a. die Wirkungsmächtigkeit wissenschaftlicher Paradigmen der Nationsbildung. Francine Hirsch, »The Soviet Union as a Work-in-Progress: Ethnographers and the Category Nationality in the 1926, 1937, and 1939 Censuses«, in: Slavic Review 56 (1997) 2, S. 251–278. Bruce Grant, In the Soviet House of Cultures: A Century of Perestroikas, Princeton 1995. Vgl. Adrienne L. Edgar zu neuen Mittel­asienstudien in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 3 (2002) 3, S. 182–190.

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2. Imperiale Erkenntnisinteressen im vorrevolutionären Kaukasien Kaukasiologie im Wissenschaftsgefüge des Zarenreichs Der Beginn der wissenschaftlichen Erforschung Kaukasiens in Russland wird auf das Jahr 1726 datiert. In diesem Jahr stellte Gottlieb Siegfried Baier (1694– 1738), Mitglied der Petersburger Akademie der Wissenschaften, der Akademischen Versammlung seine Arbeit De muro Caucaseo vor, die er zwei Jahre später in russischer Übersetzung veröffentlichte.11 Nachdem im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert das Zarenreich immer weiter nach Süden expandierte, geriet die vielgestaltige Bergregion Kaukasiens in den Fokus vitaler strategischer Interessen der zarischen Außenpolitik gegenüber dem Osmanischen Reich wie auch den Persischen Reichen. Zur Konsolidierung der eigenen Machtbasis in dieser Grenzregion begannen zarische Offiziere und deutsche Gelehrte im Auftrag der Petersburger Akademie der Wissenschaften die verschiedenen Teile Kaukasiens in militärisch-aufklärerischer Absicht geographisch zu erforschen. Jedoch gewann ihre Erforschung erst nach der erfolgreichen Verteidigung des zarischen Herrschaftsanspruchs über die Region gegen Perser und Osmanen (1826–1829) aufgrund der zur Herrschaftssicherung benötigten Kenntnisse über Südkaukasien an Bedeu­tung und auch an Systematik.12 Gleichwohl lehrten einige Vertreter aus Adelsfamilien, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts oder früher nach Russland geflohen waren, an Moskauer und Petersburger Hoch11 Leonid I. Lavrov, »K 250-letiju akademičeskogo kavkazovedenija v Rossii«, in: Kavkazskij ėtnografičeskij sbornik 6 (1976) S. 3–10. Georgij F. Kim, Pëtr M. Šastitko (Hg.), Istorija otečestvennogo vostokovedenija do serediny XIX veka, Moskva 1990. Letztere zeichnen die Entwicklung der zarischen Orientalistik von den ersten Zeugnissen über den Orient in der alten Rus’ bis in die 1860er Jahre nach. 12 Hinzu kam die Kaukasienrezeption russischer Dichter (Lermontov, Puškin u. a.): Oliver Reisner, »Kaukasien als imaginierter russischer Raum und imperiale Erfolgsgeschichte. Gefangen zwischen russisch-imperialen und nationalen Zuschreibungen (19./20. Jh.)«, in: Bianka Pietrow-Ennker (Hg.), Kultur in der Geschichte Russlands, Göttingen 2007, S. 61– 82. Zu Forschungsreisenden vgl. Jürgen Breuste, Burkhard Malich, Reisen im Kaukasus. Berichte aus dem 19. Jahrhundert, Leipzig 1987, S. 5–15; Micheil A. Poliektov, Evropejskie putešestvenniki XIII–XVIII vv. po Kavkazu, Tbilisi 1935; ders., Evropejskie putešestvenniki po Kavkazu 1800–1830 gg., Tbilisi 1946. Aber auch unter Angehörigen der georgischen Elite entwickelte sich das Genre der Reiseberichte: Oliver Reisner, »Grigol Orbeliani Discovering Russia: A Travel Account by a Member of the Georgian Upper Class from 1831–1832«, in: Beate Eschment, Hans Harder (Hg.), Looking at the Coloniser. Cross-Cultural Perceptions in Central Asia and the Caucasus, Bengal, and Related Areas, Würzburg 2004, S. 47–62.

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schulen, arbeiteten an der Russischen Akademie der Künste oder im Staatsdienst. Eine zweite Gruppe der in Russland lebenden Georgier waren die Mitglieder der georgi­schen Kolonie, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach Russland kamen und die erste Forschungen zu Georgien unterstützten.13 Ab den 1830er Jahren wurden mit der herrschaftlichen und ökonomischen Durch­dringung eines imperial-bürokratischen Anstaltsstaa­ts statistische und eth­no­graphische Daten für Administration und Finanzbehörden erhoben, um »die Bedürfnisse der Bevölkerung und die Mittel zu ihrer Befriedigung« zu ermitteln. Die Peripherie Südkaukasien sollte im Zuge einer zivilisatorischen Mis­sion »aus der Dunkelheit« geführt werden. Allerdings wurde faktisch auch nach Einkunftsquellen gesucht, um die immensen Kosten zum Unter­halt der Armee vor Ort abzudecken. Auf höherer Verwaltungsebene und in zentralrussischen Wirtschaftskreisen dis­kutierte man die bestmögliche ökonomische Nutzung dieser »kolonialen« Region.14 Wach­sender Bedarf an Herrschaftswissen erzeugte auch eine steigende Nachfrage nach kompe­tentem Personal. In Petersburger Gelehrtenkreisen indes dominierten Geschichtswissenschaft und Philologie in der Auseinandersetzung mit Kaukasien. Der französische Gelehrte Marie-Felicité Brosset untersuchte als von der Petersburger Akademie der Wissenschaften frisch berufenes Mitglied für georgische und armenische Philologie erstmalig georgische Quellen, ins­besondere die Chronik Das Leben Kartlis (kartlis cxovreba).15 1838 widersprach er dann in einem Streit mit dem pol13 Cecilija Kalandadze, Učastie gruzin v kul’turnoj i obščestvennoj žizni Rossii v pervoj polovine XIX veka, Tbilisi 1984. 14 Platon Zubov, Kartina Kavkazskogo kraja prinadležaščaja Rossii i sopredel’nich emu zemel’, St.  Peterburg 1834; Ivan I. Šopen’, Nekotorye zamečanija na knigu Obozrenie rossijskich vladenij za Kavkazom, St. Peterburg 1840, s. a. Aleksandr Griboedovs »Proekt učreždenija Rossijskoj Zakavkazskoj kompanii« von 1828. Deljara I. Ismail-Zade, Naselenie gorodov Zakavkazskogo kraja v XIX – načale XX veka (Istoriko-demografičeskij analiz), Moskva 1991, S.  22; Giorgi V. Chačapuridze, K istorii Gruzii pervoj poloviny XIX veka, Tbilisi 1950, S.  188–220, bes. S. 201 ff. verwechselt hierbei oft Absichtserklärungen mit der realen Wirtschaftspolitik. 15 Vgl. die deutsche Übersetzung ohne textkritischen Apparat von Gertrud Pätsch (Hg.), Das Leben Georgiens. Eine Chronik Georgiens, 300–1200, Leipzig 1985. Zu Leben und Werk Marie-Felicité Brossets (1802–1880) Gaston Buačidze, Mari Brosse: stranicy žizni, Tbilisi 1983; Šota A. Chantadze, Akademik Mari Brosse i evropejskoe i russkoe gruzinovedenie (Istoriografičeskij očerk), Tbilisi 1970. Von 1839 bis 1841 hielt er die ersten Vorlesungen zur Geschichte Georgiens und Armeniens an der Akademie und Universität in Petersburg. Aufgrund seiner ersten Forschungsreise nach Georgien (1847­–1848) veröffentlichte er in Petersburg drei Bände (1849–1851). Zwischen 1849 und 1858 wurden erstmals grundlegende georgische Quellen in sieben Bänden in französischer Übersetzung vorgelegt und damit international zugänglich gemacht. Kornelij Kincurašvili, Dejatel’nost’ gruzinskich učennych v Peterburge, Tbilisi 1989, S. 10–44.

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nischstämmigen Arabisten Osip I. Senkovskij der verbreiteten Meinung, es fehle den Georgiern wie allen kaukasischen Völkern an einer alten literarischen Tradition.16 Der aus diesem Streit entstandene Aufklärungsbedarf über Historizität und Au­thentizität einer eigenständigen georgischen historischen literarischen Tradition markiert die Geburt der Kartvelologie, der Georgienstudien.17 Brosset wurde in Petersburg von T’eimuraz Bagrat’ioni, der als exiliertes Mitglied des ehemaligen georgischen Herr­scherhauses über eine reiche Bibliothek georgischer Bücher und Manuskripte verfügte, oder dem Ge­lehrten Davit Čubinašvili unterstützt. Letzterer hatte auf Veranlassung des Statthalters des Zaren in Kaukasien, Michail Voroncov, eine georgische Grammatik und Russisch-Georgische Wörterbücher zum Sprachunterricht an Gymnasien und Kreisschu­len Kaukasiens verfasst.18 Čubinašvili hatte 1839 das Studium der Orientalistik in Petersburg abgeschlossen und wurde 1844 mit 30 Jahren als Lehrer für georgische Sprache an der Orientalistik-Abteilung der Universität angestellt. Er avancierte dort 1855 zum ersten außer­or­dentlichen Professor für georgi­sche Sprache und Literatur. Fast 20 Jahre lang unterrichtete er georgische Sprache und Literaturgeschichte an allen höheren Lehr- und Fachan­stalten Pe16 Zur Person, dem wissenschaftlichen wie literarischen Wirken Senkovskijs: Schimmelpenninck van der Oye, Russian Orientalism, S. 160–168. Es war damals unbekannt, dass König Vaxt’ang VI. (1675–1737) bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine Kommission zur Sichtung und Kompilierung historischer Quellen eingerichtet hatte und deshalb für deren Autor gehalten wurde. Eine kritische Analyse der mittelalterlichen georgischen Geschichtsschreibung bei Stephen Rapp, Studies in Medieval Georgian Historiography: Early texts and Eurasian contexts, Louvain 2003; Maksime Berdznišvili, masalebi XIX pirveli naxevris kartuli sazogadoebriobis ist’oriisatvis [Materialien zur Geschichte der georgischen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts], Bd. 1, Tbilisi 1980, S. 62. 17 Kenneth Church, Genus or Species? Conceptualizing Cultural Essence in Late 19th Century Ethnographies of Georgia. Paper of the conference of the AAASS, 21 Nov. 1997, Seattle WA 1997, S. 4. Giuli Alasania, kartvelebi bat’on ronald siunis tvalsazrisit [Die Georgier in den Augen des Herrn Ronald Suny], Tbilisi 1997, S. 19 meint, dass bereits Marie-Felicité Brosset, Davit Bakradze, Ilia Č‘avč‘avadze u. a. die Auffassungen ihrer »Opponenten«, dass unter Georgiern weder ein ethnisches Bewusstsein, noch eine Kenntnis der Vergangenheit existierte, als »grundlos« entlarvt hätten. Damit setzt sie die Hochkultur mit der Volkskultur gleich. Dagegen fordern andere eine kritische und reflexive Erforschung eigener Kulturleistungen: Davit Zurabišvili, kartuli int’eligenciis brc’qinvaleba da sighat’ak’e [Glanz und Elend der georgischen Intelligenz], in: Ghia Nodia (Hg.), Č’kua vaisagan. st’at’iebi avt‘orta džgupi [Verstand aus Leiden. Artikel einer Autorengruppe], Tbilisi 1994, S. 1–19, bes. S.  12–15. Zum Beginn der Kartvelologie: Berdznišvili, masalebi, S. 62–73. 18 Nanuli P’ap’ava, saxalxo ganatleba sakartveloši me-19 sauk’unis meore naxevarši (1864–1900 c’c’.) [Die Volksbildung in Georgien in der zweiten Hälfte des 19. Jh. 1864–1900], Tbilisi 1963, S. 51; Vladimer Gagua, Očerki po istorii načal’nogo obrazovanija v dorevoljucionnoj Gruzii, Tbilisi 1982, S. 184.

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tersburgs, an denen kaukasische Studenten lernten. Viele junge Georgier erhielten als Studenten in Petersburg bei ihm ihre erste fundierte Ausbildung im Georgischen.19 Mit der Eröffnung der Fakultät für Orientsprachen an der Universität von Petersburg am 27. August 1855 wurde gleichzeitig die Erforschung der Philologie der Kaukasussprachen in­stitutionali­siert und aufgewertet.20 Die Eröffnungsrede hielt der erste Dekan der neuen Fakultät, der zum Christen­tum konvertierte Azeri, Mirza Kazem-Bek. Dieser hatte bereits am 1. Juli 1836 vor dem Kollegium der Universität Kazan’ dafür plädiert, die Nähe des kontinentalen Russland zu den asiatischen Völkern zur Intensivierung der Kulturkontakte zu nutzen, die »orientalischen Schätze« mit Hilfe der Russen zu erschließen und den Asiaten den Weg zu Aufklärung und Fortschritt zu ebnen. Jedoch hat sich auch im östlichen Kaukasus unter den muslimischen Gelehrten in der zweiten Hälfte eine säkulare Geschichtsschreibung dieser Teilregion herausgebildet.21 Zeitgleich erfolgte mit der Phi­lo­logisierung und Historisierung der Kaukasusvölker als Teil des Untertanenverbandes aber auch eine notwen­dige Explizierung abstrakter Gemeinschaftsformen, die über konkrete lokale, kulturelle und linguistische Besonderheiten hinausgehende Gemeinsamkeiten erzeugen musste. Zu ihrer Deutung wurden europäische Konzepte eingeführt, wie die 19 K’onst’ant‘ine Medzvelia, tergdaleulebi da rusetis samocian c’lebis revolucioneri moghvaceoba [Die Tergdaleulebi und die revolutionären Aktivitäten in Russland], Tbilisi 1959, S. 156. Von 1849 bis 1851 studierten 160 Kaukasier auf Staatskosten an höheren Lehranstalten in Petersburg. Sein Schüler und Nachfolger Aleksandre Cagareli erinnerte sich Ende der 1890er Jahre, dass sie in den 1850er und 1860er Jahren »in einer von Patriotismus erfüllten Atmosphäre aufwuchsen und zu Männern wurden.« Kincurašvili, Dejatel’nost’, S. 17–21, Zitat S. 19. 20 Arsen K. Šaginjan, Iz istorii Armenovedenija v Sankt-Peterburgskom universitete, St. Peterburg 1999; Kincurašvili, Dejatel’nost’, S. 25. Zu dieser Zeit war Georgisch noch Pflichtfach für alle südkaukasischen Studenten. Zur Geschichte der Orient-Fakultät der Petersburger Universität sowie einiger ihrer führenden Vertreter: Schimmelpenninck van der Oye, Russian Orientalism, S. 171–198 und neuerdings zur Schule um den Orientforscher Baron Viktor Romanovič Rozen: Tolz, Russia’s Own Orient, bes. S. 1–22. 21 Mirza Kazem-Bek, Izbrannye proizvedenija, Baku 1985, S. 354–360; Žurnal Ministerstva Narodnogo Prosveščenija, Č. XI. Spb. 1836, zit. nach Eva-Maria Auch, »Zwischen Orient und Okzident. Bildung, Identitätssuche und Akkulturation turko-tatarischer Muslime Südkaukasiens im 19. Jahrhundert«, in: dies.,Trude Maurer (Hg.), Leben in zwei Kulturen. Akkulturation und Selbstbehauptung von Nichtrussen im Zarenreich, Wiesbaden 2000, S. 105–141, hier S. 113. Die erste historisch-ethnographische Beschreibung der Bergbewohner des nordwestlichen Daghestans verfasste Abd ar-Rachman Gazikumuchskij im Jahre 1869. Vladimir Bobrovnikov, Irina Babič (Hg.), Severnyj Kavkaz v sostave Rossijskoj imperii, Moskva 2007, S. 11­–32, hier S. 24.

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romantische Auffassung der ethnisch-kulturellen Nation als grundlegender historischer Einheit.22 In der Einleitung zu seiner Histoire de la Géorgie erklärte Brosset, dass er die gesammelten Materialien zu einer möglichst vollständigen und kontinuierlichen Geschichte der georgischen Nation zu verbinden suche. Diese folgte allerdings noch einer vormodernen Geschichtskonzeption, die sich vor allem auf die Rekonstruk­tion von Herrschergenealo­gien und Fürstendynastien konzentrierte.23 Ausländische Forscher und gelehrte Georgier be­gannen gleichermaßen das Land »neu« zu entdecken, indem sie vor allem alte Quellen in Form von Handschriften und Büchern sammelten. Gleichzeitig waren letztere vom staatsloyalen Gedanken eines von »gegenseitigem Nutzen getragenen Kon­dominiums zwischen dem impe­rialen Russland und den geistigen Erben des alten König­reichs Georgien« erfüllt, deren Binde­glied die Vorstellung drohender Auslöschung durch Perser und Osmanen bildete. Danach hatte das Zarenreich die Georgier um den Preis der Auf­hebung der eigenen Monarchie vor der physischen Vernichtung bewahrt. Die Schöp­fung des russischen Narrativs der zarischen Erobe­rung als selbstlose Hilfe des mächtigen Glaubens­bruders aus dem Norden verband sich an die­sem Punkt mit der Konsolidierung eines georgi­schen historischen Narrativs, die entsprechend der neu veröffentlichten

22 Vgl. zum »Europäismus« in der georgischen Literatur: David Laškaradze, Problema ėvropeizma v gruzinskoj literature, Tbilisi 1987, S. 136–203. J. W. Robert Parsons, The Emergence and Development of the National Question in Georgia, 1801–1921, Unpubl. Ph d. thesis, Institute of Soviet and East European Studies, University of Glasgow, January 1987, S. 203–215 bezieht sich ebenfalls auf Äußerungen aus der romantischen georgischen Lyrik, die von Vertretern der Aristokratie getragen wurde. Church, Genus or Species?, S. 6–7 zeigt dies anhand der Begründung der ibero-kaukasischen Sprachfamilie, die sich in Georgien in den 1860ern durchgesetzt habe. Es gab dazu Anknüpfungspunkte aus dem 18. Jahrhundert unter König Vaxt’ang VI. und den Arbeiten Vaxušt’i Bagrat’ionis, die Sprache und Glaube als wesentliche Merkmale des Georgiertums betrachteten. Wichtig ist, dass es sich hier immer um Mitglieder der zentralisierenden Königsmacht handelte, die eine grundlegende Gemeinschaft festzuschreiben suchten. Zur Bedeutung der georgischen Sprache in der Geschichte Georgiens Winfried Boeder, »Sprachen und Nationen im Raum des Kaukasus«, in: Gerd Hentschel (Hg.), Über Muttersprachen und Vaterländer. Zur Entwicklung von Standardsprachen und Nationen in Europa, Frankfurt am Main u. a. 1997, S. 183–209, hier S. 191–199; Winfried Boeder, »Identität und Universalität: Volkssprache und Schriftsprache in den Ländern des alten Christlichen Orients«, in: Georgica 17 (1994), S. 66–84; Kevin Tuite, »The Rise and Fall and Revival of the Ibero-Caucasian Hypthesis«, in: Historiographia Linguistica 35 (2008), H. 1–2, S. 23–82. 23 Church, Genus or Species?, S. 4, Anm. 22. Dabei ist der Einfluss der Ideen Herders von einer Kulturnation auf diese frühen Forschungsarbeiten noch genauer zu untersuchen.

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kartlis cxovreba bis zum König P’arnavaz (299–234 v. Chr.) zu­rückverfolgt und deren künftiger Fort­schritt mit dem Zarenreich verbunden wurde.24 Neben diesen formalen Institutionen wurde die Kaukasienforschung ebenfalls in informellen Kreisen betrieben. Auch wenn Petersburg in dieser Periode ein aktiveres Zentrum für Geor­gien- und andere Kaukasienstudien war als Tbilisi, so fehlte es seit den 1840ern nicht völlig an gelehrten und publizisti­schen Aktivitäten von P’lat’on Ioseliani, Nik’oloz G. Berdznišvili und Dimit’ri Qipiani.25 Die ersten beiden publizierten als Redakteure bzw. Mitarbeiter der halbamtlichen Zeitungen Za­kavkazskij vestnik und Kavkaz Quellen und Untersuchungen über Georgien und Kaukasien. Die meisten Publikationen zur Geschichte und Ethnographie der Region erschienen aber immer noch auf Russisch.26 Allein die Armenier konnten sich in Tbilisi ab 1895 eine eigene ethnographische Zeitschrift leisten.27 Nach der herrschaftlichen Durchdringung initiierte die zarische Regionalverwaltung Kaukasiens in den 1880er Jahren mehrere umfangreiche Projekte zur anwendungsorientierten Datensammlung. Dies führte zu einer detaillierten Geographie und Ethnographie der Kaukasusregion. Sie konnte auf zahlreichen geographischen, geologischen, botanischen, historischen, rechtshistorischen, philologischen und ethnographischen Studien und Beschreibungen der Region

24 Church, Genus or Species?, S. 6. Diese Interpretationsfigur, damals unter der Intelligenz weitgehend positiv bewertet (z. B. K’onst’ant‘ine Medzvelia, tergdaleulebi da rusetis samocian c’lebis revolucioneri mog∙vac’eoba. nac’ili [Die Tergdaleulebi und die revolutionären Aktivitäten in Russland], Tbilisi 1959, S. 14; Nik’oloz Berdzenišvili, »sakartvelo XIX sauk‘unis p’irvel meotxedši« [»Georgien im ersten Viertel des 19. Jh.«], in: ders., sakartvelos ist’oriis sak’itxebi [Probleme der Geschichte Georgiens], Bd. 2, Tbilisi 1965, S. 344), wird nicht nur in der Historiographie, sondern auch in der georgischen Öffentlichkeit heute genauso wie die Sowjetherrschaft abgelehnt. Eine wissenschaftliche Erörterung der Frage ist sehr schwer, da sie mit der Aufhebung der »Eigenstaatlich­keit« verbunden wird. Ihre lyrische Fassung sind die beiden Poeme von Nik’oloz Baratašvili Das Schicksal Georgiens (bedi kartlisa, 1839) und Das Begräbnis König Erek’les (saplavi mepisa irak’lisa, 1842), die den Sinneswandel der »neuen Generation« in dieser Periode kennzeichnet. Berdznišvili, masalebi, S. 64 f.; Akaki Surguladze, Il’ja Čavčava­dze. Znamenosec nacional’no-osvobo­di­tel’nogo dviženija gruzinskogo naroda, Tbilisi 1987, S. 32 f. 25 Berdznišvili, masalebi, S. 60–62, 183 f. Ioseliani unterstützte Brosset mit Quellenmaterial. In den 1850ern wandte sich auch der junge Historiker Dimitri Bakradze an Brosset. Mamia Dumbadze, ist’orik’osi dimit’ri bakradze (cxovreba da mog∙ vac’eoba) [Der Historiker Dimitrij Bakradze. Leben und Werk], Batumi 1950, S. 20 f. 26 Berdznišvili, masalebi, S. 57–59. 27 Claire Mouradian, »La revue ethnographique Arménienne ›Azgagrakan handes‹. Chouchi – Tiflis, 1895–1916«, in: Cahiers du Monde Russe et Soviétique 31 (1990), H. 2–3, S. 295– 314.

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Kaukasiens zur administrativen Integration ins Zarenreich aufbauen.28 Die Materialien zur wirtschaftlichen Lebensweise der Staatsbauern in Transkaukasien (1883–1885, 4 Bde.) oder die Kollektion von Materialien zur Beschreibung der Orte und Völker Kaukasiens versuchten das Wissen über die Region mit Fakten, Zahlen und Karten aufzufüllen. Letzteres Projekt beteiligte Schullehrer vor Ort an der Erhebung lokaler Daten für administrative und ökonomische Zwecke. Diese Großprojekte versuchten, die lokalen Verhält­nisse in allen Ver­wal­tungs­ einheiten der Region umfassend zu registrieren. Besonders auffällig ist dabei die Grenzziehung zwischen den »Nichtexperten« wie Dorfschullehrern, die vor Ort massenhaft empirisches Material nach genauen Vorgaben sammeln und aufbereiten sollten, damit in Petersburg Wissenschaftler daraus ihre Schlüsse ziehen konnten. Die Kanzlei des Kaukasischen Bildungsbezirks produzierte spezielle Manuale zur Instruktion, wie diese Materialien erhoben werden sollten. Die wissenschaftliche Auswertung blieb aber den Gelehrten im fernen St. Petersburg vorbehalten.29 Die intensiven Wechselbeziehungen zwischen autochthonen und nicht-autochthonen Forschern, ihren Konzepten und die Auswirkungen des wechselnden politischen Klimas auf ihre Arbeit, aber auch das Verhältnis der institutionalisierten Forschung zu den kleinen Kreisen einer gebildeten Öffentlichkeit hat unlängst Vera Tolz untersucht. Ihre profunde ideengeschichtliche Studie über die wissenschaftliche und politische Wirkung der Schüler des Gelehrten Viktor R. Rozen (1849–1908) an der genannten Fakultät für Orientsprachen der St. Petersburger Universität verdeutlicht, dass diese in vielem die Orientalismuskritik Edward Saids an Europas Asienperzeption vorwegnahmen und

28 Diese vorrevolutionären Forschungsleistungen zu Kaukasien wurden bereits ausführlich gewürdigt: Vgl. Vasilij V. Bartol’d, Istorija izučenija Vostoka v Evrope i Rossii: lekcii, čitannyja v Imp. S.-Peterburgskom Universitete, St. Peterburg 1911, Deutsch: Wilhelm Barthold, Die geographische und historische Erforschung des Orients mit besonderer Berücksichtigung der russischen Arbeiten, Leipzig 1913 (Reprint: Islamic Geography, Vol. 242, Frankfurt am Main 1995) und in der Sowjetunion von Mark O. Kosven, »Materialy po istorii ėtnografičeskogo izučenija Kavkaza v russkoj nauke«, in: Kavkazskij Ėtnografičeskij Sbornik (KĖS), M. 1955– 1962. Č. 1 (1955) vyp.1, S. 265–374 (Trudy inst-a ėtnografii im. Miklucho-Maklaja, 26); Č. 2 (1958) vyp.2, S. 139–274 (ebd., 46); Č. 3 (1962) vyp.3, S. 158–288 (ebd., 79). 29 Für die Fragen der geographischen, ökonomischen und ethnologischen Erforschung Kaukasiens als Regionalstudien für die Periode des späten Zarenreichs seit den 1880er Jahren steht Quellenmaterial zur Verfügung, das u. a. in Tbilisi als zarischem Verwaltungszen­trum Kaukasiens aufzufinden ist. Hier sind besonders die Einleitungen zu mehrbändigen, umfangreichen Studien und deren archivalischen Überlieferungen zu nennen. Ihre Verortung innerhalb der zarischen Verwaltung lässt Rückschlüsse über die Erkenntnis­in­ter­es­sen zahlreicher Behörden zu.

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durchaus integrative Ansätze für das multiethnische Zarenreich formuliert hatten, die allerdings marginal blieben.30 So erhielt 1886 der georgische Linguist Aleksandre Cagareli den Lehrstuhl für Armenien- und Georgienstudien, auf den 1902 Niko Marr folgte. Als anerkannte Gelehrte begannen sie sich an Forschungsdebatten als gleichberechtigte Mitglieder zu beteiligen. Kaukasier integrierten sich fern der Heimat in das imperiale Wissenschaftssystem. Während in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Russische Kaiserliche Geographische Gesellschaft »russifiziert« wurde und ihre einstige deutsche Dominanz allmählich verloren hatte, erfolgte in den Kaukasienstudien eine gegenläufige Entwicklung. Seit 1900 waren z. B. Georgier als Professoren in Petersburg und Odessa oder als Leiter der kaukasischen Statistikabteilung in Tiflis tätig und brachten eigene Standpunkte öffentlich zu Gehör (Marr, Javakhishvili, Gogitschayschwili). Kaukasische Gelehrte beteiligten sich zunehmend an wissenschaftlichen und politischen Debatten. Nach der Revolution 1905 waren der Philologe Niko Marr und der Historiker Ivane Javakhishvili, beide aus Georgien, von der Fakultät für Orientsprachen an der Petersburger Universität in der Lage, die Argumente ihrer russischen Kollegen, welche die Autokephalie der Georgisch-Orthodoxen Kirche bestritten, zu entkräften. Die Regionalforschung im späten Zarenreich wurde somit wesentlich von konkreten Rahmenbedingun­gen, In­tentionen und Forschungsbezügen geprägt.31 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahm die zarische Erforschung Kaukasiens einen systematischeren und disziplinär gebundenen Charakter an. In Petersburg setzte ein »Verwissenschaftlichungsschub« ein, der sehr stark von der Auseinandersetzung mit europäischen Wissenschaftsströmungen und einer kritischeren Reflexivität gegenüber der bisherigen Forschungspraxis geprägt war. Neben das Sammeln und Edieren historischer Denkmäler traten nun interdisziplinäre Expeditionen und archäologische Ausgrabungen. Erstmals wur­den eigenständige Theorien und Konzepte formuliert und die westlichen in Frage gestellt. Der Lin­gu­ist, Philologe und Orientalist Niko Ja. Marr (1864–1934) agiert hier als Theoretiker und Organisator von Wissenschaft an prominenter Stelle, der bis 1930 zum Vize-Präsidenten der Akademie der Wissenschaften (AdW) der UdSSR aufstieg. Vom Studium der georgischen (Kartvel‑)Sprachen und des Armenischen entwickelte er zwischen 1888 und 1916 die Theorie ihrer 30 Tolz, Russia’s Own Orient, S. 54 f. 31 Die Geschichte der russländischen Orientforschung, die sich unter direkter Beteiligung mit den Vertretern der Völker Mittel­asiens und Kaukasiens ausbildete, unterschied sich wesentlich von der westeuropäischen Orientalistik und bildete seit 1905 als Einführungsvorlesung einen festen Bestandteil des Lehrprogramms an der Fakultät für Orientsprachen. Barthold, Die geographische und historische Erforschung des Orients, S. VII–XIII und zur Kaukasusforschung S. 200–203 und neuerdings auch Tolz, Russia’s Own Orient, S. 47–68.

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genetischen Verwandt­schaft mit den semitischen Sprachen als zwei Strängen einer gemeinsamen »japhetitischen« Sprach­familie (Japhet war ein Sohn Noahs), die er von 1916 bis 1920 um die Sprachen der kaukasi­schen Bergvölker erweiterte und bis 1923 schließlich randständige, aber nichtkaukasi­sche Sprachen wie Baskisch oder Etruskisch ebenfalls aufnahm.32 Seine Theorie stellte eine heftige Re­aktion auf die Vernachlässigung dieser Sprachen durch die indoeuropäschen Sprachwissen­schaf­ten in Europa dar und verwandelte sich in den 1920ern zur internationalistischen »Japhetologie«, die Marr immer mehr von einer georgisch dominierten Kaukasiologie (Ivane Javakhishvili) und einer national ver­engten Kartvelologie (Akaki Šanidze) in den Sprach- und Kulturwis­ sen­schaften abgrenzte.33 Mit der Expansion der Hochschulbildung graduierte auch eine wachsende Anzahl von Kaukasiern an den Universitäten inner- und außerhalb des Zarenreichs, welche die Forscher mit ihren Konzepten umwarben. Während um die Jahrhundertwende die Studenten allerdings weniger am Fach Orientalistik interessiert gewesen waren, so bildeten sich außerhalb der Fakultät für Orientsprachen der Petersburger Universität zahlreiche regional bzw. national organisierte Studentengruppen, die eigenständige Fragestellungen und Zielsetzungen zur Erforschung Kaukasiens entwickelten. So wollte z. B. der »Georgische Wissenschaftskreis« das Georgische als Wissenschaftssprache propagieren.34 32 Niko Marr wurde in Kutaisi als Sohn eines Schotten und einer Georgierin geboren, absolvierte 1884 das klassische Gymnasium in Kutaisi und 1890 die Orient-Fakultät der Petersburger Universität, wo er ab 1891 als Privatdozent tätig war. Von 1894 bis 1896 bereitete er sich an der Universität Strasbourg und der Vatikanischen Bibliothek in Rom auf seine Kandidatendissertation vor, 1898 folgte eine Expedition auf den Athos und 1902 auf den Sinai zur Sammlung georgischer Handschriften; 1912 Mitglied der Russ.  AdW, 1913 Dekan der Orientfakultät SPb. Zuletzt Kevin Tuite, »The Reception of Marr and Marrism in the Soviet Georgian Academy«, in: Florian Mühlfried, Sergey Sokolovskiy (Hg.), Exploring the Edge of Empire. Soviet Era Anthropology in the Caucasus and Central Asia, Berlin u. a. 2011, S. 197–213; zur Karriere Marrs und seiner Rezeption durch georgische Wissenschaftler s. bes. S. 199–203. 33 Marcello Cherchi u. H. Paul Manning, Disciplines and Nations: Niko Marr vs. His Georgian Students On Tbilisi State University and the Japhetidology/Caucasiology Schism, Pittsburgh 2002; zur Ethnologie: Givi V. Culaja, »Nikolaj Ja. Marr kak ėtnograf«, in: Valentin Gardanov (Hg.), Kavkazskij ėtnografičeskij sbornik, t. 6. Moskau 1976, S. 294–301; Nikolaj Ja. Marr, Kavkaz i pamjatniki ego duchovnoj kul’tury. Perepečatano iz Izvestij Akademii Nauk za 1912 god, izd. Armjanskogo Instituta v Moskve, Petrograd 1919. 34 Niko Marr beklagte sich in einem Brief an Ivane Javakhishvili, der 1901 für ein Jahr an der Wilhelms-Universität in Berlin u. a. beim Kirchenhistoriker Adolf von Harnack studierte, über die geringe Zahl an Studienanfängern. Dali Gersamia (Hg.), nik’o marisa da ivane javaxišvilis mimoc’era [Der Briefwechsel von Niko Marr und Ivane Javachišvili], Tbilisi 1996, S. 18; Otar Džanelidze, Gruzinskoe studenčestvo ukrainskich universitetov v period

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Mit der Verwissenschaftlichung ging seit der Wende zum 20. Jahrhundert schon recht früh eine nationale Adaptierung der Wis­senschaftskonzeptionen nach europäischem Vorbild bei Armeniern und Georgiern einher. Sie positionierten sich in wachsender Opposition zur regio­nalwissenschaftlichen Erfassung durch das Zarenreich, blieben aber dennoch von dessen Para­digmen wie der Vorstellung Kaukasiens als einheitlicher historisch-kultureller Region geprägt. Es erfolgte jedoch eine »Nationalisierung der Regionalforschung«. In Petersburg bildete sich unter dem Dach der Kaukasiologie z. B. eine georgische Kartvelologie (Georgienkunde) und eine Armenistik heraus.35 In vergleichender Perspektive blieben die Völker aus dem Nordkaukasus in größerem Umfang Studienobjekt russischer Forscher.36 Auf Beschluss des Volksbildungskommissariats vom 13. September 1919 wurde die Fakultät für Orientsprachen Teil der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Ersten Petrograder Universität. Die Orientsprachen verloren ihre institutionelle Heimat und wurden in das 1920 von Niko Marr begründete Petrograder Institut für lebende Orientspra-

trech revoljucij v Rossii (1900–1917 gg.), Tbilisi 1986; »Otčet o dejatel’nosti studenčeskago Gruzinskago Naučnago Kružka za 1909 god«, in: A. I. Vvedenskij (Hg.), Otčet o sostojanii i dejatel’nosti Imperatorskago S.-Peterburgskago Universiteta za 1909 god, St.Peterburg 1910, S. 247 f.; »Otčet o dejatel’nosti studenčeskago Gruzinskago Naučnago Kružka za 1911 god«, in: N. A. Bulgakov (Hg.), Otčet o sostojanii i dejatel’nosti Imperatorskago S.-Peterburgskago Universiteta za 1911 god, St. Peterburg 1912, S. 222; Ivane Javaxišvili (Hg.), k’rebuli. P’et’rogradis kartvel st’udent’ta samecniero c’ris gamocema [Sammelband. Herausgegeben vom Wissenschaftskreis georgischer Studenten Petrograds], Tbilisi 1915. 35 Zum einheitlichen Kulturraum Kaukasien aus zentraler Perspektive: N. Volkova (Hg.), Stranicy otečestvennogo kavkazovedenija, Moskva 1992, hier S. 7. Nach der Veröffentlichung seiner neuen, erweiterten Ausgabe der »Geschichte des georgischen Volkes« (in georgischer Sprache) schrieb Michail C’ereteli in einem Brief vom 3. April 1913 an den Autor Ivane Javakhishvili: »Die Herausgabe ihrer Monographien und Bücher sind nicht allein für die Wissenschaft, sondern auch für unsere Menschwerdung eine große Sache. Dies ist die beste Propaganda für die Idee Georgiens.« Michak’o C’ereteli, eri da kacobrioba (sociologiuri analizi) [Nation und Menschheit. Eine soziologische Analyse], Tbilisi 1990, S. 310. 36 Hauptsächlich zum Gewohnheitsrecht bei den nordkaukasischen Völkern: Fedor Leontovič, Adaty kavkazskich gorcev. Materialy po obyčnomu pravu Severnogo i Vostočnogo Kavkaza, Odessa 1882–1882 (Reprint: Nal’čik 2010), wo er Berichte zarischer Offiziere auswertete. S. a. Maksim Kovalevskij, Sovremennyj obyčaj i zakon. Obyčnoe pravo osetin v istoriko-sravnitel’nom osveščenij, Moskva 1886 (Frz. Paris 1893); ders., Zakon i obyčaj na Kavkaze (2 Bde.), Moskva 1890. In kritischer Auseinandersetzung zum Gewohnheitsrecht als vermeintlich primitiverer Form sozialer Organisation: Vladimir Bobrovnikov, Musul’mane Severnogo Kavkaze: obyčaj, pravo, nasilie, Moskva 2002, hier S. 5–7.

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chen verlagert, doch konnte es in der Kaukasienforschung nicht mehr an die herausragende Bedeutung der Fakultät für Orientsprachen anknüpfen.37

3. Vom zarischen Vielvölkerreich zur multinationalen Sowjetunion – Regionalforschung in Kaukasien mit (politischem) Anwendungsbezug Bereits einige Jahre vor dem Ende des Zarenreichs trat die Anwendungsorientierung der akademischen Forschung für staatliche Zwecke in den Vordergrund. Die Abhängigkeit des Zarenreichs von externer Rohstoffzufuhr während des Ersten Weltkriegs verdeutlichte erneut, wie wenig das Land über seine eigenen Naturschätze und deren Ausbeutung wusste. Diese Schwäche wollten mehrere patriotisch gesinnte Geo- und Naturwissenschaftler überwinden helfen, als sie im Januar 1915 die ›Kommission zum Studium der natürlichen Produktiv­ kräfte‹ bei der Akademie der Wissenschaften (Komissija po izučeniju estestvennych proizvodi­tel’nych sil Rossii pri Akademii nauk, kurz KEPS) gründeten. Die KEPS sollte durch zahlreiche Ex­peditionen die Naturressourcen des Landes ausfindig machen, um diese besser ausbeuten zu können. Auf ihrer Vollversammlung im Dezember 1916 sprach Vladimir I. Vernadskij »Über ein staatliches Netz von Forschungseinrichtungen«, welches sich über das gesamte Land erstrecken sollte. Bereits nach der Februarrevolution 1917 postulierte er über die Regionen bei den »Aufgaben der Wissenschaft in Verbindung zur staatlichen Politik«: »Für uns sind Sibirien, Kaukasien, Turkestan keine rechtlosen Kolonien. Auf einer solchen Vorstellung kann nicht die Grundlage des russischen Volkes errichtet werden.«38 Im April 1917 wurde als Schwesterorganisation die ›Kommission zur Erforschung der Völker Russlands und der Nachbarländer‹ (Komissija po izučeniju plemennogo sostava Rossii i sopredel’nych stran pri Akademii nauk, kurz KIPS, ab 1930 Institut po izučeniju narodov SSSR) gegründet. Sie wurde von dem Orien37 Šaginjan, Iz istorii Armenovedenija, S. 30 f. Der Marr-Schüler Anatolij Genko, Vladimir Barthold und I. Kračkovskij arbeiteten ab 1918 im »Asiatischen Museum«, wo 1921 ein Orientalisten-Kollegium eingerichtet worden war. Auf dieser Grundlage wurde dann 1930 das Institut für Orientalistik eingerichtet. Alle Institutionen wurden von Marr geleitet. Volkova, Stranicy otečestvennogo kavkazovedenija, S. 9–12. 38 Anatolij V. Kol’cov, Rol’ akademii nauk v organizacii regional’nych naučnych centrov SSSR (1917–1961 g.g.), Leningrad 1988, S. 13; vgl. ders., Sozdanie i dejatel’nost’ Komissii po izučeniju estestvennych proizvoditel’nych sil Rossii, 1915–1930, St. Petersburg 1999; s.  a. Kendall E. Bailes, Science and the Russian Culture in an Age of Revolutions. V. I. Vernadsky and His Scientific School, 1863–1945, Bloomington, Indianapolis 1990, S. 138–159.

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talisten Sergej Ol’denburg als ständiger Sekretär geleitet, der auch der KEPS angehörte.39 Eine von vier Abteilungen (Europäisches Russland, Sibirien, Kaukasien und Mittelasien) bzw. zwei der neun Sektoren der KIPS beschäftigten sich unter der Leitung Niko Marrs mit Nord- und Südkaukasien. Schon 1918 sollte KIPS auf Weisung der Volkskommissariate für Nationalitätenfragen unter Stalin, für auswärtige Angelegenheiten, für Volksbildung und für die Militär-Topographische Abteilung des Generalstabs der Roten Armee ethnographisch gegliederte Karten anfertigen. Auch Lenin bestellte im Juni 1920 für das ZK eine solche Karte für Mittelasien. 1921 wurde eine fünfzehnköpfige Expedition unter Leitung des KIPS-Mitarbeiters N. F. Jakovlev durchgeführt, um den Bevölkerungsbestand, Sprachen und Gebräuche der Bergvölker Kaukasiens zu erkunden. Ab 1923 war die KIPS maßgeblich an der Vorbereitung der ersten sowjetischen Volkszählung von 1926 beteiligt.40 Diese Kommissionen bildeten in der jungen Sowjetunion den Nukleus und Rahmen einer Reihe neuartiger und spezifischer Forschungs­ein­rich­tungen, die das gesamte Land wissenschaftlich erfassen und dabei ein neues Netz von Wissenschaftlern auch aus den Regionen für diese Aufgaben heranziehen sollten. Als erstes Regionalinstitut der Akademie der Wissenschaften Russlands gründete Niko Marr bereits am 1. Juni 1917 offiziell das ›Kaukasische Historisch-Archäologische Institut‹ (KIAI) in Tbilisi. Als »völlig neu für den Kaukasus« sollte es »eine große Lücke in der Reihe ähnlicher Einrichtungen sowohl Russlands als auch Westeuropas [füllen], weil seine Tätigkeit der humanwissenschaftlichen Kaukasiologie im umfassendsten Sinne des Wortes gewidmet wird.« Gemäß seiner Satzung hatte das KIAI die Erforschung der Sprachen, des Alltagslebens und der Altertümer (drevnosti) der Kaukasusvölker sowohl linguistisch als auch kulturell mit ihnen verwandter (srodnye) lebender und ausgestorbener Völker des Iran, Mesopotamiens und Kleinasiens in der ganzen Breite ihrer Geschichte und auch der Entwicklung aller Zweige der humanitären Kaukasiologie und auf sie bezogener wissenschaftlicher Disziplinen sowie die Aufbewahrung materieller und geistiger Kulturdenkmäler der verschiedenen Kulturen in den Grenzen der Kaukasusregion und ihre Registrierung als Ziele. Als Personal besaß es einen Direktor, der Akademiemitglied sein musste, und jeweils zwei von der Akademie ausgewählte Assistenten und Adjunkte, einen Se39 Zu Sergej Ol’denburg: Schimmelpenninck van der Oye, Russian Orientalism, S. 189–197. 40 Kol’cov, Rol’ akademii nauk v organizacii regional’nych naučnych centrov SSSR, S. 22 f.; Volkova, Stranicy otečestvennogo kavkazovedenija, S. 9 f. Ihr gehörten so berühmte Akademiemitglieder wie Vl. I. Vernadskij, Sergej F. Ol’denburg, V. V. Bartol’d, M. A. D’jakonov, E. F. Karskij, N. Ja. Marr, A. A. Šachmatov, L. S. Berg, B. Ja. Vladimircov, V. P. SemenovTjan-Šanskij, G. N. Čubinov (Čubinašvili), L. Ja. Šternberg oder L. V. Ščerba an.

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kretär und einen Fotografen.41 Aus den aufgefundenen und veröffentlichten Briefwechseln zwischen Niko Marr in Petersburg und seinen Mitarbeitern in Tbilisi lassen sich teilweise sehr divergierende Auslegungen dieser Ziele und der daraus abgeleiteten Forschungsabsich­ten erkennen.42 Andererseits betrieb der gleich nach der Februarrevolution 1917 von der Petersburger Fakultät für Orientsprachen nach Tbilisi zurückgekehrte Historiker Ivane Javakhishvili nun verstärkt die Gründung einer privaten Georgischen Universität. Auf der Gründungsversammlung der ›Gesellschaft der Georgischen Universität‹ am 12. und 17. Mai 1917 in Tbilisi und Kutaisi verglich er in seiner Rede die mittelalterlichen geistlichen Mönchsakademien in Gelati und Iqalto als Beispiele der Anbindung Georgiens an die geistigen Entwicklungen des christlichen Europa im Mittelalter mit der Gründung einer modernen europäischen Universität als Symbol der gleichberechtigten Existenz der georgischen Nation in der Familie moderner europäischer Nationen in der Wissenschaft.43 Die Georgische Universität wurde am 26. Januar 1918 vier Monate vor der Unabhängigkeitserklärung der »Demokratischen Republik Georgiens« gegründet. Sie sollte fortan den Kern einer nationalen Wissenschaftstradi­tion bilden. Mit Erlangung der Unabhängigkeit der drei südkaukasischen Republiken wurden dort auch die ersten Forschungen zu territorialen Grenzen des jungen Nationalstaats unternommen.44 41 Archiv der Akademie der Wissenschaften Georgiens (= Archiv AdW), fond 4: Transkaukasisches Hist.-Archäologisches Institut (KIAI/ZIAI/ENIMKI, 1917­–1941), delo 1/1 Materialien zur Gründung d. KIAI, l. 1a–2a. 42 Die Erforschung der Art und Weise der Institutionalisierung als »Kaukasisches Institut für Archäologie und Geschichte« (KIAI), die Zusammensetzung der Mitarbeiter, aber auch die Entwicklung der allgemeinen Rahmenbedingungen als lange Zeit einziges regionales Forschungsinstitut der Akademie der Wissenschaften der UdSSR in Kaukasien ist vom Verfasser dieses Beitrages geplant. – Unter den Mitarbeitern dominierten Georgier und Armenier vor Russen und einigenVertretern anderer ethnischer Gruppen. Archiv AdW Georgiens, f.4, d.6., l. 1. S. a. Otar K. Žordanija, Institut istorii, ėtnologii i archeologii im. Ivane Džavachišvili – 70 let, Tbilisi 1988, S. 10–11. 43 Ivane Javaxišvili, »kartuli universit’et’is daarsebis aucileblobis šesaxeb« [Zur Notwendigkeit der Gründung einer georgischen Universität], zuerst in der Ztg. saxalxo sakme [Volksangelegenheit] (1917), nos. 62, 63, 66, 68 veröffentlicht, dann in: TSU šromebi. Bd. XXXIII (1948), S. 1–34 und zuletzt in ders., c’erilebi. c’inasit’qvaoba giga zedaniasi [Artikel. Mit einem Vorwort von Giga Zedania], Tbilisi 2010, S. 11–33. 44 Ivane Javaxišvili, sakartvelos sazg∙vrebi ist’oriulad da tanamedrove tvalsazrisit ganxiluli [Die Grenzen Georgiens in historischer und gegenwärtiger Perspektive], Tbilisi 1919; B. Išchanjan, Kontrrevoljucija v Zakavkaz’e. č. 1: Tendencii musul’manskogo dviženija: (Social’no-istoričeskij charakter martovskich sobytij 1918 goda), Baku 1919. Aber auch seitens der Bol’ševiki wurden direkt Forschungsaufträge vergeben: F. Lebedev, Gruzija i Rossija. Istoričeskij očerk (Trudy podgotovitel’noj po nacional’nym delam komissii. Kavkazskij otdel), Ekaterinodar

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Beide Institutionen, das KIAI und die Georgische Universität, verfolgten von Anfang an entgegengesetzte Forschungsansätze. Der Historiker Ivane Javakhishvili als Mitbegründer und Universitätsrektor hat in einer sehr kontroversen Korrespondenz mit Niko Marr dessen internationalistische, die Disziplinen relativierenden Theorien kritisiert.45 Solange er bis 1926 als Rektor dem Professorenrat als universitären Selbstverwaltungsorgan vorstand,46 besaß die Zentrale in Leningrad und Moskau, vor allem aber der Wissen­schaftsmana­ger Marr, nur begrenzt Einfluss auf die Wissenschaften in Georgien. Auch der wissenschaftliche Nach­wuchs konzentrierte sich nach der Unabhängigkeit und der Annexion durch die 11. Rote Armee im Februar 1921 ebenfalls an der Universität und konnte erst allmählich »auf Kurs« gebracht werden. Hinzu kommt noch die in den frühen 1920er Jahren fortgeführte Tradition des obligatorischen Auslandsaufenthalts für angehende Professoren, die zahlreiche Georgier überwiegend nach Deutschland geführt hatte.47 Die junge Sowjetmacht musste sich als erster kommunistischer Staat nicht nur vom kapitalistischen Europa und den USA nach außen abgrenzen, sondern sich – nach einem verlustreichen Bürgerkrieg – auch intern neu bestimmen. Dabei hatte sie sich mit dem kulturellen Erbe des Zarenreichs, vor allem mit der kulturellen Heterogenität seines Staatsverbandes und seinem ökonomischen Entwicklungspotential auseinander zu setzen. Die Bol’ševiki versuchten das Land »wissenschaftlich« zu entwickeln, insbesondere die als rückständig geltenden Teile »Asiens«. Die angewandten Prinzipien und Praktiken dienten der Gliederung sowjetischer Territorialität, auch um Innen- wie Außenbeziehungen zu kontrollieren. Wissenschaft wurde zur »Produktivkraft« erklärt, die möglichst schnell »mobilisiert« werden und praktischen Nutzen bringen sollte 1919. Zwischen 1918 und 1921 war die Georgische Universität die erste von insgesamt zehn Universitätsgründungen, womit sich deren Anzahl innerhalb von drei Jahren verdoppelt hatte. Alle Universitäten wurden nach dem Sieg der Bol’ševiki unter die Aufsicht des Volksbildungskommissariats gestellt. In Weißrussland, Usbekis­tan, Kasachstan, Kirgistan, Turkmenistan, Armenien und Aserbaidschan gab es keine einzige höhere Lehranstalt, dafür blieb die 1918 im unabhängigen Georgien gegründete Universität erhalten und bis 1926 zumindest intern autonom. 45 Vgl. Cherchi u. Manning, Disciplines and Nations: Niko Marr vs. His Georgian Students on the Tbilisi State University and the »Japhetidology«/»Caucasiology« Schism, bes. S. 12–19. 46 Die Protokolle dieser Institution akademischer Selbstverwaltung sind bereits veröffentlicht: Manana Liluašvili, Zurab Gaip’arašvili (Hg.): T’filisis saxelmc’ipo universit’et’i. p’ropesorta sabč’os okmebi [Die Staatliche Universität Tiflis. Protokolle des Professorenrates 1917– 1926], Tbilisi 2006. 47 Briefwechsel mit in Deutschland studierenden Georgiern werden im Archiv für neueste Geschichte des Zentralen Staatsarchivs im Fond Nr. 471 »Universität Tbilisi« aufbewahrt und sind bislang kaum publiziert.

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(vgl. die Novellen Konstantin Paustovskijs). Wissenschaftspolitik spielte deshalb frühzeitig eine besondere Rolle, auch wenn oft die Möglichkeiten fehlten, die weitgesteckten Ziele in die Tat umzusetzen.48 Im Transformationsprozess vom Zarenreich zur Sowjetunion wurde eine »Territorialisierung von Ethnizität« hin zu Nationalitäten betrieben. Es wurde also nicht ein »Sowjetimperium« angestrebt, sondern ein multinationaler Föderationsstaat. Neue Parteifunktionäre und Spezialisten des alten Regimes wie Ethnographen und Orientalisten aus Petrograd sollten zusammen mit Statistikern und Verwaltungsfachleuten entscheiden, welche Völker in die offiziellen Listen der Zensusnationalitäten aufgenommen und welche »eliminiert« werden konnten. Der Gebrauch ethnischer Kategorien in diesen Listen wurde in den 1920ern und 1930ern mehrfach zur »Rationalisierung« der Staatsverwaltung überarbeitet und systematisiert. An diesem Prozess waren Funktionäre von Partei und Regierung, Wissenschaftler – die Individuen professionell klassifizieren bzw. deren Zugehörigkeit gegebenenfalls umdefinieren sollten – und schließlich die lokale Bevölkerung beteiligt, der innerhalb bestimmter Grenzen neue Identitäten zu vermitteln waren. Es ging also nicht allein um die politische Kontrolle der Völker des ehemaligen Zarenreichs, sondern ihre Angehörigen sollten – basierend auf der Idee des Selbstbestimmungsrechts der Völker – zu Mitgliedern einer neuartigen sozialistischen Gesellschaft, zu modernen Sowjetbürgern transformiert werden. Die Transformation eines Vielvölkerreichs in eine multinationale sozialistische Föderation zwischen 1917 und 1939 hat Francine Hirsch in drei Stufen sowjetischer Staatsbildung unterteilt: 1. physische Eroberung (1917–1924), 2. konzeptuelle Neugliederung (1924–1928) und 3. Konsolidierung der neuen Nationalitäten (1927–1939). Unter dem Aspekt »des konstruktiven gesellschaftlichen und politischen Aufbaus« bildete sie ein eigenständiges Entwicklungsmodell, welches auf koloniale Zivilisierungsmissionen antwortete.49

48 A. N. Akuljanc, Ėtnografičeskaja kartografija Zakavkaz’ja, in: Sovetskaja ėtnografija 1931/3–4, S. 163–171; exemplarisch A. Ja. Kamarauli, Chevsurija. Očerki, Izd. Kul’turnogo Obščestva Gorcev Gruzin, Tiflis 1929; der Autor sieht seine Studie als »mächtigen Kampfruf zur Unterstützung der Kulturrevolution in der Bergregion Chewsureti«. S. 4 und Viktor Šklovskijs Rezension in Zarja Vostoka (no. 183/2151, 13.08.1929). Paustovskij thematisiert in Kara-Bugaz (1932) und Kolchida (1934, dt. Berlin 1946) in einer teils historischen, teils journalistischen, teils dichterischen Prosa den sozialistischen Aufbau in unwirklichen, rückständigen Regionen an der Ostküste des Kaspischen Meeres in Turkmenistan und an der Ostküste des Schwarzen Meeres in Georgien. 49 Hirsch, »Soviet Union as a Work-in-Progress«, S. 253; Edward H. Carr, The Bolshevik Revolution 1917–1923, New York 1950; Boris Barth, Jürgen Osterhammel (Hg.), Zivilisier-

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Während der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) von 1923 bis 1929 existierten alte Wissenschafts­orga­nisationen neben neuen fort. Die in der vorrevolutionären Tradition stehende Akademie der Wissenschaften konnte sich bis zur Kulturrevolution und »Akademie-Krise« 1929 auch in Konkurrenz zur »Kommunistischen Akademie« der Bol’ševiki trotz »Belagerung« (Beyrau) eine gewisse Autonomie wahren. Erst 1929 sollte die »bourgeoise« Akademie radikal zum hegemonialen Wissenschaftszentrum umstrukturiert werden. An­ge­strebt wurde eine »Bol­sche­wisierung« von innen und nicht mehr durch separate Parteiakademien von außen.50 Am 31. Januar 1924 traf sich eine Gruppe führender Ethnografen der Akademie der Wissenschaften in Petrograd um eine neue Direktive des Nationalitätensowjets, Nationalität nach »rationalen Kriterien« zur Klassifizierung der Bevölkerung in einer ersten unionsweiten Volkszählung zu bestimmen. Ihre Ergebnisse sollten sie so bald wie möglich der Zentralen Statistikverwaltung übermitteln. Denn während die rechtliche Begründung der UdSSR bereits abgeschlossen war, galt dies für den Staatsbildungsprozess noch nicht. Da die Bol’ševiki nicht zum Zentralstaat des Zarenreiches zurückkehren wollten, mussten sie einen neuen Rahmen für den neu zu begründenden Staatsverband entwickeln. Diese Neufassung erfolgte als sozialistische Föderation der Nationalitäten. Die Klassifikation der Sowjetbürger nach Nationalitäten in den Volkszählungen von 1926, 1937 und 1939 bildete dafür die »fundamentale Komponente bei der Schaffung eines multinationalen Staats«.51 Natürlich mussten nun lokale Verwalter mehr über die ihrer Herrschaft unterworfenen Völker wissen, um effektiv die eigene Macht erhalten zu können. Selbst im Volkskommissariat für Nationalitätenfragen gab es jedoch keine umfassende Kategorisierung der Sowjetunion, wie anhand der Auseinandersetzungen um die Einrichtung von Republiken und oblasti (Provinzen) deutlich wurde. Erst nach wiederholten Konsultationen mit Geographen, Ethnographen und Linguisten haben sich Regierungsangehörige für eine Grenzziehung entlang nationaler ungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005, S. 10. Die Sowjetunion wird dort nicht behandelt. 50 Christoph Mick, »Wissenschaft und Wissenschaftler im Stalinismus«, in: Stefan Plaggenborg (Hg.), Stalinismus. Neue Forschungen und Konzepte, Berlin 1998, S. 321–361; Michael David-Fox, »Symbiosis to Synthesis: The Communist Academy and the Bolshevization of the Russian Academy of Sciences, 1918–1929«, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 46 (1998) 2, S. 219–243; ders., Revolution of the Mind. Higher Learning Among the Bolsheviks, 1918–1929, Ithaca, London 1997; Dietrich Beyrau, Intelligenz und Dissens. Die russischen Bildungschichte in der Sowjetunion 1917 bis 1985, Göttingen 1993, S. 39-53. 51 Hirsch, »Soviet Union as a Work-in-Progress«, S. 251: »fundamental component in the creation of the multinational state«.

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bzw. ethnischer Merkmale entschieden, die ihnen dauerhafter als natürlich-geographische oder ökonomische Prinzipien erschienen.52 In der Phase von 1924 bis 1928 ging es also darum, der Nationalität Bedeutung zuzuschreiben. Stalins klassische Nationsdefinition von 1913 war für die Volkszählung von 1926 jedoch kaum praktikabel. Dabei spielte KIPS als wissenschaftlicher »Kleinraum« eine wesentliche Rolle. Die in der KIPS versammelten Wissenschaftler sollten von 1924 bis 1926 einen dem sowjetischen Kontext angepassten, neuen Nationalitätenbegriff entwickeln. In der Krise des sprachlich gefassten Nationalitätenbegriffs nach der De-Legitimierung von Religion und sprachlicher Russifizierung sollten die Experten nun Definitionen ausarbeiten und detaillierte Informationen über verschiedene Regionen und Nationalitäten sammeln. Sie entwickelten Curricula und Lehrmaterial über die Völker der UdSSR, trainierten Verwaltungsfachleute für ihre Arbeit in nichtrussischen Regionen und vermittelten zwischen Behörden und lokaler Bevölkerung. Gleichzeitig forderte der Nationalitätensowjet von der Zentralen Statistikverwaltung, die Volkszählungsdaten zu »größeren Nationalitäten« (glavnye narodnosti) zusammenzurechnen und separate Listen zu erarbeiten. Kleinere Völker sollten sich in größeren konzeptuellen Einheiten (später auch territorial) konsolidieren. Den größten Missmut erzeugten die Vorbereitungen zur Volkszählung in der Ukraine und in Südkaukasien über die von der KIPS erstellten Listen der zu zählenden Nationalitäten (nacional’nost’ vs. narodnost’). Die Ethnographen der KIPS monierten, dass sie ohne Analyse aller verfügbaren Datensätze keine akkuraten ethnographischen Karten würden erstellen können, um z. B. Grenzkonflikte zu regulieren. Bis 1927 erhielten so 172 Nationalitäten einen offiziellen Status.53 Die dritte Stufe der Konsolidierung der Nationalitäten auf der Datengrundlage der Volkszählung von 1927 ging mit der Einführung des ersten Fünfjahr-

52 Hirsch, »Soviet Union as a Work-in-Progress«, S. 251–278; dies., Empire of Nations. Ethnographic Knowledge and the Making of the Soviet Union, Ithaca, London 2005; Terry Martin, The Affirmative Action Empire. Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923–1939, Ithaca, London 2001; zur Volkszählung von 1926 in Südkaukasien siehe Daniel Müller, Sowjetische Nationalitätenpolitik in Transkaukasien 1920–1953, Berlin 2008, S. 77–120. 53 Hirsch, »Soviet Union as a Work-in-Progress«, S. 257: »Making Sense of Nationality«. Zur Spezifik der Territorialisierungspolitik in Südkaukasien, die bereits in den 1920ern und nicht erst in den 1930ern wie in anderen Regionen der UdSSR auf eine Homogenisierung der Titularnationen der drei Sowjetrepubliken hinauslief siehe Müller, Sowjetische Nationalitätenpolitik, S. 163–189.

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plans 1929 einher.54 Nun wurde der Kampf gegen Widerstände vermeintlich traditioneller Kulturen und Religionen unter den »weniger entwickelten« Völkern verschärft. Die Regierung berücksichtigte zunehmend die Wünsche dominanter Titularnationalitäten (z. B. Georgier in Südkaukasien), die Republiken und oblasti wie Nationalstaaten mit einheitlicher Sprache und Kultur organisieren wollten. Zwischen 1928 und 1939 wurde die ethnographische Karte an der Konsolidierung der Völker in größeren linguistischen, ethnischen oder kulturellen Einheiten ausgerichtet, die mit Territorium und »ökonomischer Lebensfähigkeit« verbunden werden sollten.55 Die mehreren hundert ethnischen Elemente wurden bis zur Volkszählung 1937 und 1939 – zumindest auf dem Papier – auf gerade 59 größere Nationalitäten reduziert bzw. in nationalen Territorien »konsolidiert«. Völker, die nicht mit einer solchen Form von Staatlichkeit bedacht wurden, mussten um ihre Existenz fürchten. Zwischen 1937 und 1939 sollte die Konsolidierung der Nationalitäten und damit die Transformation der Völker und Territorien des ehemaligen Zarenreichs in eine Föderation sowjetischer Nationalstaaten abgeschlossen werden. »Nationalität« war zu einem Hauptmerkmal sowjetischer Identität und ihre Registrierung eine politische Angelegenheit geworden.56 In Vorbereitung der Volkszählung von 1939 wurden drei separate Listen mit 59 glavnye nacional’nosti (Nationen, nationale Gruppen und narodnosti), eine andere mit 39 ethnographischen Gruppen und 28 nationalen Minderheiten erstellt. Ein Jahr nach der Volkszählung waren 31 größere Nationalitäten ohne eigene territoriale Einheit verschwunden, sie wurden mit Gruppen ähnlich kulturellen, ethnischen oder linguistischen Ursprungs kombiniert. Offiziell war die Sowjetunion nun zu einer Ansammlung territorialer Nationalitäten geworden, die sich unter dem Banner des Sozialismus vereinten. Wie jedoch Administratoren und Experten ethnographisches Wissen nutzten, um die »Kreation« einiger Nationalitäten bzw. »Eliminierung« anderer zu rechtfertigen, stellt noch ein Desiderat der Forschung zur Geschichte der Wissenschaftspraxis in der frühen Sowjetunion dar. Außer der KEPS und der KIPS wurden auch neue Forschungsinstitutionen an der Sowjetperipherie etabliert, welche die Regionalforschung beeinflussten 54 Hirsch, »Soviet Union as a Work-in-Progress«, S. 264: »Consolidating Nationalities: Phase I, 1927–1932«. 55 Hirsch, »Soviet Union as a Work-in-Progress«, S. 266 f.: »Consolidating Nationalities: Phase II, 1932–1937«. Leitbegriffe: narod, nacija, narodnost’, nacional’nost’, nacmen’šinstvo und rasa. 56 Ebd., S. 272: »Consolidating Nationalities: Phase III, 1937–1939«.

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und eigene, nationale Wissenschaftlergemeinschaften schufen. Eine zentrale Rolle bei der Erzeugung neuer Forschungsfelder und der Integration neuer Schichten hatte das Volksbildungskommissariat der Bewegung zur Landesbzw. Heimatkunde (kraevedenie) als Teil der Regionalforschung zugedacht, die in den nichtrussischen Gebieten die Nationalisierungspolitik der Sowjetmacht (korenizacija) ergänzte. Sie sollte relativ schnell einheimisches Personal zur wissenschaftli­chen Erschließung peripherer Regionen wie Mittelasiens und Kaukasiens heranziehen.57 Trotz häufiger Umstrukturierungen in den 1920er und 1930er Jahren erfolgte allerdings stets eine in­stitutionelle Aufwertung der Kaukasienforschung durch die Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Allein das Budget, welches die AdW der UdSSR für die Region bereitstellte, wuchs von 3 Mio. Rubel im Jahre 1928 bis 1934 auf 25 Mio. Rubel an. Die Zahl der Mitarbeiter hatte sich im selben Zeitraum verdreifacht. Das bereits erwähnte Kavkazskij institut archeologii i istorii (KIAI) avancierte 1930–1931 zum Kaukasiologischen Institut der AdW der UdSSR (Institut kavkazovedenija AN SSSR) und wurde um eine natur­kundliche Abteilung erweitert. 1932 wurde das Institut zur ›Transkaukasischen Filiale der AdW der UdSSR‹ (Zakavkazskij filial AN SSSR) erhoben, blieb aber weiterhin von der AdW in Moskau weisungsabhängig. So kritisierte z.B. 1932 die Abteilung für Gesellschaftswissenschaften der AdW der UdSSR am Forschungsplan des ›Trans­kau­kasischen Instituts‹, das dieser nicht der Notwendigkeit der Erforschung aktueller Probleme oder der Erstellung angewandter wissenschaftlicher Arbeiten wie Lehrbüchern entspreche. Dominant blieb in dieser Zeit wohl auch Niko Marrs Japhetitische Theorie.58 Am 22.09.1933 wurde auf einer Sitzung der ›Transkaukasischen Filiale der AdW der UdSSR‹ an der Staatlichen Universität Tbilisi beschlossen, eine »Georgische Abteilung« (Gruzinskoe otdelenie filiala) zu gründen. Bereits drei Wochen später, am 05.11. wurde mit der Umsetzung begonnen. Niko Marr bildete 57 Die kraevedenie ist für die Kaukasusregion bisher nicht untersucht worden, aber als Schnittpunkt politischer Vorgaben und wissenschaftlicher Forschung von zentraler Bedeutung für die wissenschaftliche Praxis der Regionalforschung oder welche erkenntnisleitenden Interessen die Bol’ševiki vor Ort artikulierten. Außer einigen Publikationen und Dokumenten im Archiv für neueste Geschichte sind nur wenig Hinweise zu finden. Erste Recherchen im ehemaligen Ar­chiv des ZK der KP Georgien waren nicht sehr erfolgreich. Niko Marr, Kraevedenie, Machač-kala 1925; das Buch der Heimatkundler (kraevedy) A. F. Lajster, G. F. Čursin, Geografija Kavkaza. Priroda i naselenie, Tiflis, 1924. Vgl. zu Zentralasien: Ingeborg Baldauf, »Kraevedenie« and Uzbek National Consciousness, Bloomington, Indiana 1992. 58 Zur Institutsgeschichte: Otar K. Žordanija, Institut istorii, ėtnologii i archeologii im. Ivane Džavachišvili – 70 let, Tbilisi 1988, S. 20 ff.; Sofija D. Miliband, Bibliografičeskij slovar’ Sovetskich vostokovedov, Moskva 1975.

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als »Wissenschaftsorganisator« die treibende Kraft und führte gleichzeitig den Vor­sitz sowohl bei der ›Transkaukasischen Filiale der AdW der UdSSR‹, als auch bei der Georgischen Abteilung. Bereits am 1. Januar 1934 wurden eine georgische (Tbilisi) sowie eine azerbaidschanische Abteilung (Baku) und ein Institut für Kaukasienforschung in Tbilisi eingerichtet. Am 15.03.1935 hat das Transkaukasische Komitee der VKP(b) beschlossen, die ›Transkaukasische Filiale der AdW der UdSSR‹ endgültig in drei nationale Filialen aufzuspalten. Damit nahm es die Umgliederung der ›Transkaukasischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik‹ (ZSFSR) in drei einzelne Unionsrepubliken vorweg. Bereits am 23.03.1935 begann die Georgische Filiale der AdW der UdSSR zu arbeiten. Ein erstes Thema war, dass wissenschaftliche Untersuchungen zur Ausdifferenzierung nationaler und fachspezifischer Forschungen auch in den Sprachen der Titularnationen durchgeführt werden sollten. Diese offizielle »Nationalisierung« legitimierte scheinbar nur noch administrativ die Praxis in Tbilisi. Das Präsidium der AdW der UdSSR hielt jedoch an einem separaten regionalwissenschaftlichen Institut für Kaukasienforschung fest. Ihm sollte auch das Landeskundliche Forschungsinstitut Abchasiens angeschlossen werden, was Partei- und Regierungsorgane des von einer Unionszur Autonomen Republik herabgestuften Abchasien völlig ablehnten. Man einigte sich am 25. Juni 1936 schließlich auf die Einrichtung eines ›Instituts für Abchasische Kultur der AdW der UdSSR‹ im Bestand ihrer Georgischen Filiale, wie auch das Institut für Kaukasienforschung. Damit wurde die national-territoriale Gliederung auch zum Strukturprinzip der sowjetischen Kaukasienforschung.59 In diesem zunehmend »nationalisierten« Umfeld und ohne die Patronage des 1934 verstorbenen Niko Marr setzte das ›Niko-Marr-Institut für Geschichte, materielle Kultur, Sprache und Literaturen der transkaukasischen Völker‹ die regionalbezogene geisteswissenschaftliche Forschung fort. Laut Beschluss des Transkaukasischen Exekutivkomitees vom 17.04.1935 hatte das Institut folgende Ziele: 1. Wissenschaftliche Bearbeitung schriftlicher Quellen, Folklore, ethno-kultureller Relikte, Kulturdenkmäler sowie Sprachschöpfungsprozesse der Kaukasusvölker; 2. »Kampf gegen bürgerlich-nationalistische pseudowissenschaftliche Konzeptionen im Be­reich der Erforschung gesellschaftlicher Prozesse des Lebens der Völker Kaukasiens und Transkaukasiens«.60 Mit der 59 Mit der Einrichtung eigenständiger Filialen erfolgte die Etablierung nationaler Publikationsreihen (Trudy). 1936 wurden die Filialen in einen Gesellschafts- und Naturwissenschaftlichen Zweig unterteilt. Žordanija, Institut istorii, S. 28–41. 60 Žordanija, Institut istorii, S. 40; kartuli sabč’ota encik’lop’edia [Georgische Sowjetenzyklopädie], Tbilisi 1980, Bd. 5, S. 306. Das georgische Akronym lautete »ENIMKI«. Im Juli

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Nationalisierung wurden die wissenschaftliche und ideologische Kontrolle verstärkt. Der Arbeitsplan musste vom Transkaukasischen Exekutivkomitee, später den Bildungsministerien der Sowjetrepubliken und nicht der AdW bestätigt werden. Institutionell war ebenfalls eine zunehmende Konzentration auf Südkaukasien und zugunsten national ausgerichteter Forschung bei jeder Umstrukturie­rung der »Sektoren« des Instituts zu verzeichnen. So wurde das noch 1932 geplante Regionalprojekt zur »Feudalen Formation in Kaukasien vom 16. bis 18. Jh. (Vorkapitalistische Epoche)« oder eine mehrbändige »Geschichte Transkaukasiens vom 18. bis 19. Jh.« eingestellt. Am 25.06.1936 ging das Institut schließlich gänzlich im System der georgischen Filiale der AdW der UdSSR auf, da es offensichtlich seine Existenzberechtigung als Regionalforschungsinstitut verloren hatte. Der Kaukasienforschung fehlte nun ein eigener institutioneller Rahmen. Forschungsprojekte beschränkten sich überwiegend auf Georgien.61 Die Vorbereitung und Ausbildung wissenschaftlicher Kader auch für Unionsrepubliken wurde in den 1930er Jahren mit der Einführung der Aspirantur weiter verbessert, die 1932 erstmals auch am Kaukasieninstitut eingerichtet wurde. Die Verteidigung einer Dissertation erfolgte zunächst aber immer noch an der AdW der UdSSR in Leningrad. Erst am 7.11.1939 wurde die Verteidigung der Dissertationen auch am Institut durch eine eigens eingerichtete Prüfungskommission möglich, womit die direkte Kooperation mit der Universität oder anderen Instituten entfiel. Dies beschleunigte die Trennung der Forschung von der Lehre und führte zur Ausbildung einer »geschlossenen Gesellschaft« der Akademiker.62 Am 10.02.1941 – nach der Russischen Föderation, der Ukraine und Weißrussland – beschloss der Rat der Volkskommissare der Georgischen SSR als vierte Sowjetrepublik, eine eigene Akademie der Wissenschaften einzurichten. Das Marr-Institut ging damit institutionell endgültig in der akademischen Georgienforschung auf. Die führenden Vertreter der georgischen Nationalgeschichtsschreibung Ivane Javakhishvili, Simon Janašia und Niko Berdzenišvili begründeten eine neue Reihe Materialy po istorii Gruzii i Kavkaza und veröf1936 fiel der Zusatz »transkaukasischer Völker« fort. Das ENIMKI bestand aus vier Sektoren (1. Schriftlose Völker und Völker mit junger Schriftkultur Transkaukasiens, 2. Geschichte und materielle Kultur der Völker Transkaukasiens, 3. Vergleichende Ethnographie und Folkloristik der Völker Kaukasiens, 4. Geographie und Toponymie) und dem Niko Marr-Kabinett. Es durfte eigene Publikationen wie die Reihe Problemy sovetskogo kavkazovedenija, populär-wissenschaftliche Monographien herausgeben und wissenschaftliche Veranstaltungen abhalten. 61 Žordanija, Institut istorii, S. 41–46. 62 Žordanija, Institut istorii, S. 48 f.

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fentlichten 1943 das erste systematische Lehrbuch zur Geschichte Georgiens von der Frühzeit bis zum 19. Jahrhundert. Damit wurde die Entwicklung zu einem nationalen sowjetischen Wissenschaftssystem abgeschlossen.63

Wissenschaftsmilieu und Repressionen Im Erkenntnisprozess müssen die Forscher nicht nur ihre Beziehung zu und in den Strukturen der Wissenschaften, sondern auch denen der Herrschaft, die sie hervorbringen und durch die sie hervorgebracht werden, immer wieder selbstkritisch überprüfen. Anfang der 1920er Jahre ver­hielten sich die meist liberal bis konservativ gesinnten Wissenschaftler zur Sowjetmacht überwiegend reserviert bis feindlich. Sie stellten für die Bol’ševiki keine eigenständige soziale Gruppe dar, sondern wurden der bürgerlichen Intelligenz zugeordnet. Parteiideologen und Parteiführung waren andererseits auf die Zusammenarbeit mit kooperationswilligen Wis­senschaftlern im Zentrum und an der Peripherie angewiesen, um neue wissenschaftliche Theorien in die Sprache der Ideologie übersetzen zu können. Dem Anspruch der Parteiführung, die Wissenschaften zu kontrollieren, stand zunächst die Tatsache ihrer fachlichen Inkompetenz entgegen. Das Primat der Praxisrelevanz führte auch in der Regionalforschung zu Auseinandersetzungen zwischen Wissenschaftlern und Praktikern (v.  a. schlecht ausgebildete »rote Kader«), die man als Zielkonflikte beschreiben kann. Angewiesen auf die Mitarbeit weniger Außenseiter, konnten diese teilweise beherrschenden Einfluss auf die Wissenschaftsorganisationen gewinnen.64 So errang Niko Marr als Linguist und Archäologe in der frühen Sowjetunion bestimmenden Einfluss auf die Geisteswissenschaften im Allgemeinen und die Kaukasienforschung im Besonderen. Seine zahlreichen Institutsgründungen und seine immer umfassendere japhetitische Theorie korrelierten mit seinem Aufstieg zu einer der zentralen Gestalten der Wissenschaftsorganisation der jungen Sowjetunion.65 Die Rolle der Kaukasienforschung als Regionalfor-

63 Žordanija, Institut istorii, S. 54–63. 64 Z. B. der marxistische Historiker und stellvertretende Volksbildungskommissar M. N. Pokrovskij oder der Fall des Biologen Lysenko. Mick, »Wissenschaft und Wissenschaftler im Stalinismus«. 65 1919 begründete Niko Marr in Petrograd die ›Russländische Akademie zur Geschichte der materiellen Kultur‹ (ab 1936 ›Staatliche Akademie der Geschichte der materiellen Kultur‹, kurz GAIMK), die u. a. archäologische Expeditionen in den Kaukasus durchführte, und 1921 das ›Institut für japhetidologische Studien der Russländischen AdW‹ (ab 1922 ›Ja-

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schung im Stalinismus wurde wesentlich von Niko Marr und seiner Wissenschaftspolitik bestimmt. Seine Gegner gerieten zunehmend unter Druck. An der kaukasischen Peripherie regte sich jedoch noch Widerstand. Um Ivane Javakhishvili, den Rektor der Georgischen Universität in Tbilisi, formierte sich eine georgisch-nationale Forschung mit qualifiziertem Personal, das sich Versuchen institutioneller wie theoretischer Vereinnahmung durch das Zentrum in Petrograd um die Person Marrs lange widersetzte. Zahlreiche Briefe geben Einblick in das Wechselverhältnis von wissenschaftlicher Argumentation und Nationsbildung über die Forschungsdebatten hinaus. Laut Javakhishvili kam es im Frühjahr 1917 zum Bruch mit seinem Lehrer, als er und mehrere andere Marr-Schüler von Petrograd nach Tbilisi übersiedelten.66 Nach der bolschewistischen Machtübernahme in Georgien im Februar 1921 wurde am 15. April an der Universität Tbilisi ein Lehrstuhl für vergleichende japhetitische Sprachwissenschaft unter Leitung Niko Marrs eingerichtet. Ivane Javakhishvili wurde jedoch im Juni 1926 als Rektor auf Initiative führender georgischer Bol’ševiki »abgewählt« und musste nach mehreren gegen ihn gerichteten Kampagnen (1930 und 1935), um seine wissenschaftliche wie physische Existenz fürchten.67 Die Repressionen steigerten sich ab Mitte der 1930er Jahre zum Terror, der sich nicht nur gegen »bürgerliche Spezialisten«, sondern gegen die Intelligenz insgesamt richtete. Die damit verbundenen Auswirkungen auf die Regionalforschung und ihre Träger sind noch nicht thematisiert worden. Zu Repressionen und Verlusten unter den Mitarbeitern des Kaukasieninstituts während des Großen Terrors 1937–1938 hält sich Žordanija, der als bisher einziger die Geschichte des Instituts erforscht hat, äußerst bedeckt.68 phetitisches Institut‹ und danach ›Niko-Marr-Institut für Sprache und Denken der AdW der UdSSR‹. Volkova, Stranicy otečestvennogo kavkazovedenija, S. 6–22. 66 Varlam Dondua (Hg.), »ivane javaxišvilis 34 c’erili« [34 Briefe von Ivane Javakhishvili], in: mnatobi 1969, no. 9, S. 134–163, hier S. 137; Dali Gersamia (Hg.), nik’o marisa da ivane javaxišvilis mimoc’era [Der Briefwechsel von Niko Marr und Ivane Javakhishvili], Tbilisi 1996; R. K’ek’elidze, M. Mamacašvili (Hg.), nik’o marisa da ekvtime taqaišvilis mimoc’era (1888–1931 c’c’.) [Der Briefwechsel von Niko Marr und Ekvtime Taqaishvili, 1888–1931], Tbilisi 1991; Tuite, The Reception of Marr and Marrism in the Soviet Georgian Academy, S. 201–203. 67 Merab Vačnadze, Vaxt’ang Guruli (Hg.), ivane javaxišvili t’iraniis samsjavros c’inaše. dok’ument’ebi da masalebi (XX sauk’unis 20–30-iani c’lebi) [Ivane Javakhishvili vor dem Gericht der Tyrannei – Dokumente und Materialien aus den 20er und 30er Jahren des 20. Jh.], Tbilisi 2004; Liluašvili/Gaip’arašvili (Hg.), T’filisis saxelmc’ipo universit’et’i. p’ropesorta sabč’os okmebi [Die Staatliche Universität Tiflis. Protokolle des Professorenrates 1917– 1926], S. 66–75, 269. 68 Otar Žordanija, Institut istorii, S. 60. Das gleiche gilt für die Frage nach Kontinuität und Wandel beim wissenschaftlichen Personal in der Regionalforschung. Wie sich die über-

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Wissenschaftler entwickelten durchaus ihre eigenen Überlebensstrategien. In eigenen Publikationen konnte neben den Methoden auch auf die Namen ihrer Begründer zur Anwendung des Marxismus-Leninismus auf eine bestimmte Disziplin verwiesen werden, um eine gewisse ideologische Schutzschildfunktion in der (wissenschafts‑)politischen Auseinandersetzung zu bewirken. Dies war aber nicht garantiert, d. h. es erfolgte eine Kanonisierung hauptsächlich nach ideologischen und nicht nach wissenschaftlichen Kriterien. Im selben Zug wurden andere Auffassungen entwertet und ihnen sowohl die Existenzgrundlage als auch die Möglichkeit kritischer Hinterfragung entzogen. Die Referenz bei der Erforschung der Geschichte der materiellen Kultur (v. a. Archäologie) wie auch in der Linguistik bildete Niko Marr von den 1920er Jahren bis 1951 auch aufgrund seiner umfassenden institutionellen Kontrolle.69 In der Stalinzeit existierten aber durchaus verschiedene Ansätze zu Marrs »Neuer Theorie der Sprache« nebeneinander fort. Diese konnten allerdings nicht mehr in eine unabhängige, offene wissenschaftliche Debatte miteinander treten. In Georgien, so erinnert sich Alexander G. lont’i,70 habe Marr noch in den frühen 1930er Jahren regelmäßig an der Staatlichen Universität Tbilisi im studentischen »Japhetologenkreis« Vorträge gehalten und mit diesem korrespondiert. Eine Opposition gegen Marr formierte sich im georgischen Establishment um die Linguisten Arnold Čikobava und Akaki Šanidze. Im Sommer 1933 lud der Parteichef K. Oragvelidze, der später Rektor der Universität Tbilisi und 1937 erschossen wurde, Marr zu einer offiziellen Versammlung im Hauptquartier der georgischen KP ein. Als Marr erfuhr, dass seine Kritiker ebenfalls eingeladen waren, erwartete er öffentliche Anklagen und verließ noch in derselben Nacht Georgien. Bis zu seinem Tode 1934 sollte er nicht mehr nach Georgien zurückkehren. Dies zeigt, dass die Angst auch vor den Doyen der Wissenschaft nicht Halt machte. Allerdings erfolgte eine öffentliche Entwiegend jungen Nachrücker (viele waren zu Beginn des 2. Weltkrieges oft erst 30 bis 35 Jahre alt) in der Regionalforschung behauptet haben oder sich auch der Einsatz gefangener Spezialisten im Arbeitslager (GULag) durch das Volkskommissariat für innere Angelegenheiten (NKVD) auf die Wissenschaftspraxis auswirkte, ist bisher für die Peripherien nicht geklärt. 69 Seine ›Staatliche Akademie für die Geschichte der Materiellen Kultur‹ (GAIMK) sollte allerdings nicht nur archäologische Grabungen fördern, sondern auch Kulturdenkmäler schützen. Die GAIMK war ein Zentrum der Marrschen Lehre und erfreute sich behördlichen Lobs durch die RANION. Annette Kabanov, Ol’ga Michajlovna Frejdenberg (1890– 1955). Eine sowjetische Wissenschaftlerin zwischen Kanon und Freiheit. Wiesbaden 2002, S. 89. 70 Aleksandr G. lont’i, modzg.vrebi, megobrebi, šegirdebi [Geistige Erzieher, Freunde, Schüler], Tbilisi 1998, S. 36–37.

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thronung Marrs erst nachdem Stalin in der Pravda am 27. Juni 1950 höchstpersönlich zum »Kampf der Meinungen« und der »Freiheit der Kritik« in den Wissenschaften ermuntert hatte. Arnold Čikobava, ein moderater Ibero-Kaukasiologe, eröffnete die Debatte um Marrs »Neue Theorie der Sprache« in den sowjetischen Sprachwissenschaften. Gleichzeitig leitete diese Debatte auch einen Paradigmenwechsel von Klassen- zu geopolitischen Kategorien in der Linguistik ein.71

4. Fazit Wenn das Zarenreich als ein geographisches Projekt betrachtet werden kann, dann hat es ebenfalls seine internen Kritiker hervorgebracht. In allen drei Perioden haben lokale, nicht-russische Gelehrte die Konzeption der kaukasischen Regionalwissenschaft auf verschiedene Weise mit geprägt und so an der sozialen Konstruktion des geographischen Raums partizipiert. Geographische Modelle waren dabei weniger bedeutend als die historisch zu legitimierenden Ansprüche über ein bestimmtes Territorium mit ethnisch gemischter Bevölkerung. Diese »Territorialisierung von Ethnizität« wurde nach der Sowjetisierung zur staatlichen Politik in den zuvor unabhängigen Kaukasusrepubliken. Wenn die »Theorie versucht, die Praxis zu erklären, dann versucht die Politik, die Praxis zu kontrollieren«.72 Die Wahrnehmung des geographischen Raums wurde in und außerhalb Kaukasiens maßgeblich durch wissenschaftliche Debatten konfiguriert, die mehr und mehr öffentlich und politisch wurden. Während in Zentralasien russische Gelehrte die Regionalforschung zur eurasischen Steppe zu Russlands Besonderheit als Kontinentalmacht erklärten, haben lokale, nichtrussische Wissenschaftler insbesondere in Südkaukasien schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts das zarische Deutungsmonopol her71 Der Opposition gehörten in Georgien auch JanaŠia, Axvlediani, Topuria und D. K’arbelashvili an. Mehrere von Marrs früheren Studenten wie Akaki Šanidze und Achvlediani in der Linguistik, der Ethnologe Čit’aia sowie sein allerletzter Student, Micheil Čikovani, der explizit Marrs »Neue Theorie« in seinem Lehrbuch der Volkskunde von 1946 legitimiert hatte, waren ebenfalls darunter. Arnold Čikobava, der in der Pravda die Debatte eröffnete, leitete zu jener Zeit die Abteilung für Ibero-kaukasische Linguistik an der TSU sowie das Niko-Marr-Institut für Sprache, ohne jedoch eine »Zitadelle des anti-Marrismus« zu sein, wie Alpatov behauptet. Tuite, The Reception of Marr and Marrism in the Soviet Georgian Academy, S. 203. Zur Linguistik-Debatte von 1950 siehe Ethan Pollock, Stalin and the Soviet Science Wars, Princeton, Oxford 2006, S. 104–135. 72 Robert A. Lewis, Geographic Perspectives on Soviet Central Asia, London, New York 1992, S. 7: »Theory attempts to explain practice, and policy attempts to control practice.«

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ausgefordert und dies teilweise zusammen mit russischen Wissenschaftlern an der Fakultät für Orientsprachen der Petersburger Universität. Deshalb ist es nicht so einfach, von einer »kolonialen Situation« in der Wahrnehmung Kaukasiens als einer Region des Zarenreichs wie der Sowjetunion zu sprechen. Während der frühen Sowjetunion konnte unter der dominanten Position Niko Marrs von Petersburg/Petrograd/Leningrad aus über 30 Jahre hinweg ein neuer Wissenschaftsentwurf durchgesetzt werden, der die Kaukasusregion zunächst intern auf sprachlicher wie kultureller Ebene vereinte und von den dominanten indo-europäischen Sprachgruppen abgrenzte. Ebenfalls wurden institutionell in der Kaukasusregion mit der Einrichtung des ›Kaukasischen Historisch-Archäologischen Instituts‹ (KIAI) neue Wege beschritten, die zunächst ungeplant zum direkten Vorläufer des sowjetischen Akademiesystems wurden. Der Regionalbezug wich mit dem Ausbau territorial-nationaler Forschungseinrichtungen immer mehr national ausgerichteten Forschungsansätzen, die schließlich in den 1940ern mit der Gründung nationaler Akade­ mien der Wissenschaften abgeschlossen wurden. Die fächerübergreifende Analyse der Forschungsprobleme und eine detaillierte Untersuchung der wissenschaftlichen Kommunikationsformen zwischen Zentrum und Peripherie stellt für die Kaukasusregion noch ein Desiderat der Forschung dar. Das derzeitige Ende der Entwicklung der Kaukasienforschung steht deshalb im Rahmen der Etablierung eines unionsweiten, zentralisierten Akademiesystems in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts, in dem die Regionalforschung auf die national gefassten Unionsrepubliken beschränkt und »nationalisiert« wurde. Versuche der Wiederbelebung explizit regionaler Forschungsansätze in Kaukasien zu Beginn der 1980er zerfielen mit der Sowjetunion.

Das große PR-Projekt »Nikita Chrusˇˇcev für den Westen« Konstruktionsmechanismen und Repräsentationsstrategien eines neuen Sowjetunionbildes Elena Zubkova, Sergej Zubkov Die Sphäre der Weltpolitik und der internationalen Beziehungen bildet einen Kommunikationsraum, in dem konkrete Entscheidungen nicht nur von diplomatischen Kontakten und konjunkturbedingten Strategien beeinflusst werden, sondern auch von den mit ihnen einhergehenden Symbolen, also von Ritualen, Repräsentationen, Gesten, Inszenierungen und Ähnlichem. Die in diesem Feld miteinander kommunizierenden Akteure präsentieren sich durch verbale und nichtverbale Diskurse, konkurrieren miteinander und »machen« auf diese Weise »Politik«. Das Image eines Politikers ist ein wichtiges Element dieser Kommunikation, ein Bestandteil der »politischen Show«, der »symbolischen Politik«. Die frühe Kritik der symbolischen Politik (Murray Edelmann, Ulrich Sarcinelli),1 die dieser vorwarf, sie ersetze oder verschleiere die reale Politik, klingt heute eher anachronistisch. Die symbolische Politik hat ihren angemessenen und legitimen Ort in historischen Forschungen gefunden. Dies ist der Erweiterung des traditionellen Untersuchungsfelds von Politik- und Kulturgeschichte und der schrittweisen Etablierung einer neuen Forschungsrichtung, der »Kulturgeschichte des Politischen«, geschuldet.2 In der Erforschung politi1 Murray Edelmann, Politik als Ritual. Die Symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handels, Frankfurt am Main, New York 1990; Ulrich Sarcinelli, Symbolische Politik, Opladen 1987. 2 Als Bilanz zu Kontroversen über eine Kulturgeschichte des Politischen: Barbara StollbergRilinger (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005; Thomas Mergel, »Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik«, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S.  574–606; Achim Landwehr, »Diskurs – Macht – Wissen. Perspektiven einer Kulturgeschichte des Politischen«, in: Archiv für Kulturgeschichte 85 (2003), S. 71–117. Zur Problematik der »neuen Kulturgeschichte« und der »neuen Politikgeschichte« eine kleine, keineswegs erschöpfende Auswahl der Publikationen: Lynn Hunt (Hg.), The New Cultural History, Berkeley 1989; Hans Ulrich Wehler (Hg.), Kulturgeschichte heute, Göttingen 1996; Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselworte, Frankfurt am Main 2001; Ute Frevert, »Neue Politikgeschichte«, in: Jochim Eibach, Günter Lottes (Hg.), Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002, S.  152–165; Martin Dinges, »Neue Kulturgeschichte«, in: Eibach/Lottes, Kompass der Geschichtswissenschaft, S.  179–192; Michael David-Fox, Peter Holquist, Alexander M. Martin (Hg.),

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scher Prozesse – vom Mittelalter bis heute – tat sich eine neue, überraschende Sichtweise auf, die den Blickwinkel auf vermeintlich längst bekannte Ereignisse und ihre Interpretation veränderte. Wir schlagen vor, aus der Perspektive der »Kulturgeschichte des Politischen« die internationalen Aktivitäten des führenden sowjetischen Politikers Nikita Chruščev zu untersuchen. Unser Interesse gilt der Entwicklung eines internationalen Images für Chruščev. Die außenpolitischen Aktivitäten des Politikers verstehen wir als die Umsetzung des großangelegten PR-Projekts »Chruščev für das Ausland«, dessen zentrales Element die Herstellung eines positiven Bildes des sowjetischen Führers im Westen war. Doch handelt es sich nicht nur um die symbolische Flankierung der sowjetischen Außenpolitik; die Schaffung eines positiven Bildes des Landes und seines Führers im Ausland war Bestandteil der Außenpolitik der Sowjetunion. Nach dem Tod Stalins im Jahr 1953 standen die Sowjetunion und die Länder des Westens, als die beiden widerstreitenden Lager im Kalten Krieg, vor der Wahl, ob sie die Politik der Konfrontation fortführen oder sich für Entspannung entscheiden wollten. Längst hatten der Osten wie der Westen die Perspektivlosigkeit einer weiteren Konfrontationspolitik erkannt; doch der Aufnahme eines Dialogs standen die Stereotype der wechselseitigen Wahrnehmung entgegen. Der Kalte Krieg war ein Krieg der Bilder; die westliche Welt wurde in der Sowjetunion ebenso als »Feind« wahrgenommen wie die Sowjetunion in den Ländern des Westens. Das wechselseitige Feindbild erwies sich als ernstzunehmendes Hindernis, als es darum ging, einen Kommunikationsraum von neuer Qualität zu schaffen. Die implizite Herausforderung kommentierte Chruščev einmal mit den Worten: »Es ist schwieriger, zu einer gemeinsamen Sprache zu finden, als sich in bestimmten Fällen pragmatisch zu einigen.«3 Die Suche nach einer »gemeinsamen Sprache« mit dem Westen bestimmte den Sinn und den Stil von Chruščevs Außenpolitik. Chruščev machte einen starken, widersprüchlichen Eindruck und stach aus der Reihe anderer, nicht weniger markanter Figuren seiner Zeit hervor. Doch gerade er war nach Einschätzung des Nachrichtenmagazins Der Spiegel »der faszinierendste Schaumann auf der weltpolitischen Bühne«,4 und seine Zeitgenossen würdigten sein Talent zur Selbstdarstellung. »Ich hielt Chruščev für einen klugen Mann, aber auch für einen großen Schauspieler und Theaterregisseur.

Special Issue: »The New Political History«, Kritika Vol. V, Nr. 1 (Winter 2004); Michail Krom (Hg.), Novaja političeskaja istorija, Sankt Peterburg 2004. 3 Visit N. S. Chruščeva vo Franziju. Otkliki buržuaznoj pečati, Moskva 1960, S. 94. 4 »Pinja und die Bombe«, in: Der Spiegel 43 (1964), S. 106.

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Das letztere konnte er glänzend«, schrieb Konrad Adenauer,5 und Guy Mollet, der Führer der französischen Sozialisten, äußerte: »Er war der hervorragendste Schauspieler, der mir je begegnet ist.«6 Das Image eines Politikers ist eine bedeutende Machtressource, und die »symbolische Praxis«7 lässt sich als die »imaginäre Dimension von Macht und Herrschaft« auffassen.8 Ein gut gewähltes Image begünstigt das Erreichen politischer Ziele, und umgekehrt: Fehler in der Konstruktion eines Images können ebenso verlustreich wirken wie politische Fehler. Die Frau des letzten Präsidenten der Sowjetunion, Raissa Gorbačeva, gestand einmal: »Niemand hat uns erklärt, was ein Image ist, und wir haben eine Menge Fehler gemacht.«9 Wir werden das internationale Image von Chruščev in erster Linie vom Gesichtspunkt seiner »instrumentellen Funktion« her würdigen und fragen, ob es den außenpolitischen Aufgaben angemessen war. Deshalb werden wir das Image als eine »Botschaft« auffassen, die von einer ganz bestimmten Zielgruppe gelesen bzw. wahrgenommen werden soll. Die Imagebildung vollzieht sich in drei Sphären, die man bedingt als Sphäre der Konstruktion, Sphäre der Repräsentationen und Sphäre der Rezeption und Interpretationen bezeichnen kann. In der Sphäre der Konstruktion des Images werden die Botschaften erstellt.10 Die Image-Botschaft basiert vor allem darauf, dass dem Politiker bestimmte symbolische Rollen zugeschrieben werden, die seine Positionierung ausmachen (für Chruščev: »Kämpfer für den Frieden« oder »Kommunist Nr. 1«). Diese Rollen sind in der persönlichen Legende verankert. In der Sphäre der Repräsentationen werden die entsprechenden Botschaften über verschiedene Kanäle und Mechanismen den Rezipienten kommuniziert. Hier gewinnt die Sprache, gewinnen Gesten, das Erscheinungsbild und Inszenierungen besondere Bedeutung. In der Sphäre der Rezeption des Images vollzieht sich die Prüfung der Botschaften, die danach von den Rezipienten entweder übernommen, transformiert oder abgelehnt werden. In diesem Bereich lässt sich die Effektivität der Konstruktion und Repräsentation des Images bewerten. 5 Konrad Adenauer, Erinnerungen, Bd. 3 (1955–1959), Stuttgart 1967, S. 455. 6 Zitiert nach: Visit N. S. Chruščeva vo Franziju, S. 126–127. 7 Gerhard Göhler, »Symbolische Politik – Symbolische Praxis«, in: Stollberg-Rilinger (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, S. 57–69. 8 Zum Imaginären der Macht programmatisch: Thomas Frank u. a. (Hg.), Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft, Frankfurt am Main 2002. 9 Zitiert nach: G. G. Počepcov, Imidželogia, Мoskau, Kiev 2001, S. 12. 10 Silke Satjukow und Rainer Gries sprechen in dieser Hinsicht von der »Sphäre der Botschaften«: Silke Satjukow u. Rainer Gries, »Zur Konstruktion des ›sozialistischen Helden‹. Geschichte und Bedeutung«, in: Sozialistische Helden: eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR, Berlin 2002, S. 19–20.

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Nikita Chruščev war nicht von Anfang an das »Gesicht« der sowjetischen Außenpolitik. Zuerst verbanden sich die positiven Veränderungen in der außenpolitischen Linie der Kremlführung im Westen mit dem Namen eines anderen führenden Politikers, dem von Georgij Malenkov. Die westliche Presse stellte ihren Lesern Chruščev als Agrarexperten vor, also als jemanden, der von der Lösung außenpolitischer Probleme weit entfernt war. 1953 bezeichnete ihn das amerikanische Nachrichtenmagazin Time als »Bauer und Kommissar«.11 Das erklärt, warum Chruščev bei der Entwicklung seines Images »für das Ausland« nicht nur die negative Haltung gegenüber der Sowjetunion, sondern auch das mangelnde Vertrauen gegenüber seiner Person überwinden musste. Hierbei wurde er mit zwei Schwierigkeiten konfrontiert: erstens damit, dass er keinerlei Erfahrung mit diplomatischer Tätigkeit hatte, und zweitens mit dem anfänglich unklaren formalen Status seines Amtes innerhalb der sowjetischen Führung. Chruščev musste in der Sphäre der außenpolitischen Beziehungen buchstäblich bei null beginnen und sich dabei gleichzeitig die Feinheiten diplomatischer Etikette aneignen, wobei er den Mangel an Praxis mit angeborener Intuition kompensierte. Den ersten »Baustein« in der Konstruktion seines neuen Images für das Ausland bildete die Selbstpositionierung als eine Art »Nicht-Stalin«. Stalin war ausgesprochen selten öffentlich aufgetreten, Chruščev tat es dagegen regelmäßig (vielleicht sogar zu oft); Stalin hatte auf Distanz zum Volk gehalten, Chruščev gab sich volksnah; Stalin war sehr selten außer Landes gewesen, Chruščev reiste häufig und mit Vergnügen. Das Jahr 1956, in dem Chruščev in seiner Rede auf dem XX. Parteitag der KPdSU Stalin entlarvte, brachte auch im Westen den Wendepunkt in der Wahrnehmung seiner Person. Die Selbstpositionierung Chruščevs als »Nicht-Stalin« förderte sein internationales Image. Der Vergleich mit Stalin war in der westlichen Presse ständig präsent, und zweifellos profitierte Chruščev von ihm. Das Erste, was westliche Journalisten diesem zugute hielten, waren seine Absage an Terrormaßnahmen und die Beendigung der Atmosphäre der Angst im Land.12 Nach dem XX. Parteitag wurde Chruščev faktisch zum führenden Politiker im Kreml, erhielt aber den entsprechenden Status formal erst im Januar 1958 mit seiner Ernennung zum Regierungschef. Dieser Augenblick markiert den Beginn der Umsetzung des großen PR-Projekts »Chruščev für den Westen«;

11 »The Muzhik & the Commissar«, in: Time 1953, 30 November. 12 The New York Times 1959, 10 September; »Herrschaft zu zweien«, in: Der Spiegel 38 (1959), S. 44–56.

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es bestand in einer Serie zielgerichteter Schritte, die ein positives Bild der Sowjetunion und ihres führenden Politikers in der Welt begründen sollten. Höhepunkt dieser Etappe wurde Chruščevs Besuch in den USA im September 1959. Zwar war auch schon vorher an Chruščevs Image gearbeitet worden, vor allem an seinem »Image für Auslandsreisen«. Doch die Reise nach Amerika wurde als besonders großangelegte Präsentation des Regierungschefs vor dem Westen aufgezogen; denn in der Vorstellung der Menschen in der Sowjetunion, in der Propaganda und sogar für Chruščev selbst verkörperten den Westen in erster Linie die USA. Deshalb wurde das internationale Image des sowjetischen Premiers vorrangig mit Blick auf die amerikanische Öffentlichkeit modelliert. Nicht zufällig orientierte sich die außenpolitische sowjetische Propaganda, deren Perestroika ab 1957 begann, an der Erfahrung der Propagandaeinrichtungen in den USA. Die erforderlichen Informationen für das Projekt »Chruščev für das Ausland« stellten die auf Außenpolitik spezialisierten sowjetischen Propagandadienste zur Verfügung, also die Nachrichtenagenturen Sovinform, TASS und APN, das Staatskomitee für kulturelle Beziehungen mit dem Ausland, die Hauptverwaltung für Rundfunk und Fernsehen sowie die Verlage für Auslandsbeziehungen in der Literatur. Geleitet wurden diese Aktivitäten von den entsprechenden Untergliederungen des ZK der KPdSU. Alle Fragen, die die Präsentation der Tätigkeit Chruščevs betrafen, wurden von seinem persönlichen Apparat und von der Allgemeinen Abteilung des ZK der KPdSU behandelt. Direkt Chruščev zugeordnet und von ihm selber geleitet wurde ein »PRTeam« aus persönlichen Referenten, Beratern und Redenschreibern. Die Existenz dieses regelrechten »PR-Stabs« belegt, dass der sowjetische Führer sich im Unterschied zu seinen Vorgängern der Erfahrungen westlicher Politiker bediente. Die überkommenen Prinzipien und Arbeitsweisen des sowjetischen Propagandasystems für das Ausland erwiesen sich in vieler Hinsicht als ungeeignet für die Lösung der neuen außenpolitischen Aufgaben; deshalb wurden die Propagandaeinrichtungen im Jahr 1957 umorganisiert. Dabei berücksichtigte man intensiv die westliche Erfahrung auf dem Gebiet der Einflussnahme durch Propaganda und erschloss neue technische Möglichkeiten sowie neue Informationsformate. Doch dieser Umbauprozess wurde nie zu Ende gebracht. Ungeachtet ihrer Bemühungen, sich den neuen Herausforderungen zu stellen, konnte die sowjetische Auslandspropaganda ihre systembedingten Mängel nicht vollständig überwinden; dies waren Formelhaftigkeit, Wortreichtum und die mangelnde Berücksichtigung der Interessen verschiedener Adressatengruppen. Dennoch entwickelte sich die sowjetische Agitprop gerade in den Jahren des Tauwetters in Richtung einer modernen »PR-Indust-

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rie«, und das neue Bild von Chruščev im Ausland war eines der erfolgreichsten PR-Projekte der Sowjetzeit.13 Die Erstellung eines Images beginnt mit der Positionierung. Das zu entwickelnde Chruščev-Bild für das Ausland sollte der taktischen Hauptrichtung der sowjetischen Außenpolitik entsprechen, der Überwindung der Konfrontation mit dem Westen. Es sollte zur Annäherung zwischen der Sowjetunion und der westlichen Welt beitragen und dabei zugleich den Status der UdSSR als gleichberechtigter Partner sicherstellen. Damit überhaupt in diese Richtung gearbeitet werden konnte, war es unerlässlich, die Stereotype der Vergangenheit zu verabschieden und vor allem der negativen Wahrnehmung der UdSSR im Westen den Boden zu entziehen. Chruščev packte den Stier bei den Hörnern: Er erklärte die Sowjetunion und sich selber als deren Repräsentanten zum wichtigsten Kämpfer für den Frieden. »Friedensstifter« war Position Nr. 1 in Chruščevs Image. Zu deren Präsentation wurden alle möglichen Kommunikationskanäle aktiviert, von den offiziellen Wegen des Außenministeriums, etwa als Noten an die Adresse der Regierungschefs anderer Länder,14 bis hin zu nicht offiziellen Verbindungen wie persönlichen Kontakten zu westlichen Journalisten, zu zivilgesellschaftlichen Akteuren und Wirtschaftsvertretern. »Chruščevs erfolgreiche Usurpierung des Friedensmantels ist beispiellos«, kommentierte der ehemalige Referent des US-Innenministers, William Benton, in einer Analyse vor der Außenpolitischen Kommission des US-Senats die Situation.15 Indem Chruščev sich die Rolle des Friedensstifters zugeschrieben habe, befinde sich der Westen in einer prinzipiell veränderten Lage; denn die Initiative läge jetzt bei der anderen Seite. In Moskau verfolgte man aufmerksam die Reaktionen auf die Friedensbotschaft und hielt Chruščev mit regelmäßigen Berichten auf dem Laufenden. Nach Angaben des Gallup-Instituts befürworteten 1958 in England in einer soziologischen Umfrage 85 % der Respondenten Verhandlungen zwischen Ost

13 Über die Umgestaltung des sowjetischen Propagandasystems und seine Aktivitäten bei der Konstruktion und Repräsentation des Chruščev-Bildes: Sergej Zubkov, »Sovetskaja propaganda na zarubežnye strany i formirovanie novogo obraza strany i ee liderov v mire 1953– 1964«, in: Rossija i mir glazami drug druga: iz istorii vzaimovosprijatija, Moskau 2009, S. 254–272. 14 Der Propaganda-Effekt dieser Botschaften wurde damals weltweit anerkannt. Siehe beispielsweise: Adenauer, Erinnerungen, Bd. 3, S. 360. 15 »Vystuplenie byvšego pomoščnika Gossekretarja SŠA U. Bentona vo Vnešnepolitičeskoj komissii Senata« (Übers. ins Russ.), Juli 1958, in: Russisches Staatsarchiv für Zeitgeschichte (RGANI), Bestand 5, Findbuch 30, Akte 270, Blatt 121.

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und West auf höchster Ebene. Aus den USA wurde berichtet, dass viele Bürger des Landes ebenfalls dieser Meinung waren.16 Nach der internationalen Anerkennung als wichtigster Friedensstifter strebte nicht nur Chruščev. Personen aus der engeren Umgebung des amerikanischen Präsidenten verrieten Pressevertretern, dass auch Dwight D. Eisenhower davon träumte, als »Friedenspräsident« in die Geschichte einzugehen.17 Die positiven Züge seines internationalen Images wären dadurch erheblich verstärkt worden; denn sein Bild als siegreicher General im letzten Weltkrieg hätte sich gut mit dem des Siegers im Kalten Krieg und friedensstiftenden Präsidenten verbunden. Der Titel des ersten Friedenskämpfers der Welt wurde zum Gegenstand eines unausgesprochenen Wettkampfs zwischen Chruščev und Eisenhower, den der sowjetische Führer gewann. Das Verhältnis westlicher Journalisten und der westlichen Öffentlichkeit zu Chruščev als »Friedensstifter« veränderte sich nach dessen scharfen Erklärungen im Mai 1960 im Rahmen des so genannten Spionageskandals.18 Kurz darauf platzte das Pariser Gipfeltreffen, woran die westlichen Massenmedien Chruščev die Schuld gaben; dann fanden 1961 [erneut sowjetische] Atomversuche statt, es wurde die Berliner Mauer errichtet und die Kubakrise spitzte sich 1962 zu. All diese Ereignisse erschütterten das Vertrauen der westlichen Öffentlichkeit in Chruščevs Friedensliebe. Auch unvorsichtige Formulierungen wie »wir bringen euch unter die Erde« oder »wir werden es euch zeigen« beschädigten sein Image. Zwischen 1960 und 1962 wurde im Westen das Bild Chruščevs umpositioniert; von einer Person, der man zutraute, Frieden zu bringen, wurde er zu jemandem, der den Frieden bedrohte. Vermutlich rechnete Chruščev nicht mit einer solchen Wirkung, als er nach dem Skandal mit einem amerikanischen Aufklärungsflugzeug sein Image durch Betonung der militanten Komponente modifizierte. Doch die Bilanz ist klar; in den Augen der westlichen Öffentlichkeit hatte Chruščev seinen Anspruch auf den »Friedensmantel« verloren. 16 Eine TASS-Information über die Meldungen der ausländischen Presse, 16. Januar 1958, in: Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF), B. 4459, F. 38, Ak. 855, Bl. 5. 17 »Ein Friedenspräsident?« in: Der Spiegel 34 (1959), S. 3. 18 Am 1. Mai 1960 wurde ein us-amerikanisches Aufklärungsflugzeug über der UdSSR abgeschossen, sein Pilot Francis Gary Powers gefangen genommen und anschließend dem Gericht überstellt. Dieser Vorfall diente der UdSSR zu einer anti-amerikanischen Kampagne. Chruščev warnte die USA und Präsident Eisenhower vor einer politischen Konfrontation und drohte mit Vergeltungsmaßnahmen. Der Spionageskandal wurde zu einem Wendepunkt für die Entwicklung der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen (vom Dialog zu einer neuen Konfrontation) und war von einem Imagewechsel Chruščevs begleitet: das Bild Chruščevs als das eines ,Partners‘ wurde durch das dasjenige des ,Widersachers‘ und ,Kämpfers’ ersetzt.

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Die zweite Schlüsselposition des internationalen Images von Chruščev lässt sich als das Prinzip: »Der Staat bin ich« darstellen. Eine solche Positionierung ist nichts Besonderes, sondern eher die Regel bei Staatschefs, die in der internationalen Arena de facto im Namen ihrer Staaten auftreten. Das Besondere bei Chruščev bestand darin, dass in seinem Image die beiden Begriffe »ich« und »Staat« zu einer Einheit verschmolzen. Er unterschied überhaupt nicht mehr zwischen ihnen, sondern betonte ständig, dass er das Land und nicht sich selbst repräsentiere. Deshalb fasste er jegliche negative Hervorhebung seiner Person als Diskriminierung der Sowjetunion auf. Ein zentrales Anliegen von Chruščev war, die Akzeptanz der UdSSR als gleichwertiger Partner durchzusetzen. Das erklärt seine Überempfindlichkeit bei Protokollfragen, beispielsweise der Form des Empfangs einer sowjetischen Delegation oder ihrer Unterbringung, und seine Aufmerksamkeit für scheinbare Kleinigkeiten wie die Wahl des Verkehrsmittels für einen Besuch. Er versäumte keine Gelegenheit, im Ausland die technologische Überlegenheit der Sowjetunion zu demonstrieren. Im Jahr 1955 flog die sowjetische Delegation mit einer zweimotorigen Il-14 nach Genf, während alle übrigen Teilnehmer des Gipfels modernere viermotorige Flugzeuge nutzten. Dieser Umstand kränkte Chruščev sehr.19 Für seinen Besuch in den USA 1959 entschied er sich für die TU-114, eine Neuentwicklung, die zu dem Zeitpunkt nicht einmal alle technisch erforderlichen Tests absolviert hatte. Chruščev ging das Risiko ein. In dem Fall galt ihm das Prestige seines Landes mehr als die eigene Sicherheit. Für die Rezeption des Images als einer spezifischen, für eine Zielgruppe bedeutsamen Auswahl an Symbolen spielt das ritualisierte Handeln des Politikers eine große Rolle. Das Bild des »bevollmächtigten Vertreters der UdSSR«, als welcher Chruščev auftrat, wurde durch das Ritual seines »Rapports an die Werktätigen« nach einer jeden Auslandsreise kommuniziert und konsolidiert. In der Regel vermeldete Chruščev Siege, selbst bei mehr als bescheidenen tatsächlichen Ergebnissen eines Besuchs. Der konkrete Ablauf dieses Rituals entwickelte sich nach und nach. Zuerst erstattete Chruščev lediglich auf dem Flughafen Vnukovo Meldung, später im Stadion von Lužniki, wo ihn Tausende Menschen erwarteten; in jedem Fall aber fand der »Rapport« noch am Tag der Rückkehr statt. Dadurch wurde er zum festen, beschließenden Element eines Besuchs und symbolisierte die Teilhabe des ganzen Volkes am Handeln seines Führers. Analog hierzu entwickelt sich das Ritual der Verabschiedung vor einer Auslandsreise. Besonders feierlich wurde Chruščevs Abreise nach New York zur Generalversammlung der UNO im September 1960 ausgerichtet. Eine vieltau19 Nikita Chruščev, Vremja. Ljudi. Vlast. Vospominanija, t. 2, Moskva 1999, S. 248.

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sendköpfige Menschenmenge versammelte sich zum Geleit der von Chruščev geführten sowjetischen Delegation im Hafen der Stadt Baltijsk. Die normalerweise in Schwarz-Weiß gedruckte englischsprachige Zeitschrift USSR für das Ausland veröffentlichte malerische Farbfotos, was damals höchst selten geschah, und untertitelte diese: »Tausende Menschen versammelten sich im Hafen von Baltijsk, um dem Abgesandten der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Länder ›Gute Reise‹ zu wünschen.«20 Die Positionierung Chruščevs im Bild der UdSSR (»Abgesandter der UdSSR«) berücksichtigte die Interessen der westlichen Öffentlichkeit, die auf diese Weise aus der Darstellung des sowjetischen Premiers Informationen über ein ihr wenig bekanntes und gefährlich erscheinendes Land herauslesen konnte.21 Sie nahm Chruščev nicht nur als Vertreter der Sowjetunion wahr, sondern als den wichtigsten Mann in der kommunistischen Welt. Die westliche Presse nannte ihn »Kommunist Nr. 1«; das war eine weitere Grundposition seines internationalen Images. Chruščev eignete sich dieses Bild mühelos und geschickt an; in seinen Reden gebrauchte er die Begriffe »Sowjetunion«, »sozialistisches Lager« und »Sozialismus« oft in demselben Kontext. Deshalb verband sich die Formulierung »Abgesandter der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Länder« fest mit Chruščevs Image. Im geeigneten Fall, konkret bei seinem zweiten Besuch in New York, nahm Chruščev die Staatschefs der osteuropäischen Länder mit auf die Reise – eine Geste, die unter anderem auch seine Position als Führer der kommunistischen Welt visualisieren sollte.22 Während für Chruščev die Position »Kommunist Nr. 1« nicht im Widerspruch zu seiner Rolle als bevollmächtigter Vertreter des sowjetischen Staates stand, wurde diese Verbindung von seinen westlichen Partnern und der westlichen Öffentlichkeit nicht nur nicht anerkannt, sondern zurückgewiesen. Westliche Politiker akzeptierten Chruščev als Staatsoberhaupt; als Führer des Weltkommunismus interessierte er sie nicht und verschreckte sie gelegentlich. Die differierende Wahrnehmung spiegelte sich unter anderem in Fragen des diplomatischen Protokolls. Beispielsweise musste das Programm des Frankreichbesuchs im März 1960 von den beiden Außenministern mehrfach neu abgestimmt werden, wobei sieben verschiedene Versionen entstanden.23 Bei diesem »Programmkrieg«, wie die 20 »From Baltiisk to New York«, in: USSR 11 (1960), S. 9. 21 Die Zeitschrift USSR betonte, dass das westliche Publikum von Chruščev die zuverlässigste Information über die Politik der Sowjetunion erhalte, da sie aus »erster Hand« komme: »Good Will Missions«, in: USSR 3 (1960), S. 3. 22 »From Baltiisk to New York«, S. 9, 11. 23 Visit N. S. Chruščeva vo Franziju, S. 59.

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Journalisten die protokollarischen Differenzen nannten, ging es um Chruščevs Status während der Reise, um die Frage, ob hier der »Genosse« oder ob »Herr« Chruščev empfangen würde.24 Die französische Seite befürchtete, Chruščev würde aus seinem Besuch eine Propagandaveranstaltung machen.25 De Gaulle, der persönlich die Zusammenstellung des Programms überwachte, wollte sowohl Chruščevs Kontakte mit kommunistischen Gesinnungsgenossen als auch mit antisowjetischen Bevölkerungskreisen und Vertretern der russischen Emigration weitestgehend einschränken. Chruščev musste sich entscheiden und opferte die verlockende Rolle des Führers des Weltkommunismus, um die angestrebten zwischenstaatlichen Vereinbarungen nicht zu gefährden. Dennoch verzichtete er nicht vollständig auf die Position »Kommunist Nr. 1«: Während eines Besuchs im Leninmuseum in Paris umarmte er demonstrativ den Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Frankreich, Maurice Thorez, und ließ sich im »roten« Marseille mit wahren Ovationen feiern. Um vom westlichen Publikum positiv aufgenommen zu werden, durfte der »Kommunist Nr. 1« keine Ablehnung provozieren; im Gegenteil, er musste Vertrauen erwecken. Zu diesem Zweck bot sich das wichtigste Verfahren der Positionierung an, der Rekurs auf ein Gegenbild. Anstelle eines »kommunistischen Monsters« sollte das Bild eines »normalen« Menschen und angenehmen Gesprächspartners kommuniziert werden. Chruščev begriff, dass er die Neugier des westlichen Publikums erweckte, und kam dessen Erwartungen gern entgegen. Er verglich die Situation mit einem Jahrmarkt in Russland, wohin die Menschen strömen, »um sich den Elefanten anzusehen und ihn vielleicht sogar am Schwanz zu ziehen«. »Eine gewisse Analogie lag auf der Hand«, sagte Chruščev. »Manche Menschen wollten anstelle des Elefanten einen russischen Bären anschauen. Wie er wohl aussieht, ob er mit Messer und Gabel umgehen, sich bei Tisch und auch sonst benehmen kann …?«26 Chruščev begegnete dieser Neugier ganz natürlich, er positionierte sich nach dem Motto »ich bin genauso ein Mensch wie ihr«, »ich bin einer von euch«. Ein solches Image baute die angespannte Erwartungshaltung ab und förderte eine positive Rezeption. Der amerikanische Journalist Jack Gould gab zu, dass »die Sache des Kommunismus in Chruščev einen geschickten Verkäufer« hätte.27 24 Ebd., S. 3, 67, 72, 92, 94. 25 Ebd., S. 59. 26 Chruščev, Vremja. Ljudi. Vlast. t. 2, S. 315. 27 »Interv’ju tov. Chruščeva. Gazeta N’ju-Jork Tajms, SŠA, Džek Gul’d« (Übers. ins Russ.), 3. Juni 1957, in: RGANI, B. 5, F. 30, Ak. 224, Bl. 258.

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Ein wichtiges Gestaltungselement jedes Images ist die »persönliche Legende«. Diese besteht in der Regel aus der Biografie der Person und einigen individuellen Besonderheiten im Hinblick auf eine bestimmte Öffentlichkeit. Chruščev arbeitete vorwiegend selber an seiner Legende, er »schrieb seine Biografie«. Die Legende, die er dem westlichen Publikum präsentierte, unterschied sich wenig von den Geschichten aus seiner Vergangenheit für den inneren, den sowjetischen Gebrauch. In beiden Versionen hob er seine einfache Herkunft (»aus dem Volk«) und seine Berufserfahrung als Bergmann hervor. Besonders farbenreich beschrieb er sein Arbeitsleben in der Jugend: »… ich bin durch die ›Bergmannsuniversität‹ gegangen. Das war für einen arbeitenden Menschen so etwas wie sein Cambridge.«28 Wenn er auftrat, ließ er gern durchblicken, dass er als »ehemaliger Bergmann« »den Geruch der Kohle liebt«.29 Der Bergmannshelm wurde Teil seines Images; mit ihm wurde er oft von Zeitungen und Zeitschriften abgebildet. 1960 ernannte ihn die Bergarbeitergewerkschaft zum »Kumpel ehrenhalber«;30 denselben Ehrentitel erhielt er auch in anderen Ländern.31 Die Stilisierung als Bergmann half Chruščev, das Vertrauen der Öffentlichkeit zu gewinnen. Es ist bekannt, das Chruščev in Wirklichkeit nie Bergmann gewesen war, auch wenn er im Bergwerk gearbeitet hatte, und zwar als Reparaturschlosser. Doch unter Imagegesichtspunkten hatte »Kumpel« einen höheren Imagewert als »Schlosser«. Es ließ sich damit spielen, dass die Arbeit des Bergmanns nicht nur als schwer, sondern auch als gefährlich und risikoreich galt, wodurch Chruščevs Image als Führer weitere positive Züge erhielt. Für das Bild »Kommunist Nr. 1« bedeutete eine Vergangenheit als Bergmann eine besondere Autorität, da die Bergleute traditionell zur »Vorhut der Arbeiterklasse« gehörten. Chruščev beutete die Bergmannslegende auch gegenüber einem westlichen Publikum weidlich aus. Die Legende zum Image muss nicht nur bestimmte biografische Akzente setzen, sondern die Qualitäten des Politikers in den Blick der Öffentlichkeit rücken, die ihn als fähigen Führer ausweisen. Ein Führer muss unter anderem energiegeladen, kühn, initiativreich sein und Verantwortung übernehmen. Besonders in diese Richtung arbeitete die sowjetische Propaganda. Am Vorabend seines 65. Geburtstags präsentierten die sowjetischen Rundfunkstationen Chruščev als Menschen »mit einem ausgeprägten Gespür für das Neue, als enthusiastischen Vorkämpfer des Fortschritts und unversöhnlichen Gegner von 28 Zitiert nach: Fedor Burlackij, Voždi i sovetniki, Moskva 1990, S. 62. 29 Dmitrij Šepilov, Neprimknuvšij. Vospominanija, Moskva 2001, S. 66. 30 D. Z. Belokolos (Hg.), Rasskaz o početnom šachtere, Stalino 1961, S. 6. 31 Šepilov, Neprimknuvšij, S. 66.

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Beharrung und Konservatismus«. Sie betonten besonders, dass er »nicht zu den reinen Kabinettspolitikern gehört, sondern ständig in Bewegung ist, auf Reisen, im Kontakt mit Menschen«. Gewürdigt wurde außerdem sein solides Alter, verbunden mit dem Hinweis, dass er dennoch über »eine außergewöhnliche Energie und ungeheure Arbeitsfähigkeit verfügt«.32 Diese Information verwies zusätzlich auf die gute Gesundheit des sowjetischen Führers. Tatsächlich war Chruščev ein ausgesprochen aktiver Mensch; die Imagemacher brauchten lediglich die Aufmerksamkeit des Publikums auf diese Eigenschaft zu lenken. Er selbst nahm mit Vergnügen an vorbereiteten wie auch an improvisierten PR-Aktionen teil; besonders gut war er in der Improvisation. Ein Beispiel solch demonstrativer Improvisation lieferte er während seines Frankreichaufenthalts im März 1960. Als er in Begleitung von Marschall R. Ja. Malinovskij nahe Paris unterwegs war, stürzte eine Linde auf die Straße, und französische Arbeiter versuchten, sie wegzuräumen. Chruščev erbat bei den Franzosen eine Axt, um zu helfen. Den Sinn seiner Geste erläuterte er später auf folgende Weise: »Mir schien, das Volk würde vor allem anderen begreifen: Diese Regierung besteht aus werktätigen Menschen und das Regierungsoberhaupt, früher selber Arbeiter, weiß, was körperliche Arbeit ist und kann in seinem Alter sogar noch mit der Axt umgehen.«33 Das Foto des lächelnden Chruščev mit der Axt in der Hand erschien in vielen Zeitungen auf der ganzen Welt. Wir haben es hier mit einer typischen imagebildenden Botschaft zu tun, die folgendermaßen zu entschlüsseln ist: 1. Das sowjetische Staatsoberhaupt vertritt die Interessen des Volkes und hat sich deshalb Zeit genommen, mit einfachen Leuten in Kontakt zu kommen; ein Nebenaspekt ist die eindeutige Anspielung darauf, dass seine Verhandlungspartner weniger demokratisch sind und der »Volksdiplomatie« die »Kabinettspolitik« vorziehen; 2. Chruščev ist rüstig, energiegeladen und absolut gesund; seine Partner können also nicht darauf bauen, dass er Zugeständnisse machen wird; physische Gesundheit ist immer ein positives Imagesymbol. Zu den aussagekräftigen Imagewerten eines Politikers gehören im Verständnis der westlichen Öffentlichkeit zweifellos auch sein familiärer Status, seine Familie. Ein würdiger Politiker sollte auch ein guter Familienvater sein. Deshalb war Chruščev der erste sowjetische Spitzenpolitiker, der seine Familie, d. h. seine Frau, seine Kinder und seinen Schwiegersohn ins Ausland mitnahm. Am Vorabend ei32 «O žizni i dejatel’nosti tov. Chruščeva (otvet na voprosy radioslušatelej). Tekst peredači Moskovskogo radio dlja zarubežnych slušatelej», April 1959, in: RGANI, B.  5, F.  30, Ak. 289, Bl. 43, 48. 33 Chruščev, Vremja. Ljudi. Vlast, t. 2, S. 435.

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nes Besuchs in den USA wurde in den sowjetischen Materialien für westliche Rundfunkhörer (Biografien, Reportagen, Rundfunkskizzen) besonders Chruščevs positive Einstellung zu familienbezogenen Werten herausgestellt. So informierte eine der Sendungen des Auslandsrundfunks (Inoveščanija), dass »Chruščev eine große Familie hat – neben seiner Ehefrau fünf Kinder und vier Enkel«.34 Chruščev präsentierte sich auf diese Weise als fürsorgliches Oberhaupt einer großen Familie. Dieser Aspekt verlieh seinem Image größere Glaubwürdigkeit. Von ebensolcher Bedeutung sind für das westliche Publikum die religiösen Überzeugen eines führenden Politikers. Chruščev war, wie es sich für einen Kommunisten gehört, Atheist. Die Verfasser seiner Legende für die westliche Öffentlichkeit umgingen die Frage nach seiner Beziehung zur Religion. Doch Chruščev bewies immer wieder, dass er seine Legende selber schaffen könne, indem er die offizielle Biografie gelegentlich mit unerwarteten Enthüllungen vervollständigte, zum Beispiel während seiner Reise nach Frankreich von 1960. Nach dem Besuch der Kathedrale von Reims sprach er mit Journalisten über seine Kindheitserinnerungen. Dabei stellte sich heraus, dass der sowjetische Regierungschef als Junge im Kirchenchor gesungen hatte und seinerzeit als bester Schüler der bei der Kirche eingerichteten Schule galt.35 Während eines von französischer Seite zu seinen Ehren veranstalteten Empfangs ging er auf den griechischen Botschafter zu und dankte ihm dafür, dass das Christentum gerade aus Griechenland nach Russland gekommen war.36 Das Magazin Der Spiegel kommentierte Chruščevs Erklärung folgendermaßen: »Niemand im Ostblock scheint sich in der Terminologie des Christentums besser auszukennen als der Herr des Sowjet-Imperiums.«37 Die religiösen Enthüllungen Chruščevs von 1960 erstaunten umso mehr, als in der UdSSR zu dieser Zeit gerade eine neue antireligiöse Propagandakampagne an Intensität zulegte. Ein Image wird von den Rezipienten immer als etwas Einheitliches wahrgenommen. Die Information über den führenden Politiker wird gleichzeitig auf mehreren Kanälen kommuniziert, dem verbalen, dem visuellen und dem »Event«-Kanal. Die visuellen Aspekte sind für einen in der Öffentlichkeit stehenden Politiker besonders wichtig, da er im vollen Wortsinn ständig »sichtbar« ist. Chruščev hat sämtliche Belastungsproben visueller Art bestanden; er hat sich mit Menschen »Auge in Auge« getroffen und ist – als Pionier unter den sowjetischen Führern – im Fernsehen aufgetreten; sein Bild wurde auf Fotografien und Filmstreifen, auf Plakaten und als Karikatur festgehalten. 34 «O žizni i dejatel’nosti tov. Chruščeva», RGANI, Bl. 48. 35 »Gott mit uns«, in: Der Spiegel 15 (1960), S. 50. 36 Ebd., S. 49. 37 Ebd.

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Einer westlichen Öffentlichkeit sollte der sowjetischen Führer als gewöhnlicher Mensch präsentiert werden, als bescheiden, verständnisvoll, nicht bedrohlich und als bereit zum ruhigen Gespräch über Fragen, die das Publikum interessieren. So nahm ihn beispielsweise der italienischen Journalist Carlo Montella wahr und kam zu dem Schluss, Chruščev habe mit seinem Habitus und seinem Verhalten einen »neuen Stil« begründet, einen »Stil größtmöglicher Einfachheit«.38 Der erste Schritt zum neuen Erscheinungsbild eines sowjetischen Führers bestand im Verzicht auf alle militärischen Anklänge in der Kleidung, die unter Stalin sehr verbreitet waren. Ein solcher Stil wäre mit den Bekenntnissen der UdSSR zu einer am Frieden orientierten Außenpolitik und zum Dialog mit dem Westen nicht vereinbar gewesen. Chruščev tauschte die Stalinka (die so genannte olivfarbene Militärjacke) bereitwillig gegen einen zivilen Anzug. Zweifellos hatte er ein gutes Stilgefühl; er verstand es, seine Kleidung passend zu seinem Äußeren auszuwählen. Als er »Diplomat« werden musste, entschied er sich gegen den etablierten diplomatischen dress code und verzichtete selbst da auf Frack und Smoking, wo sie vom Protokoll gefordert wurden. Intuitiv begriff er, wie absurd er im Frack aussehen würde.39 Deshalb trug er ausschließlich traditionelle Anzüge, in der Regel in hellen Farben. Der »einfache« Stil der Kleidung war Bestandteil des Politiker-Images; gleichzeitig legte Chruščev Wert darauf, in den Augen der westlichen Öffentlichkeit würdig zu erscheinen. Deshalb wurden die Kommentare ausländischer Korrespondenten zu seinem Äußeren gezielt für ihn und sein Propagandateam übersetzt. Sein Sohn Sergej bestätigt das: »Verschiedentlich traf mein Vater in Übersetzungen aus der ausländischen Presse auf kritische Bemerkungen zu seiner Kleidung; es hieß, sie säße wie ein Sack und wäre nicht gut genäht. … Solche Bemerkungen kränkten seine Eigenliebe.«40 Die Anzüge für Chruščev und andere Spitzenpolitiker wurden in einem speziellen Atelier gefertigt; dessen Maßschneider konnten sich nicht sofort auf europäische Standards umstellen. Natürlich hätte Chruščev geeignete Anzüge im Ausland ordern können, doch das lehnte er prinzipiell ab. Er trug ausschließlich in der Sowjetunion hergestellte Bekleidung; auf diese Weise wurden die patriotischen Grundsätze im Handeln des führenden sowjetischen Politikers visualisiert. Chruščev wollte also auch mit seiner äußeren Erscheinung als nationaler Führer erkennbar sein. Auf Fotos ist gut zu erkennen, welchen Kleidungsstil er für sein Image im Westen gewählt hatte. Vor seiner Reise in die USA 1959 brachte die Zeitschrift 38 Carlo Montella, »Portret Chruščeva« (Über. ins Russ.), in: RGANI, B. 5, F. 33, Ak. 138, Bl. 100. 39 Chruščev, Vremja. Ljudi. Vlast, t. 2, S. 274–275. 40 Ebd., S. 478.

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USSR ein großes Foto, das der amerikanischen Öffentlichkeit den in Kürze erwarteten prominenten Gast vorstellen sollte.41 Auf diesem Foto fehlen jegliche »Erkennungszeichen« seiner Zugehörigkeit zur kommunistischen Welt, die ja für die Amerikaner immer noch eine »feindlich gesinnte« Welt war; es gibt keinerlei Anhaltspunkte im Hintergrund, Chruščev trägt auch keine Ordensspange und nicht einmal einzelne Orden. Auf dem Foto sieht man einen erfolgreichen Mann, eher einen Geschäftsmann als einen Kommmunisten, im gutsitzenden Business-Anzug und mit leichtem Lächeln in zwangloser Pose in einem Sessel. Schon der Umstand, dass die sowjetische Inlandspresse dieses Foto nicht brachte, zeugt davon, dass das Bild von Chruščev, wie es die Zeitschrift USSR vermittelte, sehr zielgerichtet für ein westliches Publikum bestimmt war. Für das Erscheinungsbild eines Führers spielt die Symbolik, die Sprache der Gesten eine zentrale Rolle. Chruščev nutzte diese Sprache ausgiebig. Bekannt ist der als skandalös empfundene Vorfall während der UNO-Generalversammlung 1960, bei der Chruščev als Zeichen des Protestes seinen Schuh auszog. Doch er hatte auch durchaus treffende imagerelevante Gesten in seinem Repertoire. Während seines ersten Besuchs im Westen fuhr Chruščev mit Nikolaj Bulganin in Genf im offenen Auto und fast ohne Sicherheitspersonal durch die Stadt. Nach Meinung von Oleg Trojanovskij demonstrierten sie auf diese Weise, »dass die Zeit Stalins mit verhängten Autofenstern nun Vergangenheit sei«.42 Es handelte sich um ein Zeichen der Offenheit seitens der führenden sowjetischen Politiker, das von den westlichen Zeitungsleuten damals besonders hervorgehoben wurde. Den Kontext bildete die von Eisenhower und Dulles ursprünglich benutzte gepanzerte Limousine, die diese nach zwei Tagen notgedrungen gegen ein offenes Kabriolett eintauschten.43 Die herausfordernde Geste Chruščevs war also korrekt verstanden worden, sie hatte ins Schwarze getroffen. Visuelle Symbole spielten ebenso 1959 beim ersten Besuch in den USA eine Rolle. Chruščev hatte eine Kopie des Fähnchens mitgenommen, das kurz vorher von einer sowjetischen Rakete auf den Mond gebracht worden war. Dieses Fähnchen, Symbol des Prestiges der UdSSR im Bereich Wissenschaft und Technik, wollte er unmittelbar nach der Ankunft noch auf dem Flughafen Präsident Eisenhower überreichen. »Man konnte sehen«, erinnerte sich Trojanovskij, »wie er sich im Voraus darauf freute, vor all den Fernsehkameras zu demonstrieren, dass die Sowjetunion die Vereinigten Staaten im Wettlauf um den Kosmos weit

41 USSR 8 (1959), S. 2. 42 Oleg Trojanovskij, Čerez gody i rasstojanija. Istorija odnoj sem’i, Moskva 1997, S. 187. 43 »Der Panama-Kanal«, in: Der Spiegel 31 (1955), S. 12.

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überholt hätte.«44 Seine Berater redeten ihm diese nicht sehr taktvolle Geste aus, das Fähnchen wurde Eisenhower etwas später während eines Empfangs im Weißen Haus überreicht. Journalisten protokollierten noch weitere symbolische Gesten Chruščevs. In San Francisco tauschte er mit einem Hafenarbeiter die Kopfbedeckung, in einer Zigarrenfabrik gab er einem Arbeiter seine Uhr im Tausch gegen eine Zigarre. Er demonstrierte auf diese Weise sichtbar seine demokratische Einstellung, seine Menschenfreundlichkeit und eine besondere Sympathie für einfache Menschen, besonders für Arbeiter. Der Presse kam die Hauptrolle unter den Instrumenten und Kanälen der Gestaltung und Vermittlung von Chruščevs Image für den Westen zu. In das Projekt »Chruščev für das Ausland« waren sowohl sowjetische als auch ausländische Printmedien einbezogen, deren imagebildende Strategien sich allerdings erheblich voneinander unterschieden. Die sowjetische Presse, die vollständig von den ideologischen Organen kontrollierte wurde, war zwar ein folgsames Instrument der Propaganda, aber von geringem Einfluss auf eine westliche Öffentlichkeit. Um über die ausländischen Printmedien im Westen positive Information zu Chruščev zu lancieren, mussten die sowjetischen Propagandaeinrichtungen besondere Anstrengungen unternehmen; sie mussten vor allem auf die Vertreter der westlichen Presse einwirken.45 Von Interesse für die sowjetischen außenpolitischen Propagandadienste waren deshalb die Direktoren einflussreicher Nachrichtenagenturen und Printmedien sowie, allen voran, die in der UdSSR akkreditierten ausländischen Journalisten. Deren Arbeitsbedingungen in der Sowjetunion waren recht unterschiedlich, je nach der politischen Ausrichtung der Zeitung, die sie vertraten. Korrespondenten aus sozialistischen Ländern und Vertreter der kommunistischen Presse im Westen kamen vergleichsweise besser an Informationen heran als ihre Kollegen von der nichtkommunistischen Presse. Zu den Standardformaten der Zusammenarbeit der sowjetischen Seite mit den ausländischen Korrespondenten gehörten in den 1950er und 1960er Jahren Pressekonferenzen sowie organisierte Besuche von Kultur- und anderen Veranstaltungen; darüber hinaus erhielten die Journalisten Unterstützung bei der Organisation von Reisen durch das Land sowie beim Sammeln von Information und konnten weitere Anträge stellen. Einfluss auf die Vertreter der westlichen Massenmedien sollte außerdem durch persönliche Treffen mit füh44 Trojanovskij, Čerez gody i rasstojanija, S. 210. 45 Sergej Zubkov, »N. S. Chruščev i zapadnye žurnalisty. Praktiki formirovania meždunarodnogo imidža sovetskogo lidera«, in: Problemy istorii Rossii, Vypusk 8, Magnitogorsk 2008, S. 314– 323.

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renden sowjetischen Politikern und auch mit Chruščev gewonnen werden. Diese Treffen erwiesen sich als wichtiges Vermittlungsinstrument bei der Etablierung eines positiven Images von Chruščev im Westen. Organisiert wurden sie von dessen persönlichem Apparat, der ebenso die Resonanz in den westlichen Massenmedien verfolgte. Die Analyse der symbolischen Praxis, die Chruščevs außenpolitisches Auftreten flankierte, hat ergeben, dass das Bild dieses sowjetischen Spitzenpolitikers für die westliche Welt mithilfe durchaus moderner PR-Verfahren gestaltet wurde. Chruščev selber, sein Apparat und die sowjetischen Propagandadienste schufen eine individuelle Legende, besorgten die visuelle und verbale Ausgestaltung des Images, definierten dessen Positionen und passten sie bei Bedarf neu an. Chruščev war daran gelegen, mit seinen westlichen Partnern zu einer gemeinsamen Sprache zu kommen; das neue Image sollte zur Lösung dieser Aufgabe beitragen. Während des Tauwetters verlor die stereotype Wahrnehmung der Sowjetunion als einer geschlossenen Gesellschaft und als Feind der westlichen Welt allmählich an Boden; das Land öffnete sich, die Politik des Brückenschlagens führte zur Ausweitung von Kontakten und zum Einstieg in den Dialog. Auf dieser Basis konnten zwischenstaatliche Vereinbarungen getroffen werden und entwickelte sich in verschiedenen Bereichen eine Zusammenarbeit, auch wenn es dabei nicht ohne Konfrontation und internationale Skandale abging. Eins lässt sich jedoch mit Bestimmtheit sagen: Das »Gesicht« der Außenpolitik der Sowjetunion in diesen Jahren war das Gesicht von Chruščev, wie er es der Welt präsentierte, sein internationales Image. Aus dem Russischen von Hartmute Trepper

Die Komintern Herrschaftspraktiken, Machtmechanismen, kollektive und individuelle Handlungsspielräume Brigitte Studer Die Komintern oder Kommunistische Internationale (KI) – so die Selbstbezeichnung der »Weltpartei des Proletariats« oder, analytischer, der Kaderorganisation zur Durchführung der Weltrevolution – existierte von 1919 bis zu ihrer Auflösung durch Stalin 1943. Obschon sich die historische Forschung seit Jahrzehnten mit diesem Gegenstand befasst, bleibt er weiterhin konzeptuell nur schwer zu fassen. In Abgrenzung zum vorherrschenden Nationalismus zur Zeit des Ersten Weltkriegs und in Ablehnung des Nationsprinzips selbst definierte sich die Komintern wie schon frühere Organisationen der Arbeiterbewegung als »internationalistisch«. Internationalismus galt zumindest anfänglich als Existenzbedingung und als Zweck der Organisation; ihre politisch-programmatischen Ambitionen waren global und dementsprechend galt die internationale Ebene als der nationalen übergeordnet. Sie band die Kommunistischen Parteien verschiedener Länder respektive deren Mitglieder zusammen und war taktisch und strategisch richtungsweisend. Doch auf der Organisations- und Handlungsstufe konnte auf die nationale Ebene nicht verzichtet werden. Entsprechend war die »Weltpartei mit nationalen Sektionen« durch eine gestufte Doppelform charakterisiert: Auf der höheren Ebene verstand sich die Komintern als eine »über«- und »transnationale« Weltbewegung, auf einer untergeordneten folgte sie einem nach »nationalen« Sektionen strukturierten Organisationsprinzip.1 Wenn für die Komintern die organisatorische Bezeichnung inter- und transnational als Kommunikations-, Handlungs- und Wirkungsfeld über und zwischen Staatsgrenzen zutrifft – und das gilt auch für die Biographien ihrer Akteure –, so gründeten ihre Aktivitäten gleichwohl in nationalen Räumen. Eine klare Definition und Zuordnung dieses Organisationstypus erweist sich somit als schwierig, und dies noch aus einem weiteren Grund. Die von Anfang an 1 Mikhail Narinsky, Jürgen Rojahn (Hg.), Centre and Periphery. The History of the Comintern in the Light of New Documents, Amsterdam 1996; David Mayer, »Weltrevolution, Stalinismus und Peripherie. Die Kommunistische Internationale und Lateinamerika«, in: Karin Fischer, Susan Zimmermann (Hg.), Internationalismen. Transformation weltweiter Ungleichheit im 19. und 20. Jahrhundert, Wien 2008, S. 171–192, hier S. 182.

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zentrale und schnell wachsende Rolle des sowjetrussischen, respektive sowjetischen hegemonialen Staats verwischt nämlich die Grenzen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren und verweist darauf, dass es sich bei der Komintern um ein komplexes Gebilde mit verflochtenen Dimensionen handelte.2 Forschungspraktische und -theoretische Schwierigkeiten ergeben sich nicht nur wegen der Machtasymmetrie zwischen der Sowjetunion und den kommunistischen Parteien der anderen Länder, zwischen der internationalen und der nationalen Ebene, sondern auch wegen der unterschiedlichen Realitäten einer weltumspannenden Bewegung mit kulturellem »Appeal« auch für Nicht-Kommunisten (man denke nur an die vielen sympathisierenden Intellektuellen, Künstler und Schriftstellerinnen) einerseits und eines in Moskau zentralisierten bürokratischen Apparats andererseits. (Dass die überdies nur schwer rekonstruierbare verzweigte Organisationsstruktur auch mehrmals radikal umgebaut wurde, macht die Dinge nicht einfacher.) Um das zentrale Organ des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI) ordnete sich ein breiter Apparat bürokratischer Einheiten, politischer Gremien und zunehmend auch informeller wenn nicht gar geheimer Entscheidungsinstanzen.3 Zu diesem Geflecht zählten auch zahlreiche Nebenorganisationen, die sich mit jeweils eigenen Sonderbereichen befassten, so mit den Gewerkschaften (die Profintern), mit Hilfsaktionen (die Internationale Rote Hilfe und die Arbeiterhilfe), mit dem Kolonialismus (die Antiimperialistische Liga), mit der kommunistischen Jugend, mit den Frauen, mit dem Genossenschaftswesen, mit dem Sport etc. 2 Damit liegt die Komintern quer zur Definition von Patricia Clavin, die sich auf die Akteure fokussiert. Clavin versteht unter der transnationalen Dimension die Vereinigung von zivilgesellschaftlichen Akteuren, unter der internationalen diejenige von staatlichen, unter der supranationalen diejenige selbstständiger politischer Behörden jenseits nationalstaatlicher Kontexte. Patricia Clavin, »Defining Transnationalism«, in: Contemporary European History 14, 2005, 4, S. 421–439, hier S. 425. 3 Zur Struktur des Kominternapparats siehe Grant M. Adibekov, Elena N. Sachnazarova u. K. K. Sirinja, Organizacionnaja struktura Kominterna 1919–1943, Moskau 1997; Bernhard H. Bayerlein, »Das neue Babylon. Strukturen und Netzwerke der Kommunistischen Internationale und ihre Klassifizierung«, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (2004), S. 181–270. Zur biographischen Zusammensetzung des Apparats siehe die Beiträge in Michael Buckmiller, Klaus Meschkat (Hg.), Biographisches Handbuch zur Geschichte der Kommunistischen Internationale. Ein deutsch-russisches Forschungsprojekt, Berlin 2007. Zu den Kominternmitarbeitern der französischen, belgischen, schweizerischen und luxemburgischen Sektionen: José Gotovitch u. a. (Hg.), Komintern: L’histoire et les hommes. Dictionnaire biographique de l’Internationale communiste en France, en Belgique, au Luxembourg, en Suisse et à Moscou, Paris 2001, als überarbeitete CD-Rom zusammen mit Serge Wolikow, L’Internationale communiste. Le Komintern ou le rêve déchu du parti mondial de la révolution, Ivry-sur-Seine 2010, neu herausgegeben.

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Teils in west- und mitteleuropäische Staaten ausgelagerte Unternehmen wie Verlage, Druckereien und Presseorgane ergänzten die verwinkelte, vielgestaltige und dennoch zentralisierte Architektur der transnationalen Organisation zur Revolutionierung der Arbeiter aller Länder. Aus der Akteursperspektive war die Komintern eine freiwillige Zweck- und Solidargemeinschaft mit Zugang zu politisch-intellektuellen und sogar finanziellen Ressourcen, doch nicht ohne die Übernahme von Verpflichtungen. Die ursprüngliche utopische, wenngleich in Verkennung der sozialen Realitäten und der eigenen Möglichkeiten überschätzte Zielsetzung war in den Köpfen und auf dem Papier klar festgeschrieben: Es ging um nichts weniger als um die »Weltrevolution«. Da die Arbeiterklasse jedoch nach leninistischer Lesart nicht selbst handlungsfähig war, benötigte sie die Kommunistische Partei als Avantgarde, wie etwa die Schweizer Vertreter am Gründungskongress 1919 in Moskau verkündeten: »Wir glauben an den Sieg der proletarischen Revolution und mit Enthusiasmus blicken wir nach dem Osten, wo unsere russischen Kampfkameraden bereits die Macht an sich gerissen haben.«4 Diese Aussage verweist unmittelbar auf zwei »Schieflagen« zu Beginn des Projekts: der Glaube an einen rapiden Sieg und der Bonus, den die russischen Genossen in Form nicht nur von politischem Kapital durch die Machtübernahme gegenüber den anderen Parteien hatten, sondern auch durch die reellen Einflussmöglichkeiten dank den personellen, materiellen und symbolischen Ressourcen, die ihnen die politische Machtausübung in Russland gewährte. Dies hatte zwei Folgewirkungen, die aber als solche innerhalb der Komintern tabuisiert blieben: Erstens die Tatsache, dass die ursprüngliche Zielsetzung sich mehr und mehr verschob zugunsten der Prioritärsetzung des Schutzes der Sowjetunion. Es fand somit eine Hierarchisierung der Bestrebungen bis hin zu einem unausgesprochenen de facto Zielkonflikt statt – wenngleich auch die westlichen Kommunistischen Parteien nicht permanent damit beschäftigt waren, den revolutionären Umsturz vorzubereiten! Zweitens folgte, dass in der Komintern unterschiedliche soziale Realitäten, historische Erfahrungen, gesellschaftliche Traditionen sowie Politik- und Parteikulturen auf einem Handlungsfeld zusammentrafen und sich nur schwer miteinander vermengten. Hier äußerte sich alsbald die symbolische und kulturelle und vor allem politische Dominanz der sowjetischen Seite. Seit Öffnung der russischen Archive haben etliche monographische Studien gezeigt, wie stark die politischen Rationalitä4 Die Kommunistische Internationale (Berlin) Nr. 1, August 1919, S. 21–23, zitiert nach Wladislaw Hedeler, Alexander Vatlin (Hg.), Die Weltpartei aus Moskau. Der Gründungskongress der Kommunistischen Internationale 1919. Protokoll und Dokumente, Berlin 2008, S. 230–232, hier S. 232.

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ten und Entscheide der bolschewistischen Parteiführer und sowjetischen KIVerantwortlichen von ihrer eigenen politischen Erfahrung gelenkt waren und mit welchen Mitteln sie versuchten, diese auf die Realitäten der westlichen Kommunistischen Parteien zu applizieren.5 (Das schließt nicht aus, dass auf nationaler und lokaler Ebene auch eigenständige Interessen verfolgt wurden, solange sie mit den allgemeinen Orientierungen der KI nicht kollidierten.) Die politischen Entwicklungen in der Sowjetunion (die Etablierung der stalinschen Autokratie) und in den westlichen Industriestaaten (das Schwinden der revolutionären Perspektive) verschoben die Gewichte rapide zugunsten der sowjetischen Seite. Diese Dominanz schlug sich immer mehr in der Transformation der transnationalen kommunistischen Kultur nieder. Im Gleichtakt, nur mit leichter Verzögerung zur Entwicklung der Sowjetunion, wurden auch in der Komintern konkurrierende Diskurse zuerst marginalisiert und ausgeschaltet, später auch kriminalisiert.6 Für diesen Prozess hat sich der Begriff 5 Als Beispiele für Studien, die sich mit dem Verhältnis von Komintern und einzelner KPs befassen: Brigitte Studer, Un parti sous influence. Le Parti communiste suisse, une section du Komintern, 1931 à 1939, Lausanne 1994; Andrew Thorpe, The British Communist Party and Moscow, 1920–1943, Manchester 2000: Bert Hoppe, In Stalins Gefolgschaft. Moskau und die KPD 1928–1933, München 2007. Synthesen zur Kominterngeschichte bleiben auch nach bald zwei Jahrzehnten der Archivöffnung noch rar: Kevin McDermott u. Jeremy Agnew, The Comintern. A History of International Communism from Lenin to Stalin, Houndmills, London 1996; Pierre Broué, Histoire de l’Internationale communiste 1919– 1943, Paris 1997; Wolikow, L’Internationale. Siehe auch die Beiträge in Narinsky/Rojahn (Hg.), Centre and Periphery; Michel Dreyfus u. a. (Hg.), Le Siècle des communismes, Paris 22004; Matthew Worley (Hg.), In Search of Revolution. International Communist Parties in the Third Period, London, New York 2004. 6 Letzteres trifft nur in unterschiedlichem Maß auf westliche kommunistische Parteien zu. Im Gegensatz zu den Studien zur Repression und zum Terror in der Sowjetunion generell (in Partei, Staat und Gesellschaft) finden sich bedeutend weniger Studien, die sich spezifisch mit der Komintern oder einzelnen betroffenen Parteien befassen. Als immer noch fundamentaler Beitrag: Fridrich I. Firsow, »Die Säuberungen im Apparat der Komintern«, in: Hermann Weber u. a. (Hg.), Kommunisten verfolgen Kommunisten. Stalinistischer Terror und »Säuberungen« in den kommunistischen Parteien Europas seit den dreißiger Jahren, Berlin 1993, S. 37–51; ders., »Die Komintern und die ›Große Säuberung‹«, in: Buckmiller/Meschkat (Hg.), Biographisches Handbuch, S. 361–377; ders., »Mechanism of Power Realization in the Comintern«, in: Centenaire Jules Humbert-Droz. Actes du Colloque sur l‘Internationale communiste, La Chaux-de-Fonds 1992, S. 449–466 sowie Bernhard H. Bayerlein, »Vom Geflecht des Terrors zum Kartell des Todes? Erste Einblicke in die Mechanismen und Strukturen von Komintern und KPdSU im Kontext des stalinistischen Terrors anhand der Bestände im Moskauer Komintern-Archiv«, in: Weber u. a. (Hg.), Kommunisten verfolgen Kommunisten, S. 103–124; Aleksandr Vatlin, »Kaderpolitik und Säuberungen in der Komintern«, in: Hermann Weber, Ulrich Mählert (Hg.), Terror. Stalinistische Parteisäuberungen 1936–1953, Paderborn 1998, S. 33–119. Siehe auch William J. Chase,

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»Stalinisierung« etabliert, dessen analytischer Gehalt vom deutschen Kommunismushistoriker Hermann Weber empirisch anhand der Geschichte der KPD ausgelotet worden ist.7 Die »Apparatdiktatur« brachte laut Weber einen qualitativen Wandel des Kommunismus; sie ging unter der Führung Stalins von der Sowjetunion aus und bedeutete das Ende der innerparteilichen Demokratie in den Kommunistischen Parteien. Stalinisierung, so Weber, »heißt Veränderung der inneren Parteistruktur, Entstehung einer monolithischen, straff disziplinierten und zentralisierten Organisation, in der die Führung mit Hilfe des hierarchisch aufgebauten Parteiapparats (d. h. der hauptamtlichen, von der Partei bezahlten Funktionäre) die Mitglieder beherrscht und die Politik im Sinne und entsprechend den Weisungen der Stalinschen KPdSU bestimmte.«8 In der Tat kann die Geschichte der Komintern nicht ohne Berücksichtigung des sowjetischen Kontexts geschrieben werden. Die Herausbildung des Einparteienstaats und der durch Gewalt abgesicherten Herrschaft Stalins beeinflusste in wesentlichem Ausmaß die Entwicklungsdynamik der Komintern und die mit ihr verbundenen internationalen Organisationen. Die kulturelle Hegemonialisierung durch die sowjetrussische Entwicklung muss aber als doppelt gebrochen und dadurch in ihren Wirkungen relativiert betrachtet werden. Erstens, was die Parteien betrifft, haben die Herausgeber eines Sammelbands zum Weber’schen Konzept der »Stalinisierung« zu bedenken gegeben, dass das Beispiel der KPD angesichts der Bedeutung Deutschlands für die Weltrevolution in den frühen 20er Jahren vielleicht einen Extremfall darstellte. Andere Parteien, wie die britische oder die nordamerikanische, waren weniger direkten Einflussversuchen und Druckmaßnahmen ausgesetzt.9 Der Fall der KPD, so darf man vielleicht daraus schließen, dient somit weniger als Modell, das vom Prozess, von der Chronologie und der Form tell quel auf andere Parteien übertragen werden kann, denn als idealtypisches Beispiel, wie die sowjetischen Parteiführer über die Komintern ihre Zielsetzungen und Interessen durchzusetzen trachteten und eben teils auch vermochten, wenn sie dies nötig fanden. Für die westlichen Parteiverantwortlichen war »Moskau« zweifelEnemies Within the Gates? The Comintern and the Stalinist Repression, 1934–1939. Russian documents translated by Vadim A. Staklo, New Haven, London 2001 und einzelne Beiträge in Barry McLoughlin, Kevin McDermott (Hg.), Stalin’s Terror. High Politics and Mass Repression in the Soviet Union, Houndmills 2003. 7 Hermann Weber, Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stalinisierung der KPD in der Weimarer Republik, 2 Bde., Frankfurt am Main 1969. 8 Ebd., S. 8. Der Nutzen und die Grenzen des Konzepts werden diskutiert in: Norman Laporte, Kevin Morgan, Matthew Worley (Hg.), Bolshevism, Stalinism and the Comintern: Perspectives on Stalinization, Houndmills, Basingstoke 2008. 9 Siehe die Einleitung von Laporte/Morgan/Worley, in: ebd., S. 14–16.

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los der internationale Leuchtturm, nach dem sie sich richteten, doch mussten sie ihr Parteiboot auch durch andere Gewässer lenken, in denen noch ganz andere Klippen und Untiefen zu umschiffen waren. Ihr nationales und lokales Umfeld mit seinem politischen System, seinen sozialen Herausforderungen und seiner intellektuellen Kultur, ja die strukturellen Bedingungen des Arbeitsmarktes und die Erwartungen der Parteimitglieder waren ebenfalls zu beachten. Zweitens, und damit sind wir beim Gegenstand dieses Beitrags, ist davon auszugehen, dass die Komintern auch eine Welt für sich bildete, ein eigenes Sozialmilieu, belebt von einer Parteielite vieler Länder, die an dieser Schnittstelle zwischen sowjetischer und (vorwiegend) westlicher Welt10 spezifische Normen und Werte, Umgangs- und Verhaltensformen produzierte und spezifische Rollenangebote vorfand. Sie übernahm zwar entscheidende Züge der sowjetischen Partei und war von den sowjetischen Institutionen abhängig, doch war sie zuerst einmal ein Produkt der westlichen Arbeiterbewegung.11 Die kulturelle Distanz wurde auch dadurch markiert, dass die in Moskau etablierten westlichen Kominternfunktionäre im Großen und Ganzen von der sowjetischen Gesellschaft und lange auch weitgehend von der sowjetischen Partei (nicht aber von deren Praktiken) abgekapselt blieben. In der trans- und internationalen Organisation Komintern mussten die Akteure folglich an mehr als an einem Ort handeln, was immer auch eine kognitive Mehrfachorientierung an diversifizierte Realitäten voraussetzte. Ihre Geschichte kann daher nur geschrieben werden, wenn sie als eine Geschichte gegenseitiger Bezüge, übergreifender Netzwerke, multipler Verflechtungen und regelmäßiger Transfers zwischen unterschiedlichen, jedoch verschränkten oder auch übereinander geordneten Kontexten gedacht wird. Heuristisch lassen sich meines Erachtens mindestens vier Ebenen ausmachen, über welche ein Austausch stattfand: geteilte politische Zielsetzungen; organisationale Verflechtungen durch den Kominternapparat; personelle Bindungen zwischen Kadern und schließlich kulturelle Gemeinsamkeiten durch kollektive Werte, Orientierungen und Praktiken.12 Überträgt man diese Systemebenen auf die Dimensionen der historischen Akteure, so zeigt sich, dass die Lebenswelt Komintern nicht nur kognitive und praktische Aspekte berührte sondern auch emotionale. Permanente Briefkontakte, Informationsaustausch und nicht zuletzt Treffen und Aufenthalte in der Sowjetunion schu10 Erst in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre erfolgte ein Bedeutungszuwachs der Vertreter der Kolonialstaaten in der Kominternführung. Die »Kolonialfrage« beschäftigte jedoch seit den Anfängen die Komintern. 11 Erste kommunistische Parteien, meist linksradikaler Orientierung, entstanden schon vor der Gründung der Kommunistischen Internationale durch Lenin. 12 Brigitte Studer, »Zwischen Zwang und Eigeninteresse. Die Komintern der dreißiger Jahre als Machtsystem und Sinnhorizont«, in: Traverse 1995, 3, S. 46–62.

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fen das nötige Substrat. Es waren Menschen, welche die transnationale Organisation Komintern (die man auch als den straff strukturierten Teil der Bewegung des Internationalen Kommunismus verstehen kann) »belebten«. Doch bewegten sie sich in Strukturen oder »Zirkulationskonfigurationen«, die sie selbst schufen. Die von Pierre-Yves Saunier für eine transnationale kommunikative Gemeinschaft als konstitutiv bezeichneten Charakteristiken lassen sich meines Erachtens mit Modifikationen auch auf die Komintern beziehen. Auch in der Komintern bedurfte es einer Gruppe von individuellen und kollektiven Akteuren, die Zeit, Energie und Ressourcen in die Zirkulation von Wissen, Ideen und Aktionsformen investierten. Die Bildung von Kommunikationsgemeinschaften durch gegenseitige Besuche, durch Korrespondenznetze und Sozialpraktiken anhand intertextueller Bezüge durch gemeinsames Lesematerial und gegenseitige Übersetzungen war ebenso vonnöten, wie die Festschreibung von dauerhaften Interaktionsformen, die Entwicklung von Projekten, Institutionen, Zielsetzungen und die Bildung schließlich einer differenzierten respektive im Falle der Komintern eher hierarchisierten »Landschaft«, in welcher die einzelnen Teile (seien es Orte, Institutionen oder Organisationen) und deren »Bewohner« unterschiedliche Macht und Einfluss haben.13 Seit der Öffnung der russischen Archive verfügt die Forschung über eine große Materialfülle, die den organisationsstrukturellen und politischen autokratischen Transformationsprozess der Komintern in den Grundzügen belegt, mit zahlreichen neuen Details bereichert und in wichtigen Fragen erweitert. Weniger aus empirischen Gründen, denn aus dem Kontext neuerer sozial- und kulturgeschichtlicher Ansätze heraus, so würde ich meinen, sind mittlerweile auch neue Fragen an die Quellen gerichtet und so die politische Geschichte des Kommunismus um Perspektiven erweitert worden, die nicht nur die Prozesse »von oben« fokussieren, sondern auch die Interaktionen von Individuum und Institution in den Blick nehmen. Insbesondere lassen sich nun die subjektiven Dimensionen des kommunistischen Herrschaftsverhältnisses erforschen. Auf dem Hintergrund dieser historiographischen Erneuerungen und meiner eigenen Forschungen möchte ich im Folgenden vier Machtmechanismen zur Herstellung der internen Ordnung der Komintern behandeln, die meines Erachtens für die Implementierung sowjetischer Herrschaftspraktiken zentral gewesen sind. Voranzustellen sind jedoch theoretische Überlegungen, welche die im Rahmen des Konstanzer Exzellenzclusters »Kulturelle Grundlagen von 13 Pierre-Yves Saunier, »Les régimes circulatoires du domaine social 1800–1940: Projets et ingénieurie de la convergence et de la différence«, in: Genèses. Sciences sociales et histoire 71/2008, S. 4–25.

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Integration« aufgeworfene Fragestellung, wie Herrschaft, respektive Macht transkulturell kommuniziert wird, am Gegenstand Komintern erörtern.

1. Überlegungen zur Konzeptualisierung der stalinistischen Herrschaftsform Schon eine flüchtige Durchsicht der Literatur bringt eine breite – weniger analytische denn deskriptive und metaphorische – Begriffspalette für die Herrschaft Stalins hervor: »Revolution von oben« oder im Gegenteil »Stalinismus als Zivilisation«,14 »Personenverbandsstaat« oder ähnlich »Clansystem«,15 »Führerdiktatur«,16 »Maßnahmenstaat«,17 »institutionelle Paranoia«,18 »bürokratischer Absolutismus«19 oder – bereits bei Leo Trotzki – »bürokratische Kaste«.20 Doch welche Herrschafts- oder Machtsoziologie passt zur Komintern? In der Tat: Kann die Forschung zur Charakterisierung des Bolschewismus und mehr noch des Stalinismus als Herrschaftsform mit einer Vielzahl von Bezeichnungen aufwarten, so trifft dies für die Komintern indes nicht zu. Um die Frage zu beantworten, erweist es sich als nützlich, als erstes zwischen Herrschaft und Macht zu unterscheiden. Nach Max Weber ist Herrschaft eine institutionalisierte Form von Überund Unterordnung: »Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl be14 Robert Tucker, Stalin in Power: The Revolution from Above, 1928–1941, New York 1990; Stephen Kotkin, Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization, Berkeley 1995. Die Bezeichnung »Zivilisation« wurde erstmals Mitte der 1930er Jahre von den Webbs verwendet: Beatrice and Sidney Webb, Soviet Communism. A New Civilisation?, London 1935. 15 Jörg Baberowski, Der rote Terror. Geschichte des Stalinismus, Stuttgart 2003; Oleg W. Chlewnjuk, Das Politbüro. Mechanismen der politischen Macht in der Sowjetunion der dreißiger Jahre, Hamburg 1998. 16 Benno Ennker, »Führerdiktatur – Sozialdynamik und Ideologie. Stalinistische Herrschaft in vergleichender Perspektive«, in: Matthias Vetter (Hg.), Terroristische Diktaturen im 20.  Jahrhundert. Strukturelemente der nationalsozialistischen und stalinistischen Herrschaft, Opladen 1996, S. 85–117. 17 Stefan Plaggenborg, Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, Frankfurt am Main, New York 2005. 18 Moshe Lewin, »Bureaucracy and the Stalinist State«, in: Ian Kershaw, Moshe Lewin (Hg.), Stalinism and Nazism. Dictatorships im comparison, Cambridge 1997, S. 53 ff. 19 Alain Blum u. Martine Mespoulet, L’Anarchie bureaucratique. Statistique et pouvoir sous Staline, Paris 2003. 20 Leo Trotzki, Verratene Revolution. Was ist die Sowjetunion und wohin treibt sie?, Antwerpen, Zürich u. a. o.J. [1937, erschienen 1936 auf Französisch].

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stimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.«21 Zweifellos deckt sich diese Definition nahtlos mit Stalins Herrschaftsverständnis, wenn er 1924 vor dem 13. Parteikongress äußerte, dass »ein Kader wissen muss, wie er Befehle auszuführen hat.«22 Bekanntlich unterscheidet Weber zwischen charismatischer, bürokratischer und traditionaler Herrschaft. Alle drei Herrschaftsbegriffe lassen sich nicht so ohne weiteres auf die kommunistische Herrschaft in der Sowjetunion respektive auf die Komintern übertragen. Während sich bürokratische Herrschaft noch halbwegs (wenn auch nur mit Abstrichen) plausibel verteidigen lässt, erscheint mir charismatische Herrschaft für die Sowjetunion als nicht zutreffend. In der Forschung wird der Begriff meist mit Stalin in Verbindung gesetzt, doch wäre er für Lenin wohl treffender.23 Es ist hier nicht der Ort Stalins Werdegang darzustellen. Nur soviel: Sein Machtaufstieg war jedenfalls weder Ergebnis einer charismatischen Persönlichkeit noch krisenhafter Situationen und Ereignisse, aus denen ein charismatischer Führer den Ausweg wies. Es handelte sich eher um ein langsames Hinaufarbeiten durch geschicktes Ausnutzen seiner Positionen, strategische Personalpolitik und taktisches Manövrieren zur systematischen Ausschaltung der Konkurrenten. Stalin konnte ein fraktionell-klientelistisches Netzwerk sowie eigene Befehlsstrukturen aufbauen und weitgehend die Kontrolle über die Information und Kommunikation erlangen – Herrschaftsmodi, die auf eine Mischung von Bürokratie und Clan-System (also traditionale Herrschaft) hinweisen. Das geschah keineswegs im Rampenlicht der Öffentlichkeit; ausländische Besucher der Sowjetunion erwähnen Stalin in den 1920er Jahren noch kaum.24 Mit Pierre Bourdieu könnte man sagen, dass Stalin sich allmählich »symbolisches Kapital« aneignete – ein Begriff, den der französische Soziologe zumindest an einer Stelle explizit mit Webers Charisma gleichgesetzt hat,25 der aber den Vorteil hat, deutlich zu machen, dass es sich 21 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 51972, S. 28. 22 Zit. in Moshe Lewin, Le Siècle soviétique, Paris 2003, S. 51. 23 Siehe dazu Benno Ennker, Die Anfänge des Leninkults in der Sowjetunion, Köln, Wien 1997 sowie die bereits ältere, aber immer noch lesenswerte Studie von Nina Tumarkin, Lenin Lives ! The Lenin Cult in Soviet Russia, Cambridge/Mass. 1983. 24 Unter den zahlreichen Studien zu Reisenden in die Sowjetunion und deren Reiseberichte, siehe etwa Fred Kupferman, Au pays des Soviets. Le voyage français en Union soviétique 1917–1939, Paris 1979; Donal O’Sullivan, Furcht und Faszination. Deutsche und britische Rußlandbilder 1921–1933, Köln 1996; Christiane Uhlig, Utopie oder Alptraum? Schweizer Reiseberichte über die Sowjetunion 1917–1941, Zürich 1992. 25 Pierre Bourdieu, »Sur les rapports entre la sociologie et l’histoire en Allemagne et en France. Entretien avec Lutz Raphael«, in: Actes de la recherche en sciences sociales 106–107, 1995, S. 108.

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nicht um ein »natürliches« Attribut einer Person handelt. Bourdieu weist darauf hin, dass Charisma eng mit Macht kovariiert und zwar mit institutioneller Macht, also mit Herrschaft. Charisma oder symbolisches Kapital ist ein Attribut von Autorität, oder anders formuliert: ein Effekt von Funktion. Es ist »Produkt« soziokultureller Verhältnisse und Bestandteil einer symbolischen Ordnung, und nicht Mittel zur Machtergreifung.26 Erweisen sich die Weberschen Herrschaftstypen für eine historische Analyse des Stalinismus als zu allgemein-abstrakt, so trifft dies auch auf die Komintern zu. Konzepte mittlerer Reichweite, die historisch-kulturell offen sind, betrachte ich als weiterführender. Nützlich erscheint mir da der knappe Hinweis von Michael David-Fox, wonach personalistische und bürokratische Beziehungen anders als gemeinhin angenommen keineswegs dichotom sind, sondern im Gegenteil im sowjetischen Patronagesystem eng miteinander verschränkt waren.27 In diese Richtung weist auch Jörg Baberowski mit seinem Plädoyer, dass wir für eine Analyse des Stalinismus von einer Herrschaftskultur mit personalen Netzwerken, ritualisierten Praktiken und sinnstiftenden Bedeutungsnetzen ausgehen sollten.28 Auf einen Typologisierungsversuch – und damit auch auf den Vergleich – soll also hier verzichtet werden. Dies zugunsten der Frage, wie Herrschaft in der Komintern her- und sichergestellt werden konnte, oder: mit welchen Machtmitteln Herrschaft etabliert werden konnte. Das setzt voraus, dass zuerst geklärt wird, welches Machtkonzept sich als nützlich erweisen kann. Beginnen wir mit Webers Machtbegriff: Macht, so der deutsche Soziologe, »bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.«29 Den Begriff der »Macht« bezeichnet Weber als »soziologisch amorph. Alle denkbaren Qualitäten eines Menschen und alle denkbaren Konstellationen können jemand in die Lage versetzen, seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen.«30 Hier wird noch einmal deutlich gemacht, dass Herrschaft im Vergleich zu Macht als übergeordneter Begriff gedacht werden muss. Herrschaft kennzeichnet die an eine Institution gebundene Beziehungsstruk-

26 Pierre Bourdieu, »Espace social et pouvoir symbolique«, in: Choses dites, Paris 1987, S. 147–166, hier S. 163–164. 27 Michael David-Fox, »From Illusory ›Society‹ to Intellectual ›Public‹: VOKS, International Travel, and Party-Intelligentsia Relations in the Interwar Period«, in: Contemporary European History 11/1 (2002), S. 7–32. 28 Jörg Baberowski, »Arbeit an der Geschichte. Vom Umgang mit den Archiven«, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 51, 2003, 1, S. 36–56. 29 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft S. 28. 30 Ebd.

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tur. Während Herrschaft stabil ist, ist Macht relational und situativ, sie kann also, muss aber nicht mit Herrschaft einhergehen. Sowohl Norbert Elias wie Michel Foucault liefern diesbezüglich wichtige Hinweise, da beide eine Abkehr vom objektivistischen Machtbegriff vorgenommen haben. Elias definiert Macht als Interdependenzbeziehungen. Macht ist ein Beziehungsgefüge zwischen mindestens zwei Polen – Menschen oder Menschengruppen. Macht als solche kann man daher nicht besitzen: besitzen kann man allerdings Machtmittel und -quellen, so z. B. (Waffen-)Gewalt, materielle Güter, Geld, Autorität, Wissen.31 Auch Michel Foucaults Machtbegriff stützt sich auf die Idee des Machtgeflechts – wobei seine Konzeptualisierung für uns dadurch kompliziert wird, dass im Französischen in der Regel keine Unterscheidung zwischen Herrschaft und Macht gemacht wird: beides wird als pouvoir bezeichnet. Erst angesichts von Kritik begann Michel Foucault zwischen Herrschaft (domination) und Macht (pouvoir) zu unterscheiden.32 Er meint, dass Herrschaftsbeziehungen keinen Raum für den erfolgreichen Kampf ließen, Machtbeziehungen dagegen würden Opposition und Veränderung erlauben. Macht versteht Foucault diskursiv, im Sinne von Einfluss und Durchsetzungskraft eigener Deutungsmuster. Es sind Norm stiftende Regeln, die Wahrheitsdiskurse erzeugen und somit die Interpretation der Welt strukturieren. Freilich kann beim sowjetischen System auf die Dimension der Herrschaft im Sinne einer Gewalt, die bei Nicht-Respektierung von Normen über Sanktionsmacht verfügt, nicht verzichtet werden. Diese konzeptionelle Lücke überbrücken hilft womöglich das Foucaultsche Konzept der Gouvernementalität. Es handelt sich dabei nicht um eine ausgearbeitete Theorie, sondern um ein Konzept und Analyseraster für die Art und Weise, wie Menschen in strategischen Machtbeziehungen durch Regierungs- und Selbsttechnologien als Subjekte konstruiert und geformt werden.33 Mit Subjekten meinte Michel Foucault sowohl selbständige Individuen als auch von der Herrschaft unterworfene Menschen. Er bezog sein Konzept zwar auf den (Neo-)Liberalismus und seine Anwendung auf den Stalinismus erscheint daher zumindest auf den ersten Blick als fragwürdig. Doch vielleicht lässt sich das »Kontinuum an Apparaten« im Gegenteil auch als ein Hinweis auf eine Aufhebung der rechtstaatlichen Gewaltenteilung lesen. Foucault selbst hat jedenfalls explizit darauf hingewiesen, dass der Stalinismus 31 Norbert Elias, Was ist Soziologie?, München 1970. 32 Michel Foucault, »L’éthique du souci de soi comme pratique de la liberté« [1984], in: Dits et écrits IV, hg. von Daniel Defert u. François Ewald, Paris 1994, S. 708–729. 33 Michel Foucault, »La ›gouvernementalité‹«, in: Dits et écrits III, hg. von Daniel Defert u. François Ewald, Paris 1994, S. 635–657. Auf Dt. auch in: Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann, Thomas Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt am Main 2000, S. 41–67.

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(und auch der Faschismus) nur »pathologische Formen« »unserer politischen Rationalität«, also liberaler Systeme, darstellten.34 Anschlussfähig (wenn auch allgemein und damit im Grunde doch banal) erscheint ferner die Idee, dass die »Kunst des Regierens« als zweckbestimmtes Handeln nach »Handlungsformen und Praxisfeldern [verlangt], die in vielfältiger Weise auf die Lenkung, Kontrolle, Leitung von Individuen und Kollektiven zielen und gleichermaßen Formen der Selbstführung wie Techniken der Fremdführung umfassen.«35 Stalin scheint sich der Wichtigkeit nicht nur der Kontrolle, sondern auch der Lenkung der Individuen und Kollektive sehr genau bewusst gewesen zu sein. Denn im erwähnten Zitat vom 13. Parteikongress des Jahres 1924 fuhr er folgendermaßen fort: […] der Kader muss die Befehle verstehen; er muss sie übernehmen, wie wenn es seine eigenen wären, er muss ihnen höchste Priorität einräumen, ja sie als Teil seiner selbst betrachten. Ohne dies verliert die Politik ihren Sinn, sie ist nur leeres Getue. Aus diesem Grund erweist sich die Kaderabteilung des ZK-Apparats als entscheidend. Jeder Parteifunktionär muss aufs Genaueste unter die Lupe genommen werden, von allen Seiten und mit großer Sorgfalt.36

Stalin verweist auf die in seinen Augen für das Regieren nötige Überprüfung der Parteiloyalität und Befehlstreue der Kader. Er deutet aber auch an, dass es nicht um blinden Gehorsam geht. Die Menschen müssen von dem, was sie ausführen, überzeugt sein. Sie müssen sogar Einswerden mit dem von der Partei Verlangtem. Sie müssen sich folglich mit ihr identifizieren und ihre Normen internalisieren. Ob in der Sowjetunion auch die von Michel Foucault für das Funktionieren einer durch Normen regulierten Gesellschaft (»Disziplinargesellschaft«) identifizierten professionellen Expertisen und wissenschaftlichen Diskurse vorhanden waren, wird von Laura Engelstein in Frage gestellt. Bürgerliche Grundrechte und ein unabhängiges Justizsystem fehlten jedenfalls.37 Gleichwohl: mit Foucault kommen wir insofern einer historisch-empirischen Herrschaftsanalyse der Komintern näher, als sich der Fokus nun nicht wie bei Weber auf die Legitimität der Herrschaft, sondern auf die Herrschaftstechniken (oder die ange34 Michel Foucault, »Le sujet et le pouvoir«, in: Dits et écrits IV, hg. von Daniel Defert u. François Ewald, Paris 1994, S. 222–243, hier S. 224. 35 Ebd. Hier zit. nach Bröckling/Krasmann/Lemke (Hg.), Gouvernementalität, S. 10. 36 Lewin, Le Siècle, S. 51–52. 37 Laura Engelstein, »Combined Underdevelopment: Discipline and the Law in Imperial and Soviet Russia«, in: Foucault and the Writing of History, hg. v. Jan Goldstein, Cambridge 1994, S. 220–236.

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wendeten Machtmittel) und deren Effekte auf die Subjekte richtet.38 Mit einem solchen Ansatz werden sowohl die Kosten wie der Nutzen, welche das Engagement in der Komintern dem Einzelnen brachten, berücksichtigt. Der Totalitarismusansatz erklärt die individuelle Bereitschaft sich einer Parteiführung zu unterwerfen mit Zwang, der revisionistische mit materiellen Anreizen. Eine kulturgeschichtliche Perspektive muss hingegen auch den persönlichen »Nutzen« berücksichtigen: Der französische Politikwissenschaftler Daniel Gaxie hat darauf verwiesen, dass ein politisches (hier sinngemäß ein kommunistisches) Engagement nicht nur persönlicher Verzicht ist (etwa auf eine bürgerliche Karriere, auf Reichtum, eventuell auf ein geordnetes Familienleben), sondern immer auch soziale und psychologische Entschädigungen oder Belohnungen bringt.39 Vielfach handelt es sich um die Integration in ein soziales Milieu oder eine Solidargemeinschaft, um Bildungsmöglichkeiten und vor allem um den Zugriff auf einen Erklärungs- und Orientierungsrahmen der sozialen Welt. In der Komintern kam noch eine weitere wichtige Dimension hinzu, nämlich die Einschreibung des Ichs in die Geschichte, in die Zukunft, in ein großangelegtes Humanprojekt. Diese psychische Ausgangsdisposition, die Arthur Koestler als »Zustand der Gnade« bezeichnet,40 muss mitbedacht werden, wenn wir uns nun der Frage zuwenden, mit welchen Machttechniken und Norm stiftenden Regeln Herrschaft im Rahmen der Komintern hergestellt und gesichert wurde.

2. Machttechniken und Norm stiftende Regeln in der Komintern 2.1. Zentralisierung, Bolschewisierung und Stalinisierung Zentralisierung war in der Komintern von Anfang an ein Funktionsprinzip und gleichzeitig eine noch zu verwirklichende Zielsetzung. So beschloss das EKKI 1922, dass alle seine Resolutionen von nun an für alle Sektionen bindend waren, nachdem sie entsprechend dem Prinzip des »demokratischen Zentralis38 Giovanna Procacci, »Le grondement de la bataille«, in: Au Risque de Foucault. Textes réunis par Dominique France et al., Paris 1997, S. 213–222, hier S. 217. 39 Daniel Gaxie, »Rétributions du militantisme et paradoxes de l’action collective«, in: Schweizerische Zeitschrift für Politikwissenschaft/Revue suisse de science politique 11, 2005, 1, S. 157–188. 40 Arthur Koestler, Ignazio Silone, André Gide u. a., Ein Gott der keiner war. 6 bedeutende Schriftsteller schildern ihren Weg zum Kommunismus und ihre Abkehr, Konstanz, Zürich u. a. 1950 [ursprünglich 1949 auf Englisch].

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mus« an den Weltkongressen und gegebenenfalls anderen internationalen Treffen diskutiert worden waren. Legitimiert wurde dies durch eine Sprache der praktischen Rationalität. Sie basierte für die in Kategorien von »wir gegen die Anderen« denkende Kampforganisation des Proletariats auf dem Imperativ von Effizienz und Schlagkräftigkeit durch Disziplin und Einheit. Damit waren gewisse Prinzipien der Bolschewisierung schon vorweggenommen, obschon der Begriff selbst als Eigenzuschreibung organisatorischer Maßnahmen (die Umstellung auf Betriebszellen) erst 1924 aufkam. Bereits mit den 21 Aufnahmebedingungen vom 2. Weltkongress 1920 war das russische oder bolschewistische kulturelle Partei- und Funktionsmodell für alle Sektionen der Komintern als einzig gültiges festgeschrieben worden. Die Hegemonialisierung der KI-Kultur nach sowjetischem Modell ist ein Prozess, der sich über die gesamten 20er und 30er Jahre hinzieht. Wenn die KPs Westeuropas, so die deutsche, schweizerische, französische oder britische, auf die sich mein Beitrag bezieht, ihre politischen Erfolgsaussichten nach dem definitiven Ende 1923 der revolutionären Welle in Europa vermutlich eher realistisch als minimal einschätzten, so drängten sie die sowjetischen Verantwortlichen bis zur Wende zur Volksfrontpolitik immer wieder zu einer Herangehensweise, die wenig zu demokratischen und pluralistischen Gesellschaften passte. Die westliche politische Kultur war in den Augen der sowjetischen Verantwortlichen noch von sozialdemokratischen, respektive demokratischen, sprich bürgerlichen Illusionen korrumpiert. Entsprechend wurden die von den westlichen KPs angewendeten Formen politischen Handelns als naiv legalistisch bezeichnet und ihre Haltung gegenüber dem bürgerlichen Staat und gegenüber den politischen Gegnern als verweichlicht.41 In den 30er Jahren bezichtigte die stalinistische Parteiführung die westlichen emigrierten Parteikader gar eines bürgerlichen Lebensstils. Es waren also zwei von der russischen Seite ausgehende Interventionen oder »Disziplinierungen«, die als Schlüsselphasen in der Formation asymmetrischer Machtverhältnisse in der Komintern gelten können. Mit der Bolschewisierung wurde es seitens der Kominternführung Usus, in ihren Augen falsche Stellungnahmen der Kommunistischen Parteien als Ausdruck von »kleinbürgerlichen Überresten« zu stigmatisieren; immer wieder wurden sie in den Resolutionen ermahnt, die »sozialdemokratischen Eierschalen« abzustreifen. Genügten weder die bindenden Resolutionen und Direktiven noch die Ermahnungen der in die renitente Partei gesandten Emissäre, konnte »Moskau« auch zu Zwang greifen und ganze Parteiführungen absetzen, so wie es Ende der 20er Jahre in der KPD, 41 Vgl. Bernhard H. Bayerlein u. a. (Hg.), Deutscher Oktober 1923: ein Revolutionsplan und sein Scheitern, Berlin 2003.

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der KPS und der KPF geschah.42 Die Forschung ist sich nicht einig, ob dieser Prozess als Verschärfung und Weiterentwicklung der Bolschewisierung oder als deren Ablösung Ende der 20er Jahre durch die »Stalinisierung« und somit als qualitativer Wandel bezeichnet werden soll.43 Für ersteres spricht, dass in den Denkmustern zweifelsfrei Kontinuitäten zwischen den 20er und 30er Jahren hervortreten, wie ein Beispiel (unter vielen) belegt. So wurde der 31-jährige D., seit 1923 Mitglied der KPD und Schüler der Kommunistischen Universität der Nationalen Minderheiten des Westens (KUNMZ), 1933 in einer Säuberungssitzung wegen seiner fehlenden Distanzierung von der Sozialdemokratie kritisiert: »Als D. hierhergekommen, hat er nichts von den Fragen hier in der Sowjetunion verstanden. Er war aktiv, aber in der Parteiarbeit passiv. Sozialdemokratische Illusionen. Er hat gesagt, dass Deutschland das demokratischste Land der Erde sei.«44 Gehörte die scharfe Distanzierung und Differenzierung von der Sozialdemokratie nach wie vor zur Pflicht eines jeden »Bolschewiken«, wandelten sich in den 30er Jahren die Formen der Kritik und die möglichen Folgen für diejenigen Parteimitglieder, die sich nicht an die herrschenden Denkmuster anpassten – jedenfalls für diejenigen Kommunisten, die sich ins kommunistische Machtzentrum begaben. Der Prozess der paradoxen diskursiven politischen Radikalisierung der Komintern auf dem Hintergrund rabiater interner Fraktionskämpfe und der Ausschaltung der Opposition im Lauf der 20er Jahre und Anfang der 30er Jahre blieb nicht ohne Einfluss auf die kommunistische Kultur. Deutlich zeigt sich dies in den Gender-Repräsentationen. Existierte in der Rollenverteilung anfänglich eine gewisse Öffnung (was sich im Westen auch im Anteil weiblicher Parteimitglieder und in der Sowjetunion in der Präsenz einzelner Funktionsträgerinnen äußerte), verengte sich der weibliche politische Handlungsspielraum 42 Für die KP der Schweiz: Studer, Un Parti, S. 43–64; für die »Affäre Barbé-Célor« in der KP Frankreichs detailliert, teils etwas anekdotisch, aber aufgrund interner Parteimaterialien: Philippe Robrieux, Histoire intérieure du parti communiste français 1920–1945, Paris 1980, S. 311–406; und aufgrund von Kominternquellen: Annie Kriegel, Stéphane Courtois, Eugen Fried. Le grand secret du PCF, Paris 1997. Für die KPD: Weber, Wandlung. 43 Die erste Deutung wird vor allem in der britischen Forschung vertreten, womöglich weil die KPGB Ende der 20er/Anfang der 30er Jahre nicht solch brutalen Führungswechseln wie manch andere Partei ausgesetzt war. Siehe McDermott/Agnew, The Comintern, sowie expliziter die Einleitung in: Laporte/Morgan/Worley (Hg.), Bolshevism. Ich gehe eher davon aus, dass die Stalinisierung einen Schwellenschritt im Abbau der organisationsinternen Demokratie darstellte und mehr als eine graduelle Steigerung war. 44 Protokoll Nr. 13 der Sitzung der Säuberungskommission des deutschen Sektors der KUNMZ, 3.11.1933, RGASPI 529/2/370. Diese Quellen sind erschlossen in Brigitte Studer u. Berthold Unfried, Der stalinistische Parteikader. Identitätsstiftende Praktiken und Diskurse in der Sowjetunion der dreißiger Jahre, Köln 2001.

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alsbald. Wenn Parteimitglieder (»Bolschewisten«) nicht mehr nur im übertragenen Sinn kämpferisch zu sein hatten, wenn direkte, auch physische Konfrontation zur Voraussetzung der revolutionären Machtübernahme stilisiert (und insbesondere in der Weimarer Republik auch praktiziert) wurden, ging damit eine Virilisierung des Ideals des Kommunisten einher – eine Deutung, die sich gegen Ende der 20er Jahre immer mehr gegen konkurrierende Diskurse durchsetzte.45 Es wäre jedoch irreführend, von den skizzierten Prozessen ein unilaterales Narrativ der steten kulturellen und politischen Unterwerfung der passiven Komintern und ihrer Funktionäre und Parteiführer abzuleiten. Hinter dem Prinzip einer Vereinheitlichung der Funktionsregeln der kommunistischen Organisationen standen auch die westlichen Parteien. Sie erhofften sich davon sowohl mehr Schlagkraft als auch ein eigenständiges politisches Profil, das sie von ihrer sozialdemokratischen Konkurrenz abgrenzte. Und der Haupttrumpf, um die Einmaligkeit der kommunistischen Parteien zu garantieren, bildete die Sowjetunion. Sie war das zentrale Element des gemeinsamen Projekts. Loyalität gegenüber dem »Vaterland der Werktätigen« war deshalb nicht nur ideologisch bedingt, sie war sozusagen ein Strukturelement der Komintern. Das heißt nicht, dass die »Bolschewisierung« und »Stalinisierung« der westlichen Parteien nicht auch auf Widerstände gestoßen wäre. Doch auch westliche Parteiführer wie Ernst Thälmann, Maurice Thorez und Harry Pollitt wirkten in ihren Ländern als deren Agenten.46 Thälmann war in den Worten Hermann Webers »einerseits Einpeitscher der Anpassung der KPD an Moskau und andererseits Produkt dieser Entwicklung«.47 Zum Dank für die treuen Dienste wurden alle drei erwähnten Parteiverantwortlichen als nationale Figuren aufgebaut, verloren aber spätestens ab Mitte des Jahrzehnts, Thälmann bereits ab 1933, ihre Funktionen im obersten Leitungsapparat der 45 Detaillierter in Brigitte Studer, »La femme nouvelle«, in: Michel Dreyfus u. a. (Hg.), Le Siècle des communismes, S. 565–581. 46 Norman Laporte u. Kevin Morgan, »›Kings among their subjects?‹ Ernst Thälmann, Harry Pollit and the Leadership Cult as Stalinization«, in: dies., Matthew Worley (Hg.), Bolshevism, Stalinism and the Comintern: Perspectives on Stalinization, Houndmills, Basingstoke 2008, S. 124–145. Siehe auch Claude Pennetier u. Bernard Pudal, »Stalinisme, culte ouvrier et culte des dirigeants«, in: Dreyfus u. a. (Hg.), Le Siècle des communismes, S. 553–563, sowie die erste Nummer »Communism and the leader cult« der Zeitschrift Twentieth Century Communism. A Journal of International History, insbesondere die Einleitung von Kevin Morgan, »Stalinism and the barber’s chair«, S. 9–19. 47 Hermann Weber, Bernhard H. Bayerlein (Hg.), Der Thälmann-Skandal. Geheime Korrespondenzen mit Stalin (= Archive des Kommunismus – Pfade des XX. Jahrhunderts 2), Berlin 2003, S. 12.

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Komintern.48 Forschungsstrategisch folgt daraus, dass die Entwicklung der Komintern zu einem Instrument in den Händen des Sowjetstaates keinesfalls als eine manichäische Geschichte von Moskau gegen alle anderen Parteien konzipiert werden kann. Es handelt sich auch nicht um einen rein linearen Prozess, weder in Bezug auf die persönliche Entwicklung der Parteikader noch in Bezug auf die politische Chronologie. Die Wende zur Volksfront Mitte der 30er Jahre etwa erforderte von den Kommunistischen Parteien, dass sie sich wieder auf ihre nationalen kulturellen Bezüge beriefen. Getreu der Forderung Dimitrovs am VII. Weltkongress, den gegenwärtigen Kampf der werktätigen Massen »mit den revolutionären Traditionen ihres Volkes in der Vergangenheit zu verknüpfen«, gab der deutsche Sektor an der Internationalen Leninschule (ILS) kurz darauf folgerichtig eine Schulungsbroschüre heraus, die den Titel trug »Die deutschen klassischen Dichter und Philosophen zeugen gegen die faschistische Barbarei«.49 Der wieder politisch korrekte Rekurs auf das »Kulturerbe« bot jedoch den emigrierten deutschsprachigen Literaten, von denen sich ein großer Teil in der Sowjetunion, ein weiterer in Paris aufhielt, die Gelegenheit ihre eigene Sprache und geistige Tradition mit einer antifaschistischen und kosmopolitischen Position zu verbinden.50 Andererseits zeigt Harry Pollitts Ablehnung der Kominternlinie gegen den »imperialistischen Krieg« im September/Oktober 1939 beispielhaft, dass auch von der Stalinisierung an die Parteispitze hochgespülte Kader nicht einfach zu willenlosen »Sendlingen Moskaus« wurden, sondern immer wieder als Fälle individuellen Ausscherens dem Konsens Risse zufügten. Wenn bis hierher in groben Zügen gezeigt worden ist, wie die nationalen Sektionen der Komintern unter Druck von oben, aber auch dank Regeln, die sie selbst mitgetragen hatten, (Zentralisierung, Disziplin, Gehorsam, Hierarchie, Einheitlichkeit), zunehmend politische Autonomie abgaben, so ist auch zu fragen, weshalb sie dies im Großen und Ganzen akzeptierten. Dazu sind vier Erklärungsfaktoren hier anzuführen: Erstens teilten die westlichen Parteien und ihre Mitglieder gesamthaft die politischen Überzeugungen und Zielsetzungen der Komintern, wenn es auch manchmal zu taktischen Differenzen und immer 48 Nach dem VII. Weltkongress 1935 gab es keinen einzigen EKKI-Sekretär mehr, der außerhalb der Sowjetunion einer legalen Kommunistischen Partei vorstand. 49 Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Berlin (SAPMO) RY 1/I 2/707/182: ILS, Schulungsmaterialien 1934–1937. 50 Katerina Clark weist auf die komplexe Formation einer kulturellen Identität der deutschsprachigen literarischen Diaspora zwischen Deutschtum, Frankreich, Europa und der Sowjetunion zur Zeit der Volksfront hin (Katerina Clark, »Germanophone Intellectuals in Stalin’s Russia: Diaspora and Cultural Identity in the 1930s«, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 2, 2001, 3, S. 529–552).

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wieder auch personellen Absprüngen kam. Zweitens fühlten sich die Kommunisten mit dem Aufstieg des Faschismus zusehends bedroht und schlossen die Ränge. Drittens ist nicht zu vergessen, dass für die Parteiführer bei einem Bruch mit »Moskau« auch ihre Karriere auf dem Spiel stand. Viertens formte sich vor allem ab den 30er Jahren ein kommunistisches, respektive stalinistisches »kulturelles System«, das seinen Mitgliedern ein Zugehörigkeitsgefühl durch gemeinsame Normen und Werte, aber auch ein Distinktionsgefühl durch heroische Vorbilder vermittelte. Exemplarische Biographien, wie diejenige von Maurice Thorez, die Bernard Pudal untersucht hat, diffundierten ab Mitte der 30er Jahre solche gemeinsamen Orientierungsmuster. Wie Stalin verkörperte Maurice Thorez die Partei – nicht sich selbst –, wodurch auch die einzelnen Parteimitglieder stets mit der Anforderung konfrontiert waren, ihre eigene Biographie am Modell des Parteiführers zu messen.51 Das Modell bezog gemäß Pudal seine Überzeugungskraft aus der radikalen Distanzierung zum einen von den vermeintlich bürgerlichen oder kleinbürgerlichen »Werten des Kultus der Originalität, der Einzigartigkeit, des Brillanten, Distinguierten, Komplexen, Subtilen«, zum anderen aus seiner Aneignung des Arbeiterethos aus der Tradition der Sozialdemokratie und dessen Adaptation für die Kommunistische Partei, indem es die Werte »des Konkreten, der Erfahrung, des praktischen Sinns, der Einfachheit, des Klaren und Eindeutigen, des Virilen (Energischen; Harten; Stählernen)« hoch hielt.52 Andere »Angebote« des politisch-kulturellen Erziehungsdispositivs der Komintern zur Standardisierung der kognitiven Orientierungen und habituellen Muster richteten sich hingegen nur an spezielle Gruppen. So bestand für (angehende) mittlere Parteikader in der Sowjetunion eine Reihe von internationalen Schulen.53 Dort machten die im Parteiauftrag und zur Ausbildung nach Moskau »abkommandierten« Kommunisten und Kommunistinnen die Erfahrung, dass sie, 51 Bernard Pudal, Prendre parti. Pour une sociologie historique du PCF, Paris 1989. 52 Ebd. S. 232. Vgl. auch Claude Pennetier u. Bernard Pudal, »Stalinisme, culte ouvrier et culte des dirigeants«, in: Dreyfus u.a. (Hg.), Le Siècle des communismes, S. 553–563. Zu den Personenkulten siehe auch Heller und Plamper, die auf die Pluralität des Phänomens hinweisen: Klaus Heller u. Jan Plamper, Personality Cults in Stalinism – Personenkulte im Stalinismus, Göttingen 2004. Siehe auch Jan Plamper, The Stalin Cult: A Study in the Alchemy of Power, Yale University Press, 2012. Die Varianten des Modells und seine unterschiedlichen Ausprägungen in den Kommunistischen Parteien wird in der thematischen Nummer »Communism and the leader cult« von Twentieth Century Communism 1/2009 deutlich. 53 Die obersten Parteiführer der 1930er Jahre, wie eben Thorez, absolvierten in der Regel keine solche Schule, sie waren durch ihre angeblich genuin proletarische Herkunft legitimiert.

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um Zugang zur kulturellen Ordnung des Stalinismus zu finden, zahlreiche Regeln zu beherrschen hatten, so auch die Fähigkeit, »internes Wissen« als solches, nämlich als strikt vertrauliches, zu erkennen und zu behandeln.

2.2. Konspiration und Geheimnis Max Weber konstatierte eine allen Bürokratien gemeine Tendenz zur Geheimhaltung.54 Und der französische Soziologe Alain Dewerpe hat in seiner inspirierenden Studie zur Figur des Spions und zum Staatsgeheimnis darauf hingewiesen, dass das Spannungsverhältnis von geheim-öffentlich konstitutiv für den modernen Staat sei;55 symbolisch hinterspannt wird es durch eine Weltsicht von »wir« gegen »sie« – also die anderen – und von »innen« gegen »außen«. Im Stalinismus der 30er Jahre, so lässt sich ergänzen, wurde daraus ein FreundFeind-Schema; und die Abgrenzung zwischen »innen« und »außen« wurde unscharf. Die Komintern war ein bürokratischer Apparat, allerdings ein chaotischer.56 Ab 1926, so zeigen die Quellen, war man im Rahmen einer Reorganisation bemüht, mehr Ordnung zu schaffen, indem administrative Abläufe zumindest auf dem Papier geregelt wurden. Diese Anstrengungen wurden in einer neuen Reorganisation 1929 weitergeführt. Dahinter lag aber mehr als die Schaffung einer funktionstüchtigen Organisation. Das Kominternarchiv ist von diesem Zeitpunkt an voll mit Anweisungen, wer Zutritt zu welchen als geheim klassierten Dokumenten hat, wie lange er sie behalten darf und wie die Kontrolle über die Einhaltung der Geheimhaltungsvorschriften vollzogen werden soll. So hieß es etwa in einem Beschluss der Politkommission von Januar 1932 unter anderem, dass »diejenigen, die das Material herausgeben, eine Liste der Empfänger zuhanden der Beauftragten für Geheimdokumente erstellen müssen und dass die Beauftragten für Geheimdokumente diese Listen registrieren und am nächsten Tag das Material zurückfordern müssen«.57 Mit solchen Instruktionen folgte die Komintern der sowjetischen Partei, die seit Ende der 20er Jahre strikte Zugangsregeln und genormte Verteilschlüssel zu allen Parteidokumenten einge-

54 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, insbes. S. 572–573. 55 Alain Dewerpe, Espion. Une anthropologie historique du secret d’Etat contemporain, Paris 1995. 56 Dies wurde immer wieder bemängelt, etwa im Bericht von Ja. Ja. Zirul, [Ende 1931 oder Anfang 1932], RGASPI 495/6/48. 57 Beschluss der Politkommission, 27. 1. 1932, RGASPI 495/18/945.

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führt hatte.58 Das erste, was die ausländischen Kaderschüler in der Sowjetunion lernen mussten, waren die Regeln der Konspiration.59 Die auf dem Papier bis ins letzte Detail geregelten Geheimhaltungspraktiken erfassten sämtliche Organe des Sowjetstaats und die mit ihnen in Kontakt stehenden Organisationen. So ließ die OGPU im Dezember 1930 das ZK der Roten Hilfe der Sowjetunion wissen, dass »die Dokumentation über die Politemigranten (Ankety, Autobiographien und Charakteristiki) entsprechend der Vorschriften des Specotdel aufbewahrt werden« müsse und »ihr Zugang […] nur einem schmalen Kreis von Personen erlaubt« sei.60 Die Belege ließen sich beliebig wiederholen, doch werden sie hier nur illustrierend zur Argumentation angeführt. Welche Funktionen kamen den Bestimmungen über Geheimhaltungsstufen und Regeln der Aufbewahrungsordnung sowie über deren Überprüfung zu? Die Rekonstruktion der Kominternherrschaftsmechanismen zeigt, dass sie nicht nur dem Schutz von internen Informationen dienten. Durch deren Weitergabe nach einem genormten Verteilschlüssel wirkten sie auch intern hierarchisierend. Zutritt zu den als geheim klassierten Dokumenten hatten nur bestimmte Kader. Darüber hinaus wirkten sie disziplinierend und zwangen die Vertreter der ausländischen Parteien, sich den sowjetischen Praktiken der Geheimhaltung anzupassen. Ihnen wurden in den 1930er Jahren immer wieder »Schwatzhaftigkeit« und die Nichteinhaltung der »Regeln der Konspiration« zum Vorwurf gemacht, weil sie sich in der Sowjetunion in Sicherheit wähnten, aber durch ihr Ausplaudern jedes Geheimnisses nur dem Feind in die Hände arbeiteten.61 Mit dem Übergang zum Terror boten solche »Verfehlungen« eine Angriffsfläche zur Verhaftung. Die Gelegenheiten dazu waren nicht gering, wie die folgenden Anweisungen des Vorsitzenden der Säuberungskommission der ILS an die Mitglieder der ausländischen Parteien belegen. Im Hinblick auf die Niederschrift ihrer Autobiographien im

58 Sheila Fitzpatrick, Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Times: Soviet Russia in the 1930s, New York, Oxford 1999, S. 23. 59 Die strikten Aufnahmebedingungen und Geheimhaltungsdirektiven sind detailliert aufgeführt in Studer/Unfried, Der stalinistische Parteikader, S. 199–208. Früher teils auch schon in Studer, Un parti, S. 230–249. Neuerdings auch Julia Köstenberger, »Die Internationale Lenin-Schule (1926–1938)«, in: Buckmiller/Meschkat (Hg.), Biographisches Handbuch, S. 287–309, hier S. 295–297. 60 Brief der OGPU an das CK MOPR, 16. Dezember 1930, GARF 8265/4/27. 61 So die Kernaussage von Manuilskijs Referat »Über die Schwatzhaftigkeit und andere Provokationen ausländischer Kommunisten«, 6. 10. 1931, zit. in: Vatlin, »Kaderpolitik«, S. 52; siehe auch Hoppe, In Stalins Gefolgschaft, S. 231–232. Weitere Beispiele in Studer/ Unfried, Der stalinistische Parteikader.

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Rahmen der Säuberung, die in der ersten Hälfte des Oktober 1933 stattfinden sollte, wurde ihnen mitgeteilt: Sie sollen ihren eigenen Familiennamen nicht sagen. Sie sollen von den Familien, in denen sie gelebt haben, keine Namen erwähnen. Wenn sie in ihrem Land illegale Tätigkeiten ausgeübt haben, sollen sie sogar den Namen ihres Landes nicht sagen. Sie sollen die Namen der Gefängnisse, in denen sie eingesperrt wurden, verschweigen. Das Erwähnen von technischen oder Parteiinformationen im antimilitaristischen Gebiet ist strengstens verboten. Im Allgemeinen sollen sie nie etwas sagen, das der Partei schädlich sein könnte.62

Umgekehrt proportional zur Dokumentenproduktion entwickelte sich die mit den konspirativen Regeln praktizierte Informationspolitik nicht nur innerhalb des Kominternapparats, sondern auch zwischen dem EKKI und den Ländersektionen der KI.63 Waren Beratungen und Beschlussfassungen innerhalb der Komintern in den 20er Jahren noch einigermaßen »öffentlich«, vollzog sich allmählich eine Verlagerung auf engere, immer stärker spezialisierte Instanzen oder ad hoc geschaffene Kommissionen.64 Anordnungen an die nationalen Sektionen folgten seit Beginn der 30er Jahre diskreten internen Wegen – eine Entwicklung, die mit der Restrukturierung des EKKI-Apparats 1935 im Sinne einer weiteren organisationalen Zentralisierung institutionalisiert wurde. 65 Im Krieg reduzierte sich die Kommunikationsform zwischen Moskau und den europäischen KPs fast ausschließlich auf die chiffrierten Telegramme.66 Die dafür nötigen administrativen Kanäle und personellen Ressourcen lieferte der 62 Säuberungskommission ILS, Protokoll Nr. 1 vom 2. Oktober 1933, RGASPI 531/2/23. 63 Ausführlicher dazu: Brigitte Studer, »Verschleierungstaktik als Herrschaftspraxis. Über den Prozess historischer Erkenntnis am Beispiel des Kominternarchivs«, in: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung (1995), S. 306–321. 64 Das Phänomen der geheimen Verdoppelung und Auslagerung von Entscheidungsinstanzen hat Niels Erik Rosenfeldt für die VKP/b akribisch aufgearbeitet (The »Special« World. Stalin’s Power Apparatus and the Soviet System’s Secret Structures of Communication, Copenhagen 2009, 2 Bde.). Aus seiner Darstellung zeichnet sich ein absolut allmächtiger Stalin ab. 65 Brigitte Studer, »More Autonomy for the National Sections? The Reorganization of the ECCI after the 7th World Con­gress«, in: Narinsky/Rojahn (Hg.), Centre and Periphery, S.  102–113; dies., »Die Kominternstruktur nach dem 7. Weltkongress. Das Protokoll des Sekretariats des EKKI über die Reorganisierung des Apparates des EKKI, 2. Oktober 1935«, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 31 (1995) 1, S. 25–53. 66 Bernhard H. Bayerlein, Mikhaïl Narinski, Brigitte Studer, Serge Wolikow (Hg.), Moscou – Paris – Berlin. Télégrammes chiffrés du Komintern (1939–1941), Paris 2003. Die Telegramme dienten auch dazu, den britischen Parteiführer Pollitt und andere in Bezug auf die politische Linie zu ermahnen.

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Internationale Verbindungsdienst, dessen Leitung seit Juni 1937 früheren Kadern des NKVD zufiel; die finanziellen Mittel kamen vom sowjetischen Staatsapparat.67 Diese Verbindungen (deren Brückenköpfe in den einzelnen Ländern nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs improvisiert und in der Illegalität, in der sich die Mehrheit der europäischen KPs damals befand, wieder hatten aufgebaut werden müssen) unterlagen stets strikten Geheimhaltungsdirektiven. Zugang zu den Dekodierungsschlüsseln besaß nur der innere Führungszirkel, es war dies denn auch ein Zugehörigkeitszeichen, um deren Besitz heftige Machtkämpfe entfacht wurden.68 Ab Anfang der 30er der Jahre verschob sich der Sinn der Geheimhaltungsregeln des Kominternapparats in Moskau rapide. Konspirationsverletzung und Mangel an bolschewistischer Wachsamkeit wurden effektive Ausschlussgründe, mit denen sich nun die Internationale Kontrollkommission (IKK) befasste, während es in den 20er Jahren noch vor allem Fragen von »Fraktions- und Gruppenkämpfen« und Verstöße gegen die Parteidisziplin gewesen waren. Sie galten nun als schwerwiegende Vergehen, zu denen sich Mitte der 30er Jahre auch »Verrat« und »Provokation« gesellten.69 Deren regelmäßige Überwachung und Archivierung in entsprechenden Personendossiers oblag jedoch der Kaderabteilung, die in der ILS im Dezember 1933 geschaffen wurde, und war somit Teil der Kaderkontrolle.70 Die Regeln der konspiracija waren die Kehrseite des allumfassenden, ubiquitären Geheimhaltungsprinzips der bolschewistischen Organisationen. Aus diesem folgte, dass jede Information über Partei- oder Kominternangelegenheiten gegen »außen« unbedingt abgeschottet werden musste. Das war für westliche, insbesondere auch junge Kominternschüler nicht einfach, nicht nur weil sie das von ihrer eigenen Partei her nicht gewohnt waren, sondern auch weil von ihnen erwartet wurde, dass sie weder Zuhause noch in Moskau je etwas über ihren Aufenthaltsort und ihre Funktion verlauten ließen oder möglicherweise auch nur Hinweise darauf ermöglichten. Die Kritik- und

67 Zwischen Juni 1937 und November 1938 leitete Moskvin, der frühere Chef der Internationalen Abteilung der OGPU, den VD. Von 1939–1941 war es Konstantin Sucharev, dann Grigori Sorkin. Für die Verbindungsstellen belief sich das Budget auf rund 70.000 Dollar, ohne die finanzielle Unterstützung der KPs. Ebd. 68 Siehe den Kampf Anfang 1941 zwischen Jacques Duclos und Maurice Tréand um die Kontrolle der Radiosender und -empfänger in Frankreich. Ebd. 69 Zum Beispiel festgeschrieben in: Über die Arbeit der IKK, deutsche Abschrift, 9. 7. 1936, RGASPI 495/20/759. 70 Grundbestimmungen über die Kader-Abteilung der Internationalen Lenin-Schule, 20.12.1933, RGASPI 495/4/273.

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Selbstkritiksitzungen der Kaderschulen waren entsprechend durchzogen von solchen »Verfehlungen«, wie die Dokumente belegen.71 Die Erwartungen glichen dem Leitbild des Geheimagenten:72 Verschwiegenheit, Disziplin, Härte – das waren nicht nur die Tugenden Rachmatovs in Černyševskijs »Was tun?«, sondern auch die des bolschewistischen Parteikaders. Nur dass dieser kein Einzelkämpfer war. Er agierte nicht einsam und still in der Nacht, er gehorchte der Parteiloyalität, für die er sich zu opfern wissen musste. Doch der »Parteifeind« wird wie der Geheimagent nur durch Indizien »aufgedeckt«. An diesem Punkt angelangt, lässt sich auf die Arbeiten von Alois Hahn zurückgreifen. Der Soziologe führt an, dass überall da, wo ein erhöhtes Interesse an Geheimnissen besteht, sich die Kunst entwickelt, Darstellungen zu deuten. Das trifft zweifellos auch auf die Komintern (respektive die stalinistische Partei) zu, die viele Mittel und Wege erprobte, die oft filigrane Linie zwischen Sein und Schein, die im Stalinismus als Bruch wahrgenommen wurde, aufzuspüren.73 Mit dem Historiker Carlo Ginzburg gesprochen, lernten die Beteiligten, »Spuren zu lesen«, um dem »Feind« auf die Schliche zu kommen.74 Vergleichbar den sich Ende des 19. Jahrhunderts formierenden Human- und Sozialwissenschaften entwickelte die kommunistische Organisation eine Methode der Interpretation, die sich auf die Analyse von Einzelfällen konzentrierte und sich dazu auf Nebensächlichkeiten stützte, die jedoch für aufschlussreich gehalten wurden. Das Symptom steht dabei für das Ganze, die Wirkung für die Ursache.75 Die Verletzung der konspirativen Regeln (wobei es sich meist um kleine Dinge handelte wie »Schwatzen« in der Öffentlichkeit, sich als Leninschülerin zu erkennen zu geben und ähnliches) stand daher nicht nur für die Handlung selbst, sondern hatte einen Bedeutungsüberschuss. Sie verwies auf Tieferes, eben »Verstecktes«. Sie galt insbesondere als Zeichen für mangelnde Disziplin, was in der Kominternsprache als »Ausdruck kleinbürgerlicher individualistischer Überbleibsel« bezeichnet wurde. Dahinter stand in den Augen der 71 Siehe Studer/Unfried, Der stalinistische Parteikader. 72 Dies konstatiert auch Bert Hoppe, »Iron Revolutionaries and Salon Socialists. Bolsheviks and German Communists in the 1920s and 1930s«, in: Kritika 10, 2009, 3, S. 499–526, hier S. 506–507. 73 Alois Hahn, »Ehrlichkeit und Selbstbeherrschung«, in H. W. Franz (Hg.), 22. Deutscher Soziologentag 1984. Beiträge der Sektions- und Ad-hoc-Gruppen, Opladen 1985, S. 221–222. Siehe ders., Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Aufsätze zur Kultursoziologie, Frankfurt am Main 2000. 74 Carlo Ginzburg, »Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst«, in: ders., Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 1995, S. 7–44. 75 Ebd., S. 14 und S. 16.

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Kaderverantwortlichen aber noch mehr: nämlich mangelnde Selbstkontrolle, und damit verriet sich ein für die Partei unzuverlässiger Mensch, der nicht nur die geschriebenen Regeln, also die Befehle, sondern auch die informellen Normen, also die habituellen Erwartungen, nicht respektierte und dem eben die Disposition zur Einordnung ins Kollektiv und der stählerne Wille zum Parteigehorsam fehlte – Tugenden, die in dem stalinistischen Wertehimmel an erster Stelle rangierten.

2.3. Überwachen und Strafen – Von der Kontrolle zur Repression Obschon die Konspirationsvorschriften im Kern aus jener vorrevolutionären Zeit stammten, als die Bol’ševiki noch in der Illegalität lebten, modifizierte sich ihr Sinn im Stalinismus. Kontrolle, Disziplin und Repression wuchsen im Stalinismus der 30er Jahre zu einem Kontinuum. Nicht nur wurde durch die Praxis der Durchleuchtung die Trennung zwischen Privat und Öffentlich symbolisch zugunsten der Institution aufgehoben, 76 auch die dazu eingesetzten Kontrollinstanzen und -techniken wurden im Lauf der Zeit effizienter und umfassender. Die zur Disziplinierung in der Moderne gebräuchlichen Mittel sind seit Michel Foucaults Überwachen und Strafen bekannt.77 Beides findet sich in der Sowjetunion im Übermaß. Während die Überwachung der Bevölkerung bereits 1918 mit der Gründung der Čeka einsetzte, folgte diejenige der Parteimitglieder – die uns hier interessieren – mit der Einführung der Kaderkontrolle und der Schaffung der Kaderabteilung beim ZK der VKP/b Anfang der 20er Jahre. Im Lauf dieses Jahrzehnts und vor allem Anfang des folgenden etablierten sich diese Praktiken auch in der Komintern.78 Diente die 1926 eingeführte russische Delegation in der KI noch zur Sicherung des VKP/b-Einflusses und die Internationale Kontrollkommission sozusagen als Gerichtsinstanz, die anfänglich 76 Claude Pennetier u. Bernard Pudal, »Ecrire son autobiographie (Les autobiographies communistes d’institution, 1931–1939)«, in: Genèses. Sciences sociales et histoire 23/1996, S. 53–75. 77 Auf die Disziplinierungsfunktion der staatlichen Gewaltausübung zur Zeit Stalins hat in seinem Essay über den sowjetischen Weg der Moderne auch Stefan Plaggenborg hingewiesen. S. dazu auch Robert Tuckers Begriff von Stalins »Revolution von oben«, zu der neben anderen Elementen die Disziplinierung der Gesellschaft durch Terror gehört (Robert C. Tucker, Stalin in Power: The Revolution from Above, 1928–1941, New York, London 1990). 78 Der personelle Ausbau, die Kompetenzerweiterung und die zunehmenden Verzweigungen dieser Einrichtung in immer weitere Sowjetinstitutionen können hier nur angedeutet werden.

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auch von »unten« angerufen werden konnte, so wirkten die Parteiorganisation der russischen Partei in der KI und die 1932 aus dem früheren Spezialdepartement hervorgegangene Kaderabteilung als Instanzen der Überwachung und Disziplinierung.79 Die Kaderabteilung war eine der real mächtigsten Körperschaften der KI. Die von ihr gesammelten Daten flossen direkt in das Überwachungssystem der sowjetischen Staatssicherheitsorgane ein, was die Kaderabteilung der Komintern zu einer Schlüsselinstitution für die Repression der KI-Kader machte. Ihre offizielle Aufgabe war die «Erforschung, Auslese, Erziehung und Erhaltung der Kader».80 Neben Zielsetzungen, die – vielleicht mit teils anderer Begrifflichkeit – auch industrielle Unternehmungen und Verwaltungen teilen können, wie »Unterstützung der Parteien bei der Organisierung der Heranbildung der Kader [...], Unterstützung bei der Organisierung internationaler Schulen, Leitung derselben, Kontrolle der Zusammensetzung ihrer Apparate und Organisierung der Auslese der Schülerkontingente für sie«, finden sich auch andere wie etwa »Unterstützung der Parteien im Kampfe gegen Provokationen und Spitzelei [...], Kampf gegen das Eindringen von Agenten des Feindes in die Partei« oder »Unterstützung der Parteien in der Organisierung der Arbeit unter der politischen Emigration zwecks Entlarvung in ihre Reihen eingedrungener klassenfeindlicher Elemente [...]«.81 Im Zuge der Angleichung der kommunistischen Parteien an das von der KI vorgegebene Modell wurden in einzelnen nationalen Sektionen (so in der französischen Partei) ähnliche Institutionen der Kaderüberwachung geschaffen.82 Überwachen (Kaderkontrolle und Säuberung als Untersuchung) und Strafen (Säuberung als Sanktion) waren von Anfang an eng miteinander verwoben. Sie wechselten über die Zeit an Intensität und in ihren Inhalten. Ab Ende der 1920er Jahre nahmen sie aber immer schärfere Formen an, um ab Mitte der 1930er Jahre auch für westliche Parteimitglieder in Parteiausschluss und physische Strafen, genauer Repression (Ermordung, Verhaftung, Verbannung, Erschießung) und schließlich in willkürlichen Terror umzuschlagen. Damit mu-

79 Dazu Peter Huber u. Bernhard Bayerlein, »Begegnungen und Erfahrungen von Schweizer Kommunisten mit den totalitären Strukturen während des stalinschen Terrors in der Sowjetunion«, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 43, 1993, 1, S. 61–98. Siehe auch Studer, Un Parti sowie Studer/Unfried, Der stalinistische Parteikader. 80 Bestimmungen über die Kaderabteilung (Entwurf ), 8. 2. 1936, RGASPI, 495/20/811. 81 Ebd. 82 Anfang der 30er Jahre entstand in der KPF im Rahmen der Commission Centrale de Contrôle unter der Leitung von Maurice Tréand eine Kaderkommission.

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tierte die Säuberung: von einem Instrument mit erzieherisch-politischer Intention zu einem Disziplinierungs- und Repressionsinstrument.83 Möglich war eine solche Entwicklung dank der Mehrfunktionalität der Kaderkontrolle: Erstens diente sie auf Seiten des Parteisekretariats und der Organisationsabteilung der »Durchleuchtung« der Kader im Hinblick auf die richtige Kaderauswahl. Zweitens setzte sie die in den Augen der Bolschewiki akzeptierte Norm der periodischen »Selbstreinigung« der Partei von »unwürdigen Elementen« um. Drittens wirkte sie bei den Parteimitgliedern als Disziplinierungsmittel, aber auch als Internalisierungstechnik der herrschenden Normen. Viertens verfolgten die dabei angewendeten Praktiken explizit eine Erziehungsfunktion und dienten somit der im Kommunismus seit jeher hochgehaltenen Norm der nötigen »Besserung« des Menschen zur Realisierung der kommunistischen Gesellschaft.

2.4. Die Wechselwirkung von Kontrolle und Zustimmung Wie die bolschewistische Partei – insbesondere diejenige Stalins – verlangte auch die Komintern von jedem Mitglied (in der Sowjetunion), sein Wissen über sich selbst in Fragebögen, in der (Partei-)Autobiographie, in der Selbstkritik, im Selbstbericht und schließlich in der Denunziation über die Anderen mit ihr zu teilen.84 Damit fütterte sie ihren Kaderkontrollapparat. Das richtige Sprechen über sich selbst wollte gelernt sein. In den bereits erwähnten Ermahnungen der Säuberungskommission der ILS zur angesagten čistka wurde nicht nur vorgegeben, worüber nicht geredet werden durften, sondern auch, worüber gesprochen werden sollte. So hieß es: »Sie müssen von ihrer sozialen Herkunft, von ihrer sozialen Position reden und erklären, wie sie in die Partei eintraten. Sie sollen sehr kurz über ihre Parteitätigkeit sprechen, und ihre Konflikte mit der Bourgeoisie erwähnen. Sie müssen unbedingt ihre Fehler, die Tätigkeit, die sie zuletzt in der UdSSR ausübten, und ihre Zweifel betonen, wenn es diese überhaupt gibt.«85 83 Als erster hat Reinhard Müller das umfangreiche Protokoll einer Säuberungssitzung von westlichen Kulturschaffenden in Moskau zugänglich gemacht: Georg Lukács, Johannes R. Becher, Friedrich Wolf u. a., Die Säuberung. Moskau 1936: Stenogramm einer geschlossenen Parteiversammlung, hg. v. Reinhard Müller, Reinbek bei Hamburg 1991. Der Herausgeber stellt jedoch die Teilnehmer zu einseitig als Opfer der Parteimaschinerie dar, ohne deren Partizipation im gegenseitigen Anklagekarussell zu berücksichtigen. 84 Für eine detaillierte Beschreibung und Rekonstruktion dieser Formen und ihre Anwendung sei auf Studer/Unfried, Der stalinistische Parteikader, verwiesen. 85 Säuberungskommission ILS, Protokoll Nr. 1 vom 2. Oktober 1933, RGASPI 531/2/23.

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Die in den sowjetischen Formen des Sprechens über das Selbst entwickelten Praktiken funktionierten aber nur mittels der von den Beteiligten eingebrachten Subjektivität, was nicht alle im gleichen Ausmaß und mit derselben Bereitschaft taten. Man kann diese Disziplinierungspraktiken einseitig nur von der repressiven Seite anschauen.86 Man kann sie aber auch im Foucaultschen Sinne von der produktiven Seite her betrachten. In dieser erhält die vom Parteistaat in großem Ausmaß applizierte biographische Erfassungslogik eine neue Bedeutung. Sie geht über diejenige der Sammlung und Archivierung von persönlichen Daten (wie dies im Übrigen jeder moderne Staat und jede Institution mit soziologisch-administrativem Erkenntnisinteresse mehr oder weniger intensiv tun) hinaus. Die Kaderkontrolle wirkte nicht nur als biographischer Filter. Ihre Techniken wirkten auch als »Biographiegeneratoren« (Alois Hahn), oder in den Begriffen von Michel Foucault als »Techniken des Selbst«.87 Anhand verschiedener Praktiken der Selbstthematisierung (im Dialog mit der Partei in der Autobiographie, in Interaktion mit der Gruppe in der Selbstkritik und im Selbstbericht) konfrontierten sich die Parteimitglieder mit den Erwartungen und Reaktionen der anderen. Sie lernten dabei, welche Verhaltensweisen, charakterlichen Dispositionen und Interpretationsschemen dem »wirklichen Bolschewiken« – dem Leitbild des stalinistischen Kaders – angepasst waren. Durch »Arbeit am Selbst« formten sie derart ihre Parteiidentität.88 Dabei gilt es aber zu bedenken, wie es insbesondere die pragmatische Soziologie mit ihrem Multiplen-Persönlichkeitsmodell nahe legt, dass auch im Stalinismus ein Mensch keine in sich geschlossene Identität verkörperte, sondern diese immer wieder neu in seinen diversen Handlungsfeldern herstellt.89 Folgt man diesem Deutungsansatz war auch der westliche (zukünftige) Parteikader nicht einfach »Parteimensch«, der völlig mit dieser Identität zusammenfiel. Wenn ein Teil seines rationalen Selbst sich auch den Normen anpasste und sich 86 So Plaggenborg, Experiment Moderne. 87 Dazu Brigitte Studer, Berthold Unfried, Irène Herrmann (Hg.), Parler de soi sous Staline. La construction identitaire dans le communisme des années trente, Paris 2002. 88 Brigitte Studer, »L’être perfectible. La formation du cadre stalinien par le ›travail sur soi‹«, in: Genèses. Sciences sociales et histoire 51/2003, S. 92–113. 89 Am Beispiel von Stalin und mittels seiner Korrespondenz mit Kaganovič hat Yves Cohen diese Überlegungen angestellt (Yves Cohen, »La co-construction de la personne et de la bureaucratie: aspects de la subjectivité de Staline et des cadres soviétiques (années 30)«, in: Brigitte Studer, Heiko Haumann (Hg.), Stalinistische Subjekte. Individuum und System in der Sowjetunion und der Komintern, 1929–1953, Zürich 2006, S. 175–196). Er bezieht sich dabei auf die Arbeiten von Laurent Thévenot. Vgl. auch Malte Griesse (»Isolation, imposture and the impact of the ›Taboo‹ in Stalinist society. A diarist on the verge of loneliness«, in: InterDisciplines. Journal of History and Sociology, Vol 1, No 2 (2010), S. 37–91), der sich ebenfalls auf die pragmatische Handlungssoziologie stützt.

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den Verhaltensregeln und Vorschriften fügte, so verblieben andere »Ich« in seinem Selbst, die anderen Kontexten und Bedürfnissen verhaftet blieben – im Fall der ausländischen Parteimitglieder nicht zuletzt ihre westlichen Beziehungen. Doch der Stalinismus forderte gerade die unbedingte Geschlossenheit nicht nur der öffentlichen Person, sondern auch des Selbst. Um den »Neuen Menschen« zu schaffen, hatte sich die Sowjetgesellschaft dem selbst auferlegten »zivilisatorischen« Auftrag verschrieben, gerade diese »Restfläche« zu erneuern. Die Partei hatte den Anspruch – um hier wieder Yves Cohens überzeugende Argumentation aufzunehmen – diesen Prozess, bei dem das «politisierte» Parteiselbst zunehmend alle anderen Selbst dominieren würde, konkret anzuleiten und zu steuern.90 In vielen langen Gruppensitzungen lernten so zum Beispiel die Leninschüler Anfang der 30er Jahre, die das zuerst gar nicht so sehen wollten, dass der Stalinkult zum Sozialismus gehörte. Dahinter stand ein sozusagen konstruktivistisches Menschenbild avant la lettre, wie es Alfred Kurella, einer der Hauptverantwortlichen der Kulturpolitik der Komintern, 1936 formulierte. »Hegel«, meinte er, habe als »erster ein großartiges zusammenhängendes Bild der ganzen menschlichen Geschichte [entwickelt], das den Menschen und sein Wesen als etwas Werdendes, als einen Prozeß auffaßte, bei dem der reale, sinnliche, tätige und denkende Mensch Objekt und Subjekt, Schöpfer und Geschöpf seiner selbst zugleich war.«91 Das Bürgertum sei dazu aber nicht fähig gewesen, nur dem Kommunismus könne das gelingen.

Schluss Das prometheische Projekt glich zwar letzten Endes eher einer Bravade des Barons von Münchhausen, der sich selber an den Haaren aus dem Sumpf zieht. Das lag nicht nur an seiner grenzenlosen Ambition. Selbst in einer straff zentralisierten inter- und transnationalen Organisation wie der Komintern gelangen der Transfer des stalinistischen antiindividualistischen Weltbilds in andere Parteien und Länder und dessen subjektive Aneignung stets nur zeit- und teilweise, kollidierte es doch vor Ort mit anderen politischen Erwartungen, gesellschaftlichen Normen und kognitiven Orientierungen. Wirkungslos blieben der totale Hegemonieanspruch und die dazu in Bewegung gesetzten Mittel deswegen aber nicht. Manche Phänomene äußerten sich in der Komintern und mehr noch in den nationalen Sektionen zwar abgeschwächter als in der Sowjetunion, 90 Cohen, »La co-construction«. 91 Alfred Kurella, Der Mensch als Schöpfer seiner selbst. Beiträge zum sozialistischen Humanismus, Berlin 1958, S. 16. Siehe dazu Studer, »L’être perfectible«.

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beispielsweise Klassenwachsamkeit – doch vollkommen entziehen konnten sich diese den sowjetischen kulturellen Mustern und den damit zum Ausdruck gebrachten Herrschaftspraktiken nicht. Meine Deutung liegt näher bei Foucault denn bei Weber. Es geht weniger um den Herrschaftstypus, respektive den Legitimitätstypus und die arbiträre Position des Herrschers oder der Partei, als um die subjektiven Effekte der Macht. Es geht um die Formen und Mittel oder die Techniken, welche die Herrschaft anwendet, um Legitimität zu erzeugen. Dabei richtet sich der Fokus auf die Verflechtungen von Herrschaftstechniken (die laut Michel Foucault keinen Raum für den erfolgreichen Kampf lassen), Machttechniken (die auch Opposition und Veränderung zulassen) und Regierungstechniken (die rational und regulierend in die Gesellschaft eingreifen) mit Techniken des Selbst – Unterscheidungen, die auch vom französischen Philosophen nicht immer scharf gezogen worden, die heuristisch aber nützlich sind um zu verstehen, weshalb der Stalinismus bei den Menschen überhaupt Unterstützung fand (in welchem Mischverhältnis diese Techniken auch immer gewirkt haben mögen). Denn der Stalinismus – so die hier vertretene These – war ein Herrschaftssystem, das bis weit in die Subjektivität der Individuen vordrang. Es forderte seine Subjekte heraus. Subjektivität wurde im Stalinismus, solange und soweit es sich als nützlich erwies, als Ressource des politischen Systems genutzt. Das heißt nicht, dass der Stalinismus Subjektivität im liberal-aufklärerischen Sinne autonomer Individuen förderte. Im Gegenteil, wie Yves Cohen treffend konstatierte, forderte der totale Anspruch des Systems die Übereinstimmung sämtlicher situativer Subjektivitäten mit dem Parteiselbst.92 Um dies zu bewirken und sich über die Resultate auch die Kontrolle zu sichern, mobilisierte das Regime durch verschiedene Techniken immer wieder die Subjektivität der Menschen, indem es jeden Einzelnen aufforderte oder auch zwang, seine intimsten Überzeugungen, seine politischen Positionen, sein praktisches Verhalten offen zu legen. Am direktesten betraf das die Partei- und Kominternmitglieder. Wie weit sich Menschen jedoch auf solche Ansprüche einlassen, wie weit sie (gleichzeitig oder nicht) eigene Interessen und Taktiken verfolgen, das ist eine Frage, die noch immer weiterer Untersuchungen bedarf.

92 Cohen, »La co-construction«.

Ein transnationales Geschäft Kommunikation und Institutionalisierungsprozesse zwischen Siemens und dem sowjetischen Außenhandelsapparat während der Weimarer Republik Martin Lutz In meinem Beitrag untersuche ich die Ausbildung institutioneller Strukturen im Sowjetgeschäft von Siemens während der Weimarer Republik.1 Institutionen steuern soziale Beziehungen und geben Akteuren einen Orientierungsrahmen für ihr Handeln. Die Ausbildung institutioneller Strukturen wird jedoch erschwert, wenn die beteiligten Akteure unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen. Gemäß dem Leitzsatz Lenins »Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes« hatte die Elektroindustrie zwar seit den frühen 1920er Jahren einen vorrangigen Stellenwert in der sowjetischen Wirtschaftspolitik. Die Umsetzung des GOĖLRO-Plans2 war beispielsweise nur durch eine Beteiligung ausländischer Unternehmen zu erreichen. Unternehmen wie Siemens zeigten daher ein Interesse, sich am Aufbau der sowjetischen Elektroindustrie zu beteiligen. Doch die Entwicklung des Sowjetgeschäfts von Siemens in den 1920er Jahren verlief langsam und führte zu unbefriedigenden Ergebnissen. Ich vertrete die These, dass diese Entwicklung in grundsätzlichen ideologischen Differenzen zwischen dem Unternehmen und dem sowjetischen Außenhandelsapparat begründet lag. Mein Beitrag beginnt mit einer theoretischen Einführung und einem historischen Überblick über den Beginn des Sowjetgeschäfts von Siemens. Anschlie1 Mein Beitrag basiert auf einem 2009 abgeschlossenen Promotionsprojekt zum Sowjetgeschäft von Siemens zwischen 1917 und 1933. Vgl. Martin Lutz, Siemens im Sowjetgeschäft. Eine Institutionengeschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen 1917–1933 (Perspektiven der Wirtschaftsgeschichte 1), Stuttgart 2011. Die empirische Basis bilden Quellen aus dem Siemens-Archiv (Siemens-Archiv-Akten, SAA) sowie dem Staatlichen Russischen Wirtschaftsarchiv (Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Ėkonomiki, RGAĖ). 2 Der GOĖLRO-Plan (Gosudarstvennaja Komissija po Ėlektrifikacii Rossii) wurde 1920 verabschiedet. Er war der erste langfristige Perspektivplan der Bol’ševiki für den Aufbau der sowjetischen Wirtschaft. Vgl. Jonathan Coopersmith, The Electrification of Russia, 1880–1926, Ithaca 1992; Heiko Haumann, Beginn der Planwirtschaft. Elektrifizierung, Wirtschaftsplanung und gesellschaftliche Entwicklung Sowjetrußlands 1917–1921 (Studien zur modernen Geschichte 15), Düsseldorf 1974; Z. K. Zvezdin, Ot Plana GOĖLRO k Planu Pervoj Pjatiletki. Stanovlenie socialističeskogo Planirovanija v SSSR, Moskau 1979.

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ßend stelle ich anhand einiger Fallbeispiele die Konfliktfelder in der Kommunikation zwischen dem Unternehmen und dem sowjetischen Außenhandelsapparat dar. Im Ergebnis zeige ich, dass das gegenseitige Misstrauen eine weitergehende ökonomische Integration verhinderte.

Ökonomische Akteure und Institutionen Die Interaktion zwischen Siemens und der Sowjetunion war ein transnationales Geschäft. Genauer gesagt handelte es sich um das Geschäft eines nicht-staatlichen Akteurs (das Unternehmen Siemens) mit einem staatlichen Akteur (der sowjetische Außenhandelsapparat), der seit April 1918 die sowjetischen Außenwirtschaftsbeziehungen monopolisierte und unter eine zentrale Autorität stellte.3 Ich entwickle im Folgenden einen institutionentheoretischen Zugang, um das transnationale Geschäft von Siemens mit der Sowjetunion analytisch fassbar zu machen. In den Wirtschaftswissenschaften wurde lange ein einfaches Bild ökonomischer Interaktion gezeichnet. Ökonomisch rationale Akteure interagieren auf freien Märkten und versuchen dabei, ihren individuellen Nutzen zu maximieren. Angebot und Nachfrage definieren den Preis eines Gutes über die »unsichtbare Hand«4 des Marktes. Die Handlungsmotivation des Homo Oeconomicus und die Funktionsweise von Märkten werden dadurch analytisch stark reduziert und einer mathematischen Modellierung zugänglich. Vertreter der Neuen Institutionenökonomik üben seit einigen Jahrzehnten eine scharfe Kritik an dieser analytischen Reduktion. Der institutionenökonomische Ansatz behandelt den Markt nicht als einen freien Raum. Vielmehr wird der Markt erst durch Institutionen konstituiert, die als Spielregeln die ökonomische Interaktion steuern. Anfangs bezog sich die Neue Institutionenökonomik nur auf formale Institutionen wie beispielsweise Gesetze oder schriftlich fixierte Verträge. Seit den 1990er Jahren werden allerdings auch zunehmend die informellen Bedingungen wirtschaftlichen Handelns berücksichtig. Unter informelle Institutionen fallen beispielsweise soziale Konventionen oder kulturell vermit3 Vgl. die Definition von Thomas Risse-Kappen: Transnationale Beziehungen sind »regular interactions across national boundaries when at least one actor is a non-state agent or does not operate on behalf of a national government or an intergovernmental organization«. Thomas Risse-Kappen, »Bringing Transnational Relations Back in: Introduction«, in: Thomas Risse-Kappen (Hg.), Bringing Transnational Relations Back in: Non-State Actors, Domestic Structures and International Relations, Cambridge 1995, S. 3–33, hier S. 3. 4 Die Bezeichnung »unsichtbare Hand des Marktes« geht auf Adam Smith zurück. Vgl. N. Gregory Mankiw, Principles of Economics, Mason 2004, S. 84.

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telte Verhaltenskodizes.5 Der Neuen Institutionenökonomik gelingt es dadurch, ökonomische Interaktion in ihren historischen Kontext einzubetten: »Institutionen ebenso wie Märkte, Organisationen und ihre Akteure wirtschaften in geschichts- und kulturgeprägten Kontexten.«6 Weiterhin problematisch am institutionenökonomischen Ansatz ist allerdings, dass die Präferenzen von Akteuren als gegeben vorausgesetzt werden.7 Der Akteur in der Neuen Institutionenökonomik unterscheidet sich insofern nicht von den mainstream economics, da beide die ökonomisch rationale Nutzenmaximierung des Homo Oeconomicus als Grundkonstante menschlichen Handelns annehmen. Die Neue Institutionenökonomik fragt nicht nach anderen Zielpräferenzen, die gegebenenfalls der strategischen Nutzenmaximierung des Akteurs zugrunde liegen können. Beispielsweise wären a priori grundsätzliche Unterschiede in den Zielen der sowjetischen Außenwirtschaftspolitik und des Unternehmens Siemens zu erwarten, die in ideologischen Differenzen begründet lagen. Von der Neuen Institutionenökonomik sind solche Handlungseinflüsse auf der motivationalen Ebene nicht zu erfassen. Ein Lösungsansatz bietet der akteurszentrierte Institutionalismus, der die interdependente Wechselwirkung zwischen Akteuren und institutionellen Strukturen zum Untersuchungsgegenstand macht.8 Institutionen handeln 5 Douglass C. North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance, Cambridge 1990, S. 37. 6 Clemens Wischermann, »Von der ›Natur‹ zur ›Kultur‹. Die neue Institutionenökonomik in der Geschichts- und kulturwissenschaftliche Erweiterung«, in: Karl-Peter Ellerbrock, Clemens Wischermann (Hg.), Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics (Untersuchungen zur Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte 24), Dortmund 2004, S. 17–30, hier S. 17. Siehe auch: Hartmut Berghoff, »Nutzen und Grenzen des kulturwissenschaftlichen Paradigmas für die Wirtschaftsgeschichte«, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 94 (2007), 2, S. 178–185; Jakob Tanner, »Die ökonomische Handlungstheorie vor der ›kulturalistischen Wende‹? Perspektiven und Probleme einer interdisziplinären Diskussion«, in: Hartmut Berghoff, Jakob Vogel (Hg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt am Main 2004, S.  69–98; Clemens Wischermann, »Vom Gedächtnis und den Institutionen. Ein Plädoyer für die Einheit von Kultur und Wirtschaft«, in: Eckart Schremmer (Hg.), Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Gegenstand und Methode, Stuttgart 1998, S. 21–33; Hansjörg Siegenthaler, »Geschichte und Ökonomie nach der kulturalistischen Wende«, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), 2, S. 276–301. 7 Lutz, Siemens im Sowjetgeschäft, S. 56 ff. 8 Vgl. Fritz Scharpf, Games Real Actors Play. Actor-Centered Institutionalism in Policy Research, Boulder 1997; Renate Mayntz u. Fritz Scharpf, »Der Ansatz des akteurszentrierten Institutionalismus«, in: Renate Mayntz, Fritz Scharpf (Hg.), Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung, Frankfurt am Main 1995, S. 39–72; Kathleen Thelen u. Sven Steinmo, »Historical Institutionalism in Comparative Politics«, in:  Sven Steinmo, Kathleen The-

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nicht. Sie geben vielmehr Akteuren einerseits einen Orientierungsrahmen für Entscheidungen vor. Andererseits werden Institutionen durch das Handeln von Akteuren erst konstituiert: »Causality flows both ways – while agents choose institutions, institutions then constrain agents.«9 Der akteurszentrierte Institutionalismus integriert damit individuelle Handlungspräferenzen auf der motivationalen Ebene in einen umfassenden theoretischen Ansatz. Dieser Ansatz eignet sich für eine Analyse des Sowjetgeschäfts von Siemens. Dessen Ausgangspunkt war eine institutionelle Krise nach der Oktoberrevolution, in der elementare Handlungsmuster ökonomischen Handelns infrage gestellt wurden.10 Die Akteure aus dem Unternehmen und vom sowjetischen Außenhandelsapparat konnten nicht auf gewohnte institutionelle Strukturen aus dem vorrevolutionären Russlandgeschäft zurückgreifen. Sie mussten vielmehr unter den Bedingungen von großer Unsicherheit eine Kommunikation mit dem ideologischen Gegner aufbauen und einen neuen institutionellen Handlungsrahmen für die Geschäftsbeziehungen etablieren. Ich definiere im Folgenden einige zentrale Begriffe für meine Herangehensweise im Rahmen des akteurszentrierten Institutionalismus. Die Handlungsmotivation von Akteuren wird durch ihre Zielpräferenzen auf der motivationalen Ebene bestimmt. Sie sind nicht wie im Modell des Homo Oeconomicus auf eine rein ökonomische Gewinnmaximierung reduzierbar. Vielmehr können Akteure unterschiedliche Ziele verfolgen, wie beispielsweise ideologisch motivierte politische Ziele. Unter Ideologie verstehe ich in Anlehnung an Arthur Denzau und Douglass North ein »shared framework of mental models that groups of individuals possess that provide both an interpretation of the environment and a prescription as to how this environment should be structured»11. Auf Basis ihrer mentalen Modelle versuchen Akteure, ihre Zielpräferenzen in der Umwelt strategisch umzusetzen. Eine Strategie bezeich-

len, Frank Longstreth (Hg.), Structuring Politics. Historical Institutionalism in Comparative Analysis, Cambridge 1992, S. 1–32. 9 Mark Aspinwall u. Gerald Schneider, »Institutional Research on the European Union: Mapping the Field«, in: Gerald Schneider, Mark Aspinwall (Hg.), The Rules of Integration. Institutionalist Approaches to the Study of Europe, Manchester 2001, S. 1–18, hier S. 10. 10 Zum Begriff Krise vgl. Hansjörg Siegenthaler, »Learning and its Rationality in a Context of Fundamental Uncertainty«, in:  Journal of Institutional and Theoretical Economics 153 (1997), S. 748–761; Hansjörg Siegenthaler, Regelvertrauen, Prosperität und Krisen. Die Ungleichmäßigkeit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung als Ergebnis individuellen Handelns und sozialen Lernens (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 81), Tübingen 1993. 11 Arthur T. Denzau u. Douglass C. North, »Shared Mental Models: Ideologies, and Institutions«, in: Kyklos 47 (1994), S. 3–31, hier S. 4.

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net die »grundsätzliche, langfristige Verhaltensweise [von Akteuren] gegenüber ihrer Umwelt zur Verwirklichung der langfristigen Ziele«12. Unter den Bedingungen einer Krise versuchen Akteure, Sicherheit zu generieren.13 Sie investieren Ressourcen in die Herstellung institutioneller Strukturen, die ihren Handlungen Stabilität verleihen sollen. Institutionen haben dabei einerseits Steuerungsleistungen zu erbringen, indem sie Akteuren Handlungsanleitungen geben und Abweichungen von der Norm sanktionieren. Andererseits sollen sie einen integrierenden Orientierungsrahmen bereitstellen, dem Akteure Vertrauen schenken und mit dem sie sich identifizieren können.14 Im institutionenökonomischen Ansatz wird Vertrauen als eine implizite Vertragsbeziehung interpretiert: Der Vertrauensgeber begründet einen impliziten Vertrag mit dem Vertrauensnehmer und hofft, dass dieser sich vertrauenswürdig verhält.15 Misstrauen hingegen bezeichnet einen Zustand, in dem der Akteur mit opportunistischem Verhalten seines Interaktionspartners rechnet und Ressourcen in die Sicherung von Verträgen investieren muss. Unter institutioneller Stabilität verstehe ich einen Zustand sozialer Ordnung, in dem die subjektive Unsicherheit und das Misstrauen von Akteuren soweit verringert sind, dass keiner der beteiligten Akteure etwas am bestehenden institutionellen Arrangement verändern will. Die Ausübung von Macht spielt bei der Herstellung eines institutionellen Handlungsrahmens eine zentrale Rolle. Institutionen werden kommunikativ konstituiert. Akteure verfolgen in diesen Kommunikationsprozessen ihre eigenen Zielpräferenzen strategisch. Sie haben eine Vorstellung davon, wie die institutionelle Umwelt strukturiert sein soll und versuchen, die gegebene Umwelt entsprechend zu verändern. In Anlehnung an Gerhard Göhlers institutionentheoretischen Ansatz verstehe ich den Begriff Macht in einer transitiven und intransitiven Dimension.16 Die Ausübung von Macht bezeichnet einerseits eine 12 Gabler Wirtschaftslexikon, Wiesbaden 2004, S. 2833. 13 Douglass C. North, Understanding the Process of Economic Change, Princeton, Oxford 2005, S. 4; Siegenthaler, Regelvertrauen, Prosperität und Krisen, S. 182. 14 Dieser Ansatz geht auf den Anthropologen Arnold Gehlen zurück. Vgl. Gerhard Göhler, »Zusammenfassung und Folgerungen: die institutionelle Konfiguration«, in: Gerhard Göhler (Hg.), Institution – Macht – Repräsentation. Wofür politische Institutionen stehen und wie sie wirken, Baden-Baden 1997, S. 579–599, hier S. 580. 15 Tanja Ripperger, Ökonomik des Vertrauens. Analyse eines Organisationsprinzips (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 101), Tübingen 1998. 16 Gerhard Göhler, »Der Zusammenhang von Institution, Macht und Repräsentation«, in: Gerhard Göhler (Hg.), Institution – Macht – Repräsentation, S. 11–62, hier S. 38 ff. Göhlers Verständnis von transitiver Macht basiert auf Max Weber. Beim Begriff intransitive Macht lehnt er sich an Hannah Arendt an.

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transitive Willensdurchsetzung gegenüber dem Anderen. Mit dieser Dimension wird die Steuerungsleistung von Institutionen erfasst. Andererseits bezeichnet Macht einen Prozess des »Miteinander-Reden-und-Handeln«17 und hat eine orientierende Wirkung. Macht in diesem intransitiven Verständnis bezeichnet die Integrationsleistung von Institutionen, die zu einer gemeinsamen Identifikation von Akteuren innerhalb eines gemeinsamen institutionellen Handlungsrahmens führen kann.

Der Beginn des Sowjetgeschäfts von Siemens bis 1921 Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs war Siemens das größte und älteste elektrotechnische Unternehmen im Zarenreich.18 Bereits 1853 übernahm Carl Siemens aus der Gründergeneration die Leitung des Russlandgeschäfts.19 In den folgenden Jahrzenten konnte das Unternehmen umfangreiche und prestigereiche Aufträge ausführen. In den 1850er Jahren verlegte Siemens das russische Telegrafennetz. Auf der allrussischen Industrieausstellung von 1882 in Moskau stellte das Unternehmen die erste elektrische Straßenbahn im Zarenreich vor, die auch von Zar Alexander III. begeistert benutzt wurde. Fünf Jahre später stattete das Unternehmen den kaiserlichen Winterpalast mit elektrischem Licht aus. Carl Siemens wurde 1895 aufgrund seiner Verdienste um die russische Industrialisierung von Zar Nikolaus II. in den erblichen Adelsstand erhoben. Die ersten Kriegsjahre nach 1914 überstand das Unternehmen relativ unbeschadet.20 Die russischen Siemens-Gesellschaften konnten sogar erheblich von Rüstungsgeschäften profitieren. Doch infolge von Februar- und Oktoberrevolution verschlechterten sich die Rahmenbedingungen rapide. Das Enteignungsdekret der Bol’ševiki vom 28. Juni 1918 stellte schließlich alle Industrieunter17 Göhler, »Der Zusammenhang von Institution, Macht und Repräsentation«, S. 38. 18 Das Unternehmen wurde 1847 als Telegraphen-Bauanstalt von Siemens & Halske in Berlin gegründet. Seit 1903 war das Geschäft in die beiden Stammgesellschaften Siemens & Halske (die so genannte Schwachstromtechnik) und Siemens-Schuckertwerke (die so genannte Starkstromtechnik) gegliedert. Die russischen Tochtergesellschaften waren die Russischen Elektrotechnischen Werke Siemens & Halske sowie die Russische Aktiengesellschaft Siemens-Schuckert. Ich verwende im Folgenden die Bezeichnung Siemens. 19 Zur Unternehmensgeschichte in Russland vor 1914 vgl. Walther Kirchner, »Siemens and AEG and the Electrification of Russia, 1890–1914«, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 30 (1982), 3, S. 399–428; Walther Kirchner, »The Industrialization of Russia and the Siemens Firm 1853–1890«, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 22 (1974), 3, S. 321– 357. 20 Ausführlich: Lutz, Siemens im Sowjetgeschäft, S. 87 ff.

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nehmen unter staatliche Kontrolle. Die Geschichte von Siemens als eigenständiges Unternehmen in Russland fand damit ihren vorläufigen Abschluss. Erst Ende der 1990er Jahre wurde wieder eine russische Tochtergesellschaft gegründet. Die Oktoberrevolution markierte den Höhepunkt einer institutionellen Krise. Siemens verlor in ihr entschädigungslos die Kontrolle über eine seiner wichtigsten Auslandsgesellschaften.21 Gleichzeitig sahen sich die Bol’ševiki in den Jahren nach 1917 einem Überlebenskampf ausgesetzt. Weiße Armeen und alliierte Interventionstruppen brachten den sowjetischen Staat mehrfach an den Rand des Abgrunds. Als 1920 die machtpolitische Lage Sowjetrusslands weitgehend stabilisiert war, stieß die Forderung Lenins nach einer Beteiligung ausländischer Unternehmen am Aufbau der sowjetischen Wirtschaft daher auf große Skepsis. Eine Rückkehr kapitalistischer Ordnungsmuster in die sowjetische Wirtschaft sollte unter allen Umständen verhindert werden.22 Die mentalen Modelle der Führungskräfte von Siemens und der Bol’ševiki könnten unterschiedlicher kaum sein. Zwar gab es durchaus pragmatische wirtschaftliche Gründe, warum sich ein deutsches Elektrounternehmen in der Wirtschaftskrise nach dem Ersten Weltkrieg am Sowjetgeschäft beteiligen sollte. Aus politischen und wirtschaftsrationalen Gesichtspunkten schien es auch naheliegend, dass die Bol’ševiki sich einem Unternehmen aus dem Deutschen Reich – dem zweiten »Paria«23 im Versailler internationalen System – zuwandten. Doch in ihren ideologiegeprägten Zielpräferenzen bestanden grundsätzliche Unterschiede. Siemens erhoffte sich eine allmähliche Reprivatisierung der sowjetischen Industrie und eine Rückkehr zur vorrevolutionären Wirtschaftsordnung. Das Volkskommissariat für Außenhandel (Narodnyj Komissariat Vnešnej Torgovli, NKVT) verfolgte gegensätzliche Ziele.24 Im Rahmen des 21 Wilfried Feldenkirchen, Siemens 1918–1945, München 1995, S. 113. 22 Alexander Erlich, The Soviet Industrialization Debate, 1924–1928 (Russian Research Center Studies 41), Cambridge, Mass. 1960. 23 Aleksandr M. Nekrich, Pariahs, Partners, Predators. German-Soviet Relations 1922–1941, New York 1997. 24 Zur Organisation und den Zielen des sowjetischen Außenhandelsapparats vgl. Regine Heubaum, Das Volkskommissariat für Außenhandel und seine Nachfolgeorganisationen 1920– 1930. Der Außenhandel als zentrale Frage der sowjetischen Wirtschaftspolitik, Berlin 2001; V. A. Šiškin, »Meždu Real’nost’ju i Utopiej. Ideologija i vnešneėkonomičeskie Politika poslerevoljucionnoj Rossii«, in: Rossija i Sovremennyj Mir 20 (1998), 3, S. 36–46; John B. Quigley, The Soviet Foreign Trade Monopoly. Institutions and Laws, Columbus 1974; Hubert Schneider, Das sowjetische Außenhandelsmonopol 1920–1925 (Abhandlungen des Bundesinstituts für Ostwissenschaftliche und Internationale Studien 28), Köln 1973; KasparDietrich Freymuth, Ursprung und Grundlegung der sowjetischen Außenhandelsorganisation. (1917–1921) (Berichte des Osteuropa-Instituts an der Freien Universität Berlin 80), Berlin

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seit 1918 bestehenden Außenhandelsmonopols sollte vielmehr der Einfluss ausländischer Unternehmen auf die sowjetische Wirtschaft minimiert und streng überwacht werden. Die Entwicklung eines institutionellen Handlungsrahmens zwischen Siemens und dem NKVT musste daher große Gegensätze in den mentalen Modellen der beteiligten Akteure überwinden. Unter diesen schwierigen Voraussetzungen bot eine persönliche Vertrauensbeziehung zwischen zwei Akteuren einen wichtigen Anknüpfungspunkt. Der sowjetische Außenhandelskommissar L. B. Krasin hatte seit 1908 als Ingenieur für Siemens gearbeitet. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs übernahm er die Leitung der russischen Siemens-Niederlassung in Petrograd. Krasin erarbeitete sich dort durch seine umsichtige Führung große Anerkennung im Unternehmen.25 Sein früherer Vorgesetzter Hermann Görz schrieb Anfang 1918 in einem Bericht, der auch dem Auswärtigen Amt vorgelegt wurde: »Krasin kann, soweit ich ihn in den 10 Jahren kennen gelernt habe, geschäftlich und persönlich nur das allerbeste Zeugnis in jeder Beziehung ausgestellt werden.«26 Zwischen Görz und Krasin bestand seit ihrer gemeinsamen Tätigkeit für die russische Siemens-Tochter eine professionelle Vertrauensbeziehung, die Ersten Weltkrieg und Oktoberrevolution überlebte. Als sich die beiden in den Jahren 1918 bis 1921 mehrfach trafen und über die mögliche Zukunft des Sowjetgeschäfts von Siemens diskutierten, konnten sie auf dieses institutionalisierte Vertrauen zurückgreifen. Krasin war zwar Mitglied des Führungszirkels der Bol’ševiki und Vertrauter Lenins. In wirtschaftspolitischen Angelegenheiten blieb er aber pragmatisch. Krasin berichtete Görz über die großen Probleme beim Aufbau der sowjetischen Wirtschaft, die inneren Machtkämpfe in der Partei sowie den weiterhin unklaren wirtschaftspolitischen Kurs im Rahmen der Neuen Ökonomischen Politik. Auf Basis dieser Informationen konnte sich Görz ein fundiertes Gesamtbild über das Potential im Geschäft mit Sowjetruss1967. Aus der sowjetischen Literatur exemplarisch: K. P. Pavlov, Rol’ Gosudarstvennoj Monopolii Vnešnej Torgovli c Postroenii Socialisma v SSSR 1918–1937, Moskau 1960; V. A. Šiškin, V. I. Lenin i vnešne-ėkonomiceskaja Politika Sovetskogo Gosudarstva (191–-1923 gg.), Leningrad 1977. 25 Krasin wurde Leiter der Russischen Aktiengesellschaft Siemens-Schuckert. Zu Krasin vgl. exemplarisch: S. S. Chromov, Leonid Krasin. Neizvestnye Stranicy Biografii. 1920–1926 gg., Moskau 2001; Timothy E. O’Connor, The Engineer of Revolution. L. B. Krasin and the Bolsheviks. 1870–1926, Boulder 1992; William Perry Jr. Morse, Leonid Borisovich Krasin. Soviet Diplomat 1918_1926, Madison 1971; R. F. Karpova, L. B. Krasin. Sovetskij Diplomat, Moskau 1962. 26 SAA 6397, Hermann Görz, Bericht über das Treffen mit Krasin in Stockholm, Siemensstadt 18.2.1918. Vgl. ausführlich: Martin Lutz, »L. B. Krasin und Siemens. Deutsch-sowjetische Wirtschaftsbeziehungen im institutionenökonomischen Paradigma«, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 95 (2008), 4, S. 391–409.

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land machen. Eine Beteiligung an risikoreichen Investitionsgeschäften, wie beispielsweise an sowjetischen Konzessionen, lehnte Görz ab.27 Er befürwortete vielmehr den langsamen Aufbau einer verlässlichen institutionellen Basis im Sowjetgeschäft. Unter dem Einfluss von Görz beteiligte sich Siemens anfangs nur an reinen Liefergeschäften, mit denen keine weitergehenden vertraglichen Verpflichtungen verbunden waren. Damit reduzierte das Unternehmen den Interaktionsrahmen im Sowjetgeschäft auf ein Minimum. Siemens blieben damit Fehlschläge anderer deutscher Unternehmen zu Beginn der 1920er Jahre erspart, die sich wie Krupp und Stinnes an sowjetischen Konzessionen beteiligten. In vielen Fällen wurden diese Konzessionen nach unbefriedigenden Ergebnissen vorzeitig aufgelöst. In Abwesenheit eines formalen institutionellen Handlungsrahmens bot die Vertrauensbeziehung zwischen Görz und Krasin eine Anbindung an das vorrevolutionäre Russlandgeschäft. Sie schuf Verlässlichkeit. Görz setzte daher große Hoffnungen darin, gemeinsam mit Krasin das Sowjetgeschäft weiter zu entwickeln. Am 6. Mai 1921 wurde das erste deutsch-sowjetische Abkommen geschlossen, das die Eröffnung einer ständigen sowjetischen Handelsvertretung in Berlin ermöglichte. Einige Monate später gründete Siemens das Technische Büro Ost und übertrug ihm die Verantwortung für die weitere Entwicklung des Sowjetgeschäfts.28 Im Zuge des Rapallo-Vertrags vom April 1922 schienen sich die Aussichten für die deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen weiter zu verbessern.29 27 Mit dem Konzessionswesen versuchte der Außenhandelsapparat den schwierigen Spagat eines kontrollierten Zugangs ausländischer Unternehmen in der sowjetischen Wirtschaft, ohne dabei die eigenen Prinzipien der sozialistischen Planwirtschaft aufzuweichen. Eine Konzession beinhaltete das Recht eines Unternehmens, in der Sowjetunion tätig zu werden. Dies konnte zum Beispiel das Recht zum Rohstoffabbau umfassen. Für Industrieunternehmen war besonders der Erwerb von Konzessionen zum Betrieb eigener Fabriken interessant. Bezeichnenderweise wurde das Konzessionswesen auch von zwei sowjetischen Mitarbeitern des Außenhandelsapparats als ein »Fremdkörper im Sowjet-Organismus« bezeichnet. A. Goldstein u. A. Ju. Rapoport, Das Sowjet-Wirtschaftsrecht im Geschäftsverkehr mit dem Auslande. II. Heft, Berlin 1931, S. 40. Zur Konzessionspolitik siehe: Werner Beitel u. Jürgen Nötzold, Technologietransfer und wirtschaftliche Entwicklung. Zur Konzeption der Sowjetunion in der Zeit der Neuen Ökonomischen Politik und des Ersten Fünfjahrplanes (Berichte des Osteuropa-Instituts an der Freien Universität Berlin 120), Berlin 1979. 28 SAA 10756, Ernst Eue, Chronik des TB Ost, Berlin 1944. 29 Zu den deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen exemplarisch: Werner Beitel u. Jürgen Nötzold, Deutsch-sowjetische Wirtschaftsbeziehungen in der Zeit der Weimarer Republik: Eine Bilanz im Hinblick auf gegenwärtige Probleme (Internationale Politik und Sicherheit 3), Baden-Baden 1979; R. P. Morgan, »The Political Significance of German-Soviet Trade Negotiations«, 1922–5, in: The Historical Journal 6 (1963), 2, S. 253–271. Zu Rapallo exemplarisch: Eva Ingeborg Fleischhauer, »Rathenau in Rapallo. Eine notwendige

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Nicht absehbar war für Görz allerdings, das Krasin bald keinen Einfluss mehr auf die sowjetische Außenwirtschaftspolitik nehmen konnte. Bereits 1922 musste er eine empfindliche Niederlage im innerparteilichen Richtungskampf um die Konzessionspolitik hinnehmen.30 Nach Lenins Tod geriet Krasin vollends ins politische Abseits und wurde bei der Neuordnung des Außenhandelskommissariats 1925 nicht mehr als dessen Leiter berücksichtigt. Ein Jahr später starb er nach schwerer Krankheit in London.

Der Boykott von 1923 Seit 1921 entwickelte sich die sowjetische Handelsvertretung in Berlin zur zentralen Koordinationsstelle des NKVT für das Geschäft mit deutschen Unternehmen. Der Leiter der Handelsvertretung, B. S. Stomonjakov, hatte zwar vor der Oktoberrevolution ebenfalls für Siemens gearbeitet.31 Eine mit Krasin vergleichbare persönliche Bindung an das Unternehmen ist für ihn allerdings nicht festzustellen. Stomonjakov ging vielmehr daran, den bislang weitgehend informellen Charakter des sowjetischen Außenhandels im Deutschen Reich auf eine formale bürokratische Grundlage zu stellen. Bereits ein Jahr nach Gründung der Handelsvertretung kam es zu ersten Konflikten mit Siemens. Seit Sommer 1922 stand Siemens in Verhandlungen mit der Moskauer Organisation Glavėlektro.32 Darin ging es um die Beteiligung des Unternehmens an einer gemeinsamen Konzessionsgesellschaft, die die künftigen elektrotechnischen Bestellungen bei deutschen Unternehmen ausführen sollte. Nach anfänglich positiven Ergebnissen gerieten die Gespräche plötzlich ins Stocken. Robert Melchers, dem Unterhändler von Siemens, wurde im Herbst zunächst ohne Angabe von Gründen eine Reise nach Moskau verKorrektur des Forschungsstandes«, in:  Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 54 (2006), 3, S.  365–415; Horst Linke, »Der Weg nach Rapallo. Strategie und Taktik der deutschen und sowjetischen Außenpolitik«, in: Historische Zeitschrift 264 (1997), S. 55–109; Horst Linke, Deutsch-sowjetische Beziehungen bis Rapallo (Abhandlungen des Bundesinstituts für Ostwissenschaftliche und Internationale Studien 22), Köln 1970. 30 Es handelte sich um einen Konzessionsantrag des britischen Unternehmers Leslie Urquhart. Krasin unterstützte den Antrag. Er wurde jedoch in einem innerparteilichen Machtkampf überstimmt. O’Connor, The Engineer of Revolution, S. 271 ff. 31 V. V. Sokolov, »Na Postu Zamestitelja Narkoma Innostrannyx Del SSSR. O Žizni i Dejatel’nosti B. S. Stomonjakova«, in: Novaja i Novejšaja Istorija (1988), 5, S. 111–126. 32 Glavėlektro war die Hauptelektroverwaltung am Obersten Volkswirtschaftsrat. Ihre Zuständigkeit umfasste die Verwaltung der Elektroindustrie und die Elektrizitätsversorgung. Zwischenzeitlich war Trockij im Führungsgremium von Glavėlektro vertreten. Vgl. Coopersmith, The Electrification of Russia, S. 126 ff.

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weigert. Erst auf Nachfrage teilte Stomonjakov mit, er habe von geheimen Gesprächen von Siemens mit russischen Emigranten erfahren und zweifle an der »Loyalität«33 des Unternehmens im Geschäft mit dem sowjetischen Staat. In der Tat pflegte Görz Kontakte zu ehemaligen russischen Geschäftsfreunden. Auf seine Initiative hin trat Siemens beispielsweise 1921 in den »Verband Russischer Großkaufleute, Industrieller und Financiers e. V.« ein, der die Interessen emigrierter russischer Geschäftsleute koordinierte. 34 Stomonjakov erzürnte sich über diese »Doppelpolitik«35 von Siemens und drohte mit dem Entzug aller Aufträge, falls das Unternehmen keine »absolut loyale Politik«36 gegenüber der sowjetischen Handelsvertretung betreiben würde. In einer internen Mitteilung nach Moskau wurden besonders Görz und ein weiterer Siemens-Mitarbeiter als »Feinde des sowjetischen Russlands«37 bezeichnet. Man warf ihnen vor, eine »Strömung im Konzern Siemens zu unterstützen, die sich gegen eine Konzessionstätigkeit in Russland und für eine Politik des Abwartens bezüglich der sowjetischen Regierung ausspricht, und sich auf die Annahme von Aufträgen gegen Barzahlung von unserer Handelsvertretung in Berlin beschränkt«38. Im Frühjahr 1923 kam Stomonjakov zu Ohren, dass Siemens entgegen aller Versprechungen den Kontakt zu russischen Emigranten nicht abgebrochen hatte. Nach Rücksprache mit Moskau setzte Stomonjakov daher alle weiteren Aufträge an Siemens aus und erklärte im August einen Geschäftsboykott gegen das Unternehmen. Nur die bereits abgeschlossenen Lieferverträge blieben davon unberührt. Die Kommunikation mit Siemens reduzierte Stomonjakov auf ein Minimum.

33 Der Meinungsaustausch zwischen Stomonjakov und Melchers ist hervorragend von Žuravlev dokumentiert: S. V. Žuravlev, »Biznes c Bol’ševikami: Firma »Simens« v Bor’be za Vychod na sovetskij Rynok v 1920-e gg.«, in: The Soviet and Post-Soviet Review 33 (2006), 2–3, S. 115–152, hier S. 36. Žuravlev bezieht sich dabei auf Akten aus dem RGAĖ sowie dem Russischen Staatsarchiv für Sozialpolitische Geschichte (Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Social’no-Političeskoj Istorii, RGASPI). 34 SAA 6877, Hermann Görz, Brief an Generalsekretariat wegen Austritt aus dem Verband russischer Großkaufleute, Siemensstadt 5.2.1923. 35 SAA 4 Lf 685, Robert Melchers, Bericht über die Maßnahmen, die ergriffen werden müssen um einen Zusammenbruch unseres russischen Wiederaufbausgeschäftes zu verhindern, Siemensstadt 19.12.1922, S. 6. 36 Žuravlev, »Biznes c Bol’ševikami«, S. 36. 37 RGAĖ f. 413, op. 2, d. 1663, l. 606–607, Berliner Handelsvertretung, Brief an A. C. Gol’cman, Moskau 27.1.1923. 38 RGAĖ f. 413, op. 2, d. 1663, l. 606–607, Berliner Handelsvertretung, Brief an A. C. Gol’cman, Moskau 27.1.1923.

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In institutionentheoretischer Perspektive interpretiere ich diesen Konflikt zwischen Siemens und der Sowjetunion als einen Machtkampf um die Spielregeln ökonomischer Interaktion. Unter dem Einfluss von Görz verfolgte das Unternehmen seit 1918 eine Strategie, die sich auf den persönlichen Kontakt mit Krasin fokussierte und damit eine Anbindung an das vorrevolutionäre Russlandgeschäft anstrebte. Mit der zunehmenden Zentralisierung und Bürokratisierung des sowjetischen Außenhandelsapparats zu Beginn der 1920er Jahre war diese Strategie nicht vereinbar. Übergeordnetes Ziel des Außenhandelsapparats war es vielmehr, die Kompetenz ausländischer Unternehmen für den Aufbau der sowjetischen Industrie zu nutzen und gleichzeitig eine Wiedereinführung kapitalistischer Wirtschaftsprinzipien in Sowjetrussland unter allen Umständen zu verhindern. Informelle persönliche Beziehungen oder gar ein direkter Kontakt zwischen ausländischen Unternehmen und sowjetischen Betrieben sollten unbedingt verhindert werden. Ökonomische Effizienz war ideologischen Zielen untergeordnet. Stomonjakovs übergeordnetes Ziel bestand vielmehr darin, die Autorität der Handelsvertretung als alleinige Repräsentanz des Außenhandelsapparats im Deutschen Reich fest zu verankern. Seine Forderung an Siemens nach einer »loyalen Haltung gegenüber der Sowjet-Regierung«39 verkörperte den Anspruch der erstarkten Sowjetmacht an die ausländischen Unternehmen, sich dem institutionellen Rahmen des sowjetischen Außenhandelsmonopols zu unterwerfen. Die Ausübung transitiver Macht spielte dabei eine zentrale Rolle. Im April 1923 schrieb Stomonjakov an Krasin: »Ich würde es für notwendig halten, Druck auf Siemens auszuüben, damit das Unternehmen seine Politik in der von uns gewünschten Richtung festlegt, und erst dann mit ihnen die von uns benötigten Verträge abschließen.«40 Der Boykott des Jahres 1923 verdeutlicht exemplarisch die grundsätzlichen Differenzen zwischen Siemens und dem sowjetischen Außenhandelsapparat. Die rudimentären institutionellen Strukturen, die seit 1918 mühsam etabliert worden waren, versagten in diesem Konflikt. Görz’ Vertrauensbeziehung zu Krasin konnte keine stabilisierende Wirkung mehr entfalten. Auch der Aufsichtsratsvorsitzende Carl Friedrich von Siemens, der sich im Verlauf des Boykotts mehrfach um eine Annäherung bemühte, konnte nichts erreichen. Vielmehr zeigen seine Briefwechsel mit Stomonjakov die enormen Verständigungsprobleme in der Kommunikation auf. Der sowjetische Handelsvertreter und der Vorstandsvorsitzende von Siemens verkörperten grundsätzlich unterschiedliche wirtschaftspolitische Weltanschauungen. Als Carl 39 SAA 4 Lf 685, B. S. Stomonjakov, Brief an Carl Friedrich von Siemens, Berlin 10.11.1923. 40 RGAĖ f. 413, op. 2, d. 1663, l. 282–287, B. S. Stomonjakov, Brief an Krasin,

Berlin 14.4.1923.

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Friedrich von Siemens beispielsweise an eine »normale menschliche Auffassung«41 in geschäftlichen Dingen appellierte, durfte er kaum Verständnis erwarten. Stomonjakov verfolgte ideologische Zielpräferenzen auf der motivationalen Ebene, die mit Carl Friedrichs Vorstellungen nicht vereinbar waren. Eine Stabilisierung des Sowjetgeschäfts war in Anbetracht dieser grundsätzlichen Unterschiede nicht möglich. Der unmittelbare Erfolg in dem Konflikt lag auf Stomonjakovs Seite. Siemens brach den Kontakt zu den russischen Exilantenorganisationen ab und zeigte sich darum bemüht, mit der Handelsvertretung wieder ins Geschäft zu kommen. Im März 1924 schrieb der Vorstandsvorsitzende von Siemens & Halske Adolf Franke an Stomonjakov: Es ist ein Grundsatz der im Siemens-Konzern vereinigten Firmen, sich als rein wirtschaftliche Unternehmen zu betrachten und politische Angelegenheiten nicht in den Bereich ihrer Tätigkeiten zu ziehen. Es ist daher auch seitens der Leitung der Firmen denjenigen Kreisen, welche die Veränderung der politischen Verhältnisse in Rußland anstreben, keinerlei Unterstützung solcher Bestrebungen zugesagt oder in Aussicht gestellt, noch viel weniger Abmachungen schriftlicher oder mündlicher Art getroffen, welche die Firmen in diesem Sinne verpflichten würden. Es ist Vorsorge getroffen, daß dies auch in Zukunft nicht geschieht und nach Möglichkeit alles vermieden wird, was zu Mißverständnissen in dieser Richtung Veranlassung geben könnte.42

Stomonjakovs aggressives Vorgehen war erfolgreich darin, einen aus sowjetischer Sicht günstigen institutionellen Handlungsrahmen zu etablieren. Das Geschäft mit Siemens wurde in den folgenden Jahren anhand der bürokratischen Regeln abgewickelt, die das NKVT auf Basis ideologischer Vorgaben im Rahmen des Außenhandelsmonopols etablierte. Ökonomische Ineffizienzen nahm das NKVT dabei in Kauf, um eine Restitution kapitalistischer Ordnungsvorstellungen in der sowjetischen Wirtschaft zu verhindern. Beispielsweise blieb ein direkter Kontakt zwischen Unternehmen und sowjetischen Abnehmern untersagt.43 Die kommunikative Schaltstelle im Außenhandel mit dem Deutschen Reich war die Berliner Handelsvertretung, was die Abwicklung von Lieferaufträgen stark erschwerte. 41 SAA 4 Lf 685, Carl Friedrich von Siemens, Brief an Stomonjakov, Siemensstadt

20.12.1923, S. 1 f. Vgl. den mehrere Briefe umfassenden Briefwechsel zwischen Carl Friedrich von Siemens und B. S. Stomonjakov Ende des Jahres 1923 in: SAA 4 Lf 685.

42 SAA 4 Lf 685, Adolf Franke, Brief an Stomonjakov, Siemensstadt 6.3.1924, S. 2 f. 43 Quigley, The Soviet Foreign Trade Monopoly, S. 47; Glen Alden Smith, Soviet Foreign Trade. Organization Operations and Policy; 1918–1971, New York 1973, S. 49.

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Allerdings hatte die Ausübung transitiver Macht gegen Siemens auch negative Auswirkungen. Wie Carl Friedrich von Siemens an Stomonjakov schrieb, ließ sich durch ein solches Vorgehen kein »vertrauensvolles geschäftliches Zusammenarbeiten«44 herstellen. Das sowjetische Außenhandelsmonopol erfüllte zwar seine institutionelle Steuerungsfunktion aus sowjetischer Sicht. Einen integrierenden Orientierungsrahmen bot es allerdings nicht. Dies hatte schwerwiegende Folgen für die weitere Entwicklung des Sowjetgeschäfts von Siemens.

Die Prozesse von Mologa und Sˇachty Anfang 1924 hob die Handelsvertretung den Boykott gegen Siemens auf. Die Beziehungen normalisierten sich dann rasch. Im Geschäftsjahr 1924/25 erzielte Siemens den bislang höchsten Umsatz im Sowjetgeschäft. Gemessen am Gesamtumsatz des Unternehmens blieb das Auftragsvolumen jedoch weiter auf einem sehr niedrigen Stand. Auch nach einer weiteren Umsatzsteigerung im Geschäftsjahr 1925/26 machte das Sowjetgeschäft nur 0,4 Prozent am Gesamtumsatz von Siemens aus.45 Für die sowjetische Handelsvertretung und das Technische Büro Ost war diese Entwicklung überaus unbefriedigend. Kernproblem des langsamen Wachstums war das unzureichende Finanzierungspotential der Sowjetunion. Der Aufbau der sowjetischen Wirtschaft erforderte zwar den umfangreichen Import von Investitionsgütern und technische Hilfe aus dem Ausland. Doch die Zahlungsfähigkeit des sowjetischen Staates war äußerst begrenzt. Seit den frühen 1920er Jahren versuchte das NKVT daher, im Ausland für langfristige und kreditfinanzierte Liefervereinbarungen zu werben. In der Kreditfrage konnte der Außenhandelsapparat allerdings kaum Fortschritte erzielen. Ein ursprünglich geplantes gesamteuropäisches Konsortium für den sowjetrussischen Wirtschaftsaufbau scheiterte am deutsch-sowjetischen Alleingang in Rapallo.46 Im folgenden Jahr war die Unterstützung der Bol’ševiki für die kommunistischen Aufstände in Thüringen und Sachsen alles andere als angetan, ihre Kreditwürdigkeit zu steigern. Eine ausreichende Sicherheit für langfristige Kreditverträge schien aus Sicht deutscher Banken und Unternehmen nicht gegeben.47 44 SAA 4 Lf 685, Carl Friedrich von Siemens, Brief an Stomonjakov, Siemensstadt 20.12.1923, S. 7. 45 Vgl. die Übersicht in: SAA 10756, Ernst Eue, Chronik des TB Ost, Berlin 1944, S. 20. 46 Peter Krüger, Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 1985, S. 152 ff. 47 Zur sowjetischen Unterstützung der Aufstände vgl. Klaus Hildebrand, Das Deutsche Reich und die Sowjetunion im internationalen System 1918–1932. Legitimität oder Revolution? (Frankfurter Historische Vorträge 4), Wiesbaden 1977, S. 29.

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Eine Abhilfe brachte erst die Intervention der Reichsregierung, die aus politischen Gründen einen Ausbau der deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen anstrebte.48 Das Reich und die Länder übernahmen im Februar 1926 eine Ausfallbürgschaft für Liefergeschäfte mit der Sowjetunion in Höhe von 70 Prozent bis zu einem Betrag von 300 Millionen Reichsmark.49 Infolgedessen stieg das Sowjetgeschäft von Siemens sprunghaft an. Im Geschäftsjahr 1926/27 verzehnfachte sich der Umsatz auf 32 Millionen Reichsmark. Siemens beteiligte sich allerdings weiterhin nur sehr vorsichtig an allen Projekten, die außerhalb der Ausfallbürgschaften ein risikoreiches und langfristiges Engagement in der Sowjetunion erfordert hätten. Einzige Ausnahme ist die Beteiligung des Unternehmens an einer deutschen Konzessionsgesellschaft, die an der nördlichen Wolga das Recht für den Holzeinschlag und die Verarbeitung erworben hatte.50 An der 1923 gegründeten Mologa-Gesellschaft (russisch: Mologoles) beteiligte sich die Tochter SiemensBauunion mit drei Prozent. Das Kapital brachte sie durch Sachlieferungen für den Bau einer Eisenbahnlinie ein. Aufsichtsratsvorsitzender der Gesellschaft war der ehemalige Reichskanzler Joseph Wirth. Der Aufbau des Konzessionsgeschäfts von Mologa zog sich mehrere Jahre hin. Erst 1927 waren die Investitionen weitgehend abgeschlossen und ein regelmäßiger Geschäftsbetrieb möglich. Völlig überraschend geriet die Konzessionsgesellschaft dann aber in ernste Schwierigkeiten, als die Geheimpolizei 1927 mehrere sowjetische Mitarbeiter der Mologa verhaftete und in einem der ersten sowjetischen Schauprozesse wegen angeblicher Bestechung anklagte.51 Mehrere der Angeklagten wurden zum Tode verurteilt. Unter diesen Umständen war der weitere Betrieb von Mologa aus Sicht der deutschen Investoren nicht mehr aufrechtzuerhalten. Im April 48 Zur Ostpolitik Stresemanns vgl. Martin Walsdorff, Westorientierung und Ostpolitik. Stresemanns Rußlandpolitik in der Locarno-Ära, Bremen 1971. 49 Bei Ausfallbürgschaften haftet der Bürge, wenn der Gläubiger die Forderungen nicht begleichen kann. Siehe: Manfred Pohl, Die Finanzierung der Russengeschäfte zwischen den beiden Weltkriegen. Die Entwicklung der 12 großen Rußlandkonsortien (Beiheft der Tradition 9), Frankfurt am Main,1975, S. 16 ff. 50 Der Konzessionsvertrag ist abgedruckt in: G. H. Sevost’janov (Hg.), Duch Rapallo. Sovetskogermanskie Otnošenija 1925–1933, Ekaterinburg, Moskau 1997, S. 17 f. Siehe ebenfalls die Unterlagen in: SAA 11 Lf 330. Aus der Forschungsliteratur zur Mologa-Gesellschaft vgl. Ulrike Hörster-Philipps, Joseph Wirth 1879–1956. Eine politische Biographie (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B: Forschungen 82), Paderborn 1998, S. 285 ff.; Günter Rosenfeld, Sowjetunion und Deutschland 1922–1933, Berlin (Ost) 1984, S. 87 f. 51 Nekrich, Pariahs, Partners, Predators, S. 13. Zum Vorgehen der OGPU in Mologa vgl. auch: A. M. Plechanov, VČK-OGPU. V Gody novoj ėkonomičeskoj Politiki 1921–1928, Moskau 2006, S. 446.

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1927 willigte der Aufsichtsrat in die Auflösung der Konzession ein. Mologa wurde in einen sowjetischen Betrieb umgewandelt. Nach Anthony Sutton, der in einer umfangreichen empirischen Studie die Entwicklung von Konzessionsgesellschaften in der Sowjetunion untersuchte, war dieses Vorgehen gegenüber ausländischen Investoren typisch: »The accusation of bribery was a characteristic move to force expulsion of the concession as soon as production was organized and sufficient equipment introduced into the concession.«52 Siemens hielt nur drei Prozent der Anteile an Mologa. Der finanzielle Schaden für das Unternehmen war daher gering. Das sowjetische Vorgehen verdeutlichte Siemens jedoch in aller Deutlichkeit die Unwägbarkeiten, denen ausländische Unternehmen im Sowjetgeschäft ausgesetzt waren. Wie im Boykott von 1923 übte die Sowjetunion transitive Macht aus, um eigene Interessen durchzusetzen. Auch im Prozess von Mologa konnte sie dabei ihre Ziele scheinbar erreichen: Die ausländischen Anteilseigner zogen sich aus der Konzession zurück und die getätigten Investitionen konnten günstig übernommen werden. Ein Jahr nach dem Mologa-Vorfall geriet auch die AEG (Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft, der größte deutsche Konkurrent von Siemens) in eine ähnliche Situation. Im März 1928 wurden einige Ingenieure des Unternehmens im Donbass verhaftet und antisowjetischer Agitation beschuldigt. Im folgenden Šachty-Prozess erhielt einer der Ingenieure eine einjährige Gefängnisstrafe.53 Überdies wurde der Leiter der russischen Abteilung der AEG, Joseph Bleimann, beschuldigt, eine konterrevolutionäre Bewegung in der Sowjetunion zu unterstützen. Gegen die AEG führte der Außenhandelsapparat einen sechsmonatigen Geschäftsboykott durch. Erst nach unterwürfigen Beschwichtigungen des Unternehmens wurden wieder neue Aufträge an die AEG vergeben.54 In Anbetracht dieser Vorfälle ließ sich eine langfristige vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem sowjetischen Außenhandelsapparat nicht herstellen. Bei Siemens und anderen Unternehmen verstärkte sich vielmehr durch die Prozesse von Mologa und Šachty das Misstrauen gegenüber dem sowjetischen Staat. Nach Ausschöpfung der Ausfallbürgschaften im Rahmen des 300-Millionen-Kredits fiel der Umsatz des Technischen Büros Ost daher wieder stark 52 Antony C. Sutton, Western Technology and Soviet Economic Development 1917 to 1930, Stanford 1968, S. 156. 53 Oleg Kashirskikh, Die deutsch-sowjetischen Handelsbeziehungen in den Jahren 1925–1932. Deutschlands Rolle im außenwirtschaftlichen Integrationsbestreben der Sowjetunion (Europäische Hochschulschriften Reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 1032), Frankfurt am Main, Berlin u. a., 2006, S. 82 ff; Kurt Rosenbaum, »The German Involvement in the Shakhty Trial«, in: Russian Review 21 (1962), 3, S. 238–260. 54 RGAĖ f. 8340, op. 1, d. 40, l. 20–28, Josef Fen’kėvi, Aktennotiz über die Besprechung zwischen Roos und Fen’kėvi am 2.7.1928, Berlin 3.7.1928.

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ab.55 Das Sowjetgeschäft von Siemens trug sich nicht selbst, sondern war in hohem Maß von staatlichen Förderungsmaßnahmen abhängig. Die Ausfallbürgschaft des Jahres 1926 war kein Zeichen verbesserter deutsch-sowjetischer Wirtschaftsbeziehungen, sondern Ausdruck großen Misstrauens und wahrgenommener Unsicherheit.56

Verhandlungsmacht in der Weltwirtschaftskrise Der oft beschworene »Geist von Rapallo« hatte sich in den Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion nicht bewährt. Der Prozess von Šachty verschlechterte die ohnehin schon pessimistische Stimmung unter den deutschen Unternehmen weiter. Von der »Schicksalsgemeinschaft«57 zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion war nicht viel übrig geblieben. Das Jahr 1928 entwickelte sich vielmehr zu einem Krisenjahr in den deutschsowjetischen Beziehungen: »Vor aller Welt wurde demonstriert, daß von einem deutsch-sowjetischen Sonderverhältnis keine Rede mehr sein konnte.«58 Der Auftragseingang des Technischen Büros Ost brach im Geschäftsjahr 1927/28 auf weniger als ein Viertel im Vergleich zum Vorjahr ein. Die am Sowjetgeschäft interessierten Unternehmen hatten bereits seit den frühen 1920er Jahren immer wieder heftige Kritik am sowjetischen Außenhandel geübt. Das Monopol des NKVT – 1925 in Narodnyj Komissariat Torgovli (NKTORG oder Narkomtorg) umbenannt – stieß auf vollkommenes Unverständnis.59 Auch die umständlichen bürokratischen Abläufe sowie die Zentrali55 SAA 10756, Ernst Eue, Chronik des TB Ost, Berlin 1944, S. 20. 56 SAA 4200, Hermann Reyß, Notiz betreffend Finanzlage Russlands, Siemensstadt 8.4.1927. Vgl. dazu auch: Ingmar Sütterlin, Die »Russische Abteilung« des Auswärtigen Amtes in der Weimarer Republik (Historische Forschungen 51), Berlin 1994, S. 216 ff; Hans-Jürgen Perrey, Der Rußlandausschuß der Deutschen Wirtschaft. Die deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen der Zwischenkriegszeit. Ein Beitrag zur Geschichte des Ost-West-Handels (Studien zur modernen Geschichte 31), München 1985, S. 128 ff. 57 Der Begriff geht auf Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau zurück: Theodor Schieder, Die Probleme des Rapallo-Vertrags. Eine Studie über die deutsch-russischen Beziehungen 1922–1926 (Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Geisteswissenschaften 43), Köln 1956, S. 56. Zu Brockdorff-Rantzau vgl. Christiane Scheidemann, Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau (1869–1928). Eine politische Biographie, Frankfurt am Main, New York 1998. 58 Sütterlin, Die »Russische Abteilung« des Auswärtigen Amtes, S. 216. 59 Vgl.: SAA 4 Lf 665, Reichsverband der Deutschen Industrie, Brief an Carl Friedrich von Siemens, im Anhang Bericht über die Besprechung am 14.10.1924 im Auswärtigen Amt über das Rapallo-Abkommen, Berlin 18.10.1924. In der Besprechung sprach sich bei-

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sierung an der Berliner Handelsvertretung wurden bemängelt. Die anfängliche Hoffnung auf eine langsame Öffnung des Außenhandelsmonopols war spätestens zur Mitte der 1920er Jahre endgültig verflogen. Im Zuge der umfangreichen Bestellungen im Rahmen des 300-Millionen-Kredits kam vielmehr ein breiter Kreis deutscher Unternehmen mit den vielen Unwägbarkeiten im Umgang mit dem Narkomtorg in unmittelbare Berührung. Die Frustration erreichte schließlich zum zehnjährigen Jubiläum des Außenhandelsmonopols 1928 ihren Höhepunkt. Sie führte zur Gründung einer gemeinsamen Interessenvertretung der am Sowjetgeschäft interessierten Unternehmen unter dem Dach des Reichsverbands der Deutschen Industrie. Die Gründung des Russlandausschusses der Deutschen Wirtschaft am 4. September 1928 war eine »Negativreaktion der deutschen Wirtschaft auf die nach wie vor als Misstände empfundenen Hemmnisse und Schwierigkeiten«60 im Sowjetgeschäft. Das Hauptziel des Russlandausschusses war es, die Arbeitsbedingungen der Unternehmen im Sowjetgeschäft zu verbessern. Siemens beteiligte sich von Beginn an maßgeblich an der Gründung und am Aufbau des Russlandausschusses. Mehrere Vertreter des Unternehmens waren in den Unterausschüssen vertreten. Carl Köttgen und Georg Kandler repräsentierten beispielsweise Siemens in den Kommissionen für allgemeine Geschäftsabkommen und Lieferbedingungen, in denen vertragliche Standards für sowjetische Aufträge ausgearbeitet werden sollten. 1933 wurde Hermann Reyß von den Siemens-Schuckertwerken einstimmig zum Vorsitzenden des Russlandausschusses gewählt.61 Der Russlandausschuss schlug von Beginn an einen kritischen Ton gegenüber der sowjetischen Außenhandelspolitik an. Im Zuge der einsetzenden Weltwirtschaftskrise erhöhte sich allerdings der Druck auf die Unternehmen, den Geschäftseinbruch zumindest ansatzweise durch den Export zu kompensieren. Allein zwischen 1928 und 1931 sank beispielsweise der Gesamtumsatz bei Siemens um mehr als 50 Prozent. Gleichzeitig begann die Sowjetunion 1928 mit der Durchführung des ersten Fünfjahrplans, der in hohem Maß auf dem Import industrieller Investitionsgüter aus dem Ausland basierte.62 Die sowjetische Imspielsweise Carl Friedrich von Siemens für eine »Durchlöcherung« des sowjetischen Außenhandelsmonopols aus. 60 Perrey, Rußlandausschuß der Deutschen Wirtschaft, S. 64. 61 SAA 11 Lf 292, Wirtschaftspolitische Abteilung, Mitteilung an Köttgen, Auszug aus dem Ost-Express Nr. 29 vom 26. Juli, Siemensstadt 27.7.1933. 62 Naum Jasny, Soviet Industrialization 1928–1952, Chicago, 1961. Zur Bedeutung des Außenhandels für die sowjetischen Fünfjahrpläne vgl. die hervorragende Analyse von Michael R. Dohan, »Foreign Trade and Soviet Investment Strategy for Planned Inustrialization 1928–1938«, in: Robert W. Davies (Hg.), Soviet Investment for Planned Industrialisation, 1929–1937. Policy and Practice, Berkeley 1984, S. 107–135; Michael R. Dohan, »The Eco-

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portpolitik konnte daher die Folgen der Weltwirtschaftskrise im Deutschen Reich potentiell mildern. Auf Seiten vieler Unternehmen bestanden jedoch weiterhin erhebliche Vorbehalte gegenüber dem Außenhandelsapparat, die auf den Erfahrungen der vergangenen Jahre beruhten. Sie wurden verstärkt durch den waghalsigen sowjetischen Transformationsprozess im Zuge von Industrialisierung und Kollektivierung. Das ohnehin schon vorhandene Misstrauen in die wirtschaftspolitische Kompetenz der Bol’ševiki erhielt dadurch neue Nahrung.63 Angesichts der hohen wahrgenommenen Unsicherheit wurde der »Ruf nach dem Staat«64 wieder laut, das Sowjetgeschäft der deutschen Unternehmen finanziell abzusichern. Reichskanzler Brüning verfolgte jedoch eine Politik der Haushaltskonsolidierung. Einen finanziellen Spielraum zur Exportförderung im Sowjetgeschäft wollte er nicht freigeben. Als die Folgen der Wirtschaftskrise immer drückender wurden, organisierte der Russlandausschuss daher auf eigene Initiative eine Reise nach Moskau, um Möglichkeiten für eine Ausweitung der sowjetischen Bestelltätigkeit im Deutschen Reich zu sondieren. Carl Köttgen vertrat Siemens auf dieser Reise, die eine Gruppe von 17 Industriellen am 26. Februar 1931 unternahm. Es begannen gleich nach Ankunft in Moskau langwierige Verhandlungen mit dem Leiter des Obersten Volkswirtschaftsrats G. K. Ordžonikidze. In seiner Empfangsrede am 28. Februar stellte Ordžonikidze die sowjetische Position klar.65 Er wollte einerseits den Bestellumfang im Deutschen Reich stark ausweiten und schlug dazu ein mehrjähriges Rahmenlieferungsabkommen vor. Andererseits forderte Ordžonikidze von den Unternehmen ein erhebliches Entgegenkommen in Fragen der Kreditbedingungen. Dies rief auf Seiten der Industriellen erhebliche Skepsis hervor, da langfristige Kreditlaufzeiten das Ausfallrisiko erheblich erhöht hätten. Es schälte sich bald ein engerer Kern von neun Unterhändlern heraus, der die weiteren Verhandlungen führte. Köttgen war Teil der deutschen Gruppe. Durch seine Aufzeichnungen lässt sich ein anschauliches Bild über die großen nomic Origins of Soviet Autarky 1927/28–1934,« in: Slavic Review 35 (1976), 4, S. 603– 635. 63 Harold James, The Reichsbank and Public Finance in Germany 1924–1933. A Study of the Politics of Economics During the Great Depression (Schriftenreihe des Instituts für Bankhistorische Forschung 5), Frankfurt am Main 1985, S. 308; Rolf-Dieter Müller, Das Tor zur Weltmacht. Die Bedeutung der Sowjetunion für die deutsche Wirtschafts- und Rüstungspolitik zwischen den Weltkriegen (Wehrwissenschaftliche Forschungen 32), Boppard am Rhein 1984, S. 200 f. 64 Perrey, Rußlandausschuß der Deutschen Wirtschaft, S. 66. 65 SAA 11 Lf 292, Reichsverband der Deutschen Industrie, Begrüßungsansprache von Ordžonikidze, Moskau 28.2.1931. Vgl. die weiteren Unterlagen über die Reise in die Sowjetunion im Nachlass Carl Köttgens in: SAA 11 Lf 292.

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Schwierigkeiten gewinnen, ein für beide Seiten zufriedenstellendes Ergebnis zu finden. Die sowjetische Seite forderte weitergehende Zusagen in Fragen der Kreditfinanzierung, zu denen die deutschen Vertreter nicht bereit waren. Ein Kompromiss konnte bis zur Abreise der deutschen Delegation am 9. März 1931 nicht erzielt werden. Man verständigte sich allerdings auf die Absicht, die Verhandlungen weiter fortzusetzen.66 Nach der Rückkehr der deutschen Delegation suchte der Russlandausschuss mit der Reichsregierung nach Lösungen, um doch noch zu einem Abschluss zu kommen.67 Dem Ausschuss schwebte ein umfassendes Rahmenabkommen vor, das wie 1926/27 durch staatliche Ausfallbürgschaften finanziell abgesichert sein sollte. Angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen Lage und der hohen Arbeitslosigkeit gab das Kabinett Brüning schließlich seine Zustimmung. Das Reich und die Länder übernahmen eine Ausfallbürgschaft in Höhe von 70 Prozent für sowjetische Aufträge im Umfang von 300 Millionen Reichsmark.68 Carl Köttgen war einer der Unterzeichner des ersten so genannten PjatakovAbkommens von 14. April 1931. Das Abkommen hatte einen explizit transnationalen Charakter. Es handelte sich um einen Vertrag, der zwischen dem sowjetischen Staat und den im Russlandausschuss organisierten deutschen Unternehmen abgeschlossen wurde. Die Reichsregierung trat nur als Garantiemacht im Hintergrund auf. Auch das folgende zweite Pjatakov-Abkommen vom Sommer 1932 war ein transnationaler Vertrag, an dem sich erneut Carl Köttgen federführend beteiligte.69 In den beiden Pjatakov-Abkommen konnte Ordžonikidze seine Verhandlungsziele weitgehend durchsetzen. Die deutschen Unternehmen erklärten sich zu langfristigen Geschäften auf der Basis einer Kreditfinanzierung bereit. Der deutsche Staat trug dabei das Ausfallrisiko. Der gewünschte wirtschaftspolitische Effekt trat unmittelbar ein. Infolge der beiden Pjatakov-Abkommen stieg das Sowjetgeschäft der deutschen Unternehmen rapide an. Zwischen 1930 und 1932 verdoppelten sich die sowjetischen Importe aus dem Deutschen Reich im Bereich Elektrotechnik. Während im gesamten Unternehmen Siemens die Zahl der Mitarbeiter bis 1932 auf etwas mehr als die Hälfte sank, konnte das Technische Büro Ost seinen Personalbestand weitgehend halten. Der Anteil des Sowjetgeschäfts am Gesamtumsatz 66 SAA 11 Lf 292, G. K Ordžonikidze/Reichsverband der Deutschen Industrie, Pressekommuniqué zu der Vereinbarung, Moskau 9.3.1931. 67 SAA 11 Lf 292, Russlandausschuss der deutschen Wirtschaft, Einladung an Köttgen zu einer Besprechung mit Reichskanzler Brüning, Berlin 12.3.1931. 68 Hans-Werner Niemann, »Die Russengeschäfte in der Ära Brüning«, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 22 (1985), 2, S. 153–174. 69 SAA 11 Lf 292, Russlandausschuss der deutschen Wirtschaft, Rahmenlieferungsabkommen vom 15.6.1932 (an Carl Köttgen zur Unterschrift), Berlin 15.6.1932.

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von Siemens stieg im Geschäftsjahr 1931/32 auf den Rekordwert von 6,5 Prozent.70 Angesichts dieser außerordentlich wichtigen Bedeutung für die deutsche Exportindustrie versuchte der sowjetische Außenhandelsapparat bald, weitergehende Forderungen durchzusetzen. Zur Kraftprobe entwickelte sich hierbei die Auseinandersetzung zu Fragen der Zahlungsbedingungen. Das Sowjetgeschäft deutscher Unternehmen wurde seit der Inflationszeit von 1923/24 in US-Dollar abgewickelt. Die Weltwirtschaftskrise erschwerte es der Sowjetunion allerdings zunehmend, ausreichende Dollardevisen für den ansteigenden Wareneinkauf im Ausland zu erwirtschaften. Der Außenhandelsapparat, der nach einer erneuten Reorganisation wieder unter der Bezeichnung NKVT firmierte, strebte daher eine Umstellung der Zahlungsweise auf andere Währungen an. Siemens versuchte hingegen, die Zahlungsumstellung mit allen Mitteln zu verhindern. Unter Führung von Köttgen und Reyß sammelte sich im Russlandausschuss der Widerstand weiterer Unternehmen. Es stand hier ein elementares Interesse der deutschen Exportwirtschaft zur Diskussion.71 Die Dollar-Wechsel waren für die Unternehmen überaus wertvoll, da sie sich leicht in anderen Ländern als Zahlungsmittel einsetzen ließen. Besonders die Elektroindustrie wickelte ihr gesamtes Auslandsgeschäft in US-Dollar ab. Sie versuchte daher, die bestehenden Zahlungsbedingungen im Sowjetgeschäft so weit als möglich zu bewahren.72 Seit Sommer 1931 nahm der sowjetische Druck allerdings spürbar zu, die Bezahlung ihrer Aufträge auf mehrere Währungen zu verteilen. Bereits im Dezember schloss Siemens eine erste Vereinbarung, dass nur noch 50 Prozent der Aufträge in US-Dollar verrechnet würden.73 Doch der sowjetischen Handelsvertretung ging dies noch nicht weit genug. Im März 1932 akzeptierte Siemens eine weitere Reduzierung des Dollar-Anteils auf 40 Prozent. Das Unternehmen erklärte, dass die Grenze des Entgegenkommens damit erreicht war. Am 31. März schrieben Köttgen und Reyß an den Leiter der Berliner Handelsvertretung Israel Weicer: »Wenn wir daher jetzt weitere Geschäfte mit Ihnen machen wollen, so dürfen die Bedingungen, die Sie uns dabei stellen nicht die Grenzen

70 SAA 10756, Ernst Eue, Chronik des TB Ost, Berlin 1944, S. 20. 71 Vgl. dazu: Michael Ebi, Export um jeden Preis. Die deutsche Exportförderung von 1932–1938 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 174, 2), Stuttgart 2004. 72 SAA 4 Lf 685, Hermann Reyß, Vertrauliche Aktennotiz über Währungsfragen im Russlandgeschäft, Siemensstadt 14.9.1931. 73 SAA 11 Lg 89, S&H/SSW/Berliner Handelsvertretung, Vereinbarung über Akzepte, Berlin 23.12.1931.

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überschreiten, die für uns das Äußerste darstellen, was wir in der gegenwärtigen Lage tun können.«74 Dieser Appell verhallte ohne Wirkung. Als vielmehr die Verhandlungen um eine Fortsetzung des ersten Pjatakov-Abkommens anstanden, konnte Weicer weiter gezielten Druck auf die Unternehmen ausüben. Im April 1933 wurde die Abrechnung in Reichsmark auf 65 Prozent angehoben. Einen Monat später willigten Köttgen und Reyß stellvertretend für die gesamte deutsche Elektroindustrie in eine abschließende Regelung ein. Bei sowjetischen Aufträgen wurden fortan 70 Prozent der Auftragssumme in Reichsmark abgerechnet. Die restlichen 30 Prozent entfielen auf US-Dollar oder eine europäische Währung.75 Das ursprüngliche Ziel von Siemens, im Sowjetgeschäft umfangreiche Dollar-Devisen zu erwirtschaften, wurde damit klar verfehlt. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise konnte der sowjetische Außenhandelsapparat seinen Verhandlungsspielraum gegenüber deutschen Unternehmen beträchtlich steigern. Der sowjetische Staat avancierte im Rahmen des ersten Fünfjahrplans für einige Jahre zu einem der weltweit führenden Besteller von Investitionsgütern. Angesichts der schweren Wirtschaftskrise in den Industrieländern konnte er erheblichen Druck auf die Unternehmen ausüben und die Lieferbedingungen zu seinen Gunsten ändern.76 Wie das Beispiel der Verhandlungen um die Pjatakov-Verträge zeigt, setzte die Berliner Handelsvertretung erneut transitive Macht ein, um ihre Interessen gegenüber den deutschen Unternehmen zu verfolgen. Wie schon zur Mitte der 1920er Jahre hatte erneut der deutsche Staat als Garant aufzutreten, um die deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen im Rahmen der Ausfallbürgschaften institutionell zu stabilisieren.

Ergebnis Im Zuge der beiden Pjatakov-Abkommen erlebte das Sowjetgeschäft deutscher Unternehmen seinen quantitativen Höhepunkt. Es zeigte sich allerdings schon 1932, dass dieser Aufschwung nicht auf einer stabilen Grundlage beruhte. Ein großer Teil der sowjetischen Importe wurde durch Kredite im Rahmen der Ausfallbürgschaften finanziert. Bei Siemens war beispielsweise in den Jahren 1931 74 SAA 11 Lg 89, Hermann Reyß/Carl Köttgen, Brief an Weicer, Siemensstadt 31.3.1932. 75 SAA 3867, Hermann Reyß, Brief an die Berliner Handelsvertretung, Berlin 3.6.1932. 76 Vgl. auch die Ausnutzung des unzureichenden Patentschutzes durch die Sowjetunion: Antony C. Sutton, Western Technology and Soviet Economic Development 1930 to 1945, Stanford 1971, S. 311.

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bis 1933 rund die Hälfte des Sowjetgeschäfts durch die Ausfallbürgschaften abgesichert.77 Als die sowjetischen Schulden im Deutschen Reich eine Höhe von einer Milliarde Reichsmark erreichten, zog die Regierung Brüning die Notbremse. Weitere Bürgschaften wurden nicht mehr gewährt. Bereits vor der nationalsozialistischen Machtübernahme entfiel damit die institutionelle Basis, die die »Blütejahre«78 der deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen während der Weltwirtschaftskrise ermöglicht hatte. Das Sowjetgeschäft von Siemens während der Weimarer Republik verdeutlicht die schwierige Kommunikation von Akteuren, die unterschiedliche wirtschaftspolitische Ordnungsvorstellungen verkörpern. Es ist bemerkenswert, dass trotz dieser Unterschiede in den mentalen Modellen überhaupt eine Kooperation zustande kam. Unter dem Einfluss von Krasin und Görz begann ein Kommunikationsprozess, der zur Aufnahme von Geschäftsbeziehungen zwischen dem Unternehmen und dem sowjetischen Außenhandelsapparat führte. Bis zur Mitte der 1920er Jahre wurde ein Rahmen an vertraglichen Regeln etabliert, der das Sowjetgeschäft von Siemens institutionell steuerte. Die grundsätzlichen ideologischen Unterschiede konnten dadurch allerdings nicht überbrückt werden. Auf der Ebene strategischer Zielpräferenzen gab es keine Annäherung in den mentalen Modellen der Akteure. Der sowjetische Außenhandelsapparat verfolgte die kurzfristige Ausnutzung des außenwirtschaftlichen Potentials für die Industrialisierung der Sowjetunion. Siemens war dagegen am Aufbau institutioneller Strukturen im Rahmen der eigenen Ordnungsvorstellungen interessiert. Das staatliche Außenhandelsmonopol und die zentrale Planwirtschaft der Sowjetunion stießen im Unternehmen noch in den 1930er Jahren auf Unverständnis und Ablehnung.79 Durch das sowjetische Vorgehen im Boykott von 1923, in den Prozessen von Mologa und Šachty sowie im Streit um die Zahlungsbedingungen konnte eine vertrauensvolle Kooperation nicht etabliert werden. Vielmehr verstärkte die unverblümte Anwendung transitiver Macht seitens des sowjetischen Außenhandelsapparats das tief sitzende Misstrauen im Unternehmen weiter. Die institutionellen Strukturen im Sowjetgeschäft von Siemens erfüllten zwar ihre oberflächliche Steuerungsfunktion. Doch sie schufen kein Vertrauen. Den Akteuren im Unternehmen und im Außenhandelsapparat gelang es nicht, einen Orientierungsrahmen zu etablieren, der die Kommunikation im Rahmen eines intransitiven »Miteinander-Reden-und-Handeln« integrieren konnte. Die 77 Vgl. dazu die Unterlagen in: SAA 11707. 78 Perrey, Rußlandausschuß der Deutschen Wirtschaft, S. 202. 79 SAA 4 Lf 665, Carl Friedrich von Siemens, Vortrag in der Sitzung des Hauptausschusses des RDI, Berlin 19.6.1931.

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wahrgenommene Unsicherheit von Siemens gegenüber dem sowjetischen Staat blieb bis 1933 hoch. Ein stabiler institutioneller Ordnungsrahmen zwischen dem Unternehmen und dem sowjetischen Außenhandelsapparat wurde nicht etabliert. Erst die Ausfallbürgschaften der Reichsregierung boten die nötige Sicherheit, die Siemens für kurze Zeit eine deutliche Ausweitung seines Sowjetgeschäfts ermöglichte.

Ungleiche Freunde Visuelle Repräsentationen der ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen in der Illustrierten Ogonek Isabelle de Keghel Trotz der proklamierten »großen Freundschaft«1 waren die ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen in vielfacher Weise belastet, insbesondere durch die traumatischen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und ihre Folgen, aber auch durch Meinungsverschiedenheiten und Interessenkonflikte zwischen den politischen Führungen beider Länder. Hinzu kam das Problem, dass die DDR der Sowjetunion in mancher Hinsicht, etwa konsumkulturell und technologisch, überlegen war, was der beanspruchten Hegemonialrolle der UdSSR und dem politisch-militärischen Machtgefälle zwischen beiden Staaten widersprach.2 Vor diesem Hintergrund wird exemplarisch anhand von Pressefotos aus der sowjetischen Illustrierten Ogonek analysiert, wie diese Problemlagen auf der visuellen Ebene bearbeitet wurden. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, auf welche Weise visuelle Repräsentationen eingesetzt wurden, um integrierend auf die bilateralen Beziehungen einzuwirken und um das Machtgefälle zwischen beiden Ländern zu festigen.3 In diesem Zusammenhang interessiert besonders, ob und wie die sukzessive Aufwertung der DDR, die sich im Untersuchungszeitraum beobachten lässt, visuell repräsentiert wurde. Die Analyse beginnt 1949, im Gründungsjahr der DDR, und endet 1964 mit dem Abschluss des Vertrags über Freundschaft, gegenseitigen Beistand und Zusammenarbeit zwischen der UdSSR und der DDR.4 1 Zum Freundschaftsdiskurs in den ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen und allgemeiner im Staatssozialismus vgl. Jan C. Behrends, Die erfundene Freundschaft. Propaganda für die Sowjetunion in Polen und der DDR (1944–1957), Köln, Weimar u. a. 2006. 2 Hermann Wentker, Außenpolitik in engen Grenzen. Die DDR im internationalen System 1949–1989, München 2007, S. 69 f., S. 79 f., S. 212. Joachim Scholtyssek, Die Außenpolitik der DDR, München 2003, S. 18, S. 22. 3 Insofern versteht sich diese Analyse als ein Beitrag zu einer Kulturgeschichte der Politik. Vgl. zu diesem Konzept und zu seiner Anwendung auf die deutsch-sowjetischen Beziehungen: Thomas Mergel, »Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik«, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574-606. Susanne Schattenberg, »›Gespräch zweier Taubstummer‹? Die Kultur der Außenpolitik Chruščevs und Adenauers Moskaureise 1955«, in: Osteuropa 7 (2007), S. 27-46. 4 Die Untersuchung konzentriert sich auf Schlüsseljahre der DDR-Geschichte bzw. der ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen. Im Mittelpunkt stehen die Jahre 1949 (Gründung

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Als Quellenbasis für die Analyse wurde die auflagenstarke und dementsprechend massenwirksame Illustrierte Ogonek ausgewählt. Sie deckte ein breites Themenspektrum ab, das von der Politik über die Kultur bis hin zum Sport reichte, und konnte daher ein großes Publikum ansprechen. Dadurch, dass der Ogonek reichhaltig illustriert war und Bilder von führenden sowjetischen Fotograf/innen publizierte, kam der Zeitschrift eine wichtige Rolle bei der Produktion von Bildprogrammen zu.5 Die Beschränkung der Untersuchung auf eine Zeitschrift ermöglicht es, ein geschlossenes Quellenkorpus zu analysieren, das aufschlussreiche synchrone und diachrone Vergleichsmöglichkeiten beinhaltet.6 Pressefotos erscheinen deshalb als eine viel versprechende Quelle, weil sie aufgrund ihrer emotionalisierenden Wirkung und der ihnen zugeschriebenen Authentizität eine besondere Wirkungsmacht für die ostdeutsch-sowjetische hierarchische Integration entfalten konnten. Da das sowjetische Fernsehen bis in die 1960er Jahre hinein in den Kinderschuhen steckte, können Fotos im gewählten Untersuchungszeitraum als Leitmedium gelten. Ein weiterer Vorteil dieser Quellengattung besteht darin, dass Pressefotos besonders leicht zu kontextualisieren sind. Da sie in der Regel als Illustration zu einem längeren Artikel veröffentlicht werden und meist mit einer Bildunterschrift versehen sind, lassen sie sich mühelos in den Kontext zeitgenössischer Diskurse einordnen. Auch die dargestellten Personen, Ereignisse und Orte sowie der ungefähre Zeitpunkt der Aufnahme sind einfach zu rekonstruieren. Zudem werden meistens Hinweise auf die Fotograf/innen bzw. auf die Presseagentur gegeben, die das Bild gemacht bzw. verbreitet haben. Besonders wichtig ist, dass die begleitenden Texte Hinweise auf die von der Redaktion erwünschten Lesarten der Fotos enthalten.7

der DDR), 1953 (Tod Stalins), 1955 (Anerkennung der Souveränität der DDR durch die UdSSR, Rückgabe von Dresdener Kunstschätzen durch die Sowjetunion an die DDR), 1956 (Gründung der NVA), 1963 (Besuch Chruščevs in der DDR) und 1964 (Abschluss des Freundschaftsvertrags zwischen der UdSSR und der DDR, Besuch Ulbrichts in der UdSSR). Die entscheidende Aufwertung der DDR erfolgte 1955, während 1964 nur noch einen vergleichsweise kleinen Prestigegewinn bedeutete. Vgl. Wentker, Außenpolitik, S. 221. 5 Der Ogonek existiert bis heute, allerdings wurde das Konzept der Illustrierten in postsowjetischer Zeit stark verändert. Daher bezieht sich die Charakteristik der Zeitschrift nur auf den inzwischen historisch gewordenen, sowjetischen Ogonek. 6 Zu den methodischen Vorteilen einer solchen Vorgehensweise vgl. Ulrike Pilarczyk u. Ulrike Mietzner, Das reflektierte Bild. Die seriell-ikonographische Fotoanalyse in den Erziehungsund Sozialwissenschaften, Bad Heilbrunn 2005, S. 128 f., S. 142 f. 7 Vgl. hierzu Jens Jäger, Photographie: Bilder der Neuzeit. Einführung in die Historische Bildforschung, Tübingen 2000, S. 12.

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Fotos werden in diesem Beitrag als Repräsentationen aufgefasst, was ihrem Doppelcharakter als Abbild »realer« Phänomene und als gestaltetes Bild, das bestimmte Imaginationen und Sinnangebote vermitteln soll, entspricht. 8 Der Beitrag kombiniert eine serielle Analyse, mit der Bildprogramme und Visualisierungsstrategien erschlossen werden, und die ausführliche Analyse einzelner, besonders signifikanter Bilder.9 Die untersuchten Fotos werden als visuelle Formen des Freundschaftsdiskurses zwischen beiden Ländern verstanden, die eng mit der verbalen Ebene dieses Diskurses verknüpft sind. Bei der Interpretation der Fotos werden deshalb stets die begleitenden Texte sowie die Forschungsliteratur über die ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen herangezogen, um die analysierten Bilder zu kontextualisieren.10

Anlässe der Berichterstattung über die ostdeutschsowjetischen Beziehungen und die DDR Die bilateralen Beziehungen gerieten vorwiegend anlässlich konkreter Begegnungen zwischen ostdeutschen und sowjetischen Delegationen in den Blick der Ogonek-Redaktion. Dabei wurden sowohl Treffen der politischen und kulturellen Eliten visualisiert als auch Begegnungen von Delegationen ostdeutscher und sowjetischer Betriebe. Weitere Schwerpunkte der Berichterstattung waren Sitzungen und Jubiläen supranationaler Organisationen innerhalb des Staatssozialismus, insbesondere des Warschauer Pakts und des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Neben Repräsentationen von Anwesenheitskommunikation wurden auch verschiedene Formen mittelbarer Kommunikation visualisiert, etwa die Pflege von Brieffreundschaften. Ergänzt wurden diese Nachrichten über die ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen durch Berichte über die DDR und ihre Repräsentant/innen. Anlässe hierfür waren vor allem Jahrestage der DDR-Gründung, runde Geburtstage und Todesfälle von Mitgliedern der

8 Vgl. zu diesem Doppelcharakter der Fotografie Mietzner/Pilarczyk, Das reflektierte Bild, S.  43. Christoph Hamann, Visual History und Geschichtsdidaktik. Beiträge zur Bildkompetenz in der historisch-politischen Bildung, Diss. Berlin 2007, S. 30, S. 61–69, , angesehen am 15.10.2010. 9 Vgl. zur Methodik der Bildanalyse Mietzner/Pilarczyk, Das reflektierte Bild, S. 95–103, S. 133–146; Jens Jäger, Fotografie und Geschichte, Frankfurt, New York 2009, S. 89–91; Hamann, Visual History und Geschichtsdidaktik, S. 78–85. 10 Vgl. zu dieser Vorgehensweise Jäger, Fotografie und Geschichte, S. 92 f. sowie Mietzner/ Pilarczyk, Das reflektierte Bild, S. 91 f.

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politischen und kulturellen Eliten sowie die Verleihung sowjetischer Auszeichnungen an DDR-Bürger/innen. Diese Berichte waren von umso größerer Relevanz, als die ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen dem Erfahrungshorizont der meisten Sowjetbürger/innen entzogen waren. Nur eine kleine Minderheit nahm an bilateralen Begegnungen teil oder reiste in die DDR. Da Erfahrungen aus erster Hand die Ausnahme waren, wurden die ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen vor allem massenmedial kommuniziert. Im Folgenden soll ein kleiner Ausschnitt aus der umfangreichen Ogonek-Berichterstattung über die ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen analysiert werden. Dabei steht die Frage im Vordergrund, wie Integrationsprozesse im sowjetischen Hegemonialraum und in den ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen anhand von Anwesenheitskommunikation der politischen Eliten und anhand von Berichten über die DDR visualisiert wurden. In diesem Kontext wird untersucht, ob und wie Hierarchien in den untersuchten Beziehungsgefügen visuell repräsentiert wurden und ob in diachroner Perspektive eine Aufwertung der DDR in den Bildwelten des Ogonek erkennbar ist. Die Bearbeitung von Problemlagen in den ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen wird am Beispiel des Umgangs mit dem Kriegstrauma in den Blick genommen.

Integration in die staatssozialistische Staatengemeinschaft Die Trauerfeierlichkeiten zu Stalins Tod und der sowjetische Hegemonialraum Vor allem in den 1950er Jahren wurde in der Berichterstattung großer Wert darauf gelegt, die Integration der DDR in die sozialistische Staatengemeinschaft und damit in den sowjetischen Hegemonialraum zu repräsentieren. Die Hierarchie dieser sozialistischen Staatengemeinschaft wird an keinem anderen Punkt so deutlich wie bei der Berichterstattung zu den Trauerfeierlichkeiten anlässlich von Stalins Tod 1953. In den staatssozialistischen Ländern war dies im gesamten Untersuchungszeitraum das mit Abstand größte transnationale Medienereignis. Der Ogonek widmete diesem Thema in zwei aufeinander folgenden Heften mehrere ausführliche Bildberichte.11 Sie lassen die Welt des Staatssozialismus als eine dreiteilige Struktur erscheinen, in deren Zentrum die 11 Ogonek 10 (1953) und 11 (1953). Vereinzelte, weniger relevante Artikel finden sich auch in Ogonek 12 (1953).

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sowjetische Hauptstadt steht. Die Beiträge vermitteln die Vorstellung, dass dieser Kern gleichsam in zwei Schichten von einer näheren und von einer weiter entfernten Peripherie umgeben wird. Die Berichterstattung beginnt im Zentrum der Hegemonialmacht Sowjetunion und zeigt zunächst in Heft 10 ausschließlich die Trauer der Moskauer Bevölkerung.12 Dieses Thema wird in Heft 11 fortgesetzt, im Mittelpunkt stehen nun jedoch die Trauerrituale der sowjetischen politischen Eliten, der nach Moskau angereisten Führungspersönlichkeiten der staatssozialistischen Welt sowie westlicher kommunistischer Parteien.13 Erst dann verschiebt sich im letzten Viertel von Heft 11 der Schwerpunkt der Berichterstattung auf die Trauer in den Sowjetrepubliken, die das »innere Imperium« repräsentieren und gleichsam als der erste konzentrische Kreis gelten können, der das Machtzentrum Moskau umringt.14 Auf den letzten Seiten des Hefts stehen als dritter Themenschwerpunkt die Berichte über die Trauer in den Satellitenstaaten der UdSSR, die das »äußere Imperium« bilden und damit den zweiten konzentrischen Kreis um das Zentrum.15 12 »Velikaja skorb’ naroda«, in: Ogonek 10 (1953), S. 4–7. 13 »9 marta sovetskij narod provodil v poslednij put’ veličajščego genija čelovečestva – Iosifa Vissarionoviča Stalina«, in: Ogonek 11 (1953), S. 1 (der Beitrag ist durch ein Foto illustriert, das zeigt, wie Mitglieder der sowjetischen Parteiführung und Regierung den Sarg aus dem Haus der Gewerkschaften tragen). »Pochorony Iosifa Vissarionoviča Stalina«, in: Ogonek 11 (1953), S. 2 f. (das Foto zum Beitrag zeigt die sowjetischen und internationalen kommunistischen Eliten auf der Tribüne des Lenin-Stalin-Mausoleums). »Reč’ tovarišča L. P. Berija«, in: Ogonek 11 (1953), S. 4 f. (auf dem begleitenden Foto ist zu sehen, wie die sowjetischen Eliten in einer Trauerprozession dem Sarg Stalins folgen). »A. Avdeenko, Proščanie s velikim voždem«, in: Ogonek 11 (1953), S. 8 f. (mit Foto der Führung der KPdSU bei der Ehrenwache an Stalins offenem Sarg). »Gerri Pollit, Skorb i kljatva millionov. Velikij drug i učitel’ kitajskogo naroda«, in: Ogonek 11 (1953), S. 14 (mit Fotos von der chinesischen, polnischen, tschechoslowakischen, ungarischen, rumänischen, bulgarischen, mongolischen und finnländischen Delegation bei der Ehrenwache an Stalins Sarg). »Se Man Ir, Kljanemsja emu!«, in: Ogonek 11 (1953), S. 16 (mit Fotos der ost- und westdeutschen, italienischen, spanischen, großbritannischen, österreichischen Delegation und der Delegation der Weltföderation der Gewerkschaften bei der Ehrenwache an Stalins Sarg). 14 »9 marta, 12 časov dnja«, in: Ogonek 11 (1953), S. 18 f. (mit Fotos von Menschenmassen in Moskau und Leningrad während der Trauerminuten zum Gedenken an Stalin). »Pod znamenem Lenina-Stalina vpered k kommunizmu!«, in: Ogonek 11 (1953), S. 20–22 (mit Fotos von Trauerversammlungen in Taškent, Tbilisi, Minsk, Kiev, Uchtomsk (im Moskauer Gebiet) sowie im sibirischen Dorf Kurejka (dem Verbannungsort Stalins von 1914–16). 15 »Irži Marek. Praga: Pis’mo moim synov’jam«, in: Ogonek 11 (1953), S. 27 (mit einem Foto von einer Trauerversammlung auf dem Prager Wenzelsplatz). »Splotimsja tesnee vo imja mira i socializma«, in: Ogonek 11 (1953), S. 28–32 (mit Fotos von Trauerkundgebungen in Peking, Stalinvaros, Warschau, Ost-Berlin, Bukarest und Sofia).

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Die Bilder von der trauernden Bevölkerung zeigen zunächst, wie die Nachricht vom Tod Stalins in eigens einberufenen Versammlungen kommuniziert wird, entweder über das Radio oder durch Vorlesen aus der Zeitung. Diese Bilder alternieren mit visuellen Darstellungen von Stalin zu Lebzeiten, die das Fortleben des Diktators und seine Allgegenwart unterstreichen. Darauf folgen Fotos von Arbeiter/innen, die während der offiziell angesetzten Trauerminuten zum Gedenken an Stalin innehalten oder von einfachen Sowjetbürger/innen, die sich am offenen Sarg von Stalin verabschieden. Auf den Fotos aus den Sowjetrepubliken und aus den Satellitenstaaten sind vorwiegend Menschengruppen bzw. -mengen zu sehen, die sich trauernd um Stalin-Porträts oder -Statuen versammeln. Auf diese Weise ist der verstorbene Diktator, der das Machtzentrum der UdSSR und des sowjetischen Hegemonialraums repräsentiert, zumindest virtuell in den Bildern anwesend. Die Fotos von den Trauerritualen der politischen Eliten zeigen Mitglieder der sowjetischen KP-Führung und Führungspersönlichkeiten ausländischer kommunistischer Parteien während der Trauerfeierlichkeiten im Kolonnensaal des Gewerkschaftshauses und auf dem Roten Platz in Moskau. Bemerkenswert ist, dass die Zuordnung des ostdeutschen Staates 1953 auf diesen Bildern ambivalent bleibt – offenbar deshalb, weil die Integration in den sowjetischen Hegemonialraum noch nicht ganz vollzogen ist. In den Bildberichten zu den Trauerfeierlichkeiten in Moskau werden die DDR-Spitzenpolitiker Walter Ulbricht und Otto Grotewohl zwar inmitten der sowjetischen und internationalen kommunistischen Eliten auf der Tribüne des Lenin-Stalin-Mausoleums abgebildet und in der Bildunterschrift in einer Reihe mit den Parteichefs der staatssozialistischen Länder genannt.16 Bei den Gruppenaufnahmen von der Ehrenwache an Stalins Sarg im Kolonnensaal hingegen wird die DDR gleich in doppelter Hinsicht den westlichen Ländern zugeordnet. Zum einen erscheint die DDR-Delegation gemeinsam auf einem Bild mit dem westdeutschen KP-Chef Max Reimann. Zum anderen ist dieses Foto Teil einer Bildserie mit kommunistischen Führungspersönlichkeiten aus der westlichen, nicht aus der staatssozialistischen Welt.17 Dies sollte offenbar die damalige sowjetische Politik unterstreichen, sich die Option eines einigen, neutralen Deutschlands offen zu halten und noch keine endgültige Entscheidung über die Fortexistenz der DDR zu treffen.18 Die entgegengesetzte Botschaft vermittelt weiter hinten im selben Ogonek-Heft ein Foto von trauernden Ber16 »Pochorony Iosifa Vissarionoviča Stalina«, in: Ogonek 11 (1953), S. 2 f. 17 Illustrationen zu »Gerri Pollit, Skorb i kljatva millionov. Velikij drug i učitel’ kitajskogo naroda«, in: Ogonek 11 (1953), S. 14 (s. FN 12). 18 Wentker, Außenpolitik, S. 78 f. Scholtyssek, Die Außenpolitik der DDR, S. 8–10.

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liner/innen, die sich rings um das Stalin-Denkmal auf dem Strausberger Platz versammelt haben.19 Sie sind Teil einer mehrere Seiten umfassenden Bildserie mit Fotos von Trauerbekundungen für Stalin in den Satellitenstaaten der Sowjetunion. Hierdurch wird die DDR als Teil der Erlebnis- und Erfahrungsgemeinschaft der staatssozialistischen Länder repräsentiert, die in der Emotion der Trauer vereint sind.

Die Gründung des Warschauer Paktes Wie visuelle Repräsentationen der Integration der DDR in den Warschauer Pakt zeigen, wurde auf diese ambivalente Zuordnung des ostdeutschen Staates bereits zwei Jahre nach Stalins Tod verzichtet. Stattdessen firmierte die DDR nun voll und ganz als Teil der staatssozialistischen Welt. Die neue Visualisierungsstrategie wurde bereits im Mai 1955 anlässlich der Gründung des östlichen Militärbündnisses erkennbar, also einige Monate vor der Anerkennung der Souveränität der DDR und der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur BRD durch die Sowjetunion im September desselben Jahres, womit die UdSSR den Verzicht auf die Option eines vereinten, neutralen Deutschland signalisierte.20 Die Fotos aus der Gründungsphase des Warschauer Pakts können nicht nur deshalb als besonders aufschlussreich gelten, weil hier die Integration der DDR in eine supranationale Organisation des Staatssozialismus und damit in die von der UdSSR dominierte staatssozialistische Staatengemeinschaft analysiert werden kann. Darüber hinaus lässt sich anhand dieser Bilder die Repräsentation teils paritätischer, teils hierarchischer Integration sowie die Bearbeitung von Problemlagen in den ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen untersuchen. Über den Abschluss des Warschauer Vertrages berichtete Ogonek im Mai 1955 auf insgesamt vier reich illustrierten Seiten.21 Auf der ersten Doppelseite war oben eine Totale des Sitzungssaals zu sehen, unten dagegen die Begrüßung der sowjetischen Delegation durch die polnischen Gastgeber auf dem Flughafen sowie eine Friedensdemonstration in Warschau zur Bekräftigung der proklamierten, Frieden stiftenden Zielsetzung des Warschauer Pakts. Die erste Doppelseite repräsentierte unmissverständlich die Hierarchien innerhalb des 19 »Splotimsja tesnee vo imja mira i socializma«, in: Ogonek 11 (1953), S. 28-32, hier S. 28. 20 Wentker, Außenpolitik, S. 85 f., S. 122. Scholtyssek, Die Außenpolitik der DDR, S. 13. 21 »Ėduard Osmančik: Dogovor mira i družby. Foto special’nogo korrespondenta ›Ogon’ka‹ A. Novikova«, in: Ogonek 21 (1955), S. 2 f. »Varšava 14 maja 1955 g.«, in: Ogonek 21 (1955), S. 4 f.

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Warschauer Pakts – einerseits dadurch, dass der Sitzungssaal so aufgenommen war, dass sich die sowjetische Delegation rechts oben im Bild befand und damit als Blickfang fungierte, andererseits dadurch, dass nur die Begrüßung der sowjetischen Gäste auf dem Flughafen gezeigt wurde, aber nicht die der sechs anderen ausländischen Delegationen, zu denen auch die Abordnung aus der DDR gehörte. Im Begleittext zu den Fotos standen ebenfalls die Aktivitäten der sowjetischen Spitzenpolitiker im Mittelpunkt. Dies entsprach der hegemonialen Position, die die UdSSR faktisch gegenüber allen anderen Mitgliedsstaaten des Bündnisses einnahm. Auf der zweiten Doppelseite hingegen, die einen Bericht von der Vertragsunterschrift enthielt, waren die Hierarchien innerhalb des Warschauer Pakts verwischt. Die visuelle Repräsentation der Vertragsunterzeichnung bestand aus zwei Reihen von Bildern. Die obere Bildreihe zeigte den Repräsentanten eines jeden Mitgliedslandes bei der Vertragsunterschrift. Unter jedem Foto war als Zeichen der Souveränität das Wappen des jeweiligen Staates abgebildet, woraus sich eine zweite, direkt darunter liegende Bildreihe ergab. Durch die einheitliche Größe der Fotos und Wappen, durch ihre Anordnung nach der alphabetischen Reihenfolge der Mitgliedsländer sowie durch den stets gleichen Bildaufbau wurde der Eindruck eines gleichberechtigten Bundes vermittelt. Dementsprechend wurde die DDR (vertreten durch ihren Ministerpräsidenten Otto Grotewohl) hier visuell als gegenüber den anderen staatssozialistischen Ländern gleichgestellter Staat repräsentiert und nahm die UdSSR (vertreten durch den Vorsitzenden des Ministerrats, Nikolaj Bulganin) keine privilegierte Position gegenüber den anderen Mitgliedsstaaten ein. Ihr Repräsentant und ihr Wappen waren genau gleich groß abgebildet wie die der anderen Länder. Aufgrund der alphabetischen Ordnung stand Albanien am Anfang, die DDR an vierter und die Sowjetunion an vorletzter Stelle. Auch der nächsten Konferenz der Warschauer Pakt-Staaten im Januar 1956 widmete Ogonek einen großen Bildbericht, der im Hinblick auf hierarchisierende Darstellungen innerhalb der staatssozialistischen Gemeinschaft und die Bearbeitung von Problemlagen im ostdeutsch-sowjetischen Verhältnis besonders interessant ist. Diese Zusammenkunft des sowjetisch dominierten Militärbündnisses war für die DDR ausgesprochen wichtig, weil dort die Aufnahme der wenige Tage zuvor neu gegründeten Nationalen Volksarmee in die Organisation beschlossen wurde. Der Bericht des Ogonek22 enthielt neben einer unmittelbar nach der Unterzeichnung der Abschlusserklärung gemachten Überblicksaufnahme des Tagungsraums, auf der Repräsentant/innen aller Mitgliedsländer zu sehen waren, auch drei Personenaufnahmen aus größerer Nähe. Ein Foto zeigte drei sowjetische Marschälle im Gespräch mit dem tschechoslowakischen Präsidenten An22 »Praga, 27–28 janvarja«, in: Ogonek 6 (1956), S. 4 f.

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Abb. 1:  Die Uniformen der neu gegründeten Nationalen Volksarmee werden vorgestellt. Foto: Urheber/in unbekannt. Ogonek 6 (1956), S. 5. © Ogonek/ Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, 2012.

tonín Zápotocký. Zwei weitere Fotos repräsentierten jeweils separat die sowjetische und die ostdeutsche Delegation am Sitzungstisch, wodurch nur diese beiden Gruppen aus der Gesamtheit der Tagungsteilnehmer hervorgehoben wurden. Dass die UdSSR in zwei von drei Detailaufnahmen präsent war, deutete auf ihre hegemoniale Position im Warschauer Pakt hin. Bemerkenswert am Foto der DDR-Delegation ist weniger der mit ernster Miene im Hintergrund sitzende Walter Ulbricht als der freundlich und offen in die Kamera blickende erste Verteidigungsminister der DDR, Willy Stoph. Seine Mimik war geeignet, den martialischen Charakter seiner Uniform ein Stückweit zu entschärfen und mögliche Ängste vor einer ostdeutschen Armee zu neutralisieren. Noch deutlicher lässt sich diese Strategie, negativen Emotionen gegenüber dem Militär der DDR vorzubeugen, an dem illustrierten Beitrag über die Gründung der Nationalen Volksarmee (NVA) erkennen, der rechts neben diesem Bild platziert ist (Abb. 1).23 Denn im 23 »Narodnaja armija GDR«, in: Ogonek 6 (1956), S. 5. Auf der gleichen Doppelseite links oben fand sich in der Rubrik »Tagebuch des Ogonek« eine zweizeilige Meldung im Telegrammstil, die die Gründung der NVA als Akt der »Verteidigung der Souveränität

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visuellen Teil dieses Artikels steht nicht der Gründungsakt der DDR-Streitkräfte selbst im Vordergrund, sondern die Gestaltung der Uniformen für die neue Armee. Auf dem Foto zum Artikel sind Offiziere und Soldaten verschiedener Waffengattungen der NVA zu sehen, die lässig und vereinzelt sogar lächelnd eine Treppe hinuntergehen. Die Präsentation der Uniformen erinnert eher an eine Modenschau als an eine militärische Veranstaltung, vor allem wenn man diese visuelle Repräsentation mit den Bildern vergleicht, die in einem Ogonek-Bericht aus dem Vorjahr über die neuen Uniformen der chinesischen Volksbefreiungsarmee publiziert wurden.24 Diesem Ereignis wurde eine Doppelseite gewidmet, und die dort abgedruckten Fotos zeigten hoch dekorierte Offiziere in militärisch aufrechter Haltung sowie in Reih und Glied angetretene Einheiten. Der Grund für eine so zurückhaltende Visualisierung der NVA dürfte darin liegen, dass aufgrund der noch frischen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg der Wiederaufbau einer Armee in Deutschland aus der Sicht der sowjetischen Bevölkerung als problematisch empfunden wurde, zumal die Uniformen der NVA (übrigens auf sowjetischen Wunsch) den Uniformen der Wehrmacht stark ähnelten.25 Es ist zu vermuten, dass der Berichterstattung über die Gründung der NVA daher bewusst geringes Gewicht gegeben und die neue Armee betont unmilitärisch dargestellt wurde, um sie so wenig bedrohlich wie möglich erscheinen zu lassen – ganz im Gegensatz zu den häufig anzutreffenden Visualisierungen der westdeutschen Bundeswehr zur gleichen Zeit, die im Rahmen der OgonekKampagne gegen die Wiederbewaffnung in der BRD auf der verbalen und auf der Bildebene als Hort des Militarismus und Revanchismus charakterisiert wurde. Die Strategie, den ersten illustrierten Bericht des Ogonek über die NVA auf der gleichen Doppelseite abzudrucken wie den Artikel über die Sitzung der des demokratischen deutschen Staates« legitimierte: »Dnevnik Ogon’ka«, in: Ogonek 6 (1956), S. 4. 24 »Voennyje zvanija, ordena, medali i forma odeždy narodno-osvoboditel’noj armii Kitaja«, in: Ogonek 42 (1955), S. 4 f. 25 Während die Uniformen der Kasernierten Volkspolizei sowjetischen Uniformen nachempfunden waren (was der Chef der sowjetischen Militäradministration (SMAD) Vasilij Čujkov 1952 explizit befürwortet hatte), orientierten sich die Uniformen der NVA an deutschen Vorbildern und glichen sehr den Wehrmachtsuniformen. Angeregt wurde dies durch Ministerpräsident Bulganin, der an die DDR-Führung appellierte, sich auf nationale Traditionen zurückzubesinnen. Diese Entscheidung führte immer wieder zu Irritationen und weckte ungute Erinnerungen, z. B. in Prag 1968. Das Ergebnis waren Graffitis wie: »1938 – Hitler – 1968 – Ulbricht«. Offiziell wollte man in der NVA an die Militärtradition der Befreiungskriege des frühen 19. Jahrhunderts anknüpfen. Vgl. Rolf-Dieter Müller u. Hans Erich Volkmann, Die Wehrmacht: Mythos und Realität, München 1999, S. 1135.

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Warschauer Pakt-Staaten 1955 war geeignet, das Gefahrenpotenzial dieser Armee zusätzlich herunterzuspielen, da hiermit signalisiert wurde, dass sie fest in den Warschauer Pakt eingebunden war und nicht eigenmächtig handeln konnte.

Integration im Rahmen der ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen Während auf der supranationalen Ebene die hierarchische Integration der DDR in den sowjetischen Hegemonialraum teilweise durch das Narrativ von einer gleichberechtigten, horizontalen Integration verwischt wurde, waren in den Repräsentationen der bilateralen, sowjetisch-ostdeutschen Beziehungen die Hierarchien in der Regel deutlich erkennbar.

Hierarchisierungen durch Motivwahl und Bildstruktur Die allermeisten Fotos, die konkrete sowjetisch-ostdeutsche Face-to-Face-Kommunikation zum Thema haben, zeigen Spitzenbegegnungen der politischen Eliten und sind dem Genre der Protokollfotografie zuzurechnen. Sie entstanden bei Staatsbesuchen, Antrittsbesuchen von Botschaftern und bei der Unterzeichnung bilateraler Verträge. Die strengen Rituale politischer Spitzenbegegnungen ließen Fotograf/innen bei der Visualisierung dieser Begegnungen nur sehr beschränkten Gestaltungsspielraum. Dennoch sind bestimmte Visualisierungsstrategien erkennbar, insbesondere im Hinblick auf die Auswahl der fotografierten Motive und auf die Gestaltung der Bildstruktur. Bei Vertragsabschlüssen wurde als der »entscheidende Augenblick« für die fotografische Repräsentation entweder der Moment der Unterschrift ausgewählt oder aber der Händedruck, der die Übereinkunft besiegelte. Bei anderen ostdeutsch-sowjetischen Begegnungen wurde entweder der zur Begrüßung ausgeführte Handschlag fotografiert oder eine Szene aus dem darauf folgenden Gespräch. In diesem Fall standen Ostdeutsche und Sowjetbürger/innen nebeneinander, ohne einander zu berühren. Fotos von ostdeutsch-sowjetischen Umarmungen waren eine große Seltenheit, meist überwog körperliche Distanz. Wenn der Handschlag fotografiert wurde, dann wurde dort in der Regel das hierarchische Verhältnis zwischen der UdSSR und der DDR besonders deutlich. Hierfür waren vor allem die fotografische Perspektive und der Bildaufbau verantwortlich, während der Handschlag selbst – wie seit der Antike

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Abb. 2:  Der Händedruck zwischen Otto Grotewohl und Nikolaj Bulganin nach der Unterzeichnung des Staatsvertrags zwischen der UdSSR und der DDR am 20. September 1955. Foto: A. Novikov. Ogonek 39 (1955), S. 3. © Ogonek/(A. Novikov)/Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, 2012.

üblich – vor allem Verbundenheit und friedliche Kooperation symbolisierte.26 Wie das Beispiel des Händedrucks zwischen Otto Grotewohl und Nikolaj Bulganin nach der Unterzeichnung des Staatsvertrags zwischen der UdSSR und der DDR am 20. September 1955 zeigt (Abb. 2),27 wurde der Repräsentant der DDR meistens in Seiten- oder Rückenansicht fotografiert und der Vertreter der UdSSR in Dreiviertelansicht von vorne. Hierdurch blieb der Repräsentant der DDR als Persönlichkeit wenig greifbar, sein Gesicht blieb verborgen. Der sowjetische Politiker hingegen wurde in seiner Individualität, mit gut erkennbaren Gesichtszügen repräsentiert, zudem waren seine in der Regel auf dem Jackett angebrachten Orden und damit sein herausgehobener Status deutlich zu sehen. Hierdurch wurde ihm mehr Gewicht verliehen als seinem ostdeutschen Pendant. Hinzu kam, dass die Bilder meist so komponiert waren, dass der Ostdeutsche in der Regel am Bildrand platziert war, der 26 Vgl. zum Ritual des Handschlags: Dmitri Zakharine, Von Angesicht zu Angesicht: der Wandel direkter Kommunikation in der ost- und westeuropäischen Neuzeit, Konstanz 2005, S. 559–574. Katharina Klotz, »Foto – Montage – Plakat«, in: Karin Hartewig, Alf Lüdtke (Hg.), Die DDR im Bild. Zum Gebrauch der Fotografie im anderen deutschen Staat, Göttingen 2004, S. 29–49, hier S. 38. 27 »Na blago narodov. Posle podpisanija Dogovora ob otnošenijach meždu Sojuzom Sovetskich Socialističeskich Respublik i Germanskoj Demokratičeskoj Respublikoj v Kremle 20 sentjabrja 1955 goda. Foto A. Novikova«, in: Ogonek 39 (1955), S. 3. Vgl. Für eine ähnliche Bildstruktur den Händedruck zwischen Otto Grotewohl und Nikolaj Bulganin nach der Unterzeichnung einer Erklärung 1956, die beanspruchte, die Souveränität der DDR weiter zu stärken. »Polnaja obščnost’ vzgljadov«, in: Ogonek 30 (1956), S. 2.

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Sowjetbürger hingegen eher im mittleren Bereich des Bildes. Auch der gewählte Ausschnitt der im Hintergrund stehenden Delegationen privilegierte die UdSSR: Meistens nahm die sowjetische Delegation etwa drei Viertel des Bildhintergrunds ein und die ostdeutsche Delegation das restliche Viertel. Diese Visualisierungsstrategie widersprach dem mit dem Händedruck in der Regel assoziierten Paritätsgedanken28 und der seit 1955 behaupteten Souveränität und Gleichberechtigung der DDR. Die gewählte Perspektive dürfte damit zusammenhängen, dass solche Begegnungen meist von sowjetischen Fotografen aufgenommen wurden, entweder von Mitarbeitern des Ogonek wie Dmitrij Bal’termanc 29 oder von Reportern der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS. Sie zielten offenbar darauf ab, die Sowjetunion als den deutlich stärkeren Partner zu inszenieren. Dass durchaus auch andere Sichtweisen möglich waren, zeigte sich, als ab Mitte der 1950er Jahre immer häufiger hochkarätige sowjetische Delegationen in die DDR reisten und dies auf Fotos der ostdeutschen Bildagentur »Zentralbild« festgehalten wurde. Diese Fotos, die »ostdeutsche Perspektiven« auf die Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR repräsentierten, wurden in der sowjetischen Presse offenbar dann publiziert, wenn keine sowjetischen Fotografen mit der Delegation mitgereist waren, aber Meldungen über deren DDR-Besuche dennoch bebildert werden sollten. Wie sich diese Perspektive von der üblichen sowjetischen Sichtweise unterschied, demonstriert ein Foto von DDR-Präsident Wilhelm Pieck und dem Staatsoberhaupt der UdSSR, Kliment Vorošilov, das 1956 anlässlich der Teilnahme einer sowjetischen Delegation an den Feierlichkeiten zum 80. Geburtstag Wilhelm Piecks gemacht wurde. Es zeigt Pieck und Vorošilov in ein angeregtes Gespräch vertieft, Vorošilov spricht im Moment der Aufnahme und unterstreicht seine Äußerungen mit einer Bewegung beider Hände, Pieck hört freundlich lächelnd zu. Hier sind beide Politiker in Seitenansicht aufgenommen, so dass die Gesichter beider Personen gut zu sehen sind. Dadurch entsteht der Eindruck, dass es sich um ein Treffen auf Augenhöhe handelt. Zwar steht Vorošilov durch seine ausladende Gestik und seine intensivere Körperspannung stärker im Mittelpunkt, von den Sichtachsen her steht jedoch Pieck im Zentrum, da sich der Blick Vorošilovs und des Dolmetschers auf ihn richten.30 Vereinzelt wurde von DDR-Fotograf/innen sogar das ostdeutsch-sowjetische Kräfteverhältnis im Bild umgedreht und der DDR-Re28 Zakharine, Von Angesicht zu Angesicht, S. 573. Klotz, »Foto – Montage – Plakat«, S. 38. 29 Für eine Auswahl bedeutender Fotografien von Dmitrij Bal’termanc vgl. Theodore H. von Laue, Angela von Laue u. Dmitri Baltermants, Faces of a nation: the rise and fall of the Soviet Union, 1917–1996, Golden, Colorado 1996. 30 »80-letie Vil’gel’ma Pika«, in: Ogonek 3 (1956), S. 7.

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Abb. 3:  Der Händedruck zwischen Michail Pervuchin und Wilhelm Pieck anlässlich des 10. Jahrestags der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus 1955. Foto: Zentralbild. Ogonek 21 (1955), S. 14. © Ogonek/(Zentralbild)/Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, 2012.

präsentant erschien in Dreiviertelansicht von vorne, während der Vertreter der UdSSR aus der Rücken- bzw. Seitenansicht zu sehen war, so etwa beim Händedruck zwischen Wilhelm Pieck und dem stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats Michail Pervuchin (Abb. 3). Er leitete die sowjetische Delegation, die zu den Feierlichkeiten zum 10. Jahrestag der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus angereist war.31 In dem Foto werden dieselben Strategien zur Hervorhebung des DDR-Politikers angewandt wie die von sowjetischen Fotografen üblichen Strategien zur Betonung des Status von Repräsentanten der UdSSR: Pervuchins Gesicht ist kaum sichtbar, während Piecks Gesichtszüge und die auf seinem Jackett angebrachten Auszeichnungen gut zu erkennen sind. Nur einmal im gesamten Untersuchungszeitraum übernahm ein sowjetischer Fotograf die ostdeutsche, auf die Repräsentation von Parität abzielende Perspek31 »Prebyvanie pravitel’stvennoj delegacii SSSR v GDR«, in: Ogonek 21 (1955), S. 14.

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tive: Anlässlich des Besuchs von Nikita Chruščev zu Walter Ulbrichts 70. Geburtstag in Berlin fotografierte V. Lebedev die beiden Parteichefs in Dreiviertelansicht, so dass der Blick auf die Gesichter und Orden beider Männer freigegeben war.32 Das Foto fällt zusätzlich dadurch auf, dass es eine informelle Kommunikationssituation festhält: Wie der Rasen und die Bäume im Hintergrund zeigen, wurde es im Freien aufgenommen, und die Männer sitzen auf Gartenstühlen an einem einfachen Tisch. Dies erscheint ausgesprochen ungewöhnlich, da im Ogonek üblicherweise nie Fotos von informeller ostdeutsch-sowjetischer Kommunikation gezeigt wurden. Diese fanden allenfalls im Text Erwähnung. Auf dem Foto lächeln Chruščev, Ulbricht und ihr Dolmetscher entspannt, und durch die unterschiedlichen Blickrichtungen der drei Männer herrscht im Foto eine ausgeprägte Balance: Ulbrichts Blick ist auf Chruščev gerichtet, Chruščev sieht auf die Papierblätter in Ulbrichts Händen, und der Dolmetscher öffnet das Bild in die Richtung der Betrachter/innen, indem er direkt in die Kamera schaut. Auf der nächsten Doppelseite war sogar zum ersten Mal im Ogonek eine Umarmung zwischen einem sowjetischen und einem ostdeutschen Parteichef zu sehen – eine kleine Sensation, die den gestiegenen Status des ostdeutschen Staates und die im Titel des Beitrags beschworene »Freundschaft«, »Brüderlichkeit« und »Einheit« zwischen UdSSR und DDR signalisierte.33 Dass diese beiden Fotos eine Ausnahme waren, dass sie gleichsam einen besonderen Tribut an Ulbricht anlässlich seines Geburtstags darstellten und keine bleibend neue Sicht auf die DDR und ihre Repräsentant/innen implizierten, zeigt ein Vergleich mit Fotos aus dem darauf folgenden Jahr. Denn 1964 entsprechen die anlässlich von Ulbrichts Staatsbesuch in Moskau und der Unterzeichnung des Freundschaftsvertrags zwischen der UdSSR und der DDR publizierten Fotos von ostdeutsch-sowjetischen Spitzenbegegnungen wieder der bisherigen, das Machtgefälle zwischen UdSSR und DDR repräsentierenden Visualisierungsstrategie. So wurde etwa Chruščev bei seiner Moskauer Begegnung mit Ulbricht von vorne aufgenommen und in den Bildmittelpunkt gerückt, während Ulbricht nur von der Seite zu sehen war und am linken Bildrand stand.34 Die Bildberichterstattung von der Unterschrift des ostdeutsch-sowjetischen Freundschaftsvertrags im gleichen Jahr war im Hinblick auf ihre Aussagen zum 32 »Gjunter Linde, žurnalist iz GDR: Berlin govorit: ›Vil’kommen!‹«, in: Ogonek 28 (1963), Cover vorne innen und S. 1. Das Foto von Chruščev und Ulbricht ist auf S. 1 abgedruckt. 33 »Družba. Bratstvo. Edinstvo«, in: Ogonek 28 (1963), S. 2 f., hier S. 2. Der Stellenwert dieses Bildes wurde dadurch relativiert, dass es in einem kleinen Format abgedruckt und links unten auf der Doppelseite platziert wurde, also an einer eher unauffälligen Stelle. 34 »K. Nepomnjaščij: Vmeste v buduščee«, Ogonek 24 (1964), S. 1.

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Verhältnis zwischen beiden Ländern zumindest widersprüchlich.35 Dass für die visuelle Repräsentation des Ereignisses der Moment ausgewählt wurde, als Chruščev und Ulbricht gleichzeitig das Dokument unterzeichneten, betonte zwar die Parität der von ihnen vertretenen Staaten. Die in Bildstruktur und -motiv selbst angelegte Botschaft von der Gleichberechtigung der beiden Vertragsparteien kontrastierte jedoch stark mit dem hierarchischen Aufbau der Doppelseite, auf der der Beitrag über die Vertragsunterschrift abgedruckt war. Aufgrund seiner Platzierung und seines Formats dürfte er weit geringere Aufmerksamkeit erregt haben als die innersowjetischen Erntenachrichten auf derselben Doppelseite. Denn der illustrierte Artikel über den Freundschaftsvertrag nahm nur etwa ein Sechstel der Doppelseite ein, außerdem war er links unten positioniert und hatte einen geringen Bildanteil von weniger als 50 Prozent.36 Die oberen zwei Drittel der Doppelseite hingegen waren der reichen Getreideernte im sowjetischen Mittelasien gewidmet.37 Als Blickfang diente ein Foto in Querformat, das drei Viertel der Seitenbreite einnahm und rechts oben auf der Doppelseite angeordnet war. Es zeigte Mähdrescher beim Einfahren der Ernte und wurde durch das kleine Foto eines usbekischen Agronomen links oben auf der Doppelseite ergänzt, der als Beweis für die hohe Qualität und Quantität der landwirtschaftlichen Produktion strahlend eine Getreidegarbe in der Hand hielt. Implizit wurde durch das Größenverhältnis und die Anordnung der Beiträge sowie der Fotos der jährlich wiederkehrenden Ernte in der Sowjetunion ein höherer Stellenwert eingeräumt als dem singulären außenpolitischen Ereignis der Vertragsunterschrift mit der DDR. Dies kann als Repräsentation des Machtgefälles zwischen beiden Ländern aufgefasst werden.

Hierarchisierungen durch die Platzierung von Beiträgen Wie hier bereits deutlich wird, wurde die hierarchische Struktur der ostdeutschsowjetischen Beziehungen nicht nur durch die Bildstruktur und Motivwahl kommuniziert, sondern auch dadurch, dass Ogonek-Beiträge über die DDR in der Regel nicht an prominenter Stelle platziert wurden. Dies gilt nicht nur für die Struktur von Doppelseiten, sondern auch für den Aufbau der OgonekNummern insgesamt. Die im Gegensatz zu den meisten anderen Seiten im 35 »Vo imja žiznennych interesov. Foto A. Pachomova«, in: Ogonek 26 (1964), S. 4. 36 Eine eher kurze Zeitspanne der Aufmerksamkeit von Leser/innen für den Beitrag war vor allem wegen der in europäischen Kulturen üblichen Leserichtung von links nach rechts und wegen der bevorzugten Wahrnehmung von Bildern gegenüber Texten zu erwarten. 37 »V. Krupin: Parol’: Sto centnerov. Foto Ja. Rjumkina«, in: Ogonek 27 (1964), S. 4 f.

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Heft stets in Farbe gehaltene Vorderseite des Covers, die in der Regel ein Farbfoto, manchmal aber auch ein Gemälde oder eine Zeichnung zeigte, war meist für Repräsentationen der Sowjetunion und ihrer Bürger/innen, vereinzelt auch für Visualisierungen sowjetischer Produkte reserviert. Nur ausnahmsweise kamen Repräsentationen anderer, meist staatssozialistischer Länder und ihrer Vertreter/innen an diese exponierte Stelle. In geringerem Maße galt diese Priorität zugunsten der Sowjetunion auch für die Innenseiten des Covers und für die Außenseite des Schutzumschlags. Nur bei Staatsbesuchen und anderen besonderen Ereignissen konnte von diesem Muster abgewichen werden. Auf den als besonders prestigeträchtig geltenden ersten Seiten der Nummer wurde meist über herausragende Ereignisse der sowjetischen Politik berichtet, etwa über Parteitage, Wahlen oder Reden der politischen Eliten. Eine exponierte Stellung nahm auch die mehrseitige Farbbeilage in der Mitte des Heftes ein. Sie enthielt Reproduktionen von Kunstwerken aus aller Welt oder Szenen aus dem Leben in der Sowjetunion oder in anderen Ländern. In der Hierarchie der Aufmerksamkeit stand die Sowjetunion also, ihrer hegemonialen Position entsprechend, ganz oben. Darauf folgten mit großem Abstand andere sozialistische Staaten, blockfreie und (vor allem seit der Öffnung der UdSSR nach Stalins Tod) westliche Länder. In dieser Rangordnung nahm die DDR bis Mitte der 1950er Jahre einen untergeordneten Platz ein, von dem sie bis Mitte der 1960er Jahre allerdings deutlich aufsteigen konnte. Die niedrige Position der DDR in der Hierarchie der Aufmerksamkeit lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass der ostdeutsche Staat in den untersuchten Ogonek-Jahrgängen nur ein einziges Mal auf der Vorderseite des Covers repräsentiert war: Anlässlich des 5. Jahrestags des ostdeutschen Staates brachte die Zeitschrift ein Foto von der Stalin-Allee in Ost-Berlin, die als »erste sozialistische Straße« der DDR gefeiert wurde und sich stark an zeitgenössischen sowjetischen architektonischen Vorbildern orientierte.38 In dieses Bild war also zugleich die sowjetisch-ostdeutsche Hierarchie eingeschrieben. Repräsentant/ innen der DDR wurden nie auf dem Cover der sowjetischen Illustrierten dargestellt, allenfalls vereinzelt auf Seite 1.39 Der einzige Deutsche, der jemals im Untersuchungszeitraum auf der Vorderseite des Covers erschien, war 1953 Karl Marx.40 Dies diente der Würdigung seines 70. Todestags, der in der UdSSR auf38 Cover von Ogonek 40 (1954). 39 So etwa Wilhelm Pieck, der Präsident der DDR, anlässlich des 5. Jahrestags der Staatsgründung: »Vil’gel’m Pik, Prezident Germanskoj Demokratičeskoj Respubliki: Pjat’ let«, in: Ogonek 40 (1954), S. 1. 40 Cover von Ogonek 12 (1953).

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wändig begangen wurde. Im gleichen Heft brachte Ogonek zwei Artikel, die sich mit Marxens Biografie, dem Siegeszug des Marxismus-Leninismus in der UdSSR und der DDR sowie mit Marxens Äußerungen zu Russland beschäftigten.41 Insofern wurde dieses Cover zumindest teilweise in Bezug zur DDR gesetzt und unterstrich die vom ostdeutschen und sowjetischen Staat geteilten Werte und Normen. Auch in der prestigeträchtigen Farbbeilage des Ogonek war die DDR nur äußerst selten präsent. Zu dieser Ehre kam sie vor allem Mitte der 1950er und Mitte der 1960er Jahre, als sich die Beziehungen zwischen der UdSSR und der DDR intensivierten. Dementsprechend hoch ist die Relevanz der dort publizierten Bilder einzuschätzen. In den 1950er Jahren diente die visuelle Repräsentation von Vertreter/innen der kulturellen Eliten des ostdeutschen Staates in der Farbbeilage dazu, die DDR im Bewusstsein der Leser/innen als friedliebenden Staat zu etablieren. 1953 erhielt der Schriftsteller Johannes R. Becher anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Stalin-Friedenspreis ein ganzseitiges Farbfoto, 1955 die Schriftstellerin Anna Seghers.42 Ebenfalls 1955, in den drei Monaten vor dem Abschluss des ostdeutsch-sowjetischen Staatsvertrags, publizierte Ogonek anlässlich der Ausstellung von Gemälden aus dem Dresdener Zwinger in Moskau43 und der Rückgabe ostdeutscher Kunstschätze durch die UdSSR an die Dresdener Gemäldegalerie mehrere Farbbeilagen mit Werken aus dem Museum der sächsischen Hauptstadt.44 Das Privileg einer mehrseitigen Farbbei41 »N. Samorukov: Karl Marks. K 70-letiju so dnja smerti«, in: Ogonek 12 (1953), S. 9–11. »L. Alekseeva, Marks o Rossii«, in: Ogonek 12 (1953), S. 12. 42 »Laureat meždunarodnoj Stalinskoj premii ‚Za ukreplenie mira meždu narodami’ nemeckij pisatel’ Jogannes Becher. Foto Dm. Bal’termanca«, in: Ogonek 21 (1953), S. 1 der Farbbeilage (unpaginiert, nach S. 24 im Heft). »Anna Zegers, laureat meždunarodnoj Stalinskoj premii ›Za ukreplenie mira meždu narodami‹, nemeckaja pisatel’nica. Foto A. Gosteva«, Ogonek 10 (1955), S. 2 der Farbbeilage (unpaginiert, nach S. 8 im Heft). 43 »Otkrytie vystavki kartin Drezdenskoj galerei«, in: Ogonek 19 (1955) S. 15. »N. Svetlova: U kartin Drezdenskoj galerei. Foto P. Evgen’eva«, Ogonek 20 (1955), S. 27 f. »Vice-prezident Akademii iskusstv Otto Nagel’, professor Berngard Kretcšmar: Velikij akt družby«, in: Ogonek 20 (1955), S. 28. »Zakrytie vystavki«, in: Ogonek 36 (1955), S. 2. Die Ausstellung wurde im Mai 1955 im Moskau Puškin-Museum eröffnet und zeigte bis September einige der Werke, die im weiteren Verlauf des Jahres an die Dresdener Gemäldegalerie zurückgegeben wurden. Dazu gehörten u. a. einige bedeutende Werke Dürers und Jan van Eycks sowie Raffaels »Sixtinische Madonna«. Nach ihrer Rückgabe wurden die Gemälde zunächst von November 1955 bis April 1956 in der Nationalgalerie Berlin ausgestellt, dann in der wieder aufgebauten Sempergalerie in Dresden. 44 Die Serie von Farbbeilagen wurde im Juni 1955 durch einen erläuternden Artikel eingeleitet: »Pavel Antokol’skij: Večno živoe iskusstvo«, in: Ogonek 23 (1955), S. 16. Darauf folgte unmittelbar die erste, acht Seiten umfassende Farbbeilage. Fortsetzungen der Serie wur-

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Abb. 4:  Bildbericht zum 15. Jahrestag der DDR-Gründung 1964. Fotos: G. Gurkov (Sonderkorrespondent des Ogonek). Ogonek 41 (1964), unpaginierte Farbbeilage nach S. 16. © Ogonek/(G. Gurkov)/Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, 2012.

lage erhielt die DDR dann erst wieder anlässlich des 15. Jahrestags ihrer Gründung 1964 (Abb. 4).45 Die wichtigsten Motive des Bildberichts waren eine Außenansicht des Dresdener Zwingers und der darin untergebrachten Gemäldegalerie Alte Meister, eine Großaufnahme des Treptower Ehrenmals den abgedruckt in: Ogonek 26 (1955) (zweiseitige unpaginierte Farbbeilage, nach S. 8 im Heft), Ogonek 28 (1955) (vierseitige unpaginierte Farbbeilage, nach S. 16 im Heft). Dazu erschienen wieder zwei Begleitartikel: »V l. Tolstoj, kandidat iskusstvovedčeskich nauk: Dvaždy spasennye šedevry«, in: Ogonek 28 (1955), S. 16 f. und »A. Abramova: Na našich vkladkach«, in: Ogonek 28 (1955), S. 17, Ogonek 33 (1955) (zweiseitige unpaginierte Farbbeilage, nach S. 8 im Heft). Mit der Rückgabe der Gemälde begann 1955 die zwischen der sowjetischen und ostdeutschen Regierung vereinbarte Rückführung von insgesamt etwa 1,5 Millionen Kunstschätzen aus der Sowjetunion in die DDR, die erst 1958 abgeschlossen wurde. Bis heute verhandeln Deutschland und Russland über die Rückgabe weiterer in Russland verbliebener Kunstschätze. Vgl. Hermann Parzinger, »Folgen des Zweiten Weltkriegs für Kunst- und Kulturgüter«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 36–47 (2009), S. 39–46, hier S. 44 f. 45 »GDR, 1964. Foto G. Gurkova, special’nogo fotokorrespondenta ›Ogon’ka‹«, in: Ogonek 41 (1964), S. 1–3 der unpaginierten, insgesamt vierseitigen Farbbeilage, nach S. 16 im Heft.

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in Berlin für die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Sowjetsoldaten sowie Fotos von der Karl-Marx-Allee (1949 bis 1961: Stalin-Allee) in Berlin.46 Insbesondere das Treptower Ehrenmal und der Dresdener Zwinger können als lieux de mémoire47 der ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen gelten, die zugleich das Machtgefälle zwischen beiden Staaten repräsentierten. Das Treptower Ehrenmal glorifizierte die Sowjetunion als Siegermacht im Zweiten Weltkrieg und als Befreierin nicht nur Deutschlands, sondern ganz Europas.48 Insbesondere zum Jahrestag der DDR 1964 wurde es mit zusätzlichen Bedeutungsnuancen aufgeladen und symbolisierte nun die Fürsorge der UdSSR für Ostdeutschland, die den DDR-Bürger/innen einen friedlichen Wiederaufbau ihrer zerstörten Städte und ein sorgloses Leben ermöglicht habe. Als Zeichen hierfür konnte vor allem das gerettete Kind auf dem Arm des Sowjetsoldaten interpretiert werden, das mit Fotos vom friedlichen Leben ostdeutscher Kinder (und ihrer Eltern) korrespondierte. Der Dresdener Zwinger hingegen stand aus sowjetischer Sicht für die »zweifache Rettung« der dort aufbewahrten Kunstschätze durch die UdSSR, einmal durch ihre Verlagerung aus dem Kriegsgebiet, dann durch ihre sorgfältige Wiederherstellung durch sowjetische Restaurator/innen. Hiermit wurde neben dem überwiegend militärisch konnotierten Treptower Ehrenmal ein zweites, stärker kulturell aufgeladenes Symbol der hierarchisierten ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen eingeführt, das aber nach wie vor auch stark mit dem Zweiten Weltkrieg verbunden war. Dadurch konnte sich die Sowjetunion als großzügige, kulturell beflissene Siegermacht profilieren, die die nationalsozialistische Propaganda vom »kulturlosen Bolschewismus« Lügen strafte. Zugleich eröffnete dieses Symbol die Möglichkeit, die Konnotation der Deutschen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit durch den Verweis auf die Jahrhunderte lange Tradition deutscher Hochkultur zu ergänzen bzw. zu überblenden.

46 Vgl. Tilo Köhler, Unser die Straße. Unser der Sieg. Die Stalinallee, Berlin 1999. Die Straße trug von 1949 bis 1961 den Namen Stalin-Allee und wurde dann im Kontext der Entstalinisierung in Karl-Marx-Allee umbenannt. 47 Vgl. zum Konzept der lieux de mémoire: Pierre Nora, »Entre Mémoire et Histoire. La problématique des lieux«, in: ders., Les lieux de mémoire I: La République, Paris 1997, S. XV– XLII (dt.: Pierre Nora, »Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Die Gedächtnisorte«, in: ders., Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990, S. 11–33). 48 In ihren Grundzügen blieb die 1949 anlässlich der Einweihung des Denkmals gegebene Interpretation gültig: »Pamjatnik neuvjadaemoj slavy«, in: Ogonek 25 (1949), S. 1. Vlg. zum Denkmal Peter Fibich, »Der Triumph des Sieges über den Tod. Das sowjetische Ehrenmal in Berlin-Treptow«, , angesehen am 28.11.2010.

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Im schwarz-weiß gehaltenen Innenteil der Ogonek-Hefte waren – vor allem in den ersten fünf Jahren der Existenz des ostdeutschen Staates – selbst hochrangige Vertreter/innen der DDR und wichtige Ereignisse der ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen meist erst nach Seite 4 im Heft zu finden. Ausnahmen waren bis Mitte der 1950er Jahre selten und häuften sich erst Mitte der 1960er Jahre, was für eine deutliche Aufwertung der DDR spricht: Auf den ersten Seiten des Ogonek erschienen ein Beitrag zum Abschluss der Vereinbarung über die »volle Souveränität« der DDR Mitte Juli 1956,49 ein Bericht über Chruščevs Berlin-Reise 1963,50 ein Artikel zum 15. Jahrestag der DDR 196451 sowie ein Beitrag über den Besuch Walter Ulbrichts in der Sowjetunion im gleichen Jahr.52 Alle genannten Artikel waren mit einem oder mehreren Fotos illustriert, die allerdings die Aufwertung des ostdeutschen Staates insofern abschwächten, als sie von ihrer Bildstruktur und -motivik her eine unverkennbare Hierarchie zwischen der UdSSR und der DDR suggerierten oder – wie im Fall des DDRGründungsjubiläums – darauf verzichteten, die Errungenschaften des ostdeutschen Staates markant ins Bild zu setzen.

Fazit Wie die Analyse ausgewählter Aspekte der Ogonek-Berichterstattung über die Integration der DDR in den sowjetischen Hegemonialraum, über die ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen und über die DDR gezeigt hat, wurden visuelle Repräsentationen dazu genutzt, die zunehmende Integration der DDR in den sowjetischen Hegemonialraum und die von einem starken Machtgefälle geprägten ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen medial zu kommunizieren. Dabei spielte die Platzierung von Beiträgen im Heft eine ebenso wichtige Rolle wie die Gestaltung des Bildaufbaus und die Auswahl der fotografierten Motive. Auf der visuellen Ebene erfolgte eine intensive Auseinandersetzung mit dem Integrationshemmnis der erst kurz zurückliegenden Kriegserfahrungen mit dem Ziel, bei der sowjetischen Leser/innenschaft Vorbehalte gegenüber der DDR abzuschwächen oder sogar zu beseitigen. Im Verlauf des Untersuchungszeitraums, insbesondere in den Schlüsseljahren 1955, 1963 und 1964, lässt sich 49 »Polnaja obščnost’ vzgljadov«, in: Ogonek 30 (1956), S. 2. 50 »Gjunter Linde, žurnalist iz GDR: Berlin govorit: ›Vil’kommen!‹«, in: Ogonek 28 (1963), Cover vorne, innen und S. 1. »Družba. Bratstvo. Edinstvo«, in: Ogonek 28 (1963), S. 2 f. 51 »Leonid Stepanov (special’nyj korrespondent Ogon’ka): Buduščee Germanii – zdes’!«, in: Ogonek 41 (1964), S. 2 f. 52 »K. Nepomnjaščij, Vmeste v buduščee«, in: Ogonek 24 (1964), S. 1 f.

anhand der visuellen Repräsentationen eine deutliche Aufwertung der DDR und eine unverkennbare Intensivierung der Integrationsprozesse beobachten. Dennoch blieben die DDR und die UdSSR »ungleiche Freunde«.

Weltmacht kommunizieren Möglichkeiten und Grenzen sowjetischer Verständigung mit außereuropäischen Partnern am Beispiel Indonesiens Ragna Boden Dieser Beitrag untersucht die Außenpolitik als klassischen Forschungsbereich des Ost-West-Konfliktes unter neuen, kommunikationsgeschichtlichen Aspekten. Im Zentrum steht die sowjetische Verständigung mit außereuropäischen Partnern. Die Untersuchung geht von der Annahme aus, dass transkulturelle Kommunikation nach außen für die Stellung der UdSSR als Weltmacht existentiell war. Anders ausgedrückt: ohne eine solche Verständigung war ihr Status als global player undenkbar. Die Funktionseliten der UdSSR verstanden sich als Vorreiter einer universellen Idee. Folglich mussten sie entsprechende Kommunikationsmittel und -kanäle finden oder neu schaffen, um ihre Botschaft zu verbreiten. Als multiethnischer Staat schien die UdSSR gute Voraussetzungen für eine internationale Verständigung mitzubringen. Zudem verfügte sie mit dem kommunistischen Netzwerk über einen besonderen supra- bzw. interkulturellen Kommunikationsweg. Allerdings ergaben sich aus dieser Konstellation auch spezifische Probleme. Wie etwa ließ sich der Widerspruch zwischen dem sowjetischen Führungsanspruch innerhalb der kommunistischen Weltbewegung und dem Verhandeln mit den Genossen weltweit auf Augenhöhe lösen? Durfte in Hierarchien gedacht und gesprochen werden? Was bedeuteten kulturelle Unterschiede für die internationale Verständigung, wie beeinflussten sie sie? Gerade im außereuropäischen Bereich war zu erwarten, dass sie im Kontakt mit der europäisch-russisch dominierten Sowjetelite eine Rolle spielten. Nur wenn es gelang, in der Zeit der Dekolonisierung angemessene Kommunikationsformen für die Masse der neu entstehenden Staaten zu finden, hatte die UdSSR eine Chance, dort als Kooperationspartner wahrgenommen zu werden und als Weltmacht agieren zu können. Antworten auf solche Fragen sind durch die Analyse der inter- bzw. transkulturellen Kommunikation zu gewinnen, denn – um es mit dem Klassiker der Kommunikationsforschung Paul Watzlawick zu sagen – eine Beziehung wird wesentlich durch Kommunikation geprägt.1 Den Rahmen dafür bildet die 1 Paul Watzlawick, Janet H. Beavin, Don D. Jackson, Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern 112007, S. 61.

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Kulturgeschichte des Politischen, die Politik als soziales und kommunikatives Handeln versteht.2 Doch in den bisherigen Beiträgen zur Kulturgeschichte der sowjetischen Diplomatie ist die transkulturelle Kommunikation so gut wie nicht zur Sprache gekommen,3 wie überhaupt die Kulturgeschichte das Politische lange stiefmütterlich behandelt hat.4 Entweder hat man, wenn es sich um sowjetische Kontakte zu Europa oder Nordamerika handelte, offenbar keine Notwendigkeit dafür gesehen, da man – welche Ironie für die Zeit der OstWest-Konfrontation! – die sowjetischen Funktionäre im »westlichen« Kulturraum verortete, oder die kulturgeschichtliche Dimension wurde ausgeklammert, weil die Ereignisgeschichte im Vordergrund stand.5 Exemplarisch für die intensive Kommunikation mit außereuropäischen Partnern stehen im Folgenden die sowjetisch-indonesischen Beziehungen der 1920er bis 1960er Jahre. Sie sind gekennzeichnet durch Intensität, Kulturdistanz und Mehrdimensionalität, also genau durch die Faktoren, welche für eine 2 Vgl. Thomas Mergel, »Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik«, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574–606, bes. S. 575, 593, 605; Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt am Main 1981, sowie die Würdigung seiner Überlegungen bei Ursula Lehmkuhl, »Entscheidungsprozesse in der internationalen Geschichte: Möglichkeiten und Grenzen einer kulturwissenschaftlichen Fundierung außenpolitischer Entscheidungsmodelle«, in: Wilfried Loth, Jürgen Osterhammel, Internationale Geschichte. Themen, Ergebnisse, Aussichten, München 2000, S. 187–207, hier S. 197; Frank Bösch, »Politik als kommunikativer Akt. Formen und Wandel der Gesprächsführung im Parteivorstand der fünfziger und sechziger Jahre«, in: Moritz Föllmer (Hg.), Sehnsucht nach Nähe. Interpersonelle Kommunikation in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert, Wiesbaden 2004, S. 197–213. 3 Dies bemerkt, im Zusammenhang mit ihrer Studie zu chinesischen Kominterndelegierten und ihrer Einbindung in die Kommunikationsstrukturen der Komintern, auch Karin-Irene Eiermann, Chinesische Komintern-Delegierte in Moskau in den 1920er/1930er Jahren. Kommunikations- und Herrschaftsstrukturen im Zentrum der internationalen kommunistischen Bewegung, Berlin 2009, S. 31, die den eigenen Anspruch in diesem Punkt nur zum Teil einlöst. 4 Vgl. zuletzt das Plädoyer für eine stärkere Einbeziehung des Politischen in die Kulturgeschichte von Jana K. Lipman in ihrer Rezension zu: Gilbert M. Joseph, Daniela Spenser (Hg.), In From the Cold. Latin America’s new Encounter with the Cold War, Durham 2008, (eingesehen am 16.04.2012). 5 Zu ersterem: Susanne Schattenberg, »Die Sprache der Diplomatie und das Wunder von Portsmouth. Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Außenpolitik«, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuroas 56 (2008), S. 3–26; zu letzterem vgl. die einschlägigen Veröffentlichungen des Cold War International History Project (CWIHP) (eingesehen am 16.04.2012), und des Parallel History Project, (eingesehen am 16.04.2012).

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Analyse des Einflusses von Kommunikationsmodi und kulturellen Differenzen wichtig sind. Was hat es mit diesen Parametern auf sich? Die Intensität lässt sich kurz erklären: Die Kontakte zwischen Moskau und Jakarta entwickelten sich bis Anfang der 1960er Jahre zu den intensivsten, die Moskau damals mit nicht-sozialistischen Staaten pflegte. Sie waren so intensiv, dass Zeitgenossen sich fragten, ob die kommunistischen Revolten in Indonesien von Moskau ausgingen und generell, wie weit der sowjetische Einfluss in Asien reichte.6 Der zweite Begriff, nämlich der der »Kulturdistanz«, beschreibt die wechselseitige Wahrnehmung von Begegnungspartnern als fremd, wenn sie unterschiedlichen Kulturkreisen angehören.7 Das wichtigste Medium zur Überwindung solcher kultureller Distanzen ist die interkulturelle Kommunikation. Wegen der für sozialistische Staaten typischen Verbindung von Staats- und Parteiinteressen bietet sich zudem das Mehrebenensystem als konzeptuelle Bezugsgröße an. Dieser Ansatz stammt aus der Systemtheorie und hat über die Politikwissenschaft Eingang in die historische Forschung gefunden. 8 Er geht von einer Verflechtung verschiedener Ebenen in der Politik aus. Dies trifft auf den sowjetischen Fall zu, denn den Akteuren stand für die Gestaltung der außenpolitischen Beziehungen nicht nur die Diplomatie als konventioneller institutioneller Kommunikationskanal zur Verfügung, sondern auch – und dies stellte eine Besonderheit gegenüber den USA dar – das kommunistische Netzwerk. Hinzu kamen Akteure außerhalb der Sphären von Staat und Partei. In der Regel liefen die Kontakte auf mehreren Ebenen gleichzeitig ab, so dass sich die Frage stellt, inwiefern die Kommunikationswege parallel liefen oder verflochten waren. Die Untersuchung stützt sich auf Text- und Bildquellen aus den russischen Archiven und der sowjetischen Presse. Indonesische Archivalien zum Thema sind (noch) nicht zugänglich bzw., wie im Falle der Überlieferung der Kommunistischen Partei Indonesiens (PKI), aller Wahrscheinlichkeit nach im Zuge der Kommunistenverfolgungen 1965–1966 vernichtet worden.

6 Vgl. William Feuilletau de Bruyn, The Rising Soviet Star over Indonesia, Den Haag [1947]. 7 Vgl. Gerhard Maletzke, Interkulturelle Kommunikation. Zur Interaktion zwischen Menschen verschiedener Kulturen, Opladen 1996, bes. S. 33, 37. 8 Zum Mehrebenesystem generell vgl. Simona Piattoni, The theory of multi-level governance: conceptual, empirical, and normative challenge, Oxford 2010; Johannes Huinink, Mehrebenensystem-Modelle in den Sozialwissenschaften, Wiesbaden 1989; aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive: Michael Gehler, Zeitgeschichte im dynamischen Mehrebenensystem. Zwischen Regionalisierung, Nationalstaat, Europäisierung, internationaler Arena und Globalisierung, Bochum 2001; ders. (Hg.), Netzwerke im europäischen Mehrebenensystem: von 1945 bis zur Gegenwart = Networks in European Multi-Level Governance, Wien, Köln u.a. 2009.

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Das Anliegen des Beitrags ist ein doppeltes: Zum einen sollen die historischen Zusammenhänge auf ein theoretisches Fundament gestellt, zum anderen das Potential der genannten Konzepte für die Analyse der internationalen Beziehungen ausgelotet werden. Folgende Themen stehen dabei im Mittelpunkt: erstens die Kommunikationssituationen und ihre Auswirkungen auf politisches Handeln, denn die Situation und Art der Kommunikation, so die Theorie, beeinflusste auch die Inhalte;9 zweitens die Frage, ob und gegebenenfalls wie und an welcher Stelle ein Machtgefälle zwischen zweiter und dritter Welt bzw. zwischen den Bruderparteien kommuniziert wurde; drittens, inwiefern Kulturunterschiede wahrgenommen, angesprochen und verhandelt wurden und wie sie die Beziehungen beeinflussten. Im Kontext des Mehrebenensystems stellt sich hierbei auch die Frage, ob Kulturdistanzen auf Parteiebene wegen der gemeinsamen Zielorientierung als geringer eingeschätzt wurden als im Rahmen der zwischenstaatlichen Beziehungen. Insgesamt geht es darum, das Potential der UdSSR als Weltmacht anhand der Fähigkeit zum interkulturellen Dialog auszuloten.

Tendenziell komplementär: die Parteiverbindungen Die sowjetisch-indonesischen Beziehungen in den 1920er bis 1960er Jahren waren vielschichtig und wechselhaft. Sie hingen von globalen wie innenpolitischen Rahmenbedingungen und Ereignissen ab wie den innersowjetischen und -indonesischen Entwicklungen, dem Unabhängigkeitskampf Indonesiens von den Niederlanden, dem Ost-West-Konflikt und der aufkommenden sowjetisch-chinesischen Rivalität. In Zeiten der niederländischen Kolonialherrschaft in »Ost-Indien« bis 1945/49 waren diese Beziehungen wie viele andere Verbindungen der UdSSR mit außereuropäischen Regionen davon gekennzeichnet, dass sie auf der Parteiebene begannen. Die PKI hatte besondere Bedeutung nicht nur dadurch, dass sie eine der ältesten Asiens und sehr aktiv war – sie beteiligte sich an drei Aufständen im Archipel 1926, 1948, 1965 –, sondern auch deshalb, weil sie sich bis Mitte der 1960er Jahre zur drittgrößten KP weltweit entwickelte, nach der KPdSU und der KP Chinas.

9 Vgl. zum Ansatz der interpersonalen Kommunikation: Moritz Föllmer, »Einleitung: Interpersonale Kommunikation und Moderne in Deutschland«, in: Ders. (Hg.), Sehnsucht nach Nähe. Interpersonelle Kommunikation in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert, Wiesbaden 2004, S. 9–44, hier S. 10.

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Durch ihre Einbindung in die Komintern, der die PKI seit ihrer Gründung 1920 angehörte, waren die indonesischen Kommunisten der ersten Generation mit einschlägigen bolschewistischen Inhalten und der Formsprache vertraut.10 Thematisch ging es in den Diskursen der 1920er Jahre um nicht weniger als die Chance einer kommunistischen Revolution in »Niederländisch Indien«. Die Frage wurde sowohl im wichtigsten Komintern-Gremium, dem Exekutivkomitee (EKKI), als auch von Stalin selbst angesprochen. Charakteristisch an den Kommunikationssituationen war, dass im EKKI indonesische Genossen gleichberechtigt an der Diskussion beteiligt waren, während Stalin seine Meinung ex cathedra verkündete.11 So ergab sich im ersten Fall eine Situation personaler Kommunikation, also direkten Kontaktes zwischen den indonesischen Genossen und denen der internationalen kommunistischen Bewegung. Zudem bestand eine sogenannte symmetrische Kommunikationssituation, in der die Indonesier im Dialog mit den Genossen im EKKI auf Augenhöhe diskutierten; und das zu einer Zeit, in der die Kommunistische Partei der Sowjetunion (VKP(b)) die Diskurshoheit in der Komintern übernahm.12 Das Beispiel Stalins dagegen steht für eine bereits in dieser Zeit nichtpersonale und zudem asymmetrische (oder komplementäre) Kommunikationssituation, in der er seine Meinung kundtat, ohne die PKI zu Rate zu ziehen. Ungeachtet der Konstellationen war die Botschaft gleichlautend: Sowohl Stalin als auch die Genossen im EKKI hielten den Zeitpunkt Mitte der 1920er Jahre für ungünstig und die PKI für zu schwach, um eine Revolution in Indonesien erfolgreich durchzuführen. Unterschiedliche Kommunikationssituationen und -wege transportierten also gleiche Inhalte. Nimmt man den weiteren Verlauf der Ereignisse in die Analyse hinein, so ergibt sich außerdem, dass selbst einheitliche Botschaften noch kein Garant dafür waren, dass diese Empfehlungen auch befolgt wurden. Tatsächlich ließen sich die indonesischen Kommunis-

10 Zum Kommunikationsraum Komintern vgl. Eiermann, Chinesische Komintern-Delegierte, bes. S. 64–68, sowie die entsprechenden Beiträge im vorliegenden Sammelband. Näheres zur PKI in der Komintern bei A. B. Reznikov, »Komintern i problemy strategii kommunističeskoj partii Indonezii. 1920–1926gg.«, in: Narody Azii i Afriki 6/1976, S. 60–75. 11 Vgl. J. Stalin, »Über die politischen Aufgaben der Universität der Völker des Ostens. Rede in einer Versammlung der Studenten der Kommunistischen Universität der Werktätigen des Ostens, 18. Mai 1925 (Taškent)«, in: J. Stalin, Werke, Bd. 7, Berlin 1953, S. 115–131, hier S. 131. 12 Vgl. zur Bolschewisierung der Komintern Kevin McDermott, Jeremy Agnew, The Comintern: A History of International Communism from Lenin to Stalin, London 1996, S. 41–80.

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ten entgegen den Ratschlägen sowohl der Komintern als auch Stalins 1926/27 in einen Aufstand hineinziehen, der letztlich scheiterte. Keine der geschilderten Kommunikationssituationen war also offenbar entscheidend für die Politik der indonesischen Partner. Folgt man den Foucaultschen und Weberschen phänomenologischen Machtbegriffen,13 so ergibt sich daraus eine geringe Bindung der PKI an die Vorgaben und Wünsche der kommunistischen Weltbewegung allgemein und Stalins im besonderen sowie eine enge an PKI-interne Erwägungen und die politischen Entwicklungen in Indonesien. Das kommunikative Handeln Stalins und der Genossen im EKKI suggerierte zwar die Möglichkeit der Einflussnahme auf das globale Geschehen, faktisch jedoch entschieden die Indonesier nach anderen Kriterien. Die hier analysierte Vorgeschichte der missglückten Revolution von 1926/27 ist deshalb bedeutsam, weil sie die für Parteibeziehungen typischen kommunikativen Muster aufzeigt und auf generationsübergreifende Grundkonstanten des Verhältnisses zwischen PKI und VKP(b) verweist. Dies lässt sich vergleichend anhand des Umgangs mit der neuen, nicht in Moskau sozialisierten PKI-Führung nach 1948 nachweisen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit waren die Rahmenbedingungen für den Kontakt mit der PKI ungünstig, denn die PKI kämpfte zumeist an zwei Fronten: Sie beteiligte sich am Unabhängigkeitskampf gegen die niederländische Kolonialmacht und focht gleichzeitig gegen antikommunistische indonesische Kräfte. Letzteres führte 1948 wieder zu einem Aufstand, der ebenfalls niedergeschlagen wurde.14 Als Folge riss der direkte Kontakt zwischen Moskau, wo sich noch einige PKI-Mitglieder aufhielten, und den Genossen in Indonesien zeitweise ab. Dies war der Punkt, an dem die Kommunikation in einer Weise neu geordnet wurde, die das beiderseitige Verhältnis nachhaltig beeinflussen sollten. In der Zeit von 1948–1953 gab es eine kurze, aber intensive Phase, in der die PKI und Stalin in regem Austausch standen, meist per Briefkontakt über Peking, ein einziges Mal auch persönlich. Das setting, wie es im Jargon der Kommunikationswissenschaften heißt, also die Rahmenbedingungen der Verständigung, wa13 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, hg. von Johannes Winckelmann, Bd. 1, Tübingen 41956, S. 28; Michel Foucault, Analytik der Macht, hg. von Daniel Defert, François Ewald, Frankfurt am Main 2005. 14 Die Frage nach einer Einwirkung Moskaus in bezug auf diese sogenannten Madiun-Ereignisse verdient eingehendere Behandlung. Sie wird unter anderem in folgenden Beiträgen diskutiert: Ragna Boden, Die Grenzen der Weltmacht: Sowjetische Indonesienpolitik von Stalin bis Brežnev, Wiesbaden 2006, S. 72–82; darauf Bezug nehmend: Harry Poeze, »The Cold War in Indonesia, 1948«, in: Journal of Southeast Asian Studies 40 (2009), S. 497–517, hier S. 505 Anm. 8.

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ren zunächst von der Schriftform und von der Vermittlung über eine weitere Instanz in Gestalt der chinesischen Genossen geprägt. Zu den entscheidenden Voraussetzungen des gedanklichen Austauschs gehörte auch, dass eine neue, nicht in Moskau ausgebildete Generation die Führung der PKI übernahm. Sie hatte weder Zugang zu einem transnationalen Forum wie der Komintern – die rein europäisch ausgerichtete Kominform als Nachfolgeorganisation war dafür kein Ersatz – noch zum sowjetischen oder chinesischen Sozialismus-Diskurs gehabt. Nach eigenen Angaben war sie nicht einmal ausreichend mit den Klassikern des Marxismus-Leninismus oder Maoismus vertraut, als sie 1951 das Partei-Programm entwarf.15 Vor diesem Hintergrund musste es als Fortschritt erscheinen, wenn sich die PKI-Spitze über die chinesischen Genossen mit der Bitte um Beratung an die VKP(b) wandte.16 Sie forderte auf diese Weise aktiv Ratschläge zum Vorgehen in Indonesien. Die Rolle des ZK der KP Chinas in der Kommunikation zwischen PKI und VKP(b) beschränkte sich keineswegs auf eine rein organisatorisch-technische Vermittlungsfunktion, sondern umfasste ebenso die inhaltliche Beratung. Die Chinesen boten nicht nur von sich aus Lageeinschätzungen an, sondern kamen auch Stalins Aufforderung nach, gezielt ergänzende Informationen zu spezifischen Sachverhalten zu liefern, auf deren Basis dieser dann der PKI Ratschläge erteilte. Ein solches Vorgehen war notwendig, da Moskau zeitweise über keine eigenen Informanten in Indonesien verfügte und die wenigen in der UdSSR verbliebenen indonesischen Kommunisten kaum noch Kontakt zu ihrem Herkunftsland hatten. Trotz der zusätzlichen Auskünfte der Chinesen blieben einige Einschätzungen Stalins fehlerhaft. Er übertrug die russisch-sowjetischen Verhältnisse einer gut situierten Schicht von Bauern, die er als »Kulaken« diffamierte und verfolgen ließ, auf Indonesien, was nicht zutraf. Auf dieser Basis erteilte er der PKI die von dort erbetenen Ratschläge, die diese dann nur zum Teil annehmen konnte. Die PKI-Führung verwies ausdrücklich auf Stalins Fehler in der Beurteilung der indonesischen Sozial- und Wirtschaftsverhältnisse und suchte dennoch den Rat der sowjetischen Genossen. »Wir glauben, dass einige Schlussfol15 ZK der PKI an das ZK der KPCh, 20.3.1952, Übersetzung aus dem Englischen (Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Social’no-Političeskoj Istorii, RGASPI (Russländisches Staatliches Archiv für Sozialpolitische Geschichte), f. 558, op. 11, d. 313, ll. 1–3, hier l. 1). 16 Die inhaltlichen Details der Diskussion sind nachzulesen in: Ragna Boden, »Soviet-Indonesian relations in the first postwar decade (1945–54)«, in: Parallel History Project, ETH Zürich (eingesehen am 16.04.2012) im Abschnitt »The inter-party level«. Für den hier vorliegenden Beitrag sollen die funktionalen Fragen der Kommunikation im Vordergrund stehen. Daher genügt es, ihre Grundzüge kurz zu skizzieren.

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gerungen unserer sowjetischen Genossen nicht ganz korrekt sind«, hieß es höflich, aber deutlich aus Jakarta.17 Üblicherweise schickten die Indonesier Stalin ihre Vorschläge für das weitere Vorgehen im Archipel, die Stalin dann entweder direkt oder nach Konsultation der KPCh schriftlich kommentierte. Das Beispiel verdeutlicht, dass es der neuen PKI-Generation, der die KominternErfahrung fehlte, schwerfiel, sich auf die sowjetischen Sprachkonventionen einzustellen. »Speaking bolshevik«, also die aus Moskauer Sicht korrekte Kommunikationsform, war eine Fertigkeit, die vor allem in engem, direkten Kontakt mit Moskau erworben wurde.18 Aus den Entwürfen von Stalins Schreiben lässt sich rekonstruieren, dass er seine Kritik an den indonesischen Vorschlägen zu ihrem weiteren Vorgehen im Archipel nicht nur überaus deutlich äußerte, sondern zum Teil in sehr herablassendem Ton.19 Zu den ernsthaften Bemühungen der PKI-Führung, praktikable Zukunftsvisionen für ihr Land zu entwerfen, notierte Stalin nicht selten »Phrase!« oder gar »Chachacha«.20 Auf diese Weise füllte Stalin die sowjetische Superiorität, die er offenbar aus dem Beratungsbedarf der Indonesier herauslas, nach seinem Verständnis aus. Stalins Häme hemmte den künftigen Kommunikationsfluss keineswegs. Doch ähnlich wie in den 1920er Jahren reagierte die PKI auf diese Ratschläge nicht mit einhelliger Zustimmung. Anders als bei den Rebellionen allerdings setzten sich die indonesischen Genossen jetzt mit den Argumenten aus Moskau auseinander und gaben Stalin in Teilbereichen Recht. Auch sie befürworteten eine Verbindung von agrarischer und urbaner Revolutionsbewegung.21 Bis zu seinem Tod konnten zwar nicht alle Differenzen ausgeräumt werden, doch versicherten beide Seiten einander nach zwei Jahren kontinuierlichen Dialogs, keine grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten mehr zu sehen. Interessant ist der Briefwechsel auch wegen der Rolle der delegierten Kommunikation, gerade im Hinblick darauf, dass Peking sich in den 1960er Jahren rasch zum ärgsten Rivalen Moskaus in Indonesien entwickelte. Davon ist in der hier betrachteten Zeit der frühen 1950er Jahre noch kaum etwas zu bemerken. Doch dadurch, dass die PKI in ihren Schreiben gleichermaßen auf die Werke 17 Das ZK der PKI an das ZK der KPCh, 20. März 1952 (RGASPI, f. 558, op. 11, d. 313, l. 1). 18 Der von Stephen Kotkin geprägte Ausdruck ist zu einem Schlüsselbegriff der Kommunikationsforschung mit UdSSR-Bezug avanciert. Stephen Kotkin, Magnetic Mountain. Stalinism as a Cicilization, Berkeley, Los Angeles 1995, Kap. 5. 19 Vgl. dazu die Dokumente in: Boden, »Soviet-Indonesian relations«, (eingesehen am 16.04.2012). 20 RGASPI, f. 558, op. 11, d. 314, l. 34; RGASPI, f. 558, op. 11, d. 315, l. 11. 21 Boden, Grenzen, S. 87.

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Lenins wie diejenigen Maos als Vorbilder verwies, war die Diversifizierung der Modellrolle, die in den 1960er Jahren weitgehend auf Peking übergehen sollte, bereits vorgezeichnet. Ob Stalin diese Gefahr erkannte, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Zumindest spricht es für eine gewisse Vorsicht, wenn das ZK der VKP(b) sich 1952 entschloss, den indonesischen Vorschlag einer trilateralen Konferenz mit den Chinesen zu ignorieren.22 An einer Diversifizierung der Machtverhältnisse war der sowjetischen Führung nicht gelegen, die KPCh sollte lediglich eine Mittlerfunktion erfüllen. Kulturelle Faktoren kamen im zwischenparteilichen Meinungsaustausch übrigens nicht explizit zur Sprache. Das Argument vermeintlicher kultureller Nähe der chinesischen Genossen zu den Indonesiern wurde nicht vorgebracht. Doch dass das chinesische Revolutionsmodell, welches stärker von einer dörflich-agrarisch geprägten Gesellschaft ausging als das sowjetische, für die PKI durchaus interessant war, weist zumindest indirekt in diese Richtung. Die Mittlerfunktion der Chinesen suchte Moskau nicht so sehr aus Gründen einer vermuteten gemeinsamen »asiatischen Mentalität«, sondern aus rein pragmatisch Erwägungen, wegen der relativen geographischen Nähe zu Indonesien. In kommunikationstheoretischer Hinsicht ist das Beispiel in vielerlei Hinsicht aufschlussreich. Zum einen verweisen die Kommunikationsstrukturen zwischen den drei KP bereits auf die in der Chruščev-Epoche aufbrechende sino-sowjetischen Rivalität im Kampf um den Einfluss innerhalb der kommunistischen Weltbewegung. Vor diesem Hintergrund ist bezeichnend, dass sich die Chinesen schon in den frühen 1950er Jahren nicht mit einer Vermittlerrolle begnügten, sondern ihren eigenen Standpunkt vorbrachten. Zweitens nahm Stalin sofort die überlegene Haltung ein, die für den sowjetischen Umgang mit der Komintern seit Mitte der 1920er Jahre bestimmend wurde. Drittens werden die Mechanismen auf der kommunikativen Ebene erkennbar, die zu dieser Situation führten: Es war der Wunsch der PKI nach Beratung, der Stalin darin bestärkte, eine superiore Rolle einzunehmen. Das heißt, die Initiative lag nicht bei der politischen Führung der UdSSR. Also lässt sich auch kein planmäßiger Lenkungswille aus Moskau daraus ableiten; allenfalls eine Tendenz, die eigene Beratungs- und Vorbildfunktion in ein Denken in Hierarchien zu übersetzen. Viertens schließlich nahm offenbar keiner der drei Partner Anstoß an dieser Kommunikationssituation. Die sowjetische Superiorität wurde von der KP Chinas zu diesem Zeitpunkt nicht in Frage gestellt, eine symmetrische Kommunikation nicht eingefordert.

22 »Bericht über Dokumente zur Frage der Kommunistischen Partei Indonesiens«, [Nov./ Dez. 1952] (RGASPI, f. 558, op. 11, d. 315, ll. 16–18, hier l. 16).

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Es blieb nicht bei der indirekten Kommunikation. Ein halbes Jahr nach dem letzten Briefwechsel nutzen die Indonesier die Chance, zum 19. Parteitag der KPdSU im Oktober 1952 nach Moskau zu reisen. Dort hatten sie zum ersten Mal Gelegenheit, in größerem Rahmen direkt mit den sowjetischen Genossen in Kontakt zu treten. Sie nutzten sie, um im ZK der KPdSU einen Vortrag zur Lage in Indonesien zu halten.23 Dabei verwiesen sie auf den bisherigen Austausch der PKI mit Moskau und erwiesen ihre Reverenz, indem sie betonten, wie wichtig das sowjetische Beispiel für Indonesien sei. Eine bewusste oder versteckte Unterordnung enthielt ihre Rede nicht, ebensowenig den Wunsch nach sowjetischen Weisungen. Viel eher vermittelt der Vortrag einen souveränen Umgang mit dem Moskauer Anspruch auf Diskurshoheit und die indirekte Botschaft, man werde die sowjetischen Ratschläge auf ihre Anwendbarkeit hin prüfen und in jedem Fall selbständig entscheiden. Diese Aussagen passen zum setting, denn es war nur die zweite Führungsriege der PKI, die vor den sowjetischen Genossen sprach. Die eigentliche PKI-Spitze dagegen stieß erst nach dem Ende des Parteitages hinzu und hatte Gelegenheit, mit Stalin persönlich zu sprechen. Damit kam es zum ersten Mal zu einem Gipfeltreffen der beiden Parteien. Weitere waren vereinbart, wurden jedoch durch Stalins Tod kurz darauf verhindert. Aufzeichnungen über das einzige Gespräch sind nicht bekannt, doch der anschließende, briefliche Austausch ist überliefert.24 Er unterschied sich vom vorigen vor allem dadurch, dass er jetzt direkt zwischen den Generalsekretären der KP lief und nicht mehr über Mittler. In der Korrespondenz zwischen den beiden Parteichefs, Stalin und Aidit, betonte letzterer die erzielte Einigkeit. Er war um ein harmonisches Verhältnis bemüht, das aber ebenso die Souveränität der PKI in ihrer Entscheidungsfindung indirekt deutlich machte. Erneut bat er Stalin in einigen strategischen Fragen um Rat und stellte in Aussicht, dessen Antworten bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen. Unabhängig vom weitgehend erreichten inhaltlichen Konsens akzeptierte Stalin diese Kommunikation auf Augenhöhe nicht. Er notierte am Rande von Aidits Brief Widersprüche, etwa »das habe ich nicht gesagt«, und blieb insgesamt bei seiner Position der Überlegenheit. In seinem Antwortschreiben drei Wochen vor seinem Tod ging er auf Aidits Fragen ein, indem er das sowjetische, das osteuropäische und das chinesische Beispiel als Vorbilder für Indonesiens 23 Ebd. 24 Die Dokumente sind ediert in: Boden, »Soviet-Indonesian relations«, ; (beide eingesehen am 16.04.2012).

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Entwicklung anführte. Stalin hielt an seiner Position fest, dass eine graduelle Veränderung der Verhältnisse einer Revolution in Indonesien vorzuziehen sei. Charakteristisch für die Kommunikation auf Parteiebene war, vor allem in die Stalinzeit, der komplementäre Aspekt, also die Basis der Ungleichheit. Dabei nahm die VKP(b) und insbesondere Stalin eine superiore Position gegenüber den Genossen der PKI ein. Dies bedeutete jedoch, wie das anschließende Verhalten der PKI zeigt, noch keine faktische Unterordnung der Indonesier unter Moskaus Wünsche. Das Kommunikationsmodell hilft zu erklären, wie das möglich ist, nämlich durch beidseitige Akzeptanz der Rollen in der Kommunikationssituation, in der »sich beide in einer Weise [verhalten], die das bestimmte Verhalten des anderen voraussetzt, es gleichzeitig aber auch bedingt.«25 Wichtig war, dass sich Stalin überhaupt persönlich intensiv mit der indonesischen Frage auseinandersetzte. Nach 20 Jahren mäßigen Interesses zeigte er sich seit der beharrlichen Kontaktaufnahme der PKI aufgeschlossen und willens, sich mit dem Thema zu befassen. Auf dieser Basis konnte Chruščev aufbauen, als er Stalins Nachfolge antrat. Im Rahmen von Chruščevs aktiver Drittweltpolitik stieg Indonesien zum zweitgrößten Empfänger sowjetischer Entwicklungshilfe auf. Damit einher ging eine Verschiebung der Kontaktpflege von der Partei- auf die staatliche Ebene. Dies lag unter anderem daran, dass die PKI seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen nicht mehr in dem Maße als Vermittlerin gebraucht wurde, wie dies unter Stalin der Fall gewesen war.

Symbolik der Symmetrie: die zwischenstaatlichen Beziehungen Das große, multilaterale Netzwerk der Blockfreienbewegung blieb der UdSSR – anders als der Volksrepublik China – als Kommunikationsforum verwehrt. Um so wichtiger war es, die bilateralen Kontakte zu pflegen. Genau dies tat die sowjetische Führung unter Chruščev. Sie profitierte dabei von den Erfahrungen mit Indonesien auf der Parteiebene und setzte vielfältige Mittel ein. Seit mit dem Botschafteraustausch 1954 direkte Beziehungen zwischen Moskau und Jakarta bestanden, konnten Vertreter aus Politik, Diplomatie, Militär, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft in beide Richtungen reisen, mündlich und schriftlich direkt miteinander in Kontakt treten, und das auf unterschiedlichen Ebenen von Spitzentreffen bis zu Begegnungen gesellschaftlicher Gruppen. Die Kommunikationswege hatten sich damit gegenüber der Stalin-Ära bzw. der niederländischen Kolonialherrschaft erheblich diversifiziert. Allen gemeinsam 25 Watzlawick, Beavin, Jackson, Menschliche Kommunikation, S. 70.

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war, was die Chruščev-Zeit generell kennzeichnete: die personale und die direkte Kommunikation. Die staatliche Ebene war – ähnlich wie die der KP – von einer widersprüchlichen Ausgangslage gekennzeichnet. Einerseits propagierte die sowjetische Führung ein hierarchisches Weltbild, andererseits eine Kommunikation auf Augenhöhe mit den Entwicklungsländern. In der sowjetischen Außendarstellung wurden alle Staaten gemäß ihrer ökonomisch-gesellschaftlichen Ausrichtung auf den Kommunismus oder Kapitalismus klassifiziert.26 Die drei- bzw. vierstufigen Modelle teilten die Welt in sozialistische und kapitalistische Staaten sowie solche ein, die sich auf einer oder mehreren Zwischenstufen befanden. Die Hierarchie, innerhalb derer Indonesien auf einer Zwischenstufe verortet wurde, lässt in bezug auf die nicht-sozialistischen Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas eine eher komplementäre Kommunikationssituation vermuten. Wie passte dazu der Anspruch, die dekolonisierten Länder partnerschaftlich zu behandeln? Zwei Beispiele der sowjetischen Indonesienpolitik können darüber Aufschluss geben: eines aus dem Bereich der vorwiegend verbalen, eines aus der Sphäre der performativen und visuellen Kommunikation. In beiden schwingt auch die Frage nach der Bedeutung der transkulturellen Kommunikation für die Verständigung mit. Das erste Exempel berührt einen der sensibelsten Bereiche der bilateralen Beziehungen zwischen erster oder zweiter und der »Dritten« Welt: Die finanzielle Unterstützung. Diese barg das Risiko einer Hierarchisierung der Beziehungen, indem der Geber eine paternalistische Haltung einnahm und der Empfänger als Bittsteller dastand. Wie ließ sich eine solche Situation vermeiden? Chruščev selbst bemühte sich nach Kräften, mithilfe der von ihm geschätzten Art einer »persönlichen Diplomatie« Kulturdistanzen zu überbrücken. Im indonesischen Präsidenten Sukarno fand er dabei ein Pendant.27 Von den USA zurückgewiesen, bemühte sich der indonesische Präsident auf seiner Moskaureise 1956 um einen sowjetischen Kredit und hatte damit Erfolg. Nach Sukarnos Darstellung war es nicht nur das Zugeständnis selbst, welches ihn positiv für die UdSSR einnahm, sondern auch die Art, wie sein Anliegen behandelt wurde.28 Während er sich in Washington zum Bittsteller degradiert fühlte, genoss er in Moskau die Behandlung als gleichberechtigter Verhandlungspartner. Wie hatte Chruščev dies erreicht? 26 Vgl. Boden, Grenzen, Kap. 2.1. 27 Vgl. Boden, Grenzen, Kap. 2.2. 28 Dies und das Folgende nach: Sukarno, An Autobiography. As told to Cindy Adams, New York 1965, S. 297–298.

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Zunächst hatte er die Rahmenbedingungen günstig gestaltet: Er hatte Sukarno persönlich und herzlich empfangen. Trotz bitterer Kälte ließ er es sich nicht nehmen, Sukarno entgegenzugehen und ihn direkt zu umarmen. Damit hatte er nicht nur eine Symbolik der Symmetrie genutzt, sondern darüber hinaus eine der Freundschaft. Mit der für ihn typischen Art der spontan anmutenden, emotionalen »Körperdiplomatie« suchte er von Beginn an, kulturelle Differenzen mit dem Gast aus Südostasien zu überbrücken – mit Erfolg. Er überwand die Distanz auf der Metaebene der Kultur mittels direkter physischer Annäherung. Zudem hatte er darauf geachtet, dass das heikle Thema nur einen kleinen Anteil des Gipfelgesprächs einnahm. Auf diese Weise setzte er die Bedeutung der Kreditvergabe formal herunter. Eine große Rolle spielte außerdem der Verzicht auf daran geknüpfte politische Bedingungen. Dies ließ dem Vertreter des jungen Staates seine Würde und das Gefühl der Selbstbestimmung. Gerade bei ehemaligen Kolonien sollte jedes Gefühl der Abhängigkeit vermieden werden, zumal die UdSSR als Fürsprecherin der antiimperialistischen Kräfte auftrat. Das zweite Beispiel stellt die Körpersprache in den Vordergrund. Die Kommunikationssituation war hierbei vielschichtiger als im ersten Fall, denn es handelte sich nicht um eine Verständigung im geschlossenen, nichtöffentlichen Raum, sondern um die Außenwirkung der Beziehungen. Somit erweiterte sich der Adressatenkreis der Kommunikation um ein anonymes Publikum. Das Anliegen war hierbei vor allem, die Kulturdistanzen zwischen der hauptsächlich europäisch geprägten, antireligiösen UdSSR und dem asiatischen, stark islamisch geprägten Indonesien öffentlichkeitswirksam zu mindern. Chruščev und Sukarno demonstrierten ihre politische Übereinkunft und – was noch wichtiger war – die Kommunikation auf Augenhöhe; mit interkulturell gut lesbaren Gesten wie einer öffentlichen Umarmung. Dieser Auftritt wurde als Schwarzweißfoto in die massenhaft verbreitete Broschüre zu Chruščevs Asienreise 1960 mit dem programmatischen Titel »Glück und Friede den Völkern« aufgenommen.29 Die Symbolik liegt auf der Hand: Stellvertretend für ihre Bevölkerung demonstrierten die Staatschefs Nähe, Vertrauen und gegenseitige Sympathie bis hin zur Freundschaft. Politisch interessierte Zeitgenossen lasen sie zudem als eine Geste, die zwischen der Verbrüderungsgeste des Kusses lag, wie er innerhalb der sozialistischen Welt üblich war, und dem Handschlag, der für Beziehungen auf eher distanziertem Niveau benutzt wurde. Die körperlich-visuelle Symbolik spiegelte somit die Rangordnung Indonesiens in29 Sčast’e i mir – narodam! Prebyvanie Predsedatelja Soveta Ministrov SSSR N.S. Chruščeva v Indii, Birme, Indonezii i Afganistane. 11 fevralja – 5 marta 1960g., Moskau 1960, Anhang, ohne Paginierung.

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nerhalb des sowjetischen Weltbildes, nämlich auf einer Zwischenstufe zwischen den sozialistisch und den kapitalistisch orientierten Staaten. Geste und Medium waren auch deshalb geschickt gewählt, weil sie auf die Masse der analphabetischen indonesischen Bevölkerung zielten. Visuelle Symbole und zumal in Form von Bildern hatten das Potential, eine deutlich größere Wirkung zu entfalten als das gedruckte Wort. Zusammenfassend lässt sich für die staatliche Ebene festhalten, dass die Kommunikation dort viel eher von Symmetrien geprägt war als auf der Parteiebene. Das bedeutete keine Nivellierung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Unterschiede, sondern zunächst eine Verständigung auf Augenhöhe. Chruščev praktizierte sie aktiv, entgegen selbst den von ihm propagierten Modellen, welche die Staatenwelt hierarchisch gliederten.

Kulturkonflikte auf der Ebene der Interessengruppen Zweifellos waren die sowjetisch-indonesischen Kontakte auf der staatlichen und der Parteiebene am intensivsten. Einen geringeren und dennoch spürbaren Einfluss hatten daneben Beziehungen auf der Ebene von Interessengruppen. Diese Unterscheidung ist allerdings nur für die indonesische Seite zu treffen; für die UdSSR existierte in dieser Zeit keine nennenswerte Öffentlichkeit im Sinne von gesellschaftlichen Interessengruppen, die nicht staatlich gelenkt waren.30 Zu den Interessengruppen gehörten in Indonesien als einem der Staaten mit der weltweit zahlreichsten muslimischen Bevölkerung insbesondere die islamischen politischen Parteien. Für Moskau waren solche Ansprechpartner deshalb bedeutsam, weil sie die politische Landschaft entscheidend mit prägten. In diesem Bereich dominierte die Form der personalen, direkten Kommunikation. Auch hier kam es besonders darauf an, die Verständigung symmetrisch zu gestalten. Das Problem der Kulturdistanz und damit die Herausforderung transkultureller Vermittlung stellte sich bei dieser Art der Kontakte weitaus stärker als bei den Partei- und den Staatsbeziehungen. Das prägnanteste Beispiel aus diesem Bereich ist der Umgang mit dem Thema Religion.31 Wie bereits angedeutet, musste hier eine tiefe Kluft überbrückt werden, zumal bei indonesischen religiösen Würdenträgern, welche die UdSSR empfing. Moskau hatte 30 Vgl. dazu Sphären von Öffentlichkeit in Gesellschaften sowjetischen Typs. Zwischen parteistaatlicher Selbstinszenierung und kirchlichen Gegenwelten, hg. von Gabor Rittersporn, Malte Rolf, Jan C. Behrends, Frankfurt am Main 2003. 31 Ausführlich dazu, mit Nachweisen: Boden, »Religioznyj faktor«.

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sich auf Anraten der PKI darauf eingelassen, sie einzuladen, um ein zentrales Problem zu entschärfen, welches die sowjetisch-indonesischen Beziehungen belastete. Die sowjetische Staats- und Parteiführung bediente sich hierbei vielfältiger Kommunikationsformen und -wege: Es wurden Moscheebesuche in Moskau und Usbekistan organisiert; hinzu kamen Begegnungen mit sowjetischen islamischen Würdenträgern, einschlägige Broschüren wurden publiziert und Aufmacher in zentralen sowjetischen Zeitungen mit Fotos veröffentlicht. All dies sollte suggerieren, wie liberal die UdSSR das Thema Religion in den auswärtigen Beziehungen handhabte. Trotz dieser Bemühungen traten deutliche Spannungen im interkulturellen Dialog auf. Der Umgang mit den religiösen Delegationen aus Indonesien fiel den sowjetischen Verantwortlichen nicht immer leicht. Weder waren die indonesischen Gäste bereit, ihre Vorbehalte gegenüber dem sowjetischen Atheismus aufzugeben, noch gelang es den Gastgebern immer, ein religionspolitisch neutrales Kulturprogramm zu organisieren, welches die religiösen Gefühle der Gäste nicht verletzte. Die transkulturelle Kommunikation blieb bei allem guten Willen problembehaftet. Nicht zuletzt offenbarten sich die Widersprüche in der sowjetischen Außendarstellung. Als Wächter über die Propagandaerfolge waren die Experten der sowjetischen Exportfilmbehörde Sovėksportfil’m höchst irritiert über Vorschläge aus dem Orientinstitut der Akademie der Wissenschaften, einen Film über die Verdienste des sowjetischen Staates um den Erhalt des islamischen Erbes zu drehen, um ihn in muslimisch geprägten Entwicklungsländern zu zeigen. Da solche Projekte für die Vertreter der Filmbehörde die Ziele der sowjetischen Außenpropaganda auf den Kopf zu stellen schienen, intervenierten sie mit dem Argument, dass man doch ganz im Gegenteil der atheistischen und antireligiösen Werbung verpflichtet sei.32

Transkulturelle Kommunikation im Mehrebenensystem Die sowjetisch-indonesische Kommunikation steht in vielerlei Hinsicht stellvertretend für die Verständigung der UdSSR mit Entwicklungsländern: Sie lief auf mehreren Ebenen gleichzeitig ab, die auch untereinander vernetzt sein konnten. Während auf der ersten Ebene die Äußerungen zwischen dem 32 Gafurov an das ZK der KPdSU, 1959 (Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Novejšej Istorii, RGANI (Russländisches Staatliches Archiv für Neueste Geschichte), f. 5, op. 30, d. 237, ll. 121–172, hier l. 168–169).

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Anspruch der Superiorität eines Stalin und dem selbstbewussten Auftreten der Indonesier oszillierten, verlief die Kommunikation auf der zweiten und dritten Ebenen eher symmetrisch. Der Respekt, den die indonesischen Genossen Stalin gegenüber bezeugten, ist jedoch nicht mit Subordination zu verwechseln. Schon gar nicht ließ sich die PKI von Moskau aus einfach steuern. Dies wird bei der Analyse der bi- und trilateralen Kommunikationsmuster ganz deutlich. Ebenso begründeten in der Chruščev-Zeit die umfangreichen Kredite kein Verhältnis von Unterordnung auf Staatsebene, weder in den Gesprächen Sukarnos mit Chruščev noch in der verbalen, performativen und bildlichen Außendarstellung ihrer Beziehungen. Gezielt kommuniziert wurden Partnerschaftlichkeit und Gleichrangigkeit. Im Bereich der Kontakte auf oberster Ebene half Chruščevs Zugang der persönlichen Diplomatie, dem sich Sukarno sehr aufgeschlossen zeigte. Ähnlich verliefen die Beziehungen auf der Ebene der Botschaften und Konsulate. Dabei leisteten die kulturübergreifenden Konventionen der Diplomatie gute Dienste wie etwa protokollarisch vorgegebene Empfangszeremonielle für gegenseitige Besuche, fein abgestuft nach hierarchischer Bedeutung der Funktionsträger. In puncto Kulturdistanz ist festzuhalten, dass kulturelle Differenzen auf Parteiebene kaum und auf der staatlichen Ebene eine größere, aber noch vergleichsweise untergeordnete Rolle spielten. Viel wichtiger waren sie auf der Ebene der politischen und gesellschaftlichen indonesischen Gruppen, insbesondere bei den einflussreichen islamischen politischen Parteien. Die sowjetischen Verantwortlichen aus Politik, Diplomatie und Kultur bedienten sich hierfür vielfältiger Formen und Medien, die teils der traditionellen Kulturpolitik entlehnt waren, teils Bezug auf die Freundschaftsrhetorik und -politik gegenüber sozialistischen Bruderstaaten nahmen. In diesem Bereich experimentierten sowjetische Verantwortliche mit undogmatischen Praktiken wie der Einbeziehung islamischer Inhalte in verschiedene Propagandaformen. Solche Methoden waren weder unumstritten noch erzielten sie eine ausschließlich positive Wirkung. Wille und Fähigkeit zum transkulturellen Dialog in der Außenpolitik waren bei Chruščev deutlich ausgeprägter als bei Stalin. Dennoch reichte auch dies nicht zu einer Weltmachtpolitik, die auf einem wirklichen Verständnis beruhte und eine darauf basierende, präzise abgestimmte und weitsichtige Außenpolitik für die jeweilige Region generierte. Im Hinblick auf die konventionelle Sicht des Kalten Krieges, die um das Machtspiel der Supermächte kreist und die Entwicklungsländer als deren Spielbälle betrachtet, ändert sich der Blickwinkel infolge der Analyse der Kommunikationsmuster: Es waren oft genug die Politiker und Diplomaten des Entwicklungslandes Indonesien, welche von sich aus die Initiative ergriffen, die Inhalte

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und Richtung der Gespräche bestimmten bzw. steuerten. Sie beharrten meist unaufdringlich, aber deutlich auf ihrem Verständnis von einer Symmetrie der Beziehungen, die sich in ihrem schriftlichen, mündlichen und performativen Umgang mit der europäisch-asiatischen Supermacht äußerte.

Reisen ins »Arbeiterparadies« Deutsche Delegationen in der Sowjetunion zwischen Inszenierung und Eigensinn (1953–1957) Natalia Donig Reisen deutscher Delegationen in die Sowjetunion waren ein groß angelegtes transnationales Projekt, das die Vorstellungswelt der Besucher zugunsten der Sowjetunion beeinflussen und diese als Multiplikatoren eines gewünschten Sowjetuniondiskurses gewinnen sollte. Seine Grundelemente, die »Techniken der Gastlichkeit« und der Besichtigungskanon bildeten sich bereits in dem Jahrzehnt zwischen Mitte der zwanziger und Mitte der dreißiger Jahre heraus, als viele westliche Intellektuelle mit Enthusiasmus in die Sowjetunion reisten, begeistert, idealistisch und neugierig, das »Land der Rebellen« kennenzulernen.1 Doch die Situation in den fünfziger Jahren war anders, als zu Beginn des »sowjetischen Experiments«. Inzwischen galt es in Deutschland, gegen die vorhandenen Feindbilder anzukämpfen, die aus dem Schock des Großen Terrors, der NS-Propaganda und der Besetzung Ostdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg resultierten. Nicht Faszination und Neugier, sondern Ablehnung des Kommunismus und Angst vor der Sowjetunion bestimmten die Stimmung der meisten Deutschen in Ost und West. Um diese Stimmungslage zu ändern, setzte die Sowjetunion seit Kriegsende erneut auf die bewährte Praxis der Einladung ausländischer Delegationen als Teil ihrer kulturellen Außenpolitik und konfrontierte so die Besucher mit scheinbar authentischen Bildern der sowjetischen Wirklichkeit. In ihrem Bestreben, Perzeptionen der Besucher zu beeinflussen und Kontrolle über ihre Eindrücke zu gewinnen, scheuten die sowjetischen Organisationen, die als Gastgeber auftraten, keinen Aufwand und keine Kosten. Der Besuch im »Arbeiterparadies« sollte schließlich keinen Zweifel an den Errungenschaften des Sozialismus und der Überlegenheit des sowjetischen Systems bestehen lassen. Den Delegationsteilnehmern stand zur Aufgabe, wäh1 Paul Hollander, Political pilgrims. Western intellectuals in Search of the Good Society, New Brunswick 41998. Zu den technics of hospitality vgl. ebd. S. 16–21. Siehe auch David Caute, The Fellow Travellers. Intellectual Friends of Communism, New Haven u. a. 1988; Michael David-Fox, »From Illusory ›Society‹ to Intellectual ›Public‹: VOKS, International Travel, and Party-Intelligentsia Relations in the Interwar Period«, in: Contemporary European History 11 (2002), S. 7–32 und Matthias Heeke, Reisen zu den Sowjets. Der ausländische Tourismus in Rußland 1921–1941, Münster u. a. 2003.

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rend der Reise die »Wahrheit über die Sowjetunion« zu erfahren und sie in ihren Heimatländern zu verbreiten. Dieser Beitrag geht der Frage nach, mit welchen kommunikativen Strategien die Sowjetunion versuchte, Einfluss auf Wahrnehmungs- und Deutungshorizonte der Deutschen zu nehmen. Anders als Forschungen, die sich mit der diskursiven Konstruktion der sowjetischen Wirklichkeit befassen,2 untersucht mein Beitrag vor allem die Produktionsbedingungen des Sowjetuniondiskurses und die Kommunikationsprozesse, in denen seine Übernahme oder Weiterverbreitung erfolgen konnte. Er zeigt, nach welchen Prinzipien die Teilnehmer der Reisen ausgesucht wurden, wie ihnen die Inhalte des Sowjetuniondiskurses vermittelt wurden und inwieweit sich die Teilnehmer der Reisen tatsächlich als Propagandisten eines positiven Sowjetunionbildes einspannen ließen. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für die gelungene Inszenierung, so die Ausgangsthese dieses Beitrags, war die Konzipierung der Reisen als ein emotionales Erlebnis. Die sowjetischen Gastgeber glaubten an die »emotionale Steuerbarkeit der Menschen«3 und appellierten systematisch an die Gefühle der ausländischen Besucher, um sich ihrer Sympathien zu versichern. Dazu wurden die Reiseteilnehmer von einem Netz aus symbolischer Kommunikation und diskursiver Performanz umwoben, dem sie sich nur schwer entziehen konnten. Die Gastgeber bezogen die Besucher in ihre Rituale ein wie etwa durch Teilnahme an den Mai- und Herbstdemonstrationen auf dem Roten Platz, die als Orte geballter Emotionen fungierten,4 und suchten auf diese Weise ihre Gäste schon zu Beginn des Aufenthalts angesichts der ungeheuren Mobilisierung der Sowjetbevöl2 Vgl. z. B. Jan C. Behrends, Die erfundene Freundschaft. Propaganda für die Sowjetunion in Polen und in der DDR, Köln, Weimar u. a. 2006, bes. Kapitel 2; Katja Bruisch (Hg.), Konstruiruja »sovetskoe«? Doklady naučnoj konferencii studentov i aspirantov, Moskau 2012 (Deutsches Historisches Institut Moskau, Bulletin Nr. 6). 3 Árpád von Klimó und Malte Rolf, »Rausch und Diktatur: Emotionen, Erfahrungen und Inszenierungen totalitärer Herrschaft«, in: dies. (Hg.), Rausch und Diktatur. Inszenierung, Mobilisierung und Kontrolle in totalitären Systemen, Frankfurt am Main, New York 2006, S. 11–43, hier S. 17. Zur Einbeziehung der Gefühle in die historische Forschung vgl. auch Ute Frevert, »Angst vor Gefühlen? Die Geschichtsmächtigkeit von Emotionen im 20. Jahrhundert«, in: Paul Nolte, Manfred Hettling, Frank-Michael Kuhlemann (Hg.), Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte, München 2000, S. 95–111; Barbara H. Rosenwein, »Worrying about Emotions in History«, in: American Historical Review 3 (2002), S. 821–845; Frank Bösch u. Manuel Borutta, »Medien und Emotionen in der Moderne. Historische Perspektiven«, in: dies. (Hg.), Die Massen bewegen. Medien und Emotionen in der Moderne, Frankfurt am Main 2006, S. 13–41. 4 Zur Herausbildung und Funktion der sowjetischen Massenfeste vgl. Malte Rolf, Das sowjetische Massenfest, Hamburg 2006; Karen Petrone, Life has Become More Joyous, Comrades. Celebrations in the Time of Stalin, Bloomington, Ind. 2000.

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kerung zu beeindrucken. Zugleich sollte das gemeinsame Erleben der Feste Ängste abbauen und Vertrauen sowohl in die einladende Organisation als auch in die Sowjetunion als Ganzes und ihre Gesellschaftsordnung stiften.5 Auch alle weiteren Stationen auf der Reise durch die Sowjetunion können somit als kommunikativ erzeugte Sinnzusammenhänge6 gelesen werden, die zu entschlüsseln die Aufgabe der Besucher war. Die ausgesuchten Reiseteilnehmer sollten in dem so erschlossenen transnationalen Raum als interkulturelle Mittler fungieren, indem sie Gegendiskurse in ihren Ländern nivellierten und ihren Landsleuten neue Deutungen der Sowjetmacht anboten. Die Wirkungskraft der Propaganda blieb jedoch, wie zu zeigen sein wird, ambivalent, fühlten sich doch nach dem Tod Stalins nicht einmal alle Deutsche aus der DDR zur bedingungslosen Reproduktion des Sowjetuniondiskurses verpflichtet. Die Quellenbasis des Beitrags bildet die Überlieferung einer speziell für internationale Kulturbeziehungen geschaffenen Organisation – der Allunionsgesellschaft für kulturelle Verbindung mit dem Ausland, besser bekannt in der russischen Abkürzung VOKS (Vsesojuznoe obščestvo kul’turnoj svjazi s zagranicej) –, in deren Obhut unter anderem die Vorbereitung von Delegationsreisen und Betreuung von Ausländern während ihres Aufenthalts in der Sowjetunion fiel.7 Die im russischen Staatsarchiv (GARF) abgelegten Berichte über den Verlauf der Reisen, die Teilnehmerlisten sowie Korrespondenz mit der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft in der DDR, die der VOKS bei der Vorbereitung der Reisen zur Seite stand, vermitteln einen Eindruck von den 5 Vgl. zum Problemkomplex »Vertrauen« Ute Frevert, »Vertrauen – eine historische Spurensuche«, in: dies. (Hg.), Vertrauen. Historische Annäherungen, Göttingen 2003, S. 7–66 und an einem konkreten Beispiel verdeutlicht: Jan C. Behrends, »Soll und Haben. Freundschaftsdiskurs und Vertrauensressourcen in der staatssozialistischen Diktatur«, in: ebd., S. 336–364. 6 Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt am Main 1999, S. 47. 7 Zu den Anfängen der VOKS in den zwanziger und dreißiger Jahren vgl. Jean-François Fayet, »VOKS. The Third Dimension of Soviet Foreign Policy«, in: Jessica C. E. GienowHecht, Mark C. Donfried (Hg.), Searching for a Cultural Diplomacy, New York, Oxford 2010, S. 33–49; Aleksandr Golubev, »...Vzgljad na zemlju obetovannuju«. Iz istorii sovetskoj kul’turnoj diplomatii 1920–1930-ch godov, Moskva 2004; ders.: »Intelligencija Zapada i sovetskaja kul’turnaja diplomatija v mežvoennyj period«, in: Rossija XXI, 1–2, 1997, S. 112– 132; ders. u. Vladimir Nevežin, »VOKS v 1930–1940-e gody«, in: Minuvšee. Istoričeskij al’manach 14 (1993), S.  313–364; Jurij Gridnev, Vsesojuznoe obščestvo kul’turnoj svjazi s zagranicej, 1925–1929 gg., Moskva 2006 (Diss. kand. ist. nauk). Eine etwas idealistische Sicht auf die VOKS der Nachkriegszeit bietet Natalia Yegorova, »The All-Union Society for Cultural Relations with Foreign Countries (VOKS) and the Early détente, 1953–1955«, in: Antoine Fleury, Lubor Jílek (Hg.), Une Europe malgré tout, 1945–1990, Bruxelle u. a. 2009, S. 89–102.

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Erwartungen und Erfahrungen der VOKS mit den deutschen Besuchern. Zugleich sind sie eine Quelle für den Sowjetuniondiskurs selbst, der von den Reisenden internalisiert und anschließend in Ost- und Westdeutschland reproduziert werden sollte. Für die Multiplikatorentätigkeit der Deutschen nach ihrer Reise in die Sowjetunion wurden zusätzlich Quellen aus deutschen Archiven und Reiseberichte herangezogen. Die Analyse konzentriert sich auf Reisen deutscher Delegationen anlässlich der sowjetischen Feierlichkeiten am 7. November und 1. Mai, die sich zu einer festen Tradition in den Beziehungen zwischen der VOKS und der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft in der DDR etablierten.

Die Teilnehmer der Delegationen Die Teilnehmer der Reisegruppen, die zweimal im Jahr mit Hilfe der VOKS die Sowjetunion erkundeten, waren bis 1953 hauptsächlich DDR-Bürger und Mitglieder der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft. Allerdings konnte nicht jedes gewöhnliche Mitglied der DSF, wenn es denn nur wollte, an einer solchen Reise teilnehmen. Für die VOKS, die von der DSF Vorschlagslisten erhielt, war bei der Auswahl der Teilnehmer wichtig, dass diese sich in ihrem Beruf besonders auszeichneten, möglichst eine Zugehörigkeit zur SED vorweisen konnten, wobei auch Mitglieder der Blockparteien und Parteilose eingeladen werden konnten, und sich aktiv in der DSF engagierten. 8 Eine Delegation konnte so aus Vertretern unterschiedlichster Berufe – Arbeitern und Bauern, Ingenieuren, Ärzten, Pädagogen, Wissenschaftlern oder kulturell tätigen Personen wie Theaterleitern und Schauspielern – bestehen, von ihrer politischen Orientierung her aber durchaus homogen sein.9 Zwar gab es, bevor sie 1956 in allen Bundesländern verboten wurde, auch eine Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft in der Bundesrepublik, doch nahmen vor 1953 Westdeutsche an den Reisen in die Sowjetunion nicht teil.10 Dies war weniger dem Umstand geschuldet, dass die VOKS keine Westdeutschen einla8 Anneli Hartmann und Wolfram Eggeling, Die Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft. Zum Aufbau einer Institution in der SBZ/DDR zwischen deutschen Politzwängen und sowjetischer Steuerung, Berlin 1993, S. 102. 9 Von zehn Delegierten aus der DDR im Frühjahr 1953 waren beispielsweise acht Teilnehmer Mitglieder der SED, einer Mitglied der CDU und eine parteilos. Vgl. die Teilnehmerliste in: GARF, f. 5283, op. 22, d. 414, l. 158–159. 10 Funktionäre der DSF aus Westdeutschland nahmen allerdings schon zuvor an solchen Delegationsreisen teil, vgl. etwa die Reiseberichte von Alfred Wunderlich, Besuch im Lande des Sozialismus, Berlin (Ost) 1952 und von Johanna Blecha, Moskau, Taschkent, Leningrad.

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den wollte. Vielmehr scheiterten ihre Bemühungen, Teilnehmer aus der Bundesrepublik zu gewinnen, an der antikommunistisch eingestellten öffentlichen Meinung der Bundesrepublik, die Kontakte mit »den Kommunisten« derart stigmatisierte, dass eine Reise in die Sowjetunion auf Einladung der VOKS die Teilnehmer sofort in den Verdacht rückte, kommunistische Sympathien zu hegen – ein Verdacht, der für die Betroffenen strafrechtliche oder disziplinarische Konsequenzen nach sich ziehen konnte.11 Trotz der Fülle von Schwierigkeiten konnte die VOKS im Mai 1953 eine erste gemeinsame deutsch-deutsche Delegation bestehend aus fünf Westdeutschen und zehn Ostdeutschen in der Sowjetunion empfangen. Wer waren also diese ersten Westdeutschen, die sich bereit fanden, in die Sowjetunion zu reisen? Neugierige Menschen? Politische Idealisten? Oder doch Kommunisten? Die Biografien einiger Teilnehmer lassen vermuten, dass dabei besonders Leute ins Auge gefasst wurden, die schon zuvor für eine Annäherung von Ost und West eintraten und sich in deutsch-deutschen (oder im sowjetischen Sprachgebrauch – »progressiven«) Organisationen engagierten. Unter ihnen befanden sich zum Teil berühmte Persönlichkeiten wie beispielsweise der Weltrekordler Otto Peltzer, der in den zwanziger Jahren den legendären finnischen Langstreckenläufer Paavo Nurmi besiegt hatte und der während des Zweiten Weltkrieges unter dem Vorwand der Homosexualität vier Jahre im Konzentrationslager Mauthausen inhaftiert war. In der Bundesrepublik gelang ihm kein Neuanfang – nicht zuletzt weil häufig noch dieselben Sportfunktionäre hohe Posten bekleideten, die Peltzer bereits in der NS-Zeit ablehnend gegenüber gestanden hatten. In der BRD kritisch beäugt, nahm er zu Beginn der fünfziger Jahre an einigen Leichtathletikfeiern in der DDR teil und wurde Mitglied des »Komitees für Einheit und Freiheit im deutEine Reise durch die Sowjetunion, Berlin (Ost) 1952, die von gesamtdeutschen Delegationen sprechen. 11 Ein Beispiel ist die katholische Frauenaktivistin Klara-Marie Fassbinder, gegen die 1953 ein Disziplinarverfahren an der Pädagogischen Akademie in Bonn eingeleitet wurde, wo sie als Professorin tätig war, nachdem Adenauer persönlich in einem Brief an den Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen darauf hingewiesen hatte, dass sie sich in Ostberlin mit sowjetischen Vertretern getroffen und danach in mehreren Zeitungsartikeln die sowjetische Deutschlandpolitik verteidigt hatte. Das Disziplinarverfahren wurde letztlich eingestellt und Fassbinder »aus gesundheitlichen Gründen« in den Ruhestand versetzt, was an ihrer politischen Aktivität allerdings nichts änderte. Vgl. dazu BA Koblenz B 136/3787, unfoliiert. Zu Klara-Marie Fassbinder siehe Vera Bücker, »Klara Maria Faßbinder (1890–1974). Unermüdliche Kämpferin für den Frieden«, in: Alfred Pothmann, Reimund Haas (Hg.), Christen an der Ruhr, Bd. 2. Bottrop 2002, S. 92–105; Gisela Notz, »Klara-Maria Faßbinder«, in: Josef Matzerath (Hg.), Bonn. 54 Kapitel Stadtgeschichte, Bonn 1989, S. 371–376 sowie ihre eigenen Erinnerungen: Klara-Marie Fassbinder, Begegnungen und Entscheidungen. Blätter aus einem Lebensbuch, Darmstadt 1961.

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schen Sport«, das vom bundesdeutschen Verfassungsschutz als »kommunistische Tarnorganisation« eingestuft wurde.12 Ein anderer Teilnehmer dieser Delegation, der Heilbronner Journalist und Publizist Paul Distelbarth, war bereits durch seine Bücher über Frankreich als aktiver Verfechter einer Verständigung zwischen den einst verfeindeten Nationen in Erscheinung getreten. Er fiel womöglich auch durch seine kritischen, gegen die voranschreitende Entfremdung zwischen den beiden Teilen Deutschlands gerichteten Publikationen in der von ihm mit herausgegebenen Zeitung Heilbronner Stimme auf. Als er nach eigenen Aussagen »im Jahre 1949 einige Zeitungsartikel über Ost-Berlin veröffentlichte, die nicht den gewünschten Ton hatten«, prangerte ihn »eine der großen Rundfunkgesellschaften [...] als einen der wenigen westdeutschen Journalisten [an], ›die mit den Sowjets zusammenarbeiten‹«.13 Neben Otto Peltzer und Paul Distelbarth gehörte der ersten gemeinsamen deutschen Delegation auch Josef Weber an, der als Mitglied der als pro-kommunistisch geltenden »Tatgemeinschaft für Frieden und Einheit RheinlandPfalz« und Mitbegründer des »Bundes der Deutschen« (BdD), schon damals kein unbekannter Friedensaktivist war.14 In einigen Fällen wandten sich Westdeutsche selbst an die VOKS mit der Bitte, die Sowjetunion mit Hilfe der Gesellschaft besuchen zu können. In diesem Sinne schrieb Rainer Maria Wallisfurth, der sich als »bekannter Schriftsteller und Regisseur« vorstellte, im April 1953 an die VOKS und begründete seinen Wunsch nach einer Sowjetunionreise damit, dass »in Westdeutschland [...] große Irrtümer über das Tun und das Leben in Rußland an der Tagesordnung« seien und dass er dazu beitragen wolle, »diese Irrtümer zu berichtigen«. Dies wollte er mit der Veröffentlichung eines Buches erreichen, das »von der wirklichen Sowjet-Union« berichten sollte. Auch die Produktion »eines umfangreichen Kulturfilms über Rußland« schwebte ihm vor, falls er

12 Zu Otto Peltzer siehe Volker Kluge, Otto der Seltsame. Die Einsamkeit eines Mittelstreckenläufers. Otto Peltzer (1900–1970), Berlin 2000. Vgl. auch seine Memoiren: Otto Peltzer, Umkämpftes Leben. Sportjahre zwischen Nurmi und Zatopek, Berlin (Ost) 1955. Zu Peltzers Aktivitäten in der DDR vgl. Kluge, Otto der Seltsame, S. 124–130 und Peltzer, Umkämpftes Leben, S. 343 f. 13 Paul Distelbarth, Rußland heute. Bericht einer Reise, Hamburg 1954, S. 46. 14 Zu Josef Weber siehe Udo Baron, Kalter Krieg und heißer Frieden. Der Einfluss der SED und ihrer westdeutschen Verbündeten auf die Partei »Die Grünen«, Münster u. a. 2003, S. 97. Die Organisation »Tatgemeinschaft für Frieden und Einheit« wurde 1955 von der Landesregierung Rheinland-Pfalz verboten, vgl. Sammelberichte des Bundesamtes für Verfassungsschutz, 9.2.1956, in: BA Koblenz B 136/3788, unfoliiert.

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während der Reise die Möglichkeit zu deren Realisierung erhalten würde.15 Im Herbst 1954 besuchte Wallisfurth tatsächlich im Rahmen einer Delegation die Sowjetunion. Beide Partner, die VOKS und die DSF, legten bei ihrer Suche nach Delegationsmitgliedern Wert darauf, dass diese – neben einer entsprechenden Gesinnung – nach Möglichkeit bestimmte öffentliche Kreise oder Organisationen ihres Landes repräsentierten, politisch, gesellschaftlich oder kulturell aktive Persönlichkeiten waren, um später ihre Rolle als Multiplikatoren gut auszufüllen. Auch wenn sich die zugrundeliegenden Auswahlkriterien für die Deutschen in Ost und West durchaus ähnelten, waren die Kommunikationsform und Art der Einladung doch ganz verschieden. In der Bundesrepublik ging die DSF durchaus konspirativ vor. Es wurden keine Briefe geschrieben und keine offiziellen Einladungen verschickt. Die ganze Kommunikation mit den potentiellen Teilnehmern der Reise erfolgte mündlich. Jedes Mal, wenn eine Nachricht mitgeteilt werden musste, reiste ein Vertreter der DSF in die Bundesrepublik und überbrachte unter vier Augen die Botschaft.16 Jegliche konspirative Kommunikation erwies sich aber schnell als ungeeignet, um westdeutsche Teilnehmer zu gewinnen. Ein Verständnis für die besonderen Befindlichkeiten der Westdeutschen fehlte der VOKS zunächst vollkommen – erst auf Erläuterungen der ostdeutschen »Freunde« über die Denkweisen und Vorbehalte der Westdeutschen hin änderte sie ihre Einladungsmethoden. So beriet im Frühjahr 1954 im Hause der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft eine Gruppe von Kulturschaffenden (dejateli kul’tury) der DDR über die Frage der kulturellen Beziehungen der Sowjetunion mit der Bundesrepublik. Dort berichteten sie etwa, dass viele Vertreter der westdeutschen Intelligenz (besonders Wissenschaftler) zwar gerne in die Sowjetunion reisen würden, dies aber nicht im Rahmen der Delegationen der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft tun wollen, deren Aufenthalte mit dem Feiern der Oktoberrevolution und des 1. Mai zusammenfielen. Schon die Teilnahme an einer solchen Delegation ließe sie als Sympathisanten der sowjetischen Gesellschaftsordnung erscheinen und könne Repressionen der bundesdeutschen Behörden nach sich ziehen.17 Auf Ablehnung stoße bei den Westdeutschen auch die bisher praktizierte Form der Einladung, die nur mündlich durch Mitarbeiter der 15 Schreiben von Rainer Maria Wallisfurth an die VOKS vom 15.4.1953, in: GARF, f. 5283, op. 16, d. 188, l. 149. 16 Vgl. das Procedere einer solchen Einladung bei Paul Distelbarth, Rußland heute, S. 12 f. 17 Informacija o soveščanii dejatelej kul’tury GDR po voprosu kul’turnogo obmena s Zapadnoj Germaniej i raboty zapadnogermanskogo Obščestva družby s SSSR, 29.31954, in: GARF, f. 5283, op. 22, d. 467, l. 147–154, hier l. 149. Der Bericht wurde vom Referenten des Bevollmächtigten der VOKS in der DDR Ju. Zotikov angefertigt.

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DSF überbracht wurde. Dies nehme den westdeutschen Teilnehmern die Möglichkeit, ihre Reise in die Sowjetunion offiziell zu beantragen und zwinge sie dadurch, illegal zu fahren.18 Außerdem reagierten »einige bourgeoise, aber der UdSSR gegenüber loyal eingestellte westdeutsche Kulturschaffende« empfindlich auf den Umstand, dass die Ausgaben für ihren Aufenthalt von der sowjetischen Seite übernommen würden. Dies beraube sie »angeblich« des Rechts, »unabhängig ihre Meinung über die sowjetische Wirklichkeit zu äußern«, und gebe den Regierungskreisen in der Bundesrepublik Anlass zur Behauptung, sie seien von der Sowjetunion »gekauft« worden.19 Die ostdeutschen Experten empfahlen daher eine andere Vorgehensweise: Es sei besser, prominente westdeutsche Vertreter aus Kultur und Wissenschaft individuell oder in kleinen Gruppen, die aus Angehörigen derselben Berufe bestehen, einzuladen, ohne deren Aufenthalt in Zusammenhang mit den Revolutionsfeiertagen zu bringen. Es empfehle sich auch, die Einladungen schriftlich und im Namen von bekannten kulturellen oder wissenschaftlichen Organisationen der Sowjetunion beziehungsweise als persönliche Einladungen der sowjetischen Künstler auszurichten.20 Die VOKS, die an der Erweiterung ihrer noch sehr geringen Kontakte zur Bundesrepublik interessiert war, beherzigte diese Ratschläge. In einem Schreiben an den Hohen Kommissar in der DDR, Vladimir Semjenov, schrieb der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der VOKS, Jakovlev, bereits direkt nach Erhalt dieser Anregungen, dass die VOKS bereit sei, die Einladungsfristen der Delegationen beliebig zu ändern, falls die traditionellen Fristen »in irgendeiner Weise der Einbeziehung angesehener Persönlichkeiten aus Westdeutschland in die Delegation hinderlich sein werden, die ihre Reise in die UdSSR anlässlich eines Feiertags mit politischem Charakter (7. November) absagen könnten«, und bat ihn um Vorschläge für geeignete alternative Termine.21 Bereits im darauf folgenden Jahr, 1955, empfing die VOKS die erste Kleindelegation aus der Bundesrepublik und 1956 eine Gruppe von neun westdeutschen »Kulturschaffenden«, die beide zu unbedenklichen Terminen (Dezember und April) in die Sowjetunion kamen. Zugleich bildete sie erneut auch Delegationen, die sich ganz traditionell aus Funktionären zusammensetzten. Im März 1955 wurden beispielsweise nur aktive Funktionäre der Gesellschaft für 18 Ebd. 19 Ebd., l. 150. 20 Ebd. 21 Schreiben des Stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden der VOKS Jakovlev an den Hohen Kommissar der UdSSR in Deutschland V.S. Semjenov, ohne Datum (Lesevermerk am 8.4.1954), in: GARF, f. 5283, op. 22, d. 468, l. 18–26, hier l. 19.

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deutsch-sowjetische Freundschaft zum Erfahrungsaustausch eingeladen. Einer der Gründe hierfür könnten die negativen Erfahrungen gewesen sein, die man bei den gemischten Reisegruppen der Jahre 1953 und 1954 gemacht hatte.

Als Gäste der VOKS in der Sowjetunion Jede Delegation, die sich meist aus 10 bis 20 Personen zusammensetzte, befand sich ungefähr einen Monat in der Sowjetunion und wurde von den Mitarbeitern der VOKS rund um die Uhr betreut. Die so genannten »Tagebücher« bzw. »Chroniken des Aufenthalts«, die eine detaillierte Übersicht über den Ablauf des Programms geben, lassen erkennen, dass kein einziger Tag zur freien Verfügung stand und für jeden Tag des Aufenthalts ein dichtes Programm vorgesehen war.22 Die so genannte Arbeit mit der Delegation (rabota s delegaciej) begann bereits in Ostberlin, wo sich alle Teilnehmer zunächst einfanden und von der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft betreut wurden. Diese versuchte die Gruppe auf ihre bevorstehende Reise einzustimmen und den Eingeladenen den Gedanken zu vermitteln, die Reise als ein kollektives Unternehmen zu betrachten – ein Anspruch, der gemeinsame Aufgaben sowohl während der Reise als auch nach ihrem Abschluss beinhaltete und nicht immer leicht einzulösen war.23 Wenige Tage nach der Ankunft in Moskau organisierte die VOKS einen feierlichen Empfang, zu dem alle in der Sowjetunion weilenden ausländischen Delegationen eingeladen wurden. An einem solchen Empfang, der im Mai 1953 im Hotel »Metropol«, dem Unterbringungsort der Gäste stattfand, nahmen rund 700 Personen teil, darunter auf sowjetischer Seite berühmte Künstler wie David Oistrach, Wissenschaftler oder Kriegshelden wie der Flieger Aleksej Mares’ev. Nach einem zweistündigen Konzert wurde in den Nebenräumen des Hotels ein »märchenhaftes« Buffet aufgebaut, das Gelegenheit bot, Gespräche zu führen und Kontakte zu knüpfen.24 Bereits an diesem Abend sollte die per22 Vgl. exemplarisch die Programme des Aufenthalts der beiden Delegationen im Jahr 1954 in: GARF, f. 5283, op. 22, d. 468, l. 9–14 (Frühjahrsdelegation) und GARF, f. 5283, op. 22, d. 468, l. 204–207 (Herbstdelegation). 23 Paul Distelbarth vermerkt hierzu, durchaus mit Interesse an der Exotik: »Wir erhielten einige Anweisungen, vor allem wurde uns empfohlen, unverzüglich ein ›Kollektiv‹ zu bilden – ein in der DDR sehr verbreitetes Schlagwort«. Distelbarth, Russland heute, S. 22. 24 Ebd., S. 82. Die Praxis, feierliche und kostenintensive Banketts für Delegationsmitglieder zu veranstalten, an denen sowjetische Vertreter teilnahmen, welche die Zahl der ausländischen Gäste um das drei- bis sechsfache übertrafen, fand bald das Missfallen des Finanzministeriums und des ZK der KPdSU, die verlangten, dass von sowjetischer Seite nur so

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sönliche Kommunikation mit den anwesenden sowjetischen Experten die Nähe zu »sowjetischen Menschen« herstellen, diffuse Bedrohungsgefühle abbauen und zugleich den ausländischen Besuchern die Möglichkeit geben, Antworten auf erste Fragen zu erhalten. Im Laufe des Aufenthalts der Delegation vermittelte die VOKS noch viele weitere Gesprächsrunden und Treffen mit sowjetischen Spezialisten, lud auch Experten zu Vorträgen in ihr Haus ein und arbeitete eifrig daran, das mangelnde Wissen der meisten Besucher über die »wahre« Sowjetunion und das Leben der Sowjetbevölkerung zu kompensieren. Zusätzlich zu den Erzählungen der sowjetischen Spezialisten erhielten die deutschen Gäste die Möglichkeit, sich selbst ein Bild vom gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben in der Sowjetunion zu machen. Dieser Teil des Programms verlief bei allen Delegationen nach einem ähnlichen Muster: Als Orte der Besichtigung wurden Moskau und Leningrad präsentiert und durch einen Ausflug in die Peripherie – nach Sibirien oder in eine der Sowjetrepubliken – ergänzt. So unternahm die Frühjahrsdelegation des Jahres 1953 einen Ausflug nach Sverdlovsk, im Herbst 1953 und Frühjahr 1954 stand die Armenische Sowjetrepublik auf dem Programm, im Herbst 1954 Georgien. Der Besuch der vom Zentrum weit entfernten Regionen diente einem klaren Zweck: Zum einen sollte so die Vorstellung korrigiert werden, dass Moskau und Leningrad die einzigen Vorzeigestädte der Sowjetunion wären, während die Peripherie weit weniger entwickelt sei.25 Zum anderen sollte gerade der Aufenthalt in den anderen Sowjetrepubliken den Besuchern eine weitere wichtige Botschaft anschaulich vermitteln: dass nämlich in der Sowjetunion das »nationale Problem« inzwischen gelöst sei – ein Diskurs, der bereits seit Mitte der dreißiger Jahre propagiert wurde.26 Die VOKS gab sich dabei offen und spontan, wenn es darum ging, wohin denn die gerade in Moskau eingetroffene Delegation dieses Mal fahren sollte, zumindest erschien es ihren westdeutschen Gästen so:

viele Vertreter eingeladen werden sollten, wie Delegationsmitglieder anwesend waren. Vgl. V. Garbuzov an das Sekretariat des ZK der KPdSU, 14.11.1955, in: RGANI, f. 5, op. 28, d. 350, l. 179–182, hier l. 182. 25 Zum Moskaudiskurs vgl. den Beitrag von Jan C. Behrends in diesem Band. Auch in den Texten deutscher Autoren in der SBZ/DDR wurde Moskau als »sozialistische Musterstadt« stilisiert, vgl. dens., Die erfundene Freundschaft, S. 57–64. 26 Vgl. Terry Martin, The Affirmative Action Empire. Nation and Nationalism in the Soviet Union, 1923–1939, Cornell, NY 2001, S. 437 f; Francine Hirsch, Empire of Nations. Ethnographic Knowledge and the Making of the Soviet Union, Ithaca, NY 2005 sowie Jan C. Behrends, »Freundschaft zur Sowjetunion, Liebe zu Stalin. Zur Anthropomorphisierung des Politischen im Stalinismus«, in: Bösch/Borutta, Die Massen bewegen, S. 172–192, hier S. 177.

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Georgien [Grusien] wurde von Professor Denissow27 abgelehnt. Dort seien seit Jahren alle deutschen »Delegationen« gewesen, es könnte aussehen, als hätte die Sowjetunion nichts anderes zu zeigen. Grusien gilt ja als eine Art von irdischem Paradies, nach dem man die große Sowjet-Union nicht messen darf. Es sollten keine falschen Eindrücke erweckt werden. – Jemand warf das Wort »Sibirien« in die Diskussion, das sofort begierig aufgenommen wurde. [...] Es schien, daß man bei der WOKS an Sibirien nicht gedacht hatte. Dorthin hatte man Deutsche bisher nicht zugelassen [...]. Nach einigem Zögern erklärte Professor Denissow: Sibirien? Warum nicht? Wir werden uns mit Swerdlowsk in Verbindung setzen und sehen, was sich tun läßt.28

Dass die VOKS so spontan und kurzentschlossen reagierte, wie hier beschrieben, war nur Teil einer geplanten Inszenierung; stand doch das Reiseziel »Sibirien« mit dem Besuch von Sverdlovsk in Wirklichkeit schon vor der Ankunft der Delegation fest, wie aus dem vorläufigen Aufenthaltsprogramm der Delegation deutlich hervorgeht, das die VOKS ausgearbeitet hatte.29 Auch sonst ging man bei der Vorbereitung auf den Empfang der Delegationen gründlich vor. Die VOKS entsandte ihre Vertreter zu den Besichtigungsobjekten vor Ort, um deren Zustand und Vorbereitungsgrad für einen Besuch durch die ausländischen Gäste überprüfen zu lassen, so auch im Frühjahr 1953 im Fall von Sverdlovsk.30 Selbstverständlich wurden alle zu zeigenden Objekte in Moskau und anderen Städten vorab ausgewählt und nur bestimmte, für den Besuch durch Ausländer geeignete Werke und Fabriken, Kindergärten und Schulen, Krankenhäuser oder Kolchosen dienten dann auch tatsächlich der Besichtigung vor Ort. Außerdem wurden bei entfernten Regionen die Zugangsstraßen zu den Flughäfen und Bahnhöfen überprüft und Maßnahmen zu ihrer Renovierung ergriffen. Vor allem musste dafür gesorgt werden, dass »auf den Reisewegen der ausländischen Gäste keine arbeitenden oder zu den Arbeitsorten marschierenden Gefangenen sowie Frauen, die schwere körperliche Arbeit verrichteten,« zu sehen waren.31 Die Missstände des Systems versuchten die Gastgeber nach dem Prinzip der Potemkinschen Dörfer zu lösen. Umgekehrt bedeutete dies aber nicht, dass es keine gut funktionierenden Fabriken oder gut ausgestatteten Kin27 Andrej Denisov war bis 1957 Vorsitzender der VOKS. 28 Distelbarth, Rußland heute, S. 80. 29 Spravka o delegacii Obščestva germano-sovetskoj družby, pribyvajuščej v Moskvu na prazdnovanie 1 maja [1953] po priglašeniju VOKS, in: RGANI, f. 5, op. 28, d. 7, l. 94–95. 30 Schreiben des stellvertretenden Leiters der Abteilung des ZK der KPdSU für Verbindungen mit ausländischen kommunistischen Parteien V. Stepanov an den Sekretär des ZK der KPdSU N. S. Chruščev, 28.4.1953, in: RGANI, f. 5, op. 28, d. 7, l. 44–47, hier S. 46. 31 Ebd.

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dergärten und Schulen gab, die es zu zeigen wert war. Die VOKS sorgte für eine systematische Erfassung solcher Objekte, wie aus den entsprechenden Richtlinien der Gesellschaft hervorgeht: [Die Abteilung für den Empfang der ausländischen Delegationen – ND] studiert systematisch Objekte, die den ausländischen Delegationen zu zeigen empfohlen werden, und führt eine Kartei, die Hauptangaben und Charakteristik der Objekte enthält, zudem legt sie Statistiken über den Besuch dieser Objekte durch ausländische Delegationen an, die sowohl von der VOKS als auch von anderen sowjetischen Organisationen eingeladen wurden.32

Selbst wenn hin und wieder mal eine Panne unterlief und doch Objekte gezeigt wurden, die eigentlich nicht »geeignet« erschienen, um sie den Ausländern vorzuführen, gelang es der VOKS zumeist, ein sehr selektives Bild der Sowjetunion zu formen. Die ermittelten Besichtigungsobjekte mit vorbildhaftem Charakter sollten die Besucher von den Erfolgen der Sowjetunion auf dem Gebiet der Industrie, der Landwirtschaft, des Gesundheits- und Bildungswesens sowie der Kultur überzeugen. Die wenigen unvermeidlichen Mängel in den gezeigten Einrichtungen waren dabei kein ernsthaftes Problem, trugen sie doch zur Authentizität des Programms bei und erhöhten die Glaubwürdigkeit der VOKS, die damit signalisieren konnte, dass in der Sowjetunion zwar noch nicht alles vollkommen perfekt sei, dass dies aber dank der Fortschrittlichkeit und Entwicklungsfähigkeit des Systems bald so sein werde. Damit die Bekanntschaft mit der Sowjetunion nicht zu eintönig verlief, wurden in die Aufenthaltspläne der Delegationen zahlreiche Besichtigungen von historischen und modernen Kulturdenkmälern, Museen, Ausstellungen und anderen Sehenswürdigkeiten aufgenommen. Natürlich durften auch die großen Aushängeschilder der Sowjetunion nicht fehlen: der Kreml, die Moskauer U-Bahn, die besten Theaterhäuser des Landes. Für fast jeden Abend war ein kulturelles Ereignis eingeplant: Ballett, Oper, Konzert, Schauspiel. So nahm z. B. die Mai-Delegation des Jahres 1954 an 40 gemeinsamen und 60 individuellen Aktivitäten – Besichtigungen oder Begegnungen – teil und wohnte 21 Konzerten, Theater- oder Filmvorführungen bei.33 Die Vielzahl touristischer Attraktionen und das kulturelle Angebot, das die deutschen Besucher in der Sowjetunion genossen, gehörte zu jenem Teil des 32 Položenie o funkcijach otdelov VOKS po priemu i obsluživaniju zarubežnych delegacij, 13.9.1955, in: GARF, f. 5283, op. 22, d. 493, l. 53–57, hier l. 55. 33 Informacionnaja zapiska o prebyvanii v SSSR delegacii Obščestva germano-sovetskoj družby, in: GARF, f. 5283, op. 22, d. 468, l. 2–6, hier l. 3.

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Programms, mit dem eine emotionale Beziehung zu den Gastgebern, zur Sowjetunion und – in weiterer Perspektive – zum sowjetischen System als solchem aufgebaut werden sollte. Die VOKS unternahm alles, um die Reisen der Delegationen organisatorisch reibungslos und inhaltlich erlebnisreich zu gestalten. Dass ihr das in vielen Fällen auch gelang, bezeugen dankbare Briefe, Postkarten und Telegramme, die die VOKS nach Ablauf der Reisen erhalten hat. Sie zeigen – auch wenn man vom teils unvermeidbaren ideologischen Pathos absieht – wie zufrieden, begeistert, ja sogar gerührt viele dieser Gäste nach ihrem Aufenthalt in der Sowjetunion waren. Paul Distelbarth etwa bedachte die Arbeit der VOKS in seinem Buch mit lobenden Worten: Von dieser Gesellschaft ist schon in den einleitenden Kapiteln die Rede gewesen. Ich möchte aber noch kurz davon sprechen, auf welche Weise sie in unserem Falle den »kulturellen Austausch« organisiert hat, weil das charakteristisch ist. Wie großzügig alles vorbereitet war, wurde schon angedeutet. Ich will nur sagen, daß es auf der ganzen Reise nicht die geringste Panne gab. Es war buchstäblich an alles gedacht, nichts vergessen. [...] Die ganze Leistung flößte eine hohe Achtung ein.34

Die Zufriedenheit der Gäste während ihres Aufenthalts in der Sowjetunion lag der VOKS sehr am Herzen, weshalb sie in den meisten Fällen weder Mittel noch Kräfte scheute, um die Wünsche der Delegierten zu erfüllen. Gute Versorgung und Unterhaltung betrachtete sie als Voraussetzung dafür, dass die Delegationsteilnehmer überhaupt, wie gewünscht, als Multiplikatoren fungierten. Doch auch beides zusammengenommen reichte noch nicht, um aus den Deutschen, seien sie aus Ost oder West, gute Propagandisten der Sowjetunion und ihrer Politik zu machen. Großen Wert legten die sowjetischen Gastgeber deshalb darauf, dass die Besucher konkrete Informationen, Fakten und Zahlen erhielten, mit denen sie ihre Erzählungen zu Hause untermauern konnten. Falsche oder ungenaue Vorstellungen sollten korrigiert und neue Inhalte über die sowjetische Wirklichkeit mit auf den Heimweg gegeben werden. Über welche Themen die Besucher sich eine klare Vorstellung verschaffen sollten, erläuterte Walter Ulbricht, der sich im November 1953 mit einer Regierungsabordnung der DDR in der Sowjetunion aufhielt, einer der Delegationen. In einem dreistündigen Gespräch während des Mittagessens, so hielt es ein Bericht der VOKS fest, habe er der Delegation ihre Aufgaben verdeutlicht: Sie solle das Leben und die Kultur der Sowjetunion im Allgemeinen kennen lernen und zwar unabhängig von den spezifischen beruflichen Interessen einzelner Teilnehmer. Zudem habe er darauf hingewiesen, »auf welche Seiten der sowjetischen 34 Distelbarth, Rußland heute, S. 79 f., Hervorhebung im Original.

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Wirklichkeit besondere Aufmerksamkeit gelenkt werden soll«, nämlich auf »die Sorge der Partei und der Regierung für das Wohl des Volkes, die Entfaltung der Wissenschaft und Kultur, die Einstellung der sowjetischen Menschen zur Arbeit, die Lösung der nationalen Frage usw.« Ulbricht habe dabei auch betont, dass die Befriedigung der individuellen Interessen der Teilnehmer der Erfüllung der Hauptaufgabe der Delegation nicht im Wege stehen dürfe.35 Die von Ulbricht angedeutete »Hauptaufgabe«, die allerdings, wie die Berichte der VOKS zeigen, nicht jedem Teilnehmer sofort einleuchtete, bestand darin, ein nach den Regeln der VOKS erzeugtes Bild der Sowjetunion zu internalisieren und in die beiden Teile Deutschlands zu transportieren. Die Reisenden aus der DDR sollten das zu Hause von der offiziellen Propaganda verbreitete Bild von der Sowjetunion als ein authentisches bestätigen36 und mit neuen Details anreichern. In ähnlicher Weise erhoffte man von den Westdeutschen, dass sie in der Bundesrepublik das vom antikommunistischen Diskurs verzerrte Bild der Sowjetunion korrigieren und ein positives, auf eigenen, scheinbar authentischen Erfahrungen beruhendes Bild kommunizieren würden. Der Prozess der Vermittlung eines gewünschten Bildes der sowjetischen Wirklichkeit verlief jedoch nicht immer leicht. Nicht jeder Deutsche beherrschte von vornherein das »richtige Sehen«. Zwar gelang es aus Sicht der VOKS etwa während des Besuchs der ersten gemeinsamen deutschen Delegation im Mai 1953 in Sverdlovsk, »die falsche Vorstellung von Sibirien, die bei fast allen Delegierten vorhanden war, als einem rückständigen und wilden Gebiet« der Sowjetunion »vollständig zu zerstreuen«.37 Doch habe einer der westdeutschen Teilnehmer, Otto Peltzer, versucht, in der Gruppe das Gerücht zu verbreiten, dass der besuchte Kindergarten der einzige in der Stadt und deswegen so gut ausgestattet sei. Dieser »feindliche Ausfall« (vraždebnaja vylazka) wurde aber im Gespräch mit der Direktorin des Kindergartens »entlarvt«, die zu berichten wusste, dass alleine das Uralmasch-Werk 24 solcher Kindergärten unterhalte, und es in der ganzen Stadt über siebzig davon gäbe.38 Zurückhaltung, ja sogar Skepsis und Misstrauen in Bezug auf das ihnen präsentierte Sowjetunionbild zeigten nicht nur westdeutsche, sondern gelegentlich auch ostdeutsche Teilnehmer. In dem Bericht über den Besuch der Delegation im Herbst 1953 hieß es beispielsweise, dass der Ingenieur der Stahlwerke »Max35 Otčjet o rabote s delegaciej Obščestva germano-sovetskoj družby, nachodivšejsja v SSSR po priglašeniju VOKS s 1-go po 30 nojabrja 1953 g., in: GARF, f. 5283, op. 22, d. 415, l. 83–86, hier l. 86. 36 Hartmann/Eggeling, Die Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft, S. 102. 37 Otčjet o rabote s delegaciej Obščestva germano-sovetskoj družby, nachodivščejsja v SSSR s 29 aprelja po 20 maja 1953 g., in: GARF, f. 5283, op. 22, d. 414, l. 154–157, hier l. 156. 38 Ebd.

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hütte« und Mitglied der Ost-CDU Paul Rothe offen die Lebensbedingungen in der Sowjetunion kritisiert und dabei den deutlich höheren Lebensstandard in der DDR hervorgehoben habe: »Der ärmste Bauer bei uns lebt im Vergleich zu Euren Bauern wie ein Fürst«.39 Rothe habe zudem die Ankündigung der Sowjetregierung über die Reduzierung der Streitkräfte angezweifelt, indem er verkündete, dass in der Sowjetunion, insbesondere in Moskau, jeder dritte Bürger ein Militärangehöriger sei (die Zahl hatte er ermittelt, indem er die Menschen beim Betreten eines Ladengeschäfts zählte).40 Am meisten ärgerte die VOKS aber, wenn sich einige Deutsche völlig desinteressiert an jener »sowjetischen Wirklichkeit« zeigten, die sie ihnen nahe zu bringen versuchte, und sich ausschließlich auf Themen konzentrierten, die ihre beruflichen Interessen tangierten. Dies kam den Erwartungen der VOKS nicht entgegen, da sie im Unterschied zu anderen, am Delegationsaustausch beteiligten Organisationen, die ihre Gäste aus den jeweiligen professionellen Kreisen gewannen, das Ziel verfolgte, auf einer breiten Grundlage über die Sowjetunion zu informieren und die Reise nicht ausschließlich auf einen Erfahrungsaustausch von Spezialisten zu reduzieren. Die Teilnehmer der im Frühjahr 1954 angereisten Delegation etwa blieben somit hinter den Erwartungen der VOKS zurück. Unzufrieden stellte sie fest, dass die Zusammensetzung der Delegation aus der DDR »nicht ganz gelungen« war, und die Auswahl der Teilnehmer aus Westdeutschland überwiegend einen »zufälligen Charakter« trug. Die Westdeutschen wollten sich lediglich als Privatpersonen verstanden wissen und repräsentierten keine öffentlichen Kreise oder Organisationen, während die Delegierten aus der DDR hauptsächlich »Abkömmlinge der alten bourgeoisen Intelligenz« waren und sich »ziemlich individualistisch« benahmen.41 »Ernsthafte Bedenken« rief zum Beispiel die Aufnahme des westdeutschen »freien Journalisten« Kurt Weigand in die Delegation hervor, der seinen Aufenthalt in der Sowjetunion geheim halten wollte, auf Auftritte in der sowjetischen Presse und im Radio verzichtete und sich zu keiner direkten Äußerung über das Gesehene hinreisen ließ. Den Mitarbeitern der VOKS gab er zu verstehen, dass er sich mit der marxistischen Literatur auskenne und eine eigene Meinung über den Sozialismus und die sowjetische Wirklichkeit besitze.42 Andere Teilnehmer wie den Kölner Komponisten Kurt Driesch charakterisierte die VOKS durch Eigenschaften wie »äußerster In39 Otčjet o rabote s delegaciej Obščestva germano-sovetskoj družby, nachodivšejsja v SSSR po priglašeniju VOKS s 1-go po 30 nojabrja 1953 g., in: GARF, f. 5283, op. 22, d. 415, l. 83–86, hier l. 85. 40 Ebd. 41 Informacionnaja zapiska o prebyvanii v SSSR delegacii Obščestva germano-sovetskoj družby (April–Mai 1954), in: GARF, f. 5283, op. 22, d. 468, l. 2–6, hier l. 2; 3. 42 Ebd., l. 2.

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dividualismus, Egoismus, Beschränktheit in den sozialen und professionellen Ansichten«, so dass diese aus ihrer Sicht kaum in der Lage waren, sich aktiv in die Arbeit der Delegation einzubringen.43 Von insgesamt vier Gästen aus der Bundesrepublik, die an der Frühjahrsreise 1954 teilgenommen hatten, fand nur einer die Zustimmung der VOKS – der Chemiker Dr. Friedrich Färber, der sich »vielseitig und aufrichtig für die sowjetische Wirklichkeit interessierte, einen freundschaftlichen Kontakt zu sowjetischen Menschen suchte« und »sich kritisch gegenüber dem Verhalten der übrigen Delegierten aus Westdeutschland verhielt«.44 Diese Aussage ist wenig überraschend, war Färber doch ein aktiver Teilnehmer der bundesdeutschen christlichen Friedensbewegung und engagierte sich unter anderem im »Internationalen Versöhnungsbund«, einer kleinen Friedensorganisation, die für eine Versöhnung zwischen Ost und West eintrat, und stammte damit genau aus jenen Kreisen, in denen die VOKS am ehesten hoffte, geeignete Reisekandidaten zu finden. Beide Delegationen des Jahres 1954 offenbarten zusätzlich ein anderes Problem: Der Aufenthalt einer gemeinsamen, aus Vertretern der DDR und der Bundesrepublik bestehenden Gruppe in der Sowjetunion verlief nicht immer harmonisch. Die Mitarbeiter der VOKS beobachteten »eine gewisse Entfremdung und fehlendes gegenseitiges Verständnis« zwischen den West- und Ostdeutschen, »was nicht selten zu offenen Streitereien und einer angespannten Atmosphäre in der Delegation« geführt habe.45 Einige Westdeutsche seien der DDR gegenüber »feindlich« gesonnen gewesen, hätten sich »abfällige Bemerkungen« erlaubt und versucht, die DDR der Sowjetunion gegenüberzustellen.46 Sie begegneten dabei, wie es hieß, den Veränderungen in der Sowjetunion zwar mit Respekt, lehnten aber »die Methoden und Formen des demokratischen Aufbaus in der DDR entschieden ab«.47 Dass nicht alle Delegationsteilnehmer die »sowjetische Wirklichkeit« auf gleiche Weise wahrnahmen, war angesichts der Anwesenheit von Westdeutschen in der Delegation fast vorprogrammiert. Die VOKS vermerkte dazu, dass die »Bekanntschaft mit der sowjetischen Wirklichkeit« oft Streit unter den Delegierten hervorgerufen habe. Vor allem bei den Besuchern aus der Bundesrepublik habe es in dieser Hinsicht viele Unklarheiten gegeben. Bei der Besichti43 Ebd. 44 Ebd., l. 3. 45 Ebd. 46 Ebd., l. 5 und Informacija o prebyvanii v SSSR delegacii Obščestva germano-sovetskoj družby (Oktober–November 1954), in: GARF, f. 5283, op. 22, d. 468, l. 196–202, hier l. 199. 47 Informacionnaja zapiska o prebyvanii v SSSR delegacii Obščestva germano-sovetskoj družby (April–Mai 1954), in: GARF, f. 5283, op. 22, d. 468, l. 2–6, hier l. 5.

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gung der Objekte hätten sie viele Fragen gestellt, die den Teilnehmern aus der DDR gut bekannt seien.48 Raum für Diskussionen über die »sowjetische Wirklichkeit« gab es in dem von der VOKS sorgfältig inszenierten Aufenthaltsprogramm offenbar nicht. Objekte, die als »Errungenschaften« der Sowjetunion präsentiert wurden und unter denen sich gigantische Wasserkanäle oder Kraftwerke befanden, die von Gulag-Häftlingen erbaut worden waren, sollten nicht dazu einladen, sich damit kritisch auseinanderzusetzen oder sie gar zu hinterfragen. Die »sowjetische Wirklichkeit« hatte nur eine Seite und die war so, wie die VOKS sie darbot. Wenn die ausländischen Besucher sie nicht »richtig« wahrnahmen oder falsch verstanden, dann lag es, so lässt es sich aus den Analysen der VOKS ablesen, entweder an der falschen Auswahl der Teilnehmer oder an der mangelhaften Arbeit der Delegationsleitung, die die notwendige Aufklärungsarbeit in der Gruppe nicht gebührend realisierte. Von den Leitern der Delegationen wurde nicht weniger erwartet, als dass sie für den Zusammenhalt in der Gruppe sorgten und den »weniger vorbereiteten Delegierten das richtige Verständnis dieser oder jener Frage der sowjetischen Wirklichkeit« erläuterten.49 Die Delegationsleiter wurden dabei immer aus den DDR-Bürgern bestimmt und waren, von wenigen Ausnahmen abgesehen, meist SED-Mitglieder, was womöglich dazu führte, dass ihre Aufklärungsversuche gelegentlich ungeschickt, weil zu »direkt, ohne Rücksicht auf die Weltanschauung und theoretische Vorbereitung der Delegierten« erfolgten, wie es im Fall der Herbstdelegation von 1953 hieß.50 Doch nicht alles war schlecht – »Erfolge« wurden genauso akkurat protokolliert wie Schwierigkeiten und Probleme. Vor allem wurde festgehalten, welche Inhalte und Bilder von der Sowjetunion den Besuchern vermittelt werden konnten, ob es gelang, Vorurteile und Stereotype zu zerstreuen und welche Bereiche der »sowjetischen Wirklichkeit« bei den Gästen auf besonderes Interesse stießen. So hätten die Besucher sowohl in ihren öffentlichen Auftritten als auch in Gesprächen mit den Mitarbeitern der VOKS betont, dass die »Einheit von Partei, Regierung und Volk«, die sie in der Sowjetunion beobachten konnten, einen besonders großen Eindruck auf sie gemacht habe, dass die Bekanntschaft mit Georgien ihnen »die Richtigkeit der Lösung der nationalen Frage in der UdSSR« bewiesen habe, dass sie sich »von der Friedensliebe der Sowjetunion« überzeugen 48 Informacija o prebyvanii v SSSR delegacii Obščestva germano-sovetskoj družby (Oktober– November 1954), in: GARF, f. 5283, op. 22, d. 468, l. 196–202, hier l. 198. 49 Otčjet o rabote s delegaciej Obščestva germano-sovetskoj družby, nachodivšejsja v SSSR po priglašeniju VOKS s 1-go po 30 nojabrja 1953 g., in: GARF, f. 5283, op. 22, d. 415, l. 83–86, hier l. 86. 50 Ebd.

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konnten und davon, dass »die sowjetischen Menschen mit der friedlichen schöpferischen Arbeit« beschäftigt seien. Sie hätten »das breite Ausmaß der Bautätigkeit in der UdSSR« hervorgehoben und die Sowjetunion als »eine gigantische Baustelle« bezeichnet. Außerdem hätten die Gäste »auf die großen Erfolge« hingewiesen, »die in den Jahren der Sowjetmacht auf dem Gebiet des wirtschaftlichen und kulturellen Aufbaus« erzielt worden seien.51 Diejenigen, die sich für Fragen der Religion interessierten, zeigten sich nach dem Besuch von Kirchen und Gottesdiensten, der Besichtigung der Geistlichen Akademie in Leningrad und Gesprächen mit Vertretern des Rates für religiöse Kulte beim Ministerrat der UdSSR hoch zufrieden über das, »was sie über die Lage der Religion in der Sowjetunion gesehen und erfahren haben«.52 Die Teilnehmer aus der Bundesrepublik hätten ihre Vorstellung von den Pionierpalästen revidieren und erkennen müssen, dass die Kinder dort entgegen den Behauptungen der westlichen Presse nicht in Politik unterrichtet würden, sondern »alle Möglichkeiten zur Entfaltung ihrer Fähigkeiten« erhielten.53 Die Delegationsteilnehmer beschäftigte laut VOKS auch der Sowjetmensch und »die Sorge, die der Staat ihm entgegenbringt«. Das Bild vom »sowjetischen Menschen« wurde dabei aufpoliert: Als die wichtigsten Eigenschaften, die sein moralisches Antlitz ausmachten, hätten die deutschen Besucher »Bescheidenheit, Geradlinigkeit und Ehrlichkeit« sowie dessen hohen Bildungsstand hervorgehoben.54 Einige Teilnehmer sowohl aus Westdeutschland als auch aus der DDR signalisierten, dass sich ihr Bild von der Sowjetunion im Laufe des Aufenthalts deutlich verändert hatte. Sie hätten dabei erklärt, dass sie sich vor der Reise in die Sowjetunion »in dieser oder jener Weise unter dem Einfluss der antisowjetischen Propaganda« befunden hätten und dass die »unmittelbare Bekanntschaft mit der sowjetischen Wirklichkeit« ihnen die »Verlogenheit dieser Behauptungen« aufgezeigt habe, die »von der reaktionären Presse und dem Rundfunk über die UdSSR« verbreitet würden.55 Die zitierten Berichte sind natürlich nur mittelbar eine Quelle für das, was die deutschen Besucher wirklich sagten oder glaubten. Umgekehrt sagen sie viel über die Befindlichkeiten ihrer Verfasser aus – lassen sich anhand dieser Zusammenfassungen doch wesentliche Konzepte des Sowjetuniondiskurses bestim51 Informacija o prebyvanii v SSSR delegacii Obščestva germano-sovetskoj družby (Oktober– November 1954), in: GARF, f. 5283, op. 22, d. 468, l. 196–202, hier l. 197. 52 Informacionnaja zapiska o prebyvanii v SSSR delegacii Obščestva germano-sovetskoj družby (April­–Mai 1954), in: GARF, f. 5283, op. 22, d. 468, l. 2–6, hier l. 4. 53 Otčet o rabote s delegaciej Obščestva germano-sovetskoj družby (April–Mai 1953), in: GARF, f. 5283, op. 22, d. 414, l. 154–157, hier l. 157. 54 Informacija o prebyvanii v SSSR delegacii Obscestva germano-sovetskoj družby (Oktober– November 1954), in: GARF, f. 5283, op. 22, d. 468, l. 196–202, hier l. 197. 55 Ebd.

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men, wie sie die VOKS und die ihr vorgesetzten Behörden verbreitet wissen wollten. Ob die Deutschen dabei ihre Meinung über die Sowjetunion offen sagten oder sich nur aus Dankbarkeit für die gute Aufnahme und die Übernahme aller Kosten durch die sowjetische Organisation verpflichtet sahen, sich dem im Laufe der Reise gepflegten Diskurs anzupassen, war für die VOKS zunächst unerheblich. Entscheidend war, dass die Inszenierung glückte und die Teilnehmer als Multiplikatoren fungierten. Daher ist es nicht unwahrscheinlich, dass es der VOKS tatsächlich gelang – durch die geschickte Auswahl der präsentierten Objekte, eine perfekte Organisation der Reise, verbunden mit einem Programm, das den Besuchern fast keine freie Bewegungsmöglichkeit ließ –, ihre Gäste so zu beeinflussen, dass diese freiwillig und sogar mit Begeisterung das von der VOKS geschaffene Sowjetunionbild übernahmen und an die deutsche Öffentlichkeit weiterzugeben bereit waren. Die seit 1953 praktizierte Aufnahme von Westdeutschen in die Delegationen verkomplizierte die Kommunikation der gewünschten Bilder und Deutungen zwar ein wenig, änderte aber nichts an den bewährten Methoden und eingefahrenen Mustern ihrer Vermittlung. Auch von ihren westdeutschen Gästen erhoffte sich die VOKS einen Mehrwert. Im Gegenzug für die genossene Gastfreundschaft erwartete sie von ihnen, dass auch sie sich ihrer Aufgaben als Delegationsmitglieder bewusst wurden und diese nach Möglichkeit gut erledigten.

Als Multiplikatoren zu Hause Nach Ablauf der Reise erwartete die sowjetische Seite eine möglichst effiziente Verbreitung der gesammelten Eindrücke und Kenntnisse über die »sowjetische Wirklichkeit« im Ausland. Dieser Aufgabe konnten die Reiseteilnehmer auf verschiedene Weise entsprechen. In der DDR wünschte sich die VOKS eine rege Beteiligung der ehemaligen Delegationsteilnehmer während der Monate der deutsch-sowjetischen Freundschaft, möglichst durch Präsenz im Radio oder in der Presse. Vortrags- oder publizistische Tätigkeit war ebenfalls willkommen, genauso wie kleine Auftritte im Kreise der Mitglieder der regionalen Gesellschaften für deutsch-sowjetische Freundschaft oder der eigenen Arbeitskollegen. Die Zahl und Themen der zu publizierenden Artikel durch die ehemaligen Delegationsteilnehmer legte die Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft in der DDR genau fest, mindestens drei sollten geschrieben werden, davon einer für die überregionale Presse.56 56 Vgl. Hartmann/Eggeling, Die Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft, S. 102 und Fn. 400.

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Den ersten Schritt in Richtung der Propaganda ihrer Sowjetunioneindrücke konnten die Delegationsteilnehmer bereits in der Sowjetunion unternehmen, indem sie etwa im Radio über das von ihnen Erlebte und Gesehene berichteten. Interviews mit ausländischen Besuchern, Gespräche »Am runden Tisch« oder Sendungen »Mit eigenen Augen« wurden anschließend im Ausland gesendet. Diese »Form der Radiopropaganda der sowjetischen Wirklichkeit« fand nach Angaben der Hauptverwaltung Rundfunk sowohl Zustimmung bei den befreundeten kommunistischen Parteien als auch die Billigung der Zuschauer.57 Während westdeutsche Teilnehmer aus naheliegenden Gründen eher selten von dem Angebot Gebrauch machten, im Radio aufzutreten, erzählten Besucher aus der DDR gerne über ihre Erfahrungen und Wahrnehmungen der Sowjetunion. Der Leiter der Herbstdelegation 1953, Adolf Färber, und der stellvertretende Abteilungsleiter der Zeitung Tägliche Rundschau, Franz Xaver Philipp, beide SED-Mitglieder, berichteten zum Beispiel einstimmig vom gewaltigen Eindruck, den auf sie die Militärparade und die Demonstration der Werktätigen auf dem Roten Platz am 7. November gemacht hätten. Sie nutzten das Festritual, um den deutschen Zuhörern diejenigen Botschaften zu übermitteln, die in der DDR schon lange ein fester Bestandteil der täglich geführten Propaganda für die Sowjetunion waren, nun aber aus eigener Anschauung bestätigt werden sollten: Die Demonstration, so Philipp, habe die Macht der Sowjetunion vor Augen geführt, die nicht alleine in der militärischen und technischen Überlegenheit der Sowjetarmee liege, sondern sich auch darin zeige, dass das gesamte Sowjetvolk geschlossen hinter seiner Partei und Regierung stehe.58 Je stärker also die Sowjetunion werde, desto mächtiger werde das Friedenslager. Diesen Gedanken äußerten fast alle an den Radiosendungen beteiligten Teilnehmer und zollten damit dem für die sowjetische Propaganda der fünfziger Jahre wichtigen Friedensdiskurs Tribut. Adolf Färber brachte die zentralen Elemente des aktuellen Sowjetuniondiskurses prägnant auf den Punkt, indem er erzählte, was alle auf dem Roten Platz versammelten Delegationsteilnehmer damals begriffen hätten: »Das Sowjetvolk will den Frieden, die Sowjetregierung kämpft für den Frieden, und die Sowjetunion ist der beste Freund des deut-

57 Schreiben des Vorsitzenden der Hauptverwaltung Rundfunk N. Sjemin an den Sekretär des ZK der KPdSU M. A. Suslov, 8.12.1953, in: RGANI, f. 5, op. 28, d. 9, l. 2–3, hier l. 3. 58 Vystuplenija zarubežnych delegatov, in: RGANI, f. 5, op. 28, d. 9, l. 113–116, hier l. 115. Die ins Russische übersetzten Stellungnahmen der Delegationsteilnehmer aus 35 Ländern im Jahre 1953 sind auf ca. 350 Seiten wiedergegeben. Im Frühjahr 1954 beteiligten sich die Gäste der VOKS an insgesamt 25 Auftritten fürs Radio, von denen 18 gesendet wurden. Vgl. Informacionnaja zapiska o prebyvanii v SSSR delegacii Obščestva germano-sovetskoj družby (Frühjahr 1954), in: GARF, f. 5283, op. 22, d. 468, l. 2–6, hier l. 6.

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schen Volkes«.59 Friedensliebe und Freundschaftswille bildeten zwei Zentren der sowjetischen Aufklärungsarbeit und mussten immer wieder rekapituliert und unter Beweis gestellt werden. Die Verbreitung der beiden Konzepte in der DDR-Bevölkerung stellte eine wesentliche Voraussetzung dafür dar, sie für das sowjetische Modell zu gewinnen. Ganz in diesem Sinn unterstützten auch zwei weitere Teilnehmer der Herbstdelegation 1953, die Ingenieure Paul Rothe (Maxhütte) und Otto Trinks (Mannfeld), die offizielle Rede von der Sowjetunion, indem sie über die Errungenschaften der sowjetischen Industrie am Beispiel des Stalin-Werks in Leningrad, das Dampf- und Wasserturbinen für Kraftwerke herstellte, sprachen. Auch die wirtschaftlichen Erfolge seien aus dem Streben des sowjetischen Volkes nach Frieden zu erklären, und die DDR könne bald ähnliche Leistungen erzielen, seien doch die sowjetischen Freunde sehr großzügig in der Weitergabe ihrer Erfahrungen.60 Sie bedienten damit den gängigen Topos von der freundschaftlichen Hilfe, die die Sowjetunion der DDR beständig erweise sowie der Notwendigkeit, von der Sowjetunion zu lernen. In Ostberlin angekommen, wurden die Sowjetunionbesucher von den Funktionären der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft empfangen und zu einer Pressekonferenz im Haus der DSF eingeladen, auf der sie die Möglichkeit erhielten, einen Rechenschaftsbericht über ihre Reise abzulegen. Durch die Anwesenheit von Journalisten sollte dabei eine zumindest dem Anspruch nach breitere Plattform für die Popularisierung des von den Delegationsteilnehmern transportierten Sowjetunionbildes geschaffen werden. Vorbereitungen für dieses Ereignis wurden bereits in der Sowjetunion getroffen. So wurde die Rede des Leiters der Herbstdelegation 1953, Adolf Färber, auf der Pressekonferenz »vorher mit allen Delegierten in Moskau« besprochen.61 Zufrieden hielt die VOKS in ihrem Bericht fest, was Färber über den Aufenthalt der Delegation in Moskau, Leningrad und Armenien zu berichten wusste. Die Zusammenfassung seines Auftritts entsprach allen Regeln des Diskurses, der Ende 1953 noch stalinistisch geprägt war: Alle Delegationsteilnehmer hätten sich »von der heißen Liebe der sowjetischen Menschen zu ihrer großen Heimat (velikoj rodine)« überzeugen können, »von ihrer Treue zur Kommunistischen Partei und sowjetischen Regierung« sowie »vom unbeugsamen Willen der sowjetischen Menschen zum Kampf für die Bewahrung des Friedens«. Färber habe ferner von der »tiefen Solidarität der sowjetischen Menschen mit dem deutschen 59 Vystuplenija zarubežnych delegatov, in: RGANI, f. 5, op. 28, d. 9, l. 144–146, hier l. 146. 60 Ebd., l. 128–131, hier l. 131. 61 Otčjet o rabote s delegaciej Obščestva germano-sovetskoj družby, nachodivšejsja v SSSR po priglašeniju VOKS s 1-go po 30 nojabrja 1953 g., in: GARF, f. 5283, op. 22, d. 415, l. 83–86, hier l. 83.

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Volk in seinem Kampf für die Erhaltung des einheitlichen, unabhängigen, demokratischen und friedliebenden Deutschland« berichtet. »Tief bewegt« habe er vom Besuch des Lenin-Stalin-Mausoleums gesprochen. Abschließend habe er betont, dass sich die Delegationsmitglieder mit allen Kräften dafür einsetzen würden, »dass die Deutschen in beiden Teilen Deutschlands die Wahrheit über die Sowjetunion erführen, um die deutsch-sowjetische Freundschaft noch mehr zu stärken«,62 eine Versprechung, die er zuvor auch in einem seiner Radioauftritte gemacht hatte.63 Der Leiter der Herbstdelegation 1954, der Rektor der Humboldt-Universität zu Berlin, Professor Walter Neue, hatte die ihm zugedachte Rolle nach Einschätzung der VOKS ebenfalls gut erfüllt: Obwohl er während des ganzen Aufenthalts in der Sowjetunion seinen öffentlichen Aussagen stets einen »neutralen« Charakter zu verleihen und »politische Momente« auszulassen bemüht gewesen war,64 gab er auf der Pressekonferenz ein wohlwollendes Bild von der Reise und vom Gesehenen. »Mit Elan« habe er etwa von der Fürsorge und Aufmerksamkeit berichtet, die den Kindern in der Sowjetunion seitens der Regierung und der Öffentlichkeit entgegengebracht werde.65 Auch ein westdeutscher Teilnehmer, der linke Historiker Arno Peters, 66 schwärmte von der Landwirtschaftlichen Allunionsausstellung, in der er eine »wunderbare Illustration« der richtigen Lösung der nationalen Frage sah.67 Diese Ausstellung, so erzählte er den versammelten Journalisten, sei keine Ausstellung im traditionellen Sinn, sondern mit dieser Ausstellung lege das Volk Rechenschaft von seinen Errungenschaften ab. »Die wunderschönen, im jeweiligen nationalen Kolorit gehaltenen Pavillons der Unionsrepubliken« symbolisierten seiner Ansicht nach »die Verbindung der nationalen Interessen einzelner Republiken mit den Interessen des ganzen Landes«.68 62 Ebd., l. 84. 63 Vgl. Vystuplenija zarubežnych delegatov, in: RGANI, f. 5, op. 28, d. 9, l. 118–120, hier l. 120. 64 Informacija o prebyvanii v SSSR delegacii Obscestva germano-sovetskoj družby (Oktober­– November 1954), in: GARF, f. 5283, op. 22, d. 468, l. 196–202, hier l. 198. 65 Bericht des Bevollmächtigten der VOKS in der DDR V. Baluev an den Vorstandsmitglied der VOKS Ju. M. Brusničkin, 29.11.1954, in: GARF, f. 5283 op. 22, d. 468, l. 208–213, hier l. 209. 66 Zu Arno Peters siehe Fritz Fischer, Der letzte Polyhistor. Leben und Werk von Arno Peters, Vaduz 1996. 67 Bericht des Bevollmächtigten der VOKS in der DDR V. Baluev an den Vorstandsmitglied der VOKS Ju. M. Brusničkin, 29.11.1954, in: GARF, f. 5283, op. 22, d. 468, l. 208–213, hier l. 211. 68 Ebd.

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Trotz der insgesamt positiven Äußerungen und der teilweise begeisterten Eindrücke, welche die Delegationsmitglieder auf der Pressekonferenz von ihrer Reise in die Sowjetunion vermittelten, vermochte die Delegation, wie der Bevollmächtigte der VOKS in der DDR, Baluev, in seinem Bericht an den Vorstand der VOKS zu verstehen gab, nicht den erhofften Grundstein für eine angemessene Propagierung der Reiseeindrücke zu legen. So seien die Delegationsteilnehmer nach ihrer Rückreise übermüdet gewesen, und die Vorbereitung durch die Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft habe zu wünschen übrig gelassen. Die DSF habe vorab keine Fragen ausgearbeitet, die für die anwesenden Funktionäre der DSF und die Berliner Korrespondenten von Interesse gewesen wären. Die Korrespondenten selbst seien erst am Tag der Pressekonferenz davon informiert worden, dass diese überhaupt stattfand, weshalb sie gleichfalls unvorbereitet gewesen seien und nur wenige Fragen gestellt hätten.69 Zudem, so Baluev, hätten weder der Generalsekretär der DSF, Gottfried Grünberg, noch der Sekretär des Zentralvorstands der DSF für Fragen der Agitation und Propaganda, Kurt Willerding, die Mitglieder der Delegation dazu aufgerufen, in breiten Kreisen der deutschen Bevölkerung »die Errungenschaften des sowjetischen Volkes« zu popularisieren und in der deutschen Presse und im Radio von ihren Reiseerlebnissen zu berichten.70 In einem Gespräch mit Baluev nach der Pressekonferenz bemühte sich Grünberg offenbar dieses Versäumnis nachzuholen und versprach, die Delegationsmitglieder bald zu versammeln, um mit ihnen gemeinsam »über die Formen und Methoden der Vermittlung« (o formach i sposobach dovedenija) der in der Sowjetunion gewonnen Eindrücke und Kenntnisse zu beraten.71 Häufig jedoch misslang es völlig, die Teilnehmer der Sowjetunionreisen nach ihrer Rückkehr in die DDR für die Kommunikation und Propaganda der Sowjetunion einzuspannen. Ähnlich wie mancher Westdeutsche betrachteten auch viele Heimkehrer in die DDR ihre Verpflichtungen nach Abschluss der Reise als erledigt. So konstatierte die VOKS etwa missbilligend, dass sich unter den ehemaligen Delegationsteilnehmern während der Monate der deutsch-sowjetischen Freundschaft nicht genügend Agitatoren für die deutsch-sowjetische Freundschaft gefunden hätten.72 Auch wussten die »Freunde« nichts genaues über das Leben und die weitere Tätigkeit der ehemaligen Delegationsmitglieder in späteren Jahren. 69 Ebd., l. 213. 70 Ebd. 71 Ebd. 72 Ob itogach mesjačnika germano-sovetskoj družby v GDR, 10.1.1955, in: GARF, f. 5283, op. 22, d. 548, l. 16–23, hier l. 22.

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Demgegenüber inspirierte die Reise einige Besucher aus der Bundesrepublik zu einer intensiven Auseinandersetzung mit ihren Erfahrungen in der Sowjetunion, die sie in Form von Vorträgen, Presseartikeln bis hin zu größeren Buchprojekten niederlegten. Der Publizist Paul Distelbarth etwa versicherte der VOKS bereits einen Monat nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik, dass er in dieser Zeit »nicht untätig gewesen« sei. Unter anderem habe er mit dem »fortschrittlichsten Verleger von Westdeutschland«, Ernst Rowohlt, einen Vertrag über ein Buch abgeschlossen, in dem er die Erlebnisse seiner Sowjetunionreise zu verarbeiten beabsichtigte. Es sollte »keine Reportage, sondern ein solides Buch« werden, »das alle Fragen ernsthaft behandelt«. Distelbarth fügte dabei unmissverständlich hinzu: »Daß es im richtigen Sinne geschrieben wird, brauche ich nicht zu versichern«.73 Bereits ein Jahr nach seiner Reise in die Sowjetunion erschien das versprochene Buch mit einem Umfang von über zwei hundert Seiten im RowohltVerlag.74 Es war einer der ersten Augenzeugenberichte aus der Sowjetunion der Nachkriegszeit, da westdeutsche Journalisten bis zum Tod Stalins nicht in die Sowjetunion reisen durften. Der innenpolitischen Stimmung und reservierten Haltung gegenüber der Sowjetunion in der Bundesrepublik wohl bewusst, formulierte Distelbarth im Vorwort seines Buchs dessen Ziele wie folgt: Er wolle Russland weder »emporheben, noch herabsetzen« und keine Urteile über »den Wert des Kommunismus und die bolschewistischen Methoden« abgeben, sondern lediglich über »Erlebnisse, Beobachtungen, Erfahrungen während einer Reise durch die Sowjet-Union und über Gedanken, die sich daraus ergaben«, berichten.75 Diese selbst auferlegte Zurückhaltung in der Berichterstattung ließ sich allerdings nicht immer konsequent einhalten, versuchte Distelbarth doch tatsächlich den Bolschewismus zu erklären und wartete dabei mit apologetischen Interpretationen von Stalin als »Retter seines Volkes und Landes« auf, der »seine Bedeutung und seine Größe für das russische Volk und in gewissem Sinne auch für die Welt« durch den Sieg über Hitler-Deutschland errungen habe.76 Andere Phänomene des sowjetischen Lebens leitete er aus dem »Charakter des Volkes« ab, wie etwa die Verbannung der Sexualität aus dem öffentlichen Diskurs, oder deutete sie als »dem Entwicklungsstand des Volkes« entsprechend, womit er die Durchsetzung des Sozialistischen Realismus in der 73 Schreiben von Paul Distelbarth an die VOKS vom 28.6.1953 (der Brief wurde versehentlich auf den 28. Juli datiert, worauf Distelbarth in seinem nächsten Brief an die VOKS hingewiesen hat), in: GARF, f. 5283, op. 16, d. 188, l. 72. 74 Paul Distelbarth, Rußland heute. Bericht einer Reise, Hamburg 1954. 75 Ebd., S. 5. 76 Ebd., S. 92. Die Bewunderung für Stalin zeigten schon die westlichen Intellektuellen der zwanziger und dreißiger Jahre, vgl. Hollander, Political Pilgrims, S. 167–173.

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Musik rechtfertigte. Aus den Gesprächen mit sowjetischen Experten gewonnene Informationen, wie etwa die Mitteilung über schmerzlose Geburten, eine Innovation, die angeblich in der Sowjetunion bereits erfolgreich praktiziert wurde, über das Fehlen von Prostitution und Geschlechtskrankheiten, die nur von Matrosen aus dem Westen eingeschleppt würden sowie über die vollkommene Gesundheit des russischen Volkes – dass dem so sei, »das sieht ja der Blinde«77 – gab er unhinterfragt wieder. Andererseits hielt sich Distelbarth im Buch aber auch nicht mit Kritik zurück, etwa wenn er die omnipräsente Propaganda auf den Moskauer Straßen als »störend«, »ausgesprochen lästig, manchmal beinahe unerträglich« empfand, was er im Buch auch nicht verbarg: Das Erste sind die riesigen roten Spruchbänder, die alle öffentlichen Gebäude verunzieren, auch quer über die Straßen gespannt sind. Das Zweite ist das ewige Gedröhne der Lautsprecher. Was steht auf den Spruchbändern? Immer dasselbe! »Ruhm dem großen Stalin« [oder Lenin oder beiden]. – »Vorwärts zum Siege des Kommunismus!« – »Es lebe die Union der sozialistischen Sowjet-Republiken, die große Hüterin des Friedens!« – »Frieden für die Welt.« – Und so weiter, mit wenig Abwechslung. [...] An die Spruchbänder gewöhnt man sich, sie sind und bleiben häßlich, aber man sieht sie bald nicht mehr. Schlimmer ist es mit den Lautsprechern. Meistens brüllen sie so, daß man gar nichts versteht. [...] Sie sind einfach barbarisch. Und ich glaube, daß auch sie unnötig sind.78

Insgesamt jedoch zeichnete Distelbarth ein freundliches, von Verständnis geprägtes Bild der von ihm erlebten Sowjetunion. Er betonte vor allem das Menschliche, lobte wiederholt die Freundlichkeit und Höflichkeit der sowjetischen Menschen, die Gastfreundschaft, Herzlichkeit und Großzügigkeit, mit der er und die anderen Deutschen empfangen und bedient worden seien. Das Fernziel, das die VOKS in der Arbeit mit den Delegationsteilnehmern verfolgte, erfüllte jedoch auch er nicht. Er respektierte zwar die sowjetische Gesellschaftsordnung, aber er erkannte ihre Überlegenheit als Gesellschaftsmodell nicht an. Als Autor trat er daher nicht als klarer Verteidiger, Befürworter, geschweige denn Propagandist des sowjetischen Gesellschaftsmodells auf. Und für die DDR lehnte er das sowjetische Modell gänzlich ab. Für ihn war eine Haltung gegenüber der DDR charakteristisch, die auch viele andere Westdeut77 Distelbarth, Rußland heute. Alle Beispiele sind aus dem Kapitel »IX. WOKS«, S. 79–89, Zitat S. 88. 78 Ebd., S. 41 f. (Hervorhebung im Original).

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sche in der Sowjetunion zeigten: Trotz seiner Sympathien für das alte Russland und Offenheit gegenüber der neuen Sowjetunion betrachtete er die Anwendung »bolschewistischer Methoden« in der DDR als ein tragisches Experiment, das misslingen musste.79 In der Bundesrepublik stieß sein Reisebericht auf massive Kritik und Ablehnung. Die westdeutschen Medien warfen ihm Kritiklosigkeit, Gutgläubigkeit und Naivität vor, und es folgten »Zornesausbrüche«, »die zum Teil das Maß überschritten«, wie der Autor im Vorwort zur zweiten Auflage seines Buches, die nur noch in Ostberlin erscheinen konnte, schrieb.80 Dass Distelbarths Buch einen kritischen Widerhall in der westdeutschen Presse fand,81 mag angesichts der antikommunistischen Haltung weiter Kreise in Westdeutschland nicht erstaunen. Sein Buch enthielt – wie ihm die Kritiker zu Recht vorhielten – sachliche Fehler, wartete mit falschen Schreibweisen der russischen Namen auf und verriet an vielen Stellen, wie sehr der Autor dem sowjetischen Narrativ von Überlegenheit, Erfolg und Entwicklungsfähigkeit des Systems aufgesessen war, doch war das für sich genommen nicht der einzige Grund für die Ablehnung des Reiseberichts in den westdeutschen Medien. Viel mehr war es sein Bemühen, aus dem ewig »Bösen« den »Guten« zu machen, die Sowjetunion nicht als Schreckgespenst und Bedrohung darzustellen, sondern als ein Land, in dem die Menschen – jedenfalls in Distelbarths Vorstellung – frei, kreativ und glücklich waren sowie den Deutschen wohlgesonnen gegenüber standen. Dass den Bundesdeutschen im Jahre 1954 ein solches Bild präsentiert wurde, ist zumindest bemerkenswert, auf jeden Fall unerwartet, und setzte, wenn der Autor nicht völlig naiv war, auch einen gewissen Mut voraus, empfanden doch große Teile der westdeutschen Bevölkerung gerade in der Zeit nach dem Aufstand vom 17. Juni und während des Korea-Krieges Angst vor der Sowjetunion bzw. »dem Russen«.82 79 Ebd., S. 23 f. 80 Paul Distelbarth, Rußland heute. Bericht einer Reise, Berlin (Ost) 21957, S. 5. 81 Vgl. z. B. die Artikel »Mitreisender Distelbarth«, in: Die Zeit Nr. 18, 06.05.1954 und »Zwei reisten nach Moskau. Die Sowjet-Union einmal so und einmal so«, in: Der Spiegel Nr. 21, 19.05.1954, S. 22. 82 Soziologischen Forschungen zufolge hatten im Oktober 1954 64% der Bundesdeutschen das Gefühl, von der Sowjetunion bedroht zu sein (gegenüber 21%, die keine Bedrohung sahen), vgl. Elisabeth Noelle, Erich Peter Neumann (Hg.), Jahrbuch der öffentlichen Meinung, Bd. 1 1947–1955, Allensbach 21956, S. 352. Ebenso war die »Sicherheit vor den Russen« für die Mehrheit der Westdeutschen (59%) in dieser Zeit wichtiger als die Einheit Deutschlands (27%), in: ebd., S. 315. Vgl. auch Eckart Conze, »Sicherheit als Kultur. Überlegungen zu einer modernen Politikgeschichte der Bundesrepublik Deutschland«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3 (2005), S. 357–380, hier S. 368.

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Auch die Einladung des Schriftstellers Rainer Maria Wallisfurth schien sich auszuzahlen, versprach er doch bereits in seinem ersten Brief an die VOKS, in dem er um die Einladung in die Sowjetunion ersuchte, nach seiner Rückkehr ein Buch mit dem Titel Ich komme so eben aus Rußland zu veröffentlichen.83 Als Wallisfurth Mitglied der Herbstdelegation 1954 wurde, wiederholte er in den Gesprächen mit den Mitarbeitern der VOKS seinen Wunsch, ein Buch über seine Reise in die Sowjetunion zu schreiben, dem er inzwischen jedoch einen anderen Titel – Das Land unter dem roten Stern – geben wollte.84 Aus dem Buch wurde letztlich ein Bildband, der sich zwar lakonisch Sowjetunion kurz belichtet nannte, aber immerhin den versprochenen roten Stern groß auf dem Schutzumschlag trug.85 Für die Vorbereitung dieses Bildbandes reiste Wallisfurth im Juni 1955 ein zweites Mal in die Sowjetunion, diesmal im Rahmen einer ebenfalls von der VOKS betreuten Delegation westdeutscher Journalisten. Wallisfurth, der »als erster deutscher Journalist seit dem Zweiten Weltkriege Gelegenheit hatte, mit der Kamera durch die Sowjetunion zu reisen«, wie er sich selbst im Vorwort des Bildbands bewarb, bemühte sich mit seinen Fotografien um eine differenzierte, von Gegensätzen geprägte Darstellung sowjetischer Wirklichkeit und scheute z. B. auch nicht davor zurück, die neue Architektur der Sowjetunion als von der »Vorliebe aller totalitären Staaten für das Monumentale« geprägt zu charakterisieren.86 Zurück in der Bundesrepublik entfaltete Wallisfurth eine rege Vortragstätigkeit, vor allem an den Volkshochschulen, und schrieb einen Artikel für Die Welt. Die Zeitung kündigte zunächst weitere Berichte von Wallisfurth an, lehnte deren Veröffentlichung jedoch später ab, »weil es sich um eine ausgesprochen ›jubilistische‹ Berichterstattung handelte«.87 Ähnlich wie der Versuch Paul Distelbarths, über die Sowjetunion aus eigener Erfahrung zu schreiben, stieß auch Wallisfurth bei seiner Vortragstätigkeit auf Schwierigkeiten. So zog er mit seinen Vorträgen etwa das Missfallen des Volksbundes für Frieden und Freiheit (VFF) auf sich, einer 1950 gegründeten nichtstaatlichen Organisation, die sich in ihrer Tätigkeit der Abwehr des Kommunismus verschrieben hatte und in diesem Sinne die Bundesregierung zu beeinflussen 83 Schreiben von Rainer Maria Wallisfurth an die VOKS, 15.4.1953, in: GARF, f. 5283, op. 16, d. 188, l. 149. 84 Informacija o prebyvanii v SSSR delegacii Obščestva germano-sovetskoj družby, in: GARF, f. 5283, op. 22, d. 468, l. 196–202, hier l. 199. 85 Rainer Maria Wallisfurth, Sowjetunion kurz belichtet, München 1955. 86 Ebd., Vorwort ohne Seitennummerierung. 87 Letzteres berichtete der 1. Vorsitzende des Volksbundes für Frieden und Freiheit e.V., Fritz Cramer, in einem Schreiben an das Bundeskanzleramt vom 29.2.1956, in: BA Koblenz B 136/1741, Bl. 4–5, hier Bl. 4.

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suchte.88 Die »Kreise um Wallisfurth« versuchten, hieß es dann etwa in einem Schreiben des VFF an das Bundeskanzleramt, »sämtliche Volkshochschulen gewissermaßen als Forum für ihre Propaganda für die Sowjetunion zu benutzen«.89 Der Volksbund drängte die Bundesregierung unter Verweis auf den aus seiner Sicht sogar für die kommunistische Presse »übertriebenen« Inhalt der Vorträge und den Umstand, dass die Propaganda durch Wallisfurth sogar weit über jene der inzwischen verbotenen Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft hinausgehe, dazu, über die Kulturminister der Länder Einfluss auf die Volkshochschulen zu nehmen, um die Vortragstätigkeit zu unterbinden. Die Bundesregierung reagierte tatsächlich, indem sie – im Sinne des VFF – die Innenministerien der Länder auf die »kommunistische Propaganda« durch Wallisfurth hinwies und diese bat, »dem Auftreten des Herrn Wallisfurth an den Volkshochschulen entgegenzuwirken«.90 Bis 1959 hielt Wallisfurth eigenen Aussagen zufolge mehr als 300 öffentliche Vorträge, denen insgesamt rund 150.000 Menschen »aller Schichten« beiwohnten, und veröffentlichte »zahllose Berichte in Zeitungen, Zeitschriften und Illustrierten«.91 Eine Bilanz der publizistischen Tätigkeit von VOKS-Multiplikatoren in der Bundesrepublik zeigt einerseits, dass alle Beteiligten – die Multiplikatoren, die Bundesregierung und Propagandavereinigungen wie der VVF – davon ausgehen konnten, dass in der westdeutschen Bevölkerung ein reges Interesse für die Sowjetunion bestand. Zugleich zeigt sich jedoch auch, dass weder das Buch von Paul Distelbarth noch der Bildband oder die Vortragstätigkeit Wallisfurths eine nennenswerte Änderung in der westdeutschen Wahrnehmung der Sowjetunion und ihrer Menschen herbeizuführen vermochten. Erfolgreich über die Sowjetunion schreiben konnte in der Bundesrepublik nur jemand, der nicht in Verdacht geriet, ein »Kommunist« oder »Sympathisant« zu sein und vor allem jemand, der nicht auf Einladung einer sowjetischen Stelle die Sowjetunion bereiste. Dies gelang 1958 Klaus Mehnert mit seinem 88 Zum Volksbund für Frieden und Freiheit als private antikommunistische Propagandaagentur vgl. Mathias Friedel, Der Volksbund für Frieden und Freiheit (VFF). Eine Teiluntersuchung über westdeutsche antikommunistische Propaganda im Kalten Krieg und deren Wurzeln im Nationalsozialismus, St. Augustin 2001; Klaus Körner, »Die rote Gefahr«. Antikommunistische Propaganda in der Bundesrepublik 1950–2000, Hamburg 2003. 89 Schreiben des 1. Vorsitzenden des Volksbundes für Frieden und Freiheit e.V., Fritz Cramer, an das Bundeskanzleramt, 29.2.1956, in: BA Koblenz B 136/1741, Bl. 4–5, hier Bl. 5. 90 Schreiben von Dr. Bachmann an den Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, 7.4.1956, in: BA Koblenz B 136/1741, Bl. 8. 91 Schreiben von Rainer Maria Wallisfurth an den Vorsitzenden des Ministerrats der UdSSR, 1.2.1959, in: GARF, f. 9518, op. 1, d. 249, l. 183.

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Buch »Der Sowjetmensch«, das aufgrund seines Inhalts, aber auch des Erscheinungsdatums und der politischen »Unbedenklichkeit« der Person des Autors wegen einen, allein an der Auflagenzahl gemessen, immensen Erfolg hatte (bereits drei Jahre nach Erscheinen des Buches erreichte sie eine halbe Million) und das über Jahrzehnte das Bild der Westdeutschen von der Sowjetunion und ihren Bewohnern prägte.92

Fazit Die Einladung ausländischer Delegationen wurde von der Sowjetunion im großen Maßstab praktiziert. Die VOKS war dabei nicht die einzige sowjetische Organisation, die Ausländergruppen in der Sowjetunion betreute. Noch mehr Delegationen als die VOKS empfing der sowjetische Gewerkschaftsverband (zum 1. Mai 1953 beispielsweise hatte er 23 Delegationen mit insgesamt 215 Personen eingeladen, während die VOKS »nur« 10 Delegationen und 133 Personen aus zehn Ländern erwartete93). Als eine explizit für internationale Kulturverbindungen geschaffene Einrichtung, die über Kontakte zu den Freundschaftsgesellschaften anderer Länder verfügte, erhob sie aber in besonderer Weise den Anspruch, professionell, glaubwürdig und jenseits aller Propaganda Eindrücke aus erster Hand vermitteln zu können. Die Betreuung und Verpflegung der ausländischen Gäste war mit beachtlichen Kosten und einem großen organisatorischen Aufwand verbunden, der freilich einem klaren Zweck diente: Der Aufenthalt der Delegationen in der Sowjetunion sollte in technisch-organisatorischer Hinsicht so reibungslos wie möglich und in emotionaler Hinsicht eindrucksvoll und erlebnisreich verlaufen. Die »Politik der Gastlichkeit«, die wohl in keinem anderen Land so perfektioniert worden ist, gab vor, ein authentisches Erleben der sowjetischen Wirklichkeit zu ermöglichen. Die Besucher bekamen keineswegs arrangierte Szenen zu sehen, im Gegenteil: Das Programm ihres Aufenthalts wurde so gestaltet, dass alles, was sie in der Sowjetunion sahen und erlebten, als »echt«, 92 Klaus Mehnert, Der Sowjetmensch. Versuch eines Porträts nach dreizehn Reisen in die Sowjetunion 1929–1957, Stuttgart 1958. Vgl. dazu Ulrich Schmid, »Wie bolschewistisch ist der ›Sowjetmensch‹? Klaus Mehnert erkundet die russische Mentalität«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 4/3, 2007, URL: . 93 Schreiben des stellvertretenden Leiters der Abteilung des ZK der KPdSU für Verbindungen mit ausländischen kommunistischen Parteien V. Stepanov an den Sekretär des ZK der KPdSU N. S. Chruščev, 28.4.1953, in: RGANI, f. 5, op. 28, d. 7, l. 44–47, hier l. 44. Insgesamt wurden 40 ausländische Delegationen aus 29 Ländern eingeladen.

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»natürlich« und »typisch« für die sowjetischen Verhältnisse erschien. Entscheidend war, dass die Ausländer keine Möglichkeit bekamen zu überprüfen, wie repräsentativ denn die gezeigten Objekte und vermittelten Eindrücke für das Gesamtbild des sowjetischen Lebens waren.94 Die menschliche Fähigkeit, Realität nur selektiv wahrnehmen zu können, nutzten die Gastgeber aus, indem sie einen kleinen, sorgfältig ausgewählten Teil der sowjetischen Wirklichkeit für das Ganze ausgaben. Als wichtiger positiver Effekt für die gewünschte Wahrnehmung der Sowjetunion kam hinzu, dass die Delegationsmitglieder der fünfziger Jahre, von einigen Ausnahmen abgesehen, von der VOKS gründlich ausgesucht wurden. Diese Selektionsarbeit sollte sicher stellen, dass nur Leute, die der Sowjetunion gegenüber ohnehin freundlich gesinnt waren oder zumindest solche, die ohne vorgefasste Feindbilder auszukommen schienen, in die Delegationen aufgenommen wurden. Nur von solchen Teilnehmern konnte erwartet werden, dass sie das ihnen von der VOKS präsentierte Bild der sowjetischen Wirklichkeit nicht grundsätzlich hinterfragten, sondern für authentisch hielten, um später »wahrhaft« über die Sowjetunion zu berichten. Die VOKS arbeitete hier eng mit der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft in der DDR zusammen, die sich ebenfalls aus den Reisen in die Sowjetunion und der Beeinflussung der Multiplikatoren politische Vorteile erhoffte. Auf beiden Seiten bestand ein reges Interesse daran, die Idee der sowjetischen Mustergesellschaft und ihrer vorbildhaften, nachahmenswerten Entwicklung der DDR-Bevölkerung nahe zu bringen. Ganz wie das sowjetische Vorbild sollte sie »in Einheit« mit Partei und Regierung leben und friedlich den Sozialismus aufbauen. Mit der Aufnahme der westdeutschen Teilnehmer in die Delegationen verband man zwar nicht so weit reichende Ziele, jedoch die Hoffnung, das Bild der Sowjetunion in der Bundesrepublik allmählich zu verbessern und sich zugleich neue Möglichkeiten für transnationale Kontakte zu erschließen. Trotz der Bemühungen, die Delegationsteilnehmer sorgfältig auszuwählen und zu kontrollieren, begaben sich nicht nur begeisterte Freunde der Sowjetunion auf die Reise. Gerade unter den westdeutschen Besuchern gab es Skeptiker, die sich nicht von der Herzlichkeit und der außerordentlichen Gastfreundschaft der VOKS vereinnahmen ließen. Vor allem besaßen sie nicht den Erwartungshorizont, der für den Glauben an die sowjetische Meistererzählung notwendig gewesen wäre. Auch einige DDR-Besucher verbanden durchaus eigensinnige Vorstellungen mit ihrer Reise und entzogen sich der sowjetischen Erwartung, als Multiplikatoren des Sowjetuniondiskurses zu fungieren. In der Gesamtschau der sowjetischen kulturpolitischen Maßnahmen blieben die De94 Darauf wies bereits Hollander, Political Pilgrims, S. 18–20 hin.

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legationsreisen in die Sowjetunion dennoch ein wirksames Propagandainstrument, um die kulturellen und ökonomischen Leistungen der Sowjetunion in Ost und West zu popularisieren.

Solidarität in unübersichtlichen Zeiten Zu den kulturhistorischen Kontexten der »Außenpolitik« polnischer Oppositioneller in den 1980er Jahren Robert Brier Die friedliche Preisgabe des sowjetischen Hegemonialbereichs in Ostmitteleuropa und die kurz darauf erfolgte Auflösung des sowjetischen Imperiums selbst gehören zu den zentralen Forschungsproblemen der internationalen Zeitgeschichte. Bei dem Versuch, sich diesem Phänomen zu nähern, kommt kaum eine einschlägige Überblicksdarstellung ohne den Verweis auf ein spezifisches Zusammenspiel nationaler und internationaler Faktoren aus: Im Zentrum steht dabei die Unterzeichnung der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) im Jahr 1975 und die darin erfolgte Selbstverpflichtung der Unterzeichner zur Achtung individueller Menschenrechte. Damit bekamen, so etwa Anselm Doering-Manteuffel, oppositionelle Kräfte im sowjetischen Hegemonialbereich »ein schwieriges, aber bedeutungsvolles Instrument in die Hand, um ihren Interessen Gehör zu verschaffen. Sie konnten im Namen der Freiheit an die Weltöffentlichkeit appellieren.«1 Diesem Zusammenhang zwischen grenzübergreifenden Wertvorstellungen und der Generierung von Gegenmacht gegen den sowjetischen Hegemonialanspruch sind die folgenden Ausführungen gewidmet. Am Beispiel der polnischen Oppositionsbewegung soll dabei gezeigt werden, dass es dieser Zusammenhang polnischen Oppositionellen ermöglichte, eine Art Außenpolitik zu betreiben. Ohne die Wichtigkeit der Helsinki-Schlussakte infrage zu stellen, wird der Fokus jedoch über dieses Dokument hinaus auf den ideen- und kulturhistorischen Kontext internationaler Politik in den 1980er Jahren gerichtet. Mit ihren Versuchen, »im Namen der Freiheit an die Weltöffentlichkeit zu appellieren«, trafen ostmitteleuropäische und sowjetische Oppositionelle auf ein höchst komplexes Feld transkultureller Kommunikation. Aufgrund des Charakters des Ost-West-Konflikts als ideologischer Auseinandersetzung zweier umfassender politischer Projekte waren Debatten über den jeweiligen Gegner immer auch Formen gesellschaftlicher Selbstverständigung. Im Westen waren diese Debatten in den 1970er 1 Anselm Doering-Manteuffel, »Internationale Geschichte als Systemgeschichte. Strukturen und Handlungsmuster im europäischen Staatensystem des 19. und 20. Jahrhunderts«, in: Wilfried Loth, Jürgen Osterhammel (Hg.), Internationale Geschichte. Themen, Ergebnisse, Aussichten, München 2000, S. 93–115, hier S. 114.

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und 1980er Jahren jedoch von einer »neuen Unübersichtlichkeit«2 charakterisiert; sowohl der wohlfahrtsstaatlich-liberale Konsens der Nachkriegsjahrzehnte als auch die Hoffnung auf seine revolutionäre Umgestaltung waren durch die Krisenerfahrungen der 1970er Jahre erschüttert, so dass nun politische Auseinandersetzungen und Deutungskämpfe um Alternativen zu diesen politischen Paradigmen einsetzten.3 Polnische Oppositionelle konnten sich also nicht einfach auf einen klaren Freiheitsbegriff beziehen; indem sie die Unterstützung des Westens einforderten, beschleunigten sie vielmehr einen Prozess der Klärung zentraler politischer Begriffe. Gleichzeitig wurde die Solidarność damit aber auch zu einem Signifikanten dieser Debatten; sie stellte eine Art Legitimitätsressource dar, auf die politische Akteure ihrerseits bei dem Versuch der Festigung von Macht oder der Erzeugung von Gegenmacht zurückzugreifen versuchten. Die folgenden Ausführungen gliedern sich in drei Abschnitte: Zunächst werden Forschungsansätze zur Analyse der Außenpolitik von nichtstaatlichen Akteuren diskutiert. Dabei wird gezeigt, dass die gängigen Modelle zur Beschreibung dieser Form von Außenpolitik zwar adäquat erfassen, wie die Außenpolitik der Opposition auf die Situation in Polen selbst einwirkte. Sie übergehen dabei aber die Komplexität der Kommunikationsprozesse, die zur Mobilisierung westlicher Unterstützung geführt haben. Im Anschluss daran wird exemplarisch die Unterstützung der Solidarność durch französische Linke, die amerikanische Regierung und westliche Gewerkschafter skizziert, um darzulegen, wie westliche Prozesse politischer Selbstverständigung auf die Situation in Polen projiziert wurden. Abschließend wird diskutiert, wie sich polnische Oppositionelle selbst zu diesen Debatten positionierten.

2 Jürgen Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, Kleine politische Schriften, Bd. 5, Frankfurt am Main 1985. 3 Zum Verhältnis innen- und außenpolitischer Aspekte der Debatten um den Doppelbeschluss in der Bundesrepublik siehe Philipp Gassert, »Viel Lärm um Nichts? Der NATODoppelbeschluss als Katalysator gesellschaftlicher Selbstverständigung in der Bundesrepublik«, in: Philipp Gassert u. a. (Hg.), Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive, München 2011, S. 175–202; zu den 1970er Jahren als Krisen- und Umbruchszeit siehe Anselm DoeringManteuffel u. Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008; Göran Therborn u. a., »The 1970s and 1980s as a Turning Point in European History?«, in: Journal of Modern European History, 9 (2011), 1, S. 7–26; Jan-Werner Müller, Contesting Democracy. Political Thought in Twentieth-Century Europe, New Haven, CT 2011, S. 202–242.

»Außenpolitik« polnischer Oppositioneller in den 1980er Jahren 

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I. Polnische Oppositionelle als transnationale Akteure: Forschungsansätze und theoretische Fragen Die wichtigsten Ansätze zur Analyse der internationalen Politik nichtstaatlicher Akteure stammen aus der Politikwissenschaft.4 Einen Ausgangspunkt bilden hier Einsichten der sogenannten konstruktivistischen Theorie internationaler Beziehungen, die aufgrund erheblicher Schnittmengen mit kulturhistorischen Forschungsperspektiven auch in einer erneuerten Geschichte internationaler Politik zunehmend berücksichtigt wird.5

4 Für erste historische Ansätze siehe Jeremi Suri, »Non-Governmental Organizations and Non-State Actors«, in: Patrick Finney (Hg.), Palgrave Advances in International History, London 2005, S. 223–246. 5 Der locus classicus des Konstruktivismus ist Alexander Wendt, »Anarchy is what States Make of it. The Social Construction of Power Politics«, in: International Organization, 46 (1992), 2, S. 391–425. Wendt entwickelte diesen Ansatz zu einer elaborierten Sozialtheorie internationaler Beziehungen: Alexander Wendt, Social Theory of International Politics, Cambridge 1999; zur Debatte um dieses Buch siehe Stefano Guzzini, Anna Leander (Hg.), Constructivism and International Relations. Alexander Wendt and his Critics, London 2006; als Überblick über dieses Forschungsfeld vgl. Klaus Roscher, »Ideen, Weltbilder, Normen und Handlungsrepertoires. Die kulturelle Wende in den Internationalen Beziehungen«, in: Birgit Schwelling (Hg.), Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen, Wiesbaden 2004, S. 231–252; eine historisch argumentierende Arbeit ist Mlada Bukovansky, Legitimacy and Power Politics. The American and French Revolution in International Political Culture, Princeton 2002; für einen Vergleich historischer und politologischer Forschung, der besonders auf Quentin Skinner Bezug nimmt, siehe Christian Reus-Smit, »Reading History through Constructivist Eyes«, in: Millennium – Journal of International Studies, 37 (2008), 2, S. 395–414. Für eine geschichtswissenschaftliche Verarbeitung siehe Ursula Lehmkuhl, »Diplomatiegeschichte als internationale Kulturgeschichte. Theoretische Ansätze und empirische Forschung zwischen Historischer Kulturwissenschaft und Soziologischem Institutionalismus«, in: Geschichte und Gesellschaft, 27 (2001), 3, S. 394–423; Matthias Schulz, Normen und Praxis. Das Europäische Konzert der Großmächte als Sicherheitsrat, 1815–1860, Studien zur Internationalen Geschichte, Bd. 21, Köln, Wien u. a. 2009; für ideen- und kulturhistorische Ansätze in der Geschichte internationaler Politik siehe Eckart Conze, »Jenseits von Männern und Mächten. Geschichte der internationalen Politik als Systemgeschichte«, in: Hans-Christoph Kraus, Thomas Nicklas (Hg.), Geschichte der Politik. Alte und neue Wege, München 2007, S. 41–66; Jessica Gienow-Hecht, Frank Schumacher (Hg.), Culture and International History, New York 2003; Eckart Conze u. a. (Hg.), Geschichte der internationalen Beziehungen. Erneuerung und Erweiterung einer historischen Disziplin, Köln, Weimar u. a. 2004; als Überblick Martin Schulze Wessel, »Neue Ansätze in der Geschichte internationaler Politik«, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 56 (2008), 1, S. 1–26.

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Der Konstruktivismus entwickelte sich aus einer Kritik an der Auffassung, das internationale System gleiche einem Hobbes’schen Naturzustand, in dem Nationalstaaten einzig aufgrund ihrer objektiven Interessen und der ihnen zur Verfügung stehenden Machtressourcen handeln. Demgegenüber argumentiert der Konstruktivismus, die relative Stabilität und Integration des Systems internationaler Beziehungen zeige, dass die Akteure dieses Systems aufgrund geteilter Rollenverständnisse und Handlungserwartungen interagieren. Die relative Stabilität und der systemische Charakter internationaler Interaktionen legt es also nahe, dass sich auch das System von Nationalstaaten durch ein von den Staaten geteiltes Set von Ideen, Wert- und Ordnungsvorstellungen auszeichnet, aus dem die Akteure internationaler Politik ihr eigenes Rollenverständnis und die Erwartungen an die Handlungen anderer ableiten. Auch das System internationaler Politik wird demnach durch eine geteilte Kultur integriert.6 Diese Grundannahmen des Konstruktivismus erlauben es nun, die Funktionsweisen einer spezifischen Form Transnationaler Politik zu identifizieren.7 Als Transnationale Politik werden in der Theorie internationaler Beziehungen Versuche nichtstaatlicher Akteure bezeichnet, sich Grenzen und Nationalstaaten übergreifende (daher transnationale) Handlungszusammenhänge zu Nutze zu machen.8 Die Vertreter der in diesem Zusammenhang wichtigen Forschungsansätze interessieren sich dabei dafür, wie nichtstaatliche Akteure über transnationale Ordnungs- und Wertvorstellungen Gegenmacht erzeugen, d. h., die Chance erhöhen, ihren Willen auch gegen eine Regierung und ihren Repressionsapparat durchzusetzen.9 Diese Chance wird darin gesehen, die eigene Sache 6 Der Konstruktivismus vermeidet den Begriff der Kultur. Dies kann einerseits auf die politologische Besetzung des Begriffs »politische Kultur« zurückgeführt werden. Zum anderen könnte dies daher rühren, dass sich die Grundideen des Konstruktivismus aus dem soziologischen Klassiker von Peter L. Berger u. Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main 1970 herleiten. Berger und Luckmann sprechen von sozialem Wissen. Versteht man Kultur aber mit Clifford Geertz als einen in Symbolen gespeicherten Wissensvorrat, der es den Menschen ermöglicht, sich in einer ansonsten unverständlichen Welt zu orientieren, dann ist es gerechtfertigt, auch hier von »Kultur« zu sprechen. Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main 1983, S. 49–54. 7 Zum Folgenden siehe auch Jörg Requate u. Martin Schulze Wessel, »Europäische Öffentlichkeit: Realität und Imagination einer appellativen Instanz«, in: Jörg Requate, Martin Schulze Wessel (Hg.), Europäische Öffentlichkeit. Transnationale Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main, New York 2002, S. 11–42. 8 Ursula Lehmkuhl, »Transnationale Politik«, in: dies., Internationale Politik. Einführung und Texte, München, Wien 1996, S. 223–254. 9 Zum Machtbegriff vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 51980, S. 28.

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vor die »appelative Instanz« der Öffentlichkeiten anderer Staaten oder transnationaler Öffentlichkeiten in Form internationaler Konferenzen oder Organisationen zu bringen.10 Dort versuchen nichtstaatliche Akteure, die Übereinstimmung der eigenen Ziele mit transnationalen Wertvorstellungen darzulegen. Die eigene Regierung wird auf diese Weise als Regelverletzer bloßgestellt und mächtige Akteure können dazu bewegt werden, auf sie Einfluss zu nehmen. Transnationale Politik in diesem Sinn ist daher immer Symbol- oder Deutungspolitik: Das Ziel nichtstaatlicher Gruppen besteht darin, eine Interpretation der eigenen Anliegen und Ziele zu vermitteln, die transnational geteilten Wertvorstellungen entspricht.11 Dieses Modell Transnationaler Politik beschreibt einen wichtigen Aspekt der Tätigkeit polnischer Oppositioneller in den 1970er und 1980er Jahren. Die ersten Erfolge des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) in den Jahren 1976 und 1977 erklären sich zu einem wesentlichen Teil aus einem Appell Jacek Kurońs an den italienischen Kommunisten Enrico Berlinguer sowie einer Medienkampagne, die Adam Michnik während eines Aufenthalts in Westeuropa initiierte.12 Während die Solidarność bereits 1980–1981 Außenbeziehungen zu anderen Gewerkschaften auch im Westen pflegte, entstand insbesondere infolge der Welle internationaler Solidarität mit der im Dezember 1981 unterdrückten Organisation eine strategisch konzipierte, wenngleich nicht zentral gelenkte Außenpolitik der demokratischen Opposition. SolidarnośćFunktionäre, die in Westeuropa und den USA vom Kriegsrecht überrascht worden waren, gründeten mit der Unterstützung polnischer Exilanten und westlicher Gewerkschaftern eine Vielzahl von Komitees zur Unterstützung der Solidarność. 1982 entstand in Brüssel ein Koordinierungsbüro der Solidarność im Ausland, das mit Autorisierung und in Absprache mit der Untergrundführung der Gewerkschaft (der Provisorischen Koordinierungskommission, TKK) arbeitete.13 Eine der Aufgaben des Büros war es, materielle Hilfe für polnische 10 Requate/Schulze Wessel, »Europäische Öffentlichkeit«, S. 14–15. 11 Thomas Risse u. Kathryn Sikkink, »The Socialization of International Human Right Norms into Domestic Practices«, in: Thomas Risse u. a. (Hg.), The Power of Human Rights. International Norms and Domestic Change, Cambridge 1999, S. 1–38; Sidney Tarrow, The New Transnational Activism, Cambridge 2005. 12 Andrzej Friszke, »Z ziemi polskiej do włoskiej. List Kuronia do Berlinguera i jego konsekwencje«, in: ders., Przystosowanie i opór, Warszawa 2007, S. 276–283; Robert Brier, »Broadening the Cultural History of the Cold War. The Emergence of the Polish Workers Defense Committee in International Perspective, 1976–1977«, in: Journal of Cold War Studies (i. E.). 13 Idesbald Goddeeris, »Lobbying Allies? The NSZZ Solidarność Coordinating Office Abroad, 1982–1989«, in: Journal of Cold War Studies, 13 (2011), 3, S. 83–125.

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Gewerkschafter zu mobilisieren und nach Polen zu schmuggeln. Darüber hinaus sollten Kontakte zu Gewerkschaften, Politikern, sozialen Bewegungen, Medienvertretern usw. aufgebaut werden, um international der Rechtfertigung des Kriegsrechts durch die polnische Staats- und Parteiführung entgegenzutreten. Diese stellte die Maßnahmen vom Dezember 1981 angesichts einer möglichen sowjetischen Invasion oder eines drohenden Bürgerkriegs als geringeres Übel dar, durch das der »sozialistische Erneuerungsprozess« keinesfalls beendet worden sei und das eine Rettung der Entspannungspolitik ermöglicht habe.14 Hintergrund dieses Deutungskonflikts war die Reaktion westlicher Staaten auf das Kriegsrecht: Im Januar 1982 hatten NATO und Europäische Gemeinschaft Polen mit einem diplomatischen Embargo belegt und insbesondere die Vergabe neuer Kredite von drei Bedingungen abhängig gemacht: die Beendigung des Kriegsrechts, die Freilassung aller Internierten und die Aufnahme eines gesellschaftlichen Dialogs unter Einbeziehung der Solidarność und der Katholischen Kirche.15 Obwohl sich das Büro und seine Mitarbeiter in einer finanziell durchweg prekären Lage befanden, gelang es in den Folgejahren, die Wiederzulassung der Solidarność auf der Agenda der Polenpolitik westlicher Staaten zu halten. Dazu nutzte man zum einen nationale Foren wie Gewerkschaftstage oder die Anhörungen des sogenannten Helsinki-Komitees des US-Kongresses.16 Zum anderen wurde die Sache der Solidarność aber auch vor unterschiedliche transnationale Foren gebracht, wie die KSZE-Nachfolgekonferenz in Madrid, die Sitzung der UN-Menschenrechtskommission, aber auch z. B. Konferenzen der European Nuclear Disarmament, eines Forums der Friedensbewegung.17 Dabei konnte man zwei besondere Erfolge verbuchen: Im Oktober 1983 leitete die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) – eine Agentur der Vereinten Nationen – ein Untersuchungsverfahren gegen Polen ein, das zum vorübergehenden Austritt der Volksrepublik aus diesem Gremium führte. Wenngleich Polen diesen Schritt wieder rückgängig machte, führte die Aufnahme der Solidarność in den Internationalen Bund Freier Gewerkschaften und den Weltkongress der Arbeitnehmer im Jahr 1986 dazu, dass der Leiter des Brüsseler Büros – Jerzy Milewski – bei den Gremiensitzungen der IAO anwesend war; weiter verhinderte dieser Schritt 14 Siehe z. B. Bogdan Lis an Jerzy Milewski, 28.08.1982 (Kopie), Archiwum Opozycji (AO) III/218, Mappe »Solidarność Z. do końca 1985 r.« 15 Helene Sjursen, The United States, Western Europe and the Polish Crisis. International Relations in the Second Cold War, Houndmills 2003, S. 72–73. 16 Siehe z. B. The Crisis in Poland and its Effects on the Helsinki Process, December 28, 1981. Hearings before the Commission on Security and Cooperation in Europe, Ninety-Seventh Congress, First Session, Washington, DC 1982. 17 Goddeeris, »Lobbying Allies«.

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eine internationale Anerkennung des 1984 im Rahmen des neuen Gewerkschaftsgesetzes gegründeten polnischen Gewerkschaftsbundes (OPZZ). Der vielleicht wichtigsten Einzelforderung der polnischen Opposition – die Wiederzulassung der Solidarność – wurde damit international Geltung verschafft.18 Neben dem politischen Exil im Westen entwickelten auch Oppositionelle in Polen selbst internationale Aktivitäten. Lech Wałęsa nutzte seine durch den Friedensnobelpreis noch gesteigerte internationale Popularität dazu, immer wieder Einschätzungen der Situation in Polen vor westlichen Korrespondenten abzugeben.19 Daneben gelang es Intellektuellen wie Adam Michnik und Jacek Kuroń mehrfach, Appelle und Artikel aus dem Gefängnis zu schmuggeln und in westlichen Zeitschriften wie Le Monde oder dem Spiegel zu publizieren.20 Aus dem Kreis der Berater der Solidarność wurde aber vor allem der Mathematiker Janusz Onyszkiewicz zum wichtigsten Organisator einer Informationspolitik, die sich besonders an westliche Öffentlichkeiten richtete. Bereits vor dem Dezember 1981 war er aufgrund seiner Englischkenntnisse zum Pressesprecher der Solidarność ernannt worden. Nach seiner Entlassung aus der Internierung reaktivierte er seine Kontakte zu westlichen Korrespondenten. Im November 1984 nutzte er z.  B. das internationale Medieninteresse an der Ermordung des katholischen Priesters Jerzy Popiełuszko durch Mitarbeiter der Staatssicherheit (poln.: Służba Bezpieczeństwa, SB); auf dem Territorium der Pfarrei Popiełuszkos organisierte er internationale Pressekonferenzen, um der offiziellen Deutung dieser Tat entgegenzutreten.21 Auch die Verleihung eines Menschenrechtspreises an Popiełuszko sowie an Adam Michnik und Zbigniew Bujak durch den amerikanischen Senator Edward Kennedy, der 1987 nach Polen kam, versuchte Onyszkiewicz medienwirksam aufzubereiten. 22

18 Ebd., S. 107–111. Die Reaktion der polnischen Staats- und Parteiführung auf dieses Verfahren ist in Form von Korrespondenz mit unterschiedlichen diplomatischen Vertretungen vergleichsweise gut überliefert. Siehe Archiwum Akt Nowych (AAN), Bestand KC PZPR, LXXVI-983. 19 Die Abteilung für Information des ZK der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR) stellte eigens eine Art Reader der Aussagen zusammen, die Wałęsa vor westlichen Medienvertretern getätigt hatte. Siehe Archiwum Instytutu Pamięci Narodowej (AIPN), BU 0397/521 ff. 20 Bereits im März 1982 machte der Spiegel die Veröffentlichung eines Artikels von Michnik zur Titelstory. Adam Michnik, »Wir sind alle Geiseln«, in: Der Spiegel vom 8.03.1982. 21 Vgl. Analiza materiałów dot. działalności J. Onyszkiewicza związanej ze śmiercią J. Popiełuszki, tajne, 19.11.1984, AIPN, BU 0248/44, t. 2, Bl. 36–37. 22 Siehe die Meldunki uzupełniające sprawy operacyjnego rozpracowania WA 0 30545 – kryptonim »Taternik« – identyfikator 6930/85, tajne spec. znaczenia, nr 696 u. 697 vom 17.12.1986, AIPN, BU 0248/44, t. 4, Bl. 168–171.

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Es ist schwierig eindeutig zu bewerten, welchen Einfluss die Transnationale Politik der Opposition auf die Ereignisse von 1989 hatte. Außer Frage steht, dass sie die Chance erhöht hat, die Ziele der Opposition auch gegen den Widerstand der eigenen Regierung durchzusetzen. Hierfür seien einige Beispiele genannt: Unmittelbar nach Verhängung des Kriegsrechts begann das Innenministerium, einen Schauprozess gegen führende Solidarność-Funktionäre und kritische Intellektuelle vorzubereiten. Im Kontext der vom Westen gegen Polen verhängten Sanktionen machte die Opposition das Schicksal der Angeklagten daraufhin zu einem internationalen cause célèbre. Der Prozessbeginn wurde daher bis zum Sommer 1984 herausgeschoben und die Angeklagten wurden noch vor Prozessende im Rahmen einer Amnestie begnadigt.23 Auch die offizielle Reaktion auf den Mord an Popiełuszko dürfte dem Ziel gedient haben, der Informationspolitik der Opposition entgegenzuwirken. So versuchte die Parteiführung dieses Verbrechen nicht zu vertuschen, sondern versprach vielmehr, den Vorfall lückenlos aufzuklären. Bereits im folgenden Jahr kam es daher zu dem im sowjetischen Hegemonialbereich beispiellosen Vorgang, dass drei Mitarbeiter des SB sowie ihr Vorgesetzter wegen Mordes vor Gericht gestellt wurden. Vor dem Forum dieses Prozesses inszenierten sich die Staatsorgane als Hüter rechtsstaatlicher Prinzipen und versuchten, Popiełuszko, andere Geistliche und die Opposition als Radikale und Terroristen bloßzustellen, die selbst das Klima des Rechtsbruches geschaffen hätten, in dem die Taten der SB-Mitarbeiter möglich wurden. Dass diese Deutung des Todes von Popiełuszko auch der enormen internationalen Aufmerksamkeit geschuldet war, zeigen nicht nur Politbüroprotokolle, sondern auch der Umstand, dass Wojciech Jaruzelski im Zusammenhang mit Popiełuszkos Tod seine erste für westliche Korrespondenten geöffnete Pressekonferenz gab; auch wurden – anders als bei Verfahren gegen Oppositionelle – zu dem Verfahren gegen Popiełuszkos Mörder internationale Prozessbeobachter und Korrespondenten zugelassen.24 Etwa zum gleichen Zeitpunkt begannen westliche Staaten damit, das diplomatische Embargo, das sie 1982 gegen Warschau verhängt hatten, zu lockern. Mit den Besuchen des italienischen bzw. britischen Außenministers Giulio Andreotti und Geoffrey Howe im Dezember 1984 bzw. im März 1985 wurden dabei Treffen mit Oppositionellen und Fahrten zum Grab Popiełuszkos oder anderen zentralen Stätten der Solidarność zum festen Bestandteil westlicher Besuche 23 Vgl. AIPN, BU 0204/1417, t. 53, Bl. 152–180; ebd. t. 56, Bl. 5–13, 57–94. 24 Ewa K. Czaczkowska u. Tomasz Wiścicki, Ksiądz Jerzy Popiełuszko, Warszawa 22008; Siegfried Lammich, Proces przeciwko zabójcom ks. Jerzego Popiełuszki. Relacja obserwatora i dokumenty, London 1986.

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in der Volksrepublik. Anfang 1987 gab die Parteiführung schließlich ihre Versuche auf, diese Treffen zu unterbinden, und traf eine Regelung, wie mit ihnen umzugehen sei.25 Weiter stellten die diplomatischen Vertretungen der NATO-Staaten systematisch Kontakte zur Opposition her.26 Schließlich kann auch die endgültige Tolerierung der Opposition ab dem Herbst 1986 mit der internationalen Ebene in Zusammenhang gebracht werden. Im Sommer diesen Jahres hatte die Parteiführung erneut eine Amnestie beschlossen. Ursprünglich hätten hochrangige Solidarność-Funktionäre wie der 1985 erneut inhaftierte Bogdan Lis oder Zbigniew Bujak davon ausgenommen werden sollen. Im September wurde diese Entscheidung jedoch revidiert, so dass fast alle politischen Gefangenen frei kamen. Andrzej Paczkowski und Gregory Domber haben zeigen können, dass auch diese Entscheidung wesentlich auf westlichen Druck im Kontext einer Kampagne der Opposition für die Gefangenen zurückzuführen ist.27 Mit dem skizzierten Modell Transnationaler Politik wird also ein Mechanismus beschrieben, über den es der nach dem Dezember 1981 stark dezimierten Opposition gelang, Gegenmacht zu erzeugen und ihre Ziele letztlich gegen staatliche Widerstände zu erreichen. Damit bleibt ein sehr komplexer Bereich historischer Wirklichkeit aber ausgespart, die Frage nämlich, wie es über Deutungspolitik gelang, westliche Unterstützer zu gewinnen und diese Hilfe aufrecht zu erhalten. Entgegen einer etwas romantischen Sicht Transnationaler Politik hat der amerikanische Politologe Clifford Bob gezeigt, dass potentielle Unterstützer benachteiligter Gruppen gezwungen sind, unter einer Vielzahl unterstützenswerter Anliegen eine Auswahl zu treffen. Internationale Unterstützung ist also eine knappe Ressource, um die Opfergruppen konkurrieren.28 25 Andrzej Paczkowski, »Models of visits by Western Politicians. Poland and Western Diplomats in 1987«, in: Cold War History, 3 (2003), 3, S. 127–143. 26 Eine Aufstellung des Innenministeriums für die Zeit vom April 1985 bis April 1986 zeigt, dass Oppositionelle wie Onyszkiewicz oder Bronisław Geremek im Schnitt mehrmals im Monat mit Vertretern westlicher Botschaften zusammenkamen. Wykaz ustalonych spotkań przedstawicieli opozycji z diplomatami placówek państw kapitalistycznych w latach 1985– 1986, tajne, spec. znaczenia, ohne Datum, AIPN, BU 1585/3998., Bl. 7–10. 27 Gregory F. Domber, »Rumblings in Eastern Europe. Western Pressure on Poland’s Moves Towards Democratic Transformation«, in: Frédéric Bozo u. a. (Hg.), Europe and the End of the Cold War. A Reappraisal, London 2008, S. 51–63; Andrzej Paczkowski, »Boisko wielkich mocarstw. Polska 1980–1989. Widok od wewnątrz«, in: Polski Przegląd Dyplomatyczny, 2 (2002), 3, S. 165–210. 28 Clifford Bob, The Marketing of Rebellion. Insurgents, Media, and International Activism, Cambridge, New York 2005.

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Aus zwei Gründen führt der Verweis auf den Kalten Krieg und den KSZEProzess hier nur bedingt weiter: Erstens kam es über die Frage nach der angemessenen westlichen Antwort auf die Verhängung des Kriegsrechts zu einer der tiefsten NATO-Krisen seit dem Austritt Frankreichs aus den militärischen Strukturen des Bündnisses.29 Insbesondere zwischen Washington und Bonn, aber auch zwischen Bonn und Paris kam es dabei zu Meinungsverschiedenheiten: In einer von den Debatten um den Doppelbeschluss geprägten westdeutschen Öffentlichkeit überwog oftmals die Besorgnis, zu einer weiteren Verschärfung internationaler Spannungen beizutragen, gegenüber dem Wunsch, sich mit einer Gewerkschaftsbewegung zu solidarisieren, mit deren Zielen man durchaus sympathisierte. Auch kam hier eine Grundüberzeugung der Ostpolitik zum Tragen, dass sich externer Druck gegen kommunistische Regierungen immer in innenpolitische Repressionen übersetze; der Solidarność war nach dieser Auffassung durch eine Fortsetzung der Entspannung mehr geholfen als durch Sanktionen oder die öffentliche Einforderung von Menschenrechten.30 Schließlich wurde Wojciech Jaruzelski von führenden bundesdeutschen Politikern und Intellektuellen eher als tragische Figur, denn als Militärdiktator wahrgenommen. Die breite Welle humanitärer Hilfe für Polen übertrug sich in der Bundesrepublik daher kaum auf eine politische Unterstützung der Forderungen des polnischen Exils.31 29 Sjursen, The United States, Western Europe and the Polish Crisis. 30 Die Ostpolitik verfolgte durchaus das Ziel einer Revision der Nachkriegsordnung. Allerdings war man der Auffassung, dass für dieses Ziel internationale Spannungen vermieden werden mussten. Daher waren Vordenker und Akteure der Ostpolitik skeptisch gegenüber einer Politik, die in der öffentlichen Bloßstellung der kommunistischen Parteien bestand. Siehe etwa Willy Brandt, Nr. 37: Artikel des Vorsitzenden der SPD, Brandt, für Die Zeit, 26. August 1977, in: Berliner Ausgabe, Bd. 9, Berlin 2003, S. 204–213. Zu den revisionistischen Ansätzen der Ostpolitik siehe Gottfried Niedhart, »Revisionistische Elemente und die Initiierung friedlichen Wandels in der neuen Ostpolitik 1967–1974«, in: Geschichte und Gesellschaft, 28 (2002), 2, S. 233–266; Bernd Rother, »Zwischen Solidarität und Friedenssicherung. Willy Brandt und Polen in den 1980er Jahren«, in: Friedhelm Boll, Krzysztof Ruchniewicz (Hg.), »Nie mehr eine Politik über Polen hinweg«. Willy Brandt und Polen, Bonn 2010, S. 220–264. 31 Siehe etwa Helmut Schmidt, Menschen und Mächte, Bd. II: Die Deutschen und ihre Nachbarn, Berlin 1990, S. 503–508; Willy Brandt, Erinnerungen, Zürich 1989, S. 472– 473; siehe auch Peter Glotz, »Lehren aus den polnischen Ereignissen. Das Schweigen der Friedensbewegung verpflichtet die Parteien«, in: Sozialdemokratischer Pressedienst vom 15.01.1982. Vgl. Theo Sommer, »Rückfall in den Kalten Krieg?«, in: Die Zeit vom 18.12.1981; Rudolf Augstein, »Die polnische Tragödie«, in: Der Spiegel vom 21.12.1981; Henri Nannen, »Ein Lump, wer da noch heuchelt«, in: Stern vom 07.01.1982; siehe auch die Beiträge zu Heinrich Böll u. a. (Hg.), Verantwortlich für Polen?, Reinbek bei Hamburg 1982; zur Haltung in der Friedensbewegung siehe auch Wolfgang Abendroth u. a., »Die

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Zweitens hatte insbesondere François Mitterrand ursprünglich eine ähnlich vorsichtige Haltung angesichts des Kriegsrechts eingenommen wie die Bundesregierung. Erst eine breite französische Solidarisierung auch mit den politischen Zielen der Solidarność führte zu einer zumindest rhetorisch dezidierteren Haltung des Elysée-Palastes. Die vielfältigen Motive dieser gesellschaftlichen Unterstützung der polnischen Gewerkschafts- und Demokratiebewegung waren jedoch nicht mit den außenpolitischen Zielen etwa der USA deckungsgleich. Vielmehr kommt nicht nur beim französischen Fall der weitere ideen- und kulturgeschichtliche Kontext internationaler Politik zum Tragen. Ein wesentliches Charakteristikum der Kultur internationaler Politik in der Nachkriegszeit bestand darin, dass der Ost-West-Konflikt nicht nur eine auf Interessen gegründete Auseinandersetzung, sondern auch ein Wettbewerb zwischen zwei ideologischen Projekten war, die beide den Anspruch erhoben, die authentische Umsetzung der Werte und Ideen der Moderne zu verkörpern. Wie Anselm Doering Manteuffel schreibt, erhoben beide Systeme den Anspruch auf die Verwirklichung von »Demokratie« weltweit, worunter im Westen Marktwirtschaft, freier Handel, parlamentarische Demokratie und die formale Gewährleistung der Individualrechte verstanden wurde und im Osten die Befreiung der Staaten und Völker von jeglicher Unterdrückung durch Kapitalismus und Imperialismus unter Führung der Sowjetunion.32

Diese Konstellation konnte einen profunden Einfluss auf innenpolitische Debatten über politische oder wirtschaftliche Ordnungsmodelle ausüben: So wurde einerseits der Antikommunismus immer wieder auch gegen innenpolitische Gegner ins Feld geführt. Andererseits mussten sich aber auch all jene, die eine sozialistische Transformation des Westens anstrebten, in irgendeiner Weise zur Sowjetunion als der erfolgreichsten Alternativmoderne positionieren, mit

Friedensbewegung und die Polenkrise«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 27 (1982), 2, S. 144–176. 32 Doering-Manteuffel, »Internationale Geschichte«, S. 109; vgl. auch Rosemary Foot, »The Cold War and Human Rights«, in: Melvyn P. Leffler, Odd A. Westad (Hg.), The Cambridge History of the Cold War, Bd. III, Cambridge 2010, S. 445–465, hier S. 445; Leopoldo Nuti u. Vladimir M. Zubok, »Ideology«, in: Saki R. Dockrill, Geoffrey Hughes (Hg.), Palgrave Advances in Cold War History, Basingstoke 2006, S. 73–110; Patrick Major u. Rana Mitter, »East is East and West is West? Towards a Comparative Socio-Cultural History of the Cold War«, in: Cold War History, 4 (2003), 1, S. 1–22.

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der man darüber hinaus mit dem Marxismus einen gemeinsamen philosophischen Bezugspunkt und mit dem Kapitalismus einen Gegner teilte.33 Auch wenn die Ereignisse von 1956 und 1968 die Reihen westlicher Anhänger des sowjetischen Modells und ihrer fellow travellers erheblich ausdünnten, lässt sich doch bis in die Neue Linke hinein eine gewisse Ambivalenz im Verhältnis zur Sowjetunion feststellen. Um ein Beispiel aus der Bundesrepublik zu zitieren: Eine der wichtigsten Institutionen der westdeutschen Neuen Linke, das Sozialistische Büro in Offenbach, forderte Anfang der 1970er Jahre von den kommunistischen Gruppen in der Bundesrepublik eine klare Abgrenzung von Moskau. Dennoch sah man die weltpolitische Rolle der realsozialistischen Staaten als doppeldeutig an, setzte ihre Existenz den Kapitalismus doch unter Legitimationszwang. Für das Sozialistische Büro folgte daraus, dass eine »kritische Solidarität mit all den Kräften, die sich um die Entwicklung der sozialistischen Demokratie in diesen Gesellschaften bemühen, eine fundamentale Voraussetzung sozialistischer Arbeit in den kapitalistischen Ländern«34 ist. Aus dieser, dem Westen gegenüber kritischen Haltung heraus sollte das Sozialistische Büro zehn Jahre später zur Solidarität mit Solidarność aufrufen.35 Mit einer solchen Erwartungshaltung konnte sich aber auch die Angst verbinden, dass osteuropäische Oppositionsbewegungen über eine demokratische Reform des Sozialismus hinausgehen. Der britische Linke Tony Benn etwa befürchtete, dass die Labour Party und der britische Gewerkschaftsbund (TUC) mit ihrer Unterstützung für die Solidarność ungewollt einen polnischen Thatcherismus unterstützten.36 Sowohl Skepsis als auch kritische Solidarität mit der Opposition in Polen speisten sich also bisweilen aus einer gewissen linkssozialistischen Hoffnung auf 33 Zum komplexen Verhältnis westlicher Linker zum Realsozialismus siehe Geoff Eley, Forging Democracy. The History of the Left in Europe, 1850–2000, Oxford, New York 2002, S. 329–336, S. 361–362, S. 429–431, S. 437. 34 Zit. in: Gottfried Oy, Spurensuche Neue Linke. Das Beispiel des Sozialistischen Büros und seiner Zeitschrift links. Sozialistische Zeitung (1969 bis 1997), rls-papers (Mai 2007), RosaLuxemburg-Stiftung, Berlin n. p.; zum Sozialistischen Büro und seiner Bedeutung siehe auch Silke Mende, »Nicht rechts, nicht links, sondern vorn«. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011, S. 172–196. 35 Erklärung des Sozialistischen Büros: »Solidarität mit Solidarność, Offenbach, 16. Dezember 1981«, in: links, 142 (1982), S. 2. Vgl. auch Johanno Strasser, »Editorial«, in: L’80 16 (1980), S. 2–3; Iring Fetscher, »Ein Schritt zum wirklichen Sozialismus«, in: Stern vom 04.09.1980. 36 Stefan Berger u. Norman LaPorte, »Great Britain. Between Avoiding Cold War and Supporting Free Trade Unionism«, in: Idesbald Goddeeris (Hg.), Solidarity with Solidarity. Western European Trade Unions and the Polish Crisis, 1980–1982, Lanham 2010, S. 129– 157, hier S. 138–139.

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eine grundlegende Alternative zum Westen. Wichtiger als diese zunehmend verblassenden Hoffnungen ist aber ein anderer Umstand: Insbesondere Samuel Moyn und Robert Horvath haben gezeigt, dass sich der in den 1970er Jahren plötzlich erfolgende Aufstieg einer internationalen Menschenrechtspolitik zu einem Eckpfeiler linken politischen Denkens aus der Diskreditierung revolutionär-utopischer Projekte erklärt.37 Für Frankreich als dem westeuropäischen Land, in dem die Figur des »osteuropäischen Dissidenten« im Laufe der 1970er fast schon eine Art Kultstatus erreicht hatte, erklärte Claude Lefort im Juli 1980, dass es erst die Begegnung mit den Opfern kommunistischer und revolutionärer Gewalt gewesen sei, die die französische Linke zu einer Neubewertung der Einforderung formaler Menschenrechte brachte; bis in die 1970er Jahre hatte man sie noch als bourgeoisen Versuch der Verschleierung eines Unterdrückungssystems verstanden.38 Diese Hinwendung zu den Menschenrechten bedeutete allerdings nicht die Entstehung einer einheitlichen westlichen Front. Vielmehr war sie Ausdruck und Ergebnis einer tiefen Krisenerfahrung in der westlichen Welt. Die Attraktivität der Menschenrechtspolitik rührte daher, dass sie eine minimalistische Antwort auf die Infragestellung nicht nur umfassender utopischer Blaupausen, sondern auch des Glaubens an die Gestaltbarkeit sozialer Wirklichkeit durch Demokratisierung und soziale Reformen bot; wo eine Befreiung der Menschen durch revolutionäre Umgestaltung oder Reform nicht möglich schien, boten sie das Versprechen die Menschen wenigstens vor Schaden und Gewalt zu bewahren. Die Frage jedoch, worin Schaden und Gewalt bestanden, blieb kontrovers und die Diskussionen um sie blieben mit Fragen der internationalen Politik verflochten. Dieser sehr kursorische Blick auf den kulturhistorischen Kontext der Unterstützung der Solidarność sollte verdeutlichen, dass die Außenpolitik der polnischen Opposition nicht als Teil einer Erfolgsgeschichte gelesen werden sollte, in der die Ereignisse der 1980er Jahre dadurch auf den Fluchtpunkt von 1989 zu37 Samuel Moyn, The Last Utopia. Human Rights in History, Cambridge 2010, S. 120–176; Robert Horvath, »›The Solzhenitsyn Effect‹. East European Dissidents and the Demise of the Revolutionary Privilege«, in: Human Rights Quarterly, 29 (2007), S. 879–907; zur veränderten Wahrnehmung von Menschenrechten unter westeuropäischen Linken siehe auch Tony Judt, Postwar. A History of Europe Since 1945, New York 2005, S. 564–566; zur neueren Geschichtsschreibung über Menschenrechte siehe Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.), Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010; Kenneth Cmiel, »The Recent History of Human Rights«, in: The American Historical Review, 109 (2004), 1, S. 117–135; Jan Eckel, »Utopie der Moral, Kalkül der Macht. Menschenrechte in der globalen Politik seit 1945«, in: Archiv für Sozialgeschichte, 49 (2009), S. 437–484. 38 Zitiert in Horvath, »The Solzhenitsyn Effect«, S. 900–901.

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getrieben wurden, dass »der« Westen die Kräfte für Demokratie und Marktwirtschaft im Osten unterstütze. Aufgrund der Struktur und des ideologischen Charakters des Ost-West-Konflikts waren Diskussionen um den Charakter des kommunistischen Gegners immer auch Diskussionen um die eigene westliche Identität; daher gehören die z. T. höchst unterschiedlichen Motive für Solidarität mit Solidarność auch in Debatten innerhalb einer westlichen Gemeinschaft, für die die Frage nach ihrer geteilten Identität kontrovers geworden war. Es gilt also auch, die Konzipierung einer Geschichte Transnationaler Politik um einen an Foucault orientierten Machtbegriff zu erweitern. D. h., dass es zu berücksichtigen gilt, dass die Bedeutungen und Ideen transnationaler Deutungskonflikte eine von den Intentionen ihrer Autoren unabhängige Dynamik und damit Macht über diese Autoren selbst gewinnen können.

II. Die Solidarnos´c´ als umkämpftes Symbol innerwestlicher Konflikte Dass die Unterstützung für die Solidarność und damit direkt oder indirekt die Beziehung zur Sowjetunion immer auch Teil eines innenpolitischen Diskussions- und Selbstverständigungsprozesses war, zeigte sich insbesondere an der bereits erwähnten französischen Reaktion auf das Kriegsrecht.39 Noch am Morgen des 13. Dezember 1981 hatte der französische Außenminister Claude Cheysson die Ereignisse in Polen eine innere Angelegenheit genannt, so dass man »selbstverständlich« nichts unternehmen werde.40 Schon am Folgetag sah sich die französische Regierung mit einer Welle öffentlicher Empörung konfrontiert, als Frankreich mit landesweiten Solidaritätskundgebungen für die Solidarność eine der größten Demonstrationen der Nachkriegsgeschichte erleb39 Zur internationalen Reaktion auf das Kriegsrecht siehe Patryk Pleskot, »Determinacja, appeasement czy Realpolitik? Polityczne reakcje państw zachodnich wobec fenomenu ›Solidarności‹«, in: Łukasz Kamiński, Grzegorz Waligór (Hg.), NSZZ Solidarność 1980– 1989, Bd. 7: Wokół Solidarności, Warszawa 2010, S. 81–166; Sjursen, The United States, Western Europe and the Polish Crisis; Arthur R. Rachwald, In Search of Poland. The Superpowers’ Response to Solidarity, 1980–1989, Stanford 1990; zu zivilgesellschaftlichen Reaktionen siehe den Überblick bei Marcin Frybes, »Społeczne reakcje Zachodu na fenomen ‘Solidarności’ i rola emigracyjnych struktur związku 1980–1989«, in: Kamiński/Waligór (Hg.), NSZZ Solidarność 1980–1989, Bd. 2: Ruch społeczny, S. 505–574; zu Gewerkschaften als wichtigster Unterstützergruppe der Solidarność im Westen siehe die Beiträge zu Idesbald Goddeeris (Hg.), Solidarity with Solidarity. 40 Jean-François Sirinelli, Intellectuels et passions françaises. Manifestes et pétitions au XXe siècle, Paris 1990, S. 298.

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te.41 Dieser Protest wurde vor allem von der sozialistischen Gewerkschaftern CFDT getragen und er artikulierte sich in Petitionen von Intellektuellen wie Pierre Bourdieu oder Michel Foucault. Die regierenden Sozialisten sahen sich also mit scharfer Kritik aus den eigenen Reihen konfrontiert und dies schien Mitterrand in den Folgetagen dazu zu bringen, eine zumindest rhetorisch kompromisslosere Haltung gegenüber Warschau einzunehmen.42 Die Breite und politisch-intellektuelle Trägerschaft dieses Protestes wird nur verständlich, wenn man ihn im Kontext der spezifisch französischen Verarbeitung der Krisenerfahrungen der 1970er Jahre betrachtet.43 Die Revolutionseuphorie des Pariser Mai 1968 machte im Folgejahrzehnt einer Desillusionierung junger Intellektueller Platz. Zunehmend führte dies zu einer fundamentalen Kritik an der immer noch einflussreichen Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF), die sich auch in Zeiten des Eurokommunismus stark am Moskauer Vorbild orientierte. Eine zentrale Rolle nahm hier der »Solženicyn-Schock« ein. Anders als häufig dargestellt war der Katalysator des Absetzungsprozesses von der PCF aber weniger die Publikation von Aleksandr Solženicyns Archipel Gu-

41 Nach Schätzungen der Gewerkschaft CFDT hatten ca. 150.000 Menschen an den landesweiten Protesten teilgenommen. 50.000 davon kamen allein zu der Demonstration in Paris. Siehe Bilan des manifestations qui se sont déroulées le 14 décembre 1981, ohne Datum, Archives confédérales CFDT, Secteur International, 8 H 1920; vgl. auch E. Hassan u. M. Chemin, »50 000 manifestants à Paris«, in: Libération vom 15.12.1981. 42 Sirinelli, Intellectuels et passions françaises, S. 297–310. Bourdieu und Foucault hatten am 15. Dezember 1981 unter dem Titel »Die verpassten Gelegenheiten: nach 1936 und 1956 nun auch 1981?« einen gemeinsamen Appell in der Libération veröffentlicht. Darin stellten sie eine Parallele zwischen der Reaktion Cheyssons auf das Kriegsrecht in Polen und der als passiv kritisierten Haltung sozialistischer Regierungen gegenüber dem spanischen Bürgerkrieg und der Niederschlagung des Ungarnaufstands von 1956 her. Weiter warfen sie den Sozialisten vor, dass ihnen die Regierungskoalition mit den Kommunisten wichtiger war als eine moralisch eindeutige Haltung zur Situation in Polen. Der Text des Appells ist abgedruckt in Pierre Bourdieu, Interventionen 1961–2001. Sozialwissenschaft und politisches Handeln 1961–2001, Bd. 2: 1975–1990, Hamburg 2003, S. 57–58. Siehe hierzu auch Bourdieu, »Die Intellektuellen und die Mächte. Rückblick auf unsere Unterstützung der Solidarność«, in: ebd., S. 65–66. Für Interviews und Artikel von und mit Foucault zu seinem Polenengagement siehe Michel Foucault, Dits et écrits. 1954–1988, Bd. 4: 1980– 1988, Paris 1994, S. 210–212, S. 261–269, S. 338–350. 43 Zum Folgenden siehe insbesondere Michael S. Christofferson, French Intellectuals Against The Left. The Antitotalitarian Moment of the 1970s, New York, Oxford 2004; vgl. auch Horvath, »The Solzhenitsyn Effect«; Müller, Contesting Democracy, S. 206–210; Diane Johnstone, »How the French Left Learned to Love the Bomb«, in: New Left Review, I/146 (1984), S. 5–36.

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lag selbst, sondern vielmehr die Kritik, die der PCF-Vorsitzende George Marchais an dem Buch übte.44 In den Folgejahren wurde die Parteinahme für osteuropäische Dissidenten dann zu einem cause célèbre undogmatischer Linker in Frankreich. Auch Adam Michnik und der KOR profitierten von dieser Entwicklung: Als die Mitglieder des KOR im Mai 1977 verhaftet wurden und vor Gericht gestellt werden sollten, richteten die Chefredakteure von Frankreichs führenden linken Zeitschriften einen Appell an französische Gewerkschafter und Sozialisten, sich mit den Polen zu solidarisieren. Bezeichnenderweise wurde dabei argumentiert, dass im Prozess gegen die KOR-Mitglieder die französische Linke mitangeklagt sei. 45 Auch fünf Jahre später sagte Jacques LeGoff, dass die Solidarność nicht nur für die Polen, sondern auch die französische Linke kämpfe.46 Der Kampf osteuropäischer Intellektueller mit einem zur Orthodoxie erstarrten Sowjetkommunismus wurde damit zur Projektionsfläche für die Auseinandersetzung französischer Intellektueller mit dem linken Establishment im eigenen Land. Dabei machten Debatten unter Frankreichs deuxième gauche um den schillernden Begriff der autogestion die Solidarność zu einem besonders attraktiven Bezugspunkt. Das Konzept der autogestion stellte den Versuch dar, durch die Selbstorganisation der Zivilgesellschaft eine direktdemokratische, nichtbürokratische Alternative sowohl zu sozialdemokratischen als auch kommunistischen Politikformen zu finden.47 In der evolutionären, antipolitischen Strategie der polnischen Opposition und dem spezifisch polnischen Bündnis von Intellektuellen und Arbeitern schienen sich diese Diskussionen zu spiegeln.48 Tatsächlich kam es infolge der gemeinsamen Proteste französischer Gewerkschafter und Intellektueller gegen das Kriegsrecht zu Versuchen, eine dem polnischen Vorbild nachgebildete Kooperation aufzubauen.49 Die Polenkrise kann daher als Endpunkt eines Prozesses angesehen werden, durch den die PCF ihre vormals dominante Stellung auf der französischen Linke endgültig ein44 Christofferson, French Intellectuals Against The Left, S. 89–112. 45 Jean Daniel u. a., »A toutes les centrales syndicales, aux partis signataires du ›programme commun‹«, in: Le Nouvel Observateur vom 13.–19.06.1977. 46 Halina M. Charwat, »Poland. August 1980–December 1982 – A Conference Report«, in: Telos, 54 (1982–83), S. 173–177, hier S. 173. 47 Frank Georgi, »Jeux d’ombres. Mai, le mouvement social et l’autogestion (1968–2007)«, in: Vingtième Siècle, 98 (2008), S. 29–41. 48 Johnstone, »French Left«, S. 20–21. 49 Siehe das Interview, das Michel Foucault unter dem Titel »La Pologne, et après?« mit dem CFDT-Vorsitzenden Edmond Maire führte, in Foucault, Dits et écrits, Bd. 4, S. 496–522 sowie das Gespräch mit Bourdieu »Die libertären Traditionen der Linken wiederfinden«, in: Bourdieu, Interventionen 1961–2001, Bd. 2, S. 59–64.

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büßte. Die Verurteilung der Sowjetunion als »totalitärer Diktatur« scheint dabei kurzfristig sogar zu einem der zentralen Punkt französischer Politik geworden zu sein.50 Zum französischen Diskurs gab es gewisse Parallelen in Italien, wo sich die Sozialisten auch deshalb mit der polnischen Opposition solidarisierten, um sich weiter von der kommunistischen Partei des Landes (PCI) abzusetzen. Anders als Marchais, der die PCF auf einem gegenüber Moskau loyalen Kurs hielt, vollzog der PCI-Vorsitzende Enrico Berlinguer hingegen einen weitgehenden Bruch mit der Sowjetführung, als er erklärte, die Ereignisse in Polen hätten endgültig gezeigt, dass sich die durch die Oktoberrevolution freigesetzten Energien verbraucht hätten.51 Der neugefundene Antitotalitarismus französischer Linker stellte eine durchaus überraschende Übereinstimmung zwischen der Außenpolitik Frankreichs und der der USA her. Neben französischen Intellektuellen und Gewerkschaften gehörten amerikanische Neokonservative52 und mit ihnen insbesondere Präsident Ronald Reagan zu den prononciertesten Unterstützern der polnischen Opposition. Nachdem das Weiße Haus zunächst genauso Verhalten auf die Ereignisse des 13. Dezember 1981 reagiert hatte wie der Elysée-Palast, fand Reagan schnell zu einer sehr klaren Haltung. So machte er die Situation in Polen zum Hauptthema seiner Weihnachtsansprache an die Nation und die US-Regierung drängte ihre europäischen Partner dazu, sich amerikanischen Sanktionen gegen Polen und die UdSSR anzuschließen. Auch über 1982 hinaus zeigte Reagan mehrfach demonstrativ seine Solidarität mit den Anliegen der polnischen Opposition.53 Die letzten Sanktionen Washingtons gegen War50 »La France et le totalitarisme«, in: Le Monde vom 12.01.1982. David Bosshart, »Die französische Totalitarismusdiskussion«, in: Eckhart Jesse (Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Bonn 1999, S. 252–260. 51 Jacques Lévesque, »Italian Communists versus the Soviet Union. The PCI Charts a New Foreign Policy«, Policy Papers in International Affairs, Paper #34 (1987) Institute of International Studies, University of California, Berkeley, S. 17–26. 52 Dieser Begriff wird hier und im Folgenden nicht in der heute gebräuchlichen Engführung auf eine außenpolitische Ausrichtung gebraucht. Er bezeichnet vielmehr eine von vormals liberalen Intellektuellen getragene Hinwendung zu konservativen und wirtschaftsliberalen Ordnungsvorstellungen als Reaktion auf die Krise des Nachkriegsliberalismus und die Studentenbewegung. Vgl. Nigel Ashford, »The Neo-Conservatives«, in: Government and Opposition, 16 (1981), S. 353–379. 53 Als Wojciech Jaruzelski 1985 zur Generalversammlung der Vereinten Nationen nach New York reiste, wurde er von keinem hochrangigen Mitarbeiter der amerikanischen Regierung empfangen. Einige Wochen später wurde indes der Leiter des Brüsseler Büros der Solidarność, Jerzy Milewski, von Reagan, seinem Stellvertreter George Bush, dem Nationalen Sicherheitsberater und anderen hochrangigen Mitarbeitern des Weißen Hauses im

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schau wurden erst aufgehoben, als 1987 klar war, dass alle politischen Gefangenen frei gekommen waren. Insbesondere nach der Gründung des National Endowment for Democracy (NED) im Jahr 1984, einer staatliche Stiftung zur Förderung demokratischer Institutionen, stellten die Vereinigten Staaten mehrere Millionen Dollar zur Unterstützung der Solidarność und ihrer Auslandsvertretungen bereit.54 Anders als in Frankreich gab es bei der amerikanischen Unterstützung einen klar außenpolitischen Bezugspunkt: Die Solidarność fügte sich – zumindest oberflächlich betrachtet – sehr gut in symbolpolitische Maßnahmen zur Legitimierung der später als »Reagan-Doktrin« bezeichneten Unterstützung von »Freiheitskämpfern« im sowjetischen Einflussgebiet und der Dritten Welt ein. Im Oktober 1983 steuerte Reagan eine Videobotschaft zu einer Veranstaltung bei, auf der Lech Wałęsa in Abwesenheit mit dem Preis einer amerikanischen Stiftung ausgezeichnet wurde. In seiner Ansprache nannte Reagan den polnischen Gewerkschaftsführer einen »Freiheitskämpfer«, der den »Triumph moralischer Stärke über brutale Gewalt« und den »Sieg persönlicher Ideale über kollektivistische Tyrannei« symbolisiere. Weiter trete er für die Überzeugungen ein, dass die »Segnungen der Freiheit« allen Menschen zustünden. Als Realist wisse Wałęsa dabei aber auch, dass hinter dem repressiven Regime in Warschau ein viel repressiveres Regime in Moskau stehe. Vor allem aber sei Wałęsa ein Mann tiefer Religiosität, der »Gott vor allem anderen verehre«; daher hätte er die großen Geschenke »der Liebe und des Muts« erhalten, die viel machtvollere Waffen sein als all die »Kräfte der Brutalität«, die gegen ihn aufgebracht würden.55 Die Hauptrednerin der Veranstaltung war Reagans UN-Botschafterin Jeane Kirkpatrick, deren Vortrag »Wir und sie« die Solidarność nur streifte. Stattdessen skizzierte Kirkpatrick darin einen fundamentalen Unterschied zwischen den USA als Verkörperung einer freiheitlich-westlichen Kultur und ihrer Oval Office willkommen geheißen; Hintergrund waren die 1985 wieder verstärkten Repressionen in Polen, im Zuge derer u. a. Michnik, Lis und Władysław Frasyniuk verhaftet worden waren. Siehe Robert McFarlane, »Meeting with Jerzy Milewski, Director of Solidarity Office Abroad«, memo for the President, 19.10.1985, Ronald Reagan Presidential Library (RRPL), WHORM: Subject File, CO126, ID #342721. 54 Zur Polenpolitik der US-Regierung in den 1980er Jahren siehe Gregory F. Domber, Supporting the Revolution. America, Democracy, and the End of the Cold War in Poland, 1981– 1989, PhD thesis, George Washington University, 2007; Rachwald, In Search of Poland; zu den Diskussionen in der NATO infolge der Polenkrise siehe auch Sjursen, The United States, Western Europe and the Polish Crisis; zu letztem Punkt siehe auch Lawrence Orton, »The Western Press and Jaruzelski’s War«, in: East European Quarterly, 18 (1984), 3, S. 279–305. 55 »Salute to Lech Walesa« (Redemanuskript), 17.10.1983, RRPL, White House Office of Speech Writing: Speech Drafts, Box 115.

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sowjetischen Antithese, mit deren »aggressivem Expansionismus« sie dann die amerikanischen Sicherheitspolitik rechtfertigte.56 Wie aber bereits der Titel von Kirkpatricks Rede suggerierte, können auch diese Diskurse als Teil politischer Selbstverständigungsprozesse gelesen werden, verband die durch Reagan eingeleitete konservative Wende doch einen außenpolitischen Antikommunismus mit der innenpolitischen Betonung wertkonservativer und marktliberaler Vorstellungen.57 Im Sommer 1982 kam Reagan u. a. deshalb nach Europa, um Konflikte auszuräumen, zu denen es aufgrund amerikanisch-europäischer Meinungsverschiedenheiten in der Folge der Polenkrise gekommen war. Im Zuge dieser Reise hielt er in Westminster eine berühmt gewordene Rede. Darin diagnostizierte er das Aufkommen einer weltweiten demokratischen Bewegung, die den MarxismusLeninismus auf dem »Müllhaufen der Geschichte« (»ash heap of history«) zurücklassen würde.58 Die Solidarność diente ihm dabei als Beleg der Illegitimität und Ineffizienz des sowjetischen Gesellschaftsmodells. Zur Unterstützung dieser Revolution kündigte Reagan ein Programm an, das den Aufbau einer Infrastruktur der Demokratie unterstützen sollte. Zwei Jahre später führte diese Initiative zur Schaffung der oben erwähnten NED, aus deren Budget auch die polnische Opposition mehrere Millionen Dollar finanzieller Hilfe erhielt.59 Während Reagan auch Gewerkschaften explizit als Teil dieser Infrastruktur der Demokratie nannte, fällt auf, dass er den Kommunismus als nur extremsten Ausdruck einer generellen Tendenz des Staates charakterisierte, seine Kompetenzen zu überschreiten und damit insbesondere ökonomisches Wachstum zu ersticken. Die »neuen Schulen der Ökonomie in England und Amerika« wurden damit zu einem »Aufbäumen des Intellekts und des Willens« gegen die »harten Fakten totalitärer Herrschaft.«60 Diese Abgrenzung vom »sowjetischen Totalitarismus« kann also auch als Teil von Reagans spezifischer Antwort auf 56 Zu der Veranstaltung siehe »Center honors Lech Walesa«, in: Ethics and Public Policy Center Newsletter, Nr. 6/Oktober 1983, S. 1, 4; für den Text der Rede siehe Jeane J. Kirkpatrick, »We and They«, in: dies. (Hg.), Legitimacy and Force. Political and Moral Dimensions, Bd. I, New Brunswick, NJ 1988, S. 35–41. 57 Für einen Überblick über die Literatur zu diesem Aspekt von Reagans Präsidentschaft siehe John Ehrman, »The Age of Reagan? Three Questions for Future Research«, in: The Journal of The Historical Society, 11 (2011), 1, S. 111–131, hier S. 117–118. 58 Ronald Reagan, »Address to the Members of British Parliament«, Westminster, 8.06.1982, The Public Papers of President Ronald Wilson Reagan, (Zugriff am 02.09.2011). 59 Domber, Supporting the Revolution, S. 489; zur Rede vgl. Robert C. Rowland u. John M. Jones, Reagan at Westminster. Foreshadowing the End of the Cold War, College Station, TX 2010. 60 Reagan, »Address to the Members of British Parliament«.

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die »neue Unübersichtlichkeit« gesehen werden, bei der er dem Modell eines durch staatliche Eingriffe und Reformen geförderten Wohlstands die (durchaus utopische) Vision einer Gesellschaft entgegenstellte, in der die freie, besonders ökonomische Interaktion von Individuen – also der Markt – Motor gesellschaftlichen Fortschritts war.61 Wie wichtig dieser kulturhistorische Kontext war, zeigt sich schließlich auch an den Ideen, mit denen westliche Gewerkschafter ihre Unterstützung für Solidarność begründeten. Während die Diskurse amerikanischer Neokonservativer und französischer Linker nebeneinander her liefen, ohne aufeinander Bezug zu nehmen, lässt sich ein gewisser Zusammenhang zwischen der polenbezogenen Rhetorik und Symbolpolitik Reagans und der Polenhilfe westeuropäischer oder amerikanischer Gewerkschafter herstellen. Dies zeigt sich etwa daran, dass Gewerkschafter versuchten, eine Position jenseits des Kalten Kriegs einzunehmen, indem sie sich eindeutig vom Kommunismus abgrenzten, dabei aber Polen in eine Reihe mit den Regimen im NATO-Mitgliedsstaat Türkei sowie insbesondere in Chile stellten, in denen Gewerkschaften ebenfalls von Militärdiktaturen unterdrückt wurden.62 Dass dies nicht nur eine Reaktion auf die Situation in den entsprechenden Ländern, sondern auch auf einen gesellschaftlichen Bedeutungsverlust von Gewerkschaften im Zuge der Krise von Sozialdemokratie und Wohlfahrtsstaat war, illustriert vielleicht eine Anzeige des amerikanischen Gewerkschaftsbundes AFL-CIO aus Anlass des amerikanischen Labor Day 1982. Auch wenn Reagan seine politische Karriere als Gewerkschafter begonnen hatte, brachten ihn seine wirtschaftsliberalen Ansichten schnell auf Kollisionskurs mit der AFL-CIO; ihr Präsident Lane Kirkland war daher nicht nur ein ausgesprochener Sympathisant der Solidarność, sondern auch einer von Reagans schärfsten innenpolitischen Kritikern.63 Dieser Konflikt verschärfte sich als Reagan im Oktober 1981 mehrere Tausend streikender Fluglotsen entließ.64 Angesichts 61 Zum ideenhistorischen Kontext dieses Projekts vgl. Müller, Contesting Democracy, S. 220– 227. 62 Zu europäischen Gewerkschaftern siehe die Beiträge zu Goddeeris (Hg.), Solidarity with Solidarity; zum amerikanischen Gewerkschaftsbund AFL-CIO siehe die entsprechenden Abschnitte in Domber, Supporting the Revolution; für einen Vergleich der Haltungen in Frankreich und dem DGB siehe Nathalie Bégin, »Kontakte zwischen Gewerkschaften zwischen Ost und West. Die Auswirkungen von Solidarność in Deutschland und Frankreich. Ein Vergleich«, in: Archiv für Sozialgeschichte, 45 (2005), S. 293–324. 63 Arch Puddington, Lane Kirkland. Champion of American Labor, Hoboken, NJ 2005, S. 116–135. 64 Joseph A. McCartin, Collision Course. Ronald Reagan, the Air Traffic Controllers, and the Strike that Changed America, New York 2011.

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dieser harten Maßnahmen wurde die Unterstützung Reagans für Gewerkschaftsrechte in Polen oft als Heuchelei kritisiert. Auf einer Solidarisierungsveranstaltung linker Künstler und Intellektueller mit der Solidarność in New York City traten dann auch Mitarbeiter der Gewerkschaft der Fluglotsen auf und es wurde eine Parallele zwischen ihrer Situation und der polnischer Arbeitnehmer hergestellt.65 Während die AFL-CIO derartige Vergleiche nicht aufstellte, brachte sie in der besagten Anzeige eine Idee zum Ausdruck, um die auch ihre sehr breite Solidarisierungskampagne mit der Solidarność insgesamt organisiert war. Die Unterdrückung der Solidarność hätte demnach allen Amerikanern die Bedeutung der Vereinigungsfreiheit vor Augen geführt. Ohne dieses Recht, Organisationen zur Verteidigung sozialer Interessen zu gründen, wäre das Individuum »der arbiträren Macht des Staates, des Arbeitgebers oder anderer potentiell feindlicher Kräfte« ausgeliefert. Das Vereinigungsrecht sei daher nicht nur ein Eckpfeiler der Gewerkschaftsfreiheit, sondern der Demokratie insgesamt. Die Ereignisse in Polen hätten diesen Zusammenhang hervortreten lassen: Ein Demokratisierungsprozess habe dort mit der Schaffung einer freien Gewerkschaft begonnen und er sei mit der Verweigerung des Vereinigungsrechts wieder beendet worden. Ein ähnlicher Kampf würde in Südafrika gekämpft; auch dort wäre der Aufbau unabhängiger Gewerkschaften der Schlüssel zu Demokratisierung und der Abschaffung der Apartheid. Nachdem die AFL-CIO ihren Menschenrechtspreis 1981 an Wałęsa verliehen hatte, würde daher 1982 ein südafrikanischer Gewerkschafter ausgezeichnet. Am Labor Day solle man sich daher ins Gedächtnis rufen, dass überall dort, wo Gewerkschaftsrechte in Gefahr sind, auch die Demokratie insgesamt in Gefahr sei.66 Richtet man den Blick über die Helsinki-Schlussakte hinaus auf den kulturund ideenhistorischen Kontext internationaler Politik, dann wird klar, dass sich die Aktivisten der Solidarność nicht einfach auf eine problemlos gegebene »westliche Freiheit« berufen konnten. Die Solidarność wurde vielmehr zu einem umkämpften Symbol nationaler und transnationaler Debatten; sie war eine Legitimitätsressource, auf die unterschiedliche Akteure bei ihren Versuchen zurückgriffen, um zentralen Ideen und Begriffen des westlichen Selbstverständnisses eine bestimmte Bedeutung zu geben.

65 Alexander Cockburn u. James Ridgeway, »The Poles, the Left, and the Tumbrils of ’84«, in: The Village Voice vom 10.02.1982. 66 Freedom of Association, Anzeige der AFL-CIO in der New York Times vom 30.08.1982.

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III. Polnische Oppositionelle und die Debatten im Westen Abschließend stellt sich die Frage, wie sich polnische Oppositionelle selbst in diesen Debatten positionierten. Der oben zitierte Clifford Bob hat gezeigt, wie unterdrückte Gruppen ihre politische Botschaft bisweilen an die Anforderungen internationaler Unterstützer anpassen.67 Wurden die Entscheidungen über die Richtung der politischen und ökonomischen Transformation nach 1989 also dadurch beeinflusst, dass die Gesellschaften Ostmittel- und Osteuropas auf westliche Hilfe angewiesen waren? Viele Beobachter der politischen Wende hatten schließlich nicht ohne Enttäuschung festgestellt, dass sich die Revolution im Wesentlichen als eine Übernahme des westlichen Modells vollzog. Jürgen Habermas hatte sie deshalb als »nachholende Revolution« bezeichnet.68 Es besteht kein Zweifel, dass es erhebliche Schnittmengen zwischen dem politischen Denken polnischer Oppositioneller und Diskursen im Westen gab, die sich klar von der UdSSR als »totalitärem« und »aggressivem« Staat abgrenzten. Den Friedensbewegungen, aber auch der Ostpolitik standen polnische Intellektuelle weitestgehend kritisch gegenüber.69 Ihnen warf man Einseitigkeit bei der Bewertung des Rüstungswettlaufs, Naivität im Umgang mit den kommunistischen Parteien oder sogar eine nur auf die eigene Sicherheit bedachte Preisgabe der Freiheit der osteuropäischen Völker vor. Im Dezember 1981 verglich Leszek Kołakowski die internationale Situation mit der Lage des Jahres 1938 und beschimpfte westliche Vertreter einer vorsichtigen Haltung gegenüber Warschau als »Super-Chamberlains«.70 Andere Stimmen waren kaum weniger kritisch; die Konsequenz, mit der aber z. B. Adam Michnik auf dem totalitären Charakter der Volksrepublik beharrte und die Parallelen, die er dabei zu Nazi-Deutschland und dem Stalinismus herstellte, können auch als Reaktion 67 Bob, The Marketing of Rebellion. 68 Jürgen Habermas, Die nachholende Revolution, Kleine politische Schriften, Bd. VII, Frankfurt am Main 1990. 69 Selbst die Mitte der 1980er Jahre entstehende polnische Friedensbewegung scheint sich des Friedens- und Abrüstungsthemas eher strategisch bedient zu haben, um eine ausschließliche Besetzung dieses Themas durch die PZPR zu verhindern und das Fehlen von Demokratie in Osteuropa als Grund für das Wettrüsten offenzulegen. Siehe Kacper Szulecki, »Hijacked Ideas: Human Rights, Peace, and Environmentalism in Czechoslovak and Polish Dissident Discourses«, in: East European Politics & Societies, 25 (2011), 2, S. 272–295. 70 Leszek Kołakowski, »I Will Be a Milder Hangman«, in: The Wall Street Journal vom 31.12.1981; vgl. auch Leszek Kołakowski u. Aleksander Smolar, »Il serait ridicule de prétendre qu’il s’agit d’une affaire interne polonaise«, in: Libération vom 30.12.1981. Für eine ähnlich scharfe Kritik siehe: Janusz Onyszkiewicz an Mient Jan Faber (Kopie), 13.07.1984, AIPN, 0248/44, t. 2, Bl. 74–77.

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auf eine als naiv oder zu nachlässig bewertete Haltung westlicher Politiker gegenüber dem Warschauer Regime verstanden werden.71 In diesem Kontext ist jedoch erwähnenswert, dass die Solidarność nicht nur selbst ein Signifikant internationaler Debatten war, der anderen Akteuren als Legitimitätsressource diente. Bei der Umsetzung ihrer Transnationalen Politik versuchten polnische Exilanten und Oppositionelle vielmehr selbst, ihren Kampf symbolisch mit den Anliegen anderer, international prominenter Gruppen in Verbindung zu bringen. Dabei versuchte man konsequent, die Solidarność in den Kontext eines universellen Kampfes um Menschen- und Gewerkschaftsrechte zu stellen, der die moralischen Kompromisse des Kalten Kriegs ablehnte. So nahmen z. B. Lech Wałęsa oder Adam Michnik die Parallele zwischen Polen und Chile auf und solidarisierten sich mit inhaftierten chilenischen Gewerkschaftern und Menschenrechtsaktivisten.72 Der Leiter des Brüsseler Büros Jerzy Milewski unterzeichnete im Namen der TKK eine gemeinsame Erklärung mit chilenischen Gewerkschaftsaktivisten73 und gegenüber Vertretern der südafrikanischen Polonia verteidigte er die Solidaritätsadressen, die er im Namen der Solidarność an südafrikanische Gewerkschafter im Kampf gegen die Apartheid abgegeben hatte.74 Außerdem gehörte ein klarer Antitotalitarismus bereits seit Mitte der 1970er Jahre, und damit lange bevor westliche Regierungen als Unterstützer der Opposition auftraten, zum politischen Denken polnischer Oppositioneller. Das gleiche gilt für einen Antiutopismus und eine Präferenz für die politischen Institutionen des Westens. Dabei scheint man die westlichen Debatten um die »Legitimitätskrise des Spätkapitalismus«, die »Krise der Demokratie« oder die »Unregierbarkeit« durchaus wahrgenommen zu haben. In einem 1978 für eine Zeitschrift schwedischer Sozialdemokraten verfassten Artikel bemerkte Jacek Kuroń, dass die Ziele der polnischen Opposition – Souveränität und parlamen-

71 Robert Brier, »Adam Michnik’s Understanding of Totalitarianism and the West European Left. A Historical and Transnational Approach«, in: East European Politics & Societies, 25 (2011), 2, S. 197–218. 72 So hatte Wałęsa das Recht, Gäste für die Feier der Verleihung des Friedensnobelpreises zu bestimmen. Unter diesen war der als »chilenischer Wałęsa« bekannte Gewerkschaftsführer Rodolfo Segel. Interview mit Joanna Pilarska, Transkription einer polnischsprachigen Sendung der Voice of America vom 15.11.1983, AIPN, BU 514/21/12/CD/1, Bl. 146–147. Siehe auch »Adam Michnik et le Chili«, in: Le Monde vom 29.07.1983. 73 AIPN, 514/21, t. 38. 74 Milewski an Leopold Srebałowicz und Czesław Szymański, 6.03.1986, AO III/218, Mappe »Biuro Zagraniczne S 1986«.

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tarische Demokratie – von westlichen Beobachtern als politische Ideen des 19. Jahrhunderts kritisiert wurden.75 Auch Ideen eines politischen Dritten Wegs stand Kuroń kritisch gegenüber: Zwar gab er an, sich innerhalb einer parlamentarischen Demokratie für direktdemokratische Ausdrucksformen politischer Partizipation einsetzen zu wollen; diese sollten die als grundlegend erachteten Institutionen repräsentativer Demokratie nicht ersetzen, sondern ergänzen.76 In einer Grußbotschaft an ein Friedensforum in West-Berlin äußerte Kuroń sechs Jahre später allerdings seine Befürchtung, dass die Friedensbewegung einen grundlegenden Unterschied zwischen den Systemen in Ost und West übersieht: Während die Rüstung im Westen das Ergebnis einer auf demokratischem Wege korrigierbaren Fehlentscheidung sei, rühre sie im Osten aus der Natur des totalitären Systems selbst. Wer diesen Unterschied negiere, der würde es riskieren, eine Nostalgie nach einem Zustand auszulösen, in dem nur gute Entscheidungen getroffen werden. »Oder nach einer Realität, in der keine Entscheidungen gefällt werden – und dies ist wiederum der Totalitarismus.« Die Beseitigung des Totalitarismus war daher eine Voraussetzung für eine polnische Friedensbewegung. Der Weg zum Frieden führte für Kuroń also nicht über eine gemeinsame Suche nach einer Alternative zu Ost und West, sondern über die Herstellung der politischen Verhältnisse des Westens im Osten.77 Aus dem fast schon professoralen Ton, mit dem der polnische Intellektuelle hier meinte, seine westlichen Leser über das Verhältnis von Demokratie und Totalitarismus aufklären zu müssen, aber auch aus der zuweilen beißenden Kritik, die andere Oppositionelle bei derartigen Gelegenheiten üben konnten, spricht keine politische PR-Strategie, die Inhalte an die Erwartungen von Zuhörer anpasst. Polnische Intellektuelle scheinen sich vielmehr als selbstbewusste Teilnehmer internationaler Debatten verstanden zu haben, die aufgrund ihrer 75 Jacek Kuroń, »W stronę demokracji«, in: ders., Polityka i odpowiedzialność, London 1984, S. 42–57, hier 53; A. Michnik, »Mein Platz ist in Polen. Bilanz eines Intellektuellen vor der Heimkehr«, in: Die Zeit vom 13.05.1977. 76 Kuroń, Polityka i odpowiedzialność, S. 131. 77 Jacek Kuroń, »Botschaft an die Teilnehmer des Friedensforums in Berlin«, in: Listy 6/Oktober 1985, S. 15–20, Zitat auf S. 17. Siehe auch das Interview von Mient Jan Faber und Wolfgang Müller vom IKV mit Kuroń: »A Neutral Zone in Central Europe?« in: Disarmament Campaigns 46/Juli-August 1985, S. 3–6. Auch Michnik nahm gegenüber Daniel Cohn-Bendit eine dezidiert anti-utopische Haltung ein. Die Solidarność stünde nicht für die Vision einer konfliktfreien Gesellschaft, sondern für eine offene Gesellschaft, in der Konflikte demokratisch ausgetragen werden. Adam Michnik, »Anti-authoritarian Revolt. A Conversation with Daniel Cohn-Bendit« [1987], in: Letters from Freedom. Post Cold War Realities and Perspectives, Berkeley 1998, S. 29-–68, hier S. 64.

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Diktaturerfahrung ihren westlichen Zuhörern gegenüber eher einen Erkenntnisvorsprung hatten. Welche Rolle westliche Hilfe für die wirtschaftliche Transformation Polens nach 1989 gespielt hat, ist weniger leicht zu beantworten. Mögliche transnationale Einflüsse auf die nach 1989 getroffenen ökonomischen Entscheidungen lassen sich aber wahrscheinlich eher in Netzwerken technischer Eliten als der Außenpolitik von Oppositionellen ausmachen.78 Wenngleich sich wirtschaftsliberale Ideen in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wachsender Popularität unter polnischen Oppositionellen erfreuten, hielten andererseits die Mitglieder des Bürgerkomitees noch 1988 ein Forum zur Zukunft sozialistischer Ideen ab.79 Auch zeigen Debatten von Mitarbeitern des Brüsseler Büros mit anderen polnischen Exilanten und der Untergrundführung der Solidarność zwar, dass das Koordinierungsbüro eine durchaus strategisch angelegte Informationspolitik verfolgte. Der aus Krzysztof Pomian, Bohdan Cywiński und dem Chef der polnischen Sektion von Radio Free Europe Zdzisław Najder bestehende Beraterkreis des Büros warnte etwa davor, dass die Solidarność zunehmend weniger als Gewerkschaft, sondern als politische Organisation wahrgenommen werde. Damit verliere sie ihr Alleinstellungsmerkmal und mit den Gewerkschaften ihren wichtigsten Unterstützerkreis im Westen.80 Der wichtigste Ansprechpartner waren hier aber Gewerkschafter, die – wie zum Beispiel Lane Kirkland – vom späteren Ablauf der ökonomischen Transformation Polens bitter enttäuscht waren.81 Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen scheint aber vielleicht etwas anderes wichtiger. Analysiert man auch Fragen grenzübergreifender Interaktion aus einer kulturhistorischen Perspektive, zeigt sich, wie fruchtbar es sein kann, sich bei der internationalen Geschichte der 1980er Jahre von der Frage zu lösen, wie »der Westen« den Kalten Krieg gewonnen hat. Der Triumphalismus 78 Dorothee Bohle u. Gisela Neunhöffer, »Why Is There No Third Way? The Role of Neoliberal Ideology, Networks, and Think Tanks in Combating Market Socialism and Shaping Transformation in Poland«, in: Dariusz Aleksandrowicz u. a. (Hg.), The Polish Solidarity Movement in Retrospective. A Story of Failure or Success?, Berlin 2009, S. 66–87; Johanna Bockmann u. Gil Eyal, »Eastern Europe as a Laboratory for Economic Knowledge. The Transnational Roots of Neo-Liberalism«, in: American Journal of Sociology, 108 (2002), S. 310–352. 79 Jerzy Szacki, Der Liberalismus nach dem Ende des Kommunismus, Frankfurt am Main 2003; Włodzimierz Wesołowski (Hg.), Losy idei socjalistycznych i wyzwania współczesności, Warszawa 1990; zu den ursprünglich eher sozialistischen Ideen innerhalb der Solidarność vgl. Jan Skórzyński, »Solidarność i socjalizm«, in: Tygodnik Powszechny vom 26.04.2009. 80 Bohdan Cywiński, »Krzysztof Pomian und Zdzisław Najder an die TKK«, ohne Datum, AO III/218, Mappe »Biuro Brukselskie, korespondencja ZN z Polską«. 81 Puddington, Lane Kirkland, S. 233–234.

des vermeintlichen »Endes der Geschichte« (Francis Fukuyama) steht schließlich im Gegensatz zu den Krisenerfahrungen der 1970er Jahre.82 Die Endphase des Ost-West-Konflikts war daher auch eine Phase, in der sich der Westen neu definierte. Für diesen Prozess blieb die Sowjetunion eine Folie und vielleicht wurde er dadurch befördert, dass der Westen von ostmitteleuropäischen Akteuren zur Selbstdefinition herausgefordert wurde. Zur Analyse dieser Prozesse bietet die Geschichte oppositioneller Außenpolitik einen möglichen Zugang.

82 Vgl. Müller, Contesting Democracy, S. 202–204.

Zwischen Erinnerungs- und Gedächtniskultur Die Bedeutung von Vergangenheitsvorstellungen der Zwischenkriegszeit für die heutige Außenpolitik in Ostmitteleuropa Alvydas Nikžentaitis In den letzten Jahren hat vor allem in Ost- und Mitteleuropa die Gedächtniskultur (Geschichtspolitik) deutlich an Bedeutung gewonnen. 1 Trotz zahlreicher Appelle, den Einfluss der Vergangenheit auf die Außenpolitik zu untersuchen, gibt es indes nur wenige Arbeiten zu diesem Thema.2 Dies ist dadurch zu erklären, dass bis jetzt kein klares theoretisches Konzept vorliegt, das ermöglicht hätte, dieses Thema zu untersuchen. Es ist sicherlich unbestreitbar, dass erinnerungskulturelle Konstellationen die Innenpolitik viel stärker prägen als die Außenpolitik. Gleichzeitig beeinflussen Vergangenheitsbilder aber unzweifelhaft auch die Außenpolitik – vor allem dann, wenn man einen weiten Begriff von Außenpolitik zu Grunde legt, wie er sich in der Wissenschaft der Internationalen Beziehungen seit der intensiven Rezeption konstruktivistischer Theorien durchgesetzt hat. Hier fragt man mittlerweile verstärkt nach dem Einfluss von Wirklichkeitskonstruktionen, von idealisierten Selbstbildern und Identitätsentwürfen auf außenpolitisches Handeln.3 Dabei entsteht eine weitere Frage nach dem Gebrauchswert der Vergangenheit in der internationalen Politik. Hier lässt sich die Hypothese formulieren, dass »Vergangenheit« in der Außenpolitik nicht beliebig gebraucht wird, sondern um konkrete politische Ziele zu erreichen. Dieser Gedanke lässt sich mit den Forschungsergebnissen der belgischen Politologin Valerie Rousoux untermauern, die auf drei Verwendungsmodi der Vergangenheit in internationalen Beziehungen hingewiesen hat: 1 Vgl. als Beispiele: Pamięć i polityka zagranyczna, Warszawa 2006; »Po co nam polityka historyczna«, in: Gazeta Wyborcza, 30.09.2005 (Zugriff am 03.04.2012). 2 Vgl. Mateusz Gniazdowski, »Kwestie historyczne w polskiej polityce zagranicznej«, in: Rocznik polskiej polityki zagranicznej, 2006, T. 1., S. 234–257; Jörg Zägel u. Reiner Steinweg, Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion, Bd. 2: Die Sicht auf Krieg, Diktatur, Völkermord, Besatzung und Vertreibung in Russland, Polen und den baltischen Staaten, Berlin 2007. 3 Vgl. Christoph Weller, »Internationale Politik und Konstruktivismus. Ein Beipackzettel«, in WeltTrends Nr. 41, Winter 2003/2004, S. 107–123, hier S. 107, 109.

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a) Vergangenheit wird verwendet, um die Konfrontation in den zwischenstaatlichen Beziehungen zu erhöhen, b) Vergangenheit wird ignoriert bzw. den Historikern überlassen, c) Vergangenheit wird zum »Arbeitsgedächtnis«. In diesem Fall wird die Vergangenheit als solche wahrgenommen und kommunikativ bewältigt.4 Letzterer Modus wurde im deutsch-französischen Annäherungsprozess sehr produktiv angewendet und führte zu positiven Ergebnissen: Auf zwischenstaatlicher Ebene gelang es beiden Staaten, gleichzeitig zu versöhnen und die Unterschiede der Erinnerungskulturen zu akzeptieren. Die bereits sehr fundierten Forschungsergebnisse der belgischen Politologin können noch durch Angaben aus dem skandinavischen Raum ergänzt werden. Durch die Akzentuierung der Vergangenheit, die die Region als historische Einheit darstellt, gelang es den skandinavischen Ländern, aus der Vergangenheit ein Fundament für regionale Kooperation zu schaffen. Wenn sich dieser Modus des Umgangs mit Vergangenheit auch nicht generalisieren lässt, so verweist er auf ein viertes Funktionsmoment von Vergangenheit: d) Durch die Revitalisierung von Bildern der gemeinsamen Vergangenheit strebt man zu einer regionalen Kooperation. Die Vergangenheit nimmt sich dabei als ein zusätzliches Argument für gemeinsames Wirken aus.5 Vereinfacht könnte man über zwei Gebrauchsmodi der Gedächtnis- und Erinnerungskulturen reden: sie werden entweder gebraucht, um zwischenstaatliche Konflikte weiter zu eskalieren oder man versucht, eine Annäherung zu erreichen. Die Feststellung, dass die Vergangenheit in den internationalen Beziehungen nicht beliebig, sondern zweckgebunden verwendet wird, beseitigt Fehldeutungen in den bisherigen Forschungen zum Thema. Die Thesen über die Zweckgebundenheit des Gebrauchs der Vergangenheit und der hier besprochene Begriff von Außenpolitik mit einer stärkeren Berücksichtigung der Konstruktivismus-Theorie bilden eine gute Ausgangsposition für die Erforschung 4 Valérie B. Rosoux, Les usages de la mémoire dans les relations internationales. La recours au passé dans la politique étrangère de la France à ľégard de ľAllemagne et de ľAlgérie de 1962 à nos jours, Brüssel 2001; Valérie B. Rosoux, »Les usages du passé dans le cadre de la politique étrangère«, in: Colloque La politique du passé, septembre 2003 (Zugriff am 03.04.2012). 5 Vgl. Peter Aronson, »National cultural heritage – Nordic cultural memory: negotiating politics, identity and knowledge«, in: Bernd Henningsen, Hendriette Kliemann-Geisinger, Stefan Troebst (Hg.), Transnationale Erinnerungsorte: Nord- und südeuropäische Perspektiven, Berlin 2009, S. 71–90.

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der Auswirkungen von Erinnerungskulturen auf die Außenpolitik in Ostmitteleuropa. Offen bleibt aber noch eine andere Frage, und zwar, ob die Vergangenheitsvorstellungen, die in früheren Epochen entstanden sind, tatsächlich eine Bedeutung für die Gedächtnis- und Erinnerungskulturen haben. Eine solche Fragestellung erfordert eine genauere Trennung der Begriffe »Gedächtnis-« und »Erinnerungskultur«. Einen ersten Schritt in diese Richtung haben mit der Einführung der Begriffe »kulturelles« und »kommunikatives Gedächtnis« bereits Jan und Aleida Assmann unternommen. Dabei haben sie das kulturelle Gedächtnis als organisiert, institutionalisiert und zeremonialisiert bezeichnet.6 Gegenüber anderen Formen der Erinnerung hat das kulturelle Gedächtnis eine dominierende Position. Andererseits muss erwähnt werden, dass diese Theorie eine gewisse Schwäche hat. Das dominierende Gedächtnis wird in modernen Zeiten oft aus der jüngsten Vergangenheit wie z. B. den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges konzipiert, das allerdings nach der Theorie von Assmann zum Typus des kommunikativen und nicht des kulturellen Gedächtnisses7 zählt. Damit ist die von Assmann vorgeschlagene Trennung zwischen dem kommunikativen und kulturellen Gedächtnis nicht für die Erforschung der modernen Zeit geeignet. Deshalb hat Astrid Erll in Ergänzung dieses Modells vorgeschlagen, von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis zu reden, wobei sie nicht ausschließt, dass die eine Kultur gegenüber der anderen dominierend sein kann. Es ist nicht zu übersehen, dass die dominierende Erinnerungskultur alle Charakteristiken besitzt, die für das kulturelle Gedächtnis typisch sind. Aber weil sie oft die Stärkung der Erinnerung an die jüngere Vergangenheit als Aufgabe hat, kann sie nicht als kulturelles Gedächtnis bezeichnet werden. Eben eine solche Form der Erinnerung wird hier im Text als Gedächtniskultur bezeichnet, die anderen parallel existierenden hingegen als Erinnerungskulturen. Wenn man das sehr komplizierte Schema von Astrid Erll, und das sei an dieser Stelle erlaubt, uminterpretiert,8 kann man feststellen, dass die Erinnerungskulturen mit Kommunikationsräumen in direkter Verbindung stehen. Es gibt so viele Erinnerungskulturen wie es Kommunikationsräume gibt, in denen sie entstehen. Man kann von Erinnerungskulturen nationaler Gruppen sprechen, aber auch von Kulturen, bei denen soziale Elemente im Vordergrund ste6 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 42000, S. 20 f. 7 Ebd. 8 Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart 2005, S. 36.

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hen. Ein Grund für die Entstehung von mehreren Erinnerungskulturen könnten auch verschieden erinnerte gleiche Ereignisse sein. Doch es gibt noch eine weitere Art von Erinnerungskultur, die für unsere Fragestellung besonders wichtig erscheint. Der deutsche Historiker Langewiesche hat bei der Untersuchung der nationalen Mythen in Belgien festgestellt, dass für die Identität der Flamen und Walonen nicht nur die Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs eine wichtige Rolle spielen, sondern auch manche mittelalterlichen Themen. Die Schlacht vom Goldenen Sporn (Anfang des 14. Jahrhunderts) ist für diese zwei nationalen Gruppen sogar fast noch wichtiger als die Ereignisse des 20. Jahrhunderts.9 Dieses Zusammenspiel von Mythen erlaubte dem deutschen Historiker von Typen zu sprechen: der dominierende wurde von ihm als Gründungsmythos und die anderen als Bestätigungsmythen qualifiziert. Anzumerken ist dabei, dass der mittelalterliche Mythos der Schlacht vom Goldenen Sporn sich schon in der Zwischenkriegszeit besonders stark auf die Bevölkerung Belgiens ausgewirkt hat. Zwischen Mythos und Erinnerungskultur besteht ein direkter Zusammenhang. Aleida Assmann hält Mythos für ein Medium des kollektiven Gedächtnisses und schreibt: »Mythos in diesem Sinne ist eine fundierende Geschichte, die […] mit andauernder Bedeutung ausgestattet ist, die die Vergangenheit in der Gegenwart einer Gesellschaft präsent hält und ihr eine Orientierungskraft für die Zukunft abgewinnt«.10 Die Rolle der in der Zwischenkriegszeit konzipierten Gedächtniskulturen ist für die postkommunistischen Länder von besonderer Bedeutung. Das Konzept »der Rückkehr in die Normalität«, innerhalb dessen die ganze kommunistische Periode als nicht normale Zeit bezeichnet wird und das Zeitalter vor dem Kommunismus als normale Zeit gilt und an das nach dem Zerfall des Systems wieder angeknüpft werden sollte,11 bedeutet auch die Wiederbelebung der Gedächtniskultur der Zwischenkriegszeit. Dies wurde in Litauen deutlich, als in der Wendezeit die frühere Gedächtniskultur mit der Hauptfigur des Großfürsten Vytautas (Ende des 14. bis Anfang des 15. Jahrhunderts) wieder an Omnipräsenz 9 Vgl. Dieter Langewiesche, »Unschuldige Mythen: Gründungsmythen und Nationsbildung in Europa im 19. und 20. Jahrhundert«, in: Kerstin von Linden (Hg.), Kriegserfahrung und nationale Identität in Europa nach 1945, Paderborn 2009, S. 27–41. 10 Vgl. Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 40–41. 11 Peter Niedermüller, »Der Mythos der Gemeinschaft. Geschichte, Gedächtnis und Politik im heutigen Osteuropa«, in: Andrei Corbea-Hoisie u. a. (Hg.), Umbruch im östlichen Osteuropa. Die nationale Wende und das kollektive Gedächtnis, Innsbruck 2004, S. 11–27, hier S. 23 f.

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gewann.12 Ähnliche Entwicklungen können wir auch in Polen beobachten. Obwohl schon in den Kreisen der »Solidarnošč« eine neue Gedächtniskultur mit der Hauptfigur des Warschauer Aufstandes kreiert wurde, war dort die Wiederbelebung des in der Zwischenkriegszeit dominanten Piłsudski-Kultes offensichtlich.13 Vieles weist darauf hin, dass auch in anderen postkommunistischen Ländern ähnliche Prozesse abgelaufen sind. Mittlerweile haben die wiederbelebten Gedächtniskulturen ihre Bedeutung der 90er Jahre verloren und sind in den Bereich der Erinnerungskultur eingegangen. Wenn Ostmittel- und Osteuropa auch aufgrund ihrer kommunistischen Vergangenheit eine prädestinierte Region für die Erforschung von Vergangenheitsvorstellungen der Zwischenkriegszeit in den Erinnerungskulturen darstellen, so sind diese doch nicht in allen Erinnerungskulturen von Staaten dieses Raumes zu finden. Belarus und auch die Ukraine sind Länder von verspäteter Nationsbildung, sie mussten nach der Wende erst eine nationale Vergangenheit erfinden. D. h. auch, dass in den Erinnerungskulturen dieser Länder kaum eine Spur der Zwischenkriegszeit zu finden ist. Das Gleiche lässt sich über Russland sagen, wobei dort auch andere Faktoren ins Spiel kommen. Wie bereits bekannt hat sich das neue Russland beim Aufbau der russischen Gedächtniskultur des Erbes der UdSSR bedient, vor allem, als es den Mythos vom Großen Vaterländischen Krieg zum Grundstein der Gedächtniskultur machte.14 Allerdings gibt es im heutigen Russland auch Versuche, Elemente des zaristischen Imperiums zu revitalisieren und sie zum Bestandteil der neuen russischen Gedächtniskultur zu machen.15 Der Große Vaterländische Krieg bedeutet gleichzeitig eine Zäsur in der öffentlichen Wahrnehmung von Vergangenheit: für die Zeit davor ist in den russischen Gedächtnis- und Erinnerungskulturen kaum etwas zu finden. Damit gehört dieses Land zur Gruppe der Staaten wie Deutschland, Frankreich oder den USA, die ihre Gedächtnis- und Erinnerungskulturen aufgrund der Ereignisse in der Epoche des Nationalismus aufgebaut haben; sie alle

12 Vgl. Alvydas Nikžentaitis, Witold i Jagiełło. Polacy i Litwini we wzajemnym steretypie, Poznań 2000 (Mala Bibliteka, 2), S. 33–34. 13 Vgl. Jarosław Kałucki, »Piłsudski ustępuje papieżowi«, in: Rzeczpospolita, 10.11.2008 (Zugriff am 03.04.2012). 14 Vgl. Joachim Hösler, »Perestroika und Historie. Zur Erosion des sowjetischen Geschichtsbildes«, in: Helmut Altrichter (Hg.), GegenErinnerung. Geschichte als politisches Argument im Transformationsprozeß Ost-, Ostmittel-, und Südosteuropas (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, 61), München 2006, S. 1–26, hier S. 20 f. 15 Vgl. O. J. Malinova, »Tema imperii v sovremennych rossijskich političeskich diskursach«, in: Alexej Miller (Hg.), Nasledija imperini i būdūščeje Rossii, Moskva 2008, S. 59–102.

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sind als Staaten und Gesellschaften mit »kurzem Gedächtnis« zu charakterisieren.16 Diese Begrenzungen schränken den Kreis von Ländern, in denen man den Einfluss mentaler Konstruktionen der Zwischenkriegszeit auf die heutige Außenpolitik untersuchen kann, deutlich ein. Dabei fällt auf, dass die Untersuchungen zu Gedächtnis- und Erinnerungskulturen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein großes Desiderat in den Forschungen sind. Das erschwert komparative Untersuchungen in der Region und zwingt diesen Beitrag, sich auf nur zwei Länder der Region – Polen und Litauen – zu beschränken. Wenn man von der Bedeutung von Vergangenheitsvorstellungen der Zwischenkriegszeit für die heutige Außenpolitik in Polen und in Litauen spricht, ist sie vor allem in der Ostpolitik dieser beiden Staaten zu suchen. Die litauische außenpolitische Doktrin mit Litauen als regionalem Zentrum der Region wird mit den Vergangenheitsbildern des litauischen mittelalterlichen Staates, des Großfürstentum Litauens begründet;17 dagegen hält die Diskussion über »piastische« oder »jagiellonische« Politik in Polen bis heute an. Die Debatten darüber, welche Ausrichtung die polnische Außenpolitik wählen soll, brachen aus, als der Chef des polnischen Außenministeriums Radosław Sikorski am 29. August 2009, am Vorabend des Besuchs des russischen Regierungschefs Vladimir Putin, in einem Aufsatzartikel behauptete, dass die »jagiellonische« Politik mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs gestorben sei.18 Diese Aussage hat eine große Anzahl von Diskussionen in Polen provoziert.19 Doch stehen diese mit der Vergangenheit verbundenen mentalen Konstruktionen tatsächlich in einem Zusammenhang mit den polnischen und litauischen Gedächtniskulturen der Zwischenkriegszeit? Es wäre falsch, die polnische Gedächtniskultur der Zwischenkriegszeit allein auf den Piłsudski-Kult und die Ereignisse der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts 16 Vgl. Alvydas Nikžentaitis, »Identität und Instrument. Geschichte und Außenpolitik in Osteuropa«, in: Zur Erinnerung. Identität dient Legitimität (Osteuropa 8/2010), S. 105– 112, hier S. 112. 17 Vgl. zur Kritik von solcher Position: »Česlovas Laurinavičius, Klausimai, minint Lietuvos vardo tūkstantmetį. Kur veda istorinės atminties formavimas?«, in: Metai 2009, Nr. 7. (Zugriff am 03.04.2012). 18 Min. Sikorski dla »Gazety«: »1 września – lekcja historii«, in: Gazeta Wyborcza, 29.08.2009 (Zugriff am 03.04.2012). 19 Vgl. Die Beschreibung der Diskussion an der Stefan Batory Stiftung: »Zmiany w Europie i na świecie a polska polityka zagraniczna«, in: (Zugriff am 03.04.2012).

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zu reduzieren. Zwar spielte der Sieg der polnischen Armee gegen die Bol’ševiki 1920, der als Wunder an der Weichsel bezeichnet wurde, eine wichtige Rolle für die polnische Gedächtniskultur und ihre antisowjetische Ausrichtung,20 aber die dominierende Erinnerungskultur im damaligen Polen war vielschichtiger. Neben den jüngsten Ereignissen der Vergangenheit hatte die mittelalterliche Geschichte einen wichtigen Stellenwert. Diese These lässt sich sehr gut am Beispiel der Schlacht bei Grunwald (Tannenberg) 1410 illustrieren, in der das polnische und litauische Heer den Deutschen Orden schlugen. In der polnischen Forschung findet man die Auffassung, dass die Bedeutung dieser Schlacht, nachdem sie Anfang des 20. Jahrhunderts den Status eines zentralen Nationalmythos erreicht hatte, in der Zwischenkriegszeit verloren ging und erst am Ende des Zweiten Weltkrieges wiederbelebt wurde.21 Solchen Gedanken ist leicht zu widersprechen, wenn man allein die Denkmalkonstruktionen für Marschall Piłsudski genauer analysiert. 1939 wurde aus Anlass der Weltausstellung in New York ein Denkmal mit zwei Figuren gebaut: Eine stellte den Marschall selbst dar, die andere den polnischen König Jagiełło als Symbol der Schlacht bei Grunwald. Obwohl manchmal die beiden Figuren als zwei selbständige Denkmäler betrachtet werden, ist offensichtlich, dass hier Piłsudskis gedacht wurde, denn die Schlacht bei Grundwald war nur ein wichtiger Bestandteil des Piłsudski-Nationalmythos, der oft als Vorgeschichte des Wunders an der Weichsel betrachtet wurde.22 Die Vermutung, dass Piłsudski ein zentraler Bezugspunkt der polnischen Gedächtniskultur wurde, der auch andere historische Elemente beinhaltete, bestätigen weitere Beispiele. So wurde im Polen der Zwischenkriegszeit am Stammsitz von Władisław Łokietek ein Denkmal nicht für diesen König, sondern für Piłsudski gebaut. In der gesamten polnischen Tradition verbindet man den Namen des Marschalls mit solchen historischen Persönlichkeiten wie Bolesław Chrobry, Stefan Batory, Tadeusz Kościuszko u. a.23 In manchen polnischen Gebieten wie z. B. Wilna weist Piłsudski stärker mittelalterliche Charakterzüge als an anderen Orten im restlichen Polen auf, um die historischen Rechte auf dieses Territorium zu begründen.

20 Heidi Hein, Der Piłsudski-Kult und seine Bedeutung für den polnischen Staat 1926–1939, Marburg 2002, S. 316, 319 ff. 21 Vgl. Robert Traba, »Grunwald. Konstruktion und Dekonstruktion eines nationalen Mythos«, in: Dietmar Albrecht, Martin Thoemmes (Hg.), Mare Balticum. Begegnungen zu Heimat, Geschichte, Kultur an der Ostsee, München 2005, S. 110–132, hier S. 116–117. 22 Vgl. Alvydas Nikžentaitis, »Živilė Mikailienė, Litewski Žalgiris, Polski Grunwald: Dwa toposy narodowe w kontekście analizy porównawczej«, in: Zapiski historyczne 2 (2010), S. 7–21, hier S. 16 u. 18. 23 Vgl. Heidi Hein, Der Piłsudski-Kult, S. 288.

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Mittelalterliches Gedankengut wurde auch in anderen Formen aktualisiert. Für die Fragestellung nach dem Zusammenhang von Gedächtniskultur und Außenpolitik spielte die politische Doktrin von Piłsudski eine besonders wichtige Rolle, bekannt als »jagiellonische Idee«. Diese politische Doktrin verortete Polen in den Grenzen vor den Teilungen des polnisch-litauisches Staates, wertete Polen aber nicht als nationalen, sondern als multiethnischen Staat mit großen Autonomierechten für die nicht polnische Bevölkerung. Die Doktrin sah vor, ukrainische, belorussische und litauische Gebiete an den polnischen Staat anzuschließen, womit sie sich indes nicht nur zum innenpolitischen, sondern auch zum außenpolitischen Programm des polnischen Staates ausformte. Es ist wichtig zu betonen, dass in diesem Programm das sowjetische Russland als Hauptfeind betrachtet wurde.24 Wenn hier von der »jagiellonischen Idee« die Rede ist, darf die andere Konzeption oder »piastische Idee«, die auch in der Zwischenkriegszeit entwickelt wurde und heute noch aktuell ist, nicht vergessen werden. Das von dem Gegner Piłsudskis, Roman Dmowski, formulierte Program verschob die polnischen Staatsgebiete nach Westen auf die quasi ursprünglichen polnischen Gebiete des 10. Jahrhunderts. Der Verzicht auf ukrainische, belorussische und litauische Gebiete im Gedankengut von Roman Dmowski bedeutete zugleich den Verzicht auf die Konfrontation mit Moskau. Damit sollte der polnische »Drang nach Osten« durch den »Drang nach Westen« ersetzt werden.25 Sicherlich haben die beiden hier erwähnten politischen Doktrinen eine sehr starke Transformation erfahren, insbesondere die jagiellonische Idee wurde in ihrem Inhalt stark verändert. Dank polnischer Intellektueller im Exil wie Jerzy Giedroyc und Juliusz Mieroszewski hat sie ihre imperialistischen Inhalte verloren und wurde zum demokratischen Entwicklungsprogramm der Region ULB (Ukraine, Litauen, Belarus einschließlich Russlands).26 Die Gedanken von Giedroyc und Mieroszewski sind den polnischen politischen Eliten sehr gut be24 Vgl. Hans-Jürgen Bömelburg, »Zwischen imperialer Geschichte und Ostmitteleuropa als Geschichtsregion: Oskar Halecki und die polnische ›jagiellonische Idee‹«, in: Frank Hadler, Mathias Mesenhöller (Hg.), Vergangene Größe und Ohnmacht in Ostmitteleuropa: Repräsentationen imperialer Erfahrung in der Historiographie seit 1918, Leipzig 2007, S. 99–130, hier S. 108–115. 25 Jerzy Serczyk, »Die Wandlungen des Bildes vom Deutschen Orden als politischer, ideologischer und gesellschaftlicher Faktor im polnischen Identitätsbewußtsein des 19. und 20. Jahrhunderts«, in: Zenon Hubert Nowak (Hg.), Vergangenheit und Gegenwart der Ritterorden. Die Rezeption und die Wirklichkeit, Torun 2001, S. 55–64. 26 Vgl. Juliusz Mieroszewski, »Rosyjski ›kompleks Polski‹ i obszar ULB«, in: Kultura 9 (324), 1974  (Zugriff am 03.04.2012).

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kannt, die Präsidenten Aleksander Kwaśniewski und Lech Kaczyński haben sie als außenpolitisches Programm genutzt.27 Da über die piastische Idee nach dem Zweiten Weltkrieg nicht so viel diskutiert wurde, hat sie vor allem ihren antideutschen Charakter verloren. In den heutigen polnischen Debatten wird mit der Benutzung jagiellonischer und piastischer Slogans vor allem über die Ausrichtung der polnischen Außenpolitik diskutiert, besonders darüber, wie aktiv der polnische Staat sich im Osten engagieren soll.28 Das Gleiche lässt sich über Litauen sagen. Ursprünglich antipolnische Inhalte des politischen Programms, die an den mittelalterlichen litauischen Staat erinnern, wurden durch Gedanken der Kooperation mit Polen ersetzt, was die Substitution der Leitfigur litauischer Erinnerungskultur zur Folge hatte. An die Stelle der in der Zwischenkriegszeit sehr stark antipolnisch geprägten Figur des Großfürsten Vytautas29 trat der mittelalterliche König Mindaugas – ein Symbol, das die eher westeuropäische Ausrichtung der litauischen Außenpolitik reflektiert.30 Die hier besprochenen Beispiele aus Polen und Litauen weisen darauf hin, dass Vergangenheitsvorstellungen aus der Zwischenkriegszeit auch heutzutage die Außenpolitik dieser beiden ostmitteleuropäischen Staaten prägen. Dabei ist nicht zu übersehen, dass ein solcher Gebrauch der Vergangenheit das Ziel verfolgt, die geführte Außenpolitik in den Augen der eigenen Bevölkerung zu legitimieren. Aber die Legimitierungsfunktion, wenn sie auch dominierend ist, stellt nicht den einzigen Zweck. Die lange Jahre als Staatsdoktrin auch von ausländischen Experten anerkannte Jagiellonen-Idee hat die Annäherung zwischen Polen und der Ukraine ermöglicht. In diesem Prozess spielte die Dekonstruktion von dominierenden Vergangenheitsbildern nicht nur aus Konfliktzeiten zwischen Polen und der Ukraine im 20. Jahrhundert, sondern auch aus früheren Epochen eine wichtige Rolle, was die Forschungen von Martin Aust deutlich belegen.31 27 »Historia stosowana – z Lechem Kaczyńskim, Prezydentem RP, rozmawia Andrzej Nowak«, in: (Zugriff am 03.04.2012). 28 Krzysztof Strachota, »Polska Piastów kontra Polska Jagiellonów«, in: Tygodnik powszechny vom 28.12.2009 (Zugriff am 03.04.2012). 29 Vgl. Alvydas Nikžentaitis, Witold i Jagiełło, S. 26–28. 30 Mathias Niendorf sieht in diesem Akt auch antipolnische Elemente: Mathias Niendorf, »Litauen – ein kleines Land und seine Großfürsten«, in: Rudolf Jaworski u. a (Hg.), Gedächtnisorte in Osteuropa. Vergangenheiten auf dem Prüfstand (Kieler Werkstücke. Reihe F: Beiträge zur osteuropäischen Geschichte, 6), S. 63–80, hier S. 78. Dabei ist dieses durch das Phänomen einer »fließenden Lücke« (»floating Gap«), ein von Jan Assmann eingeführter Begriff, zu erklären. Siehe: Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 48. 31 Martin Aust, Polen und Russland im Streit um die Ukraine. Konkurrierende Erinnerungen an die Kriege des 17. Jahrhunderts in den Jahren 1934–2006, Wiesbaden 2009.

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Gleiches lässt sich in den litauisch-polnischen Beziehungen beobachten. Zwar bleiben hier auf politischer Ebene Konflikte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Tabu-Thema, aber bei der gemeinsamen, konstruktiven Aneignung der Vergangenheit wurde viel erreicht. Die die polnische Außenpolitik dominierende Jagiellonen-Idee und die litauische Neuakzentuierung der Vergangenheit des Großfürstentums könnten als mögliche Erklärung für einen solchen polnisch-litauischen Annäherungsweg dienen. In einer Zeit, in der sich die Orientierung der polnischen Außenpolitik von einer jagiellonischen zu einer piastischen wandelt, verändert sich auch die Erinnerungskultur und einhergehend damit die Vergangenheitskonstruktion der Zwischenkriegszeit. Das Signal, dass Polen bessere Beziehungen zu Russland aufbauen will, kam nicht erst nach der Flugzeugkatastrophe bei Smolensk, sondern viel früher. Es datiert auf den 29. August 2009, den Vorabend des Besuchs von Vladimir Putin, an welchem der Außenminister Polens erklärte, dass die jagiellonische Idee am 1. September 1939 gestorben sei. Der Zeitpunkt, an dem dieser Artikel publiziert wurde, lässt daran keinen Zweifel. Der Chef des Außenministeriums stellte damit klar, dass Polen anstelle einer russlandfeindlichen nunmehr eine ‑freundliche Politik verfolgen wollte. Dieser Wandel der polnischen Außenpolitik 2009 wurde von dem Slogan »piastische Idee statt jagiellonische« begleitet. Er übte Einfluss auf die polnische Ostpolitik aus, was am Beispiel der neuesten Entwicklungen der polnisch-litauischen Beziehungen leicht zu erkennen ist. Noch im Jahr 2010 ließen sich die litauisch-polnischen Beziehungen als sehr gute charakterisieren und Polen und Litauen als strategische Partner bezeichnen. Einen solchen Zustand der zwischenstaatlichen Beziehungen bestätigte ein symbolischer Akt: der polnische Präsident Lech Kaczyński machte kurz vor seinem Tod seinen letzten offiziellen Staatsbesuch in Litauen. Bereits nach der Unterzeichnung des bilateralen Vertrags von 1994 waren die Beziehungen Polens und Litauens für andere Länder als Beispiel für die Überwindung der gemeinsamen historischen Last hervorgehoben worden. Doch solche Ansichten gehörten 2011 schon in die Geschichtsbücher. In den Medien der beiden Länder wird sehr oft der The Economist-Korrespondent Edward Lucas zitiert, der die polnisch-litauischen Beziehungen als die schlechtesten in der ganzen EU charakterisiert hatte.32 Eine so rasante Verschlechterung der zwischenstaatlichen Beziehungen muss genau untersucht werden. Als erstes soll dabei die objektive oder realpolitische Ursache des litauisch-polnischen Konflikts betrachtet werden. 32 Vgl. »Relacje Polski z Litwą najgorsze w UE«, in: Gazeta prawna vom 14.01.2011 (Zugriff am 03.04.2012).

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Obwohl in den litauisch-polnischen Beziehungen bereits Spannungen wegen der Investitionen eines polnischen Ölkonzerns existierten, ist nicht der wirtschaftliche Faktor, sondern die Frage der polnischen Minderheit in Litauen ins Zentrum des polnisch-litauischen Konflikts gerückt worden. Die Vertreter der polnischen Minderheit fordern das Recht auf die polnische Schreibweise von Familien- sowie polnischen Orts- und Straßennamen. Die bilateralen Beziehungen verschlechterten sich 2011 weiter, als das litauische Parlament ein neues Bildungsgesetz verabschiedete, demzufolge in den Schulen der Minderheiten nun die drei Fächer Geschichte, Geographie und Sozialkunde in litauischer Sprache unterrichtet werden müssen, wohingegen die restlichen Fächer weiterhin in der Minderheitensprache stattfinden. Abgesehen von der letzten Gesetzesänderung existierten alle anderen Probleme bereits seit längerer Zeit. Schon im Vertrag von 1994 zwischen Polen und Litauen war den nationalen Minderheiten das Recht zugesprochen worden, ihre Vor- und Familiennamen in einer stärker phonetisch organsierten Form, die als solche mehr mit dem Klang der Aussprache korrespondiert, zu schreiben,33 wobei allerdings nicht festgelegt wurde, ob dazu polnische oder litauische Buchstaben verwendet werden sollten. (So verfügt das litauische Alphabet z. B. nicht wie das polnische über den Buchstaben »w«). Diese Frage sollte endgültig in einem weiteren Vertrag geregelt werden, der jedoch nie vorbereitet wurde. Ähnliche Versprechungen Litauens gab es auch bezüglich der Orts- und Straßennamen. Die Gesamtlage verändert das jedoch nicht: die Situation der polnischen Minderheit in Litauen hat sich in den letzten Jahren nicht verschlechtert, was bedeutet, dass diese Frage nicht die Ursache des polnisch-litauischen Konflikts sein konnte. In den letzten Jahren gab es große innenpolitische Veränderungen in beiden Staaten. In Litauen kam es Ende 2009 zu einem Regierungswechsel: die regierende sozialdemokratische Partei Litauens wurde durch die Konservative Partei (Heimatunion) abgelöst. Der neue Regierungschef Andrius Kubilius wollte auch weiterhin gute Beziehungen zu Polen pflegen. Ein Beweis dafür ist der Gesetzentwurf der neuen Regierung, der die Rechtschreibung der Vor- und Familiennamen der polnischen Minderheit regeln sollte. Dieses Vorhaben bekam aber keine Unterstützung im litauischen Parlament, vor allem weil auch einige Mitglieder der Konservativen Partei gegen diesen Gesetzentwurf stimmten. Diese Abstimmung macht die politischen Fehler der Konservativen Partei deutlich, die sich kurz vor den Parlamentswahlen 2009 mit der Volksnationalen (tautininkų) Partei in der Hoffnung zusammengeschlossen hatte, die Etablie33 Vgl. den Vertragstext: (Zugriff am 08.04. 2012).

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rung der rechtsradikalen Partei verhindern zu können.34 Diese Partei, die auch antipolnisch war,35 gewann aber innerhalb der regierenden Partei Litauens großen Einfluss, was wesentlich die Ergebnisse der Abstimmung des Gesetzes über die Rechtschreibung von Vor- und Familiennamen der nationalen Minderheiten beeinflusste. Obwohl die stark antipolnisch gesinnten Politiker von der Volksnationalen Fraktion 2011 ausgeschlossen wurden,36 hat ihre antipolnische Tätigkeit bis heute tiefe Spuren in der regierenden Partei hinterlassen. Damit lässt sich konstatieren, dass die Tätigkeit der litauischen Nationalisten zu einer der Ursachen des litauisch-polnischen Konflikts wurde. Es gab aber noch eine weitere Ursache für die Verschlechterung der litauisch-polnischen Beziehungen, und die ist auf polnischer Seite zu suchen. Von 2007 bis 2010 änderte sich auch die innenpolitische Lage in Polen. Dabei sollte man nicht nur an die Katastrophe bei Smolensk denken, durch die große Teile der polnischen politischen Eliten ihr Leben verloren, sondern auch an die Parlamentswahl im November 2007. Die Partei von Donald Tusk, die die Wahlen gewann, hatte neue außenpolitische Vorstellungen, die erst nach den Wahlen des neuen polnischen Präsidenten sichtbar wurden. Die neuen Ziele der polnischen Außenpolitik sind einfach zu definieren: Polen will die Beziehungen zu Berlin und Paris als strategischen Partnern ausbauen, gleichzeitigt strebt es bessere Beziehungen mit Russland an. Dieser Wandel der außenpolitischen Prioritäten bekam die Bezeichnung »piastische Idee«, die am klarsten von Krysztof Strachota mit den folgenden Worten popularisiert wurde: »Im Allgemeinen ist die piastische Konzeption als Modernisierung zu verstehen, als Verankerung in Europa und Integration hinsichtlich der führenden europäischen Kräfte (einschließlich näherer Beziehungen zu Deutschland). Schweigend wird die Dominanz der Westausrichtung der Politik gegenüber den ›Abenteurern‹ im Osten befürwortet […]. Für Polemiker bedeutet die ›Untätigkeit im Osten‹ sowohl ›die Errichtung einer hohen Wand

34 Vgl. Ričardas Čekutis, »Tautininkų kelias«, in: (Zugriff am 08.04. 2012). 35 Noch im Herbst 2008 startete diese Partei mit einer antipolnischen Aktion, bei der sie für ihre Ziele die Einführung der Polen-Karte (Karta Polaka) ausnützte. Dieses Dokument, das die Zugehörigkeit einzelner Personen zur polnischen Nation bestätigen sollte, wurde auch von polenfreundlichen Intellektuellen in Litauen sehr heftig kritisiert. Vgl. als Beispiel: »Eglė Digrytė, Neapsispręsta, ar Lenkų kortos savininkai galės prisiekti Lietuvai«, in: (Zugriff am 03.04.2012). 36 Vgl. Rimantas Varanauskas, »Songaila keičiamas Žilinsku: konservatoriams gresia skilimas«, in: (Zugriff am 03.04.2012).

Zwischen Erinnerungs- und Gedächtniskultur 

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zwischen dem europäischen Salon und seinem ewigen Vorraum‹ als auch die ›Abwendung von den östlichen Nachbarn Polens‹«.37

Daraus folgt, dass die Wende der polnischen Außenpolitik oder die »Abwendung von den östlichen Nachbarn Polens« die andere Ursache für die Verschlechterung der litauisch-polnischen Beziehungen gewesen ist. Auch in der Zeit der »strategischen Partnerschaft« zwischen den zwei Staaten stand Polen vor dem Dilemma, was wichtiger sei: gute zwischenstaatliche Beziehungen oder die Lage der polnischen Minderheit in Litauen. Zwischen 1994 und 2009 entschied man sich für die zwischenstaatlichen Beziehungen, so dass die Kräfte, die sich stärker für die polnischen Minderheiten einsetzen wollten, gebremst wurden. Nachdem der Westen und Russland für die polnische Außenpolitik wichtiger wurden, gab es keine politische Notwendigkeit mehr, diese Kräfte in der polnischen Gesellschaft zu blockieren, und so wurde der Weg zu Konflikten plötzlich frei. Die Frage der Wichtigkeit der polnischen Minderheit in Litauen für die polnische Außenpolitik zeigt auch, wie »Nation« in Polen definiert wird. Schon der deutsche Politologe Sebastian Gerhardt hat auf zwei Nationsbegriffe, die heutzutage in Polen existieren, aufmerksam gemacht. Er sprach von Staats- und einer Kultur- bzw. Sprachnation.38 Vor allem Anhänger der zweiten Variante beharrten mit Hinweis auf die Minderheitenrechte auf einer harten Linie gegenüber östlichen Nachbarn bzw. Litauen; nach 2009 bekamen sie auch das Recht, die östliche Staatspolitik Polens zu bestimmen. Das von Gerhardt vorgeschlagene Prinzip, die Außenpolitik im Zusammenhang mit dem Nationsbegriff zu analysieren, erklärt, warum die litauische Seite den Forderungen des polnischen Staates nicht nachgibt. Es scheint, dass in Litauen der Begriff der Kultur- bzw. Sprachnation noch stärkere Wurzeln hat. Al-

37 Krzysztof Strachota, »Polska Piastów kontra Polska Jagiellonów«: »›Koncepcja piastowska‹ rozumiana jest zwykle jako modernizacja, zakorzenienie w Europie i integracja z głównym nurtem polityki europejskiej (w tym bliskie relacje z Niemcami). Milcząco zakłada dominację zachodniego wektora polityki nad ›awanturami‹ na Wschodzie oraz dominację etnosu polskiego i pragmatyczną realizację jego – i państwa, które go reprezentuje – interesu politycznego. Dla polemistów zaś oznacza to ›bezczynność na Wschodzie‹, ›wysoką ścianę oddzielającą europejski salon od wiecznego przedpokoju‹ oraz ›odwracanie się plecami od wschodnich sąsiadów Polski‹«. 38 Sebastian Gerhardt, Polska Polityka Wschodnia. Die Außenpolitik der polnischen Regierung von 1989 bis 2004 gegenüber den östlichen Nachbarstaaten Polens (Russland, Litauen, Weißrussland, Ukraine), Marburg 2007, S. 227.

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lein die Tatsache, dass in der Stadt Marijampole 2009 ein Denkmal für die Muttersprache erbaut wurde, könnte als bester Beweis dafür dienen.39 Die Bedeutung der Sprache wird deutlich, wenn man ihre Rolle mit der Gedächtniskultur Litauens vergleicht. Obwohl die litauische Gedächtniskultur sehr stark antirussisch geprägt ist, stört diese Tatsache nicht dabei, Schriftsteller wie Petras Cvirka oder Salomeja Neris, die 1940 den »freiwilligen« Eintritt Litauens in die UdSSR »ausgehandelt« hatten, weiter zu verehren. Sie gelten unvermindert als Personen, die sich für die litauische Sprache verdient gemacht hatten. Deswegen blieben ihre Denkmäler auch nach der Wende 1989/1991 unberührt. Das Beispiel der gegenwärtigen litauisch-polnischen Beziehungen zeigt sehr deutlich die Bedeutung der nationalen Identität für die internationalen Beziehungen. In deren Kontext sollte man auch nach dem Platz von Vergangenheitsvorstellungen der Zwischenkriegszeit für die heutige Außenpolitik suchen. Der Fall der polnisch-litauischen Beziehungen deutet darauf hin, dass Geschichtsbilder 1) für die Begründung eines Politikwechsels gebraucht werden und dabei einen sehr starken innenpolitischen Akzent haben, 2) für die symbolische Kodierung des außenpolitischen Handelns genutzt werden und dabei eine wichtige Kommunikationsform darstellen. Diese ersten Untersuchungen zum Thema reichen sicherlich nicht aus, um das ganze Spektrum des Gebrauchs von Vergangenheitsvorstellungen aufzuzeigen. Die hier angeführten Beispiele sollen vielmehr als Anregung dienen, sich verstärkt mit diesem Thema zu befassen.

39 Loreta Juodzevičienė, »Marijampolėje atidengtas paminklas Tautai ir Kalbai«, in: (Zugriff am 03.04.2012).

Autorenverzeichnis

Jan C. Behrends, Dr. Leiter des Projektes »Physical Violence in Late Socialism« am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam; Lehrbeauftragter für neueste und osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin Ragna Boden, Dr. Staatsarchivrätin am Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Düsseldorf; zuvor Akademische Rätin am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Universitäten Bochum und Gießen Robert Brier, Dr. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Warschau Natalia Donig, M.A. Promotionsprojekt über die sowjetische Kulturpolitik gegenüber den beiden deutschen Staaten von 1953 bis 1961 an der Universität Konstanz, Fachrichtung Osteuropäische Geschichte Lars Karl, Dr. wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (GWZO) Nikolaus Katzer, Prof. Dr. Universitätsprofessor, Direktor des Deutschen Historischen Instituts Moskau Isabelle de Keghel, Dr. Habilitandin und Lehrbeauftragte in der Fachrichtung Osteuropäische Geschichte der Universität Konstanz Martin Lutz, Dr. Promotion in der Fachrichtung Osteuropäische Geschichte der Universität Konstanz, Lehrbeauftragter an den Universitäten Konstanz, Heidelberg sowie an der Humboldt-Universität zu Berlin; freie Forschungstätigkeit im Bereich der Wirtschaftsgeschichte

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Autorenverzeichnis

Alvydas Nikžentaitis, Prof. Dr. Professor am Institut für die Geschichte Litauens, Universität Vilnius, Leiter des Forschungsprogramms »Erinnerungskulturen« Olga Pavlenko, Dr. Universitätsdozentin, Stellvertretende Direktorin des Instituts für Geschichte und Archivwissenschaften der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität Moskau, Leiterin der Abteilung für Internationale Beziehungen Bianka Pietrow-Ennker, Prof. Dr. Professorin in der Fachrichtung Osteuropäische Geschichte der Universität Konstanz, Mitglied des Exzellenzclusters »Kulturelle Grundlagen von Integration« Oliver Reisner, Dr. Attaché der Delegation der Europäischen Union in Georgien, Mitglied der Studiengruppe für Schwarzmeer- und Kaukasusstudien an der Universität von Georgien, Tbilisi; Lehrbeauftragter an der Staatlichen Universität Tbilisi Malte Rolf, Prof. Dr. Professor für Geschichte Mittel- und Osteuropas an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg Brigitte Studer, Prof. Dr. Professorin für Schweizer und Neueste Allgemeine Geschichte, Universität Bern Ricarda Vulpius, Dr. Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Fachrichtung Geschichte Osteuropas und Südosteuropas der Ludwig-Maximilians-Universität München Elena Zubkova, Prof. Dr. Leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Russische Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften, Professorin für Neueste Geschichte Russlands an der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität Moskau Sergej Zubkov, Dr. Leitender Spezialist der Abteilung für Informatik und Informationstechnologien der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität Moskau

Karten

400 

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Karten

Aus: Studienhandbuch östliches Europa. Bd. 2: Geschichte des russischen Reiches und der Sowjetunion, hrsg. von Thomas M. Bohn und Dietmar Neutatz. Köln, Weimar, Wien 2002.

KLAUS KÜNZEL (HG.)

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