Das (franko-)algerische Kino: Eine filmgeschichtliche Studie aus transnationaler Perspektive 9783631661819, 3631661819

Das algerische Kino begleitet die Geschichte des Landes seit dem Unabhängigkeitskrieg. Es reflektiert Entwicklungen und

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Das (franko-)algerische Kino: Eine filmgeschichtliche Studie aus transnationaler Perspektive
 9783631661819, 3631661819

Table of contents :
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Inhalt
I Einleitung
II Politisch-historische und theoretische Hintergründe
1. Homogenisierungen im kolonialen und unabhängigen Algerien
2. Guerres de mémoires und nationale Erinnerungspolitik
3. Theoretische Ausgangsperspektiven
3.1. Identitätskonzepte aus postkolonialer Sicht
3.2. Nation und Geschichte als Identitätsreferenzen
4. Kino zwischen nationalen und transnationalen Positionierungen
4.1. Nationale und transnationale Dimensionen in der Filmwissenschaft
4.2. Filmschaffen im Migrationskontext
III Filmgeschichtlicher Abriss
1. Vorgeschichte – Kolonialfilme und Einführung des Kinos in Algerien
1.1. Algerien als Bühne europäischer Projektionen
1.2. Repräsentationen des Algerienkriegs im französischen Kino
2. Zeugnisse des Kriegs: Erste (franko-)algerische Filme im Befreiungskampf
3. Das algerische Kino seit der Unabhängigkeit
3.1. Organisation des Kinosektors
3.2. Das Kino im Zeichen nationaler Konstruktion – cinéma moudjahid
3.3. Umbrüche im „neuen algerischen Kino“ – cinéma djidid
3.4. Diversifizierungen über Grenzen hinaus
3.5. Krise und Transnationalisierung
3.5.1. Zusammenbruch des Kinosektors und filmischer Widerstand in den 1990er Jahren
3.5.2. Ausblick auf das (franko-)algerische Kino
IV Analyseteil
1. Nationale Konstruktionen: Erzählungen des Freiheitskampfes im cinéma moudjahid
1.1. Zwischen authentifizierenden und antikolonialen Strategien
1.1.1. Auseinandersetzung mit der traumatischen Gewaltgeschichte – Une si jeune paix
Résumé
1.1.2. Die „Geburt“ der algerischen Nation – La Bataille d’Alger
Résumé
1.2. Frauenbilder in der filmischen Repräsentation des Freiheitskampfes
1.2.1. Frauen in La Bataille d’Alger zwischen Mimikry und moudjahida
1.2.2. „Mutter Algerien“ als Symbol der Nation in Le Vent des Aurès
Résumé
1.3. Bestärkung nationaler Einheitsdiskurse im Staatskino
1.3.1. Helden- und Genremuster in Les Hors-la-loi
1.3.2. Kulturelle Exklusionen in L’Opium et le bâton
1.3.3. Politische Auslassungen in Chronique des années de braise
Repräsentationen der kolonialen Unterdrückung und der politischen Bewusstwerdung
Repräsentation des Freiheitskampfes und politische Aussparungen
Résumé
2. Das Kino im Umbruch: Neuperspektivierung von Gesellschaft und Geschichte
2.1. Reflexionen gesellschaftlicher Prozesse und Widersprüche im cinéma djidid
2.1.1. Klassenkonflikte und Entwurzelung in Les Déracinés
2.1.2. Ambivalenzen der Modernisierung in Le Charbonnier
Résumé
2.2. Innovationen des cinéma djidid
2.2.1. Tahia ya Didou – Ein heterogenes Algier
2.2.2. Omar Gatlato – Die Stimme des Individuums
Das Individuum im gesellschaftlichen Korsett
Subjektive und brüchige Identitätskonstruktionen
Résumé
2.3. Weibliche Perspektiven auf Geschichte und Gegenwart
2.3.1. Frauen zwischen Einengung und Aufbegehren
2.3.2. Neuschreiben der Geschichte in La Nouba des femmes du Mont Chenoua
Fragmentation und subversive Erzählstrukturen
Oralität und Heterogenität
Résumé
2.4. Entmystifizierung des Freiheitskampfes in den 1980er Jahren
2.4.1. Les folles années du twist – Satirische Dekonstruktion des nationalen Heroismus
2.4.2. Les Sacrifiés – Inneralgerische Konflikte im Freiheitskampf
Résumé
3. Filmischer Widerstand: Das Kino im Kontext des Bürgerkriegs
3.1. Zerbrochene Nation und gescheiterter Staat
3.1.1. Youcef und die Desillusionierung
3.1.2. Bab el-oued city und die gesellschaftliche Radikalisierung
Verdrängte Heterogenität und Gewaltsteigerung
Die Position der Frau als Spiegelung der gesellschaftlichen Degeneration
Franko-algerischeVerwicklungen in Gegenwart und Vergangenheit
Résumé
3.2. Auftritt des cinéma amazigh
3.2.1. Politischer Hintergrund
3.2.2. Die schwierige „Geburt“ des berberischen Films
3.2.3. Pluralisierung algerischer Geschichte und Identität
Umstrittene Identitätsforderungen am Beispiel von La Colline oubliée
Einschreiben berberischer Identität in die algerische Nation und Geschichte
Weiblicher Widerstand in La Montagne de Baya
Résumé
3.3. Repräsentationen des Bürgerkriegs und Widerstand der Frauen
3.3.1. Visualisierung und Erleben des Terrors in Rachida
Sichtbarkeit und Spürbarkeit des Terrors
Kontraste und Gesten des Widerstands
3.3.2. Plädoyer für ein Ende der Gewalt in Barakat
Weiblicher Protest und alternative Entwürfe Algeriens – Frauen erobern den Raum
Gegenwart der Vergangenheit – Echos des Algerienkriegs
Résumé
3.3.3. Provokation und marginalisierte Perspektiven in Viva Laldjérie
Heterogenität über Titel und gesprochene Sprache
Provokative Figurenentwürfe
(Frei-)Räume, Einengung und vielschichtige Entwürfe Algeriens
Résumé
4. Geschichte und Identität transnational und fragmentiert
4.1. Partikulare Geschichten und konkurrierende Gedächtnisse
4.1.1. Verdrängte Ereignisse und Gruppen
4.1.2. Gemeinsame und komplexe Geschichte(n)
4.1.3. Indigènes und Hors-la-loi – Algerische Erinnerungen in Frankreich
Indigènes – Neuperspektivierung eines transnationalen Erinnerungsortes
Hors-la-loi – Algerische Erinnerungen zwischen Heroismus und Komplexität
Sétif als algerischer Erinnerungsort und Neurahmung des Algerienkriegs
Zwischen verschiedenen Positionen und tradierten nationalen Heldenmustern
Résumé
4.2. Franko-algerische Identitäten: Ambivalente und prozessuale Entwürfe
4.2.1. Überkreuzungen und Fragilität in Salut Cousin!
4.2.2. Das Spiel mit Identität in Beur Blanc Rouge
4.2.3. Il était une fois dans l’oued – Identität als Fiktion
Résumé
4.2.4. Exils – Identität und Geschichte in Bewegung
Pluralität und Bewegung über Plot und Genreverbindungen
Gemeinsame Geschichte und Identitätskonflikte
Geschichte zwischen Nostalgie, Subjektivität und Mehrdeutigkeit
Transkulturelle (Migrations-)Räume und Überkreuzungen von Geschichte und Gegenwart
Hybridität und Beweglichkeit über Musik und Kameraverfahren
Résumé
Bewegung und Flucht
V Schlussbemerkungen
Danksagung
Quellen
Bibliographie
Konsultierte Webseiten
Filmographie
Enges Analysekorpus
Erweitertes Reflexionskorpus
Weitere zitierte Filme

Citation preview

Méditerranée: Littératures · Cultures Mittelmeer: Literaturen · Kulturen

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Das (franko-)algerische Kino

Band 3

Eine filmgeschichtliche Studie aus transnationaler Perspektive

Verena Domberg studierte Romanistik und Kulturwissenschaft an der Universität Bremen und an der Université Charles-de-Gaulle Lille 3. Ihre Forschungsschwerpunkte waren postkoloniale und transkulturelle Studien sowie maghrebinisch-französische Geschichte, Literatur und Film.

MLCK 03_ 266181_Domberg_GR_A5HC PLE.indd 1

Verena Domberg · Das (franko-)algerische Kino

Das algerische Kino begleitet die Geschichte des Landes seit dem Unabhängigkeitskrieg. Es reflektiert Entwicklungen und Probleme des modernen Algerien, dessen enge und konfliktreiche Beziehung zu Frankreich sowie die nationale Krise im Bürgerkrieg. Aus filmhistorischer, transnationaler und postkolonialer Sicht bietet diese Studie Einblick in mehr als ein halbes Jahrhundert (franko-)algerische Filmproduktion. Anhand eines umfangreichen Korpus werden mit der Konstruktion von Geschichte und Identität zwei Zentralthemen dieses Kinos ergründet. In exemplarischen Analysen untersucht die Arbeit Klassiker wie La Bataille d’Alger oder Chronique des années de braise, aber auch zahlreiche andere, dem europäischen Publikum weniger bekannte, Filme.

www.peterlang.com

Verena Domberg

ISBN 978-3-631-66181-9

25.07.16 KW 30 10:30

Méditerranée: Littératures · Cultures Mittelmeer: Literaturen · Kulturen

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Das (franko-)algerische Kino

Band 3

Eine filmgeschichtliche Studie aus transnationaler Perspektive

Verena Domberg · Das (franko-)algerische Kino

Das algerische Kino begleitet die Geschichte des Landes seit dem Unabhängigkeitskrieg. Es reflektiert Entwicklungen und Probleme des modernen Algerien, dessen enge und konfliktreiche Beziehung zu Frankreich sowie die nationale Krise im Bürgerkrieg. Aus filmhistorischer, transnationaler und postkolonialer Sicht bietet diese Studie Einblick in mehr als ein halbes Jahrhundert (franko-)algerische Filmproduktion. Anhand eines umfangreichen Korpus werden mit der Konstruktion von Geschichte und Identität zwei Zentralthemen dieses Kinos ergründet. In exemplarischen Analysen untersucht die Arbeit Klassiker wie La Bataille d’Alger oder Chronique des années de braise, aber auch zahlreiche andere, dem europäischen Publikum weniger bekannte, Filme.

Verena Domberg studierte Romanistik und Kulturwissenschaft an der Universität Bremen und an der Université Charles-de-Gaulle Lille 3. Ihre Forschungsschwerpunkte waren postkoloniale und transkulturelle Studien sowie maghrebinisch-französische Geschichte, Literatur und Film.

Verena Domberg

www.peterlang.com

MLCK 03_ 266181_Domberg_GR_A5HC PLE.indd 1

25.07.16 KW 30 10:30

Das (franko-)algerische Kino

MÉDITERRANÉE: LITTÉRATURES · CULTURES MITTELMEER: LITERATUREN · KULTUREN Herausgegeben von Elisabeth Arend und Elke Richter

BAND 3

Verena Domberg

Das (franko-)algerische Kino Eine filmgeschichtliche Studie aus transnationaler Perspektive

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Bremen, Univ., Diss., 2014 Diese Veröffentlichung lag dem Promotionsausschuss Dr. phil. der Universität Bremen als Dissertation vor. Gutachterinnen: Prof. Dr. Elisabeth Arend, Prof. Dr. Cornelia Ruhe. Das Kolloquium fand am 28.2.2014 statt. Der ursprüngliche Text mit dem Titel "50 Jahre Geschichts- und Identitätskonstruktionen im (franko-)algerischen Kino" umfasste im Original 410 Seiten und wurde um 140 Seiten gekürzt. Umschlagabbildung: © Verena Domberg

D 46 ISSN 1865-293X ISBN 978-3-631-66181-9 (Print) E-ISBN 978-3-653-05823-9 (E-PDF) E-ISBN 978-3-631-69598-2 (EPUB) E-ISBN 978-3-631-69599-9 (MOBI) DOI 10.3726/978-3-653-05823-9 © Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2016 Alle Rechte vorbehalten. Peter Lang Edition ist ein Imprint der Peter Lang GmbH. Peter Lang – Frankfurt am Main · Bern · Bruxelles · New York · Oxford · Warszawa · Wien Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Diese Publikation wurde begutachtet. www.peterlang.com

Inhalt I Einleitung............................................................................................................9 II Politisch-­historische und theoretische Hintergründe..................19 1. Homogenisierungen im kolonialen und unabhängigen Algerien............19 2. Guerres de mémoires und nationale Erinnerungspolitik............................28 3. Theoretische Ausgangsperspektiven.............................................................34 3.1. Identitätskonzepte aus postkolonialer Sicht.......................................... 35 3.2. Nation und Geschichte als Identitätsreferenzen................................... 39 4. Kino zwischen nationalen und transnationalen Positionierungen..........45 4.1. Nationale und transnationale Dimensionen in der Filmwissenschaft....................................................................................... 47 4.2. Filmschaffen im Migrationskontext....................................................... 52

III Filmgeschichtlicher Abriss........................................................................59 1. Vorgeschichte – Kolonialfilme und Einführung des Kinos in Algerien.......................................................................................................59 1.1. Algerien als Bühne europäischer Projektionen..................................... 59 1.2. Repräsentationen des Algerienkriegs im französischen Kino............ 64 2. Zeugnisse des Kriegs: Erste (franko-)algerische Filme im Befreiungskampf.............................................................................................67 3. Das algerische Kino seit der Unabhängigkeit..............................................69 3.1. Organisation des Kinosektors................................................................. 69 3.2. Das Kino im Zeichen nationaler Konstruktion – cinéma moudjahid..................................................................................... 74 3.3. Umbrüche im „neuen algerischen Kino“ – cinéma djidid................... 78 3.4. Diversifizierungen über Grenzen hinaus............................................... 82 3.5. Krise und Transnationalisierung............................................................ 86 3.5.1. Zusammenbruch des Kinosektors und filmischer Widerstand in den 1990er Jahren.............................................. 86 3.5.2. Ausblick auf das (franko-)algerische Kino................................ 89

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IV Analyseteil.........................................................................................................93 1. Nationale Konstruktionen: Erzählungen des Freiheitskampfes im cinéma moudjahid...........................................................................................96 1.1. Zwischen authentifizierenden und antikolonialen Strategien............ 97 1.1.1. Auseinandersetzung mit der traumatischen Gewaltgeschichte – Une si jeune paix........................................ 98 1.1.2. Die „Geburt“ der algerischen Nation – La Bataille d’Alger....................................................................... 107 1.2. Frauenbilder in der filmischen Repräsentation des Freiheitskampfes...................................................................................... 120 1.2.1. Frauen in La Bataille d’Alger zwischen Mimikry und moudjahida.................................................................................. 121 1.2.2. „Mutter Algerien“ als Symbol der Nation in Le Vent des Aurès...................................................................................... 126 1.3. Bestärkung nationaler Einheitsdiskurse im Staatskino...................... 135 1.3.1. Helden- und Genremuster in Les Hors-­la-loi......................... 137 1.3.2. Kulturelle Exklusionen in L’Opium et le bâton........................ 141 1.3.3. Politische Auslassungen in Chronique des années de braise....................................................................................... 144 2. Das Kino im Umbruch: Neuperspektivierung von Gesellschaft und Geschichte............................................................................................. 157 2.1. Reflexionen gesellschaftlicher Prozesse und Widersprüche im cinéma djidid............................................................................................ 158 2.1.1. Klassenkonflikte und Entwurzelung in Les Déracinés........... 161 2.1.2. Ambivalenzen der Modernisierung in Le Charbonnier........ 165 2.2. Innovationen des cinéma djidid............................................................ 172 2.2.1. Tahia ya Didou – Ein heterogenes Algier................................ 174 2.2.2. Omar Gatlato – Die Stimme des Individuums....................... 179 2.3. Weibliche Perspektiven auf Geschichte und Gegenwart.................... 188 2.3.1. Frauen zwischen Einengung und Aufbegehren..................... 190 2.3.2. Neuschreiben der Geschichte in La Nouba des femmes du Mont Chenoua....................................................................... 195 2.4. Entmystifizierung des Freiheitskampfes in den 1980er Jahren......... 204 2.4.1. Les folles années du twist – Satirische Dekonstruktion des nationalen Heroismus......................................................... 205 2.4.2. Les Sacrifiés – Inneralgerische Konflikte im Freiheitskampf............................................................................ 211 3. Filmischer Widerstand: Das Kino im Kontext des Bürgerkriegs­.......... 215 3.1. Zerbrochene Nation und gescheiterter Staat....................................... 217 6

3.1.1. Youcef und die Desillusionierung............................................. 218 3.1.2. Bab el-­oued city und die gesellschaftliche Radikalisierung........................................................................... 223 3.2. Auftritt des cinéma amazigh.................................................................. 239 3.2.1. Politischer Hintergrund............................................................. 240 3.2.2. Die schwierige „Geburt“ des berberischen Films................... 242 3.2.3. Pluralisierung algerischer Geschichte und Identität.............. 244 3.3. Repräsentationen des Bürgerkriegs und Widerstand der Frauen................................................................................................ 255 3.3.1. Visualisierung und Erleben des Terrors in Rachida.............. 256 3.3.2. Plädoyer für ein Ende der Gewalt in Barakat!........................ 267 3.3.3. Provokation und marginalisierte Perspektiven in Viva Laldjérie....................................................................................... 276 4. Geschichte und Identität transnational und fragmentiert..................... 290 4.1. Partikulare Geschichten und konkurrierende Gedächtnisse............ 290 4.1.1. Verdrängte Ereignisse und Gruppen....................................... 291 4.1.2. Gemeinsame und komplexe Geschichte(n)............................ 297 4.1.3. Indigènes und Hors-­la-loi – Algerische Erinnerungen in Frankreich............................................................................... 302 4.2. Franko-­algerische Identitäten: Ambivalente und prozessuale Entwürfe................................................................................................... 320 4.2.1. Überkreuzungen und Fragilität in Salut Cousin!................... 321 4.2.2. Das Spiel mit Identität in Beur Blanc Rouge........................... 326 4.2.3. Il était une fois dans l’oued – Identität als Fiktion................... 331 4.2.4. Exils – Identität und Geschichte in Bewegung....................... 336

V Schlussbemerkungen................................................................................ 361 Danksagung.......................................................................................................... 369 Quellen.................................................................................................................... 371 Bibliographie..................................................................................................... 371 Filmographie..................................................................................................... 382

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I Einleitung Eigentlich existiere das algerische Kino doch gar nicht mehr – so hört man nicht selten Stimmen von Kritikern und Cineasten zu dem hier gewählten Gegenstand. Hintergrund für derartige Äußerungen sind die existenziellen Schwierigkeiten, in dem sich das Kino in Algerien seit über 20 Jahren befindet. Mit der Dekolonisation des Landes entstanden und in seiner Blütezeit zwischen den 1970er und 1980er Jahren einst die produktivste Filmwirtschaft im Maghreb, befindet sich das algerische Kino seit den 1990er Jahren und dem Zusammenbruch des staatlichen Filmsektors in einer andauernden Krise und sieht seine Produktion auf ein Minimum geschrumpft. Warum sollte sich eine deutsche Wissenschaftlerin also gerade mit diesem marginalen, vor allem aber ‚totgesagten‘ Kino beschäftigen? Fakt ist, dass die Existenz des algerischen Kinos durchaus prekär ist, versteht man darunter allein die Prozesse der Filmproduktion und -rezeption in Algerien. Trotz des desolaten Zustands – verstärkt durch mangelnde Distributionsstrukturen und eine geringe Anzahl intakter Kinosäle – kommen jedoch auch in jüngerer Zeit neue Impulse von enga­gierten Cineasten, die das Filmschaffen mit ihren Werken wiederbeleben. Letztere entstehen teilweise in Algerien, vermehrt aber auch außerhalb, hauptsächlich in Frankreich. Will man die Entwicklungen und Charakteristika des algerischen Kinos betrachten, so ist es also notwendig, seine Perspektive über einen engen nationalen Rahmen hinaus zu erweitern. Eine derartige Sichtweise, die Produktionen algerischer Regisseur/innen im Exil und Koproduktionen einbezieht, erlaubt es, neben einem begründeten Interesse an der Geschichte des Kinos in Algerien auch die filmische Kreativität zu erfassen, die sich in transnationalen Konstellationen äußert. Die vorliegende Arbeit optiert somit für ein weites Verständnis des algerischen Kinos und analysiert aus transnationaler Perspektive ein in mehrfacher Hinsicht grenzüberschreitendes Filmkorpus. Denn sowohl die Produktionsseite, die identitären und künstlerischen Orientierungen der Regisseure/innen als auch die thematisch-­ästhetischen Verhandlungen der filmischen Artefakte selbst sind Ausdruck von dynamischen Hybridisierungsprozessen. Die Arbeit intendiert, die Spannungen und Transformationen dieses facettenreichen Kinos aufzugreifen. Mit Blick auf ein größeres Auswahlkorpus an algerischen und franko-­ algerischen Spielfilmen, das einen Entstehungszeitraum von den 1960er Jahren bis in die heutige Zeit umfasst, wird den Entwicklungen und Positionierungen des Kinos nachgegangen. Dazu werden die Untersuchungen nicht auf einen einzigen Aspekt zugespitzt. Sie orientieren sich vielmehr an der Leitfrage nach verschie9

denen Konzeptionen von Identität und Geschichte, die es zusammen mit einer film­historischen Perspektive ermöglicht, die Vielfalt dieses Kinos zu erfassen. Identitätsproblematiken und Geschichtsnarrationen bilden eines der konstanten Merkmale im (franko-)algerischen Film­schaffen. An ihnen können zugleich Kontinuitäten und Transformationen abgelesen werden. Dabei variieren nicht nur die Stimmen und Urheber der Filme, indem allmählich verschiedene Gruppen ihre eigene Geschichte und Identität einfordern, sondern es verändern sich auch die Herangehensweisen und Sichtweisen bezüglich dieser Kategorien. Die verhandelten Themenfelder reichen von der Entstehung der Nation im Algerienkrieg über gesellschaftliche Umbrüche, den Bürgerkrieg der 1990er Jahre bis hin zu Migrationsproblematiken. In den Analysen des Filmmaterials wird herausgearbeitet, wie in den einzelnen Werken nationale Diskurse formuliert, stabilisiert oder aber dekonstruiert werden und alternative Perspektiven zum Ausdruck kommen. Die Betrachtung eines relativ großen, heterogenen Korpus gibt den Blick auf die Veränderungen und die in ihren Funktionen verschiedenen algerischen Kinos frei – vom anti­kolonialen Kino und Instrument nationaler Konstruktion bis hin zum Sprachrohr marginaler und oppositioneller Stimmen. Das Korpus umfasst über 30 enger betrachtete Filme und etwa ebenso viele Werke, die als weiterer Referenzrahmen herangezogen werden.1 Die gemeinsamen Kriterien sind vor allem die Auseinandersetzung mit der franko-­algerischen Geschichte und damit verbundenen Identitäts­problematiken. Der Fokus liegt auf Algerien; dennoch vollzieht die Arbeit die sich in der Geschichte manifestierenden Verbindungen und Dynamiken des Filmschaffens zwischen Algerien und Frankreich nach. In das Analysekorpus aufgenommen wurden solche Filme, die sich in exemplarischer Weise den gewählten Themen widmen und entweder für bestimmte Tendenzen oder besondere Neuerungen stehen. Das Korpus spiegelt also in sich die Vielfalt des Kinos und ist, allen Einschränkungen zum Trotz, repräsentativ für dessen Charakteristika und Bewegungen, die die vorliegende Arbeit aufzeigen möchte. Zwar haben die meisten hier analysierten Filme Preise auf internationalen Filmfesten gewonnen, und einige von ihnen sind sogar durchaus auch kommerziell erfolgreich. Insgesamt sind aber die algerischen Filme international sowie auch in Algerien selbst sehr schlecht distribuiert und häufig nur auf Festivals zu 1 Sofern dies zur Diskussion bestimmter Fragen erforderlich ist, werden auch TV-­ Produktionen in die Analyse einbezogen; eine systematische Beachtung dieses Bereichs der audiovisuellen Produktion ist im Rahmen dieser Studie weder intendiert noch möglich. Dasselbe gilt für den Dokumentarfilmsektor, der punktuell berücksichtigt wird, dessen nähere Betrachtung jedoch Stoff für eine eigene Arbeit liefert.

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sehen. Daraus ergaben sich für die Arbeit erhebliche Schwierigkeiten in der Materialbeschaffung. Besonders die älteren Filme sind kaum zugänglich und können, wenn überhaupt, teilweise nur in Kinematheken eingesehen werden.2 Mittlerweile sind allerdings mehr und mehr Filme (oft ohne Untertitel) auf YouTube zu sehen.3 Spannungen zwischen nationaler und transnationaler Verortung sowie diverse kulturelle Einflüsse begleiten das algerische Kino seit seinen Ursprüngen und sind sowohl in den ästhetischen Orientierungen als auch in den Identitätsfragen der Filme angelegt. Die Verhandlung von Identität und Geschichte begründet sich besonders aus der 132-jährigen französischen Kolonisation, vor deren Hintergrund das Kino zu betrachten ist. Koloniale Praktiken, Diskurse und Institutionen haben nicht nur zu ihrer Zeit ein System der Ausbeutung geschaffen, sondern auch ein koloniales Erbe hinterlassen, das bis heute auf mehrfache Weise präsent ist. Die Konflikte und Beziehungen zwischen ehemals Kolonisierten und Kolonisatoren bestehen auf verschiedenen Ebenen (politisch, wirtschaftlich, kulturell) fort. Sie wirken sich auf das Kulturschaffen der einst dominierten Länder wie Algerien ebenso wie auf die künstlerische Produktivität im Migrationskontext aus. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Kolonisation, die daraus resultierenden Identitätsfragen und die Suche nach eigenen Ausdrucksweisen sind zentral für die literarische und filmische Produktion. Dabei bleiben sprachliche und kulturelle Verbindungen zum ehemaligen Kolonisator bestehen. Besonders in der Migrationssituation und den sich generierenden transnationalen, diasporischen Kulturen entstehen so Schreibweisen der Ambivalenz, Vielfalt und Polyphonie, die linguistische, kulturelle und nationale Grenzen transzendieren (vgl. Gafaïti / Lorcin / Troyansky 2005: 11 ff.).

2 Einige der Filme konnte ich nur dank der retrospektiven Filmreihen auf Festivals sichten, z. B. auf dem jährlichen Pariser Maghreb des films oder in Archiven der Bibliothèque nationale française, der Cinémathèque française, dem Centre culturel algérien in Paris oder der Deutschen Kinemathek in Berlin. Daneben haben mir einige ältere Fernsehmitschnitte aus dritter Hand dazu verholfen, mein Material um bedeutende algerische Filmklassiker zu erweitern. Aufgrund der Umbrüche in den letzten Jahren innerhalb der Cinémathèque d’Alger war eine Kooperation mit dieser für das algerische Kino zentralen Institution bedauerlicherweise nur eingeschränkt möglich. Angesichts der schweren Zugänglichkeit sowie der teils zu geringen Bildqualität des Materials ist die Arbeit mit nur wenigen und auf die Filme ungleich verteilten Bildern versehen. 3 Die analysierten arabischen und berberophonen Filme habe ich mit französischen Untertiteln gesehen. Die Filmtitel werden in dieser Arbeit primär auf Französisch angegeben; dies begründet sich durch die Zirkulation der Filme sowie ihre Verbreitung in der Literatur unter den französischen Titeln.

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In seiner Genese und thematischen Verankerung ist das algerische Kino eng verbunden mit der kolonialen Erfahrung. Aus dem Freiheitskampf heraus entstanden, macht es diesen zu einem bedeutenden Referenzpunkt, der für die algerische Filmgeschichte bis heute in verschiedenen Ausformungen wichtig ist und auch in kinematographischen Verhandlungen aktueller Problematiken eine Rolle spielt. Steht im Rahmen der algerischen Dekolonisation zunächst die Affirmation einer nationalen Einheit im Vordergrund, wird Letztere selbst durch zunehmende Desillusionierungen und die Krise des Staats im Bürgerkrieg der 1990er Jahre gebrochen, wodurch etablierte offizielle Identitäts- und Geschichtsentwürfe sich vermehrt in Frage gestellt sehen. Die Spannungen zwischen nationalen und transnationalen Ausrichtungen, die das Kino prägen, lassen sich auch an der Wahrnehmung der Filme bzw. an den Erwartungen der Rezipienten festmachen. Abgesehen von dem nicht zu bestreitenden Einfluss Hollywoods auf die weltweite Filmproduktion, ist das frankophone Filmschaffen algerischer Cineasten häufig einer Kritik der ‚Verwestlichung‘ oder ‚Französisierung‘ ausgesetzt, die sich gegen die Sprache, die Positionen und Inhalte der Filme richtet. Tatsächlich sind viele algerische Regisseure/innen seit den 1990er Jahren vorwiegend im Exil tätig und auch unabhängig davon oft durch ihre Bildungswege und Biographien europäisch-­französisch geprägt. In Frankreich geborene oder emigrierte algerische Regisseure wie z. B. Merzak Allouache und Nadir Moknèche, die in ihren Filmen kritisch und provokativ auf die algerische Gesellschaft blicken, müssen sich nicht selten den Vorwurf gefallen lassen, sie seien keine algerischen Regisseure (mehr), hätten sich von Algerien distanziert und passten sich ‚westlichen‘ Sichtweisen an.4 Eine solche Haltung zeugt von einer einschränkenden, essenzialistisch geprägten Auffassung von Kultur und Identität. Die Betrachtung postkolonialer Produktionen erfordert aber Denkweisen, die Letztere nicht mehr mit Sprache, Ethnie und Nation gleichsetzen und sich auf abgegrenzte Einheiten beziehen (vgl. ebd.: 8 f.). Für das Verstehen der Werke sind kritische Perspektiven notwendig, die diese in ihren hybriden Strukturen fassen können und homogenisierende Konzepte überwinden. Gerade ein Regisseur wie Allouache verkörpert exemplarisch die Komplexität des Filmschaffens über Grenzen hinweg. Als einer der einfluss­reichsten algerischen Cineasten, der in den 1970er Jahren neue Impulse setzte und seinen eigenen Stil bis in die heutige Zeit prägt, ist er repräsentativ für ein transnationales algerisches bzw. franko-­ algerisches Kino.

4 Siehe z.  B. ein Interview mit Merzak Allouache auf http://www.tsa-­algerie.com/ entretiens/item/1333-c?tmpl=component&print=1.

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Zwar ist die filmwirtschaftliche Marginalität vieler Kinos ehemaliger Kolonien (mit Ausnahmen großer Industrien wie Bollywood) durchaus eine Tatsache. Im Rahmen dieser Arbeit war dies nicht zuletzt in der schwierigen Beschaffung algerischer Filme spürbar, die der schlechten Distribution geschuldet ist. Dichotome Denkweisen, die die Kinos der sogenannten „Ersten“ und „Dritten Welt“ diametral zueinander positionieren, sind dennoch überholt. Die Beziehungen der weltweiten Kinos sind angesichts der Verflechtungen auf Produktionsebene sowie in Bezug auf inhaltlich-­ästhetische Aspekte weitaus komplexer zu sehen. Unter dem Einfluss der Postcolonial Studies sowie der Debatten um Transkulturalität und Transnationalität werden nicht nur die Literaturen der Welt aus einer grenzüberschreitenden Perspektive betrachtet5, sondern auch das Filmschaffen in seiner Vernetzung erfasst. Rücken die Kinos ehemaliger Kolonien seit zwei Jahrzehnten zunehmend ins Interessenfeld der Wissenschaft, greifen hier vor allem Ansätze zum transnational cinema, die sich den Hybridisierungsprozessen widmen. Erhöhte Aufmerksamkeit erfahren die postkolonialen Kinos vor allem in Arbeiten aus frankophonen und anglophonen Forschungszusammenhängen. Ein Schwerpunkt bei der Auseinandersetzung mit transnationalen Kinos liegt bei den Filmen im Kontext von Exil und Migration. In Bezug auf das Filmschaffen von Migranten in Frankreich, das in zahlreichen Studien untersucht und auch im Rahmen der hier fokussierten Forschungsfrage gestreift wird, sind vor allem die Arbeiten von Carrie Tarr (Reframing difference: beur and banlieue filmmaking in France, 2005), Cornelia Ruhe (Cinéma beur. Analysen zu einem neuen Genre des französischen Films, 2006) und Will Higbee (Post-­beur cinema: North African Émigré and Maghrebi-­French Filmmaking in France since 2000, 2013) zu nennen. Sie beschäftigen sich mit verschiedenen Phasen, Entwick­lungen und Genrebezügen franko-­maghrebinischer Filmproduktion und zeigen, wie diese Klassifizierungen und Grenzen zwischen nationalen und transnationalen Kinos verwischt. Auf der anderen Seite setzen viele Studien Schwerpunkte nach ehemals französischer oder britischer Kolonisation. Forschungen zu afrikanischen Kinos konzentrieren sich dabei häufig auf die subsaharischen Länder.6 Teilweise werden aber auch die Filmkulturen in Nordafrika und südlich der Sahara in einem Zusammenhang betrachtet (Roy Armes: African Filmmaking North and South of the Sahara, 2006). Neben sozio-­ökonomischen Strukturen und Entwicklungen unter 5 Siehe z. B. zu Diskussionen um das Konzept der littérature-­monde den 2010 von Alec Hargreaves, Charles Forsdick und David Murphy herausgegebenen Band Transnational French Studies. Postcolonialism and Littérature-­monde. 6 So z. B. Olivier Barlets African Cinemas: Decolonizing the Gaze (2000), zuerst auf Französisch erschienen unter dem Titel Les Cinémas d’Afrique noire (1996).

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westlicher Marktdominanz geht es um Fragen der Selbstrepräsentation, wobei oft auch die Verbindungen zwischen autochthonen Traditionen und kinematographischen Ausdrucksweisen untersucht werden. Roy Armes, einer der Pioniere in diesem Forschungsfeld, widmet sich bereits seit den 1980er Jahren den Kinos ehemals kolonisierter Länder und legte entscheidende Beiträge für das Studium der maghrebinischen Kinos vor.7 In Postcolonial Images. Studies in North African Film (2005) bietet er eine komparative Zusammenschau der kinematographischen Entwicklungen in Algerien, Marokko und Tunesien. Diese Studie liefert eine Bestandsaufnahme an Filmen und Regisseuren/innen und verfolgt die Geschichte der maghrebinischen Filmindustrien von Beginn bis in die 2000er Jahre. Das nationale Filmschaffen und teils auch jenes in der Migrationssituation werden anhand von Beispielanalysen vertieft. Ähnlich wie Armes untersucht die Algerienspezialistin Denise Brahimi in ihrer Studie 50 ans de cinéma maghrébin (2009) die maghrebinischen Kinos im Gesamtkontext. Entscheidende Etappen innerhalb ihres ca. 50-jährigen Bestehens werden dabei berücksichtigt und umfassen mit Blick auf Algerien neben politisch-­ historischen Schwerpunkten gesellschaftliche Aspekte und Genrebezüge. Eine weitere Zusammenschau über verschiedene arabische Kinos bietet Viola Shafiks Der arabische Film. Geschichte und kulturelle Identität (1996), das Verbindungen von Film und lokalen kulturellen Einflüssen wie Theater, Literatur und mündlichen Erzähltraditionen aufzeigt. Die spezifische „kulturelle Identität“ der Filme arbeitet Shafik mit dem Fokus auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede anhand von Beispielländern heraus; sie untersucht die Werke zudem entlang von Kategorien wie Realismus, historischer Film oder Autorenfilm. Einzelne Analysen zum algerischen Kino fallen aufgrund der Vielzahl von betrachteten Filmkulturen zwangsläufig kurz aus. In Bezug auf spezielle Themen ist neben der Darstellung des Algerienkriegs, der sich verschiedenste Essays widmen, die Beschäftigung mit der Geschlechterbeziehung im algerischen Kino zentral. Die Soziologin Ratiba Hadj-­Moussa lieferte hierzu 1994 eine komplexe Studie, die diese aus anthropologischer, soziologischer und narratologischer Perspektive untersucht. Detaillierte Analysen von 7 In Third World Filmmaking and the West (1987) widmet sich Armes verschiedenen Kinos aus Afrika, Asien und Lateinamerika, die lange Zeit unbeachtet blieben, obwohl sie bereits in den 1980er Jahren über die Hälfte der weltweiten Filmproduktion ausmachten. Seine gemeinsam mit Lizbeth Malkmus veröffentlichte Studie Arab & African Filmmaking (1991) bietet einen Überblick zur Entstehung der Kinos in verschiedenen Ländern Nord- und Westafrikas und fragt nach der Beziehung von Film zu anderen künstlerischen Ausdrucksformen wie Literatur und Musik.

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bedeutenden algerischen Filmen der 1970er und 1980er Jahre zeigen die Ambivalenz der Genderbeziehung und dessen Spiegelung im Kino auf, das einerseits traditionell verankerte Männlichkeitskonstruktionen und Geschlechtertrennungen in Frage stellt, diese aber andererseits auch reaktiviert. Das „Kino der Frauen“ rückt in jüngerer Zeit weiter ins Forschungs­interesse, angesichts der allmählich steigenden Anzahl an Regisseurinnen und der hohen Relevanz an filmischen Verhandlungen zur Situation der Frauen.8 Weitere spezifische Beiträge finden sich im Rahmen von Betrachtungen zu künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem nationalen Kontext. Ranjana Khanna diskutiert in diesem Zusammenhang in Algeria Cuts (2008) die Repräsentation von Frauen in der Kolonialzeit sowie im unabhängigen Algerien und analysiert dazu verschiedenste Kunst- und Textformen. Reda Bensmaïa untersucht in Experimental Nations (2003) das Verhältnis frankophoner Schriftsteller und Regisseure zur nationalen Identität, Sprache und Kultur und analysiert deren vielfältige Sichtweisen der Nation.9 Wenn auch das Forschungsfeld hierzu noch viel Bearbeitung offen lässt, entstehen in jüngerer Zeit vermehrt Projekte, Symposien und Publikationen zum maghrebinischen und algerischen Kino, die ein wachsendes Interesse an diesem Thema bezeugen. Hintergrund hierfür ist nicht zuletzt die zunehmende historische Aufarbeitung der französischen Kolonialgeschichte und insbesondere des Algerienkriegs seit den 1990er Jahren. Dieser rückt seither und noch einmal verstärkt aufgrund der 50-jährigen Unabhängigkeit Algeriens 2012 in den Fokus wissenschaftlicher und öffentlicher Aufmerksamkeit. Dabei tragen viele Filme selbst zu den Debatten um Erinnerungen an die Kolonialgeschichte bei. Zudem beziehen einflussreiche Historiker wie Benjamin Stora in ihren Arbeiten Filme mit ein (u. a. in La guerre invisible. Algérie, années 90, 2001). Die wenigen Monographien, die sich speziell mit dem algerischen Kino beschäftigen, stammen überwiegend aus früheren Dekaden. Einflussreiche französischsprachige Beiträge aus Algerien sind Rachid Boudjedras Naissance du cinéma

8 Im Rahmen der internationalen Forschung zu Assia Djebar sind verschiedenste Arbeiten und Artikel zu Djebars Film La Nouba des femmes du Mont Chenoua im Kontext zu ihrem Gesamtwerk und in Bezug auf Genderbeziehungen erschienen, siehe z. B. Touria Khannous 2000, Lindsey Moore 2008 sowie Claudia Gronemann 2001. 9 Die politische Bedeutung der Sprachenwahl im algerischen Kino diskutiert er in einem Beitrag in der Zeitschrift Les 2 écrans 1981. Insgesamt nehmen sich vor allem einzelne Essays oder Sonderausgaben von Zeitschriften der Untersuchung algerischer Filme an. Hier sind u. a. Zeitschriften und Online-­Journals wie CinémAction, Cahiers du Cinéma, Expressions maghrébines, International Journey of Francophone Studies und The Journal of North African Studies zu nennen.

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algérien (1971), Lotfi Maherzis Le cinéma algérien. Institutions, imaginaire, idéologie (1980) und Abdelghani Megherbis Le miroir apprivoisé. Sociologie du cinéma algérien (1985).10 Während Boudjedra und Maherzi die Anfänge des algerischen Kinos beschreiben und auch kritisch auf dessen national-­ideologische Verankerungen blicken, legt Megherbi eine detaillierte soziologische Studie vor, die sich neben den filmischen Produktionen besonders der Kinostruktur widmet.11 Als aktuelle Monographie zum algerischen Kino ist Guy Austins Studie Algerian national cinema (2012) zu nennen. Austin wirft ähnlich wie die vorliegende Arbeit einen umfassenderen Blick auf die Entwicklungen des algerischen Kinos und illustriert entscheidende Etappen und Themenschwerpunkte anhand von Filmbeispielen. Mit einem nationalen Fokus konzentriert er sich auf dessen eigene Spezifik, losgelöst von Frankreich, sowie auf verschiedene Repräsentationen der algerischen Nation. Seine Filmauswahl bestätigt den Kanon bedeutender algerischer Filme und auch das Korpus dieser Arbeit. Während vorangegangene Studien ebenfalls eine postkoloniale Perspektive voraussetzen und Fragen der nationalen Identität nachgehen, stehen diese in der vorliegenden Arbeit in Verbindung mit der konkreten Analyse des Materials. Im Zentrum der Studie stehen die Filme selbst, die im Einzelnen sowie im filmhistorischen Kontext mit Blick auf ihre Geschichts- und Identitätsentwürfe betrachtet 10 Die Forschungsliteratur in arabischer Sprache ist mir leider nicht zugänglich. Eine rezente Veröffentlichung von Adda Chentoufs ‫السينما الجزائرية بين األمس واليوم‬, zu finden unter dem französischen Titel Le cinéma algérien. Entre hier et aujourd’hui (2012), zeigt aber, dass das Interesse am algerischen Kino auch von Wissenschaftlern in Algerien geteilt wird. Chentouf liefert einen Abriss der Entwicklungen des algerischen Kinos von den Anfängen über das ‚goldene Zeitalter‘ bis hin zur Krise und der allmählichen Wiederaufnahme der Produktionen. Das Anliegen war es, das Erbe des algerischen Kinos, das jüngeren Algeriern wenig bekannt ist, zu verbreiten und dem Mangel an Werken über jenes abzuhelfen. Chentouf bestätigt, dass seit den erwähnten Studien aus den 1980er Jahren keine wesentlichen Arbeiten hierzu erschienen sind. Siehe hierzu das Interview mit Chentouf auf http://www.liberte-­algerie.com/culture/le-­cinemaalgerien-­est-tres-­diversifie-adda-­chentouf-auteur-187365. Das Interesse am algerischen Kino als Reflexion gesellschaftlicher Prozesse wird auch in einigen Beiträgen des von der Universität Algier II veröffentlichten Bandes zur 50-jährigen Unabhängigkeit deutlich (Cinquantenaire de l’Algérie indépendante. Itinéraires et visages en devenir, 2012). 11 Er bietet neben der Untersuchung eines größeren Filmkorpus mit Blick auf Aspekte des Realismus und gesellschaftliche Themen eine Übersicht der Entwicklung der Kinosäle, Programmgestaltung und Zuschauer­strukturen. Eine aktuelle Bestandsaufnahme der wenigen verbleibenden oder wiedereröffneten Kinosäle in Algerien liefert Nourreddine Louhal in Sauvons nos salles de cinéma (2013).

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werden. Die Untersuchung aus transnationaler Perspektive ermöglicht einerseits das Erfassen eines heterogenen Korpus und ist andererseits zentral für die Frage danach, welche Identitätskonzeptionen sich in den Filmen ausdrücken. Vor dem politisch-­historischen Hintergrund werden verschiedene Positionen, Konflikte und Ambivalenzen, die das algerische Kino ausmachen, ergründet und damit ein tieferer Einblick gewährt. Die Arbeit ist so aufgebaut, dass zunächst die historischen und theoretischen Kontexte skizziert werden. Dabei wird die franko-­algerische Geschichte in Grundzügen gestreift und auf eine für die Fragestellung kondensierte Betrachtung reduziert; ein Abriss zu den Erinnerungskonflikten verdeutlicht die weiterhin aktuelle Auseinandersetzung mit ihr. Anschließend folgt eine kurze Rahmung des theoretischen Spektrums, das konzeptuelle Voraussetzungen für die Analysen beinhaltet und vor allem als Verstehenshorizont zu sehen ist. Ein filmhistorischer Überblick im Anschluss stellt das hierzulande weitgehend unbekannte algerische Kino vor und dient der Orientierung. Entwicklungen und Tendenzen werden hier zusammenfassend aufgezeigt, bevor einzelne Fragen detaillierter in Kapitel IV untersucht werden. Das Analysekapitel ist in vier große Blöcke unterteilt, die verschiedene Aspekte und Etappen des algerischen Kinos von der nationalen Konstruktion bis hin zu vielfältigen Sichtweisen von Nation und Geschichte verfolgen. Die einzelnen Oberkapitel orientieren sich an Schwerpunkten, anhand derer die allmähliche Diversifizierung des Kinos verfolgt wird. Teil 1 beschäftigt sich mit dem cinéma moudjahid, das im Zeichen des nationalen Unabhängigkeitskampfes steht. Teil 2 untersucht formale und inhaltliche Umbrüche, die Ambivalenzen sichtbar machen und homogene Bilder der Nation allmählich in Frage stellen. Teil 3 steht im Kontext des Bürgerkriegs und umfasst filmische Bearbeitungen des Terrorismus sowie in dieser Zeit auftauchende alternative Perspektiven auf Geschichte und Gegenwart. In Teil 4 wird die Pluralisierung von Geschichts- und Identitätsentwürfen anhand des Hervortretens verdrängter, partikularer Gedächtnisse sowie vermehrt transnational-­transkultureller Positionierungen der Filme verdeutlicht. Konkurrierende Erinnerungen sowie spannungsgeladene Identitätskonzeptionen reflektieren die Komplexität und Diversifizierung der filmischen Auseinandersetzung mit der franko-­algerischen Vergangenheit und deren Auswirkungen in der Gegenwart. Die Arbeit zeigt insgesamt, wie die seit 1830 bestehenden Konflikte und Verbindungen zwischen Frankreich und Algerien im Film ihren besonderen Ausdruck finden und fortdauernd – jedoch auf unterschiedliche Weise – verarbeitet werden.

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II  Politisch-­historische und theoretische Hintergründe 1. Homogenisierungen im kolonialen und unabhängigen Algerien Erfahrungen der (De-)Kolonisation haben sich deutlich auf die weitere politisch-­ historische Entwicklung und Selbstdefinition Algeriens ausgewirkt und prägen bis heute auch die kinematographische Produktion. Sie bilden die Ausgangssituation sowie den Gegenstand eines Großteils der untersuchten Filme. Zwar können die einzelnen Fakten der franko-­algerischen Geschichte hier nicht detailliert aufgeführt werden.12 Im Folgenden soll aber ansatzweise auf die Grundproblematik geblickt werden, die sich aus der kolonialen sowie der anschließenden nationalen Politik ergeben hat und hier von Interesse ist. Algerien wurde seit der Antike mehrfach zum Eroberungsziel fremder Mächte, die die Gewaltgeschichte geprägt und jeweils ihre Spuren hinterlassen haben.13 Zu den ältesten in Algerien angesiedelten Einwohnern zählen verschiedene Bevölkerungsgruppen, die unter der Bezeichnung „Berber“ zusammengefasst werden.14 Dies ist insofern bedeutend, als sich das in der antikolonialen Bewe12 Zur franko-­algerischen Geschichte und zum Algerienkrieg gibt es unzählige Erscheinungen. Besonders einflussreich sind die Arbeiten Charles-­Robert Agerons (Histoire de l’Algérie contemporaine, Band 1–3, 1964–1979), Benjamin Storas (u. a. La gangrène et l’oubli. La mémoire de la guerre d’Algérie, 1998; Histoire de la guerre d’Algérie, 2004; La guerre invisible. Algérie, années 90, 2001) und Mohammed Harbis (Le F.L.N. – mirage et réalité, 1980; siehe auch die von Stora und Harbi gemeinsam herausgegebene Arbeit La guerre d’Algérie: 1954–2004, la fin de l’amnésie, 2004). 13 Das Algerien in seinen heutigen Grenzen stellte vor der französischen Kolonisation kein geeintes Staatsgebiet dar. In Bezug auf frühere Epochen und Eroberungen handelt es sich vor allem um die Küstenregionen. 14 Der Begriff homogenisiert eine Vielzahl von Gruppen, die vor allem in den nördlichen Gebieten des Maghreb beheimatet sind und u. a. zu den Nachfahren verschiedener Numider-, Libyer- und Mauretaniervölker zählen. Von den zahlreichen Dialekten, die unter der Sprache Tamazight zusammengefasst werden, bildet das Kabylische die größte Sprachgruppe in Algerien. Ursprünglich ist der Begriff „Berber“ pejorativ konnotiert; seit den 1980er Jahren und der Bewegung für eine Gleichberechtigung und Anerkennung der Sprache wird er vermehrt und parallel zu dem Ausdruck „Imazighen“ (Sing. amazigh, „freier Mensch“) als Selbstbezeichnung genutzt (vgl. Faath 2002: 22). Stellvertretend für die dahinterstehende Vielfalt verwendet auch diese Arbeit den Begriff „Berber“.

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gung herausgebildete und noch immer dominante nationale Selbstbild auf eine arabisch-­islamische Identitätsdefinition stützt und der algerische Nationalismus in seinen Dogmen und Praktiken die Berber lange Zeit historiographisch und kulturpolitisch diskriminiert (hat). Ungeachtet der offiziellen Narration einer arabisch-­islamischen Ursprünglichkeit Algeriens sind die tatsächlichen Einflüsse vielschichtig. Die verschiedenen Eroberungen führten einerseits zu einer heterogenen Zusammensetzung der Bevölkerung, andererseits beinhalteten sie auch, in unterschiedlichem Maße, eine gewaltsame Durchsetzung der Herrschaftskultur, so vor allem der Religion und Sprache der Invasoren.15 Im Gegensatz zu früheren Herrschaften, wie der ihr direkt vorangegangenen, drei Jahrhunderte andauernden osmanischen Oberhoheit, hatte die 132-jährige französische Dominanz16 durch ihre spezifische Art des Siedlungskolonialismus und ihre sogenannte mission civilisatrice besonders folgenschwere Auswirkungen auf die existenziellen Lebensgrundlagen und die politisch-­kulturelle Autonomie der Autochthonen. Anders als die französischen Protektorate Marokko und Tunesien wurde Algerien in allen Souveränitätsbereichen der kolonialen Autorität unterstellt und als integraler Bestandteil mit drei Départements (Algier, Oran, Constantine) politisch angegliedert. Für die Herausbildung der nationalen algerischen Selbstdefinition spielt die koloniale Politik und Alteritätskonstruktion eine wesentliche Rolle. Die Negierung der kulturellen und historischen Identität(en) der Kolonisierten sowie deren Homogenisierung und Inferiorisierung als indigènes, colonisés oder Arabes förderten die Entwicklung einer nationalen Gegenidentität, die sich im Zuge des Freiheitskampfes manifestiert und auch die Anfänge des algerischen Kinos prägt.

15 Die Gebiete unterstanden u. a. der karthagischen Herrschaft, dem Königreich Numidien unter maurischen Berberstämmen, dem Römischen Reich in Folge der punischen Kriege sowie kürzeren Herrschaftsperioden der Vandalen und von Byzanz. Mit der arabischen Eroberung Nordafrikas im 7. Jh. wurden sie islamisiert. 1519 wurden sie im Zuge der türkischen Unterstützung im Kampf gegen die Spanier (Reconquista) Teil des Osmanischen Reichs und unterstanden als halbautonomer Vasallenstaat von lokalen Machthabern gewählten Statthaltern (Deys). 16 Nach der Landung eines Expeditionskorps in Sidi Ferruch 1830 und der anschließenden Eroberung von Algier drang das französische Militär schrittweise unter brutaler Niederwerfung des arabisch-­berberischen Widerstands ins Landesinnere vor. Bis in die 1840er Jahre dauerte der Kampf unter dem bekanntesten algerischen Widerständler Emir Abdelkader an, der einer einflussreichen Familie einer religiösen Bruderschaft angehörte. Einem zweiten großen Widerstand in der Kabylei war die Kolonialmacht 1871 ausgesetzt, angeführt von Mohamed el-­Mokrani.

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Die auf Dichotomien basierenden Identitätsmuster der kolonialen Erfahrung schreiben sich hierin fort. Ist die binäre Opposition zwischen colonisé und colonisateur17 aus postkolonialer Sicht vor allem als eine diskursiv erzeugte Identitätsdiskriminierung zu betrachten, instaurierte sie seinerzeit mit Hilfe der Kolonialpolitik eine de facto gelebte Zweiklassengesellschaft. Insbesondere durch das statut musulman und den code de l’indigénat war die Zweiteilung der kolonialen Gesellschaft im Rechtssystem verankert.18 Abgesehen von ihrer tatsächlichen Glaubenszugehörigkeit wurden die autochthonen Algerier so einheitlich als musulmans stigmatisiert und 17 Die in den 1950er und 1960er Jahren entstandenen Schriften von Frantz Fanon sowie Albert Memmi über die Mechanismen des Kolonialismus liefern bis heute bedeutende Beiträge über die koloniale Beziehung. In seinem Portrait du colonisé précedé du Portrait du colonisateur (1957) analysiert der franko-­tunesische Schriftsteller Memmi die gegenseitige Bedingtheit und Ambivalenz der konstruierten „Antagonisten“ im dichotomisch angelegten Kolonialsystem. Fanon untersucht in seinen für die postkoloniale Debatte einflussreichen, marxistisch geprägten Studien ebenso die Auswirkungen der kolonialen Diskriminierung auf Identitäts- und Alteritätsbildung. In seinem viel rezipierten Peau noire, masques blancs (1952) stellt er Kategorien wie „Schwarzsein“ als diskursiv erzeugt heraus. Ein zentrales Werk für den antikolonialen Widerstand ist Les damnés de la terre (1961), das vom algerischen Befreiungskampf, dem sich der aus Martinique stammende Autor und in Algerien praktizierende Psychiater anschloss, beeinflusst ist. Neben Theorien zur Gewalt verhandelt Fanon darin Identitätsfragen in Bezug auf die Herausbildung eines nationalen Bewusstseins. Die von den Autoren beschriebenen binären Oppositionen sind aus dem historischen Kontext zu betrachten, handelt es sich doch um Werke des Widerstands, die sich in Zeiten des Dekolonisationsprozesses und teils inmitten des Algerienkriegs gegen ein System wenden, das durch seine Diskriminierungen eine Zweiteilung der kolonialen Welt forcierte und spürbar machte. Ambivalenzen werden dennoch bereits in ihren Werken mitgedacht. 18 Das statut musulman unterteilte die Kolonialgesellschaft in französische Bürger mit vollen Staatsbürgerrechten (citoyens) und rechtlose Staatsangehörige (sujets). Die Kolonisierten konnten die Staatsbürgerschaft (citoyenneté) nur beantragen, wenn sie auf die wenigen verbleibenden Bereiche muslimischen Rechts verzichteten. Dies hätte eine Abwendung von der eigenen Gemeinschaft bedeutet, außerdem wurden kaum erfüllbare Bedingungen seitens der Kolonialpolitik auferlegt. Bourdieu beschreibt das koloniale System in Algerien daher treffend, wenn er es als „Kastensystem“ (Bourdieu 2001: 128) bezeichnet. Getrennt durch institutionelle und gelebte Barrieren, resultiert aus dieser Beziehung eine „ségrégation raciale de fait“ (ebd.). Die „Kasten“ seien dabei selbst zwar innerlich nach Klassen oder z. B. Gender hierarchisch differenziert. „Mais si chaque caste présente une échelle de statuts hiérarchisés, s’il est permis à tout individu de la caste inférieur de gravir les échelons de sa caste, il est pratiquement impossible de franchir l’abîme qui sépare les deux échelles“ (Bourdieu 2001: 129).

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entmündigt. Für die ‚Französisierung‘ Algeriens wurde mit dem Décret Crémieux von 1870 lediglich die jüdische Bevölkerung mit der europäischen rechtlich gleichgestellt.19 Die politischen Praktiken lieferten die Legitimation zur Entwertung der autochthonen Kultur, indem sie durch Zerstörung von Lebensgrundlagen eine materielle Not der Kolonisierten herbeiführten (vgl. Bourdieu 2001: 127).20 Der rassistische Glaube an die rechtmäßige französische Vorherrschaft21 sowie der Widerspruch zwischen Assimilationsdiskurs und dem politisch-­gesellschaftlichen Ausschluss der Algerier hemmten eine funktionierende Zukunftsentwicklung der Algérie française, deren Scheitern damit vorgezeichnet war (vgl. Haddour 2002: 2). Hinter der Fassade eines triumphierenden Kolonialismus, dessen Höhepunkt sich in den prunkvollen Feierlichkeiten zum 100-jährigen Jubiläum des französischen Algeriens ausdrückte, ließen Landflucht und Verarmung der Autochthonen die Forderung nach Gleichberechtigung wachsen22 und standen im Kontrast zu einer blinden Selbstversicherung der Kolonialmacht über ihre „Errungenschaften“ (vgl. Verdès-­Leroux 2001: 180). Zusammen mit der rechtlichen Diskriminierung verwies die diskursive Macht die Kolonisierten auf den Platz des ‚Anderen‘. Die Infiltrierung der Denkweisen ist insofern von Bedeutung, als sie Selbstentfremdungen und Assimilationsbestrebungen vor allem der kleinen algerischen Elite hervorrief. Die Negation der 19 Seit der Antike und insbesondere mit der spanischen Reconquista ab 1492 kamen Juden nach Algerien. Ihre Gleichstellung mit den Franzosen schürte eine Feindlichkeit der zuvor miteinander lebenden Religionsgemeinschaften; zudem förderte sie den Antisemitismus der colons, die ihre Privilegien bedroht sahen. 20 Bourdieu legt in seiner Studie Sociologie de l’Algérie die Zerstörung und Transformationen gesellschaftlicher Strukturen durch Umsiedlung und Enteignung dar. Er untersucht die Folgen der Überführung der gemeinschaftlichen Böden (Kollektivbesitz) in das kapitalistische Wirtschaftssystem der Kolonialherrschaft genauer, so z. B. den mit der Vertreibung einhergehenden Zerfall traditioneller sozialer Einheiten wie Stammesund Familienstrukturen und die Auswirkungen der europäischen Ansiedlung auf den Nomadismus und Semi-­Nomadismus. Er beschreibt, wie die algerische Gesellschaft so entwurzelt und „dekulturalisiert“ wurde (siehe Bourdieu 2001: 120–135). 21 Zur Berufung auf das „lateinische Erbe“ in Nordafrika sowie u. a. zur Stadtentwicklung siehe Jordi / Planche (1999). 22 1919 wurde der muslimischen Elite zwar ein geringer Zugang zu kommunalen politischen Instanzen gewährt, doch dies änderte nichts an den Machtverhältnissen, bei denen die Stimmverteilung extrem disproportional zu den Bevölkerungsanteilen verlief. Ereignisse wie die russische Revolution, die Entstehung des islamischen Reformismus und des arabischen Nationalismus im Nahen Osten sowie die ägyptische Unabhängigkeit 1922 wirkten motivierend auf die algerischen Bewegungen (vgl. Ahmed-­Ouamar 1989: 46).

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Kolonisierten und ihre Platzierung außerhalb der Geschichte erklären dann auch den hohen Stellenwert, den das Neuschreiben der eigenen nationalen Identität und Geschichte im Kontext der Unabhängigkeitsbewegung erfährt (vgl. Fanon 1981 [1961]). Bleibt den Kolonisierten aufgrund der unmöglichen Assimilation im Sinne einer Gleichstellung letztlich nur die Revolte als Ausweg, führt die hierfür notwendige Aufwertung der eigenen Kultur Fanon zufolge zur Stärkung bestimmter Identitätskomponenten, die zur Grundlage der nationalen Mobilisierung werden. Religiöse und ethnische Identitätsmerkmale können so die Oberhand gewinnen. Die auf Religion rekurrierende koloniale Diskriminierungslinie in Algerien stärkte in der Tat den Islam als einenden Identitätspfeiler, der sich laut Stora angesichts des politischen Ausschlusses der Algerier zur „patrie de référence idéologique“ entwickelte (Stora 1991: 41). Im Dekolonisationsprozess erfuhren die Stigmatisierungen der Autochthonen als musulmans und Arabes also eine positivierte Umkehrung. Sie wurden zu zentralen identitären Referenzpunkten und avancierten letztlich zum gemeinsamen Nenner der Unabhängigkeits­bewegung und zum Fundament des Nationenkonzepts.23 Die politischen Anfänge des algerischen Nationalismus waren dennoch vielfältig. Eine erste Strömung bildete sich in den 1920er Jahren im bürgerlich-­ laizistischen Milieu einer kleinen autochthonen Elite, die sich auf die im französischen Bildungssystem propagierten humanistisch-­demokratischen Werte berief. Die daraus entstandene Fédération des Élus Indigènes, geführt von dem Arzt Mohamed Bendjelloul sowie dem Apotheker und späteren Präsidenten der provisorischen algerischen Regierung Ferhat Abbas, strebte eine parlamentarische Lösung an, d. h. eine Gleichstellung der Algerier und eine Reformpolitik innerhalb des französischen Systems. Im linken Milieu bemühte sich seit 1936 die oft vergessene Parti communiste algérien (PCA), die trotz einer algerischen Führung hauptsächlich aus europäischen Mitgliedern bestand, ebenfalls um Gleichberechtigung und setzte auf eine brüderliche Vereinigung der Bevölkerungsgruppen. Im Gegensatz dazu forderte die militantere Bewegung der 1926 in Paris unter Messali Hadj und zunächst an der Seite der französischen Kommunisten entstandene É­toile nord-­africaine (ENA) als erste Partei ein souveränes Nordafrika. Trotz mehrfacher Verbote und Verhaftung Hadjs gründete sich die Partei immer wieder unter anderem Namen neu, 1937 als Parti du peuple algérien (PPA) mit Sitz in Algier, 23 Die Freiheitskämpfer bezeichneten sich mit dem Begriff moudjahidin (Sing. moudjahid), abgeleitet vom Wortstamm djihad. In ihrer die Anschläge vom 1. November 1954 begleitenden Erklärung definierte die FLN als eines ihrer Ziele die „Wiederherstellung des algerischen souveränen, demokratischen und sozialen Staates im Rahmen der islamischen Prinzipien“ (zitiert nach Ruf 1997: 56).

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1946 als Mouvement pour le triomphe des libertés démocratiques (MTLD), das eine Mehrheit im muslimischen Wahlkolleg erlangte. Aus dem militanten Flügel von dessen Geheimorganisation ging 1954 das Comité révolutionnaire pour l’unité et l’action (CRUA) hervor, das sich mit dem bewaffneten Aufstand am 1. November 1954 zur Front de libération nationale (FLN) transformierte. Letztere lieferte sich als Abspaltung des MTLD einen erbitterten Kampf mit dessen Nachfolgeorganisation Mouvement national algérien (MNA). Eine weitere bedeutende Kraft des algerischen Nationalismus entstand unter der islamischen Elite, die 1931, geführt von Chikh Ben Badis, die Vereinigung der reformistischen Schriftgelehrten Oulémas gründete. Diese waren überzeugt davon, dass die algerische Nation nur durch eine Rückbesinnung auf die Werte des Korans ‚wiederbelebt‘ werden könne; sie prägten den im Unabhängigkeitskampf etablierten Slogan des algerischen Nationalismus: „Der Islam ist meine Religion, Arabisch meine Sprache, Algerien mein Vaterland“ (siehe Ruf 1997: 51 f.). Der algerische Nationalismus beherbergte ursprünglich also verschiedene Positionen – von moderaten Forderungen und Ideen eines gemeinsamen Algeriens über kommunistische Ansätze bis hin zu islamischen Ausrichtungen und Souveränitätsbestrebungen.24 Das Scheitern lang ersehnter politischer Reformen25 sowie die Massaker und Repressionen vom Mai 1945 in Sétif, Guelma und Kherrata ließen immer weniger an eine Reformierbarkeit des Kolonialstaats glauben und förderten schließlich den Kurswechsel der gemäßigten Bewegungen in Richtung Unabhängigkeit. Der 8-jährige Algerienkrieg, in dem Frankreich mit allen Mitteln an Algerien festhielt, wurde zu einem der blutigsten Kriege der jüngeren europäischen Kolonialgeschichte. Die FLN entwickelte sich hierbei zur führenden Kraft im Freiheitskampf.26 Andere politische Strömungen schlossen sich der FLN an; ebenfalls übte 24 Die Angaben zu den verschiedenen Strömungen und Entwicklungen des algerischen Nationalismus können hier nur verkürzt und zwangsläufig vereinfacht angeführt werden. Für eine ausführlichere Analyse siehe Le nationalisme algérien avant 1954 (Stora, 2010b), Les sources du nationalisme algérien (Stora, 1989) sowie die Werke Mohamed Harbis (siehe Fußnote 26). 25 Neben verfehlten Reformansätzen in den 1930er Jahren war hier u. a. die Ablehnung des von Ferhat Abbas initiierten Manifeste du Peuple Algérien (1943) bedeutend, das ein neues Algerienstatut und letztlich Autonomie forderte. 26 Verschiedene Gründe hierfür, u. a. die Verbindung zu einflussreichen Familien, die Unterstützung Ägyptens und des ägyptischen Radios, untersucht Mohamed Harbi in Le FLN. Mirage et réalité (1980). Harbi zufolge wurde die FLN aus Sicht der ‚verwestlichten‘ algerischen Intellektuellen und der französischen Linken als Gegensatz der MNA, d. h. modern und laizistisch gesehen. Die tatsächlichen Gegensätze der Parteien lagen aber nicht hierin, sondern im Mittel zum Ziel (Harbi 1980: 159–162).

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diese aber Druck auf die algerische Bevölkerung aus und erzwang den Anschluss an die von ihr propagierte „Revolution“, nicht zuletzt mittels Waffengewalt: „Le noyau populiste originel impose son hégémonie à toutes les factions, par tous les moyens, y compris la terreur. La garantie de sa prépondérance, il la tient de son contrôle sans partage sur l’appareil militaire, sur l’ALN et les groupes armés des centres urbains“ (Harbi 1980: 170 f.). Neben dem blutigen Kampf gegen die MNA sorgten interne Rivalitäten für ‚Säuberungen‘ innerhalb der FLN. Dass letztlich politische Verhandlungen zwischen Frankreich und der provisorischen algerischen Regierung im Exil (GPRA) zu den Verträgen von Evian im März 1962 führten und die Unabhängigkeit Algeriens per Referendum am 5. Juli desselben Jahres brachten, wurde durch die Heroisierung der Armee verdeckt. Ebenso wurden die inneralgerischen Konflikte nach der Unabhängigkeit im politischen Einheitsdiskurs der FLN verdrängt. Widersprüche zwischen einem islamischen Reformismus und ‚westlich‘ geprägten, französisch-­republikanischen sowie marxistischen Ansätzen begleiteten den Prozess des nation building im neuen Algerien weiterhin. Die politische Realität und die FLN selbst waren weitaus uneiniger, als es die offizielle Idee der Nation vermittelte. Mit der Unabhängigkeit gewann ein Teil des militärischen Flügels der FLN die Oberhand im Machtkampf um die Führung des neuen Staates. Mit Hilfe von Houari Boumedienes Truppen der Grenzarmee setzte sich zunächst das Bureau politique gegenüber anderen politischen Fraktionen durch und Ben Bella wurde im September 1962 erster Präsident des unabhängigen Algeriens. Mit dem Putsch des Verteidigungsministers Boumediene am 19. Juni 1965 sicherte sich der militärische Flügel endgültig seinen Machteinfluss mittels der alleinigen Inanspruchnahme der algerischen Befreiung.27 Die regierende FLN entwickelte sich gemeinsam mit dem Militär zu einem autoritären Machtapparat, etablierte sich als Einheitspartei und verbot alle anderen politischen Formationen. War der algerische Staat in seiner Entstehung von Uneinigkeit geprägt, wurde dennoch oder gerade deshalb auf eine Politik der Einheit (politique d’unicité) gesetzt, die die politischen, sozialen und regionalen Differenzen übertönte und alternative Identitätsentwürfe sowie die kulturelle Heterogenität Algeriens negierte. Die offizielle Vorstellung der algerischen Nation, beeinflusst von der Instrumentalisierung des Islam und panarabistischen Ideen, schloss die Berber, Juden sowie andere Minderheiten aus. Frühere politische Entwürfe eines pluralen 27 Die Nationalcharta von 1976 und auch die späteren Verfassungen besiegelten die Macht des Staates und der FLN, die sich darin als Trägerin der nationalen Befreiung und Hüterin der revolutionären Ziele glorifizierte und die Stellung des Präsidenten festigte (vgl. Stora 2001b: 41).

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Algeriens wichen einer Homogenisierungspolitik zugunsten der amtierenden FLN. Die propagierte Einheit wurde durch die staatliche Kontrolle des Bildungsund Kultursektors gestützt (vgl. Berrah 1997: 145). Die forcierte Arabisierung des Bildungswesens sollte den französischen Einfluss überwinden und ignorierte zugleich die bestehende Vielfalt an autochthonen Sprachen. Problematisch war zudem die große Differenz zwischen den mündlichen algerischen Varietäten des Arabischen, die mit Einflüssen anderer Sprachen wie des Berberischen und auch des Französischen versetzt waren, und dem klassischen Arabisch, das eigentlich nur die Schriftgelehrten beherrschten und nun im Schulunterricht verwendet wurde.28 Die Einheitspolitik konnte zudem die wachsenden sozialen Widersprüche zwischen der kleinen Machtelite und der Masse, die zunehmend in Armut lebte, nicht dauerhaft überdecken. Die Bevölkerungszahl war von ca. 10 Mio. im Jahre 1962 auf bereits 25 Mio. Einwohner 1988 gestiegen, Urbanisierung, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot nahmen zu, die Hälfte der Bevölkerung war unter 17 Jahre alt. Die Regierung verlor endgültig das Vertrauen der Algerier, als die Jugendproteste im Oktober 1988 in Algier und anderen großen Städten brutal vom Militär niedergeschlagen wurden (es gab 500 Tote allein in Algier). Die in der Folge eingeleitete Verfassungsänderung von 1989 bedeutete zwar eine Liberalisierung der Wirtschaft und mit der Öffnung zum Mehrparteiensystem das formale Ende des Einparteienstaats. Sie bewirkte allerdings keine tatsächliche Umverteilung der Machtverhältnisse; die Regierung blieb im Amt und der Führungsanspruch der FLN sowie die fehlende Gewaltenteilung fanden ihre Kontinuität in der neuen Verfassung (vgl. Ruf 1997: 79 ff.). Während der Staat Ende der 1980er Jahre immer unglaubwürdiger geworden war, da er seine eigenen moralischen Prinzipien nicht einhielt, fanden die Islamisten vermehrt an Zuspruch, konnten sie doch ihre Ziele überzeugend in einem Argumentationsstrang mit dem Versagen des Staates anbringen. So zeichnete sich schließlich mit den ersten freien Parlamentswahlen im Dezember 1991 ein Wahlsieg der Front Islamique du Salut (FIS) ab. Um einen Sieg der FIS zu verhindern – und damit das Ende der Herrschaft von Armee und FLN sowie die von der FIS beabsichtigte Einführung der shari’a abzuwenden –, wurde der zweite Wahldurchgang im Januar 1992 abgebrochen und das Militär übernahm durch einen Putsch die Führung.

28 Durch die Unterdrückung des Arabischen während der Kolonisation hatte sich in Algerien kein modernes Standard-­Arabisch etabliert, wie es anderswo als Amts- oder Mediensprache Verbreitung fand (vgl. Ruf 1997: 71 f.).

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Aus dem brutalen Kräftemessen zwischen Regierung und Islamisten im jahrelangen Bürgerkrieg ging die Militärregierung gestärkt hervor. In diesem zweiten algerischen Krieg, der bis 1999 zwischen 100.000 und 200.000 Opfer forderte und kaum klare Fronten aufwies29, präsentierte sich das Regime als Retter der Demokratie und begründete seine eigenen Gewaltausbrüche als „lutte antiterroriste“, der seine Involvierung verdeckte (vgl. Stora 2001a: 12). Dabei herrschte während der années noires eine Undurchsichtigkeit durch interne Fraktionen der Regierung sowie der opponierenden islamistischen und terroristischen Gruppierungen, die sich gegen den Staat, ebenso aber gegen Andersdenkende, Künstler, ‚westlich‘ Orientierte und Frauen richteten. Wenn sich auch die extreme Gewalt nur schwer erklären lässt, so sind doch Verbindungen und Ursprünge einerseits in der Kolonisation, andererseits in dem offiziellen Vergessen der pluralen Ursprünge der Nation und des algerischen Nationalismus zu sehen (vgl. Stora 2001a; Ruf 1997). Zwar ist ein konkretes Ende des Bürgerkriegs schwer auszumachen, Abdelaziz Bouteflikas „Politik der nationalen Versöhnung“ mit der Concorde civile von 1999 brachte aber eine relative Waffenruhe, u. a. durch ein Amnestiegesetz für reuige Islamisten ohne schwere Straftat.30 Bouteflika ist bis heute staatliches Oberhaupt. Die seit der Unabhängigkeit bestehende Autorität von Regierungspartei und Militär findet ihre Kontinuität in der Gegenwart, wenngleich andere politische Formationen ein Gegengewicht schaffen. Der Bürgerkrieg rief nicht nur politische Verunsicherung hervor, sondern auch eine erneute Identitätskrise, denn viele Algerier können sich weder mit der Regierung noch mit den Islamisten identifizieren und kämpfen um eine eigene Stimme in der zerrütteten Gesellschaft. Proteste während des sogenannten „Arabischen Frühlings“ im Jahre 2011 hielten sich in Algerien in Maßen – die traumatischen Erfahrungen sitzen noch tief und die Brutalität des Militärs schreckt ab.

29 Dass das Regime Straflager führte und eine strenge Pressezensur auferlegte, erhöhte das Misstrauen. Stora untersucht ausführlicher die mediale „Unsichtbarkeit“ des Kriegs und die Parallelen zur Verschleierung des Algerienkriegs durch Frankreich. Er nennt das Massaker von Bentalha 1997 und den Mord an Präsident Boudiaf 1992 als Beispiele für Verstrickungen seitens des Regimes. Die schwierige Frage der Benennung des Kriegs und der „Fronten“ verweist ihm zufolge auf die Unklarheit bezüglich des Ziels (vgl. Stora 2001a: 11–15). 30 Bei den Parlamentswahlen 1997 gewann die RND (Rassemblement national démocratique) gemeinsam mit der FLN; die Opposition protestierte gegen Wahlbetrug, so auch bei Bouteflikas Wahl zum Präsidenten 1999.

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2. Guerres de mémoires und nationale Erinnerungspolitik Der Umgang mit der franko-­algerischen Geschichte und der gewaltsamen Dekolonisation prägt bis heute die Beziehungen zwischen Algerien und Frankreich. In Algerien, aber auch in Frankreich steht ein großer Teil der Bevölkerung durch die eigenen oder familiären Erfahrungen direkt oder indirekt damit in Verbindung. Für algerische Migranten mehrerer Generationen ebenso wie für harkis und pieds-­ noirs31 bleiben Fragen der Zugehörigkeit bestehen. Das gegenseitige politische Interesse der beiden Länder ist größtenteils wirtschaftlicher Art.32 Trotz einiger Schritte der Annäherung wird eine Aussöhnung 31 Mit der Unabhängigkeit kam es zur Ermordung von über zehntausenden harkis, die freiwillig oder gezwungen auf französischer Seite gekämpft hatten (vgl. hierzu Stora 2001b: 14 f.). Die Bedrohung der harkis ebenso wie Armut ließen viele Algerier nach Frankreich emigrieren. Besonders aber verließ fast die Gesamtheit der ca. 1. Mio. pieds-­ noirs (Siedler), die teils seit Generationen in Algerien etabliert waren, exodusartig das Land. Der Begriff „pied-­noir“ ist ursprünglich pejorativ und homogenisiert die europäischstämmige Bevölkerung. Der Ursprung des Ausdrucks ist nicht eindeutig. Zunächst schien er als stigmatisierende Bezeichnung der Autochthonen zu dienen; im Petit Robert wird er 1901 mit „chauffeur de bateau indigène“ erklärt. Ab 1955 gebrauchten ihn Franzosen des ‚Mutterlandes‘ desolidarisierend gegenüber den Algerienfranzosen. Letztere adaptierten den Begriff als Selbstbezeichnung (vgl. Buono 2004: 7 f.). In Abgrenzung zu den Kolonisierten und den Franzosen hatte sich das Identitätsbewusstsein der Algerienfranzosen vorwiegend auf die Verbindung zur terre natale (Algerien) gegründet. Verstärkt wurde dies durch den fehlenden Bezug (vor allem der nicht ursprünglich französischen Siedler) zum Herkunftsland der Vorfahren (vgl. Hureau 2001: 35). Die heterogene Gruppe der pieds-­noirs, die innerhalb der Kolonie einen privilegierten Status genoss, jedoch selbst hierarchisch aufgebaut war, fand ihren gemeinsamen Nenner in der Betonung ihrer Algerianität. Stellte das territoire dafür den hauptsächlichen Referenten dar, bedeutete das rapatriement in Frankreich neben dem Verlust der Privilegien ebenso einen Identitätsverlust (vgl. Buono 2004: 28). 32 Die Evian-­Verträge sicherten früh Frankreichs Interessen und legten einen Grundstein für die Amnesie, indem u. a. Amnestie-­Gesetze aufgenommen wurden. Die seit 2002 von Bouteflika gestellte Reueforderung an Frankreich bleibt unerfüllt. Sarkozys Politik einer antirepentance sowie die Gesetzentwürfe vom Februar 2005 (siehe unten) rückten den von Chirac 2003 anvisierten Freundschaftsvertrag in weite Ferne. Sarkozy interessierte sich vor allem für eine wirtschaftliche Verbindung im Rahmen einer Mittelmeerunion. Nach einer langen Eiszeit unternimmt Frankreich zugleich allmählich Schritte der Annäherung. 2005 erkannte der französische Botschafter bei einem Besuch in Algerien die Massaker vom Mai 1945 an. Vereinzelt folgten weitere Gesten, z. B. im Oktober 2012 die Anerkennung der Massaker vom Oktober 1961, die bis heute nicht aufgeklärt wurden. Ein neuer Ansatz der bilateralen Beziehungen

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durch unerfüllte politische Erwartungen und Mechanismen des Vergessens erschwert und steht der Rückzug auf die eigene Wahrheit einem Dialog oft entgegen. Die FLN-­gesteuerte offizielle Erinnerung in Algerien und das Beschönigen der kolonialen Vergangenheit von französischer Seite blockierten lange Zeit eine differenzierte Aufarbeitung und übertrugen die Last der Geschichte auch auf jüngere Generationen.33 Neben den politischen Diskursen stehen sich weiterhin eine Vielzahl von Gedächtnissen gegenüber. Die sogenannten guerres de mémoires zeugen von der Aktualität der Vergangenheit und entladen sich in einer immer wieder aufflammenden öffentlichen Präsenz an Debatten und divergierenden Positionen.34 Sie charakterisieren eine Fragmentierung der Geschichte durch die sich äußernden Konflikte zwischen historischen Akteuren, die um die Anerkennung ihrer spezifischen Erfahrung konkurrieren. Die politisch und medial geführten „Erinnerungskriege“ sind insofern für die Untersuchungen dieser Arbeit relevant, als sie einerseits den außerfilmischen Hintergrund verständlicher machen, die Filme andererseits selbst Anteil an den guerres de mémoires haben, indem sie (verdrängte) Erinnerungen vergegenwärtigen und teilweise große öffentliche Debatten auslösen. In Frankreich hat der ‚Verlust‘ Algeriens lange Zeit kaum eine kritische politische Auseinandersetzung mit diesem Kapitel ausgelöst; ganz im Gegenteil wird nach wie vor das Gefühl artikuliert, mit guten Absichten gehandelt zu haben. Der Umgang mit der Kolonialgeschichte insgesamt zeigt, dass hier eine Politik

wurde im Dezember 2012 begangen, indem Bouteflika und Hollande eine Freundschafts- und Kooperationserklärung unterzeichneten. Dahinter stehen nicht zuletzt wirtschaftliche Interessen, die sich auch bei Hollandes jüngstem Besuch in Algier im Juni 2015 äußerten. 33 Die unterdrückte Vergangenheit taucht in Form von Diskriminierungen wieder auf, die besonders die Nachkommen von algerischen Migranten in Frankreich zu spüren bekommen. Ideologien der Rechten, die gegen eine „Invasion“ des Islam und eine Überfremdung wettern, vermischen sich mit Ansichten ehemaliger Verfechter einer Algérie française, die sich um ihren „rechtmäßigen“ Anspruch auf das Territorium betrogen fühlen (siehe Stora 1998). 34 Die zahlreichen Aspekte dieses komplexen Begriffes, der sich in den 1990er Jahren etabliert hat, sollen hier nicht im Einzelnen aufgegriffen werden. Erwähnt sei, dass die guerres de mémoires in Frankreich verschiedenste Momente der Geschichte betreffen, die sich gegenseitig überlagern. Für eine nähere Auseinandersetzung mit den guerres de mémoires und konkreten Debatten siehe insbesondere Stora / Thierry: La guerre des mémoires. La France face à son passé colonial (2011), Blanchard, Pascal / Veyrat-­ Masson, Isabelle (Hg.): Les guerres des mémoires: la France et son histoire (2008) sowie Henry Rousso: Le syndrome de Vichy de 1944 à nos jours (1990).

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des Verdrängens herrscht. Einen Höhepunkt der Debatten und ebenfalls Ausdruck dieser Abwehrhaltung bildete der Gesetzentwurf vom 23. Februar 2005, der in seinem Artikel 4 die „positiven Aspekte“ der Kolonisation, besonders in Nordafrika, hervorhebt und eine Vermittlung dieser Ansichten im schulischen Lehrplan vorsieht.35 Das Ausblenden trifft auch für andere Abschnitte der französischen Geschichte zu, ist aber Gilzmer zufolge bezüglich des Algerienkriegs besonders ausgeprägt (vgl. Gilzmer 2006: 112 f.). Der Algerienkonflikt wird von anderen Gedächtnisorten gar überlagert, die zwar selbst Phasen des Vergessens durchlaufen haben, sich aber besser auf einen gemeinsamen nationalen Nenner bringen lassen, so zum Beispiel der Zweite Weltkrieg, dessen Erinnerung von dem vereinenden Potenzial des Résistance-­Mythos begleitet wird. Ganz anders stehen sich im Falle des Algerienkonflikts mehrere unversöhnliche und hartnäckige Fronten gegenüber.36 Bezeichnend für die Verdrängung des Algerienkriegs ist die begriffliche und damit politische Negierung dieses guerre sans nom, der erst im Jahre 1999 durch einen Beschluss der Nationalversammlung als Krieg klassifiziert wurde. Dass die verspätete Anerkennung des Kriegsstatus nicht unbedingt auf ein Schuldbekenntnis Frankreichs zurückgeht, ist aufschlussreich für die Schwierigkeit einer kritischen Betrachtung der Kolonialvergangenheit.37 Diese bleibt insgesamt ein Problem, das auf verschiedene Weise immer wieder aufflammt: „La France est malade de son passé colonial. Pour l’avoir trop longtemps repoussé aux marges de son histoire, marginalisé à l’université et dans les manuels scolaires, il est revenu comme un boomerang dans le débat public“ (Stora / Leclère 2011: 7). 35 Das Gesetz löste heftige Kontroversen aus, u. a. fand ein Protest von Hochschullehrern statt, initiiert von Claude Liauzu, ebenso eine Mobilisierung gegen das Gesetz auf Martinique; letztlich wurde Artikel 4 im Januar 2006 aufgehoben (vgl. ebd.: 20–27). 36 Der Résistance-­Mythos steht einer Aufarbeitung des Algerienkriegs im Wege, denn er würde dadurch selbst in Frage gestellt werden, da viele ehemalige Résistance-­Helden für Folter und Massaker in Algerien verantwortlich waren. Die von Henry Rousso beschriebenen Phasen der Erinnerung bezüglich Vichy unter dem Begriff des „syndrome de Vichy“ sind Rousso selbst zufolge nur teilweise auf den Algerienkrieg übertragbar, da dieser eine viel größere Spaltung von Interessengruppen hervorgerufen hat (vgl. Gilzmer 2006: 114). Von politischer Seite aus gesehen hatte die Einigung der Franzosen nach dem Algerienkrieg Vorrang und die offizielle Erinnerungspolitik stützte dies mit der Konzentration auf die Weltkriege (vgl. Pervillé 2008: 107). 37 Den Hintergrund zu der Abstimmung in der Nationalversammlung 1999 bildeten finanzielle Interessen ehemaliger Soldaten. Diese übten mit Hilfe von Assoziationen Druck auf die Politik aus, um ihren Rentenanspruch geltend zu machen, der einen Kriegsstatus voraussetzt (vgl. Stora 2011: 27).

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Parallel zur französischen Politik des Vergessens etablierte sich auch in Algerien als Kehrseite einer „politique d’hyper-­commémoration“ (Pervillé 2008: 108) ein großes Ausblenden von politisch inkompatiblen Aspekten der „Revolution“.38 Hinter dieser offiziellen Version verborgen blieben neben dem Kampf zwischen FLN und MNA, den Liquidierungen von Kommunisten und auch von Mitgliedern aus den eigenen Reihen (z. B. früherer FLN-­Köpfe wie Abane Ramdane) ebenfalls der Beitrag der Fédération de France du FLN sowie der Frauen am nationalen Befreiungskampf. Das Vergessen der historischen ‚Gründungsväter‘ der nationalen Bewegung – Stora spricht gar von einem „ ‚meurtre‘ des pères du nationalisme“ (Stora 2001a: 106) – hatte folgenreiche Auswirkungen. An die Stelle einer Integration verschiedener Stimmen der Gesellschaft traten die Verehrung der militärischen Gewalt und die Heroisierung der FLN-­Märtyrer, die eine „culture de guerre“ (ebd: 38) förderten. Die Öffnung des politischen Systems 1989 läutete zaghaft eine zweite Phase ein, in der mit der Liberalisierung der Medien und des Verlagswesens sowie mit einer vom Staat unabhängigeren Presse eine größere Meinungsfreiheit möglich wurde.39 Trotz verschiedener Gegenkräfte zur offiziellen Geschichtsnarration wird diese weiterhin instrumentalisiert.40 38 Unter Boumediene wurden Erinnerungsdaten des Kriegs systematisiert und vervielfacht: „Der offizielle Geschichtsdiskurs stützt sich auf eine Art Revolutionskalender, dessen Schlüsseldaten den Ablauf der Revolutionsgeschichte bestimmen“ (Soufi 2006: 175). Der 1. November 1954 wurde als das Urereignis und als Ausdruck der „glorreichen“ Vergangenheit der Nation definiert. Auch die Verfassung von 1989 sowie die Lehrbücher des Geschichtsunterrichts basieren auf diesem Grundstein (Pervillé 2008: 111). 39 „La Constitution de 1989 a permis une ouverture qui a facilité la diffusion d’informations plus précises, notamment sur les personnages qui étaient jusque-­là bannis par la mémoire officielle (Abane Ramdane, Ferhat Abbas, Messali Hadj…). Mais les préjugés restent tenaces parce qu’ils sont liés à des intérêts particuliers, comme le démontre l’avocat et ancien moudjahid Hocine Zahouane, ami de Mohammed Harbi et emprisonné comme celui-­ci par le colonel Boumediene, en dénonçant l’histoire officielle comme un instrument de l’ambition personnelle de celui-­ci“ (Pervillé 2008: 112). 40 Schon vor 1989 gab es kritische Arbeiten algerischer Historiker und ehemaliger Akteure. Diese erschienen aber meist in Frankreich und waren in Algerien verboten, wie z. B. Mohammed Harbis Werk über die Ursprünge der FLN, Aux origines du Front de Libération National: La scission du PPA – MTLD: Contribution à l’histoire du popu­ lisme révolutionnaire en Algérie (1975). Harbi war selbst an entscheidenden Prozessen des Algerienkriegs beteiligt, u. a. als Mitglied der Führung der Fédération de France du FLN und an den ersten Verhandlungen von Evian. Er widersetzte sich 1965 dem Staatsstreich und wurde daraufhin ohne Verurteilung für fünf Jahre inhaftiert. Wie viele Intellektuelle ging er ins Exil; 1980 erschien in Frankreich Le FLN – mirage et réalité, das die internen Konflikte der FLN aufdeckt.

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Seit den 1990er Jahren erleben die öffentlichen Auseinandersetzungen um die franko-­algerische Geschichte in beiden Ländern einen Aufschwung und es entzünden sich vermehrt Debatten zwischen verschiedenen Positionen innerhalb der eigenen Grenzen sowie darüber hinaus. Dies hat unterschiedliche Gründe. Wie für die meisten historischen Ereignisse zutreffend, tritt eine Aufarbeitung erst mit zeitlicher Distanz und einem Generationenwechsel ein. Eine intensivere Beschäftigung von Historikern und Journalisten mit dem Algerienkrieg wurde zudem durch eine Öffnung der französischen Militär-­Archive von 1992 bis 2002 begünstigt, die zur Entstehung zahlreicher Arbeiten, u. a. zum Thema der Folter (z. B. Raphaëlle Branche: La torture et l’armée pendant la guerre d’Algérie, 2001) beitrug. Diese Publikationen, begleitet von Kolloquien und Zeitzeugenberichten, schufen ein Gegengewicht zu den Memoiren ehemaliger französischer Militärs.41 Daneben werden Forderungen seitens der Assoziationen von Kriegsveteranen, rapatriés (pieds-­noirs), harkis oder auf der anderen Seite von algerischen Migranten und deren Nachkommen, antirassistischen Organisationen und Gruppen geäußert, die bestimmte Ereignisse in Erinnerung rufen (z. B. das Massaker an Algeriern im Oktober 1961 in Paris). Ebenso entstehen Debatten um Museumsprojekte, den schulischen Lehrplan für Geschichte oder eben auch bestimmte Filme, wie z. B. Hors-­la-loi (Bouchareb, 2010, siehe IV.4.1.). Die weitere Abwesenheit eines offiziellen Erinnerungsdatums für den Algerienkrieg in Frankreich ist bezeichnend für die Uneinigkeit der verschiedenen Gedächtnisgruppen (vgl. Pervillé 2008: 108). Angesichts der Suche nach Antworten auf die unfassbare Gewalt des Bürgerkriegs in den 1990er Jahren werden auf algerischer Seite die Kolonialgeschichte und auch die Rolle der FLN seit dieser Zeit von kritischen Stimmen neu betrachtet. Allerdings wird der antikoloniale Kampf von der Militärregierung ebenso wie von den Islamisten wiederum instrumentalisiert (vgl. Stora 2001a: 51 ff.). Die offizielle Erinnerung an den Algerienkrieg wird in diesem Rahmen reanimiert, um die Einheit der Nation in Zeiten der Krise zu rehabilitieren. „Les discours officiels et 41 Publikationen zur franko-­algerischen Geschichte sind nicht gerade gering (Stora zählt 2.500 zwischen 1962 und 1982), aber sie blieben lange Zeit einseitig hinsichtlich der Interessengruppen. In den 1970er Jahren waren es vor allem autobiographische Erfahrungen der Soldaten und pied-­noirs; in den 1980er Jahren gab es dann einige Gegen­darstellungen seitens der porteurs de valises, die die algerische Unabhängigkeit unterstützten, wie z. B. der von Henri Alleg herausgegebene Sammelband La Guerre d’Algérie aus dem Jahre 1982 (vgl. Stora / Thierry 2011: 16 f.). Das Zeugnis von Louisette Ighilahriz in Le Monde, 20. Juni 2000 löste die Debatte über Folter neu aus (vgl. Pervillé 2008: 289).

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les éditoriaux ont établi un lien entre la commémoration de ce drame national et l’appel à rétablir l’unité de la nation déchirée par la guerre civile“ (Pervillé 2008: 114). Dennoch dringen allmählich verschiedene Stimmen an die Oberfläche (nicht zuletzt auch durch exilierte Intellektuelle) und fordern das staatliche Erinnerungsmonopol heraus. Neben der Berberbewegung, die seit den 1980er Jahren stärker für eine sprachlich-­kulturelle Anerkennung und Gleichberechtigung kämpft, treten verdrängte politische Gedächtnisse hervor.42 Weiterhin bleibt es jedoch schwierig, Positionen zu veröffentlichen, die Kritik am Staat oder Forderungen von Minderheiten betreffen. Während derartige entmystifizierende Perspektiven aber zumindest teilweise Verbreitung finden, wird die Aufarbeitung des Bürgerkriegs umso mehr von staatlicher Seite aus blockiert und von der Re-­Instrumentalisierung der nationalen Befreiung übertönt. Verschiedene Gesetze erlegten den algerischen Journalisten bereits während des Bürgerkriegs eine strikte Zensur auf, indem hohe Strafen angeordnet wurden.43 Die Ermordungen zahlreicher Journalisten während der 1990er Jahre förderten zusätzlich eine Autozensur. Die Charte de réconciliation nationale vom März 2006 weitete nicht nur die Amnestiegesetze aus, sondern verankerte auch die Amnesie bezüglich der années noires durch weitere Vorgaben, die eine Aufarbeitung und Transparenz erschweren. Während die Regierungen ihrerseits also weiterhin versuchen, die öffentliche Erinnerung zu lenken, durchkreuzt die hervortretende Vielfalt an Gedächtnissen die offiziellen Geschichts­versionen auf beiden Seiten des Mittelmeers. Sie zeigt, wie sich die nationale Geschichte undHistoriographie angesichts der verschiedenen Positionen neu befragen muss.44 Eine wichtige Rolle in diesem Prozess kommt den Medien zu, die das Aufeinandertreffen von unterschiedlichen Positionen und 42 Die Regierung macht sich in diesem Zuge die Reaktivierung der Erinnerung an die ‚Gründungsväter‘ der Nation im Sinne eines nationalen Patriotismus zunutze (vgl. Stora 2001a: 108). Dazu zählt u. a. die Umbenennung einiger Flughäfen nach historischen Personen, z. B. Messali Hadj in Tlemcen und Abane Ramdane in Bejaja. 43 Seit 1992 ermöglichte ein den Ausnahmezustand ergänzendes Dekret die Schließung von Zeitungen und die Verhaftung von Journalisten auf Veranlassung des Innenministers. Ab 1994 verschärfte ein Embargo über Informationen zur Sicherheitslage die staatliche Zensur; die mediale Verbreitung von Informationen außerhalb der offiziellen communiqués wurde verboten. Journalisten wurden dazu angehalten, die Effizienz der Sicherheitskräfte zu betonen und den Terrorismus abzulehnen, wobei auch staatskritische Äußerungen darunter zählen konnten (vgl. Stora 2001: 25 f.). 44 „L’histoire dès lors est de moins en moins dictée par les vainqueurs, et la lecture du passé (monolithique et linéaire) devient un espace inépuisable d’interprétations, dont les conséquences peuvent varier du rééquilibrage des mémoires jusqu’aux manipulations politiques les plus nocives“ (Blanchard / Veyrat-­Masson 2008: 26).

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Konflikten verbreiten und inszenieren: „[L]es médias remettent en perspective le discours unilatéral sur le passé, des voix divergentes peuvent s’exprimer. De plus, la dimension strictement ‘nationale’ de la mémoire est un schème de moins en moins opérant“ (Ebd.: 18). In den guerres de mémoires manifestieren sich einerseits alte Konflikte, die eine Annäherung verschiedener Gruppen in der Gegenwart verhindern können; andererseits stellen sie eine dynamische Kraft dar, die die Stimmen derjenigen hörbar macht, die aus der offiziellen Geschichte gestrichen werden. Die Vielzahl von Perspektiven, die zunehmend Ausdruck finden, macht es weiterhin schwer, eine gemeinsame Erinnerung an die franko-­algerische Geschichte zu teilen. Über die nationalen Grenzen hinaus wird dies noch komplizierter. Zum 50-jährigen Jubiläum der Unabhängigkeit Algeriens im Jahre 2012 gewinnt die Frage nach Erinnerungen erneut an Aktualität.45 Sie schlägt sich auch in den fortdauernden filmischen Verarbeitungen der franko-­algerischen Thematik nieder.

3. Theoretische Ausgangsperspektiven Die Untersuchungen dieser Arbeit setzen einen theoretischen Rahmen aus postkolonialen und kulturwissenschaftlichen Ansätzen voraus.46 Aus den komplexen Theoriefeldern werden hier nur einige Grundzüge zur Schärfung der Analyseperspektive aufgegriffen. Den gemeinsamen Nenner bilden Denkweisen, die ein Bewusstsein für Prozesshaftigkeit und Fragmentierung eröffnen und so beispielsweise einen kritischen Blick auf identitätsstiftende Kategorien wie Nation und Geschichte ermöglichen. Diese Ausgangsperspektive gestattet es, Differenzen, plurikulturelle Dynamiken und Ambivalenzen mitzudenken und Homogenisierungen aufzudecken. 45 „Le cinquantième anniversaire de la fin de la présence française en Algérie se présente avant tout comme une déroutante cacophonie. Sur le sujet lui-­même: que commémore-­ t-on donc en mars 2012? La signature des accords d’Evian? Le retour du contingent? L’exode des pieds-­noirs? La victoire du FLN? La défaite de la France? Le terrorisme sanglant de l’OAS? Le massacre des harkis? Chacun s’accroche à ses souvenirs et, un demi-­ siècle plus tard, ne veut pas entendre parler de ceux des autres“ (www.franciszamponi. fr/ptsdevue.php). 46 Die diversen und auch kontrovers diskutierten Theorien innerhalb der postkolonialen Debatte sollen hier nicht im Detail behandelt werden. Mit seinen teils abstrakten, kritischen und politisch geprägten Ansätzen beinhaltet der Postkolonialismus eine Vielfalt im Begriff selbst (vgl. McLeod 2010: 3). Er stellt letztlich eine „offene wie umstrittene Arena unterschiedlicher Positionierungen und oft gegensätzlicher Stimmen“ (Ha 2010: 47) dar. Von Interesse sind hier die Grundideen, die trotz aller Kritik zentral für das Verständnis dynamischer Prozesse sind.

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Theoretische Konzepte wie z. B. das der Hybridität und der Transkulturalität prägen dabei einerseits den Blickwinkel auf das Korpus und können andererseits bezüglich der Frage nach den Positionierungen der Filme selbst nutzbar gemacht werden.

3.1. Identitätskonzepte aus postkolonialer Sicht Die oben erwähnte Umkehrung kolonialer Diskurse in der gleichermaßen auf Homogenisierung basierenden antikolonialen Identitätskonstruktion spiegelt sich im frühen algerischen Kino. Entsprechend lassen sich die auf Binarität basierenden Muster am untersuchten Filmkorpus herausarbeiten; andererseits gilt es zu fragen, wie diese gebrochen werden und andere Parameter auftreten. Eine Grundlage für die Betrachtung der verschiedenen Konstruktionsmechanismen der Filme bezüglich ihrer Identitäts- und Geschichtsentwürfe ist also zunächst die Unterscheidung zwischen kolonialen, antikolonialen und postkolonialen47 Denkweisen. Während der Kolonialdiskurs auf klaren Antagonismen und hierarchischen Gegenüberstellungen von Kulturen basiert und der antikoloniale Diskurs dessen Binarität aufrecht erhält und invertiert, unterlaufen postkoloniale Perspektiven die fixierten Dichotomien und gehen von Hybridisierungen und Gegenerzählungen innerhalb einheitlich konstruierter Identitäten aus. Bedeutend ist hier das Aufdecken und Neuinterpretieren vermeintlich monolithischer Entitäten und somit die Herausforderung kolonialer, aber auch nationaler Diskurse der neuen Machtelite. Dies drückt sich in ästhetischen Praktiken aus, wobei sich Annahmen zur postkolonialen Literatur auf filmische Artefakte übertragen lassen. Whereas anticolonial literature relies in great part on dualistic (us versus them) rhetoric and calls for revolutionary warfare against the colonial power, postcolonial literature foregrounds a world in which the battle lines are harder to draw and the enemy harder to identify, a world in which dualism of any sort cannot be sustained easily. The literature underscores the fractures in the grand narratives of decolonization; it begins to effect a slippage away from the (former) colonizer as its main target and instead turns to a multiplicity of struggles: the hopes of nationalism giving way to disillusion and / or corruption, the forces of cultural imperialism and neocolonialism, continuing economic hardships, the spread of religious fundamentalism, and women’s issues. The mark of the postcolonial, then, is the blurring of neat, dichotomous boundaries  – which does not mean the end of power differentials or the end of oppositionality (Donadey 2001: xxv).

47 Ist es weitgehender Konsens der wissenschaftlichen Debatte, „postkolonial“ nicht als zeitlich begrenzt auf eine historische Epoche nach der Dekolonisation zu fassen, sondern als Auseinandersetzung mit aus dem Kolonialismus hervorgehenden Strukturen, die sowohl Veränderung als auch Kontinuität begreift (McLeod 2010: 39), wird der Begriff hier ebenfalls in diesem Sinne verstanden.

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Die von Donadey genannten thematischen Verschiebungen mit Blick auf Brüche und Problematiken innerhalb der neuen Nation ebenso wie Schreibweisen, die Fragmentation und Hybridität ausdrücken, manifestieren sich im analysierten Filmmaterial. Hintergrund der Untersuchungen sind weiterhin Konzeptionen, die die seit der Aufklärung etablierten eurozentrischen Denkweisen über Kultur, Nation oder Geschichte überwinden. Individuelle und kollektive Identitäten werden hierbei nicht mehr als stabile Einheiten gedacht, wie sie im Kolonialismus und auch fortan noch in politischen Diskursen suggeriert werden. Sie gelten als temporär durch soziale Praktiken der Verankerung stabilisiert (vgl. Barker 2008: 247), prinzipiell aber als diskursiv-­performative Konstrukte, denen keine Essenz zugrunde liegt. Vorstellungen fester kultureller Verwurzelung werden z. B. durch Denkfiguren wie dem Rhizom ersetzt (vgl. Deleuze / Guattari 1987). Als komplexes Wurzelgeflecht mit multiplen Verästelungen in unterschiedlichste Richtungen steht Letzteres exemplarisch für identitäre Beweglichkeit und vielfältige Vernetzungen.48 Zusammen mit diesen Annahmen bildet die u. a. von Stuart Hall formulierte und verschiedenen Ansätzen gemeinsame Grundidee von Identität als fortlaufendem Prozess das Ausgangsverständnis dieser Arbeit.49 Wird Identität generell in Repräsentationen erzeugt und ständig neu entworfen (vgl. Hall 1998), spielen gemeinsame Erzählungen und Erinnerungen eine zentrale Rolle. Medien wie der Film haben hier eine bedeutende Tragweite. Sie können Identitäten einerseits als stabil und homogen entwerfen, andererseits aber Konzeptionen von Identität als dynamisch, prozessual und beweglich vermitteln. Durch seine Multimodalität ist das Medium Film besonders geeignet, über verschiedene Komponenten (Figuren, Bewegung, Bilder, Montage, Musik, Sprache, Zeit etc.) komplexe und ambivalente Reflexionen anzustellen. 48 Kultur wird mitunter in Begriffen der Bewegung und Reise verstanden und beispielsweise von Paul Gilroy als bewegliche „Route“ beschrieben, die die feste Verwurzelung ersetzt (vgl. hierzu McLeod 2010: 249 f.). Neben diesen Vorstellungen ist auch die Auffassung von Kultur als Text von Bedeutung, die auf Clifford Geertz’ (1973) Kultursemiotik zurückgeht, wobei ihm teils ein holistischer Ansatz vorgeworfen wird. Zum kulturwissenschaftlichen Verständnis und den Debatten um „Kultur als Text“ siehe Bachmann-­Medick 2004. 49 „Cultural identity, in this second sense, is a matter of ‘becoming’ as well as of ‘being’. It belongs to the future as much as to the past. It is not something which already exists, transcending place, time, history and culture. Cultural identities come from somewhere, have histories. But, like everything which is historical, they undergo constant transformation. Far from being eternally fixed in some essentialised past, they are subject to the continuous ‘play’ of history, culture and power“ (Hall 1998: 225).

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Die im Anschluss an Bhabha verbreitete Denkfigur der Hybridität, die sowohl absolute Macht als auch kulturelle Reinheit unterminiert und zum Leitbegriff heutiger Auffassungen von kultureller Identität avanciert ist, kann hier in einem vom streng theoretisierten Sinn gelösten Verständnis operationalisierbar gemacht werden. Als zunächst neue Perspektive der kolonialen Diskurse, die die Identitätseinheiten colonisateur und colonisé einer grundlegenden Fragilität aussetzt, ist dieses Konzept vielfach in andere Kontexte übertragen worden. Dabei ist Hybridität nicht einfach als „fröhliche Vermischung“ zu verstehen, wie dies teilweise im Zuge der Aneignung des Begriffs im populären Diskurs Konjunktur hat (vgl. Ha 2010).50 Vielmehr sind Machtstrukturen und Spannungen kultureller Aushandlungen mitzudenken, denn Hybridität umfasst gerade die Konfiguration von konfligierenden diskursiven Kräften.51 Die bei Bhabha damit verbundene Mimikry – als subversive Strategie der Kolonisierten und zugleich effektivstes Instrument des kolonialen Diskurses – produziert Ähnlichkeiten, aber ebenso Unähnlichkeiten: Kann der Kolonisierte somit in der Nachahmung, wie so oft zitiert, immer nur „almost the same but not quite“ (Bhabha 1994: 89) sein, liegt das Potenzial des Widerstands in der fortlaufenden Bedeutungsverschiebung und Umschreibung kultureller Symbole.52 Diese von Bhabha ebenso im Migrationskontext beschriebenen Prozesse, bei denen die diskursiv erzeugten Grenzen überschritten werden, stellen zugleich innere Konflikte für das Subjekt dar. Der Ausdruck von Hybridität in kulturellen Artefakten reflektiert so vielmehr eine spannungsgeladene Dynamik konfligierender Positionierungen als eine harmonisierte Mischung. Die Anschlussfähigkeit des bei Bhabha sehr abstrakten Theorems besteht darin, dass Hybridität als analytisch-­kritisches Konzept eine 50 Vgl. zur Begriffsgeschichte und zur Verbreitung des Begriffs in Deutschland Kien Nghi Ha 2010. Ha kritisiert, dass gesellschaftliche Machtverhältnisse im Kontext des deutschen Hybriditätsverständnisses häufig wenig berücksichtigt werden und der Begriff als bunte Mischung rezipiert wird (vgl. ebd.: 90). 51 „Strukturell zeichnen sich hybride Phänomene durch ihre Prozesshaftigkeit, ihre permanente Dekonstruktion von (vermeintlich natürlichen und Machtverhältnissen stabilisierenden, kolonialen) Dichotomien aus“ (Struve 2013: 100). 52 Die Strategie der Hybridisierung öffnet so neue Möglichkeiten der Äußerung und Positionierungen, die Bhabha in einem „Dritten Raum“ (Third Space) verortet. Dabei entstehen „neue Formen mit inhärenten Differenzen, Ambivalenzen und Widersprüchen“ (Bonz / Struve 2011: 136). „Hybridität, so ließe sich weiter folgern, ist gerade die vermischte Unauflöslichkeit – keine homogene Masse, die aus der Mischung entsteht, sondern eine Art heterogenes Gemisch. Um diese Form der Hybridisierung zu beschreiben, die in keine erlösende Synthese mündet, nutzt Bhabha u. a. das Bild der Verhandlung“ (Struve 2013: 101). Für eine aktuelle Differenzierung zu Bhabhas Konzepten siehe Karen Struve 2013.

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Perspektive schafft, die von verschiedenen, gleichzeitigen Identifizierungen und Aushandlungen kultureller Elemente ausgeht und Vorstellungen von Homogenität und Fixierung zurückweist.53 Parallel dazu dient eine transnational-­transkulturelle Sichtweise in dieser Arbeit als Ausgangspunkt und Analysekriterium. Ähnlich wie das Hybriditätskonzept geht der transkulturelle Ansatz von kulturellen Verflechtungen aus und erfasst dabei plurikulturelle Phänomene über den Rahmen des Postkolonialismus hinausgehend.54 Das Konzept steht für Gemeinsamkeiten in der Vielfalt und Differenz, für mehrfachkulturelle Anschlüsse konkreter Lebenswelten sowie für die Auseinandersetzung damit.55 Es beinhaltet so eine „Sichtweise, die ein prozessuales Kulturverständnis in Bezug auf kulturelle Begegnungen, Grenzüberschreitungen und Innovationen beschreibt und verstärkt in gesellschaftliche Diskurse einbringt“ (McPherson 2007: 31). Zwar wird Identität in der gesellschaftlich-­ politischen Realität weiterhin oft durch monokulturell gedachte, narrative Positionierungen festgeschrieben. Und auch in den Analysen kultureller Artefakte sind Kategorisierungen als Referenzpunkte notwendig, um Dynamiken überhaupt beschreiben zu können: „Dieses Mitdenken bewusst zu machen, ist eine mögliche Aufgabe transkultureller Analyse-­Ansätze“ (ebd.: 20).56 Eine transkulturelle 53 Das Konzept bleibt problematisch, insofern es von dem Aufeinandertreffen von separaten homogenen kulturellen Sphären ausgeht (vgl. Barker 2008: 258). Als Prozess der Überkreuzung ist Hybridität auf stabile Kategorien als Gegenpol angewiesen, die für die Reflexion über Differenzen von Bedeutung sind. So ist auch eine Analyse nicht möglich, ohne Zuschreibungen und temporäre Stabilität von Identität zu formulieren. 54 Das im deutschen kulturwissenschaftlichen Diskurs vor allem durch Harald Welsch verbreitete Konzept der Transkulturalität sucht die komplexe Verfasstheit von Kulturen allgemein zu greifen (vgl. Welsch 2005). Bereits 1940 beschreibt Fernando Ortiz Transkulturalisierungsprozesse mit dem Begriff transculturación in seiner Arbeit Cuban Counterpoint: Tobacco and Sugar (vgl. Ortiz in Allolio-­Näcke / Kalscheuer / Manzeschke 2005). 55 Welsch entwickelt sein Transkulturalitätsmodell in Auseinandersetzung mit dem klassisch-­modernen Kulturbegriff Herders. Er kritisiert dessen internes „Homogenisierungsgebot“ und externes „Abgrenzungsgebot“ und ersetzt das Modell durch ein „vielmaschiges und integratives“ Konzept (Welsch 2005: 332), das auf der Idee der Netzwerkbildung in Richtung des Rhizomkonzepts basiert. Kulturelle Identität wird durch mehrfachkulturelle Anschlüsse und eine Vielzahl von Identifikationsangeboten erzeugt, die nicht an einen festen Ort gebunden sind. Sie wird in diesem Verständnis von der nationalen Identität entkoppelt (ebd.: 328). 56 „Eben die Auflösung der Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden durch die Sichtbarmachung konstruierter Grenzziehungen spiegelt dabei den transkulturellen Zugang wider“ (McPherson 2007: 27).

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Perspektive innerhalb der Filme selbst äußert sich vor allem in einem Aufzeigen von kulturellen Verbindungen und der Konstruiertheit von Grenzen, die sich über verschiedene gestalterische Mittel ausdrücken lassen.

3.2. Nation und Geschichte als Identitätsreferenzen Gilt es in der wissenschaftlichen Debatte spätestens seit Benedict Andersons Begriffsprägung der „imagined community“ (1983), Nationen bzw. nationale Identität als diskursive Konstruktionen zu fassen, bleibt die Nation zugleich das vorherrschende politische Modell und eine zentrale Identifikationsreferenz.57 Das Konzept der Nation lässt sich Anderson zufolge trotz seiner verschiedenen Realisierungen neben der nationalstaatlichen politischen Form allgemein durch die Vorstellung einer Gemeinschaft charakterisieren, die auf Annahmen der Ursprünglichkeit, Kontinuität und Traditionen basiert und mit einer gemeinsamen Sprache und Ethnie verbunden wird.58 Über Differenzen hinweg wird eine Einheit konstruiert, die sich in nationalen Mythen und Vergangenheitsbezügen verankert sieht. Sie gründet sich auf Erzählungen und Erinnerungen59 und wird in einem ständigen Prozess der symbolischen und sinnstiftenden Repräsentation evoziert und perpetuiert (vgl. Hall 1994: 200). 57 Bei antikolonialen Bewegungen, sozialistischen Revolutionen und jeglichen Souveränitätsbestrebungen ist die Nation, unter jeweils verschiedenen Adaptionen, das dominierende Konzept (vgl. Anderson 1991: 4). Dennoch ist der Nationalismus ehemals Kolonisierter nicht als bloße Kopie zu sehen, sondern nimmt eigene Formen an, wie der Historiker Partha Chatterjee in The Nation and its Fragments (1993) betont. 58 Die Vorstellung der Zusammengehörigkeit ist dabei nicht nur an den aktuellen Lebensort innerhalb von Staatsgrenzen gebunden, sondern kann auch im Exil bzw. in der Diaspora (sogar intensiviert) erfahren werden, indem sich Gemeinschaften besonders auf ihre nationale Herkunft berufen (vgl. Higson 2000: 64) 59 Identitäre Prozesse werden aus kulturwissenschaftlicher Perspektive mit Erinnerungspraktiken zusammengebracht. Der bereits 1925 von dem französischen Soziologen Maurice Halbwachs geprägte und in den 1980er weitergedachte Begriff des kollektiven Gedächtnisses stellt die soziale Bedingtheit von Erinnerung heraus. Demnach bildet sich Letztere in kommunikativen und sozialen Prozessen. Die Erinnerung erschafft dabei die Vergangenheit als Produkt der Gegenwart, da sie nach deren Sinnbedürfnissen konstruiert wird (vgl. Assmann 2006: 187 f.). Diese Performanz geht in Richtung des Ansatzes des französischen Historikers Pierre Nora (1997), der in seinem Konzept der lieux de mémoire Erinnerungsorte als Symbole des nationalen Gedächtnisses fasst. Erinnerungsorte „können geographische Orte, Gebäude, Denkmäler und Kunstwerke ebenso umfassen wie historische Persönlichkeiten, Gedenktage, philosophische und wissenschaftliche Texte oder symbolische Handlungen“ (Erll 2005: 23).

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Wie oben erwähnt, spielt die Idee der Nation eine zentrale Rolle im Dekolonisationsprozess. Ist zunächst die Nation selbst das Ziel, das quasi mit der Befreiung gleichgesetzt wird, werden Geschichte und Kultur im nationalen re-­writing mit dem Bild einer gemeinsamen (schon immer dagewesenen) Nation zusammengebracht. Die im antikolonialen Kampf vereinende und mobilisierende Vorstellung schreibt sich im Diskurs des neuen Regimes fort, das mit politischen Maßnahmen häufig zur Unterdrückung bestimmter Gruppen beiträgt. Die eigentliche Heterogenität der Nation sowie deren Spaltung während des Freiheitskampfes sehen sich so auch in Algerien durch den offiziellen Gründungsmythos ausgeblendet. Die vielen potenziellen Geschichten der Nation werden hier wie anderswo in den Schatten einer nationalen Narration gestellt, die die politische Gegenwart legitimiert. Mediale Repräsentationen haben daran einen entscheidenden Anteil. Was Anderson für die Printmedien60 annahm, wird oft auf visuelle Medien übertragen. Diese werden als Kommunikationsmittel gesehen, die die imagined community durch Referenzen und Bilder stützen und z. B. in klassischerweise linearen und teleologisch ausgerichteten Erzählungen Imaginationen nationaler Geschichte prägen (vgl. Shohat / Stam 2003: 10). Besonders die digitalen Medien spielen heute eine wichtige Rolle, allerdings sowohl in einem nationalen als auch in einem transnationalen Kontext (siehe II.4.1.). Neben anderen Erinnerungspraktiken gelten Filme als prädestinierte Mittel zur Aktivierung von Gedächtnissen. Filme […] können Erinnerungsfelder selbst eröffnen oder mitgestalten. Sie geben Impulse und schaffen Aufmerksamkeit für bestimmte Themen. Öffentliches Gedenken kann so vor dem Hintergrund eines Films einen neuen erinnerungskulturellen Status erhalten, bestimmte historische Themen können plötzlich brisant werden, Erinnerungsbedürfnisse können entstehen oder aber bestehende Erinnerungspraktiken können durch Filme erst bewusst werden (Wodianka/Erll 2008: 12).

William Guynn zufolge sind immer mehr Historiker der Ansicht, dass filmische Repräsentationen sogar so viel Macht besitzen, dass sie andere Formen der Erinnerung überwältigen, indem sie der öffentlichen Vorstellung unauslöschliche

60 Das Zusammenwirken von Kapitalismus, Printtechnik und die Herausbildung der (schriftlichen) Standardsprachen ermöglichte Anderson zufolge die Imagination neuer Formen von Gemeinschaften (vgl. Anderson 1991: 42 f.). Während Anderson den realistischen Roman und die Zeitung in ihren Merkmalen der Linearität und Kontinuität als charakteristische Repräsentationen der Moderne herausstellt, lässt sich auch im Film nach Schreibweisen fragen, die Vorstellungen von Geschlossenheit oder aber Pluralität kommunizieren.

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Bilder aufzwingen (vgl. Guynn 2006: 165).61 Eine theoretische Anschlussmöglichkeit bietet hier der Ansatz des Erinnerungsfilms. Als „gesellschaftlich und plurimedial ausgehandeltes Phänomen“ (Erll / Wodianka 2008: 2) existiert dieser ebenso wenig wie kulturelle Erinnerung an sich, sondern wird in Sozialsystemen erzeugt: „Nicht der Gegenstand des im Film Erinnerten, sondern das durch den Film ‚um den Film herum‘ Erinnerte macht seinen Status als Erinnerungsfilm aus“ (ebd.: 8). Vor allem die Rezeption, die öffentlich-­medialen Diskurse über einen Film und sein nachhaltiger Erfolg sind also entscheidend darüber, ob dieser als Erinnerungsfilm Bedeutung erlangt. Im Kontext dieser Arbeit ist es zwar weniger von Interesse, einen derartigen möglichen Status der einzelnen Werke jeweils zu ergründen, jedoch verdeutlicht der Ansatz die Relevanz von Filmen für die öffentlichen Erinnerungsprozesse, die hier mitzudenken sind. In ihren Narrationen erinnern und konstruieren die untersuchten Filme nationale Geschichte und Identität einerseits im Einklang mit vorherrschenden Diskursen, andererseits fragmentieren sie diese durch alternative Gegenerzählungen. Für die Analysen gilt es, die entsprechenden Aussagen und Strukturen aufzudecken. Einen theoretischen Rahmen liefern hier postkoloniale Denker, die Nation bzw. nationale Identität nicht nur als imagined, sondern als in ihrem Diskurs selbst weitaus instabiler auffassen. Ähnlich seiner Annahmen zur Hy­ bridität, geht Bhabha z. B. von widerstreitenden Kräften innerhalb der Nation aus, die das offizielle Narrativ der Einheit unterlaufen (vgl. Bhabha 2003). Andere Erzählungen sowie andere, nicht-­nationale Identitätskategorien durchkreuzen die dominanten, aber in sich fragilen Repräsentationen der Nation: „The narrative of nationality is continually displaced by other identities, like sexuality, class, or race, and there can be no end to this displacement“ (Huddart 2006: 111). Die innere Heterogenität destabilisiert den nationalen Diskurs, der sich immer wieder selbst durch symbolische Handlungen rekonstituieren muss und so für die Ausgeschlossenen eine Möglichkeit bietet, mit ihren eigenen Narrativen in den Bedeutungsprozess zu intervenieren:

61 Laut Anton Kaes sind Massenmedien das effektivste institutionelle Mittel um das historische Bewusstsein zu schärfen (vgl. Guynn 2006: 166). Auch Kilbourn stellt konkret das Kino als eines der wichtigsten Gedächtnismedien heraus: „[M]emory today derives its primary meaning, its existence as such, from visually based technologies like cinema; that cinema is not merely one of the most effective metaphors for memory but that cinema – alongside photography – is constitutive of memory in its deepest and most meaningful sense“ (Kilbourn 2010: 1). Für einen einflussreichen früheren Beitrag zur Diskussion der Bedeutung von Film als „agent de l’histoire“ siehe Marc Ferro (1977).

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Counter-­narratives interrupt the nation’s smooth self-­generation at the performative level, revealing different experiences, histories and representations which nationalist discourses depend on excluding. Hence, ‘the national memory is always the site of the hybridity of histories and the displacement of narratives’ (McLeod 2010: 141 f.).

Das Konzept der Nation bleibt zwar trotz transnational-­transkultureller Vernetzungen für die Identitätsorientierung sowie für künstlerische Inszenierungen von Bedeutung, muss aber auf neue Weise, mit ihren inneren Brüchen, vorgestellt werden (vgl. Huddart 2006: 117). Auch die Geschichte unterliegt – entgegen politischer Fixierungsversuche – Fragmentierungen in mehrfacher Hinsicht. Eine wachsende Stimmenvielfalt, die sich zunehmend medial Raum verschafft (siehe die guerres de mémoires) und mit der offiziellen Historiographie konkurriert, zeugt von den Konflikten zwischen der Festschreibung einer Geschichtsversion und der tatsächlichen Vielfalt an Gedächtnissen. Werden diese Kategorien in der Theorie anhand ihrer Subjektgebundenheit und ihres sozialen Bezugsrahmens unterschieden, durchkreuzen sie sich dennoch. Als Garant der Kohäsion einer Gruppe gilt das Gedächtnis als besonders für Mythen anfällig, während Geschichte den Anspruch der Objektivität und Genauigkeit zu erfüllen vermag (vgl. Vatter 2009: 27). Als narratives Konstrukt stellt die Geschichte bzw. die Historiographie aber ebenso wenig eine neutrale Faktensammlung dar, sondern ist immer schon eine Auslegung der Vergangenheit.62 Sie ist durch ihre politische Instrumentalisierbarkeit auch als institutionelle Macht zu sehen. Im Kontrast dazu stehen subalterne Geschichten, die keinen Zugang zur institutionalisierten Historiographie haben. Die theoretisch diskutierte Fragmentation von Geschichte ist von verschiedenen Faktoren beeinflusst, wobei die Dekolonisationen des 20. Jhs. ihren Beitrag leisteten. Mit dem Auftreten der ‚neuen‘ Geschichten aus den ehemaligen ‚Peripherien‘ auf die politische Weltbühne wird die Idee einer einzigen ‚großen Geschichte‘ unhaltbar und das eurozentrische, hierarchische Entwicklungsden-

62 Aleida Assmann merkt hierzu an, „daß es keine Geschichtsschreibung gibt, die nicht zugleich auch Gedächtnisarbeit wäre, also unhintergehbar verquickt ist mit den Bedingungen der Sinngebung, Parteilichkeit und Identitätsstiftung“ (Assmann 1999: 133). Sie schlägt vor, Geschichte und Gedächtnis als „zwei Modi der Erinnerung festzuhalten, die sich nicht gegenseitig ausschließen und verdrängen müssen“ (ebd.: 134). Geschichte bzw. Historiographie ließe sich demnach eher als „besitzerlos“, fixiert, archiviert und institutionell charakterisieren; Gedächtnis kann eher als gegenwärtiger, „gelebt“ und emotionaler verstanden werden. Dennoch bleibt auch diese Unterscheidung durchlässig.

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ken der modernen hegelianischen Geschichtskonzeption hinfällig.63 In Folge der Annahmen über die sprachliche Konstituierung von Wirklichkeit (linguistic turn) gilt zudem auch Geschichte in postmodernen Ansätzen als textuell konstruiert. „Was erinnert wird, ist bereits bearbeitet, ist zufällig und selektiv, nicht die ganze Wirklichkeit, es ist vor allem mit Sinn belegt, alles andere als Vergangenheit ‚pur’ und unmittelbar“ (Conrad / Kessel 1994: 97). Den narrativen Charakter stellt insbesondere Hayden White heraus, indem er die Nähe von Geschichte und Literatur anhand ihrer gemeinsamen textuellen Strukturen aufzeigt. Die Ereignisse werden zu einer Geschichte gemacht durch das Weglassen oder die Unterordnung bestimmter Ereignisse und die Hervorhebung anderer, durch Beschreibung, motivische Wiederholung, Wechsel in Ton und Perspektive, durch alternative Beschreibungsverfahren und ähnlichem – kurz mit Hilfe all der Verfahren, die wir normalerweise beim Aufbau einer Plotstruktur eines Romans oder eines Dramas erwarten (White 1994: 128).

Erst durch die narrativen Verfahren, die Anordnung und Sinnstiftung nach bekannten Mustern, werde ein Verstehen der Geschichte möglich, die eine Bedeutung aus der Gegenwart heraus erhält und fiktionsbildenden Strukturen des emplotment folgt.64 Das Objektivitätspostulat sowie die Legitimität einer einzigen Geschichtsdeutung werden so entkräftet. Ausgehend von diesen Grundannahmen ebenso wie von einer transnationalen Perspektive, wird Geschichte in dieser Arbeit in ihrer Pluralität verstanden. Das 63 So kommentiert der frankophone karibische Schriftsteller und Kulturtheoretiker Édouard Glissant: „ ‘Wo die Geschichten von Völkern zusammentreffen, die noch gestern als geschichtslos galten, endet die GESCHICHTE (in Großbuchstaben)‘. Die GESCHICHTE ist ein sehr folgenreiches Phantasma des Okzidents, aus einer Zeit stammend, als dieser noch allein Weltgeschichte ‚machte‘ “ (Glissant 1986: 89). Glissant, der in seinem Denken und Schreiben Konzepte der Kreolität und eine Ästhetik der Kulturenvielfalt vertritt, verhandelt auch Geschichte unter diesen Perspektiven und dementiert die Totalität der modernen Geschichtsauffassung: „Die GESCHICHTE ist so zersplittert, daß kein Mensch mehr behaupten kann, ihre Ganzheit zu beherrschen, ja, er kann sie sich nicht einmal mehr vorstellen“ (Glissant 1986: 95). Seine Aussage entspricht damit dem Postulat der konstruktivistischen Historiker, nach welchem es nicht möglich ist, „ein Wissen vom Ganzen der Wirklichkeit zu erlangen, sondern nur Fragmentarisches über sie in Erfahrung zu bringen“ (Goertz 2001: 86). 64 White geht davon aus, dass Geschichte nach archetypischen Grundmustern erzählt wird: als Romanze (Metapher), Komödie (Metonymie), Tragödie (Synekdoche) oder Satire (Ironie). Situationen und Ereignisse werden für tragisch oder komisch erachtet, weil diese Konzepte Teil unseres kulturellen und literarischen Erbes sind (vgl. ebd.: 131).

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heißt, dass einerseits konfligierende und marginale Geschichten innerhalb der Nation und andererseits Verflechtungen darüber hinaus inbegriffen sind. Bei der Untersuchung des Filmmaterials stellt sich die Frage nach Reflexionen der offiziellen Geschichtsnarration ebenso wie nach dem Auftreten von Perspektiven, die sowohl im Kolonialismus als auch in hegemonialen Erzählungen der unabhängigen Nationen benachteiligt werden. Hier lässt sich eine Verbindung zu Ansätzen wie dem der entangled histories und der Subaltern Studies herstellen, die homogene (nationale) Geschichtsentwürfe jeweils hinterfragen. Das Konzept der entangled histories bemüht sich um eine Geschichtsauffassung, die sich nicht mehr in nationalen Teleologien verdichtet und die Nation aus sich selbst heraus erklärt, sondern von einer gegenseitigen Beeinflussung verschiedener Geschichten ausgeht (vgl. Conrad / Randeria 2002: 10 ff.). Daneben erfasst dieser transnationale Ansatz zugleich nationale Besonderheiten und Abgrenzungen als Produkt des entanglement.65 Ähnlich und vor allem mit Blick auf die Heterogenität an Stimmen und die Machtverhältnisse innerhalb einer Nation dekonstruieren die Subaltern Studies die Vorstellung von Geschichte als abgegrenzte Ganzheit.66 Der Ansatz ist in dem Sinne für die Perspektive des Untersuchungsgegenstands brauchbar, insofern „subaltern“ hier nicht hauptsächlich als unzugänglich (im Sinne von nicht dokumentiert, keinen Zugang zu Kommunikationskanälen) verstanden wird, sondern sich auf marginalisierte und ausgegrenzte Geschichten bezieht, die andere Perspektiven als die vorherrschende historiographische Rekonstruktion vertreten. Kulturelle Artefakte – in diesem Fall der Film – können dabei einen Weg aus der Verdrängung verschaffen und die unterdrückten Geschichten verbreiten.67 65 „Der Begriff der ‚geteilten Geschichte’ geht daher konzeptionell über die Betonung historischer Gemeinsamkeiten hinaus. Die vielfältigen Interaktionen produzieren nicht nur eine geteilte/gemeinsame Geschichte, sondern zugleich Grenzziehungen und Brüche“ (Conrad / Randeria 2002: 18 f.). 66 Im Zusammenwirken von politischen Demokratisierungsbestrebungen und postmodernen Bewegungen entstanden verschiedene Arbeiten, die „der Idee des Fragments mehr Gewicht beizumessen begannen als dem Ganzen oder der Totalität“ (Chakrabarty 2010: 37). Chakrabarty nennt hier z. B. Partha Chatterjees The Nation and its Fragments, 1993. 67 Ähnlich wie Spivak in ihrem Aufsatz „Can the Subaltern speak?“ kritisch fragt, ob die Subalternen tatsächlich für sich selbst sprechen können, ist auch hier anzumerken, dass nicht alle Stimmen Zugang zu Kommunikationskanälen haben. Spivak kommt allerdings selbst zu der „Ansicht, dass Literatur einen rhetorischen Raum für subalterne Gruppen schaffen kann, der es ermöglicht, die unterdrückten Geschichten des subalternen Widerstands zu artikulieren“ (Do Mar Castro Varela / Dhawan 2005: 78).

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Aus den verschiedenen theoretischen Vorüberlegungen für die Untersuchungen des Gegenstands bildet das Infragestellen von kultureller Identität, Nation und Geschichte als stabile und fixierte Ganzheiten eine gemeinsame Denkmatrix. Diese Ausgangsgedanken fassen Geschichte sowie nationale und individuelle Identität in ihrer Vielheit und Konstruiertheit. Sie stellen den narrativen Charakter der Konzepte ebenso wie Subjektivität, Fragmentation und Heterogenität heraus. Losgelöst von streng theoretischen Abstraktionen und dennoch vor diesem Hintergrund lässt sich fragen, welche Perspektiven die Filme selbst anhand ihrer textuellen Strukturen diesbezüglich kommunizieren. Für eine weitere, filmwissenschaftliche Kontextualisierung des komplexen Korpus werden im Folgenden Ansätze zum transnationalen Kino skizziert.

4. Kino zwischen nationalen und transnationalen Positionierungen Die Betrachtung des algerischen Kinos als eigenständige Filmwirtschaft in ihren spezifischen historisch-­politischen und sozio-­kulturellen Kontexten legt zunächst einen nationalen Fokus nahe. Auch die hier untersuchten Filme finden ihren Bezugsrahmen schwerpunktmäßig in Algerien und seiner Geschichte. Allerdings geht das gewählte Korpus in seiner Thematik, seinen Einflüssen und Produktionsprozessen über algerische Grenzen, Definitionen und Identifikationen hinaus. Entsprechend erfordert der Gegenstand einen transnational erweiterten Blick.68 Das algerische Kino, das sich aus dem antikolonialen Kampf heraus konstituiert hat und seinen Auftrag anfangs in der Stärkung der nationalen Identität sieht, ist von Beginn an grenzüberschreitend und mehrfach verortet. Es kann in einem weiteren Rahmen zum afrikanischen, arabischen oder maghrebinischen und auch zu einem mediterranen Kino69 gezählt werden, Algerische Regisseure/innen können ihre Filme ebenfalls zum Sprachrohr der Vermittlung marginalisierter Geschichten machen, auch wenn diese bereits deren Interpretationen unterliegen. 68 Shohat und Stam machen die Notwendigkeit einer transnationalen Perspektive in der Auseinandersetzung mit kulturellen Phänomenen allgemein sowie besonders in den Medienwissenschaften deutlich: „The global nature of the colonizing process, and the global reach of the contemporary media, virtually oblige the cultural critic to move beyond the restrictive framework of monoculture and the individual nation-­state“ (Shohat / Stam 2003: 1). 69 Elisabeth Arend diskutiert die Frage, inwiefern sich spezifische Schreibweisen bzw. filmische Codes eines mediterranen Kinos identifizieren lassen. Kann man zwar nicht von einem einheitlichen Stil ausgehen und sind die Kinos der Mittelmeerländer in sich

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schreibt sich in verschiedene politische, identitäre und ästhetische Kontexte ein und findet dabei seine eigenen Ausdruckweisen. Eine isoliert nationale Perspektivierung erweist sich angesichts der voranschreitenden Transnationalisierung des franko-­algerischen Filmschaffens im Kontext von Migration und Exil als besonders problematisch. Die Werke von Regisseuren/innen algerischer Herkunft in Frankreich werden zwar vor allem aufgrund ihres Produktionsortes, ihrer Finanzierung oder der Nationalität ihrer teils in Frankreich geborenen Macher häufig dem französischen Kino zugeordnet. Jedoch sind diese Faktoren nicht ausreichend, um die vielfältigen kulturellen Implikationen zu beschreiben, und die Kategorisierungen scheinen häufig arbiträr.70 Ziel dieser Arbeit ist es nun nicht, das algerische Kino streng unter einer Zuordnung zu definieren; vielmehr gilt es, das Filmschaffen anhand der Untersuchungen eines heterogenen Korpus und aus einer erweiterten Perspektive in seinen verschiedenen Facetten und Konstellationen zu erfassen. Unter Rekurs auf Ansätze zum transnationalen Kino soll eine kurze Rahmung dieses Verständnisses vorgenommen werden, die zugleich die Problematik einer Festschreibung des algerischen Kinos deutlich werden lässt. Aus dem weiten Feld an Begriffen und Konzepten zum transnational cinema, die sich mit Aspekten wie Nation, Ethnie oder Diaspora auseinandersetzen, werden hier nur einige Grundannahmen aufgegriffen, die den Hybridisierungsprozessen und der Vielschichtigkeit des Auswahlkorpus gerecht werden. vielfältig, könnte die Reflexion der kulturellen Pluralität des Mittelmeerraums gerade ein gemeinsames Charakteristikum sein. Innerhalb der Diversität an filmischen Ausdrucksweisen und trotz der Tatsache, dass viele Regisseure ihren eigenen Autorenstil geprägt haben, lassen sich thematische Schwerpunkte wie z. B. die Beziehungen und Dichotomien zwischen Familie und Individuum, Gesellschaft und Staat, traditionellen Strukturen und Modernität sowie die Auseinandersetzung mit Geschlechterbeziehungen, Geschichte und Mythen ausmachen. Diese zugleich universellen Themen könnten zusammen mit kulturellen und filmischen Referenzen, Bildtraditionen und Raumkonstruktionen Elemente eines Mittelmeerkinos darstellen. Die Erforschung einer spezifischen Ästhetik steht aber noch aus (vgl. Arend 2010). Dies ist bereits mit Blick auf das algerische Kino schwierig, das sich von verschiedenen Filmtraditionen und Einflüssen inspiriert sieht. 70 Sie hängen z. B. von Firmen und Rechten, aber auch von Entscheidungen der Filmemacher selbst ab. Ein Beispiel für die wechselnden nationalen Zuordnungen sind die Werke Rachid Boucharebs. Sein Film Indigènes (eine französisch-­belgisch-algerisch-­ marokkanische Koproduktion) ging 2006 bei den Césars als französischer Film in den Wettbewerb, in Cannes und bei den Oscars als algerischer Film, was auch auf Boucharebs persönliche Entscheidung zurückzuführen ist, Algerien mit seiner geringen Filmproduktion eine Chance auf den Auslandsoscar zu ermöglichen (vgl. hierzu Ruhe 2009: 69 ff.).

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4.1. Nationale und transnationale Dimensionen in der Filmwissenschaft Stellt man die Frage, wie ein nationales Kino zu definieren ist, fallen die Antworten komplexer aus, als es zunächst scheint. Ein nationales Kino kann als Prozess der Produktion, des Vertriebs und der Rezeption von Filmen innerhalb eines Landes verstanden werden. Der Begriff umfasst Filmwirtschaft, historische Entwicklungen und Institutionalisierungen, ist aber bereits an sich nicht eindeutig (siehe u. a. Hayward 2005).71 Durch die weltweiten wirtschaftlichen und kulturellen Verflechtungen und Koproduktionen wird die klassische Zuordnung von Filmen zu einem nationalen Kino – etwa in Übereinstimmung von Produktionsort, Finanzierung und Nationalität der Macher – immer schwieriger und vermehrt kritisch diskutiert (vgl. Higson 2000). Die nationale Kategorie bleibt dennoch auf verschiedenen Ebenen relevant. Sie erfährt ihre Bedeutung mit Blick auf das algerische Kino einerseits in Bezug auf die Institutionalisierung der Filmproduktion in Form des Staatskinos, andererseits aber auch hinsichtlich der Frage nach den in den Filmen kommunizierten Aussagen, also bezüglich der Auseinandersetzung mit der Nation. Im Allgemeinen wird Kino angesichts soziokultureller und politischer Prägungen sowie des Einschreibens in nationale Kontexte (sowohl affirmativ als auch ablehnend) weiterhin als Ausdruck nationaler und lokaler Spezifika gesehen. „As the products of national industries, produced in national languages, portraying national situations, and recycling national intertexts (literatures, folklores), all films are in a sense national“ (Shohat / Stam 2003: 10).72 Über ihren Entwurf von Eigen- und Fremdbildern vermitteln Filme Inklusion oder Exklusion von Gruppen in die nationale Gemeinschaft.73 Ebenso gut aber können sie mit ihren 71 Laut Hayward handelt es sich besonders um die Filme, die von Kritikern und Historikern als national kanonisiert wurden; bei diesem diskursiven Prozess spielt auch der Erfolg der Filme eine Rolle (vgl. Hayward 2005: 1). 72 Die Verbindung zur Nationalsprache ist angesichts der Mehrsprachigkeit vieler Länder problematisch. 73 Im Zeitalter des Nationalismus entstanden, steht Kino von Beginn an mit der Konstruktion von Differenz in Berührung und ist vom Bestreben nationaler Abgrenzung geprägt. Siehe hierzu Susan Hayward 2005, die u. a. auf frühe Filme wie Griffith’ The Birth of a Nation (1915) hinweist, bei dessen nationaler Ausrichtung auch ein rassistischer Unterton nicht zu übersehen ist. Seit seinen Anfängen ist Kino aber nicht nur ein Medium, das nationale Prägungen ausdrückt, sondern auch eines, das transnationale Verbindungen zieht und über Grenzen hinweg Techniken, Bilder oder Genres teilt (vgl. Higbee 2007: 80). Auch das dominierende Hollywoodkino weist Hybridisierungen und Genremischungen auf, ist in sich vielfältig, „multi-­faceted“ (vgl. Geoff King 2012: 2).

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Positionierungen das politisch dominante Bild der Nation unterlaufen und bieten einen Aushandlungsraum: „Cinema offers a site to suture or contest identities of nation, as well as of gender, class, race, and ethnicity“ (Codell 2007: 365). Nicht zuletzt spielen die Rezeption und der politische Rahmen eine Rolle bei der Definition eines nationalen Kinos. Welche Filme oder Filmformen als repräsentativ oder gar als Aushängeschild für ein nationales Kino gelten und was andererseits verboten oder marginalisiert wird, hängt von den dominanten Diskursen ab und ist sowohl arbiträr als auch dynamisch. Schließlich gibt es nicht ein einziges, fest definiertes nationales Kino, sondern ist dessen Konzeption selbst Veränderungen ausgesetzt und dessen Zusammensetzung vielfältig. [T]there is no single cinema that is the national cinema, but several. It thereby puts an end to the dangers of historicism that identify a national cinema with specific movements or directors and suggests, rather, that there is flux, slippage between the various cinemas which constitute the nation’s cinema (Hayward 2005: 14).

Innerhalb eines nationalen Kinos, das sich im weitesten Sinne auf ein Land bezieht, lässt sich somit zwischen verschiedenen Kinos differenzieren, deren Funktionen und Haltungen gegenüber der staatlich gestützten Definition der Nation unterschiedlich sein können (vgl. Higson 2000: 63). Zudem stehen sich beispielsweise das Mainstream-­Kino und alternative Produktionen oder ein sogenanntes counter cinema74 gegenüber. In Bezug auf Algerien bestehen die Differenzen hier vor allem in dem Kontrast zwischen politisch kompatiblen und oppositionellen Positionen. Auf wirtschaftlicher und kulturpolitischer Ebene wird die nationale Klassifizierung von Kinos und Filmen selbstverständlich perpetuiert (vgl. ebd.: 69).

74 Der Begriff counter cinema oder Gegenkino bezieht sich auf filmische Ausdrucksweisen, die sich bewusst von dominanten Repräsentationsmustern und damit verbundenen Ideologien des kommerziellen Hollywoodkinos abheben. Als Merkmale des Mainstreamkinos gelten z. B. ein narrativer linearer Stil sowie das continuity editing durch „unsichtbare Schnitte“, die den Eindruck eines ununterbrochenen Flusses der Bilder und damit eine Illusion der Wirklichkeit erzeugen (vgl. Hickethier 2007: 147). Diese Konventionen werden im counter cinema unterlaufen. Der Terminus prägte sich in den 1970er Jahren und umfasst verschiedenste alternative Filmformen, die z. B. zu Gruppierungen wie dem feministischen Kino, Avantgarde- und Kunstkino zählen und hegemoniale Repräsentationsweisen, soziale und insbesondere Genderhierarchien in Frage stellen (siehe z. B. die Forderung Laura Mulveys 1989, den „männlichen Blick“ und patriarchale Strukturen des Hollywoodkinos zu durchbrechen). In einem weiteren Sinne wird counter cinema hier als alternatives Kino verstanden, das sich nicht nur gegen die dominanten Erzähl- und Denkweisen Hollywoods, sondern auch gegen die im eigenen nationalen Kontext richten kann.

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Besonders im Wettbewerb, auf internationalen Filmfestivals, ist sie von Interesse.75 Der nationale Referenzrahmen bleibt insgesamt bedeutend und stellt auch in den identitären Auseinandersetzungen im Kontext von Migration und dem Hinterfragen dominierender nationaler Diskurse eine zentrale Bezugsgröße dar. Die Forschungsperspektive sollte aber unter Berücksichtigung der inneren Vielfalt und äußeren Verflechtungen erweitert werden. Konzepte zum transnationalen Kino, die seit Mitte der 1990er Jahre in der Filmwissenschaft an Bedeutung gewinnen, antworten auf die als zu limitierend befundene nationale Sichtweise und reagieren auf (Migrations-)Bewegungen von Filmemachern und kulturellem Kapital.76 Das Transnationale wird dabei als Zusammenspiel von globalen und lokalen Kräften gesehen, das neue Formen entstehen lässt (vgl. Ezra / Rowden 2006: 4). Unter der Grundprämisse, dass nationale Filmlandschaften nicht als homogene, isolierte Einheiten zu fassen sind, beschäftigen sich die verschiedenen Beiträge zum transnational cinema einerseits mit zunehmenden Verflechtungen weltweiter Filmkulturen und -industrien auf den Ebenen der Produktion, Distribution und Rezeption. Andererseits fokussieren sie, teils unter spezifischer Begrifflichkeit, Filme im Kontext von Migration, die sich kaum auf eine eindeutige Zuordnung festlegen lassen und in ihren Erzählungen und Ästhetiken eurozentrische und nationale Sichtweisen herausfordern. Über seinen ökonomischen und politischen Ursprung hinaus gedacht, beschreibt der Begriff „transnational“ hier Verbindungen kultureller und wirtschaftlicher Art. So wird eine transkulturelle Perspektive integriert, die Hybridisierungen 75 „To promote films in terms of their national identity is also to secure a prominent col­ lective profile for them in both the domestic and the international marketplace, a means of selling those films by giving them a distinctive brand name“ (Higson 2000: 63). Wobei auch gerade kritische, teils im eigenen Land verbotene Filme auf internationaler Bühne Anerkennung finden, siehe z. B. in jüngerer Zeit iranische Filme wie Jafar Panahis Taxi Teheran (2015). 76 Mittlerweile hat sich besonders in der anglophonen Forschung ein breites Spektrum an Ansätzen zum transnational cinema etabliert. Einen Schlüsselbeitrag lieferte der Sammelband Transnational Cinema: the Film Reader (Ezra / Rowden 2006), ebenso die Beiträge zur gegenwärtigen Debatte um transnationale Kinos sowie den damit verbundenen Begriff des world cinema im Band World Cinemas, Transnational Perspectives (Ďurovičová 2009). Die transnationale Perspektive hat allgemein eine derartige Verbreitung erlangt, dass gar von einem transnational turn die Rede ist. Jahn-­Sudmann (2009) verweist auf den einerseits inflationären Gebrauch des Begriffs, andererseits auf dessen große Bedeutung. Zum transnational turn in den Literaturwissenschaften siehe Paul Jay 2010.

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und Vernetzungen innerhalb einer Nation und darüber hinaus berücksichtigt.77 Die Unschärfe, die der Dachbegriff des Transnationalen dennoch allgemein durch seinen vielfachen Gebrauch mit sich bringt, bleibt auch in der Filmwissenschaft nicht aus (vgl. Jahn-­Sudmann 2009: 15 f.). In seiner teils ausgedehnten Funktion zur Beschreibung jeglicher Produktionen, die über nationale Grenzen hinausgehen, besteht die Gefahr, dass spezifische kulturelle, historische und politische Referenzen vernachlässigt werden: „[I]t risks celebrating the supranational flow or transnational exchange of peoples, images and cultures at the expense of the specific cultural, historical or ideological context in which these exchanges take place“ (Higbee / Lim 2010: 11 f.).78 Dennoch ist ein transnationaler Ansatz sinnvoll, solange er nicht simplifizierend im Sinne eines beschönigenden Denkens der Grenzüberwindung verstanden wird, sondern als kritische Perspektive, die eine komplexere Sicht auf das Kino ermöglicht und gerade die Auseinandersetzung mit der Nation und transkulturellen Prozessen begreift. In diesem Sinne lässt sich der Ansatz von Higbee und Lim heranziehen, die für einen kritischen Transnationalismus plädieren, der in Erweiterung, aber nicht in Negierung des Nationalen zu verstehen ist (vgl. Higbee / Lim 2010). Frühere Konzepte, die verschiedene Kinos in einem grenzüberschreitenden Kontext fassen, wie z. B. die antiimperialistische Strömung des Third Cinema79 und die häufige Übertragung dieses Terms auf Ki77 Beide Begriffe charakterisieren sich auf unterschiedlichen Ebenen durch transitorische Momente. Während das Transnationale sich auf die Nation bezieht, dient das transkulturelle Vokabular dem zugrunde liegenden Kulturverständnis für Beschreibungen von Identifikationen und kulturellen Praktiken (vgl. McPherson ebd.: 23–26). 78 Auch die Kinoexpertin Mette Hjort weist darauf hin, dass die transnationale Perspektive in der Filmwissenschaft zwar eine berechtigte Verbreitung erfährt, gerade aber eine Ausdifferenzierung wichtig ist, die über universale Phänomene hinausgeht. „That cinematic transnationalism is a ubiquitous phenomenon at the beginning of the new millennium is by now an accepted fact. The time is ripe as a result for work on cinematic transnationalism that goes beyond affirmative description in order to distinguish carefully among tendencies that are more or less positive within a larger scheme of things. It may be a matter, for example, of trying to ensure that cinematic transnationalism continues to find diverse typological expressions, rather than being reduced to a single, in all likelihood, globalizing, type […]. Cinematic transnationalism is no doubt the future, but as such it is also an ‘open’ phenomenon with the potential to develop in many different directions” (Hjort 2009: 30). 79 Das Konzept des Third Cinema ist aus historischer Perspektive bedeutend, wird jedoch im Zusammenhang mit der Kritik an binären Oppositionen zwischen sogenannter „Erster“ und „Dritter Welt“ hinterfragt. Der Begriff bezieht sich im engeren Sinne auf eine antiimperialistische und antikoloniale Ideologie, die Kino als ‚Waffe‘ versteht. Er beschreibt eine kritische Gegennarrative zum europäisch-­amerikanischen Kino, das

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nos der sogenannten „Dritten Welt“, sind durch ihre ideologische Verankerung im antikolonialen Kampf sowie durch die binäre Abgrenzung zwischen Zentrum und Peripherie nicht (mehr) geeignet, aktuelle Dynamiken der Filmkulturen zu beschreiben (vgl. Ezra / Rowden 2006).80 Mit Blick auf die Kinos ehemaliger Kolonien bleibt die Frage, wie sich deren wirtschaftlich oft schwach gestellten Filme einen Platz in der internationalen Kinowelt verschaffen. Die Entstehung und zunehmende Verbreitung marginaler Produktionen sehen Ezra und Rowden allgemein durch die Kraft neuer Technologien wie der Digitalisierung und dem Internet begünstigt, die auch Produktionen ohne Studio und unabhängig(er) von staatlichen Geldern und Zensur ermöglichen (vgl. Ezra / Rowden 2006: 6). Die Zugänglichkeit zu diesen Filmen bleibt allerdings problematisch. Zwar werden viele Werke auf Festivals prämiert und auch die meisten Beispiele des hier ausgewählten Korpus können sich mit Auszeichnungen schmücken. Dennoch erreichen die Filme häufig nur geringe Zuschauerzahlen bzw. ein im Rahmen von Festivals eher ausgewähltes Publikum.81 Algerische Filme sind z. B. aufgrund mangelnder Distributionsstrukturen wenig im internationalen Markt verbreitet. Denise Brahimi weist darauf hin, dass wiederum viele franko-­maghrebinische Filme im Maghreb selbst nicht zu sehen sind, was neben möglicher Zensur besonders auch auf die fehlenden Kinosäle und die begrenzten finanziellen Mittel zurückzuführen ist (vgl. Brahimi 2009: 8).82 Somit gewinnen Ciné-­clubs sowie vor allem das Internet und Raubkopien für die Zirkulation der Filme weiterhin an Bedeutung. von den Vertretern des Third Cinema als Ausdruck von Imperialismus und Neokolonialismus gesehen wird. Ursprünglich geht das Konzept zurück auf das Manifest der argentinischen Filmemacher Fernando Solanas und Octavio Getino Hacia un Tercer cine (1969). In den 1980er Jahren etablierte sich der Begriff insbesondere unter Einfluss Teshome Gabriels in der Filmwissenschaft. Der Begriff wird unter Berücksichtigung der Dynamiken im weltweiten Filmschaffen neu diskutiert. Siehe hierzu beispielsweise die Beiträge in Rethinking Third Cinema (Guneratne / Dissayanake 2003). 80 Ella Shohat stellt dem Third Cinema das Konzept eines Post-­Third-Worldist Cinema gegenüber, das die Suggestion einer geschlossenen nationalen Identität im antikolonialen Kampf entlarvt und überwindet (vgl. Shohat 2006: 48). Shohats Ansatz berücksichtigt verschiedene Stimmen und Differenzen innerhalb der Nation, untersucht z. B. weibliche Schreibweisen, die die männlich dominierte Konzeption der Nation und Kinotradition herausfordern. 81 Algerische international erfolgreiche Filme sind tatsächlich überwiegend Koproduktionen, die sich teilweise hollywoodähnlichen Mustern annähern (z. B. Chronique des années de braise und Indigènes, siehe Kapitel IV). 82 Dieses Phänomen trifft auf viele afrikanische Länder zu (vgl. Higbee 2007: 84).

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4.2. Filmschaffen im Migrationskontext Beschreibt der Dachbegriff des transnationalen Kinos einerseits Verflechtungsdynamiken der Produktion, Distribution und Rezeption, richtet er sich andererseits besonders auf die Filme, die Ambivalenzen und Hybridität bewusst inhaltlich-­ ästhetisch kommunizieren. Auch wenn mittlerweile verschiedenste Filmströmungen in postmoderner Manier feste Identitäten und konventionelle Erzählmuster aufbrechen, sind doch meist die Werke darunter gefasst, die dies explizit(er) thematisieren und sich in plurikulturellen Kontexten verorten (vgl. Jahn-­Sudmann 2009: 23). Für diesen konkreteren Bezug auf Kino der (postkolonialen) Migration und Diaspora haben sich verschiedene Begriffe herausgebildet, die teilweise spezifischere Filmgruppen beschreiben, aber auch als übergeordnete Konzepte fungieren, darunter z. B. cinéma du métissage oder Kino der doppelten Kulturen (Seeßlen 2000). Auch die Bezeichnung „transkulturelles Kino“ kommt im deutschsprachigen Raum zum Tragen, besonders mit Blick auf deutsch-­türkische Filme und deren plurale Identitätskonzepte (siehe z. B. Schrader 2005). Das Problematisieren gelebter sowie geopolitischer Grenzen, die Aushandlungen von Identität und der Ausdruck von Prozesshaftigkeit bilden zentrale Merkmale, die die verschiedenen Ansätze den transkulturell-­transnationalen Filmen als gemeinsamen Nenner zuschreiben. Die franko-­algerischen Filme, die in Koproduktionen und vorwiegend mit französischen Geldern entstanden sind, finden verschiedene Zuordnungen, die sich mitunter überschneiden und die bewegliche Zwischenposition der Filme markieren. Unterschieden wird zunächst zwischen dem cinéma beur der in Frankreich aufgewachsenen Nachkommen von Migranten und den Filmen von später immigrierten Cineasten, wofür auch die Bezeichnung film émigré geläufig ist. Diese Differenzierung beruht einerseits auf thematischen und stilistischen Schwerpunkten, ist ebenso aber stark an den biographischen Hintergrund der Regisseure/innen gebunden. Das in seiner Bezeichnung nicht unproblematische cinéma beur, das sich den Identitätskonflikten vor allem der männlichen Nachkommen von Migranten in den banlieues widmet, hat sich seit seiner Entstehung in den 1980er Jahren zunehmend einen Platz in der französischen Filmkultur erobert. Ähnlich der Diskussion, inwiefern es nun dem französischen Kino zuzurechnen ist, zeugt die seit dem Erfolg von Mathieu Kassovitz’ Film La Haine (1995) verbreitete begriffliche Differenzierung eines cinéma de banlieue von der Unzulänglichkeit einer ethnisierenden Kategorisierung. Anstelle derartiger reduzierender Kriterien sind vielmehr textuelle Eigenschaften und thematische Charakteristika zu betrachten. Cornelia Ruhe überwindet den biographisch zentrierten Zugang deshalb mithilfe 52

des Genre-­Begriffs: „Beim cinéma beur handelt es sich eben nicht um eine durch Herkunft bestimmte Richtung des Kinos, in der wahrhaft authentische Filme über die Vorstädte nur schaffen kann, wer selbst über entsprechende biographische Erfahrungen verfügt, sondern um ein Genre“ (ebd.: 111). Durch den Genrebezug – mit seinem Rückgriff auf ein System von Regeln, intertextuellen und interkulturellen Referenzen, der Berücksichtigung von inhaltlichen und formalen Strukturen der Filme – können diese abgesehen von ethnisch-­biographischen Zuschreibungen in ihren textuellen Eigenschaften gefasst werden (vgl. hierzu Ruhe 2006: 16–39). Die Unterscheidung zwischen einem film beur und einem film émigré kann ebenso mit Blick auf Genreaspekte und Themen getroffen werden, dabei sind die Grenzen aber wiederum nicht eindeutig zu ziehen. Das cinéma beur konzentriert sich (ursprünglich) auf das Leben in den tristen Wohnblöcken, spielt also vor allem in Frankreich. Es drückt ein meist schwieriges Verhältnis der Jugend zur Herkunftskultur ihrer Eltern aus und zentriert sich um Figuren, die mit schulischen Problemen, Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung zu kämpfen haben, wobei zugleich enge Freundschaften eine Rolle spielen (vgl. Ruhe 82 f.). Die films émigrés sind laut Carrie Tarr mehr an populären Genres (wie Komödie, Melodram, road movie) orientiert; sie sind im Vergleich zum cinéma beur heterogener im Stil und weniger direkt autobiographisch inspiriert (vgl. Tarr 2005: 189 f.). Dabei stellt die Frage nach der Zugehörigkeit und Identität im multi-­ethnischen Frankreich eine große Gemeinsamkeit zum cinéma beur dar. Andererseits beschäftigt sich das Kino emigrierter Regisseure mehr mit ihrem Heimatland, wobei sich hier Tarr zufolge insgesamt grob drei Themenfelder herauskristallisieren: der Platz des Immigranten oder auch Besuchers in Frankreich, die Auseinandersetzung mit dem Islam und die Repräsentation Algeriens (vgl. ebd.). Ein möglicher Unterschied ist demnach in dem größeren Bezug der films émigrés zu Algerien zu sehen (vgl. ebd.: 197).83 Will Higbee (2013) verwendet mit Blick auf die Entwicklungen seit den 2000er Jahren den Begriff post-­beur cinema, der zeigt, wie die Filme etablierten Kategorisierungen trotzen und sich immer schwieriger in nationale oder herkunftsbezogene Muster einteilen lassen. Er beschreibt ähnlich wie Tarr, wie die Filme der Cineasten nordafrikanischen Hintergrunds sich populären Genres zuwenden und nicht (mehr) in der ‚Peripherie‘ festzuschreiben sind. Zugleich 83 Sowohl Ruhe als auch Tarr zeigen jedoch, wie sich das cinéma beur selbst weiterentwickelt, indem es Muster dekonstruiert und sich anderen Räumen und Themenschwerpunkten zuwendet. Seit den 1990er und vermehrt seit den 2000er Jahren befassen sich viele Regisseure/innen algerischer Herkunft mit unterschiedlichsten Aspekten der Geschichte, der Migrationserfahrung und gegenwärtigen Problematiken.

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zeigen Higbees Beobachtungen zusammen mit denen von Ruhe und Tarr, wie die Diversifizierung an thematischen und ästhetischen Orientierungen, die Herausbildung eigener Stile und die Entwicklungen einzelner Regisseure Veränderungen auch innerhalb von Genres und möglichen Einteilungen hervorrufen und so eine Durchlässigkeit bedeuten. Die franko-­algerischen Filme des in dieser Arbeit untersuchten Korpus entgehen ebenfalls einer strengen Zuordnung, indem sie z. B. ihren Fokus auf Bewegungen zwischen Algerien und Frankreich setzen, sich einerseits dem Leben der Migranten, andererseits der Kolonialgeschichte und dem aktuellen Algerien widmen. Die Schwierigkeit der eindeutigen Klassifizierung der franko-­algerischen Filme zeugt von deren Heterogenität, die durch das Aufbrechen von Genremustern und die spürbare Autorenhandschrift in vielen Filmen gefördert wird. Sie spricht für eine Perspektive, die statt einer festen Zuordnung und trotz möglicher biographischer Einflüsse auf die Werke die Spannungen und Aushandlungen der Filmtexte in den Vordergrund stellt. Ein besonderes Augenmerk auf die textuelle, ästhetische Reflexion von Migrationserfahrungen und die Problematisierung homogener Identitäten legt Hamid Naficys Konzept des accented cinema, das sich mit hybriden Schreibweisen unter Auswirkungen vom Leben im Exil und in der Diaspora befasst. Über Grenzen, Genres, Ethnien und Genderfragen hinweg beschreibt dieser Ansatz Filme, die jeweils auf ihre eigene Weise „akzentuiert“84 sind und spannungsgeladene Beziehungen zum Herkunftsland und der neuen Heimat ausdrücken (vgl. Naficy 2001: 39).85 Der „Akzent“ der Filme ist im Gegensatz zu der jeweils dominanten (nationalen) Filmkultur sowie in Abgrenzung zu von Hollywood beeinflussten, international etablierten Standards und Narrationsmustern zu sehen. Produktionsmodi außerhalb des Studiosystems, ein marginaler Status und die Tendenz zu experimentellen Formen sind charakteristisch.86 Deterritorialisierung, Verlust,

84 „Accented films are personal and unique, like fingerprints, because they are both authorial and autobiographical“ (ebd.: 34). 85 Je nach der realen und imaginierten Beziehung der Cineasten zum Herkunfts- und Aufnahmeland, differenziert Naficy deren Zuordnung zwischen „exilic“, „postcolonial ethnic and identity“ und „diasporic“, denen ein doppeltes identitäres Bewusstsein gemeinsam ist (vgl. ebd.: 21). Exilfilme konzentrieren sich demnach auf das „dort und dann“, die zweite Gruppe auf das „Hier und Jetzt“ und Diaspora-­Filme meist auf beides (Herkunfts- und Aufnahmeland). Allerdings ist fraglich, ob die Einteilungen so deutlich gemacht werden können. 86 „The variations among the films are driven by many factors, while their similarities stem principally from what the filmmakers have in common: liminal subjectivity and intersti-

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Nostalgie, das Motiv der Suche, physische und metaphorische Reisen sowie Fragen der Zugehörigkeit sind häufige Schwerpunkte. Das Unterlaufen konventioneller Strukturen drückt Naficy zufolge auf formaler Ebene Konflikte, Ambivalenz und hybride Existenzen aus (vgl. ebd.: 28). So kennzeichnen sich die Filme z. B. durch multiperspektivische, nicht-­lineare Erzählweisen und Polyphonie (ebd.: 25) aus. Ist Naficys Konzept für diese Arbeit insofern interessant, als es sich auf hybride Ausdrucksweisen bezieht, die Formen des Widerstands gegen homogene Konzeptionen und offizielle Sichtweisen der Nation generieren, scheint es durch seine enge Bindung an die Biographie der Filmemacher und die vorausgesetzte Marginalität zugleich begrenzend. Denn damit kann das accented cinema z. B. nicht mehr die in Frankreich entstandenen Filme von Regisseuren wie Merzak Allouache oder Rachid Bouchareb fassen, die große Erfolge erzielen, das Genrekino auf ihre Weise umschreiben und gerade ein Aufbrechen zwischen Marginalität und Mainstream bedeuten. Boucharebs jüngere Werke wie Hors-­la-loi (2010) mögen sich durch ihre Anleihen bei Hollywood-­Kriegs- und Actionfilmen Letzterem angepasst haben, dennoch vermitteln auch sie hybride Schreibweisen und Identitätskonflikte. Einen geeigneteren Ansatz, der ähnlich der vorigen Konzepte die Spannung zwischen nationalen und transnationalen Positionen mitdenkt, dabei aber problematische Festschreibungen von Zentrum und Peripherie überwindet und der Vielfalt des untersuchten Filmkorpus angemessener ist, liefert Will Higbee mit seinem Begriff des cinema of transvergence. Das Konzept fasst insbesondere, aber nicht ausschließlich, das frankophone Kino von emigrierten Filmemachern. In der Denkweise eines kritischen Transnationalismus berücksichtigt es Prozesse innerhalb des lokalen, nationalen Rahmens sowie in der transnationalen Dimension. Rather than being applied as an alternative to the national or transnational, the concept of ‘transvergence’ thus functions as a theoretical approach (or point of entry) via which we might better understand the negotiation for the disaporic or postcolonial film-­maker ‘between’ the national and the transnational – exploring the lines of flight, difference and derailment through which a truly (trans)national cinema functions (Higbee 2007: 90).

Um die verschiedenen Positionierungen der Filme und Filmemacher zu greifen, stützt sich Higbee auf den Begriff der Transvergenz, wie ihn Marcus Novak im architektonischen Kontext87 mit Blick auf Fragmentation und Differenz verwen-

tial location in society and the film industry“ (Naficy 2001: 10). Der accented style setzt nicht unbedingt immer eine Exilsituation voraus, sondern kann sich auch auf oppositionelle Ausdrucksweisen innerhalb des eigenen Landes beziehen (vgl. ebd.: 23). 87 Novaks Konzept der Transvergenz fordert die Lehre von Kontinuität und Konsistenz heraus und ist im Gegensatz zur Konvergenz (auf einen fixierten Punkt zulaufend) zu verstehen.

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det; ebenso bezieht er sich auf das Konzept des Rhizoms von Deleuze und Guattari, das multidirektionale Verbindungen symbolisiert. Da es weder hierarchisch noch zentriert ist, repräsentiert das Rhizom eine Vielfalt an Verknüpfungen, die Higbee auf sich bewegende Kontaktpunkte zwischen Filmemachern, Kinos und Filmkulturen überträgt. Diese sieht er als „complex and shifting matrix of local, national and global positionings“ (ebd.: 87). Die Grundgedanken des Konzepts stellen Instabilität und Diskontinuität heraus und ermöglichen es so, einen prozessualen Status der Filme und Cineasten zu erfassen: „Because of the open-­ended possibilities of both transvergence and the rhizome, the identity and positioning of the film-­maker within any given national or transcultural cinematic ‘network’ is never fixed, it is always under negotiation, always in a process of becoming“ (ebd.). Ähnlich wie beim accented cinema ist auch beim cinema of transvergence die Differenz gegenüber dominierenden Positionen zentral. Das Konzept bezieht dabei aber Verbindungen zwischen Identifikation und Alienation ebenso wie verschiedene Positionierungen im nationalen Referenzrahmen deutlicher mit ein. Entsprechend postkolonialer Ansätze wird das Widerstandspotenzial der marginalen Stimmen in dem Aufbrechen national-­zentrierter Narrationen gesehen bzw. in dem Neuschreiben der Nation aus anderen Perspektiven, die die bestehenden ‚Normen‘ unterminieren. Das Konzept der Transvergenz impliziert in dieser Hinsicht bewegliche Positionen der Filme: „At one moment, placed on the peripheries, pointing away from the centre but also, and at certain times, temporarily coming into contact with the notional ‘centre’, only to move off at a later time on another, new trajectory“ (ebd.: 86). Das Problem, dass Regisseure wie Merzak Allouache oder Mahmoud Zemmouri ebenso wie ihre Werke nicht eindeutig als französisch oder algerisch klassifiziert werden können, wird hier gerade zum Charakteristikum.88 [B]y considering them neither as purely national nor as transnational film-­makers but, rather, as ’transvergent‘, we can usefully consider the ways in which these directors negociate a position that, at different times and in different contexts, alternates ‘between‘ French and Algerian cinema, while still maintaining a distinct position ‘within‘ the two film cultures and industries. The identity of these film-­makers is thus constantly evolving through a process of ‘becoming’ (ebd.).

Allouaches Filme sind Higbee zufolge bestes Beispiel dafür, wie sich Differenz und Verbundenheit zu dominanten Filmkulturen zugleich ausdrücken kann und sich

88 Die Biographie der Filmemacher/innen spielt also wiederum eine Rolle und ist insofern bedeutend, als viele Filme eigene Exilerfahrungen verarbeiten. Dennoch ist zentral, dass nicht die Herkunft, sondern das Textuelle vorrangig ist.

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der Regisseur sowohl an europäischen, insbesondere französischen Einflüssen, als auch an algerischen kulturellen Traditionen orientiert. Er rekurriert z. B. auf die Komödie, die einerseits als populäres ‚westliches‘ Genre gilt, deren Elemente aber ebenso im arabischen Kino als bedeutender Bestandteil der Gesellschaftskritik verbreitet sind. Zudem verkörpern vor allem die Figuren seiner Filme eine Differenz, die dominante nationale Perspektiven auf die Gesellschaft durchbricht – wenngleich die Werke oftmals Mainstream-­kompatibel sind (vgl. ebd.: 89 f.).89 Charakterisiert das Konzept des cinema of transvergence die Dynamik und Hybridität von Filmen und Filmemachern bezüglich ihrer Referenzen, Positionierungen und idenititären Verortungen (besonders im Migrationskontext), lässt sich dieser Denkansatz als Hintergrund für das hier untersuchte Korpus fruchtbar machen, da er auch eine Vielfalt an (subversiven) Positionen innerhalb eines nationalen Rahmens erfasst. Filme von Regisseuren wie Allouache, die sich zwischen Frankreich und Algerien bewegen, stehen beispielhaft für die Anknüpfungen des algerischen Kinos an verschiedene Kontexte, was sich sowohl innerfilmisch als auch auf der Makroebene äußert. Allouache analysiert in seinen Werken die algerische Gesellschaft (z. B. Omar Gatlato, 1976; Bab el-­oued city, 1993; Les Terrasses, 2013) ebenso wie die französische (Salut Cousin!, 1996), stellt Verbindungen und ambivalente Begegnungen zwischen unterschiedlichen kulturellen Prägungen her oder beschreibt z. B. Fluchtversuche aus Algerien (Harragas, 2009). Sein Gesamtwerk umfasst verschiedenste Blickwinkel und (trans-)nationale Referenzen. Ähnlich der Situation dieses Filmemachers ist das algerische Kino zwischen nationalen und transnationalen Verortungen zu begreifen. Das Korpus bewegt sich durch verschiedene Produktionskontexte, Orientierungen, Stile und Denkrichtungen, angefangen vom antikolonialen Kino, über das Staatskino, bis hin zu den Filmen emigrierter oder in Frankreich aufgewachsener Regisseure/ innen. Die sich verändernden Rahmen des Filmschaffens prägen dessen Heterogenität, die sich unter dem Dach einer kritischen transnational-­transkulturellen Perspektive erfassen lässt.

89 Higbee nennt hier als Beispiel insbesondere Allouaches Film Chouchou (2003), der in Frankreich über 3 Mio. Zuschauer erreicht hat (vgl. Higbee 2007: 90). Die Hauptfigur ist ein Transvestit maghrebinischer Herkunft, der ‚Normvorstellungen‘ der Nation und Auffassungen von fixierter Identität auf Genderebene unterläuft.

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III  Filmgeschichtlicher Abriss Zur besseren Orientierung und historischen Einordnung der Filme des Analyseteils in Kapitel IV gibt dieses Kapitel einen zusammenfassenden Einblick in die Entwicklungen des algerischen Kinos und nimmt dafür einige Aspekte vorweg, die in den Analysen detaillierter dargestellt werden. Wesentliche Etappen der Kinogeschichte werden anhand struktureller Gegebenheiten und thematischer Tendenzen skizziert, wobei die Auswahl der Filme exemplarisch zu verstehen ist. Dazu wird kurz die Vorgeschichte des Kolonialkinos in Algerien aufgegriffen, bevor das algerische Kino in seinen Konturen und Transformationen umrissen wird.

1. Vorgeschichte – Kolonialfilme und Einführung des Kinos in Algerien 1.1. Algerien als Bühne europäischer Projektionen Seit den Anfängen des europäischen Kinos – mit den ersten öffentlichen Filmvorführungen des Kinematographen der Brüder Louis und Auguste Lumière 1895 in Frankreich – wurde diese neue technische Errungenschaft und Attraktion schon bald auch in Algerien erprobt. Allerdings war es nicht die algerische Filmkunst, die hier in den Anfängen des Kinozeitalters ihren Ausgangspunkt nahm, sondern die französischer Filmpioniere, die Algerien und seine Nachbarländer zu ihrer Kulisse machten. Die Entstehung eines algerischen Kinos, das Ausdruck der Lebensrealität und Imaginationen der Algerier wäre, ist zu diesem Zeitpunkt noch weit entfernt.90 Sowohl die Filmproduktion als auch die Kinobetriebe waren ebenso wie andere kulturelle und wirtschaftliche Bereiche in französischer Hand. Als französisches Repräsentations- und Machtinstrument diente das cinéma colonial in Algerien der Selbstbestätigung und Unterhaltung der europäischen Siedler ebenso wie Propagandazwecken (vgl. Spaas 2000: 128). Seine Bindung an koloniale Interessen und Ideologien lässt sich sowohl anhand der Infrastruktur (Produktion, Vorführung) als auch an den filmischen Darstellungsweisen festmachen.

90 Bis zur Unabhängigkeit der maghrebinischen Staaten gab es nur einen autochthonen Pionierfilmemacher, den Tunesier Albert Sammama Chikly, der Filme wie Zohra (1922) und Aïn el Ghezal / La fille de Catharge (1924) drehte (vgl. Armes 2005: 6).

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Die ersten Vorführungen mit dem Kinematographen fanden in Algerien im Jahre 1896 in Algier und Oran statt. Ab 1908 wurden erste Filmtheater eingerichtet, und bis 1914 gab es bereits sieben Kinos in Algier. Mit dem Anstieg der europäischen Bevölkerung, von 781.000 im Jahre 1912 auf über 1 Mio. gegen Ende der Kolonialzeit, nahm die Zahl der Filmtheater bedeutend zu. 1930 waren es schon 150, 1956 über 300 Kinosäle.91 Fast alle der 35-mm-­Kinos befanden sich in den großen Städten, die durch die Einflussnahme der Siedler von einer europäisierten Kulturszene geprägt waren. Im Durchschnitt wurden während der Kolonialperiode ca. 15 Filme pro Jahr im Maghreb gedreht, was jedoch keinen Aufbau lokaler Filmindustrien bewirkte, da die Filme in Frankreich gefertigt wurden (vgl. Salmane 1976: 9).92 Bereits mehrere Aufnahmen der im Lumière-­Katalog zwischen 1895 und 1905 aufgelisteten Kurzfilme wurden in Nordafrika gedreht. Einer der bekanntesten Kameramänner der Lumières, Félix Mesguich, der selbst in Algerien geboren war, erstellte 1905 den in seinem Titel pejorativ anmutenden Film Ali bouff ’à l’huile. Dennoch war Mesguich laut Rachid Boudjedra einer der wenigen Filmemacher, der Nachrichtenmaterial lieferte und sich in seinen Dokumentationen, z. B. unter den Titeln Prière de Muezzin und Marché arabe, der Realität der Algerier zumindest ansatzweise genähert zu haben scheint (vgl. Boudjedra 1971: 10). Denn im Gegensatz zu Mesguichs Versuchen, die Lebensweisen der Autochthonen – wenn auch mit einem eurozentrischen Blick – einzufangen, entzog sich das französische Kolonialkino weitgehend der sozio-­kulturellen und politischen Realität und präsentierte, ganz im Sinne einer Traumfabrik, koloniale Abenteuer, exotistische Bilder und verzerrende Perspektiven auf die Kolonisierten. Auch der große französische Kinopionier und Vorreiter fiktionaler Filmrichtungen Georges Méliès inszenierte z. B. 1897 in seinem Streifen Le Musulman rigolo ‚den Araber‘ als komische Kreatur, die ebenso wie in nachfolgenden Filmen der Kolonialperiode fremd und unverständlich erschien. Der Maghreb wurde lange Zeit als Einheit, ohne Unterscheidungen zwischen einzelnen geographischen, sprachlichen oder kulturellen Differenzen, entworfen. Befreit von den politischen und sozialen Begebenheiten, wurde er so in der Stummfilmära zum mythischen Ort (vgl. ebd.: 9). Die Imaginationen des „Ori91 Vgl. hierzu Armes / Malkmus 1991: 5 und Megherbi 1985: 13 f. Die Angaben zu den Kinos fallen laut Megherbi oft unterschiedlich aus, da teilweise nur die 35-mm-­Kinos angegeben werden, teilweise aber auch 35-mm- und 16-mm-­Kinos gemischt oder auch mobile ciné-­bus mitgerechnet werden. 92 Pierre Boulanger zählt 210 Langspielfilme, die in der Zeit zwischen 1911 und 1962 im Maghreb gedreht wurden (vgl. Boulanger 1975: 5).

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ents“ aus der europäischen Malerei und Literatur des 19. Jhs. schrieb sich mitsamt der dort etablierten Stereotype im Kino weiter fort.93 Wurde „der Araber“ als faul, gefährlich oder hinterlistig dargestellt, galt die „Orientalin“ als begehrenswertes Objekt. Die Reduktion der Kolonisierten auf eine orientalisierte Silhouette und die dichotome Gegenüberstellung von „Orient“ und „Okzident“ kam dem europäischen Selbstentwurf zu Gute. Vorstellungen von Überlegenheit und Projektionen lustvoller Phantasien ergänzten sich dabei und unterdrückten die eigene Stimme der Kolonisierten. Waren die Algerier zum einen von der Filmproduktion ausgeschlossen, spielten sie zum anderen auch keine bedeutende Rolle vor der Kamera. Die arabischen Figuren, die in den Spielfilmen auftraten, wurden nur schablonenhaft dargestellt und sogar oft von Europäern verkörpert. Auch der geographische und filmische Raum wurde aus kolonialistischer Perspektive mit Bedeutungen aufgeladen. Neben der Wüstenlandschaft diente die verwinkelte Casbah Algiers (die arabische Altstadt) als orientalistisches Dekor, so z. B. in Julien Duviviers Pépé le Moko (1937). Dass dieser vorwiegend in der Casbah verortete Film überwiegend im Studio und weniger in Algier gedreht wurde, unterstreicht umso mehr die exemplarische Kulissenhaftigkeit Algeriens für französische Kolonialfilme.94 Die Exklusion der Algerier manifestiert sich in Pépé le Moko darin, dass europäische Figuren und Schauspieler im Zentrum stehen. Überdies wird die arabische Bevölkerung als größte Einwohnergruppe der Casbah bei einer dokumentarisierenden Aufzählung eines voice-­over-Kommentars zu Beginn des Films ausgeschlossen. „There are, as most commentators on the film have noticed, no Arabs in the Casbah!“ (Armes 2006: 23).95 Die arabische Stimme wird entsprechend ausgespart, 93 „Il va reprendre tous les thèmes déjà développés et institutionnalisés par la peinture (tels que la mauresque, le harem, la violence de ‘l’indigène’, son repli sur la religion, sa décadence culturelle, son infériorité, etc.), mais en les incorporant dans un univers de vraisemblance construite“ (Benali 1998: 31). 94 Die Casbah wurde für den Film von Jacques Kraus im Joinville Studio in Paris nachgebildet (vgl. Armes 2006: 23), was den Aspekt der Konstruiertheit nach französischen Vorstellungen nur verstärkt. Ähnliches gilt für den Film Atlantide (Jacques Feyder, 1927), der hauptsächlich in der Wüste spielt, zugleich aber einen großen Teil seiner Handlungen in einem Palast stattfinden sieht, der in einer Art Studio in der Nähe Algiers konstruiert wurde und laut Benali auch auf die Negation des realen Ortes verweist (vgl. Benali 1998: 33). 95 Die Figur Slimane wird z. B. als Araber stereotypisiert, aber nicht von einem Algerier gespielt. Lediglich ein autochthoner Name taucht in den Credits auf; es handelt sich um Mohamed Iguerbouchen, der dem ‚westlichen‘ Soundtrack ‚orientalische‘ Musik beifügte (vgl. Armes 2006: 24).

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indem auf der Tonebene des Films kein Arabisch zu hören ist. Die Story über den Juwelendieb Pépé le Moko (Jean Gabin), der sich in Gaby (Mireille Balin), die Maitresse eines reichen Geschäftsmannes, verliebt und so gefasst werden kann, ist also ein europäisches Drama, das auch an einem beliebig anderen Ort hätte spielen können. Die Absenz der Algerier in diesem sowie vielen französischen Filmen der Kolonialzeit zeigt, wie die auf das europäische Publikum zugeschnittenen Drehbücher kaum einen Raum und Subjektstatus für die einheimische arabisch-­berberische Bevölkerung boten. Wie bereits der Kolonialroman und insbesondere die Literatur der Algerianisten spiegelten die Filme die Weltsicht der Kolonisatoren und inszenierten seit den 1930er Jahren zunehmend ein von Siedlern bevölkertes Algerien (vgl. Benali 1998: 35). Im Gegensatz zu Pépé le Moko spielten die meisten von ihnen im ländlichen Milieu und konzentrierten sich auf die Verdienste der colons, die als Helden ein angeblich wüstes Land urbar machten (vgl. Armes / Malkmus 1991: 16).96 Die filmischen Repräsentationen Algeriens kreierten ein fiktionales Universum und Idealbild des œuvre coloniale, das die Inanspruchnahme des maghrebinischen Raums rechtfertigte. Das Kolonialkino erschuf Algerien und den Maghreb so insgesamt als einen Ort, der den Identitäts- und Geschichtskonstruktionen der Kolonisatoren diente: „Contrairement aux documentaires de propagande, les films coloniaux de fiction créent un cadre normatif permettant de raconter l’épopée française dans un espace étranger“ (Benali 1998: 50). Das cinéma colonial und seine Struktur in den Kolonialgebieten lassen sich letztlich durch eine mehrfache Exklusion der Autochthonen definieren: und zwar neben deren Absenz als Filmproduzenten und für sich selbst sprechende Hauptakteure auch bezüglich der Filmrezeption. Durch die vorwiegende räumliche Situierung der Filmtheater in den europäisch geprägten Städten sowie aufgrund sprachlicher und finanzieller Barrieren war der Kinobesuch überwiegend den Siedlern vorbehalten (vgl. Spaas 2000: 134). Nur wenige Kinos waren für ein autochthones Publikum bestimmt und zeigten z. B. auch ägyptische Filme97 in arabischer Sprache. Diese waren oft durch hoch besteuerte Eintrittspreise für die Algerier kaum erschwinglich (vgl. Armes / Malkmus 1991: 5). Das Kolonialkino, das strukturell die Segregation der Bevölkerung spiegelte, hatte nach Hala Salmane vor allem zwei Aufgaben: 96 Armes und Malkmus nennen z. B. Le Bled (Renoir, 1929), Le Simoun (Gémier, 1933), Bourrasque (Billon, 1935). 97 Ägypten hatte seit den 1930er Jahren eine eigene florierende Filmindustrie, die Filme in arabischer Sprache produzierte und auch nach der Unabhängigkeit vieler Länder den arabischen Markt beherrschte.

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1) To distort the image of colonised people in order to justify to Western public opinion the policy of colonisation; the ‘natives’ had therefore to be portrayed as sub-­human; 2) To convince the ‘natives’ that their colonial ‘mother’ protected them from their own savagery and from the unhappiness which was their essential state of mind (Salmane 1976: 8).

Vor dem Hintergrund politischer Entwicklungen wurde das algerische Publikum letztlich durch propagandistische Filme gezielt angesprochen, um z. B. während des Zweiten Weltkriegs algerische Männer als Soldaten zu gewinnen. Zur Einflussnahme auf die ländliche Bevölkerung wurden mobile Kinobusse, ciné-­bus, eingesetzt, die meist Dokumentarfilme präsentierten (vgl. Armes / Malkmus 1991: 21). Der Ansatz der Kolonialregierung, eigene Distributions- und Produktionsnetzwerke im Maghreb einzurichten, zielte nicht zuletzt auch darauf ab, dem Einfluss des ägyptischen Kinos und einer möglichen Verbreitung des sich entwickelnden panarabischen Nationalismus entgegenzuwirken: „En cherchant à créer un cinéma maghrébin, on cherchait à préserver les pays du Maghreb de l’influence du nationalisme arabo-­musulman à visée indépendantiste“ (Benali 1998: 337). Politisch brisante Themen wurden weiterhin gemieden, so vor allem der seit 1945 erstarkende algerische Nationalismus (vgl. Boudjedra 1971: 16). Besonders während des Algerienkriegs diente das Medium Film als Propagandainstrument.98 Hierzu wurden in größerem Maße Dokumentationen erstellt, die ungeachtet ihres eigentlichen Zwecks erstmals auch die Lebensrealität der Algerier zeigten: [D]uring the Algerian War, the French army made extensive use of newsreel footage specially edited to put the case for ‘pacification’ to the Algerian people. Shots of Algerian combatants were naturally omitted, but it was not possible to avoid all aspects of Algerian reality. The ironic result, as Megherbi points out, was that Algerians saw their own lives – the squalid living conditions of the colonized rural masses, for example – depicted realistically on the screen for the first time, thanks to the propaganda efforts of the French army (Armes / Malkmus 1991: 21).

Insgesamt reflektierten sowohl die Propagandafilme als auch die Spielfilme des cinéma colonial die konstruierte hierarchische Dichotomie zwischen colonisateur und colonisé. Die kolonialistische Weltsicht, verklärt durch orientalistische Dar-

98 1955 richtete die Kolonialregierung drei regionale Fernsehstationen ein; ein Studio und Labor, Africa Film, wurde Anfang der 1950er Jahre gegründet und zog dann nach Tunesien um (vgl. Salmane 1976: 19). Für einen detaillierten Blick auf französische Propagandafilme im Algerienkrieg siehe Sébastien Denis: Le cinéma et la guerre d’Algérie (2009).

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stellungen und einen Diskurs der französischen Überlegenheit, prägte auch die visuellen (Selbst-)Eindrücke der Algerier, die, wenn überhaupt, dann vorwiegend die kolonialen Sichtweisen präsentiert bekamen.

1.2. Repräsentationen des Algerienkriegs im französischen Kino Nicht nur während der Kolonialzeit und des Unabhängigkeitskriegs, sondern auch noch Jahre danach blieb das französische Kino im Hinblick auf den Algerienkonflikt stark beeinträchtigt von Politik und Zensurmaßnahmen. Abgesehen von den Vorstößen einiger engagierter Antikolonialisten, wurde eine direkte Auseinandersetzung lange Zeit vermieden. Entsprechend der politischen Negierung des Kriegs und dessen Verharmlosung als événements und entreprises de pacification (Stora 1998: 13) ist auch im Kino eine Ausblendung dieses dunklen Kapitels der Kolonialgeschichte zu vernehmen. Diese bedeutet allerdings nicht etwa eine zu vermutende geringe Anzahl an Filmen zu diesem Thema. Studien seit den 1990er Jahren zeigen, dass es sich vielmehr um eine ‚gefühlte‘ Abwesenheit handelt (vgl. Dine 2002: 215).99 Diese resultiert aus den von Tabuisierungen beeinflussten, nicht-­expliziten Repräsentationsweisen. Dokumentationen antikolonialer Filmemacher wie René Vautier und Pierre Clément, die das Kriegsgeschehen auf Seiten der Algerier bezeugten (siehe III.2.), wurden verboten und nur heimlich gezeigt. Das dadurch entstehende ‚Parallelkino‘, das sich unter anderem in Jacques Panijels Octobre à Paris (1962)100 ausdrückte, wirkte als Gegenkraft zum Mainstream-­Kino, das sich seit 1958 zunehmend auf die Reanimierung des Résistance-­Mythos konzentrierte (vgl. Dine 2002: 218). Mit den technisch-­ästhetischen Innovationen der Nouvelle Vague und ihren provokativen Positionierungen setzte sich diese Entwicklung ansatzweise auch in Spielfilmen fort. Mehrere große Regisseure der Nouvelle Vague griffen den Alge-

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Bereits für den Zeitraum zwischen 1958 und 1964 zählt Benjamin Stora ca. 40 Filme, die einen Bezug zum Algerienkrieg herstellten, darunter einige bedeutende Werke der Nouvelle Vague (vgl. Stora 2003). 100 Die Produktion vom Collectif Vérité-­Liberté unter der Regie Jacques Panijels dokumentierte die Massaker vom 17. Oktober 1961 in Paris, bei der die französische Polizei unter Papon massiv gegen friedliche Demonstranten vorging (siehe auch IV.4.1.). Der Film wurde verboten und erhielt erst 1973, nach einem Hungerstreik René Vautiers, eine Abspielerlaubnis. Im Rahmen des Filmfestivals Maghreb des films 2011, das sich dem 50-jährigen Gedenktag an die Ereignisse widmete, wurde er erstmals im Kino vorgeführt.

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rienkonflikt auf, wobei die Zensurmaßnahmen die Veröffentlichung der Filme bis nach Kriegsende verzögerten und so deren Aktualität minderten.101 Unabhängig von den Innovationen dieser Strömung blieb der Krieg überwiegend im Hintergrund der Inszenierungen. Die meisten Werke konzentrieren sich auf die Geschichten eingezogener Soldaten; sie beschreiben Abschied und Rückkehr der appelés sowie deren persönliche psychische Folgen und zerstörte Beziehungen (vgl. Branche 1997: 57)102: „Un regard sur ces films indique qu’ils ne montrent pas vraiment la guerre d’Algérie. Les cinéastes évoquent ce qui se passe avant et après, mais jamais pendant la guerre“ (Stora 2008: 264). Auch Alain Resnais’ Film Muriel (1963), der als erster die Folter zu einem zentralen Thema macht, blendet diese bezeichnenderweise visuell aus und vermittelt die Schrecken indirekt. Die Repräsentationsschwierigkeit der kolonialen Gewalt wird hier exemplarisch deutlich, symbolisiert durch das titelgebende, aber nicht sichtbare Folteropfer Muriel.103 Godards 1960 entstandener und bis 1963 verbotener Film Le petit Soldat zeigt zwar Folterszenen, allerdings auf Seiten der FLN. Dass Le petit Soldat in Genf spielt und die meisten anderen Filme in Frankreich, ist bezeichnend für die von Distanz geprägte französische Erfahrung des Algerienkriegs, die die Filme dieser Periode spiegeln. In logischer Konsequenz und Kontinuität zu den Kolonialfilmen bleiben die Algerier im Hintergrund. Die fellaghas (Widerständler) werden, wenn überhaupt repräsentiert, stereotypisiert, die ALN aufgrund des fehlenden Kriegsstatus nicht erwähnt.104 Auch nach 1962 lässt sich somit eine mehrfache Absenz Algeriens im französischen Kino konstatieren: in Bezug auf die Kriegsbilder, die authentischen Schauplätze und die algerischen Akteure (und deren Perspektiven). Ab 1968 und im Laufe der 1970er Jahre entstehen einige antimilitaristische und kritische Filme von bereits zuvor aktiven Oppositionellen wie René Vautier oder 101 Unter Vorwand des Kinderschutzes wurden Filme von Rozier, Resnais, Godard und Cavalier verboten (vgl. Stora 2008). Auch das Verbot von Pontecorvos La Bataille d’Alger (1966), der erst 1970 eine Lizenz erhielt und dessen Ausstrahlung dann von Gewaltangriffen radikaler Verfechter einer Algérie française begleitet wurde, ist bezeichnend für die Verdrängung des Konflikts von der Leinwand. 102 Branche nennt z. B. Filme wie Cléo de 5 à 7 (Agnès Varda, 1962), Adieu Philippine (Jacques Rozier, 1963) oder La Belle Vie (Robert Enrico, 1963). 103 Ein intradiegetischer Privatfilm, der Bilder über ein Soldatencamp zeigt, spielt sogar eine scheinbare Normalität des Soldatenalltags vor, präsentiert Soldaten beim Essen, Tanzen oder in freundlicher Begegnung mit Autochthonen und nur am Rande auch an der Waffe. Diese ‚Täuschung‘ ist beispielhaft für die Nicht-­Visualisierung des Kriegs. 104 „[J]amais en effet le statut de combattant n’est reconnu aux fellaghas. L’ALN d’ailleurs n’est jamais nommé en tant que telle: elle n’existe pas“ (Branche 1997: 62).

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z. B. Laurent Heynemann, der Henri Allegs La Question (1977) adaptierte. Einige wenige Filme wie Avoir vingt ans dans les Aurès105 (René Vautier, 1972) und RAS (Yves Boisset, 1973) spielen nun in Algerien und zeigen erstmals deutlich die brutale Gewalt des Kriegs. Dennoch konzentrieren auch sie sich auf den individuellen Kampf französischer Protagonisten, in diesem Fall Deserteure. Mit dem Fokus auf den Kriegsverweigerern wird Stora zufolge der Mythos des Widerstands evoziert und die Verantwortung Frankreichs wiederum durch humane Helden verdeckt (vgl. Stora 2008: 265). In den 1970er Jahren zeigen sich weitere Veränderungen, wovon besonders das (Wieder-)Auftreten des pied-­noir-Gedächtnisses mit Filmen wie Le Coup de sirocco (Alexandre Arcady, 1978) zu nennen ist. Dieser ist einer der ersten pied-­noir-Filme seit James Blues gleichnamiger Adaption von Jean Pélégris Roman Les Oliviers de la justice (1962), der noch gegen Ende des Kriegs in Algerien entstand und die Utopie eines brüderlichen französischen Algeriens verbreitete.106 War der Algerienkrieg selbst lange nur im Hintergrund präsent, so rücken ihn einige Filme in den 1990er und 2000er Jahren in den Mittelpunkt und spiegeln damit das Wiederaufleben der Erinnerungen und öffentlichen Debatten. In den 2000er Jahren findet zunehmend eine direktere Auseinandersetzung mit Gewalt und Folter statt, die im Kontext der beginnenden Aufarbeitung und Publikationen über den Algerienkrieg zu sehen ist. Filme wie La Trahison (Philippe Faucon, 2005), Mon Colonel (Laurent Herbiet, 2006) und L’Ennemi intime (Florent-­Eimilio Siri, 2007) stellen das Kriegsgeschehen ins Zentrum und betrachten diese aus ver105 Dass ein Film wie Avoir vingt ans dans les Aurès teils als französisch und teils als algerisch gilt, zeigt, wie sich eine eindeutige Trennung in französische und algerische Filme mitunter als schwierig erweist, sei es aufgrund der Biographie der Filmemacher oder der (politischen) Perspektive der Filme. Denn Vautier vertritt eine mit den Algeriern sympathisierende Position, auch wenn es sich bei diesem Beispiel um hauptsächlich französische Protagonisten handelt. Ähnlich wird Michel Drachs Film Élise ou la vraie vie (1972) als algerischer und auch als erster französischer Film gesehen, der aus Sicht der ‚Anderen‘ den Algerienkrieg, die Immigration sowie den Rassismus in Frankreich betrachtet (vgl. Branche 1997: 59). 106 Jean Pélégri gehörte zur sogenannten École d’Alger, einem lockeren Verbund von gleichgesinnten Links-­Intellektuellen beider Bevölkerungsgruppen, die sich um den Verleger Edmont Charlot gruppierten und die Vorstellung eines gemeinsamen Algeriens (unter französischer Regierung) vertraten, angelehnt an die Idee einer Mittelmeerkultur, die besonders von Gabriel Audisio inspiriert wurde. Neben Audisio und Pélégri zählten dazu u. a. Albert Camus, Jean Grenier, Emmanuel Roblès, Jean Sénac, Jean Amrouche ebenso wie Mohamed Dib, Mouloud Feraoun und Kateb Yacine. Siehe zur École d’Alger Déjeux 1978 und Xuereb 2003.

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schiedenen Perspektiven. In dieser Tendenz bringen vermehrt franko-­algerische und transnationale Produktionen den Algerienkrieg zurück auf die Leinwand (siehe IV.4.1.). Eine eindeutige Zuordnung der Filme wird angesichts dessen immer schwieriger und zeigt sich auch an der Entwicklung des algerischen Kinos.

2. Zeugnisse des Kriegs: Erste (franko-)algerische Filme im Befreiungskampf Mit der Unabhängigkeit und teilweise bereits während der Freiheitsbewegungen verschiedener Länder in Afrika und Asien sollte das Medium Film sich oftmals zu einem politischen Instrumentarium der Dekolonisation entwickeln und eine bedeutende Rolle bei der Rekonstruktion der nationalen Identität spielen. Dies trifft insbesondere auf die Anfänge des algerischen Kinos zu, das regelrecht aus dem Unabhängigkeitskampf heraus geboren wurde. Die ersten dokumentarischen Kurzfilme, die während des Kriegs auf Seiten der Algerier produziert wurden, präsentierten den Kampf im Maquis oder die miserablen Lebensumstände der autochthonen Bevölkerung. Sie wurden meist in gemeinsamer Arbeit von algerischen und französischen FLN-­Sympathisanten gedreht, deren Anliegen es war, das koloniale Unrecht und die Ziele des Freiheitskampfes aus algerischer Perspektive zu bezeugen und der französischen Propaganda entgegenzuwirken. Das algerische Kino fand seinen Ausgangspunkt somit in Reaktion auf das Unausgesprochene, le non-­dit, – bezüglich der kolonialen Unterdrückung sowie einer algerischen Identität – und machte sich zum Sprachrohr eines Volkes, das bis dahin seines eigenen Wortes und Bildes beraubt war. Es ist in seinem Ursprung ein politisches Kino, das sich mit der Verteidigung der nationalen Ziele an der Seite der FLN in einen antikolonialen Diskurs einschrieb: „Il a d’abord été un cinéma de combat, né dans le maquis (1957) à l’instigation d’une poignée de militants, et se définissait prioritairement comme un cinéma d’histoire et de témoignage de la lutte de libération nationale“ (Hadj-­Moussa 1994: 87). Dabei war nicht der künstlerische Ausdruck prioritär, sondern die Funktionalität der Filme. Sie sollten die Ereignisse des Kriegs sowie dessen „wahres Gesicht“ einfangen und bildeten quasi eine „ideologische Front“, die den bewaffneten Kampf mit der Waffe des Bildes unterstützte (vgl. Boudjedra 1971: 48 f.). Die ersten derartigen Produktionen entstanden unter der Regie des antikolonialen französischen Filmemachers René Vautier. Vautier leitete ab 1957 die erste algerische Produktionseinheit Groupe Farid, die politisch an den FLN-­Einflussbezirk der wilaya 1 angegliedert war. Mit dieser produzierte er 1957 unter dem Pseudonym Farid Dendani den bekanntesten dokumentarischen Kurzfilm der Kriegszeit, Algérie en flammes, der für die meisten Filmhistoriker den Anfangspunkt der algeri67

schen Filmgeschichte markiert.107 Während der Dreharbeiten zu diesem Film im Aurès-­Gebirge verlor Vautier einige seiner Schüler durch Angriffe; er selbst kam verletzt nach Ost-­Berlin, wo er Algérie en flammes fertigstellte. Die provisorische Regierung der FLN (GPRA) bemühte sich darum, das Potenzial des Mediums Film gezielt zur Massenmobilisierung zu nutzen. Dazu wurde der unter Vautier gegründete Filmdienst von Tebessa als Service du cinéma national der GPRA angeschlossen (vgl. Shafik 1996: 33). Dieser bildete erste organisatorische Vorläufe des algerischen Kinos, war für die Bearbeitung des Materials aber auf die Hilfe verbündeter Staaten wie Tunesien oder Jugoslawien angewiesen. Um die internationale Aufmerksamkeit auf die Geschehnisse des Algerienkriegs zu lenken, gab die GPRA Produktionen in Auftrag, die zur Solidarität mit den Algeriern beitragen sollten. Unter der Leitung Mohamed Lakhdar Haminas und Djamel Chanderlis wurden dazu vier Filme in Kollektivarbeit erstellt. Der erste 1960 in dieser Reihe entstandene Film, Djazaïrouna, ist eine Archivmontage, die auf Vautiers Une nation, l’Algérie (1954) und auf Aufnahmen Chanderlis basiert; er erlangte Aufmerksamkeit, indem er bei einer UNO-­Versammlung in New York vor verschiedenen ausländischen Delegationen präsentiert wurde (vgl. Bedjaoui 1987: 147). Djazaïrouna / Unser Algerien weist mit seinem Titel auf die Rückforderung ihres eigenen Landes durch die Algerier hin und beschreibt die Geschichte des nationalen Widerstandes. Das Material wurde für einen Folgefilm unter dem Titel La Voix du peuple ergänzt. Ein weiterer Film, Les Fusils de la liberté, begleitet einen ALN-­Konvoi, der Waffen von der tunesischen Grenze durch die Wüste schmuggelt. Eine symbolischere Sprache findet sich in Yasmina, der als erster algerischer Fiktionsfilm mit einem hohen dokumentarischen Anteil gilt. Yasmina appelliert an die Emotionen der Zuschauer, indem er von den Erfahrungen eines jungen Mädchens in einem Flüchtlingslager erzählt.

107 René Vautier setzte sich schon früh mit der französischen Kolonisation Afrikas auseinander und war einer der engagiertesten antikolonialen Filmemacher. Er drehte bereits 1950 nach Abschluss seines Studiums am IDHEC in Paris einen kritischen Film zum französischen Kolonialismus, Afrique 50, der bis 1990 in Frankreich verboten war. Nach seinem die Unabhängigkeit unterstützenden Film Une nation, l’Algérie (1954) wurde Vautier vom französischen Staatsschutz verfolgt und nach den Dreharbeiten zu Algérie en flammes letztlich zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Bis Mai 1968 war Algérie en flammes in Frankreich verboten, wo er dann letztendlich an der Sorbonne gezeigt wurde (vgl. hierzu Spaas 2000: 134). Weitere Kurzfilme sind u. a. der Film über das Bombardement eines tunesischen Dorfes nahe der Grenze, Sakiet Sidi Youssef (Vautier, 1958) sowie J’ai huit ans (Olga Baïda-­Poliakoff / Yann le Masson, 1961), der auf Kriegszeichnungen von Kindern basiert.

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In seinem Ausgangspunkt im Kriegsgeschehen angesiedelt, ist die Kriegsthematik dem algerischen Kino originär. Das Entstehen der algerischen Filmkultur in diesem Kontext sowie die damit oft verbundene Form des Dokumentarischen ebneten den Weg für die bedeutende Stellung des Befreiungskampfes und des dokumentarischen Einflusses in der weiteren Entwicklung. Die Produktionen während des Kriegs sind nicht nur beispielhaft für den politisch-­thematischen Ursprung der algerischen Filmgeschichte, sondern sie zeigen auch, dass spätere Schlüsselfiguren des algerischen Kinos, wie z. B. Mohamed Lakhdar Hamina, schon früh involviert waren und die Herausbildung der nationalen Filmkultur von Beginn an geprägt haben. Trotz seiner ideologischen Ausrichtung auf die nationale Befreiung bewegt sich das algerische Kino seit seinen Anfängen über nationale Grenzen hinweg und ist von verschiedenen Einflüssen geprägt – vor allem durch die Ausbildung der Cineasten im Ausland sowie durch das Engagement europäischer Filmemacher und Sympathisanten, die wie Vautier entscheidend zur Entstehung des algerischen Kinos beigetragen haben und auch an den ersten Produktionen nach 1962 beteiligt waren.

3. Das algerische Kino seit der Unabhängigkeit In diesem dritten Abschnitt werden nun wesentliche Rahmenentwicklungen, Orientierungen und Transformationen des algerischen Kinos von der Unabhängigkeit bis hin zu seiner existenziellen Krise verfolgt. Das algerische Kino lässt sich grob anhand von verschiedenen Phasen beschreiben. Es handelt sich dabei aber weniger um eine strikt zeitlich und inhaltlich festzulegende Einteilung als um thematische und strukturelle Tendenzen, die teils parallel verlaufen und vor dem politischen Hintergrund zu betrachten sind. Als größere Perioden kann zwischen dem Staatskino von Ende der 1960er Jahre bis in die 1980er Jahre und einer 1984 einsetzenden Phase der Privatisierung des Kinosektors unterschieden werden. Während bis in die 1980er Jahre hinein in Algerien die einflussreichste Filmindustrie im Maghreb beheimatet war, erfährt das algerische Kino in den 1990ern durch die wirtschaftlichen und politischen Umstände einen Zusammenbruch, von dem es sich bis heute nicht erholt hat. Auf Produktions- sowie auf Inhaltsebene bedeutet dies weitere Umbrüche und beispielsweise eine Ansiedelung des Filmschaffens algerischer Regisseure außerhalb Algeriens.

3.1. Organisation des Kinosektors Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit gab es außer den vielen Kinosälen, die die Kolonialmacht in Anlehnung an den Bedarf der Siedlerbevölkerung eingerichtet 69

hatte, kaum eine Infrastruktur, auf die der neu entstehende algerische Filmsektor hätte aufbauen können. Das Kolonialkino war an die französische Filmwirtschaft gebunden gewesen, die antikolonialen Filme während des Kriegs mit improvisatorischen Mitteln und Unterstützung anderer Länder entstanden. Der Aufbau eines algerischen nationalen Kinos ab 1962 stand also vor verschiedenen Herausforderungen, ganz zu schweigen von den wirtschaftlichen und sozialen Problemen des Landes insgesamt. Da es an Studios, Filmlaboren sowie technischer und professioneller Expertise mangelte, wurden insbesondere die Bearbeitung und die Postproduktion des Filmmaterials weiterhin im Ausland, vor allem über französische Produktionsfirmen, abgewickelt. Außerdem fanden sich Gegebenheiten, die wirtschaftlich kaum aufrechterhalten werden konnten. Denn bei den gut 300 von der Kolonialmacht ‚vererbten‘ Kinosälen handelte es sich um eine kommerzialisierte Struktur, die über 100 Filme pro Jahr zirkulieren lassen musste. Dies betraf im Übrigen auch die anderen Maghrebstaaten und war angesichts der geringen eigenen Produktionsleistung dieser Länder sehr unverhältnismäßig (vgl. Armes / Malkmus 1991: 5 f.). Der dadurch bedingte hohe Import an amerikanischen, europäischen, ägyptischen, indischen und russischen Filmen förderte wiederum neokoloniale Machtverhältnisse des Marktes und erschwerte es der algerischen Filmproduktion, sich gegen die große Konkurrenz an ausländischen Filmen durchzusetzen. In den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit organisierte sich der neu entstehende Filmsektor zunächst über mehrere staatliche und auch einige wenige private Institutionen, die unterschiedlich ausgestattet waren und verschiedene Bereiche umfassten, sich aber teilweise überschnitten und miteinander konkurrierten. Das Centre audio-­visuel Ben Aknoun, geleitet von Vautier und seinem ehemaligen Schüler Ahmed Rachedi, besaß z. B. lediglich einige 16-mm-­Projektoren, bemühte sich aber um die Verbreitung von Filmen und organisierte dazu Vorstellungen in sogenannten ciné-­pops nach Vorbild der französischen ciné-­bus, die der ländlichen Bevölkerung Zugang ermöglichten. Trotz seiner geringen Mittel brachte das Centre audio-­visuel eigene Produktionen hervor.108 Neben dieser Einrichtung gab es die wohl einzige private Produktionsfirma im eigentlichen Sinne, Casbah Films, die sich dank seines Gründers Yacef Saadi kostspieligere Projekte erlauben konnte und sich in ihrer kurzen Existenz von 1964 bis 1967 auf Auslands-­Koproduktionen spezialisierte. Saadi, einer der füh108 Vautier und Rachedi erstellten die Archivmontage Peuple en marche (1963) über Ereignisse vor und nach der Unabhängigkeit. Der Film blieb jedoch unveröffentlicht und wurde konfisziert, da er unter anderem die Rolle Ben Bellas zu Beginn der algerischen Republik erwähnte (vgl. Boudjedra 1971: 54).

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renden FLN-­Köpfe in der Schlacht um Algier, inspirierte inhaltlich Pontecorvos Film La Bataille d’Alger (1966), der gemeinsam von Casbah Films und dem italienischen Igor Film produziert wurde. Neben diesem international erfolgreichen Werk koproduzierte Casbah Films u. a. Luchino Viscontis Literaturadaption von Albert Camus’ L’Étranger (1967). Die Verstaatlichung des Filmsektors 1967 führte letztlich zur Schließung der Filmgesellschaft (vgl. Boudjedra 1971: 58). Zu den verschiedenen staatlichen Filminstitutionen, die vor 1967 gegründet wurden, zählte das Nachrichtensystem Office des Actualités Algériennes (OAA), das dem Informationsministerium unterstellt war und von den Cineasten Lakh­ dar Hamina und Pierre Clément 1963 in die Wege geleitet wurde. Abgesehen von Nachrichtenmaterial und Kurzfilmen für erzieherische Maßnahmen – beispielsweise zur Alphabetisierung oder Hygiene – wirkte das OAA auch an der Produktion von Langspielfilmen mit, so z. B. von Lakhdar Haminas einflussreichem Film Le Vent des Aurès (1966). Auch die Radio- und Fernsehanstalt Radiodiffusion Télévision Algérienne (RTA) beteiligte sich an der Erstellung von Spielfilmen. Die Karrieren vieler algerischer Regisseure nahmen hier ihren Ausgangspunkt (vgl. Armes 2005: 15 f.). Um den Kinosektor zu stabilisieren und besser zu beherrschen, wurde mit der Gründung des Centre National du Cinéma Algérien (CNCA) 1964 ein Zentralisierungsversuch unternommen. Das CNCA, ebenfalls dem Informationsministerium angegliedert, war zuständig für Verwaltung, Finanzen sowie Regulierungen und kontrollierte die Distribution sowie einen Großteil der Produktion. Parallel dazu wurden fast alle 35-mm-­Kinos, die nach der Unabhängigkeit meist von algerischen Geschäftemachern erworben wurden, verstaatlicht und den Kommunen unterstellt. Das CNCA war zudem verantwortlich für die Einrichtung der Cinémathèque und einer Filmschule, dem Institut National du Cinéma. Es brachte jedoch nicht die gewünschte Stabilisierung des Kinosektors. Mit seiner Auflösung wurde auch die Filmschule, die in ihrer sehr kurzen Existenz bekannte algerische Regisseure wie z. B. Merzak Allouache ausgebildet hatte, bereits 1967 wieder geschlossen – ohne Aussichten auf eine Nachfolgeinstitution. Nach dieser Anfangsphase, in der erste Strukturen eines staatlichen Kinos aufgebaut wurden und daneben zugleich private Initiativen wie Casbah Films existierten, wurde der Kinosektor gegen Ende der 1960er Jahre vollständig unter die Ägide des Staates gestellt. Auch in den anderen maghrebinischen Ländern sowie in weiteren ehemaligen Kolonien wurde das Kino staatlich kontrolliert. In Algerien ließ sich aber Armes und Malkmus zufolge das konsequenteste Beispiel eines nationalen Staatskinos im Maghreb finden, das im Kontext der Kulturpolitik zu betrachten ist (vgl. Armes / Malkmus 1991: 52). Die algerische Regierung 71

ordnete die Kultur vollkommen der Politik unter und instrumentalisierte das Kino für Bildungszwecke in ihrem Sinne. Um die Rentabilität des Kinosektors zu erhöhen und diesen staatlich zu kontrollieren, wurden 1967 dem staatlichen Office National pour le Commerce et l’Industrie Cinématographique (ONCIC) die meisten Aufgaben der vorigen Organisationen übertragen und somit sämtliche Bereiche in dieser Institution vereint. Mit dieser Monopolisierung hatte der Staat letztlich die Verantwortung und Kontrolle über das gesamte Filmgeschäft: Produktion, Import, Export, Distribution und Programmgestaltung lagen in einer Hand – bis zur Auflösung des ONCIC 1984. Daneben bestanden nur noch die Nachrichten-­ Organisation OAA (bis 1974) sowie das Centre Algérien de la Cinématographie (CAC), das für die Verwaltung der Cinémathèque sowie für Ordnungsaufgaben zuständig war.109 Nach dem finanziellen Zusammenbruch des ONCIC 1984 entstanden zwei Nachfolgeorganisationen unter der Schirmherrschaft des neu gegründeten Centre Algérien pour l’Art et l’Industrie Cinématographiques (CAAIC), die allerdings Ende der 1980er Jahre ebenfalls durch finanzielle Probleme geschwächt waren (Spaas 2000: 134 f.). Die Filmproduktion wurde durch die Verstaatlichung zwar gefördert, Filmemacher wurden verbeamtet und finanziell abgesichert. Die Professionalisierung sowie der Zugang zu Mitteln waren so aber auch nur unter der Kontrolle des Staates möglich. Einflussreiche algerische Filmemacher waren wohl nicht zufällig häufig auch Leiter der nationalen Filminstitute. Das gilt z. B. für Mohamed Lakh­ dar Hamina als Leiter des OAA von 1963 bis 1974 sowie für Ahmed Rachedi als Vorsitzender des ONCIC zwischen 1967 und 1973 als bedeutende Regisseure dieser Periode, die einerseits regimekonform arbeiteten, andererseits auch die geringen Spielräume zu nutzen wussten. Durch die vollständige Verstaatlichung stand das Kino umso mehr im Einklang mit dem offiziellen nationalen Einheitsdiskurs, der die kulturelle Heterogenität Algeriens ignorierte. Eine Dreherlaubnis wurde nur nach Vorlage des Drehbuchs vor einem Komitee vergeben, das dieses auf politische, kulturelle und religiöse Kriterien überprüfte. Kritische Positionen oder gar ein politisch engagiertes, oppositionelles Kinos waren so nur schwer möglich, weshalb nationale Glorifizierungen das Kino der Anfangszeit dominierten: Le cinéma algérien, à cause certainement de cette situation qui lui est faite, se limite à chanter  – mièvrement d’ailleurs  – les héros de la guerre de libération, à flatter les faiblesses de la société algérienne, au lieu de les dénoncer et à se détourner des vrais

109 Für eine detaillierte Darstellung der einzelnen institutionellen Funktionen siehe Megherbi 1985: 16 ff.

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problèmes politiques, économiques et socio-­psychologiques d’une société en pleine mutation (Boudjedra 1971: 57).

Denise Brahimi sieht die staatliche Bevormundung verantwortlich für eine Einschränkung der möglichen filmischen Darstellungen und eine dadurch bedingte relative Gleichförmigkeit: „Ce qui signifie qu’un code de représentation s’installe assez vite, et que les éventuelles tentatives pour lui échapper donnent des résultats peu lisibles ou peu cohérents“ (Brahimi 2009: 21). Viele Filmemacher schienen die Nationalisierung dennoch zu begrüßen, erhofften sie sich dadurch doch eine höhere Effizienz und Stabilität des algerischen Kinos, das nicht nur im Hinblick auf seine internationale Verbreitung, sondern auch bezüglich der Distribution und des Rezeptionsverhaltens im eigenen Land einer starken Konkurrenz ausgesetzt war. Dem Druck der ausländischen Filme konnten die algerischen Produktionen in ihrer Quantität aber auch nach der Verstaatlichung kaum standhalten.110 Im Durchschnitt produzierte das ONCIC nur drei bis fünf Langspielfilme pro Jahr, die bei weitem nicht ausreichten, um die Säle zu füllen.111 Hinzu kam, dass die algerischen Filme oft nicht den gewünschten Anklang beim Publikum fanden. Meist wurde ihnen ihre didaktische Haltung vorgeworfen und ihre Ausrichtung ging zunehmend an den Interessen der Bevölkerung vorbei. Das vor allem junge Publikum identifizierte sich immer weniger mit den Figuren des Freiheitskampfes und sehnte sich nach Filmen, die ihre eigenen, aktuellen Probleme thematisierten oder dem internationalen Mainstream entsprachen. Die durch Hollywood sowie durch Bollywood und ägyptische Filme geprägten Sehgewohnheiten der Algerier beeinflusste die Rezeption der eigenen Filme. So äußerte sich Ahmed Rachedi in einem Interview 1969: „Notre public aime les westerns, les films que nous avons faits en Algérie sont méprisé par le public ou presque. Ce sont des œuvres dont les auteurs sont couverts de lauriers, à l’étranger“ (zitiert in Boudjedra 1971: 60). Die einzigen algerischen Filme der ersten Periode, die ihre Kosten einspielten, waren Boudjedra zufolge Pontecorvos internationaler Erfolg La Bataille d’Alger und die Komödie Hassan Terro (Lakhdar Hamina, 1968). Mit der Frage der Rezeption und Diffusion der Filme verbunden war auch die Problematik der Sprachenwahl, die sich in vielen ehemaligen Kolonien stellte. 110 „Basically, every single Maghrebian film has to compete with thirty or forty imported films, virtually all of which will have had larger production budgets and have already recovered their costs elsewhere“ (Armes 2005: 7). Dieses Problem besteht weiterhin. 111 Das ONCIC beteiligte sich auch an bedeutenden internationalen Koproduktionen wie z. B. Costa-­Gavras Z (1969), in den 1970er Jahren koproduzierte es mehrere Filme des großen ägyptischen Regisseurs Youcef Chahine.

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Während die Entscheidung für das Arabische einerseits eine politisch-­identitäre war (vgl. hierzu Bensmaїa 1981), die das Berberische ohnehin ausschloss, ergaben sich mit der Wahl der Sprache auch wirtschaftliche Fragen (vgl. hierzu Boudjedra 1971: 61 ff.). Bot das Französische für das algerische Staatskino im Kontext des nationalen Aufbaus keine wirkliche Option, barg die Auswahl des Arabischen diesbezüglich weitere Probleme: Griff man auf das in den arabischen Ländern als eine Art Verkehrssprache fungierende (eher schriftliche) ‚Standard-­Arabisch‘ zurück, war die Sprache des Films weit entfernt von der gelebten algerischen Realität und daher nicht nur für die überwiegende Masse an Analphabeten unverständlich oder befremdlich. Entschied man sich hingegen für die lokalen mündlichen Sprachvarietäten, die sich in Algerien sehr stark vom ‚Standard-­Arabisch‘ der Schriftsprache und den ihr näherstehenden Formen anderer arabischer Länder unterscheiden, wurden die Filme selbst in den Nachbarstaaten kaum verstanden, was ihre Vermarktung zusätzlich erschwerte.112

3.2. Das Kino im Zeichen nationaler Konstruktion – cinéma moudjahid Nach dieser Skizze zur strukturellen Organisation wird nun ein Einblick in die thematische Ausrichtung des frühen algerischen Kinos gegeben. Die überwiegende Mehrheit der Filme in der ersten Phase nach der Unabhängigkeit konzentriert sich inhaltlich auf den Freiheitskampf, der als traumatische Gründungserfahrung der algerischen Nation einen hohen identitätsstiftenden Stellenwert besitzt und noch bis in die 1970er Jahre die Produktionen beherrscht.113 Sowohl Dokumentationen, wie Ahmed Rachedis L’Aube des damnés (1965), als auch Spielfilme, angefangen mit Jacques Charbys Une si jeune paix (1964), beschäftigen sich mit dem Algerienkrieg und der Dekolonisation im weiteren Sinne. Aufgrund dieses kollektiven Fokus der Filme wird die erste Phase des algerischen Kinos auch als cinéma moudjahid (Freiheitskämpfer-­Kino) oder als cinéma de guerre (Kriegskino) bezeichnet. Die Funktion des Kinos bestand darin, sich mit dem Neuschreiben der 112 Das ägyptische Arabisch hatte sich hingegen durch seine anfängliche mediale Monopolstellung mehr verbreiten können, so dass es auch in anderen arabischen Ländern verstanden wird. Neben den sprachlichen und thematischen Barrieren für eine größere Popularität algerischer Filme war die bürokratische Distributionspolitik für die ausbleibende internationale Verbreitung der Filme verantwortlich (vgl. Salmane 1976: 22 f.). 113 Filme über den Unabhängigkeitskampf bilden fast die Gesamtheit der algerischen Produktion zwischen 1963 und 1971; Hadj-­Moussa zählt 14 von 17 Filmen insgesamt mit dieser Thematik (vgl. Hadj-­Moussa 1994: 88).

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nationalen Geschichte und Identität von den orientalistisch-­eurozentristischen Narrationen des französischen Kinos zu befreien114 und dessen visuelles Vakuum bezüglich des Algerienkriegs mit eigenen Bildern zu füllen. Filme wie z. B. La Nuit a peur du soleil (Badie, 1965), La Bataille d’Alger (Pontecorvo, 1966) oder Le Vent des Aurès (Lakhdar Hamina, 1966) waren für diese Selbstrepräsentationen und Darstellungen der algerischen Geschichte prägend. Sie setzten den französischen stereotypen Vorstellungen und Ausblendungen ihre Sichtweisen entgegen, kreierten dabei aber ihrerseits nun ein vereinheitlichendes Bild der ehemals Kolonisierten. Trotz ihrer Unterschiede ist den Filmen dieser Phase ein homogenisierender Blick auf die Nation im Entstehen gemeinsam, der teils koloniale Diskriminierungen übernimmt. Die inhaltliche Konzentration auf die nationale Emanzipation muss dabei im Kontext der politisch geleiteten Rückbesinnung auf die arabische Identität gesehen werden, die nicht nur in Algerien, sondern auch im Maghreb insgesamt ihre Ausdrucksformen im filmischen Medium suchte (vgl. Armes 2005: 15). Als massenwirksames Kommunikationsmittel115, das Identifikationsangebote bereithält und auch eine zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit überwiegend analphabete Bevölkerung erreichen konnte, wurde das Kino insbesondere nach der Verstaatlichung politisch weiter instrumentalisiert.

114 Konzentriert sich die Arbeit auf algerische Selbstdarstellungen und Erzählungen der (Kolonial-)Geschichte, ist dabei auch von Interesse, wie sich diese vom Kolonialkino und dessen orientalistischen Repräsentationen absetzen. Die von Edward Said in Orientalism (1978) beschriebenen, dem europäischen Selbstbild dienlichen Konstruktionen des „Orients“ prägten die Kinokultur der Kolonialzeit und bildeten so auch einen Ausgangspunkt der Sehgewohnheiten für die Algerier, die Zugang zu Kinovorstellungen hatten. 115 Megherbi weist auf den hohen Stellenwert, den das Kino (bis zu seiner Talfahrt) in der Freizeitbeschäftigung der Algerier besitzt: „Et l’on sait qu’en Algérie les deux types essentiels de loisirs sont le football et le cinéma“ (Megherbi 1985: 22). Er beschreibt die Bedeutung des Kinos als Erlebnisraum, wobei er eine besonders aktive Teilnahme der Zuschauer beobachtet, die sich z. B. durch lautes Hineinrufen während der Vorführung und teils auch durch Randale ausdrückt (diese Situation reflektiert Allouaches Film Omar Gatlato anschaulich). Megherbi führt dies auf die gesellschaftlichen Umbrüche zurück und folgert: „De même qu’un individu appartenant à une société en pleine mutation ne va pas assister à un match de football uniquement en vue du spectacle, de même, il ne se rend pas au cinéma seulement pour regarder un film, si intéressant soit-­il. Le spectacle est plus qu’un regard; c’est une rencontre multi-­forme avec autrui, avec soi-­même, avec un lieu familier“ (Megherbi 1985: 17).

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Après l’indépendance de 1962, se voulant en rupture avec le cinéma colonial pour qui ‘l’indigène’ apparaissait comme un être muet, évoluant dans des décors et des situations ‘exotiques’, le cinéma algérien témoigne d’abord de la volonté de faire exister le nouvel État indépendant. Les nouvelles images, qui correspondent au désir d’affirmation d’une identité nouvelle, se déploient d’abord dans le registre de la propagande, puis, progressivement, dévoilent des ‘sujets’ de société (Stora 2008: 266).

Geprägt von einem politischen Diskurs der Einstimmigkeit konzentrierten sich die Filme dieser Periode allerdings nicht nur auf direkte Darstellungen des Kriegs (vgl. Bedjaoui 1987: 147). Die Kriegshandlungen standen sogar weniger im Vordergrund und es galt vielmehr, über die emotionale und ideologische Ebene Tapferkeit, Heroismus sowie den Zusammenhalt der Gesellschaft (z. B. Le Vent des Aurès) symbolisch herauszustellen. In seiner Repräsentation nationaler Kohärenz vertrat das cinéma moudjahid die Mythen und Ideologien der FLN-­Regierung bzw. stand es dieser aufgrund seiner strukturellen Anbindung unkritisch gegenüber. In der Literatur zum algerischen Kino wird ihm somit eine Konformität mit den von der Einheitspartei formulierten Leitsätzen, der unicité de pensée, zugesprochen (vgl. u. a. Berrah 1997). Allerdings sind ebenfalls Ausnahmen oder Ambivalenzen zu beobachten, die in Kapitel IV aufgezeigt werden. Sicher ist, dass es für die damaligen Cineasten im staatlich diktierten Rahmen schwierig war, persönliche Sichtweisen zu verbreiten. Die Konzentration auf die Stabilisierung der nationalen Einheit, bei der die Heterogenität der Bevölkerung ebenso vernachlässigt wurde wie eine tatsächliche Auseinandersetzung mit der algerischen Geschichte, hatten zur Folge, dass das Kino zunächst kaum einen anderen Bezugsrahmen hatte als die offizielle Konstruktion der algerischen Identität, die sich auf die jüngste Vergangenheit des Freiheitskampfes gründete. Bilder der jungen Nation wurden, wie Stora beschreibt, nach Gusto der Regierung neu geschaffen, Referenzen von offizieller Seite aus selektiert. Le cinéma algérien examine, fouille alors dans le passé proche, mais il n’y a pas d’image première de référence. Tout est à reconstruire à partir de rien. Quelque chose relève ici de l’insolence des pionniers, ceux pour qui tout n’est que (re)commencement. Cette image sans passé (rien sur les figures anciennes du nationalisme algérien, de Messali Hadj à Ferhat Abbas, ou d’Abane Ramdane à Amirouche) cache peut-­être aussi la hantise de se voir dévoré par des ancêtres jugés ‘dépassés’ (Stora 2008: 267).

Verschiedene Tabus und Verdrängungen begleiteten so insbesondere das cinéma moudjahid, aber auch nachfolgende Phasen. Vor allem die Konflikte während des Algerienkriegs zwischen den verfeindeten Gruppen innerhalb der Freiheitsbewegung ebenso wie die Interessen von Minderheiten wurden ausgeblendet. Das Sagbare war vom offiziellen politischen Diskurs bestimmt, wodurch auch im Kino 76

bestimmte Themen, Gruppen sowie historische Figuren ausgeschlossen wurden. Neben politischen Verdrängungen und der ethnisch-­sprachlichen Ausgrenzung der Berber sind genderbedingte Exklusionen auffällig. Das cinéma moudjahid – sowie das algerische Kino insgesamt – ist ein männlich dominiertes Kino. Das anfängliche Fehlen weiblicher Regisseure spiegelt auf Produktionsebene auch die zunächst geringe Rolle, die Frauen in den Filmen spielten. Dem cinéma moudjahid wurde bereits zur damaligen Zeit teilweise vorgeworfen, dass es aktuelle Probleme verdecke und sich der Realität verschließe (vgl. Salmane 1976: 26 f.). Unter den Filmemachern selbst wurden Kritik und der Drang nach Neuerungen größer, wodurch sich dann im Laufe der 1970er Jahre bedeutende Veränderungen abzeichneten. Ungeachtet der politischen Rahmenbedingungen und ideologischen Ausrichtung des frühen Staatskinos, ist dieses von Beginn an auch transnational verankert und ästhetisch von verschiedenen Filmkulturen inspiriert. Dies hängt nicht zuletzt mit der erwähnten europäisch-­algerischen Zusammenarbeit und dem Hintergrund der algerischen Filmemacher zusammen, die meist in französischen oder sowjetischen Filmschulen ausgebildet wurden. Eine eigene Filmtradition existierte nicht und entwickelte sich erst im Zusammenspiel verschiedener Einflüsse. Die Filmemacher orientierten sich an internationalen Vorbildern wie dem sowjetischen Revolutionskino und dem italienischen Neorealismo, die von ihren politischen Ausrichtungen her mit den algerischen Konzepten des Sozialismus und Antikolonialismus übereinstimmten.116 Darüber hinaus herrschte in Algier, das lange Zeit als Zentrum der „Dritten Welt“ verstanden wurde, ein reger internationaler Austausch zwischen Intellektuellen und Künstlern. Als „Mèque du Tiers Monde“ (Brahimi 2009: 200) galt dann auch die weltoffene Cinémathèque Algiers, die als bedeutendste in Afrika eine große Rolle in der vielfältigen Prägung der Cineasten bildete. Ohne die Cinémathèque, die mehrere Filme pro Tag aus

116 Einflussreich war hier besonders das russische Revolutionskino der 1920er Jahre, für das beispielhaft Sergei Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin (1925) und Oktober (1928) sowie Wsewolod Pudowkins Die Mutter (1927) stehen. Montagetechniken, didaktische Ansätze sowie eine Ästhetisierung der Bauerngemeinschaft hatten z. B. Einfluss auf die Filme Lakhdar Haminas. Im italienischen Neorealismo, der als antifaschistische Stilbewegung in den 1940er Jahren entstand – z. B. durch Luchino Viscontis Ossessione (1943) und Roberto Rosselinis Roma, città aperta (1945) vertreten – fanden die algerischen Regisseure ebenfalls Inspirationen in Hinblick auf dessen Anliegen, die Gegenwart und jüngste Vergangenheit aus Sicht der einfachen Leute zu verarbeiten. Die Darstellung des sozialen Elends sowie das Filmen an Originalschauplätzen und mit Laiendarstellern sind hier zentrale Merkmale.

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aller Welt zeigte, gäbe es laut Hennebelle kein algerisches Kino, zu dessen Herausbildung einer originalen Filmsprache diese entschieden beigetragen habe (vgl. Hennebelle 1976: 21). Gerade diese Originalität der Filmsprache ist jedoch schwer zu definieren, und wie es Jacques Choukroun beschreibt, ist es gar unmöglich „de définir strictement les composantes d’une esthétique du cinéma algérien“ (Choukroun 2004: 66). Dies wird dadurch erschwert, dass viele Filmemacher innerhalb ihrer Möglichkeiten ihren eigenen Stil entwickeln und so den Filmen im Sinne eines Autorenkinos ihre eigene Handschrift verleihen. Eher lassen sich also thematische und ästhetische Tendenzen herauskristallisieren.117

3.3. Umbrüche im „neuen algerischen Kino“ – cinéma djidid In den 1970er Jahren setzte sich die Experimentierfreudigkeit einiger Filmemacher allmählich durch und diversifizierte das algerische Kino anhand von verschiedenen inhaltlichen und formalen Neuerungen. Insgesamt fand eine Umorientierung in Richtung gesellschaftlicher Themen statt. Dies wurde insofern von politischer Seite mitgetragen, als die Filme meist mit den Grundsätzen des algerischen Sozialismus übereinstimmten und kritische Positionen eher indirekt anbrachten. An der Schnittstelle zwischen innovativen Impulsen und politisch-­ ideologischer Konformität weist das Kino in dieser Umbruchphase zunehmend Ambivalenzen auf, die die Komplexität der gesellschaftlichen Veränderungen und Widersprüche reflektieren. Den thematischen und formalen Neugestaltungen, die sich in den 1970er Jahren und insbesondere zwischen 1972 und 1976 abzeichneten, verdankt diese Phase der Kinogeschichte die Bezeichnung cinéma djidid (Neues Kino). Dieser Begriff ist allgemein in der wissenschaftlichen und filmkritischen Auseinandersetzung mit dem algerischen Kino etabliert, beinhaltet jedoch keine enge Definition, weshalb die Meinungen darüber, welche Filme das cinéma djidid exakt repräsentieren, divergieren können. Eine grundlegende Einigkeit besteht indes darin, dass das cinéma djidid in Opposition zum cinéma moudjahid zu sehen ist, da mit ihm eine Abwendung von der bis dahin vorherrschenden Kriegsthematik verbunden ist. Als Dachbegriff umfasst der Terminus somit Filme meist jüngerer Cineasten, die mit den heroischen Befreiungsmythen brechen und neue Blickweisen auf die Gesellschaft einnehmen. Ein Großteil der Filme widmet sich sozialpolitischen Aspekten und Auswirkungen der Modernisierung Algeriens, 117 Eine genauere Untersuchung der Referenzen bezüglich verschiedener Filmtraditionen oder Genres sowie der Verankerung in kulturellen Kontexten ist hier nicht die Absicht und wäre Stoff für eine weitere Arbeit.

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so z. B. den Transformationen des bäuerlichen Daseins, der Herausbildung einer Arbeiterklasse und auch der Frage nach der Stellung der Frau. Die Filme zeigen die Widersprüche und Herausforderungen des Lebens zwischen Traditionen und Modernisierung auf und äußern Kritik an feudalen Strukturen sowie auch an der neuen bürokratischen Elite. Beispielhaft hierfür ist der als Klassiker des cinéma djidid geltende Le Charbonnier (Mohamed Bouamari, 1972), der dies in einer besonders spannungsgeladenen Filmsprache ausdrückt. Standen die Filme überwiegend im Einklang mit dem sozialistischen Diskurs der Regierung, wandten sich einige Werke auf der anderen Seite dadurch von der dominanten FLN-­Rhetorik ab, dass sie sich komödiantischer Formen und Erzählungen annahmen, wie zum Beispiel Les Vacances de l’inspecteur Tahar (Moussa Haddad, 1973) oder L’Évasion de Hassen Terro (Mustapha Badie, 1974). Das cinéma djidid bedeutete insgesamt eine Öffnung des algerischen Kinos hin zu einer vielfältigeren Gestalt und stand im Kontext ähnlicher paralleler Entwicklungen in anderen arabischen Ländern118, die Viola Shafik als Ausdruck eines weiter gefassten „Neuen arabischen Kinos“ beschreibt (Shafik 1996: 58). Ausschlaggebend für die Veränderungen waren neue Impulse und Forderungen119, die vor allem von der jungen Generation von Filmemachern ausgingen. Als Vorläufer, die die Entstehung des cinéma djidid begünstigt haben, nennt der zeitgenössische französische Kritiker Guy Hennebelle eine Reihe von dokumentarischen Kurzfilmen, die sich Beobachtungen der Lebensrealität annahmen. Dazu zählten z. B. Mohamed Bouamaris L’Obstacle (1965) oder Ahmed Lallems Elles (1966), der sich der Emanzipation der Frauen widmete, ebenso wie Aufnahmen verschiedener Filmemacher – darunter Merzak Allouache und Lamine Merbah –, die die Situation von Jugendlichen einfingen und 1966 unter dem Titel Alger vu par… veröffentlicht wurden. Die beteiligten Cineasten brachten dann teilweise bedeutende Langspielfilme des cinéma djidid hervor. Sie hatten überwiegend am nationalen Filminstitut in Algier gelernt, das während seiner kurzen Existenz bis 1967 um die 60 Filmemacher und Techniker ausgebildet hatte. Die Cinémathèque tat ein Übriges zur Inspiration der jungen Cineasten. Von Seiten der Regierung wurde das Medium Film unter den sozialistischen Prämissen Boumedienes erneut als wichtiges Agitations- und Erziehungsmittel aufgefasst, und so fanden vermehrt

118 Brahimi weist daraufhin, dass die politisch-­soziale Kritik sowie die Situation der Frauen sich als wichtigste Themenbereiche der maghrebinischen Kinos entwickelt haben (vgl. Brahimi 2009). 119 Mocki erwähnt ein Manifest, das einige Filmemacher dem Informationsministerium vorlegten, um Veränderungen zu fordern (vgl. Mocki 1976: 41).

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sozialistisch orientierte Filmemacher, oft ländlichen Ursprungs, ihren Weg in die staatlichen Filmstätten (vgl. Hennebelle 1976: 30 f.). Durch diese Ausrichtung veränderte sich auch der Blickwinkel auf den Befreiungskampf. Wurde der Krieg zuvor als Endpunkt gesehen, galt er nun als eine Etappe auf dem Weg zu einem weiteren Ziel: nämlich der sozialen Befreiung, vornehmlich von feudalen und bourgeoisen Strukturen (vgl. ebd.). Auch wenn der ‚revolutionäre‘ Impetus der Regierung kaum eine reale Verbesserung für die Bevölkerung zur Folge hatte, stimmten viele Cineasten im Glauben an positive Veränderungen in diesen politischen Diskurs ein. Die von der Regierung 1971 verkündete „Agrarrevolution“ bildete somit einen Hauptreferenzpunkt vieler Filme. Ebenso machten sich die anvisierte Industrialisierung und Modernisierung Algeriens bemerkbar. Neben Repräsentanten der verarmten Landbevölkerung bestückten nun auch andere soziale Gruppen wie Industriearbeiter und auch Arbeiterinnen das Figurenrepertoire (vgl. Shafik 1996: 196). Der Gegenwartsbezug brachte insgesamt eine stärkere Betonung der inneralgerischen sozialen Gegensätze hervor. Zwar drücken sich in den thematisch-­ästhetischen Orientierungen der Filme des cinéma djidid Gemeinsamkeiten aus, die z. B. in einer Ablehnung von dominanten Hollywoodmustern bestanden. Von einer einheitlichen Schule kann aber nicht die Rede sein. Die Besonderheiten des cinéma djidid liegen nach Hennebelle in dem Versuch, eine „authentischere“ algerische Filmkultur zu prägen, die sich durch Autorenstile auszeichnet (vgl. Hennebelle 1976: 29 f.). Dabei ist gerade die Vielfalt an Herangehensweisen repräsentativ: Sie reichen von der beobachtenden Beschreibung sozialer Verhältnisse über persönlich gestaltete autobiographische Erzählungen bis hin zu avantgardistischen Kunstfilmen. Anders als der kommerzielle oder der sozialistische Film neigt das Neue Kino zu unkonventioneller Gestaltung und Tabubrüchen (Shafik 1996: 58).

Eine innere Widersprüchlichkeit kann dabei durchaus als charakteristisch gesehen werden, indem das cinéma djidid sich zwischen innovativen bzw. subversiveren Ausdrucksweisen und zugleich politisch kompatiblen Darstellungen bewegt – innerhalb eines weiterhin staatlich kontrollierten Filmsystems, dessen Spielräume die Cineasten nun aber kreativer austesteten. Dabei treffen regimekonforme und kritisch geschärfte Sichtweisen auch innerhalb der Filme aufeinander und erhöhen so die interne Ambivalenz der Werke, wie an Le Charbonnier sichtbar wird (siehe IV.2.). Andererseits finden sich Beispiele, die nicht nur mit dem cinéma de guerre brechen, sondern sich auch von den klassenideologischen Denkweisen der sozialistischen Filme wegbewegen, häufig mit einem humoris-

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tischen Unterton. Dies erschwert eine strikte zeitliche und inhaltliche Definition des cinéma djidid.120 Statt einer radikalen Neuerung insgesamt sind die besonderen oder gar revolutionären Impulse tatsächlich innerhalb des weiter gefassten cinéma djidid zu suchen. Nur wenige Filme wagten einen ‚wirklich neuen‘, d. h. eigenen und unabhängigen Vorstoß: „Ein echtes Sinima Djidid, das gesellschaftskritische Themen mit einer adäquaten Darstellung der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen verbindet, konnte sich, wie man sieht, unter der Last des politischen Auftrags nur im Ausnahmefall entwickeln“ (Shafik 1996: 205).121 Merzak Allouaches Komödie Omar Gatlato ist solch eine Ausnahme und gilt als Meilenstein in der Entwicklung des algerischen Kinos. Anstelle einer klassenpolitischen Aussage verfolgt der Film den banalen Alltag eines Jugendlichen. Er stellt eine subtile Beobachtung der gelebten Realität an, die sowohl Kritik als auch Selbstironie vermittelt und ihn zu einem der größten Publikumserfolge in Algerien machte. Bereits fünf Jahre zuvor hatte Mohamed Zinet in seinem experimentell-­poetischen Film Tahia ya Didou eine neue Filmsprache entwickelt und mit seinem originellen Blick auf Gegenwart und Vergangenheit einen deutlichen Bruch mit den Kriegsfilmkonventionen hervorgebracht. After Algerian cinema had been dominated by war for a long time, the original, poetic film Tahia ya Didou (Viva Didou!, 1971) by Mohamed Zinet effected a true break with the linear concepts that valued warlike heroism over aesthetic work. The deflation of the post-­independence euphoria during the late 1970s, which marked progressive films like Omar Gatlato (1976) by Merzak Allouache, brought with it a rethinking of political,

120 Teilweise wird in zwei Phasen unterteilt, Hadj-­Moussa setzt z. B. ab 1976 eine neue Phase an, wobei sich die Zäsur aus Merzak Allouaches Film Omar Gatlato begründet. Da aber auch frühere Beispiele wie Tahia ya Didou (1971) ähnlich starke Innovationspotenziale aufweisen und sich vom politischen Diskurs abgrenzen, ist eine zeitliche Einteilung hier schwierig. Ein weiter gefasstes Verständnis des cinéma djidid (wie z. B. von Shafik vertreten) ist sinnvoll, wobei weniger exakte Periodisierungen und Definitionen von Bedeutung sind als vielmehr die Impulse, die unterschiedliche Grade an Innovationspotenzial aufweisen, das Kino jedoch auch über die 1970er Jahre hinaus diversifiziert haben. 121 Ähnlich bestätigt Armes die Konformität vieler Filme mit den politischen Linien der Regierung: „All the films outlined above fit comfortably with the dominant ideology of the period. But as Berrah observes, the real Algerian cinema ‘is composed of thematic and aesthetic exceptions’ “ (Armes 2005: 27). Armes nennt hier z. B. Filme wie Le Vent du Sud (Slim Riad, 1975), Les Nomades (Sid Ali Mazif, 1975), Les Pêcheurs (Ghaouti Bendedouche, 1976) oder El Moufid (Amar Laskri, 1978).

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cultural, and aesthetic possibilities, as the rhetoric of revolution began to be regarded with a certain scepticism (Salhi 2008: 445).

Diese beiden Filme können also als Beispiele für ein ‚echtes‘ cinéma djidid im Sinne Shafiks gesehen werden. Tahia ya Didou zeigt, dass schon 1971 einige Filme mit unkonventionellen Veränderungen überraschten, womit eine chronologische Zweiteilung der Periode nicht greifen würde. Bedeutend ist, dass derartige Werke neue Ausdrucksweisen und Revolutionierungen innerhalb des Systems hervorbrachten. Dennoch heißt das nicht, dass das Kino von da an grundsätzlich einer Neuerungstendenz folgte und sich eine lineare Entwicklung abzeichnete. Parallel zum cinéma djidid produzierte das ONCIC mehrere Filme mit einem teils ungewöhnlich großen Budget, die die Kriegsthematik und die heroischen Mythen wiederbelebten. Dies gilt besonders für die Zeit des 10-jährigen Jubiläums der Unabhängigkeit und des 20-jährigen Jubiläums des Beginns des Freiheitskampfes.122 Filme wie L’Opium et le bâton (Ahmed Rachedi, 1971) und vor allem Lakhdar Haminas in Cannes prämierter Chronique des années de braise (1975) sind Beispiele für den Versuch, den Freiheitskampf noch einmal feierlich zu würdigen und zugleich das Kino kommerzieller zu gestalten. Dazu griffen die Cineasten auch auf konventionellere Muster Hollywoods zurück. Trotz dieser gleichzeitigen Gegenentwicklung war die thematische und filmästhetische Öffnung des Kinos durch die Impulse des cinéma djidid unwiderruflich.

3.4. Diversifizierungen über Grenzen hinaus Die Diversifizierung des algerischen Kinos setzte sich trotz gleichzeitiger konservativer Tendenzen Ende der 1970er und während der 1980er Jahre weiter fort. Die zunehmende Vielfalt an Stimmen und Perspektiven zeigte sich beispielsweise in einem verstärkten Interesse an der Situation der Frauen. Im Jahre 1978 trat zudem mit Assia Djebars La Nouba des femmes du Mont Chenoua der erste von einer Frau gedrehte algerische Film auf die Bildfläche. Dieser semi-­dokumentarische Film stellt erstmals Frauen als Subjekte der Geschichte in den Vordergrund und lässt diese mit ihren eigenen Stimmen über ihre Erinnerungen an den Unabhängigkeitskrieg erzählen. Auch Djebars zweiter vom RTA produzierter Film La Zerda ou les chants de l’oubli (1982) widmet sich der Position der Frauen und räumt ebenso wie La Nouba der Musik einen zentralen Platz ein. Mit einem geschärften 122 Hier ist z. B. auch der kollektiv produzierte Dokumentarfilm La Guerre de libération (1972) zu nennen, der zur 10-jährigen Unabhängigkeit eine nationale Sichtweise des Kriegs verbreiten sollte und eine zensierte und komplett veränderte Version von Farouk Beloufas Insurrectionnelle darstellt (vgl. Berrah 1997: 151 ff.).

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Blick auf gesellschaftliche Aspekte nahmen sich zudem viele der männlichen Regisseure in den 1970er und 1980er Jahren diesem Thema an. Angefangen mit Filmen des cinéma djidid wie Mohamed Bouamaris Le Charbonnier (1972), Abdelaziz Tolbis Noua (1972) oder Sid Ali Mazifs Leila et les autres (1977), die den weiblichen Beitrag am Aufbau der modernen algerischen Gesellschaft verhandeln, konzentrieren sich auch mehrere Filme in den 1980er Jahren auf den Konflikt junger Frauen zwischen familiären Traditionalismen und Selbstbestimmung. Dazu zählt beispielsweise der Film Houria (Mazif, 1986), der die Suche einer jungen Studentin nach ihrer persönlichen Freiheit unter Aufgabe einer aussichtslosen Liebesbeziehung beschreibt. Allouaches in Frankreich gedrehter Film Un amour à Paris (1986) erzählt von der Liebesgeschichte zwischen einer französischen Jüdin und eines in Clichy geborenen Algeriers und erweitert so das Spektrum um grenzüberschreitende Problematiken. Auch Mohamed Chouikh, der in seinen Arbeiten vorwiegend gesellschaftliche Zwänge und Traditionen hinterfragt, drehte in den 1980er Jahren seine ersten Kinofilme.123 Ebenso wie seine späteren Werke L’Arche du désert (1997) und Douar de femmes (2005) zeigen La Rupture (1982) und La Citadelle (1988) Konflikte, die sich in traditionalistischen Gesellschaftsstrukturen für beide Geschlechter ergeben. Hintergrund für die intensivere Auseinandersetzung mit der Stellung der Frau in den 1980er Jahren war die politische Entwicklung in Algerien, die mit dem 1984 verankerten code de famille die Rechte der Frauen gesetzlich beschnitt. Weitere Diversifizierungen fanden auch innerhalb der alten Kriegsthematik statt. Während auf der einen Seite Filme wie Les Portes du silence (Amar Laskri, 1987) heroische Geschichten wiederbelebten, wagten andere Werke völlig neue Blickweisen. Okacha Touitas Les Sacrifiés thematisiert zum Beispiel 1982 erstmals die innere Gewalt während des Befreiungskampfes zwischen FLN und MNA. Die Komödie Les folles années du twist (Zemmouri, 1983) hingegen präsentiert unbeschwerte Jugendliche, die sich inmitten des Algerienkriegs provokativ nur um ihre eigenen Interessen und Vorteile bemühen. Während in Frankreich seit Ende der 1970er Jahre pied-­noir-Filme wie Alexandre Arcadys Le Coup de sirocco (1979) erschienen, die die Exilerfahrungen und Nostalgie der pieds-­noirs verarbeiteten, entstanden parallel dazu erste algerische Filme mit Migrationsthematik in Algerien sowie von emigrierten maghrebinischen Filmemachern in Frankreich. Der erste Langspielfilm zu diesem Thema, 123 Zuvor hatte er, wie viele algerische Filmemacher, beim Theater gearbeitet, Filme für das RTA gedreht und als Schauspieler in bedeutenden algerischen und franko-­ algerischen Filmen gespielt (Le Vent des Aurès, Les Hors-­la-loi, Elise ou la vrai vie, Les Nomades).

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Ali Ghalems Mektoub?, wurde bereits 1969 veröffentlicht. Etablierte Filmemacher wie Ahmed Rachedi wandten sich ebenfalls dieser Problematik zu, beispielsweise in Ali au pays des mirages (Rachedi, 1979), der Erfahrungen des Fremdseins und des Rassismus in Frankreich verarbeitet. Auch Mohamed Bouamari näherte sich mit seinem Film Le Refus (1982) der Immigration nach Frankreich, verbunden mit einem Rückblick in die Zeit des Freiheitskampfes. Diese Verknüpfung ging bereits Michel Drachs franko-­algerischer Film Elise ou la vraie vie (1972) ein, der die Beziehung eines FLN-­Kämpfers mit einer Französin in Paris thematisierte und damit den konfliktreichen Ursprung der franko-­algerischen Migrationsgeschichte im Kontext des Unabhängigkeitskriegs verhandelt. Viele der algerischen und franko-­algerischen Filmemacher bewegen sich sowohl thematisch als auch geographisch zwischen Algerien und Frankreich. Dazu zählen insbesondere nach Frankreich emigrierte Regisseure wie Merzak Allouache oder Mahmoud Zemmouri. Zemmouris erster Film Prends dix milles balles et casse-­toi (1981) thematisiert die von Frankreich mit 10.000 Francs geförderte Rückkehr von Migranten (loi Stoléru) und die Fremdheitserfahrung der in Frankreich aufgewachsenen Kinder im Land ihrer Eltern, Algerien.124 In weiteren Werken behandelt er auf spielerische Art die Spannungen des Lebens zwischen verschiedenen kulturellen Einflüssen. Ebenfalls in Frankreich verortet, beschäftigt sich das cinéma beur (siehe II.4.2.) seit den 1980er Jahren mit den Problemen der Immigranten-­Community in den banlieues. Mehdi Charfes genreprägender Klassiker Le Thé au harem d’Archimède (1985), eine Adaption seines eigenen Romans, porträtiert den von Arbeitslosigkeit und Rassismus gezeichneten Alltag junger beurs. Seit den 1990er Jahren entstehen vermehrt Filme, die sich der Migration der ersten Generation im Kontext des Algerienkriegs annehmen und die Lebenssituation in den bidonvilles beleuchten, so z. B. Vivre au paradis (Bourlem Guerdjou, 1998). Viele beur-­Filmemacher entwickeln ihre Themen im Laufe ihrer Karriere weiter und beschäftigen sich in jüngerer Zeit häufiger mit dem Herkunftsland ihrer Eltern. Mehdi Charef kehrt z. B. in seinen späteren Filmen La Fille de Keltoum (2001) und Cartouches Gauloises (2007) in das aktuelle Algerien sowie in die franko-­algerische Geschichte zurück. Damit steht er beispielhaft für eine Tendenz, die die Filme der in Frank124 Weitere Beispiele sind Regisseure wie Ali Ghalem, der nach seiner Filmarbeit in Frankreich zurück in Algerien seinen eigenen Roman adaptierte, Une femme pour mon fils (1982). Dieser macht die schwierige Beziehung zwischen Schwiegermutter und -tochter in einer arrangierten Ehe zu seinem Gegenstand. Eine ähnliche Thematik bearbeitet Le Mariage de Moussa (Tayeb Mefti, 1982), in dem ein junger Emigrant nach Algerien zurückkehrt und sich dort als Fremder fühlt (vgl. Armes 2005: 43).

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reich aufgewachsenen und emigrierten Regisseure betrifft. Abdelkrim Bahloul beispielsweise, der 1985 seinen ersten Film Le Thé à la menthe herausbrachte, in dem ein junger Algerier erfolglos sein Glück in Frankreich sucht, setzt sich in Le Soleil assassiné (2003) mit dem ermordeten Poeten Jean Sénac und somit mit der gemeinsamen franko-­algerische Geschichte auseinander. Ähnlich vielfältig gestalten sich die Werke Rachid Boucharebs. Sein erster Film Bâton rouge (1985) konzentriert sich ebenfalls auf frustrierte Jugendliche, die in diesem Fall zu einem neuen Leben in die USA aufbrechen wollen. Der Regisseur löste sich von diesem thematischen Fokus und bewegt sich mit verschiedensten Schwerpunkten zwischen Europa und Afrika. Seine jüngeren Filme Indigènes (2006) und Hors-­la-loi (2010) werfen neue Perspektiven auf die franko-­algerische Vergangenheit und rüttelten insbesondere in Frankreich die guerres de mémoires um den Algerienkrieg wach.125 Parallel dazu sind auch teilweise Veränderungen in der pied-­noir-Thematik festzustellen. In den 1990er Jahren erweiterten Filme von weiblichen Regisseuren das Spektrum um neue Sichtweisen. Outre-­mer (Brigitte Roüan, 1990) schildert das Leben sowie den Niedergang gut situierter europäischer Siedler aus der Erfahrungsperspektive dreier Schwestern und reflektiert dabei die Rolle der Frauen in der Kolonialgesellschaft. Dominique Cabreras Film De l’autre côté de la mer (1996) zeichnet im Gegensatz zu den meisten früheren Beispielen ein weniger nostalgisches Bild und stellt anhand der Verbindung eines pied-­noir und eines beur deren parallel verlaufende Identitätsfragen heraus.126 Die erwähnten Filme veranschaulichen insgesamt die Schwierigkeit einer eindeutigen Zuordnung zum algerischen oder französischen Kino, auch wenn viele Werke aufgrund ihrer Produktionsseite Letzterem zugerechnet werden. 125 Nach Little Senegal (2001) und seinem Film London River (2009), der sich mit den Terroranschlägen in London von 2005 auseinandersetzt, thematisieren seine aktuelleren Filme Indigènes (2006) und Hors-­la-loi (2010) bis dahin meist verborgene Themen der franko-­algerischen Geschichte und sorgten für reichlich Furore (siehe Kapitel IV). 126 Alexandre Arcadys rezente Adaptation von Yasmina Khadras gleichnamigen Roman Ce que le jour doit à la nuit (2012) macht wiederum die Trennung der Welten von colonisé und colonisateur trotz mehrseitig angelegter Aspekte deutlich. Der Film verfolgt die Entwicklungsgeschichte eines jungen Algeriers von den 1930er bis in die 1960er Jahre, der nach der Enteignung, Verarmung und dem Tod seiner Familienmitglieder in der Obhut seines mit einer pied-­noire verheirateten Onkels aufwächst. Die verschiedenen Lebenswelten und zugleich nostalgische Kindheitserinnerungen im Kreise der pied-­noir-Gemeinschaft werden durch die algerische Hauptfigur Younes, alias Jonas, erlebt.

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3.5. Krise und Transnationalisierung 3.5.1. Zusammenbruch des Kinosektors und filmischer Widerstand in den 1990er Jahren Die allmähliche Diversifizierung der Themen und Positionen im algerischen Kino ist nicht zuletzt im Zusammenhang mit Veränderungen des Filmsektors seit Mitte der 1980er Jahre sowie im Kontext der politischen Umbrüche 1989 zu sehen. Neben den zunehmenden Koproduktionen mit ausländischen Firmen erlaubten die politische Liberalisierung und die Teil-­Privatisierung der Produktionsstrukturen den Regisseuren auch in Algerien größere Ausdrucksfreiheiten. Die Auflösung des hoch verschuldeten ONCIC im Jahre 1984 brachte zwar einerseits eine Schwächung des Filmsektors mit sich, bedeutete andererseits aber auch eine Lockerung des bis dahin streng monopolisierten Staatskinos. Den Filmemachern wurde es ermöglicht, ihre eigenen Firmen zu gründen und – wenn auch nicht frei von staatlichen Kontrollen – die Filmwelt eigenständiger zu gestalten. Dies war allerdings wiederum mit finanziellen Risiken für die Regisseure verbunden. Im November 1987 übernahm das CAAIC die meisten früheren Aktivitäten des ONCIC; das RTA wurde im gleichen Jahr neu formiert zur ENPA (Entreprise nationale de production audiovisuelle). In den 1990er Jahren gründeten sich einige private Produktionsstätten, jedoch befand sich das Kino weiterhin in einer prekären Lage. Nachdem die Reorganisation von 1987 zunächst die Produktion begünstigt zu haben schien – 19 Spielfilme entstanden zwischen 1990 und 1993 –, nahm die Anzahl der algerischen Filmproduktionen ab 1993 deutlich ab. Weitere Beschneidungen der Filmförderung erschwerten es den Filmemachern staatliche Hilfe für ihre Projekte zu erlangen; diese hing von einer Kommission ab, die streng über die Annahme der Drehbücher entschied. Zwei Hauptfaktoren führten letztlich fast zum Erliegen der algerischen Filmwirtschaft: Zum einen trieb der Terrorismus viele Kulturschaffende und Cineasten ins Exil; zum anderen brachte die Privatisierung des Filmsektors viele ungelöste Probleme mit sich. Der definitive Zusammenbruch des Kinosektors vollzog sich 1998, als das CAAIC, die ENPA und die Nachrichtenorganisation ANAF von der Regierung ohne absehbare Folgestrukturen geschlossen wurden. Lediglich ein Film, die vietnamesisch-­ algerische Koproduktion Fleur de lotus (Laskri / Trân Dac), wurde 1998 realisiert. Hinzu kam, dass die Gemeinden die Kinosäle nicht mehr ausreichend finanzieren konnten. Nicht nur in Algerien, sondern insgesamt im Maghreb hatte sich bereits in den vorangegangenen Jahrzehnten ein kontinuierlicher Rückgang an Kinos abgezeichnet. In Algerien sank die Zahl extrem, so dass sich die über 300 Säle im Jahre 1962 auf nur einige Dutzend in rezenter Zeit reduzierten. Neben 86

den ökonomischen Faktoren und der Konkurrenz durch Satelliten-­TV, Videos und DVDs hat die terroristische Bedrohung die Schließung der Kinosäle hier weiter beschleunigt.127 Die Abnahme der Publikumszahlen von 9 Mio. 1980 auf eine halbe Mio. 1992 ließ die Einnahmen, über die sich das Kino finanzierte, weiterhin schrumpfen. Angesichts der kaum mehr vorhandenen Infrastruktur wurden Filme seither häufig in Cafés oder Video-­Clubs gezeigt und vor allem durch Raubkopien verteilt (vgl. Choukroun 2004: 65). Durch den Zerfall der staatlichen Produktionsstrukturen und Filmfinanzierung wurden nur vier Spielfilme zwischen 2000 und 2005 produziert; mehrere Filme wurden nicht fertiggestellt oder blieben unveröffentlicht.128 Ungeachtet ihrer geringen Quantität sind gerade die algerischen Filme der 1990er Jahre bezüglich ihrer inhaltlichen Botschaften bedeutend und spiegeln angesichts der schwierigen Bedingungen ein großes Engagement der Cineasten. Das Kino konzentrierte sich auch in dieser Zeit weiterhin hauptsächlich auf Inhalte, die die eigene Gesellschaft betrafen. Vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen setzten sich die Filmemacher aber auch unter neuen Blickwinkeln mit der franko-­algerischen Geschichte auseinander. Einige Filme widmeten sich z. B. nun den komplizierten Beziehungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen während der Kolonialzeit. Dazu zählt Le Cri des hommes (Touita, 1990), der von der Freundschaft eines pied-­noir mit einem Algerier handelt, die sich 1959 in Mostaganem zwischen den feindlichen Seiten befinden. Sid Ali Fettars Amour interdit aus demselben Jahr erzählt von der zum Scheitern verurteilten Liebe eines Algeriers und einer Algerienfranzösin im Algerien von 1955: „Such a film would have been deemed conventional anywhere but in Algeria, where instead it represents a move away from the socially and politically committed mainstream“ (Armes 2005: 56). Zugleich verbanden etablierte und neue Filmemacher Rückblicke auf die Vergangenheit mit aktuellen Fragestellungen und Problemen, darunter Mohamed Lakhdar Haminas Sohn, Malik Lakhdar Hamina, der in seinem Film Automne, Octobre à Alger (1991) die Revolte vom Oktober 1988 thematisiert. Die politische Situation und die zunehmende Gefahr durch den Fundamentalismus spiegelten 127 Für eine aktuelle Bestandsaufnahme der Kinos in den großen Städten Algeriens siehe Louhal 2013. 128 Als Gesamtbilanz über die Produktion an algerischen Spielfilmen nennt der Filmhistoriker Jacques Choukroun neun Filme für die 1960er Jahre, 26 für die 1970er, 26 für die 1980er und sieben für die 1990er Jahre sowie drei Produktionen zwischen 2000 und 2004 (vgl. ebd.: 59). Die bedeutendsten Perioden des algerischen Kinos waren also zwischen den 1970er und 1990er Jahren.

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sich mit Verschärfung der Lage in verschiedenen Filmen. Auf sehr unterschiedliche Weise zogen z. B. L’Honneur de la tribu (Zemmouri, 1993), Youcef (Chouikh, 1993) oder Bab el-­oued city (Allouache, 1993) ihre Bilanz der jahrzehntelangen FLN-­Regierung und kritisierten dessen Versagen bezüglich der Demokratisierung Algeriens. Auch ein weiblicher Widerstand machte sich diesbezüglich sowohl inhaltlich als auch auf kreativer Seite bemerkbar. In Mohamed Rachid Benhadjs Touchia (1992) werden über die Erinnerungen einer Frau die Unterdrückung von Frauen, die Enttäuschungen nach der Unabhängigkeit sowie Parallelen zwischen der Gewalt während des Unabhängigkeitskriegs und der filmischen Gegenwart Anfang der 1990er sichtbar. Die Romanautorin Hafsa Zinaï-­Koudil illustrierte in ihrem Regiedebüt Le Démon au féminin (1993) die verheerenden Gefahren eines blinden Radikalismus, der den Islam für sich beansprucht, diesen aber durch gewaltsame Praktiken und Intoleranz verzerrt. Mit ihren Werken der 1990er Jahre widersetzten sich die Regisseure/innen somit der erneuten Gewalt in Algerien und machten zugleich Staat sowie konservative Gesellschaftsstrukturen mit verantwortlich für die aktuelle Krise. Konnte das algerische Kino Mitte der 1990er Jahre bezüglich seiner Produktionsseite den negativen politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen kaum noch standhalten, so gab ihm eine weitere engagierte Bewegung noch während dieser Krisenzeit neue Impulse. Erste Filme in Tamazight wurden produziert und erkämpften sich das Wort, das der berberischen Bevölkerung durch die Arabisierungspolitik Algeriens lange verwehrt gewesen war. Dazu zählen Machaho (Belkacem Hadjadj, 1995), der eine kritische Analyse traditioneller Strukturen anstellte, die Literaturadaption La Colline oubliée (Abderrahmane Bouguermouh, 1997) sowie der erste Spielfilm des Dokumentarfilmers Azzedine Meddour, La Montagne de Baya (1997), der die Legende einer kabylischen Widerständlerin des 19. Jhs. aufgreift. Die Filme sind im Kontext der politischen Bewegung für die Anerkennung der berberischen Identität und Sprache zu sehen, die durch die politische Öffnung 1989 an Kraft gewann. Durch das Auftreten dieses cinéma amazigh diversifzierte sich das algerische Kino in kultureller Hinsicht sowie mit Blick auf die filmische Verhandlung der nationalen Geschichte. Die Entstehung dieser Filme gerade in Zeiten des Terrorismus zeigt, dass engagierte Cineasten trotz aller Schwierigkeiten neue Positionen hervorbringen und sich der Stagnation des Landes sowie der Gewalt entgegenstellen. Das Kino entwickelt sich in dieser Krisenzeit zu einem Sprachrohr oppositioneller Stimmen.

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3.5.2. Ausblick auf das (franko-)algerische Kino Die Talfahrt des algerischen Kinos bezüglich der Produktion und des desolaten Zustands seiner Infrastruktur hat sich bis heute nicht wesentlich gewendet. Zwar bestehen erste Anzeichen eines Wiederaufbaus – das Kulturministerium verkündet seit mehreren Jahren das Vorhaben, die Filmindustrie anzukurbeln, einige wenige Kinosäle wurden neu eröffnet, zudem entstehen allmählich wieder mehr Filme in Algerien. Ein tatsächlicher Aufschwung an Produktionen sowie der Aufbau nachhaltiger Strukturen zur Filmförderung, zu Distribution oder Gründung von Ausbildungsstätten bleiben jedoch abzuwarten.129 Die geringen Möglichkeiten sowie die Exilierung vieler Filmemacher im Zuge der 1990er Jahre erschweren eine Erholung des Filmsektors. Zum einen sind viele Cineasten überwiegend in Frankreich geblieben, zum anderen sind sie – unabhängig von ihrem Wohnsitz – aufgrund der häufig fehlenden Unterstützung von algerischer Seite darauf angewiesen, ihre Filmprojekte mit Hilfe ausländischer Fördermittel umzusetzen. Wenngleich diese Situation eines überwiegend ins Exil getriebenen Kinos nicht schön zu reden ist, lässt sich anstelle eines monierten „nicht-­existenten“ algerischen Kinos eher von dessen Transformierung in eine andere Gestalt sprechen. Die Arbeiten algerischer Regisseure/innen innerhalb und außerhalb des Landes entstehen zunehmend in einem Zwischenraum. So gesehen hat das algerische Kino, politisch und wirtschaftlich bedingt, in den letzten Jahren erneut eine transnationale und weniger geographisch gebundene Existenz ausgeprägt und ist, wenn auch nicht freiwillig, in einer Phase angekommen, in der es sich immer schwieriger nur im nationalen Rahmen definieren lässt.

129 Im Rahmen des Programms für Algier als arabische Kulturhauptstadt 2007 sind mehrere Filme unterstützt worden. Allerdings bleibt das Budget insgesamt sehr gering und ist die Vergabe von Geldern von der Zustimmung eines Komitees zur Annahme der Drehbücher abhängig. Der zaghafte Aufschwung in den letzten Jahren zeigt sich in dem Auftauchen einer neuen Generation von Regisseuren wie Tariq Teguia und Lyes Salem (vgl. hierzu Chikhaoui 2009: 86). Die möglichen politischen Maßnahmen zur Filmförderung lassen die Diskussionen der Cinephilen über Vor- und Nachteile staatlicher Unterstützung und eine dadurch eventuell größere Einflussnahme aufflammen. Allouaches Film Normal! (2012) macht die Schwierigkeit der Meinungsäußerung und des Filmemachens in Algerien selbst zum Thema. Eine Gruppe junger Cineasten, die Filmmaterial über die Proteste von 2011 bearbeitet, stößt auf Grenzen der Zensur und die Frage danach, wie den Missständen – durch Kunst oder Revolten – zu begegnen ist.

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Armes spricht nicht nur in Bezug auf Algerien von einem „particular type of transnational cinema in the Maghreb“ (ebd.: 183), das abhängig vom finanziellen Engagement anderer Staaten, insbesondere Frankreichs, ist. Es stellt sich die oben angesprochene Frage, inwiefern die Filme franko-­algerischer Cineasten hierbei vom französischen Kino einverleibt werden. Das Potenzial, das andererseits in einem derartig ‚entgrenzten‘ Kino liegt, ist die Möglichkeit einer oppositionellen filmischen Praxis gegenüber der politischen Front in Algerien sowie die der Verbreitung alternativer Diskurse in einer transnationalen Arena. In den Filmen machen sich Stimmen hörbar, die teilweise sowohl in Algerien als auch in Frankreich marginalisiert sind bzw. neue Positionen vermitteln, die jeweils die offiziellen nationalen Narrationen unterlaufen. Zusammen mit der Transnationalisierung lässt sich auf weiteren Ebenen der Produktionsseite und der Inhalte eine Diversifizierung des algerischen Kinos beobachten. Seit Ende der 1990er Jahre ist ein Anstieg von Werken (franko-) algerischer Regisseurinnen zu bemerken, die vor allem in Frankreich, aber auch in Algerien arbeiten. Die Dokumentarfilmerin Yamina Benguigui (Memoires d’immigrés; Femmes d’Islam) brachte 2001 ihr Spielfilmdebüt Inch Allah Di­manche heraus, das die Beziehung zwischen Mann und Frau in der Immigrationssituation verfolgt. Rachida Krim drehte nach mehreren Kurzfilmen Sous les pieds des femmes (1997), der den Schmerz der Vergangenheit über die Erinnerungen einer in Frankreich lebenden ehemaligen Freiheitskämpferin thematisiert. Die Cutterin und Ehefrau von Mohammed Chouikh, Yamina Bachir-­Chouikh, veröffentlichte 2001 ihren Film Rachida. Dieser macht den alltäglichen Terrorismus aus weiblicher Perspektive erfahrbar. Eine andere Verarbeitung dieses Themas präsentiert die Dokumentarfilmerin Yamina Sahraoui in ihrem Spielfilmdebüt Barakat! (2006), in dem sie der Gewalt starke Frauen und eine friedliche Seite Algeriens entgegensetzt. Auch die männlichen Cineasten blicken auf die gegenwärtige Gesellschaft und die Auswirkungen des Bürgerkriegs teils erneut mit dem Fokus auf weibliche Hauptfiguren, so z. B. Allouache mit L’Autre monde (2001) oder Nadir Moknèche, der gleich in mehreren Filmen – Le Harem de Mme Osmane (2001), Viva Laldjérie (2004), Délice Paloma (2007) – Frauen und andere Marginalisierte des aktuellen Algerien porträtiert. Im Kontext der Reflexionen über den Bürgerkrieg sowie im transnationalen Rahmen wird die franko-­algerische Geschichte aus verschiedenen Perspektiven neu aufgerollt. Erinnerungen an den Algerienkrieg treten insbesondere in franko-­ algerischen Produktionen (auch TV-­Produktionen) in neuen Zusammenhängen auf. Einerseits findet die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte über die Verhandlung verdrängter Gedächtnisse und Aspekte des Kriegs statt, z. B. in Alain Tasmas 90

Nuit Noire (2005) über die Massaker vom Oktober 1961 in Paris, in Tasmas Harkis (2006) oder Rachid Boucharebs Hors-­la-loi (2010). Andererseits wird sie dabei auch zunehmend aus mehrfachen Perspektiven angegangen. Sie steht teilweise eng in Verbindung mit der Frage nach Identitätsproblematiken, die ebenfalls unter neuen Herangehensweisen gestellt wird, so z. B. in Tony Gatlifs Exils (2003), der transkulturelle Lebensentwürfe und Denkansätze besonders über seine formale Ebene vermittelt. Die Spannungen hybrider Identitäten sowie die Fremdheit franko-­algerischer Protagonisten in einem oder beiden Ländern bleiben zentral und werden u. a. in Mahmoud Zemmouris Komödie Beur Blanc Rouge (2005) verhandelt. Ein pessimistischer Blick auf das aktuelle Algerien wird in mehreren Filmen der 2000er Jahre spürbar. Die desillusionierende Rückkehr eines Emigranten nach Algerien in Bled number one (Rabah Ameur-­Zaïmeche, 2006), das aussichtslose Verweilen in Algerien in Rome plutôt que vous (Tariq Teguia, 2006) sowie die gescheiterte Flucht aus Algerien in Harragas (Merzak Allouache, 2009) und Harragas Blues (Moussa Haddad, 2012) sind nur einige Beispiele, die die Frustrationen über die Perspektivlosigkeit in einem zerrütteten Land spiegeln. Hoffnungsvoller blicken Filme wie La Maison jaune (Amor Hakkar, 2008) oder die Komödie Masquerades (Lyes Salem, 2008) auf den Lebensalltag in Algerien. Lyes Salems jüngster Film L’Oranais (2014) wagt wiederum einen kritischen Blick auf die Geschichte und Entwicklung Algeriens. Er entlarvt, wie Lügen und Verdrängungen den Aufbau des Landes und des politischen Machtapparates nach der Unabhängigkeit begleiten, und hinterfragt so den Umgang mit den nationalen Heldenmythen. Die Perspektiven auf Gegenwart und Geschichte ebenso wie die dabei verhandelten Identitätsentwürfe diversifizieren sich insgesamt, wobei die thematischen Tendenzen sich weiterhin viel um die Probleme der (post)terroristischen Ära und des aktuellen Algeriens sowie um den Algerienkrieg zentrieren. Die Entwicklung der strukturellen Bedingungen und äußeren Rahmen des Kinos – vom antikolonialen Kino über die Verstaatlichung bis hin zu einem Kino, das Grenzen überschreitet und selbst in Existenznot ist – schlägt sich in den Orientierungen der Filme nieder, die zunehmend plurale Konzeptionen transportieren und nationale Konstrukte inhaltlich-­ästhetisch unterlaufen.

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IV Analyseteil Die gestalterischen Elemente eines Films tragen wesentlich dazu bei, dessen Botschaften zu formulieren. Sie legen Aussagen und Interpretationsfährten an und geben Aufschluss über mögliche dahinterstehende Denkansätze. Narrative Strategien vermögen es z. B., nationale Konzeptionen zu stützen, indem sie Geschlossenheit und Einheitlichkeit transportieren. Auf der anderen Seite ist es dem Film möglich, anhand fragmentarischer Strukturen, Dissonanzen und ambivalenter Figurenzeichnungen postkoloniale Dynamiken und prozessuale Identitätsentwürfe zu reflektieren. Im folgenden Analyseteil gilt es, die verschiedenen in den Gestaltungsmitteln angelegten Aussagen der Filme herauszuarbeiten. Methodisch werden dazu Verfahren und Kategorien zur Analyse des Visuellen, des Auditiven und des Narrativen genutzt, die trotz der Vielfalt an filmanalytischen Ansätzen weitgehend etabliert sind.130 In der Filmwissenschaft ist es mittlerweile verbreitet, Film als Text zu fassen, den es zu ‚lesen‘ gilt. Der Textbegriff hat sich dort (in Folge von Christian Metz 1972) aus der Linguistik und Semiotik heraus entwickelt und ist zu einem medienübergreifenden Konzept avanciert: „Der semiotische Zugang ermöglichte eine erste Erweiterung des Textbegriffs über den sprachlichen Bereich hinaus auf inter- und plurimediale Artefakte und ist insbesondere seit den 1980er Jahren zu einer der leitenden Methoden für Filmanalysen geworden“ (Bateman / Kepser / Kuhn 2013: 8). Auf die vielfältigen Auslegungen des Textualitätsbegriffs sowie auf die daraus resultierenden Problematiken soll hier nicht eingegangen werden, da sie für die Untersuchungen der vorliegenden Arbeit nicht erkenntnisleitend sind. Die Metapher des Textes ist hier aber insofern relevant, als sie die filmischen Gestaltungsweisen betrifft, die zur Interpretation herangezogen werden.131 Durch seine Multimodalität erzeugt der Film seine Aussagen über verschiedene Ebenen, die ihre Wirkkraft vor allem im Zusammenhang entfalten: 130 Sie orientieren sich hier vorwiegend an Knut Hickethiers Film- und Fernsehanalyse (2007) sowie mit Blick auf die Kontextbezüge an der Einführung in die systematische Filmanalyse (2004) von Helmut Korte. 131 Dabei lässt sich auch eine Verbindung zu dem in der interpretativen Kulturanthropologie von Clifford Geertz (1973) geprägten Verständnis von Kultur als Text und Bedeutungsgewebe ziehen, nach dem Symbole, Rituale, Handlungen und Artefakte Darstellungsformen kultureller Selbstauslegungen repräsentieren. Bedeutungen kultureller Praktiken sowie filmischer Äußerungen sind durch eine mögliche Eröffnung von Lesarten zu erschließen.

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Das Besondere des filmischen Textes liegt gerade darin, dass er Bedeutungen nicht nur jeweils auf der Ebene des gesprochenen Textes, des Abgebildeten, der Struktur der Bilder und ihrer Verbindung (Montage) entstehen lässt, sondern dass diese Bedeutung auch im Spiel der einzelnen Ausdrucks- und Mitteilungsebenen miteinander entstehen (Hickethier 2007: 23).

Dabei können gerade in Kombination der Ebenen bestimmte Effekte erzielt werden. Bild und Ton mögen z. B. kongruent sein oder divergieren und durch die erzeugte Diskrepanz Ambivalenzen ausdrücken. Die Gestaltungselemente sind allerdings nicht nur innerhalb des Films, sondern auch kontextangemessen in Bezug auf außerfilmische Referenzen, das Thema oder z. B. auch im Hinblick auf Genrekonventionen zu interpretieren. Zu berücksichtigen ist, dass der Filmtext zwar Zeichen und sensorische Stimuli oder cues (Bordwell 1985) in sich trägt, welche Anreize für die Interpretation liefern, die einzelnen Zeichen aber nicht in ihrer Bedeutung fixiert sind. Diese wird ihnen letztlich vom Rezipienten zugeschrieben. In Anlehnung an David Bordwells kognitiven Ansatz, der die Rolle der Zuschauer/innen als aktive Betrachter hervorhebt, merkt Knut Hickethier an: „Nicht der Film vermittelt Bedeutung, sondern der Zuschauer erkennt aufgrund bestimmter Bedingungen in ihm Bedeutungen“ (Hickethier 2007: 106, Hervorhebung im Original). Der filmische Text gibt durch seine cues Indizien und Bedeutungsmöglichkeiten vor; für den Verstehensprozess sind der Rückgriff auf ein (weltliches und filmisches) Vorwissen sowie der sozio-­kulturelle Hintergrund der Zuschauer und letztlich auch die Situation des Filmsehens wesentlich. Das Filmverstehen generiert sich demnach durch die Erfahrungen der Zuschauenden und die im Film vorhandenen Strukturen. Ohne dies hier weiter auszuführen, kann festgehalten werden: „[D]ie rezipierte Botschaft als Summe filminterner und -externer Einflussfaktoren ist immer eine durch individuelle, situative und historisch-­gesellschaftliche Variablen beeinflusste Konstruktion des Zuschauers oder – in zugespitzter Formulierung – jeder Betrachter sieht einen eigenen (Meta-)Film“ (Korte 2004: 16, Hervorhebung im Original). Abgesehen von dem Einfließen diverser Hintergründe in den subjektiven Interpretationsprozess sind die Filme selbst in einem historisch-­kulturellen Kontext verankert. Sie sind als Zeichenprozesse zu lesen, deren mögliche Bedeutungen sich im Rahmen ihrer Kontexte und ihrer Referenzen auf die außerfilmische Realität entfalten. Letztlich ist auch das Erkenntnisinteresse bzw. die eigene Fragestellung lenkend für den Deutungsprozess, denn es werden, insbesondere bei der Analysearbeit, zwangsläufig Selektionen vorgenommen.

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Für eine möglichst plausible Interpretation sind über die immanente Produktanalyse hinaus somit (erschließbare) außerfilmische Einflussfaktoren zu berücksichtigen. Korte teilt die verschiedenen Dimensionen der Filmanalyse demnach in: die Filmrealität (Bestandsaufnahme, Inhalt, Form), die Bezugsrealität (thematisch, historische Problematik), die Bedingungsrealität (Kontextfaktoren, die Produktion und Gestaltung beeinflusst haben) sowie die Wirkungsrealität (Publikumsstruktur, Laufzeiten, Rezeptionen). Für die vorliegende Analysearbeit sind neben der Filmrealität vor allem die historischen Kontexte im Sinne der Bezugsrealität und die Entstehungsrahmen oder Bedingungsrealität von Interesse; Rezeptionsaspekte sind hier weniger zentral und teils auch nicht zu rekonstruieren. Gerade aufgrund der hoch politisierten Entstehungssituationen der Filme im Kontext von Dekolonisation, Bürgerkrieg oder Exil sind die außerfilmischen Faktoren bedeutend.132 Angesichts der Komplexität und Heterogenität des Untersuchungsmaterials, das mehrere Jahrzehnte Filmgeschichte umfasst, ist das Kapitel so aufgebaut, dass sich die Analysen hauptsächlich einzelnen Filmen nacheinander widmen. Die Botschaften der Filme und auch deren Funktionen innerhalb des Kinos können so aus dem Zusammenhang eines Werkes heraus deutlicher ermittelt und im jeweiligen Kontext verstanden werden. Die hier gewählte Anordnung berücksichtigt dennoch zugleich systematisch-­inhaltliche Schwerpunkte. Das Analysekapitel ist somit einerseits nach Themenperspektiven bzw. historisch-­kontextuell gebündelten Oberkapiteln strukturiert, bei denen mehrere Werke in einem größeren Gesamtzusammenhang stehen, und andererseits relativ chronologisch aufgebaut. Die Chronologie hängt insofern mit den Oberkapiteln und den ‚Phasen‘ des Kinos zusammen, als sich die unterschiedlichen kinematographischen Tendenzen schrittweise auf der Makroebene des Korpus verfolgen lassen. Das Aufbrechen von Homogenitäts- und Einheitsdiskursen ist also nicht nur anhand der Gestaltungselemente innerhalb eines Films, sondern auch anhand einer Diversifikation an Perspektiven innerhalb eines größeren Korpus zu beobachten. Die Verände132 Freilich spielen Subjektivität und die eigene Situierung in die Analysen mit hinein. Als europäische Wissenschaftlerin entspricht mein Blick auf das algerische Kino einer Außenperspektive, der trotz intensiver Beschäftigung mit dem algerischen Film sowie der Literatur, Kultur und Geschichte dieses Landes sicherlich einige Nuancen entgehen werden. Die Vorstellung, alle Aspekte eines Films aufdecken zu können, ist ohnehin ein Trugschluss und auch nicht Ziel des Erkenntnisinteresses. Meine Außensicht erlaubt es zudem, aus den teils ideologisch besetzten, inneralgerischen Diskussionen auszubrechen und den Gegenstand aus einer anders aufgestellten Perspektive zu betrachten, die den engen nationalen Rahmen überwindet.

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rungen im (franko)-algerischen Kino können so mit Blick auf die Einzelwerke und im filmhistorischen Gesamtkontext erfasst werden. Kurze Einführungen zu den Oberkapiteln geben einen Einblick in den jeweiligen historisch-­thematischen Zusammenhang. In den einzelnen Analysen werden die für das Erkenntnisinteresse relevanten Aspekte fokussiert. Es wird somit kein komplett einheitliches Analyseraster auf alle Filme gleich angewandt, sondern es werden entsprechend an die Fragestellung angepasste Analyseschwerpunkte gesetzt, um die zentralen Aussagen exemplarisch zu illustrieren. Dabei werden filmische Aspekte wie die Handlungsstruktur, die Figurenkonstellation und -charakterisierung, narrative Strategien wie Erzählsituationen, der Einsatz von Musik, Kamerabewegungen, Montage und weitere konkrete Gestaltungselemente auf der Ebene des Visuellen und Auditiven unterschiedlich gewichtet. Einige Filme werden detaillierter betrachtet, andere fallen kürzer aus, dienen aber ebenso dazu, bestimmte Prozesse innerhalb des Korpus aufzuzeigen. Die einzelnen Stationen der Analysearbeit beobachten verschiedene Botschaften und Tendenzen des untersuchten Korpus, von der Konstruktion und Stabilisierung nationaler Narrationen bis hin zu deren Infragestellung. Der nationale Freiheitskampf und der Bürgerkrieg bilden zwei zentrale Referenzpunkte, an deren filmischer Verarbeitung sich diese Entwicklung verfolgen lässt. Darüber hinaus vollzieht sich eine Pluralisierung an Perspektiven auf Geschichte und Identität bereits zwischen diesen beiden historischen Rahmungen und ist mit gesellschaftlichen und politischen Transformationen verbunden. In den vier großen Oberkapiteln des Analyseteils wird die allmähliche Diversifizierung des Kinos anhand verschiedener Aspekte nachvollzogen.

1. Nationale Konstruktionen: Erzählungen des Freiheitskampfes im cinéma moudjahid Das erste Analysekapitel widmet sich Inszenierungen des Freiheitskampfes und Konstruktionen der nationalen Identität in Filmen des cinéma moudjahid. Angesichts des hohen Stellenwerts, den der Unabhängigkeitskampf für die Konstituierung der Nation hat, fungieren die Erzählungen des Widerstands als ein zentraler Faktor in der Definition des nationalen Selbstbildes. Vor dem Hintergrund der politisch propagierten Einheit und der zeitlichen Nähe zum antikolonialen Krieg ist zu untersuchen, wie sich der offizielle Homogenitätsdiskurs in den Filmen spiegelt. Es wird nach Affirmationen gefragt, aber auch nach möglichen Abweichungen und Ambivalenzen in den filmischen Darstellungen der Nation. Von Interesse ist, welche Akteure, Perspektiven oder Aspekte auftreten. Weiterhin 96

wird untersucht, ob die Geschichte eher faktisch orientiert oder aber symbolisch erzählt wird und wie Opfer- und Heldengeschichten einen Beitrag zur Narration des nationalen Mythos leisten. Im ersten Teilkapitel wird besonders auf die objektivierenden Strategien und die Inszenierungen des nationalen Kollektivs der frühen Filme geblickt. Im zweiten Teil wird die Rolle und Darstellung von Frauen im Kontext des nation building betrachtet. Der anschließende dritte Teil untersucht die Stabilisierung nationaler Einheitsdiskurse durch vordergründige Heldengeschichten sowie politische und kulturelle Exklusionen.

1.1. Zwischen authentifizierenden und antikolonialen Strategien Zunächst werden drei Filme ins Auge gefasst, die nach der Unabhängigkeit Algeriens erste eigene Bilder der algerischen Nation in Fiktionsform verbreiten: Une si jeune paix (Jacques Charby, 1964), La Bataille d’Alger (Gillo Pontecorvo, 1966) und Le Vent des Aurès (Mohamed Lakhdar Hamina, 1966). Es handelt sich hierbei um bedeutende Filmklassiker, die die Orientierungen des cinéma moudjahid prägten, sich aber in einiger Hinsicht auch von ihren Nachfolgern unterscheiden – nicht zuletzt vielleicht dadurch, dass sie vor der kompletten Verstaatlichung des Kinosektors und teilweise in internationaler Koproduktion entstanden sind. Grundzüge des algerischen Staatskinos, das sich durch ein FLN-­geleitetes Nationenbild und die Inszenierung des Befreiungskampfes als nationalem Gründungsakt charakterisiert, werden hier bereits angelegt. Denn auch diese drei antikolonialen Werke erzeugen – auf verschiedene Weise – Bilder eines geeinten Widerstands. Une si jeune paix und La Bataille d’Alger sind jeweils in europäisch-­algerischer Zusammenarbeit produziert worden und spielen, im Gegensatz zu den meisten Filmen des cinema moudjahid, im urbanen Raum Algiers. Une si jeune paix ist der erste algerische Langspielfilm nach der Unabhängigkeit, geschrieben und gedreht von dem französischen FLN-­Aktivisten Jacques Charby.133 Er erhielt 1965 in Moskau den „Preis des Jungen Kinos“. Gillo Pontecorvos italienisch-­algerische Koproduktion La Bataille d’Alger, die unverblümt die Gewalt und die Folter im

133 Jacques Charby war antikolonialer Kämpfer, Mitglied des die FLN unterstützenden französischen Netzwerks Réseau Jeanson, dem er 1958 beitrat. Er veröffentlichte Bücher, die den französischen Kolonialismus verurteilten und seinerzeit in den 1960er Jahren in Frankreich verboten waren. Charby wurde 1960 verhaftet, konnte aber fliehen. In Abwesenheit wurde er zu zehn Jahren Haft verurteilt, profitierte dann von dem Amnestiegesetz von 1966. Siehe hierzu http://www.algeriades.com/news/ previews/article325.htm.

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Algerienkrieg ans Licht brachte, sorgte seinerzeit für das größte internationale Aufsehen und wurde 1966 in Venedig mit dem „Goldenen Löwen“ prämiert. Die französische Delegation boykottierte die Preisverleihung; in Frankreich selbst war der Film verboten und erste vereinzelte Projektionen im Jahre 1971 fanden unter Bombendrohungen, Angriffen und Protesten gegen die Kinos statt.134 Weniger brisant, aber ebenso als eines der bedeutendsten algerischen Werke dieser Periode bekannt, ist der Film Le Vent des Aurès, mit dem Lakhdar Hamina 1967 den „Preis des Erstlingswerks“ in Cannes erhielt. Als einer der großen algerischen Regisseure der ersten Generation, der bereits während des Algerienkriegs aktiv war, prägte Lakhdar Hamina das nationale Kino nachhaltig. Besonders Le Vent des Aurès und seine sozialistisch orientierte Ästhetik waren hier einflussreich. In den folgenden Analysen sollen die Filme in Bezug auf ihre Darstellungen der Befreiungsgeschichte und ihr darin erzeugtes Bild der Nation untersucht werden. Dabei werden Verankerungen im nationalen Diskurs ebenso wie Besonderheiten herausgearbeitet, die zeigen, dass diese Phase des algerischen Kinos doch mitunter Heterogenität aufweist – trotz des politischen Einheitsdenkens, das auch im Kino ein großes Maß an ‚Einstimmigkeit‘ bewirkte.

1.1.1. Auseinandersetzung mit der traumatischen Gewaltgeschichte – Une si jeune paix Anders als die meisten Filme, die den Unabhängigkeitskampf fokussieren, widmet sich Une si jeune paix einem oft vergessenen oder wenig thematisierten Aspekt in diesem Kontext. Er nähert sich der Lebenssituation von Kriegswaisen, deren Gegenwart von den Folgen der kolonialen Gewalt bestimmt ist.135 Der Film spiegelt die traumatischen Erfahrungen der Dekolonisation mittels der (Gefühls-) Welt der Kinder, die in ihrer naiven, unschuldigen und zugleich brutalen Weise

134 Vgl. hierzu Guemriche 2012: 185. Erst 2004 wurde der Film in Frankreich wieder in Kinos und auf Arte ausgestrahlt. Angesichts seines Themas, das mit der Schlacht von Algier eine Art urbanen Guerilla-­Krieg verarbeitet, wurde der Film in Lateinamerika und den USA als ‚Schulungsmaterial‘ für den Kampf gegen Guerilla-­Rebellen eingesetzt. So gab es 2003 eine Vorführung im Pentagon für den Führungsstab des US-­Militärs, mit Blick auf Strategien für den Irakkrieg (vgl. ebd.: 186). Dies zeigt eine Lesart des Films, die seiner antikolonialen Absicht widerstrebt. 135 Une si jeune paix ist einer der wenigen Filme, die sich mit der Situation der Kinder beschäftigen. Weitere Filme sind z. B. L’Enfer à dix ans (episodische Kollektiv-­ Produktion des ONCIC, 1968) und Les Enfants du soleil (Ifticène, 1991), in jüngerer Zeit Cartouches Gauloises (Charef, 2007).

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versuchen, sich im Alltag zurechtzufinden und dabei ihre Gewalterlebnisse in Rivalitäten untereinander entladen. Die Plotstruktur spürt die Gegenwärtigkeit des kolonialen Erbes auf, indem die Kriegsnachahmung der Kinder in ein Realwerden der Gewalt mündet. Nachdem die Mannschaft des kleinen Mustapha gegen die Gegner aus dem benachbarten Haus beim Fußball verloren hat, erklärt seine Gruppe den anderen den Krieg. Die Rivalen einigen sich auf ein einwöchiges Kriegsspiel. Mustapha, dessen Eltern vor seinen Augen von der OAS erschossen wurden, repräsentiert mit seiner Gruppe die FLN, die anderen verkörpern die OAS. Das Spiel steigert sich in einen erbitterten Kampf und nimmt einen dramatischen Ausgang, als ein Junge als kriegsgefangener ‚OAS-­Anführer‘ verurteilt werden soll. Noch während der Schuldzusprechung wird der Angeklagte (aus Versehen) exekutiert, da ein anderer Junge mit einer geladenen Waffe zielt. Das Realwerden des Fiktiven, das hier über die Plotstruktur als zentrale Achse des Films fungiert, ist exemplarisch für eine Strategie der Authentifizierung, mit der der Film insgesamt arbeitet, um das kollektive Trauma der Algerier realitätsnah zu vermitteln. Dieser Aspekt wird im Weiteren verfolgt, zusammen mit der Frage nach antikolonialen Mustern und dem Bild der Nation, das hierbei entworfen wird. Der Topos der „Geburt der Nation“, der die Phase des frühen algerischen Kinos prägt, tritt in Une si jeune paix auf eine in seinem filmhistorischen Umfeld gesehen eher untypische Weise in Erscheinung. Anstelle der Kriegs-­Märtyrer stehen deren Kinder im Zentrum. Als Kinder der chouhada136 repräsentieren diese dennoch indirekt die Opferbringung ihrer Eltern für die Befreiung. Im Gegensatz zu den Kriegsfilmen sucht Une si jeune paix die Zeit direkt nach der Unabhängigkeit einzufangen. Nationale Symbole und Referenzen sind hier gleichwohl präsent. Die Kinder singen die algerische Nationalhymne und zitieren bei ihren Spielen politische Slogans wie den Leitspruch: „Meine Sprache ist Arabisch, meine Religion der Islam und Algerien mein Vaterland“. Allerdings geschieht das hier in einem nicht ganz unkritischen Rahmen, zeigt doch der Film die verheerenden Auswirkungen der kolonialen und ebenso der antikolonialen Gewalt, bzw. der unreflektierten, kindlichen Übernahme von Parolen und Handlungen ihrer Vorbilder (siehe unten). Mehr als die Glorifizierung von Helden steht in diesem frühen Film das Bezeugen der Wunden und des Leids im Zentrum. Die Entstehung der Nation wird hier nicht anhand von Beschreibungen der kolonialen Unterdrückung oder Kampfhandlungen illustriert, sondern über die psychischen und alltäglichen 136 Als chouhada werden die Gefallenen („Märtyrer“) des Befreiungskrieges bezeichnet.

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Auswirkungen evoziert. Der Film baut dazu in mehrfacher Hinsicht über seine Aussagen und seine formale Ebene eine Nähe zur außerfilmischen Wirklichkeit im Nachkriegsalgerien auf und demonstriert die andauernden Folgen der gewaltsamen Vergangenheit. Der Krieg zwischen der FLN und der OAS (der geheimen Organisation der militanten Ultras der Algérie française), der noch nach der erreichten Unabhängigkeit Algeriens wütete, dient als konkrete historische Referenz und wird erschreckend detailliert von den Kindern nachgeahmt. Die tragische Wendung des fiktiven Kriegs in ein reales Gewaltgeschehen innerhalb der Diegese bildet einen dramaturgischen Rahmen, der den Wirklichkeitsbezug unterstreicht. Um das traumatische koloniale Erbe näherzubringen und einen engen Realitätsbezug zum gerade unabhängigen Algerien herzustellen, nutzt der Film weitere Strategien, wie z. B. Flashbacks oder Originalschauplätze. Die Figuren werden von Laienschauspielern verkörpert, die als Waisenkinder ähnliche Erfahrungen wie die in der Fiktion dargestellten erlebt haben und ihre Rollen sehr eindrucksvoll spielen. Ebenso aus dem realen Kontext entstammen der Leiter des Waisenhauses (Abderrahmane Nasseur) sowie das Waisenhaus selbst. Der Film ist zudem in schwarz-­weiß gedreht und fängt in einem (neo-)realistischen Stil und emotional nah an den Figuren die Situation der Kinder ein. In einer Intro-­Sequenz wird der Wahrheitsgehalt der erzählten Geschichte über Kommentare eines voice-­off-Sprechers bekräftigt, begleitet von einer dokumentarisierenden, demonstrativ zeigenden Kamera. Während diese über Algier kreist und die Stadt sowie dann das Waisenhaus von oben aufnimmt, spricht der Erzähler aus dem Off an den Zuschauer gerichtete Worte137, die die koloniale Vergangenheit sowie die schwierige Aufgabe der Zukunftsgestaltung andeuten. L’histoire qui va vous être contée n’a pas surgi tout à fait de l’imaginaire, et, si elle n’est pas vraie, elle peut être vraisemblable.  Regardez Alger. Ici on a connu la brûlure de l’acier dans les chairs, à l’ombre des rues et des chênes-­lièges. Les hommes et les femmes debout retrouvaient leur espoir, leur joie, leur vie. Les enfants, si nombreux dans ce pays, n’avaient pas eu le temps de vivre. La violence et la mort étaient leur horizon. En Algérie, de nombreuses villas ont été ouvertes aux orphelins, car il ne peut y avoir de l’Indépendance pour un pays qui ne s’inquiète pas du bonheur de ses enfants. Certains, certains offrent, depuis l’Indépendance, leur vie de chaque jour aux yeux scrupuleux de ces jeunes dont les parents sont morts pendant la lutte.

137 Der Text des Sprechers ist ebenso wie der gesamte Film auf Arabisch gehalten. Die angeführten Zitate sind den französischen Untertiteln entnommen (Sichtung in der BnP).

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Die Kamera schwenkt nun demonstrativ auf eine ehemalige Kolonialvilla, das Waisenhaus, wo die nachfolgende Handlung spielt. Sie umkreist die weiß leuchtende Villa, während der einem Dokumentarfilm ähnelnde Kommentar fortgeführt wird. Dans cette villa somptueuse, autour de cette piscine, derrière ces fenêtres, ces voltes, vivait une famille satisfaite. Quand vint la paix, son indifférence au malheur des autres se mua en une rage féroce. Mais on ne se débarrasse pas du malheur comme d’une cravate. C’est ce que nous voudrions montrer.

Das gewaltsame Erbe der Kolonisation wird über die Einführung für die weitere Erzählung proleptisch angedeutet. Allerdings wird die Kolonisation selbst ebenso wie der Befreiungskrieg nicht explizit genannt. Unrecht und auch Gewalt lassen sich eher zwischen den Zeilen herauslesen und stehen hinter Begriffen wie „indifférence“ oder „rage féroce“. Elemente des historischen Hintergrunds, auf die sich die folgende Narration bezieht, sind also angelegt, ohne dass hier aber konkrete Informationen zum Algerienkrieg gegeben werden. Interessant ist, dass auch die Algerier nicht als die vom Unglück Betroffenen genannt, sondern in der Formulierung die „Anderen“ („malheur des autres“) repräsentiert werden – ein Ausdruck, der die koloniale Separation aufgreift. Trotz der Nichtbenennung der antagonistischen Gruppen und gerade aufgrund seiner Wortwahl die „Anderen“, die eine Gegenüberstellung impliziert, reflektiert der gesprochene Text die koloniale Binarität. Durch die ausbleibende Positionierung eines „Wir“ (die Algerier) setzt der Sprecher sich gewissermaßen in Distanz zu der Geschichte, was die dokumentarisierende, bezeugende Haltung des Films stützt. Die Haupterzählung zeigt, dass die Folgen der Kolonisation noch andauern.138 Sie konzentriert sich auf der Figurenebene auf die Kinder und intensiviert so auch die emotionale Wirksamkeit des Films. Mit den Kindern steht zwar ein Opferparadigma im Vordergrund, das weniger Projektionsfläche für Heldenmythen bietet. Ihre naive Unschuld und ihr Status als Waisen machen die Jungen und Mädchen gleichwohl zu exemplarischen Opfern des Kriegs, deren Wehrlosigkeit umso nachdrücklicher das koloniale Unrecht hervorhebt. Die Hauptfiguren Ali und Mustapha werden dabei individualisiert dargestellt und in ihrem persönlichen Schicksal porträtiert; zugleich spiegeln die Protagonisten gemeinsam mit dem Kollektiv der Waisenkinder das allgemeine Leid der jungen algerischen Nation. Empathie wird vor allem durch die Perspektive der Kinder in internen Fokalisierungen oder durch an sie angelehnte Sichtweisen erzeugt. Die Gegen138 Die existenzielle Not wird synekdochisch dargestellt anhand von Witwen vor dem Waisenhaus, die ihre Kinder aufgrund von Armut abgeben wollen.

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wärtigkeit der traumatischen, gewaltsamen Erfahrungen wird anhand von mehreren Flashbacks vermittelt, die exemplarisch das innere Befinden der Kinder veranschaulichen. Interne Okularisierungen und Aurikularisierungen139 unterstützen derartige Einblicke. So wird z. B. in einem ersten Flashback aus der Perspektive Alis dessen Verlusterfahrung spürbar. In der diegetischen Gegenwart erkennt Ali eine Parkbank, rennt darauf zu und bleibt stehen. Die Kameraperspektive rückt die Bank in den Vordergrund; plötzlich tauchen zwei ältere algerische Männer auf, die in seiner Vorstellung auf der Bank sitzen. Dann tritt abrupt eine Leere ein, die Männer verschwinden aus dem Bild; auf der Tonebene sind Geräusche von Angriffen sowie der Schrei einer Frau zu hören, während die leere Bank visuell weiter fokussiert wird. Die Kamera wechselt im nächsten Moment in Großeinstellung auf Ali, der nach seiner Mutter schreit und dann losrennt. Der Verlust der Mutter (möglicherweise durch einen Angriff) wird durch die Abwesenheit auf der Bildebene (leere Bank) und die Kriegsgeräusche auf der Tonebene vermittelt, die Alis Erinnerungen entspringen. In der darauffolgenden Szene horcht Ali an der Haustür seines Elternhauses in der Casbah; er bittet seine Mutter ein Märchen zu erzählen, woraufhin ihre Stimme im Off zu hören ist und das Märchen vorträgt. Ähnlich zeigt der Film traumatische Flashbacks aus Mustaphas Sicht. Während dieser in seinem Bett im Waisenhaus liegt, spielen sich Szenen der Vergangenheit in seinem Kopf ab. Dabei beobachtet Mustapha zunächst das Begräbnis seines älteren Bruders. Dann wird die Familie von OAS-­Männern festgenommen und erniedrigt. Die monströs inszenierten Typen lachen herablassend über ihren Triumph, werden abwechselnd von der Kamera fokussiert, bevor sie mit offenbarer Genugtuung den Vater und die Mutter Mustaphas erschießen. Mustapha kann fliehen, wird dabei angeschossen und bleibt im Sand liegen. Ein zweites Flashback zeigt, wie er von einer älteren algerischen Frau getragen wird. Amerikanische Presseleute halten ihr Auto für sie an, zeigen sich bestürzt und wollen den Jungen in die USA mitnehmen. Dagegen protestiert die ältere Frau und besteht auf seine Zugehörigkeit: „Nein, er ist Algerier!“ Auf die Bemerkung der Amerikanerin, es 139 Diese Begriffe sind von Gaudreault und Jost geprägt und lehnen sich an Gérard Genettes narratologische Kategorien an. Wie Hickethier kritisiert, sind Genettes Fokalisierungsbegriffe aus der literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie nicht im engen Sinne übertragbar, da es sich beim audio-­visuellen Film stets um mehrere Erzählinstanzen handelt (vgl. Hickethier 2007: 129). Die Begriffe können dennoch dazu dienen, die Erzählsituation, die sich im Film komplex gestaltet, teils näher zu differenzieren und z. B. mit Blick auf verschiedene Ebenen (Aurikularisierung für die autitive Ebene, Okularisierung für das Visuelle) zu beschreiben.

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sei besser für ihn, Amerikaner zu werden als zu sterben, entgegnet die Algerierin entschlossen: „Er wird leben!“ Diese Flashbacks geben also nicht nur einen Einblick in Mustaphas Befinden, sondern weisen auch symbolisch auf die Zukunft Algeriens. Die Sequenz endet mit einer Demonstration von algerischen Frauen, die große Schilder mit der Aufschrift „Vive le peuple“ hochhalten. Durch die Montageanordnung der anschließenden Szene wird wiederum eine Parallele zwischen der gewaltsamen Vergangenheit und dem Kriegsspiel der Jungen gezogen, die eine Demonstration spielen und sich dann auf dem Schlachtfeld bekämpfen. Dieser Übergang ist nur ein Beispiel für die häufigen Verbindungen des Kriegs mit dem Spiel der Jungen, die die Weitergabe der Gewalt an die junge Generation veranschaulichen. Stehen insgesamt die Jungen im Zentrum, wird in einer Szene ein einsames, kriegsgeschädigtes Mädchen fokussiert, das die dauerhaften Wunden verkörpert. Das Mädchen sitzt abseits im Gras, streichelt eine auf ihrem Schoß sitzende Puppe, die in Großaufnahme gezeigt wird. In einem plötzlichen Gewaltakt reißt es der Puppe einen Arm ab und steht auf. Die Kamera wechselt dabei in die Halbnahe und ermöglicht eine Sicht auf die Puppe und das Mädchen, das nun als Ebenbild der einarmigen Puppe zu vernehmen ist. Die in der Bildsprache deutlich hervorgehobene physische Kriegsverletzung (der fehlende Arm) signalisiert die traumatischen Erfahrungen ergänzend zu den Flashbacks der Protagonisten. Der Schmerz der Nation wird ebenfalls in mehreren Szenen mit Erwachsenen thematisiert, die zeigen, wie der Krieg in den Köpfen fortdauert.140 Die Präsenz des Kriegs wird vor allem über den Handlungsverlauf nachempfunden, der in seinem Spannungsbogen bis zum Höhepunkt und tragischen Ende des Films eine Steigerung der Gewalt aufbaut. Angefangen mit dem Fußballspiel zwischen den benachbarten Waisenhäusern, das in dem Kampf zwischen fiktiver FLN und OAS ausartet, über die ‚Kriegsmobilisierung‘, bei der Stöcke als Waffen verteilt werden, bis hin zu Kriegsspielen auf einem Schrottplatz mit alten Militärfahrzeugen und Schlachtszenen, ist die Handlung von Gewaltentladungen durchzogen.141 Als Mustaphas Gruppe geschlagen ist, versammelt er seine Anhänger auf dem Friedhof El-­Kettar über der Stadt, der selbst ein Zeichen für die Gefallenen des realen Kriegs ist. Ein Junge wird als Verräter beschuldigt und von den anderen in die Flucht getrieben. Mustapha hält dazu eine bedrohliche 140 Dies zeigen u. a. die Gefühlsschwankungen und Aussagen des Heimleiters im Unterricht. Zudem diktiert z. B. ein Mann auf dem Postamt einen Brief auf Französisch: „Si je devais écrire toute ma peine, il n’y aurait pas assez de papier dans tout le monde“. 141 Auch ein in der Schule inszeniertes Puppentheater endet im Kampf der Puppen und mündet in einer Rauferei der Jungen hinter der Bühne, die dabei einstürzt.

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Standpauke von militaristisch-­patriotischer Vehemenz. Abends spielen die Kinder die Beerdigung eines Märtyrers, die proleptisch auf das Filmende verweist. Den Gipfel der Gewalt bildet die Endsequenz, in der der Kriegsgefangene verurteilt werden soll. Mustapha, der als Anführer im Gegensatz zu seinen Gefährten das Kriegsende akzeptiert und das Spiel beenden will, wird von Letzteren nun selbst als Verräter denunziert und in einen Schrank gesperrt. Der ‚OAS-­Gefangene‘ wird vom Tribunal schuldig gesprochen. Ali rezitiert dabei als Richter des Tribunals patriotische Texte, die die FLN und die Opferung für das Vaterland zelebrieren und den nationalen Diskurs widerspiegeln. „Mes frères, nous sommes des soldats de l’Algérie, jurés de mourir pour que vive l’Algérie“. Dann vergisst er seinen Text und seine Verlegenheit scheint zusammen mit dem Lachen der Kinder den Ernst des Spiels zu brechen. Doch noch während die Urteilsverkündung fortgeführt wird, wendet sich die spielerische Situation in eine bittere Realität. Die Kamera beobachtet, wie ein Junge eine Waffe zieht und auf den Angeklagten richtet. Plötzlich fällt ein Schuss, der Gefangene sinkt zu Boden. Einzelne von Entsetzen und Schrecken gezeichnete Gesichter sowie der Körper des exekutierten Jungen werden im Wechsel eingeblendet, bevor die Kamera die Gruppe erfasst – den Blick auf den Toten in der Bildmitte gerichtet. Diese letzte Einstellung auf die um das Opfer herum erstarrten Kinder fixiert auch die Augen der Zuschauer, die selbst durch die Blickkonstruktion der Kamera Zeugen dieses Schreckensszenarios werden. Das Filmbild friert ein und dieser Effekt verstärkt durch die Dauer und Intensität das Festhalten des (Zuschauer-)Blicks an dem Gezeigten. Schließlich wird ein Zitat Frantz Fanons als Insert eingeblendet: „Et il y a des enfants et des enfants à garnir de sourires“. Die hiermit unterstrichene antikoloniale Botschaft des Films wird mit der tragischen Illustration des Gewalterbes um eine kritische Antikriegshaltung ergänzt. Stehen die Kinder für die dem Kolonialismus geschuldeten traumatischen (Verlust-)Erfahrungen, verleiht das Todesopfer in der diegetischen Gegenwart dem Schmerz der Nation und dessen Fortdauer umso mehr Nachdruck. Das nation building wird in diesem Film somit weniger mit dem Freiheitskampf oder der FLN verknüpft als mit den traumatisierenden Gewalterfahrungen. Une si jeune paix weist zugleich einige Tendenzen auf, die für die Erzählungen der nationalen Geschichte im algerischen Kino der 1960er und 1970er Jahre charakteristisch sind. Auf der Figurenebene konzentriert sich bereits dieser Film auf die Jungen und spiegelt so die männliche Ausrichtung des algerischen Kinos. Mädchen besetzen hier nur anonyme Nebenrollen, auch wenn sie im Kollektiv der Kinder dabei sind. Das Kriegsspiel ist vor allem Angelegenheit der Jungen, und die weiblichen Figuren übernehmen dementsprechend typische Rollen, so 104

z. B. auch die mütterliche Lehrerin, die Mustapha verarztet. Weitere Merkmale, die Une si jeune paix mit anderen antikolonialen algerischen Filmen gemeinsam hat, betreffen beispielsweise die Darstellung des Kolonisators. Wie für diese Periode üblich, werden Verbindungen oder zwischenmenschliche Beziehungen unter den Bevölkerungsgruppen kaum aufgegriffen. Im Gegenteil, es findet eine Gegenüberstellung von ex-­colonisé und ex-­colonisateur statt, bzw. wird Letzterer zur Nebensache. Europäische Figuren tauchen in Charbys Film als stereotypisierte Feinde (OAS-­Vertreter) in den Flashbacks auf und werden damit über die Erzählebene in der Vergangenheit fixiert. Aus der diegetischen Gegenwart als Akteure ausgeschlossen, treten Figuren der europäischen Bevölkerung hier nur ganz am Rande auf.142 Diese deutliche Abwesenheit an Kolonisatoren bzw. pieds-­noirs liegt einerseits in der zeitlichen Verankerung des Films begründet, der nach 1962 und somit nach dem Exodus des Großteils der Europäer aus Algerien spielt. Er spiegelt so gewissermaßen die reale Situation. Andererseits symbolisiert die Konzentration auf die algerischen Figuren und die Absenz des Kolonisators auch eine Befreiung von der französischen Präsenz und stellt eine Umkehrung kolonialer Repräsentationsweisen dar. Die nur in einer Szene präsenten pieds-­noirs-Figuren verweisen in einem kurzen Dialog auf das Ende der kolonialen Herrschaft in Algerien. In einer der Anfangssequenzen, in denen Mustapha und Ali durch die Straßen ziehen, bleibt die Kamera für einen Moment bei einer Gruppe von Europäern stehen und belauscht ihr Gespräch im Straßencafé. Ein Mann kommentiert: „On n’est plus beaucoup pour l’anisette“. Eine blonde Frau entgegnet ihm: „Ah non, qu’est-­ce que tu veux, ça nous empêche pas de boire tout de même!“ In diesem kurzen Einschub machen die Figuren explizit darauf aufmerksam, dass ihre Gruppe in Algerien nur noch gering vertreten ist. Durch ihr klischeehaft inszeniertes Verhalten – sie sitzen im Café und trinken Anisette – wirken sie wie Fremdkörper. Das Trinken von Alkohol widerspricht den Normen der neuen algerischen Nation. Außerdem wirkt die Gleichgültigkeit, die über die Aussage und Tonlage der Frauenfigur vermittelt wird, unpassend im gesamten Kontext und verweist auf ein eher geringes Reflexionsvermögen der nunmehr „Anderen“ in Algerien. Die Darstellung der Siedler beschränkt sich also auf einen Stereotyp, während die Aufmerksamkeit des Films auf der jungen, traumatisierten Nation liegt.

142 Im Gegensatz dazu ist ein Film wie Les Oliviers de la Justice (Blue, 1962) zu sehen, der die Nostalgie eines gemeinsamen Algerien aus der Perspektive der pieds-­noirs vermittelt.

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Ist das gegenwärtige Bild Algeriens, das der Film präsentiert, deutlich von Spuren der kolonialen Gewalt gezeichnet, sind kulturelle Einflüsse des Kolonisators weniger sichtbar, dennoch aber in Anspielungen vertreten. Am Beispiel des Sprachunterrichts im Waisenhaus wird das französische kulturelle Erbe symbolisiert. Durch die binär aufgebaute Darstellung der entsprechenden Szene wird zugleich auf die Ambivalenz und das konfliktreiche Potenzial, das dieses Erbe mit sich bringt, verwiesen. Während hier die Klasse der Jungen im Französischunterricht das participe passé lernt, rezitieren die Mädchen im Arabischunterricht Verse zur Bedeutung der Liebe zu den Eltern. Über die Kamera und zunächst auch über die Tonebene werden die beiden Sprachen gegenübergestellt. Die Kamera wechselt zwischen den Klassen, fährt außen am Fenster der Mädchen-­Klasse entlang wieder zu den Jungen in der Etage darüber, dann wieder hinunter zu den Mädchen. Der Ton wechselt entsprechend zwischen den Übungen des participe passé und dem Sprechchor auf Arabisch, bis sich schließlich beide in einem Durcheinander vermischen. In dieser Szene werden sowohl die Gegensätze der Sprachen von ehemaligen colonisés und colonisateurs als auch die Trennung der Geschlechter deutlich; die Jungen befinden sich räumlich (hierarchisch) im Klassenzimmer über den Mädchen. Die unterschiedlichen sprachlichen Funktionen und Referenzenrahmen werden über die Themen des Unterrichts ebenfalls impliziert: Im Arabischunterricht stehen Emotionen im Zentrum (und wenn auch die hier zitierte Schriftsprache sich vom mündlichen Dialekt der Muttersprache unterscheidet, besteht doch eine identitäre Verknüpfung). Das Französische hingegen wird rational vermittelt, hier steht die Grammatik im Vordergrund, zudem mit dem parti­ cipe passé eine Form der Vergangenheit, die möglicherweise auf das Schwinden der französischen Präsenz verweist. Die Gegenüberstellung der Sprachen und Klassen kann symbolisch für die Dichotomie der Kolonialgesellschaft bzw. für das Nebeneinander der Bevölkerungsgruppen gelesen werden. Eine Binarität wird hier mit Blick auf die neue Nation fortgeführt, indem sich zum einen die Geschlechtertrennung sichtbar macht und zum anderen kulturell / bildungspolitisch das Französische als Fremdsprache wahrgenommen wird. Dass sich dennoch beide Sprachen auch teilweise auf der Tonebene mischen und die Kamera hin und her wechselt, kann ansatzweise auf den Fortbestand eines kulturellen (sprachlichen) Erbes und eine mögliche Hybridisierung deuten, wobei der Film insgesamt überwiegend in einer dichotomen Struktur verbleibt. Die Frage nach dem Umgang mit dem Französischen wird durch diese Szenen gleichwohl vorsichtig gestellt.

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Résumé Une si jeune paix trifft den zeitgenössischen Tenor, indem er die koloniale Gewalt verurteilt und die traumatischen Erfahrungen, die am Beginn der jungen (und männlich entworfenen) Nation stehen, illustriert. Zugleich unterscheiden ihn einige Aspekte von einfachen nationalistischen und mythologisierenden Tönen der ersten Phase des algerischen Kinos. Als erster Spielfilm nach der Unabhängigkeit, zudem von einem französischen Regisseur und vor der Verstaatlichung des Kinosektors gedreht, erweist er sich als in der nationalen Angelegenheit der Algerier engagiert, bietet zugleich aber auch ein kritisches Potenzial. Die FLN dient als Vorbild für die Kinder, Hymnen und Slogans werden von diesen wiedergegeben und markieren die Konturen der algerischen Nation. Die nationale Ideologie, die über diese Referenzen vertreten ist, wird über die Konzentration auf die Kinder einerseits etwas verschleiert, andererseits aber auch gebrochen. Die Textlücken der Kinder und der tragische Ausgang des Spiels ermöglichen einen distanzierenden Blick, der durch die Diskrepanz zwischen dem Horizont der Kinder in der Erzählung und den wohl meist erwachsenen Zuschauern noch gefördert wird. Der Film warnt indirekt vor einer bloßen Übernahme von radikaler Gewalt und politischen Parolen, die allein noch keine Zukunft bieten. Die Gewalterfahrungen, die am Beginn der Nation stehen, müssen überwunden werden, so kann die Botschaft gelesen werden. Das Bild der sich im Aufbau befindenden algerischen Nation ist dennoch charakteristisch vom Leid und Opferstatus geprägt. Dabei vermittelt der Film vor allem die Wunden, die die Kolonisation hinterlassen hat. Die Kinder als per se Unschuldige in diesem politischen Konflikt dienen dazu, die Ungerechtigkeit der Kolonialgewalt hervorzuheben. Über eine eindringliche Darstellung und den Ausdruck der kindlichen Schauspieler wird die mögliche emotionale Wirkung des Films intensiviert. Anhand seiner Struktur schreibt sich der Film in eine antikoloniale Logik ein. Andererseits werden bereits dezent Ambivalenzen und Brüche angedeutet, wie die Szene des Sprachunterrichts zeigt.

1.1.2. Die „Geburt“ der algerischen Nation – La Bataille d’Alger Pontecorvos erfolgreicher Film La Bataille d’Alger sucht ähnlich wie Une si jeune paix ein Zeugnis über die traumatischen Erfahrungen der Dekolonisation abzulegen. Anders als Charbys Film widmet er sich konkreten historischen Ereignissen, indem er die Schlacht von Algier 1956/57 in ihren verschiedenen Etappen nachzeichnet. Dabei greift der Film ebenfalls auf ein Opferparadigma zurück, wenn er das Leid des algerischen Volks unter kolonialer Unterdrückung und Folter sichtbar macht. Zugleich stellt er aber gerade das Aufbegehren und die „Geburt“ 107

der algerischen Nation aus dem gemeinsamen Kampf heraus. Im Zentrum des Konflikts steht eine antagonistische Figurenkonstellation zwischen Aktivisten der FLN und der von dieser vertretenen Bevölkerung Algiers auf der einen Seite und der Kolonialmacht, verkörpert durch Polizei und Militär, auf der anderen. Als bekanntester antikolonialer Film seinerzeit schreibt La Bataille d’Alger die Geschichte aus algerischer Perspektive neu, zeigt jedoch auch die brutale Gewalt auf beiden Seiten. Sich zwischen einem Objektivitätsanspruch und einer antikolonialen Position bewegend, illustriert er die Entstehung der Nation in einprägsamen Bildern. Neben dem Bestreben nach einer wahrheitsgetreuen Erzählung des Befreiungskampfes stehen hier zugleich Vorstellungen im Vordergrund, die durch den Rahmen einer FLN-­Perspektive (Handlung und Entstehungskontext) abgesteckt sind. Der Fokus des Films liegt auf Aktionen der FLN; anders als in Une si jeune paix – wo die FLN immerhin als Vorbild für das Spiel der Kinder dient –, ist sie hier Hauptakteur. Zu untersuchen ist unter anderem, inwiefern der offizielle politische Diskurs die filmische Identitätskonstruktion definiert oder aber Letztere auch mitunter davon abweicht. Entlang der konkreten historischen Ereignisse und Daten der realen Schlacht um Algier rekonstruiert der Film das Wirken der geheimen Armee der FLN im urbanen Raum Algiers. Er gibt dabei einen Einblick in die Funktionsweise der Organisation sowie den gewaltsamen Konflikt zwischen der FLN und der französischen Armee und zeigt eine zunehmend entschlossene nationale Bewegung der Algerier. Das Drehbuch des Films, geschrieben von Franco Solinas, beruht auf den Memoiren Yacef Saadis, der selbst einer der führenden FLN-­Köpfe in der Schlacht um Algier war. Mit den filmischen Figuren wird entweder implizit oder explizit auf historische Personen rekurriert. So spielt Saadi sich beispielsweise selbst, allerdings unter dem Namen Djafar; die Figur des Colonel Mathieu verweist auf verschiedene der damaligen Generäle, insbesondere Massu. Direkte Bezüge werden über die Darstellung historischer FLN-­Figuren wie Ali la Pointe oder Ben M’Hidi – einem der damaligen Anführer – erzeugt. Letzterer wurde alsbald aus den offiziellen Geschichtsnarrationen ausgeschlossen und findet somit in anderen Filmen keine Erwähnung mehr.143 Neben der engen Verbindung der Narration zu den historischen Ereignissen und Personen bedient sich auch dieser Film verschiedener authentifizierender 143 Hier zeigt sich, dass der Film trotz seiner nationalen Ausrichtung weniger politisch zugeschnürt ist als spätere Filme. Als historische Figuren der Schlacht von Algier werden neben Ali la Pointe und Ben M’Hidi der kleine Omar (Neffe Saadis), Mahmoud Bouhamidi sowie Zohra Drif und Hassiba Ben Bouali im Film aufgenommen.

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Strategien, die Merkmale des Neorealismo aufweisen. Zum einen werden die Figuren bis auf Colonel Mathieu (Jean Martin) von Laiendarstellern verkörpert; die große Masse an Statisten entstammt selbst der zeitgenössischen Bevölkerung Algiers und hat die realen Ereignisse überwiegend als Zeitzeugen miterlebt. Zum anderen werden dokumentarisierende Techniken und Elemente verwendet: Inserts mit detaillierten Zeitangaben, ein teilweise körniges schwarz-­weiß Bild sowie verschiedene FLN-­Communiqués (Verkündungen) und Radiokommentare im voice off, die an einen Nachrichtenstil erinnern, suchen einen objektiven Anschein zu erzeugen. Am Ende des Films informiert eine Sprecherstimme im voice off über die letztlich erreichte Unabhängigkeit Algeriens nach weiteren Jahren des Kampfes. Auch die Kamera nimmt häufig eine dokumentierende Position ein, die die Zuschauer als Zeugen des Geschehens involviert. Dazu beobachtet sie die Ereignisse teils aus Distanz, in Aufsicht oder Absicht auf den Handlungsraum oder fokussiert wiederum in näheren Einstellungsgrößen Figuren, die als Betroffene das Leid der Algerier vor Augen führen. In einigen Szenen, vor allem bei den Massendemonstrationen, kommt eine Handkamera zum Einsatz, die sich mitten im Geschehen befindet und damit die gewaltige Spannung und Bewegung der Masse einfängt und eine fast unmittelbare Nähe zu den Ereignissen erzeugt. Diese Strategien schreiben den Film in einen Kontext des politischen counter cinema ein, das sich hier, parallel zu antifaschistischen Positionen des Neorealismo, in einer antikolonialen Haltung ausdrückt und gegen die bis dahin vorherrschenden Darstellungen des französischen Kinos kämpft.144 Der Film lässt sich angesichts seiner dekolonisierenden Ausrichtung und Ästhetik im Rahmen des Third Cinema-­Ansatzes diskutieren. Dessen Charakteristika entsprechend, nutzt er die Kamera als antikoloniale ‚Waffe‘. Allerdings ist er im Hinblick auf seine Produktionsseite eher untypisch für das Third Cinema, da er anders als die meisten antiimperialistischen Filme allgemein und auch gegenüber den anderen algerischen Werken ein verhältnismäßig großes Budget zur Verfügung hatte (vgl.

144 Der Einfluss des Neorealismo ist dabei freilich auch auf Pontecorvos Hintergrund als italienischer Filmemacher zurückzuführen. Der Film sollte einer Dokumentation ähneln und ursprünglich Originalaufnahmen beinhalten, er beginnt aber mit der Ankündigung, dass kein Dokumaterial verwendet wurde. Ähnlichkeiten zum dokumentarischen Wochenschau-­Stil sind dennoch vernehmbar (durch körnige Fotographie, Handkamera, Telephoto-­Objektive). „Pontecorvo’s motivation was to produce as objective an account as possible. Politically, Pontecorvo was on the side of the Algerian independence, and wanted to produce a film that would excite the sympathies of those who were unused to reading the politics of the situation from the perspective of the Algerian people“ (Khanna 2008: 110).

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Boudjedra 1971: 55). Rachid Boudjedra kritisiert gar die Kommerzialität und den „hollywoodisme“ des Films, da er Strategien eines „grand spectacle“ folge. Nicht zuletzt wahrscheinlich seiner Erfolgsstrategie geschuldet, weist der Film doch auch konventionelle Muster und Ähnlichkeiten zum (Hollywood)-Genre-­Kino auf.145 Die Idee des Third Cinema vom Kino als revolutionärem Apparat greift hier also nur teilweise. Sie ist im Sinne des Kinos als antikolonialer ‚Waffe‘ insofern zutreffend, als der Film kolonialistische Sichtweisen umkehrt und die koloniale Gewalt, wie z. B. Folter, anprangert. La Bataille d’Alger bringt zugleich ein relativ hohes Reflexionspotenzial mit sich, das ihn von einfach militanten Guerilla-­Filmen differenziert. Er versucht trotz seiner Positionierung für die Sache der Algerier eine Balance zu schaffen, die zu einer möglichst weitreichend vertretbaren Darstellung der Geschichte beiträgt. Die antikoloniale Gewalt wird zwar im Sinne Fanons als notwendige Folge des Kolonialismus inszeniert, sie wird aber nicht verherrlicht, und Grausamkeiten sowie Brutalität werden unter beiden Gegnern sichtbar. Der Film kommuniziert seine Antikriegshaltung und seine Anklage an die Gewalt insgesamt durch die parallele Inszenierung der jeweiligen Bombenopfer von colonisé und colonisateur. Dabei dient der Einsatz der gleichen traurigen Leitmusik nach den Explosionen auf algerischer und französischer Seite dazu, das Leid der jeweiligen Betroffenen hervorzuheben. Die Einblendung einzelner Jugendlicher und auch Kinder vor den FLN-­Anschlägen in den europäischen Cafés veranschaulicht, dass hier ebenso Menschen getroffen werden und nicht nur das unmenschliche Kolonialsystem. Durch die permanente Gewalt des Kolonisators, die in verschiedensten Szenen zum Ausdruck kommt (Festnahme Alis, Hinrichtung eines Insassen, Folterszenen) ist das Sympathieangebot mit den Algeriern ungleich größer. Dennoch werden Figuren wie Mathieu, die das Militär repräsentieren, im Gegensatz zu Darstellungen in anderen Filmen beispielsweise nicht als monströs oder fies präsentiert.146

145 Der Film weist Konventionen und stilistische Mittel auf, die die Konstruiertheit deutlich werden lassen und einige Parallelen zu Genres wie dem Polit-­Thriller aufweisen. Hier ist vor allem die Musik auffällig, die ähnlich wie bei einem Thriller Spannung erzeugt, paraphrasierend Emotionen nachahmt (mehrere Male „Herzklopfen“ vor Anschlägen) oder kommentiert (die Folterszenen sind unterlegt mit klassischer Musik, vielleicht auch ein Anzeichen für das Verschwinden des europäischen Parameters durch die koloniale Gewalt). Die Musik wurde von dem bis heute erfolgreichen Ennio Morricone komponiert, der für seine Musik von Italo-­Westernfilmen bekannt ist. 146 Er wirkt fast sympathisch und hat ein eher angenehmes Äußeres; in einer Szene lässt er sogar mit sich verhandeln. Dennoch demonstriert er Macht, was visuell anhand des Einmarsches in Algier hervorgehoben wird.

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The remarkable political balance of this intense celebration of cinematic realism is such that the para colonel Mathieu is sympathetically depicted as a rational military technician rather than a demonic sadist, while the film presents not only a series of shocking images of torture, but also close-­ups of carefree youngsters and a child eating ice-­cream as the FLN’s bombers, the undoubted heroes of the film, place their bombs in the ‘Milk Bar’ and the ‘Ottomatic’ (Dine 2002: 228).

La Bataille d’Alger verurteilt somit das Unrecht des Kolonialismus insgesamt, nicht aber einzelne Täter oder die Franzosen generell, wie die Äußerungen Saadis bestätigen: „[W]e desired to make an objective, equilibrated film that is not a trial of a people or of a nation, but a heartful act of accusation against colonialism, violence, and war“ (zitiert in Khanna 2008: 108). Auch Pontecorvos Worte unterstreichen diese Absicht: „I didn’t want to make a partisan film, nor one that was anti-­French. The Battle of Algiers is the birth of a nation“ (zitiert in ebd.: 110). Ziel des Films ist es also scheinbar nicht, ein einseitiges propagandistisches Bild zu zeichnen, sondern die Zuschauer für die algerische Angelegenheit zu interessieren und die Entstehung der Nation zu dokumentieren. Dafür wird die antikoloniale Botschaft innerhalb einer möglichst glaubhaften Darstellung vermittelt. Nichtsdestotrotz konstruiert der Film auch ein Bild der Nation, das durch die mediale Inszenierung und homogenisierende Kriterien des Nationenkonzepts eine bestimmte Vorstellung transportiert und andere Möglichkeiten der Realitätsauslegung ausblendet. Um die „Geburt“ der algerischen Nation zu illustrieren, konzentriert sich der Film auf Figuren der FLN, die als Repräsentanten des algerischen Kollektivs für die gemeinsame Sache kämpfen, ebenso auf die Masse der Bevölkerung Algiers, die hier selbst mehrmals in Erscheinung tritt. Dem „revolutionären Kampf “ entsprechend, nimmt das Kollektiv eine bedeutende Rolle ein. Damit steht der Film im Zeichen des nationalen Diskurses und auch in Abgrenzung zu ‚westlichen‘ filmischen Konventionen, die oft das Individuum fokussieren. La Bataille d’Alger schafft es laut René Pédral, sich derartigen Mustern zu entziehen, indem auf einen Heldenkult verzichtet wird. Pontecorvo selbst bemerkt: „ ‚Je voulais faire un film ‚choral’ qui ressemblerait un peu à une mosaїque; les personnages émergent quelques minutes dans la lumière pour être aussitôt réabsorbés par la masse’ “ (Pontecorvo in Pédral 1982: 90). Durch verschiedene Figuren, die abwechselnd im Zentrum stehen, wird das Schicksal der Gemeinschaft vermittelt und zugleich eine Hervorhebung einzelner Individuen vermieden. Der Plot des Films ist zwar um Ali la Pointe herum organisiert, dieser ist aber tatsächlich nicht der alleinige Protagonist, das Identifikationsangebot des Films wird vielmehr auf verschiedene FLN-­Figuren und das Kollektiv verteilt. Mehrere Hauptakteure agieren gemeinsam im Netzwerk der FLN, das den nationalen 111

Kampf repräsentiert. Ali und die anderen moudjahidin (Djafar, Mahmoud, der Junge Omar, die Frauen) sind dennoch auch Helden, die teilweise sogar für das gemeinsame Ziel einen Märtyrertod sterben. Sie werden allerdings weniger mythisch verklärt oder mit beeindruckenden kämpferischen Fähigkeiten ausgestattet und bleiben in einer nüchternen Einfachheit, die gleichwohl Mut und Entschlossenheit vermittelt. Die Figuren dienen als Projektionsfläche für den nationalen Kampf und werden dazu insgesamt eher eindimensional entworfen bzw. in ihren Charakteren kaum elaboriert. Persönliche Geschichten und Hintergründe werden, wenn überhaupt, nur fragmentarisch angerissen. Die Figuren tauchen einfach auf, als Anführer (Djafar), als politischer Stratege (Ben M’Hidi), als Männer und Frauen, die Aktionen durchführen und dann tatsächlich von der Masse „absorbiert“ werden. So arbeitet der Film auch kaum mit internen Fokalisierungen oder einer großen Nähe zu den Figuren; vielmehr werden emotionale Eindrücke anhand von Einblicken in das allgemeine Los der Bevölkerung vermittelt, z. B. durch Aufnahmen leiderfüllter Gesichter aus der anonymen Masse. Die Haupthandlung des Films geschieht in einer Art geschlossener Analepse, die Erzählung beginnt dort, wo sie am Ende ankommt, während der Hauptteil des Films eine Rückschau darstellt. Diese beginnt nach der Einführungssequenz, in der Alis Versteck durch die Folter eines alten Mannes enttarnt wurde. Mathieu und seine Soldaten stürmen das Haus, fordern Ali zur Aufgabe auf und bereiten die Sprengung vor. Im Versteck der Figuren, die in großen Einstellungen kurz vor der Sprengung gezeigt werden, bleibt die Kamera auf Alis Augen stehen, das Bild verschwimmt in einer Blende, während die Tonebene eine Art Rückspulen nachahmt. Die Handlung zeigt nun die Vorgeschichte und knüpft gegen Ende wieder bei der Ankunft der Soldaten an. Durch das Zoomen auf Alis Augen suggeriert das Flashback zunächst, aus dessen Erinnerungen zu schöpfen und beginnt tatsächlich mit Alis Geschichte im Kontext des Aufbaus der FLN. Die Erzählung findet dann weiterhin aber nicht in einer an ihn angelehnten Perspektive statt. Vielmehr zeigt der Film die Involvierung verschiedener Figuren in der kollektiven Befreiungsbewegung.147 147 Wenn interne Fokalisierungen angedeutet sind, dann um einzelne Figuren in Gesamtzusammenhängen zu verankern. So wird z. B. in einer Szene im Gefängnis Alis Perspektive nahegelegt. Als ein Gefangener zur Hinrichtung abgeführt wird, fokussiert die Kamera zunehmend Ali, der zum Fenster rennt, um das Geschehen zu beobachten. In Großaufnahme erfasst sie seine Augen, dann folgt ein Blick auf den Innenhof, in dem der Gefangene exekutiert wird. Der Anfang der Exekution wird gezeigt, das Fallen des Schafotts ist nur hörbar und durch die Montagetechnik spürbar. Die Kamera wechselt auf die Gefängnismauern des Innenhofs und blendet

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Ali wird zudem als typischer Repräsentant des Kollektivs eingeführt, wie auch Ranjana Khanna bemerkt, die ebenfalls zu dem Schluss kommt, dass der Film hier keine subjektiven Erinnerungen präsentiert: „In fact, a voiceover, sounding like that from a newsreel, comments on Ali’s typicality, and thus the flashback is inscribed as history rather than memory, without introducing the idea of subjectivity“ (Khanna 2008: 109). Durch das voice over liegt sogar statt einer internen Sichtweise eine Fremdcharakterisierung vor, die Ali als Analphabeten und herkömmlichen Kleinkriminellen charakterisiert. Der Sprecher zählt seine Delikte auf und vermittelt dabei eine fast pejorative Haltung, die eine französische Sicht auf den Kolonisierten nachzuahmen scheint und damit nicht zuletzt die Motivation für den antikolonialen Widerstand impliziert. Die Figurendarstellung bewirkt neben der Generalisierbarkeit der Helden teils auch einen Distanzaufbau. Ali ist z. B. nicht unbedingt die geeignete Identifikationsfigur, die bei allen Zuschauern leicht Sympathie hervorruft. Eisern kämpft er für die Freiheit der Algerier, wirkt dabei kühl und fast emotionslos. Mehr Emotionen und Sympathieangebote werden tatsächlich über die Masse der Algerier erzeugt, aus der heraus immer wieder einzelne Gesichter in Nah- oder Großaufnahmen fokussiert werden. Trauernde, Gefolterte, das Erdulden von körperlichen und seelischen Schmerzen, Blicke von Frauen, Männer und Kindern mit tränengefüllten Augen wirken hier weitaus bewegender als die kühlen FLN-­Kämpfer. Die Einwohner Algiers können dabei als kollektive Figur und Protagonisten gesehen werden. Sie treten entgegen kolonialistischer Repräsentationen als politisch-­historische Subjekte geschlossen auf die Bildfläche, um zu demonstrieren, zu bezeugen, zu trauern und ihre Freiheit einzufordern. Die Massendemonstrationen und z. B. der Generalstreik der FLN zeigen ein kollektives Handeln unter Einfluss der FLN. Exemplarisch hierfür sind Szenen, die die Bombenopfer und Trauerenden nach dem Anschlag der Polizei in der Casbah zeigen oder in denen die Algerier am Ende versammelt vor der Sprengung des Hauses stehen. Das Aufbegehren wird durch die große Anzahl der Algerier als ein einheitliches inszeniert. Individuelle Belange treten hinter das Ziel der Befreiung zurück und auch die verschiedenen Handlungsstränge laufen wie einzelne Fäden des Ganzen teleologisch zusammen. diese, mit ihren zahlreichen Fenstern, aus verschiedenen Seiten ein. Dadurch wird suggeriert, wie nicht nur Ali, sondern Gefangene hinter allen Fenstern das Geschehen beobachtet haben, das prägend für die weitere Entschlossenheit zum antikolonialen Kampf ist. Alis Blick wird also verwendet, um den Blick aller Gefangenen anzudeuten. Die Szene begründet die Radikalisierung und Gewaltbereitschaft Alis sowie anderer (zukünftiger) FLN-­Mitglieder.

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Um die Einheit der algerischen Nation im Entstehen zu demonstrieren, wird durchgehend eine Verbindung zwischen dem Kollektiv der Bevölkerung und der FLN als Anker und Mobilisator der Bewegung aufgegriffen. Djafar weist z. B. die aufgebrachte Masse nach den Anschlägen in der Casbah an, ihre Demonstration abzubrechen, um sich nicht in die Arme des Feindes zu werfen; er verspricht einen Racheakt, der für alle steht. Hier wie in anderen Szenen befolgen die Einwohner die Anordnungen, zudem verstecken sie immer wieder Aktivisten auf der Flucht. Weiterhin wird über die im voice off (auf Französisch) gesprochenen Communiqués deutlich, wie die FLN die Regungen des Volkes dirigiert. Sie organisiert nicht nur politische Aktionen, sondern formt auch das Gesellschaftsbild der zukünftigen algerischen Nation. Ihr sozialer und kultureller Einfluss wird in einigen Szenen besonders sichtbar. Es wird z. B. eine von der FLN organisierte Hochzeitszeremonie gezeigt, bei der mehrere Kandidaten abgefertigt werden, darunter das junge Paar Fatiha und Mahmoud. Die Szene dient der Illustration des wachsenden FLN-­Netzwerkes und symbolisiert dessen Bedeutung als politische und gesellschaftliche Kraft. Die Hochzeit wird hier nicht traditionell gefeiert, sondern nüchtern anhand einer einfachen Unterschrift vollzogen und von der Partei als „acte de guerre“ bezeichnet. Das Umgehen kolonialer Verwaltungsstrukturen sowie die Bedeutung der Heirat für die gemeinsame Sache werden auf der Dialogebene hervorgehoben, bevor die Gemeinschaft in ein Rezitieren von Gebeten übergeht. Während die Gebete der Gruppe und Hausbewohner auf den Balkonen weiter zu hören sind, untermalt ein Kameraschwenk an diesen entlang und über die Dächer der Casbah hinweg die zunehmende Kraft der FLN. Die Stimme der Algerier wird über die Tonspur lauter vernehmbar, vereint unter der Organisation der FLN. Dass diese ihre Prinzipien und Vorstellungen auch mittels Gewaltanwendung durchsetzt, wird dabei nicht verschleiert und zeigt sich z. B. in Szenen, in denen Ali einem Mann im Café die Zigarette aus dem Mund reißt oder den Bordellbesitzer Hacène gnadenlos erschießt, da dieser die Sittenvorstellungen und das an ihn gestellte Ultimatum missachtet. Die Gewalt der FLN gegen, ihrer Ansicht nach, Sünder ebenso wie die Instrumentalisierung islamischer Traditionen zur Kontrolle der Bevölkerung werden hier sowie in weiteren Szenen deutlich. Während in einer von ihnen auf der Tonspur das „Communiqué 24“ zu hören ist und die Algerier über Lautsprecher zur Reinigung von allem Unheil aufruft, zeigt der Film visuell, wie ein offenbar alkoholabhängiger Obdachloser seinen Weg durch eine Menschenmenge bahnt und immer wieder geschubst und gestoßen wird, bis er von einer Kinderhorde, angeführt von Omar, angegriffen und zum Sturz von einer Treppe gebracht wird. Den Sinn solcher Aktionen und das dahinterstehen114

de Ziel der FLN äußert Djafar in einer vorangehenden Sequenz selbst: „Avant tout, il faut nettoyer la Casbah.“ Erst dann könne die algerische Nation sich vom Kolonisator befreien. Grundlage der Nation sind also gleichmachende Prinzipien der FLN, die sich für ihre Doktrinen und Handlungsanweisungen den Islam zunutze macht. Die Nation wird so konsequent homogen entworfen, präsentiert als Kollektiv, das einheitlich und geschlossen hinter dem Kampf der FLN steht. Durch die gezeigten ‚Säuberungsaktionen‘ relativiert der Film gleichwohl ein makelloses Bild der FLN und thematisiert eine inneralgerische Gewalt, die in anderen Werken der damaligen Zeit ausgeblendet wird. Die Ideologie der FLN wird also auch hier nicht ganz unreflektiert übernommen, womit La Bataille d’Alger ähnlich wie Une si jeune paix eine kritische Sicht zumindest ansatzweise zulässt. Insgesamt bleibt er dennoch im Rahmen der Wertvorstellungen der FLN, die hier als gemeinsam für das und mit dem Volk handelnd präsentiert wird. Die antikoloniale Argumentation ist in La Bataille d’Alger deutlich in der Struktur verschiedener filmischer Ebenen verankert. Entsprechend der Kampfhandlung konzentriert sich die zentrale Achse der Figuren auf die antagonistische Gegenüberstellung von Kolonisierten und Kolonisatoren. Letztere sind vorwiegend über das Militär repräsentiert und außer Colonel Mathieu noch weniger individualisiert als die FLN-­Figuren. In dieser Konstellation bleibt die europäische Bevölkerung sehr im Hintergrund und wird – wenn auch entsprechend der erzählten Zeit mehr präsent als in Une si jeune paix – nicht über einen eigenen Figuren-/ Erzählstrang dezidiert inszeniert. Die Siedler erscheinen als Silhouetten am Rande, die jedoch in verschiedenen Szenen bewusst eingesetzt werden, um die Separation der Kolonialgesellschaft sowie Missachtung, Erniedrigung und Verleumdung seitens der Gruppe der Kolonisatoren zu veranschaulichen. Jugendliche Europäer kommen Ali z. B. auf seiner Flucht vor der Polizei in die Quere und provozieren seine Festnahme. Ebenso weisen europäische Siedler nach einem Attentat den Polizisten den Weg zum angeblichen Täter und denunzieren blind einen unschuldigen alten Algerier.148 Die Gruppe der Kolonisatoren wird damit einerseits durch ihr Verhalten vereinheitlicht und zur Repräsentation des unge148 Beschwörend und drohend rufen Europäer von ihren Balkonen „assassin“ und richten ihre Wut gegen den alten Mann, der am Straßenrand sitzt. Dieser wird in die Enge getrieben und festgenommen, die Polizei sprengt in einer Racheaktion seine Unterkunft in die Luft. Die Szene vermittelt ausdrücklich, wie sich die geballte Gewalt hier auf einen unschuldigen, hilflosen Mann entlädt. Die Kamera zeichnet die Machtausübung und Bedrohung nach. Zunächst verfolgt sie die Perspektive der Polizisten, dann blickt sie in Aufsicht auf europäische Siedler auf ihren Balkonen,

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rechten Systems funktionalisiert. Anderseits wird gezeigt – und das ist eine Stärke des Films –, dass auch die europäischen Einwohner Opfer des Konflikts sind. Die oben erwähnten Szenen, in denen vor den Anschlägen in den Cafés tanzende Jugendliche, Kinder und Erwachsene direkt vor der Explosion in Nahaufnahmen eingeblendet werden, verdeutlichen dies. Deutlich wird, dass die Menschen der kolonialen Logik unterliegen, die sie homogenisiert und antagonisiert. Das Kollektiv der Algerier steht für die Unabhängigkeit ein. Gillo Pontecorvo: La Bataille d’Alger (1966): 1:12:34.

Die Binaritäten und Hierarchien des Systems transportiert der Film weiterhin über Raumkonstruktion und Kamerapositionen. Machtkonstellationen und Dichotomien werden anhand von räumlichen Oppositionen oder Kamerabewegungen und Perspektivierungen – z. B. in Kontrastierungen von Ab- bzw. Aufsicht – vermittelt. Mit Konzentration auf den urbanen Raum wird der Einfluss der Europäer bereits in der Bauweise sichtbar. Zudem wird die Stadt mit dem Einsetzen des Flashbacks zu Beginn des Films in eine Cité européenne und die Casbah geteilt. Die Kamera fokussiert dabei in Panoramasicht zunächst das europäische Viertel, schwenkt und zoomt dann auf die Casbah, wobei die Viertel jeweils durch Inserts benannt und definiert werden. Dies hebt visuell die Zweiteilung der Stadt und respektive die Binarität der kolonialen Gesellschaftsstruktur hervor. Die Archidie den hilflosen Algerier verleumden. Letztlich übernimmt sie dessen Perspektive und macht die Bedrohung der vom Kolonisator ausgehenden Gewalt sichtbar.

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tektur der Kolonialgebäude steht außerdem mit ihrer strengen Symmetrie, die in dem mächtigen Gefängnisbau (Barberousse) gipfelt, den verschachtelten Gassen und Häusern der Casbah entgegen. Absperrung der Casbah. Gillo Pontecorvo: La Bataille d’Alger (1966): 00:15:50.

Ebenso wird auch die Einengung der Kolonisierten über die Raumstrukturen vermittelt. Das Labyrinth der Casbah dient als Versteck für Ali und die anderen FLN-­Akteure, wird aber letztlich von den Kolonisatoren invadiert und damit zur Falle (vgl. Brahimi 2007: 44). Denise Brahimi sieht in Filmen wie La Bataille d’Alger eine Funktion als Übermittler des kollektiven Gefühls des „Eingesperrtseins“. Bilder von Verstecken und Gefängnissen einerseits sowie Spuren, die der Krieg hinterlassen hat, andererseits haben demnach die kollektive Erinnerung geprägt.149 Ranjana Khanna zufolge wird die Einengung auch beispielsweise durch die Immobilität der Figuren im Versteck unterstrichen: „They are framed in absolute stillness, as if in a photograph“ (Khanna 2008: 117). Räumliche Enge und Rahmungen untermalen so symbolisch die koloniale Situation.

149 „La fin de ce héros national est inscrite dans la mémoire collective par des images angoissantes et très fortes. Il en ressort que la liberté de tout un peuple a été acquise au prix de cet enfermement mortifère et sacrificiel. On peut voir la cache comme le noyau initial d’où la liberté est sortie“ (Brahimi 2007: 44). Beispiele wären in diesem Film der Brunnen oder das Wandversteck, die eine extreme Enge vermitteln.

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Weiterhin wird auch die Zunahme der antikolonialen Kraft über mehrere filmische Ebenen deutlich. Das Einzäunen und Abriegeln der Casbah als Maßnahme des Militärs hält die Algerier in ihrem Stadtteil gefangen, so dass eine Bewegung zwischen der Casbah und den restlichen Teilen der Stadt nur noch kontrolliert erfolgen kann. Einen Freischein haben hier die Europäer oder die, die für solche gehalten und als „passable“ beurteilt werden. Diese diskriminierende Ordnung wird in einer Szene subversiv durchbrochen, indem sich algerische Bombenlegerinnen als Europäerinnen ausgeben und die Soldaten mit ihren eigenen klischeehaften Vorstellungen schlagen.150 Neben solch einem Aufbrechen von Grenzen und Macht durch Mimikry (siehe IV.1.2.), wird die wachsende Kraft der Befreiungsbewegung sichtbar, indem die Algerier allmählich mehr Raum für sich einnehmen. Dies geschieht wiederum durch Demonstrations- und Massenszenen, die zeigen, wie die algerische Nation im Entstehen ihren Raum einfordert und sich höchstens noch von Panzern zurückdrängen lässt. Das Kollektiv der Kolonisierten ist dabei vermehrt im Außenraum präsent, wird lauter und widersetzt sich dem Kolonisator mit geschwungenen algerischen Fahnen. Das entschlossene Auftreten der Algerier wird auf der Tonebene unterstützt. Gegen Ende der Demonstration ist die Stimme der Algerier konstant zu hören, die youyou-­Rufe der Frauen vermischen sich zu einem einstimmigen penetranten Chor mit den Rufen nach Freiheit.151 Die Kameraebene macht die allmähliche Umkehrung der Machtstrukturen im antikolonialen Kampf ebenfalls spürbar. Sie transportiert die koloniale Dichotomie anhand entgegengesetzter Blickkonstruktionen und Positionierungen (oben / unten). Anfangs sind mehrere Einstellungen in Aufsicht auf die Soldaten zu vernehmen, die auf den Dächern der Häuser Macht ausstrahlen; zugleich wird dabei auf die Kolonisierten, die beispielsweise in der Eingangssequenz im Innenhof eines Hauses zusammengeschubst werden, herabgesehen. Die Position der Figuren und die Kameraperspektiven wechseln nun im Laufe des Films und

150 Siehe weiter unten zu den Frauen. Die Täuschung von Eindrücken und Bildern wird hier deutlich und der Film verweist zugleich auf die Illusionskraft von Medien. Die Soldaten bekommen diese Szene, die der Zuschauer bereits mitverfolgt hat, als Schulungsmaterial vorgeführt, wobei die ‚Unsichtbarkeit‘ der Täter von Mathieu hervorgehoben wird. 151 Die geeinte Stimme der Algerier widersetzt sich den Anordnungen der Kolonialmacht mit symbolischer Vehemenz. Als ein Soldat zu der Masse ruft „Was wollt ihr? Geht zurück nach Hause!“, lautet die Antwort: „Istiqlal (Unabhängigkeit)!“. Aus einer Rauchwolke empor erscheint nun das Kollektiv der Algerier, das die kolonialen Schranken zu durchbrechen sucht.

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spiegeln damit die Achse der Narration, in der zwar die lokale FLN am Ende zerschlagen ist, das dahinterstehende Kollektiv jedoch die Befreiung vom Kolonisator fortsetzt, der längst seine moralische Haltbarkeit verloren hat. Nach dem Anschlag in der Casbah blickt die Kamera hoch auf die trauernde Gemeinschaft auf den Dächern und Balkonen, dies wiederholt sich z. B. vor der Sprengung des Verstecks von Ali und seinen Mitstreitern. Gegen Ende des Films schwenkt sie zudem von rechts nach links über die Casbah, komplementär zur Bewegungsrichtung des Kameraschwenks zu Beginn des Films; entsprechend der Leserichtung des Arabischen kann dies als Zeichen für die Rückgewinnung des Raums in algerische Hand gedeutet werden.

Résumé Als einer der ersten Filme, die den Befreiungskampf repräsentieren, stellt Pontecorvos Werk die Algerier als Akteure ihrer eigenen Geschichte in den Vordergrund. Das Kollektiv ist Opfer der kolonialen Unterdrückung, erhebt sich aber über diesen Status, indem es eine Handlungsmacht erlangt. Die Darstellung des Freiheitskampfes ist in La Bataille d’Alger einerseits faktenorientiert und evoziert andererseits einen von geschlossenem Widerstand geprägten nationalen Gründungsmythos. Leitlinien des Nationenbilds orientieren sich, bedingt durch Produktionskontext (Einfluss Saadis) und Filmhandlung, an den Prinzipien der FLN; allerdings werden diese nicht ganz unreflektiert vermittelt, zeigt der Film doch zugleich, wie die Organisation zur Vereinheitlichung der Nation auch Gewalt gegen Algerier anwendet. Ebenso wie Une si jeune paix scheint La Bataille d’Alger als europäisch-­algerische Koproduktion privater Produktionsfirmen von einer größeren Bewegungsfreiheit zu profitieren als andere Filme des cinéma moudjahid. Er verschreibt sich der Angelegenheit der Algerier und verankert sich im nationalen Diskurs, weist aber eine relativ hohe Komplexität auf. Zwar erzeugt er ein für den damaligen politischen Tenor charakteristisches Bild der „Geburt der Nation“, das in Einstimmigkeit unter der FLN als einziger politische Kraft und anhand der Opferung von Märtyrern dargestellt wird. Allerdings lässt auch er Distanznahmen zu und setzt auf Objektivierungsstrategien, die neben dem Bezeugen kolonialer Gewalt (Bomben, Folter) auch eine Balance schaffen. Somit unterscheidet sich La Bataille d’Alger von anderen Filmen: zum einen hinsichtlich seiner Geschichtsdarstellung, die Sichtweisen und Personen enthält, welche später seitens der Boumediene-­Regierung tabuisiert werden (z. B. Ben M’Hidi); zum anderen anhand seines Blicks auf die Gewalt beider Seiten – wenngleich die antikoloniale Gewalt sich aus der Unterdrückung heraus legitimiert.

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Seine Komplexität erlangt der Film nicht zuletzt durch seine aktiv in die Handlung integrierte Inszenierung von Frauenfiguren, die im nächsten Analyseteil gesondert betrachtet werden soll. Durch die Frauen, die mitunter die „Geburt der Nation“ symbolisieren, werden zumindest in Ansätzen Fragen nach deren (zukünftiger) Positionierung in der algerischen Gesellschaft aufgeworfen, die Ambivalenzen im antikolonialen Kontext andeuten. Inwiefern dabei tatsächlich der Rahmen der üblichen männlichen Definition der Nation überschritten wird, wird in den folgenden Abschnitten untersucht.

1.2. Frauenbilder in der filmischen Repräsentation des Freiheitskampfes In der großen Mehrzahl der Filme des cinéma moudjahid spielen Frauen keine Rolle und sind meist nur als (passive) Nebenfiguren zu sehen. Sie kommen dort ihren familiären Pflichten nach, folgen den Anweisungen der Männer, und ihre Funktion im Befreiungskampf beschränkt sich auf die Aufgaben einer Versorgerin und höchstens die einer Krankenschwester (vgl. Bedjaoui 1987: 147). Die realhistorische aktive Partizipation von Frauen am Unabhängigkeitskampf wurde politisch sowie filmisch also zunächst kaum gewürdigt.152 Laut Donadey wurde ihr Beitrag zur nationalen Befreiung einerseits verdrängt, andererseits aber die Frau selbst in Mythen und Symbolen stilisiert: „The gains that could have been expected from women’s sanctioned appearance in public life never became reality, because their participation in the war was both rendered mythic and silenced. The mujahidat were extolled as heroines and symbols at the same time that they were hidden in mental hospitals“ (Donadey 2001: 2). Die historische Rolle der Frauen im Krieg aufzugreifen heißt nun also, einen legitimen Ort für sie in der Nation einzufordern und auf fiktionaler Ebene ein Statement der Anerkennung zu setzen. Die ersten Cineasten, die den algerischen Frauen Ehre erweisen, kamen zunächst oft von außerhalb. So würdigt der Ägypter Youssef Chahine den Widerstand der Frauen bereits 1958 in Djamila, l’Algérienne. Vorreiter im frühen algerischen Kino sind Pontecorvos La Bataille d’Alger und – wenn auch auf andere Weise – Lakhdar Haminas Le Vent des Aurès, die als einige der wenigen Filme

152 Nach dem Krieg fand sich die Frau vorwiegend auf den häuslichen Raum zurückgewiesen. Laut Djamila Amranes Analyse über algerische Frauen im Algerienkrieg definierte die FLN die Aufgaben der Frauen auch entsprechend der üblichen geschlechtlichen Arbeitsteilung, die tatsächlichen Aufgaben gingen aber darüber hinaus (vgl. Amrane zitiert nach Donadey 2001: 2).

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ihrerzeit überhaupt Frauen in zentralen Rollen erscheinen lassen.153 Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, welche Zuschreibungen die Frauen hier erhalten und inwiefern die Filme dadurch z. B. auch etablierte Strukturen aufbrechen.

1.2.1. Frauen in La Bataille d’Alger zwischen Mimikry und moudjahida In La Bataille d’Alger finden sich hauptsächlich drei zentrale Frauenfiguren, die aktiv an der Seite der Männer für die Befreiung der algerischen Nation kämpfen. Diese Frauen sind in das Netzwerk der FLN-­Akteure unter Djafaar eingebunden und legen Bomben in französischen Cafés und am Flughafen. Eine von ihnen – die historisch auf Hassiba Ben Bouali rekurriert – opfert sich sogar der gemeinsamen Sache und bleibt zusammen mit Ali la Pointe, Mahmoud und dem kleinen Omar in dem Versteck, das gesprengt wird. Die Frauen werden in diesem Film also durchaus in ihrer historischen Rolle als moudjahidat (Freiheitskämpferinnen) anerkannt. Damit stellt La Bataille d’Alger nicht nur eine Ausnahme im Kontext des männlich dominierten algerischen Kriegskinos dar.154 Er bedeutet ebenso einen Bruch mit Repräsentationen algerischer Frauen in französischen Kolonialfilmen, die sie als orientalistisch verklärte Lustobjekte oder als passive Unterdrückte auffassen, die es zu ‚entschleiern‘ galt.155 In beiderlei Hinsicht findet hier eine Subversion der vorherrschenden Darstellungen der muslimisch-­ algerischen Frau statt.

153 Der Dokumentarfilm Moudjahidate (Alexandra Dols, 2008) legt in jüngerer Zeit ein Zeugnis über die weiblichen Freiheitskämpferinnen der realen Schlacht um Algier ab und lässt Akteurinnen der FLN / ALN selbst zu Wort kommen. Der Film mischt Zeugnisse von Fatma Chebbah Abdelli, Zohra Drif Bitat, Louisette Ighliariz, Baya Outata Kollé, Baya Laribi Toumia und der Historikerin und ehemaligen Kämpferin Danièle Djamila Amrane Minne. Dazu integriert er z. B. Filmausschnitte aus La Bataille d’Alger sowie aus Rabah Laradjis Kurzfilm La Bombe (eine Episode der ONCIC-­Gemeinschaftsproduktion Histoires de la Révolution, 1970). 154 Einer der Gründe hierfür ist auch die Rolle des Koproduzenten Yacef Saadi, der selbst als FLN-­Akteur mit Frauen zusammengearbeitet hat. „Le film terminé se présente comme un œuvre remarquable d’où surgissent avec éclat les femmes troquant leur voile blanc contre la liberté. La personnalité de son auteur et de son coproducteur a sans doute joué un rôle important puisque Yacef Saadi a été le compagnon de lutte des femmes dont il est question dans le film“ (Bedjaoui 1987: 147). 155 Die Kolonialpolitik hatte sich die „Entschleierung“ der Frauen auf die Fahne geschrieben, fand hierin ein Argument der „Zivilisationsaufgabe“ und versuchte die Frauen so für die französische Seite zu gewinnen.

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Sowohl über die Figuren als auch über die Handlungs- und die Raumebene lässt sich eine Emanzipation von etablierten Mustern beobachten. In verschiedenen Rollen bewegen sich die Frauen in diesem Film (verschleiert und unverschleiert) in den Straßen und fordern als Repräsentanten des Kollektivs, als Freiheitskämpferinnen oder Demonstrantinnen gemeinsam mit den Männern das Ende des Kolonialismus. Indem sie sich gegen den Kolonisator auflehnen und ihren Raum als Algerierinnen einfordern, setzen sie sich über kolonialistische Klischees hinweg und überschreiten zugleich die traditionelle Geschlechtertrennung, die sich in räumlichen Zuweisungen niederschlägt.156 Bedeutungsverschiebungen im Sinne von Bhabhas Konzept der Mimikry sind ebenso im Film angelegt, wie die Semantik des Schleiers und die Verwandlungsszene der drei zentralen Frauenfiguren zeigen. Entsprechend des außerfilmischen historischen Kontextes erfährt der traditionelle Schleier, haïk157, im Befreiungskampf veränderte Funktionen. Er wird zum identitären Merkmal des Protests gegen den Kolonialismus und dient als antikoloniale Waffe: Frauen und ebenfalls Männer tarnen sich darunter, um einer Durchsuchung zu entgehen. Der haïk wird zum Passieren von Absperrungen sowie zum Schutz vor dem Kolonisator eingesetzt und ermöglicht einen größeren Handlungsfreiraum. Der simplen kolonialistischen Gleichsetzung von Schleier und Unterdrückung und damit auch dem französischen „Entschleierungsargument“ wird so widersprochen. Daneben zeigt der Film, wie auch die „Entschleierung“ zu einem antikolonialen Akt umgekehrt wird. In ihrer Rolle als Kämpferinnen legen die drei zentralen Frauenfiguren den haïk ab, um sich in Europäerinnen zu verwandeln. Dieser Akt steht hier nicht im Sinne einer Emanzipation von traditionellen Mustern nach Vorstellung des Kolonisators. Im Gegenteil, es wird auch die äußerliche Assimilation wiederum zu dessen Täuschung eingesetzt, indem mit stereotypen Bildern von Algerierinnen und Europäerinnen gespielt wird. ‚Verkleidet‘ als Europäerinnen passieren die algerischen Frauen die Absperrungen des Militärs und betreten Räume des Kolonisators, wie z. B. die europäischen Cafés, die ihnen normalerweise in zweifacher Hinsicht – als Kolonisierte und in ihrer eigenen Tradition – vorenthalten sind. In diesen Szenen, in denen die Frauen die Soldaten mit deren eigenen Klischeevorstellungen täuschen, gelingt es ihnen, die Repräsentanten des Kolonialsystems durch Nachahmung bewusst zu schlagen und eine neue Handlungsautorität zu erreichen. Ihr Vordringen verändert die Machtverhältnisse, der koloniale Raum wird symbolisch und faktisch (durch die Bomben) zerstört. Zu156 Traditionell ist den Frauen der Innenraum zugeordnet. 157 Im Maghreb ein vor allem weiß getragener Ganzkörperschleier.

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gleich verweist das Überschreiten der traditionellen Geschlechterzuweisung auf die (vorübergehende) Umbruchsituation in der Dekolonisation. Neben der subversiven Funktion der Mimikry im Dienste des Unabhängigkeitskampfes wird hier ebenso vernehmbar, wie der Dekolonisationsprozess Ambivalenzen in sich trägt. Die Sequenz, in der die drei zentralen Frauenfiguren ihr Äußeres in das von Französinnen oder Europäerinnen (zu) verwandeln (versuchen), bringt dies besonders zum Ausdruck. Der Verwandlungsprozess geschieht zwar zielgerichtet zum Zweck des antikolonialen Widerstands, er deutet aber auch implizit auf Identitätsfragen und Problematiken, die hierbei mitschwingen. Die Entschleierung erzielt einerseits einen Machtgewinn gegenüber dem Kolonisator; andererseits bedeutet sie eine Entfremdung für die Frauen selbst.158 Ihre Position in der zukünftigen algerischen Nation ist unklar, und es stellt sich die Frage, inwiefern die Frauen im Freiheitskampf in der nationalen Bewegung für sich selbst einstehen (können). Das ambivalente Bild der Frau in der Dekolonisation soll unter Bezugnahme auf Überlegungen Ranjana Khannas näher betrachtet werden, die das komplexe Potenzial dieser Sequenz aus psychoanalytischer Perspektive herausarbeitet und dabei die Grenzen eines antikolonialen Kinos aufzeigt. Die drei Bombenlegerinnen wandeln ihr Aussehen in das von Europäerinnen. Gillo Pontecorvo: La Bataille d’Alger (1966): 00:21:58 und 00:22:17.

158 Fanon beschreibt 1959 diesen Funktionswandel des Schleiers in L’An V de la révolution algérienne, „Algérie se dévoile“. Er schreibt dem Schleier eine hohe identifikatorische Bedeutung zu, indem er anmerkt, dass dieser selbst die arabische Gesellschaft

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In einem mit großen Spiegeln versehenen Raum vollziehen die Frauen ihren Wandlungsprozess, nehmen ihren Schleier ab, ziehen sich um, hellen sich die Haare auf und schminken sich. Zu Beginn sieht man in Nahaufnahme eine der drei Frauen, die verunsichert nach vorne blickt; erst ein Rauszoomen macht deutlich, dass es sich hier um eine Spiegelung ihres Gesichts handelt. Im Weiteren werden die Frauen abwechselnd oder nebeneinander bei der Veränderung ihres Aussehens beobachtet und in verschiedenen Spiegeln reflektiert. Die bildlichen Reflexionen selbst können bereits vieldeutig gelesen werden und verweisen auf eine psychische Dimension, die nach der Erkennung des Selbst fragt. Die Identitäten der Frauen sowie ihre Abbilder geraten dabei ins Wanken, und sogar der Zuschauer wird durch die Überschneidungen von Spiegelbildern und Figuren mit in diese Verunsicherung hineingezogen. This is, then, the image (reflection) of the image (of the actress). And as the audience views the reflective image, we are in a sense in the mirror. The filmic screen becomes the mirror, and what we are left with is a mirror within a mirror. Woman, who has been understood in terms only of her veil, as carrier of arms or as passive woman, looks into a mirror and transforms herself into the image of a flirtatious French woman, who is almost French but not quite. She mimics the appearance of French women (Khanna 2008: 117 f.).

Die Frauen werden – im Sinne Bhabhas – zwar selbst nie (wie) Europäerinnen sein, sie bedienen sich aber kolonialer Identitätsvorstellungen, die sie umschreiben. Die Nachahmung steht mit Unbehagen in Verbindung. Während die erste Frau über ihre Blicke ein Unwohlsein vermittelt (vor der geplanten Aktion und vor ihrem Spiegelbild), die zweite versucht, sich eisern in ihre Erscheinung als Europäerin einzufügen, gelingt der dritten die äußere Assimilierung kaum. Djafars Begutachtung lässt sie nicht als Europäerin durchgehen; sie wird die Absperrung der Casbah deshalb mit Hilfe eines Kindes passieren. Zwar wird die Mimikry in der Filmhandlung subversiv gegen den Kolonisator eingesetzt. Dabei ist aber nicht auszuschließen, dass die Frauen sich einerseits mit dem fremden Bild identifizieren, während sie es andererseits im selben Moment ablehnen. Eine identitäre Verunsicherung und eine Verwischung von Grenzen sind also implizit.



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charakterisiere (vgl. Fanon 1966: 22). Die Entschleierung wird von ihm als koloniale Gewalt interpretiert, die den europäischen männlichen Blick gewaltsam freisetzt. Sie irritiere zugleich, da so die übliche Markierung und die Erwartung an das Bild der Algerierin abgelegt werden. Fanons Ansatz wird unter anderem von Bhabha kritisch diskutiert und auch von Khanna in ihrer Analyse aufgenommen.

Die Spiegelszene fällt nicht nur durch ihre Konzentration auf die Frauen aus dem Rahmen des Films, sondern ebenso dadurch, dass sie eine Reflexion der Gefühlslage andeutet. Die Omnipräsenz des Spiegels legt ein Eintreten in das Bewusstsein der Frauen nahe, das auf der musikalischen Ebene des Films durch laute Percussions untermalt wird, die in einem Herzschlag ähnlichem Rhythmus ein Gefühl der Aufregung und Angespanntheit vermitteln. Sie bilden das gleiche musikalische Motiv wie bei der Bombenlegung, „when we supposedly enter their minds and perceive their nervousness and their horror at the act they are going to perform“ (Khanna 2008: 116). Einerseits wird hier also ein subjektives Empfinden der Frauen nahegelegt. Auf der anderen Seite werden die Frauen selbst zu Symbolen, die sich in den Spiegelungen verlieren. Ihre konkrete politische und soziale Realität ist zwischen dem nachgeahmten europäischen und dem ‚abgestreiften‘ Bild der traditionellen algerischen (kolonisierten) Frau schwer zu finden. The metamorphoses of these women, or at least the image of them, takes place in a cocoon of mirrors, almost a film-­set dressing room, where the image and the imago – the idealized image misrecognized in the reflection as self-­completeness – are confused to such an extent that the question of what it means to be an Algerian woman becomes highly questionable, and is exploded or imploded (ebd.).

Das Selbstbild der Frau wird von den verschiedenen (Fremd-)Zuschreibungen verdeckt und die Frau dient als Projektionsfläche entgegengesetzter Vorstellungen.159 Die Szene repräsentiert somit auch das Dilemma der algerischen 159 „What is she besides the dramatist of these stereotypes? The actress embodies, like a mirror or a film screen, this ‘zone of occult instability’, where Algerian woman can exist only as figure, indeed as catachresis, or what Spivak calls ‘a concept metaphor without an adequate referent’ “ (Khanna 2008: 117).

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Frau im Unabhängigkeitskrieg und in Bezug auf ihre (zukünftige) Rolle in der algerischen Nation. Die Frau erhält demnach in La Bataille d’Alger noch keine eigene Stimme, was weitere filmische Aspekte, wie z. B. die Tonebene, bestätigen. Tatsächlich sprechen die weiblichen Figuren kaum und bleiben, mit Ausnahme von Hassiba, anonym. Lauter hörbar werden die Frauen allgemein zwar am Ende des Films, ihre schrillen youyous vermengen sich allerdings mit dem einstimmigen Chor der Demonstranten und bilden einen konstanten (funktionalen) Ton des Widerstands. Im antikolonialen Kampf geht die Frau somit im Kollektiv der Nation auf, was auch anhand der räumlichen und figuralen Choreographie in den Massenszenen ersichtlich wird. Die Frauen ziehen im Strom der Demonstranten mit; eine der Bombenlegerinnen (diejenige, der die Umwandlung nicht gelingt) ist am Ende erkennbar, wie sie sich in die Menge fügt und tanzend die algerische Flagge in die Kamera schwingt. Mehrfach eingeblendet, während ein Off-­Sprecher über den Ausgang des Befreiungskampfes und die „Geburt“ der Nation am 2. Juli 1962 berichtet, wird sie hier zum Symbol der Nation. Sowohl die „Entschleierung“ der algerischen Frauen als auch das Durchbrechen von traditionellen und kolonialen Grenzen sind insgesamt auf den Freiheitskampf ausgerichtet. Die Frau dient der Nation oder verkörpert sie gar und bleibt Handlangerin in einer von Männern bestimmten Gesellschaft. Ihre untergeordnete Rolle zeigt sich darin, dass die Frauenfiguren unter den Anweisungen der männlichen Anführer handeln und Djafars Aufträge im Namen der algerischen Nation ausführen. Der Beitrag der Frauen am Befreiungskampf wird somit zwar anerkannt, eine eigenständige Position oder Identitätsaushandlung findet aber noch keinen Platz. Durch die symbolhafte Funktion der Frau geht ihre reale historische Identität sogar teils verloren, „[the] woman in her historically material form gets lost in the world of images“ (Khanna 2008: 122 f.). Dennoch wirft der Film insbesondere über die Spiegelszene indirekt Identitätsfragen auf und gibt zumindest die Möglichkeit, über die unsichere Position der Frau (in der zukünftigen Nation) nachzudenken. Für eine eigene Stimme der Subalternen muss Khanna zufolge strukturell über die antikoloniale Logik hinausgegangen werden (vgl. ebd.).

1.2.2. „Mutter Algerien“ als Symbol der Nation in Le Vent des Aurès Wie bereits oben erwähnt, ist Le Vent des Aurès neben La Bataille d’Alger einer der wenigen Filme des cinéma moudjahid, in denen Frauen aus dem Hintergrund heraustreten, und es ist sogar der einzige Film aus dieser Periode, in dem eine Frau die Hauptrolle einnimmt. Insofern stellt Le Vent des Aurès ebenfalls eine Ausnahme dar, wenngleich er als eines der einflussreichsten Werke des frühen algerischen 126

Kinos mit seiner Ästhetik prägende Maßstäbe setzte. Als eine Hommage an den Unabhängigkeitskampf zielt Lakhdar Haminas Film Brahimi zufolge auf eine Verankerung einer zugleich offiziellen und populären Version dieses Kampfes im kollektiven Bewusstsein (vgl. Brahimi 2007: 44). Welche Funktion die Frau hierbei verkörpert, wird im Weiteren betrachtet. Le Vent des Aurès verfolgt exemplarisch die Zerstörung und Entwurzelung einer Familie während des Kriegs im Aurès-­Gebirge. Er beschreibt im Wesentlichen die Suche der Mutter (gespielt von Keltoum) nach ihrem erwachsenen und von französischen Soldaten verschleppten Sohn, nachdem der Vater bereits durch einen Bombenangriff auf das Dorf getötet wurde. Nach einem monatelangen Fußmarsch findet die Mutter ihren Sohn in einem Gefangenenlager; letztlich stürzt sie sich aus Verzweiflung über den erneuten Verlust in den Tod und sinkt am Elektrozaun des Lagers zusammen. Anhand der tragischen Odyssee der Mutter illustriert der Film das Schicksal der Kolonisierten. Trotz der tragenden Rolle der Frauenfigur ist der Blick auf das algerische Kollektiv bzw. auf dessen gemeinsames Leid gerichtet. Dies wird einerseits auf Figurenebene durch die Funktionalisierung der Mutter und andererseits durch Kollektivinszenierungen in der Bildkomposition deutlich. Die Anfangssequenzen konzentrieren sich auf detailgetreue Darstellungen des Alltags und auf gemeinschaftliche Handlungen und Gruppenszenen. Versammlungen der Männer, die einstimmig den Maquis unterstützen, die Einführungssequenz im Untergrundnetzwerk der Kämpfer sowie Szenen der kollektiven Erntearbeit oder Aufnahmen von Gefangenen und wartenden Massen vor der französischen Verwaltungsbehörde visualisieren das Kollektiv der Unterdrückten. Die Mutter steht zwar als Protagonistin im Fokus, gleichwohl nicht in ihrer Bedeutung als Individuum und – im Gegensatz zu den Frauen in La Bataille d’Alger – ebenso wenig als aktive Freiheitskämpferin. Sie symbolisiert vielmehr den Leidensweg aller Algerier/innen, insbesondere der Landbevölkerung. Diese generalisierbare Rolle wird durch eine sehr geringe Individualisierung gefördert. Die Protagonistin hat keinen Namen und ist überwiegend durch mütterliche Eigenschaften charakterisiert, die sie als archetypische Frau entwerfen. Elisabeth Arend beschreibt diesbezüglich, wie die Frau und ihr Körper hier – auf für das algerische Kino übliche Weise – nicht geschlechtlich inszeniert ist, sondern universell für mütterliche Liebe und Mut ebenso wie für das kämpferische Algerien steht (vgl. Arend 2012: 443). Auch in diesem Film hat das kollektive „Wir“ Priorität und drängt das Subjekt, insbesondere das weibliche, angesichts des Prozesses der Nationenbildung in den Hintergrund.

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Anhand des einfachen, menschlichen Bildes der Mutter wird der Kampf der Unterdrückten als ein gerechter inszeniert, der die Würde der Algerier wiederherstellt. In dieser symbolischen Funktion der Mutter – und einer quasi allegorischen Bedeutung als „Mutter Algerien“, die sich zu befreien sucht, – wird die Figur zugleich mythologisiert und zu einem abstrakten Wesen: „The fact that a woman is at once the motor of the action and a potential embodiment of her people places her as both mythical and yet (despite her class) to some extent taboo“ (Austin 2007: 188).160 Ihre politische Realität rückt auf der Handlungsebene in den Hintergrund: Die Mutter liefert zwar das Brot für den Maquis, ihre Aufgaben sind aber auf die üblichen Tätigkeiten der Frau beschränkt; lediglich der Rahmen ändert sich, indem die Männer sich dem Freiheitskampf verpflichten. Letztendlich ist und bleibt die Protagonistin vor allem Mutter und nimmt auch in dieser Rolle die Suche nach ihrem Sohn auf. Sie scheint die politischen Ausmaße des revolutionären Kampfes nicht wirklich zu fassen: „Cette mère se montrera incapable d’assumer la lutte de son fils et d’établir avec lui des relations qui passeraient par son combat, émancipées du fatras sentimental“ (Bedjaoui 1987: 148). Ihr verzweifelter Versuch, im Tausch gegen eine Pute, die sie mitführt, Informationen von den Soldaten über ihren Sohn zu bekommen, zeugt von einem geringen politischen Bewusstsein und einer großen Naivität. Viola Shafik zufolge spiegelt sich diese fast apolitische Präsenz der Figur in der Inszenierung insgesamt, die den politisch-­historischen Rahmen kaum aufgreift: Die Perspektive der filmischen Erzählung ist analog zum begrenzten Horizont der einfachen Bäuerin gestaltet. Von den größeren politischen Zusammenhängen ist nur wenig erkennbar. Das Bombardement, der Tod des Mannes, das Verschwinden des Sohnes ereignen sich überraschend, ohne größere Vorbereitung. Ein Ei, das in der heißen Asche zerbirst, oder ein verendendes Huhn erscheinen als Vorboten des Unheils (Shafik 1996: 195).

Die Abwesenheit konkreter Fakten, Daten oder Hintergründe in diesem Film erzeugt im Gegensatz zu La Bataille d’Alger einen eher mythischen Geschichtsentwurf. Die fehlende eigene (politische) Stimme der Frau wird auch hier dadurch unterstrichen, dass sie kaum spricht. Der Film ist zwar insgesamt eher dialogarm und das Schweigen oft situationsbedingt (Distanz, Zäune und Soldaten trennen

160 Austin und auch Moore (2008) verweisen darauf, dass die Frauen in der ländlichen Gesellschaft durch die bäuerlichen Tätigkeiten weniger streng auf das Häusliche beschränkt und sie weniger verschleiert sind. Hier spielt auch der berberische Kontext eine Rolle. Dennoch ist die Geschlechtertrennung sowohl in der arabischen als auch in der berberischen Gemeinschaft zentral.

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die Mutter von ihrem Sohn), dennoch ist sie auffällig still. Die wenigen Worte lauten vor allem „Beni“ („Mein Sohn“). An den Zäunen des Lagers entlangstreifend, bleibt sie schweigend, tauscht sich mit ihrem Sohn über Blicke und Zeichensprache aus. Lediglich am Ende des Films schreit sie ihre Verzweiflung gegen den Windsturm an, der in der Endsequenz die psychische Zerrüttung spiegelt und ebenso eine revolutionäre Ankündigung vermittelt. Einerseits ist sie überwiegend unmündig, andererseits sind es ihre letzten Worte, „Welch Ungerechtigkeit!“, die die Anlage des Kolonialsystems und somit die zentrale Aussage des Films verbalisieren. So wie die Mutter als Teil der Gemeinschaft in ihrem Dorf verankert ist, verbindet sie der Film auch mit dem Raum und dem algerischen Land. Gleich zu Beginn (nach der Eröffnungssequenz) wird sie in einer langen Plansequenz visuell in ihre Umgebung eingebettet, die die zentralen Achsen ihrer Existenz definiert (vgl. Austin 2007: 189). In Panoramasicht ist die Kamera zunächst frontal auf die Berglandschaft und das Haus der Familie gerichtet. Der Blick folgt dann in einem sehr langsamen Rechtsschwenk der Mutter, die ihren Weg zur Wasserquelle am Fuße des Berges beschreitet. Behutsam streift die Kamera den Berg entlang, beobachtet die Figur aus der Ferne, deren Position überwiegend in der Bildmitte gehalten wird. Ein Zoom auf die Mutter rückt diese dann deutlich in den Vordergrund und deutet auf ihre zentrale Rolle in der Erzählung. Insgesamt verweist diese Sequenz bereits auf die Verbundenheit der Figur mit dem ländlichen Raum. Dieser selbst wird durch detaillierte Darstellungen des bäuerlichen Lebens und kultureller Praktiken als algerisch angelegt (siehe IV.1.2.2.). Über die Bewegung der Figur im Raum lässt sich auf einer weiteren Ebene nach der Bedeutung und Positionierung der Frau in diesem Film fragen. Im ersten Teil wird die Frau entsprechend traditioneller Rollenmuster inszeniert und in dem ihr zugewiesenen Innenraum verortet. Am Ende der Plansequenz kehrt die Mutter ins Haus zurück und folgt der Order ihres Mannes. Sie verrichtet in weiteren Szenen überwiegend Aufgaben im Haus, bzw. versorgt die Männer, die sich im Außenraum befinden und auf dem Felde arbeiten. Die Rollenverteilung und Raumzuordnung sind also traditionell kodifiziert. Indem die Mutter nach der Festnahme des Sohnes ihr Haus und Dorf verlässt und allein durch die Weite des Landes zieht, weist der Film hier einen Bruch mit den Konventionen auf. Es ist nun die Frau, die sich frei durch die Landschaft bewegt, wohingegen die Männer sich in Gefängnissen eingezäunt befinden. Geschlechter- und Raumzuordnungen werden hier durch die Umbrüche des nationalen Widerstands zunächst invertiert. Dennoch ist darin nicht unbedingt ein tatsächliches Überschreiten der Rollenmuster zu sehen. Die ‚Emanzipation‘ der 129

Mutter geschieht zwangsläufig, durch die Umstände des Unabhängigkeitskampfes. Ihr Motiv ist die Suche nach dem Sohn und somit bleibt sie wiederum in der Mutterrolle verhaftet. Ihre Bewegung durch den Raum ist funktional und mit der Botschaft des Films verbunden: Sie symbolisiert die Freiheitsbestrebung des Volkes. Auf ihrem Streifzug ist die Mutter teilweise durch Panoramaeinstellungen der Kamera kaum zu sehen, wirkt verschwindend klein oder kommt hinter Ruinen und aus dem Bildrand hervor, „a tiny and almost unidentifiable figure, moving through the vastness“ (Austin 2007: 191). Die Weite des Landes kann dabei die Verlorenheit, die Entwurzelung ebenso wie den langen Kampf der Kolonisierten ausdrücken. Die räumliche Distanz, die eine Identifizierung der Figur zumindest in diesen Szenen erschwert, unterstreicht die generalisierbare Rolle der Mutter und ihre Funktionalisierung als Projektionsfläche des algerischen Kollektivs. Damit repräsentiert der Film den vorherrschenden Diskurs des zeitgenössischen algerischen Kinos: The difficulty the spectator has in identifying, and hence identifying with the character can be related not just to the theme of alienation in the film, but also to Algerian cinema’s general difficulty in the 1960s in generating fictional individuals who stand apart from the official ideology of the collective (ebd.).

Austin weist darauf hin, dass die Mutter gar mit ihrem Tod symbolisch mit dem Land eins wird. Das Zusammensacken am Zaun, die Hingabe ihres Körpers sowie das langsame Rauszoomen der Kamera, die ihren Körper im Raum verschwinden lässt, unterstützen diese Interpretation. Der Tod der Mutter kann darüber hinaus als Opferbringung für die Befreiung Algeriens gelesen werden. Als Repräsentantin des Kollektivs und als Symbol der Nation versinnbildlicht sie die Hingabe des Volkes für die Unabhängigkeit. Die implizite Gleichsetzung von Frau und Land verhindert wiederum eine eigene Positionierung der Frau. When women are equated to land, there is no discursive space for them as citizens. When woman stands in for nation, it becomes difficult to present the women of the nation as agents in that nation’s constitution because their body image is being activated as the object for which to fight (Donadey 2001: xxx).

Die Frau als Mutter und Sinnbild der Nation wird insgesamt weder als politisch agierend noch als stimmberechtigt inszeniert und somit steht der Film hinsichtlich der Frauenfrage noch deutlicher als La Bataille d’Alger im konventionellen Rahmen seiner Zeit. Anders als in La Bataille d’Alger stellt Le Vent des Aurès den ländlichen Raum ins Zentrum. Dabei werden einerseits die Revalorisierung des algerischen (Kultur-)Raums und andererseits die Reflexion kolonialer Machtstrukturen deutlich. 130

Das Land wird mithilfe der Figuren und Handlungen als der einheimischen Bauernbevölkerung zugehörig und somit als „terre algérienne“ inszeniert. Die spürbare Enge, die Brahimi für La Bataille d’Alger konstatiert, spielt wiederum ebenso in Lakhdar Haminas Film eine Rolle, auch wenn dies hier durch die überwiegenden Aufnahmen eines weiten ländlichen Außenraumes ganz anders vermittelt wird. Angesichts der kolonialen Herrschaftsordnung erfährt die Weite eine einschränkende Wirkung. Der Kolonisator ist in Le Vent des Aurès auf Figurenebene nur durch das Militär, sprich durch eine Repräsentation von Staatsgewalt, präsent. Gleichwohl sind die Spuren der Kolonialmacht in der endlosen Landschaft deutlich sichtbar: Die Mutter geht an zerstörten Dörfern und Kriegsruinen vorbei; der Weite des Aurès-­Gebirges stehen Absperrungen, Kontrollpunkte, Kasernen, Gefängnisse oder Behörden der Franzosen gegenüber. Diese verhältnismäßig absteckbaren Punkte repräsentieren den kolonialen Antagonisten, der durch seine Verwaltungsstrukturen und militärische Macht auftritt. Das Gefangenenlager des Sohnes wirkt in der landschaftlichen Umgebung wie eine Enklave, die dennoch große Ausmaße hat. Es gibt kein Entkommen, aber auch kaum Zugang. Die Mutter wird immer wieder weggejagt. Ihre Ausgrenzung wird auf visueller Ebene verdeutlicht, indem ein großer Teil des Films sie an Zäunen der Gefangenenlager, vor allem an jenem ihres Sohnes, zeigt (die letzten 40 Minuten des Films spielen sich dort ab!). Oft ist sie nur durch Absperrungen hindurch zu sehen, platziert vor bzw. hinter Toren, die zum Teil direkt vor ihr verschlossen werden. In einigen Einstellungen befindet sie sich sogar visuell in der Schusslinie der französischen Soldaten, indem das Gewehr in der Bildkomposition auf sie gerichtet ist. Der Film illustriert so die Ausgrenzung der Kolonisierten und reflektiert die koloniale Ordnung: [L]e film met sous nos yeux un monde binaire, deux visions apparemment opposées de l’espace, celle d’un monde clos et occulté, à peu près invisible derrière les barbelés, et celle d’un monde ouvert sans repères ni limites, où il est impossible de savoir où on va. Leur apparente opposition ne les empêche pas d’être complémentaires au sein d’un même système, le système colonial (Brahimi 2007: 45).

Die aussichtslose Situation in diesem System wird in beiden Räumen angedeutet. Denn auch der offene, teils steinwüstenartige Raum der kargen Landschaft ist angesichts der endlos scheinenden Suche der Mutter umso bedrückender. Die Verlorenheit in der Weite des Raums macht diese ebenso zu einer Gefangenen, die ein Ziel verfolgt, ohne dessen Richtung zu kennen. Die Orientierungslosigkeit und das „Umherirren“ spiegeln die Entwurzelung und die Suche des algerischen Volkes nach Freiheit und Emanzipation der eigenen Identität.

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Die Bilder der Weite und Leere erinnern gleichfalls an das koloniale Argument des unbewohnten und unkultivierten Landes. Letzteres wird hier nun aber über verschiedene Elemente als algerisches definiert, wie auch Austin in seiner Analyse zeigt. „Algeria, so often fantasized as empty of Algerians in French cinema and in colonialist thought, here becomes inhabited and dramatized according to indigenous spatial, religious and cultural concerns“ (Austin 2007: 182). Die Redefinition des Landes als algerisches wird über den Fokus auf die bäuerliche Landbevölkerung vorgenommen. Diese wird als eng verbunden mit ihrem Lebensraum repräsentiert, wie z. B. die lange Erntesequenz relativ zu Beginn des Films veranschaulicht. Die Männer der Dorfgemeinschaft ernten gemeinsam das Korn, dabei führt der Film in verschiedenen Bildern ein kollektives und routiniertes Arbeiten vor. Der Arbeitsalltag und die Landschaft erscheinen idyllisch; eine gemeinsame Pause wird eingenommen. Einzelne Gesichter werden dabei nacheinander und im Wechsel mit der gesamten Gruppe von der Kamera fokussiert, die die bäuerliche Gemeinschaft in ihrem Dasein porträtiert. Die strahlend helle Lichtgebung sowie die Kameraeinstellungen und eine paraphrasierende Musik präsentieren Land und Einwohner harmonisch und kreieren ein idealisiertes Bild der Landbevölkerung. Die Gruppeninszenierung bestärkt die Einheit der Gemeinschaft und definiert das Land als dieser zugehörig. Der Kolonisator – der in anderen Werken z. B. als ausbeutender Landbesitzer auftaucht – scheint hier weit entfernt und abwesend. Das Feld wird von den Algeriern bearbeitet, ohne Überwachung eines seigneurs. Entsprechend der ländlichen Gegend ist die Kolonialmacht hier weniger als in La Bataille d’Alger sichtbar. Abgesehen von ihrer Präsenz in Kasernen, Gefängnissen und Verwaltungsstrukturen scheint der Einfluss im abgelegenen Aurès-­Gebirge gering. Im Vordergrund stehen das Leben und ‚Gesicht‘ der Landbevölkerung. Die kolonialistische Vorstellung von einem kulturlosen und brachen Land wird so widerlegt. In der auf die Erntesequenz folgenden Angriffsszene des Bombardements werden die zerstörerische Kraft des Kolonisators sowie dessen gewaltsames Eindringen umso deutlicher.161 161 Im zweiten Teil der Erntesequenz dringt die Kolonialmacht in den algerischen Raum ein und bricht mit der zuvor aufgebauten Harmonie. Französische Militärflugzeuge nehmen den Raum von oben ein und zerstören ihn mit ihren Bomben. Die Kamera, die zunächst die ins Dorf rennende Gruppe aus verschiedenen Perspektiven begleitet, wechselt abrupt in eine vom Angreifer ausgehende Perspektive. Sturzflugartig wird von oben, aus dem Flugzeug heraus, auf den Boden geblickt und die aufgescheuchte Gruppe verfolgt. In dieser und in weiteren ‚Flugzeugperspektiven‘ wird der Raum also sogar durch die Kameraperspektive vom Kolonisator eingenommen. Das gewaltsame Eindringen des Kolonisators wird hierdurch symbolisiert, wobei dieser

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Die Konzentration auf das Porträt der bäuerlichen Gemeinschaft setzt der kolonialen Sichtweise so ein eigenes Bild der Algerier entgegen, das sich durch Einheitlichkeit auszeichnet.162 Die Definition des Raums als algerisch wird insgesamt durch einen großen Detailreichtum in der Beschreibung des Alltags, der kulturellen Praktiken und Rituale erzeugt. In realistischer Manier werden zahlreiche Gegenstände und Vorgänge von der Kamera beobachtet, die die traditionellen Lebensweisen beschreiben und die Bevölkerung bescheiden und solidarisch darstellen. In seinen Aufnahmen lässt Hamina kaum ein Detail aus: das karge Inventar der Hütten, die Matten, die Tontöpfe, die Feuerstelle, das Huhn auf seinem Brutplatz in der Wand. Ihnen wird ein genauso wichtiger Platz eingestanden wie dem Gesicht der Protagonistin und ihrer täglichen Hausarbeit, vom Kehren der Hütte bis zum Brotbacken (Shafik 1996: 195).

Identitäre Verankerungen finden sich auch in der arabischen Sprache – die hier anstelle der lokalen Berbersprache eingesetzt wird – und dem Islam, wobei islamische Traditionen und andere Riten entsprechend der gelebten Realität nebeneinander existieren. Beobachtungen des Alltags umfassen z. B. außer den landwirtschaftlichen Arbeiten Rituale wie die Zukunftsweisung durch ein im Feuer zerspringendes Ei; ebenso werden mehrmals betende Figuren gezeigt, so z. B. der Vater vor dem Haus oder die Gefangenen beim gemeinsamen Gebet im Außenraum des Lagers. Austin verweist auf weitere islamische Tropen, die die Erzählung durchziehen. Seiner Argumentation folgend ist zu unterstreichen, dass sowohl der Tod der Mutter als auch die kulturellen islamischen Bezüge letztlich einen Widerstand gegen die Fremdherrschaft des Kolonialismus demonstrieren: „The mother’s death at the foot of the wire dramatizes the conflict between the deeper eternal patterns (Islam, maternal love) and the relatively recent struc­ tures established by colonialism“ (ebd.: 194). Die Kolonialmacht scheint über die Mutter zu siegen, ihr Körper sackt vor dem mächtigen Gefängnis zusammen, Effekt durch den Kontrast mit der vorangehenden Idylle verstärkt wird. Szenen wie diese weisen auf einen Raumentwurf hin, der die Gegebenheiten des Kolonialsystems reflektiert: Der Kolonisator beherrscht mit militärischer Macht, greift schutzlose Menschen an und dringt ein in ein Land, das von den Algeriern bewohnt und kultiviert wird. 162 Eine Ähnlichkeit zum russischen Revolutionskino findet sich besonders in der ästhetisierenden Idealisierung der Bauerngemeinschaft, die den Mythos des geeinten Widerstands bestärkt: „The representation of the villagers is a mixture of the realistic and the mythic, with collective activity emphasized, as in the scenes of the harvest and the rescue of the village from fire“ (Austin 2007: 189).

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verschwindet visuell fast unmerklich gegenüber diesem. Aber über ihren Tod hinaus verkörpert sie kulturelle Werte, die vor den kolonialen Strukturen der Unterdrückung existierten und diese auch überleben. Der Film vermittelt so ein Fortbestehen der algerischen Kultur, die auch den Tod des Einzelnen überdauert bzw. ihre Kraft aus dem kollektiven Gemeinschaftssinn schöpft und dem Kolonialismus widersteht. Sowohl die kulturellen Referenzen als auch die Inszenierungen der Mutter repräsentieren somit das nationale algerische Kollektiv, das sich hier durch bäuerliche Traditionen, islamische, aber auch andere, Riten, definiert sieht.

Résumé Mit seiner Konzentration auf eine zentrale Frauenfigur ist Le Vent des Aurès einerseits außergewöhnlich für das cinéma moudjahid; andererseits vertritt der Film den zeitgenössischen Diskurs und auch eine im antikolonialen Kino übliche Repräsentationsweise der Frau, indem diese symbolisch für die Nation steht. Mehr noch als in La Bataille d’Alger tritt die Frau in ihrer eigenen Identität in den Hintergrund. Das Individuum wird hier für die Befreiung der Nation geopfert. Die in der islamischen Gemeinschaft (umma) zentrale Bedeutung des Kollektivs verbindet sich gewissermaßen mit der Kollektivvorstellung des Nationalen: „Conforming to the FLN slogan of the time – Un seul héros, le peuple – the individuals are subordinate to the human chain of which they are part“ (Austin 2007: 199). In diesem Film stehen zudem, anders als in La Bataille d’Alger, nicht die Kampfhandlungen der moudjahidin im Vordergrund, sondern das bäuerliche Volk sowie die Verbindung der Algerier mit ihrem Land. Anhand der im Titel programmatischen Begriffe „Vent“ und „Aurès“, die den Film im revolutionären Kontext des Freiheitskampfes verorten, wären stürmische und kriegerische Handlungen zu erwarten, die aber größtenteils ausgespart bleiben. Ebenso werden lokale kulturelle Identitätsmerkmale zumindest auf sprachlicher Ebene ignoriert, indem Arabisch und nicht Chaouia gesprochen wird: Das Aurès-­Gebirge repräsentiert so als ein zentraler Ort des Widerstands den Freiheitskampf der gesamten Nation. In dieser Geschichts­narration steht die symbolisch-­mythische Dimension im Vordergrund. Historisch-­politische Details und auch nationale Attribute, z. B. Fahnen oder politische Slogans, werden ausgeklammert. Es sind vielmehr die Suche, der lange Weg und die Entbehrungen, die die Erfahrungen der Dekolonisation vergegenwärtigen. Wie Brahimi feststellt, ist der Krieg trotz der wenig expliziten Sichtbarkeit von Kriegshandlungen permanent präsent (vgl. Brahimi 2009: 10).

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Durch seinen wenig konkretisierten Faktenbezug weist der Film über den historischen Rahmen des Algerienkriegs hinaus.163 Das epische Motiv der Suche und die mütterliche Liebe als großes Thema der Menschheit schreiben ihn in einen universelleren Kontext ein. Die Mutterfigur erfüllt dabei eine wichtige Funktion: Sie erweckt durch ihre rührende und naive Art die Gemüter der Zuschauer, ruft Empathie hervor und bringt das Thema auf eine emotionale Ebene. Dies ermöglicht eine größere Tragweite des Films bzw. ein weiteres Publikumsinteresse. Zudem umgeht der Film damit politische Aspekte und inneralgerische Problematiken. Mögliche Auseinandersetzungen mit politischen Fragen werden in den Schatten gestellt und weichen einer Hommage an die Willensstärke der Nation im Entstehen.

1.3. Bestärkung nationaler Einheitsdiskurse im Staatskino In diesem dritten Analyseteil mit Blick auf das cinéma moudjahid sollen Filme betrachtet werden, die exemplarisch für das seit Ende der 1960er Jahre verstaatlichte algerische Kino stehen und sich ebenso wie die Beispiele der vorigen Analyseabschnitte dem noch bis in die 1970er Jahre hinein dominierenden Thema des Unabhängigkeitskriegs widmen. Die in dem hier fokussierten Zeitraum entstandenen Filme erzählen überwiegend Geschichten des Widerstands auf dem Land und zeigen entweder Entwicklungen, die zum bewaffneten Aufstand hinführen (Chronique des années de braise, Les Hors-­la-loi, La Nuit a peur du soleil), oder konzentrieren sich in ihrer Diegese auf Handlungen während des Kriegs (Patrouille à l’est, L’Opium et le bâton). Ästhetische Aspekte der im ersten Teil diskutierten Filme, wie z. B. der Rekurs auf dokumentarisierende Darstellungsweisen, schreiben sich hier weiter fort. Teilweise wird dokumentarisches Archivmaterial eingesetzt. Dies gilt z. B. für die Filme Zone interdite (Lallem, 1972) und Chronique des années de braise (Lakhdar Hamina, 1975), die beide die gleichen Bilddokumente über die Massaker vom Mai 1945 verwenden.164 Es zeigt sich also weiterhin ein Bedürfnis nach authentifizierenden Darlegungen der eigenen Geschichte, wobei ebenfalls autobiographische Erlebnisse der Regisseure mit in die Erzählungen hineinwirken.165 163 Der Bezugsrahmen zum Freiheitskampf wird in der Einführungssequenz hergestellt, die das organisierte Netzwerk der Maquisards in einer Grotte der Untergrundkämpfer zeigt. 164 Dieses einschneidende Ereignis in der franko-­algerischen Geschichte fand außer in diesen Filmen – und dort auch nur unkommentiert – lange keine Erwähnung. 165 Das Thema der Autobiographie kann hier nicht ausgeführt werden und steht auch nicht im Fokus. Die Untersuchung autobiographischer Erzählungen im algerischen Kino wäre Stoff für eine weitere Arbeit.

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Die Auseinandersetzung mit den historischen Ereignissen bleibt neben einigen Darstellungen von Kampfhandlungen insgesamt oft bei einer allgemeineren Inszenierung des Aufbegehrens gegen die koloniale Unterdrückung. Wie unterschiedlich die Visualisierung von Gewalt ausfällt, wird bereits in den oben behandelten Filmen La Bataille d’Alger und Le Vent des Aurès deutlich. Während Ersterer Folter, physische Gewalt und den offenen urbanen Kampf bewegend, aber nicht voyeuristisch zeigt, tritt im zweiten die psychische und symbolische Komponente der Freiheitsberaubung in den Vordergrund. In der Periode des Staatskinos avanciert der Freiheitskampf weiter zum Symbol der propagierten nationalen Einheit. Dennoch finden sich auch Filme, die sich speziellen Aspekten des Kriegs widmen, wie z. B. La Voie (Slim Riad, 1968), der von Erfahrungen im Internierungslager erzählt, Sueur noire (Sid Ali Mazif, 1971), der als einziger die Arbeiterbewegung als Komponente des entstehenden Widerstands aufgreift, oder Décembre (Lakhdar Hamina, 1972), der sich mit dem Thema der Folter beschäftigt. Décembre bildet eine Ausnahme, indem er der Perspektive und den Gewissenskonflikten eines französischen Fallschirmjägers Raum gewährt (vgl. Berrah 1997: 175). Die folgenden Beispiele tendieren eher zu überhöhten Darstellungen von Märtyrern und bemühen sich weniger um eine faktenreiche oder analytische Auseinandersetzung. Im Umfeld der dominanten Diskurse und Denkrichtungen rekurrieren die Filme auf politische und kulturelle Konzeptionen, die sich in dem FLN-­Leitsatz der unicité kristallisieren. Die damit verbundene Differenzen nivellierende Ausrichtung der Filme ist angesichts der Thematik sowie des verstaatlichten Produktionsprozesses nicht verwunderlich: „Würde eine nationale Mythologie die individuellen und die kollektiven Identitäten der Menschen hinterfragen, verwischen oder dekonstruieren anstatt sie zu festigen und zu reaffirmieren, würde sie ihren Hauptzweck ganz eindeutig verfehlen“ (Weidinger 2006: 15). Entsprechend werden partielle gruppenspezifische Probleme oder Erinnerungen ausgeblendet und sind in den Filmen des Staatskinos auch wenig zu erwarten. Dieses scheinbar evidente Phänomen wird hier zu einer zentralen Untersuchungsfrage, die die homogenisierenden Mechanismen aufzudecken sucht. Im Folgenden werden neben den bereits herausgestellten und weiterhin bedeutenden Merkmalen des ersten Teils symptomatische Charakteristika des Staatskinos aufgezeigt. Das Interesse gilt vor allem Heldeninszenierungen sowie Aussparungen kultureller und politischer Differenzen, die zusammenfassend und anhand einiger Beispiele illustriert werden.

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1.3.1. Helden- und Genremuster in Les Hors-­la-loi Bleibt das Kollektiv lange Zeit zentral und erfährt erneut Bedeutung in Filmen mit sozialistischer Ausrichtung (siehe IV.1.3.2.), bilden ebenso heldenhafte Kämpfer und Märtyrer ein wesentliches Muster für das frühe algerische Kino. Als Repräsentant der Nation steht in den Filmen zum Freiheitskampf der selbstlose und unfehlbare moudjahid im Fokus, der für die Gemeinschaft eintritt. Das Schicksal und die Stärke der Algerier werden anhand einer stilisierten Heldenfigur oder einer kleinen Gruppe von heroischen Protagonisten hervorgehoben.166 Dazu wird auf literarisch und filmisch international etablierte Topoi der Heldendarstellung (wie Stärke, Mut, Tugenden, Männlichkeit) rekurriert, aber auch in den eigenen kulturellen und politischen Kontext übersetzt. Die Figuren werden folglich wenig individualisiert; sie entsprechen einem festen Schema, das den idealen Freiheitskämpfer beschreibt und als Identitätsvorlage dient: Der algerische Mudjahid, der aus den Jahren der Kolonialisierung als Held hervorgeht, bildet den Prototypen des post-­kolonialen Algeriers und muss in erster Linie als eine Projektionsfläche der angeschlagenen nationalen Identität betrachtet werden. Er suggeriert durch seine unpersönliche allgemeingültige Gestaltung die Existenz einer in sich geschlossenen Nation, die keine sprachlichen, ethnischen oder sozialen Unterschiede kennt, und sich im Angesicht eines fremden Aggressors wie ‚ein Mann’ zum Widerstand formiert (Shafik 1996: 235).

Schablonenhaft entworfen, stellt die Heldenfigur so ein Mittel zur Bestätigung des einheitlichen Kollektivs dar, verkörpert sie doch dessen Mut und Durchhaltevermögen sowie die kollektiven Anstrengungen der Algerier auf dem Weg zur nationalen Befreiung. Es finden sich demnach kaum individuelle Aushandlungen von Positionen, persönlichen Meinungen oder gar Zweifel der Figuren. Emotionale Regungen sind zwar sichtbar, sie sind aber meist direkte Reaktionen auf äußere Einflüsse; in Verbindung mit dem Erlittenem und dem Ziel der Befreiung spiegeln sie allgemeine Gefühlslagen und lassen weniger in das Innere der Figur schauen. So schreibt Berrah in Bezug auf die Heldenfiguren des cinéma moudjahid: Ainsi les personnages des films de guerre, l’ennemi excepté, ne parlent jamais d’eux mais d’autres, ils n’appartiennent pas à une histoire singulière mais au destin collectif, ils sont mal à l’aise dans un corps maintenu sur la défensive, ils n’ont pas d’émotions, seulement des certitudes, ils ne jouent pas un dialogue mais un discours, ils ne regardent

166 Patrouille à l’est (Laskri, 1972) verfolgt den Kampf einer Grenztruppe der ALN; Zone interdite (Lallem, 1972) zeichnet die Entwicklung des Widerstands nach und mischt dokumentarisches Material in die Fiktion.

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pas, ils sont tout vus. […] C’est que le petit homme, unique, différent, particulier, a du mal à naître de l’autoritarisme et de la constante nationale, occupés à gommer l’individu (Berrah 1997: 180 f.).

Den funktional eingesetzten Helden wird so wenig eigene Entfaltung zugestanden. Die Umsetzung subjektiver Positionen wird durch den politisch-­kulturellen Kontext sowie Kontrollorgane verhindert, die es den Filmen erschweren, eine imaginäre Realität zu schaffen: „Chargés de le réconcilier avec une image de soi, contre l’image coloniale, les films de guerre, en proposant une invraisembla­ble réalité, vont la lui rendre inimaginable“ (ebd.). Erst allmählich, im Laufe der 1970er Jahre, treten Protagonisten und Antihelden auf, die individueller gestaltet sind und teils im Konflikt mit dem Kollektiv stehen (siehe IV.2.). Stilistisch gesehen sind die Filme trotz ihrer national bestimmten Botschaft in einem transnationalen Feld verortet; Einflüsse des sowjetischen Revolutionskinos der 1920er Jahre sind ebenso zu finden wie Hollywood-­orientierte Monumentalfilme. Einige bedeutende Produktionen dieser Phase greifen deutlich auf kommerzialisierte Hollywood-­Muster (große Budgets, Materialschlachten, Action) zurück, um so ihre Reichweite und Beliebtheit beim Publikum zu steigern. Hier zeigt sich eine Widersprüchlichkeit des Staatskinos, das trotz geringer Kommer­zialisierung doch von der wirtschaftlichen Rentabilität der Filme abhängig ist und damit auch auf Erfolgskonzepte setzt, die der politischen Ausrichtung widerstreben. Als eines der (damals) bedeutendsten Kinos der „Dritten Welt“ rekurriert es zugleich auf einen aus der Perspektive ehemals kolonisierter Länder als ‚imperialistisch‘ aufgefassten Kulturkontext, indem es sich zumindest teilweise an hegemoniale Strategien anpasst. Beispielhaft für dieses Phänomen sind die Filme L’Opium et le bâton (Ahmed Rachedi, 1970) und Chronique des années de braise (Lakhdar Hamina, 1975), die allein schon durch ihren Produktionsaufwand die üblichen Konturen des algerischen Kinos sprengten. L’Opium erzielte tatsächlich einen der damals größten Publikumserfolge in Algerien (vgl. Megherbi 1985: 117). Chronique gewann als erster arabischer und afrikanischer Film 1975 die „Goldene Palme“ in Cannes. Mit dieser Auszeichnung übertraf er seinerzeit sogar die populären ägyptischen Filme. Offiziell zu Ehren des algerischen Widerstands produziert, erhielt er ein für algerische Verhältnisse enormes Budget, das dem Etat der gesamten Kinoproduktion für ca. drei Jahre entsprach (vgl. Armes 2005:  97). Die Erfolge der Filme sprechen für ihre publikums­ wirksamen Strategien. Ein Beispiel für einen deutlichen Genrebezug mit Blick nach Hollywood ist Les Hors-­la-loi (1968) von Tewfik Farès, der unter anderem zusammen mit Lakhdar Hamina das Drehbuch für Le Vent des Aurès geschrieben hat. Les Hors-­la-loi ori138

entiert sich in Plotstruktur, Figuren und Bildreferenzen an Mustern des amerikanischen Western und gilt quasi als der einzige „algerische Western“ (vgl. Brahimi 2009; Armes 2005; Megherbi 1985), auch wenn z. B. genretypische Raumkon­struk­ tionen durchaus vom cinéma moudjahid adaptiert werden. Dass der Western167 in weiteren konkreten Referenzen trotz seiner hohen Affinität zu Helden- und Gründungsmythen für die Inszenierung der algerischen Geschichte kaum genutzt wurde, lässt sich auf verschiedene Weise erklären. Der Western im Sinne eines „white-­conquest“-Genres, wie ihn Weidinger beschreibt (Weidinger 2006: 15), ist insofern ungeeignet für die Erzählung des Freiheitskampfes, als sich die amerikanischen Gründungsmythen doch auf zwei Schwerpunkte konzentrieren: „um Staatswerdung bzw. ‚Zivilisierung‘ (Amerikanisierung) des weiten, vermeintlich unberührten, und aus weißer Sicht unzivilisierten Kontinents einerseits und um Männlichkeit, um den Mann als Heldenfigur und ikonographischen Mittelpunkt andererseits“ (ebd.). Ist letzterer Aspekt kompatibel mit den patriarchalen Gesellschaftsstrukturen und dem männlich dominierten Kino, steht ersterer durch den Fokus der Siedlerperspektive einer algerischen Selbstdarstellung und antikolonialen Botschaft diametral entgegen. Auch die im Western angelegten Grundwerte von Liberalismus und Individualismus168 finden hier keinen Anklang, da sie mit islamischen Vorstellungen des Kollektivs, dem Gemeinschaftsbesitz ebenso wie mit sozialistisch orientierten Werten des außerfilmischen Kontextes kollidieren. Les Hors-­la-loi bleibt mit seinem deutlichen Genrebezug – durch seine schießbegabten Helden zu Pferde, den Kampf aus Rache, die teilweise musikalischen Referenzen sowie seinen actionreichen Show-­down – eine Ausnahme. Er zeigt zugleich, wie doch eine mögliche ‚Umschreibung‘ des Western bzw. die Nutzung formaler Mittel für den eigenen kulturell-­politischen Kontext aussehen kann und sich in das cinéma moudjahid einfügt. Im Zentrum des Films stehen drei Gesetzlose, im französischen Sprachgebrauch sogenannte hors-­la-loi169, die aus dem Gefängnis ausbrechen und für Gerechtigkeit sorgen. Die Protagonisten Slimane (Sid Ahmed Agoumi), Moh (Cheikh Nourredine) und Ali (Mohamed Chouikh) 167 Der Western an sich differenziert sich in verschiedene Subkategorien, er wird hier allgemeiner gefasst, vor allem mit Blick auf Gründungsmythen der Besiedlung Amerikas, die als eine Eroberung der ‚Wildnis‘ erzählt wird. 168 Weidinger nennt hier den Schutz des privaten Eigentums sowie liberalistische Traditionen, die die Menschen als ichbezogen und wettbewerbsorientiert definieren (vgl. ebd.: 41–49). 169 Französische Bezeichnung für selbsternannte Ordnungshüter bzw. Aufständische, die für ihr eigenes Recht kämpften. Die „Gesetzlosen“ weisen auch in ihrem Titel eine Nähe zu Westernfilmen auf.

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kämpfen gegen die Kolonialmacht und Kollaborateure wie den Kaid (lokaler Chef und Steuereintreiber). Alle drei wurden sie durch Verleumdung und auf Basis der kolonialen Rechtssprechung festgenommen. Slimane, ein Deserteur der französischen Armee, wurde vom Kaid verraten, den er nach seinem Ausbruch aus dem Gefängnis erschießt. Am Ende steht er den Söhnen des Kaids gegenüber; der Protagonist kämpft in einem spektakulären Show-­down gegen seine Widersacher und wird dabei durch seine Verbündeten unterstützt, die trotz seines zunächst waghalsigen Alleingangs Treue beweisen. Der gemeinsame Kampf der Helden für Gerechtigkeit und aus Rache bildet die Basis der Narration. Diese findet ihre Referenzen sowohl im Racheplot des Western als auch im männlichen Ehrencode (nif) der lokalen Kultur verankert, die eine hybride Erzählform des Films erzeugen (vgl. Austin 2012: 54). In seiner erzählten Zeit setzt der Film die Geschichte des Freiheitskampfes vor der Führung durch die FLN an und konzentriert sich mehr als andere Werke auf individuelle Motive der Helden. Dieser Entwurf der Geschichte steht dennoch nicht den offiziellen Narrationen entgegen, sondern deutet auf die lange Tradition des Widerstands in der Bevölkerung. Er ermöglicht eine Verbindung zum politisch verbreiteten Slogan: „un seul héro, le peuple“. Zudem wird durch den Cameo-­Auftritt Brahim Haggiags (alias Ali la Pointe in La Bataille d’Alger), auf dessen Pferdewagen Slimane in der Einführungssequenz aufspringt, ein Bezug zu den moudjahidin hergestellt (vgl. ebd.: 52). Ein Merkmal, das Les Hors-­la-loi im Kontext des cinéma moudjahid widerum besonders macht und in die Nähe Hollywoods rückt, findet sich in seinem Schluss: Im Gegensatz zu fast allen anderen damaligen algerischen Filmen, in denen die Helden einen Opfertod finden, schließt Les Hors-­la-loi (im Show-­down) mit einem triumphalen, siegreichen Ende seiner Helden über die Widersacher und damit quasi mit einem „Happy Ending“. Die meisten Werke zeigen hingegen den tragischen Weg des Kampfes auf und stellen den Zusammenhalt und die Stärke des Kollektivs heraus, indem das Opfer des Einzelnen (Tod des Helden) für die Gemeinschaft wertgeschätzt wird. Bestimmend für die typische Dramaturgie der algerischen Geschichtserzählung sind vor allem die Anstrengungen, die Verluste, der Schmerz und das erfahrene Leid der Nation, die deren ‚Größe‘ bestätigen. Dies sind durchaus allgemeine Muster nationaler Erzählungen.170 Dennoch wird in den algerischen Filmen auffällig selten ein Sieg bzw. konkret das Erreichen der Unabhängigkeit inszeniert. Dies hängt womöglich auch damit zusammen, dass Letztere über politische Verhandlungen erlangt wurde, deren damalige Köpfe von der Militärregierung ver170 Siehe hierzu Rother 1998.

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leugnet werden. Dem politischen Diskurs und der Vorrangstellung des Kollektiven entsprechend, erscheinen deshalb auch in den Filmen kaum einzelne historische Personen im Licht, die unter anderen Umständen für die Filmproduktion emblematische Figuren des Widerstands hätten sein können.171 Anders als z. B. im ägyptischen Film wird ebenso wenig auf eine weiter zurückliegende Zeit rekurriert, da sich kein ‚goldenes Zeitalter‘ als Vorgänger der gegenwärtigen Nation hierzu anbietet. Berücksichtigte man die weitere Vergangenheit und den frühen Widerstand gegen die Kolonialmacht, müsste man den Berbern einen gebührenden Platz in der Geschichte einräumen. Die Filme des cinéma moudjahid spielen deshalb vorwiegend im Befreiungskampf oder an der Schwelle zum bewaffneten Widerstand der FLN. Der Freiheitskampf bleibt als Symbol der nationalen Stärke an erster Stelle, repräsentiert durch den generalisierbaren Helden und Märtyrer, der schablonenhaft zugleich Volk und FLN verkörpern kann und politisch gesehen nur von Vorteil ist.

1.3.2. Kulturelle Exklusionen in L’Opium et le bâton Anhand des Films L’Opium et le bâton soll nun skizzenhaft die homogenisierende Ausrichtung dieser Periode des algerischen Kinos mit Blick auf die sprachlich-­ kulturellen Exklusionen aufgezeigt werden. Während Ahmed Rachedi noch in seinem Dokumentarfilm L’Aube des damnés (1965) das Unheil und die Auswirkungen des Kolonialismus in ganz Afrika analysiert, stimmt er mit seinem ersten Fiktionsfilm L’Opium et le bâton (1970) in den nationalen Diskurs der Heldengeschichten ein. Der Film gründet sich auf die Vorlage des gleichnamigen Romans von Mouloud Mammeri172; er ist in seiner filmhistorischen Bedeutung und seinen charakteristischen Zügen zugleich beispielhaft für das Staatskino.173

171 Auch dem Emir Abdelkader wird erst in jüngster Zeit ein großer Spielfilm gewidmet, aktuell in Produktion unter dem Regisseur Charles Burnett. 172 Mammeri ist eine der frühen literarischen Größen Algeriens (siehe IV.3.2.); sein Roman ist auf Französisch erschienen. Das Thema der Literaturadaption kann hier nicht eingehend diskutiert werden. Von Interesse sind lediglich die möglichen Bedeutungen von auffälligen Veränderungen im Vergleich zum Roman und deren Rückkopplung an den gesellschaftspolitischen Kontext. Ein Vergleich zwischen der Verhandlung von Geschichte in Literatur und Film wäre ein interessanter Untersuchungsgegenstand für eine weitere Arbeit. 173 Seine Bedeutung im nationalen filmischen Kanon bestätigt sich unter anderen darin, dass er 2013 im Rahmen der Feiern des 5. Juli in Oran vorgeführt wurde und dort vom Publikum mit dem Gesang der Nationalhymne und youyou-­Rufen emotional begleitet wurde, vgl. http://www.lexpressiondz.com/culture/176992-le-­film-l-­opiumet-­le-baton-­remue-le-­couteau-dans-­la-plaie.html.

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Im Zentrum des Films stehen der Arzt Bashir, der in sein Heimatdorf in der Kabylei zurückkehrt und sich den moudjahidin anschließt, ebenso wie sein Bruder Ali, der bereits im Maquis ist. Die Filmhandlung verfolgt den blutigen Kampf und die zunehmend harten Maßnahmen der französischen Armee: Gewalt gegen die Dorfbewohner, Herauswerfen von Gefangenen aus einem Hubschrauber sowie die Zerstörung der jahrhundertealten familiären Olivenbäume, die die Entwurzelung der Algerier symbolisiert. Ein französischer Deserteur hilft Ali zwischenzeitlich zu überleben. Alis Dorf wird letztlich aber zerstört und die Bewohner werden vertrieben, nachdem er vor den Augen seiner Familie und der Dorfgemeinschaft durch französische Soldaten hingerichtet wurde. Der Film zeigt intensiver als andere Werke dieser Phase die Kampfhandlungen zwischen der französischen Armee und den algerischen moudjahidin. In der Sekundärliteratur gilt er als beispielhaft dafür, wie der nationale Heroismus die Oberhand gewinnt und eine komplexere Ausgestaltung zurückdrängt. Die fehlende Tiefe der Charaktere wird Shafik zufolge mit realistischen Mitteln (detailreiche Darstellung der Lebensweisen der autochthonen Bevölkerung sowie Originalschauplätze) ausgeglichen, mit der der Film versuche, einen wirklichkeitsgetreuen Duktus in Szene zu setzen und über die Künstlichkeit der Helden hinwegzutäuschen (vgl. Shafik 1996: 235). Der Film oszilliert nach Brahimi „entre une fidélité très relative au romancier dont l’inspiration se trouve déformée, et un regard sur la guerre dont il est parfois difficile de dégager la signification“ (Brahimi 2009: 10). Anders als die Romanvorlage gibt er sich einer von Kritik oder tabuisierten Themen ‚glattgebügelten‘ Präsentation hin: „En fait, Ahmed Rachedi s’est trouvé pris entre les données d’un roman très personnel, cruellement lucide parfois, ou parfois érotique et libertaire, et l’idéologie dominante, voire unique, qui impliquait alors une vision des événements sensi­ blement idéalisée“ (ebd.: 23). Die Veränderungen der literarischen Grundlage zugunsten publikumswirksamer Erzählweisen und actionreicher Muster führen Armes zufolge zu einem Überspielen der im Roman angelegten Ambivalenzen (die sich an der Figur des Arztes zeigen): „The effect is to simplify a complex novel, omitting ‚the anguish, the contradictions and the lucid though desperate commitment of an Algerian intellectual to the war‘ “ (Armes 2006: 74). Die Sprachenwahl des Films entspricht der offiziellen politischen Linie und deren Konzeption der algerischen Nation als arabisch-­islamisch, und so sprechen die Bewohner des kabylischen Dorfes in der Diegese Arabisch. Die Politisierung der Sprache174 kommt hier sowie z. B. auch in Le Vent des Aurès und Les Hors-­la-loi 174 Vgl. zur politischen Bedeutung der Sprache Bensmaïa 1982, zur Problematik der Sprachenwahl in der Literatur Bensmaïa 2003. Während sich in Algerien eine au-

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zum Tragen und zeigt, wie die von der Regierung intendierte kulturelle Vereinheitlichung und Arabisierung in die Filmproduktion hineinwirkt. In diesem Sinne unterschlägt der Film auch die Zerrissenheit des Romanhelden, der als europäisierter Intellektueller und Kabyle ein nationales Bewusstsein entwickelt. Er umgeht die Frage der Berber, indem er die nationale Identitätsfindung geradlinig als arabisch definiert. Ähnlich wie andere Filme ermöglicht L’Opium ebenfalls kaum einen Spielraum für die Auseinandersetzung mit der Religionszugehörigkeit und lässt die Verbindung zwischen Islam und algerischer Nation selbstverständlich erscheinen. Der Islam gilt in vielen Filmen als Referenzrahmen und implizit als einzige anerkannte Religion. Zum einen tritt er in der Verortung und Beschreibung der Lebensweisen und Alltagskultur auf, zum anderen auch als Unterscheidungsmerkmal zu den Kolonisatoren, womit die von Letzteren aufgestellte Diskriminierungslinie gespiegelt wird. Laut Shafik besteht in L’Opium „der wesentliche (und wie es scheint der einzige) Unterschied zwischen einem Algerier und einem Franzosen in der Religionszugehörigkeit“.175 In L’Opium und auch in Chronique wird ebenso in einigen Szenen gezeigt, wie die einigende Kraft des Glaubens die Mobilisierung gegen den Kolonisator vorantreibt. Entsprechend der tatsächlichen Verankerung des Islam in der außerfilmischen Realität sind die Referenzen in den Filmen nachvollziehbar. Religiöse Feste ebenso wie andere kollektive Rituale sind in die kulturellen Ausdrucksformen im Maghreb integriert (vgl. Brahimi 2009: 15). Als Teil der gelebten Kultur und in Verbindung mit anderen (vorislamischen) Traditionen und Strukturen ist der Islam in den Filmen präsent, erhält jedoch keinen exponierten Platz. Er ist vielmehr als eine Komponente des Ganzen zu sehen und erfährt Bedeutung im Zusammenhang mit der Vorstellung des Kollektivs und der Revalorisierung der eigenen Kultur. tochthone Literatur in französischer Sprache entwickelt hat, die ihren Widerstand in der Sprache des Kolonisators ausdrückt, sind die frühen Filme alle auf Arabisch gedreht. Der Rückgriff auf das Französische in der Literatur begründet sich durch den Bildungsweg der Autoren und die Rezeptionsmöglichkeiten (der eigene Dialekt ist eine mündliche Sprache und das schriftliche Arabisch wird aufgrund der französischen Schulbildung selten beherrscht). Im Film, wo hingegen die Möglichkeit des ‚authentischen‘ mündlichen Ausdrucks im eigenen Dialekt besteht, wird dennoch das Berberische ausgeblendet. 175 „Der Widerstandskämpfer Ali bekommt von einem französischen Deserteur ein Stück Fleisch angeboten. Trotz seines Hungers lehnt er es mit der Bemerkung ab, daß der Verzehr von Schweinefleisch in seiner Religion als Sünde betrachtet würde. Auch die Beteuerung des Franzosen, daß es sich um Rindfleisch handle, können Ali nicht umstimmen“ (Shafik 1996: 233).

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Cependant, même dans la représentation de tels rituels, le spectateur a l’impression qu’il s’agit moins de religion que de pratiques archaïques dont l’origine au Maghreb est bien plus ancienne que l’arrivée des Arabes islamisés. Dans ces conditions, le véritable sujet des cinéastes (celui qui fonde leur originalité) n’est pas tout à fait l’islam, mais plutôt la représentation de la vie collective et de son organisation sur un modèle islamique (ebd.: 16 f.).

Anzumerken ist dennoch, dass der nationale Diskurs wenig Optionen für andere Religionen offen lässt und diese in der staatlichen Kinoproduktion konsequenterweise nicht auftreten (können), obwohl doch verschiedene religiöse Minderheiten in Algerien existieren und teilweise, wie z. B. die sephardischen Juden, seit Jahrhunderten dort verwurzelt sind. Ähnlich der kulturellen Vereinheitlichung fallen in L’Opium et le bâton sowie in anderen Filmen nicht nur identitäre Differenzen, sondern auch konkrete historische Aspekte hinter einen Heldenmythos im Vordergrund zurück: „le côté spécifiquement politique des situations, du contexte, est invariablement estompé, escamoté“ (Megherbi 1985: 117). Die teilweise universal wirkenden Elemente oder symbolischen Züge der Darstellungsweisen tragen zur Konstruktion eines einheitlichen und stabilen Selbstbildes bei. Die folgende Analyse gibt abschließend einen Einblick in einen Film, der mit seiner Geschichtsnarration, seinem Heldenentwurf und seinen politischen Aussparungen exemplarisch für derartige Inszenierungsweisen des Staatskinos steht.

1.3.3. Politische Auslassungen in Chronique des années de braise Chronique des années de braise (1975) stellt mit seinem Erfolg in Cannes gewissermaßen die Spitze des nationalen algerischen Kinos dar. Lakhdar Haminas Film wurde zum 20. Jahrestag des offiziellen Beginns des Freiheitskampfes produziert und war insofern eine Arbeit zu Ehren des algerischen Widerstands, die zum feierlichen Anlass vor verschiedenen geladenen Staatshäuptern vorgeführt wurde (vgl. Armes 2005: 97). Ausländische Techniker und Mitarbeiter waren an dem Filmprojekt beteiligt, das besonders von französischer Seite Unterstützung fand.176 Das historische Epos Chronique des années de braise zeichnet entscheidende Etappen zwischen dem Zweiten Weltkrieg bis zum Ausbruch des bewaffneten Aufstandes in Algerien im November 1954 nach. Ähnlich wie in Le Vent des Aurès wird das Schicksal der Landbevölkerung aufgegriffen, wobei der Held Ahmed stellvertretend für die Algerier verschiedene Momente des Kolonialismus 176 Der französische Komponist Philippe Arthuys, der bereits für Le Vent des Aurès die Filmmusik kreierte, komponierte auch für Chronique die experimentell anmutende Musik.

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durchlebt, die auf den Widerstand zulaufen.177 Hier steht also, im Gegensatz zu Le Vent des Aurès, ein männlicher Protagonist im Fokus, der sich zum Kämpfer der ersten Stunde des Freiheitskampfes entwickelt. Der dramaturgische Aufbau der Filmhandlung führt dabei zielgerichtet zu diesem Höhepunkt. In dem von Dürre geplagten Dorf des Protagonisten Ahmed (Jorgo Vayagis) streiten die Einwohner der benachbarten Uferseiten um das wenige Wasser im fast ausgetrockneten Flussbett. Die ausweglose Situation treibt letztlich auch den Schäfer Ahmed zur Landflucht. In der nächstgelegenen Kleinstadt, in die bereits sein Cousin ausgewandert ist, erfährt Ahmed die diskriminierenden Mechanismen des Kolonialsystems am eigenen Leibe. Neben den unmenschlichen Arbeitsbedingungen für die Kolonisierten sind diese einer Typhusepidemie schutzlos ausgesetzt, während die europäischen Siedler evakuiert werden. Von Ahmeds Familie überleben nur er selbst und das jüngste Kleinkind. Zurück in seinem Dorf werden die Missstände dort sichtbarer. Die Männer arbeiten nun für einen colon und sind der unbarmherzigen Autorität des Kaids ausgeliefert. Bei einem erneuten Streit um Wasser vereint Ahmed die rivalisierenden Gruppen zu einer Auflehnung gegen die Herrschenden. Daraufhin werden er und seine Mitstreiter für den Krieg Frankreichs gegen das Dritte Reich zwangsrekrutiert. Nach der Rückkehr in sein zerstörtes Dorf zieht Ahmed wieder in die Stadt und arbeitet in einer Schmiede. Er wird zu einem der Hauptaktivisten, die mit Hilfe des politisch erfahrenen Larbi den algerischen Widerstand aufbauen. Bei einer friedlichen Demonstration gegen die bevorstehenden ungleichen Wahlen eröffnen Regierungsgetreue das Feuer. Ahmed, der wie ein erfahrener Krieger zu Pferde kämpft, wird zusammen mit den anderen Aktivisten gefangengenommen. Die Männer können flüchten und ziehen sich in den Untergrund zurück, wo Ahmed zum Märtyrer wird. Die teleologische Ausrichtung auf den algerischen Widerstand wird in der Struktur des Films angelegt, die sich in sieben Episoden gliedert: Les années de cendre; Les années de la charrette; Les années de la braise; L’année de la charge; Les années du feu; Le 1 novembre 1954; Le 11 novembre 1954. Der repetitive Gebrauch des Begriffs „Jahre“178 in den einzelnen Betitelungen verweist auf die lange Dauer (ca. 1939 bis 1954), über die sich die Filmhandlung erstreckt, und schafft eine narrative Kohärenz der Abschnitte. Ebenso deutet das Wort „Chronique“ des Filmti177 Der Marsch des Volkes in Richtung Widerstand wird in Chronique insgesamt heroischer dargestellt als in Le Vent des Aurès, da der kollektive Kampf der Männer im Vordergrund steht, im Gegensatz zu dem eher rührenden Schicksal der Mutter in Vent (vgl. Brahimi 2009: 25). 178 Die arabischen Titel beinhalten ebenso wie die Übersetzung das Wort „Jahre“.

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tels auf die lineare Anordnung der erzählten Zeit in den verschiedenen Etappen. Die teils in epischer Länge erzählten Episoden unterstreichen auf struktureller Ebene den langen Prozess der Herausbildung des Widerstands und begründen dessen gewachsene Notwendigkeit. Die anschließenden Analyseabschnitte verfolgen nun mit Fokus auf die Handlungs- und Figurenebene, wie der Film diese bedeutende Phase der algerischen Geschichte entwirft und welche historisch-­ politischen Bezüge hierbei aufgegriffen oder ausgespart werden.

Repräsentationen der kolonialen Unterdrückung und der politischen Bewusstwerdung Die ersten Episoden, die mehr als die Hälfte der Erzählzeit des Films einnehmen, konzentrieren sich nicht, wie man angesichts der Widerstandsthematik erwarten könnte, auf das Unrecht des Kolonialsystems, sondern sind der Naturgewalt gewidmet. Im Vordergrund steht die algerische Landbevölkerung in ihrem naturverbundenen und -abhängigen Leben. Das Intro des Films setzt bereits diesen Fokus, indem die Trockenheit als Auslöser für das Leid der Bauern inszeniert wird. Vier kurze Sequenzen zeigen, wie verschiedene Einwohner aufgrund ihrer Existenzprobleme wütend das Dorf des Protagonisten verlassen. Die dahinterstehenden Ursachen, die in der kolonialen Realität zu finden sind – z. B. die Beschlagnahmung der fruchtbaren Böden durch colons – finden hier noch keine direkte Erwähnung. Frankreich wird sogar von einigen Figuren als Retter aus der ausweglosen Lage gesehen, schreibt sich doch einer der Flüchtigen in der Hoffnung auf ein besseres Leben demonstrativ in die Armee ein. Die geringe aktive Darstellung der Kolonialmacht, die im gesamten Film zu beobachten ist, wird hier angelegt. In den folgenden Sequenzen wird die Konzentration auf die Natur visuell und auf der Handlungsebene fortgeführt. Die Wallfahrt zum Marabout179, die in einem Ritual zum Herbeirufen des Regens mündet, zeigt die Abhängigkeit der Landbevölkerung von der Natur ebenso wie deren Rückzug auf religiös-­magische Rituale und ihren Glauben als einzige Hoffnung. Visuell wird die Trockenheit durch Bilder unterstrichen, die vom Hitzedunst verschwommen nur Silhouetten erkennen lassen und die Figuren in einer ein179 Aus dem Hitzedunst erscheinen die Dorfbewohner in einem rituellen Zug zum Marabout, von lokalen Autoritäten zu Pferde sowie von Fahnen und diegetischer Musik begleitet. Die mythische Beschwörung des Regens wird am Anfang der Episode Les années de cendre fortgeführt. In Nahaufnahmen fängt die Kamera das Ritual fast dokumentarisch ein, fährt an Tanzenden und Musizierenden langsam entlang, bezeugt in langen Einstellungen die Abläufe des Geschehens und hält in Nah- und Großaufnahmen das Kehle-­Durchschneiden eines Opfertieres fest.

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tönigen, porösen Landschaft darstellen. Besonders nachhaltig sind die Bilder in einer Sequenz, die Ahmed, eines seiner Kinder und seine verdurstenden Schafe im ‚Nichts‘, umgeben nur von farblich einheitlich beigem und trockenem Boden, zeigen. Während dieser Szenen, die an die von diegetischer und nicht-­diegetischer Musik begleitete Credit-­Sequenz anschließen, herrscht eine Stille, die die Leere der trockenen Wüstenregion zu reflektieren scheint. Zu Beginn der Episode Les années de cendre wird diese Szenerie wieder aufgenommen. Ahmeds Kind wacht weinend über die toten Schafe. Große Einstellungen auf die Gesichter im Wechsel, eine schrille Musik, die rhythmisch mit den verschiedenen Aufnahmen der Figuren alterniert und dann langsam verstummt, untermalen die Dramatik der Situation, bevor in der Totalen und dann in der Supertotalen das gesamte Ausmaß erfasst wird. Insgesamt kann die Konzentration auf Naturkatastrophen in den ersten Episoden des Films verwundern, wenn man die Intention des Films zur Würdigung des Freiheitskampfes berücksichtigt: „For a hymn to the necessity of armed struggle, Chronicle is strangely weighted in narrative terms“ (Armes 2005: 103). Durch den geringen direkten Bezug auf die Kolonialherrschaft entstehe laut Armes gar eine Art Geschichtslosigkeit: „Insofar as there are disputes over water, these are between rival groups of peasants on different sides of the riverbed: there are no social hierarchies here and no traces of French exploitation. This is in fact a world outside history“ (ebd.: 100). Der geschichtlich-­politische Kontext wird in der Tat hier noch nicht evoziert und auch insgesamt fallen konkrete historische Beschreibungen relativ gering aus, trotz der Einstreuung von Referenzen wie dem Zweiten Weltkrieg und den Massakern vom 8. Mai 1945 in Algerien. Der Kampf findet zunächst hauptsächlich unter den Kolonisierten statt, zwischen um Wasser rivalisierende Gruppen und zwischen den Bauern und der algerischen Elite, die als Komplizin der kolonialen Autorität fungiert. Repräsentiert wird Letztere auch in diesem Film vor allem durch ihre Bauten (Gouvernement, Kommissariat, Kirche) sowie durch anonyme Soldaten und Beamte. Die Konflikte in Chronique bewegen sich sogar überwiegend zwischen den Vertretern des Widerstands und den Kollaborateuren. Letztere demonstrieren ihre relative Macht gegenüber der kolonisierten Masse durch autoritäres Auftreten. Sie sind es, die im Gegensatz zu den Kolonisatoren immer wieder in wichtigeren Nebenrollen auftauchen und als Verräter repräsentiert werden. Der Kaid führt wie eine Marionette Befehle der Regierung aus, bestraft und quält z. B. Miloud, den er an ein Pferd gebunden über den Platz zieht. Die Hervorhebung der inneren, klassenbedingten Machtspiele, die das Unrecht der Kolonialmacht selbst teils überdecken, ist nun nicht nur auf den möglichen französischen Ein147

fluss im Rahmen des Produktionskontextes zurückzuführen. Sie steht vor allem mit dem zeitgenössischen Kontext der Agrarrevolution in Verbindung, in dem feudale Strukturen und Hierarchien der algerischen Gesellschaft in Frage gestellt werden (siehe das folgende Analysekapitel). Zudem ist es ein häufiges Merkmal der frühen algerischen Filme, den Kolonisator in den Hintergrund zu drängen und ihm wenig Raum zu verleihen. Zusammen mit kulturellen und politischen Hintergründen findet sich darin auch eine Erklärung für die Konzentration auf die Natur-(Katastrophen) des Films.180 Politische Differenzen innerhalb der nationalen Bewegung werden auf diese Weise übertönt (siehe unten), zudem liegt der Fokus so, ähnlich wie bei Le Vent des Aurès, auf der ländlichen Gemeinschaft und den eigenen Traditionen, die durch detaillierte, fast ethnographische Beschreibungen revalorisiert werden. Erst als Ahmed in die Stadt kommt, wird auch die französische Dominanz präsenter. Auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen macht der Protagonist dort Bekanntschaft mit der kolonialen Gesetzgebung. Er hört zum ersten Mal vom Militärdienst und spürt am eigenen Leibe die unmenschliche Unterdrückung der Kolonisierten. Das politische Bewusstsein in der Kleinstadt ist durch den direkten Einfluss und größeren Kontakt zum Kolonisator stärker entwickelt; Ahmed trifft hier auf Aktivisten wie Larbi (Larbi Zekkal). Auch das weltpolitische Geschehen dringt in die kleine Stadt hinein.181 Wird die ungerechte Segregation als Grundlage der kolonialen Gesellschaft allmählich im Laufe der Filmhandlung deutlich, so zeigt sie sich an einigen Stellen sehr anschaulich, vor allem in der Episode Les années de la charrette. Typhus erfasst die Stadt, per Notstandserlass wird die Evakuierung der europäischen Bevölkerung verordnet, die algerische Bevölkerung jedoch unter Quarantäne gestellt und ihrem Schicksal überlassen. Während der Kaid den Kolonisierten befiehlt, zu bleiben und sich mit Seife zu waschen, werden auf einem Militärwagen fröhliche Europäer wie zu einem Sonntagsausflug aus der Stadt herausgebracht. Die Masse

180 Der Kolonisator, „das Übel“, wird wie in anderen Werken verhältnismäßig wenig gezeigt, was sich daran anbinden lässt, dass traditionell wenig direkt vom Unheil gesprochen wird. Diese Art tabou du mal drückt sich auch literarisch aus, siehe z. B. Mouloud Feraouns Le fils du pauvre. 181 Während auf den öffentlichen Plätzen Mobilisierungsaufrufe zur Verteidigung Frankreichs gegen Hitler laut werden, nimmt Ahmed an einer heimlichen Versammlung teil, bei der die Männer begeistert Hitler im Radio zuhören (auf Arabisch) und auf einen Niedergang Frankreichs hoffen, ganz nach dem Prinzip „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“. Einer der Männer warnt jedoch, dass die Araber auch für Hitler nichts wert seien.

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der Algerier, die vor dem Tor der Stadt zusammengedrängt ist, wird kontrastiv zu den Europäern auf dem Wagen inszeniert, die mitten durch sie hindurchfahren. Im übertragenen Sinne kann dieses Bild so interpretiert werden, dass die Kolonisatoren die Algerier ohne Rücksicht einfach ‚überrollen‘. Es folgen Szenen, die das Massenleiden und -sterben der Algerier zeigen, in einer Geisterstadt, die nun vom Tode regiert wird. Am Ende dieser Episode wird die Segregation der Kolonialgesellschaft noch einmal visuell betont. Das Fahrzeug mit singenden Europäern, die heiter zurückkehren, kreuzt Ahmed, der mit seinem einzig überlebenden Kind auf dem Arm aus dem Stadttor hinausläuft. Eine weitere Gegenüberstellung, diesmal anhand dokumentarischer Elemente, unterstreicht ohne Worte das an den Algeriern verübte Unrecht. Es handelt sich um die Massaker von Sétif, Guelma und Kherrata im Mai 1945, dem größten Vergeltungsschlag Frankreichs gegen die zivile Bevölkerung der Algerier. Eine Montage von Archivmaterial stellt die Siegesfeier in Frankreich und die Verbrechen in Algerien gegenüber. In einer ersten Sequenz ist eine jubelnde Menschenmasse um den Triumphbogen zu sehen und ein Insert informiert: France 8 Mai 1945. Eine zweite Sequenz, die mit dem Insert Algérie 8 Mai 1945 eingeführt wird, zeigt Explosionen und Erschießungen sowie am Boden liegende Leichen in den Straßen (in der Totalen und in näheren Einstellungen). Das Archivmaterial wird unkommentiert eingeblendet und nicht weiter in die Erzählung eingebettet. Im Anschluss wird unmittelbar zur Diegese übergegangen, in der Ahmed in sein zerstörtes Dorf zurückkehrt und die Episode Die Jahre der Glut beginnt. Metaphorisch wird durch diesen Titel Bezug auf das wachsende nationale Bewusstsein genommen, das sich allmählich zu einem „Feuer“ (nächste Episode Les années du feu) entwickelt. Die Massaker 1945 trugen historisch entschieden dazu bei, den Graben zwischen den Bevölkerungsgruppen im kolonialen Algerien zu vergrößern. Dass sie im Film nur einen geringen Platz einnehmen, löste kontroverse Diskussionen aus. So kritisierte beispielsweise der algerische Philosoph Larechaf den fast nur allusiven Charakter dieser Szenen (vgl. Larechaf in Berrah 1997: 162). Es lässt sich tatsächlich fragen, warum dieses Ereignis, das auch innerhalb der Diegese für den aus dem Zweiten Weltkrieg zurückkehrenden Protagonisten von Bedeutung sein müsste, nur wenig dargestellt wird.182 Neben dem französischen Einfluss auf den Film könnte eine mögliche Begrenztheit des dokumentarischen Materials, das hierfür verwendet wurde, ein Grund sein. Die Entscheidung, Archivmaterial für diese Szenen einzusetzen, drückt wiederum den Willen des

182 Miloud spottet über Ahmeds Kriegsmedaillen; so wird in kleinen Andeutungen auf die Nicht-­Anerkennung der Algerier trotz ihres Einsatzes für Frankreich verwiesen.

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Bezeugens dieser Taten aus und deutet möglicherweise auch darauf, als wie undarstellbar diese Ereignisse empfunden werden.

Repräsentation des Freiheitskampfes und politische Aussparungen Ein Blick auf die Figuren soll die Perspektive der Geschichte des Widerstands weiter ergründen. Die zwei komplementär entworfenen Protagonisten Ahmed – ein Mann der Tat, der sich zum Aktivisten und Helden entwickelt – und Miloud – der weise Irre und Mann der Worte – sind Teil eines gleichen Kampfes, den sie auf verschiedenen Wegen beschreiten (vgl. Armes 2005: 104). Ahmed verlässt aus existenzieller Not sein Dorf und entwickelt sich durch den Kontakt mit der Stadt und der Figur Larbis zum Widerständler. Miloud hingegen ist eine Art treibende Kraft und ‚Seele‘ der Stadt. Zwar hat er keinen direkten Einfluss auf das Agieren anderer Figuren, er macht aber mit seinen ‚Predigten‘ einen Handlungsbedarf deutlich. Meist spricht Miloud zu den Toten auf dem Friedhof, deren ansteigende Zahl er prophezeit, was seine somit von anderen Figuren oft ungehörten Reden teils mit einer bitteren Ironie versieht und ihn zwischen Wahnsinn und Spiritualität erscheinen lässt. Während Ahmed kaum spricht, erfüllt Miloud mit seinen Reden eine wichtige Funktion, indem er dem Publikum zumindest eine grobe Orientierung in den gesellschaftspolitischen Kontext ermöglicht. Miloud übernimmt teilweise eine Art Erzählerrolle, in der er von seinem distanzierten Standpunkt aus die Geschichte kommentiert und strukturiert.183 Sein Sonderstatus wird durch die räumliche Verortung unterstrichen: Der ihm zugeordnete Platz des Friedhofshügels befindet sich außerhalb (und oberhalb) der Stadtmauer, von wo aus er wie ein Prophet seine Vorausdeutungen und scharfsinnigen Kommentare anstellt. In seiner Einzigartigkeit scheint Miloud auch in gewisser Weise abseits der Gesellschaft zu stehen. Er wird nicht wie die anderen Figuren im Kampf mit konkreten Existenzproblemen gezeigt. Zudem ist er oft allein bildlich inszeniert ist, umgeben nur von den unsichtbaren Toten. Zu sich selbst und dennoch zu allen sprechend, irrt er umher und zieht mit seinem Wortschwall durch die Stadt. Einerseits Außenseiter, ist Miloud zugleich auch immer präsent, taucht überall auf. Als weiser Irrer ist es Miloud möglich, die kolonialen Ungerechtigkeiten anzuprangern und Wahrheiten auszusprechen, ohne dabei selbst auf die aktive kämp-

183 Eine interne Strukturierungsfunktion haben die Sequenzen, in denen Miloud seine Reden auf dem Friedhof (oder auch in der Stadt) hält, welche zum einen den Zuschauer über Ereignisse informieren, zum anderen Ereignisse vorausdeuten oder kommentieren. Diese Einschübe untermalen nicht nur politische Aussagen mit einer lyrischen Note, sondern verbinden auch die einzelnen Abschnitte des Films.

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ferische Ebene zu treten.184 Gegen Ende des Films, als Ahmed und die anderen in Gefangenschaft bzw. dann im Untergrund sind, redet er direkt zur Gemeinde und vertritt offen und vehement die Position des bewaffneten Kampfes.185 Der Film bezieht hier durch Milouds Aussagen deutlich Stellung. Miloud verkörpert somit ein politisches Bewusstsein der Algerier und zeigt den Weg zum Unabhängigkeitskampf auf; dabei bleibt dieser allgemein gehalten und ist nicht an eine konkrete nationale Strömung gebunden. So scheint Miloud unparteiisch oder gar ‚genuin‘ für das Volk zu sprechen. Seine Reden sind poetisch und tragen eine spirituell-­moralische Dimension in sich. Durch diese ‚universalere‘ Sprache umgeht der Film eine konkrete Auseinandersetzung mit politischen Formationen und Konflikten innerhalb der algerischen Widerstandsbewegung und nimmt, wie Armes zurecht folgert, mythologisierende Züge an (vgl. Armes 2005: 104). Es sollte allerdings nicht übersehen werden, dass Milouds Poetik auch die orale Tradition der Dichtkunst in Algerien spiegelt und so zu einer eigenen Kinosprache des Films beiträgt. Die Figur des „Verrückten“ ist zudem eine bedeutende und wiederkehrende literarische Komponente in der arabischen Tradition; die übliche Aufgabe, Wahrheiten auszusprechen und Weisheiten zu vermitteln, wird von Miloud erfüllt. Nicht zuletzt verweist der „Verrückte“ auch auf eine kranke Gesellschaft, bezogen auf die Missstände des Kolonialsystems. Die Heldendarstellung Ahmeds schlägt ebenfalls eine mythologisierende Richtung ein. Ahmed wird zum selbstlosen Märtyrer, wobei seine ländliche Herkunft und Naturverbundenheit von Bedeutung sind und ihn als Helden des einfachen Volkes repräsentieren. Entsprechend etablierter Heldenkonzepte wird er mit positiven Merkmalen versehen, sein Auftreten als guter Familienvater sowie sein edles Äußeres runden das Bild des mutigen und wenig individualisierten Helden ab (vgl. Shafik 1996: 236). In Nahaufnahmen und aus der Froschperspektive gefilmt, erscheint sein Gesicht in den Anfangsszenen vor der glühenden Sonne; derartige

184 Als Miloud letztendlich direkt zum Kampf aufruft, schont ihn sein Status als Verrückter dennoch nicht vor einer Bestrafung. Der Kaid quält ihn, schleift ihn böse lachend auf seinem Pferd an einem Seil hinterher über den großen Platz vor dem Regierungsgebäude. 185 Milouds Reden (hier den deutschen Untertiteln eines Fernsehmittschnittes entnommen) preisen u. a. den Kampf Ahmeds und seiner Männer: „Das Brüllen dieser acht Löwen wird euch aufwecken! Im Jahr des Sturms wurden sie in den Käfig gesperrt. Folter und Hunger konnten ihren Glauben nicht erschüttern! Zwei Sommer und zwei Winter von Gefängnis zu Gefängnis. Als der Herbst kam, verwandelten sie sich in Gespenster. Sie brachen die Ketten und zogen hinauf zu den Gipfeln der Berge, von wo das Echo ihres Gefechts widerhallt: Die einzige Lösung, der einzige Weg zur Befreiung“.

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Aufnahmen, die Bildkompositionen (die Einbettung Ahmeds in der oben beschriebenen trockenen Erde) sowie das in der Montageanordnung folgende Regenritual unterstreichen seine Naturverbundenheit. Chronique nimmt insgesamt eine ähnliche Monumentalisierung der Figur des Bauern vor wie schon Le Vent des Aurès. Die langen Sequenzen mit Fokus auf die Landbevölkerung und die Natur präsentieren die Algerier als Einheit mit ihrem Land und fördern die Loslösung der Geschichte der nationalen Bewegung von konkreten historischen Details und Widersprüchen. Ahmeds Entwicklung zum Freiheitskämpfer führt einen geradlinigen Weg zum Widerstand vor. Das koloniale Unrecht und das wachsende politische Bewusstsein der Algerier werden entlang seiner Erfahrungen vermittelt. Der erste Schritt dieser Entwicklung drückt sich in seiner Auflehnung gegen den sadistischen Aufseher beim Steinbruch aus. Seine Revolte ist hier aber noch eher affektiv, wie Armes bemerkt: „His revolt is a purely personal response to unexpected aggression“ (Armes 2005: 100). Eine allmähliche Politisierung zeigt sich anhand des zweiten Streits um Wasser in seinem Heimatdorf. Ahmed, der aus der Stadt zurückkehrt, greift energisch in den Kampf der Rivalen ein. Bestimmend läuft er zwischen den Gruppen auf und ab, stellt sich empor an deren Spitze und belehrt sie über die Gründe ihres Unglücks. Er eint die Kräfte der Gegner und wendet sie in einen gemeinsamen Aufstand gegen den Kolonisator. Mit seiner zweiten Ansiedlung in der Stadt, in der er nun seinen Platz im Kreise anderer regimekritischer, aber überwiegend bislang politisch inaktiver Männer gefunden hat, beschreitet Ahmed den Weg zur tatsächlichen Revolte des bewaffneten Widerstands, den Larbi vorantreibt. Eine bedeutende Sequenz, in der Ahmed sich als moudjahid erprobt, ist die große Kampfszene vor dem Regierungsgebäude. Hier entpuppt sich der Protagonist als heroischer Kämpfer zu Pferde, der gekonnt das Schwert schwingt. Er steigt zur symbolischen Figur des Freiheitskampfes auf: „But as Ahmed leaps (literally) into action during the massacre, he needs to be seen not as the naturalistically depicted peasant of the opening scenes, not as an individual at all, but as a symbolic figure representing the ideal development over time of the Algerian peasantry“ (ebd.: 104).186 Die letzte entscheidende Szene, die Ahmed zum Helden stilisiert, ist die, in der er als Märtyrer für seine Kameraden stirbt. Hat er sich schon in der Kampfszene zuvor 186 Der Held steht im Zentrum des Geschehens (bildlich fokussiert), seine kämpferischen Aktionen werden ausschöpfend inszeniert. Laut Armes hat die Szene keine große Funktion im Sinne eines erzählerischen Voranbringens des Widerstands, da die Opposition hier geschwächt herausgeht (vgl. Armes 2005: 102). Dennoch ist die Szene gerade wichtig, um die Heldenhaftigkeit Ahmeds und seiner Mistreiter sowie den Aufbruch des Kampfgeistes zu präsentieren.

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als ‚Actionheld‘ behauptet, erfüllt er diese Rolle nun weiter, indem er bei einem überraschenden Angriff der Franzosen seinen Männern mit dem Maschinengewehr Feuerschutz bietet und sich selbst opfert. Sein Märtyrertod wird interessanterweise in einer intradiegetischen Erzählung der Figur Aklis dargestellt, der Ahmeds Sohn und Miloud das Geschehen schildert. Dabei ist zunächst zu sehen, wie Akli erzählt, dann geben Bild- und Tonebene die Szene wieder, die Letzterer beschreibt. Der Held Ahmed lebt noch einmal auf allen Ebenen des Films auf; implizit wird durch die intradiegetische Vermittlung auf die Bedeutung der Geschichtsnarration verwiesen. Ahmed wird durch die Erzählung zu einer Legende und zum Vorbild für seinen Sohn und dessen Generation. Was bleibt, ist das Bild eines unfehlbaren Helden, der sich für die Gemeinschaft opfert. Damit trifft der Film ein typisches Muster nationaler Erzählungen im algerischen Kino und steht ein für das Primat des Kollektivs vor dem Individuum, das sich sowohl in den Vorstellungen des Islam, des Sozialismus sowie auch im nationalen Diskurs wiederfindet, der diese Komponenten im Postulat der unicité vereinigt. Auch Miloud stirbt am Ende des Films, nachdem er seine Aufgabe erfüllt zu haben scheint, nun, da das Volk den Kampf begonnen hat und auf dem richtigen Weg ist. In der letzten Episode Le 11 novembre 1954, die eine Art Epilog darstellt, übernimmt der mittlerweile gealterte Miloud den Hauptpart. Bevor er sich zum Sterben niederlegt, spricht er zu Allah und segnet den Wahnsinn sowie den Kampf. Diese letzte Rede wurde in einer Einstellung aufgenommen. Durch seine Worte werden Religion und Freiheitskampf verbunden. Die Segnung des Kampfes fasst die Botschaft des Films zusammen. Milouds Wortwahl wie z. B. „das Ziel seiner langen Reise“, „der mich aus der Finsternis geführt hat“ und „Hoffnung“ sind einerseits religiös aufgeladene Schlüsselbegriffe und beschreiben andererseits den Weg zum Widerstand. Durch sein mündliches Aufgreifen der Titel der einzelnen Episoden wird die Narration geschlossen und Miloud als verbindendes Element bestätigt. Der folgende lange Krieg braucht nun offenbar nicht mehr gezeigt zu werden, nachdem die Initialzündung für den nationalen Kampf eingesetzt hat. Roy Armes bemerkt, dass das Ende des Films durch den Tod beider Protagonisten nicht besonders zuversichtlich scheint (vgl. Armes 2005: 104). Gerade dieser ist bezüglich der Geschichtsnarration aber charakteristisch, denn Ahmed ist nun ein Märtyrer und Vorbild für die nächste Generation. Er muss quasi sterben, damit er zum nationalen Helden wird. Durch das Schicksal der Hauptfiguren stellt der Film die Opferung für das Kollektiv heraus. Er bricht in dem Moment ab, wo der Freiheitskampf erst richtig beginnt, weist aber auf die Kraft und Hoffnung der folgenden Generation. Dies wird durch Ahmeds Sohn vermittelt, der von 153

Miloud während dessen Abwesenheit großgezogen wurde. Einblendungen des Sohnes am Ende des Films, die ihn zielstrebig vor einer Berglandschaft vorwärts rennend zeigen, sowie gleichzeitig aus dem Off hörbare Schüsse deuten auf den andauernden Kampf und den Marsch in Richtung Freiheit. Ein Insert informiert über das Ziel und den Ausgang des Kriegs: Am 5. Juli 1962 erzwang das algerische Volk mit dem Opfer von über 1 Million Märtyrern seine Unabhängigkeit. Es folgt eine Schwarzblende. Auf der Figurenebene finden sich weiterhin Beispiele dafür, wie in politischer Hinsicht Exklusionen stattfinden, die den Widerstand als geschlossen erscheinen lassen. Der im Verlauf des Films zunehmende Anteil der politischen Rede und Handlung wird durch Figuren eingeführt, die wie der Aktivist Larbi oder auch der parlamentarische Wahl-­Kandidat Mohamed von außerhalb in die kleine Stadt kommen. Larbi ist es, der die Gruppe um Ahmed über das Spiel der Kolonialmacht aufklärt. Er ist es, der sie für die seiner Meinung nach einzig bleibende Möglichkeit des bewaffneten Kampfes mobilisiert. Diese radikale Haltung resultiert aus seinen Erfahrungen und den ausbleibenden tatsächlichen Reformen des Kolonialsystems, das den Algeriern kein Mitspracherecht gewährt. Larbis Erkenntnis, dass die parlamentarischen Wahlen eine „Farce“ seien, erklärt seine Überzeugung, dass der kolonialen Gewalt nur mit Gewalt zu begegnen ist.187 Die Richtigkeit der Position Larbis sieht sich durch den weiteren Handlungsverlauf bestätigt und wird durch Milouds Aussagen unterstrichen. Bedeutend ist hierbei, dass Larbi, im Gegensatz zu den Vertretern der Kolonialmacht, nicht als unüberlegter Gewaltprediger inszeniert wird, sondern als räsonabler Intellektueller, der die anderen davon überzeugt, was seine Erfahrungen ihn gelehrt haben. Die Figur wird als recht bescheiden eingeführt. Es ist der edle und gerechte Kampf, der durch ihn repräsentiert wird, und nicht eine „barbarische Rebellion“, als die der algerische Widerstand von französischer Seite realhistorisch stereotypisiert wurde. Interessant ist nun, wie die algerische Unabhängigkeitsbewegung genauer präsentiert wird. Der Film optiert durch Sympathieangebote mit Larbi und seinen 187 Larbis politische Kenntnisse, sein Bildungsstand sowie sein Äußeres unterscheiden ihn von den anderen Männern. Im Gegensatz zu diesen liest er Zeitung, was zunächst kritisch beäugt wird. Neben diesem ‚befremdlichen‘ Verhalten ist er auch anders gekleidet, mit Jackett nach europäischem Stil. Insgesamt deutet sein Erscheinungsbild darauf hin, dass es zunächst die gebildete Elite war, die die Kolonialmacht mit ihren eigenen Prinzipien – der Forderung nach Gleichheit – und dann durch radikalere Positionen herausforderte.

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Anhängern für den bewaffneten Aufstand und lässt die gemäßigtere Bewegung (historisch z. B. entsprechend der Strömung unter Ferhat Abbas) als unwichtiger und letztlich im Unrecht erscheinen. Immerhin sind aber diese zwei politischen Richtungen auf figuraler Ebene vertreten. Die Uneinigkeit in der Entwicklungsphase des algerischen Nationalismus zwischen den Vertretern des bewaffneten Kampfes und denen, die auf eine parlamentarische Lösung setzen, wird durch die Gruppe um Larbi und jene um Mohamed angedeutet. Letztere folgt der Illusion einer Verbesserung der Situation durch Wahlen, gibt dann allerdings klein bei. Ein tatsächlicher größerer Konflikt zwischen den Opponenten wird ausgespart; die heftige verbale Auseinandersetzung während einer geheimen Versammlung verpufft von einem auf den nächsten Moment in einer Einigung gegen den gemeinsamen Feind. Letztlich führt Larbi die Kräfte vereint zu einem Demonstrationszug gegen die Regierung. Die Antwort der Kolonialmacht mit einem Massaker zeigt, dass es keine Dialogmöglichkeiten gibt, und der Film bekennt sich hier noch einmal deutlich zu dem offenbar einzig richtigen Weg des bewaffneten Aufstandes. Die PPA, als wichtigste damalige Partei im historischen Kontext, wird als politische Formation ausgeklammert, obwohl der Film auf die Periode ihrer Einflussphase rekurriert. Der sich zuspitzende Kampf innerhalb der nationalen Bewegung und die verschiedenen Flügel der politischen Organisationen werden also nicht expliziert. Eine genauere Benennung oder Zuordnung wird vermieden und eine Auseinandersetzung mit der Vorgeschichte der FLN, von der sich die damalige Regierung im außerfilmischen Kontext distanziert, bleibt aus. In diesem Sinne wird deutlich, dass Lakhdar Haminas Film sich im offiziell abgesteckten Rahmen befindet. Wie auch Armes anmerkt, ist eine Thematisierung der Parteienkonflikte hier kaum möglich: One inevitable omission from Lakhdar Hamina’s version of events in the film is the naming of the sole Algerian nationalist organization of the 1940s and early 1950s, the Parti du Peuple Algérien (PPA), and its charismatic leader, Messali Hadj, persona non grata for the post-1965 leadership. Because of this, the film is unable to show 1 November 1954 as a moment when these veteran nationalists, many of them imprisioned or exiled by the French, were replaced by the younger militants of the newly formed FLN, who came to lead the eight-­year armed struggle (Armes 2005: 102).

Das entscheidende Ereignis, das der Film offiziell würdigt – den Beginn des Befreiungskampfes am 1. November – wird zwar durch einen Zwischentitel konkret erwähnt, jedoch kaum in einen Kontext gestellt, der die Entwicklung der Ereignisse aus den verschiedenen nationalistischen Strömungen heraus berücksichtigt. Konsequenterweise wird dann auch die FLN in diesem Zusammenhang nicht genannt. Der Film umgeht die parteipolitische Dimension und optiert für eine 155

Erzählung der Geschichte auf der Ebene des Protagonisten, der für eine universellen, heroischen Kampf steht.

Résumé Chronique verfolgt als großes filmisches Projekt zu Ehren des algerischen Widerstands in seiner Erzählung die Herausbildung der nationalen Bewegung entlang größerer Etappen des historischen Rahmens. Wenngleich es mehrere direkte zeitliche Verweise und Referenzen gibt, finden sich dennoch relativ wenig historische Konkretisierungen. Im Sinne einer Chronik wird zwar eine Zusammenschau von Momenten gegeben, diese stellen aber vor allem die Lebenssituation der Algerier in den Vordergrund.188 Lakhdar Hamina betont selbst eine subjektive oder persönliche Sichtweise des Films: ‚I’ve said and I repeat that I didn’t make a historical work. My film gives only a personal vision, even if it is based on precise facts. I never had the pretension of furnishing an overall vision of the whole of Algeria at that historic period, all the more so, since I was brought up in a little village. […] This sort of historico-­political film could never be made with all the required rigor and objectivity, since you can only make this sort of film with the greatest passionate subjectivity’ (Hamina zitiert in Armes 2005: 99).

Neben den autobiographischen Erfahrungen, die in den Film eingeflossen sind, trägt dieser von der Produktionsseite her Züge, die charakteristisch für Autorenfilme sind. Lakhdar Hamina war einer der Drehbuchautoren, leitete Produktion und Regie und verkörperte sogar eine Hauptrolle (Miloud); ebenso spielten seine Kinder mit. Seine stilistische Orientierung an verschiedenen Ästhetiken und sein zugleich teils fast ethnographischer Blick auf die lokale Lebensweise machen gewissermaßen eine eigene Handschrift aus; dennoch lässt der gleichzeitige Monumentalfilm­charakter diesen Film weniger als Autorenfilm erscheinen. Kontroversen und Kritiken ausgesetzt, wurde dem Regisseur oft gerade eine unpersönliche Wirkung des Films vorgeworfen, wie Brahimi hervorhebt: Dans une fresque historique aussi ample, il est sans doute difficile de trouver un ton personnel. Son absence a été ressentie comme une certaine froideur, et le style du film, inspiré par de grands modèles, a été perçu comme un académisme. La raison probable en est que le film arrivait à la fin d’une période, celle dite des ‚films de guerre’, au mo-

188 In der zeitgenössischen Rezeption des Films wurde dieser laut Megherbi sogar zum Teil fälschlicherweise im unabhängigen Algerien situiert (vgl. Megherbi 1985: 99 f.) Allerdings ist eine historische Einordnung durch Bezugnahmen auf den Zweiten Weltkrieg und die zeitlichen Angaben anhand von Inserts durchaus angelegt.

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ment où une autre avait déjà commencé, celle d’un cinéma à l’écoute du temps présent (Brahimi 2009: 25).

Tatsächlich ist Chronique zu einer Zeit entstanden, in der das Kino sich bereits allmählich diversifizierte, und er erfüllte somit nicht unbedingt die Erwartungshaltung des algerischen Publikums. Er orientiert sich ebenso wie andere Kriegsfilme an den Anforderungen der staatlichen Produktion, die einen tatsächlich subjektiven Zugang verwehren. Dass Geschichte nicht objektiv und vollständig dargestellt werden kann, steht außer Frage. Dennoch geben die Auswahl sowie Auslassungen von Aspekten einen Aufschluss darüber, wie sich der Film in den politischen Entstehungskontext und das, was erzählt werden kann, einordnet. Trotz einer vermeintlich persönlichen Sicht des Regisseurs lässt Chronique doch eine Aussparung gerade der Elemente erkennen, die auch von offizieller Seite vernachlässigt werden. Dies liegt nicht zuletzt an Lakhdar Haminas Eingebundenheit in die Organisation des Staatskinos. Durch die Exklusion konkreter politischer Parteien erzählt Chronique seine Geschichte des Widerstands weniger anhand von konfliktreichen Tatsachen als vielmehr mittels der Konzentration auf den mutigen Helden, der beispielhaft für die moudjahidin steht. Die auffällige Dominanz von Naturphänomenen dient einerseits der Verortung des Helden in der bäuerlichen Gesellschaft und der Begründung des Widerstands durch die kolonial erzeugte existenzielle Not, andererseits aber ebenso der Vermeidung von politischen Tabus. Im Vordergrund steht so ein nationales Selbstbild, das geprägt ist durch die Komponenten der Opferung (Ahmeds Märtyrertod), des Erlittenen sowie des (männlichen) Mutes und der Stärke. Sprachliche, ethnische oder religiöse Vielfalt finden dabei ebenso wenig Raum wie Frauenfiguren, womit der Film symptomatisch für das Kriegskino dieser Periode steht.

2. Das Kino im Umbruch: Neuperspektivierung von Gesellschaft und Geschichte In diesem Kapitel stehen Transformationen im Zentrum, die sich auf verschiedenen inhaltlichen und formalen Ebenen bewegen und eine allmähliche Diversifizierung der algerischen Kinolandschaft herbeiführen. Untersucht werden zunächst Filmbeispiele des in Kapitel III.3.3. erwähnten cinéma djidid, das in den 1970er Jahren eine Konzentration auf gesellschaftliche Themen hervorbringt.189 189 Die Filme des cinéma djidid bereiten Ausdrucksweisen einer nationalen Desillusionierung vor, die sich seit den 1970er Jahren abzeichnet und deren filmische Reflexion als charakteristisch für die Entwicklung der maghrebinischen Kinos insgesamt gilt:

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Der Interessenschwerpunkt bezüglich dieser wichtigen Phase des algerischen Kinos liegt hier vor allem auf den Modifikationen und Umbrüchen, die auch Veränderungen im Hinblick auf Identitäts- und Geschichtskonstruktionen bedeuten, indem sie das Bild der einheitlichen Nation fragmentieren und es allmählich mit anderen Positionen konfrontieren. Zu Beginn dieses Kapitels wird die thematische Konzentration vieler Filme auf Probleme der Landbevölkerung und auf soziale Hierarchien vor dem Hintergrund der Agrarreform betrachtet. Ebenso werden im Kontext des gesellschaftlichen Wandels Fragen der Geschlechterbeziehung gestreift. Die weibliche Perspektivierung der Nation sowie filmische Neuerungen, die etablierte Muster überwinden und z. B. das Individuum im Konflikt mit einem ‚gesellschaftlichen Korsett‘ darstellen, werden in darauffolgenden Teilen behandelt. Im Anschluss stehen Filmbeispiele aus den 1980er Jahren im Zentrum, die weitere Veränderungen in Bezug auf die Narration des Algerienkriegs aufweisen.

2.1. Reflexionen gesellschaftlicher Prozesse und Widersprüche im cinéma djidid Wurde bereits bei einigen der diskutierten Beispiele (Chronique, Les Hors-­la-loi) darauf hingewiesen, dass die Helden der Kriegsfilme nicht nur den Kolonisatoren, sondern häufig auch algerischen Feudalherren gegenüberstehen, lässt sich dieses Phänomen in einen größeren filmübergreifenden Zusammenhang stellen, der vor dem politischen Hintergrund zu sehen ist. Die Konzentration des Feindbildes auf Figuren innerhalb der Gesellschaft der Kolonisierten sowie innerhalb der unabhängigen Nation geschieht vermehrt mit dem Aufkommen von Reflexionen über soziale Widersprüche im Nachkriegsalgerien. Besonders in Folge der sogenannten Agrarrevolution (1971) rücken diese Oppositionen in den Vordergrund und fügen sich in den ideologischen Rahmen der sozialistisch orientierten Politik ein. Neben den neuen Impulsen des cinéma djidid, die insbesondere ab 1972 hervortreten, kurbelt parallel dazu das 10-jährige Jubiläum der Unabhängigkeit die Filmproduktion über den Algerienkrieg noch einmal an (Filme wie z. B. Patrouille à l’est, Décembre, Zone interdite oder Chronique entstehen in dieser Zeit). In den Kriegsfilmen verstärkt sich dabei die Tendenz, den Kampf gegen den Kolonisator mit dem gegen einheimische Feudalstrukturen zu verbinden, wie an Chronique ersichtlich wird. Die Widerstandsthematik macht allerdings zunehmend der Aus„Les cinémas du Maghreb se développent essentiellement non dans la geste héroïque mais dans la volonté critique et dans l’expression sans ambages d’une désillusion, voire d’un mécontentement“ (Brahimi 2009: 11).

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einandersetzung mit gegenwärtigen Problemen Platz. Die Filme des cinéma djidid konzentrieren sich auf Klassendifferenzen, werfen neue gesellschaftliche Fragen auf und stellen so die Weichen für die weitere inhaltliche und formale Entfaltung des algerischen Kinos. Im Zentrum stehen zunächst die Misere der Landbevölkerung und die Frage nach der Umverteilung des Bodenbesitzes, begleitet von der Kritik an Profiteuren der neuen technokratischen Klasse sowie algerischer Eliten, die sich bereits zu Kolonialzeiten bereicherten (z. B. Lamine Merbahs Les Spoliateurs und Les Déracinés sowie Bouamaris L’Héritage). In ihren Beobachtungen der sozialen Umbrüche und Herausforderungen der Gesellschaft im Kontext von Modernisierungsmaßnahmen stellen die Werke die inneralgerischen Widersprüche heraus. Im Gegensatz zum cinéma moudjahid zeigen sie nicht nur eine Beschreibung der bäuerlichen Gesellschaft, sondern beanstanden deren Misslage auch nach der Unabhängigkeit und vermitteln eine „contestation de l’ordre social établi“ (Megherbi 1985: 120). So dienen auch die in der Kolonialzeit situierten Filmhandlungen teils dazu, aktuelle Zustände und fortdauernde soziale Hierarchien zu hinterfragen (L’Héritage). Der TV-­Film Noua (Tolbi, 1972) verdeutlicht z. B., dass sich die Situation der Bauern während der Kolonisation nicht von der im Algerien der 1970er Jahre unterscheidet.190 Die sozialen Ungleichheiten sowie die Dialektik zwischen Stadt und Land spiegeln sich in den Darstellungsweisen in einer vermehrt mit Kontrastierungen arbeitenden Filmsprache. Die kollektive Einheit der Nation wird allmählich fragmentiert, indem soziale Gruppen als solche gezeigt und einander gegenübergestellt werden. Nach Berrah bereitet die Konzentration auf Teilgruppen der Gesellschaft einen Weg zu einem langsamen Auftauchen individueller Figuren und weicht zumindest einem komplett vereinheitlichenden Diskurs der Politik aus. Tandis que l’autorité a un projet unificateur, qui uniformise par le bas, des films, pour y échapper, reviennent au corps social morcelé, ce qui est une manière de compromis sur le long chemin menant à l’émergence du personnage. Pour s’inscrire hors le discours qui surplombe, des films vont revenir au groupe, structuré non plus par le volontarisme politique, mais par la tradition, le ‘naturel’ (Berrah 1997: 166 f.).

Der Tenor der Filme wendet sich so von der Bestärkung einer stabilen nationalen Einheit ab und hin zu neuen Aspekten, die nicht zuletzt auch Identitäts-

190 Tolbi filmte ein authentisches Bauerndorf und nahm keine Veränderungen vor, auch nicht an den Darstellern, z. B. durch Schminke oder Kostüme (vgl. hierzu Megherbi 1985: 204 ff.). Tolbis Film wird im Kontext des cinéma djidid oft erwähnt. Dies ist auf seine zeitgenössische Bedeutung und die nicht klare Grenze zwischen algerischen Kino- und TV-­Produktionen durch häufige Zusammenarbeit zurückzuführen.

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fragen aufwerfen. „While the early films dealt with memories of the war, the focus has shifted to the struggle for a new Algerian identity“ (Spaas 2000: 147). Die dominanten Diskurse sind aber auch hier weiterhin einflussreich und das cinéma djidid versteckt keineswegs seine Unterstützung für ein sozialistisches Algerien. Au contraire, il proclame son rôle de tremplin au service des orientations politiques et idéologiques de l’heure. Ainsi, c’est pour ‚illustrer‘ le dixième anniversaire de l’Indépendance (1972) et pour favoriser l’application de la Révolution agraire, que les cinéastes disent penser et concevoir leurs films. Les rapports entre le politico-­idéologique et l’expression cinématographique sont donc mis de l’avant dans toute la production filmique (Hadj-­Moussa 1994: 89).

Wie in Kapitel III beschrieben, stehen die Neuorientierungen im algerischen Kino zwischen einer sozialistischen Ausrichtung, einer wachsenden (wenn auch impliziten) Kritik am Status quo und einer Hinwendung zu experimentelleren Formen.191 Das ONCIC musste schließlich selbst dieser Bewegung folgen, um dem abnehmenden Interesse an seinen (Kriegs-)Filmen entgegenzutreten (vgl. Megherbi 1985: 119). So entstand die ONCIC-­Produktion Le Charbonnier – die oft als das Paradebeispiel des cinéma djidid gilt. Das in diesem Film spürbare und für die Periode charakteristische Schwanken zwischen Innovation und Konformität zeigt die Schwierigkeiten eines neuen, kritischen Kinos, das sich zugleich im staatlichen Rahmen bewegt. Das Filmkorpus dieser Phase weist somit besondere Ambivalenzen auf. Einerseits wird z. B. die Zerstörung traditioneller Strukturen durch den Kolonialismus und dessen Komplizen beklagt (Les Déracinés), andererseits stehen Traditionen und konservative Lebensweisen selbst unter Beschuss (Le Vent du Sud).

191 Begünstigt wurden die Neuerungen durch einen frischen Wind junger Cineasten, die Cinémathèque d’Alger und einen kulturellen Aufschwung jener Zeit (siehe Kapitel III). Nicht zuletzt war die Entwicklung von TV-­Produktionen von Bedeutung. Das RTA öffnete sich schon etwas früher für andere Perspektiven, bot mehr Flexibilität und zog dem ONCIC voraus, indem es Filme von unbekannten Regisseuren ausstrahlte. Megherbi nennt hier z. B. Le Sang de l’exil (Mohamed Ifticène, 1971), der von einer Freundschaft zwischen einem Algerier und einem Franzosen erzählt, die in Marseille aufgewachsen sind und einander in Algerien in den Auswirkungen des Kriegs töten. Ebenso erwähnt er Mohamed Chouikhs ersten Langspielfilm L’Embouchure (1972), der vom Aufstand der Fischer gegenüber eines Kollaborateurs erzählt; der Aufstand wird durch die Selbstopferung eines Mädchens initiiert und der Film stellt so Megherbi zufolge auch eine Hommage an die algerische Frau dar (vgl. Megherbi 1985: 103 f.).

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Die Veränderungen und neuen Themen beschränken sich zunächst auf soziale Konflikte und Aspekte. Die Konstruktion der algerischen Identität bleibt eng verbunden mit dem algerischen Land. Grundpfeiler der nationalen Identität wie die Arabität werden dabei nicht angefochten: „En réalité, la Révolution culturelle n’a pas redéfini les éléments fondamentaux de la culture, elle a été un processus continu édifié sur le concept de l’unité territoriale, sur la langue arabe conçue comme principal véhicule et lieu d’unification inter-­régionales“ (Hadj-­Moussa 1994: 93). Einen Schritt in Richtung Diversifizierung von Perspektiven und Stimmen des algerischen Kinos gehen die Filme ab den 1970er Jahren aber trotz ihres teilweisen Verbleibs im Rahmen der politischen Ideologien allemal. Bevor die Neuorientierungen im Rahmen von Agrarrevolution und Industrialisierung an dem paradigmatischen Film Le Charbonnier veranschaulicht werden, soll zunächst ein Blick auf Les Déracinés geworfen werden, der durch seine Thematik der Entwurzelung einen Ausgangspunkt für Identitätsfragen schafft.

2.1.1. Klassenkonflikte und Entwurzelung in Les Déracinés Nachdem Lamine Merbah bereits in Les Spoliateurs (1972) die ungerechte Bereicherung algerischer Feudalherren und deren Komplizenschaft mit den Kolonisatoren verhandelt hat, macht er dies erneut zum Anliegen in seinem Film Les Déracinés (orig. Beni Hendel) aus dem Jahre 1976. Die sozialen Kontraste zwischen den einfachen Bauern und der Machtelite innerhalb der algerischen Gesellschaft, die viele Filme in den 1970er Jahren aufgreifen, werden hier zu einem Hauptthema. Zugleich schlägt Les Déracinés seinerzeit als einziger Film ein weiter zurückliegendes Kapitel der algerischen Geschichte auf, indem er – wie ein Insert präzisiert – im Jahre 1880 spielt. Der Film wählt sein Sujet also nicht z. B. in dem bis in die 1870er Jahre noch sehr aktiven algerischen Widerstand gegen die Kolonialmacht192, sondern erzählt von der Etablierung des Siedlungskolonialismus und der Kollaboration lokaler Feudalherren, die die Enteignung der Landbevölkerung mit begünstigte. Er greift eine Periode der Kolonialherrschaft in Algerien auf, in der das ökonomische Fundament gelegt wurde und koloniale Rechtsprechungen Fuß fassten.193 Konkreter historischer Hintergrund ist die Umsetzung der lois

192 Das ist auch insofern schwierig, als große Widerständler wie z. B. Emir Abdelkader oder El Mokrani nobler und / oder kabylischer Herkunft sind und so nicht in den politischen Diskurs passten. 193 Vgl. auch Mimoun in Freunde der Kinemathek 1978: 17. Hier wird erwähnt, dass es keine arabische Übersetzung für das Wort Entwurzelung gibt, weshalb der arabische Titel Beni Hendel den Namen eines Stammes trägt.

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Warnier, die eine Konfiszierung der Böden bei fehlenden Besitznachweisen nach französischer Norm rechtlich ermöglichte. Im Gegensatz zu vielen anderen Filmen, die die Unterdrückung anprangern, ist Les Déracinés „einer der wenigen Filme, die die Demütigungen der Kolonialisierung und die Beschwerlichkeit des Befreiungskampfes nicht durch makellose Helden wettzumachen suchen“ (Shafik 1996: 238). An die Stelle eines heroischen Widerstands rückt ein ernüchternder Ton, der die koloniale Ausbeutung und Entwurzelung der Algerier anhand der Enteignung und der damit verbundenen Zerstörung der Lebensgrundlage detailreich aufgreift. Megherbi bezeichnet den Film als einen der „unverblümtesten“, der dem Zerfall der autochthonen Gesellschaftsstruktur nachspürt: Parce que c’est ce long métrage justement qui nous montre de façon analytique et claire, le processus de dépossession de la collectivité traditionnelle, considéré à un moment significatif de sa genèse: le dernier quart du XIXème siècle. C’est la déstructuration de la base matérielle, qui est la cause première et immédiate de la désagrégation culturelle. Le film le montre de manière très didactique. De la culture intégrée, l’on passe alors à un système culturel atomisé, fragmenté, où l’individu est largement livré à lui-­même et au hasard (Megherbi 1985: 139 f.).

Die Eröffnungssequenz des Films beginnt bezeichnenderweise mit dem Exodus der Stammesgemeinschaft, deren notgedrungenes Nomadendasein im Weiteren verfolgt wird. Die Gemeinschaft bricht mit der Vertreibung von ihrem Land im Laufe des Films auseinander, geprägt von der Suche nach Arbeit, Entwurzelung, Tod und Verrat. Einerseits wird das Schicksal der Gruppe begleitet, andererseits einzelne Figuren, die sich individuell durchschlagen. Sie finden dank der Solidarität anderer Landflüchtlinge kleine Arbeiten in einer Stadt, betätigen sich im Handwerk oder als „Rufer“ (crieur) für die Kolonialregierung. Andere enden als Bettler oder „Gesetzlose“. Durch Machtmissbrauch des Kaids oder den eigenen Egoismus geraten einige Figuren zudem in den Konflikt, die Ihren zu verraten: „En un mot, les hommes qui étaient hier unis, s’opposent les uns aux autres, d’autant que la hiérarchie fondée auparavant sur le respect est battu en brèche“ (Megherbi 1985: 140). Die geringe Ausdifferenzierung der Figuren unterstreicht die Selbstentfremdung des Einzelnen und der Gruppe, aus der sich keine Figur als zentraler Protagonist hervortut. Der Zerfall des Kollektivs wird durch eine Zusammenschau von Momenten der umherziehenden Gemeinschaft sowie anhand der vereinzelten Figuren vermittelt. Beschreibt Les Déracinés einerseits die Folgen der Expropriation, die zur Zersplitterung von Gemeinschaften führte, hebt er andererseits besonders kritisch die Rolle der feudalen Oberschicht hervor, deren eigene Habgier die Stärkung des 162

Kolonialismus ermöglichte. Der Film erzählt also gewissermaßen von der Niederlage der autochthonen Bevölkerung gegenüber dem Kolonialismus, die – folgt man seiner Aussage – durch die Mithilfe der Oberschicht vorangetrieben wurde. Anstelle der Stärke eines geeinten Kollektivs fokussiert er deutlicher als seine Vorgänger des Kriegskinos die Anklage der einheimischen Komplizen. Ungeachtet der tatsächlichen historischen Bedeutung der Kollaboration von algerischen Eliten mit den Kolonisatoren ist dieser filmische Blick auf die tieferliegenden Ursachen der Konflikte in der Gesellschaft in einem politischen Kontext zu interpretieren. Indem der Film die Realität der Enteignung zeigt und den kolonialen Mythos der Fruchtbarmachung des Landes aushebelt, kritisiert er nicht nur die Kolonisation und deren Mithelfer, sondern auch neokoloniale Strukturen, die in der wirtschaftlichen Bereicherung sowie dem Machtmissbrauch neuer Eliten zu sehen ist. Damit steht er in der Argumentationslinie der Agrarrevolution, die den Bauern Land sowie Anerkennung zurückgeben soll und die privilegierte feudale Klasse – zumindest diskursiv – angreift. Der Klassenkampf färbt die Erzählung der kolonialen Enteignung ein.194 Durch die Kritik an den „Verrätern“ wird indirekt auch ein Wunsch nach gesellschaftlichem Zusammenhalt kommuniziert, der sich im außerfilmischen, sozialistisch orientierten Diskurs der Regierung wiederfindet. Die sozialen Diskrepanzen im Kolonialsystem sowie die Entfremdung der entwurzelten Figuren – und auch die des Kaids gegenüber der eigenen Kultur – werden über verschiedene filmische Mittel veranschaulicht. Anhand einer französischen Beschriftung auf einem großen Schild, dem algerische Figuren ratlos gegenüberstehen, wird z. B. der Ausschluss der Kolonisierten angedeutet. Sprachliche Äußerungen wie „Wir sind Umherirrende in unserem eigenen Land; haben keinen Boden mehr, keine Familie“195 betonen dies ebenfalls. Die entstehende Selbstentfremdung und auch die stückweise Resignation vor der Kolonialmacht wird besonders in einer Szene deutlich, die eine Figur namens Lakhdar beobachtet, der nun als crieur in einer Kleinstadt koloniale Anordnungen verbreitet. Die Kamera verfolgt ihn, im Hintergrund ist leise die Leitmusik des Films zu 194 Außerdem zeigt der Film, dass die Aufstände zunächst aus dem bäuerlichen Milieu kamen: „L’approche des soulèvements locaux qui déboucheront sur une lutte nationale en 1954, permet d’expliquer pourquoi, des débuts de la colonisation à la Première Guerre mondiale, les insurrections ont essentiellement été le fait de la paysannerie“ (Berrah 1997: 167). 195 Wenn hier, wie an anderen Stellen des Analyseteils, Zitate oder Paraphrasen auf Deutsch angegeben werden, gehen diese auf eine eigene Übersetzung der französischen Untertitel zurück.

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vernehmen. Plötzlich flüstert parallel zu den Rufen Lakhdars eine Stimme im voice over: „Que racontes-­tu, Lakhdar? Tu sais bien que le discours du maire n’est que mensonges“. Auf der Bildebene wird Lakhdar weiter beobachtet, seine Rufe sind nun aber nicht mehr zu hören und dem voice over wird mehr Raum gestattet: „Qu’est-­ce qui t’arrive? ‚Avis à la population‘? Lakhdar, tu as bien changé. Tu es fatigué. Vas te reposer“. Der Kaid hingegen verleugnet als Verbündeter der colons seine eigenen Traditionen. Er funktioniert wie eine Marionette, und wirkt übertrieben herrisch, wenn er seine Macht demonstriert und seine Befehle hoch zu Ross, von oben herab anordnet. Den Bezug zur eigenen Kultur scheint er verloren zu haben bzw. sich soweit an die Kolonisatoren assimiliert zu haben, wie es ihm selbst Vorteile verschafft. So setzt er durch die Anwendung der Kolonialgesetze das traditionelle Rechtssystem außer Kraft. Als einer der Enteigneten seine durch Generationen etablierte Zugehörigkeit zu seinem Land vom Cheikh und dem Dorfrat (djemâa) bezeugen lassen will, negiert der Kaid deren Bedeutung: „De nos jours, il n’y a plus de djemâa“. Damit lehnt er die eigenen Traditionen und Werte ab, die die Kolonialgesetzgebung zunichtemacht. Die zweigeteilte Welt des Kolonialsystems wird besonders in der Endsequenz durch eine auffällig kontrastive Montageanordnung spürbar. Dabei werden eine französische Hochzeitsgesellschaft auf der einen Seite und der flüchtige Mohamed auf der anderen gegenübergestellt. Eine erste Szene zeigt das tanzende Brautpaar und die üppige Ausstattung der Hochzeitsfeier, mit einer reich gedeckten Tafel und Walzermusik unter freiem Himmel. Ein knallender Champagnerkorken deutet sowohl auf die Dekadenz dieser Gesellschaft, als auch auf das ‚explosive‘ Ende des Films hin. Mit hartem Schnitt wird zu einer Szene mit Mohamed gewechselt, der aus einem Gebüsch hervorkommt und an Bettlern auf brachem Boden außerhalb der Stadtmauern entlanggeht. Die Musik ist hier im Gegensatz zum Walzer der Hochzeitsszenerie experimentell und schräg. Mehrere Male wechseln sich nun Bilder des Festes, die z. B. den Kaid in Großaufnahme beim Champagnertrinken zeigen, mit denen der verarmten Kolonisierten ab. Die Bettler sitzen verteilt entlang Mohameds Weg, scheinen überall platziert und angewurzelt. Mohamed ist quasi der einzige, der sich in diesem choreographiert starr wirkenden Bild bewegt. Der Ton bleibt teils abrupt stehen und die Musik erzeugt einen irritierend dissonanten Klang, der die soziale Misslage unterstreicht. Am Ende dieser Parallelmontage wird das Brautpaar eingeblendet; der Bräutigam dreht sich in die Kamera, blickt entsetzt nach vorne, dann werden die Braut sowie der Kaid zusammen mit anderen Gästen in der gleichen Geste gezeigt. Im nächsten Schnitt wechselt die Kamera in weiter Einstellung auf Mohamed, der sich nun vor der 164

Hochzeitsgesellschaft aufbaut. In näherer Aufnahme fokussiert sie, wie er eine Waffe zieht und schießt. Die Endeinstellung des Films schließt mit dem Einfrieren des Bildes von Mohamed und der Rauchwolke des Gewehrs, Schüsse hallen auf der Tonebene nach, bevor die Leitmusik erklingt. Die Schlusssequenz, die hier die krassen Gegensätze zwischen der Welt der colons und der der colonisés veranschaulicht und die Rache einer einzelnen Figur (stellvertretend für die Gemeinschaft) darstellt, schreibt den Film letztendlich doch wieder in den Kontext der Kriegsfilme ein, die den Widerstand der Algerier als unvermeidliche Folge des Kolonialismus inszenieren. Auch wenn die Filmhandlung zeitlich noch weit entfernt von der Bildung nationaler Strömungen liegt, die einzelne Tat der Figur Mohameds (als hors-­la-loi) deutet proleptisch auf den noch bevorstehenden Unabhängigkeitskrieg, den Filmemacher und Zuschauer als Wissen mitführen. Der „Clash“ der Kolonialgesellschaft wird durch die kontrastive Montage sowie die Tonebene hervorgehoben und unterstützt eine antikoloniale Schreibweise. Deutlicher als Filme des cinéma moudjahid und auch z. B. als Chronique zeigt Les Déracinés dabei den Einfluss der autochthonen Kollaborateure. Die Opposition zwischen colonisé und colonisateur mitsamt den Komplizen verweist implizit auf die auch weiterhin bestehenden sozialen Hierarchien. Das Beispiel steht dafür, wie ein erster Schritt der filmischen Differenzierung des nationalen Kollektivs zunächst also die soziale Ebene betrifft.

2.1.2. Ambivalenzen der Modernisierung in Le Charbonnier Das cinéma djidid beginnt auf verschiedene Weise, an etablierten Mustern und Tabus zu rütteln: „Während man in vielen Filmen die Ziele der Agrarrevolution idealisierte, bildete die traditionelle Gesellschaftsordnung mit all ihren Erscheinungsformen wie Feudalismus, Maraboutismus und Geschlechtertrennung eines der vordringlichsten Angriffsziele“ (Shafik 1996: 200). Dabei setzen sich besonders die Filme im Rahmen eines „Fortschrittsdiskurses“ mit der Rolle der Frau im Modernisierungsprozess Algeriens auseinander. Bevor in 2.3. näher auf die Repräsentation der Frauen in Gegenwarts- und Geschichtsdarstellungen eingegangen wird, soll Mohamed Bouamaris Film Le Charbonnier (1972) betrachtet werden, der im Kontext gesellschaftlicher Spannungen und Transformationen einen ersten Schritt in diese Richtung geht.196 Als eines der repräsentativsten 196 Bouamaris Film L’Héritage (1974) greift ähnlich wie Les Déracinés die Konflikte zwischen Feudalherren und einfachem Volk auf. Hier wird das koloniale Erbe ebenfalls auch auf Strukturen bezogen, die die Bereicherung Einzelner betrifft. Zugleich wird das Trauma anhand eines Dorflehrers veranschaulicht, der von Soldaten nach der

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Werke des cinéma djidid reflektiert dieser Film exemplarisch die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen im Zuge von Agrarrevolution und Industrialisierung, indem er den Modernisierungsdiskurs aufgreift und zugleich Ambivalenzen deutlich werden lässt.197 Le Charbonnier wurde seinerzeit von der Kritik als große Neuheit gefeiert, die mit der Kriegsfilmtradition bricht und es besonders gut versteht, die ästhetischen filmischen Mittel für ihre Aussagen zum Einsatz zu bringen. Eine ebenso große Wertschätzung durch das Publikum blieb allerdings aus (vgl. Megherbi 1985: 122 f.). Megherbi zufolge ist dies womöglich darauf zurückzuführen, dass sich der Film trotz seiner Innovationen und seines gegen­warts­bezogenen Blicks vielleicht doch zu didaktisch auf die gesellschaftlichen Veränderungen zeigte. Le Charbonnier erzählt von der Familie eines Köhlers, der aufgrund der staatlichen Erdölindustrie seinen Lebensunterhalt nicht mehr mit dem Verkauf von Kohlen verdienen kann. Der erste Teil des Films beschreibt Alltag, Misere, Überlebensstrategien sowie die Beziehungen der traditionell und abseits an einem Waldstück lebenden Familie, die versucht, ihre autarke Existenz aufrechtzuerhalten. In der zweiten Hälfte rückt die Konfrontation mit den sich wandelnden Wertvorstellungen und Lebensmodellen in den Vordergrund und die Transformationen der postkolonialen Gesellschaft werden anhand der Auswirkung auf die Protagonisten deutlich sichtbar. Der Köhler Belkacem begibt sich auf der Suche nach Arbeit in die Stadt und versucht sein Glück vergeblich bei einem ehemaligen Freund und Freiheitskämpfer, der nun Bürokrat und Chef einer staatlichen Behörde ist. Im Gegensatz zu ihrem Mann fängt seine Frau eine Arbeit in der im Dorf neu errichteten Textilfabrik an. Belkacem akzeptiert letztlich diesen notwendigen Schritt zur Existenzgrundlage im modernen Algerien. Der Film Zerstörung des Dorfes festgehalten und gefoltert wird. Er wird verrückt und verliert seine Sprache. Seine Frau übernimmt nach der Rückkehr der Gemeinschaft eine recht autonome Rolle. Sie widersetzt sich dem egoistischen Chef des Dorfes, der den Einwohnern einen Teil des Strohs vorenthält, das für die Stabilität neuer Hütten notwendig ist. Eigenständig baut die Protagonistin ihren gourbi mit selbst gekauftem Stroh auf. Außerdem hilft sie ihrem völlig verstörten und entfremdeten Mann, sich wieder zu integrieren. Die wesentliche Rolle der Frau für den Wiederaufbau der Gesellschaft wird hier anerkannt. L’Héritage stellt noch mehr als Le Charbonnier die Frau ins Zentrum, die übrigens in beiden Filmen von Fettouma Olisha gespielt wird – der späteren Ehefrau des Regisseurs Bouamari. 197 Eine ausführliche Analyse des Films unter dem Fokus der Geschlechterbeziehung findet sich bei Hadj-­Moussa 1994. Aufgrund der Bedeutung von Le Charbonnier in seinem filmhistorischen Kontext sollen hier wesentliche Züge des Films unter Berücksichtigung der Analyse Hadj-­Moussas aufgeführt werden.

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verfolgt seine Entwicklung zu einem Vertreter der Modernisierung, entgegen dessen ursprünglicher Haltung und dem Beharren auf Traditionen, wie sie vor allem von dem reaktionären Feudalherren Si Kaddour vertreten werden. Die einerseits unfreiwillige Öffnung gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen und die Kritik an der alten Gesellschaftsordnung affirmieren zugleich die Programme der Regierung (Agrarrevolution und Industrialisierung). Die Kritik an Nutznießern einer neuen bürokratischen Klasse sowie an Reaktionären des alten Feudalsystems wird auf der Figurenebene durch die Konfrontation von Belkacem und seinen Gegenspielern transportiert. Sein ehemaliger Gefährte im Freiheitskampf schaut nun auf ihn herab, weist ihn ab, da er keine Qualifikationen hat und Analphabet ist. Gleichgültigkeit, Egoismus und Dekadenz charakterisieren das Verhalten des Staatsangestellten: „En se bureaucratisant, il est devenu méprisant et égoїste“ (Megherbi 1985: 121). Um Belkacem letztlich als positives Beispiel für die Modernisierung Algeriens zu präsentieren und damit den Fortschrittsdiskurs zu befürworten, stellt der Film dem Protagonisten den Großgrundbesitzer Si Kaddour gegenüber. Dieser befürchtet eine Schmälerung seines Besitzes durch die Agrarrevolution und lehnt sowohl die staatlichen Maßnahmen als auch jeglichen Wandel von traditionellen Geschlechterrollen ab. Belkacem ist zunächst selbst gegen das Arbeiten von Frauen. Der Vergleich mit Si Kaddour hebt nun aber seine Wandlung hervor und kontrastiert alte Strukturen mit dem moderneren Modell. Neben der Inszenierung von opponierenden Figuren wird die Ambivalenz zwischen Tradition und ‚Modernität‘ vor allem durch einen gezielten Einsatz filmischer Mittel kommuniziert. Zum einen verweisen Flashbacks und (Traum-) Vorstellungen des Köhlers und seiner Frau auf ein Überschneiden von Vergangenheit und Gegenwart sowie von Realität und Traumebene. Zum anderen werden Aussagen des Films besonders über die Tonebene erzeugt, die von Kritikern als auffälligstes formales Merkmal hervorgehoben wird (vgl. Hadj-­Moussa 1994: 98). Um sich beispielsweise deutlich gegen die neuen Nutznießer der bürokratischen Klasse zu positionieren, wird dem Staatsbeamten während seiner Rede, in der er alle Verantwortung von sich weist und die soziale Misere allein auf die Kolonialzeit schiebt, die Stimme entzogen. Mitten in seiner Rede wird sein Wort regelrecht abgeschnitten, indem der sprachliche Ton abgestellt wird. Des Weiteren reflektieren verschiedene Quellen und durch veränderte Geschwindigkeit verfremdete Toneffekte – neben Instrumenten z. B. das verzerrte Zirpen von Grillen – insgesamt die Unruhe und Dissonanzen zwischen Natur und Industrialisierung, Zeitlosigkeit und Wandel, denen die Figuren ausgesetzt sind.

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Anhand des Einsatzes von Musik spielt der Film mit den Spannungen zwischen Tradition und Modernität, Land und Stadt. Verschiedene Musiken werden jeweils semantisch aufgeladen und erhalten räumliche Zuordnungen, die sich allerdings zunehmend verschieben und durchkreuzen. Repräsentativ für die Kontraste eines sich im Umbruch befindenden Algeriens stehen sich diegetische traditionelle Flötenmusik und eine etwas modernere „leichte algerische Musik“, wie sie Hadj-­ Moussa nennt, gegenüber. Letztere tritt im Zusammenhang mit der Stadt auf, wird aber auch in Fabrikszenen eingesetzt und ebenso als Belkacem mit dem Bus zurück ins Dorf fährt; diese für ‚ Modernität‘ stehende Musik rückt somit in den traditionellen Raum vor. Eine letztliche Überschneidung der Musikmotive deutet auf die Wandlung und Konfrontation von Lebensstilen ebenso wie auf die Hinwendung des Köhlers zur Modernisierung des Landes: L’alliance des musiques diégétique (l’air de flûte) et extradiégétique (‘musique algérienne légère’) représente l’argument ultime du discours filmique sur l’adhésion du charbonnier aux idées politiques, notamment la prise de conscience de son appartenance de classe (paysannat) et l’acceptation du travail féminin198 (ebd.: 98 f.).

Weiterhin auf der Tonebene spielt das Radio eine wichtige Rolle. Als modernes Medium steht es zum einen als Verbindung der isoliert lebenden Familie zur Außenwelt. Zum anderen finden sich hier verschiedene Diskurse, die kontrastiv angeordnet sind. Ansprachen des Präsidenten Boumedienes alternieren dabei mit einem Liebeslied der Sängerin Oum Kheltoum199, das auf die erste Rede folgt. Die Stimme des Präsidenten nimmt hier mehr Raum ein und negiert das Liebeslied durch ihre Dominanz200 „Ce contraste disqualifie le chant féminin et le rend dérisoire. Ce chant finira encerclé de part par la ‘voix(e) juste’ et la ‘voix de la raison’ (les deux discours présidentiels)“ (Hadj-­Moussa 1994: 109). Die Zuordnungen werden deutlich entgegengestellt: „Ainsi, la voix du président Boumediene est liée au combat, à la lutte, à l’Algérie et au ‘nous collectif ’; celle d’Oum Kheltoum, voix féminine, est plutôt liée à l’amour, au ‘tu’ et au désir“ (ebd.). Weitere weib198 Diese Verbindung ist nach Hadj-­Moussa umso bedeutender, als es dem Köhler zu Beginn des Films nicht gelang, einen Ton aus seiner selbst geschnitzten Flöte herauszubekommen (vgl. ebd.: 99). Die Flöte kann also als Metapher dafür verstanden werden, dass alte Traditionen ausgedient haben bzw. Erneuerung benötigen. Am Ende besteht die Aussicht auf eine Verbindung gewohnter und neuer Lebensweisen, der Köhler spielt nun auf einer neuen Flöte. 199 Oum Kheltoum ist eine international bekannte ägyptische Sängerin der damaligen Zeit. 200 Außerdem befinden sich Mann und Frau währenddessen in getrennten Räumen und das Radio ist in den Händen der Männer (vgl. Hadj-­Moussa 1994: 110).

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liche Stimmen werden hörbar, die die Frau aber nicht wirklich für sich sprechen lassen, sondern ihr in unterschiedlicher Form ihren Platz zuweisen. So werden im Radio Hausfrauentipps anhand eines Mandelkuchenrezeptes vergeben, während die Familie des Köhlers selbst kaum etwas zu essen hat, also in ihrer Realität weit von der Radiowelt entfernt ist. Zugleich treten hier die Stimmen der von der Regierung gesandten Frauen auf, die zur Fabrikarbeit aufrufen und die auch Belkacems Frau besucht haben – ohne dass sie visuell im Film erscheinen. Diese vertreten im Prinzip den funktionalisierten Diskurs der Regierung und stehen damit ebenfalls im Kontrast zu der individuellen und emotionalen Stimme des Liebesliedes (vgl. ebd: 110). Die Frauen werden hier dazu aufgerufen, sich an dem Modernisierungsprozess des Landes zu beteiligen und sich für das Kollektiv einzusetzen. Immerhin kann man sagen, dass die Frau in diesem Film dennoch ihre Stimme erhebt, wenn die Protagonistin sich gegen ihren Mann auflehnt und eigene Entscheidungen trifft. Dieser erste Schritt der direkten „prise de parole“ findet innerhalb der Familie statt; er ist einerseits ein deutlicher Akt der Rebellion, bleibt andererseits aber von einem Rahmen der alltäglichen Rollenzuweisungen begrenzt. In der Beziehung des Paares und dem Verhalten unter der angespannten Situation der existenziellen Not und den Einflüssen der Modernisierung werden die Widersprüche spürbar. Die Alltagshandlungen von Mann und Frau werden anfangs in einer Harmonie und Parallelität inszeniert, die die harte Arbeit auf beiden Seiten zeigt. In Parallelmontagen werden die Handlungen und Bewegungsabläufe der beiden Protagonisten (und auch der Kinder) verknüpft, der Mann hackt Holz, während die Frau mit gleicher Schlagrichtung Lehm zerschlägt. Schnittrhythmus und Ton sowie die Bewegungen der Figuren und die Wiederholungen ihrer Gesten, bis hin zu einer parallelen Verletzung von Frau und Mann, verbinden diese über getrennte Räumlichkeiten hinweg. Diese aufeinander abgestimmten Handlungsabläufe demonstrieren einerseits die traditionelle Lebensweise, andererseits überwindet die Durchmischung von Gesten und Tönen nach Hadj-­Moussa quasi die räumliche Trennung der Figuren (der Mann im Wald und die Frau vor dem Haus) und durchbricht somit symbolisch auch eine etablierte Komponente der Geschlechterbeziehung.201 Die eingespielten Verhaltensweisen werden von Revolten und Streits durchquert. Der erste Streit, den Belkacem unvermittelt aufgrund seines Frustes über

201 Hadj-­Moussa merkt an, dass hier filmtechnisch wie bei dem Schuss-­GegenschussVerfahren gearbeitet wird, wodurch quasi trotz der räumlichen Trennung ein gemeinsamer Raum angedeutet wird (vgl. ebd.: 100).

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die Kohlen anfängt, schließt an Szenen der gezeigten Parallelität an. Er endet ebenso in komplementären Reaktionen, indem Belkacem wütend den Kochtopf wegwirft und seine Frau dies durch ein Wegwerfen der Kohlen beantwortet, was nicht zuletzt auf das Ende der alten Lebensweise verweist. Im zweiten Streit, nachdem Belkacem seine Kohlen auf dem Markt nicht losgeworden ist, leistet seine Frau zunächst verbalen Widerstand: „Je ne me tairai pas, j’en ai marre de la misère, des glands et de ton charbon!“ Daraufhin erhält sie eine Ohrfeige und wehrt sich entschlossen: „Si ça marche, j’irai travailler pour mes enfants et toi, meurs avec ton charbon!“. Sie geht eigenwillig – und diesmal im Gegensatz zum vorigen Streit – und freiwillig fort. Später, nach ihrer offensichtlichen Heimkehr, werden der gewöhnliche Tagesablauf und die Aufgabenverteilung aufgegriffen; die Frau bereitet zusammen mit ihrer Tochter das Abendessen vor. Es zeigt sich also, dass die Figuren sich zwischen Umbrüchen und traditionellen Mustern bewegen: Die Frau lehnt sich auf, kehrt aber zurück: „Cette oscillation tient bien d’une mise en position des personnages. Elle assure une place au ‚je‘ féminin et dans le même temps réassure le charbonnier dans son autorité; dualité qui persistera tout au long du récit et qui aboutira à sa fin sur une indétermination“ (Hadj-­Moussa 1994: 104). Die Frau des Köhlers spielt in der gesellschaftlichen Transformationsphase des Aufbruchs schließlich eine bedeutende Rolle. Sie ist es, die letztlich für die Familie handelt, indem sie arbeiten geht. Ihr Mann hingegen erscheint sogar teilweise als der Schwächere und als der Gescheiterte, da er keine Arbeit findet und es nicht schafft, seine Familie zu ernähren. Tatsächlich sieht er seine traditionelle Rolle (des starken Familienoberhauptes) bedroht. Am Ende ist Belkacem jedoch ebenso wieder Held – und zwar ein Held des „Fortschritts“, der die Beteiligung seiner Frau am modernen Algerien der Arbeiter(innen) bejaht. Mann und Frau werden hier versöhnlich im neuen und zugleich alten Leben vereint. Nicht zu Unrecht merkt Megherbi in Hinblick auf die Botschaft des Films an, dass Le Charbonnier letztlich den Kriegsheroismus der früheren Filme durch einen „héroisme social“ ersetzt und Bouamari implizit in eine Propaganda für Programme der Regierung einstimmt, indem Industrialisierung und Agrarrevolution als Lösung geboten werden (vgl. Megherbi 1985: 122 f.). Le Charbonnier bleibt laut Megherbi bei diesen scheinbaren Veränderungen stehen, was sich anhand verschiedener Aspekte des Films bestätigen lässt. Der Fortschrittsdiskurs wird z. B. durch eine Gegenüberstellung von traditioneller Webarbeit und technischen Errungenschaften der Industrialisierung vermittelt. In einer Szene, die traumhaft in hellem Licht und weich gezeichnet erscheint, bestaunt die Frau des Köhlers verzaubert die Webmaschinen der Fabrik und kontrastiert diese in Gedanken mit ihrer ‚ rückständigen‘ 170

Arbeit, die in einer dunklen Lichtgebung eingeblendet wird. Ebenso dient das neue Plastikgeschirr am Ende des Films als Statussymbol der modernen Hausfrau. Eine Widersprüchlichkeit zeigt sich aber auch innerhalb dieses Diskurses. Denn Erdgas und Plastikgeschirr – zwei Merkmale der staatlichen Industrialisierung und Modernisierung – nehmen den Protagonisten gerade ihre ursprünglichen Arbeiten und Existenzgrundlage (Töpferwaren und Kohlen), was in der Szene am Markt sehr deutlich wird, bei der ein Lieferwagen mit Erdgas Belkacem bildlich gesprochen geradezu vom Platz fegt. Schließlich beugen sich die Figuren der staatlichen Ankurbelung der neuen Industrien und nehmen diese positiv auf. Die vorgestellte Entschleierungsszene am Ende des Films ist ebenso zwiespältig und bedeutend; sie ist einerseits revolutionär, andererseits vereinfachend und gar einem eurozentrischen Emanzipationsdenken verhaftet. Belkacem entreißt seiner Frau in dieser Szene ihren Schleier, mitten auf der Straße, zunächst gegen ihren Willen und unter Protest der Dorfgemeinschaft. Dann stolziert er aber triumphierend und gemeinsam mit seiner Frau, die sich nun in einem schönen Kleid präsentiert, die Straße entlang und erntet sogar Beifall. Die Familie erscheint zufrieden, sie dient als Vorbild für eine ‚ moderne‘ Lebensart, so wird es zumindest suggeriert. Die Entschleierung ist zwar immerhin eine überraschende und provokante Geste, steht aber nicht automatisch für eine Selbstbestimmung der Frau. Ebenso werden Veränderungen wie die Arbeit der Frauen als Errungenschaften innerhalb einer Fortschrittsbewegung des gesellschaftlichen Kollektivs inszeniert, bei der die Rolle der Frau ihre Funktion für den Aufbau einer modernen (Arbeiter-) Gesellschaft findet, jedoch nicht von einer individuellen Freiheit begleitet wird. Der Schritt zur Arbeit der Frauen außerhalb ihres Hauses geschieht hier in einem staatlich kontrollierten Rahmen (Aufruf über die Regierung), und die Geschlechtertrennung bleibt in der nur für Frauen eingerichteten Fabrik aufrechterhalten. Die häusliche Arbeit wird also lediglich in die Fabrik versetzt (vgl. hierzu näher Hadj-­Moussa). Eine nähere Auseinandersetzung mit kritischen Seiten des Wandels und beispielsweise den Auswirkungen auf das Individuum fällt gering aus, wobei der Film immerhin auch Einblicke in innere Perspektiven gibt, indem er zwischen internen Fokalisierungen (Flashbacks oder Vorstellungen) und Nullfokalisierungen wechselt. Die Idee einer Unabhängigkeit des Individuums vom Kollektiv wird in dem Entschleierungstraum angedeutet, in dem sich Belkacem gegen Repräsentanten des traditionellen Gesellschaftsmodells wie Si Kaddour durchsetzt. Dennoch steht der Einzelne in der Funktion des Modernisierungsprozesses und hat seine Aufgabe im Sinne des Allgemeinwohls und der Familie zu verrichten. 171

Résumé Wie Les Déracinés und Le Charbonnier exemplarisch zeigen, werden Differenzen innerhalb des nationalen Kollektivs in Filmen des cinéma djidid zunächst über die Betonung sozialer Gegensätze thematisiert und treten mittels antagonistischer Figurenkonstellationen sowie auch verstärkt über verschiedene formale Aspekte (z. B. Ton und Montage) hervor. Während sich Les Déracinés auf Klassenkonflikte im Kolonialismus sowie auf inneralgerische Hierarchien konzentriert und dabei vor allem eine antikoloniale Logik vermittelt, macht Le Charbonnier Umbrüche der postkolonialen Gesellschaft sichtbar, die sich in weiteren Bereichen ausdrücken: Neben Klassenunterschieden tritt hier die Frage der Geschlechterbeziehung hervor. Le Charbonnier bleibt dennoch einerseits in einem dichotomischen Denken, vermittelt durch seine Filmsprache aber zugleich eine größere Unruhe, die die gesellschaftlichen Transformationen und Ambivalenzen spiegelt. Die Konstruktion eines stabilen nationalen Selbstbildes weicht so allmählich einer Suche nach einer (neuen) algerischen Identität, die sich im Kontext von Modernisierungsprozessen neu befragen muss. In ihrer eigenen Suche nach Ausdrucksmöglichkeiten bezüglich dieser Wandlungsprozesse tragen die Filme selbst verstärkt Ambivalenzen in sich. Sie begleiten den politischen Diskurs, indem sie sich in ihren Forderungen nach einer sozialen Befreiung an den verkündeten Reformen der Regierung orientieren oder die staatlichen Programme zur Industrialisierung befürworten. Zwar äußern sie zugleich Kritik an Nutznießern. Dennoch dient die Darstellung von Oppositionen bisweilen gerade dazu, eine bestimmte politische Denkweise zu stärken, wie z. B. in Le Charbonnier, der so für einen Weg der Veränderungen optiert, der mit den Regierungsparolen von Fortschritt durch Industrialisierung konform ist. Die Konzentration beider Filmbeispiele auf die „inneren Feinde“ destabilisiert deshalb nur ansatzweise die Konzeption einer einheitlichen Nation, denn diese wird gegenüber vergangenen und gegenwärtigen „Verrätern“ verteidigt und wiederum in einer sozialistisch-­gleichmachenden Perspektive verstanden. Die Hervorhebung verschiedener sozialer Gruppen, Konflikte und Transformationen bereitet dennoch den Weg für weitere Identitätsfragen und Umbrüche im Kino.

2.2. Innovationen des cinéma djidid Dass die Reflexion sozialer Konflikte und Widersprüche sich neben thematischen Neuerungen auch über die formale Ebene ausdrückt, wurde bereits an Bouamaris Le Charbonnier gezeigt. Dieses Teilkapitel widmet sich nun insbesondere der ästhetisch-­formalen Dimension des sich wandelnden filmischen Blicks auf Gesellschaft und Geschichte. Dazu werden zwei Beispiele untersucht, die diesbezüglich prägnante Innovationen aufweisen. Herausgearbeitet wird, wie die Filme 172

anhand verschiedener Mittel eine Dekonstruktion dominanter Narrationen von Nation und Geschichte vornehmen und etablierte homogenisierende Muster aufbrechen. Dies geschieht z. B. über Erzählstrukturen, die subjektive Positionen sowie Diskontinuitäten erzeugen, neuartige Annäherungen an Genderaspekte mit sich bringen oder auch kritisch die Beziehung von Individuum und Gesellschaft aufgreifen. Die filmischen Strukturen nähern sich dabei postkolonialen Denkweisen, indem sie über binäre Oppositionen hinausgehen und Beweglichkeit sowie Heterogenität ausdrücken. Die im Folgenden betrachteten Klassiker Tahia ya Didou und Omar Gatlato gelten oft als ‚Herzstücke‘ des algerischen Kinos und sind für ihre neuartigen Ansätze bekannt. Sie öffnen sich einem komödiantisch-­humorvollen Modus202, der in den 1970er Jahren in algerischen Filmen allmählich Fuß fasst. Als originelle Werke, die mit einem kritischen Auge auf die Gesellschaft blicken, wenden sie sich nicht nur deutlich von den Konventionen des Kriegskinos ab, sondern überwinden auch den politischen Impetus im Kontext der Agrarreform. Der poetisch-­ experimentelle Film Zinets sowie Allouaches erster Langspielfilm bringen jeweils ganz eigene Stile hervor und fangen die Spezifität des Alltags im zeitgenössischen Algier ein. Insbesondere Omar Gatlato wurde für sein innovatives Potenzial gefeiert und traf offensichtlich den Nerv der Zeit und des Publikums. Hat Chronique des années de braise mit der „Goldenen Palme“ 1975 den größten internationalen Erfolg des algerischen Kinos eingeholt, so konnte Omar Gatlato den größten Erfolg beim algerischen Publikum verbuchen und ist bis heute vermutlich einer der bekanntesten und beliebtesten algerischen Filme. Dies ist nicht verwunderlich, bedenkt man, dass der Film sich von der politischen Ideologie befreit und neben seiner Kritik auch amüsante Unterhaltung bietet. Sowohl Tahia ya Didou als auch Omar Gatlato liefern mit ihren scharfsinnigen Beobachtungen zugleich eine Hommage an die Hauptstadt.

202 Dabei handelt es sich um eigene Spielarten, die humoristische Elemente mit anderen (tragischen, dokumentarischen, experimentellen) Komponenten verbinden und in ihrer Eigenart von der persönlichen Handschrift der Regisseure gekennzeichnet sind. Nach Lakhdar Haminas Hassan Terro (1968), der als Ausnahme im cinéma de guerre einen humorvollen Modus aufweist und Pseudohelden bloßstellt, entstehen in den 1970er Jahren vermehrt komödiantische Filme, so z. B. die Hassan Terro-­ Serie, L’Évasion de Hassan Terro (1974) von Mustapha Badie oder Les Vacances de l’inspecteur Tahar (Moussa Haddad, 1972).

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2.2.1. Tahia ya Didou – Ein heterogenes Algier Tahia ya Didou („Es lebe Didou“) wurde im Auftrag des Bürgermeisters der Stadt Algier produziert und sollte ursprünglich eine Dokumentation zu touristischen Zwecken werden. Mohamed Zinet203 verfehlte dieses Ziel jedoch bewusst, indem er seinen eigenen Stil durchsetzte und eine einzigartige, freche Kollage über die Stadt und ihre Einwohner lieferte. Der letztlich aus einer Mischung an dokumentarischen und fiktiven Elementen entstandene Autorenfilm widerstrebte so den Anforderungen der lokalen Autoritäten und wurde nicht ausgestrahlt. Er entwickelte sich dennoch zu einem bedeutenden algerischen Kultfilm.204 Die folgende Analyse skizziert, wie Zinets Werk durch seine ungewöhnliche Form und Erzählstruktur eine besondere Dynamik erzeugt, die Gesellschaft und Stadt zwischen Geschichte und Gegenwart neu entwirft und dabei Darstellungsweisen von Kollektivität, Einheit und Objektivität hinter sich lässt. In Tahia ya Didou, der nicht ohne Grund auch unter dem französischen Titel Alger insolite (ungewöhnliches, ausgefallenes Algier) bekannt ist, wird die Hauptstadt regelrecht selbst zur Protagonistin – bedingt durch eine fehlende Zentralität und Linearität auf Erzähl- und Figurenebene. Die Narration setzt sich aus verschiedenen Elementen und Beobachtungen zusammen, die weder einem übergeordneten Plot, noch einer Chronologie folgen. Sie ist nur lose verbunden durch über den Film verteilte, disparate und teilweise wiederkehrende Erzählstränge und Figuren. Statt einer geschlossenen Handlung präsentiert sich hier also eine diskontinuierliche Komposition aus verschiedensten nebeneinander stehenden Alltagsbegebenheiten, Momentaufnahmen und einzelnen Bildern. Straßenszenen, die z. B. einen Gemüsehändler mit seinen Eseln oder im Kontrast dazu die bunte Leuchtreklame und Modernität um den Flughafen herum zeigen, alternieren mit etwas längeren Erzählabschnitten. Dabei treiben z. B. eine Horde von Kindern und ein Polizist ein wiederkehrendes Verfolgungsspiel und rennen von der Casbah zum Hafen die Stadt hinauf und hinab.205 Ein älterer Schweizer 203 Zinet studierte für kurze Zeit Theater in Berlin und wird verbunden mit den Anfängen des nationalen algerischen Theaters unter Kateb Yacine (vgl. Armes 2005: 36). 204 Vgl. hierzu Pasquier auf www.critikat.com/Tahia-­Ya-Didou.html. Der Film wurde nicht in den Kinos veröffentlicht und auch nicht im algerischen Fernsehen gezeigt, avancierte dennoch zum Klassiker der algerischen Filmgeschichte, der eine besondere Hommage an Algier bietet (vgl. Guemriche 2012: 108). 205 Dies wird im Schnelllauf inszeniert und transportiert so eine besondere Dynamik und Komik. Der Name Didou, der im Titel auftaucht, bezieht sich laut Guemriche auf einen kleinen Jungen und stellt eine diminutive affektive Form dar (Guemriche 2012: 104).

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Tourist ohne Visum wird an Bord eines Flugzeugs von einem Flughafenarbeiter aufgefunden, der sich mit ihm anfreundet und durch die Cafés zieht. Ziellos wandeln die beiden umher, wobei der Film ungeahnte Einblicke in verschiedene Orte ermöglicht. Daneben taucht mehrfach ein französisches Touristenpaar auf. Der mit diesen Figuren verbundene Erzählstrang ist etwas ausgearbeiteter als die anderen und beinhaltet eine dramatische Zuspitzung, die der ansonsten überwiegenden Unbeschwertheit des Films Ernsthaftigkeit entgegensetzt. Zunächst verfolgen einige Szenen, wie das Paar durch die Stadt flaniert. Die französische Frau lässt ihren naiven Blick über Algier schweifen und begeistert sich klischeehaft für das schöne Wetter. Ihr Mann Simon, ein ehemaliger Militär im Algerienkrieg, kommentiert hingegen abwertend über die aus seiner Sicht ohne französische Hilfe „unfähigen“ Algerier. In einem späteren Erzählabschnitt trifft Simon plötzlich in einem Restaurant auf einen Mann, den er im Algerienkrieg gefoltert hat. Von Panik, Angst und möglicherweise auch Schuldgefühlen ergriffen, wird er fast ohnmächtig und verlässt fluchtartig mit seiner Frau das Restaurant. Dies ist allerdings unnötig, denn der Algerier ist aufgrund der Folter blind, wie der Zuschauer im Nachhinein erfährt, als der Mann aufsteht und sich von seinem Enkel (Didou) und einem Blindenstock leiten lässt. Zwar entfaltet sich hier eine kleine Story, dennoch handelt es sich wiederum nicht um eine durchgängige Haupterzählung. Vielmehr spiegeln die über den Film gestreuten Erlebnisse des Paars – zusammen mit denen des Schweizers und der anderen Figuren – den Streifzug des Films selbst, der Algier und seine Einwohner aus verschiedenen Blickwinkeln beobachtet und anhand des Aufeinandertreffens konträrer Situationen und zeitlicher Ebenen eine Vielschichtigkeit erzeugt. Eindrücke von und über Ortsansässige, also von innen heraus, werden über diese Besucher von außen ergänzt, die Vorurteile bzw. eine Last der Vergangenheit mitbringen (französisches Paar) oder offen die Stadt erkunden (Schweizer). Der Film treibt so ein Spiel aus Nähe und Distanz und ermöglicht eine Vielfalt an Sichtweisen, die dem fragmentarischen Handlungsaufbau entsprechen. Algier wird dabei in seiner Widersprüchlichkeit und lebhaften Bewegung dargestellt. Du marché au port, des rues aux cafés, la caméra de Mohammed Zinet déambule dans la ville dont elle capte le pouls. Variant les angles, les échelles de plans et les mouvements d’appareil, c’est avec fluidité qu’elle observe les Algérois, sur le visage desquels elle prend souvent le temps de s’attarder. Certains apparaissent plusieurs fois et deviennent ainsi personnages (une ribambelle d’enfants poursuivis par un gendarme bienveillant, un s­uisse insolite tout juste arrivé en avion, en short, et dépourvu de passeport, un pêcheur de crevettes…). Les portraits esquissés sont souvent drôles, les êtres captent l’intérêt, nous sommes bien immergés dans le mouvement de cette ville (Pasquier 2010).

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Entsprechend der diskontinuierlichen Anordnung von Bildern, Szenen und Erzählsträngen lässt sich bezüglich der Figurenebene und der Erzählperspektiven schwer ein Fokus ausmachen. Neben vielen Statisten gibt es eine Vielzahl von Figuren, die zwar mehrmals auftauchen, von denen aber keine im Vordergrund des Films steht. Tatsächlich gibt es keine Hauptfigur, die Kontinuität schafft oder den Zuschauenden eine hohe identifikatorische Nähe bietet. Die sehr unterschiedlichen Figuren repräsentieren zudem kein einheitliches Kollektiv, sondern beleben das heterogene Bild einer Stadt voller Kontraste.206 Diese steht so selbst im Fokus und fungiert als Verbindungspunkt der voneinander unabhängigen Beobachtungen. Zwar führt ein Dichter namens Momo durch den Film, indem er in poetischen Versen Szenen kommentiert und sich theatralisch vor der Kamera inszeniert. Ebenso wie Miloud in Chronique scheint Momo alles zu sehen und über eine gewisse Autorität in der Erzählung zu verfügen. Dennoch präsentiert der Film nicht allein dessen Perspektive; Momo entspricht eher einem Kommentator, der von einem exponiert liegenden Standpunkt aus (räumlich verortet an einem Anlegesteg am Meer) den Film begleitet und den Bewegungsfluss der Szenen in der Stadt durchbricht. Seine Einschübe wechseln sich ab mit Eindrücken von Figuren, Nullfokalisierungen sowie Außenperspektiven, die mit Distanz auf das Geschehen blicken. Auf technischer Ebene reflektieren Kameraeinstellungen, -bewegungen und eine alternierende Schnittgeschwindigkeit die Dynamik und Heterogenität der Stadt. Panoramasichten stehen im Kontrast zu Detailaufnahmen, lange Einstellungen und Beobachtungsszenen wechseln sich mit einzelnen aneinander montierten Bildern ab. Der Film präsentiert so nahe Einblicke in Alltag und Lebensweisen und verschafft zugleich einen Überblick: Dies wird unterstützt von Kamerafahrten über Algier, die an ähnliche Bewegungen und Schwenks in Une si jeune paix und La Bataille d’Alger erinnern. Tahia ya Didou vermittelt im Gegensatz zu Letzteren dabei aber gerade keine antikoloniale Logik oder Zweiteilung Algiers, sondern reflektiert die Diversität der Stadt. Neben der Pluralität auf Handlungs-, Figuren- und Erzählebenen verleiht eine Vielfalt an Modi, Stimmungen und zeitlichen Komponenten dem Film eine innere Brüchigkeit, die die Atmosphäre des postkolonialen Algiers spiegelt. Im 206 Neben dem älteren Mann mit seinen Eseln, den immer wieder auftauchenden Kindern, dem Polizisten, dem Schweizer, dem Flughafenarbeiter oder dem französischen Touristenpaar zeigt das Stadtbild z. B. Frauen im haïk sowie junge Algerierinnen in europäisierter Kleidung, ebenso machohafte Männer, die die jungen Frauen belästigen.

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Kontext dieser Fragmentationen wird auch ein neuartiger Ansatz der Verarbeitung von Geschichte deutlich. Einerseits greift der Film humorvoll und in teils burlesker Komik gegenwarts- und zukunftsbezogene Aspekte auf (Schweizer Tourist, Kinder), andererseits lässt er die dunklen Schatten der Vergangenheit zum Vorschein kommen (Friedhofsaufnahmen, Folterflashbacks). Gegenwart und Geschichte überkreuzen sich. Das pulsierende Algier im Vordergrund ist also weiterhin geprägt von den Folgen der Kolonialherrschaft und den traumatischen Erfahrungen im Hintergrund. Eine algerische Frau führt beispielweise die Frau des Touristenpaars auf ihre Dachterrasse und erzählt ihr vom Krieg; mit Blick auf das Viertel evoziert die Frauenstimme Zerstörungen und Kriegsgeschichten. Sie bezeichnet die Französin aber erstaunlicherweise als Schwester. In einer anderen Szene wird hingegen beobachtet, wie sich zwei Nachbarinnen über ihre Balkone hinweg streiten und sich getrennt auf Arabisch und Französisch (möglicherweise ihre verschiedenen Muttersprachen) beschimpfen, sich aber nicht zu verstehen oder zuzuhören scheinen. Diese kleinen Einschübe verweisen sowohl auf Konflikte als auch auf eine gemeinsame Geschichte, sie reißen Aspekte der kolonialen Vergangenheit an, vertiefen diese aber nicht. In Flashbacks holt der Film die franko-­algerische Geschichte aus der Verborgenheit hervor; er zeigt Folterszenen, wobei zunächst Simons Erinnerung reflektiert wird207, die Erzählperspektive dann aber eine Mischung aus Sichtweisen von Täter und Opfer zu repräsentieren scheint. Indirekt wird durch Simons Panikattacke auch die Frage nach Reue gestellt. Bedeutend ist, dass der Film die franko-­algerische Geschichte so mehrseitig und in Widersprüchen aufgreift: Während die Französin als „Schwester“ bezeichnet wird, hat Simon Vorurteile, ebenso Schuldgefühle und bleibt in der Vergangenheit gefangen, wohingegen die Kinder auf algerischer Seite eine Zukunftsperspektive andeuten. Vor allem aber ist der Raum für Geschichte und damit ihre Gewichtung in diesem Film reduziert, indem sie eben nur fragmentarisch angerissen wird. Unterschwellig zu spüren, gerät sie eher zufällig – durch die Begegnung mit dem Folteropfer – an die Oberfläche und wird so entdramatisiert. Es fehlt eine sinnstiftende Narration, die z. B. eine antikoloniale Widerstandsbotschaft oder eine heroische Befreiungsgeschichte vermittelt. Vielmehr handelt es sich um Erinnerungsfetzen der Vergangenheit, die als ein Fragment unter vielen und zudem auch als französisches Trauma in die

207 Dies erinnert an Fanons Beobachtungen in Les damnés de la terre, denen zufolge französische Folterer durch ihre eigene Brutalität traumatisiert sind (vgl. Austin 2012: 57).

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Gegenwart integriert sind. Der Film bricht so mit den teleologischen Erzählungen einer geschlossenen Geschichte früherer Werke. Tahia ya Didou unterläuft darüber hinaus die objektivierende Funktion dokumentarischer Elemente. Zwar kommen diese hier, wie auch in vielen Filmen des cinéma moudjahid, zum Einsatz; allerdings dienen sie, anders als in den Kriegsfilmen, nicht einer Absicht der Objektivierung von Geschichte, sondern der Gestaltung des Stadtporträts. Dieses wird mit einem feinfühligen Gespür für alltägliche Begebenheiten gezeichnet. Durch die subjektiven Einschübe Momos, der oft direkt zum Publikum spricht, wird eine mögliche Objektivität zusätzlich gebrochen. Momo selbst ist emotional sehr schwankend, teils aufgedreht fröhlich, teils weinerlich, sarkastisch oder wütend. Außerdem hebt der Film sich durch seine oft humorvollen Inszenierungen von Figuren (z. B. Schweizer, Polizist) von der Ernsthaftigkeit und Vereinheitlichung der Figurendarstellung der bisher dominierenden algerischen Filmproduktion ab. Originelle Typen ersetzen hier (Kriegs-)Helden und schablonenartige Figuren: „A l’identique, au pareil, Tahia ya Didou oppose le différent, l’unique“ (Berrah 1997: 155). Subjektive Positionen treten in diesem Film also trotz begrenzter Ausdrucksfreiheit hervor: Par endroits, le film rend compte du moment où la fiction se fraye un chemin entre la tyrannie de la tradition orale et la domestication des représentations. Au lieu précis de cette transition fragile, douloureuse, balbutiante, Tahia ya Didou fait une place à la subjectivité, là où de nombreux films l’empêchent de faire retour au nom de l’objectivité des faits (ebd.).

Nicht zuletzt setzt auch der Titel einen anderen Betrachtungsrahmen. Denn anstelle des Freiheitsrufs „Es lebe Algerien“ steht hier das auf ein Subjekt (Kind) bezogene „Es lebe Didou“. Insgesamt durchbrechen die fragmentarische Erzählweise, die verschiedenen Perspektiven, Kommentare, humorvollen Blicke sowie eine fehlende Haupthandlung und Hauptfigur die Idee von Objektivität und Einheitlichkeit. Sie erschweren ein Eintauchen in die Erzählung, denn der Film fordert immer wieder eine Neuorientierung in verschiedenen Momenten. Mit dieser plural angelegten Erzählweise – losgelöst von übergeordneten Strukturen und Sinngebungen – kommuniziert er eine postkoloniale Dynamik und Beweglichkeit. Der Film spiegelt so die Suche eines neuen Algiers bzw. einer Identität, die im Prozess ist. Die Konzentration auf die gegenwärtigen Alltagsbegebenheiten bewirkt eine Befreiung von der schweren Last der Vergangenheit, die zwar noch präsent ist, aber von einem lebendigen Algier überlagert wird. Dabei befreit sich der Film quasi selbst von moralisierenden oder politisch-­religiösen Diskursen, indem er liebevoll eine Komik des Alltags entdeckt und beispielsweise den Alkoholgenuss 178

des Schweizers nicht (negativ) wertet. Er bringt eine Offenheit mit, die – zusammen mit gleichfalls bestehenden konservativen Strukturen – das reale Algier der 1970er Jahre prägt. Gegensätze werden hier nebeneinander und ohne Hierarchien präsentiert.

2.2.2. Omar Gatlato – Die Stimme des Individuums Omar Gatlato geht nun einen Schritt weiter in Richtung Subjektivität und Fiktionalität. Der Film erzählt aus dem Leben eines Jugendlichen bzw. jungen Mannes, dessen Alltagsprobleme beispielhaft die Konflikte zwischen Gesellschaft und Individuum aufzeigen. Mittels seiner Erzähltechnik, die die Hauptfigur zugleich als Beobachter und Kommentator einsetzt und innere Ambivalenzen sichtbar macht, bringt Omar Gatlato einen neuen Blick auf die Nation mit sich. Er porträtiert eine von gesellschaftlichen Zwängen und Problemen ‚erdrückte‘ Jugend, die sich zwischen individuellen Wünschen und realen Einschränkungen wie der Geschlechtertrennung bewegt. Dazu verfolgt er den Alltag des Protagonisten und Ich-­Erzählers Omar, der seine Wohnsituation im überfüllten 2-Zimmer-­ Appartement, seine (ineffektive) Arbeit bei einem Betrugsdezernat oder den Zeitvertreib mit seinen Freunden, vom Musizieren bis hin zum Betrinken, vorführt. Omars Leidenschaft gilt der populären algerischen Musik des Châabi und indischer Filmmusik. Mit seinem Kassettenrecorder, den er wie einen Teil seiner selbst stets mitführt, nimmt er Musik im Kino, auf Hochzeiten oder Konzerten auf. Nachdem ihm sein ‚Heiligtum‘ geraubt wurde, besorgt sein Freund Moh ihm einen neuen Recorder mit Kassette. Auf dieser ist die Stimme einer Kollegin Mohs zu hören, in die sich Omar verliebt. Omar nimmt Kontakt zu Selma auf und verabredet sich mit ihr. Doch als es zu dem geplanten Treffen kommen soll, traut er sich nicht zu ihr. Von der Politik und bis zu dem Zeitpunkt auch von der Kinoproduktion ignoriert, stehen die jungen Leute nun mit Omar Gatlato im Zentrum eines algerischen Films. Der einzigartige Erfolg, den Allouache mit diesem Werk landete, ist insofern nicht verwunderlich, bedenkt man, dass der Film der erste ist, der deutlich von den Entbehrungen der Algerier und insbesondere der Jugend erzählt, die damals immerhin bereits schon 50 % der Bevölkerung ausmachte. Und nicht nur junge Zuschauer begeisterten sich für Allouaches teils satirische Schilderungen des Algiers der 1970er Jahre. Der Film öffnete regelrecht ein Ventil, indem er bisher Unausgesprochenes mit humorvoller Leichtigkeit ans Licht brachte: „Il s’agissait de montrer, sans l’ombre d’un discours ni d’une revendication, tout ce qui, depuis des années, était le non-­dit de la société algérienne“ (Brahimi 2009: 11). Offenbar konnte sich die algerische Bevölkerung in Omar Gatlato, 179

der ihr auf selbstironische Art einen Spiegel vorhielt, besser wiedererkennen als in den Kriegsgeschichten oder den belehrenden sozialistischen Filmen. Aus der Lebensrealität der Menschen herausgegriffen, entwirft der Film ein ungeschöntes Bild der Gegenwart, ohne einen moralisierenden Diskurs herbeizuführen. Frei von Idealen und vermeintlichen Lösungsverheißungen208, wie sie in Politik und auch im Kino verkündet werden, spürt Omar Gatlato alltägliche Ambivalenzen verschiedenster Art auf. Der Film veranschaulicht die Diskrepanz zwischen offiziellen Bildern der Gesellschaft und der gelebten Alltagsrealität. Er stellt Populärkultur und Kulturpolitik oder Schwarzmarkt und Behörden wie das Betrugsdezernat gegenüber und zeigt, dass es gerade nicht die offiziellen Narrationen – und deren Reflexion im Staatskino – sind, die die Jugend interessieren, sondern indische (Liebes-)Filme und die Musik des Châabi.209 Omar Gatlato kontert den offiziellen Diskursen mit individuellen Belangen und subjektiven Sichtweisen und eröffnet einen neuen Pfad, auf dem sich marginalisierte Stimmen einen Raum erobern können. Die gesprochene Sprache des Films – das dialektalische Arabisch aus Algier – schreibt diese in einen spezifischen lokalen Kontext ein und verortet sie in dem konkreten Viertel Bab el-­oued (vgl. Berrah 1997: 182). Vorstellungen von Modernisierung und Fortschritt, wie sie z. B. Le Charbonnier vermittelt, werden hier durch Beobachtungen von Zuständen und Menschen ersetzt. Chaotisch überfüllte Busse sowie die ineffektive Arbeit des Protagonisten und seiner Kollegen sind nur einige Beispiele für den karikierenden Blick des Films. An die Stelle von heroischen Freiheitskämpfern oder Helden einer aufsteigenden Bauern- und Arbeiterklasse treten nun Antihelden wie Omar, und der Film führt vor, wie diese an Zwängen und deren möglichen Veränderungen zugleich scheitern. In seiner scharfzüngigen Haltung, die die Spezifität eines „schwarzen algerischen Humors“ transportiert (vgl. Brahimi 2009: 73), hebt Omar Gatlato sich von den Konven-

208 Die Wirkungslosigkeit politischer Vorhaben wird Patrick Crowley zufolge in diesem Film deutlich. Es zeigt sich, dass sich die Lebensumstände der Algerier, entgegen der politischen Parolen und des Tenors der Charta von Algier 1976, nicht verbessert haben und Bevölkerungswachstum, Wohnungsmangel sowie Arbeitslosigkeit zunehmende Probleme der Realität darstellen (Crowley 2007: 81). 209 Châabi ist eine traditionelle Musikform aus Algier, die ähnlich in Marokko verbreitet ist und in Algerien durch El Hadj M’Hamed El Anka geprägt wurde. Sie hat sich gegen Ende des 19. Jhs. entwickelt, ist inspiriert von andalusischer Musik und beinhaltet arabisch-­berberische Texte sowie zahlreiche Instrumente. Châabi handelt von Liebe, Freundschaft und Exil, wurde zunächst als skandalös erachtet und in verschlossenen Orten gespielt, hat sich aber seit den 1950er Jahren als Volksmusik entwickelt.

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tionen des cinéma moudjahid ebenso wie von dem nüchternen Ton sozialistisch gefärbter Filme ab und kreiert seinen eigenen Stil. Omar Gatlato kommt so mitten in der Gesellschaft und Gegenwart an. Die Geschichte des algerischen Freiheitskampfes ist hier noch weniger präsent als in Tahia ya Didou. Dennoch beginnt der Film mit einem Bezug zur Vergangenheit: Omar erzählt, dass sein Vater im Algerienkrieg als einer von 100 Opfern von einer Bombe am Hafen getroffen wurde; und während die Kamera von Bab el-­oued aus über den Friedhof El Kettar, die anliegenden Viertel und großen Wohnblöcke streift, erfährt man, dass dort früher die Trennlinie zwischen europäischen und algerischen Wohngebieten verlief. Omar verkündet: „Jetzt sind wir frei, Bab el-­ oued gehört uns“. Dieses „uns“ ist einerseits auf die Algerier insgesamt bezogen, andererseits auch als Stimme der Jugend zu interpretieren, die sich erhebt und eine Zuwendung zur Gegenwart fordert. Die Sequenz mit einem Onkel Omars unterstreicht diese Botschaft. Während sein Onkel zunächst stumm neben ihm sitzt, erzählt Omar in die Kamera und dem Zuschauer zugewandt, dieser sei ein ehemaliger Freiheitskämpfer und höre sich selbst gerne reden. Nach dieser Einleitung beginnt Letzterer tatsächlich seine Anekdoten über seine tapferen Taten im Krieg zum Besten zu geben, es hört ihm allerdings niemand zu. Omar wendet sich gelangweilt ab, der Großvater schläft ein und die Frauen sitzen auf dem Boden vor dem Fernseher, den Rücken zu den Männern gedreht. Die Abwendung der anderen Figuren von der Erzählung des Onkels sowie das Lauterschalten des Fernsehers – dem sich letztlich auch der Onkel hingibt – sind als ein Zeichen dafür zu deuten, dass man sich nun lieber anderen Themen, Problemen sowie Träumen zuwendet.210 Das Fernsehen, das Kino und der Châabi repräsentieren beispielhaft die Projektionswelten und Wunschvorstellungen der Figuren.

Das Individuum im gesellschaftlichen Korsett Die Unerreichbarkeit von Träumen und die Einengung des Individuums werden anhand verschiedener filmischer Ebenen vermittelt und konvergieren in der Figur Omars, der die gewohnten sozialen Muster nicht überwinden kann. Sein Scheitern symbolisiert die Immobilität der Gesellschaft, eine Art „imprisonment in an inert society, in which people have given up the struggle for change“ (Spaas

210 Das Fernsehen lenkt das Interesse weiter von der Vergangenheit ab, und der Film verweist auf dessen eigene wachsende Bedeutung. In einer anderen Szene lästert Omar über seine Schwestern und andere Frauen, die sich in einen libanesischen Fernsehhelden verlieben.

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2000: 140). Damit kritisiert der Film implizit auch die Politik, die ebenso unbeweglich ist und die Stagnation Algeriens fördert. Die „Gefangenheit“ des Individuums drückt sich unter anderem in dem immer gleich währenden Tagesablauf Omars sowie über die Raumebene aus. Raummangel und Enge werden z. B. durch die Wohnblöcke und die überfüllte Wohnung von Omars vielköpfiger Familie veranschaulicht. Sie verweisen auf die Überbevölkerung in Algerien und zugleich darauf, dass hier kaum ein Platz für Privatsphäre möglich ist.211 Brahimi sieht genau darin eine enge Verbindung zur fehlenden individuellen Entscheidungskraft der Figuren: „L’absence totale d’intimité dans la vie quotidienne est finalement destructrice de l’espace mental aussi bien. Or c’est dans celui-­ci que se forment les décisions“ (Brahimi 2009: 75). Weiterhin werden über Raumkonstellationen, Figuren und Musik die Unerreichbarkeit des anderen Geschlechts sowie eine unterschwellige Spannung zwischen Vorstellungen und Verbotenem, die den Film durchzieht, vermittelt. Omar und seine Freunde befinden sich überwiegend in dem männlichen Geschlecht zugeordneten Räumen wie Cafés oder auf der Straße. Außer in der engen Wohnung ist Omar kaum mit weiblichen Figuren gemeinsam in einem Raum zu sehen. Die Musik des Châabi steht für eine Ausflucht in imaginäre Räume, reflektiert unerfüllte Sehnsüchte: „La musique châabi et les autres musiques populaires, algérienne et hindoue, qui envahissent l’univers diégétique, sont la source où puise l’imaginaire masculin pour pallier le manque et l’absence des femmes“ (Hadj-­Moussa 1994: 159).212 Verschiedene Frauenfiguren und innerhalb des Films medial reflektierte Konstruktionen repräsentieren die unmögliche (außereheliche) Annäherung der Geschlechter. Projektionsfläche sind hier zum einen die indischen Frauen auf der Kinoleinwand. Sie stehen zusammen mit der Musik für die Sehnsucht nach Liebe – und wie ein Zeichen für das Zerplatzen von Träumen bricht der intradiegetisch gezeigte Kinofilm just in dem Moment ab, als die Frauen auf der Leinwand in Richtung Zuschauer tanzen. Auch Omars jüngere Schwester Safia verkörpert eine Unerreichbarkeit und Tabuisierung des weiblichen Geschlechts. Safia stellt für Omar eine Herausfor211 Raummangel und Überbevölkerung in Algier werden sichtbar, insbesondere am engen Appartement der Familie. Die Raumfrage durchzieht Brahimi zufolge das algerische Kino sowohl bezüglich der Kriegsbilder als auch in Hinblick auf die Situation der Frau (vgl. Brahimi 2007: 37, siehe oben). 212 Der Châabi steht hier für männliche Vorstellungen, dem gegenüber stehen der weibliche Gesang der indischen Filme und weibliche Projektionen bezüglich der TV-­ Serien (vgl. Hadj-­Moussa 1994: 161 ff.).

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derung dar, denn sie wohnt wie die anderen kleinen Geschwister mit ihm auf engstem Raum in einem Zimmer, obwohl sie in den Worten Omars „mittlerweile eine junge Frau ist“. Anhand dieser Figur macht der Film die Grenzen zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem deutlich: „Le corps désirable de Safia évoque instantanément les frontières de l’interdit et du permis“ (Hadj-­Moussa 1994: 153). Gleichzeitig drückt sich hier eine Widersprüchlichkeit von Nähe und Distanz im Alltag aus, denn die räumliche Trennung, die der Geschlechterordnung zugrunde liegt, ist in der engen Wohnung nicht möglich. Letztlich steht besonders Selma bzw. ihre Stimme auf der Kassette für die unerreichbare Frau, obwohl sie doch realer als die indischen Filmfiguren und enttabuisierter als die Schwestern scheint. Omars verfehlte Begegnung mit Selma zeigt, dass eine Annäherung dennoch nicht möglich ist.213 Die räumliche Distanz der Straße zwischen Omar und Selma symbolisiert die Trennlinie zwischen den Geschlechtern. Omar kann diese unsichtbare Barriere nicht überwinden und sich frei zu Selma bewegen, was auf die Einengungen durch Gewohnheitsmuster zurückzuführen ist: „En fait, Omar n’a jamais avancé librement dans une démarche inhabituelle, voire exceptionnelle, en sorte que son incapacité à faire ‚un pas avant’ vers une relation nouvelle, si désirable qu’elle soit, n’a rien de vraiment étonnant“ (Brahimi 2009: 75). Selmas Auftreten und ihr äußeres Erscheinungsbild – selbstbewusst, kurze Haare, kurzer Rock – scheinen Omar einzuschüchtern und bringen seine Schwäche hervor. Die „moderne“ Frau ist eine noch zu große Herausforderung und stellt Omars Machogehabe sowie die männliche Autorität in Frage.

Subjektive und brüchige Identitätskonstruktionen Die Spannungen, die der Film mit Blick auf die Geschlechterbeziehungen und alltäglichen Probleme aufbaut, kristallisieren sich auf Erzähl- und Figurenebene in dem Protagonisten. Dieser fungiert einerseits als eine Art intra- und homodiegetischer Erzähler, der aus der ersten Person seine Welt präsentiert und – teils im voice over, teils direkt in die Kamera gesprochen – kommentiert. Andererseits wird er als Teil der Diegese von außen betrachtet und ist den Beobachtungen der heterodiegetischen Erzählinstanz ausgesetzt. Die narrativen Verfahren heben Widersprüche hervor, indem die unterschiedlichen Instanzen auf visueller

213 „Elle était une créature de rêve, est-­il possible qu’elle devienne un être réel tout simplement? De plus, Omar croit entendre la voix de ses acolytes habituels et supposés fidèles compagnons, qui se gaussent de lui, et l’accusent pour ainsi dire de vouloir les trahir et les abandonner. Il est comme une sorte de pantin, dont les ficelles sont tirées de divers côtés“ (Brahimi 2009: 160).

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und auditiver Ebene mitunter divergieren und das Gesagte der Erzählerstimme Omars mit dem Gezeigten kontrastieren. Der Film lässt so besonders hinsichtlich Omars Selbst- und Fremdwahrnehmung Diskrepanzen entstehen und erzeugt eine komplexe Identitätskonstruktion des Protagonisten. Omar präsentiert sich selbst als besonders männlich und trägt nicht umsonst den Namen Gatlato, der ihn auf Arabisch in etwa als „tombeur de filles, en tout cas comme encombré de sa propre et excessive virilité“ bezeichnet (Brahimi 2009: 158).214 Er stellt sich dem Zuschauer stolz und seines Namens würdig vor; dabei kämmt er sich eitel seine Haare. Seine unkritische, machohafte Vorstellung entspricht allerdings nicht dem, was visuell und durch seine Handlungen preisgegeben wird.215 Diese Schieflage zwischen Selbst- und Fremdbild und die Mischung aus subjektiver Perspektive und Außenperspektive bringen zugleich die Komik der Figur mit sich: „L’individualité du narrateur se trouve ainsi scindée entre deux êtres différents qui ne coïncident jamais, d’où l’humour spécifique qui fait le charme du film“ (ebd.: 159). Wie mit einem Augenzwinkern scheint die visuelle Erzählinstanz den Zuschauern/innen Omars Schwächen zu präsentieren. Mit diesem Wechselspiel spiegelt der Film nicht nur die Ambivalenz des Protagonisten und seiner Lebenswelt, sondern stellt auch eine einzige dominante Erzählperspektive in Frage. Nullfokalisierungen und Außenperspektiven werden durch die subjektive Positionierung relativiert, die wiederum zugleich bezweifelt werden darf und Spielraum für eigene Interpretationen lässt. Im Gegensatz zu früheren Filmen wird so gerade nicht der Anschein einer allgemeingültigen, objektiven ‚Wahrheit‘ vermittelt, trotz der dokumentierenden Beobachtungen Omars, die Zeugnisse über den Alltag ablegen. Die verschie214 Der Titel rekurriert in seinem Sinn auf den umgangssprachlichen Ausdruck gtal (töten, in der Vergangenheitsform gatlato) und im Subtext auf das Wort redjla (Männlichkeit), bedeutet also in etwa: (la virilité) elle l’a tué. „La redjla réfère à la virilité, à l’honneur et au courage. Lorsqu’elle est exagérée, elle frôle le machisme. Le titre provient d’une expression argotique et idiomatique qui trouve dans le verbe arabe gtal (tuer) sa véritable signification, sa transparence onomastique. Fortement motive, c’est-­à-dire fondé sur un savoir antérieur extra-­cinématographique, il embraye la fiction et établit toute une série d’attentes chez les spectateurs algériens“ (Hadj-­Moussa 1994: 148). 215 Die Kamera zeigt z. B. seine durchlöcherten Socken, während Omar sich zugleich modisch gestylt präsentiert. Der Handlungsverlauf konterkariert ebenfalls sein Selbstbild: „As he introduces himself and describes his immediate family and geographic environment, he comes across as a virile masculine character; however, it soon becomes clear that this is also a story in which Omar will be shaped by events and by the society around him“ (Spaas 2000: 139).

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denen Erzählkomponenten unterstreichen die Fiktionalität des Films.216 Omar schafft eine Nähe zum Zuschauer, indem er ihn direkt anspricht (tatsächlich oft männlich adressiert als „Bruder“) und dessen Blicke mit seinen zusammenfließen lässt. Seine Kommentare sowie seine zunehmende Unglaubwürdigkeit durch die Diskrepanzen zwischen dem Gesagten und Gezeigtem bauen aber auch eine Distanz auf, die ein tiefes Eintauchen des Adressaten in die Erzählung verhindert. Seine Sprecherfunktion hat so eine fiktionalisierende Wirkung, indem sie einem ständig bewusst macht, dass hier eine Geschichte erzählt wird. Dies betont der Film von Beginn an und bestärkt damit seine innovative Machart. Im Gegensatz zu vorausgegangenen (Kriegs-)Filmen, die anhand von Inserts darauf hinweisen, dass die erzählten Ereignisse der Wirklichkeit entnommen sind oder dieser entsprechen, macht eine Schrifttafel vor der Creditsequenz in Omar Gatlato auf dessen fiktionalen Charakter aufmerksam. Die von Omar inszenierte Männlichkeit wird neben den divergierenden Erzählinstanzen weiterhin im Verlauf des Films in Frage gestellt. Äußert Omar zu Anfang, dass Männlichkeit das einzige sei, was zählt, wird zunehmend deutlich, dass er gerade Schwierigkeiten damit hat, diese unter Beweis zu stellen und z. B. in einen tatsächlichen Kontakt mit dem anderen Geschlecht zu treten. Roy Armes sowie Hadj-­Moussa beobachten jeweils, wie dieser Prozess der Infragestellung von Omars Männlichkeit auf der Erzählebene nachvollzogen wird und der Protagonist an Glaubwürdigkeit und Kontrolle verliert. Durch seine Erzählerfunktion erhält Omar zunächst eine große Autorität, denn das Zuschauerwissen hängt größtenteils von ihm ab: „Sa voix maintient le débit narratif des images et guide la lecture du récit“ (Hadj-­Moussa 1994: 148). Im ersten Teil des Films ist Omar überwiegend allwissend, stellt Kommentare und Voraussagen über das übliche Alltagsgeschehen an. Dies ändert sich im zweiten Teil, nachdem Selmas Stimme in sein Leben tritt: „Son savoir sur les événements lui échappe dès l’apparition de la voix de Selma“ (ebd.: 149). Letztere nimmt von da an einen großen Raum ein; „[It] becomes the new verbal power which makes itself increas­ingly felt“ (Armes 2005: 108). Selma bringt Omars Alltag sowie seine scheinbare Autorität durcheinander, und Omar verliert die Dominanz über die Erzählung: „Now, as Omar loses his command of the events of his life, his confident speech – his 216 Ein voice-­off -Erzähler wird einerseits oft mit einer dokumentarischen Distanz verbunden, kann aber gerade auch die Subjektivität der Figur unterstreichen, wenn darin deren Perspektive repräsentiert wird. „Far from being a simple ‚talking to camera’ approach, Allouache’s chosen style utilizes three methods of narration (direct address, voice-­over, inner monologue) with three basic functions (naming, describ­ ing, predicting)“ (Armes 2005: 106 f.).

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naming, describing, and predicting – is replaced by obsessive listening and by self-­reflective monologues“ (ebd.). Omar spricht weiterhin den Zuschauer an, allerdings erzählt er nun mehr von seinen eigenen Gefühlen, die auch Unwohlsein und Angst beschreiben. Omar präsentiert seine Wohnsituation und seine stolze Kassettensammlung. Merzak Allouache: Omar Gatlato (1976): 00:03:04.

Seine Glaubwürdigkeit (insbesondere bezüglich seiner „Männlichkeit“) nimmt gleichzeitig ab. Omar kann die mögliche Veränderung in seinem Leben durch das zufällige Auftauchen Selmas nicht für sich nutzen; ein Ausbruch aus seinem Alltag und seinen Gewohnheiten gelingt ihm nicht. Er unterliegt gewohnten Mustern, die ihn von einem Überqueren der Straße und der Annäherung an das andere Geschlecht zurückhalten. So scheitert er an den gesellschaftlichen Zwängen, die sich dem so erwünschten Treffen mit Selma und somit einem Schritt zum individuellen Handeln in den Weg stellen. Omar sagt uns, zur Kamera gewandt, er werde Selma anrufen; die visuelle Erzählinstanz zeigt aber seinen üblichen Tagesablauf (vom Anziehen bis zum Weg zur Arbeit in vielen Einzelheiten) und legt somit die Vermutung nahe, dass dies nicht passieren wird. Das Ende des Films gibt somit trotz einer möglichen Offenheit den weiteren Verlauf der Dinge durch Omars Verbleib in seiner Routine vor. Die Widersprüche des Lebensalltags bleiben ungelöst. Die subalterne Stimme des Individuums wird zwar hörbar, hat 186

aber noch Schwierigkeiten, sich durchzusetzen, was durch die fehlende Handlungsmacht reflektiert wird. Mit der Konzentration auf Omars Sichtweise steht insgesamt die männliche Perspektive im Vordergrund. Durch das Hinterfragen von Omars Glaubwürdigkeit und die teils karikierende Darstellung der Figuren werden aber diese aber ebenso wie die Männlichkeit selbst in Frage gestellt; der Film zeigt also eine Brüchigkeit dieses Konstrukts auf. Omar nimmt im Kino „Olympia“ die Musik eines indischen Films auf. Merzak Allouache: Omar Gatlato (1976): 00:08:18.

Résumé Omar Gatlato – sowie auch Tahia ya Didou – verdeutlicht nicht nur die Notwendigkeit einer sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung Algeriens, sondern stellt selbst eine Art Befreiung dar: von den offiziellen Sichtweisen, Erzählungen und filmischen Konventionen sowie von den Barrieren des Ungesagten. Beide Filme zeigen mit ihrer scharfsinnigen Beobachtungsgabe Momente der gelebten Realität in einer sich transformierenden, zugleich stagnierenden und somit widersprüchlichen Gesellschaft. Während in Tahia ya Didou filmisch eher eine Dynamik und Beweglichkeit transportiert wird, vermittelt Omar Gatlato durch seine Darstellung der ‚Gefangenheit‘ des Individuums in Zwängen und Gewohnheiten vielmehr ein Stehenbleiben. Gleichzeitig werden aber auch hier verschiedene 187

Einflüsse und Veränderungen sichtbar, z. B. anhand unterschiedlicher Lebensstile der Frauen. Beide Filme drängen Geschichte an den Rand und lassen sie nur noch fragmentarisch in Flashbacks oder als Relikte in der Gegenwart auftauchen. Durch ihre Kommunikation von Ambivalenzen und Brüchen ebenso wie durch ihren Humor hinterfragen die Filme etablierte Muster, Ideologien und Konstrukte und entkräften Darstellungen von Kollektivität, Objektivität und Ganzheit. Die disparaten Erzählstränge in Tahia, das vielfältige Figurenrepertoire beider Filme sowie die divergierenden Erzählinstanzen in Omar tragen zu einer Heterogenität bei, die einseitige Sichtweisen überholt. Sie präsentieren nicht nur ihre eigenen Perspektiven auf die Gesellschaft, sondern sprechen die Zuschauer teilweise direkt an und fordern so implizit auch auf, selbst nachzudenken und – so könnte man sagen – sich nicht auf vermeintlich objektive, mediale Darstellungen zu verlassen.

2.3. Weibliche Perspektiven auf Geschichte und Gegenwart Im Kontext der Neuorientierung des Kinos der 1970er Jahre machen einige engagierte Filmemacher die Situation der Frauen vermehrt zu ihrem Anliegen. Neben einer inhaltlichen und figuralen Konzentration auf weibliche Akteure treten hierbei ebenfalls ästhetische Veränderungen auf, die etablierte filmische Repräsentationsmuster sowie die offizielle Konstruktion der Nation weiter in Frage stellen. Oben genannte Beispiele wie Le Charbonnier, der die weibliche Emanzipation aufgreift, und auch solche, die sich den Frauenfiguren nur am Rande widmen, wie Tahia ya Didou und Omar Gatlato, bringen mit ihren innovativen Ansätzen bereits einen Vorstoß in dieser Hinsicht. Entsprechend der realen zeitgenössischen Entwicklungen zeichnen die Filme ein vielfältigeres Bild der Frauen, das den Konflikt zwischen Traditionen und Modernität reflektiert und so eine neue Identitätsfindung und ein Überdenken der Frauenrolle andeutet. Die Genderthematik, die Probleme für beide Seiten birgt, ist in Omar Gatlato zentral. Zwar wird die einengende Geschlechtertrennung hier aus männlicher Perspektive betrachtet. Diese wird jedoch durch den ironischen Blick auf Omar gebrochen und somit selbstreflexiv hinterfragt. Frauenfiguren sind in dem Film in verschiedenen Facetten zu finden. Sie sind einerseits häufig auf den häuslichen Innenraum beschränkt (Omars Schwestern, die Unbekannte am Balkon), treten andererseits aber auch in außerfamiliären Kontexten auf. Ein Kontakt zu fremden Frauen ist (nur) über das berufliche Feld möglich, in dem beispielsweise Selma verortet ist. Sie ist laut Mohs Aussagen sehr ‚taff ‘, steht für ihre Kollegen ein und engagiert sich in der Gewerkschaft; zudem vermittelt sie durch ihren äußeren Stil (kurzer Rock, kurze Haare) ein Selbstbewusstsein, das Omar einzuschüchtern scheint. Das schwierige und mit Tabus belegte Verhältnis zwischen 188

den Geschlechtern spiegelt sich in der ambivalenten Inszenierung der weiblichen Figuren. Abgesehen von den verschiedenen Erscheinungsbildern der Frauen anhand ihres Kleidungsstils existieren diese vor allem in der männlichen Vorstellung; sie sind Figuren in Bollywood-­Filmen, Stimmen auf dem Tonband oder werden von Omar mit erfundenen Namen bezeichnet, wie z. B. die Frau auf dem Balkon, mit der er sich versteckte Blicke zuwirft. Junge Frauen wie Selma werden zwar als selbständig und „modern“ repräsentiert. Auffallend ist jedoch, dass Frauen wie sie wenig visuell präsent sind: Selma tritt sogar als Figur erst am Ende des Films für Omar und die Zuschauer sichtbar in Erscheinung, was ihre Unerreichbarkeit umso mehr unterstreicht. Die von Omar vorgestellte Begegnung mit ihr untermalt zusätzlich, wie Selma letztlich, ebenso wie die Frauenfiguren des indischen Films, im Imaginären verhaftet bleibt. Trotz der gleichfalls als imaginiert herausgestellten und ironisierten Männlichkeit tritt in diesem Film also noch keine eigene weibliche Perspektive hervor. Mit dem Fokus auf den Protagonisten Omar sowie auf seine Mitstreiter steht die ‚männliche Welt‘ letztlich doch im Zentrum. Mehrere Filme konzentrieren sich ab Mitte der 1970er Jahre nun umgekehrt besonders auf die Situation der Frauen und fokussieren weibliche Hauptfiguren, wie z. B. Le Vent du Sud (Slim Riad, 1975) oder Leila et les Autres (Sid Ali Mazif, 1977). Die traditionelle Geschlechterordnung gerät dabei in die Kritik und wird mit Vorstellungen von Gleichberechtigung und Selbstbestimmung konfrontiert. In den 1980er Jahren findet diese Tendenz einen erneuten Antrieb angesichts der realen Situation der Frauen, die mit dem code de la famille 1985 sogar einen Rückschritt erlitt, da dieser die Unterordnung der Frau unter ihren Ehemann gesetzlich verankerte. Mohamed Chouikhs La Citadelle (1988), Lakhdar Haminas Le Vent de sable (1982) oder Sid Ali Mazifs Houria (1985) sind hier exemplarisch für die Darstellung von Gewalt und Einengungen starrer Traditionen. Wie im ersten Analyseteil der Arbeit angesprochen, greifen hingegen nur einige wenige Filme auch den historischen Beitrag der Frauen zur Entstehung der Nation auf – sowohl im cinéma moudjahid als auch im cinéma djidid (z. B. La Bataille d’Alger oder Noua). Assia Djebars La Nouba des femmes du Mont Chenoua (1978) vollzieht hier nun gleich in mehrerer Hinsicht eine Zäsur. Ihr Film ist nicht nur der erste, der in Algerien von einer Frau gedreht wurde, sondern stellt weibliche Stimmen über den Unabhängigkeitskrieg ins Zentrum und revidiert damit die etablierte männliche Dominanz in Bezug auf Geschichtsschreibung, filmische Repräsentationen und Geschlechter­ordnung. Wie der Film vor allem über seine gestalterischen Mittel eine Subversion von gängigen Narrationsmustern vornimmt und auf diesem Wege zu einer Diversifizierung des algerischen Kinos 189

beiträgt, wird im Folgenden aufgezeigt. Vorab soll ein kurzer Blick auf Le Vent du Sud geworfen werden, der exemplarisch für die Filme steht, die die weibliche Emanzipation im Kontext von gesellschaftspolitischen Umbrüchen und Modernisierungsdiskursen aufgreifen und vor dessen Hintergrund die Besonderheiten von La Nouba deutlicher werden.

2.3.1. Frauen zwischen Einengung und Aufbegehren In den meisten Filmen, die sich in den 1970er und 1980er Jahren für eine Gleichberechtigung der Geschlechter einsetzen, geschieht das Anfechten traditioneller patriarchaler Rollenmuster vor allem über die thematische Konzentration auf weibliche Schicksale. Dabei werden Frauen einerseits als Opfer konservativer gesellschaftlicher Strukturen dargestellt, ebenso aber als Handelnde, die sich gegen ihre Unterdrückung und Einengung wehren und für ihre persönliche Freiheit kämpfen. Mit Filmen wie Le Vent du Sud, Leila et les autres oder Houria treten neue Akteurinnen auf die Bildfläche des algerischen Kinos, die Widerstand gegen ihre Rollenzuordnung oder z. B. gegen eine Zwangsheirat leisten und deren Perspektiven die Filme nahelegen. Sie sind begleitet von einem veränderten Frauenbild, das sich von früheren Repräsentationen löst, in denen sich die Frauen in ihre Rollen fügen oder zumindest passiv bleiben. Bereits in Bouamaris Werken finden sich eigensinnige und aufbegehrende Frauenfiguren. Die Frau in Le Charbonnier widersetzt sich ihrem Mann und nimmt letztlich das Schicksal der Familie in die Hand. In Bouamaris L’Héritage (1974) ist die Frau sogar die zentrale Protagonistin, die sich mit ihrem eigenständigen Handeln dem ausbeuterischen Verhalten des Stammesführers widersetzt und ihrem von der kolonialen Gewalt traumatisierten Mann durch ihre moralische Stärke eine Reintegration in die Gemeinschaft ermöglicht. Es sind in beiden Filmen ländliche und traditionell lebende Frauen, die sich den patriarchalen Strukturen widersetzen und sich an sozialen Reformen im Kampf gegen die Misere der Landbevölkerung beteiligen. Dabei befürworten sie nicht nur den Wandel, sondern stellen eine treibende Kraft dar und sind (ihren) Männern im Denken und Handeln einen Schritt voraus. Diese Darstellung der Frauen als aktiv, klug und einflussreich unterscheidet sich deutlich von früheren Repräsentationsweisen, die die Frauen in den Hintergrund drängen und in traditionellen oder funktionalen Rollen (als Mutter oder Symbol der Nation) inszenieren. Die Filme des cinéma djidid sowie nachfolgende Werke in den 1980er Jahren spiegeln die reale Teilhabe der Frauen an Modernisierungsprozessen und dem Aufbau Algeriens ebenso wie den Wunsch nach Anerkennung. Die Figurendarstellungen entwerfen die Frauen zunehmend als eigensinnige Charaktere, die 190

sich zwischen Widerstand und Einschränkungen bewegen und mit neuen Eigenschaften auftreten. So sind die zentralen Figuren beispielsweise Studentinnen (Le Vent du Sud und Houria) oder Arbeiterinnen (Leila et les autres). Die meist jungen Frauen stehen für eine neue Generation, die von Veränderungen träumt. Ihre Vorstellungen von Freiheit suchen sie oft in der Stadt, in der der Kampf der Frauen im Kontext von Studium / Bildung und Gewerkschaft präsentiert wird. Die Bildungsmöglichkeiten werden dabei mit konservativen Traditionalismen kontrastiert, die sich vor allem im ländlichen Milieu hartnäckig halten; aber auch die urbanen Lebensweisen und Möglichkeiten, die die Stadt zu bieten scheint, sind von etablierten Denkweisen und Zwängen begrenzt, wie z. B. Houria in dem gleichnamigen Film erfahren muss. In Le Vent du Sud bildet die Kontrastierung von Land und Stadt sowie parallel dazu die Gegenüberstellung von ‚Rückständigkeit‘ und Modernität den Rahmen, innerhalb dessen die Situation der Frauen verhandelt wird. Der Film verfolgt die Geschichte der Studentin Nafissa, die sich gegen ihre Familie auflehnt und letztlich mit dieser bricht, um ihren eigenen Weg zu gehen. Nafissa verbringt die Semesterferien bei ihren Eltern, in einem Dorf im Süden Algeriens. Ihr Vater Si Abed (ein Notabler / Landbesitzer) entscheidet, seine Tochter nicht weiter in Algier studieren zu lassen, sondern sie mit dem Bürgermeister Malek217 zu verheiraten, um seine Beziehung zu diesem zu festigen und einer Enteignung im Zuge der Agrarreform zu entgehen. Nafissa weigert sich, in eine Heirat einzuwilligen, findet jedoch weder bei ihrer Mutter Kheira noch bei den anderen Frauen Hilfe und schreibt verzweifelt an ihre Tante in Algier. Ihre einzige Hoffnung, die alte Töpferin Rahma, verstirbt. Nafissa flüchtet und wird verletzt von dem Hirten Rabah aufgenommen, der ebenfalls von einem besseren Leben träumt. Sie eröffnet ihm die Möglichkeit, in einer der Kooperativen der Regierung Agrartechnik sowie Lesen und Schreiben zu lernen. Gemeinsam setzen sie die Flucht fort, werden allerdings von Nafissas wütendem Vater verfolgt. Sie können gerade noch den Bus nach Algier erreichen. Wie die erhoffte Freiheit tatsächlich aussehen wird, lässt der Film offen. Seine Argumentation entfaltet sich deutlich über dichotome Konstellationen, die insbesondere auf Figuren- und Raumebene zu finden sind und den als fortschrittlich erachteten Aspekten wie Bildung (von Frauen und Männern), Agrarreform und Modernisierungsprozesse starre (ländliche) Traditionen und feudale Ordnungen entgegenstellen. Diese Opposition wird im Hinblick auf die Figuren

217 Dieser ist fortschrittlich eingestellt und vertritt die Modernisierungsprogramme; er lehnt selbst eigentlich den Vorschlag der Heirat ab.

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vor allem durch den Antagonismus zwischen Vater und Tochter dargestellt, deren Konflikt repräsentativ für die Auseinandersetzung zwischen konservativen und progressiven Sichtweisen steht. Die in der algerischen Gesellschaft sehr zentrale Institution Familie gerät dabei selbst in Kritik, zumindest ihre streng patriarchalen Grundlagen. Die von der Politik propagierte Modernisierung sowie der soziale Wandel scheitern innerhalb der Familienstrukturen. Nafissas Vater steht nicht nur dem Studium seiner Tochter argwöhnisch entgegen, sondern versucht auch die Prozesse der Agrarreform zu umgehen. Nafissas Befreiung von den Zwängen gelingt ihr nur, indem sie sich gegen ihre Familie entscheidet, die exemplarisch für veraltete Strukturen steht. Dies wird in der Fluchtszene am Ende des Films symbolisch in den Fortbewegungsmitteln deutlich: Nafissas Vater kann mit seinem Pferd den Bus nicht erreichen, seine ‚Welt‘ gilt als überholt. Die Raumebene erzeugt ebenfalls Oppositionen, betont den Gegensatz zwischen Stadt und Land und repräsentiert nicht zuletzt den Süden als sozialen Ort, in dem die Modernisierung bisher weniger Fuß gefasst hat.218 Die Dichotomie wird bereits zu Beginn des Films angelegt. Nach den ersten Einstellungen, die die Handlung in der südlichen Landschaft verorten, illustriert eine Szene in Nafissas Zimmer ihr Eingeschlossensein unter dem Druck der Familie: Les déplacements de Nafissa – du lit à la fenêtre et de la fenêtre à l’armoire –, l’espace clos de sa chambre et les cadres de la fenêtre et du miroir de l’armoire qui l’enserrent, dé­ doublent le cadre de l’écran et accentuent son cloisonnement. L’argument de l’enfermement participe à la démonstration filmique du contraste qui distingue la ville de la campagne (Hadj-­Moussa 1994: 175).

Nahe Einstellungen und Nafissas Blick auf die Latten der Zimmerdecke, die sie, schon so oft gezählt hat und die sie „erdrücken“, wie ihr innerer Monolog im voice over preisgibt, verstärken das Gefühl der Einengung. In weiteren im on gesprochenen Worten beklagt sie ihre Situation und bekundet, weiter studieren zu müssen. Die anschließende Creditsequenz stellt dem eingeengten Leben auf dem Land ein ganz anderes Bild entgegen, in dem Nafissa frei und unbeschwert scheint. Sie befindet sich dort in der Stadt. Modisch in Rock und Bluse gekleidet und fröhlich lächelnd schlendert sie durch die Straßen und trifft sich mit ihren Freundinnen. Sie bewegt sich hier im offenen Raum, die Kamera blickt teils in Aufsicht auf Nafissa und ihre Freundinnen und unterstreicht so deren eigenständigere Positi-

218 Der Wind (Vent) im Titel, der in vielen Kriegsfilmen als Referenz für den antikolonialen Kampf dient, ist hier ebenso ein Zeichen für Umbruch. Der soziale Wandel, der selbst den Süden erreicht, indem die Agrarrevolution feudale Strukturen verändert, wird hier angedeutet (vgl. Hadj-­Moussa 1994: 177 ff.).

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on außerhalb der Familie. Zudem untermalt die Filmmusik dieser Sequenz eine gewisse Lässigkeit und kreiert eine schwungvolle und positive Atmosphäre. Die gleiche Musik begleitet die Aufbruchsstimmung der Fluchtszene. Ein freieres Frauenbild bzw. Nafissas gewünschte Identität wird so visuell, räumlich und musikalisch vermittelt und der Position der Frauen auf dem Land entgegengesetzt. Der Film verbindet persönliche Freiheit mit dem Leben in der Stadt und vor allem mit Bildung. Nafissa verteidigt Bildung und Studium gegenüber den anderen Frauen aus der Dorfgemeinschaft, verwirft den Verbleib in Unwissen und traditionalistischen Strukturen gar als „animalisches Leben“. Insbesondere über die Figur Malek wird deutlich gemacht, dass Bildung allein aber noch nicht für eine gesellschaftliche Revolution ausreiche. Nafissas Freiheitsmodell wird durch politische Einfärbungen beschnitten, indem auch in diesem Film Bildung, Modernisierung und Agrarreform als ein Argumentationsstrang zusammenlaufen.219 Die Auseinandersetzung mit Geschlechterbeziehungen wird mit der Thematik der Agrarreform verbunden und von dieser sogar teilweise überlagert, wie Hadj-­ Moussa ausführlicher untersucht. Dabei zeigt sie auf, wie die Emanzipation der Frauen und die Agrarreform nicht wirklich kongruent verlaufen und die Situation der Bauern unabhängig von der der Frauen ist: „Plus on parle des droits des pay­ sans et moins on parle de ceux des femmes. Si ce n’était du personnage transitif du père aucun lien ne les aurait liés“ (ebd.: 190). Nafissa und Rabah verbünden sich zwar zu einer gemeinsamen Flucht, verfolgen aber eigene Ziele. Anhand von Rabah und Nafissa wird zudem deutlich, wie politische Aspekte von Fortschritt und Emanzipation sich vor die (sexuelle) Beziehung zwischen Mann und Frau stellen. Hadj-­Moussa veranschaulicht dies unter anderem an einer recht ambivalenten Szene, die die Körperlichkeit der Frau und den männlichen Blick herausstellt. In dieser für das algerische Kino sehr unüblichen Szene wird Nafissas weiblicher Körper fasst nackt exponiert und von dem Hirten Rabah, der sie nachts heimlich aufsucht, erblickt. Nafissa kann vor Hitze nicht schlafen, zieht ihr Hemd aus und streckt sich, nur mit einer Unterhose bekleidet, auf dem Bett aus. Rabah, der ihren Brief an die Tante weitergeleitet hat und sich Dank erwartet, dringt von außen in ihr Zimmer ein; sein Blick – zusammen mit dem des Zuschauers – fixiert den fast nackten Körper Nafissas: „Rabah reste médusé: il projette la pulsion voyeuriste de tout spectateur (algérien) qui se trouve confronté 219 Die politische Konformität wird ebenso darin deutlich, dass ein rationaler und offizieller Islam von anderen traditionellen Ritualen abgegrenzt wird und die Heilungsversuche des ausbeuterischen Cheikhs von Nafissa als Scharlatanismus verachtet werden: „En marge de la religion officielle, ses pratiques sont l’objet d’une parodie tranchante à effet ironique“ (ebd.: 189).

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pour la première fois au corps nu d’une femme algérienne“ (ebd.: 194).220 Nafissa, erschrocken und erbost, verjagt Rabah unter Beschimpfungen wie „chien de berger“, die nicht zuletzt ihren Klassenunterschied in Erinnerung rufen. Die Szene verdeutlicht das Verbotene der Annäherung zwischen den Geschlechtern. Hadj-­ Moussa zufolge wird hier auf ein Verlangen der Figuren verzichtet, ihr späteres Verbünden in der gemeinsamen Flucht ist rational, steht im Zeichen von Studium und Agrartechnik und damit implizit in Verbindung zu Zielen der Agrarrevolution: „La rhétorique du politique fait écran au désir et dénie la sexualité“ (ebd.: 195). Interessant ist ebenfalls, dass hier nicht eine körperliche Befreiung der Frau präsentiert wird, die ihre Selbstbestimmung unterstreicht, sondern ausgerechnet der männliche Blick den weiblichen Körper beherrscht (anders als die unten untersuchten Strategien in La Nouba). Im Gegensatz zu den in Le Vent du Sud erzeugten Dichotomien zwischen Stadt und Land, Modernität und Tradition, zeigt der Film Houria, wie die familiären patriarchalen Strukturen auch das Leben der Studentin Houria in der Stadt beeinflussen und ihre Freiheit einschränken. Ihrem Studienfreund Nourredine, dem sie sich teilweise annähert, gibt sie zu verstehen: „Je suis en liberté surveillée“. Unter dem Druck und der Kontrolle der Familie sowie zwischen ihren Gefühlen zu Nourredine und dem Wunsch nach Eigenständigkeit und Freiheit stehend, gibt sie sich Letzterem hin und lehnt seinen Heiratsantrag ab, nachdem die Familie die lockere Verbindung der beiden verboten hat. Lieber verfolgt Houria weiter ihren unerfüllten Wunsch auf Unabhängigkeit, als sich von der Obhut und Überwachung der Familie direkt in die eines Ehemannes zu begeben. Dabei werden hier auch individualistische Freiheitsideale sichtbar. Houria möchte zunächst ihre eigene Freiheit finden, sich selbst genügen und glücklich sein, bevor sie eine Beziehung zu einem Mann eingeht. Letztlich zeigt dieser Film, dass sich Mitte der 1980er Jahre die Situation nicht wirklich von der Mitte der 1970er Jahre unterscheidet und die Frauen auch im urbanen Umfeld mit gesellschaftlichen Vorgaben zu kämpfen haben. Houria befindet sich am Ende des Films auf dem Balkon, der ihr einen Blick über die Häuser gestattet und zugleich ihre Einschränkung durch die räumliche Begrenzung vermittelt. In beiden Filmen stehen kämpferische Frauenfiguren im Zentrum; ihre Sichtweisen werden unter anderem durch Selbstgespräche präsentiert, die den Frauen eine Stimme verleihen. Die sozialen Muster und Widersprüche 220 Nackte Körper sind im algerischen Kino bis heute kaum zu sehen. Hadj-­Moussa weist darauf hin, dass die Eltern der Schauspielerin (Nawal Zaatar) die Szene herausschneiden lassen wollten und die Schauspielerin selbst lange gezögert hat, sie zu spielen (vgl. ebd.: 197).

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sowie die Einengungen, die trotz des Fortschrittsdiskurses andauern, bleiben in den Gegenüberstellungen von Innen- und Außen, Modernität und Tradition sowie in weiteren Dichotomien innerhalb der Filme bestehen.

2.3.2. Neuschreiben der Geschichte in La Nouba des femmes du Mont Chenoua Obwohl La Nouba des femmes du mont Chenoua zur Geschichte des algerischen Freiheitskampfes zurückkehrt, ist der Film inhaltlich und formal weit entfernt von den männlich dominierten Kriegsfilmen. Er bricht deutlich mit den Heldengeschichten des cinéma moudjahid, indem er bis dahin verborgene weibliche Stimmen und Erinnerungen über den Unabhängigkeitskampf hervortreten lässt und die Frauen als aktive Protagonistinnen in Geschichte und Gegenwart einführt. Als erster Film, der die Frauen tatsächlich für sich selbst sprechen lässt, unterscheidet er sich sowohl von Beispielen wie La Bataille d’Alger und Le Vent des Aurès als auch in vielerlei Hinsicht von den oben angeführten Werken männlicher Regisseure über die Situation der Frauen. Denn La Nouba geht über den politischen Tenor der Modernisierung ebenso wie über die Kritik an den Geschlechter­verhältnissen und politisch-­sozialen Hierarchien hinaus, indem er diese selbst dekonstruiert. Um die Stimme der Subalternen frei zu setzen, löst er sich von dominanten Konventionen des algerischen sowie auch des internationalen Erzählkinos à la Hollywood.221 Djebars Film fordert vorherige und bestehende (kolonialistische, ‚westliche‘ sowie im algerischen Kino tradierte) Repräsentationsmuster regelrecht heraus. Seine außergewöhnliche, experimentelle Erzählform transportiert einen neuen Zugriff auf Geschichte und Gegenwart und lässt sich mit Ansätzen zu postkolonialen (weiblichen) Schreibweisen zusammenbringen.222 Diese sollen hier nicht im Einzelnen diskutiert werden; herausgestellt werden vielmehr die wichtigsten Aspekte des Films, die zu einer Subversion dominanter Diskurse beitragen und eine postkoloniale Denkweise reflektieren. Dabei wird untersucht, wie La Nouba die Ganzheit einer monolithischen Geschichtserzählung demontiert und über Raum- und Zeitebenen, Figuren und Blickkonstruktionen die Zuweisungen des etablierten Geschlechterdiskurses sowie die männliche Dominanz in der Geschichtsschreibung und im Repräsentationsmedium Film unterläuft. 221 Dies zum einen in Bezug auf den von Laura Mulvey (1989) kritisierten „männlichen Blick“ etablierter Narrationsweisen, ebenso bezüglich der filmischen Wirklichkeitsillusion fließender Übergänge (continuity). 222 So z. B. mit Ella Shohats Ansatz des Post Third Worldist Cinema (vgl. Shohat 2006).

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Fragmentation und subversive Erzählstrukturen La Nouba ist eine Komposition aus dokumentarischen und fiktionalen Elementen, die zugleich sehr autobiographische Züge der Regisseurin trägt.223 Anders als in den Filmen des Kriegskinos, die Archivmaterial zur Objektivierung ihrer Aussagen verwenden, verbindet sich hier eine fiktionale Rahmung mit inszenierten Befragungen realer Personen, die zwar Zeugnisse ablegen, dabei aber subjektive Reflexionen und Geschichten liefern. Grob strukturiert ist der Film über die Reise der (fiktiven) Protagonistin Lila, die als alter ego Djebars224 in ihren Heimatort Cherchell zurückkehrt, um dem Verschwinden ihres Bruders während des Algerienkriegs nachzugehen. Lila durchkreuzt die Gegend des Chenoua-­Gebirges und besucht Frauen aus dem Stamm von Djebars Mutter, die ihre Erfahrungen des Befreiungskriegs erzählen. Die Erkundungen führen in verschiedene Schichten der Vergangenheit und Gegenwart. Ähnlich wie in Tahia ya Didou ist die Handlungsstruktur besonders fragmentarisch. Konzentriert auf die Erzählungen und Stimmen der Frauen, ist der Film eher handlungsarm. Statt eines Plots folgt er einer ständigen Bewegung, die von Lilas Suche, mündlichen Erzählungen und Rhythmen geprägt ist. Er gliedert sich in sechs Teile, die dem Aufbau einer Nouba entsprechen – einer traditionellen andalusischen Musikform, bei der verschiedene Musiker und Instrumente abwechselnd im Fokus stehen. Die einzelnen Segmente sind dabei nur lose durch die Befragungen und Deplatzierungen Lilas verbunden und bilden keine zusammenhängende Story; sie sind weder hierarchisch, noch kausal aufgebaut und wenig narrativ entfaltet: „Constructed as a ‚musical suite‘ that is itself made up of heterogeneous fragments, the film proceeds through a succession of delocalized, denarrativized, and/or detemporalized images that are not summed up by any overarching signifier“ (Bensmaïa 2003: 84). Die Teile variieren zwischen Ausschnitten aus Lilas Familienleben in der Gegenwart, Erzählungen der Frauen über die Vergangenheit oder z. B. der Geschichte Zouleikhas, einer jungen moudjahida, die im Krieg getötet wurde; sie gehen zurück bis in das Jahr 1871, enthalten Flashbacks und ebenso mythische und märchenhafte Darstellungen. Innerhalb der einzelnen Abschnitte verbinden sich zuweilen auch voneinander

223 Zu Djebars autobiographischem Schreiben siehe Elke Richter 2008. 224 Lila und ihre familiäre Geschichte sind fiktiv, zeigen aber enge Verbindungen zu dem Hintergrund Djebars auf, der durch den Heimatort und die realen Personen, die Lila aufsucht, zum Vorschein kommt. Die Frauen sind tatsächlich aus der Verwandtschaft von Djebars Mutter. Djebar machte die gleiche Reise wie Lila in Vorbereitung des Films (vgl. Armes 2005: 121).

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unabhängige Bilder. Der Film entscheidet sich also nicht für eine Geschichte (im Sinne von story und history), die im Zentrum steht.225 Diese bewusst gewählte Form des Fragmentarischen bzw. die Auflösung von Kontinuität (continuity) und Einheit schaffen eine Pluralität, die Vorstellungen von Geschlossenheit und die Idee einer großen Erzählung der nationalen Geschichte dekonstruieren. Diegetische Musik und Soundtrack funktionieren zwar als strukturierende Elemente, sind aber ebenfalls keinen übergeordneten Sinneinheiten unterlegen. Die einzelnen musikalischen Abschnitte der Nouba stehen für sich und sind nicht unbedingt kongruent zur visuellen Dimension angelegt. Die musikalische Ebene des Films erfüllt also, anders als oft üblich, nicht die Aufgabe, eine Kontinuität oder Verbindung herzustellen (vgl. ebd.: 94–97). Worte und Töne mischen sich, und die Polyphonie an Stimmen sowie die verschiedenen Räume und Zeitebenen lassen einen eigenen Rhythmus des Films hervortreten. Orientierungen für die Zuschauer/innen oder Mittel, die sie in die Erzählung eintauchen lassen, werden auch auf der Figurenebene wenig gegeben. Lila ist keine Protagonistin im engeren Sinne, die die Handlung vorantreibt oder vor der Lösung eines persönlichen Konflikts steht (vgl. ebd.: 86). Sie führt vielmehr als Chronistin durch den Film hin zu den verschiedenen Frauen und Geschichten, wobei ihre Reflexionen zugleich Einblicke in ihr Inneres erlauben. Lilas eigene Gedanken (innere Monologe) werden im voice over wiedergegeben, also auf einer vom Bild gelösten Tonebene, die aber dennoch nur eine von vielen Stimmen darstellt. Lila erscheint somit vor allem als Vermittlungsinstanz des weiblichen Gedächtnisses, die ein Forum für dessen Pluralität eröffnet. Die fehlende Ausrichtung auf eine Hauptnarration sowie die geringe Handlungsfrequenz des Films erschweren das Eintauchen in den Film, entkräften konventionelle Erzählmuster und fordern die Sehgewohnheiten der Zuschauer heraus. Tatsächlich schien das damalige Publikum von den ungewohnten Erzählweisen irritiert zu sein. Die teilweise sehr langen Einstellungen, die in der Weite verweilen und Blicke umherwandern lassen, ohne eine Aktion zu zeigen, verstärkten Megherbi zufolge eine ablehnende Reaktion auf den Film.226 Die eher 225 „La Nouba des femmes du Mont Chenoua offers the viewers none of the classic narrative perspectives that would enable them to close the circle and enter fully into the subject matter of the film: there is no story, no continuous narrative; nor is there a dominant main character – is La Nouba a film about the martyrdom of Zouleikha? About Lila’s quest? Or is it a tribute to the numerous Algerian women who participated in the Revolution?“ (Bensmaïa 2003: 83). 226 Besonders männliche Zuschauer und Kritiker konnten dem Film nicht viel abgewinnen und bezeichneten ihn als zu anstrengend (vgl. Megherbi 1985: 131): „Par ses len-

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negative Rezeption unterstreicht, dass die Struktur des Films spürbar mit den gewohnten Kinokonventionen der männlich dominierten Geschichtsnarrationen und der kollektiven Widerstandsmythen bricht. Während Filme wie Le Vent du Sud oder Houria die Beengung und Unterordnung der Frau sowie den vermeintlichen Ausbruch daraus (Le Vent du Sud) vor allem inhaltlich verhandeln, setzt La Nouba die etablierten Rollenmuster regelrecht außer Kraft, indem er eine Befreiung der Frau besonders über ästhetisch-­formale Komponenten realisiert. Bewegung, Musik und die Stimmen der Frauen bilden zentrale Achsen des Films und ermöglichen einen Zugang zu verschiedenen weiblichen Geschichten. Durch Lilas Reise werden die aktive Teilnahme der Frauen im Algerienkrieg und persönliche Erfahrungsperspektiven ans Licht gebracht. Unabhängig von gesellschaftlichen Ordnungen bewegt sich Lila dazu frei durch den Außenraum. Sie durchkreuzt die Gegend um Cherchell in ihrem Jeep und eröffnet einen Blick auf eine bis dahin verborgene Welt. Ihr Mann hingegen ist stumm und an einen Rollstuhl gebunden. Der Grund dafür ist ein Sturz vom Pferd und keine Kriegsverletzung; der Kriegsheldenmythos wird somit ausgespart. Entbehren ihm Sprachlosigkeit und Immobilität eine körperliche Selbstbestimmung sowie eine Autorität über seine Frau, ist der Mann in diesem Film eher von der Frau abhängig und befindet sich oft zurückgezogen im Innenraum des Hauses. Rollenmuster werden invertiert. Lilas Bewegung durch den Raum stellt insofern eine Befreiung in mehrfacher Hinsicht dar, als sie keinem anderen Ziel folgt, als den Frauen zuzuhören. Nach Bensmaïa überschreitet der Film damit umso mehr das Tabu, sich als Frau allein und „ohne Grund“ draußen aufzuhalten. Losgelöst von bestimmten Aufgaben oder Zwängen, verkörpert Lila ihm zufolge eine Form des „bloßen Seins“, die es teurs voulues et d’ailleurs nécessaires, sa musique lancinante à coloration orientale, ses silhouettes impassibles, bien qu’exprimant des fragments de vie présente et surtout passée mais non oubliée, Nouba des femmes du Mont Chenoua ne pouvait pas ne pas lasser voire agacer les téléspectateurs dont la plupart sont habitués à l’action, au mouvement rapide des êtres et des choses, en un mot, à tout ce qui éloigne ou contribue à éloigner l’individu de lui-­même, surtout lorsque la quotidienneté se fait insupportable, par ses privations et ses frustrations répétées“ (Megherbi 1985: 130). Megherbis Feststellungen decken sich mit Bensmaïas Interpretation, dass das Publikum nicht auf die weibliche Sicht vorbereitet war (vgl. Bensmaïa 2003: 85). Ranjana Khanna bemerkt, dass La Nouba im algerischen Fernsehen nur einmal gezeigt wurde, „because it was thought to give a disrespectful and limited view of male war veterans“ (Khanna 2008: 125). Der Film wurde dennoch später im Kino gezeigt. Er blieb in Algerien allerdings erfolglos, ebenfalls bei der Jury des „Festival de Carthage“ 1978. In Venedig gewann er hingegen 1979 den Preis der internationalen Presse.

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ihr ermöglicht, zu sich selbst zu finden und sich für die unterdrückten Geschichten und Stimmen anderer zu öffnen.227 Lila wird nicht in einer festen Rolle inszeniert. Sie ist zwar Mutter und außerdem Architektin, bei ihren Erkundungstouren agiert sie aber unabhängig von diesen Zuschreibungen und geht einer Suche nach ihrer eigenen Stimme nach. Lila und die anderen Frauen präsentieren ihre Geschichten, ohne dass diese einer übergeordneten Ideologie dienen. Anders als in La Bataille d’Alger oder Le Vent des Aurès stehen die Frauen nicht symbolisch für die Nation und sind befreit von einer funktionalen Position im nationalen Diskurs, der hier von den Frauenstimmen übertönt wird. Durch die fehlende lineare Struktur erhält das weibliche Gedächtnis einen Platz, der losgelöst ist von fester Zeit- und Raumordnung. Über Bewegung, Stimmen und Blicke wird ein weiblicher Raum perspektiviert, nicht aber fixiert oder national definiert. Anstatt bestimmte Bilder der Frau zu vermitteln und auf sie zu schauen lässt Djebar in ihrem Film die Frauen selbst sehen und erzählen und öffnet so neue Räume: „She extends the spectacle of the Algerian woman as image, which figures in earlier films, to her image as female space, which is occupied by Lila, as well as by the peasant women“ (Khannous 2000: 61). Die weibliche Perspektivierung des Raums oder der Entwurf einer „topography of feminine places“, wie es Bensmaïa (2003: 86) beschreibt, wird besonders durch die Blickkonstruktionen des Films unterstützt. Diese durchbrechen die üblichen Muster des Erzählkinos und den diesbezüglich von Laura Mulvey konstatierten dominanten „male gaze“ (Mulvey 1989).228 La Nouba dekonstruiert ebenso die kolonialen und orientalistischen Repräsentationsweisen der algerischen Frau, ähnlich wie die Filmemacherin dies in ihren literarischen Werken vornimmt. Insbesondere Lilas Blick wird von der Kamera adaptiert, die sie begleitet, wie sie zuhört und beobachtet. Wenn die Kamera auf ihr selbst verweilt und sie visuell fixiert, lenken Lilas Kommentare die Sicht meist ins Innere ihrer Gedankengänge, die ein Gefühl der Gefangenheit ausdrücken. Ein (voyeuristischer) Blick auf den weiblichen Körper wird zwar einige Male durch die sehnsüchtigen auf Lila gerichteten Blicke ihres Mannes angedeutet. Diese werden aber nicht erwidert und 227 Bensmaïa wendet den Ansatz des „lying fallow“ an, eine psychologisch-­philosophische Auslegung, die eine Art Selbstfindung beschreibt, das Sein und Werden ohne ein Ziel anerkennt: „ ‘Lying fallow is a way of being that is above all the proof that a person can be with himself unpurposefully‘. […] This heroine can at last explore her own privacy and come face to face with herself and with others without having a specific purpose, without needing to justify her action“ (Bensmaïa 2003: 88). 228 „The centrality of Lila’s gaze in La Nouba is subversive of the voyeuristic visual plea­ sure which characterizes narrative cinema“ (Khannous 2000: 58).

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somit entmachtet: Zum einen werden sie von der schlafenden Lila ignoriert, zum anderen durch die Montage abgewendet, indem die Kamera von dem Schauen des Mannes direkt auf Lilas in die landschaftliche Weite schweifenden Blick übergeht (vgl. Khannous 2000: 59 f.). Diese Entmachtung lässt sich mit Lindsay Moores Anmerkungen unterstreichen, wonach der Dominierende den erwiderten Blick des Dominierten sucht, bevor er Besitz von dem Körper ergreifen kann (vgl. Moore 2008: 56). Der passiv beobachtende Mann wird hier also durch die sich frei durch den Raum bewegende Frau übertroffen, die sich seinem Blick entzieht und insgesamt eine gewisse Kontrolle des Sehens in diesem Film innehat. Die anderen Frauen werden von ihr gesehen. Aber auch bei diesen Begegnungen wird deutlich, wie der Film mit einer teilweisen Verweigerung des Visuellen spielt oder dies zumindest sekundär ist. Vordergründig sind die Stimmen der Frauen, von denen sich einige nur mit dem Rücken zur Kamera gewandt filmen lassen. Sie entziehen sich damit dem Zuschauerblick, nehmen dem Betrachter seine Macht des Sehens. Auch die Verschleierung einiger Frauen erhält hier eine Kraft, die sich gegen die männliche Autorität stellt. Der Schleier erfüllt nicht nur die traditionelle Aufgabe, den Mann vor der Versuchung des weiblichen Körpers zu ‚schützen‘, sondern er befähigt die Frau als die Sehende, die blickt, aber selbst nicht gesehen wird: „Reminiscent of her revolutionary fidaîa as presented by Fanon and Pontecorvo, she is a threat because men do not know what her presence means or what she sees“ (Moore 2008: 56). Insgesamt fokussiert der Film das Wort und das Innere, die Suche nach dem Selbst sowie persönliche Erinnerungen. Bewegung, umherschweifende Blicke und Zeitsprünge reflektieren eine Sehweise, die weder die Frau, noch die Geschichte in einem Bild fixiert, sondern diese vielfältig entwirft.

Oralität und Heterogenität Die Entziehung des Blicks stellt die Bedeutung der Mündlichkeit, die den Film leitet, umso mehr heraus. Das Sprechen und Hören229 steht hier im Vordergrund, Worte werden zu Klängen und geben dem Werk zusammen mit der Musik seinen Rhythmus. Der Film verweist von Beginn an auf das durch ihn erfolgende Wortergreifen der Frauen: Er verkündet in einem Insert, dass eine Nouba erzählt werde, eine „Histoire quotidienne des femmes (qui parlent à leur tour)…“. Lila äußert zudem performative Phrasen wie „Je parle…“ oder „J’écoute…“. Das Zuhören 229 Die Tonebene ist von besonderer Bedeutung. Teilweise werden Inhalte fast ausschließlich hierüber vermittelt, wenn z. B. das Bild auf einem Berghang verweilt und Kriegsgeräusche zu hören sind, die den Algerienkrieg akustisch evozieren.

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und Redenlassen bildet dann auch den Motor des Films und dominiert seinen Verlauf, in dem mehrere Sprecherinnen auftreten.230 Subjektive Geschichten, Erinnerungen verschiedener Personen sowie einzelne Fragmente verschaffen sich einen Raum und konfrontieren die offizielle (schriftlich fixierte) Historiographie sowie die Objektivierungshaltung früherer Filme. Durch das Hervortreten der weiblichen Stimmen wird die kulturelle Bedeutung der Oralität in Algerien ebenso valorisiert wie die Position der Frauen als Trägerinnen und Übermittlerinnen dieses mündlich bewahrten Gedächtnisses.231 Damit wird auch der Objektstatus der Frauen im Vergleich zu anderen Filmen überwunden, denn Geschichte ist hier nur über die weiblichen Erzählungen greifbar. Außerdem wird sie durch die individuellen Stimmen sowie die verschiedenen zeitlichen Bezüge in einer vielschichtigen Sichtweise vermittelt, die einer Fixierung entgegenwirkt. Der Algerienkrieg wird dabei als ein Element in die komplexe Verflechtung von Vergangenem und Gegenwärtigem verwoben; es zeigt sich eine mehrspurige Schreibweise, die auch in Djebars Romanen zu finden ist: Pour elle [Djebar], dans ce film comme dans son roman L’Amour, la fantasia (1985), la guerre d’Algérie s’inscrit au sein d’une réflexion multiforme, qui englobe aussi bien toute l’histoire de ce pays depuis l’Antiquité romaine et sa conquête par les Français que toute une analyse des rôles traditionnels attribués aux hommes et aux femmes. C’est une sorte de retour sur la guerre récente, dans une perspective historique très élargie et sous une forme très élaborée. La réalisatrice veut ouvrir des voies nouvelles, non commémorer (Brahimi 2009: 26).

Die Vielschichtigkeit und Heterogenität entsteht nicht nur durch das Nebeneinander der verschiedenen Erzählungen und Zeiten (Gegenwart, jüngste Vergangenheit und weiter entfernte Vergangenheit), die sich hier vermischen, sondern auch durch eine Collage aus unterschiedlichen Sprachen, Tönen und Musiken. Dies wird in der Einführungssequenz angelegt, die damit ein Grundmuster vorgibt: „This indicates both the importance of the sound track (music and voice) and the pattern of opposites brought together in the film: the sounds of the Nouba and the Western music of Bartók, the Arabic oral storytelling and the French-­language commentary, the documentary shooting and the dramatic re-­enactment“ (Armes 230 Das hier angewandte Verfahren, sich der Geschichte über das Sprechenlassen von Zeitzeugen zu nähern, kommt Methoden der oral history nahe (siehe hierzu Niethammer 1980). Die oral history ist sich des Einflusses der Gegenwart auf Erinnerungen bewusst, reflektiert die Wandelbarkeit der Selbstkonstruktion und Geschichtsdeutung. 231 Dies zeigt sich z. B. in einer Szene, in der eine Großmutter umgeben von vielen Kindern Geschichten erzählt.

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2005: 117 f.). Gegensätze zeigen sich auf mehreren Ebenen und werden vor allem hörbar. So drückt sich über die Sprach- und Tonebene eine Heterogenität aus, die das postkoloniale, weibliche „writing / speaking back“ charakterisiert. Mit seiner prise de parole der Frauenstimmen antwortet Djebars Film im Prinzip positiv auf die (zeitlich nachfolgende) von Guayatri Spivak gestellte Frage „Can the Subaltern speak?“. La Nouba repräsentiert die Geschichten einfacher und ungebildeter Frauen – also der Subalternen der Nation. Er ermöglicht diesen ein Für-­sich-selbst-­Sprechen, das durch die dokumentarische Komponente zusätzlichen Wert erlangt, indem ‚echte‘ Stimmen der Frauen die vorherrschenden nationalen und männlich dominierten Diskurse durchbrechen. Dabei stellt sich dennoch die Frage nach der Vermittlung und Repräsentation, die jeder Darstellung innewohnen und hier insofern zum Tragen kommen, als der Film in seinen Inszenierungen auch Djebars Zugang und Sicht auf Geschichte und Gesellschaft vertritt. Lila, als alter ego Djebars, lässt die Frauen ihre eigenen Erfahrungen erzählen. Sie ist aber auch eine Beobachterin, die ihre Fragen und Interpretationen mitbringt. Ihr Hintergrund als französisch gebildete Architektin – sowie Djebars Position als frankophone Autorin – verkompliziert die Situation, da sie sich so doch in ihrem Status von den anderen Frauen unterscheidet. Parallel zu Djebars Film verhilft Lila den subalternen Stimmen dennoch dazu, überhaupt eine Öffentlichkeit zu erreichen und nach außen zu treten. Lila blickt zugleich von innen und von außen auf die lokale Kultur der Interviewten. Sie hat sich, wie Djebar selbst, durch ihre Bildung teilweise von den Traditionen und ihrer Herkunftskultur entfernt.232 Ihre voice-­over-Kommentare sind auf Französisch gesprochen. Sie fragt sich zudem selbstreflexiv, ob sie die Frauen wirklich verstehen kann (Diese Reflexion kann auf die Zuschauer übertragen werden und zeigt, dass für das Aufdecken der subalternen Geschichten eine Anstrengung notwendig ist). Wichtig ist, dass sie es versucht, dass sie zuhört und reden lässt, ohne zu werten oder eine zielgerichtete Aussage anzuleiten. Lilas Stimme überlagert zwar teilweise die Stimmen der Frauen, indem sie übersetzt oder kommentiert. Dennoch sind auch die Originaltöne und lokalen Dialekte zu hören. Der Film schafft somit vielmehr eine Polyphonie, als dass er Lilas (und auch Djebars) Sprache und Interpretation aufzwingt. Die Übersetzungen verweisen nicht zuletzt auch darauf, dass die Darstellungen – dokumentarische und fiktive Formen, Interviews und subjektive Ansichten – selbst stets vermit232 Djebar setzt sich in diesem Film mit ihrer Herkunft und den verschiedenen Sprachen, die sie umgeben, auseinander. Sie kehrt zur Sprache ihrer Mutter zurück, die im Gegensatz zur Sprachpolitik steht und einen „authentischen“ Ausdruck algerischer Kultur und der weiblichen Stimmen ermöglicht (vgl. Armes 2005: 115 ff.).

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telt sind. Sie tragen Unsicherheiten und Verschiebungen in sich; vor allem aber stehen so Sprachen und Erzählungen nebeneinander und werden gleichzeitig hörbar. Dadurch wird neben den verschiedenen Spuren der Geschichte auch eine kulturell-­sprachliche Heterogenität und Überkreuzung kommuniziert.233 Differenzen werden aufgegriffen, aber nicht aufgelöst oder als dichotome Oppositionen gegenübergestellt. Für mehrsprachige Zuschauer/innen werden kulturelle und geschichtliche Aspekte hier in verschiedenen Facetten zugänglich; für die anderen ist die Vielfalt an verschiedenen, parallel existierenden und auch fremden Versionen und Sprachen zumindest vernehmbar. Der Film stellt über seine Verfahren auf mehreren Ebenen die Gleichzeitigkeit von Verschiedenem heraus, mit Blick auf Geschichte bzw. Gedächtnis, Sprache und Kultur, die polyphon inszeniert werden.

Résumé Die Analyse hat beispielhaft aufgezeigt, wie La Nouba durch seine fragmentarische und heterogene Erzählweise die Idee einer großen nationalen Narration destabilisiert und Vorstellungen von Homogenität und fixierten (Geschlechter-) Identitäten unterläuft. Nicht nur Thematik, Figuren und deren Handlungen, sondern verschiedenste Aspekte der Filmästhetik tragen hier deutlich zu einer Subversion etablierter Denk- und Repräsentationsmuster bei. Der zweifachen Streichung der Frauen im kolonialen und im nationalen Diskurs wird durch eine Neuperspektivierung von Raum, Zeit und Geschichte(n) entgegnet, die die dominanten politischen und filmischen Darstellungen durchquert und verschiedene weibliche Stimmen und Gedächtnisse hervortreten lässt. La Nouba entspricht so einem Kampf an „zwei Fronten“, wie ihn Ella Shohat in etwa in ihrem Ansatz zum Post-­Third-Worldist Cinema beschreibt: und zwar einen ästhetisch-­politischen Kampf, der ein Neuschreiben von Geschichte und Nation anhand formaler Mittel ausdrückt (vgl. Shohat 2006: 42). Durch seine subalternen Gegenerzählungen, die eine innere Vielfalt der Nation auf kultureller und Gender-­Ebene vertreten, bedeutet der Film laut Shohat einen „break away from earlier macronarratives of national liberation, re-­envisioning the nation as a heteroglossic multiplicity of trajectories“ (ebd.: 47). Mit seiner postkolonialen Schreibweise überwindet er die Muster eines männlich dominierten Nationalismus und Antikolonialismus, wie sie beispielsweise in der Ausrichtung des Third 233 „[Djebar] crée ainsi un espace de rencontre irréversible des cultures – coloniale, arabe ainsi que musulmane et berbère – dont les éléments ne s’excluent plus, mais deviennent irréductibles et s’entrelacent dans leur médialité“ (Gronemann 2001: 57).

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Cinema zu finden sind. Ebenso geht er in seinen spezifischen sozio-­historischen Implikationen über ‚westlich‘ verankerte feministische Forderungen hinaus (vgl. Khannous 2000: 55) und bricht sowohl patriarchale Strukturen als auch orientalistisch geprägte Stereotype auf. Insgesamt lassen sich anhand der Frauenfrage Tendenzen im algerischen Kino beobachten, die parallel zu anderen Diversifikationen und Umbrüchen verlaufen und verschiedene Konzeptionen von Identität und Geschichte andeuten. Dabei handelt es sich nicht um eine chronologische Entwicklung, aber es lassen sich Schwerpunkte zu verschiedenen Momenten der algerischen Filmgeschichte aufzeigen, was Ausnahmen oder Gegenentwicklungen nicht ausschließt. Während die Kollektivdarstellungen im cinéma moudjahid den Frauen kaum eine eigene Stimme ermöglichen und die Frauenfiguren vielmehr funktional als Symbol der Nation dienen, bringen die Umbrüche des cinéma djidid andere Repräsentationsweisen hervor. Die Veränderungen reichen von neuen Rollen bis hin zu innovativen Inszenierungen wie in La Nouba, die mit etablierten Zuordnungen und Identitätsfestschreibungen brechen. Filme wie Le Charbonnier und Le Vent du Sud gehen einen ersten Schritt in Richtung veränderter Darstellungsweisen und machen die Frauen zu selbstbewussteren Akteurinnen. Über die Rebellionen der Figuren verwerfen sie das Bild passiver Frauen, die auf einen Objektstatus reduziert werden. Sie bleiben dennoch häufig in einem dichotomen Denken verhaftet, das gesellschaftliche (Geschlechter-)Ordnungen spiegelt und mit der Betonung auf Oppositionen zwischen Traditionen und Modernität auch dem Fortschrittsdiskurs der Politik folgt. Einen derartigen Diskurs überwinden bereits Filme wie Tahia ya Didou und Omar Gatlato, die zwar männliche Perspektiven in den Vordergrund stellen, diese aber hinterfragen und durch Fragmentation, Subjektivität und Heterogenität insgesamt ein einheitliches Bild der Nation unterlaufen. Djebars Film schreibt nun Nation und Geschichte aus weiblicher Perspektive und mit alternativen Repräsentationsmitteln neu. Erst hier hat die Frau eine eigene Stimme. Dichotomien von gesellschaftlich-­kulturellen Aspekten werden durch eine Polyphonie aus Zeugnissen und Legenden, subjektiven Erfahrungen, verschiedenen Zeiten, Klängen und kulturellen Referenzen ersetzt.

2.4. Entmystifizierung des Freiheitskampfes in den 1980er Jahren Stellt La Nouba ein prägnantes Beispiel für eine Form des weiblichen counter cinema dar, so fällt die Anzahl an deutlich subversiven Gegengeschichten im algerischen sowie auch im arabischen Kino insgesamt lange Zeit gering aus und bewegt sich Shafik zufolge, ähnlich wie Djebars Werke, häufig im dokumentarisch-­ experimentellen Modus (vgl. Shafik 1996:  243). Der Bruch mit (inter-) 204

national etablierten Narrationsmustern und Konventionen fördert dabei das Hervortreten neuer Perspektiven. Außerdem können bestimmte Ausrichtungen möglicherweise auch eine Zensur besser umgehen. Gleichwohl demontieren verschiedene algerische Filme das monolithische Konstrukt der offiziellen nationalen Geschichte auch ohne große ästhetische Besonderheiten, indem sie tabuisierte Aspekte oder Erinnerungen marginalisierter Gruppen erzählen. Eine größere Vielfalt an (verdrängten) Einzelgeschichten tritt vermehrt seit den letzten zwei Jahrzehnten und besonders im Rahmen eines transnationalen Produktionskontextes auf (siehe IV.4.). Dieses Kapitel fokussiert vorerst zwei Beispiele aus den 1980er Jahren, die ebenfalls einem transnationalen Rahmen entspringen und das innovativ-­subversive Potenzial des cinéma djidid fortführen, indem sie über inhaltliche und / oder formale Veränderungen einen neuen Zugriff auf den Algerienkrieg ausdrücken. Mit Les folles années du twist (Zemmouri, 1983) und Les Sacrifiés (Touita, 1982) werden zwei Filme betrachtet, die – wenn auch ganz anders als La Nouba – die Reflexion über die nationale Geschichte weiter diversifizieren. Auf ihre jeweils eigene Weise dekonstruieren diese Filme die tradierten Vorstellungen des einheitlichen und heroischen nationalen Widerstands, und zwar einmal anhand humoristischer Verfahren (Les folles années du twist), einmal durch die Thematisierung des Konflikts zwischen FLN und MNA (Les Sacrifiés).

2.4.1. Les folles années du twist – Satirische Dekonstruktion des nationalen Heroismus Zemmouri beschreitet mit Les folles années du twist einen radikal anderen Weg als die meisten Regisseure in vorangegangenen Filmen über den Algerienkrieg, indem er den komödiantischen Modus, der seit den 1970er Jahren vermehrt in Werken zu gesellschaftlichen Themen Fuß fasste, nun auch auf die Verarbeitung dieses bedeutenden nationalen Gründungsereignisses anwendet.234 Nachdem Lakhdar Haminas Hassan Terro schon 1968 einen Schritt in diese Richtung wagte, verwandelt Zemmouris Film die Kriegsgeschichte gänzlich in eine humorvolle Unterhaltung.235 Ähnlich wie Hassan Terro rechnet er mit Profiteuren ab, die sich

234 Zemmouri drehte bereits 1981 mit Prends dix-­milles balles et casse-­toi eine Komödie über die Rückkehr von Migranten und deren Fremdheit in Algerien. Er lebt in Frankreich und seine Filme adressieren das französische und algerische Publikum. 235 Hassan Terro war zuvor ein Theaterstück, das dann mit dem beliebten algerischen Komiker Rouiched in der Hauptrolle verfilmt wurde. „[Hassan Terro] profanisierte als erster algerischer Film den Mythos des Partisanen“ (Shafik 1996: 238). Die Figur

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in letzter Stunde zu Helden erklären lassen; er geht noch darüber hinaus, indem er den Figuren und historischen Beteiligten jegliche Ernsthaftigkeit entzieht. Gekonnt pointiert zeigt Zemmouris Film in Form einer Satire inoffizielle Seiten und Widersprüche des Kriegsalltags, bei dem sich Möchtegernhelden ebenso wenig ruhmvoll verhalten wie die als lächerlich inszenierten französischen Soldaten, deren Befehlshaber neckisch John Wayne genannt wird. Der Film spielt in der Stadt Boufarik (Geburtsort des Regisseurs) und porträtiert das Alltagsleben der Einwohner inmitten des franko-­algerischen Konflikts. Obwohl die erzählte Zeit die Endphase des Algerienkriegs, von ca. 1960 bis hin zum Erreichen der Unabhängigkeit 1962, umfasst und mehrere realhistorische Details aufgreift, steht der nationale Freiheitskampf dramaturgisch dennoch im Hintergrund. Konkrete Referenzen sowie z. B. (Radio-)Ansprachen durchziehen zwar als historisierende Versatzstücke den Film – von de Gaulles Rede zur algerischen Selbstbestimmung, dem Putschversuch der Generäle, über Demonstrationen in Bezug auf das Referendum zur Abstimmung über die Unabhängigkeit, bis hin zur Formierung der OAS. Damit ist der Krieg einerseits stets präsent. Durch die Figuren und ihre teils burleske Inszenierung lenkt der Film andererseits aber deutlich von dem großen gewaltsamen Konflikt ab. Er verfolgt nämlich in erster Linie die Missgeschicke der beiden jugendlichen Protagonisten Boualem (Malik Lakhdar Hamina) und Salah (Fawzi B. Saichi), die sich weniger für das politische Geschehen interessieren als für ‚westliche‘ Musik, insbesondere den Twist. Die Erzählung konzentriert sich auf die Schwächen und Fehlbarkeiten ‚echter‘ Menschen, die keiner Idealvorstellung entsprechen und sich zwischen den Fronten der Europäer und der FLN befinden. Les folles années präsentiert also im Gegensatz zu den üblichen Kriegserzählungen Unerwartetes und konterkariert anhand seiner komischen Figurendarstellung sowohl Helden- als auch Opfergeschichten. Dies wird im Weiteren anhand einer Beispielauswahl veranschaulicht. Bereits Titel und Eröffnungssequenz des Films zeigen, dass die Aufmerksamkeit nicht dem Krieg selbst gewidmet ist. Der „Twist“ steht metonymisch für eine körperbezogene, jugendkulturelle Erscheinung und deutet nicht nur auf eine transkulturelle identitäre Orientierung der Protagonisten, sondern gewissermaHassans befürwortet zwar die Freiheit seines Landes, aber ohne einen großen persönlichen Einsatz. Hassan wird aufgrund eines Missverständnisses von der französischen Polizei für einen „Terroristen“ gehalten und gerät ungewollt in die Konflikte des Freiheitskampfes. Der Film lieferte Guemriche zufolge dem algerischen Kino einen Antihelden, der diesem bis dahin fehlte (vgl. Guemriche 2012: 100). Hier wird deutlich, wie vielfältig Lakhdar Haminas Gesamtwerk trotz seiner Einbindung in das Staatskino ist.

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ßen auch auf eine Befreiung des Films von der üblichen, schweren Kriegsgeschichte. Denn diese wird hier mit einer ungewöhnlichen Leichtigkeit erzählt. Besonders die Hauptfiguren Boualem und Salah vermitteln eine Unbeschwertheit und lenken das Interesse von den Ereignissen des Algerienkriegs auf sich und ihre Welt. Dies wird gleich zu Beginn durch die Montageanordnung der Eingangssequenz unterstützt, die den visuellen Fokus von anfänglichen Aufnahmen von Militärhubschraubern deutlich abwendet, um ihn auf das Blickfeld der jungen Männer – die schöne Nachbarin Kheira – zu richten.236 Die Jugendlichen halten sich aus dem Konflikt zwischen Algerienfranzosen und Algeriern heraus und geben sich opportunistisch; sie versuchen sich erst im letzten Moment möglichst profitabel an den Siegeszug der FLN anzuschließen. Primär gehen Boualem und Salah ihren persönlichen Interessen und Leidenschaften für Musik, Mode und Mädchen nach. In ihrem Verhalten und ihrem Auftreten verkörpern sie paradigmatische Antihelden, die karikiert und fast wie Comicfiguren dargestellt werden. Stets im Partnerlook gekleidet, in Karohemden und geflickter Jeans, erscheinen sie als ein unzertrennliches Duo, das sich über betontes Männlichkeitsgehabe versucht, als ‚harte Kerle‘ darzustellen, dabei aber eher albern wirkt. Mit ihren Sonnenbrillen und einem Tattoo auf der Brust (Boualem), sind sie mehr als en vogue und pflegen ihr Modebewusstsein deutlich intensiver als ihr politisches Engagement. Sie schlagen sich durch mit kleinen Gaunereien und nutzen die Turbulenzen des Kriegs – jedoch geraten sie bei ihren Aktionen immer wieder in peinliche Situationen, die sie trottelig und sympathisch-­komisch wirken lassen.237 236 Der Film eröffnet auf der Tonebene mit Kriegsgeräuschen. Erste visuelle Eindrücke präsentieren zunächst entsprechend eine Vielzahl von Hubschraubern, die über die Stadt fliegen und in Aufsicht gezeigt werden. Die Kamera schwenkt daraufhin nach unten und fokussiert die Protagonisten, die ihren Blick nach oben gerichtet haben. Diese Montageanordnung sowie der Kommentar von Boualem („Dieser Anblick ist wirklich provokativ“) suggerieren, dass die beiden Männer nach oben zu den Hubschraubern schauen. Auf der visuellen Ebene schließt sich dann jedoch direkt der wahre Blickpunkt an, indem eine Frontalaufnahme von Kheira gezeigt wird, die sich die Haare kämmt und mit den Protagonisten flirtet. Die Montage zeigt somit, dass nicht die Hubschrauber (Krieg) im Sichtfeld und Interesse von Boualem und Salah stehen, sondern das andere Geschlecht. 237 Beim Orangenklauen werden sie erwischt und festgenommen. Ihre Eltern malen sich die schlimmsten Szenarien aus, erwägen ihre Söhne in Kriegsgefangenschaft. Am nächsten Morgen werden die Väter verhört. Dabei wendet die Polizei die üblichen Methoden an: Sie taucht Tayebs Kopf in Wasser, um ihn zum Reden zu bringen; dieser trinkt zum Erstaunen des Polzisten das Wasser aus. Unterdessen wurden die Übeltäter vom Plantagenbesitzer Gomez zur Wache gebracht. Die scheinbare Heldentat entpuppt sich für die Familien als peinlicher Vorfall.

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Neben ihren unrühmlichen Verhaltensweisen zeichnet sie ebenso eine große Portion Widersprüchlichkeit aus. Boualems ständige Rede davon, sich als Freiheitskämpfer im Maquis zu aktivieren, entspricht eher einem prahlerischen Getue als einem ernsthaften Vorhaben. Salah will davon nichts wissen und fast verwerfen sich die beiden darüber. Gleichzeitig besuchen sie europäische Cafés und tanzen inmitten der „gegnerischen Seite“ Twist. Ihr Hin und Her zeigt nicht nur, dass sie unbeschwert das tun, was sie wollen, sondern es verweist auch auf Hybridisierungen und Grenzüberschreitungen im Alltag des kolonisierten Algerien (siehe unten). Die gescheiterten Assimilierungsmaßnahmen der Kolonialregierung, bzw. deren Versuche, die Algerier noch von den ‚Wohltaten‘ der Kolonialmacht zu überzeugen, werden ebenfalls spielerisch verarbeitet. Eine dazu von der Regierung angeordnete Weihnachtsfeier für die algerische Bevölkerung wird von Boualem und Salah freiwillig besucht, während viele Bewohner aus dem Dorf fast zur Teilnahme gezwungen und auf Lastern zur Veranstaltung hin transportiert werden. Mit der Absicht, sich als Sänger zu versuchen und berühmt zu werden, nimmt Boualem dort an einem Gesangswettbewerb teil. Als einziger Kandidat wird er Sieger und gewinnt einen Auftritt im Fernsehen. Statt Bewunderung erntet sein Sieg allerdings vor allem bei den älteren Frauen nur abfällige Bemerkungen, die sich beklagen, dass es keine ‚echten‘ Männer mehr gebe. Gegen Ende des Films tritt Boualem letztlich doch noch der ALN bei; er wird zum Kommandeur ernannt und kontrolliert die Zufahrt zur Stadt. Salah lässt sich ebenfalls in letzter Minute als Kriegsheld feiern. Nachdem er (zufällig) bei einer Demonstration mitgelaufen ist, dient ihm eine dort zugezogene kleine Verletzung dazu, sich als Kriegsverwundeter hervorzutun. In Wahrheit ist er nur hingefallen, jedoch macht sein scheinbar „heldenhafter Einsatz“ schnell die Runde in seinem Umkreis. Mit viel Ironie amüsiert sich der Film so über die angeblichen Heldentaten der Protagonisten und rechnet implizit mit Profiteuren ab, die einen Nutzen aus der Befreiung Algeriens ziehen, ohne sich tatsächlich dafür eingesetzt zu haben. Deutlich wird dies unter anderem an Boualems Bemerkung, Salah könne jetzt dank seiner „Kriegsverletzung“ Rente und eine Wohnung beanspruchen und vielleicht erhalte er sogar einen Posten als Direktor. Les folles années verübt damit scharfe Kritik an einem überhöhten Heroismus und vor allem an denjenigen, die in der außerfilmischen Realität nach der Unabhängigkeit aufgrund ihrer „Heldentaten“ wichtige Ämter bekleiden und darin ohne große Mühe auf Ewigkeit verweilen. Damit werden auch die zeitgenössischen Machthabenden angegriffen, die in den 1980er Jahren immer noch den Vorteil der sich selbst legitimierenden Einheitspartei genießen, während in der Bevölkerung der Unmut über die Regierung wächst. 208

Eine weitere Dekonstruktion des auf Einheit und Heroismus eingeschworenen offiziellen Diskurses nimmt der Film über sein insgesamt vielfältiges Figurenrepertoire vor, das eine Mischung aus unterschiedlichen politischen Positionierungen der Algerier aufweist. Während die Europäer einstimmig die Algérie française verteidigen (einige von ihnen in der OAS), finden sich unter den Algeriern neben Vertretern der FLN ebenso selbstverständlich Figuren, die versuchen, sich aus der Politik herauszuhalten und auch solche, die offen als Anhänger de Gaulles auftreten. Die karikierende Figurendarstellung des Films wirkt sich dahingehend aus, dass hier keine der beteiligten historischen Gruppen ernst genommen wird – weder die französischen Soldaten oder pieds-­noirs, noch die FLN-­Anhänger, die algerischen Gaullisten oder die Unentschlossenen.238 Somit bezieht der Film auch keine eindeutige Stellung zum franko-­algerischen Konflikt. Er schwächt vor allem die Dominanz der FLN-­Position, indem er andere Optionen aufzeigt239 und das Bild eines einstimmigen Befreiungskampfes konterkariert. So macht er im Gegensatz zu anderen Filmen diejenigen sichtbar, die sich unentschlossen zwischen den Fronten befinden. Neben Boualem und Salah sticht hier besonders Boualems Vater Si Tayeb (Mustafa El Anka) hervor, der sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmert und sich lieber von größeren Konflikten fernhält. Ängstlich und zwischen den Fronten eingekesselt, zahlt er für die FLN, „ist aber nicht in der Politik“, wie er selbst sagt. Er passt zugleich auf, dass er sich vor der FLN, den pieds-­noirs sowie algerischen Anhängern de Gaulles korrekt verhält, gerät dabei aber oft in verfängliche Situationen. Beispielsweise steht eines Morgens, als er sein Schustergeschäft öffnen will, ein großer Schriftzug „Vive le FLN“ auf seinem Rollladen; Tayeb versucht diesen mit seinem Körper zu verdecken, beobachtet vom französischen Militär auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er stellt sich verlegen mit ausgebreiteten Armen auf – „wie Jesus“, lachen seine Freunde im Vorbeigehen, und einer bekreuzigt sich gar –, bevor er den Schriftzug mit einem Blumenbild übermalt. Seiner Naivität geschuldet beschwert er sich bei einem der FLN-­Vertreter. Dieser macht ihm weiß, dass allein das Zahlen für die FLN noch kein gebührender Einsatz sei. In weiteren Eskapaden zeigt sich Tayeb als Gegenbeispiel eines mutigen Helden und vorbildlichen Nationalisten. Aus Angst vor der französischen Armee versteckt er sich beispielsweise in einem Teppich. Als Boualem besorgt nach seinem Vater sucht, rollt die Mutter ihren Mann lachend aus dem Teppich heraus; Tayeb sitzt bloßgestellt und wie ein 238 Auch der alte Tahar, der von morgens bis abends oft zusammenhangslos „Vive de Gaulle“ posaunt, wirkt harmlos; er scheint eher verwirrt als überzeugt. 239 Politische Binnendifferenzierungen der Unabhängigkeitsbefürworter sowie Konflikte zwischen FLN und MNA werden allerdings nicht angesprochen.

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kleines Kind am Boden. Offenbar scheint seine Frau die Mutigere zu sein. Nach erreichter Unabhängigkeit verkauft Tayeb dann selbstgenähte algerische Flaggen, deren Sterne allerdings vier statt fünf Zacken haben. Über die Figurenebene wird so die unhinterfragte und aufopferungsvolle Hingabe für den Freiheitskampf in diesem Film als nicht mehr selbstverständlich vermittelt, entsprechend des außerfilmischen Hintergrunds, in dem die FLN-­Regierung zunehmend an Halt in der Bevölkerung verliert. Das Zeigen von Angst, Eigennützigkeit und Unentschlossenheit setzt ganz neue Perspektiven frei und relativiert den Heldendiskurs in Politik sowie in früheren Filmen. Über das Schwanken der Figuren drückt sich nicht nur Angst oder ein politischer Opportunismus aus, sondern reflektiert der Film auch die Realität der Beeinflussung und Hybridisierung von Lebensstilen während der Kolonisation, die im offiziellen nationalen Diskurs sowie in den meisten früheren Filmen verdrängt wird. Der Einfluss von Mode und Musik (auf die Jugend) ist in Les folles années trotz des Kriegs nicht zu übersehen; der Twist begleitet die Erzählung sogar leitmotivisch in Titel und Filmmusik. Er steht einerseits für eine westliche Musikrichtung, die körperbetont ist bzw. körperliche Freiheit impliziert; andererseits kann er auch symbolisch für eine Befreiung von Herrschaft und Politik – der französischen und algerischen – gelesen werden, da er die politischen Ereignisse und Diskurse regelrecht übertönt. Ebenso lassen von den Franzosen eingeführte moderne Haushaltsgeräte sowie Fernsehen oder Alkohol ihre Spuren im Alltag. Über verschiedene Details wird also das Paradox von Abgrenzung und Überschneidungen der zweigeteilten kolonialen Gesellschaft aufgegriffen, wobei hauptsächlich der französische Einfluss auf die algerische Bevölkerung sichtbar wird. Dies wird auch über die sprachliche Ebene des Films deutlich. Die Hauptsprache der algerischen Figuren ist Arabisch, aber auch außerhalb der Kommunikation mit Europäern wird das Französische häufig verwendet. So unterhalten sich Boualem und Salah über das übliche Code-­Switching und den in der algerischen Alltagssprache integrierten französischen Anteil hinaus oftmals auf Französisch und weisen eine Affinität zur französischen Kultur auf.240 Der Film macht ebenso die Ambivalenz und das Nebeneinander der Kolonialgesellschaft deutlich. Die europäischen Einwohner sind zwar auch hier eher Nebenfiguren, sie sind aber immerhin präsenter als in anderen Filmen und es gibt mehr Berührungspunkte. Man kennt sich und ist sich gar nicht so fremd. 240 Ein Grund für die Mehrsprachigkeit kann in dem transnationalen Produktionskontext des Films gesehen werden, dies sollte jedoch deshalb nicht gleich für selbstverständlich genommen werden. Der bewusste Einsatz beider Sprachen verweist hier zugleich auf eine Grenzüberschreitung.

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Als Nachbarn wohnen einige pieds-­noirs im selben Wohnblock, gegenüber von Boualems und Salahs Familien. Streits und Vorurteile machen zugleich die Verfeindung der Gruppen sichtbar. Der Widerspruch zwischen Nähe und Distanz zwischen den Bevölkerungsgruppen wird hier aufgegriffen. Besonders anhand von Verhaltensweisen der pieds-­noirs werden klischeehafte Bilder abgerufen, die so übertrieben dargestellt werden, dass sie selbst ironisch gebrochen werden.241 Les folles années präsentiert letztlich einen Querschnitt der kolonialen Gesellschaft anhand von Figuren verschiedener Positionierungen, die sich allerdings nicht auf die Berberfrage oder politische Parteien ausweiten, sondern sich zwischen den Optionen FLN, Enthaltung oder Algérie française bewegen. Dass hier die Möglichkeit einer Unentschlossenheit hinzukommt, überwindet die übliche Binarität zwischen FLN und Kolonialmacht umso mehr. Mit seinen Anspielungen auf Fragen der Assimilation und Hybridisierung weist der Film zudem darauf hin, dass trotz des politischen Konflikts (auch nach der Unabhängigkeit) kulturelle Spuren des europäischen ‚Anderen‘ zu finden sind – unabhängig davon, ob dies positiv oder negativ zu bewerten ist. Durch die kulturellen Grenzüberschreitungen wird indirekt die offizielle Vorstellung einer homogenen algerischen Identität angefochten. Mit seiner Konzentration auf Antihelden und Opportunisten verwirft Les folles années etablierte Schemata der nationalen Narration. Durch seine satirische Herangehensweise nimmt er auch formal eine Entmystifizierung des Befreiungskampfes vor (vgl. Shafik 1996: 238 f.), wie sie bisher kaum zu sehen war. Er provoziert, indem er die unantastbare Geschichte der Nation mitsamt ihrem dazugehörigen Heroismus entweiht. Les folles années ist insofern subversiv, als er anhand der Anspielung auf die Profiteure sowie der verschiedenen präsentierten Haltungen der Figuren im Algerienkrieg das Diktat einer einzigen Position schwächt. Er stellt so die Basis der Einheitspartei in Frage und reflektiert den zeitgenössischen Kontext, in dem die Legitimierung des Regimes zunehmend schwer fällt.

2.4.2. Les Sacrifiés – Inneralgerische Konflikte im Freiheitskampf Auf ganz andere Weise als Les folles années – und zwar in einer tragischen Erzählung – erweitert auch Okacha Touitas Les Sacrifés das Spektrum der Darstellungen der franko-­algerischen Geschichte. Les Sacrifiés macht als erster Film den

241 Die pieds-­noirs demonstrieren eifrig für ihre Algérie française, rennen aber weg, als die größere algerische Demonstration im Anmarsch ist. Beide Seiten werden, wie erwähnt, nicht ernst genommen. Die durch Gewalt geprägte Beziehung zwischen den Bevölkerungsgruppen zeigt sich z. B., als Boualem und Salah versuchen, Europäerinnen anzumachen und von deren bewaffneten Freunden davongejagt werden.

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inneralgerischen Konflikt zwischen der FLN und der MNA zu seinem zentralen Thema und widerspricht so in politischer Hinsicht noch deutlicher als Les folles années dem Mythos der Einstimmigkeit der algerischen Nation im Entstehen. Der Film vollzieht damit einen deutlichen Tabubruch bezüglich des im Rahmen der offiziellen Historiographie Sagbaren. Er präsentiert ein bis heute weitgehend verdrängtes Kapitel der algerischen Geschichte, das auch nach seinem Erscheinen insgesamt wenig auf der Bildfläche auftaucht.242 Dass sowohl Les Sacrifiés als auch rezentere Werke zu dieser Problematik in einem französisch verorteten Produktionskontext entstanden sind, zeigt, dass eine Bearbeitung dieses Konflikts erst durch Möglichkeiten außerhalb des nationalen Staatskinos realisierbar(er) wird. Da die Besonderheit des Films hauptsächlich in dem Zeigen und Aussprechen des Ungesagten liegt, beschränken sich die Überlegungen hierzu auf eine Zusammenfassung der inhaltlichen Aspekte sowie auf kurze Deutungen zu Titel und Figurenebene. Les Sacrifiés konzentriert sich unverblümt auf die Gewalt und die Spaltungen der Algerier untereinander. Der Film umfasst eine Zeitspanne von Beginn des Algerienkriegs Mitte der 1950er Jahre bis zur Unabhängigkeit 1962. Dabei verbindet er thematisch ein Grundkapitel der französisch-­algerischen Immigrationsgeschichte mit dem antikolonialen Kampf in Frankreich. Der Protagonist Mahmoud wird nach Frankreich ausgewiesen und landet – wie viele andere emigrierte Algerier der ersten Generation – in der Barackensiedlung algerischer Migranten in Nanterre.243 Sofort wird er von der dort agierenden lokalen FLN vereinnahmt, die sich alsbald einen erbitterten Kampf mit der MNA liefert und mit zunehmender Radikalität vorgeht. Männer aus den eigenen Reihen, die (angeblich) Verrat begangen haben, werden ebenso hingerichtet wie Mitglieder der MNA oder auch harkis, die die französische Seite unterstützen. Anschläge auf von der MNA geführte Cafés, Erschießungen auf offener Straße oder einzelne Hinrichtungen von Abtrünnigen bestimmen das Vorgehen der FLN. Mahmoud fährt dabei die Autos, er schießt nicht selbst und verkraftet die Gewalttaten schlecht. Nach einer zweijährigen Gefängnisstrafe von Mahmoud und seinen Gefährten gelingt es einigen von ihnen, sich unter dem lokalen Anführer zu regruppieren und den Kampf fortzuführen. Die MNA ist inzwischen fast eliminiert und die Gewaltangriffe der FLN richten sich nun hauptsächlich gegen die harkis, die von der 242 Rachid Boucharebs Hors-­la-loi setzt sich 28 Jahre später näher mit diesem Konflikt auseinander (siehe IV.4.1.). Ahmed Rachedi erwähnt in C’était la guerre (1993) ebenfalls die interne Gewalt der nationalistischen Bewegung. 243 Touita drehte 1980 bereits den Kurzfilm Rue Tartarin, der sich mit dem Thema Nanterre befasst und auch in Cannes gezeigt wurde.

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französischen Polizei zur Patrouille eingesetzt werden. Die Gruppe um Mahmoud wird ein zweites Mal inhaftiert. Mahmoud selbst ist in Folge der Gewalttaten psychisch erkrankt, so dass er seine ehemaligen Mitstreiter nicht erkennt. Während diese sich arrangieren und im Gefängnis der bevorstehenden Unabhängigkeit entgegensehen, wird Mahmoud von seinen traumatischen Erlebnissen verfolgt und bleibt in seinen Vorstellungen gefangen. Der Jubel der Insassen zur Verkündung der Unabhängigkeit, mit dem der Film endet, lässt den abseits stehenden, verstörten Mahmoud unberührt. Der Film verdeutlicht zum einen die Gewalt unter den Algeriern, die – im Gegensatz zum offiziellen Diskurs der unicité – die Uneinigkeit im Prozess des nation building demonstriert. Zum anderen werden die psychischen Auswirkungen und die Wunden des Kriegs sichtbar. Die mit dem Filmtitel Les Sa­ crifiés explizit hervorgehobenen Opfer oder auch Geopferten beziehen sich in diesem Fall also nicht nur auf diejenigen Algerier, die heldenhaft für die Nation im Kampf gegen die Franzosen gefallen sind. Das in früheren Filmen übliche Opferparadigma – mit seinem vorwiegenden Bezug auf Märtyrer (La Bataille d’Alger, Chronique, Opium et le bâton etc.) oder in seiner symbolischen Funktion (Le Vent des Aurès) – wird hier durch ernüchternde und verborgene Tatsachen ergänzt, die ihm seine mythische Kraft entziehen. Die Bezeichnung „Sacrifiés“ erfährt eine semantische Erweiterung und ist mehrfach konnotiert. So stehen mit dem Protagonisten Mahmoud die durch den Krieg psychisch Geschädigten im Zentrum; ebenso können mit dem Begriff auch die Opfer der internen Säuberungsaktionen der FLN erfasst werden, die, hier kritisch gesehen, für den einheitlichen Kampf ‚geopfert‘ wurden. Statt eines Märtyrers, der einen glorifizierten Tod für die Nation stirbt, wird vor allem das Zerbrechen des Einzelnen an der Gewalt illustriert, wobei das brutale Vorgehen der FLN ebenso folgenreich ist wie die französischen Foltermethoden. Bedeutend ist, dass Les Sacrifiés in seiner Darstellung des Kriegsgeschehens die individuelle Geschichte des Protagonisten Mahmoud fokussiert und somit trotz der erreichten algerischen Unabhängigkeit letztlich kein positives Ende findet. Das tragische Schicksal Mahmouds überdeckt die Befreiung des algerischen Kollektivs und die diesbezügliche Euphorie. Zudem wird über die an ihm orientierte Erzählperspektive eine Distanzierung gegenüber den Gewalttaten hergestellt. Der Film verweist also darauf, dass mit dem nationalen Ziel noch nicht alle Konflikte gelöst sind und die Probleme des Einzelnen sowie (persönliche) Folgen andauern. Außerdem wird deutlich, dass das Trauma der Nation nicht nur durch die koloniale Gewalt, sondern gerade auch durch den unverarbeiteten ‚Brudermord‘ unter den Algeriern eine schwere Last bleibt. Der Film bietet somit eine kritische 213

Reflexion, die den Ton von Heroismus und Glorifizierung des Freiheitskampfes dämpft und Zweifel an der Selbstverständlichkeit des Einparteiensystems aufkommen lässt. Mit dem Aufzeigen der verschiedenen Fronten und Konflikte im Algerienkrieg – sowohl der internen Auseinandersetzungen unter den Algeriern, als auch des Kampfes gegen die französische Polizei und die harkis –, vermittelt er eine Komplexität, die über das übliche Feindschema hinausgeht. Das vielseitige Figurenrepertoire verwischt die Grenzen zwischen colonisé und colonisateur bzw. die Feindlinien nach nationaler Zugehörigkeit und macht eine teils zwiespältige Beziehung zu den Franzosen sichtbar. So finden sich französische Figuren, die die FLN unterstützen – sogenannte porteurs de valises244 – oder sie zumindest tolerieren. Ein Franzose ist beispielsweise ein wichtiges Verbindungsglied des lokalen FLN-­Anführers; ein anderer, Gino, der mit seiner Schwester außerhalb in einem Campingwagen wohnt und als „Zigeuner“ bezeichnet wird, liefert Waffen und Zuflucht. Seine Schwester geht mit Mahmoud eine Beziehung ein, womit auch das Thema der (außerehelichen) Verbindungen über koloniale und traditionelle Schranken hinweg angedeutet wird.245 Touitas Film zeigt in seiner Inszenierung des franko-­algerischen Konflikts und dessen Austragung auf französischem Boden also mehrere verdrängte Aspekte und Akteure (MNA, harkis, porteurs de valises), die bis dahin kaum filmisch oder politisch aufgearbeitet und berücksichtigt wurden. Feindschaften und Freundschaften überschreiten hier national kategorisierte Grenzen.

Résumé Les Sacrifiés und Les folles années du twist tragen jeweils auf unterschiedliche Weise zur Erweiterung der kinematographischen Reflexion über die algerische Geschichte bei, indem sie über Tabubrüche und provokative Erzwählweisen die offiziellen nationalen Narrationen inhaltlich oder formal herausfordern. Beide Filme entfernen sich in ihren Aussagen vom Heroismus und Einheitsdiskurs des FLN-­Regimes und akzentuieren diese Distanznahme bereits in ihren Titeln. Denn sowohl der Twist als auch die Geopferten, die hier eben keine Märtyrer, sondern die Folgen der internen Gewalt verkörpern, dekonstruieren das idealisierte Bild des nationalen Kampfes. Nach Benjamin Stora können die Werke als Vorboten

244 Die porteurs de valises unterstützten die FLN unter dem Netz von Francis Jeanson, vor allem durch das Überbringen von Geld und falschen Papieren, daher der Name der „Kofferträger“. 245 Dies wird zuvor nur in wenigen Filmen, wie Elise ou la vraie vie, verhandelt.

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von Veränderungen im außerfilmischen politischen und gesellschaftlichen Kontext gesehen werden, da sie den Unmut in der Bevölkerung aufspüren, der sich dann wenige Jahre später in den Unruhen 1988 kristallisiert (vgl. Stora 2008: 267). Rahmenbedingungen wie der im Vergleich zu früheren Filmen größere zeitliche Abstand zum Algerienkrieg und die Produktion in Frankreich oder in kooperativer Zusammenarbeit mit französischen Firmen scheinen es diesen Werken ermöglicht zu haben, verschwiegene Aspekte aus dem Verborgenen zu holen bzw. einen humorvollen Umgang mit der schmerzvollen Vergangen­heit zu finden. Touita greift in der Folge von Les Sacrifiés weitere Tabu- oder Randthemen auf, so zum Beispiel in Le Rescapé (1986), der von der Geschichte eines harkis handelt, dem am Ende des Kriegs die Kehle durchgeschnitten wird, was er allerdings überlebt.246 Zemmouri dreht mit L’Honneur de la tribu (1993) einen Film, der wiederum Machtgierige anprangert und deren Verwicklung in den Bürgerkrieg andeutet. Insgesamt entsteht eine größere Vielfalt an Themen und Perspektiven durch Filme in Algerien und Frankreich, die in den 1990er Jahren auch zunehmend die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen ex-­colonisé und ex-­colonisateur verhandeln, darunter z. B. Allouaches Un amour à Paris (1990) oder Touitas Le Crie des hommes (1990). Die zunehmende Pluralisierung an Perspektiven auf die franko-­algerische Geschichte ist im Kontext der allmählichen Aufarbeitung und zunehmenden Zeugnisse von persönlichen Geschichten zu sehen (siehe II.1.). Filmisch sind heroische Erzählungen dennoch trotz der wachsenden Kritik und Vielfalt an Positionen weiterhin zu finden. Eine Rückkehr zu Heldengeschichten zeigt beispielsweise Les Portes du silence (Amar Laskri, 1987), in dem der taubstumme Amar die Zerstörung seines Dorfes rächt.

3. Filmischer Widerstand: Das Kino im Kontext des Bürgerkriegs­ Die vorigen Analysen zeigten, wie bereits seit den 1970er Jahren immer wieder Filme innerhalb des staatlichen Rahmens entstehen, die dennoch einen Weg finden, mit ihren Botschaften die nationalen Parameter zu entkräften. Dieses Kapitel widmet sich nun der filmischen Auseinander­setzung mit Geschichte und Zeitgeschehen im Kontext des Bürgerkriegs der 1990er Jahre. In dieser Zeit, in der homogenisierende, radikale Strömungen in der Gesellschaft einen Zuwachs erfahren, wird das Kino, das selbst als Zielscheibe der Islamisten gilt, erneut zu 246 Dieser Film wurde laut Roy Armes bezeichnenderweise wohl nicht ausgestrahlt (vgl. Armes 2005: 41).

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einer Art counter cinema – hier nun nicht mehr im Zeichen des Antikolonialismus, sondern im Sinne eines Widerstands gegenüber dem Fundamentalismus und dem eigenen Staat. Sowohl in den Einzelwerken als auch im Gesamtblick eines größeren Korpus an Filmen, die sich entweder mit der Anfangsphase des Konflikts beschäftigen oder extreme Gewaltausartungen verarbeiten, spiegelt sich der Zerfall der Nation in einer zunehmenden Dekonstruktion nationaler Identitätsvorstellungen. Kritische Sichtweisen von Geschichte und Gegenwart sowie verdrängte algerische Realitäten finden in dieser Zeit verstärkt einen Ausdruck und unterlaufen die nationalen Pfeiler Religion, Sprache und Vaterland. Wie Patrick Crowley in einem Aufsatz (2007) darlegt, liegt die Gemeinsamkeit vieler Filme der 1990er und der 2000er Jahre darin, dass sie offizielle Bilder Algeriens außer Kraft setzen und das Schweigen bezüglich der terroristischen Gewalt brechen. Crowley fasst die Filme Bab el-­oued city, Rachida, Viva Laldjérie und Bled number one ins Auge, die entweder, wie die beiden ersten, den Bürgerkrieg selbst thematisieren oder, wie die letzteren, eine traumatisierte Gesellschaft in der „post-­terroristischen“ Ära – wenn man sie denn als solche bezeichnen kann – präsentieren. Insbesondere Rachida und Bab el-­oued city bringen das Scheitern der Nation und des Staats zum Ausdruck: „[They] bear witness to pain, intolerance and violence in ways that indirectly criticize the successive failures of the state as well as catalogue intolerance and terrorism. As such they chronicle the collapse of an official image of Algeria“ (Crowley 2007: 85). Ebenso erschüttern Filme wie Viva Laldjérie das etablierte Bild der Nation, indem sie diesem einen heterogenen Entwurf Algeriens gegenüberstellen, der vor allem die Marginalisierten der Gesellschaft fokussiert. Das Kapitel verfolgt anhand von Beispielen, wie die Filme im Einzelnen und insgesamt den Vorstellungen von einer „reinen“ Identität eine kulturelle und soziale Pluralität gegenüberstellen. Dabei gilt das Interesse weniger der Gewaltdarstellung als dem filmischen Widerstand gegen die auferlegte Homogenisierung, die in extremer Form durch Terrorismus erzwungen wird, in anderem Maße aber auch in dem von der Regierung seit der Unabhängigkeit propagierten Bild der nationalen Identität diktiert und tradiert wird. Die filmischen Gegengeschichten äußern sich über verschiedene Dimensionen, die sowohl die Genderebene beinhalten (Rachida, Barakat!) als auch kulturell-­sprachliche Aspekte (berberische Filme); sie vermitteln Identitätsforderungen und stellen Revisionen der nationalen Geschichtsnarration an. Vor dem Hintergrund der zunehmenden politischen Spannungen werfen viele Filme einen neuen Blick auf die franko-­algerische Vergangenheit und den Unabhängigkeitskrieg. Die Evokation der Kolonialgeschichte und die dadurch gezogenen 216

Verbindungen zu den zeitgenössischen Entwicklungen erklären sich aus dem außerfilmischen Kontext heraus, in dem die Frage nach den Ursprüngen der unvorstellbaren Gewaltauswüchse der 1990er Jahre gestellt wird (siehe Kapitel II). Auch die Filme versuchen, neben der Verurteilung der Gewalt und der Suche nach den Verantwortlichen, zumindest mögliche Erklärungsansätze zu finden.247 Die Neureflexion über die koloniale Vergangenheit steht so in Verbindung mit dem Überdenken nationaler Identitäts­konzeptionen. Während einerseits der Staat und andererseits die Islamisten die Definition der Nation für sich beanspruchen, zeigen die filmischen Auseinandersetzungen, dass weder die Regierungspartei noch die radikal instrumentalisierte Religion den alleinigen Definitionsanspruch besitzt (besitzen darf). Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass einige Filme auch die Beziehung zu den Algerienfranzosen während der Kolonialzeit thematisch neu aufrollen, so z. B. Fettars Amour interdit oder Touitas Le Crie des hommes.248 Derartige Filme bestätigen anhand ihrer Thematik, wie sich auf der Makroebene des Korpus eine Diversifizierung abzeichnet, die die homogene Konstruktion der Nation sowie die einseitige Sicht auf die Geschichte in Frage stellt und demgegenüber verflochtene Geschichten inszeniert. Im ersten Teil des Kapitels stehen Filme im Zentrum, die in den Anfängen des Bürgerkriegs entstanden sind und die nationale Historiographie und Legitimation der Regierung revidieren. Mit dem Fokus auf berberische Filme sowie auf Werke algerischer Regisseurinnen stehen im zweiten und dritten Teil subalterne Geschichten im Zentrum, die einen kulturell-­identitären Widerstand leisten und die Gewalt des Bürgerkriegs verarbeiten. Schließlich wird auf alternative und desillusionierende Bilder Algeriens geblickt, die über Provokation und marginalisierte Perspektiven erzeugt werden.

3.1. Zerbrochene Nation und gescheiterter Staat Im Kontext der politischen Entwicklungen entstehen Anfang der 1990er Jahre mehrere Filme, die den wachsenden Islamismus erfassen und das staatliche Versagen bezüglich einer Demokratisierung Algeriens bilanzieren. Werke wie 247 Einige Filme, wie Rachida (Bachir-­Chouikh, 2001) oder die Literaturadaption Mourituri (Touita, 2007), behandeln die Ereignisse dekontextualisierter und konzentrieren sich auf die Visualisierung der unglaublichen Gewalttaten. Sie bringen damit gerade die Unerklärbarkeit sowie die Willkür und Sinnlosigkeit des Terrorismus zum Ausdruck, der kaum rational zu fassen ist. 248 Diese Filme sind nicht zu erhalten, weshalb sie in den Analysen nicht weiter aufgegriffen werden. Ihre Themenwahl spricht aber für eine Revision der Geschichte aus grenzüberschreitender Perspektive.

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Automne, Octobre à Alger (Malik Lakhdar Hamina, 1991), Touchia (Mohamed Rachid Benhadj, 1992), Bab el-­oued city (Merzak Allouache, 1993) und Youcef (Mohamed Chouikh, 1993) bilden diese erste Phase an Filmen, die die Gewalt in einen Rahmen politischer Versäumnisse stellen. Neben Rückkopplungen an die franko-­algerische Geschichte spielen zentrale Ereignisse wie die Proteste vom Oktober 1988 eine Rolle. In Automne, Octobre à Alger und Bab el-­oued city sowie auch in dem späteren Film El Manara (Hadjadj, 2004) werden Letztere als ein entscheidender Ausgangspunkt des Machtgewinns der Islamisten vermittelt und somit die Verantwortung für die Gewalteskalation bei der Militärregierung gesucht. Automne, Octobre à Alger macht die Unruhen vom Oktober 1988 und deren gewaltsame Niederschlagung zu seinem Hauptthema. Durch die intertextuelle Verbindung des Titels zu Jacques Panijels Octobre à Paris (1962), der die Massaker an algerischen Demonstranten am 17. Oktober 1961 in Paris dokumentiert (siehe IV.4.1.), wird hier implizit eine Parallele zwischen Kolonialmacht bzw. Pariser Polizei und algerischer Militärregierung gezogen, die die algerische Staatsführung zu einem ebenso unterdrückenden System degradiert. Der Vorspann des Films zeigt Bilder verschiedener Demonstrationen und Revolutionsereignisse, wie z. B. den Fall der Berliner Mauer, und bettet ihn somit in weltpolitische Ereignisse ein. Weitere Filme etablierter sowie jüngerer Cineasten ziehen Bilanz und rechnen mit dem Regime ab. Damit stehen die algerischen Filmemacher nicht allein. Wie Denise Brahimi beobachtet, zeigt sich diese Tendenz auch in den anderen maghrebinischen Kinos, die die Legitimation der korrupten Regierungen anzweifeln, kritische Blicke auf die Gegenwart werfen und in diesem Zuge eine Neubefragung der Vergangenheit vornehmen (vgl. Brahimi 2009: 85).249 Mit Bab el-­oued city und Youcef werden nun zwei Beispiele betrachtet, die jeweils auf ihre Weise das Scheitern des algerischen Staats illustrieren und freiheitliche Botschaften sowie kulturelle Heterogenität kommunizieren. Beide Filme ziehen Verbindungen zwischen Gegenwart und Kolonialgeschichte, die die Spirale der Gewalt in Algerien demonstrieren.

3.1.1.  Youcef und die Desillusionierung Youcef ou la légende du septième dormant – wie der volle Titel lautet – macht eine regelrechte Verwechslung des kolonialen und postkolonialen Algeriens zum zentralen Kern seiner Erzählung. Zwischen 1992 und 1993 gedreht, reflektiert 249 Als Beispiel sei hier der marokkanische Film Casanegra (Nour-­Eddine Lakhmari, 2008) genannt, der die (düstere) Lebensrealität in Casablanca aufgreift.

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der Film die Entwicklung des zeitgenössischen Algeriens und verweist mittels allegorischer Verfahren auf das politische Verfehlen der ursprünglichen Ziele des Freiheitskampfes. Das kritisierte Verhalten der neuen Machthabenden, die sich wie ehemals die Kolonisatoren selbst bereichern, ebenso wie die Gewalt des Regimes und der Fundamentalisten stellt die Bedeutung der Unabhängigkeit in Frage. Über die tragische Geschichte des geistig erkrankten Youcef drückt der Film den ‚Wahnsinn‘ aus, in den Algerien verfallen zu sein scheint. Youcef bricht 30 Jahre nach Erreichen der algerischen Unabhängigkeit aus einer psychiatrischen Anstalt aus. Aufgrund einer Kopfverletzung kann er sich nicht erinnern und glaubt sich immer noch im Kampf gegen den Kolonisator, aus dessen Gefangenschaft er zu fliehen meint. Das gegenwärtige Algerien, das er nach seiner Flucht entdeckt, unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht nicht von dem kolonialen Algerien, besonders in Bezug auf die Unterdrückung und Armut der Bevölkerung. So versucht Youcef weiterhin, sich für die genuinen Ziele der Freiheitsbewegung einzusetzen und führt seinen Kampf als letzter aufrichtiger Soldat für ein freies und demokratisches Algerien fort. Die Zustände im Land sowie das Verhalten der neuen Machthabenden fördern Youcefs Irrglauben ungemein. In seinem alten Dorf angekommen, trifft Youcef auf ehemalige Kampfgefährten wie seinen alten Chef Athmane, die Reichtum und mächtige Positionen erlangt haben und nun selbst wie Kolonialherren in Villen leben. Andere damalige Mitstreiter finden sich in den Reihen der Islamisten wieder. Dadurch stellt der Film über seine Figurenebene indirekt auch eine Verbindung zwischen Islamisten und den Machteliten her, die jeweils die Ziele der ‚Revolution‘ verraten haben. Eine weitere Parallelisierung und gleichzeitige Gegenüberstellung von damaligen Freiheitskämpfern und gegenwärtigen Djihadisten unterstreicht die Pervertierung der Freiheitsideale: Youcef verwechselt die Islamisten aufgrund ihrer kämpferischen Haltung und Waffen mit den combattants des Freiheitskampfes und präsentiert sich ebenfalls als ein combattant, der sich ihnen anschließen möchte. Er wird jedoch schnell mit den ihm entgegengesetzten Haltungen der Islamisten konfrontiert und von diesen vertrieben. Täuschungen und Enttäuschungen, das Spiel von Illusion und Wirklichkeit durchziehen leitmotivisch den Film und symbolisieren die Verstrickung von Vergangenheit und Gegenwart. Youcefs Kopfverletzung wird erst gegen Ende des Films thematisiert, als ihm ein Röntgenbild gezeigt wird, das ihn von seinem Krankheitsbild überzeugen soll. Alles Mögliche wird getan, damit Youcef seine Gedächtnislücke und den Zeitsprung überwindet und in die Gegenwart 30 Jahre nach Ende des Unabhängigkeitskriegs kehrt. Dazu wird ihm auch ein Film vorgeführt, der die erreichte Unabhängigkeit Algeriens bestätigen soll. Chouikh wählt hierfür Szenen aus dem 219

(Doku-)Fiktionsfilm La Bataille d’Alger. Damit wird nicht nur auf die Täuschungen der Gegenwart angespielt, sondern auch eine Reflexion über die Illusionskraft von Medien angestellt. Chouikh erklärt in einem Interview, dass er auch auf die Rolle des algerischen Kinos aufmerksam machen wollte, das durch seine Einbettung in das staatliche System meist parteiisch und nur ausgewählt die postkoloniale Realität darstellt (vgl. Armes 2007: 140). Der Einsatz der Filmszenen im Film hebt den illusionären Charakter hervor und hinterfragt damit die Realität der algerischen Befreiung: So wie die Bilder des vorgeführten Films eben nur Bilder der Unabhängigkeit sind, bleibt diese für Youcef eine unwirkliche Vorstellung. Trotz aller Mühen der Autoritäten, den Beweis der erreichten Unabhängigkeit zu erbringen, kann Youcef kaum davon überzeugt werden, denn das Algerien, das er mit seinen eigenen Augen gesehen hat, ist alles andere als das, was er unter Freiheit versteht. Wie für Chouikhs Werke insgesamt charakteristisch, macht Youcef diese Desillusionierung über eine gescheiterte Demokratisierung Algeriens auch an der Unterdrückung der Frauen sichtbar. Archaische Traditionen und radikaler Islamismus werden dabei als deutliche Gegner der Befreiung der Frau angeklagt. Die Kampfansagen der Islamisten zeugen von der Missachtung der Frauen(rechte): „Ce qui pourrit notre société de l’intérieur c’est la femme libérée qui bafoue nos valeurs morales par son dévergondage et ses mœurs légères“. Youcef hingegen bringt den Frauen viel Sympathie entgegen. Die ihm aus der Psychiatrie bzw. aus der Kriegszeit bekannten Fatima und Aicha werden zu ihm geschickt und sollen helfen, ihn in die gegenwärtige Realität zu holen. Ihre eigenen Geschichten verhindern dies aber ebenfalls. Der Film deutet immer wieder auf eine allgemeine Unfreiheit und evoziert dies insbesondere mittels seiner Bilder, die Bezüge zum Unabhängigkeitskrieg herstellen. Youcef trifft zum Beispiel den Neffen eines ehemaligen Kameraden als Frau verkleidet an, der sich so vor Athmane versteckt, da dieser droht, ihn aufgrund der Beziehung zu seiner Tochter umzubringen. Bevor Youcef mit ihm gemeinsam zum Markt durch das Dorf geht, um die Angehörigen seiner toten Kameraden aufzusuchen, tarnt er sich ebenfalls unter einem Schleier. Derartige Szenen verweisen auf Handlungen im antikolonialen Kampf und erinnern wiederum an Filme wie La Bataille d’Alger. Dieser intertextuelle Bezug verstärkt die Wirkung des erwähnten intradiegetisch eingefügten Filmausschnittes, indem er die Verschiebung des Freiheitskampfes illustriert: So wie die Tarnung unter dem Schleier während des Unabhängigkeitskriegs dem Schutz vor der Kolonialmacht und dem Transport von Waffen diente, wird sich nun vor den neuen Machthabenden und internen Bedrohungen geschützt. 220

Youcef tarnt sich unter einem Schleier. Mohamed Chouikh: Youcef (1993): 00:35:33.

Der hohe Anteil an symbolischen und allegorischen Elementen, die bezeichnend für Chouikhs Stil sind und seine Filme von den meist realistischen Werken des algerischen Kinos abheben (vgl. Brahimi 2009), ist in Youcef besonders ausgeprägt. Durch das Aufgreifen einer Legende wählt der Regisseur ein weiteres Mittel, um indirekt das Unmögliche auszusprechen. In Filmtitel und Narration angelegt ist eine enge Parallele zu der Legende der Sieben Schläfer von Ephesus. Diese im Islam und im Christentum verbreitete Legende handelt davon, wie sieben junge Männer der religiösen Verfolgung durch den Kaiser Decius entkommen, indem sie sich in einer Höhle verstecken. Die Höhle wird eingemauert und die Männer schlafen ca. zwei Jahrhunderte und erwachen, ohne dies zunächst zu bemerken, in einer neuen Zeit. Ähnlich wie in der Legende findet Youcef seine Kameraden an ihrem alten Ort in einer Höhle. Erschöpft und in dem Glauben, sie seien am Leben, legt er sich schlafend neben sie (als siebter Schläfer). Als er aufwacht, findet er allerdings sechs Skelette ebenso wie das seines toten Hunds. Im Gegensatz zur Legende, wo die Schlafenden vorerst erwachen, sind sie hier bereits lange tot; die Freiheitsziele, für die sie gekämpft haben, sind längst begraben. Sie verkörpern somit die im gegenwärtigen Staat gestorbenen Ideale. Bestärkt das Wunder der Sieben Schläfer nach der Überlieferung den Glauben, so haben sich zwar in Youcefs Gegenwart algerische Traditionen gegenüber den kolonialen Strukturen durchgesetzt und der Islam 221

hat sich als Staatsreligion etabliert; die Pervertierung der Religion seitens der Islamisten führt aber gerade nicht zu einer (Religions-)Freiheit, sondern zu einer erneuten Verfolgung Andersdenkender und auch Angehöriger des gleichen Glaubens. Die Auswahl dieser Referenz ist umso bedeutender, als die Legende durch ihre Überlieferung im Christentum und Islam ein Zeichen für die Verbundenheit der Religionen darstellt. Die negative Umkehrung der Legende zeigt den kritischen Zustand des gegenwärtigen Algeriens an. Dass Chouikh für seine Reflexion den psychisch kranken Youcef als Protagonisten gewählt hat und damit auf die literarisch-­filmisch tradierte Figur des „Verrückten“ (le fou) rekurriert, ist in zweierlei Hinsicht aufschlussreich. Youcef wird von seinen Zeitgenossen als verrückt und gefährlich bezeichnet – und tatsächlich ist er „gefährlich“ und zwar für die neuen Machthabenden, die die Ziele des Unabhängigkeitskriegs verraten haben: „As the film unfolds, it is the state of Algeria that is mad, not the protagonist“ (Armes 2007: 137). Im intertextuellen Vergleich wird dabei umso deutlicher, wie das Ziel der Befreiung verfehlt wurde. Ähnlich wie Miloud in Chronique ist Youcef der einzige, der als weiser Wahnsinniger Wahrheiten ausspricht. Während Milouds Scharfsinn aber zur Erkenntnis des Unheils führt und er in der Konsequenz den bewaffneten Kampf gegen die Kolonisatoren animiert, verkörpert Youcef das Resultat dieses Kampfes: Er steht selbst als Zeichen für das Scheitern des neuen Algeriens. Da Youcef und die durch ihn repräsentierten Ideale eine Bedrohung der etablierten Macht darstellen, versuchen die neuen Autoritäten vergeblich ihn zu Verstand und zu einer Mitgliedschaft in ihrem System zu bringen; schließlich entledigen sie sich des lästigen Rebellen. Gegen Ende des Films wird eine Unabhängigkeitsfeier für den verspäteten letzten Kämpfer Youcef inszeniert. Wie ein letzter Hoffnungsträger, der noch frei von Korruption ist, wird er von den Menschen bejubelt und angebettelt, als er durch die Menge einmarschiert. Umzingelt vom Militär, greift Youcef im Reflex seine alte (nicht mehr funktionierende) Waffe und wird als Antwort niedergeschossen, von einem unbekannten Schützen aus der Menge. Sein Tod bildet den Gipfel der Symbolsprache dieses Films; er signalisiert den endgültigen Untergang der Freiheitsideale und die Verteidigung des Machtapparates gegenüber Andersdenkenden. Es bleibt zwar offen, wer geschossen hat, und Chouikh sagt in einem Interview, er wisse es selbst nicht (vgl. Armes 2007). Die mögliche Verstrickung des Regimes bzw. der Armee in den Mord wird aber nahegelegt. Die Unklarheit bezüglich der Täterschaft spiegelt zudem die Undurchsichtigkeit des zeitgenössischen Konflikts in Algerien wider.

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Deutlich wird die Anklage des Films an den Staat als Verantwortlicher für die Verfehlungen der Freiheitsziele: „Le parti pris est violent voire ravageur puisqu’il s’agit d’une histoire qui met en cause les seuls Algériens et non l’ennemi“ (Brahimi 2009: 85). Die symbolische und legendenhafte Form des Films waren sicherlich für die erfolgreiche Durchsetzung des Projekts dienlich. Youcefs Wahnsinn kann neben den erwähnten Bedeutungen als Spiegelung des Wahnsinns der unverständlichen Ereignisse in Algerien gesehen werden. Zudem spielt sein Gedächtnisverlust auch auf die Amnesie in Algerien bezüglich der staatlichen Geschichtsschreibung an. Diese wird dadurch zusätzlich hinterfragt, denn Youcef kann die Unabhängigkeit – so wie sie sich gestaltet – nicht als gültige Geschichte annehmen.

3.1.2. Bab el-­oued city und die gesellschaftliche Radikalisierung Die etwas ausführlichere Beispielanalyse von Bab el-­oued city zeigt, wie der Film in seiner Reflexion über die steigende Gewalt gleich mehrere Aspekte vereint. Er zieht ebenfalls eine Verbindung zwischen Kolonialgeschichte und zeitgenössischen Entwicklungen. Dabei stellt er den islamistischen Homogenisierungsabsichten heterogene Identitäten und Strukturen entgegen. Bab el-­oued city wurde in dem gleichnamigen Viertel Algiers gedreht, während die Gewaltwelle Anfang der 1990er Jahre Algerien bereits ergriffen hatte. Seine Entstehung inmitten der realen Gefahren macht ihn gemeinsam mit seinen kritischen Botschaften zu einem engagierten Film, der unter riskantem Einsatz250 die Krise in Algerien realitätsnah einfängt.251 Als zeithistorisches Ereignis stehen die Aufstände vom Oktober 1988 im Hintergrund der Filmhandlung und gehen dieser zeitlich voraus. Mehr als direkte Gewaltausartungen illustriert der Film die Dysfunktion der Gesellschaft. Die Aussichtslosigkeit in Algerien wird über den Plot deutlich: 250 Das Filmteam konnte nicht lange an einem Ort bleiben, weshalb Szenen nur einmal gedreht werden konnten und oft Aufnahmen von einem Standort etwas oberhalb der Stadt aufgenommen wurden; insgesamt kommt oft die Handkamera zum Einsatz. Einige Schwenks über die Stadt erinnern an Filme wie La Bataille d’Alger oder Tahia ya Didou, stehen hier aber auch symbolisch für Ausbreitung des Islamismus. 251 Der Einsatz von Laiendarstellern, Originalschauplätzen und die Entstehung inmitten der realen Konflikte verleihen dem Film eine große Realitätsnähe. Zugleich ist Allouaches persönliche Handschrift spürbar, die sich durch eine spezifische Komik auszeichnet. Auch in diesem Film gelingt es dem Regisseur, trotz der Ernsthaftigkeit des Themas seinen subtilen Sinn für Humor einzuflechten. Humor kann dabei als entlastendes Ventil dienen, das den Blick auf die desolaten Zustände erleichtert (vgl. zur Komik bei Allouache Brahimi 2009: 158–163).

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In einem impulsiven Akt entfernt der junge Bäckergeselle Boualem (Hassan Abidou) einen Lautsprecher über den Dächern Bab el-­oueds, der die Worte des Imams verbreitet, ihn aber, der die ganze Nacht arbeitet, am Schlafen hindert. Die Folgen dieser unüberlegten Tat werden ihm erst bewusst, als die Gruppe um den islamistischen Anführer Said (Mohamed Ourdache) auch schon nach dem Täter dieses vermeintlich gottesfeindlichen ‚Verbrechens‘ sucht. Said, der nach den Unruhen 1988 zum selbsternannten Herrscher des Viertels wurde, macht sich zur Aufgabe, dieses von allem ‚Unreinen‘ zu reinigen. Er ist gleich in zweifacher Hinsicht Boualems Gegenspieler, zum einen aufgrund dessen angeblicher Gotteslästerung, zum anderen, da dieser sich heimlich mit Saids Schwester Yamina (Nadia Kaci) trifft. Said und seine Anhänger bedrohen Boualem, und schließlich führt seine ursprünglich banale Tat zu einem unlösbaren Konflikt, dessen einziger Ausweg die Flucht nach Frankreich scheint. Im Folgenden wird aufgezeigt, wie der Film die steigende islamistische Radikalisierung nachzeichnet und dieser über verschiedene gestalterische Verfahren mit einer Komplexität begegnet, die ihr auf struktureller Ebene eine Absage erteilt. Herausgearbeitet wird der Widerstand gegen staatliche und fundamentalistische Identitätsprämissen.

Verdrängte Heterogenität und Gewaltsteigerung Titel und Schauplatz bilden bereits einen Rahmen, der auf eine historisch-­ kulturelle Heterogenität und zugleich auf die Gewaltgeschichte Algeriens verweist. Zudem werden hier intertextuelle Verbindungen gezogen, die die gesellschaftlichen Rückschritte verdeutlichen. Denn mit Bab el-­oued city (1993) wirft Merzak Allouache einen Blick auf dasselbe Viertel und seine Bewohner wie ca. 17 Jahre zuvor in Omar Gatlato (1976), der bereits Fragen der individuellen Freiheitseingrenzung sowie der Geschlechterbeziehungen verhandelt. Beide Filme liefern zu verschiedenen Zeitpunkten exemplarische Momentaufnahmen der algerischen Gesellschaft, die sich in Bab el-­oued city nun in einer Atmosphäre der zunehmenden Gewalt und Zerrissenheit befindet. Ende der 1980er Jahre, zur erzählten Zeit des Films, sind die schon in Omar Gatlato aufgezeigten Probleme nicht nur weit davon entfernt gelöst zu werden, sondern haben sich noch verschärft (vgl. Calargé 2007: 52). Arbeitslosigkeit, Stagnation von Politik und Wirtschaft bestimmen den Alltag, stellen die Jugend vor eine Perspektivlosigkeit und machen sie zur leichten Beute von Radikalen. Der Film beobachtet den wachsenden Islamismus und die Transformationen des Viertels, das dieses besonders seit Oktober 1988 erlebt hat. Der Versuch der Islamisten, eine Gesellschaft nach ihren Vorstellungen zu errich-

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ten, zeigt sich als eine Antwort auf den Identitätsverlust des Kollektivs, das sich nicht mehr durch nationale Mythen oder Einheitsparolen zusammenhalten lässt. Ein historischer Blick auf das Viertel gibt Aufschluss über dessen heterogene Einflüsse und Gewaltprägung. Bab el-­oued ist ein Arbeiterviertel in Algier, das während der Kolonialzeit von Algeriern und europäischen Siedlern verschiedener Herkunft (Franzosen, Spanier, Malteser, Italiener) gemeinsam bewohnt war. Zwar waren dem Austausch zwischen colonisé und colonisateur soziale Barrieren gestellt, gleichwohl beherbergte Bab el-­oued zumindest ein Nebeneinander multikultureller Art, das beispielsweise auch sprachliche Mischungen wie das pataouète hervorbrachte.252 So kamen dort verschiedene kulturelle Prägungen zusammen. Die Spuren der kolonialen Vergangenheit werden im Film z. B. anhand von zwei pied-­noir-Figuren sowie über christliche Orte (Friedhof, Kirche) angedeutet. Der Handlungsverlauf zeigt hingegen, wie die Islamisten europäische Einflüsse ebenso wie jegliche Formen einer kulturellen Heterogenität – auch die einer Multikulturalität unter einer „Dominanzkultur“ – ablehnen und bekämpfen. Bab el-­oued ist zugleich ein Ort, der von traumatischen Gewaltereignissen gezeichnet ist und bereits mehrfach zu einem Schauplatz von Gewalt und Protesten wurde, die sich in verschiedenen Phasen der algerischen Geschichte abspielen. Die koloniale Gewalt entlud sich hier besonders gegen Ende des Unabhängigkeitskriegs mit Anschlägen der OAS. Auch die von der Armee niedergeschlagenen Proteste im Oktober 1988 nahmen ihren Ausgangspunkt in Bab el-­oued, aus dem sich in der Folge viele Islamisten rekrutierten.253 Die Mehrschichtigkeit der Gewaltgeschichte sowie die Verbindung von Unabhängigkeitskampf und Bürgerkrieg sind somit implizit im Schauplatz angelegt. Das Wort „city“ im Titel lässt Bab el-­oued wiederum als quirlig-­lebendiges Zentrum erscheinen und wirft die Idee einer gewissen mondänen Orientierung auf. Im Kontrast dazu observiert der Film aber, wie das einst lebhafte Bab el-­oued „city“ von radikalen Denkweisen eingenommen wird, die eine Heterogenität an Lebensformen sowie freiheitliche Einstellungen verdrängen.254 252 Pataouète bezeichnet die Mischsprache der pieds-­noirs, die sich aus dem Französischen, Spanischen, Katalanischen, Italienischen, Maltesischen, Arabischen und Kabylischen zusammensetzt. Der algerianistische Schriftsteller Musette war einer der ersten, der sie in den Abenteuern des derben Straßenjungen Cagayous auch verschriftlichte. 253 Auch im Frühjahr 2011 fanden hier Proteste statt. 254 Im Gegensatz zu Omar Gatlato spiegelt die hauptsächliche Konzentration auf ein Viertel hier laut De Franceschi nun räumlich die Einschränkung der Figuren respektive der Gesellschaft (vgl. De Franceschi 2004: 65).

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Mabrouk betreibt seinen illegalen Handel auf einer Anhöhe über Algier. Merzak Allouache: Bab el-oued city (1993): 00:05:22.

Insgesamt ist die Ausbreitung des Islamismus bzw. die Radikalisierung der jungen Leute in Bab el-­oued deutlich an der Handlungsstruktur ablesbar. Die Steigerung des Konflikts zwischen Boualem und Saids Gruppe zeigt sich in zunehmend gewaltsamen Auseinandersetzungen (vom Drohbrief bis zu Schlägereien) und mündet in die Flucht des Protagonisten. Die Bedrohungen weiterer Figuren (Ouardya, Bäcker) und die Resignation des Imams markieren den Machtzuwachs der Fundamentalisten ebenso wie Szenen, in denen Saids Gruppe in den Straßen andere Jugendliche über ihre Heldentaten in Afghanistan belehrt oder einen neuen Lautsprecher anbringt, der symbolisch ihre Einflussnahme betont. Häufige Kameraschwenks über die Häuser hinweg unterstreichen zudem bildhaft die Ausbreitung des Islamismus und die Überwachung der Bewohner durch Radikale wie Said; andererseits verweisen sie aber auch auf die gemeinsame Verantwortung des gesamten Viertels – stellvertretend für die Gesellschaft. Sie stellen parallel zur Filmhandlung eine Rahmung der fortschreitenden Radikalisierung dar. Zu Beginn des Films, nach einer Sequenz mit der Erzählerin Yasmina (siehe 226

unten), schwenkt die Kamera langsam über die Dächer, während die Stimme des Imams aus den Lautsprechern die Gemeinschaft zu Hygiene und Reinheit aufruft. Diese Eröffnungsansprache deutet proleptisch auf das Leitmotiv bzw. auf den Reinheitsdiskurs der Islamisten, die die Worte des moderaten Imam in die Idee eines Kampfes gegen das ‚Unreine‘ transformieren. Immer wieder nimmt der Film die Kameraschwenks (nach links und rechts) auf, so auch gegen Ende, als der Imam seinen Rückzug kundtut und vor der Gewalt warnt. Letztlich gibt er gegenüber dieser auf und überlässt das Viertel sich selbst – und den Islamisten. Sein Weggehen ebenso wie Boualems Flucht unterstreicht den Sieg der Radikalen gegenüber den gemäßigten Vertretern des Islam. Wenn der tolerante Imam als ursprünglich anerkannte Autoritätsperson keinen Einfluss mehr auf sein Viertel hat und dieses resigniert im Stich lässt, nehmen die Islamisten buchstäblich seinen Platz ein. So sprechen sie beim Anbringen des neuen Lautsprechers über Saids mögliche Nachfolge. Nach dieser Eroberung der Machtposition – der Beherrschung der Lautsprecher über der Stadt – folgen in der Montageanordnung Saids Schießübungen; diese Bilder werden von Yaminas Erzählstimme begleitet, die von Saids Tod und der zunehmenden Gewalt und Verzweiflung im Viertel berichtet. Die Struktur untermauert so die Zuspitzung des Konflikts und zeigt, wie die Herrschaft der Gewalt nicht nur den toleranten Diskurs des Imams abgelöst hat, sondern regelrecht entgleist. Zusammen mit der Flucht von Boualem und dem Imam steht der Tod Saids für die Ausweglosigkeit aus der gesellschaftlichen Situation und die Sackgasse der Gewalt. Neben der Haupthandlung, die eine Verengung des kollektiven und individuellen Freiraums durch den Druck der Islamisten verfolgt und in die Flucht Boualems mündet, wird die gesellschaftliche Situation anhand verschiedenster Figuren und Handlungsstränge exemplarisch angedeutet. Über einzelne, fragmentarisch erzählte Nebenhandlungen verweist der Film auf eine soziale und kulturelle Komplexität; er präsentiert Einblicke in die Gesellschaft, die sowohl wirtschaftliche, politische und religiöse Aspekte als auch Geschlechterdiskurse berücksichtigen. Dabei werden einerseits Haltungen sichtbar, die sich dem Islamismus widersetzen, andererseits werden soziale Missstände und die Verantwortung des Staats thematisiert. Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und Wohnungsmangel sind einige der großen Probleme, vor denen sich die Gesellschaft sieht. Eine Figur schläft zum Beispiel im Auto, da zu Hause kein Platz ist; Boualem schläft abwechselnd mit seinem Bruder im gleichen Bett (er arbeitet nachts); Mabrouk, ein Kollege und Freund Boualems, arbeitet neben seiner Gesellentätigkeit im illegalen Handel, dem trabendo, der auf die marode algerische Wirtschaft hinweist; die Gruppe um 227

Said scheint überwiegend arbeitslos zu sein, ebenso wie die zwei Jugendlichen (und vermeintlich Drogenabhängigen), die sich Saids Anweisungen widersetzen und auf ihrem Kassettenrekorder lieber Raï-­Musik255 hören als die von Said verteilte islamistische Propaganda. Der Raï begleitet übrigens auch als Soundtrack den Film, der über den Einsatz dieses Musikstils und dessen Bedeutung als Protestmusik der Jugend selbst einen Widerstand ausdrückt. Die Gründe der Jugendproteste gegen das eigennützige Regime der Einheitspartei werden neben den Bildern, die von der sozialen Misere zeugen, auch über Dialoge eingestreut. Said selbst äußert dem aus Frankreich abgeschobenen Messaoud gegenüber Verständnis bezüglich dessen Versessenheit, nach Frankreich zurückzukehren. Er macht die Regierung verantwortlich für die Misere: „Ils n’ont rien fait pour nous…“. Die Hoffnungslosigkeit der Jugend erklärt also zumindest einen Grund für den Zulauf zu fundamentalistischen Strömungen. Sie führt andererseits dazu, dass sich die Träume vieler Figuren auf eine Welt außerhalb Algeriens richten, von der sie sich mehr Möglichkeiten erhoffen. Eine Alternative scheint für viele Jugendliche nur im „Westen“ vorstellbar (vgl. De Franceschi 2004: 65).256 Die Figuren und der Film insgesamt machen die Machthabenden mitverantwortlich für die Krise. Die Unruhen vom Oktober 1988 können dabei nach Calargé aus psychoanalytischer Perspektive als ein bedeutendes Trauma und beschleunigendes Moment für die gesellschaftliche Degeneration gesehen werden (vgl. Calargé 2007: 53). Der Film nimmt mehrere Male Bezug auf dieses Schlüsselereignis, bei dem die Hoffnung auf mehr Demokratie und bessere Lebensbedingungen gewaltsam vom Militär erstickt wurde. Im Gespräch mit Boualem betont 255 Der Raï ist ein hybrider Musikstil, der sich seit Beginn des 20. Jhs. geprägt hat und sich seit den 1980ern, zunehmend mit Popelementen gemischt, vor allem zur Musik der Jugend entwickelt hat. In Zemmouris 100 % Arabica (1997) – einem Musikfilm mit den Raï-­Größen Cheb Khaled und Cheb Mami – steht er im Zentrum und wird umso deutlicher als kultureller Protest gegen die Islamisten eingesetzt. 256 Boualems Bruder träumt vom Auswandern, um sich etwas aufzubauen und bei seiner Rückkehr ein Taxiunternehmen zu gründen. Mabrouk und Boualem handeln mit westlichen Waren; Mabrouk ist zudem in einem sportlichen Stil gekleidet, und die Schriftzüge auf seinen T-­Shirts und Baseball-­Caps verweisen auf amerikanische Sportclubs oder auf westliche Orte und Assoziationen, so z. B. seine Caps mir der Aufschrift „Plages-­Cannes“ oder „Public Enemy“: „Indeed, his yellow and red T-­shirt that bears the English words ‚Maritime, Premier, Invitation, Navigation‘ act as a perfect signifier that is empty of content but signifies a desired beyond, source of the Paco Rabanne perfume, J and B whiskey and Marlboro cigarettes he circulates within an economy of objects and images that is unofficial and ubiquitous“ (Crowley 2007: 83).

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der Imam beispielsweise, dass Said bei den Protesten verhaftet wurde und sein Einfluss auf das Viertel wuchs, als die Einwohner ihn nach seiner Freilassung als Helden feierten. Der Film hebt damit – auch ohne direkte Bilder davon zu zeigen – die Bedeutung vom Oktober 1988 hervor. Visuell sind die traumatischen Ereignisse als Spuren implizit in Bildern von Friedhöfen präsent. Said besucht dort das Grab eines erst 18-jährigen Freundes, der im Oktober 1988 erschossen wurde. Einen Ausgangspunkt des Bürgerkriegs und des nationalen Zerfalls bildet in dieser Argumentation die staatliche Gewalt, verstärkt durch die Schüsse der Armee auf das eigene Volk, die das bereits geringe Vertrauen in die Regierung endgültig gebrochen haben. Die tradierte offizielle Vorstellung der Nation, die von der Selbstglorifizierung des Staates begleitet wird, funktioniert hier somit nicht mehr als identitätsstiftende Formel. Sie wird mit Emigrationswünschen konfrontiert oder durch die Identitätsdefinitionen der radikalen Fundamentalisten ersetzt. Crowley bemerkt, dass die algerische Flagge in diesem Film bezeichnenderweise einzig im Trainingsraum von Said und seinen Freunden auftaucht (vgl. Crowley 2007: 84), was auf eine Bemächtigung der Definition Algeriens seitens der Islamisten hinweisen kann. Dass die jungen Männer wie Said selbst Marionetten eines komplexeren Systems sind, wird durch Figuren, die ihm im Hintergrund Anweisungen geben, deutlich. Diese ‚Hintermänner‘ durchkreuzen in ihrem BMW die Stadt; mehrere Male durchbrechen sie die Hauptnarration. Ein dunkler Ton sowie düsteres Licht begleiten ihre Fahrten, bei denen die Kamera sie von hinten aus dem Auto heraus filmt, so dass die Gesichter der anonymen Gestalten kaum zu sehen sind.257 Die Männer treffen Said außerhalb der Stadt auf einer höher gelegenen Ebene, geben ihm Anweisungen und eine Waffe. Es bleibt unklar, wer sie sind, und dies spiegelt die Undurchsichtigkeit des außerfilmischen Konflikts, bei dem eine Verstrickung von Regierung, Militär und Islamisten nicht auszuschließen ist. Das Bild früherer Filme vom gemeinschaftlichen Kollektiv wird hier durch ein zugespitztes Gegeneinander abgelöst, das besonders in der antagonistischen Figurenkonstellation zwischen Saids Gruppe und den anderen Figuren zum Ausdruck kommt. Solidarität weicht einem Misstrauen und dem Druck der Islamisten. Identität wird dabei zu einer umkämpften Kategorie, die die Islamisten versuchen mit ihrer Definition eines guten Algeriers zu füllen. Der Film macht hier die Abgrenzung zwischen dem radikalen Fundamentalismus und der islamischen Religion 257 Die Männer wirken in ihrem Erscheinen fast mafiaähnlich; vielleicht sind sie Parteifunktionäre, auf jeden Fall sind sie im Gegensatz zu den Jugendlichen nicht mittellos und strahlen eine Macht und auch eine Widersprüchlichkeit aus, die sich in dem Gebrauch westlicher (Prestige-)Produkte wie dem BMW zeigt.

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deutlich. Die Figur des Imam, als Repräsentant der Glaubensgemeinschaft, vertritt Toleranz und Friedlichkeit. Durch seine Position sowie seine Aufrufe gegen die Gewalt wird gezeigt, dass die islamischen Werte, die in der Gesellschaft verankert sind, der radikalen Ideologie der Islamisten widerstreben. Deutlich wird zudem, dass die Religion, die als strukturierende Kraft im Alltag der Algerier spürbar ist, verschieden gelebt wird. Boualem ist religiös und trinkt z. B. im Gegensatz zu Mabrouk und seinen Freunden kein Bier, als diese gemeinsam ein Strandcafé besuchen. An dieser Szene zeigt sich, dass eine Verbindung zu anderen Wertesystemen bis zu einem gewissen Grad möglich ist. Der Konflikt um den Lautsprecher wiederum verdeutlicht den absurden Radikalismus der Islamisten, die selbst technische Gegenstände religiös aufladen und in ihrer Intoleranz keine Rücksicht auf situative Umstände nehmen. Saids Gruppe, die die algerische Identität über eine radikale Auslegung des Koran definiert und sich zu dessen Bewahrer durch strenge Sitten und Praktiken beruft, versucht diese Identitätspfeiler bis aufs Äußerste umzusetzen; dabei werden keine verschiedenen Auslegungen religiöser Lebensarten und kein anderes Referenzsystem geduldet. Said und seine Gefolgschaft wollen das Viertel vor fremden Einflüssen schützen. Ihr Ziel ist es, andere mögliche Ansichten algerischer Identität zu verdrängen; ihr Identitätskonzept baut auf einem geschlossenen und stark polarisierten, binären Schema auf: „Said divise le monde entre ‚bons‘ et ‚méchants‘. Ce qui laisse peu de place pour refuser ce binarisme étroit. […] Dès lors, tous les moyens sont bons pour préserver l’unité du groupe et d’abord ceux qui permettent de trouver un ou des bouc(s) émissaire(s) à sacrifiér dans ce but“ (Calargé 2007: 56). In ihrer Welt gibt es keinen Aushandlungsraum zwischen Verschiedenem, sondern nur eine absolute Ablehnung des ‚Anderen‘. Um ihren Homogenitätsbestrebungen Ausdruck zu verleihen, sind die Figuren von Saids Gruppe alle fast gleich gekleidet, allerdings meist nicht in Gebetsgewand, sondern in Jeans und schwarzen Jacken. Sie geben sich durch das Schminken der Augen zu erkennen und tragen Bärte.258 Die äußere Gleichförmigkeit weist darauf hin, dass in dieser Gruppe Individualität bereits aufgegeben wurde (vgl. ebd.: 53). Die Mitglieder sind außer Said überwiegend auch namenlos und treten meist in der Gruppe auf, im Gegensatz zu Boualem. Dies wird besonders in einer Szene deutlich, in der Said und seine Mitstreiter von Jugendlichen des Viertels umgeben sind und diesen die notwendige „Säuberung“ des Viertels verkünden. Die 258 Der Kleidungsstil ist laut Calargé auch von den Taliban in Afghanistan beeinflusst (kamiss und khôl). Da die Zuschauer dies nicht unbedingt erkennen, wird durch die Erzählung eines Mitglieds von Saids Gruppe über die Heldentaten und die Hilfe Gottes in Afghanistan im Kampf gegen die Russen rekurriert (vgl. ebd.: 55).

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Kamera imitiert durch Nahaufnahmen und eine Kreisbewegung um die Gruppe deren Geschlossenheit und Macht, die das Viertel umzingelt. Im Hintergrund sieht man Boualem, der allein hinter einem Zaun entlanggeht, wodurch seine Individualität sowie die Distanz zwischen ihm und den Islamisten bildhaft unterstrichen werden. Die Brüchigkeit der sich stabil gebenden Gruppe wird dennoch an ihrem Anführer selbst deutlich: In einer Szene richtet Said die Waffe, mit der er zuvor Ouardya bedroht hat, auf sich, scheint die Kontrolle zu verlieren und nicht mehr zu wissen, was er eigentlich tut.259 Calargé sieht hierin ein Symbol für das Scheitern der Gleichmachung, die letztlich die Gruppe selbst bedroht: La portée symbolique de ce geste est claire. Elle indique qu’en éliminant systématiquement toutes les différences et toutes les oppositions autour de lui, c’est lui-­même que Said tue au bout du compte. C’est pourquoi le jeune homme est condamné d’avance à être l’une des nombreuses victimes du cycle de la violence qu’il va contribuer à déclencher mais sur lequel il n’aura aucune prise (Calargé 2007: 58).

Das Repertoire der Figuren, die sich Said widersetzen oder seine Ansichten zumindest nicht teilen, ist im Gegensatz zu dessen Gruppe sehr vielfältig und repräsentiert eine (kulturelle und soziale) Heterogenität. Dafür stehen z. B. Mabrouk, der kabylische Bäcker, Ouardya, Ali und sein Freund sowie Yamina. Die Verhaltensweisen dieser Figuren sind meist mit Transgressionen verbunden; durch religiöse Tabubrüche (Alkohol, Drogen), Raï-­Musik sowie verbotene Liebesbeziehungen (Boualem und Yamina) scheinen sie jede auf ihre Art widerständig. Sie bilden dennoch keine gemeinsame Kraft, die den Islamisten entgegenwirken könnte. Der Bäcker hält dem Druck von Saids Gruppe nicht stand und kündigt Boualem; Ali findet den Tod. Zudem bieten die westlichen (Konsum-)Orientierungen einiger Figuren ebenso wenig Halt wie islamische Werte der eigenen Kulturgemeinschaft, die von den Islamisten besetzt werden. Die gewaltsamen Konfrontationen zwischen den Radikalen und Figuren wie Boualem oder Mabrouk in Form von Schlägereien verdeutlichen, dass es keine Mittler und keinen Dialog gibt.

259 Said scheint längst eine Marionette mächtigerer Drahtzieher zu sein, denen er selbst nicht mehr entkommen kann. Am Ende erfährt der Zuschauer von der intradiegetischen Erzählerstimme Yaminas, dass Said aus ungeklärten Umständen tot aufgefunden wurde. Parallel zu ihrer Stimme wird Said bei Schießübungen gezeigt, beobachtet von einem der Hintermänner. Die Anordnung der Bilder stellt eine mögliche Verbindung her, es bleibt aber unklar, ob Said von den Hintermännern erschossen oder sich selbst erschossen hat (worauf wiederum eine andere Szene deutet, an der er sich die Waffe an den Kopf hält).

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Die Position der Frau als Spiegelung der gesellschaftlichen Degeneration Die Frauenfiguren in Bab el-­oued city stehen der Gruppe um Said sowohl implizit als auch durch deutlicheren Widerstand entgegen und befinden sich teilweise in einem direkten Konflikt mit den männlichen Figuren. Ouardya kommt Said und seinen Männern durch ihren unangepassten Lebensstil besonders in die Quere und verkörpert zugleich Opposition und Zielscheibe der Radikalen. Sie ist aus deren Sicht als Frau nicht nur per se die ‚Andere‘ und Untergeordnete, sondern in mehrfacher Hinsicht aufgrund ihrer freiheitlichen Einstellungen eine Provokation und ‚Schande‘ für die Islamisten: Sie lebt allein, trinkt Alkohol und hört Jazzmusik. Von Said und seinen Mitstreitern wird sie wie eine Prostituierte gesehen, die das Viertel ‚beschmutzt‘, da sie Besuch von Männern wie z. B. von Boualem empfängt, der ihr den Wein liefert. Als Frau und ehemals politisch Engagierte steht sie den Islamisten einerseits diametral gegenüber, andererseits gibt es zugleich eine Parallele zwischen Said und Ouardya, denn Letztere protestierte in ihrer Jugend ebenfalls gegen das Regime.260 Das Scheitern des ‚modernen‘ algerischen Staates nach der Unabhängigkeit wird so doppelt, von den verschiedenen Generationen, angeklagt. Die Islamisten machen zudem die Freiheitsideale und den Kampf von Ouardyas Generation zunichte. Aussagen zur Situation der Frau in einer zunehmend konservativen Gesellschaft werden über deren räumliche Positionierung hervorgehoben, die die traditionellen Dichotomien Mann / Frau, innen / außen, öffentlicher / häuslicher Raum kritisch verdeutlicht. Anders als z. B. Djebars La Nouba, der über die Filmsprache konventionelle Muster subversiv aufbricht, konzentriert sich Bab el-­oued city auf die Visualisierung der Einengung der Frauen. Anhand der Raumkategorie lässt sich hier auch intertextuell ein Rückschritt in Bezug auf die gesellschaftliche Situation der Frau ablesen. Die Frauenfiguren befinden sich in Bab el-­oued city überwiegend im häuslichen Innenraum oder gemeinsam auf den Dachterrassen. Dort kommen sie ihren Hausfrauenpflichten nach oder werden mit leichter Lektüre von Kitschromanen sowie der Unterhaltung eines Komikers abgespeist, die von den Alltagssorgen ablenken und als einzige Ausfluchtmöglichkeit dienen. Selbst die eigenständige Ouardya lebt zurückgezogen und wird nur in ihrer Wohnung

260 Der Zuschauer erfährt, dass Ouardya eine ehemals politische Aktivistin ist, indem diese Boualem den Grund für ihre Frustration und ihren Alkoholkonsum erzählt. Bei früheren Studentenprotesten wurden sie und ihr Freund verhaftet. Ouardya wurde nur durch Beziehungen ihres Vaters freigelassen; ihr Freund ist seitdem verschwunden. Auch dieses Mal, im Oktober 1988, ging das Militär gewaltsam gegen die jugendlichen Demonstranten vor.

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gezeigt; sie ist also ebenso eingeengt wie die anderen Frauen. Ihre Wohnung, in der sie nach ihren eigenen Prinzipien lebt, bietet zwar eine Art Freiheitsraum, und dies zum Beispiel auch für Boualem, der so gern zu ihr geht, „weil alles so anders ist“. Indem Said Ouardyas Wohnung stürmt und sie bedroht, ist letztlich aber auch dieser private Raum nicht mehr sicher. Yamina beobachtet Boualem beim Abmontieren des Lautsprechers. Merzak Allouache: Bab el-oued city (1993): 00:01:06.

Besonders nachdrücklich wird die gesellschaftliche Stellung der Frauen in einer der Szenen auf der Dachterrasse vermittelt, die mittels der Visualisierung der (räumlichen) Position der Frauen deren Marginalisierung symbolisiert. Dazu wird zunächst beobachtet, wie die Frauen Wäsche waschen und in Dialogen ihre eigene Situation thematisieren. Dann entfernt sich die Kamera allmählich von den Figuren und schwenkt langsam die tiefe Schlucht zwischen den Häusern herunter, während der Dialog der Frauen im off weitergeht, „keiner interessiert sich für uns“. Die Worte untermalen, was visuell demonstriert wird: Die Frauen befinden sich räumlich und sozial weit abseits vom Zentrum der Gesellschaft und dem öffentlichen Leben, das sich unten in den Straßen abspielt. 233

Weiterhin zeigt sich die Einengung der Frauen exemplarisch an Saids Schwester Yamina, die von ihrem Bruder regelrecht eingesperrt wird. Einen Vater gibt es nicht mehr, so dass Said das Sagen über die Familie hat. Said wacht strengstens darüber, dass Yamina das Haus nicht verlässt und keinen Kontakt zu Männern hat. Aufnahmen, die Yamina z. B. hinter dem Fenster der Wohnung zeigen, sind bezeichnend für ihre eingeschränkte Bewegungsfreiheit. Die Fensterscheibe trennt sie von der Außenwelt und bildet zugleich anhand ihrer Durchsichtigkeit eine der wenigen Kontaktmöglichkeiten nach außen. Denn selbst vom Balkon, über den sie versucht mit Boualem zu kommunizieren, treibt Said sie weg. Entgegen der Vorschriften verlässt Yamina allerdings das Haus und trifft Boualem heimlich auf dem europäischen Friedhof. Insofern rebelliert sie gegen ihren Bruder und die gesellschaftlichen Vorschriften; kurz vor Boualems Flucht kommt es sogar zu einem Kuss zwischen ihnen, was generell selten im algerischen Kino zu sehen ist und im inner- sowie außerfilmischen Kontext ein Tabu überschreitet. Als Boualem sein Schiff nach Frankreich nimmt, steht Yamina am Hafen und schaut dem Schiff nach. Sie verlässt also immer wieder ihr häusliches ‚Gefängnis‘. Dennoch bricht die Figur nicht aus dem Rollenmuster aus; sie wehrt sich zwar in einer Szene verbal gegen ihren Bruder, bleibt aber von ihm abhängig. Auch Boualem gegenüber behält sie ihre untergeordnete Rolle als Frau bei, wenn sie zum Beispiel Sätze äußert wie: „Du bist der Mann, du entscheidest“. Macht der Film die Einengung der Frauen deutlich, verleiht er ihnen dennoch eine Stimme und setzt damit ein Statement des Widerstands. Dies wird durch die Erzählebene unterstützt. Auf der einen Seite stehen dabei die Haupthandlung, die Boualems Schicksal bis hin zu seiner Flucht verfolgt, ebenso wie die verschiedenen Nebenhandlungen, die aus einer Nullfokalisierung erzählt zu sein scheinen. Auf der anderen Seite gibt es mehrere Einschübe, in denen Yamina Briefe an Boualem schreibt. Diese Einschübe gehen bis ca. drei Jahre nach Boualems Verschwinden und rahmen die Haupthandlung des Films, die sich letztlich als eine Analepse von Yaminas Gegenwart aus gesehen herausstellt. Yaminas Briefe an Boualem sind wie ein innerer Monolog durch ihre Stimme im voice over zu hören; teilweise fokussiert die Kamera dabei zeithistorische Dokumente wie eine Zeitung und schwenkt dann langsam auf Yamina, teilweise werden Szenen gezeigt, wie z. B. Saids Schießübungen, während Yaminas Stimme von seinem Tod berichtet. Es ist Yamina, die den sich verschlimmernden Zustand der Gewalt in Algerien beschreibt und deren eigenes Leiden hier deutlich wird (sie wartet vergeblich darauf, dass Boualem sie nachholt.) Durch ihre Funktion als intradiegetische Erzählerin wird ihr – im Gegensatz zu ihrem

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Auftreten in der Haupthandlung – eine Stimme verliehen, die dem Geschehen eine weibliche Perspektive hinzufügt und die kritische Situation der Frau unterstreicht. Mit Blick auf intertextuelle Konstellationen verstärkt sich dieses Argument, denn anders als in Omar Gatlato ist es nun eine weibliche Figur, die die Autorität einer Erzählerin erhält, auch wenn diese sich immer wieder hinter die Haupterzählung zurückzieht. Zwar findet Yamina innerfilmisch kein Gehör und ihre Briefe an Boualem werden den Adressierten nie erreichen. Die Zuschauer/innen können sie aber deutlich hören und erhalten Einsicht in Yaminas Gedanken. Allouache gelingt es so, der Frau, die entsprechend der Spiegelung der politisch-­sozialen Situation in ihrem Handlungsfreiraum als Akteurin eingeschränkt ist, erzählerisch eine Stimme zu verschaffen.

Franko-­algerische Verwicklungen in Gegenwart und Vergangenheit Über die zwei pied-­noir-Figuren evoziert der Film die komplexe franko-­ algerische Beziehung und stellt eine Verbindung zwischen Geschichte und Gegenwart her. Diese Figuren – ein Mann namens Paolo und seine blinde, alte Tante – durchkreuzen die Handlung mehrere Male und rufen die koloniale Vergangenheit wach. Paolo führt seine Tante durch ihr ehemaliges Viertel Bab el-­oued und schwärmt ihr dabei euphorisch und übertrieben vor, wie schön alles sei. Dabei sind die Figuren schemenhaft und fast karikiert entworfen; stereotypisch stimmt der Neffe in den Nostalgiediskurs des „paradis perdu“ der pieds-­ noirs ein und verwehrt sich dabei der Gegenwart: Alles war nicht nur schön, sondern ist schön. So preist Paolo seiner Tante den tristen und von Müll übersäten Küstenabschnitt als lebhaften Strand – gleichsam eines „Miami Beach“ – an. Die Blindheit seiner Tante sowie seine Lügen über die Realität sind metaphorisch zu verstehen. Neben der Trauer über den Verlust der Heimat können sie als eine Amnesie Frankreichs gegenüber der Kolonialgeschichte ebenso wie als ein Verschließen vor der gegenwärtigen Situation gelesen werden. Zugleich können sie auch übertragen werden auf eine Kritik an der algerischen Regierung, die nichts unternimmt und ähnliche Fehler begeht wie die Kolonialregierung, indem auch sie sich der Realität verschließt und eine echte Demokratisierung verhindert. Implizit appelliert der Film damit auch an ein Überdenken der offiziellen Geschichtsnarration, die ein Verschweigen von Fakten und bestimmten Gruppen beinhaltet. Der schwierige Umgang mit dem kolonialen Erbe zeigt sich ebenfalls anhand der Inszenierung der pieds-­noirs. Wie Silhouetten oder Schatten der Vergangenheit durchkreuzen Paolo und seine Tante die filmische Gegenwart. Sie sind nun Fremdkörper / die ‚Anderen‘ in Algerien und haben 235

kaum Kontakt261 zu anderen Figuren. Ihr diskontinuierliches Auftreten im Film fragmentiert die Erzählung und verweist so darauf, dass die Geschichte nicht als ein abgeschlossenes Ganzes zu sehen ist. Eine transnationale und mehrdeutige Perspektive der franko-­algerischen Geschichte wird außerdem über symbolträchtige Motive hervorgerufen, die sich einer einseitigen Auslegung entziehen. Beispielhaft für den Einsatz solcher Mittel ist das Friedhofsmotiv, indem neben dem muslimischen mehrmals auch der christliche Friedhof des Viertels zum Schauplatz wird. Dieser erinnert gemeinsam mit den dort umherwandelnden pieds-­noirs daran, dass die kulturelle europäische Präsenz im Verschwinden oder gar „tot“ ist. Die Zeit des französischen Einflusses ist vorbei; ihre Spuren aber, die nicht zuletzt auch die „Kultur der Gewalt“ (siehe Kapitel II) geprägt haben, sind sichtbar. Die Parallele von Bildern des christlichen und des muslimischen Friedhofs verweist darüber hinaus auf die unabgeschlossene Vergangenheit und Trauerarbeit für beide Seiten sowie auch auf das rezente Trauma vom Oktober 1988 (vgl. Calargé 2007: 53). Das Motiv des Friedhofs ist also mehrfach symbolisch kodiert und bietet verschiedene Interpretationsmöglichkeiten. Allgemein als Zeichen für den Tod und die Vergangenheit findet sich dieses Motiv in vielen algerischen Filmen (u. a. in Chronique, Viva Laldjérie, Exils) und deutet jeweils in unterschiedlichen Kontexten auf die Spuren kolonialer und auch fundamentalistischer Gewalt. Der christliche Friedhof in Bab el-­oued city ist darüber hinaus mindestens noch in einer weiteren Bedeutung zu sehen, denn er ist ein geheimer Treffpunkt von Boualem und Yamina. Aus ihren Dialogen geht hervor, dass sie sich bereits zuvor in einer Kirche getroffen haben. In dieser Hinsicht können die Orte und Hinterlassenschaften der europäischen Herrschaft, die symbolisch für den ‚Westen‘ stehen, nun sogar als letzte Bastionen der individuellen Freiheit gesehen werden. Dadurch wird nicht die koloniale Vergangenheit positiv geheißen, aber der Blick auf die komplexe Beziehung verändert. Während der Islamismus die Tatsache anderskultureller Einflüsse (wenn auch größtenteils durch gewaltsame Eroberungen entstanden) negiert und bekämpft, steht Frankreich hier nun für Freiheitsträume, wie auch die Emigrationswünsche einiger Figuren zeigen. Der Film eröffnet somit eine Auseinandersetzung mit der franko-­algerischen Beziehung, bei der die Schuldfrage hinter eine Annahme der Heterogenität zurücktritt. Seine postkoloni-

261 Von den Frauen auf der Dachterrasse, die nun ihr ehemaliges Haus bewohnen, werden sie allerdings herzlich aufgenommen, die Marginalisierten der Gesellschaft zeigen sich verständnisvoll und tolerant gegenüber Anderen, sehen sie nicht als Feinde, sondern aufgrund der ‚Märchen‘ Paolos eher als bemitleidenswerte Träumer.

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ale Haltung umfasst sowohl eine kritische Perspektive der Vergangenheit als auch auf die Gegenwart. Dabei wird die Frage des Umgangs mit dem kolonialen Erbe nicht beantwortet aber neu gestellt, angesichts eines gegenwärtigen Algeriens, das sich seit Ende der 1980er Jahre wieder verstärkt vor Identitätsfragen sieht. Zusammen mit seinem Rückbezug auf die Geschichte stellt der Film eine Reflexion über Identität an, die entsprechend postkolonialer Denkweisen den instabilen Charakter dieser Kategorie hervorhebt und so homogene (nationale oder islamistische) Identitätsvorstellungen und auch die Fixierung von Identität an sich hinterfragt. Dies geschieht insbesondere über die Figur Messaoud, die das Thema Migration evoziert und eindeutige Zuweisungen durchbricht. Messaoud, ein Franzose algerischer Herkunft, bewegt sich nicht nur relativ unbeschwert zwischen Saids Gruppe und freiheitlich denkenden Figuren wie Mabrouk über die sozialen Fronten und die Grenzziehungen der Islamisten hinweg, sondern er verkörpert zugleich selbst ambivalente Identitätszuschreibungen. Die identitären Merkmale dieser Figur lassen sich im Laufe der Erzählung nur bruchstückhaft erschließen: Aus unklaren Gründen (eventuell wegen einer Straftat) wurde Messaoud aus Frankreich ausgewiesen; er ist wahrscheinlich Migrant zweiter Generation und spricht zumindest kein Arabisch. Durch sein eigenes Verhalten wird die Ambivalenz, die die Figurencharakterisierung hervorruft, unterstrichen. Ganz allein und ohne ein Obdach in Algerien wurde er, wie er Mabrouk erzählt, vom Imam aufgenommen, dessen Hilfsbereitschaft sein religiöses Bewusstsein wachgerüttelt zu haben scheint. Messaoud führt sich nun einerseits gegenüber Mabrouk vorbildlich religiös auf – ist dabei allerdings nicht ernst zu nehmen – und beharrt andererseits auf seiner französischen Identität. Er schließt sich Said an, scheint Islam und radikalen Islamismus nicht unterscheiden zu können und die internen Spannungen in Algerien nicht zu verstehen. Damit spielt Allouache auch auf tatsächliche Pauschalisierungen Unwissender an. Messaouds Naivität wird in Dialogen deutlich und verweist gewissermaßen auf seine Fremdheit in Algerien. Desorientiert und opportunistisch wird Messaoud zur leichten Beute für Said, läuft ihm hinterher und folgt seinen Anweisungen. Bei gewaltsamen Auseinandersetzungen greift er mit an, versucht aber dennoch einzulenken, als die Gewalt ausartet (beim Kampf gegen Boualem). Insgesamt erscheint Messaoud vielmehr als Mitläufer, der nicht wirklich zur Gruppe gehört und sich immer wieder in unpassenden Momenten von ihr losreißt. Beispielsweise unterbricht er Saids Hetzrede zur ‚Reinigung‘ des Viertels mit der Bitte, eher gehen zu dürfen, um seine Mutter anzurufen. Durch seine Handlungen werden oft ernsthafte und spannungsgeladene Szenen komisch gebrochen. Überhaupt erfährt der Film seine humorvollen Anteile insbesondere 237

über Messaoud, der zum einen durch seinen Status als Franzose oder Migrant, zum anderen durch sein Auftreten – als ein „komischer Kauz“ – aus dem Rahmen fällt und somit starre Muster auf verschiedenen Ebenen unterläuft. Ebenso wie die Grenzziehungen zwischen den opponierenden Kräften des Films von Messaoud überschritten werden, sehen sich eindeutige Identitätszuschreibungen anhand dieser Figur in Frage gestellt. Dies wird durch Fremdcharakterisierungen unterstützt. Mabrouk nennt Messaoud meist provokativ „l’immigré“, was wiederum doppeldeutig auf dessen ambivalente Identität hinweist: In Algerien ist er ein Immigrant, der sich nicht wirklich mit den Anderen identifiziert, kein Arabisch spricht und schnellstmöglich nach Hause zurück möchte, zugleich aber den Islamisten hinterherläuft, während er seine französische Identität betont. In Frankreich ist er allerdings ebenfalls nur ein „immigré“ und wird als nicht zugehörig sogar ausgewiesen. Damit spielt der Film auch auf die französische Einwanderungs- und Abschiebepolitik an, ebenso wie auf das ambivalente Verhältnis zwischen Frankreich und Algerien. Messaoud ist ein Beispiel dafür, wie sich Frankreich des kolonialen Erbes und der Migranten zu entledigen versucht; andererseits wird das ehemalige Mutterland als Zufluchtsort für potenzielle und tatsächliche Flüchtlinge wie Boualem bedeutsam. Der Film deutet so auf die Bewegungen und komplexen Beziehungen zwischen den beiden Ländern, gerade im Hinblick auf die Emigrationswellen der Algerier im Kontext des Bürgerkriegs. Migration beinhaltet dabei auch einen Identitätsverlust, der wiederum einen möglichen Nährboden für Radikalität eröffnet. Im Falle Messaouds hat die Ausweisung aus Frankreich seine (versuchte) Identifizierung mit den Islamisten gefördert. Durch die ambivalenten Identitätszuschreibungen und die angedeuteten Bewegungen zwischen Frankreich und Algerien (in Geschichte und Gegenwart) enthebt der Film das Konzept von Identität aus einer fixierten Position. Im Kontext der nationalen Krise setzt er sich von homogenisierenden Konzepten ab und stellt diesen Denkweisen von Instabilität entgegen.262

Résumé Ähnlich wie Youcef deutet Bab el-­oued city darauf, wie der Traum der algerischen Nation zerplatzt ist und die Fehlleistungen des Staates Algerien zu einem ‚unlebenswerten‘ Land machen. Desillusionierung und Aussichtslosigkeit prägen eine gebrochene Gesellschaft, die sich vor erneuten Identitätsfragen sieht. Insbeson262 Dies arbeitet Allouache in seinem Film Salut Cousin! (1996) aus, der das Thema Migration behandelt und über denselben Schauspieler (Messaoud Hattou) eine Verbindung zieht.

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dere die Jugend findet ihren identitären Halt nicht mehr im nationalen Diskurs, sondern sucht vergeblich nach anderen Perspektiven. Der islamistischen Radikalisierung setzt Bab el-­oued city den Wunsch nach anderen Lebensentwürfen entgegen. Gleichzeitig demonstriert der Film das Verschwinden einer möglichen kulturellen Heterogenität unter der islamistischen Bedrohung. Dadurch liefert er auch Migrationshintergründe (im Gegensatz zu Filmen, die sich auf das Leben der Migranten im Aufnahmeland konzentrieren). Während Youcef den Wahnsinn einer ‚kranken‘ Gesellschaft, die Amnesie und die innere Gewalt in Algerien vor allem symbolisch veranschaulicht, zeigt Bab el-­ oued city konkrete soziale Probleme und politische Ereignisse, die die Radikalisierung der Jugend ansatzweise erklären. Es wird nachvollzogen, wie der Islamismus aus der Gesellschaft heraus wächst. Beide Filme suchen die Verantwortung unter verschiedenen Kräften der Gesellschaft und kommunizieren die Undurchsichtigkeit und Verstrickung von Staatsmacht, Militär und Islamismus, der sich als komplexes Netz ausbreitet.263 Die von den Filmen thematisierten Konflikte und Missstände stellen die nationale Geschichtsnarration und Selbstlegitimierung der Regierung in Frage. In Youcef wird die nationale Befreiungsgeschichte durch die Wahrnehmung des Protagonisten gar zum Trugbild. Bab el-­oued city deutet mit seinen fragmentarischen Reminiszenzen an die franko-­algerischen Geschichte nicht nur auf das Erbe einer culture de guerre, sondern ebenfalls auf die fehlende oder einseitige Aufarbeitung (in Algerien und Frankreich). Der Film verbindet Probleme und Wünsche einer neuen Generation mit der Neubefragung der kolonialen Vergangenheit und überwindet die (staatliche und gesellschaftliche) Amnesie. Seine Struktur – mit ihren verschiedenen Erzählebenen, Handlungssträngen, Figuren sowie einem offenen Ende – vertritt eine Mehrstimmigkeit und Komplexität, die selbst eine Form des Widerstands gegen Homogenisierung ausdrückt.

3.2. Auftritt des cinéma amazigh Im Kontext des in diesem Kapitel betrachteten Widerstands engagierter Cineasten gegen die Homogenisierungsbestrebungen von islamistischer sowie von staatlicher Seite ist besonders die berberische Filmproduktion seit Mitte der 1990er Jahre von großer Bedeutung. Ausgerechnet während der années noires entstehen in Algerien die ersten Langspielfilme in Tamazight und widersetzen sich damit 263 Sie machen keine konkreten Aussagen über politische Gruppierungen, was auf die diversen und undurchsichtigen Ursprünge des Konflikts deutet. Bab el-­oued city spielt auch zeitlich vor der politischen Öffnung.

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dem staatlichen Identitätsdiskurs, der die algerische Nation als arabisch-­islamisch definiert. Die Filme Machaho (Belkacem Hadjadj, 1995), La Montagne de Baya (Azzedine Meddour, 1997) sowie die Literaturadaption La Colline oubliée (Abderrahmane Bouguermouh, 1997) symbolisieren den Willen und die Stärke der Filmemacher, sich trotz der schwierigen und gefährlichen Umstände auszudrücken. Mit ihrem Rekurs auf Widerstandsgeschichten, Traditionen und Sprachen der berberischen Bevölkerung entkräften sie das monolithische Bild Algeriens, das spätestens seit der Unabhängigkeit propagiert wird. Die Existenz dieser Werke trägt zu einer Neuperspektivierung der algerischen Identität bei. Der Entstehungszeitpunkt der Filmbeispiele ist trotz der prekären politischen Situation insofern nicht verwunderlich, als erst mit der seit Mitte der 1980er beginnenden Umstrukturierung und dem sukzessiven Zerfall des Staatskinos eine unabhängigere Produktion und damit eine größere Abweichung von den offiziellen Diskursen möglich war. Die Öffnung des politischen Systems 1989 sowie die wachsende Kraft der Berberbewegung und anderer oppositioneller Vereinigungen schufen neue Rahmenbedingungen für derartige Filmprojekte. Zwar kam die berberische kulturelle Produktion trotz der Repressionen der vorangegangenen Jahrzehnte nie zum Stillstand und fand ihren Ausdruck insbesondere in Poesie und Musik264 (vgl. Baumberger 2004: 213); einen Film in Tamazight zu drehen war zu Zeiten des Staatskinos aber kaum denkbar. Filmvorhaben kabylischer Regisseure wurden z. B. dadurch behindert, dass ihnen nur beschädigtes Material zugewiesen wurde. Einige frühe Werke des cinéma moudjahid (siehe IV.1.) spielen zwar in der Kabylei und dem Aurès-­Gebirge; sie porträtieren die Lebensweisen der ländlichen Bevölkerung, stellen diese aber nicht explizit in einen berberischen Kontext. Deutliche Identitätsmerkmale wie die lokalen Sprachen werden ausgeklammert und durch das Arabische ersetzt. Die ersten filmischen Produktionen in Tamazight sind so vor allem Ausdruck der Identitätsforderung und des langen Kampfes für die Anerkennung der berberischen Kultur, der besonders seit den 1980er Jahren aufflammte.

3.2.1. Politischer Hintergrund Obwohl in Algerien bis zu ca. 30 % der Bevölkerung berberophon sind, negierte die Regierung im Rahmen ihrer selbstlegitimierenden und homogenisierenden Politik jahrzehntelang die vielfältige Zusammensetzung der algerischen Nation. 264 Die berberische Aktivisten- und Kulturszene florierte vor allem unter den Exil-­ Berbern in Frankreich, wo auch Mammeri und der kabylische Musiker Idir wirkten. Die Musik Idirs begleitet wiederum nicht nur Film wie Machaho, sondern auch frühere Werk des algerischen Kinos wie Ali au pays des mirages (Rachedi, 1979).

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Dessen Definition als arabisch-­islamisch etablierte sich seit der Unabhängigkeit als unumstrittene Doktrin.265 Nicht nur auf politischer Ebene (durch Verbot anderer Parteien wie der FFS unter Hocine Aїt Ahmed), sondern auch im Bildungsund Kulturbereich suchte der Staat, berberische und andere alternative Stimmen zu unterbinden und sein Uniformitätsprinzip durchzusetzen. Sprachen wie Tamazight wurden marginalisiert, Studiengänge hierzu beispielsweise geschlossen. Die diskriminierende Politik und die Konflikte zwischen Berbern und Arabern waren nicht zuletzt durch den mythe kabyle der Kolonisatoren gefördert worden, der den Berbern eine Nähe zur lateinischen Mittelmeerkultur und damit zu Frankreich zuschrieb. Die Anerkennung der berberischen Komponente Algeriens erfolgt so erst schrittweise, nach einem langen Weg des Widerstands. Als im März 1980 eine Konferenz des Schriftstellers und Ethnologen Mouloud Mammeri über die kabylische Sprache und Poesie an der Universität Tizi Ouzou verboten wurde, löste dies eine große Protestwelle aus, die als sogenannter „printemps berbère“ in die Geschichte einging. Studenten und Lehrende demonstrierten, im April wurde ein Generalstreik in der Kabylei ausgerufen, um für die Anerkennung des Tamazight einzustehen. Darauf folgende Aufstände, die sich in verschiedenen Städten ausbreiteten, wurden gewaltsam unterdrückt. Die Wirkung dieses „berberischen Frühlings“ ist insofern besonders bedeutsam, als es sich um den ersten öffentlichen Widerstand größeren Ausmaßes seit 1962 handelt: L’effet du ‘printemps berbère’ produit, pour la première fois depuis l’indépendance, et de l’intérieur de l’Algérie, un contre-­discours public d’une réelle ampleur dans un pays fonc­ tionnant sur le principe de l’unanimisme. Dans cet univers compact où société et État, privé et public sont fondus en un seul bloc, la floraison d’associations et d’organisations populaires autonomes donne consistance à la société algérienne (Stora 2001b: 80).

Erstmals wurde die staatliche Einheitsideologie in dieser Tragweite in der Öffentlichkeit angegriffen und die tabuisierte Identitätsfrage hörbar gestellt. Im Laufe der 1980er Jahre machte die Regierung kleinere Zugeständnisse, indem sie zunehmend kulturelle Aktivitäten und Vereine duldete. Die politische Öffnung 1989 ermöglichte die legale Gründung von Parteien. Dennoch hielt die Berberbewegung vergeblich an ihren Forderungen fest, Tamazight als gleichberechtigte, zweite nationale und offizielle Sprache anzuerkennen. Ein Schulboykott 1994 in der Kabylei sowie die Gründung eines Haute Comitée de l’Amazighité

265 Der Gebrauch und die Beherrschung des Arabischen wurden als wesentliche Aufgabe der Algerier in der Nationalcharta von 1964 und erneut von 1976 verankert. Der Ausschluss der Berber wurde u. a. von Ministern gestützt, die deren Zugehörigkeit zu Algerien bestritten (vgl. Stora 2001b: 80).

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bewirkten schließlich, dass in 18 Provinzen Pilotprojekte des Sprachunterrichts eingerichtet wurden. Ein Teil des Mouvement Culturel Berbère (MCB) akzeptierte aufgrund der unsicheren Lage in Algerien zunächst diese Kompromisslösungen, der andere Teil beharrte auf der Forderung der Gleichstellung mit dem Arabischen. Die Sprachenfrage blieb ungelöst, im Juli 1998 wurde sogar ein neues Arabisierungsgesetz verabschiedet (vgl. Faath 2002: 224), noch im September 1999 erklärte Bouteflika, dass das Berberische niemals den Status einer offiziellen Sprache erhielte.266 Im April 2001 erreichte die Auseinandersetzung eine neue gewaltsame Spitze. Die Proteste des sogenannten „schwarzen Frühlings“ (printemps noir) weiteten sich von der Region Soummam auf weite Teile der Kabylei und auch außerhalb aus, mit größeren Märschen nach Algier (vgl. McDougall 2006: 184). Das Militär reagierte mit heftigen Repressionen, so dass von bis zu über hundert Toten und tausenden von Verletzen die Rede ist. Um die Gewalt einzudämmen und eine friedliche Lösung zu erzielen, gründeten sich Komitees der Stämme, Verwaltungen und Gemeinden, Comités des aarchs, dairas et communes (CADC). Sie verabschiedeten die Plattform von El Kseur, die u. a. die Forderung nach der Anerkennung des Berberischen enthielt (vgl. Faath 2002: 225). Die Übergabe der Forderungen an den Präsidenten im Juni 2001 wurde durch Ausschreitungen verhindert; nach Drohungen mit einem Wahlboykott lenkte die Regierung ein (vgl. ebd.: 226). Tamazight wurde letztlich im März 2002 als zweite nationale Sprache akzeptiert. Nach diesem langen Kampf und bis heute andauernden Konflikten wurde Anfang 2016 nun sogar die baldige Anerkennung als offizielle Sprache seitens der Regierung verkündet.267

3.2.2. Die schwierige „Geburt“ des berberischen Films Wie die Berberbewegung so trafen auch die Versuche der Cineasten ihre Filme in Tamazight zu produzieren auf einen sehr steinigen Weg. Die ersten berberischen Spielfilme haben nicht nur einen besonders langen Entstehungsprozess hinter sich, auch die Produktionsphasen selbst waren von vielen Hindernissen und Verzögerungen begleitet. Angesichts der politischen Situation in Algerien – einerseits die Arabisierungspolitik, andererseits der Terrorismus in den 1990er Jahren – ist wohl das Bedeutendste dieser Filme, dass sie überhaupt existieren und das ber266 Siehe z. B. http://www.algeria-­watch.org/farticle/amazigh.htm. 267 Siehe hierzu: http://www.lemonde.fr/international/article/2016/01/06/l-­algerieva-­l imiter-le-­n ombre-de-­m andats-presidentiels-­e t-promouvoir-­l a-langue-­ berbere_4842236_3210.html.

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berische Kino als eine Ausdrucksform innerhalb des algerischen Kinos ins Leben gerufen haben. In dieser Hinsicht, d. h. entsprechend der Priorität der Botschaft gegenüber der Ästhetik, sollen die Werke auch hier betrachtet werden. Die Aussagen des Regisseurs Abderrahmane Bouguermouh bestätigen die Annahme der existenziellen Bedeutung, wenn er anmerkt, dass die Umsetzung seines Filmes La Colline oubliée wichtiger gewesen sei als eine ausgereifte technische Qualität, die aufgrund der fehlenden Mittel kaum zu erreichen war: Pour nous, ce qui comptait, c’était d’abord de faire un film en Tamazight. On doit se contenter de ça. Cela ne veut pas dire que La Colline oubliée est un mauvais film. C’est au public de juger. Mais il y avait un choix à faire. Soit faire un très bon film, et il fallait des devises pour tout acquérir […]. Soit profiter de l’occasion et se dépêcher de faire ce film avant qu’il ne soit trop tard, avec les moyens du bord (Bouguermouh zitiert in Baumberger 2004: 213 f.).

Bouguermouh versuchte schon in den 1960er Jahren vergeblich, La Colline oubliée filmisch zu realisieren; er versprach sich und seinem Freund Mouloud Mammeri, dem Autor des gleichnamigen Romans, das auf Französisch geschriebene Werk als ersten Film in Tamazight herauszubringen.268 Nachdem er auch im Ausland keine erfolgreiche Förderung für sein Projektvorhaben erreicht hatte, legte er seinen Entwurf erst 1988 erneut der algerischen Kommission für die Annahme von Drehbüchern vor. Diesmal wurde sein Antrag akzeptiert, aber die Unterstützung des CAAIC beschränkte sich auf eine knappe technische Ausrüstung. Die größte finanzielle, materielle und personelle Unterstützung kam von lokalen Assoziationen, Einflussgrößen, Künstlern und der Bevölkerung (vgl. Baumberger 2004: 213). Trotz dieser gesammelten Kräfte gab es Probleme mit der Postproduktion, so dass La Colline oubliée nach seiner Vorpremiere im Dezember 1994 erst 1997 in seiner endgültigen Version veröffentlicht werden konnte. Auch Machaho und La Montagne de Baya sahen sich vor ähnlichen Schwierigkeiten und erhielten nur minimale Zuwendungen der staatlichen Filmförderung. Diese deckte bei La Montagne de Baya lediglich die Kosten für die Filmrollen (vgl. ebd.: 214). Die Regisseure profitierten letztendlich von der seit Ende der 1980er Jahre bestehenden Möglichkeit, unabhängige Produktionsfirmen zu gründen. Sie 268 1965 drehte der Regisseur einen ersten mittellangen Film in berberischer Sprache, Comme une âme, der allerdings konfisziert und vernichtet wurde, da sich Bouguermouh weigerte, den Film auf Arabisch zu synchronisieren. Der Regisseur war zwar an der Gründung des CNCA beteiligt, wurde aber 1964 aufgrund seiner Ideen ausgeschlossen. Er drehte eine der Episoden des Kollektivwerks L’Enfer à dix ans (1968) und arbeitete als assistierender Regisseur mit an Lakhdar Haminas Chronique (vgl. http://www.africultures.com/php/index.php?nav=personne&no=7161).

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drehten ihre Filme mit der algerischen Firma Imago Productions, an der sie selbst als Aktionäre beteiligt waren, jeweils in Kooperation mit französischen Firmen und, im Falle Meddours, auch in Kooperation mit der algerischen Fernsehanstalt ENTV. Neben den finanziellen Problemen waren die Regisseure und ihre Teams tatsächlichen Gefahren ausgesetzt; denn die Filme wurden alle an Originalschauplätzen in der Kabylei gedreht, die in den 1990er Jahren als Hochburg des Terrorismus galt. Da die Cineasten wie andere Intellektuelle und Künstler bedroht wurden, wechselte Meddour z. B. täglich seinen Aufenthaltsort. Durch eine Explosion von Sprengstoff, der für den Filmdreh lagerte, kamen 13 Mitglieder seiner Crew ums Leben. Dabei ist nicht geklärt, ob es sich um einen Unfall oder einen Anschlag handelte. Das Team von Machaho geriet seinerseits in einen Hinterhalt, blieb aber unversehrt und führte die Dreharbeiten unter dem Schutz der lokalen Bevölkerung fort (vgl. ebd.). Die Fertigstellung der Filme trotz aller Gefahren zeigt, wie groß der Einsatz für die Ausdrucksfreiheit gewesen ist (was auch die anderen Filme dieser Periode betrifft) und welche Bedeutung diese Projekte für ihre Macher und die berberische Gemeinschaft haben. Die Dynamik des seit den 1990er Jahren wachsenden cinéma amazigh, das zwar nur eine geringe Verbreitung im internationalen Filmmarkt, aber in verschiedenen Ländern Unterstützer findet, bezeugen weitere Filme wie Arezki l’indigène (Djamel Bendeddouche, 2007) oder Si Mohand U’Mhand, l’insoumis (Rachid Benallal / Liazid Khodja, 2004). Seit 1999 gibt es außerdem in Algerien das vom Haut Commissariat à l’Amazighité gegründete jährliche Festival du Film Amazigh, das seit 2005 vom Kulturministerium als Festival Culturel National Annuel du Film Amazigh institutionalisiert wurde.269 Die Bedingungen der berberischen Filmprojekte bleiben angesichts des kritischen Zustands, in dem sich das algerische Kino insgesamt befindet, dennoch schwierig.

3.2.3. Pluralisierung algerischer Geschichte und Identität Umstrittene Identitätsforderungen am Beispiel von La Colline oubliée Obwohl Literaturadaptionen in dieser Arbeit weniger im Interessenzentrum stehen, soll ein kurzer Blick auf den Hintergrund von La Colline oubliée geworfen

269 „Le festival du film amazigh donne à voir des réalisations dans une optique artistique, sociologique, historique et identitaire. Il se choisit une ligne artistique originale, celle relatant la mosaïque culturelle et linguistique Algérienne“ (siehe http://www.africine. org/index.php?menu=fichefest&no=409).

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werden, da der Film und die literarische Vorlage Mouloud Mammeris270 einen Schlüsseltext der berberischen Produktion darstellen. Zusammen mit Machaho und La Montagne de Baya ist er Ausdruck eines Widerstands gegen die Uniformierung von Kultur und Identität in Algerien. Die Bedeutung von La Colline oubliée als erster algerischer Film in kabylischer Sprache wird noch eingängiger, betrachtet man die ablehnende Rezeption und Polemik, die der gleichnamige Roman von 1952 hervorgerufen hat. Mammeris Roman wurde von algerischen Kritikern heftig angegriffen und löste gar eine der größten Debatten der algerischen Gegenwartsliteratur aus. Im zeitgenössischen Kontext der wachsenden nationalen Bewegung in Algerien wurde der Roman auf seine politische Instrumentalisierbarkeit hin rezipiert. Die ideologisch aufgeladene Stimmung erhöhte die Ansprüche, die algerische Literatur müsse den Zielen der Unabhängigkeitsbewegung dienen und das Kolonialsystem deutlich denunzieren. Schriftsteller wie Mammeri konzentrierten sich aber vielmehr auf die Darstellung der eigenen Kultur und Lebensumstände und erfüllten somit nicht die Erwartungen, die zu derartig hoch politisierten Zeiten an eine engagierte Literatur gestellt wurden.271 So wurden auch Mammeris Roman assimilatorische Züge zugeschrieben. Dass Mammeri in seinem Werk eine kabylische Dorfgemeinschaft fokussierte, wurde einer der größten Angriffspunkte 270 Mammeris Engagement für die algerische und berberische Identität zeigt sich auf verschiedene Weise. Neben Romanen verfasste er Theaterstücke und Drehbücher. Er schrieb den Kommentar zu Rachedis L’Aube des damnés (vgl. Déjeux 1978: 183). Zudem verfasste er Studien über die berberische Gesellschaft, gab Gedichte des kabylischen Poeten Si Mohand heraus. Als Professor an der Universität Algier unterrichtete er zeitweise die berberische Sprache im Rahmen des Faches Ethnologie, da der Lehrstuhl für Tamazight 1962 geschlossen wurde. Zwischen 1969 und 1980 leitete Mammeri das Centre de Recherches Anthropologiques, Préhistoriques et Ethnographique d’Alger; 1982 gründet er das Centre d’Études et des Recherches Amazighes in Paris ebenso wie die Zeitschrift Awal. 271 Die frankophone algerische Literatur der Generation der 1950er Jahre, zu der neben Mouloud Feraoun, Kateb Yacine und Mohammed Dib auch Mouloud Mammeri zählt, lässt erstmals eine eigene Identitätsaffirmation deutlich werden. Den Werken dieser im Nachhinein als Gründungsväter der algerischen Literatur geltenden Autoren wurde dennoch von zeitgenössichen Kritikern nicht selten eine Übernahme kolonialer Sichtweisen vorgeworfen. Dies hängt mit ihren teils fast ethnographischen Beschreibungen der autochthonen Lebensweisen und der fehlenden direkten Anklage des Kolonialismus zusammen (vgl. Heiler 2005: 36). Dass die Werke durch ihr Bezeugen der Eigenkultur und der Veränderungen der Lebensweisen durch die Kolonisation den kolonialen Diskurs widerlegen, wurde von der Kritik zunächst wenig anerkannt.

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seitens seiner Kritiker, die den Vorwurf eines „Berberismus“ laut werden ließ.272 Der Roman ist allerdings nicht separatistisch angelegt, sondern konzipiert das Gezeigte als Teil der algerischen Kultur und Identität. Trotz der Gemeinsamkeiten der Bevölkerungsgruppen, deren Lebensweisen sich mischen und kaum klar voneinander zu trennen sind, ist die Explizierung des Berberischen von den nationalistischen Zeitgenossen unerwünscht. Ähnlich, wie es im antikolonialen Kontext für die algerische Literatur bedeutend war, dass sie das Eigene sowie – wenn auch implizit – die koloniale Unterdrückung beschreibt, gilt dies für die Filme, die nun ihren Widerstand gegen die staatliche Verleugnung der berberischen Komponente Algeriens richten. Durch den sprachlichen Ausdruck in Tamazight erfährt das „Berberische“ hier eine stärkere Gewichtung als in der Literaturvorlage. La Colline oubliée vermittelt dennoch eine Freiheitsbotschaft, die insgesamt eine gesellschaftliche Emanzipation fordert, sich allgemein gegen Unterdrückung wendet und auch im Kontext der 1990er Jahre eine erneute Bedeutung erlangt. Roman und Film situieren ihre Handlung in Tasga, einem Bergdorf in der Kabylei, wo das Leben vom Rhythmus der Jahreszeiten und von strengen Traditionen bestimmt ist. Anhand des Tagebuches des verstorbenen Mokrane zeichnet die Erzählung eine Chronik des Dorfes und seiner Bewohner. Beginnend mit dem Jahr 1939 setzt die Retrospektive mit dem Widersehen der rückkehrenden jugendlichen Hauptfiguren ein und verfolgt deren verschiedene Lebenswege sowie ihr erneutes Kommen und Gehen. Sie kehren vom Studium in Frankreich oder Marokko zurück, werden in den Krieg gegen Hitler eingezogen oder bereiten sich für den Befreiungskampf im Maquis vor. Unter den jungen Protagonisten rivalisieren zwei Gruppen miteinander: auf der einen Seite die Nachkommen von Notabeln, die Taasast, die durch Schulbildung und Studium neue Sichtweisen in das Dorf hineinbringen und die Traditionen kritisch hinterfragen; auf der anderen Seite steht die Gruppe um Ouali, die aus ärmeren Verhältnissen kommt und an der alten Ordnung festhält. Die Auswirkungen des Kolonialismus zeigen sich sowohl anhand der Verarmung des Dorfes als auch durch die Beeinflussung und Bedrohung der traditionel-

272 Die zwei schärfsten Angriffe kamen von Mohammed Chérif Salhi und Mostefa Lacheraf, beide im Organ Le jeune musulman (Zeitung der Oulémas). Salhi kritisiert in seinem Artikel „La Colline du reniement“ eine Affinität zwischen dem französischen und kabylischen Volk. Lacheraf, Autor und Philosoph, nach 1977 Erziehungsminister, beklagt in seinem Beitrag „La Colline oubliée ou les consciences anachroniques“ ebenfalls einen Regionalismus und damit eine Trennung zwischen arabischer und berberischer Kultur (vgl. Heiler 2005: 36).

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len Lebensweisen. Letztlich verfolgt die Handlung den Bewusstwerdungsprozess der Jugend, die die Missstände nicht mehr einfach hinnehmen kann und Veränderungen vorantreiben will. Dem Rückzug der Gemeinschaft auf Glaubensrituale und Erduldung des Schicksals wird eine Notwendigkeit von Bildung und Widerstand entgegengesetzt. Der Drang der Jugend nach Veränderungen wird durch das Verlassen ihres Dorfes und die damit ermöglichte Außenperspektive gefördert (vgl. hierzu Oudjedi 2009). Interessant für den Kontext der 1990er Jahre ist die Reichweite der Thematik, die Roman und Film verbreiten. Denn es handelt sich hier weniger um den antikolonialen bewaffneten Kampf, als um einen Widerstand, der subtil auf mehreren Ebenen zu finden ist. Der zunächst ideelle Kampf gegen die koloniale Unterdrückung wird begleitet von einem Infragestellen strenger traditioneller Muster (die eine Passivität und Fügung gegenüber dem kolonialen Unrecht fördern). Eine Befreiung vom Elend ist nach dem Argument des Films nur möglich durch eine Lösung von den starren kolonialen und auch den traditionellen Machtstrukturen. Die autochthone Kultur wird also einerseits valorisiert und gegenüber dem Kolonialismus verteidigt, andererseits steht sie selbst in der Kritik. Dies ist für den zeitgeschichtlichen Kontext des Films bedeutend, in dem sich Jugendliche sowie die Filmemacher selbst gegen eine Stagnation und Regression der Gesellschaft wehren. Die Identitätsforderungen des Films stellen sich nun nicht mehr (nur) gegen die Kolonisation, sondern ebenso gegen die Homogenisierungspolitik des Regimes sowie die Radikalisierung der Fundamentalisten, die sich unter der Einheitsregierung ausbreiten konnte.

Einschreiben berberischer Identität in die algerische Nation und Geschichte Ähnlich wie La Colline oubliée liefern auch die anderen Filmbeispiele Einblicke in die kabylische Kultur und Geschichte und stehen für eine berberische Identität ein. Durch ihre Konzentration auf lokale Gemeinschaften könnten sie ebenfalls als regionalistisch gesehen werden. Ihre Identitätsforderungen und Revalorisierungen des Eigenen werden allerdings auch hier begleitet von einem pluralen Entwurf Algeriens, der die arabische und die berberische Komponente gerade nicht als opponierende, abgegrenzte Einheiten konzipiert. Vielmehr liefern die Werke eine kulturelle und historische Neuperspektivierung, die eine einseitige Sichtweise der Nation revidiert und diese um berberische Elemente erweitert. Indem sie der offiziellen nationalen Geschichtsschreibung ihre eigenen Geschichten gegenüberstellen, widerlegen die Filme auf der Makroebene eines weiteren Filmkorpus das monolithisch konstruierte Bild Algeriens. Auch innerhalb der Werke, die sich auf recht geschlossene Gemeinschaften konzentrieren und eine 247

identitäre Verwurzelung betonen, zeigen sich verschiedene kulturelle Einflüsse und Gemeinsamkeiten, die im realen Kontext das Resultat von Hybridisierungsprozessen sind. Die Filme stellen das Berberische als Teil der algerischen Kultur dar und schreiben es in die nationale Widerstandsgeschichte ein. Bei den ausgewählten Beispielen tritt vor allem die Sprache als berberisches Identitätsmerkmal hervor. Dabei eignet sich das Medium Film gut dafür, die oralen Traditionen zu transportieren, die für die Berberkultur charakteristisch sind, aber auch generell in Algerien einen hohen Stellenwert haben. Der mündlichen Tradition entsprechend, greifen die Filme oft Erzählungen, Märchen und Legenden auf, die traditionell von den Frauen als Bewahrerinnen der Kultur überliefert werden (wie z. B. auch in La Nouba sichtbar). Dies wird in Szenen übernommen, in denen weibliche Figuren direkt Geschichten erzählen und die Kinder oder auch die Gemeinschaft um sich herum versammeln (Colline; Baya). Andererseits sind die Filme teils selbst an Legenden angelehnt oder befinden sich zwischen historischer Grundlage, Legende, Realitätsnähe und Fiktion (z. B. Baya). Der Film Si Mohand U’Mhand, l’insoumis würdigt speziell die Tradition der mündlichen Dichtkunst, indem er den gleichnamigen großen kabylischen Poeten des 19. Jhs. porträtiert. Neben der Oralität vermitteln die Werke auf visueller Ebene über Kleidung, Schmuck, Kunst und Wandmalereien weitere spezifische Charakteristika. Auch Schriftzeichen werden teilweise sichtbar, in Colline erscheint zum Beispiel der Titel zu Beginn der Creditsequenz in Französisch und in Tifinagh. Zugleich zeigen die Filme mit ihren Darstellungen der Lebensweisen in der ländlichen Kabylei Aspekte, die geteilte Werte und Praktiken einer gemeinsamen arabisch-­berberischen Kultur(geschichte) repräsentieren. So äußert sich auch Azzedine Meddour in Interviews dahingehend, dass sein Film La Mon­ tagne de Baya gerade nicht (nur) dezidiert die berberische Identität stark macht, sondern für Kulturtraditionen des gesamten Landes und des Mittelmeerraums steht: „[C]est un film algérien. Ce n’est pas parce qu’on prend une religion qu’on change d’ethnie: Arabophones et Berbérophones se côtoient. Ce n’est pas le film d’une région. Les rites que décrit le film se retrouvent dans toute l’Algérie et la Méditerranée“.273 Eine scharfe Trennung arabischer und berberischer Traditionen ist in der Tat kaum sinnvoll, denn in Folge der arabisch-­islamischen Eroberung Nordafrikas und des jahrhundertelangen Kontakts der Bevölkerungsgruppen haben sich diese 273 Siehe http://www.africultures.com/php/index.php?nav=article&no=263, Azzedine Meddour im Interview mit Olivier Barlet. Meddours Film erschien erst auf Tamazight mit französischen Untertiteln, dann liefen zwei Versionen im Fernsehen, eine in Tamazight und eine im dialektalischen Arabisch.

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gegenseitig beeinflusst. Orale Traditionen, vorislamische Glaubensrituale und islamische Traditionen sind in Algerien insgesamt verbreitet. Auch die Filme ziehen hier keine Abgrenzungen, sondern machen im Gegenteil die realen Überschneidungen vernehmbar. Sie spiegeln die hybridisierten kulturellen Praktiken und zeigen, wie andere Riten und Glaubenstraditionen neben dem Islam weiter existieren. In Machaho sucht der Vater auf seinem Rachefeldzug z. B. einen islamischen Gebetsraum auf und betet; ebenso wohnt er einem Tranceritual zur Austreibung des Bösen bei. Bestätigt wird das Gemeinsame auf der Makroebene des größeren Korpus dadurch, dass die in den Berberfilmen porträtierten Lebensweisen und Traditionen gleichfalls in arabischen Filmen zu sehen sind, die sich auf die Landbevölkerung konzentrieren. Mehrere frühere algerische Werke wie Le Vent des Aurès oder L’Opium et le bâton illustrieren dies, auch wenn die Sprache dort noch ausgeblendet wird. Auch Chronique des années de braise verfolgt beispielsweise ein Aufbrechen zum Marabout und in diesem Kontext ein Ritual zum Herbeiführen des Regens. Eine ebenso herausgestellte Zeremonie zur Beschwörung des Regengottes findet sich in Baya. Es zeigt sich, dass auch Filme, die wie Chronique offiziell im Rahmen einer Arabisierungspolitik stehen, die Gemeinsamkeiten nicht ausblenden können. Transportieren die kabylischen Filme der 1990er Jahre nun die Identitätsforderungen der Berber, indem sie die lokale Sprache und kulturelle Praktiken deutlich inszenieren, repräsentieren sie zugleich heterogene algerische Traditionen. Ebenso werden universelle Werte wie Freiheit vertreten, indem die Werke vom Widerstand gegen verschiedene Formen der Unterdrückung erzählen. In allen Filmen des hier berücksichtigten Auswahlkorpus ist der Kampf für Freiheit zentral. Dabei geht es einerseits um den Widerstand des Kollektivs gegen die Kolonialmacht. Andererseits wird auch nach individueller Freiheit gestrebt, wenn sich z. B. die Jugendlichen in La Colline oubliée den Zwängen der Tradition widersetzen und Beziehungen aus Liebe verteidigen. Der Poet und freiheitliche Denker Si Mohand des gleichnamigen Films verkörpert darüber hinaus mit seinem fast anarchischen Lebensstil an sich eine Befreiung von Herrschaft und Zwängen. Die eigenen Traditionen werden in den Filmen zwar aufgrund der langen offiziellen Verdrängung und auch der Modernisierung der Lebensstile teils nostalgisch porträtiert, gleichzeitig finden sich aber auch kritische Blicke. Besonders in Machaho zeigen sich die grausamen Seiten, die das starre Festhalten an traditionellen patriarchalen Strukturen mit sich bringen kann. Machaho erzählt eine tragische Liebesgeschichte, die beinahe hätte glücklich enden können, wäre da nicht 249

die unaufhaltsame Rache des Vaters Arezki, der seine Ehre verteidigt. Dieser hatte einen jungen Mann namens Larbi vor dem Erfrieren gerettet und aufgenommen. Nachdem Larbi genesen in sein Dorf zurückgekehrt ist, stellt sich heraus, dass Arezkis Tochter von ihm schwanger ist. Zwar hat das junge Paar vor zu heiraten, doch als Larbi für einen Antrag wiederkommt, ist Arezki schon auf der Suche nach ihm, um ihn zu töten. Während Arezki in seiner Besessenheit eine Odyssee durch die steinige Berglandschaft und abgelegenen Dörfer unternimmt, bringt die Tochter ihr Kind zu Welt, und die junge Familie sowie die Mutter hoffen auf eine Rückkehr und Versöhnung mit dem Vater. Verwahrlost und verwirrt schafft dieser es heimwärts. Larbi findet ihn an der gleichen Stelle, wo Arezki ihn zuvor gefunden hatte, die beiden Männer erkennen sich aber zunächst nicht. Als Larbi sich um Arezki kümmert und ihm von seiner damaligen Rettung erzählt, sieht Arezki plötzlich eine Chance, seine Ehre doch noch zu retten. Wie ein Wahnsinniger greift er zur Axt und erschlägt Larbi aus letzter Kraft von hinten. Nachdem der Film auch beim Publikum möglicherweise eine Hoffnung aufgebaut hat, wirkt das (dennoch absehbare) Ende umso tragischer. Seine Freiheitsbotschaft lässt sich so wie die der anderen Beispiele in eine Kritik an der aktuellen und auch in gesellschaftlichen Strukturen verankerten Gewalt übertragen. Die Werke verweisen oft allegorisch auf das zeitgenössische Drama und begegnen diesem mittels ihrer Rückgriffe auf vergangene Zeiten. Der Rückschritt in die Vergangenheit ist auch im Hinblick auf das Neuschreiben der nationalen Geschichte von Bedeutung, denn die Filme evozieren vergessene oder von der offiziellen Historiographie vernachlässigte Aspekte und Momente, die weit vor der Formierung der FLN liegen. Sie spielen, anders als die überwiegende Mehrheit algerischer Filme, im 19. oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie erzählen vom frühen Widerstand der Berber gegen die Kolonialmacht und deren Verbündete und greifen Perioden auf, die ansonsten meist umgangen wurden. Die Erzählungen in Tamazight führen nun den Freiheitskampf auf seine Ursprünge zurück, die bis zu den Anfängen der kolonialen Eroberung reichen und in einer langen Widerstandstradition der berberischen Regionen verankert sind. Damit schreiben sie die Berber in die nationale algerische Geschichte des Freiheitskampfes ein. Teilweise rekurrieren die Filme dabei auf konkrete historische Personen oder lassen kabylische Mythen und Legenden auferstehen. Arezki l’indigène bezieht sich beispielsweise auf die Geschichte des Widerständlers Arezki El Bachir, der in den 1890er Jahren gegen das Unrechtssystem der Kolonialisten in der Gegend um Tizi Ouzou kämpfte. In La Montagne de Baya ist die Hauptfigur angelehnt an eine weibliche kabylische Heldin. Si Mohand erzählt von Vertreibung und dem Kampf gegen die Kolonialmacht, die das Dorf des Poeten zerstört und diesen in sein 250

Nomadendasein getrieben haben. Die berberischen Widerständler verkörpern Freiheitsideale, die sich unabhängig von einer dogmatischen nationalen Ideologie gestalten. Im Gegensatz zu den repräsentativen Märtyrern des ‚einfachen Volkes‘, wie Ali la Pointe in La Bataille d’Alger oder Ahmed in Chronique, gehören die Helden hier oft einflussreichen Familien an, was auf die einst mächtige Position berberischer Autoritäten verweist. Die Geschichte Arezkis in Arezki l’indigène beschreibt den Machtverlust der Notabeln mit der Etablierung der unrechtmäßigen Kolonialgesetze ebenso wie die mit dem code de l’indigénat vorangetriebene Enteignung und Diskriminierung der autochthonen Bevölkerung allgemein. Arezki, der Sohn einer der führenden Kräfte des Aufstands 1871 unter el-­Mokrani war, weitet seinen persönlichen Protest in einen größeren Widerstand in seiner Region aus. Er kämpft gegen die Ungerechtigkeit, wird als Aufständischer zum hors-­la-loi, begeht Diebstahl, um der enteigneten Dorfbevölkerung zu helfen und sammelt eine Truppe hinter sich, die erst mit großem Soldatenaufgebot von der Kolonialmacht geschlagen werden kann. Im Jahre 1895 wird er als einer der ersten Widerständler von der Kolonialregierung exekutiert. Die historische Figur Arez­ kis wurde zur (regionalen) Legende, ist aber in den nationalen Geschichtsnarrationen kaum erwähnt. Der Film bringt diesen Freiheitskämpfer zurück auf die Bildfläche. Interessant ist, dass er das Bild eines ‚typischen‘ moudjahid relativiert. Arezki hat beispielsweise enge Beziehungen zu Franzosen und versucht selbst das Menschliche in seinen Feinden zu sehen: „Arezki est cependant un héros qui peut déranger: il sauve la vie d’un colon contre des voleurs, entre dans une église pour être parrain d’un enfant catholique, laisse partir ceux qui lui veulent du mal… Il pactise avec l’ennemi, en qui il veut reconnaître un être humain. Là est sans doute l’actualité du personnage“ (Barlet 2008). Dieser Widerstandskämpfer überschreitet also übliche Grenzen; Gerechtigkeit und soziale Aspekte werden dem nationalen Diskurs übergeordnet.

Weiblicher Widerstand in La Montagne de Baya Meddours Film La Montagne de Baya zeigt noch eine weitere Dimension des Freiheitskampfes auf und stellt eine Widerstandsfigur ins Zentrum, die auch im Kontext des Gesamtkorpus dieser Arbeit besonders ist: Die weibliche Heldin Baya verkörpert den Kampf für die Bewahrung der eigenen Kultur und stellt zugleich eine Hommage an die algerische Frau dar. Im Entstehungszeitraum der 1990er Jahre, in denen die Fundamentalisten versuchen, eine vollständige Unterwerfung der Frauen zu forcieren, ist der Film durch sein mehrfaches Widerstandspotenzial umso bedeutender. Ebenso wie die anderen Beispiele in seiner erzählten Zeit in der kolonialen Eroberungsphase situiert, richtet sich auch diese an eine Legende 251

angelehnte Geschichte von Vertreibung, Überlebenswillen und Verteidigung zugleich auf das zeitgenössische Algerien. Bayas Dorfgemeinschaft wird durch französische Invasoren und die ihnen verbündeten lokalen Feudalherren (Bachaga) von ihrem Land vertrieben und muss in unfruchtbare, trockene Berggebiete flüchten. Während des Exodus wird Bayas Mann, der sich dem drohenden Rivalen Said (Sohn des Bachaga) widersetzt, vor ihren Augen von diesem getötet. Dem Brauchtum entsprechend erhält Baya, die Tochter des spirituellen Führers, ein Blutgeld (ddiya). Die Gemeinschaft fordert eine Verwendung der ddiya als Kriegssteuer, mit der sie das Land von der Kolonialmacht zurückkaufen könnte, doch Baya verwehrt sich dieser Zweckentfremdung. Sie hält dem Druck sowie der teils physischen Gewalt gegen sie stand und verteidigt nicht nur ihre Würde und Ehre, sondern die des gesamten Stammes. Von Bayas spirituellen Kräften und ihrer Entschlossenheit angetrieben, schafft es das Kollektiv gemeinsam durch Rituale, ein mühsames Herbeischaffen fruchtbarer Erde und traditionelle Bearbeitung, den sterilen Boden in ein gedeihendes Land zu verwandeln. Baya veranlasst Saids Ermordung und bringt dessen Vater die ddiya zurück. Erneute Angriffe und Vertreibungen begleiten das Schicksal der Gemeinschaft. Bayas Widerstand gegen die Kolonialmacht und die lokalen Feudalherren liegt in der Bewahrung der eigenen Traditionen und Souveränität. Der Film vermittelt so eine Verteidigung der berberischen Identität, die aber auch auf den Widerstand der Algerier gegenüber Unterdrückung allgemein übertragbar ist. La Montagne de Baya verbindet außerdem die Wertschätzung der berberischen Kultur mit der Anerkennung des weiblichen Widerstands. Baya hält bei ihrem Kampf allen Schwierigkeiten und persönlichen Herausforderungen stand, beweist Durchhaltevermögen und Tapferkeit, um die Identität der Gemeinschaft zu verteidigen. Diese Würdigung der Frau, die der Film mit der Inszenierung seiner Heldin vornimmt, lässt sich nicht nur im zeitgenössischen Kontext als Plädoyer für Freiheit und Gleichberechtigung erklären, sondern findet auch eine sozio-­kulturelle Verankerung in den Traditionen der kabylischen Gesellschaft. Die komplexe Position der kabylischen Frau, die innerhalb der patriarchalen und streng getrennten Geschlechterordnung dennoch eine besondere ist, soll hier nicht im Detail aufgegriffen werden. Sie bildet den zentralen Untersuchungsgegenstand von Camille Lacoste-­Dujardins Studie La vaillance des femmes (2008). Lacoste-­Dujardin analysiert hierin die Geschlechterbeziehungen anhand der mündlichen weiblichen Erzählungen, die eine wesentliche Rolle für die Übermittlung des kulturellen Wissens spielen. Die Frauen geben durch erzählte Geschichten, Legenden und Märchen Traditionen und gesellschaftliche Regeln an die nachfolgenden Gene252

rationen weiter. Etablierte Ordnungen werden dabei einerseits tradiert, andererseits finden hier aber auch Anfechtungen ihren Raum. Die Frauen, die sich ihrer Stellung Lacoste-­Dujardin zufolge durchaus bewusst sind, spiegeln nicht nur ihre soziale Unterordnung in den Erzählungen, sondern entgegnen ihr dort zugleich: Les femmes kabyles sont remarquablement conscientes de leur assujettissement et elles font preuve d’une réelle pugnacité. Ces qualités, elles les exercent d’abord dans leur fonction éducative: elles transmettent aux enfants, filles et garçons, les représentations des contes, par lesquelles elles usent des armes d’une sorte de terrorisme symbolique; et elles n’hésitent pas non plus à dénoncer les dysfonctionnements sociaux  (Lacoste-­ Dujardin 2008: 8).

Geschichten über weibliche Tapferkeit, Heldinnen und auch angsteinflößende Figuren haben in der kabylischen oralen Literatur der Frauen eine lange Tradition. Die – wenn auch im Gegensatz zu den männlichen Helden geringe – Existenz kriegerischer und heldenhafter Frauen in den Erzählungen bildet eine kulturelle Fundierung von Meddours Inszenierung der weiblichen Widerständlerin Baya. Eine historische Grundlage findet sich ebenfalls. Einige berberische Frauen sind für ihre Widerstandskraft und ihre bedeutende Rolle in der Verteidigung der kabylischen Ehre (taqbaylit) und des Vaterlandes (tamurt) in die Geschichte eingegangen (vgl. Lacoste-­Dujardin 2008: 105) und können auch als Inspirationsquelle für La Montagne de Baya gesehen werden. Die bekanntesten Widerständlerinnen sind Chimsi, die sich im 14. Jh. dem Sultan widersetzte, Lalla Fadma n’ Soumeur, die 1857 gegen die französische Eroberung kämpfte und die ihnen beispielhaft vorausgehende Kahina, die im 8. Jh. die Region des Aurès gegenüber der arabisch-­islamischen Eroberung verteidigte. Die Figur Bayas wird häufig in Verbindung mit Lalla Fadma n’ Soumeur gebracht, und tatsächlich finden sich hier trotz einiger Differenzen mehrere Parallelen. Ebenso wie Baya stammt Fadma aus einer bedeutenden adlig-­religiösen Familie und nutzt ihre magisch-­spirituellen Kräfte.274 Ihr Ruf als Kämpferin hat interessanterweise im unabhängigen Algerien Bestand, so dass ihr Bild auf Postkarten erscheint und sie (allerdings erst) 1995 zusammen mit anderen Märtyrern als „résistante nationale“ in einem Monument geehrt wird (vgl. ebd.: 108). Die historischen und filmischen Widerstandskämp274 Die Dorfversammlung vertraut ihr gemeinsam mit ihrem Bruder Tahar die Organisation des Widerstands an, so dass Fadma 1854 entscheidend zu einem vorläufigen Sieg über die Franzosen beigetragen hat. Drei Jahre später wird sie bei einem erneuten Kampf gefangengenommen und stirbt 1861 im Alter von 31 Jahren. Fadma gehört zur Familie der Aït Sidi Ahmed, die bis heute bedeutende Cheiks und politische Chefs hervorbringt. Auch Hocine Aït Ahmed, 1963 Gründer der sozialistischen FFS, gehört zu dieser Linie (Lacoste-­Dujardin 2008: 107).

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ferinnen überschreiten übliche Rollenzuweisungen und repräsentieren eine Symbolkraft für die Wertschätzung und den Mut der Frauen. Baya besitzt als Tochter des spirituellen Führers zwar ebenfalls eine Sonderposition und kann sich deshalb über das Kollektiv hinwegsetzen; dennoch lasten auch auf ihr traditionelle Erwartungen, die sie auf ihre eigene Weise erfüllt und bricht. Im Gegensatz zu Lalla Fadma (die sich einer Heirat und damit der Mutterschaft verweigert, vgl. ebd.) hat Baya einen Sohn und sorgt für die Weitergabe der Tradition über die mütterliche Verbindung. Sie wehrt sich allerdings gegen eine Wiederverheiratung, die nach dem Tod ihres Mannes der traditionellen Pflicht entspricht. Sie möchte Djendel, dessen Liebe sie erwidert, erst heiraten, wenn sie sich dazu bereit sieht und sich von dem Schmerz über den Verlust ihres Mannes befreit hat.275 Ähnlich wie Aazi in La Colline widersetzt sie sich also einer Heirat aus Tradition. Baya geht einen selbstbestimmten und zugleich kulturell geleiteten Weg und vertritt durch ihr Handeln eine Beweglichkeit innerhalb der Traditionen. Im Gegensatz zu einer Opposition zwischen Tradition und Modernität (wie z. B. in Filmen der Agrarrevolution) oder auch einem eher westlichen Verständnis von Emanzipation (Entschleierung und sexuelle Befreiung, z. B. in Viva Laldjérie), ist die weibliche Emanzipation in Baya mit der der Gemeinschaft verbunden. Die von Baya verteidigten Traditionen stehen symbolisch für die Identität der Gemeinschaft und somit gegen eine Aufgabe des Eigenen; sie repräsentieren den antikolonialen, innerfilmischen ebenso wie den berberischen Widerstand im zeitgenössischen außerfilmischen Kontext. Bayas Hinwegsetzen über das Kollektiv sowie ihre Verteidigung desselben verweisen auf die zentrale gesellschaftliche Bedeutung der Frauen trotz ihrer Unterordnung; der Film deutet so möglicherweise auch auf eine notwendige Innovationsfähigkeit der Geschlechterbeziehungen in Umbruchphasen.276

Résumé Im Kontext des Widerstands gegen die staatlich auferlegte Homogenität und die Unterdrückung durch terroristische Gewalt sehen sich die kabylischen Filme in einer Funktion der Affirmation der berberischen Identität und Geschichte. Die teils nostalgisch-­folkloristische, teils aber auch durchaus kritische Betrachtung von Traditionen vermittelt ein Bild identitärer Verwurzelung, das eher stabilen

275 Tragischerweise ist dies der Zeitpunkt, als Djendel im Kampf gegen die Angreifer fällt. Fruchtbarkeit (der Erde und der Frauen) ist ein durchgehendes Thema. 276 Lacoste-­Dujardin merkt an, dass sich das Machtverhältnis, das in Erzählungen diskutiert wird, nur in Ausnahmefällen in der Praxis ändert.

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Auffassungen von Identität entspricht. Dies erklärt sich durch die lange Negierung berberischer Identität im offiziellen Diskurs, die ein derartiges Konzept als Antwort verlangt. Macht sich das cinéma amazigh zum Sprachrohr dieses verdrängten kulturellen Erbes, verbreiten die Filme im Gesamten dennoch einen pluralen Entwurf Algeriens, der das Berberische als eine Facette des Algerischen einschließt. Die Rehabilitation von Legenden und historischen Widerständlern sowie die Vermischung von ahistorischen Riten, Legende und Geschichte verwischen darüber hinaus objektivierende Diskurse des Staatskinos. Die Erzählungen des frühen berberischen Widerstands gegen die Kolonisation perspektivieren die algerische Geschichte neu und können auch als symbolischer Widerstand in der Gegenwart gelesen werden. Die Valorisierung der Kultur einerseits und die Kritik gegenüber starren Traditionen andererseits setzen ein Zeichen für die notwendige Beweglichkeit einer Gesellschaft, die sich nur so gegen Stagnation und Fundamentalismus erwehren kann.

3.3. Repräsentationen des Bürgerkriegs und Widerstand der Frauen Einen weiteren deutlichen Widerstand gegen Terrorismus und Unterdrückung repräsentieren die seit Ende der 1990er und vor allem in den 2000er Jahren zunehmenden Filme von Regisseurinnen, die in Algerien und Frankreich tätig sind und sich Geschichte sowie Zeitgeschehen widmen. Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit der terroristischen Gewalt, deren Zielscheibe besonders die Frauen sind, entwerfen die Filme das Bild der Frau durch starke Charaktere neu und schreiben weibliche Akteurinnen in die Geschichte ein. In Frankreich entstehen z. B. Filme wie Rachida Krims Sous les pieds des femmes (1997), der von einer ehemaligen, in Frankreich lebenden moudjahida erzählt. Angesichts des Besuchs ihres damaligen Partners und vor der Folie des Terrors werden Erinnerungen an den Algerienkrieg angestellt, und der Film verknüpft so die Vergangenheit und Gegenwart der Gewaltgeschichte. Yamina Benguiguis Inch Allah Dimanche (2001) fokussiert die Erfahrungen der ersten Generation algerischer Migranten im Frankreich der 1970er Jahre und rollt diese aus weiblicher Perspektive neu auf; die Inszenierung wird trotz der tragischen Aspekte der Migrationserfahrung mit einem teils humorvollen Spiel mit Klischees über Algerier und Franzosen versehen, und auch hier werden Fragmente der franko-­algerischen Geschichte evoziert. Im Folgenden sollen die auf Algerien konzentrierten Filme Rachida (Yamina Bachir-­Chouikh, 2001) und Barakat! (Djamila Sahraoui, 2006) mit Blick auf ihre Positionierung der Frau in Geschichte und Gegenwart betrachtet werden. Gemeinsam mit Inch Allah Dimanche, Sous les pieds des femmes oder z. B. den im gleichen Zeitraum entstandenen Filmproduktionen männlicher Cineasten, die 255

sich den Frauen widmen (Chouikhs Douar des femmes von 2005 oder Moknèches algerische Trilogie, siehe IV.3.3.3.), fordern diese Filme die männlichen Konturen des algerischen Kinos heraus. Beide Filme behandeln die im kollektiven Gedächtnis der Algerier noch sehr präsente Periode des Bürgerkriegs der 1990er Jahre und fokussieren diesbezügliche Erfahrungen vor allem aus weiblicher Perspektive. Die Erhebung der Frauenstimmen in einem doppelten Sinne – als Regisseurinnen und Filmfiguren – in Verbindung mit ihrem inhaltlichen Aufbegehren gegen den Terrorismus macht diese Filme umso interessanter und politisch bedeutsam. Während beide Werke über ihre Figuren und Handlungsebene ein vielfältiges Bild starker und eigenwilliger Frauen zeichnen, ist in ihrer Inszenierung des Terrors eine Komplementarität festzustellen, die sich in dem Sichtbarmachen einerseits und der visuellen Zurückhaltung der Gewalt andererseits ausdrückt. Wie die Filme auf ihre unterschiedlichen Weisen jeweils eine Widerstandsbotschaft gegen Terrorismus und gewaltsame Homogenisierung der Gesellschaft leisten, wird im Weiteren aufgezeigt.

3.3.1. Visualisierung und Erleben des Terrors in Rachida Einen besonderen Beitrag zur Erneuerung des filmischen Blicks auf die algerische Gesellschaft leistet Yamina Bachir-­Chouikhs Film Rachida (2001), indem er nicht nur die Schrecken des Terrorismus aus weiblicher Sicht präsentiert, sondern überhaupt einer der ersten Filme ist, die den guerre invisible277 auf direkte Weise in eingängigen Bildern auf die Leinwand bringen. Wie in Kapitel II der Arbeit erläutert, blieb diese Periode in der algerischen Presse und auch in den visuellen Medien aufgrund der Zensur lange Zeit ein dunkler Fleck, an dessen Beleuchtung von staatlicher Seite aus wenig Interesse bestand. Die kollektiven traumatischen Erlebnisse des Terrors waren somit bildlich kaum greifbar, zudem wurde den überlebenden Opfern und auch den Exil-­Algeriern wenig Gehör verschafft: „Pour les Algériens, la guerre reste une tache aveugle, le lieu d’une prise d’otage: celle de la parole des victimes, confisquée par les formations politiques du pays“ (Lequeret / Tesson in Cahiers du Cinéma 2003: 26). Die Betroffenen selbst bleiben der Regissuerin Bachir-­Chouikh zufolge anonym, in den Medien ergreifen Experten für sie das Wort. Diese Situation zu ändern, machte sich die Cutterin Bachir-­ Chouikh mit ihrem Regiedebut Rachida zur Aufgabe. Das Drehbuch für den Film schrieb sie bereits 1996; fünf Jahre lang kämpfte sie für eine Finanzierung und Umsetzung des Films, der letztlich mit französischen Geldern produziert wurde. 277 Zur Abwesenheit von Bildern über den Terrorismus der 1990er Jahre in den Medien siehe Benjamin Stora 1991a.

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Die sperrige Haltung der Regierung gegenüber einer Aufklärungspolitik in Bezug auf den Bürgerkrieg mag ein Grund dafür gewesen sein, dass Bachir-­Chouikh keinerlei finanzielle Unterstützung aus den algerischen Förderungsmöglichkeiten erhalten hat.278 Gegen Ende der Periode des Terrors veröffentlicht, zeigt der Film, was den Bürgern noch in den Knochen steckt, und erzielte einen verhältnismäßig hohen Zuschauererfolg. Les gens ont été touchés par le sujet, ça leur parle et ce sont des familles qui sortent pour aller voir le film et non des jeunes ou des hommes qui ne font que passer. Cela n’était pas arrivé depuis La Bataille d’Alger, depuis 1965. C’est le même phénomène: des gens viennent voir leur histoire, la première représentation des dix dernières années de leur vie. Plus de dix ans en fait car on est dans cette violence depuis 1988 (ebd.: 27 f.).

Der Film bietet durch seine Würdigung der Opfer und das Erinnern der jüngsten algerischen Geschichte eine Plattform, die die gemeinsame Erfahrung der Algerier verarbeitet. Rachida war dennoch bei seinem Erscheinen auch vielfacher Kritik ausgesetzt; teilweise wurde der Film als zu übertrieben beurteilt oder als „französisch“ beanstandet. Laut Bachir-­Chouikh wurden gerade durch seinen Erfolg im Ausland und insbesondere in Cannes Bedenken laut. Der Beitrag des Films zur öffentlich-­medialen Erinnerung an das wohl dunkelste Kapitel der algerischen Geschichte seit der Unabhängigkeit ist jedoch nicht zu leugnen.

Sichtbarkeit und Spürbarkeit des Terrors Der Film Rachida verfolgt das Schicksal der jungen Lehrerin Rachida (Ibtissem Djouadi), die auf dem Weg zu ihrer Schule in Algier von einer Gruppe junger Terroristen niedergeschossen wird, als sie sich weigert, eine Bombe in der Schule zu platzieren. Sie überlebt schwer verletzt und traumatisiert. Dank der Hilfe der Schulleiterin Yasmina findet sie zusammen mit ihrer Mutter Aïcha (Bahia Rachedi) Zuflucht in einem abgelegenen Dorf. Allmählich kehren die beiden Frauen zur Normalität zurück und finden ihren Platz in der Gemeinschaft, Rachida unterrichtet wieder. Doch auch im Dorf sucht der Terror sie und die

278 „Rachida s’est donc fait sans un centime algérien, à part des sponsors et différentes aides amicales au sein des institutions. Ce système de débrouille est très algérien. Les pompiers m’ont proposé toutes leurs ambulances, j’ai eu des décors gratuits, les bus, le téléphérique, l’hôpital et le service de sécurité sur le tournage“ (Bachir-­Chouikh in Cahiers du Cinéma 2003: 27). Die fehlenden algerischen Mittel hängen auch damit zusammen, dass das System aus den Einnahmen der Kinotickets finanziert wird, diese aber in den 1990er Jahren ihren Tiefstand fanden (vgl. ebd.).

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anderen Bewohner bald heim, und Schreckenserfahrungen prägen zunehmend den Alltag, bis schließlich das gesamte Dorf verwüstet wird.279 Über die Erfahrungsperspektive Rachidas und weiterer zentraler weiblicher Figuren, wie Rachidas Mutter und dem Mädchen Zohra, das von Terroristen entführt und vergewaltigt wurde, zeigt der Film Leid und Leben unter dem Terrorismus auf eine vielperspektivische Weise. Er gibt vor allem, aber nicht ausschließlich, den Frauen eine Stimme, die in mehrfacher Hinsicht Opfer von Gewalt sind, „cibles privilégiées des intégristes, puisant dans un islam réinventé le prétexte fallacieux à une infériorisation du genre féminin et s’octroyant de le droit à la violence pour imposer ce statut humiliant“ (Brahimi 2009: 30). Insgesamt porträtiert er eine von Gewalt geprägte und zerbrochene Gesellschaft, deren Zukunftsaussichten in Frage stehen. Rachidas wird von den jugendlichen Terroristen in den Bauch geschossen. Yamina BachirChouikh: Rachida (2002): 00:08:48.

Terroristische Angriffe am Anfang und Ende des Films rahmen Rachidas Widerstandsgeschichte. Diese beginnt mit ihrer Weigerung, die Bombe zu legen. Am Ende des Films nimmt sie ihren Mut zusammen und geht, fast trotzig, in die zerstörte Schule des Dorfes. Bezeichnenderweise spielen Schluss- und Anfangsse279 Der Film beruht auf einer wahren Geschichte, in der eine junge Frau allerdings gestorben ist, da aus Angst vor Bomben keiner zur Hilfe gekommen war. Der Bruder der Regisseurin ist so ebenfalls umgekommen (vgl. ebd: 30).

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quenz des Films jeweils in einer Schule und heben sowohl die Bedeutung als auch die Bedrohung dieses zukunftsweisenden Ortes hervor. Rachidas verweinter Blick in die Kamera als letzte Einstellung des Films verdeutlicht diese Unsicherheit. Die Gesamtstruktur des Films unterstreicht die von Gewalt umgebene Gesellschaft sowie die zaghafte Hoffnung eines Auswegs, der unter anderem in der Bildung gesehen wird. Im Gegensatz zum politisch gesteuerten, üblichen medialen Umgang mit dem Thema sowie zu der teils allusiven Herangehensweise vieler Werke, visualisiert Rachida deutlich die Gewalt der années noires und macht sie über verschiedene Mittel spürbar.280 Relativ kurz nach der Eröffnungssequenz und Figureneinführung, die Rachida als fröhliche und selbstbewusste Frau präsentiert, veranschaulicht der Angriff auf Letztere eine brutal über die Menschen hereinbrechende Gewalt. Durch die externe Fokalisierung zu Beginn der Sequenz kann der Zuschauer bereits Rachidas Verfolgung beobachten. Die Protagonistin selbst wird von ihren Angreifern auf offener Straße überrascht und bedrängt. Unruhige, ruckartige Kamerabewegungen verfolgen das Gezerre um Rachida, die panisch versucht, sich den jungen Terroristen zu entreißen. Die Bedrohung spitzt sich zu, bis letztendlich einer der Jugendlichen Rachida aus nächster Entfernung in den Bauch schießt. In Nah- und Großeinstellungen verfolgt die Kamera das Geschehen, fokussiert die Waffe, dann Rachidas Gesicht und Schreien, bevor der Schuss losgeht und die Kamera auf die am Boden liegende, blutende Rachida blickt. Der zerreißende Schrei Rachidas, der sich mitsamt ihres grauenerfüllten Gesichtsausdrucks als eines der einprägsamen Bilder des Films festsetzt, kann  – sowie der Film insgesamt  – nach Denise Brahimi für einen symbolischen Aufschrei der Bevölkerung stehen; der Film wird von Brahimi als ein schmerzvoller und zugleich befreiender Schrei interpretiert, der die Stimme der Opfer ausdrückt: „De fait, le film est un long cri, longtemps étouffé et refoulé, qui finalement explose, déchirant mais aussi libérateur“ (Brahimi 2009: 31). Als wiederkehrende Elemente oder gar Leitmotiv durchziehen Schreie in verschiedenen Angriffs­szenen die Handlungsebene, die in dem terroristischen Übergriff auf die Hochzeitsgesellschaft gegen Ende des Films ihren Höhepunkt erreicht.

280 „Il y a une tradition algérienne de l’allégorie. On ne parle pas de la réalité, on déploie des grandes fables que chacun doit décrypter. Dans Rachida, au contraire, on est dans une frontalité du quotidien, où les personnages sont ce qu’ils sont“. Bachir-­Chouikh: „J’ai fait un film sur une violence, un peuple, sur le non-­sens de la violence, et sur ce qui la nourrit“ (Lequeret / Tesson in Cahiers du Cinéma 2003: 31).

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Die allgegenwärtige Präsenz des Terrors wird neben den Bildern von Gewalttaten281 oder deren Resultaten über verschiedene Komponenten des Films deutlich. Zum einen strukturieren terroristische Angriffe den Film auf der Handlungsebene, sie sind Auslöser für Rachidas Flucht, prägen zunehmend den Alltag der Figuren und gipfeln in dem verwüstenden Überfall auf die Dorfgemeinschaft. Räumlich rückt der Terror näher, indem er der Hauptfigur ins Dorf zu folgen scheint. Die Protagonistin, die sich immer wieder Schutz suchend ins Haus oder in den eingemauerten Patio zurückzieht, kann ebenso wie die anderen Figuren dem Zugriff der Gewalt nicht entkommen. Zum anderen wird die Präsenz des Terrors auf der Figurenebene dadurch verstärkt, dass die Terroristen immer häufiger zu sehen sind und Einschüchterungsversuche vornehmen. In direkten Begegnungen mit den Angreifern zeigt sich das Gesicht des Terrors im buchstäblichen Sinne. Die Täter kommen mitten aus der eigenen Gesellschaft; dass sich unter ihnen sogar eigene Schüler befinden (Angriff auf Rachida), ist umso bedrohlicher. Im Dorf sind es einige Männer, die immer wieder auftauchen, sich tags- und nachtsüber vom Lebensmittelhändler Geld und Nahrung beschaffen. Zunehmend beweisen die Terroristen, dass sie es nicht nur bei Drohungen belassen. Als sie in einer Szene ihre Macht demonstrieren und ein Café stürmen, wehrt sich Mokhtar, einer der Einwohner, verbal gegen die Angreifer. Eine spätere Szene öffnet mit einem direkten Kamerablick auf den getöteten Mokhtar. Von Angriffen durchzogen, zeigt der Film wiederholt die Radikalität und pure Gewalt der Terroristen, deren Motive und Forderungen allerdings ausbleiben. Das Geschehen wird also nicht politisch verortet oder aus einer analytischen Perspektive heraus betrachtet. Zwar kann dies als fehlende Kontextualisierung bemängelt werden, zugleich verstärkt der Film so aber seine Aussage: Denn dem Terrorismus wird jegliche Begründung entzogen und ein rationales Verstehen dieses sinnlosen Mordens unmöglich gemacht. Statt nach Erklärungen zu suchen, fokussiert Rachida die subjektiven Erfahrungen der Betroffenen und appelliert an Emotionen. Die dennoch teilweise authentifizierenden Strategien unterstreichen den Realitätsbezug.282 Mediale Zeugnisse mittels Radio, Zeitung und Fernsehen, 281 Der terroristische Angriff gegen Ende des Films wird wenig direkt gezeigt. Bachir-­ Chouikh erklärt diese Entscheidung damit, dass sie nicht in einen Voyeurismus der Gewalt abdriften wollte. Dennoch wird der Schrecken spürbar, durch die Tonebene und auch durch das visuell Abwesende, das imaginiert werden kann. Schreie, Schüsse, leergefegte Straßen schließen an Szenen an, die zuvor noch die tanzende Feiergesellschaft zeigten. Momente der Verfolgung und des Versteckens werden u. a. aus Rachidas Perspektive wiedergegeben. 282 Die Widmung zu Beginn des Films an den Bruder der Regisseurin sowie an alle anderen Opfern verortet den Film zusätzlich im außerfilmischen Kontext.

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die (knappe) Nachrichten über Anschläge enthalten, unterstreichen die außerfilmische Alltagspräsenz des Terrors. Auswirkungen des Terrorismus auf Individuum und Kollektiv, das Zerbrechen der Gesellschaft und das Leben in Angst werden durch individuelle Schicksale der Figuren deutlich. Rachidas äußeres Erscheinungsbild und ihre Körpersprache vor und nach dem Angriff auf sie machen den Wandel, den sie erfährt, sichtbar. Eingeführt wird sie als fröhlich, charmant und kommunikativ; sie präsentiert ihre weibliche Seite und macht sich für ein Schulfoto hübsch. Als sie das Krankenhaus verlässt, ist sie verängstigt und hüllt sich schützend in einen Schleier. Im neuen Zuhause zieht sie sich dort ins Zimmer zurück. Ihre zusammengekauerte Körperhaltung sowie der räumliche Schutzwall und Rückzugsort des Zimmers und des Patios zeugen von der Einengung und den psychischen Folgen des Terrors. Gerade als Rachida sich zum ersten Mal hinaus ins Dorf traut und einen Neubeginn wagt, erblickt sie bei ihrem Ladenbesuch einen der örtlichen Terroristen mit seiner Waffe am Gürtel. Panisch eilt sie nach Hause, kauert sich zitternd im Patio zusammen und verfällt zitternd zurück in ihre die Knie umschlingende körperliche Schutzhaltung. Rachidas Äußerung unterstreicht die Situation: „Je me suis exilée dans mon propre pays“. Dieser Satz drückt knapp und deutlich ihre Verzweiflung und ihr inneres Exil aus; er verweist implizit auf die Desillusionierung der Bevölkerung und das Scheitern des nationalen Projekts im außerfilmischen Kontext. Neben Rachidas Geschichte wird das Schicksal eines weiteren Opfers, gleichsam einer Hauptfigur auf zweiter Ebene, stückweise vermittelt. Es ist die Geschichte der entführten Zohra, die ungefähr mit dem Beginn der zweiten Hälfte des Films (00:53:05) eingeführt wird. Auf der Flucht vor ihren Peinigern rennt sie orientierungssuchend, zerzaust und in zerrissenem Kleid durch ein Waldstück ins Dorf. In wechselnden Einstellungen, teils an Zohras Sicht angelehnt, teils seitlich oder von hinten filmend und ein Verfolgen nachahmend, illustriert die Kamera ihr Entkommen. Mit ruckartigen Handkamerabewegungen wird die Unruhe und Panik eingefangen. Die Leitmusik, die mehrere Male im Film einsetzt, wird hier lauter und dramatisch zugespitzt. Zohra, die schon allein durch ihre Präsenz auf das Schicksal der Frauen und die an ihr verübte Gewalt verweist, verkörpert das doppelte Leid durch Gesellschaftszwänge und Terrorismus: Von den Terroristen entführt, ist sie Opfer von Vergewaltigungen; durch die daraus folgende Schwangerschaft wird sie zusätzlich von ihrem eigenen Vater verstoßen, der seine Familie entehrt sieht. Hier wird also auch die Gewalt von Traditionen thematisiert und ebenso deren Übertragung auf die Kinder. Zohras Neffe wird von den anderen Kindern nun ausgegrenzt. 261

Ausgerechnet die kleine Karima (Tochter des Ladenbesitzers) setzt sich zu dem Jungen, der schluchzend beteuert, dass seine Tante doch nichts Böses getan habe. Den verschiedenen Formen von Gewalt steht die Solidarität der Frauen gegenüber; Zohras Schwester wehrt sich gegen den Vater und nimmt sie bei sich auf, Rachidas Mutter bietet ihr an, das Kind zu adoptieren. Zohra bleibt dennoch eine Außenseiterin, sie wandelt allein umher, spricht kaum, versucht Schuld und Unreinheit von sich zu waschen, indem sie sich während der gemeinschaftlichen Zeremonie des Brautbads im Hammam mit einem Waschlappen blutig reibt. Zohras eigene Perspektive wird kameratechnisch besonders gegen Ende des Films in einer Art Mitsicht vermittelt, die das Desaster des Dorfes zeigt. Am Tag nach dem nächtlichen Übergriff wird die Zerstörung zunächst aus der Entfernung bekundet, Rauchschwaden liegen über dem Dorf. Dann blickt die Kamera im Wechsel auf den Boden, entlang des von Verwüstung zeugenden Weges, und auf Zohra, deren Perspektive nachempfunden wird. In kurz darauffolgenden Szenen geht Zohra allein an den erstarrten Dorfbewohnern auf dem Friedhof vorbei, ebenso an aufgereihten und von Laken bedeckten Leichen, auf die wiederum aus einer an ihre Sicht angelehnte Kameraperspektive geblickt wird. Die zwei Figuren Rachida und Zohra, die selbst nicht zusammen gezeigt werden, sind durch ihre gewaltsamen Erfahrungen verbunden und exemplifizieren das allgemeine Leid. Zohra kann gar als erneuter Auslöser von Rachidas Ängsten gesehen werden. Nach der Rückkehr Zohras, die an den Kindern und Rachida im Schulhof vorbeirennt, sieht man in der folgenden Sequenz, wie Rachida abends in ihrer verschlossenen Körperhaltung im Patio sitzt und sich verweint zu Raï-­Musik wiegt. Es folgt eine Alptraumszene, in der zunächst Rachidas Verlobter vor ihren Augen am Schuleingang und dann sie selbst erschossen wird. Filmisch werden der Schrecken und die Erfahrbarkeit der Ereignisse hier sehr spürbar vermittelt, da die Traumsequenz als solche sich nicht durch eine Markierung (z. B. Farbgebung) von der diegetischen Wirklichkeit abhebt. Der Alptraum wird erst als ein solcher erkennbar, als Rachida unter einem weiteren Schuss auf der Tonebene aus dem Bett hochschreckt. Durch das Nachhallen der Schüsse beim Erwachen Rachidas wird die Intensität ihrer inneren Angst nochmals betont. Die subjektiven Erfahrungen werden so immer wieder mittels an Figuren angelehnter Erzähl- und Kameraperspektiven kommuniziert. Daneben nimmt die Kamera auch Beobachtungshaltungen ein, die gleichsam der nullfokalisierierten nobody’s shots keiner Figur zuzuordnen sind oder aber zuweilen den Eindruck machen, als würde eine nicht sichtbare Figur observieren. In einer Szene ist dies besonders auszumachen, als Yasmina, Rachida und ihre Mutter über einen Besuch 262

in Algier diskutieren. Zunächst ist das Bild nur schwarz, da die Kamera auf dem nächtlichen Himmel verweilt, und die Stimmen der drei Frauen sind im off zu hören. Dann schwenkt die Kamera seitlich von oben herab, blickt auf das Haus, in dem sich die Frauen befinden, und fährt langsam in Richtung Fenster. Durch das Heranfahren und Annähern an das Haus von außen wirkt dieser Kamerablick fast wie ein scheinbares Heranschleichen einer Figur, die die Frauen beobachtet. Die Kamera bleibt vor dem Fenster stehen und schaut durch die transparente Gardine auf die drei Figuren. So vermittelt der Film das Gefühl einer ständig lauernden Gefahr oder Überwachung. Erst durch den darauf folgenden Schnitt und den Blick auf die Frauen aus einer näheren Einstellung im Innern des Raums wird ein Perspektivwechsel vorgenommen und die Sequenz wieder figurennah (kurzzeitig auch durch subjektive point of view shots) verfolgt. Die Wirkung, die die im Fernsehen gezeigten Nachrichten eines Massakers in einem Kloster auf Rachida ausüben, wird filmtechnisch nachgeahmt, indem der Blick zwischen Rachida und dem Fernseher zunächst hin und her wechselt, das Gespräch der Frauen plötzlich von den Nachrichten übertönt wird und dann ein ruckartiger Zoom auf Rachidas entsetzten Gesichtsausdruck folgt.283 Durch derartige subjektive Nachempfindungen und die besonders zu Rachida erzeugte Nähe wird das Zeitgeschehen des Bürgerkriegs für die Zuschauer spürbar. Die Konzentration auf individuelle Erfahrungen steht dabei den außerfilmischen offiziellen und zensierten Nachrichten entgegen. Schwer als nationale Narration instrumentalisierbar, kann diese Phase der algerischen Geschichte kaum aus ‚offizieller‘ Perspektive erzählt werden, und der Film fokussiert so die Stimmen der Opfer und des Individuums.

Kontraste und Gesten des Widerstands Durch die Multiperspektivität und das figurennahe ‚Miterleben‘ werden die Erfahrungen des Terrors eindringlich vermittelt. Zugleich gibt der Film anhand seiner Heterogenität an Figuren und deren Geschichten einen Einblick in verschiedene Aspekte der Gesellschaft und weist eine Vielfalt an unterschiedlichen Lebensstilen und Konflikten auf. Probleme wie die Perspektivlosigkeit der Jugend sind auch

283 Rachida verlässt daraufhin das Zimmer, erzürnt sich über den Missbrauch der Religion und die Zukunftslosigkeit der Kinder. Sie diskutiert darüber mit Yasmina. Rachidas Frage „Comment se taire alors que le pays n’est que douleur?“ weist auf die Aussage des Films hin. Yasminas Antwort auf ihre Frage, ob die Gewalt denn nie enden wird, deutet wiederum auf die Spirale der Gewalt und auch auf das koloniale Erbe.

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hier ein Thema, das durch die Figuren evoziert wird, so z. B. durch den in die Braut Hadjar verliebten Khaled und andere arbeitslose Jugendliche. Dabei sind direkte Anklagen an den Staat zu vernehmen, häufig explizit in kurzen Dialogen. Durch die ihm versagte Hadjar, die seine Zuneigung zwar erwidert, jedoch einer Zwangsheirat nicht entkommen kann, wird das Thema Gewalt auf einer weiteren Ebene verhandelt, und zwar auf der der gesellschaftlichen Praktiken. In diese Richtung weist auch die erwähnte Verstoßung von Zohra seitens ihres Vaters. Es sind also ebenso traditionell etablierte Strukturen, die die Freiheitseinschränkung, insbesondere der Frauen, mitverantworten und in der Kritik stehen. Die Parallelmontage der Hochzeitsfeier und des Angriffs der Terroristen gegen Ende des Films führt diese verschiedenen Formen von Gewalt schließlich auf der Handlungsebene zusammen. Den strengen Traditionen ebenso wie dem Fundamentalismus gegenüber stehen unabhängigere und liberalere Lebensstile der Hauptfiguren Rachida und ihrer Mutter sowie der Schulleiterin Yasmina – drei Frauen, die selbstbestimmt und eigenständig ihren Weg gehen. Die Komplexität der Gesellschaft zeigt sich nicht zuletzt an dem keineswegs einseitigen Frauenbild sowie an unterschiedlichen Auslegungen oder Umgangsweisen mit der Religion. Insbesondere Rachidas Mutter Aїcha verkörpert trotz aller Konflikte eine mögliche Vereinbarkeit von Religion, Tradition und einer weiblichen Selbstbestimmtheit und weist so einen gewissen hybriden Lebensstil auf. Aїcha hat sich von ihrem Mann getrennt, als dieser sich eine zweite Ehefrau nahm. Kämpferisch und von Erfahrungen und Diskriminierungen gezeichnet, verkörpert sie Ruhe und Stärke, steht ihrer Tochter sowie anderen Frauen zur Seite. Sie ist gläubig und man sieht sie mehrmals beten (im Gegensatz zu Rachida), dennoch trägt sie meist kein Kopftuch. Ebenso wie Rachida und Yasmina spricht sie auch Französisch, wobei dies vorwiegend in bestimmten Kontexten verwendet wird (im Krankenhaus oder mit Yasmina). Aїcha verkörpert zugleich Traditionen mündlicher Dichtkunst, wenn sie die Erzählung ihres Leids in einen poetischen Gesang verwandelt. An dieser Stelle sowie auch an einigen anderen macht sich außerdem ihr Sinn für Humor bemerkbar, den sie trotz allem nicht verloren hat. Zeigt sich an Aїcha, Rachida und Yasmina die mögliche Vermischung von Einflüssen verschiedener kultureller Orientierungen und die Vereinbarkeit von Religion und Freiheit, wird anhand anderer Figuren der Konflikt zwischen strengen Traditionen und freiheitlichen Ansichten deutlich. Eine Kollegin Rachidas in Algier möchte z. B. nicht mit aufs Klassenfoto, da sie nicht riskieren will, von ihrem Mann wegen eines Fotos umgebracht zu werden, wie sie selbst sagt. Sie sei froh, überhaupt arbeiten zu dürfen. Einige der Kolleginnen im Dorf tadeln 264

Rachida dafür, dass sie kein Kopftuch trägt, woraufhin Letztere sich gegen einen Dogmatismus wehrt. Sowohl Rachida als auch ihre Mutter empören sich explizit in ihren Aussagen über den Missbrauch der Religion für Gewalttaten („Dieu est innocent des crimes que l’homme commet en son nom“). Ebenso wie Bab el-­oued city grenzt Bachir-­Chouikhs Film den Islam von dem Missbrauch der Religion ab. Insgesamt stehen Unterschiede in Lebensweisen und im Umgang mit der Religion für eine kontrastreiche und komplexe Gesellschaft. Der Film lässt dabei die Spannungen dieser Ambivalenzen im Raum stehen. Durch eine kontrastreiche Montage unterstreicht er Widersprüche und stellt zudem der gnadenlosen Gewalt Lebensfreude gegenüber. Ruhige und entspannte Sequenzen wechseln sich dazu mit gewaltsamen Sequenzen ab, gehen teilweise abrupt ineinander über. Ein Beispiel hierfür ist die Montageanordnung von Rachidas Besuch in Algier. Rachida trifft hierin nach der Untersuchung im Krankenhaus ihren Verlobten am Strand, gemeinsam gehen sie schwimmen und liegen im Gras. Rachida wirkt zum ersten Mal entspannt und fühlt sich, zurück in Yasminas Wohnung, nach ihren eigenen Worten „wie neugeboren“. Ihre Mutter kommt mit Schreckensnachrichten aus ihrem Viertel, sie selbst bleibt allerdings erstaunlicherweise gelassen. Sie hält sich in einer anschließenden Einstellung ihr Kleid an den Körper, das ihre Mutter für die Hochzeitsfeier im Dorf mitgebracht hat; träumerisch schwebend dreht sie sich damit vor dem Spiegel umher. Rachidas Drehbewegung und der Stoff ihres Kleides gehen mit der nächsten Einstellung nahtlos über in die damit kontrastierenden, blutdurchströmten Kleider des ermordeten Mokhtars. Ähnlich konträr sind weitere Bilder aneinander montiert. Eine phantasiehaft anmutende Szene zeigt die Schulkinder in Rachidas Klasse, wie sie Seifenblasen pusten, die Rachida glücklich einfängt; die idyllischen Bilder und eine dazu eingespielte sanfte Musik lassen die Szene träumerisch wirken. Im Anschluss folgt eine Szene, in der sich die Terroristen nachts im Hause des Ladenbesitzers herumtreiben. Den Grausamkeiten und der Gewalt zum Trotz symbolisiert der Film insgesamt einen Widerstand, der auch durch weibliche Attribute zum Ausdruck kommt. Als Opfer und Heldinnen stehen Frauen im Zentrum des Films. Im Gegensatz zu den männlichen Helden der Kriegsfilme sind sie aber nicht durch einen übertriebenen Heroismus ausgezeichnet, sondern vielmehr durch Willensstärke, die Ängste überwinden lässt, sie aber nicht verdeckt. Ist es neben der psychischen Gewalt, die von der ständigen Bedrohung des Terrorismus ausgeht, doch vor allem die physische Existenz, die in Gefahr ist, erfährt das Körperliche eine große Bedeutung. Der Frauenkörper wird von den Terroristen doppelt bedroht, zum

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einen durch (mögliche) tödliche oder verletzende Angriffe, zum anderen durch Vergewaltigungen, außerdem ist er mit Verboten belegt. An der Figur Rachida zeigen sich nun einerseits beispielhaft die Gewalterfahrung und der Opferstatus der Frauen. Andererseits wird hier mehrfach auch über das Körperliche ein Ausdruck von Freiheitsbestrebungen und innerer Befreiung inszeniert. Im Verlauf des Films löst sich Rachida langsam aus ihrer zusammengekauerten, verängstigten Haltung. Die Sequenz nach Zohras Rückkehr verdeutlicht dies. Schockiert über Zohras Geschichte, sitzt Rachida zunächst weinend und ihre Knie umschlingend im Patio. Sie beginnt allmählich, sich sanft und melancholisch zur Raï-­Musik zu wiegen, steht dann auf und fängt an leicht zu tanzen; sie scheint sich langsam körperlich durch die Tanzbewegungen zu befreien, auch wenn der Schmerz nicht überwunden werden kann. Dabei öffnet sie anfangs ihr langes, lockiges Haar, was ebenfalls als Geste des Protests verstanden werden kann. Denn dieser subtile Ausdruck des Widerstands tritt gleich mehrere Male im Film auf und hebt zusammen mit weiteren Details die Betonung der Weiblichkeit hervor. Rachida wiederholt das Haareöffnen, als sie sich am Ende des Films entschlossen auf den Weg in Richtung Schule macht (sie setzt zudem ihre Kopfhörer auf, was auch auf die Bedeutung der Musik als Widerstand verweist). Außerdem findet sich diese kleine Geste schon zu Beginn des Films, als Rachida sich für das Klassenfoto schön macht. Der Film öffnet sogar in seinen ersten Einstellungen mit typisch feminin konnotierten Gegenständen und Gesten: In Groß- und Detailaufnahmen wird als erstes ein Lippenstift gezeigt, der herausgedreht wird und sodann die Lippen Rachidas anmalt. Das sorgfältige Schminken der Lippen und das Schönmachen werden von der Kamera eingefangen, die anschließend Rachidas lächelndes Gesicht in Großaufnahme als Abbild in einem Spiegel zeigt.284 Schönheit und Weiblichkeit sowie Rachidas Lebensfreude werden so als Antithese zur Gewalt und als Geste der Selbstbehauptung an den Anfang des Films positioniert und exponiert. Auch die Raï-­Musik, die Rachida immer wieder hört, ist wie in Bab el-­oued city als Ausdruck des Widerstands und des Freiheitswillens zu sehen. Als hybrider Musikstil impliziert der Raï eine kulturelle Vielfalt; von den Islamisten selbstverständlich verboten, steht er in diesem Kontext also für einen symbolischen Protest. Dass Rachida in der oben erwähnten Szene zu einem Lied von Cheb Hasni 284 Diese Spiegelszene steht intertextuell gesehen in einem motivischen Netzwerk; ähnliche Szenen und Bilder sind z. B. in Filmen wie La Bataille d’Alger, Viva Laldjérie, Sous les pieds des femmes und Inch Allah Dimanche zu beobachten. Der Spiegel kann verschiedene Symboliken aufweisen und in diesem Kontext als Untermalung der Identitätsfragen gesehen werden.

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tanzt, der selbst 1994 von Terroristen ermordet wurde, verleiht der Botschaft des Films umso mehr Nachdruck.

3.3.2. Plädoyer für ein Ende der Gewalt in Barakat! Der Film Barakat! spielt ebenso wie Rachida während der Hochphase des Bürgerkriegs in Algerien285, nähert sich dieser Zeit jedoch auf ganz andere Weise. Während Rachida die Anklage des Terrorismus und die traumatischen Erfahrungen durch eine sichtbare Gewalt auf der Handlungsebene akzentuiert, spart Barakat! diese auf visueller Ebene teils aus und setzt dem Terror alternative Bilder entgegen. In einem realistisch-­dokumentarisch anmutenden Stil286 gedreht, ist Barakat! auf seiner Handlungsebene ruhiger gehalten als Rachida und vermittelt sogar zuweilen eine Entspanntheit anhand seiner Bildästhetik. Der Terrorismus scheint hier zunächst aus dem Hintergrund heraus zu agieren und die Bedrohung unsichtbar oder im Ungewissen zu bleiben, was ihre Gegenwärtigkeit jedoch nicht mindert. Zugleich stellt diese sich nämlich ebenso als aus nächster Umgebung kommend heraus und verweist damit auf ihre unausweichliche Präsenz. Einige Jahre nach Rachida und dem Ende der schlimmsten Phase des Terrorismus in Algerien entstanden, gewährt Barakat! einen etwas hoffnungsvolleren Ausblick, wenngleich dieser sich nicht auf konkret zu beobachtende Veränderungen innerhalb der gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen bezieht. Die teils friedlichen Bilder und Beziehungen der Figuren entkräften keineswegs die Anklage der Gewalt und die Kritik an Versäumnissen von Gesellschaft und Regierung, sie lassen jedoch Vorstellungen eines anderen Algeriens denkbar werden. Über verschiedene Gestaltungselemente des Films werden Zeichen des Widerstands aufgezeigt. Besonders die Form des Films als eine Art modifiziertes road movie – ein Genre, das mit der Suche nach Freiheit und Identität verbunden ist,287 – lässt die weiblichen Hauptfiguren gesellschaftliche und persönliche Grenzen überschreiten und damit neue Forderungen anstellen. Barakat! porträtiert zwei Frauen unterschiedlicher Generationen, die, so verschieden ihre Charaktere und Motivationen auch sein mögen, starken Willens der Gewalt in ihrem Land trotzen. Als der Mann der jungen Ärztin Amel (Rachida 285 „Irgendwo im Algerien der 90er Jahre“ informiert ein Insert zur Eröffnungssequenz und verweist damit auf die Verbreitung und Generalisierung der Ereignisse. 286 Djamila Sahraoui hatte zuvor Dokumentarfilme wie Algérie, la vie quand même (1998) gedreht, der sich arbeitslosen jungen Männern (hittistes) in ihrem Heimatort in der Kabylei widmet. Barakat! ist ihr erster Spielfilm. 287 Siehe hierzu Grob / Klein 2006, außerdem die Analyse von Exils.

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Brakni) aufgrund seiner journalistischen Tätigkeiten von den Islamisten verschleppt zu sein scheint, macht sich Amel zusammen mit ihrer älteren Freundin, der Krankenschwester Khadidja (Fettouma Bouamari), auf die Suche nach ihm. Die gefährliche Reise führt die beiden Frauen nicht nur in die Arme der Terroristen, auf einer scheinbaren Fährte des entführten Mourads, sondern konfrontiert sie mit der Vergangenheit und deren Verwicklungen in der gewaltsamen Gegenwart Algeriens. Persönliche Geschichten, generationelle Konflikte sowie ein gegenseitiges besseres Kennenlernen begleiten die Frauen auf ihrer Suche. Außerdem begegnen sie einem gütigen alten Mann, der sie beherbergt, sich ihnen mit seinem Eselkarren anschließt und seinen inneren Wunden sowie dem Zirkel der Gewalt trotzt.

Weiblicher Protest und alternative Entwürfe Algeriens – Frauen erobern den Raum Im Gegensatz zu Rachida wird in Barakat! nicht die vergebliche Flucht vor dem Terrorismus nachgezeichnet, sondern diese vielmehr umgedreht, indem die beiden Protagonistinnen die Suche nach dem vermissten Ehemann und damit geradezu eine Verfolgung der Terroristen aufnehmen. Diese in Wirklichkeit sehr riskante und daher vielleicht nicht sehr realistische Handlung ist hier als symbolischer Widerstand zu deuten. Der Ausgangspunkt für die ‚Reise‘ – die Untätigkeit der Polizei – unterstreicht, dass der Staat dem Terrorismus im außerfilmischen Kontext eher passiv begegnet. Dies wird im Film metonymisch anhand der Figur eines schlafenden Polizisten formuliert, der der Hilfe suchenden Amel gegenüber nur desinteressiert und abfällig reagiert.288 Als einzige Möglichkeit bleibt also nur, selbst in Aktion zu treten, weshalb sich Amel und Khadidja, nach einem (wie sich später herausstellt falschen) Hinweis des Nachbarn Karim auf die gefährliche Suche begeben. Diese Handlungsermächtigung drückt bereits einen Widerstand in mehrfacher Hinsicht aus: Indem die Frauenfiguren sich auf den Weg durch das Land machen, widersetzen sie sich nicht nur der Untätigkeit des Staatsapparates. Sie durchbrechen hier, ähnlich wie Lila in La Nouba, die traditionelle Raumordnung, die bereits durch die Abwesenheit des Mannes an Kraft verliert und deren Überschreiten hier sogleich einen Protest gegen die umso größere Bewegungseinschränkung durch den Terrorismus ausdrückt. Im Gegensatz zu Rachida, die sich in enge Räume zurückzieht, bewegen sich die Frauen in Barakat! trotz der Gefahren ‚frei‘ durch die Straßen und erschließen sich einen ihnen mehrfach untersagten Raum.

288 Ähnliche Verhaltensweisen der Polizisten finden sich in Viva Laldjérie, siehe IV.3.3.3.

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Der gütige Mann unterstützt Amel und Khadidja bei ihrer Suche mit seinem Eselkarren. Djamila Sahraoui: Barakat! (2006): 00:58:10.

Dass die freie Bewegung an sich besonders zu Zeiten des Terrorismus nicht selbstverständlich ist, wird an verschiedenen Szenen deutlich. Die Straßen sind durch Kontrollpunkte und Sperren oft nicht passierbar. In einer Szene zu Beginn des Films wird gezeigt, wie die Ärztin Amel nur ausnahmsweise weiterfahren darf, da sie das Nachbarskind ins Krankenhaus einliefern muss. Zudem werden Amel und Khadidja auf ihrer Fahrt von einem hupenden, aggressiven Mann überholt, der sie während des Vorbeifahrens als „Schlampen“ beschimpft, da sie als „anständige Frauen“ nichts auf der Straße zu suchen hätten. Umso bedeutender ist in diesem Zusammenhang das Vordringen der Frauen in weitere von Männern beherrschte oder ihnen vorbehaltene Räume.289 Auf der Suche nach ihrem Weggefährten, der sie im Dorf von Amels Elternhaus abgesetzt hatte290, betreten die beiden Frauen ein Café, zum Erstaunen der dort ausschließlich sitzenden Männer. Das Eintreten der Frauen wird einerseits durch

289 Die Frauen gelangen tatsächlich zum Versteck der Terroristen, werden allerdings gefangengenommen und nur dadurch wieder freigelassen, dass ihr Anführer in der Schuld Khadidjas steht. Sie lassen sich auch nicht aufhalten, nachdem die Terroristen ihnen das Auto entwendet haben und gehen zu Fuß weiter. 290 Nachdem die Taxifahrer eine Rückfahrt nach Aïn Sbaa – hier wird erstmals der Name genannt – verweigert haben, da eine Fahrt dorthin zu gefährlich ist, suchen die beiden Frauen ihren Begleiter in dem Café.

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den erfreuten Blick des alten Mannes erwidert, andererseits durch irritierte und provokative Reaktionen der anderen Männer. Von deren sexistischen Sprüchen gereizt, zieht Amel plötzlich eine Waffe, die sie aus dem Elternhaus mitgehen ließ. (Dieses „Erbstück“ des Vaters, wie sie es nennt, spielt auf das gewaltsame Erbe der Vergangenheit an). Sie richtet die Waffe auf einen Mann, der sie als „gute Ware“ herabwürdigend und vorlaut anmacht, und fordert ihn auf seine Worte zu wiederholen. Sie kehrt die von den Männern ausgehende Bedrohung um, bis Khadidja und der alte Mann ihr schließlich die Waffe wegnehmen. Im Gegensatz zu der Konfrontation, wie sie in der Cafészene oder in Sequenzen mit den Terroristen inszeniert wird, verweist der Film auch auf ein denkbares humanes und friedliches Miteinander, das sich in der Figurenkonstellation über die Begegnung der beiden Protagonistinnen mit dem herzlichen alten Mann ausdrückt.291 Die Verbindung dieser drei Figuren bildet eine zentrale Achse des Films. Sie symbolisiert eine mögliche Solidarität und ein gegenseitiges Anerkennen über Geschlechtergrenzen und Generationen hinweg und unterstreicht die Dimension eines gewaltfreien Widerstands. Respektvolles Verhalten und Näherkommen sowie gegenseitiges Einfühlungsvermögen zeichnen die entstehende Freundschaft zwischen den drei Figuren aus. Verschiedene Lebensformen, verkörpert durch die ‚modernen‘, selbstbestimmten Frauen und den ländlichen, traditionell lebenden Mann, treffen hier aufeinander. Die humane Dimension steht dabei über der Frage nach sozialer, politischer oder religiöser Identität. Die Zwischenmenschlichkeit der drei Hauptfiguren und die Schönheit des Landes, die auf ihrer gemeinsamen Reise mit dem Eselkarren sichtbar wird, bilden einen Kontrast zu den terroristischen Bedrohungen und Grausamkeiten und lassen von einem anderen Algerien träumen. Insgesamt vermitteln diese ruhigen Szenen sowie die meist langen Einstellungen des Films, die leuchtenden, intensiven Farben der Filmbilder und die langsame Fahrt auf dem Eselkarren eine Ruhe, die entspannende Momente gestattet und der Unruhe durch die terroristische Gefahr widerspricht. Der Film bietet so ein positiveres Gesamtbild als Rachida und stellt den Brüchen der durch den Bürgerkrieg zerrütteten Gesellschaft die – wenn auch nicht frei von Konflikten, so doch versöhnliche – Verbindung der drei Hauptfigu291 Die Frauen wurden von dem bescheidenen und zurückhaltenden Mann beherbergt. Durch die Präsenz von Khadidja und Amel blüht er regelrecht auf; er spricht zu seiner verstorbenen Frau, dass wieder Licht in ihr Haus gekommen sei. Der Mann begleitet die Frauen letztlich mit seinem Eselkarren, selbst seit drei Jahren auf der Suche nach seinem verschwundenen Sohn, von dem er nicht weiß, ob er verschleppt wurde oder selbst zu den Terroristen zählt.

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ren entgegen. Die durch sie verkörperten menschlichen Werte werden durch die Schlussszene und die sie begleitende titelgebende Formel betont. Khadidja und der alte Mann wandeln am Strand entlang und werden von einer zufrieden blickenden Amel beobachtet. Der alte Mann bittet Khadidja, ihm Amels Waffe zu geben, wirft diese anschließend ins Meer und ruft: „Barakat!“ (Es reicht!). Khadidja erwidert seine Worte; die Kamera verweilt auf den beiden, wie sie sich neckisch nebeneinander schwankend annähern, und zeigt so ein hoffnungsvolles Schlussbild vor dem weiten Horizont des Meeres.292 Neben dieser friedlichen Botschaft des Films äußert sich eine Rebellion gegen die Gewalt und die Vorschriften der Islamisten ähnlich wie in Rachida über verschiedene Gesten, die hier etwas provokativere Züge annehmen. Der Widerstand wird sowohl in den filmischen Charakteren und ihren Handlungen ausgedrückt als auch über mehrere, auf den ersten Blick vielleicht unscheinbar wirkende Momente, die ein Einfordern von Freiheit kommunizieren. Die persönlichen Revolten werden insbesondere anhand von Khadidja vermittelt. Ebenso wie die Ärztin Amel, aber noch weitaus selbstsicherer, widerstrebt Khadidja vollkommen einem Bild von sich unterordnenden Frauen. Scharfsinnig, teils bissig und kühn gegenüber den Terroristen wird die recht kleine, drahtige Khadidja als sehr starker und mit einem schwarzen Humor ausgestatteter Charakter gezeichnet. Programmatisch ist hierbei die Besetzung der Rolle Khadidjas mit der charismatischen Schauspielerin Fettouma Bouamari, die bereits die aufbegehrende Ehefrau in Le Charbonnier darstellte, wodurch ebenfalls über eine intertextuelle Verknüpfung das Bild einer starken Frauenpersönlichkeit evoziert wird. Durch ihre rebellische Art und ihren Sarkasmus ist Khadidja selbst fast ein Symbol des Widerstands. Außerdem ist sie eine ehemalige moudjahida, kämpfte im Unabhängigkeitskrieg an der Seite ihres Mannes und Slimanes, den sie in der Begegnung im Terroristenlager nicht scheut zu provozieren. Ihr Protest gegen die Überhand des Religiösen im Alltag zeigt sich auch, als sie den Nachbarn der Eltern Amels maßregelt, er solle sie nicht „Hadja“ nennen (eine laut diesem nun für alle übliche Bezeichnung, die ursprünglich den nach Mekka Gepilgerten vorbehalten war). Bedeutend und vielfach symbolisch aufgeladen ist eine Sequenz, die auf die oben erwähnte Szene mit dem beleidigenden Autofahrer folgt. Khadidja beschimpft den Mann im Auto zunächst zurück, auf Arabisch und Französisch. Nachdem Amel den Wagen daraufhin abrupt anhält und ihren Ärger über die Zustände in Algerien äußert – „Pays de merde!“ –, steigt Khadidja unangekündigt aus. Sie wickelt sich ungeschickt in einen haїk, setzt sich provokativ zu Amel blickend wieder ins Auto und 292 Dass der Name Amel Hoffnung bedeutet, mag ein zusätzlicher Verweis sein.

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kommentiert frech, dass sie den Schweinen schon repräsentable Frauen bieten würden. Ihre Verschleierung ist allerdings weniger als Anpassung oder Gehorsam zu sehen, sondern eher als eine Art „subversive Mimikry“ oder Bedeutungsverzerrung des Schleiers. Denn zum einen soll der Schleier hier vor den „Gesetzen“ radikaler Männer und der Gewalt der eigenen Landsleute schützen. Zum anderen wird durch Khadidjas gewollt ungeschicktes Verheddern in dem Schleier und ihre ironische Haltung die Bedeutung und Funktion des Schleiers unterlaufen. Letzterer, der ihr immer wieder verrutscht, wirkt an ihr vielmehr wie eine Verkleidung. Dies wird von Amels genervter Reaktion unterstrichen: „Nimm deinen Maulkorb ab, wenn du willst, dass ich dich verstehe“, herrscht sie Khadidja an. In den darauffolgenden Szenen hantiert Khadidja mit ihrer ‚Verkleidung‘ herum. Amel fordert sie auf, sich abzuschminken, da die Terroristen sie sonst sofort umbringen würden, wenn sie sie so sähen. Khadidja folgt Amels Befehl trotzig, rettet allerdings ihre Zigaretten aus dem weggeschmissenen Schminktäschchen und versteckt sie zur Entrüstung Amels zwischen ihren Brüsten – „dort finden sie sie nicht“ (trauten sie sich nicht zu schauen), entgegnet ihr Khadidja. Dass Khadidja überhaupt eine Schminktasche auf dieser gefährlichen Mission dabei hat, ist angesichts der Umstände sehr unpassend. Gerade deshalb ist die Schminktasche aber als intendiertes Zeichen gegen die Unterdrückung von Frauen zu lesen, was in der intertextuellen Verbindung zur Schminkszene in Rachida bekräftigt wird. Khadidja raucht genüsslich auf offener Straße. Djamila Sahraoui: Barakat! (2006): 1:04:00.

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Das Rauchen wird ebenfalls zu einer Geste des Widerstands. In mehreren Szenen bietet Khadidja dem alten Mann Zigaretten an, gemeinsam teilen sie den Genuss, der Zufriedenheit und Entspannung in ihren Gesichtern auslöst. In dieser kleinen aber deutlich hervorgehobenen Handlung des Rauchens steckt sowohl ein Moment des Freiheitsgefühls und der Verbundenheit zwischen den beiden Älteren als auch ein Ausdruck der Provokation. Denn auch mitten durch die Straßen eines Dorfes fahrend, raucht Khadidja genüsslich und exponiert auf dem offenen Karren, anscheinend unbeeindruckt von dem Verbot.293

Gegenwart der Vergangenheit – Echos des Algerienkriegs Über Figuren und Bildmotive wird in Barakat! die Verstrickung bzw. ein Ineinandergreifen von algerischer Geschichte und der gegenwärtigen Gewalt angedeutet. So erinnert das Verstecken der Waffe in einem Korb an reale Handlungen im Unabhängigkeitskrieg und auch an ähnliche Szenen aus bekannten Filmen wie La Bataille d’Alger. Khadidjas Verschleierungsaktion bietet ebenfalls ein Motiv, das auf die Geschichte und andere Filme verweist. Es wird somit auf ein pikturales, erinnerungsbehaftetes Netzwerk rekurriert, wobei die Bedeutungen subvertiert werden. Anders als in La Bataille d’Alger im Sinne des antikolonialen Kampfes und auch anders als in Youcef als Schutz gegen innere Feinde, verliert er seine Funktion, indem er letztendlich unbekümmert um Khadidjas Hüften geschwungen ist. Er wird von ihr weder aus religiöser Überzeugung noch ernsthaft als Schutzwall eingesetzt und erweist sich eigentlich als nutzlos. Seine Bedeutung wird auf die eines Stückes Stoff reduziert und entkräftet die in der Geschichte vielfach instrumentalisierten Zuschreibungen sowie darüber in früheren Filmen evozierte Mythen des Freiheitskampfes. Geschichte und Gegenwart werden zudem über die Figurenkonstellation neu verknüpft. Khadidja hat als moudjahida während des Unabhängigkeitskriegs Slimane das Leben gerettet; er und ihr Mann waren schwer verletzt, Letzterer überlebte nicht. Slimane steht somit in Khadidjas Schuld, weshalb die Frauen von den Terroristen frei gelassen werden. Als sie ihn zur Rede stellt und an die Vergangenheit erinnert, will er davon nichts wissen. Er verdrängt die Vergangenheit sowie die Freiheitsideale, für die sie damals gekämpft haben; nur seine Narben erinnern noch daran. Durch die Gegenüberstellung von Khadidja und Slimane

293 Frühe Filme wie La Bataille d’Alger haben gezeigt, dass das Rauchen auch im Freiheitskampf unter der FLN verboten war und als Verrat geahndet wurde. Auch aus filmhistorischer Perspektive wird so eine Abwendung von Vorschriften – unabhängig welchen Ursprungs – kommuniziert.

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wird eine Konfrontation geschaffen, die auf die Schatten der Vergangenheit hinweist und ähnlich wie Youcef die Verstrickungen zwischen Algerienkrieg und Bürgerkrieg andeutet. Auf der einen Seite prägt die Kontinuität der Gewalt die algerische Geschichte bis in die Gegenwart, auf der anderen Seite zeigt sich über Figuren wie Slimane der Verrat an den Freiheitsidealen. Slimane ist nun lokaler Anführer der Terroristen (wahrscheinlich der FIS; am Ende erfährt man, dass er von der GIA ermordet wurde). Die Parallele zwischen dem damaligen Kampf der FLN und den gegenwärtigen Islamisten, die so gezogen wird, ist ein deutlicher Affront gegen die offiziellen nationalen Heldengeschichten. Diese Verbindung richtet sich dabei nicht pauschal gegen die damaligen Freiheitskämpfer, sondern gegen jene, die ihre Ziele verraten haben und neue Machtpositionen ausnutzen. Khadidjas Erzählung über den Freiheitskampf stellt die Dominanz der männlich perspektivierten Geschichtsnarration in Frage. Indem Khadidja letztlich Amel ihre eigenen Erfahrungen im Algerienkrieg erzählt, wird der weibliche Anteil an der Befreiung Algeriens anerkannt. Die Geschichte des Freiheitskampfes wird in diesem Fragment zu einer sehr persönlichen und schmerzhaften Erinnerung. Während Khadidja ihre Erfahrungen schildert, blickt die Kamera in Nah- bis Großaufnahmen abwechselnd auf sie und Amel. Die beiden Frauen werden visuell ins Zentrum gestellt und damit auch die weibliche Sicht auf die Geschichte unterstrichen. Die tief im Inneren der Figur verborgene Erinnerung wird erst durch die aktuelle Konfrontation und Reflexion über das Scheitern des gegenwärtigen Staates freigelegt. Dies spiegelt eine Neubefragung des Unabhängigkeitskriegs und eine zunehmende Kritik an der FLN-­Regierung, die im Zusammenhang mit der Gewalt des Bürgerkriegs im außerfilmischen Kontext zu finden sind.

Résumé Deutlich wird auch in Barakat!, wie der Terror die Gesellschaft durchzieht und mit der gewaltsamen Geschichte Algeriens verstrickt ist. Die Verbindungen zur nationalen Befreiungsgeschichte sowie die weibliche, subjektive Perspektivierung der Geschichte entkräften die offizielle Narration und nehmen der nationalen Identität ihren stabilen Anker. Zentral ist in Barakat! neben der Stärke der Frauen der kritische Blick auf die Versäumnisse der Umsetzung freiheitlicher Ziele. Der Vorwurf der jüngeren Generation an die Älteren ist ebenso spürbar wie der Überdruss an der eingrenzenden und Frauen verachtenden Lebensrealität. Das Gespann der drei Hauptfiguren lässt zugleich von der Utopie eines anderen Algeriens träumen, bei dem Humanität über Identitätsaspekten wie Religion oder Gender steht. Die Reise der Figuren im Film kann nicht zuletzt auch als Metapher gelesen werden und reflektiert eine Gesellschaft inmitten von Gewalt auf der Su274

che nach sich selbst. Dabei verweist die Beziehung zwischen Amel, Khadidja und dem älteren Mann auf ein mögliches respektvolles, alternatives Miteinander. Die Figurencharakterisierung der eigenwilligen Frauen ebenso wie z. B. die Versatzstücke des Französischen in ihrem Sprachgebrauch deuten auf Identitätsentwürfe, die sich gegen festgelegte Rollenmuster, Homogenitätsvorstellungen des Islamismus sowie einseitig männlich konzipierte Geschichtserzählungen stellen.294 Die Gewalt wird hier, anders als in Rachida, wenig direkt gezeigt, ist aber als ständig lauernde Gefahr aus dem Hintergrund gegenwärtig. Teilweise vermitteln gerade die visuellen und inhaltlichen Auslassungen (Ellipsen) eine Unsicherheit und auch Undurchsichtigkeit. Der Sohn des alten Mannes ist z. B. seit Jahren verschwunden und Letzterer weiß nicht, ob er von Terroristen entführt wurde oder selbst zu ihnen gehört. Dem Zuschauer wird der letztlich in Karims Garage gefundene Mourad visuell vorenthalten, das Opfer bleibt in diesem Fall also unsichtbar.295 Gezeigt werden somit weniger die physische Gewalt bzw. tatsächliche Angriffe der Terroristen als der psychische Druck einer dysfunktionalen Gesellschaft, der sich teils in Amels Handlungen entlädt. Der Terror erfährt eine Omnipräsenz dadurch, dass er aus der Obskurität heraus operiert und zugleich aus nächster Nähe kommt, verkörpert durch in die Gemeinschaft integrierte Figuren. Neben dem Goldschmied Slimane, einer der Führer des Netzwerks, ist hier Karim zu nennen. Der nette Nachbar, dem Amel vertraute und dessen Kind sie gerettet hat, stellt sich am Ende des Films als (Mit-)Täter heraus.296 In dieser Hinsicht hat der Terror also Gesicht und Namen, befindet sich in unmittelbarer Nähe. Anders als in Filmen wie Rachida oder Bab el-­oued city wird hier zudem ein Bezug zu den real existierenden radikalen Gruppen GIA und FIS hergestellt, die als einige der verantwortlichen Gruppierungen genannt werden (womöglich durch den größeren zeitlichen Abstand zwischen der Entstehung des Films und dem Bürgerkrieg). Rachida und Barakat! reflektieren jeweils eine Gesellschaft in der Krise, die von Verunsicherung, Bedrohung und Gewalt heimgesucht wird. Im Subtext und teils auch explizit werden der Staat und dessen nationale Mythen dabei in Frage 294 Nahtlose Übergänge vom Arabischen ins Französische (Code-­Switching) zeugen vom alltäglichen Umgang mit vielfältigen Spracheinflüssen. 295 In einigen Szenen verwehrt die Kamera eine weitere Einsicht; sie bleibt auf einer Position stehen, als die Frauen sich in Richtung des möglichen Verstecks der Terroristen begeben und ins Ungewisse über einen Hügel verschwinden. 296 Kleine Details weisen in diesem Zusammenhang auf eine strenge Verhaltensweise des Vaters Karims hin: Amel küsst den kleinen Jungen im Krankenbett auf die Stirn, dieser bittet sie, seinem Vater davon nichts zu erzählen.

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gestellt. Beide Filme evozieren einerseits die gesellschaftlichen Ambivalenzen, andererseits den Protest der Frauen gegen die Unterdrückung. Als Zielscheibe von Gewalt ebenso wie als impulsgebende Agierende für Veränderungen stehen die Frauen im Zentrum. Sie werden hier anders als in Bab el-­oued city nicht nur als Opfer, sondern vor allem auch als Handelnde dargestellt. Während sie sich in Filmen wie Bab el-­oued city überwiegend abseits der Gesellschaft auf den Terrassen der Häuser befinden, dringen sie insbesondere in Barakat! in öffentliche und männlich reservierte Räume vor und erkämpfen sich einen Platz in der Geschichte und Gegenwart. Verteidigt wird ihre Identität als Frau, die unter anderem durch feminine Attribute hervorgehoben wird. Identität ist hier, ähnlich wie in den kabylischen Filmen, vor allem im Sinne einer Selbstbehauptung zu sehen, die sich im Kampf gegen die Bedrohung der eigenen Existenz, Freiheit und Individualität sieht. Individualisierte und eigensinnige Charaktere setzen Stereotype über Frauen außer Kraft. Als Ärztin und Lehrerin verkörpern besonders Amel und Rachida einen Platz der Frauen im (Bildungs-)System der Gesellschaft. Anerkennung und Selbstbestimmung der Frauen stehen hier im Zusammenhang mit der Frage nach einer politischen, gesellschaftlichen und geschichtlichen Stimme.

3.3.3. Provokation und marginalisierte Perspektiven in Viva Laldjérie Im Anschluss an die obigen Filme, die auf verschiedene Weise dem Terrorismus trotzen und homogene Entwürfe der algerischen Nation und Geschichte revidieren, wird hier mit Nadir Moknèches Viva Laldjérie ein weiteres Beispiel fokussiert, das etablierte Vorstellungen von (nationaler) Identität in Frage stellt. Der Film steht repräsentativ für eine veränderte Sicht auf das postterroristische Algerien, bei der Träume und Nostalgien mit Desillusionierungen konfrontiert werden. Mit seinem unverblümten Blick auf das zeitgenössische Algier und mit seiner Konzentration auf gesellschaftlich Marginalisierte fängt er die Lebensrealität der Menschen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Abgründen und Hoffnungen ein und zeichnet das Bild einer Gesellschaft auf der Suche nach sich selbst. Moknèche drückt seinen filmischen Protest gegenüber offiziellen Diskursen vor allem durch Provokationen und Tabubrüche aus. Prostituierte, Homosexuelle, freizügige junge Menschen und (scheinbar) mächtige Frauen gehören zum üblichen Figurenrepertoire seiner Filme, die so für reichlich Kontroverse sorgen.297 Sein Gesamtwerk ist in mehrfacher Hinsicht ein Beispiel für eine gewagte Dar297 Moknèches Frauenbilder werden oft als „unehrenhaft“ kritisiert und seine Filme dem Vorwurf eines verfälschenden Blicks auf Algerien ausgesetzt. So wie das frankophone Kino algerischer Regisseure allgemein für viele als nicht algerisch gilt, wurde auch Viva

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stellung der algerischen Gesellschaft, bei der die Grenzen tradierter Rollenmuster, Identitätsvorstellungen und Konventionen deutlich überschritten werden. Es steht exemplarisch für die oben erwähnten Werke männlicher Cineasten, die gemeinsam mit denen der weiblichen Regisseure das Bild der Frau neu gestalten. Moknèches Filme zeigen noch einmal, welchen hohen Stellenwert die Auseinandersetzung mit der Situation der Frau in den aktuellen kinematographischen Entwürfen Algeriens einnimmt. Sowohl Le Harem de Mme Osmane (2000) als auch Viva Laldjérie (2004) und Délice Paloma298 (2007) spielen mit Verschiebungen und Neuinterpretationen von etablierten Vorstellungen verschiedener Provenienz. Die Filme dieser algerischen Trilogie erinnern über ihre Titel (Le Harem), visuelle Referenzen oder Figureninszenierungen (z. B. die Protagonistinnen von Viva Laldjérie in ihrem Pensionszimmer oder die Figur „Sheherazade“ in Délice Paloma) an orientalistische Bildtraditionen und Stereotype299 und transformieren deren Bedeutung. Dabei invertieren sie nicht nur Klischees über die untergeordnete arabische Frau, sondern schreiben patriarchale, nationale und orientalistische Imaginationen um, indem sie Formen einer Art Matriarchat sowie Versuche individueller Selbstbestimmtheit darstellen. Bereits Le Harem de Mme Osmane liefert ungewöhnliche Sichtweisen der gegenwärtigen Gesellschaft. Der Film spielt 1993 in Algier, wurde aber in Tanger gedreht. Er zeigt, wie Mme Osmane, eine frustrierte, ehemalige moudjahida, die von ihrem Mann verlassen wurde, die Bewohner ihres Miethauses und ihre Tochter tyrannisiert. In Délice Paloma steht das Scheitern der Geschäftemacherin Madame Aldjéria im Zentrum, die aufgrund von Betrügereien, Zuhälterei und illegalem Erwerb von Staatseigentum drei Jahre im Gefängnis verbracht hat. Sie erinnert sich an die florierende Zeit ihrer Agentur, die jegliche illegale Dienste umsetzte; dabei muss sie sich ihrem zerplatzten Traum vom Kauf Laldjérie von mehreren algerischen Kritikern eine Algerianität abgesprochen und dem Film sogar eine orientalistische Haltung vorgeworfen (vgl. hierzu Durmelat 2007: 99 ff.). 298 Délice Paloma erhielt in Algerien keine Abspielerlaubnis, Moknèche zufolge womöglich aufgrund seiner Kritik an einigen Ministerien und der Thematisierung von Korruption. Moknèche drehte seinen jüngsten Film Goodbye Morocco (2013) deshalb in Marokko. Dieser verbindet Themen wie Ehebruch, Immigration (afrikanischer Migranten in den Maghreb) und Emigration (nach Europa) und zeigt zugleich die Vielschichtigkeit der maghrebinischen Geschichte auf, indem er die christliche Vergangenheit anhand der Inszenierung einer archäologischen Stätte aus dem 4. Jh. freilegt. 299 Die Frauen in Viva Laldjérie erinnern dekonstruierend an Eugène Delacroix‘ Gemälde „Les femmes d’Alger dans leur appartement“. Teils werden in den Referenzen sexualisierte Klischees aufgenommen, diese aber durch eigenwillige Figuren und deren Kampf für Freiheit gebrochen.

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der Caracalla-­Thermen und der Einsamkeit nach ihrer Freilassung stellen. Aldjéria, die an ihren Machenschaften scheitert, steht symbolisch für ein Algerien, das so keine Perspektive bietet – den jungen Leuten wie Paloma und Riyad bleibt scheinbar nur die Flucht als Ausweg oder sie ordnen sich, wie Aldjérias frühere Angestellte Sheherazade, der Autorität von Ehe und Religion unter. In Viva Laldjérie ist es die noch vom Terror traumatisierte Gesellschaft, die ins Auge gefasst wird. Der Film spielt nach dem „offiziellen“ Ende300 der années noires und lässt deren Nachwirkungen, die sich in Verfolgungsangst und Identitätssuche ausdrücken, spürbar werden. Im Zentrum des Films stehen drei Frauen Algiers: Papicha (Biyouna), eine ehemalige Kabarett-­Tänzerin, die von den alten Zeiten träumt, ihre eigensinnige und freizügige Tochter Goucem (Lubna Azabal), die auf der Suche nach ihrem Liebesglück ist, und die Prostituierte Fifi (Nadia Kaci), Nachbarin und Freundin von Goucem. Ebenso wie Fifi bewohnen Goucem und ihre Mutter gemeinsam ein kleines Zimmer in einer Pension, da die Frauen ihr Haus in den Turbulenzen des Terrors verlassen mussten. Aus einer Leichtsinnigkeit heraus stiehlt Goucem die Waffe von Fifis Stammkunden, einem hohen Beamten der Staatssicherheit. Als die Waffe nicht wieder auftaucht, lässt dieser Fifi gnadenlos aus dem Weg räumen. Papicha hat inzwischen die Besitzer des ehemaligen Kabaretts ausfindig gemacht, das unter der Radikalisierung des Landes zu einer Moschee umfunktioniert wurde. Im Untergrund schließt sie sich den anderen Künstlern und Verehrern ihrer glamourösen Zeit an und scheint ihren Traum neu zu beleben. Viva Laldjérie schafft ebenso wie Moknèches Gesamtwerk neue und ungewöhnliche Bilder der algerischen Gesellschaft und soll hier repräsentativ betrachtet werden. Der Film transformiert Algier in eine Stadt der Frauen und Marginalisierten und macht ähnlich wie schon Tahia ya Didou in den 1970er Jahren auch Algier selbst zur Protagonistin. Eine Vielfalt an Eindrücken, Orten und Aspekten der Lebensrealität zeigt die Stadt in verschiedensten Facetten.301 Un-

300 Viva Laldjérie ist einer der ersten Filme, die nach der Terrorphase in Algerien gedreht wurden. Das Schweigen und die Amnesie, die auf das Ende des Terrors durch die Concorde civile und dessen Versuch der gesellschaftlichen Reintegration reuiger Islamisten folgte, thematisiert Merzak Allouache in Le Repenti (2012). 301 „Viva Laldjérie fait d’Alger un personnage. Un personnage omniprésent, qui vous happe, en effet, et alors, du coup, vous reconnaissez ces lieux et monuments évoqués dans ces pages et devenus quelque peu familiers: la salle omnisports du Complexe olympique, œuvre d’Oscar Niemeyer; le cimetière à flanc de colline (aujourd’hui, longé outrageusement par une autoroute!); le parc zoologique; la mosquée Ketchaoua; les chevaux de Diar El-­Mahçoul, les escaliers pentus de la Casbah, le tunnel des Facs, l’Aérohabitat…“ (Guemriche 2012: 325).

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ausgesprochenes wird sichtbar und das Porträt einfacher Menschen mischt sich mit der Kritik an Staat und gesellschaftlichen Zwängen. Provokationen und Tabubrüche setzen dabei gemeinsam mit Bildern der Vielfalt und Widersprüchlichkeit die offiziellen Diskurse außer Kraft. Dies nimmt der Film besonders über seine Figureninszenierung vor. Die Ambivalenz postkolonialer Identität wird zudem über die Sprache hervorgehoben.

Heterogenität über Titel und gesprochene Sprache Das Bild Algeriens, das der Film entwirft, beleuchtet die Schattenseiten ebenso wie im Kontrast dazu die individuellen Träume seiner Figuren. Diese repräsentieren überwiegend gesellschaftlich Marginalisierte und widerlegen durch ihre Positionen und ihre unkonventionellen Lebensweisen die Normvorstellungen und Definitionen der Nation. Bereits der Titel trägt zu einem vielfältigen Entwurf Algeriens bei. Der Ausruf „Viva Laldjérie“, auf den er rekurriert wird, reflektiert die gesprochene Mischsprache insbesondere der jungen Leute Algiers und stellt als eine Hybridform aus Arabisch und Französisch einen Gegensatz zum Standardarabisch des Staates dar. Zudem lehnt sich der Titel an einen Fußballruf an.302 Der Film setzt so einen Rahmen, der den Marginalisierten eine Stimme verleiht und kulturelle sowie soziale Differenzen innerhalb Algeriens umfasst. Weiterhin vermittelt der Titel eine Hommage an Algerien und eine Hoffnung auf ein besseres Leben, die allerdings über die Handlung durchaus gebrochen wird. Dass die gesprochene Sprache des Films dennoch Französisch ist, bringt Widersprüche mit sich. Moknèche selbst begründet die Sprachenwahl zum einen mit der Heterogenität des Filmteams.303 Außerdem weist er darauf hin, dass das Französische immerhin eine Sprache ist, die im algerischen Alltag sehr präsent ist. Auch wenn es im außerfilmischen Kontext überwiegend in Mischformen und Code-­Switching auftritt und ansonsten eher eine Sprache der Bildungselite ist (wodurch mitunter ein Widerspruch zu den Filmfiguren entsteht), wird 302 „One, two, three, viva Laldjérie“ ist der Slogan, der beim Spiel der algerischen Fußball-­Nationalmannschaft gesungen wird (vgl. Guemriche 2012: 323). 303 Da die Schauspieler verschiedener Herkunft sind und somit unterschiedliche Formen von Arabisch sprechen, wäre es Moknèche zufolge schwierig oder gar künstlich, sie ein laldjérien der lokalen Jugend sprechen zu lassen. „Et faire parler Lubna Azabal dans sa langue, l’arabe marocain, serait ridicule. L’Algérie est le deuxième pays francophone du monde par le nombre de locuteurs effectifs, la majeure partie de sa littérature est écrite en français, il n’est donc pas illégitime qu’un cinéaste Algérien décide d’utiliser le français pour s’exprimer“ (Moknèche im Interview mit Stora auf http://www.planet-­dz.com/_En-­Cours/JANVIER04/vivalalgerie.htm).

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so doch gerade ein Statement deutlich: Das Französische wird hier als Teil der franko-­algerischen Geschichte und der Gegenwart Algeriens angenommen. Es fungiert als eine Art lingua franca, nicht nur für die Filmproduktion, sondern auch bezüglich der sprachlichen Vielfalt in Algerien. Da diese durch die Arabisierungspolitik negiert wird, signalisiert das Französische auch eine Alternative, die sich über die Sprachpolitik hinwegsetzt. Gegenüber den staatlichen Doktrinen sowie angesichts des radikalen Islamismus, die beide das (Hoch-)Arabische für sich beanspruchen, kann das Französische trotz seiner kolonialen Herkunft somit auch als eine Sprache der Ausdrucksfreiheit gelten.304 Die dennoch mit Blick auf die Figuren möglicherweise befremdliche Wirkung der Sprachenwahl scheint die Identitätssuche des Landes und besonders seiner Jugend zu reflektieren und unterstreicht auf einer Metaebene den kritischen Blick des Films auf Algerien. So ist auch der Literatur- und Kulturwissenschaftler Mustapha Hamil der Auffassung, dass sich hierüber Identitätsfragen des postkolonialen Algeriens ausdrücken, indem der unsichere Zustand der Identität über die (fremde und zugleich vertraute) französische Sprache repräsentiert wird (vgl. Hamil 2009: 84). Für die Rezeption mag die Sprachenwahl unglücklich sein, da der Film so eher französisch gebildeten Algeriern zugänglich ist und von Kritikern als „elitär“ angegriffen wird. Als Sprache des Kolonisators einerseits und der einer gewünschten Freiheit andererseits und ebenso als Ausdruck von Diskrepanz zwischen dem Status als Bildungssprache und der lokalen Verortung und Marginalität der Filmfiguren transportiert das Französische jedoch eine Widersprüchlichkeit, die repräsentativ für das postkoloniale Algerien ist.

Provokative Figurenentwürfe Noch deutlicher als in einem Film wie Barakat! überschreiten die Frauenfiguren in Viva Laldjérie die Grenzen tradierter Frauenbilder und dessen, was gemeinhin gesagt werden kann. Sie vertreten jeweils einen unkonventionellen Lebensstil, der bisher verdrängte Aspekte der Realität (wie z. B. Prostitution) beinhaltet, vor der auch das Kino lange die Augen verschlossen hat. Als ‚Normenbrecherinnen‘ 304 Im Kontext des islamistischen Terrorismus erfährt das Französische eine neue Bedeutung als Sprache des Widerstands: „Since Arabic has been usurped by Algeria’s Islamic fundamentalists to promote a conservative interpretation of tradition and the past, the only alternative left for writers and filmmakers to represent the concerns and practices of the postcolonial generation is French“ (Hamil 2009: 84). Hamil sieht hier ebenso eine Kritik an der Arabisierungspolitik. Zugleich bemerkt er, dass der Film durch das Französische seiner Wirkkraft im Wege stehe und von Kritikern als französisch orientiert angegriffen wird (vgl. ebd.).

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stehen die drei Protagonistinnen am Rande der Gesellschaft und fordern übliche Vorstellungen von der algerischen Frau heraus. Goucem, die lustlos in einem Fotoladen arbeitet, ist nicht nur selbstbewusst, eigenwillig und liberal eingestellt, sondern auch die Geliebte des verheirateten Arztes Anis. Sie steht repräsentativ für eine Jugend, die, vom Staat im Stich gelassen, sich ihrer Freiheit beraubt fühlt. Letztere sucht sie in wilden Disconächten und sexuellen Abenteuern, träumt aber dennoch von einer sicheren Existenz durch eine Heirat mit Anis, der sie bereits drei Jahre lang hinhält. Fifi scheint sich im Gegensatz zu Goucem von konventionellen Vorstellungen befreit zu haben. Sie lehnt den Traum von einer Heirat ab und preist Goucem gegenüber ihre vermeintliche Unabhängigkeit an. Dabei ist sie aber umso schutzloser einer Gesellschaft ausgesetzt, in der sie nichts zählt. Fifi verkörpert als Prostituierte per se genau das Gegenteil einer anständigen (muslimischen) Frau. Und selbst Papicha, die Tänzerin, gerät durch ihre ehemalige berufliche Leidenschaft in Verruf, denn das Tanzen wird von den Islamisten ebenfalls als Prostitution verurteilt. Die Männerrollen dieses Films brechen auf ähnliche Weise Tabus und unterlaufen die üblichen Erwartungen an das Bild eines (arabisch-­muslimischen) Mannes, der gemeinhin als Familienoberhaupt sowie als heterosexuell entworfen wird. So finden sich unter den männlichen Figuren neben dem Ehebrecher Anis dessen homosexueller Sohn Yacine ebenso wie Figuren, deren sexuelle Orientierung nicht eindeutig scheint (Samir sowie einige Kabarettisten). Anis verkörpert gewissermaßen eine Doppelmoral der Gesellschaft. Er ist einerseits angesehen und steht als Arzt im Dienste der Anderen. Andererseits betrügt er nicht nur seine Frau, sondern auch Goucem, die er letztlich wie eine Prostituierte mit einer finanziellen Abfindung abserviert. Anis bricht ebenso wie die Frauenfiguren mit den traditionellen Werten der Institution Ehe, die hier ihre Stabilität verliert. Die vom Film offen thematisierte Homosexualität weist gleichermaßen in diese Richtung. Das Fundament der Gesellschaft, die Ehe zwischen Mann und Frau, wird so in mehrfacher Hinsicht subvertiert: durch Ehebruch, Homosexualität, Prostitution und Affären. Goucems mehrfache Abtreibungen, von denen sie Fifi erzählt, unterstreichen die Negation von Mutterschaft und intakten Familienverhältnissen. Anhand der dysfunktionalen Beziehungen seiner Figuren zeigt der Film gesellschaftliche Brüche auf. Dass auch in Viva Laldjérie, ähnlich wie in Rachida oder Barakat! keine dominanten männlichen Hauptfiguren existieren bzw. die Ehemänner und Väter abwesend sind, ist somit nur konsequent. Papichas Mann ist tot, „mort de dégout“, wie sie, im Alkohol versunken, an einer Bar klagt. Auf seinem Grabstein steht bloß: In den 1990er Jahren umgekommen. Die weibliche Eigenständigkeit ist somit auch durch die fehlende Präsenz traditioneller 281

Familienoberhäupter bedingt. Die Frauen leben dennoch in einer von Männern beherrschten Gesellschaft, was auch an ihrem (gescheiterten) Aufbegehren sichtbar wird: „Their actions and choices are dictated by socioeconomic circumstances rather than by a visible male authority, and the film takes its viewers inside a modern Algeria where traditional family, religious, and social institutions are in the midst of unpredictable mutations“ (Hamil 2009: 78). Goucem trifft auf dem Weg zum Friedhof ihre prostituierte Freundin Fifi im Hausflur. Nadir Moknèche: Viva Laldjérie (2004): 00:09:03.

Der Film widersetzt sich wiederum mit seinen Figuren den Freiheitseinschränkungen, die sich insbesondere durch den radikalen Islamismus verschärft haben und wenig Raum für Vergnügen lassen. Er porträtiert eine Gesellschaft, die nach dem Scheitern des sozialistischen Staates und der nationalen Identitätskrise im Bürgerkrieg auf der Suche nach sich selbst ist. Identität wird hier nicht mehr entlang der klassischen Muster (Nationalität, Religion, Sprache) definiert, sondern individuell ausgelegt. Jede Figur versucht auf ihre Weise, ihre Differenz zu leben, und steht damit für das Streben nach Freiheit und Anerkennung von Vielfalt innerhalb der algerischen Gesellschaft. Die Lebensentwürfe der Figuren destabilisieren nicht nur patriarchale Strukturen, sondern spiegeln auch den Konflikt zwischen dem auf Kollektivität basierenden arabisch-­islamischen Gesellschaftsmodell und eher ‚westlichen‘, individualistischen Orientierungen.

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Das Streben nach Freiheit ebenso wie (gescheiterte oder trügerische) Befreiungen von Zwängen drücken sich in diesem Film neben den stark individualisierten Persönlichkeiten der Figuren auch durch die Offenlegung von Sexualität und Körperlichkeit aus. Während die oben analysierten Filme der algerischen Regisseurinnen den Frauen Raum und Sichtbarkeit verschaffen, dabei aber den Frauenkörper bzw. dessen sexuelle Dimension weiterhin aussparen, wird Letzterer in Moknèches Filmen und insbesondere in Viva Laldjérie exponiert und sexualisiert (vgl. Arend 2012: 442 ff.). Dabei wird die sexuelle Orientierung, die bisher kaum in einem algerischen Film so explizit thematisiert wurde, als eine Komponente von individueller Identität angenommen. Sexualität und Körperlichkeit, die in traditionell geprägten Kontexten hoch aufgeladen sind, strengen Vorschriften unterliegen und aus dem Öffentlichen verbannt werden, treten hier explizit hervor und subvertieren Normvorstellungen. Neben der Homosexualität einiger Figuren sind es vor allem die Bilder der exponierten nackten Körper von Goucem und Fifi, mit denen der Film das algerische Publikum schockiert. Denn Viva Laldjérie ist einer der wenigen algerischen Filme, der freizügig nackte Haut zeigt und dies zudem in Kontexten, die sich außerhalb der Institution Ehe bewegen. Goucem sitzt z. B. als Geliebte von Anis nackt auf dem Bettrand und raucht; in einer anderen Szene wird sie bei einem sexuellen Akt mit einem Fremden auf einer Toilette gezeigt. Hier wird, ähnlich wie über die Figur Fifis, das pure lustvolle Verlangen außerhalb von Beziehungen inszeniert. Fifi, deren Existenz von genau solch einem Verlangen und dem Kapital ihres Körpers abhängt, amüsiert sich in einer Szene mit ihrem Stammkunden im Bad (was allerdings visuell vorenthalten wird), und betritt dann unbekleidet und lediglich von einer Dampfwolke umgeben die Türschwelle, als sie Geräusche in ihrer Wohnung vernimmt. Sicherlich könnte man hier einen männlichen, voyeuristischen Blick des Films kritisieren, der die Frauen nun bis zur vollständigen Blöße entschleiert. Jedoch ist im Gesamtzusammenhang des Films weniger ein Voyeurismus zu unterstellen, als vielmehr eine Provokation und ein Symbol für eine radikale Entschleierung zu sehen, die im Gegensatz zu anderen Filmen die Frage nach sexueller Befreiung stellt. Die „Entschleierung“ ist nicht zuletzt metaphorisch zu verstehen als ein Aufdecken einer ungesehenen Realität, mitsamt ihren „Abgründen“ (Prostitution), sexuellen Frustrationen, gescheiterten und komplizierten Beziehungen. Anders als in früheren Filmen, die zwar mit Rollenmustern und nationalen Narrationen brechen (z. B. La Nouba, Barakat! oder Rachida), wird hier der Körperlichkeit und dem Körperbewusstsein Raum verliehen. Dennoch bleiben die Hervorhebung des Körperlichen und die sexuelle Freizügigkeit zweischneidig. 283

Besonders an den Figuren Fifi und Goucem wird die Ambivalenz zwischen Selbstbestimmtheit und weiterer Abhängigkeit von gesellschaftlichen Ordnungen deutlich. Die Frauen nutzen einerseits die Macht ihrer Weiblichkeit und verführen die Männer mit ihren körperlichen Reizen; sie werden andererseits aber von den Männern selbst als Lustobjekt benutzt (Affäre, Prostitution). Fifi ist als Prostituierte das Objekt ihrer Kunden. Sie wird letztlich sogar zum Opfer männlicher und staatlicher Gewalt und durch ihren Beruf von der Gesellschaft als wertlos angesehen. Sie scheint sich dennoch zu amüsieren und auch Gefallen daran zu finden, mit den Männern zu spielen. Goucem, die hingegen von einer Heirat mit Anis träumt, erreicht nicht mehr als den Status einer Maitresse und wird durch die ‚Abfindung‘ von Anis sogar mit einer Prostituierten gleichgestellt. Dennoch versteht auch sie es, sich über die Männer hinwegzusetzen oder sie selbst zum Objekt zu machen. So verführt sie beispielsweise aus Frust über Anis einen Fremden. Die Waffe, die er bei sich trägt, beeindruckt sie nicht. Sowohl Goucem, als auch Fifi scheinen sich über die Männer hinwegzusetzen und diese zumindest teilweise (sexuell) zu dominieren. Allerdings handelt es sich um eine prekäre Dominanz, bei der die Frauen selbst wiederum zur Verobjektivierung des weiblichen Körpers beitragen. Anstatt eines Zuschaustellens der Frauen exponiert der Film so das Spiel um Rollen und Macht, das die Widersprüche der weiblichen Emanzipation ebenso wie Frustrationen transportiert. Der Frauenkörper ist dabei zugleich ein Zeichen der Unterordnung und der Rebellion. Auch Papichas Figur repräsentiert nicht zuletzt die schwierige Situation emanzipierter Frauen. Einst eine glamouröse Tänzerin, wirkt sie nun teilweise verängstigt und lebt zurückgezogen. Sie hat im Zuge des Terrorismus Mann und Haus verloren, ebenso wie ihren Beruf und ihre Selbständigkeit. So trauert sie den alten Zeiten nach, in denen sie für Gesang und Tanz – durch körperlichen Ausdruck – Anerkennung fand. Der Name Papicha deutet selbst auf ambivalente Bedeutungen, zwischen einer Komplizenschaft der Unterdrückung der Frauen und der Idee einer befreiten Frau.305 Papicha hat zudem einen dubiosen Ruf und sucht ihren Nachbarn anhand von Zeitungsartikeln 305 Siehe das Interview Stora/Moknèche auf http://www.planet-­dz.com/_En-­Cours/ JANVIER04/vivalalgerie.htm. Biyouna ist eine der bekanntesten Kabarettistinnen und Schauspielerinnen Algeriens, deren Sendungen teils verboten wurden. Sie spielt hier auch einen Teil ihrer eigenen Geschichte. Außerdem steht sie selbst für die souveräne Frau: „Le monde de l’inénarrable Biyouna, cette tragédienne au cœur sur la main, à la voix rauque et au visage ‘âpre’ de mère sicilienne, cette femme libre qui aura, tout comme son pays, arraché de force sa liberté, et qui aura, elle, réussi l’exploit de faire passer dans l’esprit des Algérois le nom de Papicha du sens de ‘mère maquerelle’ à celui de ‘femme souveraine’!“ (Guemriche 2012: 323).

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zu beweisen, dass sie Tänzerin und keine Prostituierte war. Der Tanz repräsentiert durch diese Zuschreibungen einerseits eine tabuisierte Körperlichkeit, andererseits steht er für Selbstbestimmung und eine Traumwelt, die sich Papicha langsam wieder inmitten ihres tristen Alltags zurückerobert. Die Rückkehr zum Tanz – Papicha unterrichtet die Nachbarstochter Tiziri und will an ihre alte Karriere anknüpfen – ist ihr persönlicher Widerstand. Papicha bringt Tiziri das Tanzen bei und belebt ihren Traum wieder. Nadir Moknèche: Viva Laldjérie (2004): 00:23:11.

(Frei-)Räume, Einengung und vielschichtige Entwürfe Algeriens Die Grenzen der individuellen Freiheit werden über verschiedene Ebenen des Films sichtbar. Die Frauen bewegen sich zwar frei durch die Straßen Algiers, zumindest Papicha fühlt sich aber durch die „barbus“, die Bärtigen, verfolgt. Zur Arbeit geht Goucem einerseits in Jeans und kurzer roter Lederjacke; andererseits verlässt sie das Haus häufig traditionell mit einer djellaba. Widersprüche werden in Goucems unterschiedlichem Auftreten306 gespiegelt und durch Kontrastierungen ihres Äußeren hervorgehoben. So betont der Film ähnlich wie Rachida weibliche Attribute, zeigt z. B. Szenen, in denen sie sich schminkt und ihr Outfit

306 Kontraste zeigen sich z. B. auch darin, dass sie einerseits einen modernen Weg sucht, andererseits eine Seherin konsultiert, die einen enormen Zulauf an verzweifelten weiblichen Kunden hat.

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für den Discoabend vorbereitet, das dann wiederum beim Herausgehen durch eine djellaba verdeckt wird. Zudem werden Körperlichkeit und Nacktheit zwar sichtbar inszeniert, die verschiedenen Tabubrüche spielen sich aber hinter den Kulissen, im Verborgenen, ab. Insgesamt sind die wenigen ‚Freiheiten‘ größtenteils auf die Innenräume beschränkt. Die Pension, die die Frauen bewohnen, stellt einen geschlossenen Raum dar, in dem sich Ungesehenes und Heimliches abspielt; Fifi empfängt hier ihre Klienten. Denise Brahimis (2009) Beobachtung, dass viele algerische Filme – sowohl Kriegsfilme als auch andere – über die Raumebene bedeutende Aussagen treffen, lässt sich auch hier bestätigen (siehe IV.1.). Die Einengung des Individuums wird in Viva Laldjérie durch das kleine Zimmer symbolisiert, das Goucem und Papicha sich teilen. Eine Privatsphäre ist hier nicht möglich. Mutter und Tochter leben jeweils ihr eigenes Leben und geraten in Konflikten aneinander. Dabei bemüht sich Goucem nicht, ihre freizügige Umgangsweise mit dem anderen Geschlecht vor Papicha zu verstecken; gleichwohl sucht sie nach Intimsphäre, ordert ihrer besorgten und neugierigen Mutter beispielsweise an, sie solle weiterschlafen, während sie sich nach ihrem Sexabenteuer wäscht. Die traditionell den Frauen zugeschriebenen Innenräume werden hier teilweise zu Orten des ‚Untergrunds‘, in denen Momente des Vergnügens sowie Tabubrüche stattfinden. Da auch die Künstler gesellschaftlich diskriminiert und von den radikalen Islamisten verfolgt werden, haben diese sich ebenfalls zurückgezogen und organisieren ihre Veranstaltungen in verborgenen Räumen. Das ehemalige Copacabana ist nun in den Untergrund verlegt und bedeutet einen Freiheitsraum des künstlerischen und körperlichen Ausdrucks. Weiterhin wirken die wenigen Strandcafés und Diskotheken sowohl für Goucem als auch für Papicha als Ausfluchtsorte. Die lustvollen Abenteuer der Jugend werden an versteckten Orten ausgelebt; es sind z. B. Strandtoiletten, an denen Goucem und der Unbekannte aus der Disko sowie Yacine und sein Liebhaber ihre Freiheit suchen. Auch die Treffpunkte der Jugendlichen an einigen Außenschauplätzen verweisen auf Einengung, Perspektivlosigkeit und Marginalität. Die Jugend trifft sich an den Rändern der Stadt. Bauruinen symbolisieren Patrick Crowley zufolge ihre Ausgrenzung seitens der Politik ebenso wie das Scheitern des Staates, mitsamt der brüchigen und korrupten Wirtschaft: The utopian perspectives of the early 1970s, dashed by the failures of the state, violent repression of the student demonstrations of 1988, and the savagery of the 1990s, is recited by the modernist architecture. Here we see youth and desire outside rather than within the plan for Algeria’s youth (Crowley 2007: 90 f.).

Im Allgemeinen entsprechen die Auswahl an Schauplätzen sowie der Blick auf Algier häufig einer eher dunklen und desillusionierenden Sichtweise. Es ist nicht 286

das klassische Algier, „la blanche“, auf das der Film schaut; eher könnte die Stadt hier mit dem Zusatz „la grise“ bezeichnet werden. So sehen wir nicht die üblichen Kameraeinstellungen und Schwenks über Algier, die in vielen Filmen zu finden sind und die überwiegend weißen Gebäude reflektieren (Casbah, Hafen, Kolonialgebäude). Gezeigt werden verschiedene Ecken Algiers mit einem oft ungewöhnlich grauen Himmel. Szenen bei Nacht oder unheimliche Orte wie der überschwemmte Kellergang des Krankenhauses, in dem Fifis Leiche abseits von den ‚normalen‘ Bürgern liegt, verdunkeln zusätzlich den Entwurf der Stadt. Der Film nimmt somit ein Umschreiben der Postkartenidylle des (kolonialen und nachkolonialen) Bildes von Algier vor. Er ersetzt die pittoresken Eindrücke von einst mit Bildern einer düsteren, aber auch vielfältigen Lebensrealität. Über die Auswahl an Architektur- und Außenaufnahmen macht der Film ein Aufeinandertreffen von verschiedenen historischen und kulturellen Einflüssen sichtbar, die Hybridität und Heterogenität vermitteln. Einige Kameraeinstellungen betrachten Algier vom Meer aus oder blicken auf das Wasser. Das Einbeziehen des Meeres lässt im Zusammenhang mit weiteren Aspekten mehrfache Deutungen zu. Im Kontext verschiedener kultureller Referenzen betont es Crowley zufolge die geographische und kulturelle mediterrane Verortung Algeriens, das sich durch verschiedene Einflüsse geprägt sieht (vgl. ebd.: 88). Der Film verwendet dazu Elemente unterschiedlicher Herkunft, verbindet Farben der algerischen Flaggen mit Bildern, die christliche Mythen oder Symbole beinhalten, in verschiedenen Kontexten rezipiert werden und einen nationalen und islamischen Kontext überschreiten.307 Sein Entwurf von Algier, stellvertretend für Algerien, geht somit über staatlich gezogene Grenzen und nationale Identitätsdefinitionen hinaus und integriert verschiedene kulturelle Komponenten, die Algerien an die komplexe Geschichte des Mittelmeerraums anbinden und eine Vorstellung von Vielfalt eröffnen. Das Meer dient ferner auch als Freiheitssymbol. Hier befinden sich einerseits die Strandbars, in denen Goucem und ebenso Papicha ihr Vergnügen sowie auch Trost suchen, außerdem reden sowohl der arbeitslose Samir als auch der durch seine Homosexualität bedrohte Yacine davon, dass sie das Meer überqueren wollen. Der Wunsch nach Emigration und die Vorstellung von Freiheit außerhalb Algeriens sind in Viva Laldjérie ebenso präsent wie in Bab el-­oued city, Harragas, Rome plutôt que vous oder Exils (siehe IV.4.2.4.). Alternative Lebensentwürfe scheinen demnach in Algerien selbst kaum realisierbar, so die pessimistische Aussage des Films.

307 So z. B. das Bild des Heiligen Georg, das Fifi Goucem schenkt und hier Crowley zufolge verschiedene, teils ironische Lesarten anbietet (vgl. Crowley 2007: 86 f.). Auch die Referenzen über die Pension „Debussy“ verweisen auf europäisches Kulturerbe.

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Neben den Andeutungen einer pluralen Kultur(geschichte) lädt der Film das Meer zugleich mit dunklen Seiten der Realität und Bedeutungen von Gefahr auf. Fifis toter Körper wird am Strand gefunden. Dieser wirkt an sich sehr unbelebt und nicht gerade einladend. Als Goucem und ihr nächtlicher Liebhaber im Morgengrauen am Strand entlangfahren, schweift ihr Blick in die Ferne und trifft unwissentlich auf Krankenwagen und Polizei, die Fifis Leiche bergen. Diese Überkreuzung durch die Montage reflektiert die Gleichzeitigkeit von Freiheitsdrang und Bedrohungen. Schrecken und Tod sind in Viva Laldjérie durch Fifis Ermordung ebenso wie durch Szenen auf dem Friedhof oder die Verfolgungsängste Papichas präsent; die Widersprüche zwischen Lebenswillen und einer Perspektivlosigkeit werden sichtbar. Zusammen mit dieser Desillisionierung transportiert der Film ebenso wie die obigen Beispiele eine deutliche Anklage an den Staat. Der Staatsapparat wird nicht nur indirekt für die Krise mitverantwortlich gemacht, er ist sogar über die Figurenebene in die Ermordung Fifis verwickelt. Ihr Stammkunde, der sie letztlich umbringen lässt, ist immerhin ein hoher Beamter der Sûreté nationale. Mit bitterer Ironie zeigt sich hier, wie dieser „Mann der Sicherheit“ das Leben des Individuums bedroht. Fifis Ermordung symbolisiert somit auch eine unmögliche Befreiung des Individuums von der Macht der Gesellschaft und der des erdrückenden Staatsapparates. Insbesondere die Frauen haben in diesem System keine Chance auf individuelle Freiheit, sondern leben diese in einer Art Scheinwelt aus. Darauf spielt Papichas theatralisches Verhalten, ihr Spitzname ebenso wie ihre Traumwelt des Kabaretts an. Dass sich die eigene Identität teilweise hinter einer Maske verliert, wird besonders an Fifi deutlich: Sowohl ihr Name als auch ihre Haare, die sie für Kunden trägt, sind falsch; Goucem kann bei der Vermisstenanzeige nicht Fifis wahre Haarfarbe beschreiben. Die Figuren stehen so für eine gescheiterte Suche des Individuums in einer Gesellschaft, die selbst auf der Suche nach ihrem Gleichgewicht ist. Der Zerfall der nationalen Einheit zeigt sich hier mitunter auch in Szenen, die nahelegen, wie jeder Einzelne für sich kämpft und gar auf egoistische Weise Profit aus dem Unheil des Anderen schlägt. So findet Fifi bei ihrer Flucht keine Solidarität unter den Frauen der neuen algerischen Oberschicht. Sie gerät in einen pompösen Hochzeitszug aus zahlreichen Autos und versucht in einem der Fahrzeuge Schutz zu finden; die Frauen drängen sie letztlich aus dem Wagen und überlassen sie ihrem Schicksal. Fifis Vermieter und Nachbarn profitieren gar von ihrem anscheinenden ‚Auszug‘, sie plündern ihre Sachen, während unbekannte Männer die Wohnung räumen, bevor ihr Verschwinden überhaupt geklärt ist. Die Gleichgültigkeit der Polizei ist ebenso bezeichnend. Ähnlich wie in Barakat! zeigt der Beamte kein Interesse, Goucems vermisste Freundin zu finden. Zudem scheint 288

er Goucem allein aufgrund ihrer Freundschaft zu Fifi selbst als Prostituierte zu sehen. Papichas Besuch auf dem Amt, um das ehemalige Kabarett ausfindig zu machen, ist ebenso ernüchternd. Mittags- und Kaffeepause haben Priorität und sie wird zunächst einfach abgewiesen; mit ihrem Charme schafft sie es dennoch, einen bestechlichen Beamten dazu zu bringen, die notwendigen Formulare herauszurücken. Willkürlichkeit der Staatsbeamten sowie ein Desinteresse an der Aufarbeitung von Terror und Gewalt werden in diesen Szenen deutlich. Bildlich wird das erhoffte Ende der Gewalt durch eine ebenfalls in Barakat! bedeutende Geste unterstrichen: Goucem wirft die geklaute Waffe des Staatsbeamten auf dem Rückweg von der Polizei in einen Gully. Sie beendet symbolisch die Gewalt, die sich auf verschiedenen Ebenen in der Gesellschaft findet.308

Résumé Insgesamt drückt der Film mit seinen provokanten Bildern und Figurenzeichnungen den Wunsch nach Freiheit aus und zeigt zugleich eine zerrüttete Gesellschaft. Ungewöhnliche und vielfältige Eindrücke nehmen eine Umkehrung von tradierten Bildern und Vorstellungen vor. Die Fokussierung von Marginalisierten sowie alternative Entwürfe Algiers mit all ihren Ambivalenzen verleihen dem Film eine postkoloniale Perspektive. Neben einer desillusionierenden Sichtweise weist der Film hybride Referenzen und verschiedene kulturelle Einflüsse auf und öffnet seinen Blick auf Algerien über nationale Definitionen hinaus. Das Ende des Films trägt einen leichten Hoffnungsschimmer mit sich. Goucem scheint trotz der schrecklichen Ereignisse näher zu sich zu finden; sie sucht neue Wege, freundet sich mit Samir an, den sie zuvor meist abgelehnt hat, was einen Neuanfang einer vielleicht stabileren Beziehung andeutet (obwohl diese zugleich durch Samirs Emigrationswünsche negiert wird). Widersprüche und Unsicherheit bleiben auf verschiedenen Ebenen bestehen. Eine Rückkehr zu den offiziellen und homogenen Konstruktionen der Nation ist mit diesem sowie den anderen Filmbeispielen kaum möglich. Insgesamt zeigen die Filme dieses Kapitels exemplarisch, wie die Nation und Geschichte vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs neu betrachtet werden. Eine Polyphonie an marginalisierten Stimmen ersetzt den nationalen Einheits

308 Kurz vorher hatte sie die Waffe auf einen Jugendlichen gerichtet, der Yacine angegriffen hat, nachdem er auf dem Polizeipräsidium (wegen unsittlichen Verhaltens) vernommen wurde. Goucems Geste erinnert an Amels Drohung mit der Waffe in Barakat!. Die Waffe bildet ein filmübergreifendes Motiv, das sowohl die Kontinuität der Gewalt in Algerien als auch dessen Ablehnung ausdrückt.

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diskurs und leistet Widerstand, der sich im Protest und den Identitätsforderungen verschiedener Gruppen (Frauen, Berber, Jugendliche, Homosexuelle) äußert.

4. Geschichte und Identität transnational und fragmentiert Die vorausgegangenen Analysekapitel zeigten, wie sich der kinematographische Blick auf die algerische Geschichte und Identität, vor allem auf der Makroebene des Korpus, allmählich im Laufe der Jahrzehnte und besonders in jüngerer Zeit diversifiziert. Zum einen ergänzen die neu auftretenden (marginalisierten) Perspektiven die vorherrschenden nationalen Konzeptionen, zum anderen werden verdrängte Aspekte des Befreiungskriegs sichtbar. Ebenso werden im Kontext des Bürgerkriegs kritische Revisionen des nationalen Mythos über einen Blick auf die Gegenwart und das Scheitern des Einparteienstaates vorgenommen. In ihrer Heterogenität liefern die Filme Gegenstimmen zur offiziellen Geschichtsnarration und fragmentieren diese in mehrere Einzelperspektiven. Dies spiegelt sich auch innerhalb der Filme, indem die franko-­algerische Vergangenheit beispielsweise über subjektive Erfahrungen oder auch nur in groben Versatzstücken aufgegriffen wird. Persönliche Erfahrungen überholen insgesamt den grand récit des Befreiungs kriegs, wenngleich es einigen rezenteren Filmen zum Algerienkrieg, dem sich das erste Teilkapitel widmet, nicht an Heroismus mangelt. Die Diversifizierung der Perspektiven findet sowohl innerhalb der algerischen Filmlandschaft als auch vor allem in einem erweiterten transnationalen Raum statt. Die Migration algerischer Filmemacher, die häufige Verlagerung der Produktion nach Frankreich sowie die erneute Auseinandersetzung mit dem Algerienkrieg seit den 1990er Jahren sorgen für eine Präsenz der Thematik auf beiden Seiten des Mittelmeers. Untersucht werden im Weiteren franko-­algerische Filme, die in einem schwerpunktmäßig französisch finanzierten Rahmen entstanden sind. Ebenso wie die Filme sich zwischen Algerien und Frankreich bewegen, sind auch deren Repräsentationen konkurrierender Gedächtnisse in einem transnationalen Feld angesiedelt.

4.1. Partikulare Geschichten und konkurrierende Gedächtnisse Mit Blick auf das Phänomen der sogenannten guerres de mémoires (siehe Kapitel II) sollen in diesem Kapitel beispielhaft rezente Tendenzen des filmischen Umgangs mit der franko-­algerischen Geschichte aufgezeigt werden, bevor der zweite Teil näher auf Identitätskonzepte im Kontext von Migrationsproblematiken eingeht. Die guerres de mémoires spiegeln die Zersplitterung der nationalen Erinnerung in verschiedene partielle Gruppengedächtnisse und reflektieren sowohl eine Kon290

frontation als auch eine Verschränkung unterschiedlichster Positionen innerhalb Frankreichs und Algeriens sowie über die jeweiligen Grenzen hinaus. Die folgenden Untersuchungen legen nun exemplarisch dar, wie sich das Phänomen der konkurrierenden Gedächtnisse in einer erneuten Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte im Filmkorpus niederschlägt. Im Vordergrund stehen die inhaltlichen Verhandlungen der Filme und damit verbunden die Frage nach Repräsentationen verschiedener historischer Akteure und transnationaler Verknüpfungen. Es wird aufgezeigt, wie die Pluralisierung der Geschichte im ausgewählten Korpus einerseits über ein Hervortreten an partikularen und subalternen Gedächtnissen stattfindet, sich aber andererseits auch über eine erhöhte Komplexität innerhalb der Werke ausdrückt. Dies äußert sich u. a. in einem Aufgreifen verschiedener in Frankreich und / oder Algerien verdrängter Aspekte sowie in einem Aufeinandertreffen opponierender Positionen, die die Geschichte zwischen Frankreich und Algerien als entanglement neu konzipieren. Ob die Filme nun von einzelnen verdrängten Erinnerungen erzählen oder gemeinsame Erfahrungen und ambivalente Verbindungen aufgreifen – sie widersprechen in jedem Fall den offiziellen französischen und algerischen Entwürfen von nationaler Geschichte und Identität.

4.1.1. Verdrängte Ereignisse und Gruppen Eine zunehmende Vielfalt an Sichtweisen der franko-­algerischen Geschichte drückt sich insbesondere in den Filmen von in Frankreich lebenden Regisseuren/innen algerischer Herkunft aus, wenngleich generell unbehandelte Themen und Fragen bestehen bleiben.309 Neben den oben erwähnten Beispielen, die die Geschichte aus weiblicher Sicht erzählen, erscheinen weitere Stimmen und Erinnerungsorte auf der Bildfläche, die besonders umstritten, tabuisiert bzw. offiziell ausgeblendet waren oder sind. Derartige non-­dits verarbeiten unter anderem Rachid Boucharebs Filme Indigènes (2006) und Hors-­la-loi (2010), die einmal den

309 Das jüdische Gedächtnis findet außer in Lledos Dokumentarfilmen (siehe IV.4.1.2.) z. B. keinen Raum; des Weiteren wird die Vielfalt an politischen Strömungen vor 1954 filmisch kaum verhandelt. Meines Wissens gibt es auch noch keinen Spielfilm über Messali Hadj; allerdings geht Benny Malapa in seinem Dokumentarfilm Messali Hadj (2006) dem lange Zeit bestehenden offiziellen algerischen Vergessen dieser historischen Figur auf den Grund. In Rachedis Film Mostefa Ben Boulaïd (2009) spielt Messali Hadj anfangs eine Rolle, die anfängliche politische Nähe zwischen den Männern rückt aber in den Hintergrund. Der Film über den Kampf des Nationalhelden Ben Boulaïd (entscheidende Kraft der OS und der Gründung der FLN, dann dessen Anführer im Aurès) optiert für eine offizielle Sichtweise.

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Beitrag algerischer Soldaten im Zweiten Weltkrieg und einmal die Massaker von Sétif sowie den Kampf der FLN in Frankreich thematisieren (siehe IV.4.1.3.). Ein Beispiel, das sich mit einer Minorität beschäftigt, die von Frankreich und Algerien vergessen und diskriminiert wird, ist Alain Tasmas Film Harkis (2006). Es handelt sich hierbei um eine französische TV-­Produktion, die ebenfalls auf DVD veröffentlicht wurde. Aufgrund ihrer thematischen Bedeutung und ihres Engagements für die Erinnerung an die harkis310 soll sie hier im Rahmen der zu beobachtenden Pluralisierungstendenz zumindest Erwähnung finden. Tasmas311 Film, der an die Erfahrungen der Drehbuchautorin Dalila Kerchouche angelehnt ist und sich zur Aufgabe gemacht hat, die Stimme der harkis hörbar zu machen, ist der erste Spielfilm, der sich dem Schicksal dieser zweifach ausgeschlossenen Gruppe aus einer Innensicht nähert. Mit seiner detaillierten und einfühlsamen Darstellung der Erfahrungen der harkis bricht er ein unausgesprochenes Tabu und die lange vorherrschende Negation einer Selbstrepräsentation dieser Gruppe.312 Lediglich Touitas nicht veröffentlichter Film Le Rescapé nimmt sich vor Tasma der persönlichen Geschichte eines harki an. In früheren algerischen Filmen tauchen die harkis als stereotype Figuren, meist als miese Kollaborateure und Sadisten auf, die als Ausführende von Folter und Drangsalierungen der eigenen Bevölkerung noch skrupelloser als die französischen Soldaten scheinen (z. B. in Ahmed Rachedis L’Opium et le bâton). Historische Fakten oder Beweggründe wie Existenznot und Zwangsrekrutierung werden ausgeblendet. Die harkis dienen politisch sowie

310 Als Zusatzkräfte der französischen Armee während des Algerienkriegs wurden die harkis in Algerien als Verräter verfolgt und in Frankreich trotz ihres Einsatzes missachtet. Die aus Algerien flüchtenden harkis wurden in Lagern außerhalb der Städte abgegrenzt. Der offizielle politische Diskurs in Algerien erklärt das Problem der harkis zum französischen Problem (vgl. Sutherland 2009; Stora 2001b). 311 Alain Tasma ist ehemaliger Assistent von François Truffaut. In Opération turqouise (2007), ebenfalls ein Fernsehfilm, erschienen auf Canal+, setzt er sich mit der Rolle der französischen Armee im Ruanda-­Konflikt auseinander. 312 Laut Dalila Kerchouche gab es zuvor nur einige historische Dokumentationen mit geringer Publikumsreichweite, vgl. http://www.harki.net/docs/harkis_telefilm_ dalila_kerchouche_tasma_smain.pdf. Das Drehbuch des Films wurde von Arnaud Malherbe und Dalila Kerchouche geschrieben. Letztere ist Tochter eines harki und 1973 in einem Camp geboren. Sie arbeitet als Journalistin und beschrieb in ihrem erfolgreichen autobiographischen Buch Mon père, ce harki (Seuil, 2003) die zweifache Ausgrenzung sowie die Erniedrigungen ihrer Familie im Aufnahmelager. Kerchouche hatte sich zur Aufgabe gemacht, das Gedächtnis der harkis in die Öffentlichkeit zu tragen. Für Harkis erhielt sie den Prix Genève-­Europa für das beste Drehbuch.

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filmisch lange Zeit als Antithese zum Mythos der Revolution, der sich um den moudjahid und den geeinten Widerstand gründet.313 Tasmas Film erzählt nun die kollektive (Migrations-)Erfahrung der harkis anhand der Geschichte der Familie Benamar, die in den 1970er Jahren in ein Aufnahmelager nach Frankreich kommt, in einem Waldstück weit abgelegen von der Zivilisation. Die Lebensumstände entsprechen denen in einem Straflager. Neben materiellen Entbehrungen werden die Algerier durch Zwangsarbeit, Sperrstunde, obligatorisches Salutieren vor der französischen Flagge sowie durch Bevormundung und psychischen Terror seitens der französischen Militärverwaltung erniedrigt und ihrer Freiheit beraubt. Die Erfahrungen werden vor allem über die individuelle Erlebnisperspektive der ältesten Tochter Leila nahegebracht. Leila rebelliert gegen die entwürdigenden Zustände und Verhaltensweisen der machtausübenden Autoritätspersonen, denen gegenüber sich ihr Vater ihrer Ansicht nach zu sehr beugt. Anhand dieser zentralen Figur wird der Konflikt über verschiedene Dimensionen aufgebaut: Neben der Ausgrenzung der Algerier, dem Rassismus und der Undankbarkeit Frankreichs wird hier der Generationenkonflikt innerhalb der Familie aufgegriffen. Dieser beinhaltet einerseits Auseinandersetzungen zwischen der älteren Generation und der jugendlichen Leila bezüglich unterschiedlicher Wertvorstellungen und Traditionsauslegungen, andererseits stehen sich hier auch verschiedene Sichtweisen der Eltern und Kinder auf die franko-­algerische Vergangenheit gegenüber. Denn die Gründe ihres Vaters, sich im Algerienkrieg auf die Seite Frankreichs zu stellen, bleiben besonders angesichts der gegenwärtigen Diskriminierung für Leila unverständlich. Zwischen den Welten balancierend, versucht sie, einen Weg für die Familie in eine bessere Zukunft zu finden und baut Kontakt zu Franzosen auf. Das hoffnungsvolle Ende des Films – ein französisches Bauernehepaar hilft der Familie das Camp zu verlassen – mag als Botschaft für ein mögliches Miteinander von Algeriern und Franzosen verstanden werden. Die junge Generation kann dabei sowohl inner- als auch außerfilmisch als potenzielle Mittler gelten, indem sie eine Anerkennung in der französischen Gesellschaft und dazu aber auch eine Auseinandersetzung mit

313 Nina Sutherland (2009) führt auf, wie der Begriff harkis in den 1990er Jahren als Schimpfwort und Sündenbock von jeder Seite gebraucht wurde und die Gruppe weiterhin im politischen Diskurs degradiert und z. B. mit den sogenannten collabos bezüglich des Vichy-­Regimes gleichgesetzt werden. Erst seit 2005 mäßigte Bouteflika seine Aussagen über die harkis im Zuge des Friedensreferendums. Die Frage der harkis erschwert die algerisch-­französischen Beziehungen und war laut Sutherland ein Grund für das Scheitern des Freundschaftsvertrages 2003.

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der Geschichte fordert.314 Der Film geht einen Schritt in diese Richtung, indem er dem vergessenen Gedächtnis der harkis einen Platz einräumt und ein besseres Verstehen zu fördern sucht. Harkis beschreibt dazu die Migrationserfahrungen dieser partikularen Gruppe, die dennoch auch eine gemeinsame Erfahrung von Migranten reflektieren, die ihren Neuanfang in Frankreich in ähnlichen bidonvilles erlebten. Durch informierende Inserts im Film sowie durch dokumentarische Interviews, die zusätzlich auf der DVD zu finden sind, trägt der Film zum Bezeugen der eigenen Geschichte der harkis bei (die sich hier hauptsächlich auf die Ausgrenzung in Frankreich und weniger auf die Umstände im Algerienkrieg bezieht). Erinnerungen an die Generation algerischer Migranten, die während des Algerienkriegs nach Frankreich kam, verhandeln auch der weiter oben betrachtete Film Les Sacrifiés (Okacha Touita, 1982) sowie Vivre au paradis (Bourlem Guerdjou, 1997) oder Christophe Ruggias Adaption von Azouz Begags autobiographischem Roman Le Gone du chaâba (1998). Die beiden ersteren thematisieren neben den Desillusionierungen, Fremdheitserfahrungen und den Lebensumständen in den bidonvilles den Kampf der FLN in Frankreich sowie die internen Konflikte mit der MNA. Zudem bringen sie die Massaker der Pariser Polizei an algerischen Demonstranten vom 17. Oktober 1961 auf die Bildfläche, die Frankreich erst 2012 anerkannt und nie aufgeklärt hat.315 Filmisch wird das Ereignis vom Oktober 1961 seit den 1990ern vermehrt von Dokumentar- und TV-­Produktionen316 aufgegriffen, erst in den letzten Jahren aber erneut in weiteren Spielfilmen. In Boucharebs Hors-­la-loi (2010) endet die Haupthandlung mit diesen Ereignissen, die hier allerdings weniger detailliert präsentiert werden. Einen ganzen Film hingegen widmet ihnen wiederum Alain

314 Dalila Kerchouche und auch der Historiker Mohamed Harbi stellen fest, dass (zumindest) der zweiten Generation, aber auch den harkis selbst allmählich mehr Verständnis in ihren Herkunftsdörfern entgegengebracht wird. Kerchouche beschreibt die freundliche Aufnahme (vor allem in familiären Kreisen) während ihrer Reisen nach Algerien (vgl. Sutherland 2009: 87). 315 2011 wurde in Nanterre der Boulevard 17 Octobre eingerichtet. Papon wurde 1997 als Mittäter von Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Zweiten Weltkrieg verurteilt, nicht aber wegen der Massaker vom Oktober 1961. 316 Mehrere Dokumentarfilme zum Oktober 1961 erschienen vor allem um die 30- und 40-jährigen Jahrestage, zum Beispiel Le Silence du Fleuve (Agnès Denis / Mehdi Lallaoui, 1991), Une journée portée disparue (Philip Brooks /Alain Hayling, 1992), Les Enfants d’Octobre (Ali Akika, 2000), 17 octobre, Retour de Mémoire (Virginie Delahautemaison, 2001), Dissimulation d’un massacre, 17 octobre 1961 (Daniel Kupferstein, 2001).

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Tasma mit der TV-­Produktion Nuit Noire (2005).317 Das Besondere an diesem Film ist, dass er die Erinnerung an den Oktober 1961 anhand einer Vielzahl von Schauplätzen, Daten und Protagonisten präsentiert und so die Perspektiven verschiedenster Beteiligter und Betroffener in sich vereint. Er setzt seine Handlung bereits einige Wochen vor den Ereignissen an und dokumentiert die Entwicklung mittels einzelner Daten (Inserts) und Erzählstränge, die in den Massakern vom 17. Oktober dramatisch zulaufen. Das historische Datum wird mit verschiedenen individuellen Geschichten verbunden, die eine Heterogenität innerhalb der französischen und algerischen Seite darstellen und somit die binäre Gegenüberstellung durch ein dissonantes Nebeneinander von konträren Positionen ersetzen. Da ist zum einen der Polizist und junge Vater Martin, der einerseits Zweifel an der brutalen Vorgehensweise der Polizei insgesamt (vor den Ereignissen) hegt, andererseits am Ende, psychisch überfordert, als erster blindwütig auf die friedliche Masse schießt. Zum anderen zeigt der Film die Perspektive der Journalistin Sabine, die zunächst nur ungern ihre Wohnung für die Vorhaben ihrer Freundin Nathalie (porteuse de valise) und dessen Freund Ali Said, einem der FLN-­Kader, bereitstellt. Nachdem sie selbst wahllose Erschießungen bezeugt und gefilmt hat, versucht sie, ihre Beweisdokumente entgegen der Pressezensur ans Licht zu bringen. Unter den Algeriern befinden sich neben mehreren FLN-­Akteuren unbeteiligte Arbeiter wie Tarek und sein Neffe Abdé, der in der Abendschule bei der empathischen Lehrerin Marie-­Hélène Schreiben lernt. Der Film macht die brutale Gewalt, die ihren Höhepunkt in der Nacht vom 17. Oktober findet, von Beginn an permanent spürbar. Tarek wird z. B., als er eine Fahrradpanne hat, von Polizisten angehalten, provoziert und willkürlich von ihnen ertränkt. Die Polizei wird dabei als einerseits unmenschlich und skrupellos dargestellt, erscheint dennoch im Film insgesamt nicht als einheitlicher Block, denn es gibt verschiedene Figuren, die schwanken oder sich von der brutalen Vorgehensweise der Kollegen kritisch distanzieren. Nuit Noire zeichnet die Geschichte somit mehrdimensional. Er lässt verschiedenste Einzelgeschichten aufblitzen und verbindet diese nahtlos durch eine hohe Anzahl an kurzen Sequenzen und ständigen Orts- sowie Perspektivwechsel. Subjektivierte Sichtweisen (durch Kamera­einstellungen und eine hohe Emotionalität) stehen neben authentifizierenden Strategien (Inserts) und Bildern der Gewalt. Die historische Figur des Polizeipräsidenten Maurice Pa-

317 Der Film wurde als Auftragsarbeit von Canal+ produziert und 2005 ausgestrahlt. France 3 zeigte ihn erst 2010.

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pon, der die Gewaltanwendung anordnete, wird zur Verantwortung gezogen. Der Film kontrastiert Papons Verfälschung der Fakten („Il faut s’en tenir à notre version“, die da heißt „Gegenwehr“ und die Opferzahlen verschweigt) mit Sabines und Nathalies Bemühungen, die Zeugnisse der Massaker zu veröffentlichen. Der Abbruch von Sabines Dokumentation gleich zu Beginn einer von den Frauen organisierten Vorführung hinterlässt eine leere, weiße Leinwand und verweist zusammen mit der Beschlagnahmung des Filmmaterials auf die reale Gedächtnislücke und das politische ‚Auslöschen‘ der Erinnerung an den 17. Oktober. Zum 50-jährigen Gedenken an die Massaker von 1961 trugen Dokumentarfilme und Vorführungen zur Verbreitung der Erinnerung an das Ereignis bei, so z. B. Yasmina Adis Ici on noie les Algériens, 17 octobre 1961, der im Oktober 2011 im Rahmen des Pariser Filmfestivals Maghreb des films veröffentlicht wurde. Ebenfalls in diesem Kontext erschien Jacques Panijels318 Dokumentarfilm Octobre à Paris, der bereits 1962 gedreht wurde und der erste Film ist, der sich direkt nach den Ereignissen die Aufgabe stellte, die Erinnerung daran festzuhalten. Panijel filmte in den Wochen und Monaten nach dem 17. Oktober 1961 heimlich an den Orten des Geschehens, in den bidonvilles von Nanterre und Gennevilliers sowie den Folterstätten von Goutte-­d’Or. Der Film rekonstruiert die Ereignisse vor und während der Demonstration, stellt sie mit Fotomaterial nach und fängt Zeugenaussagen zu den gewaltsamen Repressionen unter Maurice Papon ein. Dafür befragte Panijel Organisatoren der Demonstration sowie Überlebende, die sich aus der Seine retten konnten. Der Film wurde bis 1973 verboten und erstmals im Rahmen des Festivals Maghreb des films 2011 im Kino ausgestrahlt.319 Deutlich wird an diesen Beispielen, dass der Film als Erinnerungsmedium der franko-­algerischen Vergangenheit sowohl im Fiktionsbereich als auch im Dokumentarfilmsektor eine zunehmende Rolle spielt. Dies zeigt sich vor allem an dem Einsatz und der Entstehung filmischer Produktionen im Rahmen von Kommemorationsveranstaltungen wie hier in Bezug auf den 50-jährigen Jahrestag vom 318 Jacques Panijel war Biologe und Forscher am CNRS. Er gründete gemeinsam mit Pierre Vidal-­Naquet und Laurent Schwartz das Comité Maurice Audin. Audin war ein französischer Mathematiker, der an der Universität Algier arbeitete und sich als Mitglied der PCA im antikolonialen Kampf engagierte. Er wurde 1957 während der Schlacht von Algier festgenommen und wahrscheinlich zu Tode gefoltert. Henri Alleg geht seinem Verschwinden in dem Buch La Question (1958) nach. 319 Unterstützt wurde dies durch die Assoziation „Au nom de la Mémoire“ und die Erben Panijels (vgl. http://blogs.mediapart.fr/edition/17-octobre-1961/article/160911/ octobre-­paris-le-­film-interdit-­projete-en-­avant-premiere).

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17. Oktober 1961. Beispiele für weitere dokumentarische Neubefragungen von Geschichte und Gegenwart sowie für das Hörbarmachen unterdrückter Stimmen sind Moudjahidat (Alexandra Dols, 2008), der an die weiblichen Widerständlerinnen im Algerienkrieg erinnert oder La Chine est encore loin (Malek Bensmail, 2008), der historische Orte des Algerienkriegs (Aurès) aufsucht und anhand von Erinnerungen der älteren Generation sowie der Gegenwart der jungen Algerier die Geschichte neu ergründet. Dabei widmet der Film sich auch dem andauernden Konflikt zwischen der Arabisierungspolitik und der berberischen Realität.320

4.1.2. Gemeinsame und komplexe Geschichte(n) Neben der Rückkehr partikularer Gedächtnisse lässt sich ebenfalls beobachten, wie sich einige Filme der franko-­algerischen Geschichte mehrdimensional nähern, indem sie diese aus transnationalen Perspektiven betrachten bzw. integrativ verschiedene Positionen einarbeiten, wie z.  B. bei dem erwähnten Nuit Noire der Fall. Einerseits werden so Konflikte zwischen den Akteuren hervorgehoben, andererseits aber teilweise auch stärker deren (schmerzhafte) Verbindungen fokussiert. Das entanglement zwischen französischen und algerischen Geschichten äußert sich hier in einer größeren innerfilmischen Pluralität an Perspektiven, die vor allem durch ein vielfältigeres Figurenrepertoire transportiert wird. Dabei werden die Beziehungen zwischen (ex-)colonisateur und (ex-)colonisé neu befragt. Beispiele für Inszenierungen einer besonders spannungsgeladenen Beziehung sind La Trahison (Philippe Faucon, 2005) oder Indigènes (Rachid Bouchareb, 2006), die neben der Diskriminierung der Kolonisierten die ambivalente Verbindung von französischen und algerischen Soldaten herausstellen – einmal im Kontext des Algerienkriegs, einmal in dem des Zweiten Weltkriegs. Zeigt sich bereits in diesen Filmen der Widerspruch von menschlicher Beziehung und segregierender Koloniallogik, legen einige Beispiele hierauf einen Schwerpunkt und heben die Erfahrungen einer gemeinsamen Geschichte auf zwischenmenschlicher Ebene hervor. Cartouches Gauloises (Mehdi Charef, 2008) und L’Autre côté de la mer (Dominique Cabrera, 1997) verhandeln beispielsweise freundschaftliche Beziehungen zwischen pieds-­noirs und Algeriern, Letzterer zwischen einem in Algerien gebliebenen Franzosen und einem beur in Frankreich. Vergleichbare Erfahrungen von Schmerz, Fremdheit und Identitätsfragen 320 Die Untersuchung von Dokumentarfilmen wäre Stoff für eine weitere Arbeit, dieser Sektor scheint recht produktiv zu sein, auch unter einer neuen Generation algerischer und franko-­algerischer Filmemacher.

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verbinden die zwei Protagonisten beider Seiten des Mittelmeers in L’Autre côté, die im Paris der 1990er Jahre zusammentreffen. Ihre Lebenswege und identitären Verankerungen verlaufen teils spiegelbildlich und symbolisieren transnationale und transkulturelle Überkreuzungen (siehe für eine nähere Analyse Ruhe 2006). Mehdi Charefs Cartouches Gauloises liefert eine mehrdimensionale Reflexion über den Algerienkrieg, die die Lebenswelt über die Grenzen der einzelnen Bevölkerungsgruppen und Akteure hinaus betrachtet. Dieser Film porträtiert die koloniale Gesellschaft eines kurz vor der Unabhängigkeit stehenden Algerien, das aus den unschuldigen Augen des 11-jährigen Ali nähergebracht wird. Mit dessen unvoreingenommenem Blick wird einfühlsam die Realität zwischen Gemeinschaft und Feindschaft beobachtet. In der Nachbarschaft Alis wohnen neben Franzosen auch harkis und Juden. Viele Väter befinden sich im Maquis, die Mütter bleiben im Ungewissen. Ali verdient sich ein wenig Geld als Zeitungsjunge und Einkaufsträger von Europäern. Letztere verlassen zunehmend das Land und der Trennungsschmerz ist groß, als auch Alis Freund Nico mit seiner Familie nach Frankreich emigriert. Der Film zeigt also durchaus die Verbindungen, die sich am besten unter den noch wenig politisierten Kindern halten. Ali wird Zeuge von Gewalt auf allen Seiten, so dass der nationale Befreiungskampf durch bittere Einblicke entmystifiziert wird. Die Idee des Gemeinsamen, im Sinne eines heterogen gedachten Algerien, reflektiert Abdelkrim Bahlouls Le Soleil assassiné (2003), der die historische Person des Poeten Jean Sénacs ins Zentrum stellt. Sénac war der bedeutendste in Algerien geborene pied-­noir-Dichter spanischer Herkunft, der sich für die algerische Selbstbestimmung einsetzte. Als einer der Vertreter der sogenannten École d’Alger teilte er die Vorstellung einer pluralen Mittelmeerkultur. Er stellte sich, im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen und Kollegen wie z. B. Camus, aber deutlich auf die Seite der FLN und kehrte anders als die meisten Europäer, die Algerien 1962 verließen, dorthin zurück. Als überzeugter Algerier und dabei zugleich revolutionär, christlich und homosexuell, irritierte er etablierte und extreme Positionen auf französischer wie algerischer Seite und entzog sich in seiner hybriden Identität eindeutigen Zuschreibungen. Seine Vorstellungen von einer algerischen Nation berücksichtigten die Frage nach der individuellen Freiheit und widerstrebten so dem bürokratisch-­autoritären Führungsstil der neuen Machthabenden.321 Im 321 Zunächst noch als Berater des Erziehungsministers unter Ben Bella tätig, überwarf er sich nach dem Putsch von Boumediene mit dessen Regierung. Während sich die algerische Nation im Aufbau befand und ihre Grundpfeiler definierte, setzte sich Sénac kritisch mit dem Verständnis von Nation und dessen Verhältnis zum Individuum auseinander.

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Jahre 1973 wurde Sénac ermordet, die Tat blieb unaufgeklärt. Als Verfechter eines plurikulturellen Algeriens steht der Poet mit seinem Denken, Schreiben und Leben exemplarisch für die Utopie eines brüderlichen Miteinanders verschiedener kultureller Gruppen in Algerien, deren Verwirklichung an den kolonialen Diskriminierungen sowie der nachfolgenden homogenen Konstruktion der algerischen Nation scheiterte. Indem der Film Le Soleil assassiné das Leben und Denken Sénacs verarbeitet, setzt er nicht nur dem Dichter ein Denkmal, sondern verweist ebenso auf die vertane Chance des neuen Algerien, ethnisch-­kulturelle Grenzen zu überwinden und sich einer gelebten Vielfalt zu öffnen. Hinsichtlich der Frage nach einer multiperspektivischen Betrachtung der franko-­algerischen Geschichte sollen hier noch einmal beispielhafte Dokumentarfilme Erwähnung finden, und zwar die jüngeren Werke des Filmemachers Jean Pierre Lledo, die verschiedensten Betroffenen eine Stimme geben. Lledos Filme setzen sich besonders mit der Vielschichtigkeit Algeriens auseinander, werfen aber ebenso auch einen nostalgischen Blick auf das (koloniale) Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Un rêve algérien (2003) begibt sich auf die Spuren von und mit Henri Alleg, der 1958 in La Question als erster die Folter der französischen Armee verurteilte und die einzige antikoloniale Tageszeitung Alger Républicain leitete. Lledo sieht Alleg als Symbol für ein brüderliches Algerien, in dem verschiedene Ethnien, Kulturen bzw. Glaubensgemeinschaften zusammenleben (können), und er zeichnet den Traum des Gemeinsamen in seinem Film nach.322 Lledos Person verkörpert selbst diesen gescheiterten Traum und eine hybride Identität: Er ist als Sohn einer jüdisch-­berberischen Mutter und eines spanischen Vaters in Tlemcen geboren und hat sowohl die algerische als auch die französische Staatsbürgerschaft. Die Beschäftigung mit der kulturellen Heterogenität Algeriens und der Utopie eines Miteinanders durchzieht sein Werk ebenso wie das Nebeneinanderstellen verschiedener Gedächtnisse der franko-­algerischen Geschichte. In Algérie, mes fantômes (2004) geht der seit 1993 in Frankreich lebende Lledo der Frage nach Nostalgie und der eigenen Erfahrung des Exils nach. Er reist dazu durch Frankreich und spürt die „Phantome“, die ihn in Frankreich heimsuchen und vielfach tabuisiert sind, auf, indem er verschiedenste Zeitzeugen zu Wort kommen lässt. Die Besonderheit des Films liegt in der kaleidoskopischen Zusammenstellung unterschiedlicher Positionen – von pied-­noirs, exilierten Algeriern, Nachkommen von harkis und französischen Einberufenen –, die hier nebeneinander existieren (dürfen) und die Kolonialgeschichte in mehreren Facetten wachrufen. 322 Vgl. http://www.cnrs.fr/paris-­michel-ange/IMG/pdf/CV_PJLledo.pdf.

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In Histoires à ne pas dire (2007) sucht Lledo erneut die gemeinsame Geschichte und ein Stück seiner verschwundenen Welt auf, indem hier vier verschiedene muslimische Personen über ihr Leben im kolonialen Algerien und ihre Erfahrungen während des Algerienkriegs reflektieren. Verborgene Erinnerungen kommen dabei ans Licht, die die Beziehung zwischen Muslimen, Juden und Christen in Algerien neu beleuchten und die Ambivalenz zwischen Freundschaft und Hass bzw. Brüderlichkeit und Gewalt hervorheben. Das jüdische Gedächtnis findet hier ebenso Platz wie Geschichten von französischen Kommunisten an der Seite der Algerier oder andere verdrängte Aspekte, wie z. B. von der ALN begangene Massaker. Vergangenheit und Gegenwart werden vielseitig betrachtet und rütteln so an dem algerischen nationalen Mythos. Wie der Titel schon besagt, sind diese anderen Perspektiven auf die Geschichte offiziell nicht erwünscht. Histoires à ne pas dire ist tatsächlich in Algerien verboten und wird auch von kritischen algerischen Intellektuellen scharf angegriffen. Die Tatsache, dass Lledos Filme die ‚Anderen‘ (z. B. pieds-­noirs, harkis, appelés) zu Wort kommen lässt, stößt auf Ablehnung. Anhand dieser Reaktion wird deutlich, wie der algerische Staat, aber auch einige Algerier, weiterhin Probleme haben, die Widersprüche der Geschichte anzunehmen und die Darstellung verschiedener Positionen zugleich zuzulassen. Die Existenz derartiger Werke steht dennoch für eine Bewegung in der Filmlandschaft – auch wenn das Kino hier noch zögerlich ist –, die eine Vielfalt an Perspektiven auftauchen lässt, abgesehen davon, ob diese abgelehnt oder besonders kontrovers diskutiert werden. Zumindest einige Filmemacher/innen kommunizieren so in Spiel- und Dokumentarfilmen eine neue Herangehensweise an Geschichte und Gegenwart. Die verschiedenen Aspekte, Positionen und Perspektiven, die im Auswahlkorpus zu beobachten sind und sich teilweise innerhalb eines Werkes manifestieren, sind Ausdruck einer Pluralisierung und weiteren Fragmentierung, die den grand récit der Geschichte ablösen. Mit dem Erscheinen weiterer in Frankreich produzierter Filme wie z. B. La Trahison (Philippe Faucon, 2005), L’Ennemi intime (Florent Emilio Siri, 2006) oder Mon Colonel (Laurent Herbiet, 2006) kehrt der Algerienkrieg nun auch visuell spürbarer auf die französische Bildfläche zurück (vgl. Stora 2008: 262 f.). Im Vergleich zu früheren Perioden des französischen Kinos wird in diesen Beispielen durch eine direktere Auseinandersetzung und das Sichtbarmachen von Gewalt eine deutliche Präsenz des Algerienkriegs erzeugt. Anders als die meisten früheren französischen Filme stellt L’Ennemi intime die Grausamkeiten des Algerienkriegs visuell in den Vordergrund. Entsprechend seiner Inszenierungsweise (Panoramaaufnahmen, Helikopter und Kriegsmaschinerie, heftige Schlachten, von Napalm verbrannte Körper) wird er von Kritikern 300

mit amerikanischen Produktionen über den Vietnamkrieg verglichen. Stora spricht hier sogar von einer „hyperviolence“ (ebd.: 268), die die unerträgliche Brutalität beider Seiten zeigt und den Krieg sehr physisch vermittelt. Ähnlich wie die früheren Filme erzählt auch L’Ennemi intime die Geschichte eines Einberufenen, der sich hier aber im direkten Kampfgeschehen befindet. Dass der Indochina-­erfahrene und skrupellos scheinende Dougnac letztlich desertiert, knüpft einerseits an den Mythos älterer Filme an, ist aber andererseits ein Zeichen für die nicht mehr haltbare und unverhältnismäßige Gewalt dieses Kriegs, dessen Legitimität hinterfragt wird. In La Trahison ist nicht nur der Schauplatz durch den Fokus auf den Krieg in Algerien verortet, sondern kommt auch ein Wechsel zwischen den Perspektiven algerischer und französischer Figuren zum Ausdruck. Anstelle bloßer stereotypisierter Antagonisten stellen die Kolonisierten einen Teil der Protagonisten dar, interessanterweise in der ambivalenten Rolle algerischer Wehrpflichtiger der französischen Armee. La Trahison greift so mehrere Positionen innerhalb des franko-­algerischen Konflikts auf, die insbesondere durch zwei Hauptfiguren, dem französischen Leutnant Roque und dem algerischen Wehrpflichtigen Taieb, vertreten werden. Taieb ist einer von vier algerischen Soldaten und übersetzt zwischen der lokalen Bevölkerung und Leutnant Roque. Dessen eigentlich auf Loyalität basierende Beziehung zu „seinen Muslimen“ wird zunehmend von Zweifel und Verdacht geprägt. Im Vordergrund steht hier die psychische Gewalt.323 Roque wird mit dem Vorwurf konfrontiert, dass die vier algerischen Soldaten einen Angriff mit der FLN planen. Am Ende des Films werden Taieb und seine drei algerischen Kollegen abgeführt, da die Militärführung den Verdacht bestätigt. Es bleibt jedoch unklar, ob die Figuren tatsächlich Verrat begangen haben. Durch widersprüchliche Andeutungen, einen Wechsel aus Mitsichten und externen Fokalisierungen wird eine Unsicherheit erzeugt, die die Frage nach der Schuld offen lässt. Damit zeichnet der Film die Komplexität der Situation nach und überwindet eine simple Reduktion des Kriegs auf die Gegenüberstellung von Franzosen und Algerier. Seine Erzählstruktur und Figurenkonstellation unterstreichen das Gefühl der Ambivalenz, das die schizophrene Situation der kolonialen Ordnung 323 Der Film verfolgt mehrere Tage und Nächte an einem Militärposten im südlichen Algerien im März 1960. Der junge Leutnant Roque ist beauftragt, die lokale FLN zu zerschlagen. Mit Druck auf die Bevölkerung wird versucht, dieser auf die Spur zu kommen. Den Tagesablauf bestimmen das Ausharren und Warten auf den Feind, ebenso aber Durchsuchungen, Zerstörung von Dörfern und Folter von Verdächtigen. Faucons Film thematisiert damit auch die massive Zwangsumsiedlung von ca. 2 Mio. Kolonisierten zwischen 1956 und 1961.

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reflektiert (Trennung zwischen colonisé und colonisateur, aber zugleich Pflichten des colonisé als französische sujets). Weder als Franzosen, noch als Algerier von der jeweiligen Seite anerkannt, stehen die algerischen Soldaten dazwischen. Die Figuren sind auch in dem eigenen Verständnis ihrer Rolle nicht eindeutig fixiert und verwischen die Trennung der Fronten. Am Ende werden diese dennoch wieder hergestellt, indem die Algerier verurteilt werden und ihnen ein Vertrauen und eine Anerkennung als französische Soldaten abgesprochen werden. Es zeigt sich, wie die koloniale Diskriminierungslogik eine Festlegung fordert – unabhängig davon, ob der Verrat Tatsache ist oder nicht.

4.1.3.  Indigènes und Hors-­la-loi – Algerische Erinnerungen in Frankreich Einen neuen Durchbruch algerischer Stimmen und Erinnerungen auf der französischen und internationalen Leinwand vermochten Rachid Boucharebs Filme Indigènes (2006) und Hors-­la-loi (2010) zu erzielen, und zwar mit besonders großer öffentlicher Wirksamkeit in Frankreich. Die Filme veranschaulichen bespielhaft die Komplexität transnationaler Produktionen, bei denen die Spannungen grenzüberschreitender Geschichte sowohl innerfilmisch als auch in den Debatten um die Filme zum Ausdruck kommen. Ihre kontroverse Rezeption zeigt, dass die Konflikte zwischen den verschiedenen historischen Akteuren und Erinnerungsträgern bei weitem noch nicht ausgestanden sind. Die beiden Filme zur franko-­algerischen Geschichte lassen jeweils Unausgesprochenes und besonders in Frankreich vergessene Gruppen hervortreten. Indigènes beschäftigt sich mit der Diskriminierung maghrebinischer und vor allem algerischer Soldaten, die für Frankreich im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben. Hors-­la-loi inszeniert den Algerienkrieg auf französischem Boden sowie entscheidende Etappen im Vorfeld, wie die Massaker von Sétif. Ist Indigènes der kommerziell erfolgreichere der beiden Filme, entzündeten sich insbesondere um bestimmte Aspekte in Hors-­la-loi Diskussionen in eklatantem Maße. Als Analysebeispiel für die Inszenierung verdrängter und umstrittener Erinnerungen steht Letzterer hier im Fokus. Indigènes wird aufgrund seiner großen Bedeutung und seiner Neuperspektivierung der franko-­algerischen Geschichte dennoch kurz betrachtet. Sein transnationaler Charakter wurde bereits ausführlicher von Cornelia Ruhe (2009) diskutiert. Deshalb sollen hier lediglich wesentliche Züge aufgegriffen werden, die zeigen, wie der Film auf die koloniale Geschichte blickt und das vergessene Gedächtnis der Subalternen in die nationale französische Erinnerung einschreibt.

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Indigènes – Neuperspektivierung eines transnationalen Erinnerungsortes Boucharebs Film Indigènes (2006) hätte kaum einen passenderen Moment finden können, um sich Gehör zu verschaffen und sich in die konfliktgeladenen Debatten um Frankreichs Rolle in seinen ehemaligen Kolonien einzuschalten. Sein Erscheinen ist zeitlich eingebettet in eine Hochphase der Konfrontationen zwischen verschiedenen Gruppierungen. Während der Gesetzentwurf vom Februar 2005 zur positiven Wertung der Kolonisation sowie die Unruhen in den banlieues und Sarkozys abwertende Reaktionen gegenüber den Migranten die Konflikte im außerfilmischen Kontext zuspitzen, erinnert Indigènes an ein von Frankreich ausgeblendetes Kapitel der Kolonialgeschichte. Indem der Film nicht den Algerienkrieg selbst verarbeitet, sondern den entscheidenden Beitrag afrikanischer Soldaten an der französischen Befreiung im Zweiten Weltkrieg thematisiert, eröffnet er eine erweiterte Perspektive der franko-­algerischen Geschichte.324 Indigènes schreibt diese über den üblicherweise fokussierten Algerienkrieg hinausgehend in einen größeren Kontext der Weltgeschichte ein und verweist auf das entanglement europäischer und afrikanischer Geschichten. Mit Blick auf den gemeinsamen Kampf algerischer (sowie anderer afrikanischer) und französischer Soldaten zeigt er die komplexe Beziehung zwischen Frankreich und seinen kolonialen ‚Anderen‘ auf, deren Ambivalenz im Einsatz für die mère patrie sichtbar wird. Der Film steht somit zwar für die Restitution eines partikularen Gedächtnisses ein, entwirft dieses aber in einer transnationalen und transkontinentalen Optik, die eine Verbindung Frankreichs zu seinen ehemaligen Kolonien bzw. Départements wie Algerien zieht. Sowohl seine Inszenierung als auch seine Produktion und Vermarktung reflektieren die Spannungen einer Geschichte, die sich zwischen Frankreich und Algerien verortet. Beispielhaft dafür sind auch die Entscheidungen des Regisseurs und Teams, Indigènes einmal als französischen Film (Cannes) und einmal als algerischen Film (Oscar-­Nominierung) in den Wettbewerb zu schicken, wodurch sein transnationaler Charakter zusätzlich markiert wird (siehe oben). Film sowie Filmteam lassen sich nicht auf eine eindeutige nationale Identität festlegen, sondern bewegen sich bewusst dazwischen. Indigènes vermittelt nun gerade, dass die einzelnen Gedächtnisse Teil einer gemeinsamen Geschichte sind. Er vertritt die Stimme einer subalternen Gruppe, die innerhalb

324 Stora sieht in der Thematik des Zweiten Weltkriegs den Grund dafür, dass Indigènes einen weitaus größeren Erfolg erreicht hat als z. B. La Trahison, Mon Colonel und andere aktuelle Filme mit franko-­algerischem Bezug (vgl. Stora 2008). Dies hängt mit den in Kapitel II erwähnten größeren Erinnerungskonflikten bezüglich des Algerienkriegs zusammen.

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der französischen Geschichts­schreibung vergessen wird, und schaltet sich so mit einer neuen Perspektive in den Kampf um Erinnerungen ein. Zugleich dekonstruiert Indigènes den kolonialen Diskurs, indem er die Ambivalenzen der kolonialen Identitätszuschreibungen offenlegt und deren Hybridität aufzeigt. Die algerischen Hauptfiguren Said, Abdelkader, Messaoud und Yassir kämpfen wie weitere 130.000 maghrebinische Soldaten in der französischen Armee, um an der Seite der Franzosen ihre mère patrie zu verteidigen.325 Sie tragen zum Sieg in entscheidenden Schlachten (in Italien, der Provence und den Vogesen) bei und kämpfen bis zum letzten Mann um eine Bastion im Elsass. Weder während des Kriegs noch danach werden die Soldaten aber als gleichwertige Franzosen anerkannt und für ihren Einsatz belohnt. Stattdessen werden sie immer wieder auf ihre Minderwertigkeit durch ihren Status als Kolonisierte, als indigènes, aufmerksam gemacht und auf verschiedene Weise diskriminiert. Anhand der Erfahrungen der Protagonisten veranschaulicht der Film, wie die afrikanischen Soldaten im Krieg in besonders gefährlichen Situationen eingesetzt werden, keine Aussicht auf eine Beförderung haben und zudem einem alltäglichen Rassismus unter den Kameraden ausgesetzt sind (z. B. bei der ungleichen Essensausgabe). Die permanente Missachtung gipfelt darin, dass die Ehrung für die Befreiung des elsässischen Dorfes ebenso wie die Auszeichnungen in diesem Krieg insgesamt allein an ‚echte‘ Franzosen gehen, die allerdings in den entscheidenden Kämpfen mit ihrer Truppe erst angerückt sind, nachdem Abdelkaders Männer ganz allein die Bastion verteidigt hatten.326 Abdelkader ist der einzige Überlebende der vier algerischen Hauptfiguren und fristet im hohen Alter ein bescheidenes Dasein in einem tristen Wohnblock. Der Film zeigt, dass eine Anerkennung Frankreichs gegenüber seinen Soldaten aus den Kolonien ausbleibt und diese noch nicht einmal eine Pension erhalten.327 Seine Würdigung der Vergessenen der Geschichte war insofern über sein Ziel hinausgehend erfolgreich, als dass der Film sogar politische Handlungen zur Folge hatte. Die Regierung beschloss das ‚Entfrieren‘ der Renten, was allerdings eher als symbolischer Akt verstanden werden kann, da die Betroffenen entweder bereits verstorben oder über 80 Jahre alt waren. Deutlich 325 Der Fokus des Films liegt auf den algerischen Soldaten. Die ca. 70.000 sogenannten tirailleurs sénégalais, die realhistorisch in den ersten Reihen als ‚Kanonenfutter‘ eingesetzt wurden, finden hier wenig Erwähnung. Der Film hätte hier weitergehen können, in Richtung eines noch übergreifenderen Gedächtnisses. 326 Der Film reflektiert die reale Demütigung und Enttäuschung der indigènes, die sich spätestens nach dem Krieg eine Gleichstellung erhofft hatten. 327 Realpolitisch wurden die Pensionen der ehemaligen Soldaten aus den Kolonien 1959 eingefroren.

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wird an diesem Beispiel zumindest aber die Wirkmacht, die von einem Film wie Indigènes ausgehen kann. Neben seinem Engagement für die Anerkennung der vergessenen Soldaten veranschaulicht der Film die ambivalente Beziehung Frankreichs zu seinen Kolonisierten. Der zwiespältige Identitätsstatus der Algerier, der diese als sujets, nicht aber als gleichberechtigte citoyens definiert, wird hier, ähnlich wie in La Trahison, deutlich. Die algerischen Protagonisten beweisen ihrer mère patrie gegenüber Loyalität, obwohl diese sie ablehnt und gleichzeitig als französisch und als nicht-­ französische indigènes oder msusulmans definiert.328 Ihre offizielle Zugehörigkeit zu Frankreich kommt inner- und außerfilmisch nur insofern zur Geltung, als sie dem Mutterland dienen können. Ansonsten wird eine klare Abgrenzung zwischen colonisateur und colonisé gezogen. Dass die identitäre Trennlinie aber (außerhalb der politischen Ideologie und Diskriminierung) nicht eindeutig existiert und die Lebensrealität von Hybriditäten gekennzeichnet ist, zeigt der Film anhand seiner Figuren und dekonstruiert so die koloniale Logik.329 Das Selbstverständnis der algerischen Soldaten, die eine Gleichberechtigung fordern, weist darauf hin, dass diese sich selbst anders definieren als es ihnen die koloniale Diskriminierung aufbürdet. Zudem zeigen sich trotz aller scheinbaren Gegensätze auch offiziell verschwiegene Überkreuzungen und Gemeinsamkeiten von Kolonisierten und Kolonisatoren, die hier in der Konstellation zwischen den algerischen Soldaten und dem Sergent Maurice dargestellt werden. Maurice führt eine widersprüchliche Beziehung aus Distanz und Nähe zu seinen algerischen Soldaten und stößt ebenfalls wie diese an die Grenzen des Kolonialsystems. Sein eigener ambivalenter Status wird dadurch hervorgehoben, dass er womöglich pied-­noir ist, aber sehr wahrscheinlich eine algerische Mutter hat. Said, seine Ordonnanz, entdeckt ein Foto in Maurices Tasche, das eine Frau zeigt, die von ihrer Kleidung her ‚algerisch‘ aussieht. Auf der Rückseite des Fotos steht „moi et maman“ geschrieben, was Said zwar als Analphabet nicht lesen kann, dem Zuschauer aber nicht entgeht. Der Film spielt hier mit einer Unklarheit und Verwirrung über Maurices Herkunft, indem er über das Zusammenwirken verschiedener Ebenen (Figuren, Schrift und Bild) eine Komplexität aufmacht, die 328 Die eigene Hymne für die afrikanischen Soldaten „C’est nous les Africains qui revenont de loin. Nous venons des colonies pour sauver la Patrie…“ macht die Separation deutlich. 329 Angemerkt sei hier, dass der Film bereits durch seinen Titel Indigènes die Kolonialsprache selbst provokativ nutzt. Ebenfalls nimmt er über Orientalismus-­Zitate (Gemälde und Bilder) Verschiebungen vor, die die koloniale Denkweise dekonstruieren (vgl. hierzu Ruhe 2009).

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nicht eindeutig aufgelöst wird. Er erzeugt so eine Spannung, bei der auf der einen Seite die Assoziationen Saids sowie die des Zuschauers stehen (beide auf visuellen, stereotypen Annahmen beruhend) und auf der anderen Seite Maurices eigene Ablehnung bzw. Verleugnung einer möglichen algerischen Herkunft. Die suggerierte Hybridität macht die Vorstellung einer fixierten identitären Zuschreibung zum Trugbild und zeigt im Gegenzug die Konstruiertheit von Identität auf, die je nach Auslegung verschieden ausfallen kann. Da eine derartige Beweglichkeit im Kolonialsystem nicht denkbar ist, wird Maurice Said gegenüber sehr ausfallend und droht ihn umzubringen, als Letzterer ihm freudig und naiv verkündet, dass er ja auch einer von ihnen (den Algeriern) sei.330 Denn eine Bejahung dieser Herkunft würde das Tabu der kolonialen Mischung brechen und Maurice degradieren. Der Film selbst überschreitet dieses Tabu weiter, indem er neben der Spekulation über Maurices Familie eine Beziehung zwischen Messaoud und der Französin Irène einflicht. Messaouds Briefe werden abgefangen, und zeitweise muss er dafür sogar eine Gefängnisstrafe verbüßen, da er als Araber nicht als einer französischen Frau würdig gesehen wird und gegen die koloniale ‚Rassentrennung‘ verstößt. Indigènes durchbricht so nationale Kategorien sowie die Dichotomie colonisé / colonisateur auf mehrfache Weise und betrachtet Frankreichs Kolonialgeschichte aus postkolonialer Perspektive neu. Dabei diversifiziert er die französische Geschichte des Zweiten Weltkriegs, die hier aus einer anderen, subalternen Position und mit den Kolonialgebieten verflochten erzählt wird. Indem Indigènes die Erinnerung an die Vergessenen der französischen Geschichte inmitten dieser selbst platziert, entwirft er die partikulare Erfahrung der algerischen Soldaten als Teil einer gemeinsamen franko-­algerischen Geschichte. Die Stimme der Vergessenen der französischen Armee unterläuft die vorherrschenden Vorstellungen im französischen kollektiven Gedächtnis, denn der Film schreibt das maghrebinische und vor allem algerische Gedächtnis in einen zentralen lieu de mémoire Frankreichs ein und sprengt dessen nationale Begrenzung. Stehen die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und die an den Algerienkrieg im öffentlichen Raum in Konkurrenz zueinander (siehe Kapitel II), weiß Indigènes den Erinnerungsort des Zweiten Weltkriegs zu nutzen und ihn um eine algerische Perspektive zu erweitern. Zudem stellt er die Grundwerte der Republik auf den Prüfstand, denn die liberté, égalité und fraternité werden den indigènes gerade nicht entgegengebracht, wie der Film verdeutlicht. Ungerechtigkeit und Verrat gegenüber 330 Als Abdelkader die Gräber seiner Mitstreiter und auch das Grab von Maurice besucht, wird dieser letztlich bei den Algeriern bzw. den von Frankreich Ausgeschlossenen eingereiht und eine Verbindung zwischen pied-­noirs und Algeriern hergestellt, die sonst kaum zu finden ist.

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den Kolonisierten sowie deren Mithilfe an der Befreiung Frankreichs hebeln die Mythen der grande nation aus.

Hors-­la-loi – Algerische Erinnerungen zwischen Heroismus und Komplexität Boucharebs Hors-­la-loi verarbeitet nun Ereignisse um den Algerienkrieg, die ähnlich wie die in Indigènes evozierten Aspekte in Frankreich weitgehend verdrängt sind bzw. von den Betroffenen auf französischer Seite (pieds-­noirs, Armee) aus einer gänzlich konträren Perspektive erzählt werden. Dies trifft insbesondere auf die Massaker von Sétif 1945 zu, deren filmische Repräsentation heftige Reaktionen in Frankreich ausgelöst hat. Aber auch insgesamt hat Hors-­la-loi mit seinen Erinnerungen an den franko-­algerischen Konflikt aus einer überwiegend algerischen Position für viel Zündstoff gesorgt und ist damit ein gutes Beispiel für die Bedeutung des Mediums Film in den andauernden guerres de mémoires. Hors-­la-loi schließt zeitlich und faktisch an Indigènes an. Nach einem kurzen Rückblick in das Jahr 1925 zu Beginn verfolgt er verschiedene Etappen in der franko-­algerischen Geschichte zwischen 1945 – wo die Haupthandlung von Indigènes endet – und der algerischen Unabhängigkeit 1962. Eine bewusste Verbindung der beiden Werke wird über den Einsatz dreier der gleichen Hauptdarsteller, Jamel Debbouze, Roschdy Zem und Sami Bouajila hergestellt. Deren Rollen tragen hier dieselben Namen wie in Indigènes – Said, Abdelkader und Messaoud –, treten nun aber als drei Brüder auf. Durch diese intertextuelle Verknüpfung wird bereits ein Zusammenhang zwischen dem Zweiten Weltkrieg, der die Hoffnung der Algerier auf Gleichberechtigung förderte, und dem hier verfolgten Prozess der Dekolonisation in dessen Folge suggeriert. Wenngleich Hors-­la-loi die französischen Kolonialverbrechen in Algerien und Frankreich verurteilt, scheint er dennoch weniger eine radikale Abrechnung mit dem ehemaligen Kolonisator als das Sichtbarmachen von (besonders in Frankreich) verdrängten Erinnerungen zu beabsichtigen. In einer Kondensation aus zahlreichen Fragmenten der franko-­algerischen Geschichte verarbeitet er verschiedene Ereignisse, die anhand der Erlebnisse der drei Brüder geschildert werden. Neben Gedächtnisorten wie Sétif, Indochina, Nanterre und dem 17. Oktober 1961 thematisiert der Film auch das unerbittliche Vorgehen der FLN gegen inneralgerische Feinde. Der Hauptteil der Handlung zeichnet nämlich die Aktionen der Fédération de France du FLN nach, deren Aufgabe es ist, die algerischen Migranten in Frankreich zu mobilisieren und den Einfluss der MNA zu unterdrücken. Ebenfalls erinnert Hors-­la-loi an die porteurs de valises und damit an eine Gruppe, die nur in wenigen Filmen wie Les Sacrifiés (1982) oder Nuit Noire (2005) vordergründig präsent ist. 307

Mit der Konzentration auf die algerischen Protagonisten und deren Involvierung in die FLN vertritt der Film zwar folglich eine überwiegend algerische Perspektive; diese ist jedoch in sich gespalten, und somit lässt Hors-­la-loi trotz seiner scheinbar einseitigen Positionierung auch Raum für kritische Reflexionen. Die direkte Verhandlung der Kolonialverbrechen sowie vor allem die Schilderung der Ereignisse von Sétif aus algerischer Sicht bieten allerdings genügend Anlass, um französischen Protest auszulösen. Gleichzeitig sorgt der teils kritische Blick auf das Vorgehen der FLN in Algerien für Unmut. Der Film ist somit ein Beispiel dafür, wie sich Erinnerungen auch innerhalb ‚einer Seite‘ zwischen offiziellem Gedächtnis und anderen Perspektiven bewegen. Es interessiert im Folgenden also mehr die Frage danach, welche Aspekte abgerufen werden und Ungesagtes verbreiten, als seine Machart, die häufig als hollywoodartig und als Genremischung aus Geschichts-, Action- und Agentenfilm beschrieben wird (vgl. Stora 2010). Zunächst soll kurz der Kontext seines Erscheinens in Frankreich berücksichtigt werden, da hier besonders deutlich wird, wie das Erinnern an den Algerienkrieg – aus einer (in Frankreich) nicht mehrheitsgetragenen Sichtweise – weiterhin einem Pulverfass gleicht. Hors-­la-loi hat bereits vor seiner Präsentation in Cannes im Mai 2010 und seinem Kinostart im September desselben Jahres heftige Debatten in Frankreich ausgelöst, die zum Teil enorme Ausmaße angenommen haben. Neben den vielleicht zu erwartenden Demonstrationen von Assoziationen der rapatriés gegen den Film (in Cannes und auch bei der Vorpremiere in Marseille) wurde im Vorfeld gar eine politische Kampagne von Regierungsvertretern geführt, die Boucharebs Auslegung der Geschichte anklagt. Es scheint, als hätten die beteiligten rechtskonservativen Politiker und Kriegsveteranen sich daran versucht, den Film selbst als „gesetzlos“ (hors-­la-loi) und damit als unzumutbar für die französische Öffentlichkeit zu definieren. Beanstandet wurde seine angeblich „falsche“ Interpretation der Geschichte, die ihn in den Augen seiner Widersacher quasi „hors l’histoire“, also außerhalb der dominierenden Geschichtserzählung, positioniert. Besonders die Darstellung der Massaker von Sétif 1945 haben die Gemüter der rapatriés und Veteranen erzürnt und brachten Bouchareb den Vorwurf einer antifranzösischen Provokation ein. Angestiftet wurde die Kampagne gegen Hors-­la-loi insbesondere von dem UMP-­ Abgeordneten Lionnel Luca, der den Film, ohne ihn gesehen zu haben, lediglich auf Basis des (vorläufigen) Drehbuchs verurteilte. Mit der Bitte, das Erscheinen des Films nicht zu unterstützen, wandte sich Luca an den Staatssekretär im Ver-

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teidigungs- und Veteranenministerium Hubert Falco.331 Letzterer hatte bereits den Geschichtsdienst des Ministeriums (SHD) zur Überprüfung des Drehbuchs eingeschaltet, und bestätigte Luca die vermeintlichen Fehler, Anachronismen und Unwahrscheinlichkeiten, die der SHD aufgedeckt hatte.332 Ziel der Politiker war es, den Film, der durch seine eigenwillige Interpretation der Geschichte Frankreich angeblich diffamiere, von der offiziellen Auswahl in Cannes auszuschließen und eine weitere Unterstützung mit staatlichen Geldern zu verhindern.333 Ohne nun ausführlicher auf den weiteren Verlauf der Debatte einzugehen, zeigt dieses Beispiel doch deutlich, wie Akteure der französischen Politik Ansprüche der Konformität an das Medium Kino stellen und versuchen, in das öffentliche Erinnern einzugreifen. Hors-­la-loi nahm letztlich unter verschärften Sicherheitsvorkehrungen am Wettbewerb in Cannes teil. In den Straßen versammelte sich vor großem Polizeiaufgebot eine Demonstration von ca. 1.000 Menschen zu Ehren der französischen Opfer der Ereignisse in Sétif 1945 und der des Algerienkriegs. Zu den Demonstranten zählten neben Veteranen, pieds-­noirs und harkis auch Anhänger des Front National ebenso wie UMP-­Abgeordnete und der Bürgermeister von Cannes.

Sétif als algerischer Erinnerungsort und Neurahmung des Algerienkriegs All dieser Aufruhr um den Film und seine Darstellung der Massaker von Sétif ist insofern beachtlich, als Hors-­la-loi in seinem Handlungsverlauf hauptsächlich die Entwicklung und Aktionen der FLN in Frankreich sowie die daraus resultierende Zerrissenheit der drei Brüder fokussiert. Die Sétif-­Sequenz umfasst nur – aber immerhin – knapp neun Minuten des Films. Sie steht jedoch am Anfang und entfaltet gerade durch ihre Intensität der dargestellten französischen Gewalt 331 Mehrere Intellektuelle drückten ihr Unbehagen gegenüber der befürchteten Beschneidung der Meinungsfreiheit aus, so z. B. Filmemacher wie Yasmina Adi, Schriftsteller wie Didier Deaninckx und Historiker wie Pascal Blanchard, Mohammed Harbi, Benjamin Stora oder Sylvie Thénault. Veröffentlicht wurde ihre Stellungnahme auf http://www.lemonde.fr/festival-­de-cannes/article/2010/05/05/le-­film-hors-­laloi-­de-rachid-­bouchareb-les-­guerres-de-­memoires-sont-­de-retour-­par-yasmina-­ adi-didier-­daeninckx_1346714_766360.html. 332 Ebenso versicherte er ihm eine Unterstützung im Feldzug gegen den Film: „Au vu de ces éléments, et sous réserve que la version définitive du film n’y apporte aucun correctif, il semble difficile que les pouvoirs publics puissent soutenir un film qui livre de notre histoire une version aussi peu crédible“ (zitiert in ebd.). 333 Die französisch-­ algerisch-tunesisch-­ italienisch-belgische Koproduktion wurde größtenteils von französischer Seite finanziert (CNC, Kanäle von France Télévisions, aber auch Kiss Films, die Gesellschaft von Jamel Debbouze). Der Film umfasste ein enormes Budget von 20 Mio. Euro (davon 25 % algerische Gelder).

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und angesichts der langen Abwesenheit dieser Ereignisse im öffentlich-­medialen Raum eine große Wirkkraft. Auch in den folgenden Betrachtungen nimmt die Sétif-­Sequenz verhältnismäßig viel Platz ein, um der Diskussion um dieses Tabuthema und der Funktion dieser Sequenz auf den Grund zu gehen. Im Anschluss wird gezeigt, dass der Film insbesondere über die Figurenebene dennoch auch eine Mehrdimensionalität erzeugt, die seinen Blick auf die franko-­algerische Geschichte komplexer und widersprüchlicher werden lässt, als es zunächst scheint. Hors-­la-loi verhandelt chronologisch Erinnerungsdaten und -orte des algerischen Gedächtnisses, die teleologisch auf die Befreiung Algeriens zulaufen und diese argumentativ stützen. Die Eröffnungssequenz beginnt mit der Enteignung der Familie von Abdelkader, Messaoud und Said im Jahre 1925 und zeigt, wie die Protagonisten bereits im Kindesalter von der Erfahrung des Unrechts geprägt werden. Gewissermaßen als Ursprungsverbrechen begründet der koloniale Landraub hier, ähnlich wie in frühen algerischen Filmen, den späteren Kampf für die Unabhängigkeit. Das algerische Land bzw. die Erde wird dafür in den Anfangsszenen mehrmals symbolisch als mit den Figuren verbunden inszeniert. Die ersten Einstellungen des Films fokussieren die Äcker der Familie. Aus der Ferne rückt dann der Kaid in Begleitung zweier Gendarmen an.334 Er vollstreckt die Enteignung durch ein „bloßes Stück Papier“, wie die Mutter feststellt, welches das Grundstück in den Besitz eines Europäers überführt und die traditionelle Rechtsprechung außer Kraft setzt. Die seit Generationen bestehende Bindung der Familie an ihr Land wird gewaltsam gebrochen und der Film zeigt, wie die koloniale Rede der Fruchtbarmachung des Bodens in Wirklichkeit Enteignung durch Machtmissbrauch bedeutetet. Als Zeichen der Verbundenheit mit ihrem Land schaufelt die Mutter (in Großaufnahme fokussiert) mit ihren Händen Erde in ein Tuch, das sie mitnimmt. Der Vater greift ebenfalls Erde auf und lässt sie durch seine Hand rieseln, während er zu seinen Kindern spricht: „N’oubliez pas que cette terre est la vôtre. Elle vous a vu naître et grandir. Aujourd’hui, on nous en chasse. Que Dieu les punisse“.335 Es folgt der Auszug der Familie und das Motiv für den weiteren Handlungsverlauf ist angelegt. Von dort aus macht der Film einen zeitlichen Sprung in das Jahr 1945.

334 Said rächt sich später an dem Kaid und ersticht ihn im Jahre 1954, als die Anschläge der FLN begonnen haben. 335 Das Zitat entstammt den französischen Untertiteln. Die Sprache des Films ist größtenteils Arabisch, versetzt mit französischen Anteilen. Die Dominanz des algerischen Arabisch ist ein weiterer Faktor, der dem Film eine algerische Stimme verleiht.

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Nach den Massakern wird Abdelkader abgeführt, vorbei an den aufgereihten Leichen in den Straßen. Rachid Bouchareb: Hors-la-loi (2010): 00:15:13.

Die kausale Verbindung zwischen verschiedenen Ereignissen, die auf den Unabhängigkeitskrieg zusteuern, und die argumentative Positionierung für die algerische Befreiung werden über die Gesamtkomposition des Films hervorgehoben, in der die Sétif-­Sequenz eine bedeutende Funktion einnimmt. Als Eckpunkte rahmen die Ereignisse des 8. Mai 1945 zu Beginn (nach der beschriebenen Eingangssequenz) und Szenen der algerischen Unabhängigkeitsfeier zum Abschluss die gesamte Narration. Das zweifach historisch belegte Datum des 8. Mai – einmal durch das Ende des Zweiten Weltkriegs, einmal durch die Massaker in Algerien – bildet auch filmisch in dieser Dopplung den Ausgangspunkt des nachgezeichneten Dekolonisationsprozesses. Die Siegesfeier in Frankreich setzt sich ebenso wie die Feier zur algerischen Unabhängigkeit am 5. Juli 1962 aus dokumentarischem Archivmaterial zusammen. Während in den Szenen in Frankreich die Trikolore bunt aus dem Schwarz-­Weiß-Bild hervorsticht, wird dies am Ende umgekehrt und die algerische Fahne als Symbol der Befreiung farbig hervorgehoben. Auch der Filmtitel erscheint nun im Gegensatz zum Filmanfang in anderer Reihenfolge, und zwar erst auf Arabisch, dann auf Französisch. Der dokumentarische Modus am Anfang und Ende des Films zieht dabei nicht nur eine formale Verbindung, anhand derer die Umkehrung der kolonialen Verhältnisse betont wird. Er setzt darüber hinaus eine authentifizierende Klammer, die eine bezeugende Funktion für das Gezeigte hat und so auch eine Nähe zu den Traditionen des algerischen Kinos herstellt.

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Durch seine selektive Darstellung der Ereignisse von Sétif aus algerischer Perspektive bezieht der Film Position für diese, was die ablehnende Reaktion vieler Franzosen erklärt. Die Härte des Vorgehens der französischen Kolonialmacht gegenüber den Algeriern wird durch die kontrastive Dopplung des 8. Mai 1945 hervorgehoben. Die dokumentarische Montagesequenz zur französischen Siegesfeier endet mit einem Kamerablick auf die jubelnde Menschenmasse und geht in einer Art match cut unmittelbar über in ein nun farbliches Bild, das die Massen in den Straßen von Sétif präsentiert, zunächst in der Supertotalen, dann auch in Nahaufnahmen. Ähnlich wie in Chronique336 werden die Ereignisse in Frankreich und Algerien direkt verbunden und gegenübergestellt; durch diese Anordnung wird die ungleiche Auslegung des Völkerrechts auf Freiheit, von dem die Kolonisierten in der politischen Praxis ausgeschlossen wurden, offenbart. Anders als in Chronique und im Gegensatz zu den Szenen in Frankreich wird das Geschehen in Sétif hier fiktional entfaltet, was eine deutlicher positionierte Auslegung ermöglicht. Neben Aufnahmen der demonstrierenden Masse, die das algerische Kollektiv repräsentiert, werden die Ereignisse in Anlehnung an die Erlebnisperspektiven von Abdelkader und Said verfolgt und durch diese Nähe zu den Figuren auch das individuelle Leid stärker vermittelt.337 In einer Parallelmontage zwischen Szenen der Demonstration, an der Abdelkader teilnimmt, und Szenen des von Said unterstützten Boxkampfes wird die sich anbahnende Gewalt inszeniert. Während die Demonstranten friedlich, aber bestimmt durch das europäische Viertel voranschreiten, gehen französische Soldaten in Stellung, ebenso positionieren und bewaffnen sich die europäischen Anwohner. Ein Auto fährt vor den Demonstrationszug, der heraustretende Mann versucht einem Jungen an der Spitze die algerische Fahne zu entreißen, nach kurzem Gerangel erschießt er ihn frontal. Daraufhin bricht ein Tumult los, die Soldaten und Europäer auf den Balkonen schießen wahllos auf die in alle Richtung flüchtenden Algerier. Häuser werden gestürmt und Unbeteiligte in den Straßen niedergeschossen. Einige Soldaten dringen zum Platz des Boxkampfes vor und feuern auf die flüchtenden Menschen. Said kann entkommen. Er stürzt sich über seinen toten Vater auf der Straße; im Wohnhaus der Familie findet er seine zwei Schwestern, die niedergeschossen im Treppenhaus und in einem Zimmer am 336 In Chronique wurde jeweils Archivmaterial verwendet. 337 Bereits hier stellt sich eine Opposition zwischen den Interessen der Brüder heraus. Abdelkader tritt eifrig und vorneweg im Demonstrationszug für die Freiheit Algeriens ein, wohingegen Said sich auf den Boxkampf seines Schützlings konzentriert. Messaoud ist womöglich noch als Soldat in Frankreich. Die auf die Sétif-­Szenen folgende Sequenz zeigt ihn beim Einsatz in Indochina 1954.

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Boden liegen. Seine Mutter ist die einzig Überlebende und sackt unter der Trauer vor Said zusammen. Unterdessen hat sich Abdelkader zu einer Familie flüchten können, wird dann aber gemeinsam mit dieser aus dem Haus gezerrt und zuletzt durch von Leichen übersäte Straßen abgeführt. Von Abdelkaders Perspektive löst sich die Kamera und erfasst demonstrativ aus der Supertotalen die Masse der aufgereihten toten Körper, deren lineares Arrangement zugleich künstlich und erschreckend wirkt und das Ausmaß der Gewalt visualisiert. Insgesamt kondensiert die Sétif-­Sequenz das historische Geschehen in einem intensiven Bild der kolonialen Gewalt, das sich aus choreographierten Angriffsszenen, Massenerschießungen und dem Einsatz von militärischem Gerät zusammensetzt. Im Unterschied zu den kurz eingeblendeten, bezeugenden Archivaufnahmen in Chronique, die keinen Bezug zu den Figuren aufweisen und damit schneller übersprungen werden, vermittelt Hors-­la-loi die Ereignisse als erster Film ausführlicher und aus einer bestimmten Sichtweise. Über die Verbindung zu den Protagonisten zielt er auf eine größere emotionale Wirkung; die individuellen Erfahrungen, der Schmerz des Verlusts von Vater und Schwestern, appellieren eingängig an die Empathie der Zuschauer. Die teils berechtigte Kritik an der Sétif-­Sequenz – auch seitens Historiker wie Benjamin Stora – äußerte sich dahingehend, dass die Ereignisse stark verkürzt wurden, was allerdings zugleich als für einen Spielfilm üblich angesehen wird. Die Darstellungen beschränken sich auf einen Tag und Ort, obwohl die Gewalt sich damals über mehrere Wochen ausbreitete und auch die Regionen um Kherrata und Guelma erfasste.338 Stärker angeprangert wurde von französischer Seite, dass der Film das Massaker an den europäischen Siedlern ausgeklammert. Er verarbeitet quasi den Beginn der Gewalt an den Algeriern während der Demonstration 338 Ein Abgleich von historischen Fakten und der filmischen Darstellung wird nicht als sinnvoll erachtet. Dennoch soll der historisch-­politische Rahmen kurz erwähnt werden. Bereits am 1. Mai fanden in mehreren Städten Demonstrationen für die Freilassung von Messali Hadj statt, die sich am 8. Mai mit Forderungen der Freiheit der Algerier fortsetzten. Nachdem die Polizei einen jungen Mann mit algerischer Flagge angegriffen hatte, folgten Ausschreitungen, Schießereien und Massakrierung von Europäern. In den folgenden Tagen breiteten sich europäische Bürgermilizen aus und es fand eine großangelegte Repression durch das Militär statt. Die Opferzahlen der Europäer wird mit 102 Toten angegeben, die algerische Opferzahl bleibt ungenau, schwankt zwischen einigen tausenden bis zur von FLN angegeben Zahl von 45.000. Untersuchungen wurden damals abgebrochen und keine Aufklärung vorgenommen. Die Datenlage zu den Ereignissen bleibt somit selbst unklar. (Siehe Harbi in: „La guerre d’Algérie a commencé à Sétif “, http://www.monde-­diplomatique.fr/2005/05/ HARBI/12191).

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(Schuss der Polizei) sowie die heftigen französischen Repressionen in der Folge. Die an Europäern verübte Gewalt, die dem großen militärischen Vergeltungsschlag vorausging, wird jedoch elliptisch umgangen. Tatsächlich ist diese Darstellung somit einseitig und konzentriert sich auf die Brutalität des Militärs sowie der Europäer, die hier sofort als Bürgermiliz bewaffnet werden und fast lustvoll auf alle Algerier schießen, die sich noch in den Straßen bewegen. Der Fokus auf eine unmittelbar ausartenden Gewalt an den Algeriern – ohne den Blick auf die andere Seite – kann als narrative Verdichtung der Gewaltereignisse gesehen werden, die ihre Funktion gerade darin hat, das algerische Trauma zu beleuchten. Außerdem werden wiederum auch die französischen Repressionsmaßnahmen nicht in ihrem vollen Umfang (Einsatz von weiterer Kriegsmaschinerie) inszeniert. Über die dennoch deutliche Darstellung der französischen Gewalt erinnert der Film exemplarisch an die insgesamt an den Algeriern verübten Kolonialverbrechen und Grausamkeiten. Die Bedeutung von Sétif, Guelma und Kherrata als kollektives Trauma, das sich in das algerische Gedächtnis eingeschrieben hat und die Entwicklung der Unabhängigkeitsbewegung deutlich beeinflusste, wird durch die dramatische und auf die Algerier fokussierte Darstellung hervorgehoben. In diesem Sinne liegt die Funktion der Sequenz vor allem darin, die Gedächtnislücken, „trous de mémoire“ (Stora 2010), über die Ereignisse 1945 zu füllen.339 Mit der Darstellung von Sétif als stellvertretendes und bedeutendes Ereignis der französischen Gewaltherrschaft legitimiert der Film nicht nur den Unabhängigkeitskrieg, sondern verankert diesen selbst vor seinem offiziell definierten Beginn am 1. November 1954. Damit wird der Kampf der Algerier für ihre Unabhängigkeit über den von der FLN gesteckten Rahmen hinaus entworfen, auch wenn sich die weitere Handlung auf die Aktivitäten der FLN konzentriert. Die historische Radikalisierung der nationalen algerischen Bewegung infolge der Massaker 1945 spiegelt sich im Film. Abdelkader befindet sich seit 1945 in französischer Gefangenschaft; er wird dort weiter überzeugt, für die algerische Freiheit zu kämpfen. Eine Sequenz zitiert hierfür deutlich die prägenden Erlebnisse im Gefängnis, die auch Ali ähnlich in La Bataille d’Alger erfährt. Dabei wird ein Algerier zur Hinrichtung abgeführt und im Hof exekutiert, was Abdelkader in Hors-­la-loi, ebenso wie Ali in La Bataille d’Alger, mit Schrecken verfolgt. Noch 339 Zwar wurde Hors-­la-loi die einseitige ‚Füllung‘ der Gedächtnislücke vorgeworfen und der Film war weitaus weniger erfolgreich als Indigènes. Andererseits wird Sétif als das Diskussionsthema schlechthin in die öffentliche Erinnerung zurückgebracht. Hors-­la-loi entfaltet also trotz oder auch gerade durch die negativen Reaktionen seine Wirkungskraft.

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im Gefängnis bekundet Abdelkader bei einem Besuch von seiner Mutter seine Berufung zum combattant, die den weiteren Verlauf der Handlung bestimmt. Vor seiner Freilassung wird er mit der Mobilisierung der Algerier und dem Aufbau der FLN in Nanterre beauftragt. Der Bezug zu La Bataille d’Alger unterstützt die Positionierung des Films für die algerische Befreiung, indem sich dieser hier intertextuell in einen antikolonialen Diskurs einschreibt. Das Auslassen der pied-­noir-Perspektive knüpft ebenfalls an antikoloniale algerische Filme an und reflektiert die Tatsache, dass die verschiedenen Erinnerungen in der Realität überwiegend noch getrennt verhandelt werden.

Zwischen verschiedenen Positionen und tradierten nationalen Heldenmustern Anders als die Filme des cinéma moudjahid, die sich auf Kriegserfahrungen in Algerien konzentrieren, fokussiert der Hauptteil von Hors-­la-loi das Agieren der FLN im Pariser Untergrund und erstreckt sich von 1955 bis zum 17. Oktober 1961. Der Film greift so einen weniger repräsentierten Teil der franko-­algerischen Vergangenheit auf. Durch die räumliche Verlagerung der Handlung nach Paris trägt er die Erinnerung an den Krieg nach Frankreich und stellt eine Verbindung zur Migrationsgeschichte her. Ebenfalls im Unterschied zu frühen Filmen, in denen das Kollektiv im Vordergrund steht, entfaltet Hors-­la-loi seine Erzählung mit Fokus auf individualisierte Protagonisten. Die Einzelgeschichten und Beziehungen der drei Brüder im Kontext des politisch-­historischen Geschehens bilden die zentrale Achse. Wie der Film sich einerseits in den nationalen algerischen Diskurs einschreibt, andererseits aber über Handlungsaspekte und Figuren eine einseitige FLN-­nahe Perspektive aufbricht, wird im Weiteren herausgearbeitet. Bereits die Konstellation der drei Protagonisten bringt eine Mehrstimmigkeit hervor, die eine einzige fixierte Positionierung hinterfragt. Die drei Hauptfiguren gehen unterschiedliche Wege und verfolgen teilweise konträre Interessen und Ziele. Abdelkader wird nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis zu einem bedeutenden lokalen Akteur der FLN und widmet sich bedingungslos dem Kampf für die algerische Unabhängigkeit. Aus Indochina zurückgekehrt, schließt sich Messaoud seinem Bruder an, obwohl er sich geschworen hatte, nie mehr zu morden. Beide Figuren entscheiden sich für den algerischen Freiheitskampf und stellen ihre individuellen Belange hinter dieses übergeordnete Ziel zurück. Messaoud heiratet und bekommt einen Sohn, er vernachlässigt seine junge Familie jedoch, um für eine bessere Zukunft der Algerier zu kämpfen. Said verfolgt im Gegensatz zu seinen älteren Brüdern seine persönlichen Interessen. Er war mit seiner Mutter bereits vor Abdelkaders Freilassung nach Paris gezogen. Anders als die meisten Immigranten, die für einen Hungerlohn in den 315

Fabriken Renaults arbeiten, verdient Said sein Geld zum Missfallen seiner Mutter als Zuhälter in Pigalle. Er schafft es, sich als Teilhaber ein Cabaret mit ‚orientalischen‘ Tänzerinnen aufzubauen und parallel dazu seinen Traum eines eigenen Boxstudios zu verwirklichen. Seine Brüder stehen seinen Geschäften und Machenschaften im Rotlichtmilieu kritisch gegenüber. Ihr Druck auf Said verstärkt sich mit den verschärften Direktiven der FLN, die Steuern von allen Algeriern zur Finanzierung des antikolonialen Kampfes fordert, außerdem in die Lebensweise der Algerier eingreift und bei Verstoß eine Bestrafung, ja sogar eine Lizenz zum Töten, anordnet. Said ignoriert trotz Warnungen seiner Brüder die Regeln der FLN (z. B. Rauch- und Alkoholverbot) und hält unbehelligt an seinem Lebensstil fest. Anhand der verschiedenen Positionen und dadurch entstehenden Konflikte der Protagonisten erzeugt der Film eine relative Komplexität im Vergleich zu vielen vorangegangenen Werken. Die Figuren werden zwar auch hier heroisiert, zugleich aber widersprüchlicher entworfen. Bei Abdelkaders Mission, den Einfluss der FLN zu stärken, wird vor keinen Mitteln zurückgeschreckt. Die politisch verfeindete MNA, die zunächst zahlenmäßig überlegen ist, wird ebenso bekämpft wie die französische Polizei. Als bedeutender Antagonist stellt sich hier Colonel Faivre heraus, der die Zerschlagung der FLN und die Verfolgung Abdelkaders aufnimmt und dazu eine Kampftruppe – die Main Rouge – organisiert, um die „Terroristen zu terrorisieren“. Gewalt und Verhärtungen finden sich auf beiden Seiten. Die Polizei und die Main Rouge sind verantwortlich für Folter, Ertränkungen in der Seine und Bombenexplosionen in Nanterre. Die FLN verbucht auf ihrem Konto Angriffe auf die Polizeipräfektur sowie auf einen Militärkonvoi von harkis, außerdem Ermordungen von MNA-­Anhängern und angeblich verräterischen Algeriern. Die Fronten sind klar, allerdings reduziert Hors-­la-loi die Oppositionen nicht auf ein einfaches „die Guten (Algerier) versus die Bösen (Franzosen)“. Zum einen verweisen die Konflikte mit der MNA auf Uneinigkeiten der Algerier. Zum anderen durchbrechen Figuren wie die französische FLN-­Unterstützerin Hélène oder ein ehemaliger Résistancekollege von Faivre, der der FLN falsche Pässe ausstellt, die (national konzipierten) Fronten. Über diese Figuren wird an die Gruppe der filmisch oft am Rande stehenden porteurs de valises340 erinnert. Ebenfalls selten thematisiert und hier ausgesprochen werden Strategien der FLN, die diese mitunter wenig glorreich erscheinen lassen. Um ‚Überzeugungsarbeit‘ zu leisten und Unterstützung für die FLN zu erreichen, nehmen sowohl 340 Hélène sorgt für Abdelkaders Untertauchen und nähert sich ihm an. Nachdem er letztlich ihre Gefühle erwidert und sie für einen Auftrag nach Deutschland mitnehmen will, explodiert Hélènes Wagen durch eine Autobombe.

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die führenden FLN-­Köpfe als auch Abdelkader Gewalt an Unschuldigen in Kauf. Als Abdelkader mit der Organisation der Demonstration vom 17. Oktober beauftragt wird und dabei vor einem Blutbad warnt, gibt die Parteispitze in Genf zu verstehen, dass gewaltsame Repressionen der Revolution durch ihre erhöhte internationale Aufmerksamkeit dienlich sind. Ähnliche Aussagen finden sich auch in anderen Szenen und machen deutlich, wie die FLN die Massaker einkalkuliert hat.341 Während die Position der FLN durch Figuren wie Abdelkader repräsentiert wird und sich durch gnadenlose Todesurteile für alle Widersacher charakterisiert, hegen die Figuren teilweise selbst Zweifel an den Vorgehensweisen. Die Radikalisierung und Gewaltanwendung von Abdelkader und seinen Mitstreitern ist zwar insgesamt in der Logik des antikolonialen Kampfes begründet, aber nicht unbedingt immer (für die Zuschauer und auch Figuren wie Said) verständlich. Das brutale Vorgehen und die bedingungslose Ausführung der FLN-­ Anordnungen bewirken eine mögliche Distanz zu den Figuren. Die Ermordung des MNA-­Restaurantwirts relativ zu Beginn der Mobilisierungsmission ist bereits ein radikaler Rückschlag gegen die vorausgegangenen Drohungen des Wirts, der Abdelkader und Messaoud zwar angegriffen, sie aber entkommen lassen hat. Vor allem aber für die Zuschauer kaum nachvollziehbar scheint der Mord an einem algerischen Familienvater, der der FLN seine Zahlung scheinbar vorenthalten hat, um sich damit einen Kühlschrank zu finanzieren. Messaoud hätte es lieber bei einer Verwarnung belassen, schreitet dann aber auf Anweisung Abdelkaders zur Tat, um mit dieser vermeintlich notwendigen Abschreckungsbotschaft das Gelingen der ‚Revolution‘ zu sichern. Ein Sympathisieren mit den Figuren ist also nur bedingt möglich und wird durch derartige Aktionen gebrochen, die auch bei Befürwortern der algerischen Unabhängigkeit wohl weniger Zustimmung hervorrufen dürften. Zweifel an der Richtigkeit dieser Tat werden durch innere Konflikte der Figuren untermalt. Indem diese teilweise von Gewissensbissen zerrissen sind, werden sie wiederum nicht komplett als gefühllose oder schablonenhafte Helden der gemeinsamen Sache dargestellt. Abdelkader scheint noch am ehesten einem typischen moudjahid zu entsprechen; er setzt die Anordnungen der FLN um und vollstreckt Todesurteile auf Grundlage der Doktrinen. Dabei stellt er das Ziel der Unabhängigkeit über alles und versagt sich jegliche Gefühle, allerdings gelingt ihm dies nicht ausnahmslos. Eine deutlicher ambivalente Haltung zeigt sich bei Messaoud, der sich innerlich gegen die brutale Vorgehensweise der FLN wehrt, zugleich aber aufgrund seiner militärischen Erfahrungen oft der ausführende 341 Dies wird auch in Tasmas Nuit Noire deutlich thematisiert.

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Mörder ist. Er gesteht seiner Mutter weinend seine Untaten und begründet sich diese selbst mit dem hohen politischen Ziel der algerischen Befreiung, deren Richtigkeit für ihn die Mittel rechtfertigt, aber eben nicht heiligt. Die Überwindung für das kollektive Ziel betont einerseits das eigene Opfer der Figuren (bezüglich ihrer Moral, persönlichen Belange und letztlich ihrer Selbst) und kann somit wiederum als Heroisierung gelesen werden; andererseits wird hier ein Raum für Kritik eröffnet. Der Film erzeugt so insgesamt eine Spannung aus Nähe und Distanz zu den Figuren, die ein eindeutiges Sympathisieren mit ihnen erschwert. Said stellt zudem mit seinem eigensinnigen Weg ein deutliches Gegengewicht zur FLN-­Perspektive dar. Er teilt den Kampf und auch die Ideologien seiner Brüder nicht, wird letztlich sogar selbst von der FLN bedroht. Ein Höhepunkt des Konflikts unter den Brüdern entfacht sich um den von Said ersehnten Boxkampf, der den Widerspruch zwischen der Verwirklichung persönlicher Träume und dem kollektiven Ziel der Unabhängigkeit signalisiert. Said will einen algerischen Jungen in den großen Boxkampf um den französischen Meistertitel schicken und damit auf seine Art die Franzosen besiegen. Laut FLN und auch in der Überzeugung Abdelkaders ist dies jedoch Verrat, denn ein Algerier solle erst boxen, wenn er für sein eigenes Land antreten könne. Abdelkader und Messaoud wollen Said somit den Kampf ausreden und warnen davor, dass die FLN ihn umbringen wird. Am Ende halten die Brüder aber zusammen, was nicht nur den Stellenwert der Familie, sondern doch wiederum auch die Idee eines geschlossenen Kampfes andeutet.342 Vermittelt die Figureninszenierung einerseits Konflikte, fördert sie zugleich eine Heroisierung, die zusammen mit dem Hang des Films zum Spektakulären eine differenziertere Annäherung an historische Fakten in den Schatten stellt.343 Priorität haben Kampfszenen und Heldeninszenierungen. Einen Höhepunkt à la Actionfilm stellt das Feuergefecht in Valenciennes gegen Faivres Main Rouge dar, bei dem Abdelkader und Messaoud ihren Angreifern heroisch trotzen. Auch Said wird hier letztlich zum mutigen Helden. Er erfährt von dem Einsatz der Polizei (auf Basis eines Geständnisses von einem gefolterten FLN-­Mitglied) und fährt mit seinem Auto waghalsig mitten in das ‚Schlachtfeld‘, um seine Brüder zu retten. Messaoud stirbt noch auf der Flucht im Auto an den Folgen einer Schussverlet342 Abdelkader schützt seinen Bruder am Ende, indem er Said in letzter Sekunde dazu drängt, den großen Boxkampf nicht stattfinden zu lassen, da die FLN bereits in der Arena wartet, um Said und seinen Zögling zu ermorden. 343 Stora und de Rochebrune kritisieren z. B. die vordergründigen Hollywoodmuster und Gewaltinszenierungen: „Le seul programme politique, c’est la violence, une violence héroïsée“ (Stora / de Rochebrune 2010: 90).

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zung. Auch Abdelkader erlebt die algerische Unabhängigkeit nicht mehr. Auf der Flucht vor Faivre nach dem verhinderten Boxkampf retten Said und Abdelkader sich in eine Metro; der Zug mit zahlreichen Algeriern an Bord hält jedoch an der nächsten Station, an der Demonstranten des 17. Oktober bereits von der Polizei umzingelt und geschlagen werden. Abdelkader wird in dem Gerangel erschossen; er liegt als gefallener Held am Boden. Faivres Worte an den Toten („Tu as gagné“) bestärken dies. Entsprechend der typischen Darstellungen von FLN-­Kämpfern im cinéma moudjahid werden die Protagonisten (mit Ausnahme des Quergängers Said) also zu Märtyrern und opfern sich dem kollektiven Ziel. Der Film weist so neben seinen publikumswirksamen Genrebezügen letztlich doch auch eine Verbindung zum frühen algerischen Kriegskino auf.

Résumé Hors-­la-loi stellt einen Versuch dar, algerische Erinnerungen und verdrängte Aspekte der franko-­algerischen Geschichte nicht zuletzt auf der französischen Leinwand sichtbar zu machen. Zugleich ermöglicht er trotz seiner durch seine Heldenfiguren und weiterer Mittel erzeugte Nähe zum cinéma moudjahid ein Hinterfragen der Vorgehensweisen der FLN. Sein Erinnerungsgerüst besteht vor allem aus Aspekten, die in Frankreich quasi tabuisiert sind und auch insgesamt – im französischen und algerischen Kino – wenig filmisch verhandelt wurden. Die öffentlichen Diskussionen um den Film zeigen, wie das ‚Eindringen‘ der größtenteils algerischen Erinnerungen in das ‚Hoheitsgebiet‘ des französischen Gedächtnisraums von einigen Seiten vehement bekämpft wird und der Film ein regelrechtes Austragen der guerre de mémoires auslöst. Insgesamt stehen die Filmbeispiele dieses Kapitels dafür, wie die franko-­ algerische Geschichte auf verschiedenste Weise neu aufgerollt und fragmentiert wird – sowohl innerfilmisch als auch in Bezug auf die Gesamtentwicklung des transnationalen Korpus. Durch das Aufzeigen von Differenzen und Konflikten innerhalb der scheinbar abgegrenzten Einheiten colonisé und colonisateur durchbrechen die Filme klare Fronten und machen die Widersprüche der kolonialen Identitätskonstruktion sichtbar. Deutlich wird, wie sich die Geschichte in verschiedene und gegensätzliche Gedächtnisse und Geschichten teilt und aus einer transnationalen, mehrdimensionalen Perspektive neu erzählt wird. Jeweils auf verschiedene Weise drücken sich dabei die spannungsgeladenen guerres de mémoires und auch die Verbindungen über nationale Grenzen hinweg aus. Die Annahme verschiedener konkurrierender Erinnerungen gestaltet sich weiterhin durchaus schwierig, wie besonders die Reaktionen auf Hors-­la-loi und auch auf Lledos Dokumentarfilme zeigen. Dennoch stellen die Ansätze einiger Filme den 319

Versuch dar, die franko-­algerische Geschichte vielfältiger zu betrachten und zugleich die Anerkennung für bestimmte Gruppen einzufordern.

4.2. Franko-­algerische Identitäten: Ambivalente und prozessuale Entwürfe Wie die vorangegangenen Kapitel zeigten, entstehen in den 1990er und 2000er Jahren vermehrt Filme, die die nationale Perspektive fragmentieren, indem sie Identitätsforderungen und Geschichten marginalisierter Gruppen vertreten, die Krise der algerischen Nation im Bürgerkrieg thematisieren oder sich auf verschiedene Weise mit Migrationsproblematiken auseinandersetzen. Mit der zunehmenden Verlagerung der Filmproduktion außerhalb Algeriens werden Geschichte und Identität weiter über einen nationalen Rahmen hinaus gedacht. Im Kontext von Migration, der in diesem Teilkapitel näher betrachtet wird, sind die Werke besonders von Deterritorialisierung, Fremdheits- und Verlusterfahrungen geprägt und verarbeiten hybride Prozesse. Parallel zu tragischen Filmen wie z. B. Allouaches L’Autre monde (2001) oder Ameur-­Zaïmeches Bled number one (2005), die die gescheiterte Rückkehr nach Algerien, Terrorismus und gesellschaftliche Kritik aufgreifen, entstehen andererseits Filme, die besonders die dynamischen Bewegungen und Verbindungen zwischen Algerien und Frankreich reflektieren. Während diese Werke diverse Facetten der Gesellschaft sowie konkrete Identitätsfragen im franko-­algerischen Kontext beleuchten, vermitteln sie zugleich inhaltlich und strukturell eine Neukonzeption von Identität selbst, die dessen prozesshaften, instabilen und konstruierten Charakter herausstellt. Für die Untersuchung der Verhandlung von Identität wird im Folgenden zunächst auf ein kleines Korpus aus drei Filmen geblickt, Salut Cousin! (Allouache, 1996), Beur Blanc Rouge (Zemmouri, 2005), Il était une fois dans l’oued (Bensalah, 2005), die sich im komödiantischen Register ansiedeln. Anschließend steht dann als ausführliches Beispiel der Film Exils (Gatlif, 2003) im Zentrum, der auf seinen verschiedenen Ebenen einen deutlich transkulturellen und fragmentarischen Blick auf Identität und Geschichte kommuniziert. Während in früheren (franko-)algerischen Filmen mit Migrationsthematik – wie z. B. Ali au pays des mirages (Rachedi, 1979) oder Prends dix-­milles balles et casse-­toi (Zemmouri, 1981) – und ebenso im cinéma beur Fremdheit, Ausgrenzung und kulturelle Gegensätze betont werden, sind diese Problematiken in den folgenden Beispielen zwar ebenfalls präsent. Zugleich werden hier aber vor allem identitäre Überkreuzungen und Wandlungsprozesse deutlich. Auch die hier untersuchten Filme stellen männliche Nachkommen von Migranten ins Zentrum. Dabei reflektieren sie in Form von Komödien deren Missgeschicke 320

sowie Bewegungen zwischen Algerien und Frankreich. Marginalität ist weiterhin ein Thema, der Fokus verlagert sich aber nunmehr auf einen weiteren Reflexionszusammenhang, der sowohl die Spannungen als auch die transkulturellen Verbindungen im franko-­algerischen Kontext aufzeigt und die Kategorie nationaler Identität hinterfragt.344

4.2.1. Überkreuzungen und Fragilität in Salut Cousin! In seinem einige Jahre nach Bab el-­oued city erschienenen Film Salut Cousin! setzt sich Merzak Allouache mit den Lebensumständen von Migranten in Frankreich auseinander und evoziert sowohl vergangene als auch aktuelle Migrationsbewegungen zwischen den beiden Ländern. Die Situierung des Films in Paris entspricht einer von Benjamin Stora so bezeichneten „Derealisierung“ bzw. filmischen Abwesenheit Algeriens auf visuell-­räumlicher Ebene während des Bürgerkriegs und spiegelt die Exilierung vieler Algerier in diesem Kontext, die auch Allouache selbst erfahren hat (vgl. Stora 2003: 7–11). Zugleich rekurriert der Film durch seine Verortung und Referenzen auf das Genre des cinéma beur, das er allerdings auf eigene Weise umschreibt.345 Im Zusammenhang mit Migration greift er verschiedene Problematiken wie Rassismus, Arbeitslosigkeit und Ausweisung auf, die allesamt Anzeichen einer unsicheren Existenz sind. Durch den algerischen Bürgerkrieg im Hintergrund wird dieses Gefühl verstärkt und gezeigt, dass sowohl die Heimat in Algerien als auch die im Exil ebenso wie die daran gekoppelten Identitätsentwürfe instabil sind. Die vielfältigen Figuren des Films – Migranten der zweiten Generation, illegale Einwanderer oder ein algerischer Jude – repräsentieren verschiedene Gruppen

344 Die untersuchten Filme können beispielhaft für ein cinema of transvergence (Higbee 2007, siehe II.4.2.) gesehen werden, das Prozesshaftigkeit und Ambivalenz in besonderem Maße ausdrückt. 345 Cornelia Ruhe zeigt ausführlich, wie der Film auf Muster des cinéma beur zurückgreift und die dort etablierten Klischees selbstreflexiv unterläuft (siehe Ruhe 2006: 191–222). Der Film erneuert Ruhe zufolge das cinéma beur, indem er Zuschreibungen von Zentrum und Peripherie in Frage stellt und Genremerkmale umschreibt (Paris wird hier zur ‚Verlängerung‘ Algeriens; der in vielen Filmen auftauchende Koffer, der an die alte Heimat erinnert und Fremdheit symbolisiert, wird hier am Ende gesprengt, vgl. ebd.: 204–214). Die Neugestaltung des Genre beur und die Paarung mit Referenzen populärer Genres wie der Komödie drückt gerade die Hybridität des Films selbst aus, der exemplarisch auch für ein (offener definiertes) cinema of transvergence steht.

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und schreiben die Kolonialgeschichte in die Gegenwart ein.346 Sie stehen gemeinsam mit der Handlungsstruktur für eine ständige Bewegung zwischen Algerien und Frankreich, die zugleich axiomatisch die Perspektivierung auf das Konzept von Identität steuert. Diese wird in Salut Cousin! plural und auch mit Blick auf die Diskrepanz von Selbst- und Fremddefinitionen entworfen. Die damit verbundene Absage an die Vorstellung von Identität als fixierter Einheit wird vor allem über die Handlungsstruktur und die Figurenebene vermittelt. In seiner Plotstruktur, die eine Überkreuzung der Wege und Lebensentwürfe zweier Cousins umfasst, legt der Film bereits eine Dynamik an. Der Algerier Alilo (Gad Elmaleh) kommt nach Paris, um Ware für den algerischen Schwarzmarkt (trabendo) abzuholen. Da er die Auftrags­adresse verloren hat, bleibt er mehrere Tage bei seinem Cousin Mok (Messaoud Hattou) und lässt sich in dessen Pariser Welt einführen. Mok ist beur, versteht sich als Franzose und strebt eine Karriere als Rapper an. Er ist ebenfalls in illegale Geschäfte verwickelt, mit denen er sich über Wasser hält und versucht, seine Wettschulden auszugleichen. Während Alilo sich von den faszinierenden Facetten der Metropole begeistern lässt und immer selbstverständlicher in die Stadt eintaucht, zeigt sich Moks Identitätsentwurf als zunehmend fragil und verweist auf die problematische Situation der Migranten. Letztlich führen seine Gesetzesverstöße zu seiner Ausweisung aus Frankreich, während er einen Antrag auf Staatsbürgerschaft laufen hat. Alilo lässt hingegen zur gleichen Zeit seine geplante Abreise platzen, als sein Koffer mit der Ware am Bahnhof gesprengt wurde. Er hat sich in die aus Neuguinea kommende Fatoumata verliebt und will sich zunächst als illegaler Einwanderer in Paris durchschlagen. Die Handlungsstruktur weist einen Twist auf, der den Platz der beiden Protagonisten vertauscht und damit verschiedene Interpretationsansätze bezüglich der komplexen Beziehung zwischen Frankreich und Algerien ermöglicht. Einerseits greift die Abschiebung Moks die politische Realität und den unsicheren Status von Migranten auf347 und zeigt die Differenz zwischen dem eigenen Zugehörigkeitsgefühl und Fremdzuschreibungen. Andererseits verweist die räumliche Umkehrung 346 Bensmaïa untersucht ausführlicher, wie der Film französische Erinnerungslücken auffüllt (Algier und andere Orte der Kolonisation sind z. B. nicht in Pierre Noras lieux de mémoire aufgeführt, vgl. Bensmaïa 2003: 38 ff.). 347 Die Abschiebungsszene ist eingerahmt von nahen Kameraeinstellungen auf Moks Fisch, der einsam in seinem Glas schwimmt und bezeichnenderweise „Personne“ (Niemand) heißt. Die Fokussierung auf Personne deutet symbolisch auf Moks Status als ein „Niemand“. Dabei ist es allerdings Mok selbst, der sich durch seine Lügengeschichten und sein Festhalten am Bild der Migranten als Außenseiter ins Abseits stellt (vgl. Ruhe 2006: 195–204). In Algerien hat Mok tatsächlich kaum eine Perspektive;

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der beiden Hauptfiguren symbolisch auf eine kontinuierliche Bewegung zwischen Algerien und Frankreich, die neben den (forcierten) Migrationsbewegungen ebenso kulturelle Überkreuzungen beinhaltet. In beiderlei Hinsicht werden feste Positionen sowie (nationale) Identitätsdefinitionen in Frage gestellt. Zweifelsohne spielt die Figurenebene hierbei eine wesentliche Rolle. Zum einen trifft der Film hierüber Aussagen über die Gesellschaft in Frankreich, die unter anderem von den Bewohnern aus Moks mehrstöckigem Wohnhaus und der kulturellen Vielfalt seines Viertels (Belleville) repräsentiert wird. Figuren verschiedenster Herkunft bilden eine Gemeinschaft von Marginalisierten, die hier in den Fokus rückt und die Sicht des Films auf Paris prägt.348 Die französische Nation wird als heterogen neu definiert: „Paris, wie Merzak Allouache es schildert, besteht aus einer bunten Mischung aller Nationen, die letztlich aber nichts anderes darstellen als die aktuelle französische Gesellschaft, die Mokrane aufgrund seiner kulturellen wie medialen Überforderung noch nicht wahrgenommen hat“ (Ruhe 2006: 207). Zum anderen wird nationale Identität in Frage gestellt, indem subkulturelle Elemente, vielfältige Orientierungen und ambivalente Selbstdefinitionen im Vordergrund stehen. Die Figurenentwicklung der beiden Protagonisten lässt eine Verbindung und Mischung zwischen französischen und algerischen Identitätsentwürfen entstehen, trotz Moks Suche nach einer festen Zugehörigkeit. Zusammen mit der Figurenkonstellation, der gegenseitigen Beeinflussung der Cousins und ihrer Bewegung in unterschiedliche Richtungen wird eine Form von „métissage“ transportiert (Tarr 2005: 195), die parallel zu einem „Nebeneinander“ in der Gesellschaft stattfindet. Darüber hinaus zeigt die Figurencharakterisierung, wie Identität von subjektiver Wahrnehmung geprägt ist. Insbesondere über die Figur Mok entpuppt sich diese als konstruierte und fragile Angelegenheit. Mok kreiert sich seine eigene Welt: Er erfindet sich als Rapper, bleibt jedoch erfolglos und wird vom Publikum ausgebuht; sein Kleidungsstil imitiert Mode der Hip-­Hop-Subkultur, ist dabei sehr extravagant, bunt und teilweise kitschig. Mok fällt aus dem Rahmen, er ist sehr individuell inszeniert

er spricht kein Arabisch, fühlt sich als Franzose, außerdem berichtet ihm Alilo von den schlimmen Zuständen (Bürgerkrieg, soziale Missstände) in Algerien. 348 Wie für beur- und Migrationstexte typisch, wird hier ein Paris gezeigt, das nicht die üblichen Viertel des Zentrums oder touristische Sehenswürdigkeiten präsentiert. Ruhe verweist darauf, wie nun gerade die kulturell gemischten Viertel, die hier im Fokus stehen, das neue Paris definieren und somit das ursprüngliche und durch die französische Mehrheitsgesellschaft definierte Paris ablösen und aus der Peripherie heraustreten. Die Zentren sind nun Barbès oder Belleville (das Mok als Zukunft von Paris anpreist); auch der Eiffelturm wird sich aus eigener Sicht (Alilos Feststellung, dass dieser gar nicht so groß sei) angeeignet (vgl. Ruhe 2006: 220).

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und findet seinen eigenen Stil, der sich sowohl in seinem Äußeren, als auch in seiner Façon, Fabeln von Lafontaine als Rap umzuschreiben, ausdrückt. Seine Musik steht als Zeichen für transkulturelle Verknüpfungen, indem er sich Inspiration in verschiedenen Kontexten sucht und sie auf seine eigene Art neu zusammensetzt.349 Dabei zeigt sich einerseits ein kreatives Potenzial von Hybridität; ebenso werden aber die kritischen Situationen veranschaulicht, die an Moks gescheitertem Versuch, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden, sichtbar werden. Interessant ist besonders, dass Mok selbst die eigene Hybridität nicht annimmt und versucht, sich eindeutig als Franzose zu definieren. Dazu bevorzugt er beispielsweise die Kurzform seines Namens – Mok – gegenüber der deutlicher Arabisch klingenden Form Mokrane. Er hält an (medial und vom cinéma beur vermittelten) Klischees von Franzosen und Migranten fest, die eine Trennung fördern. In seinem Anpassungsversuch übersieht er die längst Realität gewordene Mischung und Kreolisierung der Gesellschaft (siehe hierzu ausführlicher Ruhe 2006: 195–204). Moks Identitifikation mit subkulturellen Elementen wie dem Rap sowie seine Individualität zeigen dennoch Dimensionen auf, die für eine Suche nach Orientierungen jenseits der nationalen Ebene stehen. Seine Selbstdarstellung und Vorstellungen, mit denen er sich seine Welt kreiert, erweisen sich nicht zuletzt als konstruiertes Gerüst. Der Film verdeutlicht dies, indem er Moks Eigensicht eine Außensicht entgegenstellt, die die Fiktionalität seiner Vorstellungen hervorhebt. Mok erzählt Alilo dramatische Lügengeschichten über seine Familie, wobei sich der Film hier an Klischees über Migranten in den banlieues bedient. Die Kamera streift dabei über HLM-­Gebäude, während Mok Alilo vom Verfall seiner Familie berichtet; diese sei von Arbeitslosigkeit und Problemen geplagt, den Drogen verfallen und sogar im Prostitutionsmilieu tätig. Alilos Besuch bei der besagten Familie gibt dann allerdings ein ganz anderes Bild wieder. Die Verwandtschaft lebt zwar in der banlieue, ist jedoch wohl gestellt und hat ihren eigenen Weg gefunden. Der Bruder von Mok arbeitet in Amerika; seine hübsche und selbstbewusste Schwester hat ihr eigenes Taxiunternehmen. Der Film bricht hier Stereotype humorvoll auf, indem er Alilo in seiner naiven Leichtgläubigkeit – und auch den Zuschauer, der möglicherweise auf Moks klischeehafte Schilderungen hereinfällt – auflaufen lässt.350 Alilo, der seine Cousine für eine Prostituierte hält, verfolgt empört deren offenes Gespräch mit ihrem Vater über 349 Seine musikalische Orientierung überschreitet nationale Grenzen, ist von Rap und Hip-­Hop-Kultur geprägt. Die Musikebene des Films umfasst insgesamt Mischungen von Stilen und Sprachen (Arabisch, Französisch, Englisch). 350 Zugleich wird angedeutet, dass Adaptionen an die sogenannte „Mehrheitsgesellschaft“ notwendig sind oder es ein Bedürfnis gibt, nicht als Fremde definiert zu

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ihre „Kunden“. Als sie Alilo anbietet, ihn auf dem Weg zur Arbeit mitzunehmen und ihm letztlich ihr Taxi vorführt, fällt ihrem Cousin ein Stein vom Herzen. Der Film entlarvt mit diesem Spiel nicht zuletzt die Vorurteile der Zuschauer (Ruhe 2006: 198). Mok und Alilo schweben auf dem Motorrad durch die Straßen von Paris. Merzak Allouache: Salut Cousin! (1993).

Offensichtlich hat Mok sich von seiner Familie distanziert und entspricht vielmehr selbst dem, was er über diese erzählt; auch hier findet sich also eine Umkehrung, die auf Widersprüche verweist und den imaginären Charakter von Moks Welt präsentiert. Eigentlich ist in dieser alles „verkehrt“: Mok ist ein ‚Möchtegern‘Rapper, verstrickt sich in illegale Geschäfte sowie z. B. in eine Scheinehe für Geld. Der tragische Einsturz seiner Welt, der mit seiner Ausweisung am Ende des Films eintritt, unterstreicht neben dem dennoch weiterhin marginalen Status der Migranten auch den fiktionalen und fragilen Charakter von Identitätsentwürfen, die aus Vorstellungen genährt werden. Die Erzählung akzentuiert dies durch phantasmagorische Elemente, die eine fiktionalisierende Funktion haben. So fliegen Mok und Alilo beispielsweise in einer von triumphierender Walzermusik begleiteten Szene auf einem Motorrad über Paris, die die Träumereien von einem besseren werden: Die Mutter setzt sich eine blonde Perücke auf und verwandelt ihr Äußeres in ein scheinbar typisches Bild einer ‚westlichen‘ Frau, wenn sie aus dem Haus geht.

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Leben untermalt und zugleich als Illusion herausstellt. Durch verschiedene Zuschreibungen, subjektive und wechselnde Selbstentwürfe sowie die Überkreuzung der Lebensentwürfe der Cousins wird insgesamt eine Beweglichkeit vermittelt, die darauf verweist, dass auch Frankreich und Algerien keine vollkommen abgegrenzten Einheiten darstellen.

4.2.2. Das Spiel mit Identität in Beur Blanc Rouge Zemmouris Film Beur Blanc Rouge (2005) nimmt nun auf seine Weise eine Infragestellung von festgelegter nationaler Identität vor, indem er ebenfalls auf deren kontingenten und imaginierten Charakter verweist und auf die Problematiken und Widersprüche aufmerksam macht, die sich aus dieser Kategorie für Migranten ergeben. Um die zentrale Achse eines Fußballspiels zwischen Algerien und Frankreich komponiert, repräsentiert der Film selbst regelrecht ein Spiel mit Identitäten, das eine Revision etablierter Denkweisen anstößt. Handlungsebene und Figurenzeichnung vermitteln dabei die Spannung zwischen scheinbar eindeutigen Zuschreibungen und Selbstentwürfen, die sich in dem dramaturgischen Höhepunkt des Fußballspiels symbolisch entlädt und die Situation von Jugendlichen der zweiten Generation spiegelt. Auch Beur Blanc Rouge fokussiert also ähnlich wie Salut Cousin! die Lebenswelt algerischer Einwanderer und deren Nachkommen; er spielt in Pariser Stadtteilen wie Barbès und wird von einem Soundtrack begleitet, der in Mischungen aus Rap, Raï und traditionellen arabischen Rhythmen sowie mehrsprachigen Texten die Lebenssituation der zweiten Generation kommentiert. Der Protagonist Brahim (Yasmine Belmadi) fiebert dem anstehenden Freundschaftsspiel zwischen Algerien und Frankreich entgegen und stellt dabei seine algerische Identität übertrieben zur Schau. Als es während des ersehnten Matches 4:1 für Frankreich steht, stürmt Brahim zusammen mit anderen aufgebrachten algerischen Fans das Spielfeld und wird festgenommen. Um ihm eine Lektion zu erteilen, schicken ihn seine Eltern nach Algerien, von dem Brahim – der sich plötzlich als Franzose definiert – nichts mehr wissen will. Der Story des Films liegt ein reales Freundschaftsspiel zwischen Frankreich und Algerien im Stade de France am 6. Oktober 2001 zugrunde, bei dem algerische Fans in der 76. Minute angesichts des sich abzeichnenden Sieges der Franzosen das Spielfeld stürmten und den Spielabbruch hervorriefen. Der Film nimmt das Ereignis zum Anlass für eine Auseinandersetzung über die Selbstdefinitionen der „zweiten Generation“ von Migranten, die sich häufig immer noch ausgeschlossen von der französischen Gesellschaft fühlt.

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In einem für den Regisseur typisch humorvollen Stil präsentiert er die Alltagsproblematiken der Jugendlichen und pointiert seine Aussagen mittels (intermedialer) Details und Symbole. Eine Zeitung, die Brahim als Unruhestifter abbildet, zeigt in ihrem Titel „Un gâchis pur beur“ ironisch den Identitäts-‚Schlamassel‘ dieser desorientierten Jugend an. Schreibt der Filmtitel die beurs durch eine Parodierung der Trikolore provokativ in die französische Nation als Teil der Gesellschaft ein, scheint dies für die Betroffenen selbst sowie für die Mehrheitsgesellschaft nicht selbstverständlich zu sein. Die Diskussion um Zugehörigkeit wird somit immer wieder aufgegriffen, durch Dialoge, Bildsprache oder auch Kommentare im Radio und Fernsehen. Ambivalenz, Unsicherheit und Wandelbarkeit von Identität bilden die zentralen Ideen, die die Situation des Protagonisten beschreiben und den konzeptuellen Ansatz des Films charakterisieren. Mit der Wahl des Fußballthemas setzt Beur Blanc Rouge einen Rahmen für die Reflexion über Identität, der die nationale Kategorie zunächst aufstellt, um sie dann zu dekonstruieren. Die Kulmination der Handlung in dem Fußballspiel zwischen Frankreich und Algerien symbolisiert geradezu ein Aufeinanderprallen der beiden Nationen, das sich auf die Gefühlsebene der Figuren übertragen lässt. Zugleich fungiert das Spiel als Zeichen dafür, dass im Denken nationaler Kategorien Vermischungen schwer zu integrieren sind. Nationale Entitäten werden hier bestätigt; die Mannschaften, respektive die Nationen, stehen sich klar getrennt und unhinterfragt gegenüber, und als Fan entscheidet man sich üblicherweise für eine Seite.351 Diese Art von Sportereignissen erweckt nicht zuletzt (auch plötzliche) Äußerungen von Nationalstolz und erzeugt Höhepunkte von Zugehörigkeitsgefühlen. Der Film zeigt nun aber über die Erlebnisse und Selbstinszenierungen der Figuren, dass Nationalität nicht gegeben ist, sondern (willkürlich) zugeschrieben wird und auch austauschbar sein kann. Er verdeutlicht, dass die im Nationenkonzept angelegte eindeutige Zuordnung besonders in Bezug auf die Lebensrealität der Migranten problematisch ist. Dies wird in mehreren Szenen sichtbar, die am Flughafen spielen und die Bedeutung der Staatsangehörigkeit thematisieren. Einerseits ein Transitort und auch ein Ort der Verbindungen, macht der Flughafen andererseits Grenzen deutlich. Die Figuren werden hier nach nationalen und religiösen Kategorien regruppiert und stigmatisiert. Seit dem 11. September 2001 hat sich die Kontrolle gegenüber Muslimen verschärft, so dass ein Algerier hastig sein Aussehen auf der Toilette

351 So geht Brahim seinen französischen Freund Gaby heftig an, als dieser ein Tor von Zidane für Frankreich bejubelt, obwohl er eigentlich ebenfalls die algerische Mannschaft unterstützt.

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verwandelt und den Bart abrasiert. Brahims Familie darf ihrerseits aufgrund ihrer französischen Pässe die lange Schlange der wartenden Algerier überholen und ohne eine Kontrolle passieren. In Algerien wird nun die französische Nationalität zum Problem. Ohne ein Visum darf die Familie nicht einreisen, was insbesondere die Mutter erzürnt („Wir sind doch aber Algerier!“). Szenen wie diese veranschaulichen die Konflikte, die sich aus den nationalen Abgrenzungen und dessen Widersprüche zu emotionalen Identifikationen ergeben. Anhand des Protagonisten Brahim wird deutlich, wie das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Nation nach Belieben bzw. Funktionalität wechseln kann. Brahim ‚switcht‘ zwischen Eigendefinitionen als Algerier und Franzose, und hinter der Oberfläche einer übertriebenen Selbstinszenierung zeugen diese sprunghaften Wechsel von großer Unsicherheit. Eingeführt mit einer rasanten Fahrt in seinem mit algerischen Fahnen behängten Auto, wird Brahim von einem Polizisten angehalten. Dessen Frage nach einer Aufenthaltsgenehmigung erwidert er mit der Antwort er sei Franzose, woraufhin der Polizist provokativ kontert, was denn der „Zirkus“ mit den Flaggen solle. In Vorbereitung auf das Fußballspiel definiert sich Brahim dann als „200 % algerisch“. Zur Belustigung seiner Familie und Freunde versucht er sich in seiner algerischen Identität zu profilieren. Jedoch zeigt sich, dass er weder Kenntnisse der Sprache noch des Landes besitzt. Im Gegensatz zu den Fans um ihn herum kennt er den Text der algerischen Nationalhymne nicht und singt peinlich laut bei der Eröffnung des Fußballspiels nur „Nanana“. Seine Widersprüchlichkeit zieht sich durch den gesamten Film und wird von anderen Figuren wie seinem Bruder auf den Punkt gebracht: „Toujours le bled dans la bouche, mais rien der­ rière“. Als er nach Algerien geschickt werden soll, wimmert Brahim wie ein kleiner Junge und gesteht, dass Frankreich „sein Land“ ist und er Algerien nur aus der Distanz mag. Offensichtlich verkommen die nationalen Vorstellungen, an die sich Brahim klammert, zu leeren Floskeln und werden auf Symbole wie die Flagge oder das algerische Trikot reduziert. Wenn es um konkrete Bedeutungen oder Merkmale wie Sprache geht, wird die algerische Identität für Brahim zum Problem und unbrauchbar. Algerien selbst ist vor allem eine Imagination für Brahim und seine Generation, die das Land kaum kennt, dort aber einen Identitätsanker und eine Differenzmarkierung gegenüber „den Franzosen“ sucht. Das Figurenrepertoire bietet weiterhin eine Vielfalt an teils komisch-­ klischeehaft inszenierten Typen und eine Variation von Identitätsentwürfen, die ein gleichfalls komplexes Bild der franko-­algerischen Diaspora zeichnet. Neben Brahim und seinen Freunden finden sich strengreligiöse Männer, ein Heiratsvermittler ebenso wie ein kabylischer Ladenbesitzer. Ihre Identifikation mit Frankreich ist sehr unterschiedlich. Brahims Freund Mouloud (Karim Belkhadra) nimmt seine französische Heimat an, versucht dort seinen Platz zu finden und 328

geht letztlich – im Gegensatz zu Brahim – einer Arbeit nach. Ihm missfällt Brahims antifranzösische Haltung während des Fußballspiels. Streitigkeiten hierüber zeigen sich auch in Brahims Familie, die repräsentativ für mehrfache Identitätsauslegungen innerhalb der Migranten-­Community steht.352 Brahims algerische Trainingsjacke zerreist und symbolisiert seine unsicheren Identitätskonstruktionen. Mahmoud Zemmouri: Beur Blanc Rouge (2005): 00:20:20.

Die klischeehafte Darstellung Brahims und seine Missgeschicke stellen ihn als Wichtigtuer und Macho bloß und machen ihn zugleich sympathisch. Seine identitären Vorstellungen nähren sich sowohl aus nationalen Zuschreibungen als auch aus Vorstellungen von Männlichkeit, die er beide erfolglos versucht zu inszenieren. Arbeitslos, planlos und ungebildet, verkörpert er eine desorientierte Jugend. Brahims Hauptbeschäftigung liegt darin, mit seinem Freund Mouloud an ihrem Stammplatz an einer Straßenlaterne herumzulungern und nach Frauen Ausschau zu halten oder bei ihrem französischen Freund und Bäckergesellen Gaby (Julien Courbey) Essen zu ergattern.353 Seine Selbstdefinitionen – als besonders männlich 352 Seine Geschwister machen sich über Brahims Gehabe lustig und glauben an einen Sieg der französischen Mannschaft. Zugleich fiebert die gesamte Familie mit der algerischen Mannschaft mit. Die Großmutter versucht das Spiel mit Magie zu beeinflussen, am Ende des dramatischen Fußballspiels erleidet sie einen Herzinfarkt. 353 Der Film zieht eine Parallele zu den hittistes in Algerien, wenn er Brahim diese auf dem Weg zum Schiff in Algier aus dem Auto heraus beobachten lässt und ihm damit

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und algerisch – erweisen sich jeweils als imaginiert, und seine Versuche, die attraktive Wassila zu erobern und sich als Algerier zu profilieren, scheitern parallel. Die humorvolle Inszenierung demontiert zugleich die aufgemachten Klischees. In diesem Sinne ist auch die Funktion Wassilas zu sehen, die als emanzipierte und gebildete beurette den Gegenpart zu Brahim verkörpert und sich über ihn amüsiert. Sie widerlegt häufige Vorurteile über algerische Migrantinnen, vertritt eine laizistische Einstellung und setzt sich gegen ihre Eltern durch; im Vergleich zu ihr ist Brahim ein Muttersöhnchen.354 Verweist Beur Blanc Rouge ähnlich wie Salut Cousin! über die Figurenebene auf Überkreuzungen355 und konfliktträchtige Verbindungen zwischen Frankreich und Algerien, fokussiert er dabei noch intensiver als Salut Cousin! die Ambivalenz innerhalb der Figuren, die anhand von Brahims unsteter Eigenbeschreibung veranschaulicht wird. Die visuelle Ebene des Films wirkt hierbei unterstützend. Brahims innere Zerrissenheit zeigt sich bildhaft in dem Zerreißen seiner algerischen Fußball­trainingsjacke, als er sich an seinem üblichen Herumlungerposten an der Laterne gegenüber dem Laden platziert, die der von den Jugendlichen genervte Ladenbesitzer mit Stacheldraht umzogen hat. Weiterhin unterstreichen Eröffnungsbild und Schlusseinstellung des Films die Beweglichkeit franko-­algerischer Identitäten, indem sie – einmal in Barbès situiert und auf die Sacré-­Cœur gerichtet und einmal mit Blick auf den Hafen Algiers und das abfahrende Schiff – Handlung und Figuren zwischen Frankreich und Algerien einrahmen. Das Schiff symbolisiert zugleich eine Verbindung der beiden Mittelmeerländer und erinnert an verschiedene Migrationsströme der franko-­algerischen Geschichte, die ebenso Nostalgie und schmerzvolle Trennung evozieren. Alternative Denkansätze, die Pluralität und Ambivalenz integrieren, finden sich ebenfalls in der Symbolsprache. Beispielsweise trägt ein junger beur ein von seiner Mutter genähtes Fußballtrikot, dessen Vorderseite die französische und dessen Rückseite die algerische Nationalmannschaft repräsentiert. Ist es also doch

einen Spiegel vorhält. Er verweist so auf den marginalen Status von Jugendlichen wie Brahim in Frankreich und Algerien. 354 Die Szene, in der er in Wassilas buntem Bademantel aus dem Fenster steigt, nachdem er bei ihr Unterschlupf gesucht hat und ihre Eltern überraschend kommen, untermalt dies. 355 Während Brahim am Ende beteuert, er sei Franzose, orientiert sich sein französischer Freund Gaby in die entgegengesetzte Richtung. Er unterstützt beim Fußballspiel Algerien. Gaby möchte eine maghrebinische Frau finden und lässt sich von dem Heiratsvermittler überreden, es über sein Geschäft zu versuchen. In der Folge macht dieser aus Gabriel „Jibril“.

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möglich, mehrere nationale Zugehörigkeiten zu haben? Die Tatsache von Binationalität wird hier spielerisch aufgegriffen. Eine andere Perspektive wird über die Aussage eines Jugendlichen subsaharischer Herkunft angerissen, indem er seine Freunde (verschiedener Herkunft) angesichts des Fußballrivalen Frankreichs bestärkt, sie seien doch alle Afrikaner. Damit wird eine Gemeinschaft angedacht, die über nationale Grenzen hinweggeht, sich allerdings auf eine Abgrenzung zu Frankreich gründet. Der Film überwindet seinerseits Festschreibungen, indem er diese auf verschiedenen Ebenen bloßstellt. Er spiegelt die reale Situation der Migranten und ermöglicht ein Neudenken von Identität, das Pluralität und Mehrfachzuschreibungen umfasst.

4.2.3.  Il était une fois dans l’oued – Identität als Fiktion Auf eine noch akzentuiertere Weise exponiert Djamel Bensalahs Film Il était une fois dans l’oued (2005) den imaginären und transformativen Charakter von Identität. Hier ist es weniger das Schwanken zwischen verschiedenen Selbstdefinitionen als der Wandel von einer durch Herkunft scheinbar festgelegten Zugehörigkeit zu einer anderen, selbstgewählten Identität, der im Vordergrund steht und zudem in eine üblicherweise kaum thematisierte Richtung verläuft: Der Film erzählt die Geschichte eines Franzosen aus der Pariser cité, der sich als Algerier sieht. Johnny Leclerc (Julien Courbey) – Sohn normannischer und elsässischer Eltern – erfindet sich algerische Wurzeln sowie ein algerisches Heimatdorf, dessen Existenz er lediglich durch ein auf dem Flohmarkt gekauftes Bild bezeugt. Er träumt von einem Leben in Algerien und tut alles dafür in „sein Land“, El Djazaïr, „zurückzukehren“. Als ungebetener Gast klammert er sich an die Familie seines Freundes Yacine (David Saracino), die zum Sommerurlaub nach Algerien fährt. In einem Kühlschrank, den Familie Sabri als Geschenk für Angehörige mitführt, schmuggelt Johnny sich als blinder Passagier an Bord des Schiffes für die Überfahrt nach Algier. Dort angekommen, nennt er sich „Abdel Bachir“ und gibt sich algerischer als die Algerier. Letztlich baut er sich ein glückliches neues Leben in seinem Wunschland auf. Stehen Selbstentwürfe in allen Filmbeispielen dieses Kapitels im Vordergrund, finden sich in Il était une fois dans l’oued deutlich fiktionalisierende Elemente, die sich auch auf das Identitätskonzept des Films übertragen lassen. Der Film begünstigt eine Lesart, die Identität als fiktives Konstrukt verstehen lässt, indem er sich in Erzählweise und Titelgebung an die Form eines Märchens anlehnt. Das „Il était une fois“ des Titels setzt hierfür einen Rahmen, der die Erwartungshaltung in Richtung einer märchenhaften Erzählung anlegt. Zwar folgt der Film keiner Märchenstruktur im engeren Sinne, Zeit- und Ortsangaben sind 331

beispielsweise konkret. Dennoch enthält die Darstellungsweise oft Züge, die ihm eine andere Ausrichtung verleihen als die oft sehr realistisch orientierten algerischen Werke. Märchenhaft schön ist nicht zuletzt das Bild von Algerien, das dieser Film zeichnet, indem er entsprechend Johnnys Wahrnehmung eine heile Welt konstruiert. Im Gegensatz zu Salut Cousin! und Beur Blanc Rouge, die beide eher offen und konfliktreich enden und damit auf die schwierige Situation der Migranten verweisen, mündet die Narration von Il était une fois in einem „Happy Ending“. Sowohl Johnny / Abdel Bachir als auch Yacine finden ihr Glück. Parallel zu Johnnys Reise entfalten sich nämlich Liebesgeschichten zwischen Johnny und Nadège sowie Yacine und Nadia, zwei junge Frauen, die die Protagonisten auf der Überfahrt nach Algier kennengelernt haben. Johnnys Erzählerstimme, die sich am Anfang und Ende des Films im voice off einschaltet, weist in ihren einführenden Worten auf den fabelhaften Ausgang von Yacines Abenteuer hin: „Hätte man mir erzählt, dass die Geschichte so enden würde, ich hätte es nicht geglaubt…“. Denn Yacines Reise nach Algerien ist eigentlich auch eine Flucht, da er in illegale Geschäfte verwickelt war. Sein Vater (Sid Ahmed Agoumi) kommt ihm auf die Schliche, will ihn zur Vernunft bringen und in Oran verheiraten. Während er vor der geplanten Vermählung zu fliehen sucht, ist die für ihn bestimmte Braut ausgerechnet die schöne Nadia vom Schiff. Am Ende gibt es also doch eine glückliche Hochzeit; ebenso wird gezeigt, wie Johnny und Nadège eine Familie gegründet haben und glücklich einen Lebensmittelladen in Algerien führen. Die Inszenierung Johnnys veranschaulicht, wie sehr Identität an Vorstellungen gebunden ist. Noch mehr als Mok in Salut Cousin! schmiedet sich Johnny seine eigene Identität und wird zu Abdel Bachir. Bereits als „Johnny“ distanziert er sich im Namen und Verhalten von einer französischen Zugehörigkeit. Dabei spielt der Film ebenso deutlich mit Klischees und Vorurteilen, die sowohl unter den Figuren herrschen als auch mögliche Vorstellungen des Publikums treffen und unterlaufen. Äußerlich entspricht Johnny mit seinen blonden Haaren und seiner blassen Haut nicht dem typischen Bild eines Algeriers, wie es in vielen Köpfen vorherrscht. Der Film durchkreuzt nun derartige Ideen durch ein ironisches Gegeneinandersetzen von stereotypen Zuschreibungen. Johnnys elsässische Mutter kocht beispielsweise Sauerkraut und Schweinefleisch und steht im Konflikt mit ihm, der (angeblich) Muslim ist und sich als Kenner der maghrebinischen Kochkunst aufführt. Im Streit mit seinen Eltern werden alte Klischees und Feindschaften sowie Unverständnis zwischen ehemaligem colonisé und colonisateur

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wachgerufen.356 Johnny entscheidet sich nun zwar für ‚eine Seite‘, entwirft seine Identität als eindeutig algerisch und scheint Abgrenzungen ziehen zu wollen, um seinen Platz zu finden. Der Film zeigt hingegen mögliche Überkreuzungen und Umschreibungen kultureller Elemente. Er verwischt durch Johnnys Wandlung symbolisch die Grenzen zwischen algerischer und französischer Identität. Warum wird Johnny aber eigentlich kein Glauben geschenkt, dass er tatsächlich Algerier ist? Halten die Figuren und auch wir Zuschauer an den eigenen Vorstellungen und Erwartungen fest oder ist es doch die Künstlichkeit, die seine Selbstinszenierung begleitet und diese zweifelhaft erscheinen lässt? Johnnys Auftreten trägt zumindest dazu bei, seine Glaubhaftigkeit in Frage zu stellen. Er spricht ein paar Wörter (Pseudo-)Arabisch und betet vorbildlich mit Yacines Vater, obwohl er kein einziges Gebet kennt. Sein übertriebenes Verhalten – er besteht in Algerien auf einer chorba (Suppe), so wie er sie als „typisch algerisch“ kennt – lässt ihn ähnlich tollpatschig und lächerlich erscheinen wie Brahim in Beur Blanc Rouge. Einerseits geht er Familie Sabri damit auf die Nerven, andererseits funktioniert seine Strategie und er wird als unterhaltsamer Typ von Yacines Verwandtschaft aufgenommen. Für Yacines Vater wird er quasi zum Vorzeigejungen, im Kontrast zu dessen eigenem Sohn. Johnny scheint in Algerien tatsächlich integrierter als Yacine und wird so akzeptiert, wie er sich gibt. Dies zeigt sich auch, als Yacine vor einer Diskothek von einem Türsteher als „Franzose“ ins Ende der Schlange abgewiesen wird, bevor Johnny ihm dank seiner Bekanntschaft den Eintritt gewährt. Die dennoch vorhandenen kritischen Blicke auf Johnny seitens anderer Figuren unterstreichen ebenfalls die Fiktionalität seiner Identitätswahl. Abdel Bachir sei zum Beispiel kein echter Name, wie eine Figur bemerkt. Als Johnny es zu sehr auf die Spitze treibt und seinen Freund zunehmend nervt, stellt Yacine ihn bloß: „T’es français mon gars, faut te faire une raison. Ta mère, elle est normande, et ton père alsacien… Alors à la rigueur tu peux être allemand, mais tu ne seras jamais arabe de ta vie.“ Dieser identitären Festlegung, welche sich auf die Herkunft beruft, widerspricht allerdings nicht nur Yacines Familie, die Johnny unterstützt, 356 Dabei kommentiert die Mutter abfällig Johnnys „costume de shabbat“. Auf seine Anmerkung, es handle sich um ein Gewand des Ramadan, entgegnet die Mutter, die bougnoul seien doch alle gleich – sie mischt antiarabische und antisemitische Einstellungen. Johnny verwendet seinerseits ein pejoratives Vokabular, das teilweise ebenso noch aus der Kolonialzeit stammt, sich aber gegen die Franzosen richtet. Er wirft seinen Eltern mangelnden Respekt vor und bezeichnet sie als françaoui. In Algerien distanziert er sich von den Franzosen, den roumi, so dass Yacines Vater ihn ermahnt, nicht so abfällig zu reden.

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sondern der Film insgesamt. Yacines Mutter fasst hier den zentralen Gedanken zusammen, indem sie kontert, dass man das ist, was man denkt zu sein.357 Anders als bei Mok in Salut Cousin! wird Johnnys Traum letztlich wahr; am Ende des Films ist er als Ladenbesitzer, Arabisch sprechend und glücklich mit Frau und Kindern in seiner algerischen Heimat eingerichtet. Der Film verdeutlicht, dass Identität nicht essentialistisch und vorgegeben ist, sondern sich durch Vorstellungen und Wandelbarkeit charakterisiert. Johnny fühlt sich als Algerier und deshalb ist er einer, unabhängig von seiner tatsächlichen Herkunft und seinem Pass.

Résumé Im intertextuellen Vergleich der hier behandelten Filme bildet Il était une fois über seine Handlungs- und Figurenebene quasi eine umgekehrte Spiegelung zu den beiden anderen Beispielen, womit sich auch auf der Makroebene dieses Auswahlkorpus eine Überkreuzung von Identitätsentwürfen abzeichnet. Abgesehen davon, dass Alilo in Salut Cousin! von Algerien nach Frankreich reist und dort ‚strandet‘, bewegen sich Mok, Brahim sowie Johnny und Yacine jeweils nach Algerien. Die Ursachen und die Beziehungen der Figuren zu diesem Land unterscheiden sich jedoch ebenso wie ihre Selbstentwürfe erheblich voneinander. Brahims Reise nach Algerien geschieht gegen seinen Willen, und trotz seiner zunächst algerisch definierten Identität lehnt er das reale Algerien ab. Mok wiederum fühlt sich als Franzose und erfährt durch die erzwungene Ausweisung nach Algerien eine Exilierung, und zwar anders herum als viele Algerier in der außerfilmischen Realität, die zur Entstehungszeit des Films während des Bürgerkriegs nach Frankreich flüchten. In doppelter Hinsicht verdreht Il était une fois nun die Identitätsproblematiken, mit denen die Protagonisten der anderen Filme konfrontiert sind. Johnny ist Franzose und definiert sich als Algerier, seine Reise ist freiwillig und der Film lässt seine Geschichte glücklich enden. Er kann der sein, der er sein möchte. Zugleich führt der Film mit dem Bestreben eines Franzosen, sich als Algerier darzustellen, eine Art umgekehrte ‚Assimilation‘ vor, die von den üblichen (politisch) dominanten Identitätsdiskursen zwischen Frankreich und Algerien abweicht und einen Eurozentrismus unterläuft. Die (freiwillige) Anpassung eines Franzosen an algerisch-­muslimische Lebensweisen wird selten thematisiert und somit ist es umso bedeutender, dass Il était une fois dies zu seinem zentralen 357 Die Bedeutung der Vorstellungskraft wird auch durch die Erzählung selbst herausgestellt, beispielsweise in der Szene, in der Johnny eine alte Mine findet, die er als sein Dorf zu erkennen glaubt.

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Gegenstand macht. Interessanterweise deutet auch Beur Blanc Rouge solch einen Richtungswechsel an, und zwar mit Brahims französischem Freund Gaby, der vom Heiratsvermittler in „Jibril“ verwandelt wird. Eine enge Verknüpfung der beiden Filme besteht hier durch den Schauspieler Julien Courbey, der sowohl Gaby als auch Johnny verkörpert. Man könnte fast meinen, dass Il était une fois gewissermaßen den Ansatz in Beur Blanc Rouge fortführt – auch wenn der Film zeitlich vor Beur Blanc Rouge erschienen ist. Die umgekehrte Orientierung zeigt zum einen, dass der kulturelle Einfluss zwischen Frankreich und Algerien auch andersherum möglich ist – von der sogenannten „Peripherie“ ins ehemalige Mutterland – bzw. Elemente sich in beiden Richtungen überkreuzen. Damit widersetzt sich Il était une fois auch dem kolonialistischen Assimilationsdiskurs sowie dem üblichen Tenor aktueller politischer Integrationsdebatten. Zum anderen parodiert der Film Frankreichs und Europas Abwehr oder Angst vor (illegalen) Migrationsströmen: Denn Johnny ist ein illegaler Einwanderer und vielleicht der erste – wie es provokativ im Paratext der DVD-­Ausgabe heißt –, der sich von Europa nach Afrika schmuggelt.358 Algerien wird hier zum El Dorado und Johnnys Geschichte bringt eine ironische Neuperspektivierung des Blicks auf die Beziehung zwischen Frankreich und Algerien mit sich. Die Umkehrungen, mit denen der Film spielt, schlagen sich nicht zuletzt in dem Bild von Algerien nieder. Die Repräsentationen dieses Landes unterscheiden sich hier deutlich von denen der anderen Filme. In Salut Cousin! ist Algerien visuell und räumlich wie in vielen Werken der 1990er Jahre abwesend und wird nur durch Figuren und mediale Elemente evoziert: einerseits z. B. durch die Nostalgien des jüdischen Algeriers und über Radio, Fernsehen oder Musik, andererseits durch Islamisten, die auch die Pariser banlieue erreicht haben. In Beur Blanc Rouge sind immerhin einige Szenen in Algerien verortet, dieses dient hier aber eher als Kulisse, wohingegen es nun in Il était une fois zum zentralen Schauplatz wird. Es findet also eine Verlagerung nach Algerien statt. Im weiteren Kontext der Filme aus den 1990er und 2000er Jahren, die in Algerien spielen und von der Rückkehr oder der Reise nach Algerien erzählen, wird deutlich, dass das Bild Algeriens in Il était une fois konträr zu den vorherrschenden Repräsentationen entworfen ist. Anders als viele franko-­algerische Filme, in denen die Rückkehr tragisch verläuft oder ein kritisches Bild gezeichnet wird – z. B. Bled number one, L’Autre Monde, Viva Laldjérie, La Fille

358 Die Absurdität kommentiert Monsieur Sabri an der Grenzkontrolle: „Glauben sie etwa, ich würde einen illegalen Einwanderer mitführen? Wer will denn schon freiwillig nach Algerien außer uns?!“.

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de Keltoum –, kreiert Bensalahs Film ein fiktives Algerien, das frei von Problemen und Sorgen zu sein scheint. Womöglich dem naiven Blick Johnnys / Abdel Bachirs geschuldet und entsprechend seiner Liebe für Algerien, sehen wir ein – nicht nur von Johnny – herbeigewünschtes schönes Algerien, in dem Glück, Liebe und Spaß ihren Raum finden. Diskotheken, Cafés, ein belebter Strand sowie insgesamt ein buntes und lebhaftes Algerien bilden die Handlungsräume. Mögliche Missstände oder Kritikpunkte (Zwangsheirat, Armut) werden durch Humor, Johnnys Verklärung Algeriens als El Dorado sowie den positiven Ausgang des Films überdeckt und so dedramatisiert. Der Film spielt wohl nicht unbeabsichtigt im Sommer 1988, zu einem Zeitpunkt vor den politischen Unruhen, die hier ausgeklammert werden. Man könnte seine Leichtigkeit nun kritisieren. Andererseits kann seine überwiegende Ausblendung der Missstände und der Realität Algeriens als eine Form des Widerstands gesehen werden. Bensalah entwirft damit ebenfalls wie z. B. Viva Laldjérie – aber gänzlich anders – ein alternatives Bild Algeriens, das hier vor allem ein träumerisches Potenzial enthält, damit aber ebenso eine Absage an die Gewalt und die Regierung erteilt. Ähnlich wie die Identität wird Algerien selbst letztlich zur Imagination.359 Im Kontext des größeren Korpus ist es bezeichnend, dass Algerien nur in einem derart fiktionalisierten Film so begehrenswert präsentiert wird. Insgesamt zeigen die Filme, wie Identität von individuellen Auslegungen und Vorstellungen geprägt ist. Nationale Kategorien spielen dabei zwar eine große Rolle, es wird aber deutlich, dass diese konstruiert sind. Die repräsentierten Identitätsentwürfe zwischen Algerien und Frankreich greifen einerseits die Lebensrealität von Migranten auf, andererseits wird hier auch konzeptionell eine Herangehensweise vermittelt, die Pluralität, Hybridität und Veränderbarkeit mitdenkt.

4.2.4.  Exils – Identität und Geschichte in Bewegung Als Beispiel für einen Film, der über seine inhaltlichen Aspekte und seine ästhetische Gestaltung die Prozesshaftigkeit und Fragilität von Identität besonders herausstellt, wird Tony Gatlifs Exils360 (2004) abschließend in diesem Kapitel nä359 Der Regisseur selbst sagt, dass er ein Bild von Algerien zeichnet, dass sich aus Erinnerungen, Kenntnissen und Vorstellungen zusammensetzt: „ ’Ce film n’est pas réalisé par quelqu’un qui connaît l’Algérie, je n’y avais pas remis les pieds depuis plus de 15 ans. Je connais mieux Biarritz!’, avoue le réalisateur. ‘Mais grâce à mes origines, j’ai certaines clés pour comprendre et raconter ce pays. Mon pari, envers le public, c’était de parler de l’Algérie et de pouvoir enfin en sourire avec lui!’ “ http://www. afrik.com/article8910.html. 360 Der Film wurde 2004 für die „Goldene Palme“ in Cannes nominiert und mit dem Regiepreis ausgezeichnet.

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her betrachtet. Identitätsfragen werden in diesem Film an Spuren der Kolonialgeschichte rückgekoppelt und mit einer transnational-­transkulturellen Perspektive des Mittelmeerraums verbunden.361 Über die franko-­algerische Problematik hinausgehend unterstreicht Exils historisch-­kulturelle Überkreuzungen und unternimmt eine Dekonstruktion von homogenen Identitätsvorstellungen auf all seinen Ebenen. Verschiedene Formen von Migration und individuellen Exilerfahrungen treffen in Gatlifs Film aufeinander, der so einen neuartigen Blick auf die maghrebinisch-­europäische Geschichte und Gegenwart wirft. Begleitet Exils vordergründig die Identitätssuche der zwei Protagonisten Zano (Romain Duris) und Naїma (Lubna Azabal), wird im Verlauf des Films die Verwobenheit von Identität und Geschichte sichtbar. Gatlif verbindet dazu die Annäherung der Figuren an ihre familiäre Herkunft mit Fragmenten der Kolonialgeschichte, die z. B. als bildliche Versatzstücke in die Narration eingeflochten werden. Subjektive Erfahrungen der Figuren und teils mehrdeutige Bilder stellen die Zuschauer/innen vor eine Vielzahl von Eindrücken, die die Komplexität der franko-­algerischen (Exil-)Thematik andeuten.

Pluralität und Bewegung über Plot und Genreverbindungen Auf Zanos impulsartigen Vorschlag hin – dem seine Freundin Naїma zunächst nur Gelächter entgegenbringt – brechen die beiden Protagonisten von der Pariser banlieue aus auf zu einer Reise nach Algier. Die Beweggründe hierzu werden erst allmählich bruchstückhaft aufgedeckt: Es ist eine Reise in die familiäre Vergangenheit, die die beiden Hauptfiguren zu einer Konfrontation mit verschiedenen Komponenten der eigenen Identität führt. Der Film begleitet die Protagonisten auf ihrem Weg – teils zu Fuß, mit Zug, Bus und Schiff –, auf dem sie sich durch Südeuropa reisend langsam dem Maghreb sowie den eigenen Geschichten annähern. In Andalusien kreuzen sich ihre Wege mit denen von illegalen Migranten, die in die entgegengesetzte Richtung emigrieren. Beispielhaft hierfür steht das Geschwisterpaar Leila und Habib, mit dem sich Zano und Naїma anfreunden. Nach Umwegen und einer irrtümlichen Schiffsüberfahrt nach Marokko finden die beiden Protagonisten mit Hilfe eines Schleppers letztlich einen Weg über die geschlossene Grenze nach Algerien. In Algier angekommen, werden sie bei ihrer Suche nach den familiären Wurzeln von Leila und Habibs Familie unterstützt.

361 Elisabeth Arend liest den Film ebenfalls als einen Beitrag zur transkulturellen Auseinandersetzung mit dem Mittelmeerraum. Sie beobachtet zudem eine mögliche Verbindung des Films zwischen dessen Geschichtsnarration und rezenten Geschichtstheorien (vgl. Arend 2013).

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Gemeinsam suchen sie das Elternhaus Zanos auf und nähern sich ebenfalls Traditionen aus Naїmas Herkunftskultur. Die thematischen Verhandlungen des Films und der im Plural stehende Titel verweisen auf eine Mehrzahl von Exilen, die die algerische Geschichte prägen und auch in einem größeren Kontext der europäisch-­afrikanischen Geschichte stehen. Das äußere sowie das innere Exil (im eigenen Land) sind hier ebenso inbegriffen wie Exilerfahrungen der jüngeren (post-)kolonialen Migration und solche, die weiter zurückgehen, z. B. Mohammeds Vertreibung aus Mekka (vgl. Arend 2013: 206 f.). Eine Verbindung verschiedener Exilgeschichten des Mittelmeerraums, vor allem mit Blick auf Algerien (Exodus der pieds-­noirs 1962, algerische Emigration im Kontext der Kolonisation und des Bürgerkriegs der 1990er Jahre), wird so angelegt. Der Film kann in Bezug auf seine Verarbeitung von Exil- und Verlusterfahrungen sowie mit Blick auf seine Ästhetik und den autobiographischen Hintergrund des Regisseurs362 zumindest in einigen Punkten als accented film nach Hamid Naficy gesehen werden. Die Irritationen und Spannungen, die er durch seine Gestaltungselemente hervorruft – von der zentralen Musikalität, über die Mehrsprachigkeit, die Schnitttechnik bis hin zu einer auffällig bewegten Kamera, die selbstreflexiv auf sich aufmerksam macht und so teils mit einem filmischen Realismus bricht, – entsprechen dessen Merkmalen. Eine Klassifizierung des Films unter dieser Kategorie ist hier allerdings weniger von Interesse und auch nicht in jeder Hinsicht zutreffend.363 Erwähnt sei jedoch, dass die mögliche Charakterisierung des Films als accented für sein hybrides, transkulturelles Profil spricht. Abgesehen von dieser Beschreibung, lässt sich Exils ebenso als eine Spielart des road movie lesen. Über seine Genreverbindungen macht er Beweglichkeit besonders erfahrbar und unterstreicht so die Prozessualität von Identität. Als ein „Genre des Aufbruchs“ (Grob / Klein 2006: 8) vermag das road movie die Fixierung von

362 Gatlif (alias Michel Dahmani) stammt aus einer andalusisch-­algerischen Roma-­Familie und hat Anfang der 1960er Jahre Algerien verlassen. In Exils verarbeitet er seine autobiographischen und konfliktreichen Beziehungen zu Algerien, die sich in den Figuren und deren Reise spiegeln. Besonders in der Figur Naïma deuten sich Züge aus Gatlifs Biographie an. Der Regisseur, der zugleich für Drehbuch und Musik verantwortlich ist, kehrt mit Exils nach über 40 Jahren erstmals in seine eigene Vergangenheit nach Algerien zurück. Insbesondere die Musik stellt einen Bezug zur gitano-­Kultur her, die im Zentrum seines filmischen Gesamtwerks steht (u. a. der Dokumentarfilm Latcho Drom, 1993, der Roma von Indien nach Spanien begleitet, der Spielfilm Gadjo Dilo, 1997, der auf Romani gedreht ist, und der Musikfilm Swing, 2001). 363 Wie in Kapitel II beschrieben, ist Naficys Modell teils sehr einschränkend.

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Identitäten in Ort und Zeit zu lösen.364 Wie Hauke Lehmann in seiner Diskussion des Genres in Bezug auf die Migrationsthematik herausstellt, ist dieses hierfür besonders prädestiniert, zeichnet es sich doch durch eine Ausdrucksweise aus, „welche wie kaum eine andere das Verhältnis zwischen unsicher gewordener Identität zu den Gestaltungsformen filmischer Bewegung ins Zentrum ihrer Poetik stellt“ (Lehmann 2010: 156).365 Ohne hier ausführlicher auf die Charakteristika des road movie sowie seine verschiedenen Subgenres und möglichen Wahrnehmungsstimuli einzugehen, ist festzuhalten, dass Exils in seiner eigenen Auslegung des Genres mehrere Merkmale aufweist, die die Beweglichkeit deutlich herausstellen und zusammen mit weiteren Gestaltungsmitteln die Dynamik von Identitätsprozessen transportieren. Wie in anderen road movies sind die Protagonisten auch hier Marginalisierte. Ihr Fortbewegungsmittel ist zwar weder das Auto noch das Motorrad, aber sie bewegen sich häufig in Transiträumen; fahrend und laufend passieren sie Grenzen sowie das Mittelmeer. Diese Räume des Übergangs deuten auf die unsichere Identität und spiegeln ebenso die Exilerfahrungen und die Position der Migranten als Grenzgänger (vgl. Bhabha 2000). Die Bewegung der Figuren durch den Raum, ihre Nicht-­ Fixiertheit an einen Ort reflektiert die Identitätssuche und Reise zu sich selbst. Diese ist in Exils zentral und ebenso charakteristisch für viele Auslegungen des Genres. Im Gegensatz zur Ziellosigkeit der Figuren in vielen road movies (vgl. Grob / Klein 2006: 10) sind Zano und Naїma von der Suche nach ihrer Herkunft angetrieben. Dennoch ist auch in Exils ein genreübliches Ausbrechen aus dem gesellschaftlichen System zu erkennen und trotz der vorgegebenen Destination Algerien vielmehr der Weg selbst das Ziel. Die Offenheit der Reise und das ‚Sich-­ Treiben-Lassen‘ vieler road movies drücken sich hier in der Langsamkeit, den Umwegen und der Spontaneität der Figuren aus. In dem offenen Ende des Films wird die Bewegungsdynamik des road movie aufgenommen und eine Weiterreise bzw. 364 Das Genre, das sich vor allem seit den 1960ern herausgebildet hat, umfasst verschiedene Subgenres und Varianten, die eine Hybridität des road movie selbst bedeuten. Aus dem Western heraus entwickelten sich zunächst Bikerfilme wie Easy Rider (Dennis Hopper, 1969), ebenfalls die Filme um Mörderpärchen, die jeweils zur Stilisierung der Outlaws neigen, außerdem z. B. Filme um reisende Musiker (vgl. Grob / Klein 2006: 9). 365 Die Migration als Bewegung, „welche die Verankerung in fixen, definierten Subjektpositionen löst und einen Schwebezustand herbeiführt“ (Lehmann 2010: 155), lässt sich im road movie nachvollziehen. Lehmann spricht hier in Anlehnung an filmische suspense von einer Suspendierung der Identität, die eine Aufhebung fester Verortungen bedeutet. Kontraste zwischen Stillstand und Mobilität, Gesellschaft und Individuum, Innerem und Äußerem sowie Fremdheitsbegegnungen sind wichtige Genremerkmale (vgl. Grob / Klein 2006: 9), die auch in Exils transportiert werden.

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eine Unabgeschlossenheit der Identitätssuche angedeutet. Wie der Film darüber hinaus mittels seiner inhaltlich-­ästhetischen Strategien den fragmentarischen Charakter von Identität und Geschichte herausstellt und eine transkulturelle Lesart anbietet, wird im Weiteren aufgezeigt.

Gemeinsame Geschichte und Identitätskonflikte Bereits die Konstellation der Hauptfiguren bietet eine Annäherung an die franko-­ algerische Geschichte, die als entanglement gelesen werden kann. Als Nachkommen von algerischen Migranten in Frankreich (Naïma) sowie von mit der Unabhängigkeit Algeriens nach Frankreich ausgewanderten pieds-­noirs (Zano) repräsentieren die Protagonisten implizit zwei verschiedene Gedächtnisgruppen der kolonialen Vergangenheit. Die historischen Antagonisten von colonisateur und colonisé nähern sich hier in der neuen Generation in Form eines lockeren Liebespaares an, das die eigene Erfahrung im fremden Herkunftsland der Eltern sucht. Die Verbindung der Figuren und ihre gemeinsame Reise überwinden so die Kluft in der Vergangenheit, in der ihre Vorfahren den Grenzen der diskriminierenden Kolonialordnung unterstanden. Es wird die Botschaft für ein neues, grenzüberschreitendes Erkunden der Geschichte angelegt. Für Naïma und Zano sind allerdings vielmehr die eigenen, inneren Konflikte vordergründig als die konkrete Auseinandersetzung mit der franko-­algerische Geschichte. Der Film verhandelt diese entsprechend über einen subjektiven Zugang, im Fokus stehen die individuellen Identitätsprozesse der Figuren. Deren Reise bedeutet vor allem eine Konfrontation mit der eigenen (pluralen) Identität. Fremdheit und die Suche nach Heimat sind dabei ebenso zentral wie die Eigenarten der Figuren, die durch das Ausleben ihres jeweils sehr individuellen Lebensstils teils in Konflikt miteinander geraten. Naïmas Charaktereigenschaften untermalen ihre Sprunghaftigkeit und identitäre Unsicherheit. Sie kann als sehr temperamentvoll, impulsiv und teilweise zügellos beschrieben werden, lässt ihren Gefühlen und auch ihrer sexuellen Lust freien Lauf (sie ist Zano untreu). Sie findet ihren Ausdruck überwiegend in körperlichen Gesten wie z. B. in wilden Tanzbewegungen. Aufgrund ihrer selbstbewussten und eigensinnigen Art kommen die tiefer im Innern versteckten Probleme erst im Laufe des Films zum Vorschein. Der Zuschauer erfährt zusammen mit Zano (im Streit) über ihr Vagabundendasein seit dem 14. Lebensjahr. Vieles von ihrer schwierigen Vergangenheit und ihrer arabischen Herkunft bleibt verschlossen, und die Vielfalt ihrer identitären Komponenten wird zunächst nicht

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von der Figur angenommen. Die schrittweise räumliche Annäherung und Begegnung mit der algerischen Kultur konfrontiert sie jedoch hiermit.366 Insbesondere über Naïma stellt der Film die Fragilität von Identität heraus. Ihr hybrider Status erschwert es ihr, eine Heimat zu definieren; die doppelte Fremdheit in Algerien und Frankreich wird anhand wechselnder Selbstbeschreibungen und äußerlicher Unangepasstheit deutlich. So spricht sie einerseits gegen Ende des Films die von ihr gefühlte Identitätskrise selbst aus. Während sie mütterliche Rituale mit einem Neugeborenen im Elternhaus Leilas und Habibs beobachtet, die symbolisch auf ihre Herkunft deuten, stellt sie verstört fest: „Je suis une étrangère partout“. Andererseits macht sie sich die verschiedenen Komponenten ihrer Identität im Laufe der Reise situationsgemäß zunutze, wodurch der Film implizit auf die performative Dimension von Identität verweist. Sie bezeichnet sich zunächst als „einfach Naïma“ und lehnt Leilas Hinweis auf die mit ihrem Namen verbundene arabische Identität ab; dann definiert sie sich mal als Algerierin aus Frankreich (beim Flirt in einer andalusischen Flamencobar), mal als Französin (Passkontrolle im Grenzgebiet Südspaniens). Während sie im ersten Beispiel die arabische Herkunft negiert, nimmt sie ihre Doppelidentität im zweiten Beispiel an. Bezeichnenderweise findet diese Annäherung in Andalusien, einem historischen Raum kultureller Überkreuzung, statt, wo sie von einem Mann zunächst für eine gitana gehalten wird.367 Die französische Identität auf dem Papier im dritten Beispiel dient ihr letztlich funktional zum Passieren von Grenzen. Naïmas Fremdheit in der algerischen Kultur zeigt sich sowohl in ihrem Äußeren als auch in ihren Handlungen. Sie vergisst beispielsweise, ihre Schuhe vor der Moschee auszuziehen und ist unpassend gekleidet. Auffallend sind in diesem Zusammenhang ihre störrische Eigenart und Abwehr gegenüber kulturellen oder religiösen Codes in Algerien. Provokativ läuft sie in einem Sommerkleidchen368 366 Die Reise ist für sie eher mit einem Trauma der Rückkehr verbunden als bei Zano, für den Algerien eine imaginäre Heimat bedeutet; sie träumt von Blut überströmten Straßen, die nicht zuletzt auf die blutige Geschichte deuten. 367 Die Eigen- und Fremdzuschreibungen verweisen auf Naïmas nicht eindeutig zuzuordnende Identität. In ihrer Antwort „soy argelina, argelina de Francia“, die sie dem Fremden in der Bar entgegenbringt, schwingen gar in ihrer Betonung und Haltung Stolz und auch etwas Exotisierendes mit, das hier ihrem Flirtverhalten zugutekommt. Interessant ist, dass sie sich auf Spanisch verständigen kann, während sie die Sprache ihrer Eltern nicht beherrscht. Ebenfalls in Andalusien kommt sie der arabischen Sprache allerdings näher, indem sie von Leila erste Worte lernt. 368 Die Fremdheit Naïmas wird auch durch die Kamera in Szene gesetzt, z. B. im Zug nach Algier: Hier wird sie in ihrem Sommerkleidchen im Schuss-­GegenschussVerfahren mit einer verschleierten Algerierin im überfüllten Wagon gezeigt, wobei

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durch die Straßen Algiers und wird dabei prompt von einer algerischen Frau wegen ihrer Freizügigkeit angegriffen. In der nächsten Szene sieht man sie verschleiert und bald darauf wütend in ihrer neuen Verhüllung auf und ab gehen. Die Worte „J’ai l’air d’une sorcière!“ zeugen von ihrer Ablehnung der für sie anderskulturellen Ordnung. Ihr demonstratives Wegwerfen des Schleiers mitten auf einem Friedhof bildet den Gipfel dieser Abwehrhaltung. Diese ist auf die Verdrängung ihrer Vergangenheit zurückzuführen, die bildlich von der Geste des Wegwerfens unterstrichen wird und die Ambivalenz in ihr zwischen dem Vergessen der Herkunftskultur und der gleichzeitigen, verborgenen Affinität spiegelt. Letztlich findet Naïma auch nicht über Anpassungen an Konventionen sondern wiederum über das Physische Zugang zur Kultur ihrer Vorfahren. In einer sehr langen Sequenz gegen Ende des Films, die quasi dokumentarisch in Echtzeit präsentiert wird (über 12 Minuten), tauchen sie und Zano mittels eines Sufi-­Trance-Rituals in die Traditionen der Gemeinschaft ein. Durch die vollkommene körperliche Hingabe öffnet sich Naïma schließlich ihrer Herkunft.369 Die kathartische Wirkung dieses Rituals lässt sie am Ende entspannt und zufrieden wirken. Für Zano ist der Schmerz der Vergangenheit ebenfalls groß, Algerien scheint für ihn aber mit der Vorstellung und Idealisierung einer verlorenen Heimat verbunden, die charakteristisch für Exilkinos ist (vgl. Naficy 2001) und hier ebenso den Verlustdiskurs der pieds-­noirs reflektiert. Zano macht sich bewusst auf die Suche nach der Vergangenheit seiner Familie, die wie die Mehrheit der europäischen Siedler mit der Unabhängigkeit Algeriens fluchtartig das Land verlassen hat. Die Familie scheint in Algerien recht gut situiert gewesen zu sein, worauf die noch immer bürgerlich eingerichtete ehemalige Wohnung in Algier schließen lässt. Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Urlaubsreise nach Algerien kamen Zanos Eltern bei einem Autounfall ums Leben. Ihr Tod und die gescheiterte Rückkehr stehen hier metonymisch für eine unmögliche Rückkehr der pieds-­noirs und ein Gefühl des Verlusts, das die Exilerfahrungen dieser Gruppe kennzeichnet. Seit dem Unfall seiner Eltern musiziert Zano nicht mehr, obwohl Musik seine Leidenschaft und sogar, nach seinen eigenen Worten, seine „Religion“ ist. Die von seinem Vater geerbte Violine mauert er zusammen mit seinem Schlüssel mit Zement ein, bevor er mit Naïma nach Algerien aufbricht. Dieses Bild drückt einerseits seinen Schmerz aus, andererseits schließt er mit der momentanen Gegenwart in ein Schweißtropfen von der Stirn der über ihr stehenden Algerierin auf der Schulter Naïmas landet, was visuell und auditiv betont wird und hier das Aufeinanderprallen von Differenzen untermalt. 369 Von einer Frau in grüner Kleidung (Farbe des Islam) wurde sie vor dem Ritual auf die Rückkehr zu ihren „Wurzeln“ eingeschworen, „il faut que tu retrouves tes repères“.

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Paris ab, lässt alles hinter sich und bricht in das für ihn unbekannte Land seiner Eltern auf.370 Eine Neuentdeckung der eigenen Identität und ein neuer Blick auf die Geschichte werden so ermöglicht. Der an sich lässig und humorvoll dargestellte Zano wird dabei im Laufe der Reise zunehmend von Nachdenklichkeit und Trauer um seine Familie eingeholt. Sein Umgang mit der Vergangenheit ist allerdings offener als der Naïmas, da er positive Erinnerungen an seine Eltern (und auch deren nostalgiebehaftete Erzählungen über Algerien) bewahrt. Naïmas Spurensuche bleibt dagegen eher im Hintergrund, bei ihr trägt erst die allmähliche identitäre Bewusstwerdung zur Auseinandersetzung mit der verdrängten Vergangenheit bei. Unterscheidet sich die familiäre Herkunft der Protagonisten durch im Kolonialsystem verankerte und ‚ethnisierte‘ Differenzen voneinander, finden die Nachkommen der pieds-­noirs und der algerischen Migranten nun eine Gemeinsamkeit in ihrem marginalisierten Status bzw. in ihrem (wenn auch unterschiedlichen) Fremdheitsgefühl. Zanos Nachname Boulanger indiziert zwar eine französische Identität, seine Familie fühlte sich aber scheinbar Algerien zugehörig, das somit eine verlorene Heimat darstellt. Naїma repräsentiert das Problem der beurs, die sich dem Heimatland der Eltern weniger verbunden sehen, sich aber auch in Frankreich nicht angenommen fühlen. Die Einführung der Figuren zeigt, wie beide letztlich abseits der Mehrheitsgesellschaft stehen: Aus der Wohnung in einem hohen Stockwerk eines grauen HLM-­Wohnblocks wirft Zano ein Bierglas aus dem Fenster in die Tiefe, was die Distanz vom Zentrum unterstreicht. Die Figuren werden zudem nackt eingeführt, was an weiteren Stellen des Films wieder aufgenommen wird. Die Nacktheit der Figuren lässt viel Interpretationsspielraum zu: Sie kann Blöße und Mittellosigkeit ebenso wie den Ausgangspunkt für einen Neubeginn andeuten, zudem auf die Fremdheit der Figuren sowie auf den Körper als Zentrum der Erinnerung verweisen. Die erste Einstellung des Films ist in Detailaufnahme auf Zanos nackten Rücken gerichtet, der so das Bild ausfüllt. Anstelle eines establishing shot (vgl. Hickethier 2007: 143) oder zumindest einer relativ weiten Kameraeinstellung, die den Zuschauern ein Zurechtfinden ermöglicht, steigt der Film hier direkt mit Fokus auf die Körperlichkeit ein. Das Bild verliert sich quasi im Körper. Erst ein langsames Rauszoomen erlaubt das Erkennen des Rückens und dann eine weitere Orientierung, die hier sowie in vielen Momenten des Films durch nahe Einstellungsgrößen zunächst verhindert wird. Die identitäre Desorientierung der Figuren wird so filmtechnisch übertragen und für das Publikum spürbar.

370 Der Schlüsselbund ist ein kleiner Globus, der sich beim Einzementieren so dreht, dass der afrikanische Kontinent nach vorne zeigt und die Richtung des Films angibt.

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Der Körper der Figuren kann zudem als Identitätsmarker gesehen werden, auf dem mehrere Spuren eingeschrieben sind. Metonymisch kodiert zeichnen sich hier traumatische Exil- und Verlusterfahrungen durch Narben ab. Eine Sequenz hebt dies explizit hervor und konzentriert sich auf die Visualisierung der Narben, die in knappen Dialogen von den Figuren kommentiert werden. Die Sequenz spielt mitten im Grünen, irgendwo zwischen Frankreich und Spanien. Das Setting sowie die erneute Nacktheit der Figuren, die sich idyllisch im Gras niederlassen, rufen zunächst paradiesische Assoziationen hervor. Dann aber fokussiert die Kamera in Detailaufnahmen die verschiedenen Narben der Figuren, die diese gegenseitig an sich entdecken. Zano hat Verbrennungen an seinem Fußknöchel, er wurde aus dem brennenden Auto seiner Eltern gezogen (über ihren Tod erzählt er erst später). Auf Naïmas Körper sind zwei Narben zu erkennen, eine am Mund – ein „souvenir d’un mec“ – und eine Narbe am Rücken. Den Grund für diese zweite, wohl bedeutendere Narbe gibt sie nicht preis; es scheint eine schmerzliche Erinnerung zu sein. Festzuhalten ist, dass die Vergangenheit sich hier bildlich auf den Körpern der Figuren einschreibt und für diese prägend bleibt. Die dadurch sichtbare Fragilität der Figuren sowie ihre wechselnden Selbstdefinitionen und Befragungen im Laufe ihrer Reise vermitteln zusammen mit weiteren filmischen Codes eine identitäre Beweglichkeit, die geschlossenen Identitätsmodellen widerspricht.

Geschichte zwischen Nostalgie, Subjektivität und Mehrdeutigkeit Die franko-­algerische Geschichte wird ähnlich instabil und plural repräsentiert, einerseits über teils mehrdeutige bildliche Fragmente evoziert, andererseits subjektiv eingeflochten. Der subjektiv-­emotionale Zugang erfolgt besonders über Zanos Familiengeschichte, die – wiederum nur fragmentarisch angerissen – eine objektivierte, nationale Perspektive verdrängt. Zugleich wird hierbei eine pied-­ noir-Perspektive eingenommen, die historische Diskurse aufgreift und zum Teil eine unkritische Sicht auf die Kolonialgeschichte widerspiegelt. Insbesondere in der Sequenz im Elternhaus Zanos weist der Film mittels Figuren, Dialogen und Bildern eine Nähe zum Nostalgiediskurs der pieds-­noirs auf und setzt zugleich ein Zeichen der Versöhnung. Die beiden älteren Algerierinnen, die im Hause anzutreffen sind, begrüßen den Nachkommen der Familie Boulanger und seine Begleiter (Naïma und ein Bruder von Leila und Habib) sehr herzlich, geradezu demütig. Die Einrichtung der Wohnung ist so belassen, wie es zu der Zeit von Zanos Eltern dort war. Nach dem wohl fluchtartigen Verlassen der Boulangers machte die algerische Familie nach den Angaben einer der beiden Frauen die Wohnung zu der ihren, wobei anscheinend alles von den Vorgängern übernommen wurde. 344

Bilder und Fotos der Familie Boulanger hängen noch und werden von der Kamera eins nach dem anderen ins Visier genommen. Auf Zanos Frage hin, warum alles noch genauso aussehe wie früher, antwortet eine der Algerierinnen, weil die Bilder „sooo schön“ seien. Diese Figurenrede erinnert an einen idealisierenden Diskurs der pieds-­noirs bezüglich ihres verlorenen Landes: Alles war doch so schön! Indem die Worte hier aber von einer der Algerierinnen geäußert werden, wird diese Sichtweise seltsam auf die Seite der ehemals Kolonisierten und zugleich in die Gegenwart übertragen. Die algerischen Mütter scheinen hier nicht nur das eigene, sondern auch das Erbe des colonisateur zu bewahren. Die folgende Szene geht ebenfalls in diese Deutungsrichtung. Die andere Algerierin bringt Zano eine Fotoschachtel, in der Bilder der Familie Boulanger aufgehoben sind. Zano durchblättert die Fotos, wobei die Kamera über seine Schultern hinweg in Groß- und Detailaufnahmen mitschaut. Beim Anblick seines Vaters mit der Violine bricht Zano in Schluchzen aus. Vorsichtig nähern sich die algerischen Frauen von beiden Seiten und trösten ihn an ihren Brüsten. Diese mütterliche Geste kann symbolisch verstanden werden und deutet auch auf die mère-­Algérie-Metapher der pieds-­noirs: Die Algerierinnen – stellvertretend für „Mutter Algerien“ – trösten den pied-­noir-Sohn und nehmen ihn versöhnlich bei sich auf. Dies spiegelt die Wunschvorstellung eines gemeinsamen Algeriens, die an die Utopie der damaligen links-­intellektuellen pieds-­noirs erinnert. Dabei bleibt es zweideutig, ob hierin eine optimistische Botschaft für die Zukunft oder eher eine Verklärung der Vergangenheit zu lesen ist. Die Trauer der pieds-­noirs um ihre verlorene Heimat Algerien wird zumindest in Zanos Trauer um den Verlust der Familie ausgedrückt. In den genannten Szenen sind die Blicke der Kamera oft Zanos Perspektive nachempfunden, besonders die Fokussierung der Bilder und Fotos. Diese dadurch zur Figur geschaffene Nähe unterstreicht den subjektiven Zugang zur Geschichte. Im Hintergrund der Szene verweisen leise Klavierpartituren auf die europäische (bourgeoise) Atmosphäre der damaligen Zeit, und insgesamt deutet das Dekor auf das Ambiente der Vergangenheit hin. Eine parataktische Reihung der Bilder und Familienfotos an der Wand und aus der Fotoschachtel ruft verschiedene mögliche Assoziationen ab. Die Pass- bzw. Porträtfotos von Algeriern, die Zano durchblättert, bleiben mehrdeutig und unkommentiert. Ein Foto eines Schiffes an der Wand, dessen Kontext unklar ist, lässt sich als Hinweis auf den Exodus der pieds-­noirs deuten, auch wenn es noch aus einer Zeit während der Kolonisation stammen müsste. Die einzelnen Einblendungen betonen einen fragmentarischen Blick auf die franko-­algerische Geschichte. Insgesamt vermitteln die Sequenzen im Elternhaus eine an die pied-­noirPerspektive angelehnte Sicht, wobei die Trauer Zanos um seine Familie (Unfall) 345

im Vordergrund vor der kollektiven Geschichte dieser Gruppe steht und sich mit der Exilerfahrung der zweiten Generation mischt. Die Geste der Algerierinnen spielt einerseits auf eine versöhnliche Haltung an. Dabei unternimmt der Film mit deren Bewahren des kolonialen Erbes in Form der „schönen Bilder“ aber auch eine brisante Aussage. Zumindest scheint er hier im Kontext der pied-­noir-Erinnerungen keine kritische Stellung bezüglich der Kolonialzeit einzuschlagen. Dies unterstreicht eine Szene zuvor, in der Zano erzählt, dass sein Großvater ein Held und Antikolonialist war, der vom französischen Militär ermordet wurde. Am Ende des Films, am Grab des Großvaters, erwähnt er, dass dieser zudem der erste Lehrer in seinem Dorf gewesen sei. Derartige Referenzen können implizit für die Verbindung seiner Familie zu Algerien stehen. Sie überdecken aber zugleich die Gewalt der Kolonisation bzw. erwähnen diese lediglich in Bezug auf die links-­intellektuellen Europäer oder die hommes de bonne volonté im Sinne Memmis (vgl. Memmi 1980), die hier zum Opfer werden. Die Verbrechen an den Kolonisierten werden nicht expliziert. Es ist also vor allem die Geschichte der Europäer in Algerien, die hier aufgegriffen wird. Andererseits betont die erzeugte Nähe zu Zano in diesen Szenen, dass es sich um eine subjektive Perspektive handelt. Der Film trifft keine allgemeingültige Aussage und verweist anhand seiner weiteren Gestaltungsweisen gerade auf die Unsicherheit und Mehrdeutigkeit von Geschichte. Besonders das teilweise unvermittelte Einblenden von ambivalenten Bildern zeigt, dass Geschichte und Erinnerungen verschieden auslegbar sind. Die fragmentarischen, visuellen Erinnerungsfetzen und Andeutungen stehen ebenfalls einer Festschreibung entgegen. Sie widersprechen einer einseitigen und linearen Geschichtsnarration, indem sie vergangene und gegenwärtige Migrationsgeschichten verknüpfen. Dies zeigt sich beispielsweise an markanten Bildern von Menschenströmen, die an zwei Stellen des Films montiert sind und auf die verschiedenen Emigrationen der franko-­algerischen Geschichte deuten. Zum ersten Mal taucht dieses Bild unmittelbar nach der Eröffnungssequenz zusammen mit der Einblendung des Filmtitels auf. Durch seine gelb-­bräunliche Färbung mutet es historisch an, zugleich sticht die grelle Beleuchtung hervor und ‚überblendet‘ regelrecht eine zeitliche Einordnung. Zu sehen ist ein in Richtung Kamera strömender und von oben gefilmter exodusartiger Menschenzug. Die Kleidung der gezeigten Figuren lässt auf einen relativ aktuellen Bezug schließen. Bei der Ankunft der Protagonisten in Algerien nimmt der Film das Bild wieder auf und entfaltet eine Szene, in die diesmal die beiden Hauptfiguren integriert werden. Zuvor befinden sich die Protagonisten noch im Zug. Die Fahrt durch einen Tunnel lässt das Filmbild schwarz werden, der Ton wird schräg und ahmt dann Bremsgeräusche nach. Abrupt und mit dem Abbruch des Tons folgt ein 346

ähnlich gelbliches Bild wie am Anfang des Films, das laufende Beine und dann Menschen bis zum Oberkörper zeigt; ein Mann wedelt mit einer kleinen algerischen Fahne. Dies könnte ein historischer Verweis auf die Unabhängigkeit sein, bleibt aber mehrdeutig. Im nächsten Moment befinden sich Naïma und Zano mitten in einer Menschenmasse, die dem Bild vom Anfang des Films entspricht. Die Protagonisten wirken wie unpassend in die Szene hineingesetzt, während sie sich verunsichert einen Weg durch die ihnen entgegenströmende Menschenmasse bahnen. Die Kamera zeigt Nahaufnahmen von Zano und Naïma und weitere Einstellungen auf den anschwellenden Menschenzug von oben. Letztlich geht diese Szene über in das gleiche Exodus-­Bild wie am Anfang. Durch die Inszenierungsweise (die grelle Farbgebung, die veränderte Tonebene sowie das Hervorstechen der Protagonisten) wirkt die Szene fast surreal und drückt die Fremdheit von Naïma und Zano in Algerien aus. Andererseits deutet sie auf die gegenwärtige Emigration und die in Algerien politisch ungelösten Probleme, die die Menschen in die Flucht treiben. Das Hineinsetzen der Figuren in das Anfangsbild und Elemente wie die algerische Flagge verbinden die vergangenen und aktuellen Migrationen der franko-­algerischen Geschichte. Die Zugfahrt durch den Tunnel und der Abbruch des Tons bei der Einfahrt nach Algier (die visuell durch die Schwarzblende ausgespart bleibt) untermalen metaphorisch eine ‚Zeitreise‘ in die Vergangenheit, die sich dann im darauffolgenden Bild des Migrationsstromes vergegenwärtigt. Naїma und Zano strömen in die entgegengesetzte Richtung der Masse. Tony Gatlif: Exils (2003): 1:04:38.

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Die auswandernde Menschenmasse ist im Übrigen die erste visuelle Darstellung des Schauplatzes Algerien, das ansonsten besonders über kulturelle Codes und Traditionen (mütterliche Rituale, Musik, Tranceritual) repräsentiert wird. Diese erste, gleichzeitig symbolhafte Visualisierung kommuniziert zusammen mit weiteren Bildern eine kritische Sichtweise desLandes (vgl. Arend 2013: 215). In Algier werden neben den überwiegenden Innenräumen (Schauplätze kultureller Praktiken, Moschee, Wohnhäuser) bei der Darstellung des Außenraums vor allem Ruinen sichtbar. Diese lassen sich nicht nur mit dem außerfilmischen Erdbeben vom Mai 2003, das in Dialogen auch von den Figuren angesprochen wird, in Verbindung bringen, sondern deuten bildhaft ebenso auf die Zerrüttung Algeriens in Folge des Terrorismus. Diese Lesart wird durch weitere (unwirklich wirkende) Bilder begünstigt, so z. B. durch mehrere Einstellungen von wartenden Menschen, die immobil in den Straßen Algiers stehen, während die Hauptfiguren an ihnen vorbeilaufen. Bei dieser Inszenierung könnte es sich um eine visuelle Metapher für die Stagnation Algeriens handeln.

Transkulturelle (Migrations-)Räume und Überkreuzungen von Geschichte und Gegenwart Die komplexe filmische Vermittlung von Geschichte und Identität steht in Exils vor allem im Zeichen einer transnational-­transkulturellen Perspektive, die einerseits Verbindungen und andererseits Konflikte und Spannungen kommuniziert. Insbesondere über die Bewegung der Figuren durch den Raum sowie die Schauplätze des Films wird die Überkreuzung von Geschichten, Kulturen und Identitätskomponenten vermittelt. Kulturelle und nationale Grenzen werden dabei aufgezeigt und problematisiert, indem das Migrationsthema mehrdimensional beleuchtet wird. Die direkt aus der Kolonialgeschichte resultierende Migration von pieds-­noirs und von Algeriern nach Frankreich bilden die Ausgangssituation für die Identitätssuche der Hauptfiguren und somit die Motivation für die Filmhandlung. Die für viele beur-­Filme typische Räumlichkeit der HLM-­Wohnblöcke eröffnet den Film und situiert die Figuren. Von dort aus brechen die Protagonisten auf und durchkreuzen auf ihrer Reise in den Süden Frankreich, Spanien, Marokko und Algerien. Naïma und Zano bewegen sich dabei entgegen der Richtung der politisch und wirtschaftlich bedingten Migrationsströme von Afrika nach Europa. Sie nehmen auch nicht die viel frequentierte Route der Heimatbesucher über die Schiffsverbindung zwischen Marseille und Algier, sondern suchen ihren eigenen Weg über Südspanien (ohne finanzielle Mittel). Transiträume wie Zug, Bus, Schiff, Hafen, Grenzgebiete und auch das Mittelmeer unterstreichen die Verbindungen 348

und die Fluidität kultureller Verortung. Langsame, teils horizontale Bewegungen durch Andalusien sowie Umwege (Schiff nach Marokko) und Hindernisse (Bus­ panne in wüstenartiger Grenzregion Marokkos), ersetzen eine schnelle Zielgerade und lassen die kulturell-­geographischen Räume hervortreten. In Andalusien spielt sich der größte Teil des Films ab, und das nicht ohne Grund. Mit Südspanien als einem der wichtigsten Handlungsorte […] wird eine Region in Szene gesetzt, die im Laufe ihrer Geschichte ein zentraler Raum des Kontakts zwischen der arabisch-­islamischen und der europäisch-­christlichen Kultur gewesen ist und die Entfaltung einer reichen arabisch-­europäischen Hybridkultur ermöglicht hat. Zugleich ist dies auch ein Raum, von dem aus unzählige Exilschicksale nach der Vertreibung der Juden sowie der Araber ihren Ausgangspunkt genommen haben (Arend 2013: 208).

Über die Hauptfiguren und ihre Begegnung mit Migranten, die sich in die entgegengesetzte Richtung bewegen, werden verschiedene Migrationsströme aus Geschichte und Gegenwart verbunden. Auf den südspanischen Obstplantagen treffen Zano und Naїma auf eine anonyme Gruppe illegaler Einwanderer aus Afrika. In dem Geschwisterpaar Leila und Habib – sozusagen den Komplementärfiguren zu den beiden Protagonisten – wird die Masse der Migranten individualisiert. Sie verkörpern die aus dem Süden emigrierenden, vor allem jungen Menschen, die mit Hoffnung auf eine bessere Zukunft einen Weg nach Europa suchen. Dabei kreuzen sich ihre Wege gleich zweimal mit denen Zanos und Naїmas. Das Aufeinandertreffen der Figuren in Südspanien stellt einen impliziten Bezug auf einen weiteren historischen Kontext von Migration und kulturellen Überkreuzungen her (al-­andalus und Reconquista). In diesem Raum der Hybridisierung treffen die Protagonisten auf exemplarische Figuren des Transits. Sie werden von einer Gruppe gitanos in deren Nachtlager aufgenommen. Diese Gruppe (die schon am nächsten Tag verschwunden ist) sowie die illegalen Migranten sind Figuren in ständiger Bewegung. Das nomadische Leben der gitanos kann im übertragenen Sinne für die Suche nach Identität und Heimat gelesen werden und widerlegt sogleich die Fixierung in einer kulturellen Verortung bzw. Verwurzelung. Aspekte, die die transkulturelle und prozessuale Konzeption von Kultur und Identität unterstreichen, stehen neben den Gefahren und schmerzhaften Erfahrungen der Migration. Auf dem kargen Grenzgebiet nahe den Plantagenunterkünften wird beispielsweise ein illegaler afrikanischer Migrant von der Polizei abgeführt. Auch Leila und Habib schmuggeln sich über die Grenzkontrolle, zusammengerollt auf einem Ersatzreifen eines LKWs. Ist die treibende Kraft für die Masse der Flüchtenden vor allem Hoffnung auf eine Zukunft und birgt ihre illegale Migration Gefahren, so ist die Reise der Protagonisten vielmehr ein Abenteuer, wenngleich auch sie ebenfalls auf der Suche nach einer besseren Zukunft sind. 349

Naïma und Zano bringen sich außerdem selbst auch in illegale Situationen: Auf dem Schiff reisen sie als blinde Passagiere (irrtümlich) nach Marokko. In Marokko müssen sie ihren Weg heimlich fortführen, als sie erfahren, dass die Grenze zu Algerien geschlossen ist. Die Gründe ihres illegalen Einwanderns sind einerseits finanziell und wohl auch einem fehlenden Visum geschuldet. Andererseits unterstreicht die Illegalität der Protagonisten symbolisch ihre identitäre Unsicherheit. Zudem unterläuft sie, ähnlich wie Johnnys Einreise in Il était une fois dans l’oued, die üblichen Migrationsströme Richtung Europa. Das Setting in Andalusien unterstreicht zusammen mit anderen filmischen Codes die kulturelle und historische Überkreuzung, zugleich äußern sich hier über die Bildsprache weitere kritische Sichtweisen der Zeitgeschichte. Bei sintflutartigem Regen371 suchen die Protagonisten sowie das Geschwisterpaar Schutz in einem Hauseingang in einem kleinen Dorf und treffen dabei zum ersten Mal aufeinander. In der nächsten Sequenz trinken sie gemeinsam vor einer Ruinenkulisse Tee und lernen sich kennen. Kleine, fast unbemerkbare Versatzstücke rücken die arabische Kultur näher, wie z. B. ein Grafitti in arabischer Schrift an einer Steinmauer. Habib spricht außerdem nur Arabisch, wohingegen seine Schwester mit ihren Französischkenntnissen die Brücke zu Naïma und Zano herstellt. Als die beiden Geschwister von den Plänen des reisenden Pärchens erfahren, brechen sie in Gelächter aus. Wer sollte schon freiwillig nach Algerien wollen, ein Land, das seiner Jugend keine Perspektive bietet? Hier sowie in weiteren Gesprächen wird eine kritische Sicht auf die Gegenwart – sowohl auf Europa als auch auf den Maghreb bezogen – vermittelt. Die Dialoge deuten dabei auch auf eine Differenz zwischen den Bildern von Europa (Frankreich) aus innerer und äußerer Sicht. Während das Geschwisterpaar Frankreich mit Wohlstand und Hoffnung auf ein besseres Leben verbinden, weist Zano darauf hin, dass man auch in Paris arm sein kann. Dass es sich bei der Ruinenkulisse, vor der die Szenen stattfinden, nicht um antike Ruinen handelt, sondern um moderne Industrieruinen, ist umso aussagekräftiger. Die zerfallenen Fabrikgebäude und Lagerhallen können als kritische Perspektive gelesen werden und verweisen durch ihre Absage an klassische Ruinenmotive ebenso auf einen Gegenwartsbezug der Vergangenheit, der die Ge-

371 Wasser, das im weitesten Sinne eine Fluidität andeutet, spielt oft eine Rolle in Exils, z. B. in Form von Brunnen, Regentropfen, die im Rhythmus der Filmmusik herunterprasseln, Wasserrationen auf der Plantagenunterkunft, Zanos Augentropfen und vor allem dem Mittelmeer.

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schichtssicht des Films prägt (vgl. Arend 2013: 208 f.).372 Im Gegensatz zu antiken Monumenten als Zeugen einer ‚großen Geschichte‘, stehen hier ‚wertlose‘ Industrieruinen, die keinem vergangenen Imperium zuzuordnen sind: „Geschichte ist bar jeder Monumentalität und bedeutet Verfall, Zerstörung. Ganz im Sinne der neueren Geschichtstheorie sind Vergangenheit und Geschichte nur in Fragmenten greifbar“ (ebd.: 209). Interessant in dieser Sequenz sind die verschiedenen Kameraeinstellungen und Raumkonstruktionen: Die Figuren kommen aus Ruinen empor, die Kamera fährt die Ruinen teils angelehnt an den Blick von Figuren ab und der Film stellt so eine Parallele zu den zerbrochenen Identitäten der Figuren her. Die Brüchigkeit des Raums untermalt bildlich die vor dieser Kulisse auftauchenden Identitätsfragen Naïmas. Diese wird hier durch Leilas Hinweise mit ihrer arabischen Herkunft konfrontiert, die sie zunächst negiert. Der Verlust der Muttersprache, die sie durch das Verdrängen der arabischen Kultur seitens ihres Vaters nie gelernt hat, wird in einem weiteren Dialog an diesem Ort thematisiert und zugleich durch eine erste Öffnung Naїmas gegenüber dieser erwidert. Sie lernt erste Worte Arabisch von Leila und beginnt so, sich Algerien anzunähern. Zano erzählt ebenfalls an diesem Ort zum ersten Mal etwas mehr über den Unfall seiner Familie. Tief verborgene Fragmente seiner Familiengeschichte werden an die Oberfläche geholt, was visuell durch eine Spiegelung in einem Brunnenschacht unterstrichen wird. Vor schwarzem Hintergrund sind Naïmas und Zanos Gesichter darin nur schemenhaft und verwackelt zu vernehmen. Während Zanos Stimme von seinem Großvater erzählt, verweilt die Kamera auf diesem Bild, bevor sie in der nächsten Einstellung zu den Figuren außen an der Ruine übergeht. Die Verschwommenheit und die Tiefe des Brunnens symbolisieren den filmischen Zugang zur Geschichte bzw. Erinnerung, die als verborgen und ‚unscharf ‘ verstanden werden kann und so, ebenfalls entsprechend rezenter Theorien, auf verschiedene Auslegungsmöglichkeiten und Rekonstruktionsmechanismen verweist. Neben dem Fragmentarischen wird weiterhin die kulturelle Heterogenität des Mittelmeerraums kommuniziert, z. B. auch über religiöse Referenzen. Parallel zur Brunnenszene und Zanos Erzählungen verrichtet Habib islamische Gebete in einer wie eine Kathedrale wirkenden Ruine. In der zweiten Zusammenkunft mit dem Geschwisterpaar, das ebenso wie die Hauptfiguren auf Obst- und Gemüseplantagen in Andalusien Arbeit sucht, wird die Präsenz des Islam durch

372 Das Motiv entspricht einer Abwendung von einer „romantischen Attitüde“ und einer Umkehrung von Bildtraditionen, in denen der Süden über klassische Ruinenmotive repräsentiert wird (vgl. Arend 2013: 208 f.).

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die betende Leila und die Trennung der Häuser nach Geschlechtern spürbarer. Die Arbeit auf den Obst- und Gemüseplantagen, um die die illegalen Migranten konkurrieren, wird für Naïma und Zano teilweise zu einem lustvollen Erlebnis, das die Ernsthaftigkeit der Situation etwas verklärt. Nicht sehr folgsam (Naima dekoriert die Orangenbäume mit Fliegenfallen wie einen Weihnachtsbaum) verrichten sie die Arbeit und geben sich in einer Szene auf der Apfelplantage einem verbotenen Liebesspiel hin: „In der erotisch hoch aufgeladenen Szene wird die Ikonographie der biblischen Sündenfallgeschichte ironisch dekontextualisierend zitiert: vom Biss in den Apfel bis hin zu dem Verweilen der Kamera auf den Beinen Naïmas, die sich um die ihres Freundes winden – wie die Schlange um den Baum“ (Arend 2013: 210). Hier wird der Ursprung der europäisch-­christlichen Kultur, die Vertreibung aus dem Paradies (parallel zum Exil der Figuren), spielerisch aufgegriffen.

Hybridität und Beweglichkeit über Musik und Kameraverfahren Ähnlich wie die Handlungsräume hat die Musik eine strukturierende Funktion und begleitet die Reise in den Maghreb. Sie stellt ein zentrales Verfahren des Films dar, das die Bewegung untermalt und eine transkulturelle Verbindung des Mittelmeerraums suggeriert. Zudem drücken sich hierüber die Exilthematik sowie politische Fragen aus. In der Eingangssequenz kommentiert die Musik die Situation der Protagonisten, sie deutet in ihrem Text auf deren Verlusterfahrung („It’s important to speak about those who are absent“) und spricht sich für Freiheit und Demokratie aus („It’s an emergency to talk about freedom“). Klang und Rhythmus ebenso wie der englische Sprechgesang erzeugen eine Spannung, die durch Kontrastierungen betont wird. Während der Rhythmus gleichmäßig eine Art langsamen Marsch nachahmt, wirkt der Gesang gehetzt und unruhig und die Töne der verschiedenen Instrumente sind teils anstrengend schräg. Der Film kündigt mit diesem ersten Song die Migrationsproblematik an und greift Letztere über weitere musikalische Stücke und Texte auf, z. B. in Liedern über Sprachverlust, Exil oder die sans-­papiers. Setzt die Musik so einerseits den thematischen Rahmen, charakterisiert sie andererseits auch die identitären Entwürfe der Figuren. Sie erlaubt den Protagonisten Ausdrucksfreiheit und definiert die Dynamik der Charaktere. Die Musikstile, die Zano und Naїma hören, sind entsprechend der hybriden Identität der Figuren schwer einem Genre zuzuordnen; sie bewegen sich zwischen einer Art Progressive House und verschiedensten traditionellen Musikkulturen und umfassen mehrere Sprachen. Die Verbundenheit der Protagonisten zur Musik zeigt sich sowohl durch ihre Tanzbewegungen (z. B. Naïmas wilder Morgentanz) 352

als auch durch das Musikhören: Die Figuren sind ständig mit Kopfhörern zu sehen, ihre Musik ist teilweise intern aurikularisiert zu hören oder kommt aus Quellen im Bild wie dem Radio. Von Musik und Rhythmus begleitet, finden letztlich beide Hauptfiguren eine ansatzweise Versöhnung mit sich und der Vergangenheit ebenso wie einen Zugang zu Algerien. Die Musik spannt so einen narrativen Bogen bis hin zur (körperlichen) Ankunft der Figuren in der algerischen Kultur (Trancesequenz). Die räumliche Bewegung in Richtung Algerien wird im Laufe des Films über verschiedene Musiktraditionen reflektiert. Je weiter die Reise der Protagonisten in Richtung Maghreb geht, desto größer werden die musikalischen Anteile arabischen Einflusses. Die asynchrone Musik im off nimmt in ihren Stilen und Texten eine Annäherung an Algerien auf, so beispielsweise der Song „Algeria“, der auf dem Schiff und bei der Ankunft in Algier zu hören ist. Besonders auch die im on gespielte diegetische Musik präsentiert die verschiedenen Musikkulturen sowie ihre Verbindungen über Rhythmus, Gesang und Instrumente. Dabei wird die Musik keineswegs in getrennten Zuordnungen fixiert. Vielmehr wird die Hybridität der verschiedenen Stile und Traditionen, insbesondere der arabisch geprägten andalusischen Musik, deutlich und es werden die Tradierungen zwischen ihnen hervorgehoben (vgl. Arend 2013: 212). In den asynchronen Musikstücken treffen zudem nicht nur arabische, andalusische und gipsy-­Elemente aufeinander, sondern auch traditionelle und moderne popkulturelle Einflüsse. Die auf der Handlungsebene gespielte, synchrone Musik von Flamenco bis zum Tranceritual macht Parallelen sichtbar, die sich auch im gemeinschaftlichen Musizieren, Klatschen und Tanzen finden. Die Musik tritt in einigen Szenen deutlich auf die Handlungsebene, wird „performativ“ (ebd.) und macht als wesentlicher Bestandteil die Bewegung und kulturelle Hybridität erfahrbar.373 Insgesamt unterstreichen die hybriden Stile und die häufig polyphonen Texte die transkulturelle Ausrichtung des Films.

373 Arend beschreibt, wie die gesamte Inszenierungsweise der Tranceszene diese für die Zuschauer sehr spürbar vermittelt: „[Die Handkamera] vollführt in Kreisbewegungen schnelle und unruhige Schwenks. Der Raum, die Musiker, die Tanzenden und andere Anwesende ziehen mehrfach und in sich steigerndem Tempo am Zuschauer vorbei, was nahezu Schwindel beim Betrachter erzeugt“ (Arend 2013: 214). Naïmas fast ‚exorzistisch‘ wirkende Erfahrung drückt sich im Höhepunkt der Trance aus, wobei sie unter heftigen Zuckungen und Weinen in Richtung Boden gleitet, gestützt von Zano und einer Algerierin. Die Unruhe ihrer Identitätssuche kommt hier deutlich über die körperlichen Bewegungen zum Ausdruck.

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Die Kamera rahmt die Hauptfiguren zusammen mit den anderen illegalen Plantagenarbeitern in einem der charakteristischen Verfahren des Films und sprengt diese visuelle Eingrenzung symbolisch in dem anschließenden Schwenk. Tony Gatlif: Exils (2003): 00:45:02.

Über seine Kamerabewegungen und -einstellungen reflektiert der Film technisch-­ ästhetisch die Dynamik von Identitätsprozessen sowie den subjektiven Zugang zur Geschichte. Die Kamera ist in Exils sehr deutlich und mitunter recht selbständig in Bewegung. Zahlreiche, teils schnelle Schwenks, rasante Kamerafahrten sowie der häufige Einsatz von Handkamera erzeugen eine Unruhe, die der identitären Suche entspricht. Außerdem wechseln die Wahrnehmungsperspektiven häufig zwischen Null-, externer und interner Fokalisierung. Gleichfalls sind deutliche Wechsel der Einstellungsgrößen zu erkennen, die Detailaufnahmen mit weiten Einstellungen kontrastieren und eine Spannung aus Nähe und Distanz schaffen. Die vielen Nah-, Groß- und Detailaufnahmen stellen insgesamt das Subjekt in den Vordergrund, zugleich erschweren sie teils, wie für die Eröffnung des Films beschrieben, eine Orientierung der Betrachter und führen so zu Irritationen. Neben den meist nahen Einstellungsgrößen auf die Figuren filmt die Kamera diese auch aus einer dokumentierenden Distanz, die etwas Statisches hat und den subjektiven Eindrücken374 entgegensteht. Mehrere Male nimmt die Kamera quasi voyeuristische Positionen ein. Sie beobachtet die vorbeigehenden Prota374 Siehe z. B. Zanos Suche von Naïma im Flamenco-­Lokal als Beispiel für eine point-­ofview-­Perspektive. Bevor die Kamera durch verschiedene Türen und Räume wandelt und teils in unruhigen Schwenks die Räume absucht, fokussiert sie Zano, der sich vergeblich nach seiner Freundin umsieht, die mit einem Fremden verschwunden ist.

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gonisten aus der Ferne durch Hecken und Büsche hindurch oder verfolgt aus Distanz deren Liebesspiel in der Obstplantage. Bevor gegen Ende des Films die Tranceszene beginnt, schaut sie von oben durch ein Dachfenster ins Innere des Hauses, wo Naïma und Zano in die lokalen Traditionen eingeführt werden. Sie verweist in diesem Fall auf das bevorstehende ‚Eindringen‘ des Zuschauerblicks, der im nächsten Moment einem Ritual hinter verschlossenen Türen beiwohnt. Die Beobachtungen werden von weiteren Aufnahmen ergänzt, bei denen innerhalb der Kadrierung des Filmbildes deutliche Rahmungen gesetzt werden. Ein Beispiel hierfür ist der Kamerablick durch eine Art Fenster in einer Steinmauer, an der Naїma und Zano zusammen mit den anderen Arbeitern vorbeilaufen. Auch in der oben beschriebenen Szene der Brunnenspiegelung wird das Bild durch den Lichteinfall auf schwarzen Hintergrund umrandet. Dieses Verfahren fixiert Momente und Figuren innerhalb eines visuellen Rahmens und bildet so eine formale Antithese zur ansonsten sehr bewegten Kamera. Die Rahmungen inszenieren eine bildliche Eingrenzung und Festschreibung, die wiederum von den Bewegungen der Kamera und den Figuren durchbrochen werden. Durch diesen Kontrast unterstreicht die Kameraebene die Ambivalenz zwischen der Suche nach identitärer Verankerung (Wurzeln, Fixierung) und der filmisch formulierten Prozesshaftigkeit von Identität. Hinsichtlich dieser Strategien kann im übertragenen Sinne gefragt werden, ob nicht auch fixierte kulturelle Festschreibungen ‚gesprengt‘ werden, wenn die Figuren bildlich aus dem Rahmen laufen.375 Über die kontrastierende Funktion der Kameratechnik hinaus verweist das Rahmungsverfahren auch auf die Präsenz der Kamera als Erzählinstanz. Der selbstreferenzielle Bezug der Kamera – die in einer Szene sogar von Wasser bespritzt und damit deutlich sichtbar gemacht wird – deutet zusammen mit der Akzentuierung des Subjektiven auf eine Abwendung von objektivierenden Repräsentationsverfahren. Die Hervorhebung von Bildausschnitten durch das Rahmungsverfahren unterstreicht nicht zuletzt den fragmentarischen Blick des Films auf Geschichte und Identität, die in einer Dynamik zwischen der Suche nach Verankerung und einer Instabilität entworfen werden.

Es wird suggeriert, dass die folgende Sequenz Zanos Blick nachempfindet, der am Ende allein durch die Straßen geht. 375 Dies unterstützt auch die Schlusseinstellung, in der Naïma und Zano Hand in Hand nach hinten aus dem Bild hinauslaufen und so eine weitere Bewegung und Nicht-­ Abgeschlossenheit der Identitätssuche angedeutet wird.

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Résumé Die Analyse hat gezeigt, wie Exils noch deutlicher als die obigen Filmbeispiele die Prozesshaftigkeit und Verwobenheit von Identität und Geschichte über eine Vielzahl von filmischen Codes kommuniziert und diese inhaltlich-­ästhetisch als jeweils als instabil, unsicher und plural konzipiert. Aus einer transkulturellen Perspektive heraus verhandelt der Film die Selbstentwürfe und Erfahrungen von Migranten, die exemplarisch den fluiden und hybriden Charakter postkolonialer Identitäten verkörpern und in ihrer individuellen Suche Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart knüpfen. Dabei wird Geschichte selbst vieldeutig inszeniert. Fern einer ereignisgeschichtlichen Erzählung arbeitet Exils mit fragmentarischen Versatzstücken der franko-­algerischen und europäisch-­maghrebinischen Geschichte(n), die im Einzelnen über Figuren, Raum und Bilder angedeutet, aber nicht weiter narrativ entfaltet werden. Anstelle einer geschlossenen und nationalen Narration inszeniert der Film die individuelle Spurensuche der Protagonisten mit Blick auf Familiengeschichten, die mit spezifischen Gruppengedächtnissen der franko-­algerischen Vergangenheit verknüpft sind und in einem weiteren Kontext von Migrationsgeschichten stehen. Der subjektive Zugang wird durch die Erfahrungen und Emotionen der Hauptfiguren akzentuiert und auch über Kameraverfahren nachgespürt. Obwohl Gatlifs Film über die Reflexion von pied-­noir-Nostalgien auch Mythen der Vergangenheit aufgreift, stellt er durch das Fragmentarische und Subjektive gerade eine Festschreibung in Frage. Die Mehrdeutigkeit von Bildern sowie die dadurch entstehende mögliche Verunsicherung der Zuschauer/innen verweisen auf die Komplexität von Geschichte, die verschieden auslegbar ist. Das offene Ende des Films, die Form des road movie und die insgesamt über verschiedene filmische Ebenen inszenierte Bewegungsdynamik unterstreichen dies strukturell. Es lässt sich so in mehrfacher Hinsicht eine Parallele zu postmodernen und postkolonialen Geschichtskonzeptionen ziehen, die Objektivitätsansprüche in Frage stellen, das Unsichere, Fragmentarische, Subjektive und Marginale betrachten und die Verflochtenheit der Geschichten von ehemaligem Kolonisator und Kolonisierten herausstellen.376 Kulturelle und historische Überkreuzungen sowie Konflikte im Migrationskontext werden in Exils anhand der Bewegungen und Ambivalenzen über die verschiedenen filmischen Codes transportiert. Einerseits sind hier kritische Bilder 376 Siehe hierzu Kapitel II. Siehe auch zu zeitgenössischen literarischen Geschichtsrepräsentationen insbesondere im Mittelmeerkontext Arend / Reichardt / Richter 2008.

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und Aspekte der Migrationsproblematik zu finden, andererseits wird die Verbindung von europäischer und maghrebinischer Kultur insbesondere über die Musik und die Schauplätze in Andalusien herausgestellt. Durch das Sichtbarmachen und Überwinden von Grenzen auf allen Ebenen (Figuren, Raum / Setting, Kadrierung, Kamera, Musik, Sprache) steht Exils exemplarisch für ein transkulturelles (Exil-)Kino, das im Zeichen von Hybridität steht.

Bewegung und Flucht Ähnlich wie Exils greifen mehrere (franko-)algerische Filme der letzten Jahre in der einen oder anderen Weise auf die Bewegung des road movie zurück, bzw. drücken sie Reisen unterschiedlichster Art aus, die die Suche nach Identität sowie auch die nach einem anderen Algerien spiegeln. Anders als in Exils steht dabei meist eine deutlich desillusionierende Sicht auf das gegenwärtige Algerien im Vordergrund. Die Filme emigrierter Regisseure/innen kommunizieren neben Kritik am autoritären Staat und am Islamismus eine allgemeine Perspektivlosigkeit und machen Verbindungen aus Schmerz, Nostalgie und Fremdheit über negative Erfahrungen der Rückkehr spürbar. In La Fille de Keltoum (Mehdi Charef, 2001), in dem sich Charef kritisch mit seinem Herkunftsland auseinandersetzt, trifft die von Schweizern adoptierte Rallia auf der Suche nach ihrer leiblichen Mutter auf ein frauenfeindliches Algerien. Mit L’Autre Monde (2001) kehrt auch Merzak Allouache noch während des Bürgerkriegs nach Algerien zurück und reflektiert die Fremdheit im eigenen Land. Die omnipräsente Gewalt wird hier ebenfalls über die Erfahrungen einer jungen beurette vermittelt. Auf der Suche nach ihrem beim Militärdienst verschwundenen Verlobten reist diese in abgelegene Gegenden des Landes und trotzt den Gefahren des Terrorismus, die sie dennoch grausam einholen. Eine deutliche Entfremdung im eigenen Land erfährt auch der Protagonist in Bled number one (Rabah Ameur-­Zaïmeche, 2005). Der aus Frankreich ausgewiesene und aus dem Gefängnis entlassene Kemal begegnet einem zerrissenen Algerien, das sich zwischen gemeinschaftlichen Traditionen und Auswüchsen der Intoleranz und Macht bewegt und die Freiheit des Einzelnen bedroht. Algerien wird in den 2000er Jahren insgesamt wieder vermehrt zum Schauplatz und tritt aus seiner ‚Unsichtbarkeit‘ während des Bürgerkriegs heraus. Die Erkundungen (Rückkehr oder Suche) ebenso wie die Verarbeitung von Verlusterfahrungen spielen sich filmisch in verschiedenen Gegenden ab. Die Beispiele durchkreuzen die ländliche Kabylei (La Maison jaune, Amor Hakkar, 2007), Algier (Rome plutôt que vous, 2006) sowie Wüstenlandschaften (Inland, Tariq Teguia, 2008). Die Bewegungen durch das Land lassen vielschichtige Spuren der Vergangenheit und des jüngsten Traumas des Bürgerkriegs spürbar werden. Ge357

schichte vergegenwärtigt sich und steht im Dialog mit aktuellen Regungen in der Bevölkerung, so z. B. in Teguias Inland. Dieser Film öffnet sich dem weiten Raum der Wüstengegenden, die in lyrischen Bildern erkundet werden. Er lässt seine Figuren in fremden Begegnungen und Landschaften auf einer äußeren und inneren Reise neue Wege erschließen und vermittelt zugleich Absurdität sowie Vorstellungen eines möglichen anderen Algerien (vgl. hierzu Neyrat 2009). Erdrückender scheint hier Teguias erster Film Rome plutôt que vous. Die Aussichtslosigkeit im eigenen Land, die wie in vielen anderen Filmen mit einem Wunsch der Figuren nach Emigration einhergeht, drückt sich hier über einen filmästhetisch auf besondere Weise erzeugten Widerspruch aus Bewegung und Stillstand aus. Die beiden Hauptfiguren Zina und Kamel – auf der Suche nach einem Schlepper, der ihnen die Flucht nach Italien ermöglichen soll – sind einerseits in ständiger Bewegung. Sie fahren im Auto in langen Irrfahrten durch verlassene Gegenden und unvollendete Neubaugebiete in La Madrague (Stadtteil an der Küste Algiers), die den Zustand des Landes symbolisieren. In dieser Art von road movie gibt es kein Vorankommen; langsame und repetitive Bewegungen, das Umherirren einer scheinbar endlosen Suche sowie Aufnahmen im eingeengten Autoinnenraum stellen gerade das Gefangensein trotz der Bewegung heraus und erzeugen ein erdrückendes Gefühl. Das Warten auf den Schlepper, der nicht auftaucht, bildet in Beckett’scher Manier die Hauptachse des Films. Die Reise, die nirgendwo hinführt, bietet kaum einen Ausblick. Mehrere Filme beschäftigen sich mit der Flucht der sogenannten harragas377 aus Algerien. Während diese in Moknèches Délice Paloma (2007) z. B. nur angedeutet wird, indem Paloma und Riyad sich am Ende des Films mit dem Boot nach Italien aufmachen (wobei der Ausgang offenbleibt), wird die Reise ins Ungewisse in Filmen wie Harragas (Allouache, 2009) und Harragas Blues (Haddad, 2012) zur zentralen Handlung. Allouaches Film begleitet die grausamen Erfahrungen der boat people, von denen nur einige überleben und das spanische Ufer erreichen, dabei von der Grenzkontrolle erfasst und zurückgeschickt werden. Die Problematik der Zerrissenheit und Fremdheit im eigenen Land ebenso wie die als Migrant fasst der Film in einem Zitat des ermordeten Poeten Tahar Djaout zusammen: „Si je pars, je meurs; si je ne pars pas je meurs“. Bleiben oder Fliehen – beide Optionen scheinen aussichtlos. Dies vermitteln auch die anderen Filme ohne wirkliche Ankunft. Die verschiedenen Umformungen des road movies und die

377 Der Begriff beschreibt diejenigen, die ihre Papiere verbrennen und alles auf sich nehmen, um dem starken Wunsch und Drang nach einem besseren Leben zu folgen; der Wortstamm harga bedeutet (ver)brennen (vgl. Friese 2014: 15).

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Reisen der Figuren – aus Existenznöten oder durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität wie in Exils – erweitern die Reflexionen über Gegenwart und Geschichte. Die Suche Algeriens nach sich selbst und die Suche von Migranten und Rückkehrern nach ihrer Identität bleiben ein hochaktuelles Thema der filmischen Verhandlungen.

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V Schlussbemerkungen Filme, wie auch andere Medien, begleiten und reflektieren nicht nur in Algerien die gesellschaftlichen Prozesse und Konflikte. Das algerische Kino ist durch seine Entstehung in den Jahren der Dekolonisation und seine lange institutionelle Anbindung an den Staat von Beginn an eng mit politischen und sozialen Umbrüchen verbunden. Unabhängigkeitskrieg und nation building, die Arabisierungspolitik, der Bürgerkrieg sowie das damit für viele Intellektuelle und Kreative verbundene Exil prägen das algerische Filmschaffen. Die Identitätskonflikte in Folge der Kolonisation und postkoloniale Problematiken finden im Kino ihren besonderen Ausdruck. Vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen variieren nicht nur die filmischen Auseinandersetzungen mit Nation und Geschichte, sondern auch die Funktionen, Ausrichtungen und Organisationsstrukturen des Kinos. So wie jedes nationale Kino im Prinzip in sich divers ist, bringen die unterschiedlichen Ausgangspunkte und die besonders konfliktreichen kulturpolitischen und gesellschaftlichen Prozesse in Algerien verschiedene Kinos hervor, die sich durch ihre Entstehungskontexte, Botschaften und Ausdrucksweisen unterscheiden. Diese Vielfalt innerhalb des algerischen Kinos manifestiert sich weniger in bestimmten Strömungen als in unterscheidbaren Phasen, thematischen Schwerpunkten und Orientierungen. Bezüglich seiner Produktionsseite und Organisationsstruktur bewegt sich das Kino zwischen einem Staatskino und einem transnationalen (Exil-)Kino. Mit Blick auf (politische) Orientierungen lässt sich differenzieren in ein Kino als antikoloniales und nationales Instrument oder als ein Sprachrohr oppositioneller Stimmen innerhalb sowie außerhalb des Staates. Entsprechend finden sich ebenfalls Einteilungen in ein cinéma moudjahid, cinéma djidid, cinéma amazigh oder z. B. ein cinéma au féminin. Charakterisiert man das algerische Kino anhand der gesprochenen Sprache, fächert sich seine Vielfalt auf in ein arabisches, berberophones und frankophones sowie in ein mehrsprachiges Kino. Die inhaltlich-­formalen Transformationen und Diversifizierungen im Laufe seiner über 50-jährigen Existenz werden an den differierenden Entwürfen von (nationaler) Geschichte und Identität deutlich. Die sichtbar werdende Spannung zwischen nationaler Konstruktion und heterogenen bzw. transnational-­transkulturellen Konzeptionen hat die Arbeit versucht aufzuzeigen. Wie angesichts seiner staatlichen Verankerung und antikolonialen Ausrichtung im Kontext des nation building zu erwarten ist, steht das frühe algerische Kino im Zeichen einer durchaus notwendigen, zugleich aber homogenisierenden 361

Konstruktion der Nation. Der algerische Freiheitskampf und die Affirmation einer vereinheitlichenden nationalen Identität bilden in den 1960er Jahren den alleinigen Fluchtpunkt filmischer Äußerungen und verleihen dem Kino in dieser Zeit seine Charakterisierung als cinéma moudjahid. Noch bis in die 1970er Jahre hinein konzentriert sich die kinematographische Selbstrepräsentation der Algerier auf die Erzählung des Widerstands als nationalem Gründungsmythos. Geprägt von dem Bedürfnis, ein eigenes Bild der Algerier zu schaffen, das die kolonialistischen Repräsentationen überwindet, dient das Kino der Konsolidierung einer arabisch-­islamisch definierten algerischen Identität und wird gleichfalls für die Legitimierung der FLN-­Regierung instrumentalisiert. Die Filme revalorisieren die eigenen Traditionen, bezeugen das gemeinsame Leid sowie die Opferbringung der Algerier. Sie ehren die Märtyrer des Befreiungskampfes und demonstrieren die „Geburt“ der Nation aus einem geschlossenen Widerstand heraus. In umgekehrter Spiegelung zum Kolonialkino werden die Kolonisatoren hier überwiegend als Randfiguren in den Hintergrund gedrängt. Die Filme dieser ersten Phase des algerischen Kinos charakterisieren sich u. a. durch wenig individualisierte Figuren, die das Kollektiv repräsentieren, sowie durch teleologisch auf die nationale Befreiung ausgerichtete Handlungsstrukturen, wobei die erreichte Unabhängigkeit weniger erzählt wird als der gemeinsame Weg dorthin. Zentrale Merkmale sind realistische Darstellungsweisen und dokumentarisierende Authentifizierungsstrategien. Zugleich werden heroische Widerstandsgeschichten und Mythen inszeniert, die weniger an Fakten orientiert sind als daran, symbolisch den Widerstandswillen der algerischen Nation zu illustrieren. Gemäß dem politischen Slogan un seul héro, le peuple stellen die Filme eine Hommage an die Helden des Volkes dar und definieren die algerische Nation über eine monolithische Konstruktion der Befreiungsgeschichte. Der außerfilmisch propagierte Einheitsdiskurs spiegelt sich hier durch Exklusionen von politisch nicht ‚kompatiblen‘ Figuren, Aspekten und gesellschaftlich Marginalisierten. Inneralgerische Konflikte, politische Oppositionen, die berberische Identität sowie andere Religionen als der Islam finden keinen Platz. Bleibt das Kino bis heute überwiegend eine Männerdomäne, stehen die Frauen vor allem in den frühen Erzählungen der nationalen Geschichte im Schatten der männlichen moudjahidin. Einige der hier untersuchten Filme (besonders vor der Verstaatlichung des Kinos, z. B. Une si jeune paix, La Bataille d’Alger, Le Vent des Aurès) weisen dennoch auch Ausnahmen und zum Teil kritische Reflexionsansätze auf, die hauptsächlich in Richtung von Antikriegsbotschaften gehen. Sie zeigen, dass die Inszenierungen und Herangehensweisen der Filme trotz der Einheitsthematik auch variieren und mitunter Ambivalenzen in sich tragen. Die nationale Identi362

tätsdefinition als arabisch-­muslimisch bleibt dabei in dieser filmgeschichtlichen Phase aber unumstritten. Erste deutliche Diversifizierungen und Transformationen des algerischen Kinos bringen die Filme des sogenannten cinéma djidid in den 1970er Jahren mit sich. In diesem ‚goldenen Zeitalter‘ des algerischen Kinos entstehen originelle Kultfilme wie Tahia ya Didou und Omar Gatlato, und insgesamt weist die Filmproduktion eine verhältnismäßig große Anzahl an experimentellen und komödiantischen Formen auf. Alltagsthematiken und die Auseinandersetzungen mit aktuellen gesellschaftlichen Problemen lösen den Fokus auf den Unabhängigkeitskampf ab und bieten eine Alternative zu den dennoch weiterhin teils aufwendig produzierten Aktualisierungen der Kriegsthematik (z. B. Chronique des années de braise). Mit neuen Impulsen und kritischeren Perspektiven widmen sich die Filme des jungen cinéma djidid sozialen Belangen. Sie beschäftigen sich mit dem Leben einfacher Leute, der Stellung der Frau, der Industrialisierung und Arbeitslosigkeit sowie mit dem politischen Programm der Landreform (1971). Die Einheit der Nation wird hierbei allmählich über inhaltliche und formale Aspekte hinterfragt. Differenzen innerhalb des nationalen Kollektivs werden über eine Hervorhebung sozialer Diskrepanzen sichtbar. Politisch beeinflusst von einer sozialistisch geprägten Ideologie und dem Kontext der Agrarreform, stellen viele Filme einfache Bauern und Großgrundbesitzer gegenüber. Elitäre Autoritäten und Kollaborateure im Algerienkrieg, aber auch Nutznießer und sich selbst bereichernde Bürokraten der Gegenwart werden angeprangert. Die Widersprüche der postkolonialen Gesellschaft zeigen sich anhand von Ambivalenzen und Konflikten zwischen Traditionen und Modernisierungsprozessen, die sich in den filmischen Gestaltungsweisen sowie in neuartigen Reflexionen über Geschlechterbeziehungen spiegeln (Le Charbonnier). Dabei sind die Filme insofern oft selbst ambivalent, als sie einerseits Neuerungen und Kritik ausdrücken, andererseits im Rahmen des Fortschrittsdiskurses eine politische Konformität aufweisen. Das nationale Selbstbild wird in den meisten Werken der 1970er Jahre zwar noch nicht offen demontiert und existiert in den filmischen Vorstellungen eines sozialistischen Algeriens weiter, dennoch wird es durch das Hervortreten von Widersprüchen brüchig. Neben der Rolle der Frau wird z. B. der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft verhandelt. Das Konstrukt der nationalen Einheit bietet hier nicht mehr ausreichend Antworten für die Alltagsproblematiken und Identitätsfragen einer postkolonialen Gesellschaft, in der sich die Spannungen verschiedener konkurrierender Einflüsse und Lebensmodelle äußern. Einige Filme befreien sich trotz des staatlichen Produktionsrahmens sehr deutlich von der nationalen Ideologie, begleitet von einer formalen Loslösung 363

von kinematographischen Konventionen. Einen ‚revolutionären‘ Umbruch im algerischen Kino markieren Tahia ya Didou und Omar Gatlato, die eigensinnig und humorvoll auf Algier und dessen Bevölkerung blicken. Die Geschichte des Freiheitskampfes, die insgesamt im cinéma djidid in den Hintergrund rückt, wird in diesen Beispielen über die narrativen Strategien fragmentiert und teils sogar ironisiert. Lineare und teleologische Erzählweisen werden durch experimentelle Formen und subjektive Sichtweisen ersetzt. Die Filme konzentrieren sich auf Dynamiken der algerischen Lebensrealität und porträtieren eine heterogene Gesellschaft – ohne allerdings kulturelle Differenzen explizit zu thematisieren. Derartige Umbrüche zeigen aber, wie sich auch innerhalb des Staatskinos die Sichtweisen von Geschichte und Nation diversifizieren und sich oppositionelle Stimmen äußern, die mitunter auch Vorstellungen von Männlichkeit unterlaufen (Omar Gatlato). Die männliche Ausrichtung des algerischen Kinos und insbesondere des cinéma moudjahid wird vor allem mit dem Aufkommen eines weiblichen Filmschaffens gebrochen, das mit Djebars La Nouba Ende der 1970er Jahre erstmals auf die Bühne tritt, sich von da an allerdings nur sporadisch und erst in jüngerer Zeit deutlicher entwickelt. Weibliche Akteure in Gegenwart und Geschichte erheben ihre Stimmen in La Nouba, und die Position der Frau wird über die formale Subversion von festgeschriebener Geschichte und Rollenmustern neu verhandelt. Die Dekonstruktion des nationalen Einheitsbildes verläuft also im Zusammenhang mit der kinematographischen Befragung von Geschlechterdiskursen. Das kritische Potenzial der Filme im Staatskino ist zunächst oft unterschwellig und drückt sich über die Strukturen und Erzählstrategien aus. Seit den 1980er Jahren treten aber auch, besonders in Koproduktionen, tabuisierte Themen hervor, wie z. B. der interne Kampf zwischen FLN und MNA während des Algerienkriegs (Les Sacrifiés). Die Thematisierung derartiger verdrängter Aspekte trägt ebenso zur Entmystifizierung der nationalen Einheits- und Kriegsheldengeschichten bei wie konterkarierende, humoristische Verfahren (Les folles années du twist) und neue Auseinandersetzungen mit der Beziehung zwischen Algeriern und Franzosen, die die Reflexionen über die franko-­algerische Geschichte vielseitiger erscheinen lassen. Bedingt durch die gescheiterte Umstrukturierung der Filmwirtschaft und die Auswirkungen des Bürgerkriegs erfährt das Kino in Algerien ab Mitte der 1990er Jahre einen erheblichen Rückschlag, von dem es sich bis heute nicht ganz erholt hat. Angesichts der Exilierung vieler Filmemacher unter dem Druck des Terrorismus findet das algerische Filmschaffen seit den 1990er Jahren zunehmend außerhalb Algeriens statt. Ein Großteil der filmischen Kreativität geht in jünge364

rer Zeit von Frankreich aus. Auch in Algerien entstehen jedoch noch während des Bürgerkriegs und vermehrt wieder seit einigen Jahren Filme, die dem Kino gemeinsam mit den transnationalen Produktionen neue Impulse geben und die Perspektiven auf Identität und Geschichte diversifizieren. In Anbetracht des islamistischen Fundamentalismus und des staatlichen Mitverschuldens an der gesellschaftlichen Krise machen die Filme engagierter Cineasten das Kino erneut zu einem Widerstandskino, das sich hier nun nicht mehr gegen die Kolonialmacht, sondern gegen die inneralgerische Politik und Gewalt richtet. Die algerischen und franko-­algerischen Filme, die um den Bürgerkrieg herum entstehen, repräsentieren auf verschiedene Weise einen Protest gegenüber dem staatlich auferlegten und von den Islamisten für ihre Zwecke instrumentalisierten Homogenitätsdiskurs. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Radikalisierung junger Algerier ziehen die Filme eine ernüchternde Bilanz der jahrzehntelangen Einheitsregierung und zeichnen das Bild einer zerrissenen Gesellschaft, die sich vor Desillusionierungen und erneuten Identitätsfragen sieht. Dabei stellen viele Werke Neureflexionen über die nationale Geschichte an. Sie dekonstruieren die nationalen Mythen durch das Aufzeigen nicht eingelöster Freiheitsideale der „algerischen Revolution“ und die Parallelen zwischen der kolonialen und der aktuellen Unterdrückung durch Islamismus und staatliche Gewalt (Youcef). Heterogene Dimensionen der Gesellschaft sowie Freiheitsbotschaften werden den homogenisierenden Definitionen der algerischen Identität und dem Erbe einer culture de guerre entgegengestellt (Bab el-­oued city). Widerstand drückt sich zudem über Identitätsforderungen und die Erhebung unterdrückter Stimmen aus, die das Kino zu einem Sprachrohr der Marginalisierten machen. Insbesondere die Filme von und mit Fokus auf die Frauen ebenso wie die ersten Werke in kabylischer Sprache stehen für oppositionelle Positionen und die Vielfalt innerhalb des angeschlagenen algerischen Kinos. Das mitten im Bürgerkrieg auftretende cinéma amazigh (La Montagne de Baya, Machaho, La Colline oubliée) stellt die von der Politik ausschließlich als arabisch definierte Nation in Frage, indem es für die berberische Komponente Algeriens eintritt. Insgesamt destabilisieren die wenigen Filme Ende der 1990er Jahre die offizielle Identitätskonstruktion und Narration des Unabhängigkeitskampfes und leisten einen symbolischen Widerstand gegen die zeitgenössische Gewalt. Ein Protest gegen die islamistische Identitätsauslegung und die Unterdrückung von Frauen geht vor allem von den Filmen weiblicher Cineasten aus, die seit den 2000er Jahren für eine größere Präsenz eines – wenn auch quantitativ vergleichsweise geringen – „weiblichen“ algerischen und franko-­algerischen Kinos sorgen. Die Werke verarbeiten einerseits die Erfahrungen des Terrorismus aus der Per365

spektive der Frauen und machen den guerre invisible nach langer medialer und filmischer Ausblendung sichtbar. Sie positionieren zugleich die Frau in Geschichte und Gegenwart neu, indem sie deren Beitrag zur nationalen Befreiung thematisieren und traditionelle Rollenmuster anhand divers inszenierter Frauenbilder und subtiler Gestaltungselemente aufbrechen, die die Selbstbehauptung der Frauen stützen (Rachida, Barakat!). Auch die männlichen Regisseure tragen vermehrt zu einem neuen Frauenbild bei. Deutliche Provokationen zeigen sich in transnationalen Produktionen wie den Filmen Nadir Moknèches, der mit seinen Bildern Algeriens Konventionen und Stereotype konterkariert und auch tabuisierte Fragen der Sexualität und Homosexualität aufgreift (Viva Laldjérie). Nach einer langen Abwesenheit als Schauplatz im Zuge des Bürgerkriegs kehrt Algerien mit diesen Werken so filmisch als Handlungsort auf die Bildfläche zurück. Dabei wird es auf sehr unterschiedliche Weise inszeniert. Das postterroristische Kino verarbeitet die gesellschaftlichen Traumata und entwirft desillusionierende, pessimistische Eindrücke Algeriens, in dem sich insbesondere die Jugend einer Perspektivlosigkeit gegenüber sieht (Rome plutôt que vous, Viva Laldjérie). Mehrere Filme verfolgen die gescheiterte Rückkehr nach Algerien oder gescheiterte Fluchtversuche nach Europa. Andererseits zeigen sich teilweise zugleich Hoffnungen; Algerien und algerische Identitäten werden insgesamt heterogener und mit der Betonung auf Widersprüchen entworfen. Neben den Identitätsforderungen von Marginalisierten sowie den Verhandlungen der nationalen Krise des Bürgerkriegs wird die Konzeption einer homogenen nationalen Identität besonders durch Filme im Migrationskontext demontiert, die die Spannungen von Exilerfahrungen und Lebensentwürfen zwischen Frankreich und Algerien reflektieren. Dieses transnationale Kino stellt identitäre Ambivalenzen, Brüche und Hybridität in den Vordergrund und zeigt besonders deutlich, dass die postkoloniale Realität nicht auf abgegrenzte und fixierte nationale Identitätszuweisungen zu reduzieren ist. Anhand verschiedener Facetten der Gesellschaften in Frankreich und Algerien hinterfragen die Filme die politisch jeweils einheitlich entworfenen Nationen und Mehrheitsgesellschaften. Die Nation bleibt zwar eine zentrale Referenzgröße, wird aber durch das Aufzeigen ihrer inneren Pluralität sowie durch mehrfache kulturelle Verortungen von Individuen fragmentiert und in ihrer Konstruiertheit vorgeführt. Die Identitätssuche sowie die Konflikte im franko-­algerischen Kontext sind von doppelter Ablehnung (Fremdheit) und / oder Zugehörigkeit geprägt. Innerhalb des Filmkorpus lässt sich beobachten, wie sich die Konzeptionen von Identität verändern, indem die Filme über ihre Aussagen und ästhetischen Gestaltungsweisen die Instabilität und Prozesshaftigkeit identitärer Konstruktionen demaskieren. Dies geschieht durch 366

ambivalente Figurenentwürfe, betont fiktionalisierende Elemente, mehrdeutige Bilder, musikalische Elemente sowie z. B. durch komödiantische Formen oder Varianten des road movie, die Dynamik und Beweglichkeit filmisch nachzeichnen (Salut Cousin!, Beur Blanc Rouge, Exils). Die Konflikte der heterogenen Identitätsentwürfe finden ihre Parallele in der Pluralisierung und Fragmentierung von Geschichte sowie den filmisch reflektierten Erinnerungsdebatten, bei denen sich verschiedene Positionen zwischen Frankreich und Algerien sowie innerhalb der Nationen gegenüberstehen. Die seit Ende der 1990er Jahre zunehmende öffentliche Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit in beiden Ländern spiegelt sich in einer vermehrten Rückkehr dieser Thematik ins franko-­algerische Kino der letzten Jahrzehnte. Die gemeinsame Geschichte wird dort aus verschiedenen Perspektiven entworfen und fragmentiert. Zum einen vertreten die Filme marginale Gedächtnisse und partikulare Geschichten diskriminierter Gruppen (Harkis), zum anderen verhandeln sie verdrängte Aspekte – von den Massakern im Mai 1945 in Algerien sowie im Oktober 1961 in Paris, bis hin zu Konflikten innerhalb der algerischen Freiheitsbewegung. Insgesamt wird die franko-­algerische Geschichte zunehmend transnational und multiperspektivisch inszeniert, so dass häufig mehrere konfligierende Positionen innerhalb eines Films auftreten (Nuit Noire, Hors-­la-loi). Es bleibt dennoch schwierig, deutlich gegensätzliche Positionen in einem Werk zu vereinen, gerade wenn es sich um Stimmen historischer Akteure handelt, die in der jeweils dominanten nationalen kollektiven Erinnerung auf Ablehnung stoßen. Dies zeigt sich z. B. an der Abwehr und dem teilweisen Verbot von Jean-­Pierre Lledos Dokumentarfilmen in Algerien. Die Proteste und Debatten in Frankreich und Algerien um bestimmte Erinnerungen an den Algerienkrieg zeugen davon, wie das Medium Film erneut zum Politikum wird und auch mitunter politische Handlungen nach sich zieht (Hors-­la-loi, Indigènes). Während sich die filmische Dekonstruktion nationaler Einheitsgeschichten einerseits durch mehrfache Perspektiven, Tabuthemen und Gegengeschichten im Gesamtkorpus beobachten lässt, tragen hierzu ebenso gestalterische Mittel bei, die Mehrdeutigkeit, Fragmentation, Unabgeschlossenheit, Subjektivität oder Marginalität ausdrücken und Geschichte in postkolonialer Denkweise als konstruiert, unsicher und entangled konzipieren. Filme wie Exils, die Identität und Geschichte in exemplarischer Weise als plural und instabil entwerfen und nur noch undeutliche Erinnerungsfetzen und mehrdeutige Bilder evozieren, stehen für ein transnational-­transkulturelles Kino, das sich von ganzheitlichen Strukturen und Konzepten verabschiedet hat. Gleichzeitig werden nationale Heldenmythen in einigen Filmen durchaus wiederbelebt (Hors-­la-loi). 367

Wenn also auch nicht als lineare Entwicklung zu verstehen, lässt sich am untersuchten Korpus insgesamt eine Tendenz zunehmend transnationaler und pluraler Sichtweisen beobachten. Das Aufeinandertreffen verschiedener Geschichten, Perspektiven und Identitätsverortungen zwischen und innerhalb Algeriens und Frankreichs zeigt, dass entsprechend postkolonialer Denkweisen homogenisierende Ansätze auch im Kino überholt werden. Die Dekonstruktion des nationalen Einheitsbildes vollzieht sich durch verschiedene individuelle, gruppenspezifische und subjektive Stimmen innerhalb des Korpus auf der Makroebene sowie innerhalb der Filme auf der Mikroebene. Zwar bleibt das transnationale franko-­ algerische Filmschaffen finanziell von Frankreich und anderen Geldgebern abhängig. Es ermöglicht aber auch einen größeren Raum für deutlichere Oppositionen und Tabubrüche mit Blick auf algerische Konventionen und politische Diskurse. Somit gestattet es einen Ausbruch aus monolithischen Konstruktionen, der sich innerhalb Algeriens durch die autoritäre Politik und Kontrollorgane weiterhin schwierig gestaltet, obwohl auch die dort entstehenden Filme Widerstand und Kritik ausdrücken. Im Sinne des theoretisch postulierten process of becoming (Hall) repräsentiert das algerische Kino selbst in seinen andauernden und sich verändernden Auseinandersetzungen mit (nationaler) Identität und Geschichte diesen Prozess des Werdens und der ständigen Suche.

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Danksagung Das Gelingen dieser Promotionsschrift habe ich vielen Personen zu verdanken, die mich in unterschiedlicher Weise unterstützt und motiviert haben. Mein besonderer Dank gilt Frau Prof. Dr. Elisabeth Arend, die dieses Projekt als Erstgutachterin und Herausgeberin geduldig und inspirierend betreut hat und ohne deren Ermutigung zu meinem Thema diese Dissertation nicht entstanden wäre. Ebenso danke ich meiner Zweitgutachterin Frau Prof. Dr. Cornelia Ruhe sowie Frau Dr. Elke Richter als Herausgeberin für das entgegengebrachte Interesse und die Auseinandersetzung mit meiner Arbeit. Ich danke der Zentralen Forschungsförderung der Universität Bremen für die Gewährung eines Promotionsstipendiums im Rahmen des interdisziplinären Doktorandenkollegs Textualität des Films und den Druckkostenzuschuss für die Publikation. In diesem Kontext möchte ich mich ebenfalls bei den Teilnehmern/ innen des Kollegs unter Leitung von Herrn Prof. Dr. John Bateman für die fachlichen Diskussionen bedanken. Für den Zugang zu dem schwer erhältlichen Filmmaterial und für den Materialaustausch danke ich dem Centre Culturel Algérien, der Bibliothèque nationale und der Cinémathèque in Paris, der Deutschen Kinemathek in Berlin, Prof. Dr. Elisa­ beth Arend, Prof. Dr. Guy Austin und Christine Schanze. Während der gesamten Promotionsphase haben meine Familie und mein Partner mich außer­ordentlich verständnisvoll begleitet. Ich danke meinem Vater Hannes, der meine Arbeit mit großem Interesse gelesen hat, meiner Mutter Elisabeth und meiner Schwester Julia Domberg sowie Curtis Campbell Saqladi für die liebevolle Umsorgung in dieser langen Zeit. Meinen Freundinnen, insbesondere Jihae Chung, Nicole Gallandt-­Lautier und Marie Sander danke ich für die moralische Unterstützung und die Gespräche, die zur Fertigstellung der Arbeit beige­tragen haben. Ebenso danke ich Navina Delor und Jana Nittel für Anregungen und Korrektur­vorschläge in früheren Phasen meiner Arbeit. Dem Peter Lang Verlag und besonders Herrn Dr. Benjamin Kloss sei an dieser Stelle für ihre freundliche Zusammenarbeit und Hilfsbereitschaft bei der Publikation herzlich gedankt.

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Filmographie Enges Analysekorpus Bab-­el-oued city / Bab al-­wad al-­humah (Merzak Allouache, 1993; FBA Production, La Sept Arte, Les Matins Films, Thelma Film AG, ZDF; DZ, F, D, CH) Barakat! (Djamila Sahraoui, 2006; Les Films d’Ici, ENTV, Arte France Cinéma, BL Production, Nomadis Images; DZ, FR, TN) La Bataille d’Alger / La battaglia di Algeri (Gillo Pontecorvo, 1966; Casbah-­Film, Igor Film; DZ, I) Beur Blanc Rouge (Mahmoud Zemmouri, 2005; ENTV, Fennec Productions; DZ, FR) Le Charbonnier / Al-­fahâm (Mohamed Bouamari, 1972; ONCIC; DZ) Chronique des années de braise /Waqâ sanawât al-­jamr (Mohamed Lakhdar Hamina, 1975; ONCIC; DZ) 382

La Colline oubliée (Abderrahmane Bouguermouh, 1997; APW, CAAIC, ENPA; DZ) Les Déracinés / Beni-­Hendel (Mohamed Lamine Merbah, 1976; ONCIC; DZ) Exils (Tony Gatlif, 2004; Princes Films, Nikkatsu; FR / JP) Les folles années du twist (Mahmoud Zemmouri, 1983; ONCIC, Fennec Productions; DZ, F) Harkis (Alain Tasma, 2006; Arte France Cinéma, France 2 Cinéma, Image et compagnie; FR) Les Hors-­la-loi / Al-­kharijoun an-­alkanoun (Tewfik Farès, 1968; ONCIC; DZ) Hors-­la-loi (Rachid Bouchareb, 2010; Tessalit Productions, AARC, Tadrart, Tassili Films, Novak Production, Studio Canal, France 2 Cinéma, France 3 Cinéma, Quinta Communications; FR, DZ, BE, TN) Houria (Sid Ali Mazif, 1985; ENAPROC; DZ) Il était une fois dans l’oued (Djamel Bensalah, 2004; Gaumont, Miroir Magique, France 2 Cinéma; F) Indigènes (Rachid Bouchareb, 2006; France 2 Cinéma, France 3 Cinéma, Studio Canal, Kiss Films, Tassili Films, Tessalit Production, Taza Productions, Versus Productions, Scope Invest; FR, DZ, MA, BE) Machaho (Belkacem Hadjadj, 1994; Les Films sur la Place; DZ, F) La Montagne de Baya / Adrar n Baya (Azedine Meddour, 1997; Caro-­Line Production, ENPA, ENTV, Imago Films International; DZ, F) La Nouba des femmes du Mont Chenoua / Noubat nissâ jabal chnouwwa (Assia Djebar, 1978; RTA; DZ) Nuit Noire (Alain Tasma, 2005; Cipango Productions Audiovisuelles, Parallèles Productions; FR) Omar Gatlato (Merzak Allouache, 1976; ONCIC; DZ) L’Opium et le bâton /Al-­afyun wal’asa (Ahmed Rachedi, 1970; ONCIC; DZ) Rachida (Yamina Bachir-­Chouikh, 2002; Canal+, Ciel Production, Ciné-­Sud Promotion, GAN Cinéma Foundation, Arte France Cinéma; DZ, F) Les Sacrifiés (Okacha Touita, 1982; Marion’s Films, Les Films de l’Atelier; F) Salut Cousin! (Merzak Allouache, 1996; La Sept Arte, RTBF, Samsa film; FR, BE, LU) Tahia ya Didou / Alger insolite (Mohamed Zinet, 1971; APC, Mairie d’Alger; DZ) Une si jeune paix / Al-­salam al-­walid (Jacques Charby, 1964; CNCA; DZ) Le Vent des Aurès / Rih al-­awras (Lakhdar Hamina, 1966; OAA; DZ) Le Vent du Sud / Rih al-­janoub (Mohamed Slim Riad, 1975; ONCIC; DZ) 383

Viva Laldjérie (Nadir Moknèche, 2004; Sunday Morning Productions, Need Prods, Arte France Cinéma; DZ, FR, BE) Youcef ou la légende du septième dormant / Youcef kesat dekra sabera (Mohamed Chouikh, 1993; CAAIC, ENPA; DZ)

Erweitertes Reflexionskorpus 100 % Arabica (Mahmoud Zemmouri, 1997) Algérie, histoires à ne pas dire (Jean-­Pierre Lledo, 2007) Algérie, mes fantômes (Jean-­Pierre Lledo, 2004) Ali au pays des mirages / Ali fi bilad al-­sarab (Ahmed Rachedi, 1979) L’Arche du désert (Mohamed Chouikh, 1997) Arezki, l’indigène (Djamel Bendeddouche, 2007) L’Autre côté de la mer (Dominique Cabrera, 1996) L’Autre monde (Merzak Allouache, 2001) Avoir vingt ans dans les Aurès (René Vautier, 1972) Bled number one (Rabah Ameur-­Zaïmèche, 2005) Cartouches Gauloises (Mehdi Charef, 2007) La Citadelle / Al-­qal’a (Mohamed Chouikh, 1988) Délice Paloma (Nadir Moknèche, 2006) L’Ennemi intime (Florent Emilio Siri, 2007) La Fille de Keltoum / Bint Keltoum (Mehdi Charef, 2001) Le Harem de Mme Osmane (Nadir Moknèche, 2000) Harragas (Merzak Allouache, 2009) Hassan Terro (Mohamed Lakdhar Hamina, 1968) L’Héritage (Mohamed Bouamari, 1974) Inch Allah Dimanche (Yamina Benguigui, 2001) Leila et les autres / Laila wa akhwawâtuha (Sid Ali Mazif, 1977) Moudjahidate (Alexandra Dols, 2008) Muriel (Alain Resnais, 1963) Normal! (Merzak Allouache, 2011) Octobre à Alger (Malik Lakhdar Hamina, 1991) Octobre à Paris (Jacques Panijel, 1962) Les Oliviers de la justice (James Blue, 1962) L’Oranais (Ilyes Salem, 2014) 384

Pépé le Moko (Julien Duvivier, 1937) Le petit soldat (Jean-­Luc Godard, 1963) Les Portes du silence / Abwâb al-­çoumt (Amar Laskri, 1987) Prends dix-­milles balles et casse-­toi (Mahmoud Zemmouri, 1981) Rôme plutôt que vous /Roma wella n’touma (Tariq Teguia, 2006) Si Mohand U M’hand, l’insoumis (Liazid Khodja / Rachid Benallal, 2004) Le Soleil assassiné (Abdelkrim Bahloul, 2003) Sous les pieds des femmes (Rachida Krim, 1997) La Trahison (Phillipe Faucon, 2005) Un rêve algérien (Jean-­Pierre Lledo, 2003) Vivre au paradis (Bourlem Guerdjou, 1998) Zone interdite (Ahmed Lallem, 1972)

Weitere zitierte Filme 17 octobre, Retour de Mémoire (Virginie Delahautemaison, 2001) Adieu Philippine (Jacques Rozier, 1963) Afrique 50 (René Vautier, 1950) Algérie, la vie quand même (Djamila Sahraoui, 1998) Algérie en flammes (René Vautier, 1957) Ali bouff ’à l’huile; Prière de Muezzin; Marché arabe (Félix Mesguish, 1905) Amour interdit (Sid Ali Fettar, 1990) L’Aube des damnés /Fajr al-­mu’adhhabin (Ahmed Rachedi, 1965) Atlantide (Jacques Feyder, 1927) Bâton rouge (Rachid Bouchareb, 1985) La Belle Vie (Robert Enrico, 1963). Le Bled (Jean Renoir, 1929) The Birth of a Nation (David W. Griffith, 1915) La Bombe (Rabah Laradji, 1970) Bourrasque (Pierre Billon, 1935) Casanegra (Nour-­Eddine Lakhmari, 2008) Ce que le jour doit à la nuit (Alexandre Arcady, 2012) C’était la guerre (Ahmed Rachedi, 1993) La Chine est encore loin (Malek Bensmaïl, 2008) Chouchou (Merzak Allouache, 2003) 385

Cléo de 5 à 7 (Agnès Varda, 1962) Le Coup de sirocco (Alexandre Arcady, 1978) Le Cri des hommes (Okacha Touita, 1999) Décembre (Mohamed Lakhdar-­Hamina, 1972) Le Démon au féminin (Hafsa Zinaï-­Koudil, 1993) Die Mutter (Wsewolod Pudowkin, 1927) Dissimulation d’un massacre, 17 octobre 1961 (Daniel Kupferstein, 2001) Djamila l’Algérienne (Youssef Chahine, 1958) Djazaïrouna (Djamel Chanderli / Lakhdar Hamina, 1961) Douar des femmes (Moahmed Chouikh, 2005) Easy Rider (Dennis Hopper, 1969) Elise ou la vraie vie (Michel Drach, 1969) Elles (Ahmed Lallem, 1966) El Manara (Belkacem Hadjadj, 2004) El Moufid (Amar Laskri, 1978) L’Embouchure (Mohamed Chouikh, 1972) Les Enfants du soleil (Mohamed Ifticène, 1991) Les Enfants d’Octobre (Ali Akika, 2000) L’Enfer à dix ans (Kollektiv-­Produktion, 1968) L’Étranger (Luchino Visconti, 1967) L’Évasion de Hassan Terro (Mustapha Badie, 1974) Femmes d’Islam (Yamina Benguigui, 1994) La Fille de Catharge / Aïn el Ghezal (Albert Sammama Chikly, 1924) Fleur de lotus (Laskri / Tran Dâc, 1998) Les Fusils de la liberté (Djamel Chanderli / Lakhdar Hamina, 1961) Gadjo Dilo (Tony Gatlif, 1997) Le Gone du chaâba (Christophe Ruggia, 1998) La Guerre de libération (Kollektiv, 1972) La Haine (Mathieu Kassovitz, 1995) Harraga Blues (Moussa Haddad, 2012) Histoires de la Révolution (Kollektiv, 1970) L’Honneur de la tribu (Mahmoud Zemmouri, 1993) Ici on noie les Algériens, 17 octobre 1961 (Yasmina Adis, 2011) Inland / Gabbla (Tariq Teguia, 2008) 386

Insurrectionnelle (Farouk Beloufa, 1972) J’ai huit ans (Olga Baïda-­Poliakoff / Yann le Masson, 1961) Latcho Drom (Tony Gatlif, 1993) Little Senegal (Rachid Bouchareb 2001) London River (Rachid Bouchareb 2009), La Maison jaune (Amor Hakkar, 2007) Le Mariage de Moussa (Tayeb Mefti, 1982) Masquerades (Lyes Salem, 2008) Mektoub? (Ali Ghalem, 1969) Memoires d’immigrés (Yamina Benguigui, 1997) Messali Hadj (Benny Malapa, 2006) Mon Colonel (Laurent Herbier, 2006) Mostefa Ben Boulaïd (Ahmed Rachedi, 2009) Mourituri (Okacha Touita, 2007) Le Musulman rigolo (Georges Méliès, 1897) Les Nomades (Sid Ali Mazif, 1975) Noua (Abdelaziz Tolbi, 1972) La Nuit a peur du soleil / Al-­lailu yahkaf ash-­shams (Mustapha Badie, 1965) L’Obstacle (Mohamed Bouamari, 1965) Oktober (Sergei Eisenstein, 1928) Opération turqouise (Alain Tasma, 2007) Ossessione (Luchino Visconti, 1943) Outre-­mer (Brigitte Roüan, 1990) Panzerkreuzer Potemkin (Sergei Eisenstein, 1925) Patrouille à l’est (Amar Laskri, 1972) Les Pêcheurs (Ghaouti Bendedouche, 1976) Peuple en marche (René Vautier / Ahmed Rachedi 1963) La Question (Laurent Heynemann, 1977) RAS (Yves Boisset, 1973) Le Refus (Mohamed Bouamari, 1982) Le Repenti (Merzak Allouache, 2012) Le Rescapé (Okacha Touita, 1986) Roma, città aperta (Roberto Rosselini, 1945) Sakiet Sidi Youssef (René Vautier, 1958) 387

Le Sang de l’exil (Mohamed Ifticène, 1971) Le Silence du Fleuve (Agnès Denis / Mehdi Lallaoui, 1991) Le Simoun (Firmin Gémier, 1933) Swing (Tony Gatlif, 2001) Sueur noire (Sid Ali Mazif, 1971) Taxi Teheran (Jafar Panahi, 2015) Les Terrasses (Merzak Allouache, 2013) Le Thé à la menthe (Abdelkrim Bahloul, 1985) Le Thé au harem d’Archimède (Mehdi Charef, 1985) Touchia (Mohamed Rachid Benhadj, 1992) Un amour à Paris (Merzak Allouache, 1986) Une femme pour mon fils (Ali Ghalem, 1982) Une journée portée disparue (Philip Brooks /Alain Hayling, 1992) Une nation, l’Algérie (René Vautier, 1954) Les Vacances de l’inspecteur Tahar (Moussa Haddad, 1972) Le Vent de sable (Mohamed Lakhdar Hamina, 1982) La Voie (Mohamed Slim Riad, 1968) La Voix du peuple (Djamel Chanderli / Lakhdar Hamina, 1961) Yasmina (Mohmed Lakhdar-­Hamina / Djamel Chanderli, 1961) Z (Costa-­Gavras, 1969) La Zerda ou les chants de l’oubli (Assia Djebar, 1982) Zohra (Albert Sammama Chikly, 1922)

388

Méditerranée: Littératures · Cultures Mittelmeer: Literaturen · Kulturen Herausgegeben von Elisabeth Arend und Elke Richter Band 1

Elke Richter: Ich-Entwürfe im hybriden Raum – Das Algerische Quartett von Assia Djebar. 2008.

Band 2

Elisabeth Arend / Elke Richter / Christiane Solte-Gresser (Hrsg./eds.): Mittelmeerdiskurse in Literatur und Film / La Méditerranée: représentations littéraires et cinématographiques. 2010.

Band 3

Verena Domberg: Das (franko-)algerische Kino. Eine filmgeschichtliche Studie aus transnationaler Perspektive. 2016.

www.peterlang.com