Russische Staatsgewalt und polnischer Adel: Elitenintegration und Staatsausbau im Westen des Zarenreiches (1772-1850) 9783412211424, 9783412209445

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Russische Staatsgewalt und polnischer Adel: Elitenintegration und Staatsausbau im Westen des Zarenreiches (1772-1850)
 9783412211424, 9783412209445

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BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE OSTEUROPAS BEGRÜNDET VON DIETRICH GEYER und Hans Roos HERAUSGEGEBEN VON JÖRG BABEROWSKI Klaus Gestwa MANFRED HILDERMEIER Joachim von Puttkamer BAND 46

Russische Staatsgewalt und polnischer Adel ELITENINTEGRATION UND STAATSAUSBAU IM WESTEN DES ZARENREICHES (1772–1850)

VON JÖRG GANZENMÜLLER

2013 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Elviro Andriolli, Russischer Soldat und polnische Adlige. Aus: Adam Mickiewicz: Pan Tadeusz oder der letzte Einritt in Litauen. Versepos in zwölf Bänden, Berlin (Ost): Aufbau-Verlag 1955. © 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-20944-5

INHALT

EINLEITUNG .................................................................................................. 9 1. Das Problem: Die Integration einer ständisch verfassten Region Europas in ein autokratisch regiertes Imperium ....................................................... 9 2. Ein Raum und seine Eingesessenen: Zur territorialen und chronologischen Eingrenzung des Gegenstandes....................................... 12 3. Einseitige Konfliktgeschichte und teleologische Meistererzählung: Zum Forschungsstand .................................................. 16 4. Integration und Staatsausbau: Fragestellung und methodisches Vorgehen ..................................................................................................... 23 I. ZWISCHEN ELITENKOOPTATION UND STAATSAUSBAU: DIE INTEGRATION DES POLNISCHEN ADELS IN DIE AUTOKRATISCHE ORDNUNG DES ZARENREICHES....................... 31 1. Die Szlachta als grundbesitzende Elite der Westgouvernements: Adelspolitik und Verwaltungsreformen unter Katharina II. (1772–1796)................................................................................................ 36 1.1. Die symbolische Integration des polnischen Adels: Herrschaftswechsel und Treueid nach der ersten Teilung Polens....... 36 1.2. Staatliche Adelsregistrierung und adlige Selbstverwaltung: Widersprüche in Katharinas Unifizierungspolitik .............................. 44 1.3. Homogenisierung durch Dezimierung? Die Masse des verarmten Kleinadels und das Umsiedlungsprojekt Platon Zubovs .................... 47 1.4. Von der Abstammungsgemeinschaft zum grundbesitzenden Landadel: Polnische Vorläufer und europäische Vorbilder einer Adelsreform ........................................................................................ 51 1.5. Die Suche nach den Merkmalen von Adligkeit: Katharina II. und der Beginn einer pragmatischen Adelsrevision .................................. 60 2. Restriktive Adels- und liberale Polenpolitik: Brüche und Kontinuitäten in der Herrschaft Pauls I. (1796–1801) ............................... 65 3. Aufbruch und Enttäuschung: Ausweitung der Elitenkooptation versus polnische Hoffnungen auf Eigenstaatlichkeit unter Alexander I. (1801–1825)................................................................................................ 74 3.1. Das Provisorium als Dauerzustand: Die Stagnation der Adelsrevision....................................................................................... 74

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Inhalt

3.2. Im Dienste des Zaren für Polen? Die Reichskarrieren polnischer Adliger in St. Petersburg und die Frage nach den Grenzen eines künftigen polnischen Staates .............................................................. 81 3.3. Nagelprobe für die Loyalität: Der polnische Adel und die Napoleonische Herausforderung ........................................................ 95 4. Von der pragmatischen zur normativen Integrationspolitik: Der Novemberaufstand 1830 und die Adelspolitik Nikolaus’ I. ................ 102 4.1. „So leicht beredt und stets bereit, Rus zu verleumden und zu hassen“: Der Novemberaufstand als Wendepunkt in der russischen Wahrnehmung der Szlachta ................................................................ 102 4.2. Das Ende eines Dauerprovisoriums: Der Abschluss der Adelsrevision in staatlicher Regie ...................................................... 118 4.3. Bestechung und Betrug – Willkür und Ehrverletzung: Das wachsende Misstrauen von russischer Staatsgewalt und polnischem Adel im Zuge der Adelsrevision...................................... 132 5. Zusammenfassung ...................................................................................... 142 II. VON DER STÄNDISCHEN KORPORATION ZUR „STAATLICHEN VERANSTALTUNG“? DIE TRANSFORMATION DER POLNISCHEN LANDTAGE IN RUSSISCHE ADELSVERSAMMLUNGEN .................................................................. 145 1. Vermögen, Dienst und Rang: Die Implementierung zarischer Normen durch die Einschränkung des Wahlrechts ................................................... 147 2. Oligarchische Veranstaltung oder Repräsentationsorgan des Adels? Die Wahlbeteiligung in den Adelsversammlungen der Westgouvernements ................................................................................... 177 3. Von ständischen Korporationen zu „staatlichen Veranstaltungen“? Die Transformation der sejmiki zu Adelsversammlungen des Zarenreiches................................................................................................ 189 3.1. Politische Leitbilder und gesetzliche Normen von Katharina II. bis Nikolaus I...................................................................................... 189 3.2. Von der symbolischen Aneignung zur politischen Integration: Die politische Praxis der Adelswahlen als Aushandlungsprozess zwischen Zentrum und Peripherie ...................................................... 195 3.3. Von einer ständischen Interessenvertretung zur staatlichen Wahlveranstaltung: Die Disziplinierung der sejmiki durch die Autokratie ........................................................................................... 216 4. Unerfahrene Jünglinge oder ausgemusterte Militärs? Soziale Zusammensetzung und Karrieremuster der Wahlbeamten ......................... 231 5. Zusammenfassung ...................................................................................... 255

Inhalt 7

III. STAATSAUSBAU UND HERRSCHAFTSPRAXIS IN DER POLNISCHEN PROVINZ: DIE ETABLIERUNG DER ZARISCHEN STAATSGEWALT IN DEN WESTGOUVERNEMENTS ........................ 257 1. Das Vordringen der Staatsgewalt auf die lokale Ebene: Aufbau und Ausbau von Verwaltungsstrukturen in den Westgouvernements ............... 261 1.1. Vereinheitlichungsbestrebungen und Gouvernementsreform: Herrschaftswechsel und Staatsausbau unter Katharina II................... 261 1.2. Stärkung der Staatsgewalt und Wahrung polnischer Traditionen: Die widersprüchliche Politik Pauls I. ................................................. 272 1.3. Russische Staatsgewalt mit polnischen Amtsträgern: Der Behördenausbau unter Alexander I. ................................................... 276 1.4. Die Wende zum forcierten Staatsausbau: Nikolaus I. und die Folgen des Novemberaufstandes 1830/31 .......................................... 283 2. Der russische Staat in der polnischen Provinz: Die Gouverneure als Akteure in einem fremden Umfeld ............................................................. 300 2.1. Die Repräsentation der Staatsgewalt und die Gewährleistung von „Ruhe und Ordnung“: Architektur und Infrastruktur als Symbole aufgeklärter Herrschaft ....................................................................... 300 2.2. Zarische Amtsträger im Westen des Imperiums: Eine Typologie der Gouverneure ................................................................................. 310 2.3. Hausherren in der Fremde: Herrschaftsstrategien in den polnischen Provinzen.......................................................................... 319 3. Herrschaftspraxis im Alltag: Russische Staatsgewalt und polnische Adelsgesellschaft beim Aushandeln ihrer Interessen ................................. 339 3.1. Der Ausbau des Straßennetzes und des Postwesens: Infrastrukturmaßnahmen als Interessenkonvergenz von Staat und Adel .................................................................................................... 339 3.2. Herrschaft als soziale Praxis: Staatsgewalt und Adel im Verwaltungsalltag................................................................................ 345 3.3. Konfrontation statt Aushandeln: Konflikte zwischen Gouverneur und Adelsmarschall ............................................................................ 354 3.4. Öffentliche Fürsorge und adlige Wohltätigkeit: Gesellschaftliches Engagement innerhalb und jenseits der staatlichen Sphäre ............... 358 4. Zusammenfassung ...................................................................................... 365 SCHLUSSBETRACHTUNG........................................................................... 367 1. Die polnischen Provinzen des Zarenreiches: Faktoren der Integration und Faktoren der Desintegration................................................................. 367 2. Formen der Integration im Westen des Russischen Reiches: Die Ostseeprovinzen, Finnland und Bessarabien als Vergleichsfälle................ 371

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Inhalt

3. Integrationsstrategien im geteilten Polen: Die Politik Preußens und der Habsburgermonarchie im Vergleich zum Russischen Reich ................ 376 DANKSAGUNG.............................................................................................. 383 QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS............................................ 385 1. Archivalien............................................................................................ 385 2. Dokumentensammlungen und Quelleneditionen:................................. 386 3. Tagebücher, Memoiren und zeitgenössische Literatur ......................... 388 4. Nachschlagewerke................................................................................. 390 5. Wissenschaftliche Literatur................................................................... 390 KARTEN .......................................................................................................... 417 ORTSREGISTER............................................................................................. 419 PERSONENREGISTER .................................................................................. 422

EINLEITUNG

1. Das Problem: Die Integration einer ständisch verfassten Region Europas in ein autokratisch regiertes Imperium Die Stärke des Russischen Imperiums war seine strukturelle Schwäche. So lange den Zaren eine staatliche Bürokratie fehlte, kultivierten sie eine indirekte Herrschaft durch einheimische Eliten, welche die Widerstände gegen eine „Fremdherrschaft“ in Grenzen hielt.1 Im 19. Jahrhundert schuf der russische Staatsbildungsprozess jedoch neue Voraussetzungen, denn der Aufbau einer staatlichen Verwaltung erhöhte die Zugriffsmöglichkeiten der Zentralmacht auf die lokale Ebene. Die fortschreitende herrschaftliche Durchdringung des Reiches forderte jene lokalen Eliten heraus, denen die zarische Herrschaft bis dahin weitreichende Freiräume und Gestaltungsmöglichkeiten gelassen hatte. Dieser Wandel des Russischen Reiches von einem vormodernen Imperium zu einem imperialen Staat steht im Zentrum der vorliegenden Untersuchung. Die neuere Imperiumsforschung hat sich vor allem den imperialen Diskursen und der östlichen Peripherie des Russischen Reiches gewidmet.2 Diese Studie nimmt hingegen die Funktionsweise des Russischen Imperiums an seinem westlichen Rand in den Blick. Zweifellos konstituieren sich Imperien durch Diskurse, und gleichzeitig befördern Diskurse die kognitive sowie emotionale Aneignung des Imperiums. Das Imperium ist aber auch vor Ort erfahrbar: mittelbar durch Repräsentation und unmittelbar durch seine Repräsentanten. Diese Arbeit möchte die imperiale Praxis vor Ort näher beleuchten, es geht in ihr um das Russische 1 Vgl. Andreas Kappeler: Russland als Vielvölkerreich. Entstehung – Geschichte – Zerfall, München 1992, S. 99–138. 2 Vgl. Marc Bassin: Imperial Visions. Nationalist Imagination and Geographical Expansion in the Russian Far East, 1840–1865, Cambridge 1999; Michael Khodarkovsky: Russia’s Steppe Frontier. The Making of Colonial Empire, 1500–1800, Bloomington 2002; Willard Sunderland: Taming the Wild Field. Colonization and Empire on the Russian Steppe, Ithaca, New York 2004; Kerstin S. Jobst: Die Perle des Imperiums. Der russische Krim-Diskurs im Zarenreich, Konstanz 2007; Claudia Weiss: Wie Sibirien „unser“ wurde. Die Russische Geographische Gesellschaft und ihr Einfluss auf die Bilder und Vorstellungen von Sibirien im 19. Jahrhundert, Göttingen 2007; Alexander Etkind: Internal Colonization. Russia’s Imperial Experience, Cambridge 2011. Einen Forschungsüberblick bietet Roland Cvetkovski: Reich der Ränder. Zu den imperialen Peripherien in Russland, in: Neue Politische Literatur 55 (2010), S. 365–392. Zur Westexpansion des Zarenreiches liegt immerhin eine neuere Untersuchung über Estland und Livland vor, vgl. Ralph Tuchtenhagen: Zentralstaat und Provinz im frühneuzeitlichen Nordosteuropa, Wiesbaden 2008.

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Einleitung

Imperium als lokale Veranstaltung. Zum Gegenstand dieser Fallstudie wurde die westliche Peripherie gewählt. Damit steht die Frage im Mittelpunkt, wie das Russische Reich in Europa funktionierte. Die größte territoriale Expansion nach Westen in der Geschichte des Russischen Reiches waren die drei Teilungen Polens von 1772, 1793 und 1795.3 Mit der schubweisen Inkorporation der alten Adelsrepublik verleibte sich das Zarenreich eine historische Region ein, die auf eine alte ständische Tradition zurückblicken konnte. In Polen war aufgrund der Schwäche königlicher Herrschaft und der Dominanz des Adels eine soziale und politische Ordnung entstanden, die eine alternative Entwicklung zu den absolutistisch regierten Monarchien Europas darstellte und im Mai 1791 zur Verabschiedung der ersten kodifizierten Verfassung des Kontinents führte. Die zarische Regierung stand somit vor der Herausforderung, ein Kernland des ständischen Ostmitteleuropas in ein autokratisch verfasstes Imperium zu integrieren. In der polnischen Adelsrepublik hatte sich auf lokaler Ebene eine ständische Verwaltung herausgebildet, die es in Russland nicht gab. Österreich und Preußen hatten zur Zeit der Teilungen Polens bereits umfangreiche staatliche Behördenapparate ausgebildet und konnten es sich leisten, die bestehenden polnischen Strukturen in den annektierten Gebieten weitgehend zu zerschlagen und durch eigene Rechts- und Verwaltungsorgane zu ersetzten.4 Russland musste hingegen einen anderen Weg gehen. Das Zarenreich war unterverwaltet und verfügte nicht über das nötige Personal, um die neu gewonnenen Gebiete mit eigenen Behörden 3

Zu den Teilungen Polens siehe in erster Linie das Standardwerk von Michael G. Müller: Die Teilungen Polens 1772 – 1793 – 1795, München 1984, S. 65–87. Vgl. daneben auch Jerzy Lukowski: The Partitions of Poland 1772, 1793, 1795, London 1999; Klaus Zernack: Polen und Rußland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte, Berlin 1994, S. 276–284; Karl Otmar Freiherr von Aretin: Tausch, Teilung und Länderschacher als Folgen des Gleichgewichtssystems der europäischen Großmächte. Die Polnischen Teilungen als europäisches Schicksal, in: Klaus Zernack (Hg.): Polen und die polnische Frage in der Geschichte der Hohenzollernmonarchie 1701–1871, Berlin 1981, S. 53–68; Hans Lemberg: Polen zwischen Russland, Preußen und Österreich im 18. Jahrhundert, in: Friedhelm Berthold Kaiser / Bernhard Stasiewski (Hg.): Die Erste polnische Teilung 1772, Köln, Wien 1974, S. 29–48. Die preußisch-russische Teilungsdiplomatie hat Klaus Zernack mit der Formel „negative Polenpolitik“ nachhaltig auf den Punkt gebracht, vgl. Klaus Zernack: Negative Polenpolitik als Grundlage deutsch-russischer Diplomatie in der Mächtepolitik des 18. Jahrhunderts, in: Uwe Liszkowski (Hg.): Russland und Deutschland. Festschrift für Georg von Rauch, Stuttgart 1974, S. 144–159. Siehe dazu auch Karte 1 im Anhang. 4 Zum preußischen Teilungsgebiet siehe vor allem Hans-Jürgen Bömelburg: Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat. Vom Königlichen Preußen zu Westpreußen (1756–1806), München 1995. Zum österreichischen Teilungsgebiet siehe Horst Glassl: Das österreichische Einrichtungswerk in Galizien (1772–1790), Wiesbaden 1975; Rudolf A. Mark: Galizien unter österreichischer Herrschaft. Verwaltung – Kirche – Bevölkerung, Marburg 1994; Hans-Christian Maner: Galizien. Eine Grenzregion im Kalkül der Donaumonarchie im 18. und 19. Jahrhundert, München 2007.



Das Problem

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zu durchdringen. Aufgrund dieser strukturellen Schwäche konnte die Aufrichtung einer russischen Staatsgewalt nur mit Hilfe der lokalen Eliten in den polnischen Provinzen gelingen. Die zarische Autokratie übernahm aus diesem Grund ein Stück ständisches Europa und dessen adlige Selbstverwaltung. Die Integration der Teilungsgebiete hing damit von der Kooperation des polnischen Provinzadels mit der russischen Staatsmacht ab.5 Das Zarenreich konnte im 18. Jahrhundert bereits auf eine lange Geschichte gewaltsamer Einverleibung fremder Gebiete zurückblicken. Seit der Eroberung von Kazan’ folgte die Eingliederung fremdstämmiger Gebiete einem bewährten Muster. Nachdem jeglicher Widerstand durch Waffengewalt gebrochen worden und die Sicherung des Gebietes gewährleistet war, ging die zarische Regierung zu einer vorsichtigen flexiblen Politik über. Die administrative sowie rechtliche Ordnung, die Landbesitzverhältnisse und die bestehenden Wertsysteme wurden respektiert und blieben weitgehend unangetastet. Zwar ersetzte ein Beauftragter des Zaren die bisherige Herrschaftsspitze, doch strebte der Zar zugleich eine Zusammenarbeit mit den nichtrussischen Oberschichten an. Deren Privilegien wurden weitgehend bestätigt und diejenigen Eliten, die dem russischen Adel als einer landbesitzenden Elite glichen, wurden in den erblichen Adel des Reiches kooptiert.6 Integration war dennoch kein wechselseitiges Geben und Nehmen, sondern ein Prozess, den die zarische Herrschaft initiierte und dominierte. Die jeweilige politische und soziale Ordnung wurde nicht in ihrer kulturellen Eigenheit respektiert, sondern der Status quo aus pragmatischen Gründen akzeptiert. Längerfristig tendierte also auch die Kooptationspolitik zu einer Einebnung der Unterschiede nach russischem Vorbild. Die Integration des polnischen Adels stand in dieser Reichstradition. So trafen in Folge der Teilungen Polens zwei sehr unterschiedlich geprägte historische Regionen Europas aufeinander: die ständische Tradition der polnischen Adelsrepublik und die lange Zeit praktizierte schrittweise Egalisierung regionaler Unterschiede des russischen Vielvölkerreiches. Ein weiterer Faktor prägte die Etablierung der russischen Staatsgewalt in den polnischen Provinzen: Die staatliche Durchdringung der Teilungsgebiete ging mit einem Ausbau des Staatsapparates auch in Russland einher. Katharina II. sah im Durchgriff der Staatsgewalt auf die lokale Ebene eines der zentralen Anliegen ihrer autokratischen Reformpolitik. Damit fügt sich ihre Politik in die Geschichte des Staatsausbaus im 18. und 19. Jahrhundert ein. Sie kann als ein Versuch beschrieben werden, die Staatsgewalt in allen Regionen des Herrschaftsgebietes zu etab5 6

Vgl. dazu bereits Jörg Ganzenmüller: Zwischen Elitenkooptation und Staatsausbau: Der polnische Adel und die Widersprüche russischer Integrationspolitik in den Westgouvernements des Zarenreiches (1772–1850), in: Historische Zeitschrift 291 (2010), S. 625–662. Vgl. Kappeler: Russland als Vielvölkerreich, S. 54ff.

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Einleitung

lieren, um schließlich die Kontrolle über jeden einzelnen Untertanen zu erlangen.7 In ganz Europa lässt sich in dieser Zeit ein Übergang von patrimonialen Verwaltungsstäben zu rationalen Staatsbürokratien beobachten. Diese Entwicklung verlief in den verschiedenen Ländern Europas allerdings in unterschiedlichem Tempo und zeigte unterschiedliche Ausprägungen.8 Zunächst griffen die meisten europäischen Staaten aus Kostengründen und aufgrund von Personalmangel auf die Form einer indirekten Herrschaft durch die lokalen Eliten zurück. Die Kontrolle übten nur wenige Vertreter der Staatsgewalt aus, so dass man auf die Kooperation mit den örtlichen Selbstverwaltungsorganen angewiesen blieb. Schrittweise wurde ein organisierter Herrschaftsapparat durch die Bildung von Institutionen und die Rekrutierung von Beamten aufgebaut, welcher der Staatsgewalt schließlich die notwendigen Mittel für eine flächendeckende Beherrschung des Staatsterritoriums zur Verfügung stellen sollte.9 Da die Expansion der staatlichen Bürokratie mit einer Homogenisierung von Territorium und Bevölkerung einherging, stand der Staatsausbau im Widerspruch zur traditionell indirekten Kontrolle der eroberten Gebiete. Die Etablierung der russischen Staatsgewalt auf lokaler Ebene war mit der bislang geübten Toleranz gegenüber fremden Rechtskulturen und Verwaltungsstrukturen kaum vereinbar. Zwei Prozesse verliefen also parallel und beeinflussten sich gegenseitig: der allgemeine Staatsausbau und die Integration der polnischen Teilungsgebiete in das Russische Reich.

2. Ein Raum und seine Eingesessenen: Zur territorialen und chronologischen Eingrenzung des G egenstandes Charakteristisch für die Westgouvernements10 des Zarenreichs ist ihre soziale Struktur. Der polnisch-sprechende Adel bildete mit rund sieben bis acht Prozent Bevölkerungsanteil die Oberschicht. Die Masse der Einwohner bestand aus nicht7 Wolfgang Reinhard: Geschichte des modernen Staates. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2007, S. 53. 8 Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 868f. Die spezifische Ausprägung und die Beharrungskraft der patrimonialen Verwaltung im Zarenreich beschreibt eindringlich Susanne Schattenberg: Die korrupte Provinz? Russische Beamte im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M., New York 2008. 9 Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, 3., durchges. Auflage, München 2002, S. 125–132 und 196ff; ders.: Geschichte des modernen Staates, S. 17. 10 Am Anfang des 19. Jahrhunderts setzte sich Westgouvernements (zapadnye okrainy) als Sammelbegriff für die annektierten polnischen Ostgebiete (kresy wschodnie) durch, die unter Katharina II. noch euphemistisch als die „von Polen eingegliederten Gebiete“ (oblasti ot Pol’ši prisoedinënnye) bezeichnet wurden. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Bezeichnung „Westgouvernements“ langsam von den Begriffen „Nordwestliches Gebiet“ (severo-zapadnyj kraj) für den



Ein Raum und seine Eingesessenen

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polnischen Bauern. In den ukrainischen und weißrussischen Gebieten gehörte die Landbevölkerung dem orthodoxen oder dem unierten Glauben an und sprach einen ukrainischen bzw. weißrussischen Dialekt. In der Region um Wilna und Kovno war die Landbevölkerung hingegen katholisch und das Litauische die dominierende Alltagssprache. In der gesamten Region gab es zudem eine große jüdische Minderheit, die zumeist in den Marktflecken und Kleinstädten lebte oder als Gutsverwalter im Dienst von polnischen Magnaten stand. Abgesehen von diesen Gemeinsamkeiten lassen sich die Westgouvernements in drei Regionen untergliedern:11 1. Das östliche Weißrussland mit Polnisch-Livland war bereits im Zuge der ersten Teilung von 1772 Bestandteil des Zarenreichs geworden und zunächst in die Gouvernements Polock und Mogilëv unterteilt. Aus mehreren territorialen Umstrukturierungen gingen schließlich die Gouvernements Vitebsk und Mogilëv hervor. Diese Region unterscheidet sich von den anderen Teilungsgebieten vor allem dadurch, dass sie den Reformprozess, der in Polen nach der ersten Teilung einsetzte und auf dem Vierjährigen Sejm zur ersten kodifizierten Verfassung Europas führte, nicht miterlebt hat. Allerdings lässt sich nur schwer bestimmen, in welchem Maße die Reformära die Verhältnisse in der Provinz signifikant verändert hat. Gegen ein solches Auseinanderdriften der ostpolnischen Provinzen wurde eingewandt, dass die politischen Diskussionen der Reformära den Provinzadel weit weniger erreichten als häufig angenommen. Vielmehr offenbarten die Sitzungen der adligen Landtage im November 1790 eine große politische Diskrepanz zwischen den aufgeklärten Debatten auf dem Reichstag in Warschau und dem im Herkömmlichen verhafteten Landadel der östlichen Provinzen, der gegenüber allen konstitutionellen und bildungspolitischen Neuerungen äußerst skeptisch blieb.12 Immerhin ging die zarische Regierung von einer engeren Bindung des östlichen Teilungsgebietes an die zentralrussischen Provinzen aus und begann früher als in den anderen Westgouvernements, die rechtlichen Unterschiede zum Zarenreich einzuebnen. Im Jahr 1823 wurden Vitebsk und Mogilëv etwa mit Smolensk und Kaluga zu einem neuen Generalgouvernement zusammengefasst. 2. Die rechtsufrige Ukraine fiel im Zuge der zweiten Teilung 1793 an das Zarenreich und wurde in die Gouvernements Podolien, Wolhynien und Kiew unterteilt, wobei die Gouvernementsstadt Kiew bereits seit 1667 zum Russischen Reich gehörte. Anders als das restliche Teilungsgebiet war die rechtsufrige nördlichen und „Südwestliches Gebiet“ (jugo-zapadnyj kraj) für den südlichen Teil des von Polen annektierten Territoriums abgelöst. 11 Zur Lage der einzelnen Gouvernements siehe Karte 2 im Anhang. 12 Vgl. Richard Butterwick: Political Discourses of the Polish Revolution, 1788–92, in: The English Historical Review 120 (2005), S. 695–731, hier 723.

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Einleitung

Ukraine nicht Bestandteil des Großfürstentums Litauen, sondern der polnischen Krone unterstellt gewesen. In den ukrainischen Gouvernements lag der Anteil des Landes, das in Besitz von Magnaten war, höher als in der litauischweißrussischen Region. Die riesigen Latifundien berühmter Adelsgeschlechter wie der Potocki, Czartoryski oder Zamoyski hatten sich in der Adelsrepublik zu „Staaten im Staate“ mit eigener Verwaltung, eigener Miliz und eigenen Städten herausgebildet.13 3. Die litauisch-weißrussischen Gouvernements Wilna, Minsk und Grodno wurden teilweise infolge der zweiten (Minsk), teilweise infolge der dritten Teilung (Wilna, Grodno) territorialer Bestandteil des Zarenreiches. Diese Region war – wie auch das erste Teilungsgebiet – territorialer Bestandteil des Großfürstentums Litauen, das im Zuge der Personalunion von Krewo 1385 und mit der Realunion von Lublin 1569 mit dem Königreich Polen vereinigt wurde. Auch wenn es hier ausgedehnten magnatischen Grundbesitz gab, so bildete der Kleinadel doch ein stärkeres Element als in den anderen Teilungsgebieten.14 In diese Region lässt sich auch das administrativ gesonderte Gebiet Białystok einordnen, das im Zuge der preußischen Niederlage gegen Napoleon 1807 im Frieden von Tilsit an das Russische Reich fiel. Im 19. Jahrhundert gab es zwei Versuche, Polen als Vasallenstaat neu zu errichten: das von Napoleon abhängige Herzogtum Warschau, das von 1807 bis 1812 bestand, und das 1815 durch Alexander I. gegründete Königreich Polen, das bis zum Novemberaufstand eine weitgehende Autonomie genoss. Der russische Kaiser war in Personalunion auch polnischer König, wobei das Königreich eine Konstitution erhielt, die nicht nur Bürgerrechte garantierte, sondern auch eine eigene Regierung und mit dem Sejm ein Parlament festschrieb. Darüber hinaus unterhielt das Königreich ein eigenes Heer, das nur durch seinen Oberbefehlshaber, den Großfürsten Konstantin Pavlovič, mit dem Zarenreich verbunden war.15 Das Königreich Polen wird nicht Gegenstand dieser Untersuchung sein, da die Ver13 Zur Sozialstruktur der ukrainischen Gouvernements siehe Andreas Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine, 2., aktual. Auflage, München 2000, S. 78–83. 14 Zum Adel in den weißrussischen Gouvernements siehe Andrej Kischtymau: Die „Szlachta“ im Russischen Reich, in: Dietrich Beyrau / Rainer Lindner (Hg.): Handbuch der Geschichte Weißrusslands, Göttingen 2001, S. 222–234. Zur nationalen Identität des „litauischen“ Adels im 19. Jahrhundert vgl. K. J. Čeginskas: Die Polonisierung des litauischen Adels im 19. Jahrhundert, Bonn 1958 (Commentationes Balticae IV/V). 15 Zur Verfassung des Königreichs Polen siehe Thaden: Russia’s Western Borderlands, S. 72–80; Juliusz Bardach / Bogusław Leśnodorski / Michał Pietrzak: Historia ustroju i prawa polskiego, 5. Auflage, Warschau 2003, S. 360–369; Chwalba: Historia Polski, S. 257–261. Zur Rolle von Konstantin Pavlovič siehe Angela T. Pienkos: The Imperfect Autocrat. Grand Duke Constantine Pavlovich and the Polish Congress Kingdom, Boulder 1987.



Ein Raum und seine Eingesessenen

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hältnisse in den Westgouvernements andere waren: Sie waren kein Vasallenstaat, sondern ein integraler Bestandteil des Russischen Reiches. Zweifellos waren die Entwicklungen in den Westgouvernements und im Königreich Polen miteinander verknüpft. Dies wurde nicht zuletzt beim Novemberaufstand deutlich, der im Königreich seinen Ursprung nahm und schnell auf die Westgouvernements übergriff. Die Ereignisse im Königreich Polen werden deshalb immer dann in die Untersuchung miteinbezogen, sofern sie sich auf die Westgouvernements auswirkten. Die unterschiedlichen nationalen Vereinnahmungen der untersuchten Region zwingen zu einer Klärung der verwendeten Ethnonyme. Ist im Folgenden vom polnischen Adel die Rede, so ist damit auch der Adel des einstigen Großherzogtums Litauen gemeint. Eine solche Zusammenfassung scheint gerechtfertigt, da sich der litauische Adel bei allem Streben nach einer Eigenständigkeit in Sprache, Religion und politischer Tradition als Teil der polnischen Kultur empfunden hat. Die Bezeichnungen „ukrainisch“ und „weißrussisch“ sind nicht als nationale Zuschreibung zu verstehen, sondern weisen auf eine unterschiedliche historische Prägung der Region durch die jeweilige Zugehörigkeit zum Königreich Polen bzw. zum Großfürstentum Litauen hin. „Ukrainisch“ ist ein zeitgenössischer Begriff und umfasste damals wie heute auch Gebiete jenseits der drei Gouvernements Kiew, Podolien und Wolhynien. Deshalb werden diese drei Gouvernements als „rechtsufrige Ukraine“ bezeichnet. Ebenso sind „Weißrussland“ und „Litauen“ zeitgenössische Bezeichnungen, die nicht zuletzt bei der administrativen Gliederung in ein „Generalgouvernement Weißrussland“ und ein „Generalgouvernement Litauen“ auftauchen. Eine klare Abgrenzung ist hier jedoch schwierig, wie die mehrfachen Umstrukturierungen dieser Generalgouvernements zeigen. Um die gemeinsame Vergangenheit dieser Gouvernements als Teil des Großfürstentum Litauens zu betonen, werden diese Gebiete hier „litauisch-weißrussische Gouvernements“ genannt.16 Welche zeitliche Abgrenzung empfiehlt sich für die vorliegende Studie? Während der Beginn des Untersuchungszeitraums, die erste Teilung Polens 1772, klar zu fassen ist, lässt sich das Ende weniger eindeutig festlegen. Bewusst wurde nicht der Novemberaufstand von 1830 als Endpunkt gewählt, weil die russische Politik gerade in Reaktion auf dieses Ereignis wichtige Weichenstellungen in ihrer Integrationspolitik vornahm. Als symbolischer Schlusspunkt eignet sich am ehesten das Jahr 1840, in dem die zarische Regierung die Geltung des Litauischen Sta16 Zu den terminologischen Problemen dieses Grenzraumes vgl. Christophe von Werth: Stadt und Gemeindebildung in Ruthenien. Okzidentalisierung der Ukraine und Weißrusslands im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, Wiesbaden 2006, S. 18–21. Auf den von Werdt vorgeschlagenen Oberbegriff „Ruthenien“ für die gesamte lateinisch-orthodoxe Übergangszone bzw. Weißruthenien als eine davon abgeleitete Übersetzung des russischen Wortes Belorussija, verzichte ich jedoch.

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Einleitung

tuts in den ehemals litauischen Westgouvernements aufhob. In der Adelspolitik erstreckte sich jedoch die zarische Gesetzgebung, die auf den Novemberaufstand reagierte, über die gesamten vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts, so dass für den Titel der Arbeit das Jahr 1850 als Schlusspunkt gewählt wurde.

3. Einseitige Konfliktgeschich te und teleologische Meistererzählung: Zum Forschungsstand Die Teilungen Polens sind in der Vergangenheit vor allem auf der diplomatie- und verfassungsgeschichtlichen Ebene Gegenstand der historischen Forschung gewesen. Im Mittelpunkt stand dabei die Frage, ob der Untergang der Adelsrepublik das zwangsläufige Ergebnis innenpolitischer Entwicklungen darstellte oder in erster Linie den machtpolitischen Ambitionen ihrer Anrainer geschuldet war.17 Der eigentliche Vollzug der Teilungen, insbesondere die Integration der ostpolnischen Provinzen in das Russische Reich, ist weitgehend unberücksichtigt geblieben. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Die polnische Historiographie hat zum einen nicht nach der Integration der Westgouvernements gefragt, sondern diese Gebiete als Teil des westlichen Kulturraumes verstanden, die dem „orientalischen Despotismus“ des russischen Zarenreiches grundsätzlich fremd bleiben mussten.18 Zum anderen war dieses Themenfeld nach dem Zweiten Weltkrieg ein politisches Tabu. Die im Zuge der drei Teilungen Polens annektierten östlichen Provinzen der Adelsrepublik entsprachen größtenteils jenen Gebieten, die sich die Sowjetunion im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes einverleibt hatte. Stalin war nach dem Sieg der Anti-Hitler-Koalition nicht bereit, auf die 1939/40 in Besitz genommenen Territorien zu verzichten. Polen wurde mit deutschen Gebieten entschädigt und auf diese Weise nach Westen „verschoben“. Die Einbeziehung Polens in den Herrschaftsbereich des sowjetischen Imperiums verhinderte die historische Forschung über die kresy in Polen: Zu nahe liegend waren die Analogien zwischen den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert und dem Hitler-Stalin-Pakt im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs.19 17 Vgl. Müller: Die Teilungen Polens, S. 65–87. 18 Zur polnischen Russlandhistoriographie vor dem Zweiten Weltkrieg vgl. Mirosław Filipowicz: Wobec Rosji. Studia z dziejów historiografii polskiej od końca XIX wieku po II wojnę światową, Lublin 2000. Speziell zu den kresy siehe Andrzej Nowak: Od imperium do imperium. Spojrzenia na historię Europy Wschodniej, Krakau 2004, S. 109–144. Zur mythischen Aufladung der kresy im 19. Jahrhundert sowie in der Zwischenkriegszeit vgl. Werner Benecke: Die Kresy – ein Mythos der polnischen Geschichte, in: Heidi Hein-Kircher / Hans Henning Hahn: Politische Mythen im 19. und 20. Jahrhundert in Mittel- und Osteuropa, Marburg 2006, S. 257–266. 19 Zu den unterschiedlichen Phasen der öffentlichen Auseinandersetzung mit den kresy in der Volksrepublik Polen und im polnischen Exil vgl. Jerzy Kochanowski: Paradoxe Erinnerung an die



Zum Forschungsstand

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Diese politischen Implikationen wirkten sich auch auf die russische Historiographie aus. In weiten Teilen lösten sich die sowjetischen Historiker nicht von jener Rechtfertigungsliteratur, die der Adelsrepublik die Überlebensfähigkeit absprach und die „Kulturleistung“ des Zarenreiches in den vermeintlich rückständigen ostpolnischen Gebieten hervorhob.20 Die vorrevolutionären Narrative erhielten einen klassenkämpferischen Anstrich, indem die Annexionen der polnischen Ostgebiete als Befreiung der orthodoxen Bauernschaft von der Ausbeutung durch die polnischen Magnaten legitimiert wurde.21 Die internationale Historiographie zum geteilten Polen ist bis heute von jener nationalen Frontstellung geprägt, die im 19. Jahrhundert die Geschichtsschreibung in beiden Ländern dominierte. Russische Staatsgewalt und polnischer Adel werden nach wie vor als Antagonisten und deren Verhältnis tendenziell als Konflikt geschildert: Eine despotische zarische Regierung und eine nach Freiheit und Unabhängigkeit strebende nationale Bewegung stehen sich in dieser Konstellation unversöhnlich gegenüber.22 Dieses grundlegende Verständnis der russisch-polnischen Beziehungen im Zarenreich hat dazu geführt, dass insbesondere die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Fokus der Forschung gerückt ist. Die Maßnahmen der zarischen Regierung nach dem Januaraufstand von 1863/64 sind zu Recht als Russifizierungspolitik bezeichnet und umfassend untersucht worden.23 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Beziehung zwischen Russen und Polen von nationalistischen Sichtweisen geprägt und die politische Atmosphäre so weit

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Kresy, in: Heidi Hein-Kircher / Hans Henning Hahn (Hg.): Politische Mythen im 19. und 20. Jahrhundert, Marburg 2006, S. 267–278. Eine umfassende Untersuchung zum polnischen Adel im Königreich Polen liegt hingegen vor, vgl. Jerzy Jedlicki: Klejnot i bariery społeczne. Przeobrażenia szlachectwa polskiego w schyłkowym okresie feudalizmu, Warschau 1968. Siehe u.a. Ssergei Ssolowjoff: Geschichte des Falles von Polen. Nach russischen Quellen, Gotha 1865; Michail P. Pogodin: Pol’ša i Rossija, in: ders.: Pol’skoj vopros. Sobranie razsuždenij, zapisok i zamečanij 1831–1867, Moskau 1867, S. 61–64; Jurij F. Samarin: Sovremennyj ob’’ëm Pol’skago voprosa, in: ders.: Sočinenija, 12 Bde., Moskau 1877–1911, Bd. 1, S. 325–350; Michail N. Katkov: Stat’ja Pol’skij vopros, in: ders.: 1863 god. Sobranie statej po pol’skomu voprosu, pomeščavšichsja v Moskovskich Vedomostjach, Russkom Vestnike i Sovremennoj Letopisi 1863– 1864, 2 Bde., Moskau 1877, Bd. 1, S. 17–29. Siehe z.B. A. P. Ignatenko: Bor’ba belorusskago naroda za vossoedinenie s Rossiej (vtoraja polovina XVII – XVIII v.), Minsk 1974. Vor der Revolution wurde weniger die wirtschaftliche Ausbeutung, als die katholische Vormundschaft durch die Magnaten ins Feld geführt, vgl. A. Vinogradov: Značenie carstvovanie Imperatricy Ekateriny II dlja severo-zapadnago kraja. Kratkij istoričeskij očerk, Wilna 1900, S. 18–20. Stark zugespitzt findet sich dieses Narrativ etwa bei Norman Davies: God’s Playground. A History of Poland, 2 Bde., Oxford 1981, Bd. 2, S. 81–111; ders.: Im Herzen Europas. Geschichte Polens, München 2000, S. 144–253. Vgl. Theodore R. Weeks: Nation and State in Late Imperial Russia. Nationalism and Russification on the Western Frontier, 1863–1914, DeKalb 1996; Witold Rodkiewicz: Russian Nationality Policy in the Western Provinces of the Empire (1863–1905), Lublin 1998; Eitel Karl Rohr: Russifizierungspolitik im Königreich Polen nach dem Januaraufstand 1863/64, Diss. FU Berlin 2003.

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aufgeladen, dass die letzten Jahrzehnte des Zarenreiches ein lohnendes Untersuchungsfeld für eine russisch-polnische Konfliktgeschichte darstellen.24 Wenige Arbeiten haben sich hingegen dem 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewidmet. Diese projizieren häufig die nationale Frontstellung vom Ende des Zarenreiches auf die früheren Epochen zurück. Daniel Beauvois entwirft etwa ein Bild, in dem sich zarische Staatsgewalt und polnischer Adel von Beginn an unversöhnlich begegneten und die zarische Regierung eine hasserfüllte Repressionspolitik verfolgte.25 Selbst Studien, welche die spätere Russifizierungspolitik nicht in anachronistischer Art und Weise auf das 18. und beginnende 19. Jahrhundert übertragen, bleiben zumeist in den nationalen Narrativen einer Konfliktgeschichte gefangen. So erzählt auch Edward Thadens Standardwerk zur westlichen Expansion des Russischen Reiches über weite Strecken die Geschichte eines lang andauernden Widerstandes der westlichen Grenzgebiete gegen die russischen Versuche, diese Territorien enger an das Zarenreich anzubinden. Auch hier stehen sich das „russische“ Zarenreich und die Nationalitäten (Balten, Finnen, Polen) antagonistisch gegenüber.26 Dagegen hat Uno Lehtonen die Integration der polnischen Provinzen in das Zarenreich als weitgehend offene Situation geschildert. Sein Werk erschien 1906, so dass seine Perspektive nicht vom Wissen um den Ausgang des russisch-polnischen Zusammenlebens in einem Staat geprägt ist. Gleichzeitig hebt sich sein Werk durch eine wohltuende Sachlichkeit von zahlreichen Beiträgen seiner Zeitgenossen ab. Seine differenzierte Sichtweise ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass er als finnischer Historiker nicht unmittelbar von dem damaligen russisch-polnischen Konflikt berührt war. Allerdings bricht sein auf mehrere Bände angelegtes Werk mit dem Jahr 1782 ab, so dass es nur die 24 Siehe zuletzt Malte Rolf: Russische Herrschaft in Warschau. Die Aleksandr-Nevskij-Kathedrale im Konfliktraum politischer Kommunikation, in: Walter Sperling (Hg.): Jenseits der Zarenmacht. Dimensionen des Politischen im Russischen Reich 1800–1917, Frankfurt a. M., New York 2008, S. 163–189; ders.: Der Zar an der Weichsel. Repräsentationen von Herrschaft und Imperium im fin de siècle, in: Jörg Baberowski / David Feest / Christoph Gumb (Hg.): Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt a. M., New York 2008, S. 145–171; Christoph Gumb: Die Festung: Repräsentationen von Herrschaft und die Präsenz der Gewalt, Warschau (1904–1906), in: ebd., S. 271–302. 25 Daniel Beauvois: The Noble, the Serf and the Revizor. The Polish Nobility between Tsarist Imperialism and the Ukrainian Masses (1831–1863), Chur u.a. 1991, z.B. S. 101ff., wo Beauvois die russische Adelspolitik mit der deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg vergleicht. Etwas moderater fällt seine Untersuchung zu den Jahren vor dem Novemberaufstand aus, vgl. Daniel Beauvois: Pouvoir russe et noblesse polonaise en Ukraine 1793–1830, Paris 2003. Immer noch lesenswert ist die Studie von Adam Żółtowski, der in seiner Geschichte der Westgouvernements allerdings über Gebühr das Unrecht betont, das die polnischen Ostgebiete unter der absolutistischen Herrschaft St. Petersburgs und deren schonungslosen Verwaltung erfahren hätten, siehe Adam Żółtowski: Border of Europe. A Study of the Polish Eastern Provinces, London 1950, u.a. S. 67. 26 Edward C. Thaden: Russia’s Western Borderlands, 1710–1870, Princeton 1984.



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ersten zehn Jahre nach der ersten Teilung Polens von 1772 untersucht. Außerdem rekonstruiert Lehtonen die zarische Politik entlang der zentralen Gesetzestexte, ohne den praktischen Auswirkungen der Politik Katharinas II. auf den Grund zu gehen.27 Während auf der einen Seite bislang die repressiven Formen der Russifizierungspolitik in den Vordergrund gestellt wurden, galt der Blick auf der anderen Seite vorwiegend dem polnischen Widerstand. Somit rückte in erster Linie die polnische Nationalbewegung als gesellschaftlicher Gegenspieler der zarischen Autokratie in den Fokus der Historiker.28 Als zentrale Ereignisse wurden die Aufstände angesehen, welche als Kulminationspunkte des Konflikts firmierten. Mitunter wurde die Geschichte des geteilten Polens auch ganz auf einen heldenhaften Freiheitskampf einer unterdrückten Nation reduziert.29 Die Aufmerksamkeit galt also in erster Linie jenen Akteuren, die in Opposition zum Zarenreich standen und die die – zum Teil bewaffnete – Auseinandersetzung mit der zarischen Staatsgewalt suchten.30 In den letzten Jahren ist Bewegung in die erstarrten Konzepte dieser Konfliktgeschichte gekommen. In Russland nimmt eine junge Historikergeneration eine kritische Bestandsaufnahme der imperialen Herrschaft des Zarenreichs vor. Die „Neue Imperialgeschichte“ (Novaja imperskaja istorija) grenzt sich von der klassischen Imperiumsforschung dadurch ab, dass sie die Peripherie nicht länger als 27 Unno L. Lehtonen: Die Polnischen Provinzen Russlands unter Katharina II. Versuch einer Darstellung der anfänglichen Beziehungen der russischen Regierung zu ihren polnischen Untertanen, Sortavala 1906. 28 Siehe u.a. Andrzej Walicki: Philosophy and Romantic Nationalism: The Case of Poland, Oxford 1982; Tomasz Kizwalter: O nowoczesności narodu. Przypadek Polski, Warschau 1999; Stanislaw Eile: Literature and Nationalism in Partitioned Poland, 1795–1918, Basingstoke 2000; Brian Porter: When Nationalism Began to Hate. Imagining Modern Politics in Nineteenth-Century Poland, Oxford 2000; Alix Landgrebe: „Wenn es Polen nicht gäbe, dann müßte es erfunden werden“. Die Entwicklung des polnischen Nationalbewußtseins im europäischen Kontext von 1830 bis in die 1880er Jahre, Wiesbaden 2003; Agnieszka B. Nance: Literary and Cultural Images of a Nation without a State. The Case of Nineteenth-Century Poland, New York u.a. 2008. Zu den unterschiedlichen Aneignungen der Westgouvernements durch die polnische, ukrainische, litauische und weißrussische Nationalbewegung siehe Timothy Snyder: The Reconstruction of Nations. Poland, Ukraine, Lithuania, Belarus, 1569–1999, New Haven, London 2003. 29 Beispielsweise bei Davies: Im Herzen Europas, S. 144–253; Arnon Gill: Freiheitskämpfe der Polen im 19. Jahrhundert. Erhebungen – Aufstände – Revolutionen, Frankfurt a. M. 1997. 30 Robert F. Leslie: Polish Politics and the Revolution of November 1830, London 1956; ders.: Reform and Insurrection in Russian Poland 1856–1865, London 1963; Stefan Kieniewicz / Andrzej Zahorski / Władysław Zajewski: Trzy Powstania narodowe: kościuszkowskie, listopadowe, styczniowe, Warschau 1992. Die deutsche Historiographie hat sich außerdem der liberalen Polenfreundschaft im Zuge des Novemberaufstandes gewidmet, vgl. Peter Ehlen (Hg.): Der polnische Freiheitskampf 1830/31 und die liberale deutsche Polenfreundschaft, München 1982; siehe dazu die aktuelle Studie von Gabriela Brudzyńska-Němec: Polenvereine in Baden. Hilfeleistung süddeutscher Liberaler für die polnischen Freiheitskämpfer 1831–32, Heidelberg 2006.

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Objekt imperialer Herrschaft untersuchen will. Zugleich wendet sie sich gegen die ethnozentrische Perspektive der nichtrussischen Nationalitäten und deren nationalen Meistererzählungen. Stattdessen sollen die Vielfalt an regionalen, konfessionellen und sozialen Identitäten im imperialen Raum in den Blick genommen und die Perspektive des Zentrums mit der Sicht der Peripherie verschränkt werden.31 Aus diesem Umfeld ist eine Reihe von Studien zu den polnischen Provinzen im Zarenreich hervorgegangen. Indem dieser Ansatz politische Entscheidungsprozesse mit der gegenseitigen Wahrnehmung in Bezug setzt, überwindet er nationale Meistererzählungen und gibt den Blick frei auf die Vielseitigkeit der russischen Stimmen zur polnischen Frage sowie auf die inneren Widersprüche zarischer Polenpolitik.32 Die „Neue Imperialgeschichte“ bezieht zwar programmatisch die litauische, weißrussische und ukrainische Bevölkerung in ihre Untersuchungen ein, versteht imperiales Zentrum und Peripherie jedoch weiterhin als Antagonisten und legt ihren Untersuchungsschwerpunkt nach wie vor auf die „Russifizierungspolitik“ nach dem Januaraufstand von 1863/64.33 Methodisch knüpft die vorliegende Arbeit deshalb stärker an jene Imperiumsforschung an, die Herrschaftsordnungen und Formen von Integration untersucht sowie nach den Bedingungen von Stabilität und Destabilisierung imperialer Herrschaft fragt.34 31 Das Sprachrohr dieser jungen russischen Historikergeneration ist die Zeitschrift Ab Imperio, die seit dem Jahr 2000 erscheint. Einen guten Überblick über Forschungsansätze und Themenfelder der Neuen Imperialgeschichte bietet der Sammelband von Il’ja V. Gerasimov u.a. (Hg.): Novaja imperskaja istorija postsovetskogo prostranstva. Sbornik statej, Kazan’ 2004. Vgl. auch den programmatischen Aufsatz von Aleksei Miller: Between Local and Inter-imperial. Russian Imperial History in Search of Scope and Paradigm, in: Kritika 5 (2004), S. 7–26. 32 Leonid E. Gorizontov: Paradoksy imperskoj politika. Poljaki v Rossii i russkie v Pol’še (XIX – načalo XX v.), Moskau 1999. 33 Mikhail Dolbilov: Russification and the Bureaucratic Mind in the Russian Empire’s Northwestern Region in the 1860s, in: Kritika 5 (2004), S. 245–271; Darius Staliūnas: Making Russians. Meaning and Practice of Russification in Lithuania and Belarus after 1863, Amsterdam, New York 2007; Michail Dolbilov / Alexej Miller: Zapadnye okrainy Rossijskoj imperii, Moskau 2006. 34 Vgl. Jürgen Osterhammel: Expansion und Imperium, in: Peter Burschel u.a. (Hg.): Historische Anstöße. Festschrift für Wolfgang Reinhard zum 65. Geburtstag am 10. April 2002, Berlin 2002, S. 371–392, hier 386–392; ders.: Imperien, in: Gunilla Budde / Sebastian Conrad / Oliver Janz (Hg.): Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 56–67; ders.: Imperien im 20. Jahrhundert. Eine Einführung, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 3 (2006), H.1, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Osterhammel-1–2006; Charles S. Maier: Among Empires. American Ascendancy and its Predecessors, Cambridge/Mass., London 2006, S. 24–48; Ulrike von Hirschhausen / Jörn Leonhard: Beyond Rise, Decline and Fall. Comparing Multi-Ethnic Empires in the Long Nineteenth Century, in: dies. (Hg.): Comparing Empires. Encounters and Transfer in the Long Nineteenth Century, Göttingen 2011, S. 8–34, hier 17. Siehe außerdem die anregenden methodischen Überlegungen zu den Implikationen der Neuen Imperiumsforschung für die osteuropäischen Großreiche von Kerstin S. Jobst / Julia Obertreis / Ricarda Vulpius: Neuere Imperiumsforschung in der Osteuropäischen Geschichte: die Habsburgermonarchie, das Russländische Reich und die Sowjetunion, in: Comparativ 18 (2008), Heft 2, S. 27–56 und Jürgen Osterhammel: Russland und



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Noch stärker als die von einer russischen Perspektive dominierte „Neue Imperialgeschichte“ haben in den letzten Jahren polnische Historiker das etablierte Geschichtsbild ins Wanken gebracht. Andrzej Chwalba widerlegt in seiner Studie zum russischen Staatsdienst im Königreich Polen die traditionelle Sicht, dass die Zivilverwaltung des Königreichs nach dem Januaraufstand russifiziert worden sei. Vielmehr habe die Mehrheit der Polen mit mittlerer und höherer Bildung im staatlichen Sektor gearbeitet.35 Auch in den Westgouvernements habe der polnische Adel seinen Einfluss nicht verloren, sondern weiterhin die lokale Verwaltung und das Gerichtswesen dominiert.36 Jarosław Czubaty betont die pragmatische Reaktion des polnischen Adels auf die Teilungen und hebt ebenfalls die vielfältigen Formen der Zusammenarbeit mit den Teilungsmächten hervor. Er wendet sich gegen eindeutige Zuschreibungen wie Irredentisten, Kollaborateure oder passive Beobachter. Loyalität setze keine eindeutige Grundsatzentscheidung für die eine oder andere Seite voraus, denn der Alltag habe den Akteuren Entscheidungen abgenötigt, die in manchen Fällen für und in anderen gegen eine Kooperation mit der Zarenmacht ausfallen konnten, ohne dass sofort die Frage des nationalen Verrates im Raum gestanden habe.37 Neben der einseitigen Konzentration auf die Konflikte zwischen russischer Staatsgewalt und polnischem Adel ist die Historiographie von einem weiteren Narrativ der nationalen Meistererzählung Polens geprägt: Die Zeit der Teilungen wird in der polnischen wie in der westlichen Geschichtsschreibung als die Geschichte einer „Nation ohne Staat“ geschrieben.38 Fluchtpunkt dieses Narrativs ist das Jahr 1918, in dem die Teilungszeit mit der Wiedergründung eines polnischen Nationalstaats ihr scheinbar natürliches Ende findet. Mitunter wird sogar der Fortbestand einer polnischen Staatlichkeit suggeriert, wenn etwa die Teilungszeit als Jahre der Besatzung apostrophiert wird.39 Dieses teleologische Geschichtsbild ignoriert die vielfältigen Kontinuitäten, welche die Adelsrepublik mit der Teilungszeit verbin-

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der Vergleich zwischen Imperien. Einige Anknüpfungspunkte, in: ebd., S. 11–26; Zum Stand der Imperiumsforschung im Hinblick auf das Russische Reich siehe Ricarda Vulpius: Das Imperium als Thema der Russischen Geschichte. Tendenzen und Perspektiven der jüngeren Forschung, in: Zeitenblicke 6 (2007), Nr. 2, URL http://www.zeitenblicke.de/2007/2/vulpius/index_html. Andrzej Chwalba: Polacy w służbie moskali, Warschau, Krakau 1999. Andrzej Chwalba: Polen und der Osten. Tausend Jahre Nachbarschaft, in: ders. (Hg.): Polen und der Osten. Texte zu einem spannungsreichen Verhältnis, Frankfurt a. M. 2005, S. 12–75, hier 25f. Jarosław Czubaty: Zasada ‚dwóch sumień’. Normy postępowania i granice kompromisu politycznego Polaków w sytuacjach wyboru (1795–1815), Warschau 2005. So zum Beispiel wörtlich im Titel des Kapitels zur Teilungszeit bei Jörg K. Hoensch: Geschichte Polens, 2., neubearb. u. erw. Auflage, Stuttgart 1990, S. 180. Mit nationalem Pathos unterfüttert auch bei Davies: Im Herzen Europas, S. 144f. Auch Andrzej Chwalba versteht die Westgouvernements als „russisches Besatzungsgebiet“ (zabór rosyjski), vgl. z. B. Andrzej Chwalba: Historia Polski 1795–1918, Krakau 2005, S. 202–220.

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den, und verstellt den Blick für alternative Entwicklungen.40 Auch die Geschichte des geteilten Polens war ein offener Prozess, dessen Ausgang die Zeitgenossen nicht kannten.41 Eine Erzählung, die das Jahr 1918 als ihr folgerichtiges Ende begreift, zeichnet zwangsläufig die Geschichte einer gescheiterten Integration und vergibt die Chance, Faktoren der Integration und der Desintegration herauszuarbeiten und zu beschreiben. So stellte Edward Thaden schon in der Einleitung seiner maßgeblichen Studie klar, dass die von ihm untersuchten Grenzgebiete ihre eigenen Gesetze, Sitten, Institutionen und soziale Organisationsformen bewahren konnten: „Culturally and socially, they remained a world apart from the rest of the empire.“42 Auch Daniel Beauvois kommt zu dem Ergebnis, dass die russische Assimilierungspolitik gegenüber der Szlachta gescheitert sei und die Westgouvernements ihre althergebrachte soziale Struktur und kulturelle Prägung beibehalten haben.43 Neuere Studien durchbrechen diese nationale Teleologie. So stellte Claudia Kraft in ihrer Untersuchung zum Polen der Zwischenkriegszeit fest, dass die alten Teilungsgrenzen für die Bevölkerung noch lange Zeit identitätsbestimmend gewesen seien.44 Die Geschichte des russischen Teilungsgebietes ist bislang weitgehend als eine Geschichte des Königreichs Polen geschrieben worden. Indem die Historiker nach den Ursprüngen der polnischen Staatsgründung von 1918 suchten, gerieten vor allem das von Napoleon 1807 geschaffene Herzogtum Warschau und das auf dem Wiener Kongress 1815 entstandene Königreich Polen ins Zentrum der Erzählung. Hinzu kommt, dass die zentralpolnischen Gebiete des Königreichs nicht die ethnische 40 Claudia Kraft hat unlängst die personellen und diskursiven Kontinuitäten auf dem Felde der staatlichen Verwaltung zwischen der Adelsrepublik und dem Herzogtum Warschau untersucht, vgl. Claudia Kraft: Das „Staatlich-Administrative“ als Feld von Aushandlungsprozessen zwischen alten und neuen polnischen Eliten Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Karsten Holste / Dietlind Hüchtker / Michael G. Müller (Hg.): Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Akteure – Arenen – Aushandlungsprozesse, Berlin 2009, S. 21–47. 41 Die Studie von Stefan Rohdewald zu Polock weist einen Weg, der nicht einseitig auf das Scheitern der Integration der polnischen Teilungsgebiete fixiert ist. Er sieht die Teilungen als Beginn einer langwierigen Eingliederung in überregionale Kommunikationskreise und legt den Schwerpunkt seiner Untersuchung auf das Zusammenleben im Alltag, vgl. Stefan Rohdewald: „Vom Polocker Venedig“. Kollektives Handeln sozialer Gruppen einer Stadt zwischen Ost- und Mitteleuropa (Mittelalter, frühe Neuzeit, 19. Jh. bis 1914), Stuttgart 2005, S. 358–520. 42 Thaden: Russia’s Western Borderlands, S. 3. 43 Beauvois: Pouvoir russe et noblesse polonaise, S. 215–219. 44 Claudia Kraft: Europa im Blick der polnischen Juristen. Rechtsordnung und juristische Profession in Polen im Spannungsfeld zwischen Nation und Europa 1918–1939, Frankfurt a. M. 2002, S. 36. Werner Benecke nimmt ebenso die vielfältigen Brüche der Teilungszeit zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung zur Integration der kresy im polnischen Staat der Zwischenkriegszeit, siehe Werner Benecke: Die Ostgebiete der zweiten polnischen Republik. Staatsmacht und öffentliche Ordnung in einer Minderheitenregion 1918–1939, Köln, Weimar, Wien 1999.



Fragestellung und methodisches Vorgehen

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Vielfalt der polnischen Ostgebiete und insbesondere keine orthodoxe Bauernbevölkerung aufwiesen. Fortan wurde das Königreich zum Mittelpunkt der nationalen Auseinandersetzungen und lenkte somit verstärkt das Interesse jener Historiker auf sich, die den Konflikt der polnischen Nation mit dem russischen Imperium im Auge hatten. In den meisten Darstellungen rücken die Westgouvernements spätestens mit dem Jahr 1815 an den Rand der Erzählung oder geraten vollständig aus dem Blick.45 Das Einfügen der Teilungszeit in eine teleologische Nationalgeschichte bringt es außerdem mit sich, dass die Geschichte des geteilten Polens ausschließlich als eine Geschichte Polens geschrieben wurde. Die Jahre von 1795 bis 1918 werden als ein Kampf um die Wiedergewinnung eigener Staatlichkeit erzählt, in welcher der polnische Freiheitskampf und die Unterdrückung durch die Teilungsmächte die historischen Konstanten bilden.46 Nicht zuletzt die russischen Teilungsgebiete wurden auf diese Weise aus den politischen und sozialen Zusammenhängen des Zarenreiches herausgelöst.47 Der polnische Adel der Westgouvernements war jedoch keine „Nation ohne Staat“, sondern Teil der Bevölkerung im russischen Vielvölkerreich. Es gilt daher, die Westgouvernements als Provinzen des Zarenreiches zu verstehen und deren Entwicklung mit den vielfältigen Wandlungsprozessen im Russischen Reich in Beziehung zu setzen.48

4. Integration und Staatsausbau: Fragestellung und methodisches Vorgehen Preußen, Russland und die Habsburgermonarchie hatten durch Teilungsverträge die Territorien der polnischen Adelsrepublik zwar formell annektiert, der Herrschaftswechsel musste allerdings erst noch vollzogen werden. Das vom Zarenreich beanspruchte Gebiet wurde durch russische Truppen besetzt und – insbesondere nach der zweiten Teilung – der militärische Widerstand der Polen gebrochen. Auf die Okkupation folgte die zivile Inbesitznahme durch die Veröffentlichung eines 45 Siehe z. B. W. F. Reddaway u.a. (Hg.): The Cambridge History of Poland. From August II to Piłsudski (1697–1935), Reprint, Cambridge 1951; Hoensch: Geschichte Polens, S. 187–235; Rudolf Jaworski / Christian Lübke / Michael G. Müller: Eine kleine Geschichte Polens, Frankfurt a. M. 2000, S. 253–275; Anita J. Prażmowska: A History of Poland, Basingstoke 2004, S. 130–155. 46 Vgl. Piotr S. Wandycz: The Lands of Partitioned Poland 1795–1918, 3. Auflage, Seattle, London 1993; Davies: God’s Playground, Bd. 2, S. 81–162; ders.: Im Herzen Europas, S. 144–253. 47 Eine Ausnahme bildet Edward Thaden, der die Westgouvernements als „borderlands“ im Kontext der russischen Geschichte untersucht, vgl. Thaden: Russia’s Western Borderlands, S. 32–80 und 121–143. 48 Bislang wurde die „polnische Frage“ vor allem im Zusammenhang mit dem russischen nationbuilding untersucht, vgl. Andreas Renner: Russischer Nationalismus und Öffentlichkeit im Zarenreich 1855–1875, Köln, Weimar, Wien 2000; David L. Ransel / Bozena Shallcross (Hg.): Polish Encounters, Russian Identity, Bloomington, Indianapolis 2005.

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Besitzergreifungspatents, die Vereidigung der örtlichen Elite, der Austausch der Herrschaftssymbole und die Huldigung des neuen Herrschers durch die Untertanen.49 Damit waren die annektierten Gebiete symbolisch in das Herrschaftsgefüge des Zarenreiches eingegliedert. Um Herrschaft tatsächlich ausüben zu können, musste Russland ebenso wie die anderen Teilungsmächte allerdings die Staatsgewalt auf regionaler und lokaler Ebene etablieren. Die russische Politik stand nach den Teilungen Polens vor der gleichen Frage wie nach der Annexion der östlichen Ukraine, des Gebiets von Smolensk und des Baltikums: Wie konnten Regionen mit einer eigenständigen ständisch-korporativen Organisation, Rechtsordnung und politischen Tradition in das Russische Reich eingefügt werden?50 Bei Herrschaftswechseln kommt den indigenen Eliten stets eine entscheidende Rolle zu. Die Integration neuer Territorien hängt wesentlich davon ab, ob es den neuen Machthabern gelingt, sich der Loyalität der lokal und regional einflussreichen Eliten zu versichern.51 Das Zarenreich musste sich nach den Teilungen Polen-Litauens mit dem Adel arrangieren. Dies stellte eine besondere Herausforderung dar, da der polnische Adel nicht nur die sozial, wirtschaftlich und kulturell führende Schicht, sondern auch die politische Elite des Königreichs gewesen war, die sich nun mit dem Verlust der staatlichen Unabhängigkeit abfinden musste. Die nichtadlige Bevölkerung, die Stadtbürger und die litauischen, weißrussischen und ukrainischen Bauern spielten dagegen als Ansprechpartner russischer Integrationspolitik kaum eine Rolle.52 Die folgende Studie hat deshalb die Integration des polnischen Adels ins Russische Reich zum Thema. Im Zentrum stehen die Fragen nach den Konzeptionen zarischer Integrationspolitik und nach deren praktischer Umsetzung. Auf drei Untersuchungsebenen sollen diese Fragen beantwortet werden. Das erste Kapitel widmet sich der Elitenintegration: Im Zentrum stehen die Fragen, auf welche Weise und inwieweit der polnische Adel in den Reichsadel integriert werden konnte. Das zweite Kapitel nimmt den polnischen Adel als ständische Korporation 49 Dieser Ablauf entsprach dem klassischen Muster von Herrschaftswechseln im Europa des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vgl. Helga Schnabel-Schüle: Herrschaftswechsel – Zum Potential einer Forschungskategorie, in: dies. / Andreas Gestrich (Hg.): Fremde Herrscher – fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa, Frankfurt a. M. u. a. 2006, S. 5–20, hier 17. 50 Kappeler: Russland als Vielvölkerreich, S. 75. 51 Vgl. Helga Schnabel-Schüle: Herrschaftswechsel – Zum Potential einer Forschungskategorie, in: dies. / Andreas Gestrich (Hg.): Fremde Herrscher – fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa, Frankfurt a. M. u. a. 2006, S. 5–20, hier 16–20. 52 Kappeler: Russland als Vielvölkerreich, S. 75. Anders verhält es sich hingegen mit der jüdischen Bevölkerung, deren Status geregelt werden musste und bei deren Integration das Zarenreich auch auf eine Kooperation mit den jüdischen Eliten setzte, vgl. Verena Dohrn: Jüdische Eliten im Russischen Reich. Aufklärung und Integration im 19. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 2008, S. 65–72 und 77–97.



Fragestellung und methodisches Vorgehen

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in den Blick und untersucht die Integration der adligen Landtage in das Institutionengefüge des Zarenreichs. Im dritten Kapitel stehen die einzelnen adligen Amtsträger im Fokus. Es betrachtet das Aufeinandertreffen von zentraler Staatsgewalt und lokaler Selbstverwaltung und geht der Frage nach, inwiefern politische Partizipation auf lokaler Ebene und Integration in das Zarenreich sich gegenseitig bedingten. Der Begriff „Integration“ wird in der Literatur nicht einheitlich verwendet. Im Folgenden wird soziale Integration als ein Beziehungsmodus zwischen den Akteuren einer Vergesellschaftungsform verstanden, der das Fortbestehen dieser Vergesellschaftungsform ermöglicht.53 Soziale Integration trägt in dieser Definition zum Bestand und zur Stabilität von Gesellschaften bei. Damit ist der Begriff „Integration“ normativ und beinhaltet die Vorstellung von „gelingender“ Vergesellschaftung. Dieser normative Gehalt ist unvermeidlich und muss akzeptiert werden. Soziale Integration meint ein gelungenes Verhältnis von Freiheit und Bindung. Damit ist soziale Integration ein Erfolgsbegriff: Sie kann gelingen – und zwar in höherem oder geringerem Maß – oder sie kann scheitern. Allerdings gibt es keinen Idealzustand einer vollständigen sozialen Integration. Sie muss immer unvollständig bleiben und bedarf eines gewissen Gleichgewichts von Integration und Desintegration oder eines gelungenen Verhältnisses von Bindung und Freiheit.54 Auch wenn soziale Integration gemeinhin als ein Zustand der Vergesellschaftung aufgefasst wird, so ist sie doch ein Resultat von Prozessen. Solche Integrationsprozesse stehen im Mittelpunkt dieser Arbeit. Die Sozialwissenschaften unterscheiden zweierlei Formen von sozialer Integration: die normative und die pragmatische Integration. Die Theorie der normativen Integration, die unter anderem auf Talcott Parsons zurückgeht, erachtet Gesellschaften für integriert, wenn alle Mitglieder die herrschenden Normen internalisiert haben. Parsons bezeichnet Gesellschaften als stabil, wenn die Menschen im Einklang sowohl mit ihren persönlichen Bedürfnissen als auch mit den Erwartungen ihrer Mitmenschen handeln. Die Übereinstimmung zwischen den persönlichen Bedürfnissen und den sozialen Erwartungen wird dadurch garantiert, dass jeder Einzelne genau die Werte und Normen verinnerlicht, die von anderen als Erwartungen an ihn herangetragen werden. Menschen können demnach in einer Gesellschaft zusammenleben und -arbeiten, weil sie bestimmte Werte teilen. Die Internalisierung der in der Gesellschaft herrschenden Normen und Werte durch den Einzelnen garantiert somit insgesamt die Stabilität dieser Gesellschaft.55 53 Diese klassische Definition geht zurück auf Talcott Parsons: Beiträge zur soziologischen Theorie, hg. v. Dietrich Rueschenmeyer, Neuwied 1964, S. 182. 54 Bernhard Peters: Die Integration moderner Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1993, S. 24 und 92. 55 Vgl. Talcott Parsons: Das Über-Ich und die Theorie der sozialen Systeme, in: ders.: Sozialstruktur und Persönlichkeit, Frankfurt a. M. 1968, S. 25–45.

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Die Theorie der pragmatischen Integration sieht Gesellschaften hingegen dann als integriert an, wenn zwischen allen Mitgliedern ein Gleichgewicht der Befriedigung ihrer Interessen herrscht. Diese Theorie basiert auf der Handlungstheorie Max Webers, der soziales Handeln nicht als durch Werte motiviertes Handeln versteht, sondern die Erfolgsorientierung, also die Intention, für maßgeblich erachtet: „,Handeln‘ soll dabei ein menschliches Verhalten (…) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven S i n n verbinden. ‚Soziales‘ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten a n d e r e r bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“56

Nach der Theorie der pragmatischen Integration liegt jedoch sozialem Handeln nicht stets eine Norm zugrunde, welche die Motivation des Handelnden determiniert. Vielmehr orientiere sich soziales Handeln an den Handlungsmöglichkeiten, die sich dem Handelnden in der jeweiligen Situation bieten: Es gibt also immer eine Handlungsalternative. Wenn eine Person trotz dieser Auswahl an Möglichkeiten dennoch in verschiedenen Situationen immer wieder normenkonform handelt, dann aus dem Grund, dass der Handelnde sich daraus den größten Nutzen verspricht. Die Nutzenmaximierung der Individuen kann demnach zur sozialen Integration führen. Auf der anderen Seite kann eine mangelnde Befriedigung von Interessen zur Desintegration und zum sozialen Konflikt führen. Wenn die Mitglieder einer Gruppe die mangelnde Befriedigung ihrer Interessen auf die Gruppenmitgliedschaft zurückführen und sich ihrerseits als Gruppe organisieren, dann schlägt eine „latente“ Interessenlage in eine „manifeste“ Interessenartikulation um. Die Gruppe muss einen Konflikt mit den anderen Gruppen riskieren, die entgegengesetzte Interessen haben.57 Es wird in der vorliegenden Studie also darum gehen, die Form der Integration des polnischen Adels in das Zarenreich entlang dieser theoretischen Kategorien zu untersuchen und den Faktoren der Desintegration jenseits der Prämisse einer unausweichlichen nationalen Konfrontation auf den Grund zu gehen. In jüngster Zeit hat die Geschichtswissenschaft anstelle von „Integration“ verstärkt auf das Begriffspaar „Inklusion und Exklusion“ zurückgegriffen, das aus der Systemtheorie Niklas Luhmanns entlehnt wurde. Nach Luhmann meint Inklusion in einer auf Kommunikation basierenden Gesellschaft die Chance auf soziale 56 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. rev. Auflage, Tübingen 1972, S. 1. 57 Vgl. Ralf Dahrendorf: Zu einer Theorie des sozialen Konflikts, in: Wolfgang Zapf (Hg.): Theorien des sozialen Wandels, Köln, Berlin 1969, S. 108–123.



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Berücksichtigung von Personen. Im Gegensatz dazu haben wir es mit Exklusion zu tun, wenn jemand nicht mehr als Adressat für Kommunikation (es sei denn jene, die den Akt der Exklusion vollzieht und ihn reproduziert) in Frage kommt. Inklusion (und entsprechend Exklusion) bezieht sich damit auf die Art und Weise, in der Menschen adressiert und damit für relevant gehalten werden.58 Inklusion und Exklusion werden also über Kommunikation geregelt: „Man kommuniziert, dass man den anderen wahrgenommen hat und fordert ihn auf diese Weise auf, zum Interaktionssystem hinzuzutreten. Oder man vermeidet genau diese Kommunikation, unterlässt oder verweigert das Anerkennen der Wechselseitigkeit der Wahrnehmung und vollzieht derart Exklusion.“59

Im Folgenden werden die bisweilen inflationär gebrauchten Begriffe „Inklusion“ und „Exklusion“ allenfalls in ihrer eigentlichen Wortbedeutung verwendet. Die Eingliederung des Adels in die rechtliche, soziale und institutionelle Ordnung des Zarenreiches soll nicht ausschließlich als ein Kommunikationsprozess verstanden und deshalb mit dem Begriff „Integration“ benannt werden. Die Integration des polnischen Adels in das Russische Reich war eng mit dem Prozess des Staatsausbaus im Zarenreich verschränkt. Da die zarische Regierung beim Projekt der Etablierung staatlicher Herrschaft in der Provinz auf die lokalen Eliten angewiesen war, konnte der Staatsausbau in den Westgouvernements nur unter Einbeziehung des polnischen Adels verwirklicht werden. Es geht in dieser Arbeit insbesondere darum auszuloten, welche Bedeutung das Fortwirken adliger Selbstverwaltung für ein Imperium hatte, das bei der Durchsetzung autokratischer Herrschaftsansprüche in der Provinz auf Formen verfasster gesellschaftlicher Aktivität zu setzen begann. Und es stellt sich die Frage, auf welche Weise die Einbeziehung des polnischen Adels in das Projekt des Staatsausbaus dessen Integration in das Russische Reich beeinflusst hat. Die Verwaltungsgeschichte des Zarenreiches ist überwiegend als Analyse der formalen Behördenorganisation und -struktur geschrieben worden.60 Dabei fan58 Niklas Luhmann: Inklusion und Exklusion, in: ders.: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1995, S. 237–265, hier 241. Siehe dazu auch Rudolf Stichweh: Inklusion / Exklusion, funktionale Differenzierung und die Theorie der Weltgesellschaft, in: Soziale Systeme 3 (1997), S. 123–136, hier S. 123f.; Sina Farzin: Inklusion / Exklusion. Entwicklung und Probleme einer systemtheoretischen Unterscheidung, Bielefeld 2006, S. 7. 59 Rudolf Stichweh: Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2005, S. 180. 60 Siehe u.a. Erik Amburger: Geschichte der Behördenorganisation Russlands von Peter dem Großen bis 1917, Leiden 1966; Hans-Joachim Torke: Das russische Beamtentum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 13 (1967), S. 7–345; Bernhard Schalhorn: Lokalverwaltung und Ständerecht in Russland zu Beginn der Herrschaft Niko-

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den die untere Verwaltungsebene und der Verwaltungsalltag kaum Berücksichtigung.61 Doch erst eine Untersuchung des praktischen Verwaltungshandelns kann erklären, wie sich lokale Behörden in relativer Autonomie zur Zentralmacht mit ihrem sozialen Umfeld arrangierten, ihre Tätigkeit mit diesem aushandelten, auf soziale Beziehungen Rücksicht nahmen oder Anpassungsleistungen erbrachten, die eine Umsetzung der politischen Absichten ermöglichten.62 Die vorliegende Untersuchung folgt einem praxeologischen Ansatz, der den handelnden Akteuren sowie deren soziale Praxis seine besondere Aufmerksamkeit widmet. Integration und Staatsausbau sollen nicht als anonyme gesellschaftliche Prozesse beschrieben werden. Die Untersuchung der sozialen Praxis rückt vielmehr sowohl die Strukturen, die Handeln ermöglichen und beschränken, als auch die strukturierenden Folgen sozialen Handelns in den Blick.63 Der Staatsausbau beinhaltet den Versuch der zentralen Staatsgewalt, ihre Normen auf lokaler Ebene zu etablieren. Der für diesen Prozess lange Zeit verwendete Begriff der „Normdurchsetzung“ ist zuletzt in die Kritik geraten, da wohl keine Norm jemals umfassend durchgesetzt wurde. Stattdessen ist von der Einsetzung einer Norm in bestimmte wirtschaftliche, soziale und kulturelle Verhältnisse auszugehen. Deshalb sollte sich das Erkenntnisinteresse nicht danach richten, ob eine bestimmte Norm eingehalten wurde, sondern „Norm und Praxis als Bestandteile eines zirkulären Prozesses betrachtet werden, bei dem nicht die Differenz zwischen normativem Anspruch und tatsächlicher (Nicht-)Befolgung von Interesse ist, sondern die Art und Weise, wie verschiedene soziale Gruppen aus welchem Grund mit Normen umgingen.“64 Eine Alternative weist die historische Implementationsforschung auf. Sie fokussiert nicht die Ergebnisse von Gesetzgebungsverfahren, sondern die vielfältigen Prozesse, die durch den Erlass von Normen ausgelöst wurden:

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laus’ I., in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 26 (1979), S. 7–261; Nikolaj P. Eroškin: Istorija gosudarstvennych učreždenij dorevoljucionnoj Rossii, Moskau 1983; ders.: Rossijskoe samoderžavie, Moskau 2006. Eine Ausnahme bildet die kulturgeschichtliche Untersuchung von Susanne Schattenberg: Korrupte Provinz. Thomas Ellwein: Verwaltungsgeschichte und Verwaltungstheorie, in: Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft 3 (1989), S. 465–475, hier 472f. Vgl. Thomas Welskopp: Der Mensch und die Verhältnisse. „Handeln“ und „Struktur“ bei Max Weber und Anthony Giddens, in: Thomas Mergel / Thomas Welskopp (Hg.): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 39–70; ders.: Die Dualität von Struktur und Handeln. Anthony Giddens’ Strukturierungstheorie als „praxeologischer“ Ansatz in der Geschichtswissenschaft, in: Andreas Suter / Manfred Hettling (Hg.): Struktur und Ereignis, Göttingen 2001 (= Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 19), S. 99–119. Achim Landwehr: Policey vor Ort. Die Implementation von Policeyordnungen in der ländlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Karl Härter (Hg.): Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2000, S. 47–70, hier 50.



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„Die historische Implementationsforschung läßt sich in Kürze als Methode charakterisieren, mit der vor dem Hintergrund der Diskrepanz zwischen postulierter Norm und beobachtbarer Praxis die Umsetzungsmöglichkeiten von einem Kräftefeld, dessen wesentliche Faktoren die am Implementationsprozeß beteiligten und in sich nochmals differenzierten Gruppen der Programmgeber, Programmanwender und Programmempfänger sind.“65

Die zentrale Staatsgewalt gewann also nur Einfluss auf die lokale Ebene, wenn ihre Anordnungen und Befehle von den Angesprochenen wahrgenommen und umgesetzt wurden. Alf Lüdtke verwendet für diesen Adaptionsvorgang den Begriff der „Aneignung“: „Herrschaft mischt sich (…) weniger mit offenem Widerstehen als mit Hinnehmen, Ausweichen und Ausnutzen. Zwang schließt Momente von Konsens nicht aus – Stabilität enthält Ansätze zur Umwälzung (und umgekehrt). Erkennbar werden jene Mehrdeutigkeiten, die aus den Aneignungen der Betroffenen erwachsen. Nicht nur Zwänge und Zumutungen aus ‚Befehlsgewalt’ (Weber), sondern auch die Gewalt, die aus Anreizen und Verlockungen (…) entsteht: So unterschiedlich sie sind, so sehr werden sie dennoch ‚wirklich’ nur in den Formen, in denen die Angesprochenen sie wahrnehmen und umsetzen.“66

Ein derartiges Verständnis von Herrschaft, das die Umdeutungen und Anpassungen der Beherrschten in seine Analyse mit einbezieht, kann eine Betrachtungsweise überwinden, die den polnischen Adel als marginalisiertes Opfer einer russifizierenden Staatsgewalt darstellt, die ohne Rücksicht auf strukturelle und kulturelle Traditionen von außen in die polnischen Provinzen eingedrungen sei. Eine Perspektive, die den polnischen Adel als politischen Akteur im russischen Staatsbildungsprozess begreift, rückt die Frage nach dessen Herrschaftspartizipation in den Mittelpunkt der Untersuchung. Partizipation kann als ein wesentlicher Aspekt der Integration von Gesellschaft angelegt sein.67 Gleichzeitig weist der 65 Ebd., S. 51. 66 Alf Lüdtke: Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis, in: ders. (Hg.): Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien, Göttingen 1991, S. 9–63, hier 13f. (Hervorhebungen im Original). Zum Forschungspotential einer Alltagsgeschichte, die nach Formen und Praxen der Aneignung fragt, siehe Alf Lüdtke: Einleitung: Was ist und wer treibt Alltagsgeschichte? in: ders. (Hg.): Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt a. M., New York 1989, S. 9–46, hier 12f.; ders.: Alltagsgeschichte: Aneignung und Akteure. Oder – es hat noch kaum begonnen! in: Werkstatt Geschichte 17 (1997), S. 83–91. 67 Alfons Bora: „Partizipation“ als politische Inklusionsformel, in: Christoph Gusy / Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Inklusion und Partizipation. Politische Kommunikation im historischen Wandel, Frankfurt a. M., New York 2005, S. 15–34, hier 15.

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Begriff „Partizipation“ auf die divergierenden Konzeptionen von Integration hin. Es gilt zu fragen, in welcher Weise sich die russische Staatsgewalt einerseits und der polnische Adel andererseits politische Partizipation vorstellten. Und schließlich kommt es darauf an, sowohl die konfliktträchtigen wie die auf Kooperation ausgerichteten Aspekte der Beziehung zwischen russischer Staatsgewalt und polnischem Adel als eine Form sozialer Praxis zu begreifen. Auch wenn der zarische Staat langfristig in die Kernbereiche ständischer Selbstverwaltung vordringen konnte, so schließen sich bürokratische und partizipatorische Praxis keineswegs gegenseitig aus.68

68 Vgl. Clemens Zimmermann: Grenzen des Veränderbaren im Absolutismus. Staat und Dorfgemeinde in der Markgrafschaft Baden, in: Günter Birtsch (Hg.): Reformabsolutismus im Vergleich. Staatswirklichkeit – Modernisierungsaspekte – Verfassungsstaatliche Positionen, Hamburg 1996 (= Aufklärung 9,1), S. 25–45, hier 44.

I. ZWISCHEN ELITENKOOPTATION UN D STAATSA U SBA U : DIE INTEGRATION DES POLNISCHEN A D ELS IN D IE AUTOKRATISCHE ORDNUNG DES ZA RENREICHES

Die zarische Adelspolitik in den Westgouvernements war von Beginn an widersprüchlich. Es galt einerseits, den polnischen Adel als gleichberechtigtes Mitglied in die Elite des Reiches zu integrieren. Andererseits folgte die Regierung den Notwendigkeiten einer Politik, die den Staatsausbau in der Provinz zum Ziel hatte und somit erhebliches Konfliktpotential mit den lokalen Eliten barg. Seit dem 16. Jahrhundert hatte das Zarenreich bei der Eingliederung eroberter Gebiete die fremdländischen Oberschichten in den russischen Adel aufgenommen. Eine wesentliche Voraussetzung dieser Elitenkooptation war die Respektierung der jeweiligen lokalen administrativen und rechtlichen Ordnung sowie der Besitzverhältnisse und des bestehenden Wertesystems gewesen.1 Bis ins 18. Jahrhundert hatte das Zarenreich mit Hilfe der Eingemeindung fremder Oberschichten seine Herrschaft erfolgreich nach Osten ausgedehnt. Die nun einsetzende Westexpansion konfrontierte das autokratische Russland mit ständisch-korporativen Organisationsformen, die der Sozialverfassung des Reiches fremd waren. Dennoch knüpfte das Russische Imperium zunächst an jene Muster der Eingliederung an, wie sie das Moskauer Reich im 16. und 17. Jahrhundert entwickelt hatte. Die ukrainischen Kosaken und der deutschbaltische Adel Livlands wurden ebenso in den russischen Adel aufgenommen wie der schwedischsprachige Adel Finnlands und die rumänischen Bojaren Bessarabiens zu Beginn des 19. Jahrhunderts.2 Die Eingliederung der baltischen Ritterschaft im Zuge der Eroberung Livlands durch Peter I. stellte sogar ein Musterbeispiel einer gelungenen Elitenkooptation dar. Der baltische Adel bildete nicht nur eine loyale Elite in den Ostseeprovinzen, sondern übernahm bald auch wichtige Funktionen und Ämter im Russischen Reich.3 Die Ausgangslage in den polnischen Gouvernements stellte hingegen eine ungleich größere Herausforderung dar. Zwischen der Eroberung Livlands und der ersten Teilung Polens im Jahr 1772 lag ein halbes Jahrhundert. In dieser Zeit hatte sich der Herrschaftsanspruch der europäischen Monarchien verändert. Auch Katharina II. sah in der Etablierung der 1 2 3

Vgl. Kappeler: Russland als Vielvölkerreich, S. 54f. Vgl. ebd., S. 94. Vgl. Thaden: Russia’s Western Borderlands, S. 5–17; Reinhard Wittram: Peter I. Czar und Kaiser. Zur Geschichte Peters des Großen in seiner Zeit, 2 Bde., Göttingen 1964, Bd. 2, S. 79–98; Tuchtenhagen: Zentralstaat und Provinz, S. 61–87.

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Staatsgewalt auf lokaler Ebene eines der zentralen Anliegen ihrer autokratischen Reformpolitik. Wolfgang Reinhard hat betont, dass die Etablierung der Staatsgewalt stets mit einer Homogenisierung von Territorium und Bevölkerung einherging.4 Katharinas innenpolitisches Programm stand also im Widerspruch zur traditionellen indirekten Kontrolle der eroberten Gebiete. Der Staatsausbau war mit der bislang geübten Toleranz gegenüber fremden Rechtskulturen und Verwaltungsstrukturen kaum vereinbar. Die Teilungen Polens konfrontierten das Zarenreich mit einem bislang unbekannten Problem. Der polnische Adel stellte im Gegensatz zu jenen Eliten, die das Zarenreich bislang in den Reichsadel integriert hatte, keine homogene Oberschicht dar. Die Szlachta war sehr zahlreich und sozial stark heterogen. Damit unterschied sie sich fundamental vom russischen Adel. Letzterer setzte sich am Ende des 18. Jahrhunderts aus wenigen reichen und einer Mehrzahl von ärmeren sowie mittleren Grundbesitzern zusammen. Der polnische Adel hatte zwar eine ähnlich breite Oberschicht aus Magnaten und Gutsadel, neben den mittleren und ärmeren Grundbesitzern jedoch mit rund 40 Prozent auch einen großen Anteil an Adligen, die überhaupt kein Land besaßen. Sie hatten den Boden, den sie bearbeiteten, entweder nur gepachtet oder waren ganz ohne grundherrschaftliche Einkünfte. Nicht selten standen sie sogar im Dienst eines gutsbesitzenden Standesgenossen.5 Ein zweiter wesentlicher Unterschied zwischen russischem und polnischem Adel bestand in der politischen Verfasstheit und der Stellung zum Monarchen. Im Zarenreich hatte sich anders als in West- und Mitteleuropa kein Ständewesen herausgebildet, in dem der Adel ein politisch einflussreiches Gegengewicht zur Krone bildete.6 Schon in vorpetrinischer Zeit verstand sich der Adel nicht als eine Elite, die ihr wirtschaftliches Potential in die Waagschale warf, um der Zentralgewalt politische Rechte abzuringen. Reichtum war in Russland von der Krone abhängig, da Schenkungen des Zaren bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die bedeutendste 4 Vgl. Reinhard: Geschichte des modernen Staates, S. 12. 5 Zur sozialen Zusammensetzung des russischen Adels vgl. Arcadius Kahan: Die Kosten der „Verwestlichung“ in Rußland. Adel und Ökonomie im 18. Jahrhundert, in: Dietrich Geyer (Hrsg.), Wirtschaft und Gesellschaft im vorrevolutionären Russland, Köln 1975, S. 53–82, hier 56f.; Jerome Blum: Lord and Peasant in Russia. From the 9th to the 19th Century, Princeton 1961, S. 367ff. Zum polnischen Adel siehe Emanuel Rostworowski: Ilu było w Rzeczypospolitej obywateli szlachty, in: Kwartalnik historyczny 94 (1988), H. 3, S. 3–40, hier 31. Zur Stellung der Magnaten siehe u.a. Adam Kersten: Les magnats – élite de la société nobilaire, in: Acta Poloniae Historica 36 (1977), S. 119–133. 6 Vgl. Gregory l. Freeze: The Soslovie (Estate) Paradigm and Russian Social History, in: American Historical Review 91 (1986), S. 11–36. Zur Verortung des russischen Adels in die europäische Adelsgeschichte vgl. Walter Demel: Die Spezifika des europäischen Adels. Erste Überlegungen zu einem globalhistorischen Thema, in: zeitenblicke 4 (2005), Nr. 3 [13.12.2005], URL: .



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Quelle großer Vermögen bildeten.7 Mit der Einführung der Rangtabelle durch Peter I. wandelte sich die Abhängigkeit vom Herrscher in eine Abhängigkeit vom sich herausbildenden Staat. Nicht der durch Geburt erworbene Adelstitel, sondern der über den Dienst im Militär oder in der Verwaltung erworbene Rang bestimmte fortan die soziale Stellung eines jeden Adligen. Indem das Leistungsprinzip über das Definitionsmerkmal der Geburt gestellt wurde, sollte die Elite des Reiches durchlässiger und auf diese Weise durch Aufsteiger erneuert werden.8 Eine Folge war, dass der nach Ansehen und Einfluss strebende russische Adlige auf den Staat fixiert blieb und auch im 18. Jahrhundert nicht nach politischer Eigenständigkeit strebte.9 Dies änderte sich zunächst auch nicht, als Peter III. im Jahre 1762 die Dienstpflicht des Adels aufhob und Katharina II. dieses Manifest unmittelbar nach dem Sturz ihres ungeliebten Ehemanns bestätigte.10 Den Kern von Katharinas Adelspolitik bildete indessen die Gnadenurkunde von 1785. Darin verlieh sie dem Adel erstmals verbriefte, einklagbare Rechte. Die Dienstbefreiung von 1762 wurde 7 Vgl. Manfred Hildermeier: Der russische Adel von 1700 bis 1917, in: Hans-Ulrich Wehler: Europäischer Adel 1750–1950, Göttingen 1990 (= Geschichte und Gesellschaft Sonderheft 13), S. 166–216, hier 172. Dennoch waren die Bojaren dem Zaren keineswegs bedingungslos unterlegen, sondern stellten durchaus eine machtbewußte Elite dar, vgl. Robert O. Crummey: Aristocrats and Servitors. The Boyar Elite in Russia, 1613–1689, Princeton 1983; Hartmut Rüss: Herren und Diener. Die soziale und politische Mentalität des russischen Adels. 9.-17. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 1994, S. 286–294. Zum Provinzadel siehe Valerie A. Kivelson: Autocracy in the Provinces. The Muscovite Gentry and Political Culture in the Seventeenth Century, Stanford 1996. 8 Zur Rangtabelle vgl. Reinhard Wittram: Peter I. Czar und Kaiser. Zur Geschichte Peters des Großen in seiner Zeit, 2 Bde., Göttingen 1964, Bd. 2, S. 145–150; J. Hassell: The Implementation of the Table of Ranks During the 18th Century, in: Slavic Review 29 (1970), S. 283–299; Helju Aulik Bennett: Evolution of the Meanings of Chin. An Introduction to the Russian Institution of Rank Ordering and Niche Assignment from the Time of Peter the Great’s Table of Ranks to the Bolshevik Revolution, in: California Slavic Studies 10 (1977), S. 1–43, hier 4–26; dies.: Chiny, Ordena, and Officialdom, in: Walter McKenzie Pintner / Don Karl Rowney (Hg.): Russian Officialdom. The Bureaucratization of Russian Society from the Seventeenth to the Twentieth Century, Reprint, Basingstoke 2001, S. 162–189. Zur Auswirkung der Verknüpfung von Dienst und Adelsstatus auf das Selbstverständnis des russischen Adels vgl. Marc Raeff: Origins of the Russian Intelligentsia. The Eighteenth-Century Nobility, New York 1966, S. 34–53. 9 Vgl. Raeff: Origins of the Russian Intelligentsia, S. 116–121; Dietrich Geyer: „Gesellschaft“ als staatliche Veranstaltung. Sozialgeschichtliche Aspekte des russischen Behördenstaats im 18. Jahrhundert, in: ders. (Hg.): Wirtschaft und Gesellschaft im vorrevolutionären Russland, Köln 1975, S. 20–52; Robert d. Givens: Servitors or Seigneurs. The Nobility and the Eighteenth Century Russian State, Diss. Berkeley 1975, S. 367–458. Zuletzt wurde der Stellenwert, den der Dienst und der Rang für das Selbstverständnis des Adels hatte, relativiert und den ererbten Titeln, den Verdiensten der Vorfahren, dem Gutsbesitz sowie der Ehre eine stärkere Bedeutung beigemessen, vgl. Michael Confino: À propos de la notion de service dans la noblesse russe au XVIIIe et XIXe siècles, in: Cahiers du monde russe et soviétique 34 (1993), S. 47–58. 10 Vgl. Marc Raeff: The Domestic Policies of Peter III and His Overthrow, in: American Historical Review 75 (1969/70), S. 1289–1310.

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abermals bestätigt. Allerdings verpflichtete sie den Adel moralisch zum Einsatz für Staat und Krone, indem sie den Dienst als eigentliche Quelle seiner Privilegien festhielt. Die adligen Vorrechte der Steuerfreiheit und des alleinigen Besitzrechts auf besiedeltes Land erweiterte sie im Gegenzug durch weitere Wirtschaftsprivilegien. So wurde dem Adel das Recht zugesprochen, auf seinen Gütern Manufakturen und andere industrielle Unternehmungen zu errichten, mit seinen landwirtschaftlichen und gewerblichen Erzeugnissen Handel zu treiben und in den Städten Häuser zu unterhalten.11 Die Gnadenurkunde änderte zunächst nur wenig am Selbstverständnis des russischen Adels. Nach wie vor richtete er sein Standesbewusstsein am Staat und am Zaren aus. Der größere Teil verblieb im Dienst und verlegte seinen Wohnsitz nicht von der Stadt auf das Land. Die Gutswirtschaft betrieb er nur als Nebenberuf. Insofern hatte der russische Adel sein materielles Fundament und seine Lebensmitte in geringerem Maße auf dem Land als etwa der englische, der preußische oder der polnische Adel.12 Die Szlachta, wie sich der polnisch-litauische Adel seit dem 14. Jahrhundert selbst zu nennen begann, hatte eine andere historische Entwicklung genommen. Sie hatte ständische Selbstvertretungsorgane herausgebildet und eine politische Eigenständigkeit errungen, die sie zu einer selbstbewussten Gegenkraft zum Monarchen werden ließ. Aus dieser Konstellation heraus entwickelte sich jener polnische Sonderweg, der nicht in eine absolutistische Monarchie mündete, sondern in eine Adelsrepublik, in der die Szlachta den polnischen König wählte. Die Kandidaten für den Thron, die nicht selten aus Geschlechtern ausländischer Herrscherdynastien stammten, traten immer mehr Rechte an den Adel ab, um auf dem Reichstag die Stimmenmehrheit zu gewinnen. Schon am Ende des 16. Jahrhunderts bedurfte jedes Gesetz der Zustimmung des Reichstages (sejm). Außerdem war die Szlachta einer ständischen Rechtsprechung unterworfen, in der die Richter nicht vom König ernannt, sondern vom Adel selbst gewählt wurden.13 11 Zur Gnadenurkunde von 1785 vgl. Paul Dukes: Catherine the Great and the Russian Nobility. A Study Based on the Materials of the Legislative Commission of 1767, Cambridge 1967, S. 226– 229; Robert E. Jones: The Emancipation of the Russian Nobility 1762–1785, Princeton 1975, S. 273–287; Givens: Servitors or Seigneurs, S. 435–450. 12 Hildermeier: Der russische Adel, S. 182f.; Dominic Lieven: Abschied von Macht und Würden. Der europäische Adel 1815–1914, Frankfurt a. M. 1995, S. 283–286. 13 Vgl. Jörg K. Hoensch: Sozialverfassung und politische Reform. Polen im vorrevolutionären Zeitalter, Köln 1973, S. 50–82; Andrzej Wyczański: La structure de la noblesse polonaise aux XVIe-XVIIIe siècles (Remarques méthodiques), in: Acta Poloniae Historica 36 (1977), S. 109– 117; Stanisław Grodziski: Les devoirs et les droits politiques de la noblesse polonaise, in: ebd., S. 163–176; Michael G. Müller: Der polnische Adel von 1750 bis 1863, in: Hans-Ulrich Wehler: Europäischer Adel 1750–1950, Göttingen 1990 (= Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 13), S. 217–242, hier 217ff.; ders.: Polen als Adelsrepublik. Probleme der neueren verfassungsgeschichtlichen Diskussion, in: Hugo Weczerka (Hg.): Stände und Landesherrschaft in Ostmitteleuropa in der Frühen Neuzeit, Marburg 1995, S. 97–110; Robert I. Frost: The Nobility of Poland-



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Die soziale Ausdifferenzierung der Adelsgesellschaft in einen relativ wohlhabenden Adel, der einen aufwändigen Lebensstil sowie neue Formen der Konsumkultur pflegte, und einen verarmten Landadel, der sich nur noch auf seine Vergangenheit berufen konnte, war im 18. Jahrhundert ein Phänomen in ganz Europa.14 In Polen legte der Reichstag dem landbesitzenden Adel (possessores) höhere Steuern auf als dem Adel ohne Landbesitz (impossessionati).15 Im Gegenzug fiel es armen Adligen immer schwerer, ihre traditionellen Rechte und Privilegien zu bewahren. Sowohl der Zugang zu Ämtern als auch die volle politische Partizipation auf den Landtagen (sejmiki) und im Reichstag waren prekäre Rechte, deren Wahrnehmung von der persönlichen Durchsetzungsfähigkeit des Einzelnen und dessen Zugehörigkeit zu lokalen Netzwerken abhing. Nur die persönliche Freiheit und das vielfach nicht realisierbare Recht, Güter zu erwerben, blieben allgemein anerkannte Standesprivilegien auch des besitzlosen Adels.16 Vielfach wurden der soziale Abstieg und die Erosion der Privilegien durch ein überhöhtes Standesbewusstsein kompensiert. Der Sarmatismus entfaltete sich zu einer Integrationsideologie, welche die Kleinadligen wenigstens ideell als gleichwertige und gleichberechtigte Mitglieder der Szlachta auswies, indem sie diese als Abstammungsgemeinschaft deutete, deren gemeinsame Vorfahren das antike Volk der Sarmaten gewesen seien.17 Derartige Vorstellungen vom Adel als einer eigenen ethnischen Gruppe waren allerdings keine polnische Besonderheit, sondern hatten sich seit dem späten 16. Jahrhundert in vielen europäischen Adelsgesellschaften herausgebildet. Die Konstruktion einer Abstammungstradition diente als Abgrenzung gegen die damals in ganz Europa wachsende Zahl von Nobili-

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Lithuania, 1569–1795, in: Hamish M. Scott (Hg.): The European Nobilities in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, 2 Bde., London, New York 1995, Bd. 2, S. 183–222, hier 183f.; Edward Opalinski: Die Freiheit des Adels. Ideal und Wirklichkeit in Polen-Litauen im 17. Jahrhundert, in: Ronald G. Asch: Der europäische Adel im Ancien Régime. Von der Krise der ständischen Monarchien bis zur Revolution (ca. 1600–1789), Köln, Weimar, Wien 2001, S. 77–104. Vgl. Ronald G. Asch: Staatsbildung und adlige Führungsschichten in der Frühen Neuzeit. Auf dem Weg zur Auflösung der ständischen Identität des Adels?, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), S. 375–397, hier 375f. Vgl. Frost: Nobility of Poland-Lithuania, S. 196. Vgl. Müller: Polnischer Adel, S. 219f. Zum Sarmatismus vgl. Jerzy Lukowski: Liberty’s Folly. The Polish-Lithuanian Commonwealth in the Eighteenth Century, 1697–1795, London, New York 1991, S. 21–23; Zur Entstehung des Begriffs Sarmatismus und seinem vielfältigen Bedeutungswandel vgl. Martin Faber: Das Streben des polnischen Adels nach dem Erhalt seiner Privilegien. Zur ursprünglichen Bedeutung des Wortes „Sarmatismus“, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 57 (2009), S. 374–401; Hans-Jürgen Bömelburg: Sarmatismus – Zur Begriffsgeschichte und den Chancen und Grenzen als forschungsleitender Begriff, in: ebd., S. 402–408. Den Einfluss des Sarmatismus auf die Sitten und den Alltag des polnischen Adels beschreibt Maria Bogucka: The Lost World of the „Sarmatians“. Customs as the Regulator of Polish Social Life in Early Modern Times, Warschau 1996.

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tierten.18 Der Sarmatismus ist darüber hinaus Ausdruck eines Adelskonzepts, das sich fundamental von der durch Peter I. eingeführten Praxis im Russischen Reich unterschied. Hier definierte sich der Adel über den Dienst, womit prinzipiell jedem die Möglichkeit gegeben war, sich auf der Rangtabelle in den Adelsstand hochzudienen. In diesem Kapitel steht die Frage im Mittelpunkt, inwieweit und auf welche Weise die zarische Regierung nach den Teilungen Polens die Szlachta in die gesellschaftliche Ordnung des Russischen Reiches eingegliedert hat. Welche Ziele verfolgten die einzelnen Zaren mit ihrer Adelspolitik in den ehemals polnischen Gebieten, die nun die sogenannten Westgouvernements des Imperiums bildeten? Welche Mittel benutzten sie, um diese Ziele zu erreichen? Und inwieweit führten die gewählten Mittel zum Erfolg? Diese Fragen sollen zu einer differenzierten Betrachtung der zarischen Adelspolitik jenseits der Kategorien „Russifizierung“ und „Assimilierung“ führen, die lange Zeit das Bild von der russischen Politik in den polnischen Provinzen prägten.19

1. Die Szlachta als grundbesitzende Elite der Westgouvernements: Adelspolitik und Verwaltungsreformen unter Katharina II. (1772–1796) 1.1. Die symbolische Integration des polnischen Adels: Herrschaftswechsel und Treueid nach der ersten Teilung Polens In der Woche vom 1. bis zum 7. September 1772 verkündete Katharina II. der Bevölkerung der vier polnischen Wojewodschaften Polock, Vitebsk, Mstislav und Polnisch Livland in einem Plakat, dass sie von nun an ihre Untertanen seien. Damit war der Herrschaftswechsel eines Territoriums mit einer Gesamtfläche von 87.000 Quadratkilometern und 1,3 Millionen Einwohnern formell vollzogen. Das russische Militär hatte die ostpolnischen Gebiete zwar bereits unmittelbar nach dem russisch-preußischen Teilungsvertrag vom 17. Februar 1772 besetzt, doch erst nach einem entsprechenden Abkommen zwischen Russland und Österreich am 5. August 1772 konnte die Zarin den Herrschaftswechsel öffentlich bekannt geben. Katharina II. garantierte auf ihrem Plakat allen neuen Untertanen Besitz, Vermögen und uneingeschränkte Religionsfreiheit. Gleichzeitig gewährte sie den 18 Vgl. Ronald G. Asch: Europäischer Adel in der Frühen Neuzeit. Eine Einführung, Köln, Weimar, Wien 2008, S. 47ff. 19 Vgl. u. a. Beauvois: The Noble, the Serf and the Revizor, S. 80–107; Irena Rychlikowa: Deklasacja drobnej szlachty polskiej w Cesarstwie Rosyjskim. Spór o „Pułapkę na szlachtę“ Daniela Beauvois, in: Przegłąd historyczny 79 (1988), S. 121–147.



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Einwohnern der annektierten Gebiete jene Rechte, Freiheiten und Privilegien, welche die anderen Untertanen der Zarin bereits genossen. Im Gegenzug erwartete die russische Herrscherin „Anerkennung und Dankbarkeit“. Und da die neuen Untertanen nun „durch ihre [Katharinas, J. G.] Gnade an der gleichen Wohlfahrt wie die Russen teilhaben“ würden, sollten diese „sich ihrerseits bemühen, sich dieses Namens durch aufrichtige Liebe zu dem neuen Vaterland und unerschütterliche Treue zu der so großmütigen Herrscherin würdig zu zeigen“.20 Im Anschluss an die öffentliche Verkündung des Plakats sollten die anwesenden Untertanen Treue schwören. Wer den Eid verweigerte, erhielt drei Monate Zeit, um seine unbewegliche Habe zu verkaufen und auszuwandern. Sämtliches immobiles Eigentum, das nicht veräußert werden konnte, fiel an den Staat, und alle Erbansprüche gingen verloren.21 Diese Aufforderung war für jene Magnaten, die im polnischen Reststaat Ländereien besaßen und sich auf ihre dortigen Güter zurückziehen konnten, durchaus eine Alternative zum künftigen Dasein als russische Untertanen. Die Ableistung des Treueids machte also auf der einen Seite den Herrschaftswechsel in den annektierten Gebieten bekannt, zum anderen bezeugten die neuen Untertanen durch ein Unterwerfungsritual ihren Loyalitätswillen gegenüber der Zarin. Die neu geknüpfte Beziehung zwischen Herrscher und Beherrschten wurde anschließend durch eine rechtliche Gleichstellung mit den anderen Untertanen des Reiches gefestigt. Ein solcher Initiationsritus war keine russische Besonderheit. Die Vereidigung der örtlichen Elite und die Huldigung des neuen Herrschers gehörten vielmehr zum festen Repertoire von Ritualen, mit deren Hilfe der Herrschaftswechsel im Europa des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts symbolisch kommuniziert und juristisch vollzogen wurde.22 Mit der Abnahme des Treueids knüpfte Katharina II. zudem an die Herrschaftspraxis ihrer Vorgänger an, die sich in der Vergangenheit durchaus bewährt hatte. Die Integration des Teilungsgebietes von 1772 folgte denn auch den Prinzipien der traditionellen Elitenkooptation. Die Szlachta behielt ihre herkömmlichen Rechte, Privilegien und Freiheiten, und polnische Adlige wurden als gleichberechtigte Mitglieder in die Schicht des russischen Adels aufgenommen. Im Gegenzug erkannten sie die Zarin als ihren neuen Souverän an. Die zarische Herrschaft strebte in den annektierten polnischen Provinzen zunächst also nicht nach einer umfassenden Implementierung ihrer Normen. Allerdings erkannte die Szlachta die Zarin grundsätzlich als normsetzende Gewalt 20 Plakat zur Bekanntgabe des Herrschaftswechsels in den von Polen annektierten Gebieten vom 16.8.1772, in: Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj Imperii s 1649 goda, Reihe I, 48 Bde., St. Petersburg 1833–1855 (im Folgenden: PSZ I), Bd. 19, Nr. 13.850, S. 554–556, hier 555. 21 Instruktion für die Gouverneure von Pskov und Mogilëv, Kachovskij und Krečetnikov, anlässlich ihrer Einsetzung vom 28.5.1772, in: PSZ I, Nr. 13.808, S. 507–511, hier 510. 22 Vgl. Schnabel-Schüle: Herrschaftswechsel S. 17.

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an. Diese Rolle der Monarchin wurde im Treueid manifestiert, da es Katharina II. war, die dem polnischen Adel seine alten Rechte bestätigte. Diesem Unterwerfungsakt wohnte die Vorstellung inne, dass die neuen Untertanen keinen eigenen Anspruch auf ihre alten Rechte besaßen: Sie wurden ihnen vielmehr durch einen kaiserlichen Gnadenakt gewährt. Gleichzeitig hatte sich damit auch die Zarin an die Geltung dieser Rechte gebunden. Der Treueid war allerdings mehr als ein symbolischer Akt des Herrschaftswechsels. Für die zarische Regierung stellte er die erste Nagelprobe für die Integrationsbereitschaft des polnischen Adels dar und war damit zugleich ein Gradmesser für die Erfolgsaussichten der anvisierten Kooptationspolitik. Wie verlief demnach die Abnahme des Treueides in der Praxis? Der frisch berufene Generalgouverneur von Weißrussland, Zachar G. Černyšëv, erließ im August 1772 eine ausführliche Weisung, die den Ablauf des rituellen Schwurs festlegte. Alle männlichen Personen ungeachtet ihres Standes und ihrer Würde, also auch Leibeigene, wurden verpflichtet, den Treueid zu schwören. Adlige, Geistliche und Bürger sollten sich in den Kirchen der größeren Städte einfinden und ihren Eid je nach Vermögen durch eigene Unterschrift oder die eines Bürgen bekräftigen. Bauern hatten sich auf dem Lande in ihren Gemeindekirchen zu versammeln, wo die Popen für sie die Unterschrift leisten würden. Die Juden sollten den Eid in den Synagogen und Gemeinden gemäß ihren Gebräuchen ablegen.23 Černyšëv hatte zunächst den ehrgeizigen Plan entwickelt, das Ritual bis Ende September 1772 zum Abschluss zu bringen.24 Der Gouverneur von Pskov, Michail N. Krečetnikov, hatte in seinem Gouvernement – das sich zur einen Hälfte aus den russischen Provinzen Pskov sowie Velikie Luki und zur anderen Hälfte aus den drei annektierten Provinzen Vitebsk, Polock sowie Düna zusammensetzte – den neuen Untertanen bereits im Oktober den Treueid abgenommen.25 Im Gouvernement Mogilëv, das ausschließlich aus ehemals polnischen Provinzen bestand, erwiesen sich die zeitlichen Vorgaben jedoch als zu optimistisch. Dort musste die Frist bis zum 15. Januar 1773 verlängert werden.26 In der Praxis legte nicht jeder Adlige persönlich einen Treueid ab, sondern Adelsdelegationen schworen stellvertretend für ihren gesamten Landkreis.27 Am 1.  Juni 1773 legte Černyšëv Verzeichnisse derjenigen Adligen vor, die in den weißrussischen Provinzen den Eid geleistet hatten. Im Gouvernement Pskov hat23 Briefe Černyšëvs an Krečetnikov vom 8.8.1772 und vom 19.8.1772, in: Čtenija v Imperatorskom obščestve istorii i drevnostej Rossijskich pri Moskovskom universitete 4 (1863), S. 4–7 und 7–8. 24 Brief Černyšëvs an Krečetnikov vom 19.8.1772, in: Čtenija v Imperatorskom obščestve istorii i drevnostej Rossijskich pri Moskovskom universitete 4 (1863), S. 7–8, hier 7. 25 Brief Černyšëvs an Krečetnikov vom 8.10.1772, in: Čtenija v Imperatorskom obščestve istorii i drevnostej Rossijskich pri Moskovskom universitete 4 (1863), S. 42–45, hier 43. 26 Bericht des Generalgouverneurs Černyšëv vom 11.12.1772, in: PSZ I, Bd. 19, Nr. 13.918, S. 683. 27 Vgl. die Schilderung bei I. S. Rjabinin: Nekotoryja dannyja dlja charakteristiki nastroenija belorusskago obščestva v ėpochu četyrechletnjago sejma 1788–1792 gg., Moskau 1913, S. 10.



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ten 1.799 Adlige der Zarin Treue geschworen, im Gouvernement Mogilëv waren es 3.727.28 Lediglich neun Adlige waren laut den Angaben Černyšëvs seiner Aufforderung nicht nachgekommen.29 Aus Sicht der zarischen Regierung verlief die Abnahme des Treueides in den annektierten polnischen Provinzen erfolgreich. Wie nahm jedoch die Szlachta dieses Ritual wahr? Nur wenige Zeugnisse geben einen Einblick in die Perspektive der betroffenen Adligen, so dass die empirische Basis für generalisierende Aussagen zu dünn ist. Immerhin wirft die kleine Anzahl von Stimmen einzelne Schlaglichter auf Einstellungen und Handlungsstrategien polnischer Adliger. Adam Omulski zum Beispiel beanstandete am Verfahren des Treueides den Widerspruch, dass man einerseits schwöre, sich freiwillig und ohne Zwang unter die Herrschaft der Zarin zu begeben, andererseits bei Verweigerung der Verlust des Grundbesitzes drohe.30 Tatsächlich hatte eine Ablehnung des Treueides schwerwiegende Folgen. Katharina II. betrachtete solch widerspenstige Adlige als potentielle Verräter und konfiszierte deren Güter. Die Zarin strebte damit jedoch keine Vermehrung des kaiserlichen Grundbesitzes an und gab die Güter in der Regel an treue Weggefährten weiter.31 Diese Schenkungspraxis führte dazu, dass im Gouvernement Mogilëv bald 25 bis 30 Prozent der Grundbesitzer russische Adlige waren, darunter bekannte Persönlichkeiten wie Grigorij Potëmkin, Alexander Golicyn, Alexander Bibikov oder der Generalgouverneur Zachar Černyšëv. Die Güter und Starosteien, die Katharina II. so großzügig verschenkte, waren in der Regel riesige Latifundien, auf denen zahlreiche Leibeigene siedelten. So erhielt Peter Zavadovskij mit seinem Gut zugleich 25.681 Seelen geschenkt. Auf Potëmkins weißrussischen Besitzungen lebten 14.247 Leibeigene, und auf Golicyns sowie Bibikovs Gütern jeweils knapp 3.000 Seelen.32 28 Namensliste Zachar Černyšëvs von den Adligen des Gouvernements Pskov, die den Treueid geleistet haben, vom 1.6.1773, in: Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Drevnich Aktov (im Folgenden: RGADA), fond 12, opis’ 1, delo 160, list 3–24; Namensliste Zachar Černyšëvs von den Adligen des Gouvernement Mogilëv, die den Treueid geleistet haben, vom 1.6.1773, in: RGADA f. 12, op. 1, d. 160, l. 106–148ob. 29 Dies waren namentlich: Fürst Radziwiłł (Woiwode von Wilna), Fürst Radziwiłł (Starost von Brześć), Graf Oginski (Großhetman von Litauen), Graf Ogiński (Kastellan von Wilna), Graf Ogiński (Woiwode von Trock), Fürst Czartoryski (Woiwode), Fürst Sapieha (Woiwode von Połock und Feldhetman von Litauen), Graf Sołłohub (Woiwode von Vitebsk) und Graf Pocei (Großwächter von Litauen), siehe die Namensliste Zachar Černyšëvs von den Adligen, die den Treueid nicht geleistet haben, vom 1.6.1773, in: RGADA f. 12, op. 1, d. 160, l. 105. 30 Vgl. Rjabinin: Nekotoryja dannyja, S. 10. 31 Die zarische Regierung verfuhr nicht nur mit den von Adligen konfiszierten Gütern auf diese Weise, sondern auch mit Gütern, die im kirchlichen oder königlichen Besitz gewesen waren, vgl. Namentlicher Ukas Katharinas II. vom 6.3.1773, in: PSZ I, Bd. 19, Nr. 13.957, S. 732–733. 32 Vgl. E. P. Zakalinskaja: Votčinnye chozjajstva mogilëvskoj gubernii vo vtoroj polovine XVIII veka, Mogilëv 1958, S. 27f.

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Die Historiographie hat diese Vorgehensweise häufig als den Beginn einer gezielten Russifizierung der Westgouvernements gedeutet.33 Eine solche Interpretation greift allerdings zu kurz, da Katharina II. nicht nur „polnischen“, sondern auch zentralrussischen Grund und Boden großzügig verschenkte. Konfiskationen und Donationen waren in der politischen Praxis des Zarenreichs fest verankert. Zum einen war Landbesitz sehr eng mit dem Staatsdienst verbunden. Das adlige Gut war dabei nicht nur die wirtschaftliche Voraussetzung für den Dienst, sondern machte den Gutsherrn zugleich zum Repräsentanten zarischer Herrschaft gegenüber den Untertanen vor Ort. Zum anderen resultierten die Schenkungen aus den spezifischen Eigentumsvorstellungen im Russland des 18. Jahrhunderts. Eigentum wurde nicht als ein bewahrenswertes privates Vermögen verstanden, sondern als eine Art Kapital, das man ausgab, um Kontakte und Netzwerke zu knüpfen oder zu pflegen. Die Zarin war ein Teil dieser „gebenden Gesellschaft“. Ihr kam die Rolle einer „ehrlichen Maklerin“ zu, deren Aufgabe nicht zuletzt darin bestand, Landbesitz zu verteilen und umzuverteilen. Damit war Eigentum „keine private, von machtpolitischen Fragen zu trennende Angelegenheit, und Vergabe ebenso wie Konfiskation bildeten integrale Bestandteile des politischen Lebens“.34 Im Russland des 18. Jahrhunderts gehörte es also zur üblichen Herrschaftspraxis, die Güter von illoyalen Adligen einzuziehen und politischen Vertrauten zu übereignen. Darin ist weder eine besondere Härte gegenüber dem polnischen Adel noch der Beginn einer Russifizierungspolitik zu sehen. Allerdings hatte diese Praxis unter Katharina II. stark zugenommen. Da der Boden in Kernrussland bereits weitgehend verteilt war, war die Zarin darauf angewiesen, ihre Gefolgsleute mit Land in den neu eroberten Gebieten zu befriedigen: also insbesondere in Neurussland und in Polen.35 Angesichts des drohenden Verlustes ihrer Güter dürften nicht wenige Adlige den Treueid weniger aus Überzeugung, sondern eher notgedrungen geleistet haben. Gleichzeitig gilt es zu bedenken, dass ein Eid auch im ausgehenden 18. Jahrhundert eine Gewissensentscheidung war, die man kaum sorglos traf. So fanden sich in erster Linie Adlige, die in der Adelsrepublik ein Amt bekleidet hatten, in einem Loyalitätskonflikt. Sie nahmen eher den Verlust ihres Grundbesitzes in Kauf als der russischen Zarin den Treueid zu schwören und damit ihre Treue gegenüber dem polnischen König zu brechen.36 Andere fanden einen Ausweg aus 33 So zum Beispiel Thaden: Russia’s Western Borderlands, S. 45. 34 Vgl. dazu grundlegend: Martina Winkler: „Eigentum! Heiliges Recht! Seele der Gesellschaft!“ Adel, Eigentum und Autokratie in Russland im 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Walter Sperling (Hg.): Jenseits der Zarenmacht. Dimensionen des Politischen im Russischen Reich 1800–1917, Frankfurt a. M., New York 2008, S. 71–97, hier 73–79, Zitat 78. 35 Vgl. Lehtonen: Die polnischen Provinzen, S. 503–506. 36 Vgl. die Namensliste Zachar Černyšëvs vom 1.6.1773, in: RGADA f. 12, op. 1, d. 160, l. 105.



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dem moralischen Dilemma, indem sie eine Veränderung der Eidesformel durchsetzten. So weigerte sich der Erzbischof der Unierten Kirche von Polock, einen Eid auf die Kaiserin und den Heiligen Synod zu sprechen. Er leistete den Schwur erst, als es allen Unierten und Katholiken gestattet wurde, in die Fürbitte für die höchsten Autoritäten neben der Kaiserin und den Thronfolger auch den Papst mit einzubeziehen.37 Abgesehen von solchen Beispielen der Prinzipientreue finden sich auch Fälle, in denen Adlige aus pragmatischen Erwägungen der Zarin die Treue schworen. Adam Omulski verteidigte gegenüber seinem Standesgenossen Joachim Chreptowicz seine Teilnahme an der Delegation, die den Treueid stellvertretend für den Kreis Orša im Gouvernement Mogilëv geleistet hatte. Zwar sei die Prozedur nicht sonderlich angenehm gewesen, doch könne es später ja durchaus einmal von Vorteil sein, diesem Aufgebot angehört zu haben.38 Aus Omulskis Schreiben geht hervor, dass er nicht leichtfertig ein neues Loyalitätsversprechen abgab. Dennoch deutet nichts darauf hin, dass er seine Entscheidung als einen Verrat am polnischen König oder gar an der polnischen Nation empfunden hätte. Da die Königswahl in der Adelsrepublik wiederholt fremdländische Monarchen auf den polnischen Thron gebracht hatte, sah der polnische Adel auch keine grundsätzlichen Bedenken darin, einem nicht-polnischen Monarchen zu huldigen.39 Die Überlegungen Omulskis zeugen vielmehr von einer pragmatischen Abwägung von Kosten und Nutzen, bei der er realistischerweise von einem künftigen Leben unter russischer Herrschaft ausging. Omulski ließ sich also von seinen Interessen leiten. Genau auf eine solche Einstellung zielte die Politik Katharinas II. ab, die deshalb als „pragmatische Integrationspolitik“ bezeichnet werden kann: Die Kaiserin wirkte auf einen Interessenausgleich zwischen polnischem Adel und russischer Staatsgewalt hin und strebte ein Gleichgewicht bei der Befriedigung der jeweiligen Interessen an.40 Die zarische Elitenkooptation war seit dem 16. Jahrhundert diesem Prinzip gefolgt. Die fremdstämmigen Eliten behielten ihre angestammten Rechte, Privilegien und Freiheiten. Es genügte, den Zaren als neues Oberhaupt anzuerkennen und infolgedessen die steuerlichen Abgaben an ihn abzuführen und Rekruten für die russische Armee zu stellen. Das Verhältnis zwischen Zar und fremdstämmigen Eliten war von gegenseitigem Nutzen bestimmt. Auch die Szlachta der annektierten polnischen Provinzen sollte erkennen, dass eine bereitwillige Leistung des Treueides Vorteile brachte, eine Missachtung der 37 38 39 40

Vgl. Lehtonen: Die polnischen Provinzen, S. 258. Vgl. Rjabinin: Nekotoryja dannyja, S. 10. Vgl. Kizwalter: O nowoczesności narodu, S. 143. Siehe die Begriffsdefinition in der Einleitung.

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neuen Herrschaftsverhältnisse hingegen nur schadete. Aus der Bestandsaufnahme der zarischen Regierung geht hervor, dass es tatsächlich nur wenige Adlige gab, die den Schwur auf die Zarin verweigerten. Bei der Mehrheit handelte es sich um Magnaten, deren Grundbesitz zum größten Teil in der noch existierenden Adelsrepublik lag, und die darüber hinaus dort staatliche Ämter bekleideten.41 Für solche Amtsträger des polnischen Königs stellte sich der Loyalitätskonflikt in besonderer Schärfe. Gleichzeitig verloren Magnaten mit weit verstreutem Grundbesitz nur einen Teil ihrer Ländereien. Inwieweit machte jedoch ein Treueid, der aus reinem Interessenkalkül geleistet wurde, die Szlachta zu loyalen Untertanen des Zarenreiches? Hier scheint der Begriff legalistisch die treffendere Bezeichnung für die Einstellung der Adligen zu sein. Loyalität steht dem Begriff Treue nahe. Loyalität und Treue unterscheiden sich gegenüber einer legalistischen Einstellung darin, dass sie das soziale Handeln mit dem individuellen Empfinden verknüpfen. Loyalität beschreibt eine innere Haltung, während sich eine legalistische Einstellung im Gehorsam oder in einer vertragsmäßigen Erfüllung von Pflichten erschöpft.42 Omulskis legalistische Einstellung war kein Einzelfall, sondern dürfte eine weit verbreitete Haltung widerspiegeln. Für viele polnische Adlige stellte sich in dieser Situation die Frage, ob der Treueid ein Akt der Vernunft oder Verrat am Vaterland sei. Man hatte sich also zwischen den eigenen, nicht zuletzt materiellen Interessen und den gemeinschaftlichen Interessen der polnischen Nation zu entscheiden. Diese Gewissensfrage musste jedoch nicht als ein Konflikt zwischen zwei einander ausschließenden Alternativen empfunden werden. Vielmehr entwickelte sich eine doppelte Loyalität heraus: Man schwor auf die Zarin und trat unter Umständen auch in den Dienst des russischen Staates ein, hoffte jedoch gleichzeitig weiterhin auf die Wiedererrichtung eines unabhängigen polnischen Staates in den Grenzen von 1772. Loyalität gegenüber dem Zarenreich ließ sich

41 Vgl. Protokoll des Reichsrats, Eintrag vom 17.1.1773, in: Archiv gosudarstvennago soveta, 5 Bde., St. Petersburg 1869–1904, Bd. 1,1, Sp. 226f. 42 Vgl. Martin Schulze Wessel: „Loyalität“ als geschichtlicher Grundbegriff und Forschungskonzept. Zur Einleitung, in: ders. (Hg.): Loyalitäten in der Tschechoslowakischen Republik 1918– 1938. Politische, nationale und kulturelle Zugehörigkeiten, München 2004, S. 1–22, hier 2ff. Zur grundlegenden Bedeutung von Treue in sozialen Beziehungen vgl. Georg Simmel: Exkurs über Treue und Dankbarkeit, in: ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt a. M. 1992 (= Georg Simmel Gesamtausgabe, hg. v. Otthein Rammstedt, Bd. 11), S. 652–670. Aktuelle begriffsgeschichtliche Annäherungen finden sich bei Nikolaus Buschmann und Karl Borromäus Murr: „Treue“ als Forschungskonzept? Begriffliche und methodische Sondierungen, in: dies. (Hg.): Treue. Politische Loyalität und militärische Gefolgschaft in der Moderne, Göttingen 2008, S. 11–35, hier 12–20 sowie bei Rainer E. Wiedenmann: Treue und Loyalität im Prozess gesellschaftlichen Wandels. Eine soziologische Skizze, in: ebd., S. 36–71, hier 39ff.



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durchaus mit Loyalität gegenüber der polnischen Nation vereinbaren.43 Die Konstruktion einer derartigen doppelten Loyalität wurde dadurch begünstigt, dass der Treueid sich auf eine symbolisch-rituell eingegangene Verpflichtung beschränkte, die zwar eingegangen wurde, aber diffus blieb. Gerade die Unschärfe der symbolischen Kommunikation ermöglicht die Demonstration von Einmütigkeit, auch wenn sie in der Sache nicht besteht.44 Eine legalistische Einstellung fordert die Herrschaft in friedlichen Zeiten nicht heraus. Auf dieser Grundlage konnte ohne weiteres Ruhe und Ordnung hergestellt werden. Mit diesem Anspruch wurde man dem zeitgenössischen Ideal vom inneren Zustand eines Gemeinwesens gerecht.45 Ein aus pragmatischen Erwägungen geleisteter Treueid war für die Zarin deshalb zunächst eine ausreichende Herrschaftsbasis. In Krisenzeiten sollte sich dieses Fundament jedoch als nicht tragfähig erweisen: Die Loyalität zum Zarenreich verlor ihre Bindekraft immer dann, wenn sich eine Option für einen unabhängigen polnischen Staat abzeichnete.46 Der Eintritt polnischer Adliger in die Armee Napoleons und insbesondere der Novemberaufstand von 1830/31 verweisen auf die Fragilität des Loyalitätsversprechens vieler polnischer Adliger. Und die Entrüstung der zarischen Eliten ob dieses „Treuebruchs“ deutet darauf hin, dass in russischer Perspektive der Treueid – zumindest rückblickend – als ein „echtes“ Loyalitätsversprechen aufgefasst wurde.47 Da die Abnahme des Treueides zügig und erfolgreich verlaufen war, hielt die zarische Regierung auch nach der zweiten und dritten Teilung an diesem Ritual 43 Vgl. dazu grundlegend: Czubaty: Zasada „dwóch sumień“, S. 168–186 und 292. 44 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger: Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), S. 489– 527, hier 505–509 und 514. 45 „Ruhe“ und „Ordnung“ waren zwei zentrale Begriffe der „Guten Policey“, welcher sich Katharina II. und andere aufgeklärte Monarchen ihrer Zeit verpflichtet fühlten. „Gute Policey“ meint eine gute, wohleingerichtete öffentliche Ordnung eines Gemeinwesens und die Gesamtheit der legislatorischen und administrativen Veranstaltungen zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung dieser Ordnung. Es handelt sich dabei um den umfassenden Versuch, nach und nach sämtliche Aspekte des täglichen Lebens einer normativen Regelung zu unterwerfen und das Handeln und Verhalten der Menschen auf diese Weise zu dirigieren, vgl. Landwehr: Policey vor Ort, S. 69; André Holenstein: „Gute Policey“ und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Régime. Das Fallbeispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach), 2 Bde., Tübingen 2003, Bd. 1, S. 20. Zum Einfluss der Policeywissenschaft in Russland vgl. Marc Raeff: The Well-Ordered Police State. Social and Institutional Change through Law in the Germanies and Russia, 1600–1800, New Haven, London 1983, S. 181–250. 46 Vgl. Czubaty: Zasada „dwóch sumień“, S. 448. 47 Alexander Puschkin erhob zum Beispiel unter dem Eindruck des Novemberaufstandes gegenüber den Polen den Vorwurf der Meuterei und der Revolte, vgl. Alexander Puschkin: Den Verleumdern Russlands, in: ders.: Die Gedichte. Russisch und deutsch. Aus dem Russischen übertragen von Michael Engelhard, Frankfurt a. M., Leipzig 1999, S. 774–776; ders.: Der Jahrestag von Borodino, in: ebd., S. 776–781.

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fest. Der Druck auf die Magnaten war in den 1790er Jahren allerdings erheblich höher, da nach der restlosen Aufteilung Polens keine Rückzugsmöglichkeiten mehr bestanden. Nun bedeutete die Verweigerung des Treueides, dass man seine Heimat verlassen musste.48 Aus diesem Grunde setzte sich die Strategie einer pragmatischen Integration auch bei jenen Adligen durch, die bis zum Ende für den Erhalt der Adelsrepublik gekämpft hatten. Nach der Niederlage des KościuszkoAufstandes von 1794 eilten zahlreiche Magnaten zurück zu ihren Gütern im russischen Teilungsgebiet und leisteten den Treueid auf die Zarin.49 Und auch die Karriere des späteren russischen Außenministers Adam Jerzy Czartoryski nahm hier ihren Anfang. Da sein Vater, Adam Kazimierz Czartoryski, den Treueid verweigert hatte, stand dessen Grundbesitz in Podolien und Wolhynien kurz vor der Sequestration. Aus diesem Grunde schickte Czartoryski seine beiden Söhne, Adam und Konstanty, nach St. Petersburg, wo sie eine Art Geiseln für das Wohlverhalten ihrer Eltern waren und in den Dienst am Hofe Katharinas II. eintraten. Dieser Loyalitätsbeweis genügte der Zarin offenbar als Ersatz für den Treueid: Die Czartoryskis erhielten beinahe alle bis dahin konfiszierten Güter wieder zurück.50

1.2. Staatliche Adelsregistrierung und adlige Selbstverwaltung: Widersprüche in Katharinas Unifizierungspolitik Der Herrschaftswechsel erfolgte nicht nur auf symbolischer Ebene. Dem Unterwerfungsritual folgte die fiskalische Integration der annektierten Gebiete in das Zarenreich. Zunächst hatten die neuen Untertanen die gleichen Steuern zu zahlen, die sie bislang auch in der Adelsrepublik abgeführt hatten. Katharina II. forderte von den Gouverneuren allerdings eine Dokumentation der demographischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in den ostpolnischen Provinzen an, auf deren Grundlage eine neue Steuerordnung eingeführt werden sollte.51

48 Vgl. Ukas Katharinas II. vom 8.12.1792, in: PSZ I, Bd. 23, Nr. 17.090, S. 388–391, hier 390f.; Ukas Katharinas II. an Repnin vom 22.11.1794, in: PSZ I, Bd. 23, Nr. 17.272, S. 599. 49 Vgl. Czubaty: Zasada „dwóch sumień“, S. 188f.; Thaden: Russia’s Western Borderlands, S. 53. Zum Kościuszko-Aufstand siehe Heiko Haumann (Hg.): „Der letzte Ritter und erste Bürger Europas“. Kościuszko, das aufständische Reformpolen und die Verbundenheit zwischen Polen und der Schweiz, Basel, Frankfurt a. M. 1996; Erhard Moritz: Preußen und der Kościuszko-Aufstand. Zur preußischen Polenpolitik in der Zeit der Französischen Revolution, Berlin (Ost) 1968. 50 Vgl.W. H. Zawadzki: A Man of Honour. Adam Czartoryski as a Statesman of Russia and Poland, 1795–1831, Oxford 1993, S.  31 und 35; I. S. Ivanov u.a. (Hg.): Očerki istorii ministerstva innostrannych del Rossii, 3 Bde., Moskau 2002, Bd. 3, S. 28–47. 51 Instruktion für die Gouverneure von Pskov und Mogilëv, Kachovskij und Krečetnikov, anlässlich ihrer Einsetzung vom 28.5.1772, in: PSZ I, Nr. 13.808, S. 507–511, hier 509f.



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Bereits im September 1772 reichte Černyšëv einen Bericht mit den geforderten Informationen ein, auf dessen Grundlage die russische Kopfsteuer eingeführt wurde. Sie war genauso hoch wie in den anderen Provinzen des Imperiums: Bauern hatten 70 Kopeken, Städter 1,20 Rubel zu zahlen. Juden mussten zusätzlich eine Abgabe von einem Rubel leisten. Der Adel, Staatsdiener, Ärzte und Gelehrte waren von der Steuer befreit.52 Die unmittelbare Einführung der Kopfsteuer brach mit der bisherigen Praxis der russischen Expansion, welche die jeweiligen Abgabenformen und -lasten zumindest vorläufig beibehalten hatte. Sowohl nach der Eroberung Kazans als auch im Zuge der Erschließung Sibiriens hatten die Zaren an das mongolische Steuersystem angeknüpft: Die Bevölkerung konnte den Jasak weiterhin in Geld oder in Naturalien abliefern, nur musste sie diesen an die Moskauer Staatskasse entrichten.53 Der Versuch, in den polnischen Teilungsgebieten umgehend die russische Kopfsteuer einzuführen, stellte die zarische Regierung vor eine neue Herausforderung. Zur Durchsetzung einer eigenen Steuernorm benötigte sie genaue Angaben über die steuerpflichtigen Stände. Noch im Oktober 1772 sollte deshalb eine Volkszählung durchgeführt werden, um die notwendigen Informationen beizubringen. Da der Adel das Privileg der Steuerfreiheit genoss, waren auch die Adelsangehörigen in den annektierten Gebieten zu ermitteln. Die zarische Regierung rief deshalb die Szlachta auf, sich in den Gouvernementskanzleien zu melden und dort Beweise für ihre wohlgeborene Abstammung vorzulegen. Keine Person habe das Recht, ohne einen solchen Nachweis adlige Privilegien in Anspruch zu nehmen.54 Die Überprüfung der Szlachta lief allerdings schleppend an. Zwischen 1775 und 1788 ließen sich in den Gouvernements Polock und Mogilëv lediglich 463 Personen ihre Adligkeit bestätigen.55 Der Umstand, dass sich die Szlachta der staatlichen Registrierung entzog, hätte der zarischen Regierung noch keine Sorgen bereiten müssen. Letztlich lag es im Interesse des Adels, mit der Vorlage eines Abstammungsnachweises in den Genuss der Steuerfreiheit zu kommen. Katharinas Absicht, das Zarenreich grundlegend zu reformieren, veränderte die Ausgangslage jedoch entscheidend. Die Zarin verfolgte das ehrgeizige Ziel, die Administration des Reiches zu vereinheitlichen, das Gerichtswesen aus der Verwaltung herauszulösen und die Staatsgewalt auf lokaler Ebene zu etablieren. Letzteres sollte durch eine Mobilisierung des Provinzadels erreicht werden, da das Zarenreich über zu wenig ausgebildete Beamte verfügte, um das weite Land mit einem zentralisierten 52 Kaiserlich bestätigter Bericht des Generalgouverneurs Černyšëv vom 13.9.1772, in: PSZ I, Bd. 19, Nr. 13.865, S. 571–573, hier 571. 53 Vgl. Kappeler: Russland als Vielvölkerreich, S. 33 und 39. 54 Kaiserlich bestätigter Bericht des Generalgouverneurs Černyšëv vom 13.9.1772, in: PSZ I, Bd. 19, Nr. 13.865, S. 571–573, hier 571. 55 Vgl. Rychlikowa: Deklasacja drobnej szlachty, S. 126.

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Behördenapparat zu überziehen. Der Adel, dessen Dienstpflicht erst 1762 aufgehoben worden war, sollte freiwillig Aufgaben in der Provinz übernehmen. Ein derartiges Engagement – das sich von der Übernahme von Verwaltungsaufgaben über eine Beteiligung an der Rechtssprechung bis hin zur Erfüllung sozialer Aufgaben erstreckte – setzte voraus, dass sich der Adel auf lokaler Ebene als Gesellschaft konstituierte. Deshalb hatte Katharina II. mit ihrer Gnadenurkunde von 1785 die Entstehung von Adelsgesellschaften auf lokaler und regionaler Ebene angeregt.56 Der Adel spielte also eine zentrale Rolle in Katharinas Projekt des Staatsausbaus. Die Kaiserin hatte mit der Gnadenurkunde klare Regeln geschaffen, auf welche Weise ein Adliger seine Abstammung zu belegen habe. Sie trug dabei ihrem Vielvölkerreich Rechnung, indem sie insgesamt 22 Möglichkeiten des Nachweises eröffnete. Auch Adelsbriefe und Adelswappen, die durch andere Monarchen gewährt worden waren, wurden akzeptiert.57 Zugleich hielt die Zarin den Adel dazu an, sich in Adelsversammlungen zu treffen und seine ständischen Angelegenheiten dort eigenständig zu regeln. 1784 fanden die ersten Adelswahlen in den Gouvernements Mogilëv und Polock statt. Das Interesse Katharinas an einer zügigen Überprüfung der Szlachta war damit deutlich gestiegen. Wenn sich der Provinzadel in einer Adelsversammlung konstituieren und ständische Repräsentanten wählen sollte, dann setzte dies in den annektierten Gebieten die Bereitschaft der Szlachta zur staatlichen Erfassung voraus. Die Zarin versuchte das Verfahren zu beschleunigen. Da Adlige ohne Abstammungsnachweis steuerpflichtig waren, rief sie den Adel von Polock und Mogilëv dazu auf, dem Senat zügig einen Adelsnachweis vorzulegen und die Anzahl der in ihrem Besitz befindlichen Leibeigenen mitzuteilen. Wer dieser Aufforderung nachkomme, werde in den Adelsstand eingeordnet.58 Bei der Registrierung des Adels in den Westgouvernements überlagerten sich also zwei Prozesse. Zum einen hatte die Regierung ein fiskalisches Interesse an der Zählung und Erfassung ihrer neuen Untertanen. Zum anderen ging mit der Etablierung der Adelsversammlungen im gesamten Zarenreich eine Registrierung des 56 Zur Gouvernementsreform vgl. u.a.: Robert E. Jones: Catherine II. and the Provincial Reform of 1775: A Question of Motivation, in: CSS 4 (1970), S. 497–512; ders.: The Emancipation of the Russian Nobility, S. 210–243; Isabel de Madariaga: Russia in the Age of Catherine the Great, New Haven, London 1981, S. 277–291; Raeff: The Well-Ordered Police State, S. 226–230. Der Gesetzestext der Reform in: PSZ I, Bd. 20, Nr. 14.392, S. 229–304; wiederabgedruckt in: Zakonodatel’stvo Ekateriny II, Bd. 1, S. 380–469. Zu den weitreichenden Folgen, die eine staatlich initiierte Gesellschaft für die russische Geschichte hatte, vgl. die einflussreiche Interpretation von Geyer: „Gesellschaft“ als staatliche Veranstaltung, S. 20–52. 57 Katharina II.: Vom Adel, St. Petersburg 1786, S. 42–56. 58 Vgl. N. K. Imeretinskij: Dvorjanstvo volynskoj gubernii, in: Žurnal Ministerstva Narodnago Prosveščenija 1893, Nr. 8, S. 343–369 (Teil 1) und ebd., 1894, Nr. 4, S. 326–372 (Teil 2), hier Teil 1, S. 348.



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Provinzadels einher. Bevor ein Adliger an einer Adelsversammlung teilnehmen konnte, musste er dem Adelsmarschall und der Adelsdeputiertenversammlung seine Adligkeit nachweisen. Außerdem hatte er seinen Familienstand, die Zahl und das Geschlecht seiner Kinder, seinen Rang, seine Dienstzeit und seinen Grundbesitz anzugeben. Diese Daten wurden anschließend in einem adligen Geschlechterbuch (dvorjanskaja rodoslovnaja kniga) festgehalten. Dieses Adelsbuch wurde in drei Exemplaren angefertigt: Eines blieb im Archiv der Adelsversammlung, eines ging an die Gouvernementsregierung, und das dritte wurde an das Heroldsamt in St. Petersburg gesandt.59 Es gehörte zum allgemeinen Wesen und zu Katharinas Verständnis einer Standeskorporation, dass diese über Fragen der Zugehörigkeit selbst bestimmte und ihre Angelegenheiten eigenständig verwaltete. Aus diesem Grunde waren die Adelsdeputiertenversammlung und der Adelsmarschall für die Verifizierung und Registrierung des lokalen Adels zuständig. In den Gouvernements Mogilëv und Polock war es hingegen der Staat, der diese Aufgabe übernahm: zunächst die Gouvernementsregierung, und mit dem Ukas von 1789 der Senat. Hier überschnitten sich die staatliche Revision zur Festsetzung der Steuern und die Registrierung des Adels im Zuge einer adligen Selbstverwaltung. Die Politik der Elitenkooptation und der gleichzeitige Staatsausbau gerieten an diesem Punkt zum ersten Mal in Widerspruch.

1.3. Homogenisierung durch Dezimierung? Die Masse des verarmten Kleinadels und das Umsiedlungsprojekt Platon Zubovs Die zweite und dritte Teilung Polens in den Jahren 1793 und 1795 veränderten die Bedingungen für die Integration des polnischen Adels in das Russische Reich grundlegend. Hatte sich das Zarenreich im Zuge der ersten Teilung Polens noch 87.000 Quadratkilometer mit rund 1,3 Millionen Einwohnern einverleibt, so annektierte Katharina II. in der zweiten und dritten Teilung weitaus größere Gebiete der Adelsrepublik. Durch die restlose Aufteilung Polens hatte sich das Zarenreich um rund 376.000 Quadratkilometer vergrößert und zugleich sechs Millionen Einwohner hinzugewonnen.60 Erst diese ausgreifende Expansion machte die Integration des polnischen Adels zu einer Herausforderung, wie sie dem Zarenreich bis dahin noch nicht begegnet war.

59 Jones: Emancipation, S. 285f. 60 Die Angaben zur Fläche und Bevölkerungszahl in den Westgouvernements variieren in der Literatur. Hier nach: Thaden: Russia’s Western Borderlands, S. 42 und 53.

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Der polnische Adel hatte einen vergleichsweise hohen Anteil an der Bevölkerung. Während der russische Adel Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit 0,6 bis 0,9 Prozent knapp unter dem europäischen Durchschnitt lag, hatte die Adelsrepublik mit rund 7,5 Prozent den höchsten Adelsanteil in ganz Europa.61 Nach der ersten Teilung stellte dieses Größenverhältnis noch kein Problem dar. In den 1772 annektierten Provinzen lebten etwa 80.000 Adlige. Die Zahl der zu integrierenden Adligen bewegte sich damit in der Größenordnung der deutschbaltischen Oberschicht in den Ostseeprovinzen.62 Ganz anders war die Ausgangslage nach der zweiten und dritten Teilung. In den 1793 und 1795 annektierten Gebieten lebten 520.000 polnische Adlige. Da der russische Adel des Imperiums nur 150.000 Personen umfasste, galt es, einen Adel zu integrieren, der dreieinhalb Mal so groß war.63 Neben der schieren Größe des polnischen Adels kam seine soziale Heterogenität als weiteres Problem hinzu. Die verarmte Szlachta stellte eine Oberschicht dar, wie sie der zarischen Regierung in der Geschichte der Expansion des Russischen Reiches noch nicht begegnet war.64 Es hat sogar den Anschein, als hätte man in St. Petersburg erst nach den Teilungen erkannt, dass die Integration einer Masse von Kleinadligen eine bislang unbekannte Schwierigkeit darstellte. Der Generalgouverneur von Ekaterinoslav, Voznesensk und Taurien, Platon A. Zubov, hatte in einer Denkschrift vom 3. Juni 1796 mit Nachdruck darauf aufmerksam gemacht, dass in den annektierten polnischen Provinzen zahlreiche Adlige lebten, die über keinen Grundbesitz verfügten und sich als Pächter schon seit Langem in der Abhängigkeit der ansässigen Magnaten befänden. Seine Schilderung des sogenannten „Zinsadels“ (činševaja šlachta, im Polnischen szlachta czynszowa) erweckt den Eindruck, als unterrichte Zubov die Hauptstadt von einer Neuentdeckung. Voller Erstaunen berichtet er von Adligen, die auf einem Grundstück lebten, das nicht ihnen, sondern einem anderen Adligen gehöre. Für die Wohn- und 61 Zum Umfang des russischen Adels vgl. V. M. Kabuzan / S. M. Troickij: Izmenenija v čislennosti, udel’nom vese i razmeščenii dvorjanstva v Rossii v 1782–1858 gg., in: Istorija SSSR 1971, Nr. 4, S. 153–169, hier 165. Die Zahlen zum polnischen Adel aus: Rostworowski: Ilu było w Rzeczypospolitej obywateli szlachty, S. 31. Der Anteil des Adels lag vor 1772 noch bei 6 bis 6,5 %. Da mit der ersten Teilung vor allem Gebiete verloren gingen, die vom magnatischen Großgrundbesitz geprägt waren, stieg der Anteil des Adels nach 1772 auf rund 7,5 %, vgl. Müller: Der polnische Adel, S. 220. 62 Vgl. Kappeler: Russland als Vielvölkerreich, S. 102. 63 Die Angaben zum polnischen Adel sind nur Annäherungswerte, da es keine belastbaren Zahlen gibt, vgl. Tadeusz Korzon: Wewnętrzne dzieje Polski za Stanisława Augusta (1764–1794). Badania historyczne ze stanowiska ekonomicznego i administracyjnego, 4 Bände, Krakau 1882–1885, Bd. 1, S. 70 und 110–133. 64 Zur Sozialstruktur des polnischen Adels während der Teilungszeit vgl. Irena Rychlikowa: Ziemiaństwo pod zaborami. Problemy badań społecznej struktury, in: Historyka 22 (1986), S. 75– 98.



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Nutzungsrechte zahlten diese Adligen einen Zins von 25 bis 30 Silberrubel. Darüber hinaus hätten sie auch diverse Arbeiten und Dienste für den Grundbesitzer zu verrichten. Diese Adligen ähnelten deshalb eher Bauern: Sie seien wirtschaftlich auf den Gutsherrn angewiesen und auch politisch von diesem abhängig. Für die Übernahme jener staatlichen Wahlämter, die durch die Gouvernementsreform geschaffen wurden, seien sie deshalb gänzlich ungeeignet.65 Der Bericht Zubovs hatte die Situation des besitzlosen Adels nicht überzeichnet. Es gab sogar Fälle, in denen die Gutsbesitzer die Rechte der Kleinadligen noch sehr viel stärker einschränkten. So untersagte zum Beispiel Graf Dunin dem Zinsadel, der in seinem Dorf im Gouvernement Podolien lebte, den Ort ohne seine Einwilligung zu verlassen.66 Damit waren die auf seinem Grund siedelnden Kleinadligen ihrer Freizügigkeit beraubt und partiell auf eine Stufe mit Leibeigenen gestellt. Diese Abhängigkeit der verarmten Szlachta ließ sich tatsächlich kaum mit der adligen Selbstverwaltung in den Westgouvernements vereinbaren. Platon Zubov, ehemaliger Favorit und treuer Untertan Katharinas II., hätte sein Amt als Generalgouverneur verfehlt, wenn er der Zarin nur ein Problem geschildert hätte, ohne zugleich eine Lösungsmöglichkeit ins Auge zu fassen. Er schlug der Zarin vor, den Zinsadel in die zu kolonisierenden südrussischen Provinzen am Schwarzen Meer umzusiedeln. In den neu eroberten Gebieten des Reiches herrsche Menschenmangel, und man könne den besitzlosen Adligen dort Land zur Verfügung stellen. Die Kleinadligen müssten aufgrund dieses großzügigen Geschenkes nicht länger in der Abhängigkeit von anderen Gutsbesitzern leben, sondern gewännen so ihre Freiheit zurück. Zubov plante zunächst die Umsiedlung von 4.000 Familien. Er ging jedoch davon aus, dass sich noch mehr freiwillige Siedler melden würden, und schloss eine Erhöhung dieses Kontingents nicht aus. Die Bedingungen, die Zubov in Aussicht stellte, waren durchaus attraktiv. Er bot den Neusiedlern 30 Desjatinen Land und ein Darlehen von 30 Rubel als Startkapital an. Außerdem würde der Staat die Kosten für die zu errichtenden Unterkünfte in Höhe von 50 Rubel pro Wohnhaus übernehmen. Die Masse der polnischen Neusiedler sollte sich im Gouvernement Ekaterinoslav sowie in Taurien niederlassen, ein geringerer Anteil sei zudem im Gouvernement Voznesensk anzusiedeln. Dort würden sie als Einhöfer leben. Dies bedeutete, dass sie nicht länger dem Adel, sondern dem freien Bauerntum angehören würden. Allerdings wären ihnen als Einhöfer die adligen Privilegien des Grund- und Leibeigenenbesitzes erhalten geblieben. Die polnischen Adligen sollten also ihren sozialen 65 Namentlicher Ukas Katharinas II. vom 5.6.1796, in: PSZ I, Bd. 23, Nr. 17.469, S. 897–900, hier S. 897. 66 Vgl. Daniel Beauvois: Pouvoir russe et noblesse polonaise en Ukraine 1793–1830, Paris 2003, S. 74.

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Status gegen Land eintauschen. Zubov hielt dieses Angebot für zugkräftig, denn der Zinsadel sei in der Adelsrepublik aufgrund der hohen Abgaben sehr unzufrieden gewesen. Viele würden nach den Teilungen darauf hoffen, von der zarischen Regierung Land zu bekommen, und sich mit derartigen Bitten auch an die Gouverneure wenden. Aus diesem Grund bestehe kein Zweifel, dass sein Vorschlag auf große Zustimmung stoßen würde. Die Adligen hätten nunmehr die Möglichkeit, ihre Abhängigkeit von den Gutsbesitzern und deren Verwaltern abzustreifen und ein neues Leben zu beginnen, das sich auf Eigentum, Freiheit und Wohlstand gründete. Katharina II. ließ sich von diesen Argumenten überzeugen und nahm Zubovs Vorschlag in einen zarischen Ukas auf.67 Die Geschichtsschreibung hat diese Anordnung wiederholt als ein gezieltes Manöver zur Deklassierung des polnischen Kleinadels oder gar als Assimilierungsstrategie kritisiert.68 Dabei wird übersehen, dass es sich um ein Angebot handelte, das auf Freiwilligkeit setzte. Niemand wurde gezwungen, seine Heimat zu verlassen und in der südlichen Peripherie des Reiches zu siedeln. Darüber hinaus vernachlässigt eine Interpretation, die Zubovs Umsiedlungsprojekt als Beginn einer Russifizierungspolitik deutet, den allgemeinen Kontext dieses Vorschlags. Katharina II. dürfte es bei diesem Gesetz in erster Linie um die Kolonisierung der neurussischen Gebiete im Süden des Reiches gegangen sein. Der Zarin lag die Zukunft dieser im Krieg gegen die Türken eroberten Territorien sehr am Herzen, verschafften sie doch Russland einen Zugang zum Schwarzen Meer. So war die Szlachta auch nur eine Gruppe unter anderen, die als potentielle Siedler ins Auge gefasst wurde. Eine deutlich größere Bedeutung hatte die Anwerbung deutscher Kolonisten und die Niederlassung ostjüdischer Siedler, die durch die Einbeziehung „Neurusslands“ in den Ansiedlungsrayon in diese Gebiete geleitet wurden.69 67 Namentlicher Ukas Katharinas II. vom 5.6.1796, in: PSZ I, Bd. 23, Nr. 17.469, S. 897–900. 68 Vgl. Jolanta Sikorska-Kulesza: Deklasacja drobnej szlachty na Litwie i Białorusi w XIX wieku, Pruszków 1995, S. 15. Kieniewicz sah in Zubovs Plan den Versuch einer Assimilierung, da die polnischen Kleinadligen an der südlichen Peripherie als Wehrbauern eingesetzt werden sollten und auf diese Weise in Kosaken umgewandelt worden wären, vgl. Stefan Kieniewicz: Pierwszy etap dziejow porozbiorowych (1795–1806), in: Tadeusz von Manteuffel (Hg.): Historia Polski, 4 Bde., Warschau 1957–1984, Bd. 2,2, S.38–91, hier 41. 69 Vgl. Ingeborg Fleischhauer: Die Deutschen im Zarenreich. Zwei Jahrhunderte deutsch-russischer Kulturgemeinschaft, Stuttgart 1986, S. 97–119; Detlef Brandes: Die Ansiedlung von Ausländern im Zarenreich unter Katharina II., Paul I. und Alexander I., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 34 (1986), S. 161–187, hier 163–174; ders.: Die Ansiedlung von Ausländergruppen an der unteren Wolga und in Neurussland unter Katharina II. Plan und Wirklichkeit, in: Eckhard Hübner / Jan Kusber / Peter Nitsche (Hg.): Russland zur Zeit Katharinas II. Absolutismus – Aufklärung – Pragmatismus, Köln, Weimar, Wien 1998, S. 303–314. Zum jüdischen Ansiedlungsrayon vgl. u. a. Simon Dubnow: Weltgeschichte des jüdischen Volkes, 10 Bde., Berlin 1925–1929, Bd. 8: Das Zeitalter der ersten Emanzipation (1789–1815), S. 345–351; Richard Pipes: Catherine and the Jews. The Origins of the Pale of Settlement, in: Soviet Jewish Affairs 5 (1975), S. 3–20; Manfred Hildermeier: Die jüdische Frage im Zarenreich. Zum Problem der unterbliebenen Emanzipation,



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Und schließlich entsprach die anvisierte Umsiedlung von 4.000 Adligen lediglich einem halben Prozent der in den Westgouvernements lebenden Szlachta. Eine Deklassierung des polnischen Kleinadels ließ sich durch eine derartige Maßnahme nicht verwirklichen. Leider liegen keinerlei Angaben vor, wie viele polnische Adlige auf dieses Angebot eingingen.70 Es ist jedoch zu vermuten, dass nur sehr wenige bereit waren, für ein Stück Land an der südlichen Grenze des Zarenreichs freiwillig ihre Heimat zu verlassen. Für diese Annahme spricht nicht zuletzt, dass Paul I. mit einem Ukas am 7. März 1797 die durch seine Mutter angeregte Umsiedlung von Angehörigen der Szlachta in das Gouvernement Voznesensk einstellte.71 Drei Jahre später versuchte der Vizegouverneur von Neurussland, Dmitrij Neverovskij, diese Idee noch einmal wiederzubeleben. Er versprach jedem männlichen Neusiedler, der aus den Gouvernements Kiew und Podolien stammte und sich in Neurussland niederließ, 15 Desjatinen gutes Ackerland und zehn Jahre Steuerfreiheit. Das ehrgeizige Ziel, auf diese Weise 20.000 besitzlose Adlige umzusiedeln, wurde jedoch nicht erreicht: Im Gouvernement Kiew fanden sich nur 17 polnische Adlige, die zur Umsiedlung bereit waren, in Podolien waren es lediglich 14.72 Wenn Platon Zubovs Umsiedlungsprojekt jemals das Ziel verfolgt hatte, die Szlachta der Westgouvernements entscheidend zu dezimieren, so war dieses Vorhaben zumindest schnell gescheitert. Eine Deklassierung weiter Teile des polnischen Adels konnte nicht durch eine freiwillige Umsiedlung erreicht, sondern musste auf andere Weise in Angriff genommen werden. Wollte die zarische Staatsgewalt die Zahl der Adligen in den Westgouvernements verringern, dann musste sie zunächst Kriterien festlegen, entlang derer eine solche Dezimierung der Szlachta durchzuführen war.

1.4. Von der Abstammungsgemeinschaft zum grundbesitzenden Landadel: Polnische Vorläufer und europäische Vorbilder einer Adelsreform Für Katharina II. war die Zugehörigkeit zum Adel eng mit dem Besitz von Grund und Boden verbunden. In armen Adligen sah sie grundsätzlich eine Last für den Staat.73 Der „echte“ Adel war in ihren Augen hingegen der gutsbesitzende Land-

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in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 32 (1984), S. 321–357; John d. Klier: Russia Gathers her Jews. The Origins of the „Jewish Question“ in Russia, 1772–1825, DeKalb 1986, S. 60–76. Vgl. Henryk Mościcki: Wysiedlanie szlachty na Litwie i Rusi przez rząd rosyjski, in: ders.: Pod berłem carów, Warschau 1924, S. 22–47, hier 27. Namentlicher Ukas Pauls I. vom 7.3.1797, in: PSZ I, Bd. 24, Nr. 17.872, S. 511. Vgl. Beauvois: Pouvoir russe, S. 64. Vgl. Jones: Emancipation, S. 155.

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adel. Dieses Verständnis von Adligkeit schlug sich an mehreren Stellen ihrer Gnadenurkunde aus dem Jahr 1785 nieder. So sollten sich die Adligen in den Gouvernements, in denen sie über Grundbesitz verfügten, in das adlige Geschlechterbuch eintragen lassen, selbst wenn sie ihren ständigen Wohnsitz in St. Petersburg, in Moskau oder in einer der anderen großen Städte des Reiches hatten. Außerdem verknüpfte Katharina II. das Wahlrecht mit dem privaten Vermögen. Das aktive Wahlrecht wurde nur Adligen mit Landeigentum zugesprochen, über das passive Wahlrecht verfügten sogar nur jene, die jährlich wenigstens 100 Rubel Einkünfte aus ihren Gütern erzielten.74 Damit hatte Katharina II. die Kriterien für Adligkeit neu gewichtet. Hatte Peter I. mit der Einführung der Rangtabelle den einstigen Geburtsadel in einen Dienstadel transformiert, so war mit der Gnadenurkunde Landbesitz zu einem wesentlichen Standeskriterium geworden. Aus Katharinas Sicht sprach noch ein zweites Argument dafür, den Zusammenhang von Adligkeit und Besitz herauszustreichen. Die Zarin hatte im Zuge der Gouvernementsreform des Jahres 1775 weite Teile der ländlichen Lokalverwaltung in die Hände des Provinzadels gelegt. Einem verarmten, wirtschaftlich abhängigen Kleinadel war kaum zuzutrauen, dass er den vielfältigen neuen Anforderungen gerecht werden würde, noch verkörperte er den Idealtyp eines Repräsentanten zarischer Staatsgewalt in der Provinz. Je stärker die Bedeutung von Landbesitz als Adelsmerkmal wuchs, desto weniger entsprachen besitzlose Adlige dem Leitbild eines in der Provinz verwurzelten, finanziell unabhängigen Edelmannes. In den russischen Gouvernements stand Katharinas Adelsverständnis in keinem größeren Widerspruch zur sozialen Wirklichkeit. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gab es nur wenige russische Adlige, die über keinerlei Grundbesitz verfügten. Vor 1785 hatten diese zwar den gleichen rechtlichen Status wie Gutsbesitzer, doch sahen weder die Herrscher noch andere Adlige in ihnen wirkliche Standesgenossen. Diese Wahrnehmung offenbart sich allein durch die Begriffe Adliger (dvorjanin) und Gutsbesitzer (pomeščik), die meist synonym verwendet wurden.75 Landbesitz, Adligkeit und Staatsdienst waren im Zarenreich also auf das Engste miteinander verbunden: „Landbesitz war nicht nur eine notwendige ökonomische Voraussetzung für den Dienst am Staat, sondern auch eine unmittelbare politische Angelegenheit, die direkte Übernahme verwaltungstechnischer Aufgaben und letztlich Vertretung der zarischen Herrschaft gegenüber den Untertanen des Reiches.“76 74 Katharina II.: Vom Adel, St. Petersburg 1786, S. 30 und 32. Das russische Original der Gnadenurkunde ist veröffentlicht in: PSZ I, Bd. 22, Nr. 16.187, S. 344–358. Ein Nachdruck findet sich in: Zakonodatel’stvo Ekateriny II, 2 Bde., Moskau 2000/2001, Bd. 2, S. 29–49. 75 Vgl. Jones: Emancipation, S. 284. 76 Winkler: Eigentum, S. 77.



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Besitzlose Adlige konnten demzufolge die Aufgaben, die Katharina II. in ihrer Gouvernementsreform für sie vorgesehen hatte, nicht erfüllen. Die Zarin stellte nun weit höhere Anforderungen an die Eliten in den Provinzen des Reiches, als dies vor ihren Reformen der Fall gewesen war. Der landlose polnische Kleinadel hatte in diesem Elitenkonzept keinen Platz. Da er allerdings auch in keine der anderen ständischen Kategorien passte, stellte seine Integration in die durch Katharina reformierte Sozialordnung des Zarenreiches eine politische Herausforderung dar, welche Fragen nach zukunftsträchtigen Elitenkonzepten und der ständischen Verfasstheit der zarischen Gesellschaft aufwarf.77 Katharina II. konnte bei ihren Überlegungen zu einer Adelsreform in den Westgouvernements an die Diskussionen anschließen, die in Polen am Ende der Adelsrepublik intensiv geführt worden waren. Die Reformkräfte hatten dort bereits nach einer Lösung für das Problem eines sozial stark differenzierten Adels gesucht, welches das Zarenreich durch die Teilungen schließlich geerbt hatte. Besitz galt wie in den meisten europäischen Adelsgesellschaften auch in Polen als ein untergeordnetes Merkmal für Adligkeit. Nur in England war die Zugehörigkeit zur gentry eng mit Landbesitz verbunden und der Verlust des Landes führte dort früher oder später zum Ausschluss aus dem Adelsstand. In Polen war hingegen die adlige Geburt ausschlaggebend für die Standeszugehörigkeit. Wenn es einer Familie einmal gelungen war, ihre edle Abstammung juristisch zu dokumentieren, konnte sie ihren Status über Generationen verteidigen, auch wenn der einstige Besitz schon lange verloren war. Gleichzeitig gab es in Polen im späten 16. und 17. Jahrhundert eine gegenläufige Entwicklung zur europaweiten Tendenz, die Zugehörigkeit zum Adel rechtlich zu fixieren. Die Krone verlor das Nobilitierungsrecht, und die entsprechenden Kompetenzen des Reichstages kamen nur begrenzt zum Tragen. Der Adelsnachweis konnte in ganz unterschiedlichen Formen erfolgen. Neben einer Bestätigung durch den König genügte es mitunter auch, lediglich den Nachweis zu erbringen, bestimmte Ämter bekleidet oder politische Rechte wahrgenommen zu haben, die dem Adel vorbehalten waren.78 Die Verarmung des Gemeinadels war ein soziales Problem. Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert hatten die Magnaten ihren Grundbesitz zu Lasten des Kleinadels erheblich ausgeweitet.79 Am Ende der Adelsrepublik blieb den sozial 77 Die Integration von Bevölkerungsgruppen, die sich nicht eindeutig in die Sozialordnung des Russischen Imperiums einschreiben ließen, stellte die zarische Regierung allgemein vor Probleme, vgl. Heinz-Dietrich Löwe: Poles, Jews, and Tatars: Religion, Ethnicity, and Social Structure in Tsarist Nationality Policies, in: Jewish Social Studies 6 (2000), S. 52–96. 78 Vgl. Asch: Europäischer Adel, S. 21f. und 41. 79 Vgl. Daniel Stone: The Polish-Lithuanian State, 1386–1795, Seattle, London 2001, S. 294f. Zur großen Bedeutung von Patronage- und Klientelbeziehungen in Polen-Litauen vgl. Wojciech Tygielski: A Faction Which Could not Lose, in: Anton Mączak (Hg.): Klientelsysteme im Europa der Frühen Neuzeit, München 1988, S. 177–201; Zofia Zielińska: Magnaten und Adel im politischen

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deklassierten Adelsmassen nur noch die persönliche Freiheit als letztes Adelsprivileg. Das Recht, Landgüter zu erwerben, konnte vielfach nicht realisiert werden, und die Wahrnehmung weitergehender Privilegien hing vom individuellen Status sowie der Durchsetzungsfähigkeit des einzelnen Adligen im Rahmen der informellen regionalen bzw. lokalen Macht- und Klientelverhältnisse ab. Dies galt für den Zugang zu geistlichen, militärischen und zivilen Ämtern, vor allem aber für das Stimmrecht auf den Landtagen sowie bei der Königswahl. Der soziale Abstieg des Kleinadels war damit auch zu einem politischen Problem der Adelsrepublik geworden.80 Der Schock der ersten Teilung im Jahre 1772 führte in Polen zu einem allgemeinen Aufschwung des Reformdenkens. In den Debatten wurde unter anderem auch intensiv über die künftige Zusammensetzung des Adels diskutiert. Hugo Kołłątaj, einflussreicher Vordenker der “Reformpartei” und einer der Hauptarchitekten der Maiverfassung von 1791, trat für einen Wandel der Adelsnation zu einer „neuen Nation“ ein. Eine aktive Teilnahme am politischen Prozess sollte seiner Ansicht nach an den Besitz gebunden werden. Die landlose Szlachta war in seinen Augen eine Klientel der Magnaten und deshalb nicht in der Lage, einen eigenen politischen Willen zu vertreten. Die Landbesitzer hätten hingegen die notwendige finanzielle Unabhängigkeit, um politische Entscheidungen nach rationalen Kriterien zu treffen. Auch Stanisław Staszic, der mehr Sympathien für ein starkes Königtum als Kołłątaj aufbrachte, sah in der künftigen politischen Nation eine Gemeinschaft von Landbesitzern. Selbst aus dem Bürgertum stammend, lehnte er allerdings eine Bevorzugung ländlichen Grundbesitzes ab und trat dafür ein, dem Besitzbürgertum die Hälfte der Sitze im Reichstag zu überlassen.81 Zwischen 1772 und 1788 führte die gesellschaftliche Diskussion noch zu keinen gesetzlichen Reformen. Erst der Vierjährige Sejm, der von 1788 bis 1791 in Warschau tagte, gab der Adelsrepublik dank der klugen Regie des „Realpolitikers“ Landleben Polen-Litauens des 18. Jahrhunderts, in: ebd., S. 203–210. Eine Einordnung des Phänomens in allgemeine europäische Zusammenhänge bei Gottfried Schramm: Patronage im Staat, Patronage an Stelle des Staates, in: ebd., S. 153–158. 80 Vgl. Müller: Der polnische Adel, S. 218f. 81 Zur Reformdiskussion und den darin vertretenen Adelskonzepten siehe Jedlicki: Klejnot i bariery społeczne, S. 139ff.; ders.: Native Culture and Western Civilization (Essays from the History of Polish Social Thought in the Years 1764–1863), in: Acta Poloniae Historica 28 (1973), S. 63–85, hier 69–75; Daniel Stone: Polish Politics and National Reform 1775–1788, New York 1976, S. 76– 86; Barbara Grochulska: The Place of Enlightenment in Polish Social History, in: J. K. Fedorowicz (Hg.): A Republic of Nobles. Studies in Polish History to 1864, Cambridge u.a. 1982, S. 239–257; Andrzej Walicki: The Idea of Nation in the Main Currents of Political Thought of the Polish Enlightenment, in: Samuel Fiszman (Hg.): Constitution and Reform in Eighteenth-Century Poland. The Constitution of 3 May 1791, Bloomington, Indianapolis 1997, S. 155–174, hier 162–166; Butterwick: Political Discourses of the Polish Revolution, S. 721f.; Kraft: Das „Staatlich-Administrative“, S. 25–32.



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und Königs Stanisław II. August Poniatowski eine neue politische Grundlage.82 Der Reichstag reformierte die Landtage, gab den Städten ein neues Statut und verabschiedete schließlich am 3. Mai 1791 die erste Verfassung des europäischen Kontinents. Die sogenannte Maiverfassung und ihre Begleitgesetze zeugen von der enormen Wandlungsfähigkeit der polnischen Adelsrepublik, die, gerade weil sie kein absolutistisches Staatswesen herausgebildet hatte, einen bruchlosen Weg in den Konstitutionalismus fand.83 Das neue Gesetz zu den Landtagen ließ nur Adlige mit Grundbesitz oder Pächter, die mindestens 100 Złoty Steuern im Jahr bezahlten, zu den Adelswahlen zu. Damit verloren von 700.000 Wahlberechtigten rund 300.000 Adlige ihr Stimmrecht in den Landtagen. Gleichzeitig erlaubte das Städtestatut den Adligen die wirtschaftliche Betätigung in der Stadt und gestattete Bürgerlichen den Erwerb von Grund und Boden. Wer mehr als 200 Złoty Steuern auf seinen Grundbesitz bezahlte, erwarb automatisch das Recht nobilitiert zu werden.84 Damit waren die politischen Rechte weitgehend an den Besitz und nicht mehr an die Herkunft gebunden. Im Gegenzug wurde der besitzlose Gemeinadel von der politischen Aktivität ausgeschlossen. Dies war ein wichtiger Schritt in der Abkehr von einer ständischen Ordnung und hin zu einer Gesellschaft von Staatsbürgern. Höhepunkt der polnischen Reformdiskussion und der Tätigkeit des Vierjährigen Reichstages war die Verabschiedung der Maiverfassung.85 Die Konstitution bestätigte dem Adel alle Freiheiten und betonte, dass alle Angehörigen des Adelsstandes die gleiche Würde besäßen. Gleichzeitig bezeichnete sie das Eigentum als das wahre Band der Gesellschaft und als Augapfel bürgerlicher Freiheit.86 Die 82 Zur lange Zeit verkannten „Realpolitik“ des letzten polnischen Königs vgl. Klaus Zernack: Stanislaus August Poniatowski. Probleme einer politischen Biographie, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 15 (1967), S. 371–392, hier 384–391. 83 Gottfried Schramm: Reformen unter Polens letztem König. Die Wandlungsfähigkeit eines Ständestaates im europäischen Vergleich (1764–1795), in: Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte 1996, Heft 1, S. 203–215. 84 Vgl. Lukowski: Liberty’s Folly, S. 246; Adam Zamoyski: The Last King of Poland, London 1992, S. 336. Die beiden Gesetze sind in deutscher Übersetzung abgedruckt in: Rudolf Jaworski (Hg.): Nationale und internationale Aspekte der polnischen Verfassung vom 3. Mai 1791, Frankfurt a. M. u. a. 1993, S. 144–169. 85 Zu den Umständen ihrer Verabschiedung vgl. Lukowski: Liberty’s Folly, S. 247–252; ders.: The Partitions of Poland 1772 – 1793 – 1795, London, New York 1999, S. 138–141; Zamoyski: Last King, S. 326–340; Stone: Polish-Lithuanian State, S. 277–282; Jerzy Michalski: The Meaning of the Constitution of 3 May, in: Samuel Fiszman (Hg.): Constitution and Reform in EighteenthCentury Poland. The Constitution of 3 May 1791, Bloomington, Indianapolis 1997, S. 251–286. Zur Maiverfassung als polnischer Erinnerungsort im 19. und 20. Jahrhundert vgl. Jan Kusber: Vom Projekt zum Mythos: Die polnische Maiverfassung 1791, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52 (2004), S. 681–699. 86 Die Verfassung vom 3. Mai 1791, in: Die Verfassungen in Europa 1789–1949. Wissenschaftliche Textedition unter Einschluß sämtlicher Änderungen und Ergänzungen sowie mit Dokumenten aus

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Verfassung enthielt zwar keine konkreten rechtlichen Bestimmungen zum Adel, doch Artikel 6 bestätigte die Adelsreform, die das Gesetz über die Landtage vollzogen hatte.87 Eine staatliche Adelsreform brachte für die Staatsgewalt die Notwendigkeit mit sich, einen Überblick über den Adel zu erlangen. Hugo Kołłątaj hatte außerdem die Einführung eines Adelsregisters nach österreichischem Vorbild vorgeschlagen. Der Reichstag diskutierte über Wochen hinweg diese Frage. Einen Tag nachdem das Gesetz über die Landtage verabschiedet worden war, stimmte der Sejm schließlich einer Registrierung des Adels zu. Diese Regelung erlaubte es, den landbesitzenden Adel zu zählen und bei dieser Gelegenheit die Adelsnachweise zu überprüfen.88 Bereits am Ende der Adelsrepublik war es also zu einer tief greifenden Adelsreform gekommen. Ein adelsständisches Parlament hatte die Existenz von verarmten Adelsmassen als politisches Problem erkannt und im Kern die gleiche Lösung wie die absolutistische Zarin Katharina II. entworfen. Die Reformgesetze des Vierjährigen Sejms schlossen zwar die besitzlose Szlachta aus dem Adelsstand nicht aus, nahmen ihr aber die Möglichkeiten zur politischen Partizipation. Indem gleichzeitig dem Besitzbürgertum diese Rechte gewährt bzw. dessen Nobilitierung erleichtert wurde, zielte das Reformwerk „auf einen radikalen Austausch der Trägerschichten von Staatsbürgerschaft“.89 Das ausschlaggebende Kriterium für die Zugehörigkeit zur mit allen politischen Rechten ausgestatteten Elite waren die Besitzverhältnisse des Einzelnen. Nicht nur die Reformer in der Adelsrepublik diskutierten zu jener Zeit darüber, welche gesellschaftliche Funktion der Adel habe und wer diesem privilegierten Stand angehören sollte. In ganz Europa formierte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine dezidierte Adelskritik. Im Zuge des Staatsausbaus hielt an den europäischen Höfen der Leistungsgedanke Einzug, der Ämter und Offizierspatente nicht länger als Fundamente von sozialem Status betrachtete. Die erblichen Standesprivilegien des Adels wurden offen in Frage gestellt. Gleichzeitig wuchs in beinah ganz Europa die Zahl von Adligen, die wenig oder gar kein Land der englischen und amerikanischen Verfassungsgeschichte, hg. v. Dieter Gosewinkel und Johannes Masing, München 2006, S. 377–384, hier S. 377f. Zu den einzelnen Bestimmungen und der Verfassungspraxis vgl. Eva Tenzer und Berit Pleitner: Polen, in: Peter Brandt / Martin Kirsch / Arthur Schlegelmilch (Hg.): Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel, Bd. 1: Um 1800, Bonn 2006, S. 546–600. 87 Verfassung vom 3. Mai 1791, Artikel VI, in: Die Verfassungen in Europa, S. 379f. 88 Vgl. Adam Lityński: Sejmiki ziemskie 1764–1793. Dzieje reformy, Katowice 1988, S. 106f. 89 Michael G. Müller: Adel und Elitenwandel in Ostmitteleuropa. Fragen an die polnische Adelsgeschichte im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 50 (2001), S. 497–513, hier 503.



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besaßen, jedoch alle Vorrechte ihres Standes beanspruchten. Diese relativ große Schicht von besitzlosen oder vergleichsweise armen Adligen untergrub längerfristig das Prestige des gesamten Standes und zog Diskussionen über den Zusammenhang von Vermögen und Standeszugehörigkeit nach sich.90 Auch im Alten Reich gewann die ökonomische Ausdifferenzierung des Adels am Ende des 18. Jahrhunderts an Dynamik. Um 1790 verfügte schon die Hälfte der Adligen über keinen Landbesitz mehr. Gleichzeitig drängte das vermögende Bürgertum in den Adelsstand. Da die Landesherren ihr Nobilitierungsrecht ausgiebig nutzten, stieg die Zahl der Neuadligen kontinuierlich an. Die finanzkräftigen Neuankömmlinge kauften ihrerseits die alten Rittersitze auf, um so alle Voraussetzungen für die Aufnahme in die Standeskorporationen zu erfüllen. Der Adel reagierte auf diese Entwicklung mit einer Betonung der Abstammung. Nur alter, vor 1400 belegter Adel galt auch als echter Adel. Neue Ritterorden wurden gegründet, die mit strengen Regeln die Exklusivität der Abstammungsgemeinschaft zu wahren versuchten.91 Ein anderer Teil der Adelskritik richtete sich explizit gegen den grundbesitzlosen Gemeinadel. Die große Zahl armer Adliger wurde von den Zeitgenossen als Problem erkannt und intensiv diskutiert. Viele sahen die Zeit gekommen, eine neue Elite zu schaffen, die das Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum mit dem Adel verbinden müsse. Für den verarmten Landadel oder gar den landlosen Adligen ohne besondere Talente war in dieser Elite kein Platz mehr.92 Die europäische Diskussion um den verarmten Kleinadel fand allerdings in einem anderen Kontext als im Zarenreich statt. Während die zarische Regierung vor der Aufgabe stand, einen allzu umfangreichen polnischen Adel zu dezimieren, um ihn in den russischen Reichsadel integrieren zu können, reagierte die Adelskritik in Europa auf die Herausforderung des aufsteigenden Bürgertums. Im Alten Reich etwa hielt die publizistische Kritik bereits seit der Mitte des 18. Jahrhunderts den niederen Adel als Eliteformation nur noch dann für akzeptabel, wenn dieser seine erblichen Herrschafts- und Vorrechte aufgab und mit Teilen des Bürgertums zu einer Funktionselite fusionierte.93 Die bürgerliche Adelskritik verfolgte

90 Vgl. Asch: Europäischer Adel, S. 276f und 283. 91 Vgl. Georg Schmidt: Wandel durch Vernunft. Deutsche Geschichte im 18. Jahrhundert, München 2009, S. 298ff. 92 Vgl. Fritz Martiny: Die Adelsfrage in Preußen vor 1806 als politisches und soziales Problem, Stuttgart 1938, S. 64–83; Elisabeth Fehrenbach: August-Wilhelm Rehbergs Adelskritik und sein Reformstreben im Königreich Hannover, in: Winfried Speitkamp / Hans-Peter Ullmann (Hg.): Konflikt und Reform. Festschrift für Helmut Berding, Göttingen 1997, S. 151–167. 93 Vgl. Georg Schmidt: Adel und Reich. Publizistische Kritik und Perspektiven, in: Mark Hengerer / Elmar l. Kuhn (Hg.): Adel im Wandel. Oberschwaben von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, 3  Bde., Ostfildern 2006, Bd. 1, S. 85–98, hier 92.

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dezidiert das Ziel, den alteuropäischen Herrschaftsstand in eine moderne Elite zu überführen, die sich allein durch Leistung definierte.94 Die Monarchien des 18. Jahrhunderts griffen die allgemeine Adelskritik vielfach auf und beabsichtigten, den feudalen Herrschaftsstand in einer absolutistischen Funktionselite aufgehen zu lassen – und dies durchaus mit Blick auf die neu entstehenden staatlichen Behördenstrukturen. An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert strebten denn auch die zahlreichen Adelsreformen im Deutschen Reich und in Europa danach, den Adelsstand für das Bürgertum zu öffnen und zu erweitern.95 In Preußen stand die große Zahl verarmter Adliger, die gleichwohl auf ihre alten Vorrechte beharrten, im Zentrum der Adelskritik. Die Adelsreform des Freiherrn vom Stein zielte schließlich darauf ab, die armen, nur Ansprüche verteidigenden Adligen aus dem Adelsstand auszuschließen und den Adel zum aufstiegswilligen Bürgertum hin zu öffnen. Allerdings war Stein skeptisch, inwieweit eine reine Funktionselite eine stabile Stütze der Monarchie sein konnte. Er sah vielmehr im grundbesitzenden Adel das Substrat für die Bildung eines neuen Adels, denn nur umfassender Grundbesitz verleihe eine sichere Lebensperspektive und damit die notwendige Unabhängigkeit, um am politischen Leben teilzunehmen. Seine Adelsreform intendierte deshalb, den Kleinadel aus dem Adelskorpus auszuschließen und somit einen zahlenmäßig kleineren, politikfähigen und tatkräftigen Adel zu schaffen. Dieser „neue Adel“ sollte verdienstvollen Aufsteigern offen stehen, doch müssten diese ihre „Adelsfähigkeit“ zuvor durch mehrfache Bewährung beweisen.96 Auch die Adelsreform des Grafen Montgelas in Bayern folgte der Vorstellung, dass der grundbesitzende Adel die Stütze der Monarchie sei. Montgelas unterschied zwischen Adel sowie Adelsfähigen. Er wollte wie Freiherr vom Stein die zahlreichen armen Adligen in den großen Vorhof der Adelsfähigen, zu denen er auch Teile des höheren Bürgertums zählte, zurückstufen.97 Montgelas war jedoch ebenso bestrebt, neben dem Grundbesitz das Leistungsprinzip im Adel zu verankern. Die bayerische Regierung schuf zwei neue Verdienstorden, deren Verleihung mit der Aufnahme in die Ritterklasse – das heißt in die vierthöchste der damaligen sechs Klassen des bayerischen Adels – verbunden war. Allerdings konnte ein derartiger Ritter seinen Adel nur auf einen seiner Söhne vererben, und auch nur 94 Dieter Langewiesche: Bürgerliche Adelskritik zwischen Aufklärung und Reichsgründung in Enzyklopädien und Lexika, in: Elisabeth Fehrenbach (Hg.): Adel und Bürgertum in Deutschland 1770–1848, München 1994, S. 11–28, hier 12f. 95 Vgl. Heinz Reif: Adel im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, S. 99ff. 96 Vgl. Heinz Reif: Adelserneuerung und Adelsreform in Deutschland 1815–1874, in: Elisabeth Fehrenbach (Hg.): Adel und Bürgertum in Deutschland 1770–1848, München 1994, S. 203–230, hier 215–218. 97 Vgl. ebd., S. 218.



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unter der Bedingung, dass dieser ein eigenes Vermögen nachweisen konnte und der König dem zustimmte.98 Katharinas II. Überlegungen, Besitz zum ausschlaggebenden Kriterium von Adligkeit zu erheben, waren also ganz auf der Höhe ihrer Zeit. Der wesentliche Unterschied zu den deutschen und westeuropäischen Adelsreformen bestand jedoch darin, dass es der Zarin nicht darum ging, den Adel für das Bürgertum, das es im Zarenreich noch nicht gab, zu öffnen. Vielmehr stand sie mit ihrer Politik in der Tradition jener absolutistischen Reformer, die den Adel zum Staatsdienst heranziehen und für den Ausbau der Staatsgewalt nutzen wollten. Aus diesem Grund warf die Adelsverifikation des Zarenreiches auch nicht die grundsätzliche Frage nach dem „wahren Adel“ auf. Die zarische Regierung übernahm lediglich die Aufgabe, die sich bereits den Reformkräften der Adelsrepublik gestellt hatte: den polnischen Adel in eine staatliche Funktionselite umzuformen. Der Elitenwandel im 19. Jahrhundert stellte die Szlachta unter den Bedingungen der Teilung vor eine andersartige Herausforderung als den Adel in anderen Teilen Europas. Sie musste weniger den Machtverlust an andere soziale Gruppen als die Herrschaftskonkurrenz durch eine ausgreifende Staatsgewalt fürchten. Wollte der polnische Adel seine soziale Stellung wahren, so war er weniger zu „horizontalen“ Elitenkompromissen mit anderen aufsteigenden Milieus als zu einem „vertikalen“ Ausgleich mit der russischen Staatsgewalt gezwungen.99 Indem nach den Teilungen die zarische Regierung zum entscheidenden Akteur in der Elitentransformation wurde, war die polnische Aristokratie der Pflicht enthoben, die kontroverse Reformdebatte fortzuschreiben und die schmerzhafte Transformation des Adels selbst durchzuführen.100 Stattdessen konnten sich die Magnaten nun mit dem Kleinadel gegen die „fremde“ Staatsmacht solidarisieren und die Deklassierung des Kleinadels als antipolnische Politik brandmarken. Diese gemeinsame Frontstellung gegen den russischen Staat trug erheblich zur Integration der sozial inhomogenen Szlachta in die polnische Nationalerzählung bei.

98 Zur Adelsreform Montgelas siehe auch Walter Demel: Adelsstruktur und Adelspolitik in der ersten Phase des Königreiches Bayern, in: Eberhard Weis (Hg.): Reformen im rheinbündischen Deutschland, München 1984, S. 213–228, hier 221; ders.: Der bayerische Adel von 1750 bis 1871, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Europäischer Adel 1750–1950, Göttingen 1990, S. 126– 143, hier 138–141; Eberhard Weis: Montgelas, 2 Bde., München 1971–2005, Bd. 2: Der Architekt des modernen bayerischen Staates 1799–1838, S. 531–554. 99 Vgl. Michael G. Müller: „Landbürger“. Elitenkonzepte im polnischen Adel im 19. Jahrhundert, in: Eckart Conze / Monika Wienfort (Hg.): Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 87–105, hier 93. 100 Programmatische Äußerungen aus den Reihen der gutsbesitzenden Szlachta über Adel und Adligkeit waren im 19. Jahrhundert rar, vgl. ebd., S. 96.

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1.5. Die Suche nach den Merkmalen von Adligkeit: Katharina II. und der Beginn einer pragmatischen Adelsrevision Hätte Katharina II. Grundbesitz zum allein ausschlaggebenden Kriterium für die Zugehörigkeit zum Adel erhoben, dann wäre sie einem europäischen Trend gefolgt und hätte an die Reformen in der Adelsrepublik anknüpfen können. Die Zarin ist diesen, vergleichsweise radikalen, Weg jedoch nicht gegangen. Katharina II. stand zwar dem britischen Adelsverständnis einer landed gentry nahe, doch widersprach eine enge Verknüpfung von Adligkeit und Grundbesitz sowohl den Traditionen des Zarenreiches als auch der gültigen Rechtslage.101 Mit der Einführung der Rangtabelle im Jahre 1722 hatte Peter I. Adligkeit eng an den Staatsdienst gebunden: Alle Edelleute unterlagen der Dienstpflicht. Militärische und staatliche Karrieren hingen nun ebenso wenig wie gesellschaftliches Prestige von einem ererbten Titel, sondern in erster Linie von dem Rang ab, den man erreichte. Im Militärdienst genügte es, den 14. Rang zu belegen, um in den erblichen Adel aufgenommen zu werden. Im Zivildienst bedeutete der 14. Rang allerdings nur die Verleihung des persönlichen Adels. Dort öffnete erst der achte Rang den Weg in den Erbadel.102 Katharina II. stand in der Tradition dieser Auffassung, Adligkeit erwerbe man sich durch den Dienst am Vaterland. So definierte sie in ihrem „Buch der Pflichten des Menschen und Bürgers“ die Adelszugehörigkeit als eine „Belohnung für große und nützliche Dienste, die entweder vom Adligen selbst, oder von seinen Eltern bzw. Vorfahren geleistet worden sind“.103 Bereits Peter I. hatte mit dem Heroldsamt zudem eine Institution gegründet, welche über die Rechtmäßigkeit der beanspruchten Adelswürde wachte. Der Staat legte auf diese Weise die Kriterien für Adligkeit fest und kontrollierte zugleich deren Einhaltung.104 Die Praxis wich vom Gesetzestext allerdings erheblich ab. Dem Heroldsamt lagen aus zahlreichen Regionen keine Adelslisten vor, so dass der Staat sich nur einen partiellen Überblick über den Adel des Reiches verschaffen konnte. Des Weiteren bestand trotz der Rangtabelle weiterhin Uneinigkeit in 101 Zu den strukturellen Charakteristika des russischen Adels vgl. Karl-Heinz Ruffmann: Russischer Adel als Sondertypus der europäischen Adelswelt, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 9 (1961), S. 161–178; Hildermeier: Der russische Adel, S. 166–216. 102 Vgl. Wittram: Peter I. Czar und Kaiser, Bd. 2, S. 145–150; Bennett: Evolution of the Meanings of Chin, S. 4–26; dies.: Chiny, Ordena, and Officialdom, S. 162–189. 103 Book on the Duties of Man and Citizen. Designated for reading in the Public Schools of the Russian Empire, and published by Royal Command, abgedruckt in: J. l. Black: Citizens for the Fatherland. Education, Educators, and Pedagogical Ideals in Eighteenth Century Russia, Boulder 1979, S. 209–266, hier 251. 104 Vgl. Amburger: Geschichte der Behördenorganisation, S. 72f.; Isabel de Madariaga: The Russian Nobility in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, in: Hamish M. Scott (Hg.): The European Nobilities in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, 2 Bde., London, New York 1995, Bd. 2, S. 223–273, hier 248f.



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der Frage, was einen Adligen ausmachte. Die alten Adelsfamilien hielten am Prinzip einer Abstammungsgemeinschaft fest, und Peter I. hatte mit der Einführung der Rangtabelle die alten Adelskriterien auch nicht abgeschafft. Eine genaue Definition des Adels war nirgends schriftlich fixiert, so dass es schon unter den Zeitgenossen Peters I. unterschiedliche Auffassungen darüber gab, wer zum Adelsstand gehörte und was angesichts der zahlreichen „Aufsteiger“ der „echte“ Adel sei.105 Als Katharina II. den Thron bestieg, stand eine exakte Erfassung des Adels nicht zuletzt aufgrund dieser unklaren Rechtslage noch aus.106 Die Gnadenurkunde für den Adel von 1785 beendete diese Rechtsunsicherheit, indem sie die Zugehörigkeit zum Adel klar definierte. Katharina  II. legte darin fest, auf welche Weise ein Adliger seine Abstammung nachzuweisen habe. Indem die Gnadenurkunde insgesamt 22 Möglichkeiten für einen Adelsnachweis schriftlich fixierte, verrechtlichte die Zarin die Zugehörigkeit zum Adel.107 Damit folgte sie einer europaweiten Tendenz des 18. Jahrhunderts. Bis dahin hatte eine eher informelle Übereinkunft die Zugehörigkeit zum Adel geregelt. Die Selbstbeschreibung als adlig hatte in jener Zeit vor allem soziale Akzeptanz in einer relevanten Öffentlichkeit finden müssen, etwa am Hof des Herrschers oder auf den Versammlungen der Landstände. Klare Regeln der Standeszugehörigkeit sollten nun dem verbreiteten Phänomen der Selbsterhebung zum Adligen Einhalt gebieten.108 Da Katharina II. die Kriterien für Adligkeit rechtlich fixiert hatte, konnte sie in den Westgouvernements nicht davon abweichen und den Adel allein über die Besitzverhältnisse definieren. Eine derartige Sonderregelung hätte der von ihr selbst gewährten Gnadenurkunde widersprochen. Ja, ein derartiges Zuwiderhandeln gegen die eigenen Gesetze wäre ihrem Selbstverständnis als aufgeklärter Monarchin fundamental entgegengestanden. Neben den Gesetzen standen auch Katharinas II. gesellschaftspolitische Ziele jener einfachen Lösung entgegen, die besitzlosen Adligen per Dekret aus dem Adel auszuschließen. Die Gouvernementsreform und die Gnadenurkunde waren Kernstücke ihres Reformwerkes und zielten darauf ab, das Entstehen von Adelsgesellschaften in der Provinz des Reiches zu fördern. Eine wichtige Voraussetzung sah Katharina darin, dass sich der Adel des Zarenreiches wie in Mittel- und Westeuropa als ständische Korporation formierte. Aus diesem Grunde gewährte Katharina dem Adel das Recht, das Adelsbuch selbst zu führen und zu verwalten. Die Gnadenurkunde beendete damit die staatliche Aufsicht über den Adel und vollendete die Dienstbefreiung durch Peter III. von 1762, indem sie dem Adel korpora105 106 107 108

Vgl. Raeff: Origins of the Russian Intelligentsia, S. 53–59. Vgl. Dukes: Catherine the Great and the Russian Nobility, S. 145–157. Katharina II.: Vom Adel, S. 42–56. Vgl. Asch: Adel in der Neuzeit, S. 319 und 323.

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tive Rechte verlieh. Bis 1785 hatte das Heroldsamt die rechtmäßige Zugehörigkeit zum Adelsstand überprüft, die Adelslisten geführt und den Werdegang der Adligen dokumentiert. Die Gnadenurkunde machte nun den Gouvernementsmarschall und gewählte Kreisdeputierte für die Erstellung und das Führen eines adligen Geschlechterbuches verantwortlich. Darin sollten nur Personen verzeichnet werden, deren Adligkeit zweifelsfrei belegt war. Für die Überprüfung der Adelsnachweise waren der Gouvernementsmarschall und die Kreisdeputierten verantwortlich. Das Adelsbuch sollte im Archiv der Adelsversammlung aufbewahrt werden. Der Staat war fortan nur noch eine Appellationsinstanz: Wer mit der Entscheidung des Gouvernementsmarschalls nicht zufrieden war, konnte seine Adelsnachweise dem Heroldsamt zur Entscheidung vorlegen. Davon abgesehen erhielt der Staat lediglich zwei Kopien des Adelsbuches: Eine sollte der Gouvernementsregierung, die andere dem Heroldsamt zugestellt werden.109 Da die zarische Regierung den Besitz nicht zum allein ausschlaggebenden Kriterium für die Zugehörigkeit zum Adel machen konnte, hielt sie stattdessen an der Vorstellung vom Adel als einer Abstammungsgemeinschaft fest und entschied sich dafür, den gesamten Adel der Westgouvernements einer Revision zu unterziehen. Angesichts der im 16. und 17. Jahrhundert europaweit verbreiteten Praxis, sich selbst in den Adelsstand zu erheben,110 schien eine Überprüfung der Adelsbriefe und ein Ausschluss all jener, die zu Unrecht einen Adelstitel trugen, ein durchaus vielversprechender Ansatz zu sein, den polnischen Adel merklich zu verkleinern. Damit schloss Katharina II. an den Beschluss des Vierjährigen Sejms an, auf dessen Grundlage eine solche Verifikation in einzelnen Provinzen bereits begonnen hatte.111 Gleichzeitig lag in diesem Vorgehen jedoch ein zentraler Konstruktionsfehler. Indem man die Herkunft zum ausschlaggebenden Kriterium der Adligkeit machte, blieben diejenigen, die ihre Abstammung dokumentieren konnten, unabhängig von ihrem Vermögen dem Adelsstand erhalten. Dagegen fielen vermögende Gutsbesitzer, die keinen Adelsnachweis führen konnten, dieser Regelung zufolge aus dem Stand der Edelleute heraus. Das gewählte Mittel entsprach also nicht der sozialen Wirklichkeit und führte auch nicht zum gewünschten Ergebnis. Katharina II. löste dieses Problem auf pragmatische Art und Weise. In einer persönlichen Order wies sie die Generalgouverneure an, allen grundbesitzenden Adligen der Westgouvernements zu gestatten, bei der jeweiligen Adelsversammlung ihre Aufnahme in das Geschlechterbuch des Adels zu verlangen. Dieser Ein109 Katharina II.: Vom Adel, S. 32f. und 39–42. Siehe dazu auch T. B. Kalabin: Sistema podtverždenija dvorjanstva i lišenija dvorjanskogo dostoinstva v Rossii v XVIII-XIX vv. i rodoslovnye knigi, in: Opyty po istočnikovedeniju drevnerusskaja knižnost’. Sbornik statej v čest’ V. K. Ziborova, St. Petersburg 1997, S. 20–26. 110 Vgl. Asch: Europäischer Adel, S. 18 und 34. 111 Vgl. Kądziela: Local Government Reform during the Four-Year Diet, S. 391.



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trag ging mit der Übernahme aller adligen Rechte und Privilegien einher.112 Mit dieser Anweisung hatte Katharina auf informellem Wege doch Landbesitz zum wichtigsten Kriterium für Adligkeit in den polnischen Provinzen erhoben. Adlige, die ein Gut besaßen oder gepachtet hatten, konnten ohne aufwendige Prüfung ihre Aufnahme ins Geschlechterbuch verlangen. Besitzlose Adlige behandelte das Schatzamt bis auf weiteres hingegen steuerlich wie Bauern.113 Sie konnten bei der Vorlage der entsprechenden Nachweise zwar ihre Aufnahme in den Adelsstand erwirken, doch lag die Beweispflicht bei den Adligen selbst. Mit dieser Regelung führte Katharina einen modus operandi ein, mit dem sowohl die russische Staatsgewalt als auch der landbesitzende Adel leben konnten. Die Gutsbesitzer wurden vorbehaltlos in die russische Oberschicht kooptiert, der besitzlose Kleinadel musste sich selbst um eine Aufnahme bemühen. Gleichzeitig hatte eine persönliche Anweisung an einen zarischen Beamten nicht das gleiche Gewicht wie ein Gesetz. Auch waren die Regelungen der Gnadenurkunde damit nicht außer Kraft gesetzt, da ein Abstammungsnachweis noch immer schwerer wog als die Besitzverhältnisse. Doch anders als bei einer aufwendigen Adelsrevision lag somit der Zwang zum Handeln nicht beim Staat, sondern bei den vorläufig deklassierten Adligen. Nach der ersten Teilung Polens hatte Katharina II. noch eine staatliche Revision angeordnet, die den gesamten Adel der annektierten Gebiete erfassen und dessen tatsächliche Zugehörigkeit zum Adel überprüfen sollte. Die Gnadenurkunde gab den adligen Selbstverwaltungsorganen vor Ort das Recht, die Adelsnachweise zu prüfen und auf dieser Grundlage über die Zugehörigkeit zum Adel zu entscheiden.114 Diese Regelung erleichterte die anstehenden Adelsüberprüfungen erheblich. Unmittelbar nach dem Herrschaftswechsel musste die Staatsgewalt vor Ort erst verankert werden. Die wenigen russischen Beamten wären angesichts der verarmten Adelsmassen mit einer solchen Aufgabe heillos überfordert gewesen. Indem die zarische Regierung die Umsetzung der Adelsrevision an die Szlachta übertrug, gab sie jedoch die Kontrolle über das Verfahren aus der Hand. Für die Überprüfung der Adelsnachweise waren die Adelsdeputiertenversammlungen zuständig, die sich aus gewählten Vertretern des lokalen Adels zusammensetzten. Diese waren mit dem Problem konfrontiert, dass es zahlreiche Adlige gab, welche die staatlich geforderten Nachweise nicht erbringen konnten. Weder in Polen noch in Litauen war der Adel jemals schriftlich gezählt, erfasst oder beurkundet worden. Ein bedeutender Teil der Szlachta besaß deshalb 112 Namentlicher Ukas Katharinas II. an den Generalgouverneur Tutolmin vom 3.5.1795, in: Rossijskij Gosudarstvennyj Istoričeskij Archiv (im Folgenden RGIA) f. 1347, op. 64, d. 497, l. 7. 113 Vgl. Daniel Beauvois: Pouvoir russe et noblesse polonaise en Ukraine 1793–1830, Paris 2003, S. 70f. 114 Vgl. Katharina II.: Vom Adel, S. 39f.

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keinen Adelsbrief, sondern führte nur ein Wappen.115 Zahlreiche Adlige konnten keine Nachweise vorlegen, da ihren Familien offiziell niemals ein Adelstitel verliehen worden war, sondern sich ihre Vorfahren selbst in den Adelsstand erhoben hatten. Wem es gelang, bestimmte Privilegien, die als spezifische Vorrechte des Adels galten, für sich in Anspruch zu nehmen, der wurde von seinen Nachbarn als adlig anerkannt und war es fortan auch. Damit befanden sich die grundbesitzenden Adligen in einem Dilemma: Sie hatten sich zwischen der Solidarität mit ihren Standesgenossen und der Loyalität gegenüber der neuen Herrschaft zu entscheiden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die zarische Regierung nach den Teilungen Polens in einer schwierigen Ausgangslage befand: Einerseits sollte die Szlachta in den Reichsadel aufgenommen werden, andererseits erschien es nicht möglich, in die eigene Oberschicht eine dreieinhalb Mal so große Elite zu integrieren. In den Augen der zarischen Regierung bestand die Herausforderung weniger darin, dass im Zuge der Teilungen Polens eine große Anzahl Adliger einzugemeinden war, die sich konfessionell und national vom russischen Adel unterschied. Das Hauptproblem sah Katharina II. vielmehr in der sozialen Zusammensetzung der Szlachta. Damit stand das Zarenreich vor der Aufgabe, den „echten“, gutsbesitzenden Adel vom verarmten, unerwünschten Kleinadel zu trennen. Der Weg, den die zarische Regierung beschritt, litt von Beginn an unter einem doppelten Widerspruch. Der erste lag darin, dass die Regierung einerseits die traditionelle Kooptation der Eliten fortsetzte, indem sie die Szlachta in den Reichsadel integrierte und die lokale Verwaltung sowie das Gerichtswesen in deren Hand beließ. Andererseits versuchte Katharina II., den polnischen Adel entlang ihres Elitenkonzeptes in eine gutsbesitzende Landelite zu transformieren. Der zweite Widerspruch resultierte aus dem Spannungsverhältnis von Staatsausbau und Adelspolitik. Der Adel in den Westgouvernements wies einerseits bereits jenen Grad von ständischer Verfasstheit auf, der eine maßgebliche Voraussetzung war, um die von Katharina vorgesehene Rolle einer Zwischengewalt im Staat zu übernehmen. Andererseits hielt sie den weitaus größeren Teil der Szlachta einer politischen Partizipation für unfähig. Deshalb schloss die zarische Regierung die besitzlosen Adligen auf dem Verordnungswege aus dem Adelsstand aus. Die russische Staatsgewalt oktroyierte damit ihre Normen dem polnischen Adel auf.

115 Vgl. Jerzy Jedlicki: Der Adel im Königreich Polen bis zum Jahre 1863, in: Armgard von RedenDohna / Ralph Melville (Hg.): Der Adel an der Schwelle des bürgerlichen Zeitalters 1780–1860, Stuttgart 1988, S. 89–116, hier 89.



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2. Restriktive Adels- und liberale Polenpolitik: Brüche und Kontinuitäten in der Herrschaft Pauls I. (1796–1801) Am 6. November 1796 starb Katharina II. Ihr Sohn Paul erbte mit dem Zarenthron auch die Folgen ihrer Adelspolitik in den Westgouvernements. Schon bald wurde deutlich, dass eine Adelsüberprüfung, die ganz in der Hand des Adels lag, einer Implementierung staatlicher Normen zuwiderlief. Die pauschale Deklassierung des grundbesitzlosen Adels nötigte diesen, seine aristokratische Abstammung zu beweisen und sich auf diesem Weg wieder in den Adelsstand einzuschreiben. Die Entscheidung darüber lag bei den Adelsversammlungen und damit bei der Szlachta selbst. In der Praxis öffnete dies dem gutsbesitzenden Adel die Möglichkeit, ihre verarmten Standesgenossen wieder in den Adelsstand aufzunehmen. So stellte zum Beispiel Stanisław Poniatowski den 389 besitzlosen Adligen, die auf seinen Ländereien lebten, kurzerhand selbst ein Manifest aus, das sie als Angehörige des Adels auswies.116 Dies war kein Einzelfall. Auch Tadeusz Bobrowski berichtet von der verbreiteten Praxis der Adelsmarschälle, verarmten Adligen bei der Erstellung von Stammtafeln unter die Arme zu greifen.117 Die Standessolidarität und die Abwehr staatlicher Normansprüche wogen in diesen Fällen offenbar schwerer als die sozialen Vorbehalte, die Gutsbesitzer gegenüber dem „Adelsproletariat“ hegten. Paul I. sah in Katharinas Prinzip, dass der Adel sich als Stand selbst zu verwalten habe, lediglich eine unnötige Schwäche der Staatsgewalt. Bereits vier Wochen nach dem Tod seiner Mutter prangerte er in einem Ukas die sich häufenden Betrugsfälle an, die sich in den Westgouvernements bei der Aufnahme von Personen in den Adelsstand ereignet hätten. Aus diesem Grunde falle fortan allein dem Monarchen das Recht zu, jemanden in den Adelsstand zu erheben oder einen Adelsbrief auszustellen.118 Diese Anordnung stellt einen deutlichen Bruch mit der Adelspolitik seiner Mutter dar. Katharina II. hatte dem Adel das Recht gewährt, selbst über die Zugehörigkeit zu seinem Stand zu entscheiden, um den Dienstadel in eine ständische Korporation umzuformen. Der neue Zar schränkte nun die wenige Jahre zuvor gewonnene Freiheit wieder ein. Diese abrupte Wende hatte eine erhebliche Verunsicherung des polnischen Adels zur Folge. Eine ganze Reihe von Adelsdeputiertenversammlungen stellte ihre Arbeit ein, in manchen Gouvernements wurden nicht einmal mehr Vertreter für dieses Gremium gewählt. Damit ruhte allerdings auch die Adelsverifizierung, da sich die Gouverneure weder ver116 Vgl. Beauvois: Pouvoir russe, S. 72f. 117 Vgl. Tadeusz Bobrowski: Pamiętnik mojego życia. O sprawach i ludziach mego czasu, 2 Bde., Warschau 1979, Bd. 1, S. 78. 118 Namentlicher Ukas Pauls I. vom 4.12.1796, in: PSZ I, Bd. 24, Nr. 17.608, S. 216–217.

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anlasst sahen noch über Personal und Mittel verfügten, diese zusätzliche Aufgabe zu übernehmen.119 Wenige Monate später schrieb Paul I. ein neues Verfahren zur Überprüfung des Adels fest. Diejenigen Adligen, die über keine Adelsurkunde verfügten, sollten nun alle Dokumente, die zur Klärung ihres Status beitragen könnten, beim Heroldsamt einreichen.120 Mit der Wiederbelebung des von Peter I. gegründeten Heroldsamtes hatte der Zar die Entscheidung über die Standeszugehörigkeit wieder dem Staat übertragen.121 Der Ukas kam den polnischen Traditionen zumindest so weit entgegen, dass er das Führen eines Adelswappens als Beweis zuließ. Letzteres musste allerdings durch den Adelsmarschall und zwei Beamte bezeugt werden.122 Während die Gnadenurkunde Katharinas II. ein schriftliches Zeugnis forderte, das die Verleihung eines Wappens durch einen regierenden Fürsten bestätigte,123 gab diese Regelung der Szlachta immerhin die Möglichkeit, ihre Adligkeit allein durch die Tatsache zu belegen, dass sie ein Wappen führte. Da in der Adelsrepublik keine Wappenverzeichnisse angelegt worden waren und zahlreiche polnische Adlige über keinerlei schriftliche Nachweise verfügten, trug diese Regelung immerhin den historischen Gegebenheiten in den Westgouvernements Rechnung.124 Das alleinige Nobilitierungsrecht des Zaren und die Übertragung der Adelsüberprüfung an das Heroldsamt waren zwei Instrumente, die einer Implementierung staatlicher Normen in den Westgouvernements dienen sollten. Paul strebte danach, die Bestimmungen von Katharinas Gnadenurkunde in den polnischen Provinzen des Reiches durchzusetzen. Beide Ukase wurden noch vor den Krönungsfeierlichkeiten am 5. April 1797 verkündet. Paul I. hatte nach dem Tod seiner Mutter die Adelspolitik in den Westgouvernements also sehr rasch neu ausgerichtet. Während Katharina II. den gesellschaftlichen Rechten des Adels im Zweifelsfall eine höhere Priorität einräumte als der Geltung staatlicher Normen, kehrte Paul I. dieses Verhältnis um. Indem er die Prüfung der Adelsnachweise und das Ausstellen eines Adelszertifikats von den Adelsversammlungen an das Heroldsamt delegierte, nahm er dem Adel ein essenzielles Recht einer Standes119 Vgl. S. A. Korf: Pavel I i dvorjanstvo, in: Golos minuvšago 1913, Nr. 7, S. 5–18, hier 15. 120 Vgl. Ukas des Senats vom 19.3.1797, in: PSZ I, Bd. 24, Nr. 17.881, S. 513–514. 121 Zum Heroldsamt vgl. Erik Amburger: Geschichte der Behördenorganisation Russlands von Peter dem Großen bis 1917, Leiden 1966, S. 72–76; I. V. Borisov: Dejatel’nost’ geral’dičeskich učreždenij XVIII veka (po materialam deloproizvodstva), in: G. V. Vilinbachov (Hg.): 275 let geral’dičeskoj služby Rossii. Materialy konferencii, St. Petersburg 1997, S.  5–10; Igor’ V. Čekalov (Hg.): Iz istorii blagorodnogo soslovija v Belarusi i sosednich gosudarstvach, Minsk 2007, S. 153–155. 122 Vgl. Ukas des Senats vom 19.3.1797, in: PSZ I, Bd. 24, Nr. 17.881, S. 513–514. 123 Vgl. Katharina II.: Vom Adel, S. 43. 124 Vgl. S. V. Dumin: Pol’skie rodovye gerby v juridičeskoj sisteme rodovoj geral’diki Rossijskoj imperii (iz praktiki Departamenta Gerol’dii Pravitel’stvujuščego Senata), in: G. V. Vilinbachov (Hg.): 275 let geral’dičeskoj služby Rossii. Materialy konferencii, St. Petersburg 1997, S. 23–29.



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korporation. Pauls Adelspolitik folgte damit den Prinzipien einer normativen Integrationspolitik, welche die Stabilität einer Gesellschaft in Abhängigkeit von der Internalisierung der herrschenden Normen durch die Mitglieder einer Gesellschaft sieht.125 Während Katharina II. mit einer pragmatischen Integrationspolitik darauf setzte, dass eine Interessenüberschneidung zwischen zarischer Staatsgewalt und polnischem Adel zu einer Integration führen würde, sah Paul eine wichtige Vorbedingung für eine gelungene Eingliederung des polnischen Adels in dessen Selbstunterwerfung unter russische Normen. Es ist unklar, inwieweit Paul diese normative Integrationspolitik bewusst verfolgte. Neben seinem Streben nach einer Stärkung der Staatsgewalt dürften auch andere Motive bei der Neugestaltung der Adelspolitik in den Westgouvernements eine Rolle gespielt haben. Häufig wird hervorgehoben, dass Paul auf vielen Politikfeldern aus Trotz einen Bruch mit den politischen Leitlinien seiner ungeliebten Mutter vollzogen habe.126 Auch in der Polenpolitik distanzierte er sich von ihr. Mehrfach ist seine Aussage überliefert, dass er die Teilungen für einen schweren politischen Fehler halte.127 Durch eine Reihe von symbolischen Akten brachte er nach seiner Thronbesteigung diese andere Sichtweise zum Ausdruck: Demonstrativ empfing er mit Stanisław August den letzten polnischen König und überließ ihm das Marmorpalais in St. Petersburg als Alterssitz. Er befreite Tadeusz Kościuszko und erlaubte den Teilnehmern des Aufstandes von 1794 die Rückkehr aus der sibirischen Verbannung. Sie bekamen ihr konfisziertes Eigentum wieder und konnten auf ihre Güter zurückkehren.128 Neben dieser Distanzierung von der Politik seiner Mutter dürfte auch das persönliche Adelsbild Pauls von Bedeutung 125 Siehe dazu die Begriffsdefinition in der Einleitung. 126 Vgl. zum Beispiel S. A. Korf: Dvorjanstvo i ego soslovnoe upravlenie za stoletie 1762–1855 godov, St. Petersburg 1906, S. 228ff. Dagegen zeigt Claus Scharf, dass Pauls kritische Haltung zur Politik seiner Mutter nicht zuletzt auf den Einfluss seines Erziehers, Nikita Panin, zurückzuführen ist und insgesamt den Versuch darstellt, eigenständige Lösungen für anstehende Probleme zu finden, vgl. Claus Scharf: Staatsauffassung und Regierungsprogramm eines aufgeklärten Selbstherrschers. Die Instruktion des Großfürsten Paul von 1788, in: Ernst Schulin (Hg.): Gedenkschrift Martin Göhring. Studien zur europäischen Geschichte, Wiesbaden 1968, S. 91–106. 127 Vgl. G. A. Vorob’ev: Razgovory imperatora Pavla I-go s Tadeušem Koscjuško v Peterburge, in: Russkaja starina 36 (1905), Nr. 11, S. 392–396, hier 392f. Siehe auch das Gespräch, das Paul 1782 noch als Großfürst mit dem polnischen König in Warschau führte, abgedruckt bei: P. V. Stegnij: Naslednik prestola knjaz’ Pavel Petrovič i Ekaterina II, in: Novaja i novejšaja istorija 2001, Nr. 5, S. 109–120, hier 114–120. Auch gegenüber Ignacy Potocki betonte er, dass er immer gegen eine Teilung Polens gewesen sei, vgl. N. K. Šil’der: Imperator Pavel pervyj. Istorikobiografičeskij očerk, St. Petersburg 1901, S. 320. 128 Vgl. P. Žukovič: Zapadnaja Rossija v carstvovanie imperatora Pavla, in: Žurnal Ministerstva Narodnago Prosveščenija 1916, Nr. 6, S. 183–226; Nr. 8, S. 207–263 und Nr. 10, S. 186–275, hier Nr. 8, S. 207f. Den Bruch in Pauls I. Polenpolitik betonen William l. Blackwell: Alexander I and Poland. The Foundations of his Polish Policy and its Repercussions in Russia, 1801–1825, Ann Arbor 1959, S. 7; Zernack: Polen und Rußland, S. 296.

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gewesen sein, das deutlich von den Vorstellungen Katharinas II. abwich. Hatte die aufgeklärte Zarin im Adel noch eine landbesitzende Elite des Reiches gesehen, so hing Paul dem Idealbild einer mittelalterlichen Ritterschaft nach, die sich durch das Führen eines vom Heroldsamt bestätigten Wappens definierte.129 Die Unterschiede im Adelsverständnis führten zu unterschiedlichen Lösungsansätzen bei der Integration der deklassierten Adelsmassen in das Zarenreich. Der einzige Weg, den Katharina II. in der kurzen Zeit zwischen der letzten Teilung Polens und ihrem Tod noch aufzeigen konnte, war das Kolonisierungsprojekt von Platon Zubov gewesen. Eine Ansiedlung landloser Adliger am Schwarzen Meer hätte nicht nur die Westgouvernements eines sozialen Problems entledigen, sondern zugleich dem unterbevölkerten „Neurussland“ eine landbesitzende Elite verschaffen sollen. Paul sah für die aus seiner Sicht „untätige und arme Szlachta“ hingegen einen ganz anderen Lebensweg vorgezeichnet: das Militär. Deshalb stellte er der Mehrzahl der polnischen Kleinadligen in Aussicht, der Armee im Rang eines Unteroffiziers beizutreten. Die dem Anschein nach besonders Geeigneten sollten sogar in die Hauptstadt geschickt werden, um dort in der berittenen Garde, der Leibgarde oder der Kavallerie zu dienen. Auf diese Weise, so meinte Paul I., könnten die mittellosen Adligen nicht nur für ihren Lebensunterhalt sorgen, es eröffneten sich ihnen dadurch auch Aufstiegsmöglichkeiten.130 Ausdrücklich wies die zarische Regierung darauf hin, dass mit dem Erreichen eines Offiziersrangs der Eintritt in den erblichen Adel verbunden war.131 Dieser Versuch, die Szlachta über die Armee in den Staat zu integrieren, entsprang nicht allein der bekannten Vorliebe des Zaren für das Militär. Seit der Einführung der Einerbfolge von 1714 wurden die nichterbenden Söhne der Gutsbesitzer auf den Militär- und Staatsdienst verwiesen. Es lag also auf der Hand, die besitzlosen polnischen Adligen ebenso auf diesen Weg zu leiten. Die beiden anderen Teilungsmächte, Preußen und Österreich, maßen der Militärlaufbahn ebenfalls eine hohe Integrationskraft bei und versuchten, den polnischen Kleinadel gezielt in die Armee einzugliedern. Söhne bekannter Magnaten konnten im preußischen Militär vergleichsweise schnell Karriere machen. Den besitzlosen Kleinadel versuchte die preußische Regierung sogar durch die schleichende Einführung einer Dienstpflicht in die Armee zu drängen.132 Auch in der Habsbur129 Vgl. Korf: Dvorjanstvo, S. 236. 130 Namentlicher Ukas Pauls I. vom 3.4.1797, in: PSZ I, Bd. 24, Nr. 17.903, S. 523–524, hier 524 (dort auch das Zitat). 131 Ukas des Kriegskollegiums vom 7.2.1797, in: Lietuvos valstybės istorijos archyvas (im Folgenden: LVIA) f. 378 o/o, op. 1797, d. 9, l. 184–184ob. 132 Vgl. Bernhard Schmitt: Der Militärdienst und die Neuformierung adliger Eliten in den habsburgischen und preußischen Teilungsgebieten 1772–1830, in: Karsten Holste / Dietlind Hüchtker / Michael G. Müller (Hg.): Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des



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germonarchie stellte der Militärdienst eine attraktive Laufbahn für Adlige dar. In Galizien wiesen die Konskriptionslisten für die Zeit um 1800 mehr als 28.000 männliche Edelleute aus.133 Der polnischsprachige Adelsnachwuchs sollte wiederum sowohl in Preußen als auch in der Habsburgermonarchie in militärischen Bildungseinrichtungen erzogen und auf diese Weise in das jeweilige Staatswesen integriert werden.134 Der Anteil polnischstämmiger Offiziere in Spitzenstellungen lag in Preußen erheblich höher als in Österreich, wo Polen fast ausschließlich in Subalternoffiziersrängen vertreten waren. Allerdings war der polnische Anteil an Inhabern ziviler Spitzenstellungen in der Habsburgermonarchie höher als in Preußen.135 Katharinas Suche nach Neusiedlern und Pauls Anwerbung für das Militär verbanden die Deklassierung des Kleinadels mit einem spezifischen Nutzen für das Imperium. Beide Optionen basierten auf einer freiwilligen Aufgabe des Adelsstatus und boten einen alternativen Lebensentwurf an. Während nur eine verschwindend geringe Anzahl Kleinadliger die Möglichkeiten nutzte, in Neurussland ein neues Leben zu beginnen, fanden nicht wenige Offiziere nach der vollständigen Aufteilung Polens den Weg in die Armee des Zaren.136 Adam Ożarowski hatte beispielsweise im Jahr 1794 noch am Kościuszko-Aufstand teilgenommen, trat aber nach dessen Scheitern in die russische Armee ein und machte dort Karriere. Er war Adjutant und wurde ein enger Vertrauter Alexanders I., erlangte 1826 den Rang eines Generals und wurde 1841 sogar Senator.137 Mit der Gründung des Königreichs Polen auf dem Wiener Kongress gewann eine militärische Laufbahn innerhalb des Zarenreiches noch deutlich an Attraktivität hinzu. Anknüpfend an die Armee des 1807 durch Napoleon gegründeten Herzogtums Warschau und auf der Grundlage einer eigenen Verfassung existierte innerhalb des Zarenreiches eine polnische Armee, die auch auf die Adligen der Westgouvernements eine starke Sogwirkung ausübte. Auch wenn die Armee des Königreichs Polen unter dem Oberbefehl des Großfürsten Konstantin, des jüngeren Bruders Alexanders I., stand, so erschien sie doch als „nationaler Vereini-

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19. Jahrhunderts. Akteure – Arenen – Aushandlungsprozesse, Berlin 2009, S. 49–62, hier 52ff. und 59ff. Vgl. Krzystof Ślusarek: Drobna szlachta w Galicji 1772–1848, Krakau 1994, S. 32f. Vgl. Bernhard Schmitt: Wie „Sand am Meer“ – Der polnische Adel in den militärischen Bildungseinrichtungen der Teilungsmächte, in: Helga Schnabel-Schüle / Andreas Gestrich (Hg.): Fremde Herrscher – fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa, Frankfurt a. M. 2006, S. 333–358. Vgl. Dieter Bangert: Polnischer Adel – österreichisches und preußisches Heer. Das Verhältnis des polnischen Adels zur k. k. Armee und zur kgl. Preußischen Armee 1816–1914, in: Zeitschrift für Ostforschung 21 (1972), S. 466–521. Vgl. Czubaty: Zasada „dwóch sumień“, S. 187–295. Vgl. Ludwik Bazylow: Polacy w Petersburgu, Wrocław u. a. 1984, S. 45.

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gungspunkt für die Polen aus allen drei Teilungsgebieten“.138 Der Dienst in der regulären Armee des Zarenreiches übte nun hingegen kaum noch Anziehungskraft aus. Dies bedeutete allerdings nicht, dass die Angehörigen der polnischen Armee automatisch vehemente Verfechter der polnischen Nation waren und es ihnen an Loyalität dem Zaren gegenüber fehlte. Der Novemberaufstand von 1830 brachte vielmehr einen Generationenkonflikt zu Tage. Während die höheren Offiziersränge die gesellschaftlichen Reformprojekte in der Regel ablehnten und sich am Aufstand nicht beteiligten, gehörten die Offiziersschüler, die sich in ihren Aufstiegsbestrebungen blockiert sahen, zu den Protagonisten des Aufstands.139 Nach dem Novemberaufstand löste sich dieser Karrierestau auf, da die Truppen des Königreichs Polen in die zarische Armee eingegliedert wurden. Auch wenn dort die Aufstiegschancen eines Katholiken etwas schlechter als die der Orthodoxen waren, so spielten die Polen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle im Militär des Zarenreiches und machten zum Beispiel rund 20 Prozent der Frontoffiziere im Ersten Weltkrieg aus.140 Paul I. hatte nur wenige Wochen nach dem Tod Katharinas II. die russische Adelspolitik in den Westgouvernements auf eine neue gesetzliche Grundlage gestellt. Es hat den Anschein, als habe er so rasch wie möglich das Steuer herumwerfen wollen und dabei nicht alle Konsequenzen seiner Politik bedacht. So wurde offenbar nicht darauf geachtet, inwieweit sich die Neuausrichtung der Adelspolitik im Einklang mit der allgemeinen Rechtslage des Zarenreiches befand. Die Gesetzgebung Pauls stand nämlich in eklatantem Widerspruch zu den Bestimmungen der Gnadenurkunde von 1785. Da die Regelungen der Gnadenurkunde jedoch nicht explizit außer Kraft gesetzt worden waren, hatte Paul zunächst eine unklare Rechtslage geschaffen. Erst der Ukas vom 25. August 1800 grenzte die Kompetenzen zwischen dem Heroldsamt und den Adelsversammlungen klar voneinander ab und stellte das Verfahren zur Erfassung des Adels sowie die Verwaltung der Adelslisten auf eine sichere rechtliche Grundlage. Paul hatte offenbar eingesehen, was seine Mutter schon früh erkannt hatte: Die staatliche Verwaltung war mit der eigenständigen Durchführung einer Adelsverifikation überfordert. Entgegen seiner ursprünglichen Maxime, dem Staat die Aufsicht über den Adelsstand zu übertragen, beauftragte der Zar nun doch die Adelsversammlungen mit dem Führen des Adelsbuches und gewährte den Adelsmarschällen das Recht, Adelsnachweise 138 Vgl. Claudia Kraft: Polnische militärische Eliten in gesellschaftlichen und politischen Umbruchsprozessen 1772–1831, in: Helga Schnabel-Schüle / Andreas Gestrich (Hg.): Fremde Herrscher – fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa, Frankfurt a. M. 2006, S. 271–295, hier 285–293, Zitat 292. 139 Vgl. ebd., S. 293f. 140 Vgl. Mariusz Kulik: Polacy wśród wyższych oficerów armii rosyjskiej Warszawskiego okręgu wojskowego, Warschau 2008, S. 198f.



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auszustellen. Allerdings schrieb Paul gesetzlich fest, welche Angaben ins Adelsbuch aufzunehmen seien und welche Informationen ein Adelsnachweis enthalten sollte. Zudem wurde die Adelsversammlung dazu verpflichtet, dem Heroldsamt eine Kopie des Adelsbuches zu senden und es über alle Veränderungen auf dem Laufenden zu halten. Auch der Adelsmarschall hatte dem Heroldsamt eine Kopie der von ihm ausgestellten Adelsnachweise zuzustellen.141 Dieses Gesetz folgte den Prinzipien Katharinas II. in einem deutlich stärkeren Maße als die erste Regelung Pauls von 1796. Der Adel verwaltete sich als Korporation nun doch weitgehend selbst. Das Gesetz trug aber auch dem Umstand Rechnung, dass der Staat bei einer Adelsüberprüfung seine Normen kaum durchsetzen konnte, wenn er diese Aufgabe ganz in die Hand des Adels legte. Aus diesem Grunde wurden die Adelsinstitutionen, welche die Adelsrevision durchführten, in ihrer Arbeit durch die Staatsgewalt beaufsichtigt. Die Wiederherstellung der durch die Adelsurkunde verbrieften Rechte kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Erfassung der Szlachta mit einer staatlichen Normierung der Wirklichkeit einherging. Die auszufüllenden Formulare richteten sich ganz am typischen Werdegang eines russischen Adligen aus. Die polnischen Adligen mussten zum Beispiel ihren Rang oder ihre Dienstzeiten im Zarenreich anführen und Angaben über einen Eintrag ins Wappenbuch machen.142 Die Adelsrevision überprüfte also die Standeszugehörigkeit der Szlachta entlang der staatlichen Normen des Zarenreiches. Allerdings war diese Praxis nicht etwa die Folge einer kulturellen Ignoranz der zarischen Staatsgewalt gegenüber den Eigenheiten der Szlachta. Vielmehr ist das Streben der staatlichen Administration, sich eine Umwelt zu schaffen, die kongruent erscheint, eine allgemeine Tendenz der Bürokratisierung. Formulare ermöglichten eine standardisierte Aufnahme von Wirklichkeit und subsumierten diese zugleich unter Kategorien, die leicht bearbeitet werden konnten. Auch die zarischen Behörden behandelte den Adel als Objekt der Verwaltung, indem sie mittels informationssteuernder Medien wie den Formularen nur jene Daten aufnahmen, die ihr für ihre Belange notwendig erschienen.143 Diese verschriftlichte und normierte Form der Informationsbeschaffung und –verwaltung verringerte zugleich die Abhängigkeit der staatlichen Bürokratie von der Auskunftsbereitschaft der lokalen Bevölkerung.144 Die Überprüfung und Erfassung des Adels der Westgouvernements war langwieriger als die zarische Regierung ursprünglich gedacht hatte. Fünf Jahre nach 141 Ukas des Senats vom 25.8.1800, in: PSZ I, Bd. 26, Nr. 19.531, S. 275–277. 142 Vgl. ebd. 143 Vgl. Stefan Haas: Die Kultur der Verwaltung. Die Umsetzung der preußischen Reformen 1800– 1848, Frankfurt a. M., New York 2005, S. 451. 144 Vgl. Patrick Wagner: Bauern, Junker und Beamte. Lokale Herrschaft und Partizipation im Ostelbien des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2005, S. 147.

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der dritten Teilung Polens war absehbar, dass dieser Prozess noch einige Jahre in Anspruch nehmen würde. Es stellte sich nun die Frage, welchen Status jene Personen haben sollten, die in der Adelsrepublik zwar zum Adel gehört hatten, deren Überprüfungsverfahren jedoch noch nicht abgeschlossen waren bzw. die noch immer keinen Adelsnachweis eingereicht hatten. Nach den Teilungen hatte die Regierung alle Adligen so lange den steuerpflichtigen Ständen zugeordnet, bis ihr Adelsnachweis überprüft worden war. Dies benachteiligte jedoch auf Dauer Adlige, deren Überprüfungsverfahren sich in die Länge zog. Zwei weißrussische Adlige machten in einer Petition an den Senat auf diesen Umstand aufmerksam. Sie beschwerten sich im Namen von 1.096 Standesgenossen darüber, dass sie während des laufenden Verifizierungsverfahrens der Kopfsteuer unterlagen. Der Senat gab ihrem Gesuch nach Steuerfreiheit nicht statt. Er entschied, dass die Bittsteller und alle anderen Personen, deren Adligkeit überprüft würden, so lange der Kopfsteuer unterlägen, bis eine Entscheidung über ihre Standeszugehörigkeit getroffen und vom Zaren bestätigt worden sei.145 Die zarische Regierung hoffte offenbar, Druck auf die Szlachta ausüben zu können, damit diese ihre Adelsnachweise möglichst zügig vorlege. Eine solche Regelung setzte allerdings voraus, dass die personellen Kapazitäten für eine zügige Durchführung vorhanden waren. Zudem stand hinter einem solchen Kalkül die Vorstellung, dass man es überwiegend mit eindeutigen, leicht zu entscheidenden Fällen zu tun habe. Beides traf bei der Adelsrevision in den Westgouvernements nicht zu. Als kaum zu lösendes Problem entpuppte sich bei der laufenden Adelsüberprüfung, dass die Mehrzahl der Adligen die Informationen, die der Senatsukas vom 25. August 1800 für einen Eintrag ins Adelsbuch gefordert hatte, nicht beibringen konnte. Zum einen passte die polnische Realität nicht zu den russischen Normen. Da es in der Adelsrepublik weder Ränge noch einen Staatsdienst gab, konnten die polnischen Adligen zu diesem Punkt keine Angaben machen. Hinzu kamen praktische Hindernisse bei der Beschaffung der erforderlichen Dokumente. Wenn die benötigten Zeugnisse in Lokalarchiven lagen, die in preußischen oder österreichischen Besitz übergegangen waren, mussten die Betroffenen eine Auslandsreise unternehmen. Eine solche Reise war vielen Kleinadligen nur schwer möglich, da sie die anfallenden Kosten nicht aufbringen konnten. Ein ebenso häufig auftretendes Problem war, dass im Laufe der vergangenen Jahrhunderte wichtige Akten entweder verbrannt oder im Zuge von Kriegen und Aufständen vernichtet worden waren.146 Zu dieser Zahl von Adligen, die keine Beweise für ihre tatsächliche Standeszugehörigkeit vorlegen konnten, kamen jene hinzu, die 145 Ukas des Senats vom 9.4.1800, in: PSZ I, Bd. 26, Nr. 19.375, S. 128–130. 146 Vgl. Svetlana l. Lugovcova: Politika rossijskogo samoderžavija po otnošeniju k dvorjanstvu Belorussii v konce XVIII – pervoj polovine XIX vv., Minsk 1997, S. 29.



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niemals eine Adelsurkunde besessen hatten, da sie auf undurchsichtigen Wegen zu ihrem Adelstitel gekommen waren. Es gab aber auch Fälle, in denen Adlige die notwendigen Urkunden nicht beibringen konnten, da der Magnat, auf dessen Grund und Boden sie lebten und von dem sie abhängig waren, sie genötigt hatte, ihm diese Dokumente auszuhändigen.147 Ein weiteres formales Hindernis stellten die Kosten des Verfahrens dar. Sämtliche Dokumente waren auf offiziellem Stempelpapier einzureichen. Mittellosen Adligen fiel es schwer, die dafür anfallenden Kosten von einem Rubel zu entrichten. Erst 1835 lockerte die zarische Regierung diese Bedingung.148 Immerhin wurde die Frage der Steuerpflicht im Sinne des polnischen Adels geregelt. Am 17. August 1800 revidierte der Senat seine Entscheidung, die er vier Monate zuvor im Fall der beiden weißrussischen Adligen getroffen hatte. Er gestattete allen Adligen, die ihren Adelsnachweis noch beizubringen hatten, ihre adligen Privilegien bis zur endgültigen Klärung ihres Status zu behalten.149 Dies stellte für den Adel der Westgouvernements eine deutliche Verbesserung dar. Die alte Regelung hatte der Szlachta pauschal unterstellt, ihren Adelstitel zu Unrecht zu führen und erkannte alle Privilegien bis zum Beweis des Gegenteils ab. Das neue Gesetz beließ den Adligen ihre ständischen Rechte bis zum Abschluss der Überprüfung. Eine solche Regelung konnte naturgemäß nur befristet gelten, da andernfalls die Gefahr bestand, dass Adlige ohne Nachweis das Verfahren bewusst verschleppten und auf diese Weise ihre – aus staatlicher Sicht – unrechtmäßigen Privilegien weiterhin in Anspruch nahmen. Der Senat setzte deshalb zugleich eine Frist fest, innerhalb derer der gesamte Adel der Westgouvernements zu überprüfen war. Innerhalb eines Zeitraumes von zwei Jahren sollten die rund 218.000 Adligen der Gouvernements Kurland, Litauen, Weißrussland, Minsk, Wolhynien, Podolien und Kiew ihren Adelsnachweis erbracht haben. Die Frist begann am 1. Januar 1801 und endete am 31. Dezember 1802. Sie war die logische Folge einer Regelung, die dem Adel Rechtssicherheit brachte und seine Lage während des Verifikationsverfahrens verbesserte. Gleichzeitig setzte die Fristsetzung alle Beteiligten unter Druck. Die Adligen mussten sich nun intensiv um ihre Papiere kümmern, da sie andernfalls den Verlust ihrer Privilegien zum festgesetzten Stichtag riskierten. Gleichzeitig mussten die Behörden die anstehenden Verfahren zu einem schnellen Abschluss bringen, wenn sie dem ausdrücklichen Willen des Monarchen folgen und sich nicht dessen Unwillen zuziehen wollten. 147 So war zum Beispiel Graf Dubin im Gouvernement Podolien vorgegangen, vgl. Beauvois: Pouvoir russe, S. 74. 148 Senatsukas vom 24.5.1835, in: Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj Imperii s 1649 goda, Reihe II, 55 Bde., St. Petersburg 1830–1885 (im Folgenden: PSZ II), Bd. 10,1, Nr. 8.159, S. 451–452. 149 Ukas des Senats vom 17.8.1800, in: Nacional’nyj istoričeskij archiv Belarusi (im Folgenden NIAB) f. 319, op. 1, d. 8, l. 253.

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Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Paul I. in der zarischen Politik gegenüber dem Adel in den Westgouvernements zwei wichtige Weichen stellte: Zum einen machte er den Staat zu einem machtvollen Akteur im Verfahren der Adelsüberprüfung; zum anderen gewährte er selbst den Adligen, die ihre Standeszugehörigkeit noch nicht nachgewiesen hatten, das adlige Privileg der Steuerfreiheit. Insgesamt fehlte der Adelspolitik Pauls damit eine klare Linie. Die Gesetzgebung seiner knapp fünfjährigen Herrschaft erscheint sprunghaft und improvisiert. Er begnadigte die Aufständischen von 1794, beschnitt anschließend die korporativen Rechte des polnischen Adels und gewährte der Szlachta letztlich – wenn auch befristet – pauschal die Steuerfreiheit. Katharinas II. Politik folgte dagegen klaren Prioritäten und wirkte deshalb trotz des Widerspruches zwischen Kooptationspolitik und Staatsausbau wie aus einem Guss. Ihrem Sohn scheint hingegen ein politischer Kompass gefehlt zu haben. Die Widersprüche, die der politischen Weichenstellung Katharinas innewohnten, kamen deshalb erst in der Gesetzgebung Pauls voll zum Tragen.

3. Aufbruch und Enttäuschung: Ausweitung der Elitenkooptation versus polnische Hoffnungen auf Eigenstaatlichkeit unter Alexander I. (1801–1825) 3.1. Das Provisorium als Dauerzustand: Die Stagnation der Adelsrevision Paul I. wurde durch einen Staatsstreich gestürzt. Mit Wissen seines ältesten Sohnes Alexander drangen die Verschwörer aus dem Hochadel und dem Offizierskorps in der Nacht vom 11. auf den 12. März 1801 in das Schlafgemach des Zaren im Michaelsschloss ein. Der genaue Ablauf der Ermordung Pauls ist unklar. Die Verschwörer behaupteten, der Zar habe sich geweigert, die Abdankungsurkunde zu unterschreiben. Daraufhin sei es zu einem Handgemenge gekommen, bei dem Paul schließlich getötet wurde. Es spricht allerdings vieles dafür, dass die Ermordung Pauls von Beginn an geplant war, da nur so die Herrschaft Alexanders unumstößlich erschien. Alexander war in die Staatsstreichpläne eingeweiht, doch angeblich ging er davon aus, dass sein Vater dabei nicht zu Tode kommen würde. Inwieweit Alexander tatsächlich an die freiwillige Abdankung Pauls glaubte, muss dahingestellt bleiben. Fest steht, dass sowohl Alexander als auch die gesamte Zarenfamilie die Nachricht vom Tode Pauls mit Bestürzung aufgenommen haben.150 150 Eine ausführliche Schilderung der Mordnacht findet sich in: Die Ermordung des Kaisers Paul I. von Rußland am 23. März 1801, in: Historische Zeitschrift 3 (1860), S. 133–168, hier 156–161; Šil’der: Imperator Pavel Pervyj, S. 477–498; Constantine de Grünwald: L’Assassinat de Paul Ier



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Die Gründe für den gewaltsamen Staatsstreich sind vielfältig. Neben manch fragwürdiger außenpolitischer Entscheidung Pauls stand vor allem seine Adelspolitik in der Kritik. Erstmals wurde der russische Adel besteuert und verlor damit ein zentrales Standesprivileg. Auch hatte Paul den staatlichen Zugriff auf die Gesellschaft erhöht, was in einer als übertrieben empfundenen Kleiderordnung paradigmatisch zum Ausdruck kam. Und schließlich hatte er versucht, die Dienstbefreiung, die Peter III. 1762 proklamiert hatte, wieder rückgängig zu machen und schleichend eine abermalige Dienstpflicht des Adels einzuführen.151 Als Alexander seinem Vater im Alter von 23 Jahren auf den Thron folgte, war ihm bewusst, dass von ihm eine andere Adelspolitik erwartet wurde. Eine seiner ersten Handlungen als Monarch war denn auch ein Manifest, das die Gültigkeit der Adelsurkunde von 1785 von neuem in vollem Umfang bekräftigte.152 Gegenüber der Szlachta setzte Alexander I. jedoch auf Kontinuität zur Politik seines Vaters. So blieb der Staat weiterhin die letztentscheidende Instanz bei der Adelsüberprüfung. Ein Senatsukas vom 18. Januar 1804 bestätigte die Gesetzgebung Pauls: Im Anschluss an die Feststellung der Adligkeit durch die Adelsdeputiertenversammlung sowie an den Eintrag in das Adelsbuch musste das Heroldsamt die Entscheidung der lokalen Selbstverwaltungsorgane bestätigen. Ohne diese staatliche Anerkennung stünden den Adligen keine Privilegien zu.153 Indem sich Alexander I. dazu entschloss, die politische Linie seines Vaters gegenüber dem polnischen Adel fortzusetzen, sah er sich mit zwei ungelösten Problemen konfrontiert, die aus ebendieser Politik resultierten. Erstens wurden seit dem Ukas vom 17. August 1800 alle Adligen, die ihre Adelsnachweise noch beizubringen hatten, dem Adelsstand zugerechnet. Zweitens endete am 31. Dezember 1802 jene Frist, innerhalb derer der gesamte Adel der Westgouvernements überprüft werden sollte. Pauls Vorstellung, die Überprüfung des Adels mithilfe eines in St. Petersburg festgelegten Termins beschleunigen oder gar zu einem Abschluss bringen zu können, erwies sich als Trugschluss. Stattdessen drängten die Gouvernementsregierungen der polnischen Provinzen darauf, die staatlich vorgegebene Frist zu verlängern. Der Senat kam dieser Bitte nach und setzte den 1. Januar 1804 als neuen tsar de Russie, Paris 1960. Auch jüngere Darstellungen folgen dieser Sichtweise, vgl. Roderick E. McGrew: Paul I of Russia 1754–1801, Oxford 1992, S. 349–354. 151 Ein Überblick auf neuestem Forschungsstand zum Sturz Pauls und den Gründen für den Staatsstreich findet sich bei: Stadelmann: Die Romanovs, S. 135–144. Siehe auch McGrew: Paul I of Russia, S. 323–342. 152 Manifest Alexanders I. vom 2.4.1801, in: PSZ I, Bd. 26, Nr. 19.810, S. 601–602. Einige von der Adelsurkunde abweichende Regelungen, die unter Paul I. getroffen wurden, setzte der Senat anschließend jedoch wieder in Kraft, vgl. den vom Zaren bestätigten Bericht des Senats vom 5.5.1801, in: PSZ I, Bd. 26, Nr. 19.856, S. 622–625. 153 Senatsukas vom 18.1.1804, in: PSZ I, Bd. 28, Nr. 21.130, S. 21–22.

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Stichtag fest.154 Die Adelsrevision kam jedoch auch in diesem Jahr kaum voran. So wurde die Frist im März 1804 und ein weiteres Mal im März 1806 jeweils um zwei Jahre verlängert.155 Als im Jahre 1808 die Adelsrevision nach wie vor keine nennenswerten Fortschritte gemacht hatte, verlängerte Alexander I. die Frist erneut: dieses Mal allerdings auf unbestimmte Zeit.156 Entscheidend für die faktische Aufhebung der Frist waren die Schwierigkeiten, die zahlreiche Adlige bei der Beibringung eines Adelsnachweises hatten. Immer wieder erreichten die staatlichen Behörden Eingaben, in denen Adlige den Verlust von Dokumenten durch Aufstände und Brände beklagten. Andere wiesen darauf hin, dass sich ihre Adelsurkunden durch die Teilungen Polens nun in ausländischen Archiven befänden.157 Der litauische Adel wiederum stand vor dem Problem, dass er seine Adelsprivilegien vor der polnisch-litauischen Union von 1569 erhalten hatte und viele Adlige nicht mehr nachvollziehen konnten, in welche Archive die entsprechenden Urkunden im Zuge der Vereinigung mit Polen gelangt waren.158 Indem Alexander I. die Frist für die Adelsrevision aussetzte, befreite er alle Beteiligten aus einem Zeitkorsett, das viel zu eng geschnürt gewesen war. Allerdings hatte Paul I. ursprünglich einen Stichtag gesetzt, um die Gültigkeit adliger Privilegien in Fällen fehlender Adelsnachweise zeitlich zu beschränken. Die Entscheidung Alexanders eröffnete den Adligen ohne Adelsnachweis nun die Möglichkeit, sich einer Überprüfung zu entziehen und auf diese Weise den Adelsstatus zu wahren, denn die „Adelsvermutung“ behielt ihre Gültigkeit. Diese Adligen befanden sich zwar in einer prekären Situation, doch konnten sie sich mit ihrer Lage arrangieren, zumindest so lange sie kein Wahlamt anstrebten. Die Bewerbung um ein Amt in der lokalen Selbstverwaltung blieb ihnen de facto verwehrt, da der Generalgouverneur vor der Amtsübergabe einen Adelsnachweis verlangte. Auch diejenigen Adligen, die in den Militärdienst eintraten, mussten dem Heroldsamt ihre Adelsurkunde vorlegen. Solchen Adligen blieb also ein gesellschaftlicher Aufstieg verwehrt, denn sie mussten jeden Kontakt mit staatlichen Behörden meiden, um ihren sozialen Status zu wahren. Auch etwaige Rechtshändel bargen für Edelleute ohne Adelsnachweis Gefahren. Als das Gericht das Strafmaß für Adam Szuszkowski, der des dreifachen Mordes angeklagt war, festlegen wollte, stand es vor der Frage, ob der Angeklagte als einfacher Mann oder als Adliger zu richten sei. Szuszkowski behauptete von sich, 154 Senatsukas vom 13.3.1803, in: RGIA f. 1341, op. 1, d. 346a, l. 64–65. 155 Senatsukas vom 10.3.1804, in: RGIA f. 1341, op. 1, d. 346a, l. 172; Senatsukas vom 12.3.1806, in: RGIA f. 1341, op. 7, d. 430, l. 135. 156 Namentlicher Ukas Alexanders I. vom 6.3.1808, in: PSZ I, Bd. 30, Nr. 22.873, S. 111. 157 Vgl. Lugovcova: Politika Rossijsskogo samoderžavija, S. 29. 158 Bericht des Wilnaer Gouvernementsmarschalls an den Innenminister Kočubej vom 30.5.1803, in: LVIA f. 391, op. 6, d. 23, l. 41ob.-44ob., hier 42–42ob.



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Angehöriger der Szlachta zu sein, konnte dafür jedoch keinerlei Beweise vorlegen. Deshalb entschieden der Justizminister und der Senat, dass der Angeklagte nicht als Adliger zu behandeln sei, da seine vermeintliche Hochwohlgeborenheit lediglich auf seiner eigenen Aussage beruhte.159 Alexander I. hat die Adelsüberprüfung also weder offiziell beendet noch formal eingestellt. Indem er jedoch die durch Paul I. eingeführte Frist aussetzte, nahm er von Adligen und Behörden den Druck, das Verfahren baldmöglichst abzuschließen. Infolgedessen stagnierte die Adelsrevision, und niemand fühlte sich dafür zuständig, sie wieder in Gang zu setzen. Nur das Finanzministerium hatte noch ein Interesse daran, den polnischen Adel möglichst schnell zu überprüfen, da davon auszugehen war, dass zahlreiche Kleinadlige in die steuerpflichtigen Stände eingeschrieben würden.160 Indem Alexander I. die Gnadenurkunde Katharinas II. in vollem Umfang wieder in Kraft setzte, legte er die Adelsrevision auch wieder vollständig in die Hände des Adels. Die ständischen Selbstverwaltungsorgane gaben allerdings noch nicht einmal Informationen an die staatlichen Institutionen weiter. So befand sich die Regierung in St. Petersburg über den Fortschritt der Adelsverifikation weitgehend im Unklaren. Am 13. März 1803 forderte der Senat aus allen Westgouvernements einen Bericht über den Stand der Adelsrevision an. Von den vier weißrussischen Gouvernements legten Minsk und Vitebsk daraufhin mehr oder weniger ausführliche Berichte vor. Aus Wilna und Grodno kamen hingegen überhaupt keine Resultate.161 Auch die gesetzliche Bestimmung, dass jedes Gouvernement eine Kopie des Adelsbuches an das Heroldsamt zu schicken habe, wurde in der Praxis kaum erfüllt. Der Senat musste 1813 feststellen, dass von den Westgouvernements allein die Behörden in Kiew dieser Pflicht nachgekommen waren: und selbst diese nur in den Jahren 1800 und 1801.162 15 Jahre später hatte sich an dieser Praxis nichts geändert. So hatte die Adelsdeputiertenversammlung in Wolhynien zwar über all die Jahre Adelsnachweise ausgestellt, jedoch bis 1829 kein Adelsbuch geführt, dessen Kopie sie dem Heroldsamt hätte vorlegen können.163 Da es der zarischen Regierung nicht gelang, sich einen Überblick über den Stand des Verfahrens zu verschaffen, hatte sie auch keine Möglichkeiten, die Ent159 Senatsukas vom 5.8.1815, in: PSZ I, Bd. 33, Nr. 25.917, S. 260–261. 160 Vgl. den Senatsukas vom 25.8.1817, in: PSZ I, Bd. 34, Nr. 27.014, S. 493–494, der auf Initiative des Finanzministers zustande gekommen war und von den Gouvernementsbehörden eine zügige Durchführung der Adelsverifizierung forderte. 161 Vgl. Galina N. Tumilovič: Dvorjanstvo Belorussii v konce XVIII – pervoj polovine XIX v., kand. diss., Minsk 1995, S. 114f. 162 Ukas des Senats vom 27.4.1813, in: PSZ I, Bd. 32, Nr. 25.376, S. 558–559. 163 Vgl. N. K. Imeretinskij: Dvorjanstvo volynskoj gubernii, in: Žurnal ministerstva narodnago prosveščenija 1893, Nr. 8, S. 343–368 (Teil 1) und ebd. 1894, Nr. 4, S. 326–372 (Teil 2), hier Teil 1, S. 359f.

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scheidungen der lokalen Organe zu kontrollieren. Die praktische Umsetzung der Adelsrevision entzog sich weitgehend der Kenntnis und damit auch dem Einfluss der zentralen Behörden. Selbst bei Beschwerden konnten der Senat in St. Petersburg oder das Hauptgericht in der Gouvernementsstadt häufig keine Entscheidung fällen, da man sich kein Bild von den Vorgängen in der Provinz machen konnte. Oft blieb nur die Wahl, eine Untersuchungskommission einzusetzen, welche die Lage vor Ort in näheren Augenschein nahm, oder den Fall an die lokalen Behörden zurück zu überweisen.164 Der mangelnde Einfluss der zarischen Regierung wird unter anderem daran deutlich, dass sich der lokale Adel dem staatlichen Zugriff weitgehend entzog und die Schwäche der Staatsgewalt gezielt ausnutzte. So siedelten Kleinbürger, Bauern und andere Personen nichtadliger Abstammung aus dem übrigen Imperium in die polnischen Provinzen über und stellten dort einen Antrag auf Aufnahme in den Adel. Da in den Westgouvernements die Angehörigen des Adels, die sich gerade im Verifikationsverfahren befanden, bis zum Abschluss ihrer Überprüfung weder Kopfsteuer zahlen noch Militärdienst leisten mussten, kamen die Antragsteller unmittelbar in den Genuss der adligen Privilegien und behielten diese wenigstens so lange, bis ihr Ansinnen abgelehnt worden war. Da sich dieses Verfahren in der Regel über Jahre hinzog, war dies eine Erfolg versprechende Möglichkeit, sich zumindest befristet dem fiskalischen Zugriff des Staates sowie dem Militärdienst zu entziehen. Sogar Deserteure der zarischen Armee ließen sich in den Westgouvernements unter falschem Namen als „Zinsadel“ nieder, um auf diese Weise einer Strafverfolgung zu entgehen.165 Dieses Phänomen erreichte offenbar solche Ausmaße, dass der Senat 1817 beschloss, die anstehende Revision dazu zu nutzen, der Flüchtlinge habhaft zu werden. Ein Vergleich mit den Listen der letzten Revision sollte darüber Aufschluss geben, welche Adligen tatsächlich dem angestammten „Zinsadel“ angehörten.166 Die fehlenden Kontrollmöglichkeiten der Staatsgewalt und die Schwierigkeiten der Szlachta, die erforderlichen Adelsnachweise beizubringen, führten schließlich dazu, dass der Adel vor Ort die Dinge pragmatisch und nach eigenen Vorstellungen regelte. Die Adelsdeputiertenversammlung in Wolhynien stellte zum Beispiel auch dann einen Adelsnachweis aus, wenn der Antragsteller anstelle der gesetzlich erforderlichen Nachweise seine Adligkeit durch zwölf andere Edelleute bezeugen lassen konnte. Dieses eigenmächtige Abweichen von der Gesetzeslage erleichterte das Verfahren für den Adel erheblich. Am Ende erhielten beinahe alle

164 Vgl. Tumilovič: Dvorjanstvo Belorussii, S. 115. 165 Senatsukas vom 20. Januar 1816, in: PSZ I, Bd. 33, Nr. 26.108, S. 465–467. 166 Senatsukas vom 23. August 1817, in: PSZ I, Bd. 34, Nr. 27.014, S. 493–494.



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Adligen, die in Wolhynien überprüft wurden, einen Eintrag in das Adelsbuch.167 Nicht nur verarmten Adligen bot diese Vorgehensweise die Möglichkeit, die Adelsüberprüfung erfolgreich zu absolvieren. Auch längst deklassierte Adlige oder Personen nichtadliger Herkunft konnten in den Adel aufsteigen. So wurde beispielsweise im Gouvernement Mogilëv der Bauer Fadej Braczkowski im Jahr 1815 in den Adelsstand aufgenommen, da der Adlige Pavel Spugov vor der Adelsdeputiertenversammlung dessen angebliche adlige Abstammung bestätigt hatte.168 Nicht überall ergriffen Magnaten Partei für den Kleinadel. Es gab auch Gutsbesitzer, welche die Deklassierung des besitzlosen Kleinadels aktiv vorantrieben. Die Reformkräfte der späten Adelsrepublik hatten eine Konsolidierung des Adels befürwortet und stimmten den Zielen einer Adelsrevision grundsätzlich zu. Zur politischen Überzeugung kamen wirtschaftliche Nützlichkeitserwägungen: Eine Herabstufung der ökonomisch abhängigen Kleinadligen zu Bauern erhöhte die rechtlichen Zugriffsmöglichkeiten der Gutsbesitzer.169 Die Mehrheit der vermögenden Adligen betrachtete die Deklassierung ihrer verarmten Standesgenossen allerdings eher gleichgültig.170 In St. Petersburg erfuhr man häufig spät oder gar nichts von den Vorgängen in der Provinz. Die Praxis der Adelsdeputiertenversammlung in Wolhynien blieb zum Beispiel deshalb lange unbemerkt, weil über all die Jahre einfach keine Kopie des Adelsbuches an das Heroldsamt gesandt wurde. Während die zarische Regierung also weitgehend im Unklaren über den Gang der Adelsrevision war, führte der Adel vor Ort die Selbstüberprüfung nach eigenem Gutdünken durch. Überprüfungen durch das Heroldsamt ergaben häufig, dass der vorgelegte Adelsnachweis unvollständig war. Infolgedessen verweigerte das Heroldsamt die erforderliche Bestätigung. Nur selten stimmte die Entscheidung des Heroldsamtes mit derjenigen der Adelsdeputiertenversammlung überein. In den Jahren vor 1825 bestätigte das Heroldsamt im Durchschnitt nur ein bis zwei Adelsnachweise, welche die Adelsdeputiertenversammlung des Gouvernements Wolhynien ausgestellt hatte. Eine lokale Praxis, die in einem derart eklatanten Widerspruch zu den gesetzlichen Normen der Staatsgewalt stand, führte unweigerlich zu scharfer Kritik durch die zarische Regierung. Man warf der Adelsdeputiertenversammlung von Wolhynien vor, die Adelsüberprüfung nicht gesetzesmäßig durchzuführen. Es sei durch167 Vgl. N. K. Imeretinskij: Dvorjanstvo volynskoj gubernii, in: Žurnal Ministerstva Narodnago Prosvěščenija 1893, Nr. 8, S. 343–368 und ebd. 1894, Nr. 4, S. 326–372, hier Nr. 8, S. 355ff. 168 Vgl. Schreiben des Innenministers an den Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv, Smolensk und Minsk vom 17.6.1828, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 2768, l. 1–2; Schreiben des Gouvernementsstaatsanwaltes an den Gouverneur von Mogilëv vom 18.12.1829, in: ebd., l. 41. 169 Vgl. Rychlikowa: Deklasacja drobnej szlachty polskiej, S. 129ff.; Sikorska-Kulesza: Deklasacja drobnej szlachty, S. 88–91. 170 So der zeitgenössische Eindruck von Bobrowski: Pamiętnik mojego życia, Bd. 1, S. 78f.

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aus bekannt, dass es sich bei den falschen Adelsnachweisen nicht um Einzelfälle handele, sondern dass sich in anderen Gouvernements ebenfalls Missstände eingeschlichen hätten. Auch andernorts würden zahlreiche Personen in den Adelsstand aufgenommen, die von Rechts wegen keinen Anspruch darauf hätten.171 Die Adelsüberprüfung war offenbar gescheitert. Im Gouvernement Kiew hatten zwischen 1802 und 1810 rund die Hälfte der 43.597 dort ansässigen Adligen ihre Papiere für eine Überprüfung eingereicht. Nur in acht Fällen entschied die Adelsdeputiertenversammlung negativ und schloss den Antragsteller aus dem Adel aus. 1.443 wurden dazu aufgefordert, weitere Dokumente nachzureichen. 16.814 Anträge, also rund drei Viertel, waren noch überhaupt nicht bearbeitet worden.172 Immerhin die Hälfte der Adligen war demzufolge bereit, sich einer Überprüfung zu unterziehen, die verfügbaren Dokumente zusammenzustellen und bei der Adelsdeputiertenversammlung einzureichen. Die Zahlen zeigen aber auch, dass die Deputierten mit dieser Flut von Anträgen heillos überfordert waren. Außerdem wurden die wenigsten Antragsteller aus dem Adelsstand ausgeschlossen. Das Resultat einer derart großzügigen Anerkennung von Adelsnachweisen widersprach der ursprünglichen Intention der Regierung, die Szlachta in den Westgouvernements merklich zu verringern. In den weißrussischen Gouvernements war die Zahl der polnischen Adligen sogar leicht angestiegen!173 Es lag allerdings nicht nur am Adel, dass die Adelsrevision deutlich langsamer voranschritt, als die zarische Regierung wünschte. Ein wesentlicher Grund für den schleppenden Fortgang ist auch bei den Amtsträgern vor Ort zu suchen. Die langsame Bearbeitung der Anträge und die mangelnde Koordination lokaler und zentraler Stellen zogen die einzelnen Verfahren erheblich in die Länge. Aus allen Westgouvernements trafen Beschwerden über die Langsamkeit der örtlichen Organe in der Hauptstadt ein. Im Gouvernement Minsk hatte zum Beispiel die Adelsversammlung den Antrag des Adligen Kotelnicki ein ganzes Jahr lang liegen lassen. In Wilna sagte man dem zuständigen Beamten nach, er entscheide über die Anträge der Adligen völlig willkürlich und nach eigenem Gutdünken. Wiederholt wurden auch Vorwürfe gegenüber Amtsträgern erhoben, die Akten mit nach Hause nähmen und nicht wieder zurückbrächten.174

171 Vgl. Imeretinskij: Dvorjanstvo volynskoj gubernii, Teil 1, S. 358 und 362. 172 Vgl. Beauvois: Pouvoir russe, S. 83. 173 Vgl. Tumilovič: Dvorjanstvo Belarussii, S.  116. Ein Gesetz von 1816 bezifferte die Zahl des „Zinsadels“, der kein regelmäßiges Einkommen habe und keine Kopfsteuer zahle, in den Westgouvernements auf mehr als 200.000 Männer, vgl. Senatsukas vom 20.1.1816, in: PSZ I, Bd. 33, Nr. 26.108, S. 465–467, hier 465. Siehe dazu auch V. Nezabitovskij: Zamečanija po voprosu o činševom vladenii v Zapadnych gubernijach, Kiew 1883, S. 85. 174 Vgl. Lugovcova: Politika rossijskogo samoderžavija, S. 29f.



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Alexander I. erbte die Ergebnisse der Politik seines Vaters und entwickelte keine eigene adelspolitische Idee: Weder wurde das Konzept einer Adelsrevision verworfen, noch dessen Realisierung mit Nachdruck verfolgt. Stattdessen verwaltete er die daraus resultierenden Probleme und reichte sie ungelöst an seinen Nachfolger weiter. Da sich die Beteiligten jedoch in diesem Zustand der Stagnation eingerichtet hatten, war nicht abzusehen, wie das Verfahren wieder in Gang zu bringen war.

3.2. Im Dienste des Zaren für Polen? Die Reichskarrieren polnischer Adliger in St. Petersburg und die Frage nach den Grenzen eines künftigen polnischen Staates Alexander I. gilt als derjenige Zar, der am stärksten auf eine Kooperation mit dem polnischen Adel setzte und der dessen Forderungen nach Autonomie am weitesten entgegenkam. Schon unmittelbar nach seiner Thronbesteigung signalisierte er der Szlachta, dass er ihr sehr viel mehr Eigenständigkeit zugestehen würde als sein Vorgänger. So begründete er 1802 den „Schuldistrikt Wilna“, der von seinem Jugendfreund Adam Jerzy Czartoryski als Kurator geleitet wurde. Die Bildungseinrichtungen in diesem Schuldistrikt waren vollständig autonom. Die Rektoren und Lehrer waren Polen, die Unterrichtssprache war Polnisch und die Schulbücher ebenfalls auf Polnisch verfasst.175 Darüber hinaus behielt Alexander I. die Wählbarkeit zahlreicher lokaler Ämter bei. Damit blieben auch das Gerichtswesen und die lokale Verwaltung der Westgouvernements in den Händen des polnischen Adels. Den Widerspruch zwischen Kooptationspolitik und Staatsausbau versuchte Alexander I. aufzulösen, indem er der Kooptation des polnischen Adels einen klaren Vorrang einräumte. Seine Präferenz schlug sich allerdings weniger in den Westgouvernements nieder, wo er die Zügel bei der Adelsverifikation weitgehend schleifen ließ. Eine aktive Politik der Elitenkooptation betrieb Alexander hingegen in St. Petersburg, wo zahlreiche polnische Adlige am Zarenhof Karriere machten und bis in die höchsten Regierungsämter aufstiegen. Etliche Reichskarrieren polnischer Adliger aus den Westgouvernements hatten bereits vor der Thronbesteigung Alexanders I. begonnen.176 Nach der dritten Tei175 Vgl. dazu Daniel Beauvois: Lumières et société en Europe de l’Est. L’Université de Vilna et les écoles polonaises de l’Empire russe (1804–1832), 2 Bde., Lille 1977; Jan Kusber: Eliten- und Volksbildung im Zarenreich während des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Studien zu Diskurs, Gesetzgebung und Umsetzung, Wiesbaden 2004, S. 293–296. 176 Vom Zeitpunkt der ersten Teilung an traten polnische Adlige in den russischen Dienst beim Militär oder am Hofe in St. Petersburg, vgl. Czubaty: Zasada „dwóch sumień“, S. 232.

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lung Polens waren viele Magnaten nach St. Petersburg gereist, um die von Katharina II. vorgenommenen Konfiskationen ihrer Güter ganz oder teilweise wieder rückgängig zu machen. Einige von ihnen traten im Gegenzug in den russischen Dienst ein, darunter Mitglieder bedeutender polnischer Adelsgeschlechter wie der Poniatowskis, Radziwiłłs, Potockis und der Czartoryskis. Anhänger der prorussischen Konföderation von Targowica traten nach den Teilungen ebenfalls in den russischen Dienst, darunter auch Angehörige namhafter Familien wie der Branickis oder die Rzewuskis.177 Doch war es keinem Adligen aus den Westgouvernements in den wenigen Jahren vor Katharinas II. Tod gelungen, auf einen politisch einflussreichen Posten zu gelangen. Dies änderte sich bereits in der kurzen Herrschaft Pauls I. Schon bei seiner Krönung in Moskau im Jahr 1797 war eine illustre Zahl polnischer Adliger anwesend, nicht zuletzt der ehemalige König Stanisław August Poniatowski. In allen Provinzen des Reiches, auch in den Westgouvernements, hatten die Adelsversammlungen vorab Delegierte gewählt. Jeder Kreis war dazu aufgefordert, einen verdienten Repräsentanten auszuwählen und zu den Krönungsfeierlichkeiten nach Moskau zu entsenden.178 Stanisław Poniatowski und andere polnische Adlige gehörten ferner zu den politischen Beratern des Zaren. So hatte Józef August Iliński beispielsweise einen gewichtigen Anteil an der Entscheidung Pauls, nach seiner Machtübernahme Kościuszko und die anderen Teilnehmer des Aufstandes von 1794 freizulassen.179 Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde St. Petersburg zu einem wichtigen Ort der polnischen Aristokratie. Unter Alexander I. stieg die Bereitschaft der Szlachta zur Mitgestaltung der Politik des Zarenreiches, und es mehrten sich die Stimmen, die öffentlich für ein Einvernehmen mit der russischen Teilungsmacht warben.180 In dieser Zeit stiegen auch zahlreiche Adlige aus den Westgouvernements bis in höchste Regierungsämter auf und gewannen erheblichen Einfluss auf die zarische Politik. Einer der engsten Ratgeber bei der Bildungsreform Alexanders wurde Seweryn Potocki, der seit 1803 Kurator im Schuldistrikt Char’kov war und seit 1805 der Universität Char’kov vorstand, deren Gründung von ihm maßgeblich vorangetriebenen worden war. 1824 wurde Potocki Mitglied des Reichsrates. Nach dem Tode Alexanders bekleidete er noch eine Reihe von diplomatischen Posten im Ausland: Von 1828 bis 1833 war er außerordentlicher Botschafter Russlands in Lissabon, danach Botschafter in Stockholm und Neapel.181 Die Potockis 177 Vgl. Bazylow: Polacy w Petersburgu, S. 53. 178 Bekanntmachung des Generalgouverneurs von Livland, Estland und Litauen vom 2.1.1797, in: LVIA f. 378 o/o, op. 1797, d. 9, l. 44–44ob. Zur Krönungszeremonie vgl. Wortman: Scenarios of Power, S. 171–181. 179 Vgl. Bazylow : Polacy w Petersburgu, S. 53f. und 57. 180 Vgl. Czubaty: Zasada „dwóch sumień“, S. 396f. und 400–404. 181 Vgl. Bazylow: Polacy w Petersburgu, S. 69f.; Kusber: Eliten- und Volksbildung, S. 289–294.



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hatten weitläufige Güter in Wolhynien, und auch der jüngere Bruder Seweryns, Jan Potocki, machte in der russischen Hauptstadt Karriere. Er war Slawist und Orientalist und verfocht eine panslawistische Politik unter der Führung der Großmacht Russland. Als Kaukasusspezialist leitete er eine Abteilung für Asiatische Angelegenheiten im Außenministerium und gestaltete die Kaukasuspolitik des Zarenreiches maßgeblich mit.182 Alexander I. setzte auch in den Westgouvernements polnische Adlige an zentralen Schaltstellen der Politik ein. Eine besondere Bedeutung erlangte Michał Kleofas Ogiński. Er steht exemplarisch für viele polnische Magnaten, die am Ende der Adelsrepublik zur prorussischen Reformpartei des Königs gehörten und nach den Teilungen Polens im Zarenreich politisch weiterwirkten. Ogiński war Mitglied jener Reichstagsdelegation, die seit 1789 eine Verfassung ausarbeitete, sowie polnischer Gesandter in Den Haag und London. 1794 nahm er am KościuszkoAufstand teil. Seine Güter wurden konfisziert und er lebte zunächst im Exil in Wien. 1802 konnte er auf Vermittlung Adam Czartoryskis, des engsten politischen Vertrauten Alexanders aus den polnischen Provinzen, in seine Heimat zurückkehren. Er schwor dem Zaren die Treue und wurde im Jahr 1810 Mitglied des Senats in St. Petersburg.183 1811 entwickelte er den Plan eines autonomen Großfürstentums Litauen, das in den Jahren der französisch-russischen Rivalität um Polen ein Gegenentwurf zum Herzogtum Warschau bildete. Das Großfürstentum sollte in Personalunion mit Russland regiert werden, jedoch eine eigene Armee, eigene Gesetze und Institutionen haben. Ogiński ging also von einer grundsätzlichen Vereinbarkeit von russischen und polnischen Interessen aus.184 Als die Westgouvernements nicht Bestandteil des 1815 gegründeten Königreichs Polens wurden, legte er enttäuscht alle Staatsämter nieder und zog sich ins Privatleben zurück. Für die Bildungspolitik war Tadeusz Czacki ähnlich bedeutend wie Seweryn Potocki. Czacki hatte als Vertreter des Kiewer Adels an der Krönungszeremonie Alexanders I. teilgenommen und wurde im Jahr 1803 Schulinspektor für Kiew, Wolhynien und Podolien. 1805 initiierte er die Gründung des Lyzeums in Krzemieniec und leitete dieses fortan als Direktor. In dieser auch „Athen Wolhyniens“ genannten höheren Bildungseinrichtung wurde eine ganze Generation des polni182 Vgl. Jerzy Skowronek: Jean Potocki: Politicien éclairé et conservateur, in: Cahiers de Varsovie 3 (1974), S. 39–49, hier 40f.; Daniel Beauvois: U źródeł Panslawizmu. Polskie Oświecenie i Słowiańszczyzna (1795–1820), in: Revue des Études slaves 1–2 (1978), S. 33–42, hier 35f; ders.: Le „Système Asiatique“ de Jean Potocki ou le rêve oriental dans les Empires d’Alexandre I et de Napoléon 1806–1808, in: Cahiers du monde russe et soviétique 20 (1979), S. 467–485. 183 Vgl. Andrzej Zaluski: The Times and Music of Michal Kleofas Oginski (1765–1833), London 1997, S.21–115. 184 Vgl. Zamoyski: Last King of Poland, S. 319 und 327; Thaden: Russia’s Western Borderlands, S. 64. Auf Ogińskis Memorandum wird im weiteren Verlauf dieses Teilkapitels noch näher einzugehen sein.

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schen Adels ausgebildet. Allerdings gelang es Czacki nicht, ein weiteres polnisches Gymnasium in Kiew zu gründen.185 Diese wenigen Beispiele zeigen, dass es unter Alexander I. einer ganzen Reihe von Adligen aus den Westgouvernements gelang, in staatliche Spitzenpositionen aufzusteigen. Es verrichteten aber auch zahlreiche polnische Adlige auf mittleren und niederen Stellen ihren Dienst in der russischen Hauptstadt. Eine Erhebung aus dem Jahr 1831 ergab, dass insgesamt 1.080 Polen aus den Westgouvernements in Ministerien und staatlichen Behörden in St. Petersburg dienten.186 So arbeitete zum Beispiel ein gewisser Rudzki seit 23 Jahren als Sekretär in der Erziehungskommission.187 Und der aus Wilna stammende Franc Malewski war in der 11. Abteilung der Persönlichen Kanzlei Seiner Majestät angestellt, die unter der Leitung Michail Speranskijs ein neues Gesetzbuch für das Russische Reich zusammenstellte.188 Mit der Gründung des Königreichs Polen auf dem Wiener Kongress von 1815 eröffneten sich auch in Warschau Beamtenlaufbahnen. Zahlreiche Adlige aus den Westgouvernements gingen in die Hauptstadt des Königreichs und machten dort einen erheblichen Anteil der ortsfremden Beamten aus.189 Unter allen polnischen Reichskarrieren im Russischen Reich ragt jedoch zweifellos der Werdegang von Adam Jerzy Czartoryski heraus. Der Sohn eines Magnaten mit ausgedehnten Ländereien in Wolhynien, Podolien, Weißrussland, Galizien und Kernpolen wurde 1795 im Alter von 25 Jahren als eine Art Geisel zum Dienst an den Hof in St. Petersburg geschickt, um Katharina II. zu besänftigen. Der Vater hatte den Treueid auf die Kaiserin verweigert, woraufhin seine Güter eingezogen wurden. In St. Petersburg schlossen der Thronfolger Alexander und der junge polnische Adlige schnell Freundschaft. Schon bei ihrer ersten Unterredung vertraute der junge Großfürst Czartoryski an, dass er die Teilungen Polens missbillige und er Kościuszko für einen tugendhaften Mann halte, der die Freiheit verteidigt habe. Nach der Thronbesteigung Alexanders I. gehörte Czartoryski dem „Inoffiziellen Komitee“ an, in dem der junge Zar seine Jugendfreunde um sich scharte und das ein wichtiges Beratungsgremium in den Anfangsjahren seiner Herrschaft war. Darüber hinaus wurde Czartoryski mit mehreren offiziellen Regierungsämtern betraut und hatte stets Einfluss auf die Politik Alexan185 Vgl. Bazylow: Polacy w Petersburgu, S. 68. 186 Vgl. die Rückmeldungen auf die Anfrage Benckendorff an alle Ministerien und staatlichen Stellen in St. Petersburg, wie viele Polen aus den Westgouvernements dort ihren Dienst taten, in: GARF f. 109, op. 6, d. 503, l. 1–194. 187 Brief des Kommandanten, Oberstleutnant von Drebuš aus Žitomir an Benckendorff vom 5.2.1831, in: GARF f. 109, op. 5, d. 386 lA, l. 12–24, hier 21ob.-22. 188 Brief des Kommandanten, Oberstleutnant von Drebuš aus Žitomir an Benckendorff vom 5.2.1831, in: GARF f. 109, op. 5, d. 386 lA, l. 12–24, hier 19. 189 Leonid Gorizontov: Aparat urzędniczy Królestwa Polskiego w okresie rządów Paskiewicza, in: Przegląd Historyczny 85 (1994), S. 45–58.



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ders. 1803 übernahm er das Amt des Kurators der Universität Wilna und damit auch die Aufsicht über den dortigen Schulbezirk. Von 1804 bis 1806 leitete er das russische Außenministerium und auf dem Wiener Kongress fungierte er als Alexanders Berater in der sogenannten polnischen Frage. Nach der Errichtung des Königreichs Polen ernannte Alexander I. wider Erwarten nicht seinen polnischen Jugendfreund zu seinem Statthalter in Warschau, sondern General Józef Zajączek, der die polnischen Legionäre unter Napoleon kommandiert hatte. In der Folgezeit zog sich Czartoryski immer mehr aus der Politik zurück. 1824 legte er sein Amt als Kurator der Universität Wilna nieder und siedelte von der Hauptstadt auf den Familiensitz in Puławy über.190 Die Reichskarrieren polnischer Adliger und insbesondere deren Aufstieg bis in die höchsten Regierungsämter folgten den Prinzipien einer pragmatischen Integrationspolitik. Beide Seiten hatten ein Interesse an der politischen Kooperation. Alexander I. und die zarische Regierung gewannen mit den gut ausgebildeten Adligen aus den Westgouvernements ein Reservoir an Amtsträgern für das unterverwaltete Imperium. Die jungen Magnatensöhne wiederum konnten ihren persönlichen Ehrgeiz befriedigen: Sie fanden Eingang in die höchsten gesellschaftlichen Kreise und konnten die Politik einer europäischen Großmacht mitprägen. Es ist kein Zufall, dass polnische Denker wie Stanisław Staszic den zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufkeimenden Panslawismus als einen slawischen Bund unter russischer Führung und die Zukunft Polens in einer Vereinigung mit Russland sahen.191 Darüber hinaus bot die Übernahme politischer Verantwortung im Zarenreich auch die Möglichkeit, eigene polnische Interessen innerhalb der russischen Politik zu verwirklichen. Die Übernahme eines Amtes im Zarenreich musste keineswegs zu jenem fortwährenden Loyalitätskonflikt führen, der nach Jaroslaw Czubaty die Ausbildung „zweier Gewissen“ bedingte: einem patriotisches Gewissen gegenüber der polnischen Nation und einem loyalistischen Gewissen gegenüber dem Zaren.192 190 Zur politischen Biographie Czartoryskis vgl. vor allem W. H. Zawadzki: A Man of Honour. Adam Czartoryski as a Statesman of Russia and Poland 1795–1831, Oxford 1993. Das Gespräch mit Alexander schildert Czartoryski in seinen Memoiren, vgl. [Adam J. Czartoryski]: Memoirs of Prince Adam Czartoryski and his Correspondence with Alexander I, hg. v. Adam Gielgud, 2 Bde., London 1888, Bd. 1, S. 110–112. Zum „Inoffiziellen Komitee“ siehe Elmo E. Roach: The Origins of Alexander I’s Unofficial Committee, in: The Russian Review 28 (1969), S. 315–326; David Christian: The Political Views of the Unofficial Committee in 1801: Some New Evidence, in: Canadian-American Slavic Studies 12 (1978), S. 247–265. Zu Czartoryskis Tätigkeit als russischer Außenminister siehe Patricia Kennedy Grimsted: The Foreign Ministers of Alexander I. Political Attitudes and the Conduct of Russian Diplomacy, 1801–1825, Berkeley, Los Angeles 1969, S. 104–150. 191 Vgl. Markus Krzoska: Historische Mission und Pragmatismus. Die slawische Idee in Polen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Osteuropa 59 (2009), Heft 12, S. 77–94, hier 78. 192 Vgl. Czubaty: Zasada „dwóch sumień“, S. 660–684.

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Vielmehr knüpften Czartoryski und seine Mitstreiter an die Politik an, welche Stanisław August und die prorussische Reformpartei am Ende der Adelsrepublik verfolgt hatten: gesellschaftliche Reformen im Einverständnis mit der Regierung in St. Petersburg. Solange die Interessen der polnischen Reformer und des Zaren übereinstimmten, hatten die Adligen aus den Westgouvernements einen erheblichen politischen Gestaltungsspielraum. Besonders deutlich wird dies in der Bildungspolitik, wo sich das polnische Streben nach einer Erhaltung des nationalen Schulsystems und Alexanders Wunsch nach gut ausgebildetem Personal für den Dienst in Staat und Militär überschnitten.193 Auf anderen Gebieten standen die Interessen des Zaren und der polnischen Adligen jedoch in einem eklatanten Widerspruch. Besonders deutlich wird dies bei den Überlegungen zur staatsrechtlichen Gestaltung eines künftigen Zusammenlebens von Russen und Polen. Adam Czartoryski spielte hier eine zentrale Rolle, da er die sicherheitspolitischen Interessen Russlands mit dem nationalen Prinzip in Einklang zu bringen versuchte.194 Im Jahre 1803 schlug er dem Zaren die Wiederherstellung Polens als selbständigen Staat vor. Eine enge außenpolitische Anbindung an das Zarenreich sollte dadurch gewährleistet sein, dass der jüngere Bruder des Zaren, der Großfürst Konstantin Pavlovič, zum polnischen König gekrönt würde. Falls sich dieser Plan nicht realisieren lasse, so käme als zweitbeste Lösung in Betracht, Polen als Ganzes, also in den Grenzen von 1772, dem Russischen Reich zu inkorporieren. Beide Varianten sahen somit eine Vereinigung der Westgouvernements mit den preußischen und österreichischen Teilungsgebieten vor.195 Alexander I. erwog eine Wiedererrichtung Polens auf Kosten Preußens so lange, wie Berlin in Zeiten der „Dritten Koalition“ gegen Napoleon auf einer Politik der Neutralität beharrte und den russischen Truppen das gewünschte Durchmarschrecht verweigerte. Mit dem außenpolitischen Kurswechsel Preußens

193 Zur Politik in den Lehrbezirken Wilna und Char’kov vgl. Kusber: Eliten- und Volksbildung, S. 377–381 und 394–400. 194 Martin Schulze Wessel: Russlands Blick auf Preußen. Die polnische Frage in der Diplomatie und der politischen Öffentlichkeit des Zarenreiches und des Sowjetstaates 1697–1947, Stuttgart 1995, S. 93f. 195 Adam J. Czartoryski: Sur le Système politique que devrait suivre la Russie présenté et lu la même année à l’Empereur Alexandre, abgedruckt bei: Patricia Kennedy Grimsted: Czartoryski’s System for Russian Foreign Policy, 1803. A Memorandum, Edited with Introduction and Analysis, in: California Slavic Studies 5 (1970), S. 19–91, hier 63–67. Dieser Vorschlag Czartoryskis basierte auf einer weitreichenden Umordnung Europas auf föderativer Grundlage, vgl. dazu Jerzy Skowronek: Le programme européen du prince Adam Jerzy Czartoryski en 1803–1805, in: Acta Poloniae Historica 17 (1968), S. 137–159. Zu Czartoryskis Europakonzeption siehe grundlegend Raphael Utz: Russlands unbrauchbare Vergangenheit. Nationalismus und Außenpolitik im Zarenreich, Wiesbaden 2008, S. 99–103.



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war jedoch der Weg frei für eine Verständigung auf der Grundlage einer „negativen Polenpolitik“.196 Drei Jahre später unterbreitete Czartoryski dem Zaren einen ähnlichen Vorschlag. Polen sollte wiederhergestellt und dem Zaren die polnische Königskrone angetragen werden. Auch in diesem Plan waren die Westgouvernements als Bestandteil dieses polnischen Staates vorgesehen.197 Czartoryski trat also für eine Revision der Teilungen ein und war dafür bereit, die russische Oberhoheit in Kauf zu nehmen. In seiner Sicht bot die Bildung eines polnischen Vorfelds Russland Schutz vor Frankreich. Ein polnischer Staat läge somit in beiderseitigem Interesse.198 Der Zar selbst äußerte sich vor 1815 widersprüchlich zur Frage einer polnischen Eigenstaatlichkeit. Auch wenn Alexander I. die polnische Frage nicht ausschließlich unter außenpolitischen Gesichtspunkten beurteilte, so war sie doch stets ein Teilaspekt der Mächtediplomatie in Zeiten der napoleonischen Herausforderung.199 In Zeiten, in denen ein Bekenntnis zu Polen seinen außenpolitischen Interessen entgegenstand, sprach er sich deutlich gegen die Errichtung eines polnischen Staates aus. Im Jahre 1809 zum Beispiel, als Napoleon sich anschickte, Galizien von Österreich abzutrennen und dem Herzogtum Warschau zuzuschlagen, stellte er klar, dass die Wiederherstellung Polens nicht im Interesse Russlands sei.200 Ließ sich ein polnischer Staat jedoch mit seinen außenpolitischen Absichten vereinbaren, so sprach sich Alexander für dessen Existenz aus. Im Jahre 1811 weihte er etwa Czartoryski in seine Überlegungen ein, die Teilungen zu revidieren und ein wiedervereinigtes Polen als attraktiven Gegenentwurf zum Herzogtum Warschau ins Spiel zu bringen.201 Am weitesten gingen Alexanders Überlegungen im Angesicht der französischen Bedrohung. Dem Ansinnen des Zaren, 50.000 polnische Soldaten für den Krieg gegen Napoleon zu gewinnen, gab Czartoryski nur dann eine Chance, wenn im Gegenzug Polen in den Grenzen von 1772 wiederhergestellt und die

196 Vgl. Schulze Wessel: Russlands Blick auf Preußen, S. 95–100; Ekkehard Völkl: Zar Alexander I. und die „polnische Frage“, in: Saeculum 24 (1973), S. 112–132, hier 120ff. Den Begriff der „negativen Polenpolitik“ prägte Zernack: Negative Polenpolitik, S. 144–159. 197 Das Memorandum ist abgedruckt in: Czartoryski: Memoirs, Bd. 2, S. 165–170. 198 Vgl. Schulze Wessel: Russlands Blick auf Preußen, S. 99f. 199 Die außenpolitischen Motive Alexanders I. betont Blackwell: Alexander I and Poland, S. 4. 200 Bericht des französischen Botschafters in St. Petersburg, Armand-Louis de Caulincourt, an Napoléon vom 16.4.1809, in: Les Relations diplomatiques de la Russie et de la France d’après les rapports des ambassadeurs d’Alexandre et de Napoléon 1808–1812, hg. v. Grand-Duc Nicolas Mikhailowich, 6 Bde., St. Petersburg 1905–1908, hier Bd. 3, S. 208–220, hier 211. 201 Schreiben Alexanders I. an Czartoryski vom 25.12.1810, in: Czartoryski: Memoirs, Bd. 2, S. 213–218.

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Maiverfassung eingesetzt würde.202 Daraufhin stellte der Zar die Rückgabe der Westgouvernements in Aussicht. Nur die Annexionen aus der ersten Teilung 1772, die Gouvernements Mogilëv und Vitebsk, sollten beim Zarenreich bleiben.203 Ein solcher Vorschlag war allerdings wohl in erster Linie taktischer Natur. Die Einsetzung der Maiverfassung wäre mit einer politischen Unabhängigkeit Polens gleichbedeutend gewesen und über eine Autonomie innerhalb des Zarenreiches deutlich hinausgegangen. Man hätte damit den Status quo von 1772 wiederhergestellt. Neben der von Czartoryski forcierten Lösung einer Wiederherstellung Polens in den Grenzen von 1772 diskutierte die politische Elite des Zarenreiches eine weitere Möglichkeit für die künftige staatsrechtliche Stellung der polnischen Provinzen: Der territoriale Status quo sollte nicht verändert, den Westgouvernements jedoch eine weitreichende Autonomie innerhalb des Zarenreiches gewährt werden. 1804 gründete man eine Kommission zur Ausarbeitung eines neuen Gesetzbuches. In dieser Kommission wurde eine besondere Abteilung eingerichtet, welche die lokalen Gesetze der polnischen und kleinrussischen Provinzen sammeln, mit den russischen Gesetzen vergleichen und zu einem lokalen Gesetzbuch zusammenstellen sollte. Sachkundige Korrespondenten vor Ort sollten der Kommission zuarbeiten und diese über die örtlichen Gesetze und die lokale Rechtsprechung in Kenntnis setzen.204 Die Arbeit der Kommission geriet jedoch ins Stocken, so dass es nie zu einer entsprechenden Gesetzessammlung für die Westgouvernements gekommen ist. Nur einige allgemeine Denkschriften zeugen heute noch von diesem Projekt.205 Auch Michail Speranskij machte sich über die rechtliche Stellung der Westgouvernements Gedanken. In einer schriftlichen Notiz wandte er sich 1810 gegen die Pläne Czartoryskis, Polen in den Grenzen von 1772 wiederherzustellen. Dies würde unweigerlich einen Krieg mit den anderen Teilungsmächten nach sich ziehen. Stattdessen sollte die Bevölkerung der polnischen Provinzen durch eine Ausweitung der Selbstverwaltung für das Zarenreich gewonnen werden. Auf der 202 Schreiben Czartoryskis an Alexander I. vom 18./30. Januar 1811, in: Czartoryski: Memoirs, Bd. 2, S. 218–222. 203 Schreiben Alexanders I. an Czartoryski vom 31.1.1811, in: Czartoryski: Memoirs, Bd. 2, S. 222– 228. 204 Vgl. M. Ja. Pergament / A. Ė. Nol’de: Obozrenie istoričeskich svedenij o sostavlenii svoda mestnych zakonov zapadnych gubernij. Vzjato iz aktov, chranjaščichsja vo II-m Otdelenii Sobstvennoj Ego Imperatorskago Veličestva kanceljarii, St. Petersburg 1837, S. 39. Im Jahre 1809 wurde das Erarbeiten einer Gesetzessammlung für die kleinrussischen und polnischen Provinzen als vordringliche Aufgabe festgeschrieben, siehe das Statut über die Zusammensetzung und Verwaltung der Kommission zur Ausarbeitung eines Gesetzbuches vom 7.3.1809, in: PSZ I, Bd. 30, Nr. 23.525, S. 857–863, hier 858. 205 Vgl. Pergament / Nol’de: Obozrenie istoričeskich svedenij, S. 40.



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anderen Seite trat er für eine Zentralisierung und Stärkung der Geheimpolizei in den Westgouvernements ein. Diesen scheinbaren Widerspruch fasste er in dem Prinzip zusammen, man müsse den Polen einerseits die Hoffnung geben, alles zu gewinnen, und sie gleichzeitig in Angst halten, alles zu verlieren.206 Alexander I. schwankte in seiner Polenpolitik zwischen diesen beiden Linien. Je nach politischer Großwetterlage neigte er zur Wiedervereinigung der Teilungsgebiete oder zu einer Autonomie der Westgouvernements. So erwog er zum Beispiel nur wenige Wochen, nachdem er Czartoryski einen polnischen Staat in den Grenzen von 1772 in Aussicht gestellt hatte, die Einrichtung eines Großfürstentums Litauen, das territorial aus den litauisch-weißrussischen Gouvernements Grodno, Wilna, Minsk, Vitebsk und Mogilëv bestehen und eine weitgehende Autonomie innerhalb des Zarenreichs erhalten sollte. Damit knüpfte der Zar an die Zeiten vor der polnisch-litauischen Union an, als der Großfürst von Litauen noch nicht in Personalunion gleichzeitig polnischer König war. Alexander I. war in dieser Absicht vor allem von Michał Ogiński inspiriert worden, der den Zaren zwischen 1810 und 1815 in polnischen Angelegenheiten beriet.207 Im Mai 1811 reichte Ogiński ein Memorandum und im Oktober desselben Jahres einen Gesetzesentwurf ein, in denen er die Grundzüge eines Großfürstentums Litauen ausgearbeitet hatte. Aus der Familie des Zaren sollte ein Vizekönig ernannt werden, der das Imperium als Großfürst vor Ort vertreten würde; in St. Petersburg war eine Litauische Kanzlei unter der Leitung eines Staatsministers vorgesehen.208 Staatsrechtliches Vorbild war das Großfürstentum Finnland. Alexander I. hatte das 1808/09 angeschlossene Finnland und das seit 1721 bzw. 1743 zu Russland gehörende „Altfinnland“ vereinigt und daraus ein Großfürstentum mit weitgehenden Autonomierechten geschaffen. Ein Präzedenzfall war also bereits vorhanden.209 Dieses Konzept begriff die Westgouvernements mithin nicht als unauflösliche Einheit, sondern knüpfte ganz bewusst an die Zeit vor der polnisch-litauischen Union an. Der Vorteil lag darin, dass sich der Plan auf der Stelle hätte verwirklichen lassen, da – anders als bei einem polnischen Staat in den Grenzen von 1793 – die zentralpolnischen Gebiete des Herzogtums Warschau nicht Bestandteil des Großfürstentums Litauen hätten werden sollen. Der Nachteil bestand darin, dass 206 Notiz Michail Speranskijs aus dem August 1810, in: Dve zapiski M. M. Speranskago po političeskim delam, in: Russkaja starina 1900, Nr. 11, S. 429–440, hier 436–440. 207 Zu Ogiński vgl. Bronius Dundulis: Napoléon et la Lituanie en 1812, Paris 1940, S. 52–62. 208 Das Memorandum ist abgedruckt in: Michael Oginski: Denkwürdigkeiten über Polen, 3 Bde., Berlin o. J. [1850], Bd. 3, S. 54–58. Der Gesetzesentwurf in: ebd., S. 64–66. Siehe dazu auch Bohan Winarski: Les institutions politiques en Pologne au XIXe siècle, Paris 1924, S. 146ff. 209 Zur staatsrechtlichen Stellung Finnlands im Russischen Reich vgl. Frank Nesemann: Ein Staat, kein Gouvernement. Die Entstehung und Entwicklung der Autonomie Finnlands im russischen Zarenreich, 1808 bis 1826, Frankfurt a. M. u. a. 2003, S. 87–106.

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ein solches Großfürstentum allenfalls für den polnischen Adel in den betroffenen litauisch-weißrussischen Gebieten attraktiv gewesen wäre. Die Adligen aus den Gouvernements Kiew, Podolien und Wolhynien hätten keinerlei Vorteile aus einer Zweiteilung des russischen Teilungsgebietes gewonnen. Dies dürfte letztlich der Grund gewesen sein, weshalb Alexander I. die Lösung eines wiedervereinigten Königreiches bevorzugte, auch wenn dies einen Krieg vorausgesetzt hätte. Das Großfürstentum Litauen rangierte bei ihm als Ersatzlösung, falls es zu dem erwarteten Krieg gegen Frankreich nicht kommen sollte.210 Der Fall trat jedoch nicht ein. Kurz nach dem russischen Sieg über die Grande Armée griff Alexander I. seine Pläne wieder auf, einen polnischen Staat zu gründen und die beiden Kronen in Personalunion auf sich zu vereinen. Die territoriale Ausdehnung Polens war allerdings weiterhin offen. 1813 erläuterte er zwar Czartoryski, dass Litauen, Podolien und Wolhynien zu Russland gehörten und er keine Möglichkeit sehe, diese durch einen anderen Souverän als den Zaren zu regieren. Unter welchem Namen diese Gebiete dem Zaren unterstünden, sei für ihn jedoch von nachrangiger Bedeutung.211 Das Jahr 1815 bildete einen tiefen Einschnitt im russisch-polnischen Verhältnis. Auf dem Wiener Kongress trotzte Alexander I. den europäischen Mächten einen polnischen Staat ab, dessen König der Zar in Personalunion war. Er gewährte dem Königreich Polen eine Verfassung und legte damit die Grundlage für eine weitreichende Autonomie Polens innerhalb des Zarenreiches.212 Die Westgouvernements waren jedoch nicht territorialer Bestandteil des Königreichs Polen. Die Signatarmächte hatten allerdings keine endgültige Regelung in der Grenzfrage getroffen. Alexander I. hatte sich in der Schlussakte des Wiener Kongresses vorbehalten, dem Königreich Polen „diejenige innere Ausdehnung zu geben“, welche allein er für angemessen hielt.213 Die polnischen Erwartungen waren von diesem 210 Oginski: Denkwürdigkeiten, Bd. 3, S. 73ff. 211 Schreiben Alexanders I. an Czartoryski vom 13.1.1813, in: Czartoryski: Memoirs, Bd. 2, S. 234– 237, hier 235f. 212 Vgl. Fleischhacker: Russische Antworten, S. 22ff.; Blackwell: Alexander I and Poland, S. 116– 127; Wandycz: The Lands of Partitioned Poland, S. 60–64. Zur außenpolitischen Dimension der Gründung eines Königreichs Polen vgl. W. H. Zawadzki: Russia and the Re-Opening of the Polish Question, 1801–1814, in: The International History Review 7 (1985), S. 19–44, hier 40–44. Zur zeitgenössischen Diskussion um die Personalunion vgl. Jan Kusber: Kann der Zar König von Polen sein? Zur Diskussion um die Stellung ‚Kongresspolens’ in den polnischen und russischen Eliten nach dem Wiener Kongress, in: Helga Schnabel-Schüle / Andreas Gestrich (Hg.): Fremde Herrscher – fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa, Frankfurt a. M. 2006, S. 253–270. 213 Hauptvertrag des zu Wien versammelten Congresses der europäischen Mächte, Fürsten und freien Städte nebst 17 besonderen Verträgen, in: Der Deutsche Bund. Eine Zeitschrift für das öffentliche Recht Deutschlands und der gesammten deutschen Länder, Erster Band, 3. Heft, Hildburghausen 1815, S. 1–199, hier 4.



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Zeitpunkt an auf eine Vereinigung der Westgouvernements mit dem Königreich Polen gerichtet. Alexander I. nährte in den folgenden Jahren wiederholt diese Hoffnungen. In seiner Rede zur Eröffnung des Reichstags in Warschau am 15. März 1818 deutete er vorsichtig an, dass eine Vereinigung des Königreichs mit den Westgouvernements durchaus möglich sei: „Les résultats de vos travaux dans cette première assemblée m’apprendront ce que la patrie doit attendre à l’avenir de votre dévouement pour elle comme de vos bons sentiments pour moi, et si, fidèle à mes résolutions, je puis étendre ce que j’ai déjà fait pour vous.“214

Und in der Schlusssitzung versprach der russische Zar und polnische König: „Je reviendrai parmi vous pour jouir de vos progrès dans la belle carrière qui vous est ouverte, et pour vous faire recueillir de nouveaux fruits de ma sollicitude. Polonais! Je tiens à l’accomplissement de mes intentions. Elles vous sont connues.“215

Seit jeher ist die Absicht, die Alexander I. mit diesen Reden verfolgte, umstritten. Der liberale Ökonom und Jurist Nikolaj Turgenev sah zwei Gründe, aus denen Alexander I. den Anschluss der Westgouvernements an das Königreich Polen ernsthaft in Betracht zog. Zum einen sei sich der Zar bewusst gewesen, dass die Verwaltung in Polen derjenigen des Zarenreiches überlegen war. Deshalb sei es nur folgerichtig gewesen, den Einwohnern der Westgouvernements ihre Institutionen und Gesetze zu belassen.216 Edward Thaden folgt dieser Interpretation und betont die ernsthaften Absichten Alexanders, wenn dieser die liberalen polnischen Institutionen rühmte und Polen allgemein einen höheren Zivilisationsgrad zusprach.217 Dagegen sah Hedwig Fleischhacker – in ihren Annahmen wohl etwas 214 Rede Alexanders I. bei der Eröffnung des ersten Reichstages des Königreichs Polen in Warschau am 25./27. März 1818, in: Recueil des traités, conventions et actes diplomatique concernant la Pologne 1762–1862, hg. v. Comte d’Angeberg [Leonard Chodzko], Paris 1862, S. 734–737, hier 737: „Die Ergebnisse Ihrer Arbeit in dieser ersten Versammlung werden mich davon überzeugen, welche Ergebenheit das Vaterland künftig von Euch zu erwarten hat und welche guten Gefühle Sie mir gegenüber haben; dann kann ich, getreu meiner Vorsätze, das, was ich bereits für Sie getan habe, noch ausweiten.“ 215 Rede Alexanders I. bei der Schließung des ersten Reichstages des Königreichs Polen in Warschau am 15./27. April 1818, in: ebd., S. 737–739, hier 738: „Ich werde zu Euch zurückkehren, um mich am Fortschreiten Ihres schönen Werdegangs, der Ihnen offen steht, zu erfreuen, so dass Sie die neuen Früchte meiner Hingabe ernten können. Polen! Ich halte an der Erfüllung meiner Absichten fest. Sie sind Ihnen bekannt.“ 216 N. Tourgueneff: La Russie et les Russes, Bd. 1: Mémoires d’un proscrit, Paris 1847, S. 92. 217 Vgl. Thaden: Russia’s Western Borderlands, S. 75.

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überzogen – in Alexanders angekündigter Vereinigung des Königreichs und der Westgouvernements gar den politischen Willen, die Verfassung des Königreiches auf das ganze Zarenreich auszudehnen und auf diese Weise Polen noch enger an Russland zu binden.218 Nach wie vor ist allerdings nicht auszuschließen, dass Alexanders Reden rein taktischer Natur waren und lediglich dazu dienten, die polnischen Hoffnungen auf eine Wiedervereinigung mit den Westgouvernements am Leben zu erhalten. Im Juli 1817 bereitete die zarische Regierung die Vereinigung der militärischen Strukturen des Königreichs Polen und der Westgouvernements vor. Sie schuf ein Litauisches Korps, das sich ausschließlich aus Rekruten der Gouvernements Wilna, Grodno, Minsk, Wolhynien, Podolien und des Distrikts Belostok (Białystok) zusammensetzte. Auch in der regionalen und lokalen Verwaltung gab es erste Maßnahmen, die auf eine Vereinigung der polnischen Gebiete hindeuteten. So bekamen die zivilen Amtsträger in den Westgouvernements jene purpurne Uniform, wie sie im Königreich Polen getragen wurde. Gleichzeitig wurden Verwaltungsangelegenheiten der Westgouvernements vermehrt in Warschau entschieden.219 Allgemein entstand aufgrund all dieser Maßnahmen der Eindruck, eine Vereinigung des Königreichs Polen mit den Westgouvernements stehe unmittelbar bevor.220 Die Polenpolitik Alexanders I. zeichnete sich also dadurch aus, dass der Zar zwei zentralen polnischen Vorstellungen entgegenkam: der Wiedervereinigung des alten Territoriums und der Rückgabe alter Rechte. Zwar erfüllte er die verbreitete Sehnsucht nach einem unabhängigen Staat und einer Rückkehr zur Maiverfassung nicht, doch erhielt das Königreich Polen immerhin eine eigene Konstitution. Alexander I. hielt zudem die Grenzfrage offen. Eine Vereinigung der polnischen Provinzen hätte im Rahmen seiner Kooptationspolitik durchaus eine gewisse Logik besessen: Sowohl im Königreich Polen, als auch in den Westgouvernements bildete der polnische Adel die Oberschicht und war über die Grenze hinweg auf das Vielfältigste miteinander verflochten. Diese territorialen und staatsrechtlichen Konsequenzen von Alexanders Kooptationspolitik riefen starken Widerspruch unter den konservativen Teilen der zarischen Elite hervor. Nikolaj M. Karamzin glaubte sogar, den Kaiser 1819 in seiner Schrift „Meinung eines russischen Bürgers“ an seine Verantwortung als Zar erinnern zu müssen:

218 Hedwig Fleischhacker: Russische Antworten auf die polnische Frage 1795–1917, München, Berlin 1941, S. 24–31. 219 Vgl. Šimon Askenazi: Carstvo pol’skoe 1815–1830 g., Moskau 1915, S. 103f. 220 Vgl. Blackwell: Alexander I and Poland, S. 161.



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„Sie haben die Absicht, als ein Christ großmütig zu Ihren Feinden zu sein und Polen in seiner territorialen Einheit wiederherzustellen. (…) Als ein Christ lieben Sie Ihre persönlichen Feinde, aber Gott hat Ihnen ein Kaiserreich gegeben und damit auch die Pflicht auferlegt, für dessen allgemeines Wohl zu sorgen. (…) Lieben Sie die Menschen, aber lieben Sie zuvorderst die Russen, denn sie sind sowohl Menschen als auch Eure Untertanen und Herzenskinder. (…) Sie haben die Absicht, das alte Königreich Polen wiederherzustellen, aber steht eine solche Tat nicht im Widerspruch zum Wohle Russlands? (…) Können Sie mit ruhigem Gewissen Weißrussland, Litauen, Wolhynien und Podolien weggeben, wenn diese Gebiete bereits lange Zeit vor Ihrer Herrschaft zum Eigentum Russlands gehörten? Haben Sie nicht gelobt, als Herrscher die Integrität unseres Reiches zu bewahren? Diese Länder waren bereits russisch, als der Metropolit Platon Ihnen die Krone Peters und Katharinas, die Sie selbst die ‚Große’ nannten, überreicht hat.“221

Die Vorwürfe Karamzins gipfelten schließlich darin, dass eine Rückgabe der von Katharina II. annektierten Gebiete einer „Teilung Russlands“ gleichkäme.222 Karamzin sah stattdessen in der Vereinheitlichung der Rechtsverhältnisse eine Erfolg versprechende Integrationspolitik. Er forderte nicht nur einheitliche Gesetze, sondern auch eine Ausbildung der nichtrussischen Jugend in russischen Gesetzen und der russischen Sprache.223 Karamzin verfocht also die Prinzipien einer normativen gegenüber den Prinzipien einer pragmatischen Integrationspolitik.

221 Zit. nach Nikolaj Karamzin: Opinion of a Russian Citizen, in: J. l. Black (Hg.): Essays on Karamzin. Russian Man-of-letters, Political thinker, Historian, 1766–1826, The Hague, Paris 1975, S. 193–196, hier 193f. (Hervorhebungen im Original). Karamzin reagierte mit diesem Text auf die Rede Alexanders I. vor dem Warschauer Sejm und den folgenden Gerüchten, der Zar würde Teile der Westgouvernements mit dem Königreich Polen zusammenschließen, vgl. J. l. Black: Nicholas Karamzin and Russian Society in the Nineteenth Century. A Study in Russian Political and Historical Thought, Toronto, Buffalo 1975, S. 85ff. Karamzin hatte bereits 1801 in seiner „Historischen Ode an Kaiserin Katharina II.“ die Teilungen Polens gerechtfertigt, vgl. Schulze Wessel: Russlands Blick auf Preußen, S. 139ff. 222 Diese Linie setzte sich auch in der Beurteilung Alexanders I. durch die zarische Geschichtsschreibung fort. Konservative Historiker warfen ihm vor, er sei zu nachsichtig gewesen und habe den Polen zu viel Einfluss eingeräumt. So hätte zum Beispiel Czartoryski als Kurator des Schuldistrikts Wilna eine „Repolonisierung“ der Westgouvernements betreiben können, vgl. Aleksandr l. Pogodin: Vilenskij učebnyj okrug 1803–1831, in: Sbornik materialov dlja istorii prosveščenija v Rossii, 4 Bde., St. Petersburg 1893–1902, Bd. 4, S. 31f. und 76ff. Diesem Urteil folgt zum Teil auch die moderne Historiographie, vgl. z. B. Blackwell: Alexander I and Poland, S. 49ff. und 136. 223 [Nikolaj M. Karamzin]: Karamzin’s Memoir on Ancient and Modern Russia. A Translation and Analysis, hg. v. Richard Pipes, Cambridge 1959, S. 189f. Zu Karamzins kritischer Sicht auf die Regierungstätigkeit Alexanders I. siehe Alexander M. Martin: Romantics, Reformers, Reactionaries. Russian Conservative Thought and Politics in the Reign of Alexander I, DeKalb 1997, S. 93–99.

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Mit seinen Forderungen stand Karamzin nicht allein. Auch Nikolaj Novosil’cev, Alexanders inoffizieller Beauftragter für das Königreich Polen, trat dafür ein, die autonomen Rechte in den Westgouvernements weitgehend abzuschaffen und die Verwaltungsstrukturen dieser Gebiete mit jenen des Reiches zu vereinheitlichen.224 Selbst innerhalb der kaiserlichen Familie erntete Alexander I. Kritik für seine Polenpolitik. Der Großfürst Konstantin, Kommandierender der polnischen Armee im Königreich, riet seinem Bruder, wieder zur Politik Katharinas II. zurückzukehren und die volle Integration der von Polen annektierten Gebiete in das Zarenreich zu verfolgen.225 Insgesamt gesehen steht Adam Czartoryski wie kein anderer für die pragmatische Integrationspolitik Alexanders I. Der polnische Magnatensohn hatte die politischen Spielräume, um die russische Außenpolitik mitzubestimmen und dabei die polnischen Interessen einzubringen. In der zentralen Frage einer Wiederherstellung Polens standen die polnischen Interessen den russischen gegenüber. Zwar war Alexander I. bereit, den polnischen Provinzen größere Eigenständigkeit zu gewähren als dies noch Katharina II. oder Paul I. getan hatten. Zudem stellte der Zar von Beginn an Überlegungen darüber an, inwieweit und auf welche Weise man den Polen eine Eigenstaatlichkeit zurückgeben könnte. Doch auch für Alexander I. kam es nicht in Frage, einen von Russland unabhängigen polnischen Staat einzurichten. Und ein freiwilliger Verzicht auf Teile des Reichsgebietes hätte dem außenpolitischen Axiom von der Expansion der Reichsgrenzen als Zuwachs von Stärke widersprochen und blieb deshalb auch für Alexander I. ausgeschlossen. Indem Czartoryski und die polnischen Eliten an einem Staat in den Grenzen von 1772 festhielten, stellten sie sich gegen die Interessen des Zaren und der russischen Eliten. Die Westgouvernements, die Katharina II. im Zuge der drei Teilungen Polens annektiert hatte, gehörten aus deren Sicht nicht zur Verhandlungsmasse beim Entwurf eines polnischen Staates. Der Druck, den konservative Kreise in dieser Frage aufbauten, engte den Spielraum Alexanders noch weiter ein. An dem Punkt, an dem die polnischen Interessen den russischen jedoch diametral gegenüberstanden, endeten auch die Möglichkeiten einer pragmatischen Integrationspolitik, die auf einem Interessenausgleich basierte. Alexanders Zögern, die Westgouvernements gegenüber Czartoryski und dem polnischen Adel als unteilbaren Bestandteil des Russischen Reiches zu beanspruchen, bestätigte scheinbar jenes Urteil, das schon die Zeitgenossen über ihn gefällt hatten. Der Zar galt als eine „Sphinx“, deren wahre Absichten man nur schwer 224 Vgl. Blackwell: Alexander I and Poland, S. 174. 225 Vgl. Thaden: Russia’s Western Borderlands, S. 75. Später, im Jahr 1822, kam allerdings auch Konstantin zu der Überzeugung, dass das Königreich Polen und die Westgouvernements vereinigt werden sollten, vgl. Pienkos: Imperfect Autocrat, S. 65f.



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abschätzen konnte.226 Es scheint sein Wesenszug gewesen zu sein, dem jeweiligen Gesprächspartner stets zuzustimmen und zahlreiche Pläne zu schmieden, die jedoch nie verwirklicht wurden. Günther Stökl sieht diese Scheu vor Konflikten und Verantwortung in Alexanders Kindheit angelegt. Der junge Thronfolger wuchs an zwei tief verfeindeten Höfen auf: an dem der kaiserlichen Großmutter und in Gatčina bei den Eltern. So habe Alexander von Kindesbeinen an die Kunst der Verstellung lernen müssen.227 Derartige psychologische Deutungen sind für die Erklärung seines Verhaltens in der polnischen Frage jedoch nicht notwendig. Alexander I. agierte in der Polenpolitik stets unter strenger Abwägung außenpolitischer Interessen und realpolitischer Möglichkeiten.228 Der Zar befand sich also in einer Situation, in der eine eindeutige Entscheidung entweder die Preisgabe territorialer Interessen Russlands oder das Ende seiner pragmatischen Integrationspolitik gegenüber dem polnischen Adel bedeutet hätte. Da er beide Konsequenzen scheute, löste er den bestehenden Widerspruch nicht auf, sondern ließ ihn bestehen. Czartoryski konnte nicht auf ähnliche Weise agieren und den Status quo einfach einfrieren. Die radikale Opposition auf polnischer Seite versprach letztlich mehr, als die prorussische Reformpartei erreichen konnte. Letztere geriet deshalb verstärkt in die Defensive und konnte sich innerhalb der polnischen Elite nicht durchsetzen. Schließlich gewann der radikale Flügel die Oberhand und versuchte den gordischen Knoten mit Gewalt zu durchschlagen. Der Novemberaufstand von 1830 markiert – wie im vierten Kapitel noch zu zeigen sein wird – das Ende der pragmatischen Integrationspolitik. Die blutige Niederschlagung des Aufstandes hatte die Vertreter eines Ausgleichs mit dem Russischen Reich unglaubwürdig gemacht. Und der neue Zar, Nikolaus I., misstraute fortan dem polnischen Adel und hielt die Prinzipien einer pragmatischen Integrationspolitik für allzu nachgiebig.

3.3. Nagelprobe für die Loyalität: Der polnische Adel und die Napoleonische Herausforderung Die Errichtung des Herzogtums Warschau im Jahre 1807 ließ die polnischen Hoffnungen nach einem eigenen Staat wiederaufleben. Nach dem Sieg Napoleons in der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt im Oktober 1806 musste Preu226 Einen guten Überblick mit zahlreichen Zitaten von Metternich bis Napoleon bietet zum Beispiel Völkl: Zar Alexander I. und die „polnische Frage“, S. 117ff. 227 Günther Stökl: Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 4., erw. Auflage, Stuttgart 1983, S. 440f. 228 So auch Völkl: Alexander I. und die „polnische Frage“, S. 129.

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ßen die meisten jener Gebiete, die es im Zuge der zweiten und dritten Teilung annektiert hatte, an das im Frieden von Tilsit 1807 neu geschaffene Herzogtum Warschau abtreten. Dessen Territorium wurde 1809 nach der österreichischen Niederlage gegen Frankreich um Westgalizien erweitert. Allerdings setzte Napoleon im Herzogtum Warschau nicht die Maiverfassung wieder in Kraft, sondern oktroyierte eine Konstitution nach französischem Vorbild und führte den Code Civil ein.229 Als Herzog ernannte er seinen Verbündeten König Friedrich August von Sachsen. Auch wenn das Herzogtum ein französischer Satellitenstaat war, den Napoleon nicht zuletzt zur Rekrutierung von Soldaten benötigte, weckte dessen Existenz große polnische Hoffnungen. Zahlreiche Adlige und Bauern wanderten in das Herzogtum aus, um dort ihr Glück zu machen.230 Auf russischer Seite war man sich der politischen Attraktivität bewusst, die ein polnischer Kernstaat auch auf die Szlachta in den Westgouvernements ausübte. Es ist deshalb kein Zufall, dass Alexander I. in jenen Jahren wiederholt die Idee eines polnischen Königreichs unter russischer Führung ins Spiel brachte. Czartoryski ließ den Zaren auch nicht im Unklaren darüber, dass die meisten Polen nach der Gründung des Herzogtums Warschau auf Napoleon setzten.231 Wie weit der Adel in den Westgouvernements allerdings konkrete Hoffnungen auf eine Wiedervereinigung der einst polnischen Territorien verband, ist eine offene Frage. Man kann davon ausgehen, dass die Gründung des Herzogtums auch in den Westgouvernements diskutiert wurde. Inwieweit allerdings von den Ansichten der Elite des Herzogtums Warschau geradewegs auf die Einstellung der Szlachta in den Westgouvernements geschlossen werden kann, ist fragwürdig.232 Plausibler erscheint die Einschätzung Kajetan Koźmans, der in seinen Erinnerungen aus Wolhynien berichtet, dass zwar die Mehrheit des Adels die 229 Vgl. John Stanley: The Adaption of the Napoleonic Political Structure in the Duchy of Warsaw (1807–1813), in: Canadian Slavonic Papers 31 (1989), S. 128–145; Hipolit Grinwasser: Le Code Napoléon dans le Duché de Varsovie (Étude historique, d’après des documents inédits), in: Revue des Études Napoléoniennes 12 (1917), S. 129–170; Adam Lityński: Die Geschichte des Code Napoléon in Polen, in: Reiner Schulze (Hg.): Französisches Zivilrecht in Europa während des 19. Jahrhunderts, Berlin 1994, S. 253–270. 230 Blackwell schreibt der Gründung des Herzogtums die Funktion eines Stimulators für die nationalen Gefühle der Polen und eines Katalysators für die Unzufriedenheit mit der russischen Herrschaft zu, vgl. Blackwell: Alexander I and Poland, S. 69. Zum „Exodus tausender Adliger und Bauern“ vgl. ebd., S. 92. 231 Brief Czartoryskis an Alexander I. vom 18.1.1811, in: Memoirs of Prince Adam Czartoryski, S. 218–222, hier 219f. 232 Diese Schlussfolgerung zieht Jarosław Czubaty: The Attitudes of the Polish Political Elite towards the State in the Period of the Duchy of Warsaw, 1807–1815, in: Michael Rowe (Hg.): Collaboration and Resistance in Napoleonic Europe. State-formation in an Age of Upheaval, c. 1800–1815, Houndmills, Basingstoke 2003, S. 169–185, hier 170.



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Gründung des Herzogtums begrüßte, die Magnaten jedoch erhebliche Bedenken gegen die napoleonische Verfassung äußerten. Die Gutsbesitzer hätten eine territoriale Wiedervereinigung unter diesen Bedingungen abgelehnt, da sie die Aufhebung der Leibeigenschaft und den Verlust ihrer adligen Vorrechte gefürchtet hätten. Der russischen Herrschaft wurde zugestanden, dass sie diese Privilegien bewahrte.233 Die russischen Amtsträger in den Westgouvernements waren zumindest nicht allzu beunruhigt darüber, dass die Existenz eines polnischen Rumpfstaates eine Sogwirkung auf den lokalen Adel entfalten würde. Im Jahre 1811 meldete zum Beispiel der Adlige Krzyżanowski aus Žitomir, dass die überwiegende Mehrheit des lokalen Adels mit der Regierung in St. Petersburg zufrieden sei. Es gebe zwar einige Träumer, die in der Jugend die Hoffnung auf eine Wiederherstellung Polens mit französischer Hilfe schürten und sogar Spionen des Herzogtums Warschau bei sich Unterschlupf gewährten, doch fehlte diesen revolutionären Kräften der Rückhalt bei der breiten Masse des Adels, so dass sie keine ernsthafte Gefahr für das Zarenreich darstellten.234 Krzyżanowski unterschied im Jahre 1811 also noch deutlich zwischen einer zarentreuen Mehrheit und einer revolutionären Minderheit im polnischen Adel der Westgouvernements. Napoleons Russlandfeldzug sollte die Loyalität der Szlachta jedoch auf eine ganz andere Probe stellen. Am 11. Juni 1812 überschritt das französische Heer mit 575.000 Soldaten die Memel und drang auf russisches Territorium vor. Ihr Weg nach Moskau führte sie über Wilna, Mogilëv und Smolensk. Rund 100.000 polnische Soldaten aus dem Herzogtum Warschau kämpften in Napoleons Grande Armée. Nicht wenige von ihnen dürften, wie Roman Sołtyk, auf die Wiedervereinigung der Teilungsgebiete unter polnischer Hoheit gehofft haben.235 Und in Warschau versammelte sich nur zwei Tage nach Kriegsbeginn ein Reichstag unter dem Vorsitz von Adam Kazimierz Czartoryski, dem Vater von Adam Jerzy Czartoryski, und proklamierte die Wiederherstellung Polens in den Grenzen von 1772. Alle Polen, die sich im russischen Dienst befanden, wurden aufgerufen, diesen zu quittieren. Adam Jerzy Czartoryski, der zu diesem Zeitpunkt Kurator der Universität Wilna war, trat daraufhin von seinem Posten zurück und forderte Alexander I. mehrmals auf, diesen Rücktritt zu akzeptieren. Der Zar ignorierte jedoch all seine Briefe.236 233 Kajetan Koźmian: Pamiętniki, hg. v. Marian Kaczmarek und Kazimierz Pecold, 3 Bde., Breslau, Warschau, Krakau 1972, Bd. 1, S. 329. 234 Vgl. die Gesprächsnotiz Lotynskijs, Beamter im Polizeiministerium, vom 24.8.1811, in: GARF f. 1165, op. 1, d. 491, l. 12–12ob. 235 Vgl. Roman Sołtyk: Napoléon en 1812. Mémoires historiques et militaires sur la campagne de Russie, Paris 1836, S. 175. 236 Vgl. Memoirs of Prince Adam Czartoryski, Bd. 2, S. 232f.

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Wie verhielten sich nun diejenigen Adligen, die in unmittelbaren Kontakt mit der Grande Armée kamen? Die existierenden Zeugnisse ergeben ein widersprüchliches Bild. Tendenziell berichten eher russische Quellen von einer freudigen Begrüßung Napoleons oder Verbrüderungsszenen mit den französischen Truppen.237 Die polnischen Angehörigen der Grande Armée zeigten sich hingegen enttäuscht von der mangelnden Unterstützung, die ihnen die Szlachta in den Westgouvernements entgegenbrachte.238 Hier scheint die jeweilige Erwartungshaltung die Wahrnehmung des Ereignisses stark geprägt zu haben. Russische Beobachter, welche die Loyalität des polnischen Adels von Beginn des Feldzuges an in Zweifel gezogen hatten, sahen ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt, als sie Berichte von einer freundlichen Aufnahme der französischen Truppen erhielten.239 Von solchen Einzelfällen schlossen sie auf eine allgemeine Illoyalität des polnischen Adels. Ganz anders nahmen offenbar polnische Teilnehmer des Russlandfeldzuges Napoleons die Stimmung in den Westgouvernements wahr. Sie erwarteten, von ihren polnischen Brüdern als Befreier vom russischen Joch begrüßt zu werden, und rechneten mit einem starken Zulauf in die Grande Armée. Als die Bevölkerung den fremden Soldaten, die schließlich auch versorgt werden mussten, eher mit Zurückhaltung begegnete, war ihre Enttäuschung über die mangelnde nationale Solidarität groß. Bezieht man die Berichte von französischen Armeeangehörigen ein, so entsteht das Bild einer vorsichtig abwartenden Bevölkerung. J. de Marbot schilderte den Adel sogar als apathisch. Die polnischen Gutsbesitzer hätten die Franzosen nicht als Befreier begrüßt, sondern in erster Linie gefürchtet, dass die neuen Herrscher eine Bauernbefreiung anstrebten.240 Man wird bei dieser Frage allerdings auch regionale Unterschiede berücksichtigen müssen. So kommen Bronius Dundulis und Janet Hartley zu dem übereinstimmenden Ergebnis, dass in den Gouvernements Mogilëv, Vitebsk und Smolensk – also Gebieten, die 1772 bzw. 1667 vom Russischen Reich annektiert worden waren – die Grande Armée auf eine weitgehend passive Bevölkerung traf. Es gab keine Adelsdelegationen, welche die Fran237 So zum Beispiel A. M. Romanovskij: Francuzy v g. Čausach v 1812 godu (Iz vospominanij očevidca), in: Russkaja starina 20 (1877), S. 688–696, hier 693; Maksim Šamšura: Belorusskija predanija o 1812-m gode, in: Russkij archiv 28 (1890), Nr. 2, S. 321–330, hier 326f. 238 Vgl. Sołtyk: Napoléon en 1812, S. 418. 239 Die zarische Regierung sah nicht nur in den Polen, sondern in allen nicht-russischen Nationalitäten eine potentielle Rekrutierungsbasis für Napoleons multiethnische Armee, vgl. Janet Hartley: Russia and Napoleon: State, Society and the Nation, in: Michael Rowe (Hg.): Collaboration and Resistance in Napoleonic Europe. State-formation in an Age of Upheaval, c. 1800–1815, Houndmills, Basingstoke 2003, S. 186–203, hier 189. 240 Memoiren des Generals Marcellin Marbot, 3 Bde., Stuttgart 1907, Bd. 2, S. 52f. Auch Jaroslaw Czubaty bescheinigt dem Großteil des Adels eine opportunistische Einstellung, vgl. Czubaty: Zasada „dwóch sumień“, S. 405.



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zosen als Befreier begrüßten, noch fanden sich Freiwillige für den Aufbau einer lokalen Verwaltung.241 Berichte aus den westlichen Provinzen des russischen Teilungsgebietes deuten hingegen auf eine andere Einstellung hin. Hier häufen sich die Beispiele von Adelsdelegationen, die den französischen Truppen ihre Unterstützung anboten, und sich teilweise sogar der Grande Armée anschlossen.242 Vasilij Vereščagin brachte die unterschiedliche Stimmung, die in Mogilëv und Vitebsk auf der einen und in Wilna oder Grodno auf der anderen Seite geherrscht habe, wie folgt auf den Punkt: In Wilna hätten die Einwohner Napoleon als Befreier begrüßt, in Vitebsk als Eroberer behandelt.243 Das West-Ost-Gefälle in der Begeisterung über die napoleonischen Truppen lässt sich leicht erklären. Die Gebiete, die das Zarenreich im Zuge der zweiten und dritten Teilung annektiert hatte, waren erst seit knapp zwanzig Jahren Bestandteil des Zarenreiches. Hier konnten sich die meisten Einwohner noch gut an die Zeiten der Adelsrepublik erinnern. Die Gouvernements Vitebsk und Mogilëv unterstanden hingegen bereits seit vierzig Jahren dem Zaren. Die meisten Adligen hatten sich in den existierenden Verhältnissen eingerichtet und fürchteten, die Revolution könnte ihre gutsherrschaftliche Lebenswelt aus den Fugen bringen. Wie reagierte nun die zarische Regierung auf illoyales Verhalten seitens des polnischen Adels? Zwei Sonderkommissionen in Moskau und Smolensk untersuchten Vorkommnisse von aktiver Kooperation mit den französischen Besatzern. Sie kamen in den meisten Fällen jedoch zu dem Urteil, dass sich die Zivilbevölkerung nicht freiwillig zur Zusammenarbeit bereit gefunden hätte, sondern nur nicht rechtzeitig habe flüchten können und anschließend von den Besatzern zur Kooperation gezwungen worden sei.244 Daraufhin erließ Alexander I. am 30. August 1814 eine Generalamnestie für all diejenigen, die während der französischen Besatzung im Dienst Napoleons gestanden hatten.245 Nicht alle zarischen Beamten waren so großmütig wie der Zar. Die Beteiligung polnischer Truppen an Gräueltaten in Smolensk und Moskau hatten zu einer antipolnischen Stimmung in der russischen Gesellschaft geführt.246 Nach dem 241 Vgl. Bronius Dundulis: Napoléon et la Lituanie en 1812, Paris 1940, S. 164; Janet M. Hartley: Russia in 1812. Part I: The French Presence in the Gubernii of Smolensk and Mogilev, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 38 (1990), S. 178–198, hier 179ff. 242 Vgl. Dundulis: Napoléon et la Lituanie, S. 173–219. 243 Vasilij Vereščagin: Napoleon I v Rossii 1812, Tver 1993, S. 100. 244 Vgl. Hartley: Russia in 1812, S. 188f. Diese Darstellung entspricht auch dem Narrativ, das kooperierende Adlige in ihren Erinnerungen festgehalten haben, etwa die Aufzeichnungen von Adam Chreptowicz für den Gourverneur von Wilna, Jurij A. Dolgorukov, vgl. Zapiska grafa Adama Chreptoviča, byvšago v 1812 g. členom administracii Vilenskago Departamenta, o proisšestvijach v Vilenskoj gubernii, in: Sbornik imperatorksago russkago istoričeskago obščestva 128 (1909), S. 403–410. 245 Namentlicher Ukas Alexanders I. vom 30.8.1814, in: PSZ I, Bd. 32, Nr. 25.671, S. 909–910. 246 Blackwell: Alexander I and Poland, S. 108.

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Rückmarsch der traurigen Reste der Grande Armée ließen einige Amtsträger ihren Revanchegelüsten freien Lauf. Adam Czartoryski wandte sich im April 1813 in einem verzweifelten Brief an den Zaren: „Die fünf litauischen Gouvernements kommen nicht in den Genuss der Wohltaten, die Sie ihnen zu gewähren gedachten, sondern leiden unter einer Verwaltung, die ungerechter und willkürlicher als alle vorangegangenen ist. Niemandes Eigentum, Leben oder Ehre sind sicher. Jeder Beamte, der Rachegelüste hegt oder von Profitgier getrieben ist, kann einen unschuldigen Bürger und seine ganze Familie ruinieren. (…) Die Gouvernementsverwaltung beschützt nicht die Einwohner, die in ihrer Obhut stehen, sondern scheint es für ihre Pflicht zu halten, diese zu drangsalieren und auszuplündern. Wenn Sie eine Vorstellung von den Untaten hätten, die in Ihrem Namen begangen werden, würden Sie all dem sofort Einhalt gebieten. (…) Die Menschen sind verzweifelt, und obwohl sie ruhig sind, könnten sie sich zum Aufstand genötigt sehen: nicht in der Hoffnung auf Erfolg, sondern weil es ihnen besser erscheint umzukommen als in den augenblicklichen Verhältnissen weiterzuleben.“247

Napoleons Russlandfeldzug hat das russisch-polnische Verhältnis zweifellos belastet. Dennoch war das Jahr 1813 kein Wendepunkt. Der Zar hatte mit seiner früh ausgesprochenen Amnestie und mit der Gründung des Königreichs Polen auf dem Wiener Kongress deutlich gemacht, dass er an einer pragmatischen Integrationspolitik festhalten wolle. Für die integrationsbereiten Adligen begann 1815 eine Phase neuer Hoffnungen, da das Königreich Polen ihren Vorstellungen von einem polnischen Staat, dem in Personalunion der russische Kaiser vorstand, schon sehr nahe kam. Franciszek Ksawery Branicki, einst Großhetman und 1792 Mitinitiator der Konföderation von Targowica, brachte gegenüber Alexander I. diese Hoffnung voll Pathos zum Ausdruck. Als der Zar 1816 durch Belaja Cerkov’ im Gouvernement Kiew reiste, begrüßte der alternde Adlige den Zaren in ordengeschmückter polnischer Uniform und erklärte unter Tränen, dass er nun als glücklicher Mann sterben könne, da er noch einmal einen polnischen König gesehen habe.248 Auch Adam Czartoryski sah in Alexander I. einen Förderer der polnischen Eigenstaatlichkeit. Auf dem Weg dorthin müsse man nur darauf hinarbeiten, den Grad der Autonomie des Königreiches schrittweise zu erhöhen und dessen territorialen

247 Brief Czartoryskis an Alexander I. vom 27.4.1813, in: Memoirs of Prince Adam Czartoryski, Bd. 2, S. 239. 248 Vgl. Alexey Miller / Mikhail Dolbilov: „The Damned Polish Question“. The Romanov Empire and the Polish Uprisings of 1830–1831 and 1863–1864, in: Jörn Leonhard / Ulrike von Hirschhausen (Hg.): Comparing Empires. Encounters and Transfers in the long Nineteenth Century, Göttingen 2011, S. 425–452, hier 428.



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Zuschnitt auf die Grenzen von 1772 auszuweiten.249 Und Stanisław Staszic wandte sich nach der Napoleonischen Erfahrung enttäuscht vom „Westen“ ab. Er sah in der Verbindung mit Russland eine slawische Mission zur Erneuerung Europas, wobei Polen die zivilisatorischen Werte vertrete und das Zarenreich die machtpolitischen Möglichkeiten böte.250 In der russischen Gesellschaft hatte der Krieg einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen. Auf der einen Seite wurde das Verhalten der Szlachta als loyal wahrgenommen, und so galt für manchen das Jahr 1812 noch nach dem Novemberaufstand als Beweis für die Ergebenheit des polnischen Adels gegenüber dem russischen Zaren.251 Auf der anderen Seite gab es Persönlichkeiten wie Nikolaj Karamzin, deren Vertrauen in den polnischen Adel nachhaltig erschüttert war. Als im Jahre 1815 das Gerücht aufkam, Alexander I. beabsichtige Podolien, Wolhynien, Weißrussland und Białystok dem Königreich Polen zuzuschlagen, da wandte sich der Reichshistoriker gegen solche Gedankenspiele mit dem nüchternen Hinweis: „Nein, Majestät, die Polen werden nie unsere wahren Brüder oder unsere treuen Verbündeten sein.“252 Der konservative Teil der zarischen Elite hatte die Loyalität der Szlachta von Beginn an in Zweifel gezogen und sah sich durch einzelne Meldungen, die von einer Kooperation polnischer Adliger mit den französischen Besatzern berichteten, in ihren Befürchtungen bestätigt. In diesem Segment der zarischen Gesellschaft war der „treulose Pole“ bereits zu einem nationalen Stereotyp geronnen, das sich nach dem Novemberaufstand in weiten Teilen der zarischen Gesellschaft als feste Überzeugung durchsetzen sollte. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Alexander I. sehr viel stärker als seine Großmutter Katharina II. und sein Vater Paul I. auf die traditionelle Kooptationspolitik setzte. Er war bestrebt, den polnischen Adel im zarischen Staatswesen auf allen Ebenen partizipieren zu lassen. Hinzu kam, dass er die polnischen Autonomiebestrebungen nachvollziehen konnte und zu einem Entgegenkommen bereit war. In den Westgouvernements verringerte Alexander I. den Druck, der durch die Adelsüberprüfung auf vielen Adligen lastete. Er brachte während seiner 24-jährigen Regierung zwar die Politik des Staatsausbaus durch die Reform der

249 Vgl. Zawadzki: A man of honour, S. 262–272. 250 Vgl. Hans-Christian Petersen: „Us“ and „Them“? Polish Self-Descriptions and Perceptions of the Russian Empire between Homogeneity and Diversity (1815–1863), in: Ilya Gerasimov / Jan Kusber / Alexander Semyonov (Hg.): Empire Speaks Out. Languages of Rationalization and Self-Description in the Russian Empire, Leiden, Boston 2009, S. 89–119, hier 94ff. 251 Schriftliche Notiz „Über die Stimmung der Einwohner in den von Polen zurückgekehrten Gebieten, ohne Unterschrift, ohne Datum [1836], in: GARF f. 109 s/a, op. 2, d. 257, l. 1–4ob., hier 2. 252 Karamzin: Opinion of a Russian citizen, S. 195.

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zentralen Regierungsorgane voran, erhöhte jedoch den Zugriff der Staatsgewalt auf die lokalen Organe in den polnischen Provinzen nicht. Alexander I. verfolgte das politische Ziel, die polnischen Teilungsgebiete in das Russische Reich zu integrieren. Auch wenn viele Polen von ihm mehr erhofften und mancher russische Konservative das Schlimmste befürchtete: Zu keinem Zeitpunkt war Alexander I. bereit, die russischen Teilungsgebiete für die Wiederherstellung eines unabhängigen polnischen Staates preiszugeben. Vielmehr hat er von allen Zaren am deutlichsten auf eine pragmatische Integrationspolitik gesetzt. Seine Beziehung zu Adam Czartoryski steht paradigmatisch für sein Verständnis von Integration: Es ging ihm nicht um staatliche Normdurchsetzung, sondern um den Versuch, den anerkannten Interessen des polnischen Gegenübers gerecht zu werden. Aus diesem Grunde bildet Napoleons Russlandfeldzug auch keinen tiefen Einschnitt in der zarischen Polenpolitik. Auch nach 1815 verfolgte Alexander I. eine pragmatische Integrationspolitik. Allerdings hatte die breite Beteiligung polnischer Adliger in Napoleons Grande Armée ihre Spuren bei der konservativen Elite des Zarenreiches hinterlassen. Zumindest in Teilen der russischen Gesellschaft galt der polnische Adel seitdem als im Grunde feindselig und damit als latent illoyal.

4. Von der pragmatischen zur normativen Integrationspolitik: Der Novemberaufstand 1830 und die A delspolitik Nikolaus’ I. 4.1. „So leicht beredt und stets bereit, Rus zu verleumden und zu hassen“: Der Novemberaufstand als Wendepunkt in der russischen Wahrnehmung der Szlachta Der Wechsel auf dem Zarenthron im Jahr 1825 brachte einmal mehr einen Umschwung in der Politik gegenüber dem polnischen Adel. Nikolaus I. konnte der Politik seines Vorgängers nicht viel abgewinnen. Er beendete die Phase, in der eine Kooptation des polnischen Adels Vorrang vor dem Staatsausbau genoss, denn der neue Zar hielt eine Stärkung der Staatsgewalt für die angemessene Antwort auf die vielfältigen Herausforderungen seiner Zeit.253 Die polnische Frage war vor 1830 allerdings noch kein drängendes Problem. Nikolaus I. war vielmehr bereit, den Status des Königreichs Polen zu akzeptieren und seine Rolle als polnischer König ernst zu nehmen. Anders als sein Vorgänger kam er zur Krönungsfeier nach 253 Das Zerrbild vom „Gendarm Europas“ wird der historischen Persönlichkeit allerdings kaum gerecht, vgl. vor allem die um ein ausgewogenes Bild bemühte Biographie von W. Bruce Lincoln: Nikolaus I. von Rußland 1796–1855, München 1981.



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Warschau und versprach, genauso gut ein Pole wie ein Russe zu sein. Seinen ältesten Sohn und Thronfolger Alexander ließ er Polnisch lernen, damit die Sprache ihm genauso vertraut wie das Russische werde.254 In den ersten fünf Jahren der Herrschaft Nikolaus’ I. gab es keine besonderen Aktivitäten in der russischen Polenpolitik. Man nahm lediglich kleinere Korrekturen an der geltenden Gesetzeslage vor, die zum Beispiel die Besteuerung der deklassierten Adligen oder den Adelsnachweis von Minderjährigen betrafen.255 Die zarische Regierung strebte zunächst eine Bestandsaufnahme der bisherigen Adelspolitik an. Am 22. Juni 1829 setzte Nikolaus I. eine Kommission ein, in die er den Innenminister, den Kriegsminister und den Finanzminister berief. Der Zar trug dem Gremium auf, Möglichkeiten zum Anschieben der festgefahrenen Adelsüberprüfung zu entwickeln.256 Die Kommission verschaffte sich zunächst einen Überblick über den Stand der Adelsverifikation. Diese erste Bestandsaufnahme war niederschmetternd. Man kam zu dem Ergebnis, dass sich die Überprüfung des Adels in den Westgouvernements noch immer an demselben Punkt befand wie unmittelbar nach den Teilungen.257 Etwa zur gleichen Zeit kam das Ministerkomitee auf Grundlage der Akten des Heroldsamtes zu dem Schluss, dass die Adelsdeputiertenversammlungen der Westgouvernements bei der Ausstellung von Adelsbriefen großen Missbrauch betrieben hätten.258 Auch die lokalen Organe deckten eine Fülle von Bestechungs- und Betrugsfällen auf. So kam etwa ans Licht, dass die Adelsdeputiertenversammlung in Wilna in den Jahren 1818 bis 1820 Hunderte von Adelsnachweisen ausgestellt hatte, obwohl die Antragsteller nicht die erforderlichen Dokumente vorlegen konnten. Mehrere adlige Wahlbeamte waren in diesen Betrugsfall verstrickt und große Summen an Bestechungsgeldern waren geflossen. Die zarische Regierung setzte daraufhin eine Sonderkommission ein, um das ganze Ausmaß des Falles aufzudecken.259 Derartige Skandale bestärkten die zarische Regierung in ihrer Auffassung, dass die bisherigen Ergebnisse der Adelsrevision vollkommen wertlos waren. Der Novemberaufstand rief die Polenpolitik mit Vehemenz zurück auf die Agenda zarischer Regierungspolitik. Seit der Niederschlagung des KościuszkoAufstandes rangen revolutionäre Romantiker und pro-russische Reformer um den 254 N. K. Šil’der: Imperator Nikolaj Pervyj, ego žizn’ i carstvovanie, 2 Bde., Moskau 1997, Bd. 1, S. 391–395. 255 Vgl. den Senatsukas vom 8.6.1826, in: PSZ II, Bd. 1, Nr. 397, S. 542–543, oder die durch Nikolaus I. bestätigte Resolution des Reichsrats vom 6.2.1828, in: PSZ II, Bd. 3, Nr. 1.773, S. 83–84. 256 Vgl. die durch Nikolaus I. bestätigte Resolution des Reichsrats vom 22.6.1829, in: PSZ II, Bd. 4, Nr. 2.948, S. 445. 257 Vgl. Tumilovič: Dvorjanstvo Belarussii, S. 117f. 258 Statut des Ministerkomitees vom 18.11.1839, in: PSZ II, Bd. 5, Nr. 4.104, S. 379–381. 259 Auszug aus dem Journal der Wilnaer Gouvernementsregierung vom 22.5.1828, in: LVIA f. 391, op. 6, d. 260, l. 8–18ob.

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richtigen Kurs zur Wiederherstellung eines polnischen Staates. Mit dem Novemberaufstand von 1830/31 setzten sich vorübergehend die Revolutionäre durch.260 Seinen Ausgang nahm der Aufstand im Königreich Polen. Eine relativ kleine Gruppe von Warschauer Offiziersschülern hatte unter dem Einfluss der Julirevolution in Paris und der belgischen Revolution im August 1830 den Aufstand geplant und durchgeführt. Unmittelbarer Anlass war das Gerücht, die polnische Armee würde zur Wiederherstellung der alten Ordnung in Frankreich und den Niederlanden eingesetzt werden. Die deutsche Historiographie hat in den Aufständischen der ersten Phase lange Zeit jugendliche Draufgänger gesehen, die überstürzt agiert und dabei vorhandene Einrichtungen fahrlässig aufs Spiel gesetzt hätten, um diffuse Vorstellungen von größerer Freiheit zu verwirklichen.261 Demgegenüber zeigt Claudia Kraft, wie polnische Adlige über erfolgreiche Karrieren in der Armee des Königreichs Polen ihren prekären sozialen Status zu sichern versuchten. Ihr Aufstieg in Offiziersränge blockierte jedoch die Karrierewege der nachfolgenden Generation, so dass der Novemberaufstand von 1830 auch als ein innerpolnischer Eliten- und Generationenkonflikt verstanden werden kann. Der Aufstand könne demzufolge nur in einem begrenzten Sinne als „national“ bezeichnet werden. Vielmehr seien die politischen Ziele auf etwas imaginär „Nationales“ ausgeweitet worden, da es im jeweiligen persönlichen Leben an Aufstiegschancen gefehlt habe.262 Trotz anfänglicher organisatorischer Mängel und Fehlschläge verwandelte sich der Aufstand binnen Kurzem in eine militärische Auseinandersetzung, die von der zarischen Armee nur unter erheblichen eigenen Verlusten gewonnen werden konnte. Die Erhebung griff auch auf die Westgouvernements über, und polnische Truppen konnten zeitweise Wilna einnehmen.263 Hier gehörten der Adel und insbesondere der Kleinadel zu den Hauptträgern des Aufstandes.264 260 Vgl. Jerzy Skowronek: The Direction of Political Change in the Era of National Insurrection, 1795–1864, in: J. K. Federowicz (Hg.): A Republic of Nobles. Studies in Polish History to 1864, Cambridge u.a. 1982, S. 258–281. 261 Vgl. zum Beispiel Gotthold Rhode: Kleine Geschichte Polens, Darmstadt 1965, S. 350; Hoensch: Geschichte Polens, S. 198f.; Manfred Alexander: Kleine Geschichte Polens, Stuttgart 2003, S. 200. 262 Vgl. Kraft: Polnische militärische Eliten, S. 293f. 263 Zum Aufstandsgeschehen vgl. Leslie: Polish Politics and the Revolution of November 1830, S.  96–255; Gill: Freiheitskämpfe der Polen, 131–184; Jerzy Skowronek  / Maria Żmigrodzka (Hg.): Powstanie listopadowie 1830–31. Geneza – uwarunkowania – bilans – porównania, Wrocław u.a. 1983; Władysław Zajewski: Powstanie listopadowe 1830–1831. Polityka, wojna, dyplomacja, Warschau 2001; Kieniewicz / Zahorski / Zajewski: Trzy Powstania narodowe, S. 151–279. 264 Die sowjetische Forschung hat versucht, den Novemberaufstand nicht als polnischen Nationalaufstand, sondern als Aufbegehren der Unterschichten gegen die Autokratie zu werten. Auch wenn in den Statistiken der Anteil der Bauern besonders hoch erscheint, da darin der Adel in drei Gruppen aufgespalten wird (in Szlachta, Adel und Gutsbesitzer), so deuten bereits diese Zahlen auf die führende Rolle des Adels hin, vgl. V. A. D’jakov / V. M. Zajcev / l. A. Obušenkova:



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Die politischen Folgen des Novemberaufstandes wogen zweifellos schwer. Im Königreich Polen wurde die Verfassung aufgehoben, die Armee aufgelöst, die Verwaltung an das russische System angeglichen, die Universität Warschau geschlossen und das polnische Schulwesen dem Petersburger Volksbildungsministerium unterstellt. Zudem wurde das Kriegsrecht ausgerufen, das Alexander II. erst 1856 wieder aufhob.265 Auch in den Westgouvernements ergriff die zarische Regierung Maßnahmen, die einem abermaligen Aufruhr vorbeugen sollten. Zahlreiche Aufständische flohen ins Exil, ihre Güter wurden konfisziert und an Russen verpachtet. Die Universität in Wilna musste ebenso wie das Lyzeum in Krzemieniec ihre Tore schließen, weil man in ihnen einen Hort nationalen und revolutionären Gedankenguts sah. 266 Der Novemberaufstand hat die Sicht der zarischen Eliten auf den polnischen Adel fundamental verändert. Seitdem polnische Truppen auf der Seite Napoleons gekämpft hatten, galt ein unabhängiges Polen als außenpolitisches Sicherheitsrisiko für das Zarenreich.267 Doch erst nach 1830 gerannen ältere Vorstellungen und neue Vorbehalte zu einem Bild, das die russische Wahrnehmung fortan prägte und entscheidenden Einfluss auf die zarische Adelspolitik gewann. Die erste Facette dieses neuen Polenbildes bestand aus dem Vorwurf, der polnische Adel befinde sich als Stand in Unordnung. Die Mitglieder des Komitees für die Westgouvernements (Komitet zapadnych gubernij), das nach dem Novemberaufstand von Nikolaus I. ins Leben gerufen worden war, waren sich etwa darin einig, dass der Szlachta jegliche Ordnung fehle und sie genau aus diesem Grund für den Staat schädlich, wenn nicht sogar gefährlich sei. Die Unordnung der Szlachta sei eine Folge der Social’nyj sostav učastnikov pol’skogo vosstanija 1830–1831 gg. (po materialam zapadnych gubernij Rossijskoj imperii), in: V. A. D’jakov / M. N. Kuz’min / I. S. Miller (Hg.): Istorikosociologičeskie issledovanija (na materialach sljavjanskich stran), Moskau 1970, S. 19–168. Neuere Untersuchungen betonen die starke Beteiligung des Kleinadels. Vol’ga Harbačova hat zum Beispiel allein für die weißrussischen Gouvernements 2.300 Aufständische namentlich ausfindig machen können und diese in einem biographischen Lexikon zusammengetragen. Der überwiegende Teil der Aufständischen stammte demnach aus dem Kleinadel, vgl. Vol’ga V. Harbačova: Udzel’niki paŭstannja 1830–1831 hh. na Belarusi, Minsk 2004. Auch in den ukrainischen Gouvernements war der Gemeinadel der Hauptträger des Aufstandes, vgl. Sergij Lisenko / Ėvgen Černec’kij: Pravoberežna šljachta kinec XVIII – perša polovina XIX st. Spisok šljachti Volyns’koj Kiïvs’koj ta Podil’skoï gubernij, dvorjans’ki prava jakoï perevirila Central’na revizijna komisija, 2. Auflage, Bila Cerkva 2007, S. 45. Die Aufstandsbeteiligung der Bauern und deren entwickeltes Nationalbewusstsein betonte jüngst Przemysław Milewicz: National Identification in Pre-Industrial Communities. Peasant Participation in the November Uprising in the Kingdom of Poland, 1830–1831, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 58 (2010), S. 321–352. 265 Vgl. Piotr S. Wandycz: The Lands of Partitioned Poland, 1795–1918, Seattle, London 1974, S. 122–126; Thaden: Russia’s Western Borderlands, S. 144–153. 266 Vgl. Rhode: Kleine Geschichte Polens, S. 355f. 267 Vgl. Renner: Russischer Nationalismus, S. 189.

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großen Anzahl an Adligen, so dass ihre Verkleinerung Ordnung herstellen und die Gefahr eines Aufstandes verringern würde.268 Und der Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien, Dmitrij Bibikov, berichtete Nikolaus I. empört über das Verhalten der Szlachta bei der Adelsrevision: Einen Adelsnachweis könne man hier in der Kneipe für zehn Rubel kaufen, und die Szlachta missbrauche die Befugnisse der Adelsdeputiertenversammlung dazu, sich mit Hilfe solcher gefälschten Urkunden ihre Adligkeit bestätigen zu lassen. Der Generalgouverneur forderte umfassende Maßnahmen zur Beendigung dieser Unordnung, die in den Adelsdeputiertenversammlungen herrsche, und trat für eine klare Abgrenzung des „echten“ Adels von jenen Steuerpflichtigen ein, die sich unberechtigterweise zur Szlachta hinzuzählen ließen.269 Auch wenn sich die Beschwerden über mangelnde Ordnung nach dem Novemberaufstand häuften, so verstärkte dieses Bild nur ältere Vorstellungen. Die Klagen über „Unordnung“ orientierten sich noch immer an Katharinas II. aufgeklärtem Ordnungsideal. Die Zarin selbst hatte Polen als einen Hort der Unordnung beschrieben. Sie war davon ausgegangen, dass ihre neuen Untertanen schon bald „ihre Loslösung von der Anarchie der polnischen Republik als einen ersten Schritt zu ihrem Glück“ ansehen würden.270 Auch die zweite Teilung Polens von 1793 hatte Katharina II. mit dem Argument gerechtfertigt, dass Unordnung und Zwietracht die Adelsrepublik letztlich zerrissen hätten.271 Zweifellos legitimierte Katharina II. mit dem Vorwurf der Anarchie die Teilungen Polens. Die verzerrte Wahrnehmung der polnischen Adelsrepublik war allerdings nicht nur die Rechtfertigung einer machtpolitischen Entscheidung, sondern entsprang vielmehr dem herrschaftlichen Selbstverständnis der Zarin. Sie teilte mit Friedrich II. und Joseph II. die Überzeugung, dass ihre aufgeklärt-absolutistische Herrschaft am ehesten die innere Ordnung eines Gemeinwesens gewährleisten könne und deshalb die beste Regierungsform sei. Die Schwäche der monarchischen Gewalt habe hingegen den polnischen Staat in den Untergang getrieben. Die Vorstellungen, die man in St. Petersburg vom politischen Leben der Adelsrepublik hatte, prägten wiederum die Selbstdarstellung des Zarenreichs in den polnischen

268 Journal des Komitees für die Westgouvernements, Eintrag vom 22. und 28.9.1831, in: RGIA f. 1266, op. 1, d. 8, l. 11–46, hier l. 35ob-36. 269 Bericht des Generalgouverneurs von Kiew, Podolien und Wolhynien an Nikolaus I. über den Zustand der Gouvernements Kiew, Podolien und Wolhynien im Jahr 1839, vom 22.3.1840, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 2788, l. 1–107, hier 47. 270 Instruktion für die Gouverneure von Pskov und Mogilëv, Kachovskij und Krečetnikov, anlässlich ihrer Einsetzung vom 28. Mai 1772, in: PSZ I, Bd. 19, Nr. 13.808, S. 507–511, hier 508. 271 Manifest Krečetnikovs zur Bekanntmachung eines Befehls Katharinas  II. bei den russischen Truppen im Lager Polonno vom 27.3.1793, in: PSZ I, Bd. 23, S. 410–412, hier 410.



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Provinzen.272 Und die Repräsentation zarischer Herrschaft in den Westgouvernements des Imperiums wirkte seinerseits auf das Bild zurück, das sich die russische Verwaltungselite von den annektierten Gebieten machte. In den Augen Gavriil Dobrynins standen die gepflegten Straßen, die neu errichteten Steinhäuser oder die Uniformen der Postillione, die aus grünem Tuch genäht und mit kupfernen Wappen an den Mützen geschmückt waren, für die ordnende Hand der zarischen Herrschaft in den litauisch-weißrussischen Provinzen. Die schmutzigen Dörfer mit ihren alten Holzbauten und alles, was vom Selbstbild der ordnungsstiftenden Staatsgewalt abwich, betrachtete er als kennzeichnend für das Wesen der alten Adelsrepublik und ihrer politischen Ordnung: einer Herrschaft „von hunderttausend Königen, die von Mönchen ausgebildet worden waren und das Bündnis mit dem jüdischen Volk auf Kosten ihrer Untertanen stärkten“.273 In diesem Bild flossen die Vorbehalte gegenüber dem Wahlkönigtum mit einem konfessionell aufgeladenen Zerrbild der Sozialstruktur der polnischen Ostgebiete und einem traditionellen Antisemitismus zusammen: orthodoxe Bauern, die vom katholischen Klerus und Adel mithilfe von jüdischen Gutsverwaltern erbarmungslos ausgebeutet wurden. Die russischen Historiker des 19. Jahrhunderts beteiligten sich bereitwillig an einer Legitimation der Teilungen und gaben das negative Bild von der Adelsrepublik an die nachfolgenden Generationen weiter. Am Anfang dieser Überlieferung steht der von Alexander I. zum Reichshistoriker ernannte Nikolaj M. Karamzin, der nur wenige Jahre nach den Teilungen resümierte: „Jetzt wendet sich unser Blick auf jene, einst mächtige Republik, deren Nahme und Daseyn in Europa verschwunden ist. Wie lange ist es, daß das freche und wüthende Pohlen unser Vaterland zerfleischte? Wie lange ist es, daß es, unsere Kraftlosigkeit benutzend, mit räuberischer Hand ganze Fürstenthümer von Rußland an sich riß? Wie lange ist es, daß du, blühendes Moskwa, zu den Füßen des sarmatischen Heerführers lagst? Aber Rußland stand auf in seinem Zorne, gleich einem gefallenen Riesen: die Reihe kam an die Feinde, vor ihm niederzufallen, und es nahm das Geraubte wieder. Die Monarchie entriß Pohlen nichts, als unsere alten Besitzungen, zu einer Zeit, da der schwache Geist der sinkenden Republik diese ausgebreiteten Provinzen nicht mehr zu beherrschen vermochte. Jene berühmte Theilung war das Werk von Cathari-

272 Die wechselnde Beeinflussung von Vorstellung und Darstellung gehört nach Roger Chartier zu den zentralen Wesensmerkmalen von „Repräsentation“, vgl. Roger Chartier: Die unvollendete Vergangenheit. Geschichte und die Macht der Weltauslegung, Frankfurt a. M. 1992, S. 11 und 14. 273 Gavriil I. Dobrynin: Istinnoe povestvovanie ili žizn’ Gavriila Dobrynina, im samim pisannaja v Mogilëve i v Vitebske, St. Petersburg 1872, S. 155f. Ähnlich auch Lev Ėngel’gardt, nach dessen Darstellung die strenge Hand von Černyšëv die Anarchie in ein geordnetes Gemeinwesen überführt habe, vgl. Lev N. Ėngel’gardt: Zapiski, Moskau 1997, S. 26.

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nens Macht und ihrer Liebe zu Rußland. Polozk und Mohilew kehrten wieder in den Schooß des Vaterlandes zurück, gleich Kindern, die lange Zeit in trauriger Abwesenheit schmachteten, und nun mit Freuden in den Schooß ihrer theuren glücklichen Familie zurückkehrten.“274

In dieser Lesart hatte Katharina II. die Welt wieder in Ordnung gebracht, indem sie einst von Polen geraubte Gebiete zurückholte. Folgt man Karamzin, dann kamen die Teilungen den Polen schließlich sogar selbst zugute: „Pohlen hörte auf zu seyn; aber seine unruhigen und unglücklichen Bewohner fanden Frieden und Ruhe unter dem Zepter der drey verbündeten Mächte. Eine Republik ohne Tugend und heldenmüthige Vaterlandsliebe ist ein todter Leichnam ohne Seele.“275

Mit dieser Vorstellung stand Karamzin ganz in der Kontinuität Katharinas II. Die Adelsrepublik war der Inbegriff für „Unruhe“ und „Unglück“. Demgegenüber stand die Herrschaft Katharinas II. für „Frieden und Ruhe“: zwei zentrale Begriffe der „Guten Policey“ in einer aufgeklärt-absolutistischen Herrschaft.276 Während der Begriff „Unordnung“ vor dem Novemberaufstand also vor allem für eine Beschreibung der Verhältnisse in der Adelsrepublik verwandt wurde und damit nicht zuletzt die Teilungen Polens legitimierte, so wurde er nach 1830 immer mehr zu einer Beschreibung des angeblichen Zustands der Westgouvernements. Dort herrsche der alte Geist der Unordnung, weil es immer noch polnische Gesetze und Institutionen gebe.277 Die indigene Bevölkerung ließe sich allerdings nur besänftigen und schrittweise in Russen umwandeln, wenn in den polnischen Provinzen des Reiches Ordnung herrsche.278 Als ausschlaggebender Unruhefaktor galt die Szlachta. Dmitrij Bibikov, Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien, zeichnete 1840 in einem Bericht an den Zaren das Bild eines Adels, mit dem kein Staat zu machen war. Die Szlachta pflege den Müßiggang, sei nicht an Ordnung gewöhnt und habe ein verderbtes Recht. Stets seien die polnischen Adligen dazu bereit, geheime Ränke zu schmieden und alle möglichen Formen von Unruhe zu stiften. Auch nähmen sie keinen Abstand von jenen aufrührerischen Ideen, die schon das ehemalige Polen aufgewühlt und schließlich zu Fall 274 275 276 277

Nikolai Karamsin: Lobrede auf Catharina die Zweyte, Riga 1802, S. 38f. Ebd., S. 54f. Vgl. Raeff: The Well-Ordered Police State, S. 222–229. Bericht des Generalgouverneurs von Kiew, Podolien und Wolhynien an Nikolaus I. über den Zustand der Gouvernements Kiew, Podolien und Wolhynien im Jahr 1839, vom 22.3.1840, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 2788, l. 1–107, hier l. 31ob. 278 Schriftliche Notiz „Über die Stimmung der Einwohner in den von Polen zurückgewonnenen Gebieten, ohne Unterschrift, ohne Datum [1836], in: GARF f. 109 s/a, op. 2, d. 257, l. 1–4ob., hier 1–1ob.



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gebracht hätten. Im Gegenteil: Noch mehr als früher folgten sie den törichten Einflüsterungen westlicher Liberaler und der polnischen Emigration, zweier sehr unterschiedlicher politischer Kräfte, die jedoch in der verbrecherischen Hoffnung auf Unruhe zusammenfänden. All diese Faktoren regten die Phantasie des Adels an, da Träume schließlich kostenlos seien. Es gebe keinen einzigen Polen, der nicht daran denke, dass er in der politischen Ordnung der Adelsrepublik zum König hätte gewählt werden können: „Wer hat dieses Streben beendet? Die russische Herrschaft, das russische Gesetz und die durch Russland eingeführte Ordnung. Trotzdem haben sie ihre Träume nicht verloren und fürchten deren Zerstörung mehr als die Realität. Die hiesigen Polen sind der Rest und die Trümmer eines einst selbstständigen Volkes unter Arrest, welches das Kainsmal der Selbstzerstörung trägt.“279

Katharina II. und Karamzin hatten Unordnung noch als Kennzeichen der untergegangenen Adelsrepublik gesehen. Nach dem Novemberaufstand galt die Szlachta als eine zerstörerische Kraft, welche die Unordnung in den Westgouvernements verursacht und damit ins Zarenreich selbst getragen hatte. Aus einer Beschreibung der Vergangenheit war eine Analyse der Gegenwart geworden. Indem man den Geist der Unordnung zu einer kollektiven Charakterschwäche der Szlachta erklärte, hatte man fortan eine Deutung zur Hand, die alle Probleme und Reibungsverluste bei der Implementierung staatlicher Normen in den Westgouvernements zu erklären vermochte. Entsprach die Realität vor Ort nicht den staatlichen Ordnungsvorstellungen, dann wurde dies nicht als Folge politischer Fehler oder mangelnder Durchsetzungsfähigkeit der Staatsgewalt gesehen, sondern als Resultat der Tatsache, dass in den Westgouvernements eine zur Staatsbildung unfähige Bevölkerungsgruppe die Elite bildete. Im Kontext der französischen Julirevolution von 1830 und der europäischen Revolutionen von 1848 gewann die Gleichsetzung der Polen mit den emanzipatorischen und nationalen Aufstandsbewegungen jener Zeit auch eine außenpolitische Dimension. Den restaurativen Charakter der russischen Politik brachte der Außenminister Karl von Nesselrode auf den Punkt, als er deren Prinzipien als „monarchisch und antipolnisch“ kennzeichnete.280 Das zweite neue Element in der zarischen Wahrnehmung war, dass die Szlachta nach dem Novemberaufstand pauschal als Verräter stigmatisiert wurde. 279 Bericht des Generalgouverneurs von Kiew, Podolien und Wolhynien an Nikolaus I. über den Zustand der Gouvernements Kiew, Podolien und Wolhynien im Jahr 1839, vom 22.3.1840, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 2788, l. 1–107, hier l. 42ob.-44, Zitat 43ob.-44. 280 Vgl. Schulze Wessel: Russlands Blick auf Preußen, S. 93.

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Schon vor dem Aufstand hielten strikte Verfechter der Autokratie wie Alexander Benckendorff, Leiter der zarischen Geheimpolizei, den polnischen Adel für unzuverlässige Intriganten.281 Der Gouverneur von Grodno, Michail Murav’ëv, sah in der Szlachta einen „Hort des Aufruhrs“ und prophezeite, dass diese ohne eine grundlegende Umgestaltung immer ein Instrument des Aufstandes bleiben werde.282 Und der Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien, Boris Knjažnin, sah in der Szlachta eine Klasse, die alle Elemente eines Aufstandes verkörpere. Der besitzlose Kleinadel sei jederzeit zu verbrecherischen Taten gegen die Regierung bereit, da er nichts zu verlieren habe. Die Gutsbesitzer wählten den Kleinadel wiederum bei allen politischen Aktionen als eine Waffe, indem sie ihm Geld gäben.283 Vorstellungen von mangelnder Loyalität der Szlachta tauchten zum ersten Mal im „Vaterländischen Krieg“ auf, als die polnischen Legionäre der Grande Armée zur Projektionsfläche für die Ängste vor der napoleonischen Bedrohung wurden.284 Mit dem russischen Sieg und dem Versöhnungskurs Alexanders I. gewann dieser Verdacht jedoch noch nicht die Oberhand im russischen Polendiskurs. Dies änderte sich mit dem Novemberaufstand von 1830/31. Nun setzte sich der Vorwurf der Illoyalität auf breiter Front durch. Alexander Puschkin beschrieb die Polen wortgewaltig und wirkungsmächtig als undankbare Verleumder, deren Hass auf Russland nur mit Gewalt beizukommen sei. In seinem Gedicht zum Jahrestag der Schlacht von Borodino erinnerte er 1831 die Polen an ihre Teilnahme an Napoleons Russlandfeldzug und das großmütige Geschenk, das Alexander I. ihnen mit der Gründung des Königreichs Polen auf dem Wiener Kongress gemacht habe: „(…) Besiegt blieb Polen unverletzt; Wir haben’s nicht in Schutt zerschlagen; Wir trugen unsern Feinden jetzt Nicht nach, was seit uralten Tagen Manch wahre Chronik stumm beschwört; Es ward ihr Warschau nicht zerstört; Sie sahn der Nemesis ins strenge,

281 [Alexander Ch. Benckendorf]: Imperator Nikolaj I v 1830–1831 gg. (Iz zapisok grafa A. Ch. Benkendorfa), in: Russkaja starina 88 (1896), S. 65–96, hier 70. 282 Četyre političeskija zapiski grafa Michaila Nikolaeviča Murav’ëva Vilenskago (Denkschrift vom 29.8.1831), S. 184. 283 Bericht des Generalgouverneurs von Kiew, Podolien und Wolhynien an Nikolaus I. über den Zustand der Gouvernements Kiew, Podolien und Wolhynien im Jahr 1839, vom 22.3.1840, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 2788, l. 1–107, hier 45–45ob. 284 Siehe dazu Kapitel 3.3.



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Ins zornerglühte Antlitz nicht, Wir sangen keine Hassgesänge, Wir dichteten kein Hassgedicht. Doch ihr, die ihr das Haus entzweit, Ihr Schellennarrn des Lärms der Massen, So leichtberedt und stets bereit, Rus zu verleumden und zu hassen! Was wollt ihr denn? … Ist unser Reich Ein kränklicher Koloß für euch? Soll Rußlands Ruhm euch immer bleiben Ein Lügentraum und ein Geschwätz? Soll Warschau wieder uns verschreiben Sein übermütiges Gesetz? Von Worskla und Liman zum Bug, Wo sind denn Rußlands Festungslinien? Bogdans Vermächtnis, ist es Lug? Zu wem gehört das Land Wolhynien? Ist Litaun nicht mehr unser, sprecht, Und ist für euch Revolte Recht? Und sollen wir aus Kiew weichen, Der Russenstädte Ahn und Ruhm, Und muß ihm nicht auch Warschau gleichen Durch unserer Gräber Heiligtum? Glaubt ihr, Geschrei, vom Wind gezeugt, Kann unseres Herrschers Sinn erregen? Sprecht, wer hat denn sein Haupt gebeugt? Wer siegte: Worte oder Degen? Ist Rußland stark? Seht, Krieg und Pest, Der Aufstand und der Sturm im West Sind rasend über uns gezogen – Schaut Rußland an: es steht noch groß! Und glatt sind rings um uns die Wogen – Und über Polen fiel das Los … (…)“285 285 Auszug aus Alexander Puschkin: Der Jahrestag von Borodino, in: ders.: Die Gedichte. Russisch und deutsch. Aus dem Russischen übertragen von Michael Engelhard, Frankfurt a. M., Leipzig

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Hier vereint Puschkin alle Elemente eines Polenbildes, das einerseits großen Anklang in der zarischen Elite fand, das andererseits jedoch seine Freundschaft mit Adam Mickiewicz zerbrechen ließ: Der russische Großmut gegenüber den zahlreichen Feindseligkeiten der Polen, die Unversöhnlichkeit sowie der Hochmut der Polen gegenüber den Russen und die Aussichtslosigkeit des polnischen Kampfes gegen die letztlich überlegene Großmacht.286 Puschkin brandmarkte die Polen als eine feindselige Nation. Innerhalb der zarischen Regierung machte man sich dagegen weniger um den vermeintlichen Nationalcharakter der Polen als um die Loyalität des Adels Gedanken. Das nach dem Novemberaufstand von Nikolaus I. eingerichtete „Komitee für die Westgouvernements“ sah vor allem im besitzlosen Kleinadel jene Unruhestifter, die Puschkin so eindringlich beschrieben hatte: „Auf der einen Seite sind sie [die besitzlosen Adligen, J. G.] faul aufgrund ihrer Armut und ihres Mangels an Bildung, weshalb sie mehr als jede andere Gruppe zu Aufsässigkeit und Rebellion neigen. Auf der anderen Seite verbreiten sie eine Atmosphäre von Unzufriedenheit und gegenseitigen Schuldzuweisungen in der gesamten Region. Es ist deshalb die Hauptaufgabe des Gouverneurs, nach der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, die Zahl dieser Klasse von schädlichen Individuen zu verkleinern und ihnen alle Mittel zu nehmen, mit denen sie den Frieden stören. (…) Diese faule Szlachta des Westens soll in nützliche Bürger umgewandelt werden und sich der natürlichen Ordnung der Dinge beugen.“287

Galt der Gemeinadel bislang als verarmt und zu zahlreich, so wurde er hier als ein schädliches Element beschrieben. Eine solche Analyse verlangte nach politischen Konsequenzen: Es gehe jetzt nicht mehr allein um einen Umbau der polnischen Adelsgesellschaft, sondern um die Umerziehung der Szlachta zu „nützlichen Bürgern“.

1999, S. 777–781, hier 779ff. Zum Kontext von Puschkins dichterischer Verarbeitung des Novemberaufstands vgl. Megan Dixon: Repositioning Pushkin and the Poems of the Polish Uprising, in: David l. Ransel / Bozena Shallcross (Hg.): Polish Encounters, Russian Identity, Bloomington, Indianapolis 2005, S. 49–73. 286 Zur Fortschreibung dieser Stereotypen in der russischen Literatur vgl. Ja. Savickaja: Izobraženie pol’skich nacional’no-osvoboditel’nych vosstanij v russkoj poėzii – izmenenie stereotipov, in: V. A. Chorev (Hg.): Rossija – Pol’ša. Obrazy i stereotipy v literature i kul’ture, Moskau 2002, S. 216–224. Zur Freundschaft Puschkins mit Mickiewicz und ihrem Ende siehe Gottfried Schramm: Von Puschkin bis Gorki. Dichterische Wahrnehmungen einer Gesellschaft im Wandel, Freiburg i. Br. 2008, S. 59 und 82. 287 Gesetzesentwurf des Komitees für die Westgouvernements vom November 1839, in: RGIA f. 1266, op. 1, d. 24, l. 249.



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Mancher hohe Amtsträger im Zarenreich brandmarkte die bisherige Politik als eine Fehlentwicklung. Michail Murav’ëv, Gouverneur von Grodno, charakterisierte Alexander I. als einen zu milden und barmherzigen Zaren, dessen politisches Entgegenkommen von polnischer Seite schamlos ausgenutzt worden sei. Die Regierung hätte viel zu viel Geduld aufgebracht und im Gegenzug hätte sich die Szlachta gegen den Zaren erhoben. Da Milde und Nachsicht von den Polen nur zu ihrem Vorteil ausgenutzt würden, bleibe der Regierung nichts anderes übrig, als den Polen mit Unerbittlichkeit und Strenge zu begegnen. Ein kompromissbereiter Kurs münde hingegen wieder in einen blutigen Aufstand.288 Hinzu kam die außenpolitische Dimension des Aufstandes. Die politische Elite des Zarenreiches betrachtete die große Sympathiewelle, die den polnischen Aufständischen in weiten Teilen Europas entgegenschlug, mit Besorgnis. Benckendorff unterstellte der öffentlichen Meinung in Paris und London, sie würden vor allem deshalb mit den Polen sympathisieren, weil sie in deren Aufbegehren eine Schwäche Russlands erblickten.289 Und Alexander Puschkin adressierte ein weiteres Gedicht an die „Verleumder Russlands“, womit er die Sympathisanten der Aufständischen in Europa meinte: „Wozu der Worte Lärm, fremdländische Rhetoren? Warum habt Fluch und Tod den Russen ihr geschworen? Was denn erzürnt euch so? dass Litauen meuternd brennt? Hört auf: das ist ein Streit dem Slawenstamm entsprossen, Ein Streit im eigenen Haus, vom Schicksal selbst beschlossen, Ist eine Frage, seht, die ihr nicht lösen könnt. Seit langem liegen schon im Streite Die Stämme, einem Stamm verzweigt; Der Sieg hat bald nach ihrer Seite Und bald nach unserer sich geneigt. Wohin neigt schließlich sich die Waage: 288 Vgl. Četyre političeskija zapiski grafa Michaila Nikolaeviča Murav’ëva Vilenskago (Denkschrift vom 29.8.1831), S. 184; Bericht des Generalgouverneurs von Kiew, Podolien und Wolhynien an Nikolaus I. über den Zustand der Gouvernements Kiew, Podolien und Wolhynien im Jahr 1839, vom 22.3.1840, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 2788, l. 1–107, hier l. 25–33ob., hier 28; Schriftliche Notiz „Über die Stimmung der Einwohner in den von Polen zurückgewonnenen Gebieten, ohne Unterschrift, ohne Datum [1836], in: GARF f. 109 s/a, op. 2, d. 257, l. 1–4ob. Siehe auch die Darstellung des Gouverneurs von Grodno, Nikolaj A. Dolgorukov: Ego Imperatorskomu Veličestvu general-ad-jutanta knjazja Dolgorukova. Vsepoddannejšee donesenie, in: Čtenija v obščestve istorii i drevnostej rossijskich 1864, H. 1, S. 175–197. 289 [Alexander Ch. Benckendorff]: Imperator Nikolaj I v 1832 godu (Iz zapisok grafa A. Ch. Benkendorfa), in: Russkaja starina 93 (1898), S. 281–295, hier 281f.

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Zu Polens Stolz, zu Russlands Ehr? Der Slawen Ströme, gehen sie ein ins russische Meer? Versiegt das Meer? das ist die Frage. Hört auf, lasst von uns ab: ihr wisst Die Blutigen Tafeln nicht zu lesen; Stets ist euch fern und fremd gewesen Der Slawen alte Bruderzwist; Nichts kann euch Kreml, nichts Praga sagen; Doch wie von wirren Wahn erfasst, Lockt euch des Kampfes kühnes Wagen – Und Hass befällt euch, und ihr hasst … (…)“290

Puschkin erklärt den russisch-polnischen Konflikt hier zu einem „slawischen Bruderzwist“, dessen innerer Kern den Europäern aus Unkenntnis der Geschichte verschlossen bleibe. Indem er den Novemberaufstand jedoch in die historische Kontinuität der russisch-polnischen Kriege des 17. Jahrhunderts stellte, konstruierte er einen Jahrhunderte währenden nationalen Konflikt, in dem sich Russen und Polen unversöhnlich gegenüberstanden.291 Das nach dem Novemberaufstand zunehmende Denken in einfachen FreundFeind-Kategorien stellt einen deutlichen Bruch dar, da es den polnischen Adel aus der zarischen Gesellschaft ausgrenzte. Als bei den Adelswahlen in Vitebsk 1831 zwei Personen zu Kreishauptmännern gewählt wurden, die bereits aus dem Adel ausgeschlossen waren, vermutete der Gouverneur dahinter nicht den Versuch zweier ehemaliger Adliger, wieder in den alten Stand zu gelangen. Eine derartige Deutung war bei vergleichbaren Fällen vor 1830 noch gang und gäbe gewesen. Nun aber witterte der Gouverneur eine groß angelegte Verschwörung, im Zuge derer eine Geheimgesellschaft gezielt zwei ihrer Mitglieder in jene staatlichen Ämter geschleust habe, die unter anderem auch für die Aufsicht von revolutionären Kräften zuständig waren.292 Polnische Adlige galten nach 1830 häufig als potentielle Aufrührer oder Verräter und waren damit das Gegenteil jener „Söhne des Vaterlandes“, als die 290 Auszug aus Alexander Puschkin: Den Verleumdern Russlands, in: ders.: Die Gedichte, S. 775– 777, hier 775. 291 Zum immer noch aktuellen Streit um die Erinnerung an die russisch-polnischen Kriege im 17. Jahrhundert vgl. Martin Aust: Polen und Russland im Streit um die Ukraine. Konkurrierende Erinnerung an die Kriege des 17. Jahrhunderts in den Jahren 1934 bis 2006, Wiesbaden 2009. 292 Schreiben des Vitebsker Gouverneurs an den Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv und Smolensk vom 20.7.1832, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 6587, l. 1.



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Katharina II. in ihrer Gnadenurkunde den russischen Adel bezeichnet hatte. Der Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien, Dmitrij Bibikov, stellte zwischen dem russischen und dem polnischen Adel eine tiefe Entfremdung fest. Die Szlachta könne ihren aufrührerischen Geist, der schon die Adelsrepublik zum Einsturz gebracht habe, nicht aufgeben. Die jungen Adligen würden von polnischen Professoren und katholischen Geistlichen großgezogen und ließen sich von der Erinnerung an die frühere Freiheit berauschen. Damit habe sich der hiesige Adel so stark vom russischen Adel entfernt, dass eine Integration in den Reichsadel nicht mehr möglich sei.293 Indem Bibikov der Szlachta die Integrationsfähigkeit absprach, wurde deren schiere Existenz zu einem Problem. In diesen Jahren kamen auch Metaphern und Ideen von einer „Zerstörung“ der Szlachta auf. Bibikov führte zum Beispiel auf einer Sitzung des Komitees der Westgouvernements am 5. Februar 1847 aus: „Die Kategorien der Einhöfer und Bürger in den Westgouvernements, die sich aus der ehemals unruhigen, unstabilen und faulen polnischen Szlachta zusammensetzt, muss in eine Kategorie von nützlichen Bürgern transformiert werden. Es ist notwendig, diese kaum geformte Gruppe von Grund auf zu zerstören. Sie unterscheidet sich zu stark von den anderen Gruppen sowohl hinsichtlich der Besteuerung als auch in Bezug auf ihre Pflichten und ihre Verwaltung. Diese Eigenheiten, die bis heute gestattet sind, müssen ausgerottet werden, weil sie politisch extrem schädlich sind und die heutige Generation der Szlachta davon abhalten, sich vollkommen in die russischen Steuerklassen zu integrieren und für immer zu verschwinden.“294

Bibikov brandmarkte die Szlachta als nicht integrierbar und forderte deshalb ihr „Verschwinden“ und ihre „Zerstörung“. Dass solche Forderungen nicht nur auf die Auflösung einer rechtlichen Sonderkategorie durch deren systematische Einordnung in die existierenden Steuerklassen abzielten, verdeutlicht ein Diskussionsbeitrag des Ministers für die Staatsdomänen. Pavel D. Kiselëv sah in der 293 Bericht des Generalgouverneurs von Kiew, Podolien und Wolhynien an Nikolaus I. über den Zustand der Gouvernements Kiew, Podolien und Wolhynien im Jahr 1839, vom 22.3.1840, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 2788, l. 1–107, hier l. 32–32ob. Die Wurzeln des hier zu Tage tretenden Antikatholizismus der russischen Eliten reichen weit zurück und finden sich zum Beispiel auch in Aussagen Katharinas II. Als elementarer Widerspruch zwischen Russen und Polen wurde die konfessionelle Differenz allerdings erst ab den 50er und 60er Jahren des 19. Jahrhunderts gesehen, als diese religiösen Ressentiments zum integralen Bestandteil eines nationalen antipolnischen Stereotyps wurden, vgl. S. M. Fal’kovič: Predstavlenie russkich o religioznosti poljakov i ego rol’ v sozdanii nacional’nogo pol’skogo stereotipa, in: V. A. Chorev (Hg.): Rossija – Pol’ša. Obrazy i stereotipy v literature i kul’ture, Moskau 2002, S. 99–109. 294 Journal des Komitees für die Westgouvernements, Eintrag vom 5.2.1847, in: RGIA f. 1266, op. 1, d. 36, l. 176–185, hier 178.

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Deklassierung der Szlachta zu Einhöfern nicht nur eine Integration der verarmten Masse von Adligen in die zarische Gesellschaftsordnung, sondern verband mit dieser Politik den Anspruch, dass der polnische Adel das gemeinsame Gedächtnis verlieren würde und damit die Szlachta an sich zerstört würde.295 Der Verlust der Erinnerung an die eigene Geschichte und Kultur wäre tatsächlich einer Russifizierung gleichgekommen. Politische Forderungen und Konzepte dieser Art zeigen, dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr die Akkulturation, sondern die Assimilation des polnischen Adels auf der Agenda der zarischen Regierung stand. Selbst eine weitgehende Integration durch Akkulturation sollte nun die Szlachta nicht mehr vor dem Verlust der Adelswürde schützen. Der Minister für Volksaufklärung, Sergej Uvarov, sorgte sich zum Beispiel, es könnte sich in den Westgouvernements herumsprechen, dass man mit dem Abschluss einer jener Schulen, die dem Erziehungsministerium unterstanden, die 14. Klasse auf der Rangtabelle erreichen konnte. Diese Möglichkeit würde viele deklassierte Adlige dazu verführen, ihre Kinder diese staatlichen Schulen von der ersten bis zur letzten Klasse absolvieren zu lassen.296 Eine russische Schulbildung galt vor 1830 noch als der Königsweg der Integration des polnischen Adels. Im Jahr 1843 sah der Minister für Volksaufklärung darin eine Gefahr. Der Novemberaufstand bewirkte auch eine andere Wahrnehmung des verarmten Kleinadels. Waren sie bislang schon nicht als Adlige anerkannt worden, so wurden sie nun zunehmend als „Landstreicher“ stigmatisiert. Michail Murav’ëv hielt es für dringend notwendig, gegen die besitzlosen Adligen vorzugehen, „die zu Tausenden in den verschiedenen Gouvernements herumvagabundieren, keinerlei Perspektiven haben und sich ununterbrochen vermehren.“297 In einer Denkschrift an den Zaren führte er diesen Gedanken aus: „Dieser Stand der Müßiggänger, der zum größten Teil kein Land besitzt und ans Nichtstun gewöhnt ist, mit einer ungestümen Seele und einem ebensolchen Charakter, wird so lange nicht ruhig sein, wie die Regierung keine entsprechende Sortierung vornimmt und diejenigen als Wehrbauern in entfernte Grenzgebiete umsiedelt, die keinen festen Wohnort und keinen Adelsnachweis haben, jedoch davon träumen, [adlige, J.

295 Journal des Komitees für die Westgouvernements, Eintrag vom 4.12.1841, in: RGIA f. 1266, op. 1, d. 28, l. 300–309, hier 304f. 296 Journal des Komitees für die Westgouvernements, Eintrag vom 12.10.1843, in: RGIA f. 1266, op. 1, d. 32, l. 137–148, hier 143ob.-145. 297 Aufzeichnungen des Gouverneurs von Grodno, Michail N. Murav’ëv, anlässlich von Ergänzungen und Änderungen in der Anordnung des Komitees zur Umgestaltung der Szlachta vom Oktober 1831, o. d. [Oktober 1831], in: GARF f. 109 s/a, op. 2, d. 252, l. 1–4ob., hier 2ob.



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G.] Rechte und Privilegien mit dem Mittel des Aufruhrs oder politischer Umwälzungen zu erhalten.“298

Die Tatsache, dass sich völlig mittellose Personen als Edelleute ausgaben, missfiel nicht nur Murav’ëv. So klagte zum Beispiel der spätere Justizminister Viktor Panin darüber, dass nach geltender Rechtslage jeder beliebige Landstreicher einen Adelstitel erhalten könne, wenn er nur Angehöriger der Szlachta sei.299 Dem diffamierenden Bild vom Landstreicher lag letztlich die Auffassung zugrunde, dass sich der Adel eigentlich aus Landbesitzern zusammensetzen sollte, die sich einen vornehmen Lebensstil leisten können. Auch dieses Leitbild war um 1830 nicht neu. Es entsprach vielmehr der bereits von Katharina II. vertretenen Vorstellung vom Adel als einer lokalen Elite von Gutsbesitzern. Die soziale Abhängigkeit des Kleinadels von den Magnaten widersprach aber von Beginn an dem Adelsverständnis Katharinas II. Die Klage des Generalgouverneurs von Kiew, Podolien und Wolhynien, die Kleinadligen dienten als Lakaien oder Kutscher und verrichteten andere niedere Dienste bei den Gutsbesitzern, obwohl sie sich für Adlige hielten, steht somit ganz in der Kontinuität der russischen Wahrnehmung des polnischen Adels.300 Hier zeichneten die zarischen Beamten auch kein Zerrbild von den sozialen Verhältnissen in den Westgouvernements, denn auch polnische Reisende zeigten sich darüber entsetzt, in welch ärmlichen Verhältnissen so mancher Adlige in den Westgouvernements lebte. Nach J. I. Kraszewski unterschieden sich diese verarmten Kleinadligen weder in der Lebensweise noch in der Mentalität von den ansässigen Bauern. Darüber hinaus seien sie abergläubisch und sprächen eine Mischung aus Polnisch und dem ukrainischen Bauerndialekt.301 Die zarische Regierung hatte bereits vor dem Novemberaufstand den verarmten Kleinadel als ein soziales Problem wahrgenommen. Neu war, dass sie jetzt ernsthaft daranging, mithilfe einer Adelsrevision den besitzlosen Kleinadel aus der Szlachta herauszufiltern und in andere Gesellschaftsgruppen ein298 Četyre političeskija zapiski grafa Michaila Nikolaeviča Murav’ëva Vilenskago, in: Russkij archiv 1885, Nr. 6, S. 161–199, hier 175–186 (Denkschrift vom 29.8.1831), Zitat S. 184. 299 Vgl. Oksana V. Lepeš: Komitet zapadnych gubernij. Organizacija i dejatel’nost’ (1831–1848 gg.), kand. diss., Minsk 2005, S. 48. 300 Bericht des Generalgouverneurs von Kiew, Podolien und Wolhynien an Nikolaus I. über den Zustand der Gouvernements Kiew, Podolien und Wolhynien im Jahr 1839, vom 22.3.1840, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 2788, l. 1–107, hier l. 46. 301 Vgl. Jósef Ignacy Kraszewski: Wspomnienia Wołynia, Polesia i Litwy, hg. v. Stanisław Burkot, Warschau 1985, S. 53 und 58. Auch der polnische Demokrat Henryk Kamieński zeigte sich nach seiner Reise in die Westgouvernements im Jahre 1844 entsetzt über die Lebensverhältnisse und den niedrigen Bildungsstand der besitzlosen Szlachta, vgl. Henryk Kamieński: Pamiętniki i wizerunki, hg. v. I. Śliwińska, Wrocław 1951, S. 202.

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zusortieren. Diese Politik hatte zunächst das Ziel verfolgt, den gesamten polnischen Adel in die zarische Gesellschaft zu integrieren, wenn auch nicht die gesamte Szlachta in den russischen Adel aufgenommen werden sollte. Indem nun einflussreiche Beamte wie Murav’ëv und Panin die besitzlosen Adligen als Landstreicher und Vagabunden diffamierten, schlossen sie diese in wesentlich grundsätzlicherer Weise aus der zarischen Gesellschaft aus. Diese rhetorische Exklusion unterschied sich grundlegend von einer Politik, die den besitzlosen Kleinadel als Einhöfer oder Stadtbewohner in die zarische Gesellschaftsordnung eingliedern wollte. Der Novemberaufstand hatte die russische Wahrnehmung der Szlachta grundlegend verändert: Die Polen galten nun als unzuverlässige Untertanen, der polnische Adel als schwer integrierbar und die besitzlosen Adligen als Landstreicher.302 Dennoch sahen die zarischen Regierungseliten den polnischen Adel vor dem Januaraufstand 1863 noch nicht als eine nationale Herausforderung, sondern nach wie vor durch die Brille der regulierenden Staatsgewalt. Noch immer beherrschten die von Katharina II. formulierten Leitbilder den Diskurs über die Westgouvernements: In den Provinzen sollte Ruhe und Ordnung herrschen, die lokale Elite sollte sich aus dem grundbesitzenden Adel zusammensetzen und die Untertanen hatten sich dem Zaren gegenüber loyal zu verhalten. Allerdings formte und verfestigte sich ein Bild von der Szlachta, das dem Gegenentwurf dieser politischen Ordnungsvorstellungen gleichkam.

4.2. Das Ende eines Dauerprovisoriums: Der Abschluss der Adelsrevision in staatlicher Regie Die zahlreichen Berichte über unrechtmäßige Adelsnachweise hatten dazu geführt, dass die zarische Regierung die langjährige Adelsüberprüfung als einen erfolgreichen Versuch der Szlachta betrachtete, sich dem staatlichen Zugriff zu entziehen und die Adelsverifikation zu unterlaufen. Nikolaus I. sah es deshalb als eine Aufgabe des Staates an, in den Westgouvernements endlich die gesellschaftliche Ordnung des Zarenreiches durchzusetzen. In der zarischen Regierung war man sich einig, dass zwar strengere Maßnahmen gegenüber dem polnischen Adel notwendig seien, diese sich jedoch am Geist der vorangegangenen Verordnun-

302 Zur allgemeinen Negativfärbung des russischen Polenbildes in der Elite des Zarenreiches nach dem Novemberaufstand: V. A. Chorev: Rol’ pol’skogo vosstanija 1830 g. v utverždenii negativnogo obraza Pol’ši v russkoj literature, in: A. V. Lipatov / I. O. Šajtanov (Hg.): Poljaki i Russkie. Vzaimoponimanie i vzaimoneponimanie, Moskau 2000, S. 100–109.



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gen zu orientieren hätten.303 Deshalb hielt man am bislang wenig erfolgreichen Mittel der Adelsüberprüfung fest, um den verarmten Kleinadel zu deklassieren. Der Staat sollte als machtvoller Akteur die festgefahrene Adelsrevision wieder in Gang und zu einem zügigen Abschluss bringen. Den Hebel setzte man bei denjenigen Adligen an, deren Standeszugehörigkeit noch immer ungeklärt war. Die Szlachta ohne Adelsnachweis, die inzwischen seit mehr als vierzig Jahren einen prekären Status hatte, sollte endlich in die soziale Ordnung des Zarenreiches eingeordnet werden. Die zarische Regierung unterteilte die Szlachta zunächst in zwei Gruppen: in diejenigen, die ihren Adelsnachweis erbracht hatten und durch das Heroldsamt überprüft sowie bestätigt worden waren, und diejenigen, die keinen durch das Heroldsamt bestätigten Adelsnachweis besaßen. Für die Szlachta mit anerkanntem Adelsnachweis änderte sich im Grunde nichts. Sie war weiterhin gleichberechtigter Bestandteil des Reichsadels mit allen adligen Rechten und Privilegien. Für diejenigen Adligen jedoch, die einer Deklassierung bislang entgangen waren, indem sie sich möglichst unsichtbar gemacht oder mithilfe gefälschter Papiere einen Adelsnachweis erschlichen hatten, endete mit dem Ukas Nikolaus’ I. vom 19. Oktober 1831 die Zeit eines ungewissen Dauerprovisoriums. Weiteren Vermeidungsstrategien entzog der Oktoberukas nunmehr die Grundlage: Alle Adligen der Westgouvernements, die bislang keinen durch das Heroldsamt bestätigten Adelsnachweis vorweisen konnten, wurden aus dem Adelsstand ausgeschlossen.304 Diese Entscheidung war jedoch nicht endgültig. Wer die erforderlichen Papiere nachreichte, wurde wieder in den Adel aufgenommen.305 Im Grunde war Nikolaus I. damit zur Politik Katharinas II. nach der ersten Teilung Polens zurückgekehrt: Die Adligen in den Westgouvernements wurden bis zum staatlich akzeptierten Adelsbeweis aus dem privilegierten Stand ausgeschlossen. Dies bedeutet aber auch, dass Nikolaus I. adelspolitische Prinzipien aufgriff, die noch aus der Zeit vor der Gouvernementsreform von 1775 und der Gnadenurkunde für den Adel von 1785 stammten. Erst nach der zweiten und dritten Teilung hatte Katharina II. die Adelsrevision dem Adel selbst überlassen und den Gutsbesitzern den Adelsnachweis erheblich erleichtert. Die Rückkehr zur Adelspolitik von 1772 war einerseits möglich, da sich die zarische Staatsgewalt inzwischen 303 Journal des Komitees für die Westgouvernements, Eintrag vom 22. und 28.9.1831, in: RGIA f. 1266, op. 1, d. 8, l. 11–46, hier l. 35ob-36. 304 Namentlicher Ukas Nikolaus’ I. vom 19.10.1831, in: PSZ II, Bd. 6,2, Nr. 4.869, S. 134–138. 305 Siehe z. B. den Fall des Kazimierz Rudzki, der zunächst in den Stand der Einhöfer deklassiert worden war, da er keinen vollständigen Adelsnachweis hatte. Nachdem er die fehlenden Dokumente nachgereicht hatte, wurde er wieder in den Adelsstand aufgenommen, vgl. den Auszug aus dem Sitzungsprotokoll der Wilnaer Gouvernementsregierung vom 6.2.1835, in: LVIA f. 708, op. 2, d. 1205, l. 67–67ob.

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in der Lage sah, ein solches Unternehmen in Eigenregie durchzuführen. Eine Abkehr von den Prinzipien der Gnadenurkunde erschien Nikolaus I. andererseits nötig, da sein Vertrauen in den Adel im Allgemeinen und in die Szlachta im Besonderen nach Dekabristen- und Novemberaufstand schwer erschüttert war. Anders als seine Großmutter wollte und musste Nikolaus die Adelsrevision nicht der Szlachta überlassen. Ein Ausschluss weiter Teile der Szlachta aus dem Reichsadel warf unmittelbar die Frage auf, in welche Stände die deklassierten Adligen eingeordnet werden sollten. Der Oktoberukas teilte sie entsprechend ihres Wohnsitzes in zwei Gruppen ein: in eine ländliche und eine städtische Szlachta. Erstere wurden in den Stand der Einhöfer (odnodvorcy) eingeschrieben, wobei hier noch einmal zwischen landbesitzenden (osedlye) und landlosen (neosedlye) unterschieden wurde. Die Einhöfer bildeten einen Stand zwischen Adligen und freien Bauern. Dieser Status ermöglichte einerseits Nichtadligen den Aufstieg in den Adelsstand als auch ehemaligen Adligen die Rückkehr dorthin.306 Auch für die städtische Szlachta wurden zwei Unterkategorien gebildet. Wer einem Beruf nachging, der eine höhere Bildung voraussetzte, wie zum Beispiel Ärzte, Lehrer oder Anwälte, wurde in den städtischen Stand der Ehrenbürger (počëtnye graždane) eingeordnet. Die Ehrenbürger waren eine im Jahre 1832 neu geschaffene ständische Kategorie, die oberhalb der Kaufmannsgilden als eine erbliche oder persönliche Standschaft eingerichtet wurde. Den Ehrenbürgern standen Privilegien zu, die sonst nur der Adel beanspruchen durfte. Sie waren sowohl vom Militärdienst als auch von der Kopfsteuer befreit und unterlagen keiner körperlichen Bestrafung.307 Diejenigen Szlachtizen, die einem produzierenden Gewerbe nachgingen, wurden hingegen zur Kategorie der Kleinbürger (meščane) hinzugerechnet. Während Einhöfer und Ehrenbürger eine Zwischenstellung zwischen dem Adel und den steuerpflichtigen Ständen einnahmen, genossen Kleinbürger keinerlei adlige Privilegien. Sie bildeten vielmehr die Masse der städtischen Bevölkerung und rangierten unterhalb der Kaufleute. Ihre rechtliche Situation entsprach derjenigen der Kron- und Staatsbauern. Sie mussten die Kopfsteuer sowie allerlei unregelmäßig erhobene kommunale Abgaben entrichten, Rekruten stellen, Einquartierungen hinnehmen, Gespanndienste leisten und eine große Zahl weiterer städtischer und staatlicher 306 Zur rechtlichen und sozialen Stellung der Einhöfer vgl. Thomas Esper: The Odnodvortsy and the Russian Nobility, in: The Slavonic and East European Review 45 (1967), S. 124–134. 307 Zur Einführung der Kategorie Ehrenbürger und seiner rechtlichen Stellung im ständischen Gefüge des Zarenreiches vgl. Walter McKenzie Pinter: Russian Economic Policy under Nicholas I, Ithaca 1967, S. 63–67; Bernhard Schalhorn: Lokalverwaltung und Ständerecht in Russland zu Beginn der Herrschaft Nikolaus’ I., in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 26 (1979), S. 7–261, hier 152ff.; Manfred Hildermeier: Bürgertum und Stadt in Rußland 1760–1870. Rechtliche Lage und soziale Struktur, Köln, Wien 1986, S. 228–230.



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Aufgaben erfüllen.308 Eine Deklassierung war also nicht zwangsläufig mit dem Verlust aller Privilegien verbunden, sondern hing wesentlich davon ab, in welche gesellschaftliche Kategorie des Zarenreiches man eingeordnet wurde. Die betroffenen Adligen hatten ein Jahr Zeit, um sich in ihrem Gouvernement in eine dieser vier Kategorien einzuschreiben. Wer diese Frist versäumte, galt rechtlich fortan als Landstreicher.309 Der Oktoberukas schloss also die Szlachta ohne staatlich anerkannten Adelsnachweis aus dem Adel aus, integrierte sie jedoch zugleich in andere Stände der zarischen Gesellschaft. Dort hatten die ehemaligen polnischen Adligen die gleichen Rechte und Pflichten wie die russischen Einhöfer, Ehren- bzw. Kleinbürger. Als Einhöfer unterlagen sie zwar der Kopfsteuer sowie anderen Abgaben und mussten auch einen fünfzehnjährigen Dienst in der regulären Armee leisten. Andererseits genossen sie die Adelsprivilegien des Grund- und Leibeigenenbesitzes.310 1834 regte die Gouvernementsregierung von Wilna sogar an, Einhöfergesellschaften (odnodvorčeskie obščestva) zu gründen. Derartige Gesellschaften lagen zum einen im fiskalischen Interesse des Staates, da ihnen die Steuereintreibung auferlegt werden konnte. Überdies konnten sie Wahlen abhalten, in denen die Einhöfer einen Ältesten und andere Repräsentanten selbst bestimmten. Diese Maßnahme bedeutete sowohl die Einführung einer partiellen Selbstverwaltung als auch eine gesellschaftliche Aufwertung, indem sie dem Adel und dem Stadtbürgertum angeglichen wurden.311 Trotz der Deklassierung zahlreicher polnischer Adliger hielt die zarische Regierung die Wege offen, die zurück in den Adelsstand führten. Schon der Status der Einhöfer war eine Art Zwischenstation, die sowohl Nichtadligen den Aufstieg als auch ehemaligen Adligen die Rückkehr in den Adelsstand ermöglichte.312 Die zarische Regierung versuchte deshalb, den Einhöfern allgemein und den deklassierten polnischen Adligen im Besonderen durch rechtliche Erleichterungen den Weg zu ebnen, in den Militär- oder Zivildienst des Zarenreichs einzutreten. Mit 308 Zu der durch Katharina II. eingeführten Gliederung der Stadtbevölkerung in Kaufleute und Kleinbürger vgl. Pavel G. Ryndzjunskij: Städtische Ökonomie und Stadtbürgerschaft, in: Dietrich Geyer (Hg.): Wirtschaft und Gesellschaft im vorrevolutionären Rußland, Köln 1975, S. 83–109, hier 98–107; J. Michael Hittle: The Service City. State and Townsmen in Russia, 1600–1800, Cambridge, London 1979, S. 198–202; Manfred Hildermeier: Ständeordnung und sozialer Wandel. Rußland in der Frühphase der Industrialisierung, in: Geschichte und Gesellschaft 5 (1979), S. 313–335, hier 315–324; ders.: Bürgertum und Stadt in Rußland, S. 73–90. 309 Namentlicher Ukas Nikolaus’ I. vom 19.10.1831, S. 135f. 310 Vgl. Esper: Odnodvortsy, S. 124–134. 311 Vgl. die Instruktion des Wilnaer Kameralhofs vom 17.4.1834, in: LVIA f. 708, op. 2, d. 1199, l. 292–294ob. Siehe außerdem das Statut über die Arbeitsordnung der Polizei- und Wirtschaftsverwaltung in den Einhöfersiedlungen der Westgouvernements, o. d. [1834], in: LVIA f. 708, op. 2, d. 1205, l. 5–7ob. und 35–40ob. 312 Vgl. Esper: Odnodvortsy, S. 124–130.

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dem Dienst war die Möglichkeit verbunden, über die Rangtabelle in den persönlichen oder in den erblichen Adel aufzusteigen.313 Nikolaus I. strebte also keinen endgültigen Ausschluss möglichst vieler polnischer Adliger aus dem Adelsstand an, sondern eine Beendigung jenes Schwebezustandes, in dem sich immer noch zahlreiche Adlige der Westgouvernements befanden. Mehr als dreißig Jahre nach der letzten Teilung Polens sollten sie endlich in eine gesellschaftliche Kategorie des Zarenreiches eingeordnet werden. Der Ukas vom 19. Oktober 1831 markiert einen tiefen Einschnitt in der zarischen Politik gegenüber dem Adel der Westgouvernements. Nachdem Paul I. noch versucht hatte, den Prozess der Adelsverifizierung zeitlich zu befristen, musste dieses Ansinnen wenige Jahre später aufgegeben werden, da das Verfahren in der Praxis kaum vorankam und Alexander I. den staatlichen Druck auf die Szlachta nicht weiter erhöhen wollte. Unter Nikolaus I. beschritt man einen neuen, sehr viel unnachgiebigeren Weg. Alle Adligen, die innerhalb eines Jahres keinen durch das Heroldsamt bestätigten Adelsnachweis beigebracht hatten, verloren mit sofortiger Wirkung ihre adligen Rechte und Privilegien. Diese Regelung schloss eine nachträgliche Adelsüberprüfung sowie eine Rückkehr in den Adelsstand nicht aus.314 Doch anders als bislang gehörten die nicht verifizierte Szlachta bis zum Abschluss des Verfahrens den nichtadligen Ständen an. Um den Ukas vom 19. Oktober 1831 war in der zarischen Regierungsbürokratie hart gerungen worden und er stellte letztlich einen Kompromiss dar. Auf der einen Seite hatte eine Sonderkommission, die 1829 als Vorläufer des Komitees für die Westgouvernements gegründet worden war, vorgeschlagen, die Szlachta nicht vollständig im russischen Adel aufgehen zu lassen. Ihr Konzept erkannte die Eigenheiten des polnischen Adels an und schuf für ihn soziale Sonderkategorien, um dessen Weiterbestehen im russischen Vielvölkerreich zu ermöglichen. Die Rechte und Pflichten der Szlachta orientierten sich dabei weitgehend an jenen Bestimmungen, die für sozial benachbarte gesellschaftliche Gruppen galten. So sollten der Zinsadel und die städtische Szlachta nicht im Stand der Einhöfer bzw. dem der Kleinbürger aufgehen, sondern diesen nur rechtlich gleichgestellt werden.315 Dieser Vorschlag löste also die fiskalischen und rechtlichen Probleme, wel-

313 Den polnischen Adligen wurde gestattet, noch vor dem Abschluss ihres Überprüfungsverfahrens freiwillig in den Militär- oder Zivildienst einzutreten, vgl. Namentlicher Ukas Nikolaus’ I. vom 4.1.1840, in: PSZ II, Bd. 15,1, Nr. 13.047, S. 3–4. 314 Siehe z. B. den Fall des Ivan Bartoszewicz, der aufgrund einer Intervention des Kreisadelsmarschalls von Šavli wieder in den Adelsstand aufgenommen wurde, vgl. den Auszug aus dem Journal des Vitebsker Gouvernementsregierung vom 26.3.1834, in: LVIA f. 708, op. 2, d. 1205, l. 2. 315 Journal des Komitees für die Westgouvernements, Eintrag vom 22. und 28.9.1831, in: RGIA f. 1266, op. 1, d. 8, l. 11–46ob., hier l. 29–31ob.



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che die Existenz einer verarmten Adelsmasse aufwarfen, gestand der Szlachta aber eine eigene Sparte innerhalb der zarischen Gesellschaft zu. Auf der anderen Seite standen die Vorstellungen Michail Murav’ëvs, der im Gegensatz zur zarischen Ministerialbürokratie als Gouverneur von Grodno vor Ort Erfahrungen gesammelt hatte. Murav’ëv hatte sich bereits vor der Konstituierung des Komitees für die Westgouvernements mit zwei Denkschriften an den Zaren gewandt und sich auf diese Weise selbst als Experte für die polnischen Provinzen ins Spiel gebracht.316 Er plädierte für eine möglichst rasche und umfassende Exklusion der Szlachta aus dem Adelsstand. Den polnischen Adligen sollte die Frist von einem Jahr gewährt werden, innerhalb derer sie ihre Adelsnachweise beibringen könnten. Diejenigen, die der Adelsdeputiertenversammlung innerhalb dieses Zeitraumes die notwendigen Papiere nicht vorlegen würden, sollten mit sofortiger Wirkung aus dem Adelsstand ausgeschlossen werden und für alle Zeiten das Recht verlieren, ihre Adelsweise nachträglich beizubringen. Ihnen wurde eine weitere Frist von neun Monaten eingeräumt, innerhalb derer sie sich in einen der anderen Stände des Zarenreiches einzuschreiben hätten. Wer noch Leibeigene besaß, sollte diese innerhalb von drei Jahren veräußern. All diejenigen, die auch diese neunmonatige Frist tatenlos verstreichen ließen, sollten an die südöstliche Peripherie des Reiches umgesiedelt werden und dort eine Grenztruppe bilden.317 Im Ukas vom 19. Oktober 1831 fanden die maßvollen Vorstellungen des Sonderkomitees einen deutlicheren Niederschlag als die radikalen Positionen Muarv’ëvs. Der Gouverneur von Grodno konnte sich im Komitee für die Westgouvernements nicht durchsetzen, da einem endgültigen Ausschluss von Personen aus dem Adel die rechtliche Grundlage fehlte. Auch die Frist von neun Monaten, innerhalb derer sich die Szlachta ohne Adelsnachweis in einen der nichtadligen Stände einzuschreiben hatte, stand nach Ansicht des Komitees nicht im Einklang mit dem geltenden Recht. Niemand könne ohne die Zustimmung der jeweiligen Gemeinschaft in einen städtischen oder ländlichen Stand aufgenommen werden. Diese Vorschrift bestehe aus fiskalischen Gründen, da die Gemeinschaft auch für das kollektive Steueraufkommen verantwortlich sei. Da vor allem der verarmte Kleinadel von der Deklassierung betroffen sei, würden sich viele gegen dessen 316 Vgl. Četyre političeskija zapiski grafa Michaila Nikolaeviča Murav’ëva Vilenskago, in: Russkij archiv 1885, Nr. 6, S. 161–199, hier 161–175 (Denkschrift vom 22.12.1830) und 175–186 (Denkschrift vom 29.8.1831). Murav’ëv genoss beim Zaren hohes Ansehen. Dem Komitee für die Westgouvernements wurden vor seiner Konstituierung nicht nur die beiden Denkschriften Murav’ëvs als Arbeitsgrundlage vorgelegt, sondern auch dessen bisherige Korrespondenz mit dem Zaren zugänglich gemacht, vgl. Journal des Komitees für die Westgouvernements, Eintrag vom 16.9.1831, in: RGIA f. 1266, op. 1, d. 8, l. 5–11. 317 Journal des Komitees für die Westgouvernements, Eintrag vom 22. und 28.9.1831, in: RGIA f. 1266, op. 1, d. 8, l. 11–46ob., hier 31ob.-33.

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Aufnahme sträuben, denn die neuen Standesgenossen erhöhten die Summe der abzuführenden Steuern, ohne dass von ihnen ein substanzieller Beitrag zu erwarten sei.318 Die getroffene Regelung bedeutete im Grunde eine Rückkehr zu jenem Prinzip, das bereits vor 1800 gegolten hatte. Nur diejenigen Adligen, die Leibeigene besaßen und bereits von der örtlichen Deputiertenversammlung als adlig anerkannt waren, behielten bis zur Bestätigung durch das Heroldsamt ihren Status als Adlige.319 Damit war zumindest rechtlich der jahrelange Schwebezustand des Kleinadels beendet, indem man der Möglichkeit, sich in dieser prekären Lage einzurichten, einen Riegel vorgeschoben hatte. Unter Nikolaus I. setzte sich damit eine normative Integrationspolitik gegenüber einer pragmatischen durch. Die Abschaffung der Szlachta als eine gesellschaftliche Sonderkategorie der Westgouvernements, die über ein eigenes Normen- und Wertegerüst verfügte, ist Ausdruck dieses Politikwandels. Der polnische Adel sollte in der russischen Ständeordnung aufgehen und gerade durch die vorbehaltlose Anerkennung der geltenden Normen in die Gesellschaft des Zarenreiches integriert werden. Ihren sprachlichen Ausdruck fand diese Form der Integration in der Anweisung Nikolaus’, künftig in allen amtlichen Dokumenten, die in russischer Sprache verfasst wurden, den polnischen Adel nicht mehr als Szlachta (šljachta), sondern als Adel (dvorjanstvo) zu bezeichnen.320 Michail Murav’ëv dürfte mit diesem Kompromiss kaum zufrieden gewesen sein. Seine Vorschläge zur Deklassierung des polnischen Adels waren deutlich weiter gegangen und hatten auch vor Zwangsmaßnahmen nicht zurückgeschreckt. Sein Vorschlag, all diejenigen Adligen, die sich nicht in die vorhandenen Stände einpassen ließen, an die südöstliche Peripherie des Reiches umzusiedeln, knüpfte an das Umsiedlungsprojekt Zubovs aus dem Jahre 1796 an, war allerdings eine deutlich radikalere Variante.321 Waren die Umsiedlungspläne zu Zeiten Katharinas II. noch eine freiwillige Option gewesen und hatten den potentiellen Kolonisten zudem Land angeboten, so trug Murav’ëvs Vorschlag den Charakter einer Strafmaßnahme, welche einer Verbannung an die Reichsgrenze gleichkam. Das Komitee für die Westgouvernements wies Murav’ëvs Projekt deshalb auch zunächst zurück. Eine Umsiedlung von rund 200.000 Menschen sei nicht durchführbar. Weder könne der Staat die anfallenden Kosten aufbringen, noch einer solch gewaltigen Zahl von Neusiedlern ausreichend Grund und Boden zur Ver318 Journal des Komitees für die Westgouvernements, Eintrag vom 22. und 28.9.1831, in: RGIA f. 1266, op. 1, d. 8, l. 11–46, hier 33–35ob. 319 Namentlicher Ukas Nikolaus I. vom 19.10.1831, in: PSZ II, Bd. 6,2, Nr. 4.869, S. 134–138, hier 137. 320 Ebd., S. 135. 321 Journal des Komitees für die Westgouvernements, Eintrag vom 22. und 28.9.1831, in: RGIA f. 1266, op. 1, d. 8, l. 11–46ob., hier 31ob.-33.



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fügung stellen.322 Murav’ëv brachte das Komitee in seiner Sitzung am 5. Oktober 1831 jedoch dazu, etwaige Bedenken hintanzustellen. Zwar wurde betont, dass eine Umsiedlung freiwillig zu erfolgen habe, doch schloss man nun auch Zwangsmaßnahmen nicht mehr aus. Der Charakter einer Strafaktion wird nicht zuletzt daran sichtbar, dass man in erster Linie Aufstandsteilnehmer und allgemein verdächtige Personen für die Umsiedlung in den Blick nahm.323 Auch wenn das Komitee den ursprünglichen Vorschlag in einigen Punkten abgemildert hatte, so zeigte sich Murav’ëv mit dieser Regelung vollauf zufrieden, da die Gouverneure nun endlich ein Mittel in der Hand hatten, um gegen die Szlachta ohne festen Wohnsitz vorgehen zu können. Diese war ihm schon lange ein Dorn im Auge. Ausdrücklich begrüßte er, dass die Auswahl der Umsiedler den örtlichen Instanzen überlassen wurde. Damit lag es letztlich in den Händen der Gouverneure, inwieweit sie die zentralen Vorgaben erfüllten und vor allem Teilnehmer am Novemberaufstand oder – wie Murav’ëv in seinen Aufzeichnungen ankündigte – allgemein die landlose Szlachta zu Umsiedlern bestimmten. Darüber hinaus regte Murav’ëv an, die besitzlose Szlachta zunächst für den Militärdienst zu rekrutieren und nur die Untauglichen in den Kaukasus zu schicken.324 Dieses Umsiedlungsprojekt scheiterte aus denselben Gründen wie der erste Versuch 1796. Zwar hatte die zarische Regierung in einem Ukas vom 21. November 1831 das Ziel von 5.000 Familien vorgegeben und der landlosen Szlachta eine Umsiedlung schmackhaft zu machen versucht, indem sie ihr 50 Desjatinen Land, eine Starthilfe von 100 Rubel, kostenloses Saatgut, fünf Jahre Steuerfreiheit und eine achtjährige Befreiung vom Militärdienst versprach. Dennoch fanden sich kaum Freiwillige, die bereit waren, ihre Heimat zu verlassen und im Kaukasus ein neues Leben zu beginnen. Obwohl neben Murav’ëv auch der Gouverneur von Podolien, Lubjanovskij, für Zwangsaussiedlungen votierte, setzte sich in der zarische Regierung dennoch die gemäßigte Linie durch. Die Historiographie schloss häufig von den Plänen auf die tatsächliche Durchführung einer Zwangsumsiedlung,325 doch tatsächlich fand diese nie statt. Sowohl Innenminister Dmitrij N. Bludov als auch Nikolaus I. persönlich versagten einer Zwangsumsiedlung ihre Zustimmung. So waren es am Ende statt der vorgesehe-

322 Journal des Komitees für die Westgouvernements, Eintrag vom 22. und 28.9.1831, in: RGIA f. 1266, op. 1, d. 8, l. 11–46, hier 33–35ob. 323 Journal des Komitees für die Westgouvernements, Eintrag vom 5.10.1831, in: RGIA f. 1266, op. 1, d. 8, l. 52–58, hier 54–55ob. 324 Aufzeichnungen des Gouverneurs von Grodno, Murav’ëv, aus Anlaß von Ergänzungen und Änderungen in der Anordnung des Komitees zur Umgestaltung der Szlachta aus dem Oktober 1931, o. d. [Oktober 1831], in: GARF f. 109 s/a, op. 2, d. 252, l. 1–4ob., hier l. 2. 325 So zum Beispiel Rhode: Kleine Geschichte Polens, S. 356.

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nen 5.000 Familien lediglich 76 freiwillige Siedler, die sich tatsächlich auf den Weg in den Kaukasus machten.326 Auf dem Feld der Adelsrevision musste die zarische Regierung ihre Gesetzgebung aus dem Oktober 1831 bald nachbessern. Paul I. hatte bei der Überprüfung das Prinzip der Adelsvermutung eingeführt. Als adlig galt man seitdem so lange, bis die laufende Überprüfung das Gegenteil festgestellt hatte. Der Oktoberukas aus dem Jahre 1831 hatte dagegen alle Adligen, die noch keinerlei Anstrengungen unternommen hatten, ihren Status überprüfen zu lassen, pauschal deklassiert. Allerdings fehlte noch eine Regelung zu jenen Adligen, die sich in einem Verifizierungsverfahren befanden. Da sich die Überprüfungen mitunter über Jahre hinzogen, war auch dieser Zustand für die zarische Regierung nicht länger hinnehmbar. Dem schuf der Senat am 11. November 1832 mit einem Ukas Abhilfe. Das Gesetz lag zunächst ganz auf der politischen Linie, welche die zarische Regierung nach dem Novemberaufstand eingeschlagen hatte und die auf einen schnellen Abschluss der Adelsrevision zielte. Der Novemberukas teilte die Szlachta, deren Überprüfung gerade im Gange war, in drei Gruppen ein: Die erste umfasste Adlige, die über besiedelten Grundbesitz oder Leibeigene verfügten. Dabei spielte es keine Rolle, ob ihre Adligkeit schon von einer Adelsdeputiertenversammlung bestätigt worden war oder nicht. Diese Adligen waren von jeglichen Abgaben und vom Militärdienst befreit. Die zweite Gruppe bestand aus Adligen ohne besiedelten Grundbesitz, deren Adligkeit jedoch bereits durch eine Adelsdeputiertenversammlung bestätigt worden war. Diese Adligen genossen die Privilegien der Steuer- und Dienstfreiheit bis zur Durchsicht ihrer Akten durch das Heroldsamt. In der dritten Gruppe waren schließlich die Adligen vereint, die weder über besiedelten Grundbesitz noch über eine Bestätigung ihrer adligen Abstammung verfügten. Diese Gruppe musste die Rauchfangabgabe zahlen sowie Militärdienst leisten.327 Diese Regelungen ergänzten den Oktoberukas. Indem das Gesetz Adlige mit besiedeltem Grundbesitz, die über keinerlei Adelsnachweis verfügten, gesetzlich besser stellte als Adlige ohne besiedelten Grundbesitz, die von der Adelsdeputiertenversammlung bereits in das Adelsbuch aufgenommen worden waren, wurde das Vermögen zu einem wichtigen Kriterium für Adligkeit. Der Widerspruch zwischen dem politischen Willen, den verarmten Adel zu deklassieren, und dem eingesetzten Mittel der Adelsüberprüfung führte nach wie vor zu einer inkohärenten Gesetzgebung. Der Novemberukas ermöglichte es Adligen mit besiedeltem Grundbesitz weiterhin, sich in einem Schwebezustand einzurichten, in dem sie auch ohne Adelsnachweis ihre Privilegien behielten. Da die grundbesitzenden 326 Vgl. Beauvois: The Noble, the Serf and the Revizor, S. 64–71. 327 Senatsukas vom 11.11.1832, in: PSZ II, Bd. 7, Nr. 5.746, S. 836.



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Adligen dem Bild entsprachen, das sich die zarische Regierung von einer ländlichen Elite machte, wich man hier von den eigenen Normen ab. Darüber hinaus nahm der Novemberukas der Szlachta das Recht zur Anerkennung von Adelstiteln endgültig aus der Hand. Fortan durften Adelsdeputiertenversammlungen ohne vorherige Bestätigung durch das Heroldsamt keine Personen mehr in das Geschlechterbuch des Adels eintragen.328 Damit lag die Entscheidung über die Zugehörigkeit zum polnischen Adel beim russischen Staat. Bis dahin war bei einer Nobilitierung nur eine Bestätigung des Heroldsamtes notwendig gewesen. Die neue Regelung beließ der Adelsdeputiertenversammlung hingegen nur noch ein Vorschlagsrecht. Indem die zarische Regierung Kompetenzen der Adelsdeputiertenversammlung an das Heroldsamt übertrug, versuchte sie den bürokratischen Vorgang der Adelsüberprüfung zu beschleunigen. Nikolaus’ Ukas vom 21. Januar 1832 ermöglichte es Adligen, deren Standeszugehörigkeit durch die Adelsdeputiertenversammlung anerkannt worden war, ihre Unterlagen über den Adelsmarschall direkt beim Heroldsamt einzureichen, um eine rasche Bestätigung ihrer Adligkeit zu erwirken.329 Zudem wurde zur Beschleunigung der Aktendurchsicht im Heroldsamt eine gesonderte Abteilung eingerichtet, die ausschließlich für die Adelsüberprüfung in den Westgouvernements zuständig war.330 Das Heroldsamt stieß trotz dieses personellen Zuwachses an die Grenzen seiner Arbeitskapazität. Auf Wunsch des Heroldmeisters wurde das Bestehen dieser Abteilung 1836 um zwei Jahre verlängert.331 Am 11. Februar 1838 wurde schließlich noch eine zusätzliche Abteilung für weitere fünf Jahre geschaffen.332 Das Gesetz vom 11. November 1832 war das Ergebnis eines pragmatischen Kompromisses. Indem die unter Paul I. getroffene Adelsvermutung rückgängig gemacht wurde, erhöhte die Regierung den Druck auf die Szlachta, sich in die Stände des Zarenreiches einzuschreiben. Die Einteilung des Adels in drei Gruppen, die sich vor allem an den Besitzverhältnissen orientierte, sollte allerdings unzumutbare Härten auffangen. Denn eine sofortige Deklassierung, die noch vor dem Ende der jeweiligen Überprüfung durchgeführt würde, hätte bedeutet, dass auch das Recht auf Besitz von Leibeigenen verloren gegangen wäre. Diese sinnvolle Einschränkung schuf allerdings neue Probleme. Zum einen verstärkte man den Eindruck, dass der Besitz von besiedeltem Grund als Adelsnachweis ausreichte. Dies wiederum förderte nicht den Willen des Gutsadels, ein laufendes Verifizierungsverfahren möglichst schnell zu einem Ende zu bringen. Deshalb wies ein Senatsukas explizit darauf hin, dass auch die Adligen der ersten Katego328 329 330 331 332

Senatsukas vom 11.11.1832, in: PSZ II, Bd. 7, Nr. 5.746, S. 836. Namentlicher Ukas Nikolaus’ I. vom 21.1.1832, in: PSZ II, Bd. 7, Nr. 5.092, S. 24. Verordnung des Ministerkomitees vom 19.6.1834, in: PSZ II, Bd. 9,1, Nr. 7.198, S. 461–462. Verordnung des Ministerkomitees vom 23.6.1836, in: PSZ II, Bd. 11,1, Nr. 9.340, S. 760. Verordnung des Ministerkomitees vom 11.2.1838, in: PSZ II, Bd. 13,1, Nr. 10.967, S. 108.

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rie ihre Adligkeit nachweisen mussten.333 Ein weiteres Gesetz stellte ausdrücklich klar, dass Grundbesitz allein nicht für einen Adelsnachweis ausreichte, sondern zusätzliche Dokumente beigebracht werden mussten.334 Ein weiteres Problem ergab sich daraus, dass Adlige ohne Leibeigene nun danach strebten, besiedelten Grund zu kaufen, um in die erste Kategorie aufzusteigen. Im Januar 1834 schlug das Komitee für die Westgouvernements deshalb eine Begrenzung beim Immobilienerwerb für Personen ohne Adelsnachweis vor.335 Diese Regelung wurde von der zarischen Regierung rückwirkend zum 19. Oktober 1831 eingeführt. Damit mussten alle Adligen ohne Adelsnachweis, die nach der Veröffentlichung des Oktoberukasses besiedelten Grundbesitz erworben hatten, diesen innerhalb von drei Jahren wieder verkaufen.336 Einmal mehr ließ sich der Adel durch ein bloßes Dekret nicht beeindrucken. Im Gegenteil, er scheint weiterhin besiedelten Grundbesitz erworben zu haben, denn 1837 folgte ein Ukas, der dies ausdrücklich untersagte und bei Zuwiderhandlungen die sofortige Beschlagnahme dieser Ländereien anordnete.337 Zehn Jahre später sollte das adlige Privileg auf Leibeigene endgültig durchgesetzt werden. Ein Ukas vom 23. Januar 1847 verfügte, dass in den Westgouvernements der besiedelte Grundbesitz von Einhöfern zu konfiszieren sei.338 Und am 5. Juni 1850 wurde allgemein festgelegt, dass besiedeltes Land, das sich im Besitz von Adligen ohne bestätigten Adelsnachweis befinde, gegen eine Entschädigung an den Staat falle.339 Ein drittes Problem ergab sich daraus, dass die Adelsdeputiertenversammlungen nun offenbar in großem Umfang Adelsnachweise ausstellten. Diese Praxis ermöglichte Adligen der dritten Kategorie in die zweite aufzusteigen und so die Steuern und den Militärdienst zu umgehen. Die zarische Regierung beugte dem vor, indem sie klarstellte, dass zur zweiten Kategorie nur diejenigen zählten, deren Adligkeit bereits vor dem 11. November 1832 durch die Adelsdeputiertenversammlung anerkannt worden war.340 Über die Aufnahme von Adligen, die erst nach diesem Stichtag ihren Adelsnachweis erhalten hatten, sollte eine eigens gegründete Kommission entscheiden.341 333 Senatsukas vom 25.7.1833, in: PSZ II, Bd. 8,1, Nr. 6.351, S. 443–444. 334 Durch den Zaren bestätigte Ansicht des Reichsrats vom 20.4.1834, in: PSZ II, Bd. 9,1, Nr. 7.007, S. 302–308, hier 303f. 335 Journal des Komitees für die Westgouvernements, Eintrag vom 5.1.1834, in: RGIA f. 1266, op. 1, d. 14, l. 57–60. 336 Senatsukas vom 5.2.1834, in: PSZ II, Bd. 9,1, Nr. 6.779, S. 106–108. 337 Vgl. Nikotin: Stoletnij period, Bd. 2, S. 29. 338 Senatsukas vom 23.1.1847, in: PSZ II, Bd. 22, Nr. 20.845, S. 84–85. 339 Kaiserlich bestätigtes Gutachten des Reichsrates vom 5.6.1850, in: PSZ II, Bd. 25, Nr. 24.209, S. 523–524. 340 Senatsukas vom 25.9.1834, in: PSZ II, Bd. 9,2, Nr. 7.404, S. 31. 341 Kaiserlich bestätigtes Gutachten des Reichsrates vom 20.4.1834, in: PSZ II, Bd. 9,2, Nr. 7.007, S. 302–308; Senatsukas vom 30.1.1837, in: ebd., Bd. 12,1, Nr. 9.912, S. 68–69; Namentlicher



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Insgesamt existierten diese drei Rechtskategorien bis zum Jahre 1845. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Regelungen noch einmal verschärft. Nun gewährte man Adligen, die weder über Leibeigene noch über einen Adelsnachweis verfügten, eine Frist von drei Jahren, innerhalb derer sie einen Adelsnachweis beibringen konnten. Ließen sie die Frist verstreichen, sollten sie in den Stand der Einhöfer oder der Stadtbewohner eingeschrieben werden. Eine Rückkehr in den Adel sollte ab diesem Zeitpunkt nur noch über den Dienst und die Rangtabelle möglich sein.342 Der Novemberaufstand hatte ein grundsätzliches Misstrauen der zarischen Regierung gegenüber dem polnischen Adel gesät. Die Regierung zweifelte angesichts des großen Umfangs bekannt gewordener Betrugsfälle das Ergebnis der bisherigen Adelsüberprüfung an. Der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war die Aufdeckung eines spektakulären Betrugsfalles in Wilna. Dort war ein Fälscherring aufgeflogen, der im Besitz zahlreicher Vordrucke für Adelsbriefe mit der Unterschrift des ehemaligen polnischen Königs war. Die zarische Regierung rief daraufhin Revisionskommissionen ins Leben, die sämtliche Adelsbücher in den Westgouvernements überprüfen sollten. Die Kommissionen setzten sich aus Beamten des Innen- und des Justizministeriums sowie Angehörigen der lokalen Gendarmerie zusammen.343 Den Revisionskommissionen fehlten jedoch ebenso wie bislang dem Heroldsamt die Mittel, um sich gegen einen wenig kooperationswilligen Adel durchzusetzen. So konnte die Wilnaer Revisionskommission anfangs ihre Tätigkeit nicht aufnehmen, da die Adelsdeputiertenversammlung ihr die zu prüfenden Akten nicht aushändigte. Die mangelnde Kooperation wurde damit gerechtfertigt, dass man in den abgeschlossenen Fällen den Antragstellern alle eingereichten Unterlagen wieder ausgehändigt habe. Außerdem seien viele Dokumente infolge der Kriegshandlungen in den Jahren 1812 und 1831 vernichtet worden oder verloren gegangen. Um der Forderung der Revisionskommission dennoch nachkommen zu können, habe man sich an die Kreisadelsmarschälle und die Gouvernementsregierungen mit der Bitte gewandt, den Adel zu benachrichtigen, dass er alle Nachweise mit sämtlichen Dokumenten erneut vorzulegen habe. Diese Aufforderung habe jedoch nicht gefruchtet.344 Der Reichsrat schrieb aufgrund dieses Vorfalls eine Frist von drei Jahren vor, innerhalb derer die Adligen ihre Unterlagen vorzulegen hätten. Wer dem nicht nachkomme, der werde nach Ablauf dieser Frist Ukas vom 18.5.1843, in: ebd., Bd. 18,1, Nr. 16.857, S. 325–327; Kaiserlich bestätigtes Gutachten des Ministerkomitees vom 5.3.1846, in: ebd., Bd. 21, Nr. 19.802, S. 303–305. 342 Kaiserlich bestätigtes Gutachten des Reichsrates vom 3.7.1845, in: PSZ II, Bd. 20, Nr. 19.158, S. 506–507. 343 Namentlicher Ukas Nikolaus’ I. vom 19.12.1833, in: PSZ II, Bd. 8,1, Nr. 6.644, S. 771. 344 Kaiserlich bestätigtes Gutachten des Reichsrates vom 31.8.1838, in: PSZ II, Bd. 13, Nr. 11.387, S. 5–7.

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unverzüglich deklassiert und in den Stand der Einhöfer eingeschrieben. Ausgenommen von dieser strengen Regelung waren allerdings Adlige, die über Landbesitz oder Leibeigene verfügten.345 Einmal mehr versuchte die zarische Regierung den Adel, der sich dem Zugriff der Staatsgewalt entzog, durch eine Fristsetzung und die Androhung des Statusverlustes zur Kooperation zu nötigen. Auch dieses Mal ließen sich die Adligen von diesem Drohszenario nicht einschüchtern. Nachdem die Frist abgelaufen war, blieb der Regierung nichts anderes übrig, als die Frist um weitere drei Jahre zu verlängern.346 Auch die ukrainischen Revisionskommissionen hatten Probleme, ihren Auftrag auszuführen. Der Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien sah in ihnen einen „Geist gegen die Regierung“ wirken und warf ihren polnischen Mitgliedern vor, die Arbeit bewusst zu sabotieren. Besonders unzufrieden zeigte sich der Generalgouverneur mit den Kommissionen in Wolhynien und Podolien. Während man in Kiew immerhin die Adelsbücher der Jahre 1801 bis 1829 überprüft habe, seien die beiden anderen Kommissionen nicht über die Jahre 1802 bzw. 1803 hinausgekommen.347 Kaum weniger alarmierend als die Trägheit bei der Umsetzung waren die erzielten Ergebnisse. Die Kiewer Kommission hatte 14.371 Adlige überprüft und war zu dem Ergebnis gekommen, dass 886 Personen zu Recht die Adelswürde anerkannt worden war, in 816 Fällen hielt sie die Adelsnachweise für fragwürdig und 12.669 der Überprüften hätten keinen ausreichenden Nachweis ihrer Adligkeit vorgelegt.348 Das heißt: 88 Prozent der überprüften Adligen waren demzufolge zu Unrecht in den Adelsstand aufgenommen worden, bei weiteren fünf Prozent waren zumindest Zweifel angebracht. Dieses Ergebnis schien die von der zarischen Regierung schon länger gehegte Befürchtung zu belegen: Der polnische Adel habe den Versuch der Staatsgewalt, den „echten“ Adel vom „falschen“ zu trennen, in großem Stile unterlaufen. Im Komitee für die Westgouvernements entrüstete sich der Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien, Bibikov: „In den drei Provinzen der Westukraine gibt es immer noch 178.000 Personen, die sich selbst Adlige nennen, obwohl nur etwa 3.000 von ihnen den Titel verdientermaßen tragen.“349

345 Ebd., S. 6. 346 Namentlicher Ukas Nikolaus’ I. vom 5.11.1841, in: PSZ II, Bd. 16,2, Nr. 14.998, S. 6–7. 347 Bericht des Generalgouverneurs von Kiew, Podolien und Wolhynien an Nikolaus I. über den Zustand der Gouvernements Kiew, Podolien und Wolhynien im Jahr 1839, vom 22.3.1840, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 2788, l. 1–107, hier 47ob-48ob. 348 Ebd., l. 5ob. 349 Journal des Komitees für die Westgouvernements, Eintrag vom 24.2.1839, in: RGIA f. 1266, op. 1, d. 24, l. 16–31, hier 25.



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Bibikov trat dafür ein, eine Zentrale Revisionskommission zu gründen. Diese sollte die Kommissionen, die für jeweils ein Gouvernement zuständig waren, ablösen. Nikolaj Dolgorukov, Generalgouverneur von Wilna, Grodno und dem Gebiet Białystok, lehnte diese Maßnahme jedoch ab.350 Am Ende der Diskussion stand ein Kompromiss: In den ukrainischen Gouvernements wurde am 4. Januar 1840 eine Zentrale Revisionskommission mit Sitz in Kiew eingerichtet.351 In den anderen Westgouvernements blieb es zunächst bei der bisherigen Regelung. In der Zentralen Revisionskommission wurde der Einfluss des Adels so weit wie möglich zurückgedrängt. Stattdessen dominierten staatliche Amtsträger. Unter den 43 Mitgliedern fanden sich nur drei Vertreter aus dem Adel: je ein Repräsentant aus den Gouvernements Kiew, Podolien und Wolhynien.352 Bereits ein Zeitzeuge, Tadeusz Bobrowski, kritisierte den Verlust an Partizipationsmöglichkeiten in Angelegenheiten, welche die vitalen Interessen des polnischen Adels berührten: Die Adelsvertreter in den Revisionskommissionen stünden der Mehrheit aus Staatsdienern machtlos gegenüber und hätten allenfalls noch die Möglichkeit, gegen die gefassten Beschlüsse zu protestieren.353 Die Zentrale Revisionskommission in Kiew kam mit ihrer Arbeit schnell voran. Bereits nach fünf Jahren hatte sie den Adel der drei ukrainischen Gouvernements überprüft und die zarische Regierung zeigte sich mit ihrer Tätigkeit sehr zufrieden.354 Insgesamt hat die Kommission im Laufe ihrer fünfjährigen Tätigkeit die Dokumente von 19.042 Adligen durchgesehen und auf dieser Grundlage 14.334 aus dem Adelsstand ausgeschlossen. Dies entspricht rund 75 Prozent. Betrachtet man die Zahlen für die einzelnen Gouvernements, dann fällt auf, dass in Kiew nur 25 Prozent der überprüften Adligen deklassiert wurden, während es in Wolhynien 67 Prozent und in Podolien sogar 87 Prozent waren.355 Dies bestä350 Journal des Komitees für die Westgouvernements, Eintrag vom 23.12.1839, in: RGIA f. 1266, op. 1, d. 24, l. 280–281. 351 Namentlicher Ukas Nikolaus’ I. vom 4.1.1840, in: PSZ II, Bd. 15,1, Nr. 13.046, S. 2–3. 352 Die anderen Mitglieder waren: ein Vorsitzender, ein Gehilfe des Vorsitzenden, ein Berater des Vorsitzenden, sechs Übersetzer, ein Protokollant, sechs Untertischvorsteher, ein Schriftführer, zwei Gehilfen des Protokollanten und des Schriftführers, sechs höhere, sechs mittlere und sechs untere Kanzleidiener, vgl. die Aufstellung des Personalbestandes der Zentralen Revisionskommission in Kiew und ihrer Kanzlei, in: CDIAK f. 481, op. 3, d. 1, l. 2. 353 Vgl. Bobrowski: Pamiętnik mojego życia, Bd. 1, S. 78. 354 Namentlicher Ukas Nikolaus’ I. vom 18.5.1843, in: PSZ II, Bd. 18,1, Nr. 16.857, S. 325–327; Kaiserlich bestätigte Verordnung des Komitees für die Westgouvernements vom 22.10.1843, in: PSZ II, Bd. 18,1, Nr. 17.257, S. 625. Die Kommission in Wilna arbeitete hingegen langsamer. Das Ende ihrer Tätigkeit musste um zwei Jahre auf den 1. Januar 1847 verschoben werden, vgl. Kaiserlich bestätigte Verordnung des Ministerkomitees vom 5.3.1846, in: PSZ II, Bd. 21, Nr. 19.802, S. 303–305. 355 Eine Bilanz der Zentralen Revisionskommission in Kiew findet sich bei: Lisenko / Černec’kij: Pravoberežna šljachta, S. 59.

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tigt noch einmal, dass die Überprüfung der Adelsrevision vor 1840 in Kiew tatsächlich gründlicher durchgeführt worden war als in Wolhynien und in Podolien. Der Ausschluss von drei Viertel der bereits überprüften Adligen weist außerdem darauf hin, dass die seit Beginn des Jahrhunderts vom Adel weitgehend selbständig durchgeführte Adelsrevision den gesetzlichen Vorgaben des Zarenreiches nicht entsprochen hatte. Die Regierung in St. Petersburg zeigte sich mit dem Endergebnis äußerst zufrieden und gründete nach dem Kiewer Vorbild eine zweite Zentrale Revisionskommission, die für die Gouvernements Wilna, Minsk, Grodno sowie Kaunas zuständig war und ihren Sitz in Wilna hatte.356 Sie war nach demselben Muster wie die Kommission in Kiew gebildet: Von den insgesamt 34 Mitgliedern durfte der Adel aus jedem der drei Gouvernements nur jeweils einen Vertreter entsenden.357 Leider ist die Überlieferung zu deren Tätigkeit sehr viel schlechter, so dass sich nicht klar bestimmen lässt, inwieweit diese einen ähnlich durchschlagenden Erfolg verbuchen konnte.

4.3. Bestechung und Betrug – Willkür und Ehrverletzung: Das wachsende Misstrauen von russischer Staatsgewalt und polnischem Adel im Zuge der Adelsrevision Die Politik Nikolaus’ I. erhöhte den Druck auf diejenigen Adligen, die ihre Standeszugehörigkeit nicht zweifelsfrei nachweisen konnten. Die Bitten des Adels, im Falle des Verlustes von Dokumenten durch Unglücksfälle wie Brände oder Kriege allein die Entscheidung der Adelsdeputiertenversammlung zum Maßstab zu machen, lehnte das Komitee für die Westgouvernements kategorisch ab. Der Verlust der Dokumente sei kein stichhaltiger Grund, um von den rechtlichen Vorgaben abzuweichen.358 An dieser Haltung änderten auch die Eingaben von Adelsmarschällen nichts, die immer wieder auf Härtefälle hinwiesen, in denen Familien ohne eigenes Verschulden ihre Adelsnachweise verloren hatten.359 Allerdings wich die zarische Regierung von diesem Prinzip ab, wenn es ihrer eigenen Interessenslage entsprach. Aufgrund des Mangels an staatlichen Beamten in den Westgouver356 Namentlicher Ukas Nikolaus’ I. vom 18.5.1843, in: PSZ II, Bd. 18,1, Nr. 16.857, S. 325–327. Zur Gründung der Kommission in Wilna vgl. das Schreiben des Vizegouverneurs an den Wilnaer Gouvernementsmarschall vom 19.7.1843, in: LVIA f. 391, op. 6, d. 1106, l. 1. 357 Senatsukas vom 18.5.1843, in: LVIA f. 391, op. 6, d. 1106, l. 2ob.-3; Personalbestand und -etat der Zentralen Revisionskommission in Wilna vom 18.5.1843, in: LVIA f. 391, op. 6, d. 1106, l. 3ob. 358 Vgl. Lepeš: Komitet zapadnych gubernij, S. 54. 359 Vgl. z. B. das Schreiben des Adelsmarschalls von Wolhynien an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 11.4.1833, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1225, l. 30–31ob.



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nements reichte ein durch die Adelsdeputiertenversammlung ausgestelltes Zertifikat als Adelsnachweis für den Eintritt in den Staatsdienst aus. Zwar stand noch immer eine Überprüfung durch das Heroldsamt an, doch sollte diese in einem Schnellverfahren erfolgen. Wer also dem Staat seine Dienste anbot, der konnte davon ausgehen, dass seine Dokumente weniger gründlich überprüft wurden. Und für den Fall, dass das Heroldsamt die Adligkeit des Antragstellers nicht bestätigen sollte, drohte keine Bestrafung oder der Ausschluss aus dem Staatsdienst. Vielmehr sollte der Betreffende zu den Kanzleibeamten der dritten Klasse eingereiht werden, so dass er nach einem Dienst von sechs Jahren den ersten Offiziersrang erreichen konnte. Auf diese Weise konnte man mithilfe des Staatsdienstes in absehbarer Zeit zumindest wieder in den persönlichen Adel aufsteigen.360 Diese Regelung wurde 1832 auf den freiwilligen Militärdienst ausgeweitet.361 Die Kompromisslosigkeit des zarischen Staates bei der Adelsüberprüfung zwang diejenigen Adligen, die über keinerlei Adelsnachweise verfügten, neue Strategien zu entwickeln, um einer Deklassierung zu entgehen. Bislang war es möglich gewesen, die staatliche Adelsrevision zu ignorieren, indem man der Aufforderung zur Adelsverifikation schlichtweg nicht nachkam. Da dieses Kalkül durch den zunehmenden Zugriff des Staates immer schwerer durchzuhalten war, beschafften sich viele die fehlenden Adelsnachweise auf illegalem Wege. Die aufgedeckten Fälle von Betrug und Bestechung nahmen in den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts zu, und die Staatsgewalt sah sich außerstande, diese wirkungsvoll zu unterbinden. So nahm beispielsweise der Adelsmarschall aus dem Kreis Čaus im Gouvernement Mogilëv besitzlose Adlige gegen Bezahlung in das Adelsbuch auf.362 Und in Minsk hob man eine professionelle Fälscherwerkstatt aus: Ein Absolvent des dortigen Gymnasiums namens Czajkowski hatte alte Blankoformulare aus den Archiven entwendet und mit paläographischem Geschick sowie gefälschten Stempeln Adelsbriefe aus den unterschiedlichsten Epochen des Königreiches Polen ausgestellt. Das Ausmaß der Fälschungen legte für die Untersuchungsbeamten den Schluss nahe, dass in diesen Fall etliche Staatsdiener verwickelt gewesen sein mussten.363 Insgesamt scheint es in den Gouvernementsstädten verhältnismäßig einfach gewesen zu sein, für wenige Rubel einen gefälschten Adelsnachweis zu

360 Namentlicher Ukas Nikolaus’ I. vom 3.12.1831, in: PSZ II, Bd. 6,2, Nr. 4.982, S. 241. 361 Namentlicher Ukas Nikolaus’ I. vom 12.8.1832, in: PSZ II, Bd. 7, Nr. 5.560, S. 557. 362 Brief des Gouverneurs von Mogilëv an den Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv, Smolensk und Kaluga vom 31.8.1829, in: NIAB f. 1297, o. 1, d. 4064, l. 3. 363 Vgl. Nikolaj N. Ulaščik: Predposylki krest’janskoj reformy 1861 g. v Litve i zapadnoj Belorussii, Moskau 1965, S. 91. Ein ähnlicher Fall ist auch aus Wilna überliefert in: Namentlicher Ukas Nikolaus’ I. vom 19.12.1833, in: PSZ II, Bd. 8,1, Nr. 6.644, S. 771–772, hier 771.

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bekommen. Dort gab es Personen mit entsprechenden Fähigkeiten, und die örtliche Polizei war zu schwach, um derartige Umtriebe zu unterbinden.364 Das Einreichen von gefälschten Urkunden versprach dann Erfolg, wenn der lokale Adel diese Dokumente bereitwillig akzeptierte. Infolgedessen waren Adelsmarschälle und Mitglieder der Adelsdeputiertenversammlungen, die über die Aufnahme in das Adelsbuch entschieden, häufig in Betrugsfälle verstrickt.365 Als typisch erscheint ein Fall, den die Wolhynische Gouvernementsverwaltung in Novograd-Volynskij aufgedeckt hat. Fabian Łukaszewicz ging zusammen mit einem im Gouvernement bekannten Adligen namens Dunin zum Kreisadelsmarschall Mikulicz und legte diesem einen gefälschten Auszug aus seinem Familienbuch vor. Dunin bezeugte die adlige Herkunft des Łukaszewicz. Aufgrund dieser Aussage unterschrieb Mikulicz den Familienbuchauszug und bestätigte damit, dass das Dokument echt und inhaltlich richtig sei. Dieses Dokument legte Łukaszewicz nun der Adelsdeputiertenversammlung von Wolhynien vor, die diesen Adelsnachweis ebenfalls akzeptierte und ihn in das Adelsbuch aufnahm.366 Zu einem solchen gesetzwidrigen Erwerb des Adelsstatus gehörten also drei Mitspieler: ein Adliger, der als Zeuge auftrat, ein Kreisadelsmarschall, der die gefälschten Papiere beglaubigte, und eine Adelsdeputiertenversammlung, die diesen nicht vorschriftsmäßigen und lückenhaften Nachweis akzeptierte. Es bleibt offen, ob in diesem Fall eine finanzielle Zuwendung dem Kreisadelsmarschall die Entscheidung erleichterte, die ihm zugedachte Rolle zu spielen. Immerhin war Mikulicz diese kulturelle Praxis nicht fremd. Ein Jahr zuvor war er bereits in den Verdacht geraten, den Gouverneur Wolhyniens mit einem Geschenk in Höhe von 40.000 Rubel bestochen zu haben.367 Der Handel mit gefälschten Adelsnachweisen war in den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts so weit verbreitet, dass professionelle Kriminelle darin ein Geschäft witterten. Der aus Riga stammende Friedrich Plöth hatte 364 Auch in Žitomir scheinen gefälschte Dokumente kein Einzelphänomen gewesen zu sein, vgl. das Schreiben des Kreisadelsmarschalls [von] Malachovskij an den Generalgouverneur vom 7.8.1836, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 2168, l. 34–37. Das Phänomen insgesamt beschreibt: Neverojatnoe razmnoženie pol’skogo dvorjanstva, in: Vestnik Zapadnoj Rossii 1867, Nr. 1, S. 150– 155, hier 152. 365 So zum Beispiel die Adelsdeputiertenversammlung im Gouvernement Wilna, vgl. das Schreiben der Wilnaer Gouvernementsregierung an die Wilnaer Adelsdeputiertenversammlung vom 26.5.1828, in: LVIA f. 391, op. 6, d. 252, l. 1–17; Schreiben der Wilnaer Gouvernementsregierung an die Wilnaer Adelsdeputiertenversammlung vom 17.8.1829, in: LVIA f. 391, op. 6, d. 252, l. 22–33. 366 Auszug aus dem Journal der Gouvernementsregierung von Wolhynien vom 14.7.1836, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1864, l. 186–189. 367 Vgl. Brief des Kreishauptmanns von Novograd-Volynskij, Oberstleutnant Miller, an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien, Graf Tur’ev, vom 6.11.1835, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1864, l. 4–6.



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im Gouvernement Wilna gewerbsmäßig falsche Adelszeugnisse hergestellt. Aufgrund der von ihm angefertigten Dokumente nahm die Adelsdeputiertenversammlung zahlreiche Personen in den Adelsstand auf, obwohl ihnen die rechtlichen Voraussetzungen dazu fehlten.368 Plöth war in der Vergangenheit bereits wiederholt mit dem Gesetz in Konflikt geraten. 1827 war gegen ihn Anzeige erstattet worden, weil er mehreren Personen gesetzwidrig Adelsurkunden beschafft hatte. Nach seiner Festnahme hatte er der diensthabenden Wache Geld angeboten, damit diese ihn freilasse.369 Bevor Plöth in Litauen gefälschte Adelsnachweise verkaufte, hatte er in Kurland mit Schmuggelware gehandelt.370 Und es verwundert zu guter Letzt nicht, dass sich Plöth in Wilna selbst in das Adelsbuch eintragen ließ, indem er den Sekretär und zwei Mitglieder der Adelsversammlung bestach.371 Doch auch wenn zarische Beamte wiederholt Fälle von Korruption und Fälschung aufdeckten, so muss man aus diesen aktenkundig gewordenen Missständen nicht unbedingt den gleichen Schluss wie die Regierung ziehen: Der polnische Kleinadel habe sich seine Adelsverifikationen gekauft und erschwindelt. Denn noch häufiger als Bestechungsfälle finden sich in den Akten Beschwerden Kleinadliger, denen die Adelsdeputiertenversammlung den angestrebten Adelsnachweis nicht ausgestellt hatte. So wollte zum Beispiel Sidor Deval’den in den Staatsdienst eintreten und benötigte dazu einen Adelsnachweis. Da die Familie nicht aus dem Gouvernement Vitebsk stammte, hatte er Schwierigkeiten, die notwendigen Dokumente beizubringen. Deval’den konnte nur zwei Privilegien vorlegen, die der Großvater einst von König August III. erhalten hatte. Sie bescheinigten, dass der Großvater im Besitz eines Gutshofes gewesen war und das Amt eines Gesandten innegehabt hatte. Die Vitebsker Adelsversammlung lehnte diese Dokumente als Adelsnachweise ab und forderte die Familie Deval’den auf, die gesetzlich vorgeschriebenen Urkunden vorzulegen oder nachzuweisen, dass diese nicht mehr beigebracht werden könnten.372 Obwohl die Familie Deval’den also offensichtlich dem polnischen Adel angehörte, hielt sich die Adelsversammlung an die gesetzlichen Vorschriften. Die Adelsverifikation war keineswegs durchgehend von einer Frontstellung zwischen russischer Staatsgewalt und polnischem Adel geprägt. Die Konfliktli368 Schreiben des Generalinspektors der Kavallerie im Oberkommando des Litauischen Korps an Benckendorff vom 25.4.1828, in: GARF f. 109, op. 2, d. 98, l. 21–21ob. 369 Schreiben des Generalinspektors der Kavallerie im Oberkommando des Litauischen Korps an Benckendorff vom 2.12.1827, in: GARF f. 109, op. 2, d. 98, l. 20–20ob. 370 Schreiben Egor Kamerniks an Benckendorff vom 11.4.1827, in: GARF f. 109, op. 2, d. 98, l. 2. 371 Plöth war nicht der Einzige, dem diese drei Wahlbeamten die Aufnahme in den Adelsstand ermöglicht hatten, vgl. das Schreiben des Großfürsten Konstantin an den Militärgouverneur von Litauen vom 23.4.1828, in: GARF f. 109, op. 2, d. 98, l. 29–31. 372 Schreiben des Vitebsker Gouvernementsmarschalls an den Generalgouverneur vom 26.4.1833, in: NIAB f. 1297, o. 1, d. 6829, l. 3–4.

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nien konnten sehr viel komplizierter verlaufen. Darauf deutet auch die Tatsache hin, dass Fälschungen von Adelsnachweisen häufig erst aufgrund der Anzeige eines Adligen aufgedeckt wurden.373 Lokale Konflikte konnten das Verfahren also durchaus überlagern. Andererseits konnten die vermögenden Mitglieder einer Adelsdeputiertenversammlung auch hinter der Adelsrevision stehen. Schon am Ende der Adelsrepublik hatten adlige Reformer einen Ausschluss des Kleinadels aus der Szlachta angestrebt. Nach wie vor gab es Gutsbesitzer, die das politische Ziel der zarischen Adelspolitik guthießen und aktiv unterstützten. Auch gab es Fälle, in denen Adlige nicht bereit waren, das geltende Recht zu beugen. Letzteres war bei der Adelsverifikation des Sidor Deval’den der Fall gewesen. Die Adelsversammlung begründete ihre Ablehnung seines Antrages damit, dass sie ihre Entscheidung gegenüber dem Gouverneur zu rechtfertigen habe.374 Die ausgreifende Einflussnahme der russischen Staatsgewalt auf den Prozess der Adelsüberprüfung beschnitt jene Rechte, die Katharina II. mit ihrer Gnadenurkunde dem Adel des gesamten Reiches gewährt hatte. Ein großer Teil der Szlachta war sich der rechtlichen Lage des Adels im Zarenreich dabei durchaus bewusst. Zahlreiche Eingaben von polnischen Adligen beanstandeten diese Ungleichbehandlung und beriefen sich dabei ausdrücklich auf die zarischen Gesetze. So legte der Adelsmarschall von Podolien, Konstanty Przezdziecki, beim Generalgouverneur eine Beschwerde ein, weil die neue Praxis klar gegen die Gnadenurkunde verstoße: Adlige, die durch die Adelsdeputiertenversammlung in das Adelsbuch aufgenommen worden seien, dürften von dritter Seite nicht wieder gestrichen werden.375 Auch der Adelsmarschall von Kiew, Henryk Tyszkiewicz, erinnerte den Generalgouverneur an die herrschende Gesetzeslage. Katharina II. habe ein Eingreifen des Heroldsamtes nur für den Fall vorgesehen, wenn es einen Streitfall zwischen einem Adligen und der Adelsversammlung zu schlichten galt. Keinesfalls könne sich diese staatliche Institution eigenmächtig über eine einvernehmliche Entscheidung des Adligen und der Adelsversammlung hinwegsetzen.376 Zweifellos gehörte es zur argumentativen Strategie der Adelsmarschälle, sich in ihren Beschwerdebriefen nicht auf altes polnisches Recht, sondern auf die Gesetzgebung Katharinas II. zu berufen. Nur wer auf einer geltenden rechtlichen 373 So zum Beispiel der eingangs geschilderte Fall aus Čaus, in dem ein Adliger den Adelsmarschall angezeigt hatte, vgl. Brief des Gouverneurs von Mogilëv an den Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv, Smolensk und Kaluga vom 31.8.1829, in: NIAB f. 1297, o. 1, d. 4064, l. 3. 374 Schreiben des Vitebsker Gouvernementsmarschalls an den Generalgouverneur vom 26.4.1833, in: NIAB f. 1297, o. 1, d. 6829, l. 3–4. 375 Schreiben Przezdziecki an Levašov vom 16.5.1832, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1225, l. 10–12. 376 Schreiben Tyszkiewiczs an Levašov vom 17.5.1832, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1225, l. 13– 14ob.



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Grundlage argumentierte, hatte letztlich Aussicht auf Erfolg. Die beiden angeführten und zahlreiche andere Interventionen zeigen, dass Adelsmarschälle die Rechte des Reichsadels sehr gut kannten und dass die katharinäische Gesetzgebung im Einklang mit ihren Vorstellungen von den Rechten und Pflichten des Adels stand. Die Politik Nikolaus’ I. widersprach hingegen in zwei Punkten dem Rechtsempfinden der Adelsmarschälle: Sie verstieß gegen ständisches Recht, und das Vorgehen in den Westgouvernements entsprach nicht der zarischen Politik gegenüber dem restlichen Adel im Reich. Damit hatte die forcierte Adelsrevision nach dem Novemberaufstand nicht nur das adlige Selbstverständnis als Standesformation verletzt, sondern auch den polnischen Adel durch eine Sondergesetzgebung aus dem Reichsadel rechtlich ausgeschlossen. Aus polnischer Perspektive war die Adelspolitik Nikolaus’ ein politischer sowie juristischer Willkürakt. Die Deklassierung des Kleinadels stand in einem eklatanten Widerspruch zum Gleichheitsgrundsatz der Szlachta. Da sich die Adelsverifikation zudem über Jahrzehnte hinzog, lebten viele Adlige in einer prekären Situation. Der in kaiserlichen Erlassen regelmäßig eingeforderte Adelsnachweis und erst recht der vollzogene Ausschluss aus dem Adel stellte für die Szlachta, in deren Weltbild der Sarmatismus konstitutiv war, eine permanente Ehrverletzung dar. In ihrer Wahrnehmung war die Adelsverifikation kein staatliches Mittel zur Integration der Szlachta in die ständische Ordnung des Zarenreiches. Eine Deklassierung zum Einhöfer oder Kleinbürger bedeutete vielmehr einen Ausschluss aus der Adelsgesellschaft und widersprach sowohl dem Gleichheitsideal als auch der Freiheitstradition des polnischen Adels. 377 Zu dieser Ehrverletzung gehörte auch, dass innerhalb des Revisionsverfahrens das Wort eines Adligen nichts mehr galt. In Zeiten der Adelsrepublik hatte das Zeugnis eines Adligen als Nachweis für die adlige Abstammung eines anderen genügt. Aus diesem Grunde versuchten Adlige auch gegenüber der Zarenmacht durch ihr Ehrenwort Fürsprache für Standesgenossen ohne ausreichenden Adelsnachweis einzulegen. Indem die zarischen Behörden diese Form des Adelsnachweises nicht gelten ließen, kränkten sie den Fürsprecher in seiner adligen Ehre, die unter der Herrschaft des Zaren keinen Wert mehr zu besitzen schien.378 Das alte Ehrverständnis des Adels wurde also durch neue Verwaltungspraktiken verdrängt. Dies verweist auf die Grundkonstellation des Konfliktes zwischen zarischem Staat und Szlachta: Hier trafen die Interessen einer sich modernisierenden autokrati-

377 Zur Rezeption der Adelsverifikation durch den Kleinadel vgl. Tadeusz Perkowski: Legitymacje szlachty polskiej w prowincjach zabranych przes Rosję, in: Miesięcznik heraldyczny 18 (1938), Nr. 5, S. 61–76, hier 73f. Perkowski sieht in der zarischen Adelspolitik sogar ein wesentliches Motiv des Kleinadels für die Teilnahme am Novemberaufstand. 378 Vgl. Beauvois: The noble, S. 75.

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schen Staatsgewalt und der Vertreter einer ständischen Gesellschaftsordnung aufeinander. Die Adelspolitik Nikolaus’ I. förderte insgesamt die Unruhe im Adel der Westgouvernements. Viele Kleinadlige mussten um ihre Privilegien fürchten oder sahen sich von der zarischen Regierung gar aus dem Adelsstand herausgedrängt. Die um sich greifende Angst vor einer Deklassierung war Wasser auf die Mühlen revolutionärer Hoffnungen. Adelsmarschälle brachten als Repräsentanten der Adelsgesellschaft den wachsenden Unmut gegenüber der Regierung vor. So protestierten die Gouvernementsmarschälle von Mogilëv und Vitebsk gegen die Praxis des Heroldsamtes, von der Adelsdeputiertenversammlung ausgestellte Adelsurkunden zurückzuweisen.379 Und die Gouvernementsmarschälle von Minsk und Wilna reichten ein Gesuch ein, die Frist für das Beibringen der Dokumente zu verlängern, da es vielen Adligen schwerfalle, innerhalb der vorgeschriebenen zwei Jahre alle Unterlagen einzureichen.380 Die zarische Adelspolitik stellte allerdings nicht für alle Adlige der Westgouvernements eine existentielle Herausforderung dar. Im Gegenteil: Hatte die polnische Maiverfassung von 1791 noch die Besitzverhältnisse zur zentralen Kategorie für die Adelszugehörigkeit erhoben und damit die Grenzen zum wohlhabenden Bürgertum durchlässig gemacht, so festigte die Verrechtlichung der Standeszugehörigkeit durch die Überprüfung der Adelsbriefe die soziale Stellung derjenigen, die einen Adelsnachweis führen konnten und ins Adelsbuch eingetragen wurden. Und so gab es durchaus auch adlige Amtsträger, welche die zarischen Gesetze in die Praxis umsetzten. Der Adelsmarschall von Pinsk wandte sich zum Beispiel mit der Frage an den Senat, in welche Kategorie er Adlige einordnen soll, die sich nach dem 19. Oktober 1831 Land mit Bauern gekauft hatten. Hier nutzte ein adliger Amtsträger eine Gesetzeslücke nicht dazu aus, das Gesetz zu umgehen und im Sinne seiner Standesgenossen zu entscheiden. Vielmehr machte er den Senat durch seine Anfrage erst darauf aufmerksam, dass zahlreiche Adlige nach dem Oktoberukas gezielt Boden oder Leibeigene erworben hatten, um einer Deklassierung zu entgehen. Der Senat konnte dieser Praxis nun einen Riegel vorschieben. Er stellte klar, dass der Kauf von Leibeigenen nach dem 19. Oktober 1831 nicht vor einem Ausschluss aus dem Adelsstand schütze.381

379 Kaiserlich bestätigtes Gutachten des Reichsrats vom 6.2.1828, in: PSZ II, Bd. 3, Nr. 1.773, S. 83– 84. 380 Senatsukas vom 24.5.1835, in: PSZ II, Bd. 10,1, Nr. 8.159, S. 451–452. Ein weiteres Beispiel ist das Protestschreiben der Adelsversammlung des Kreises Hajsyn in Podolien gegen den Abbau von Standesrechten, abgedruckt in: Tadeusz Bobrowski: Pamiętnik mojego życia, 2 Bde., Warschau 1979, Bd. 2, S. 527–529. 381 Senatsukas vom 5.2.1834, in: PSZ II, Bd. 9,1, Nr. 6.779, S. 106–108.



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Irena Rychlikowa hat darauf hingewiesen, dass sämtliche sozialen Spannungen und Interessenkonflikte jener Zeit kaum Eingang in zeitgenössische Tagebücher und Memoiren gefunden haben.382 Es finden sich deshalb nur wenige Zeugnisse polnischer Adliger, welche die Deklassierung ihrer mittellosen Standesgenossen guthießen. Zudem dominierten nach dem Novemberaufstand von 1830 und endgültig nach dem Januaraufstand von 1863 nationale Kategorien den Diskurs. Eine positive Bewertung der russischen Adelspolitik war polnischen Memoirenschreibern nach 1830 deshalb kaum noch möglich. Die meisten integrationsbereiten Polen dürften nach den Aufständen geschwiegen haben. Andere, wie Adam Czartoryski, versuchten sich durch eine nachträgliche Distanzierung vom Zarenreich in die nationale Gemeinschaft einzuschreiben. In staatlichen Akten finden sich allerdings Beispiele für die Unterstützung der zarischen Adelspolitik durch polnische Gutsbesitzer. In den Gouvernements Kiew und Podolien gab es etwa eine Reihe von Fällen, in denen Magnaten ihre verarmten Standesgenossen bei den zarischen Behörden meldeten, so dass sich diese nicht länger dem Zugriff der Staatsgewalt entziehen konnten und eine Überprüfung ihrer Adligkeit durchgeführt werden konnte.383 Derartige Vorkommnisse führten in der Historiographie zu einer Debatte über den Zusammenhalt des polnischen Adels in den Westgouvernements. Nach Daniel Beauvois gaben die Magnaten nach 1830 ihre Standessolidarität mit dem Kleinadel auf und unterstützten die zarische Staatsgewalt aktiv bei ihrer Politik der Deklassierung. Auf diese Weise sei der Kleinadel nicht nur zu Bauern herabgesunken, sondern habe sich letztlich „entnationalisiert“ und sei „im Meer der ukrainischen Bauern“ aufgegangen.384 Rychlikowa wandte sich zwar gegen Beauvois’ These einer „Ukrainisierung“ des Kleinadels, kritisierte aber ebenso die mangelnde Standessolidarität der Magnaten mit dem Kleinadel.385 Insgesamt ist davon auszugehen, dass die Deklassierung des Kleinadels durch die zarische Staatsgewalt von magnatischer Seite stillschweigend gutgeheißen wurde. So klagte etwa August Iwański über das geringe Ausmaß des Protestes der wohlhabenden Adligen.386 Nicht wenige Magnaten dürften den Ausschluss der verarmten Szlachta aus dem Adelsstand sogar ausdrücklich begrüßt haben. Ein Teilnehmer am Januaraufstand von 1863 berichtete in seinen Memoiren, dass die Magnaten den deklassierten Kleinadligen keine Träne nachgeweint hätten.387 382 383 384 385 386 387

Vgl. Rychlikowa: Deklasacja drobnej szlachty polskiej, S. 139. Vgl. Beauvois: The noble, S. 84. Beauvois: The nobel, S. 100–119. Rychlikowa: Deklasacja drobnej szlachty polskiej, S. 129–142. August Iwański: Pamiętniki 1832–1876, Warschau 1968, S. 228. Rok 1863 na Ukrainie. Pamiętnik nieznanego autora, hg. v. Eligiusz Kozłowski, Krakau 1979, S. 17 und 22.

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Auch Tadeusz Bobrowski zeigt sich in seinen Erinnerungen verbittert darüber, dass viele Magnaten keine Solidarität mit den verarmten Standesgenossen gezeigt, sondern deren Deklassierung mit Wohlwollen betrachtet hätten.388 Solche Beispiele von Zustimmung zur zarischen Adelspolitik sollten allerdings weniger als Bruch einer ständischen oder nationalen Solidarität gesehen werden. Vielmehr stand eine solche Einstellung in unmittelbarer Kontinuität zur Politik des Vierjährigen Sejms. Die Reformen der Jahre 1788 bis 1791 hatten die politischen Rechte der verarmten Szlachta eingeschränkt, indem sie der Kategorie „Besitz“ eine entscheidende Bedeutung für das Wahlrecht in den adligen Landtagen verliehen hatten. Hier war ein Weg beschritten worden, der über kurz oder lang zu einer Exklusion der verarmten Adligen aus der Szlachta geführt hätte. Eine Kooperation der Gutsbesitzer mit der zarischen Obrigkeit zur Behauptung ihres Status schrieb letztendlich die Reformbemühungen unter dem letzten polnischen König fort. Allerdings war es nun die autokratische Zarenmacht gewesen, die jene soziale Umwälzung vollzogen hatte, welche die Adelsreformer selbst angestoßen hatten. Die Deklassierung des besitzlosen Kleinadels stellte sich unter diesen Bedingungen auch für die einstigen Verfechter dieser Politik anders dar. Für die Magnaten war eine politische Laufbahn im Zarenreich zwar möglich, jedoch mit Hindernissen versehen. Seit dem Novemberaufstand waren Karrieren, welche einen Einfluss auf die Reichspolitik ermöglichten, so gut wie ausgeschlossen. Dieser Umstand hatte eine Sonderentwicklung des polnischen Adels im europäischen Staatsbildungsprozess zur Folge. Der Staatsausbau schuf in den meisten Ländern eine neue Elite, indem er Teilen der etablierten Führungsschicht die Möglichkeit gab, Ämter zu übernehmen und an den Ressourcen des Staates zu partizipieren, und zugleich diejenigen Teile des Adels marginalisierte, die vom Zugang zur staatlichen Macht ausgeschlossen blieben. Diese Entwicklung war für diejenigen Adligen ungünstig, deren Einfluss ein rein lokaler war, denn ohne Einfluss bei Hof oder den zentralen Behörden war nun auch deren Autorität in der angestammten Provinz bedroht.389 Der polnische Adel in den Westgouvernements konnte hingegen die Autorität gegenüber seinen Standesgenossen nach 1830 eher wahren, wenn er sich von der zarischen Staatsgewalt fern hielt und stattdessen die nationale Solidarität pflegte. Auf diese Weise absentierte sich die Szlachta in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitgehend von den Staatsbildungsprozessen im Zarenreich. In den Westgouvernements verloren also nicht nur die Kleinadligen, sondern auch die Magnaten die Möglichkeiten politischer Partizipation. Soweit es die 388 Bobrowski: Pamiętnik mojego życia, Bd. 1, S. 78f. 389 Vgl. Asch: Staatsbildung und adlige Führungsschichten, S. 375f.



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gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten anging, standen die Gutsbesitzer auf derselben Seite wie ihre deklassierten Brüder. Je enger der gesellschaftspolitische Spielraum war, den die russische Staatsgewalt der Szlachta gewährte, desto stärker tendierte der besitzende Adel zu Bündnissen mit seinen verarmten Standesgenossen. Und je stärker der Adel seinen Status und seine Zukunft in einer Orientierung jenseits des zarischen Staates suchte, desto deutlicher war die Zukunft des Standes an ein nationales Projekt geknüpft.390 Auf diesen Zusammenhang von neuem Elitenkonzept, Nationalisierung des Adels und politischer Radikalisierung hat Michael G. Müller nachdrücklich hingewiesen: „Für die Mehrheit der adligen Akteure hatte dieses [nationale Projekt, J. G.] ein adliges Elitenkonzept zum Kern, das aber – je länger, desto deutlicher – auch auf einer fundamentalen Umdeutung von Adel beruhte. Das im nationalen Diskurs entwickelte Adelsideal konzentrierte sich immer stärker auf das Bild eines ‚Landbürgers‘, der sich eher durch bürgerliche Lebens- und Wirtschaftsführung denn durch Geburtslegitimität als Patriot rechtfertigte. Zugleich kam es im Bereich der politischen Programmatik zu partiellen Annäherungen zwischen der adlig-agrarischen Elite und dem deklassierten Schattenadel. Die gutsituierten ‚Landbürger’ mußten, um ihren Rückhalt in den ‚patriotischen‘ Schichten der Gesellschaft in der Periode der Aufstände zu sichern, nicht nur das nationale Engagement der besitzlosen Brüder materiell und ideell honorieren, sondern auch deren zunehmend radikalisierten Entwürfen von sozialer und politischer Umgestaltung ein Stück weit entgegenkommen.“391

Es war also die russische Teilungsmacht, welche durch ihre Politik der Deklassierung des Kleinadels erst jene Solidarität innerhalb der Szlachta wiederherstellte, die durch die Adelsreformer in Frage gestellt worden war. Paradoxerweise waren Ziele sowie Mittel der zarischen mit jenen der polnischen Reformen weitgehend identisch. So war unter den Bedingungen des geteilten Polens aus einem sozialen Spannungsverhältnis innerhalb des polnischen Adels ein nationaler Konflikt zwischen polnischem Adel und russischer Staatsgewalt geworden. Abschließend lässt sich die Adelspolitik Nikolaus’ I. als ein Versuch charakterisieren, die von Katharina II. aufgestellten Prinzipien konsequent umzusetzen: Die Szlachta der Westgouvernements sollte auf der Grundlage ihrer Adelsnachweise überprüft und in die ständische Ordnung des Zarenreiches eingegliedert werden. Die Einsicht, dass es einer neuen Initiative in der Adelspolitik bedürfe, war in der zarischen Regierung bereits vor dem Novemberaufstand gereift. Die breite 390 Vgl. Müller: Adel und Elitenwandel, S. 505ff. 391 Ebd., S. 508.

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Beteiligung des Adels am Aufstand führte der Regierung die Dringlichkeit dieser Aufgabe vor Augen. Der Novemberaufstand fungierte somit als Katalysator in der zarischen Adelspolitik, die inhaltliche Wende hatte aber bereits in den Jahren zuvor stattgefunden. Nikolaus I. löste die bestehenden Widersprüche zwischen Elitenkooptation und Staatsausbau dadurch auf, dass er die Adelsüberprüfung ganz in die Hände des Staates legte. Er erhöhte also die Durchsetzungsfähigkeit der Staatsgewalt, doch gleichzeitig lief die Einschränkung der Partizipationsrechte des polnischen Adels seiner politischen Integration zuwider. Die normative Integrationspolitik Nikolaus’ setzte allerdings schon nicht mehr darauf, die Szlachta mittels eines Interessenausgleichs zwischen Staat und Adel zu integrieren. Er ging vielmehr davon aus, dass eine Übernahme der zarischen Normen und Werte sowie der russischen Sprache am besten dazu geeignet sei, den polnischen Adel in das Zarenreich zu integrieren. Der Preis dieser normativen Integrationspolitik war hoch, führte er doch zu einer kontinuierlichen Entfremdung der Szlachta vom Russischen Imperium. Die Ergebnisse der staatlich kontrollierten Adelsrevision blieben auch unter Nikolaus I. hinter den Zielen der zarischen Regierung zurück. Immerhin konnte die Zahl der Szlachta in den Westgouvernements um rund 40 Prozent reduziert werden. Dennoch war im Jahre 1858 die Mehrheit des Adels im Zarenreich immer noch polnisch: Von 611.973 Adligen waren 377.627 der Szlachta zuzurechnen. Und in den Westgouvernements gab es nach wie vor nur wenige russische Gutsbesitzer: Im Gouvernement Wilna waren 95 Prozent der Landbesitzer polnisch, im Gouvernement Minsk waren es 94 Prozent und im Gouvernement Kiew 82 Prozent.392 In der Mitte des 19. Jahrhunderts bildete der polnische Adel nach wie vor die Oberschicht der Westgouvernements. Eine Kooptation in die Elite des Zarenreiches war fünfzig Jahre nach den Teilungen allenfalls ansatzweise gelungen und sollte angesichts des anwachsenden Nationalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht leichter werden.

5. Zusammenfassung Die zarische Adelspolitik in den Westgouvernements litt von Beginn an unter einem doppelten Widerspruch. Der erste Widerspruch lag darin, dass die Regierung einerseits die traditionelle Kooptation der Eliten fortsetzte, indem sie die Szlachta in den Reichsadel integrierte und die lokale Verwaltung sowie das Gerichtswesen in deren Hand beließ. Andererseits versuchte sie, den polnischen 392 Vgl. Thaden: Russia’s Western Borderlands, S. 123f.

Zusammenfassung 143

Adel durch eine Revision entlang der eigenen Normen umzuformen. Und auch der zweite Widerspruch resultierte aus dem Spannungsverhältnis zwischen Staatsausbau und Adelspolitik. Der Adel in den Westgouvernements wies auf der einen Seite bereits jenen Grad von ständischer Verfasstheit auf, wie Katharina II. es sich für das gesamte Imperium wünschte. Auf der anderen Seite beschnitt die staatliche Adelsrevision das alte Recht des polnischen Adels, über die Zugehörigkeit von Personen zu seinem Stand selbst zu entscheiden. Die Integration des polnischen Adels in das Russische Reich funktionierte so lange, wie diese grundsätzlichen Widersprüche nicht offen zu Tage traten. Die Widersprüche kamen erst in dem Moment voll zum Tragen, als Nikolaus I. die Adelsrevision mit staatlicher Macht umsetzte und weite Teile des Kleinadels deklassierte. Schon Katharina II. hatte nach der Teilung von 1772 einen ersten Anlauf genommen, eine staatliche Adelsrevision durchzuführen. Dieses Ansinnen gab sie jedoch nach der territorialen Ausweitung der polnischen Provinzen im Zuge der zweiten und dritten Teilung auf. Zum einen war die russische Staatsgewalt auf lokaler Ebene zu schwach verankert, um den umfangreichen Adel zu erfassen und dessen Herkunft zu überprüfen. Zum anderen hatte Katharina II. mit der Gnadenurkunde von 1785 ihre Adelspolitik insgesamt auf ein neues Fundament gestellt, indem sie den russischen Adel in einen sich selbst verwaltenden Stand umformen wollte. Eine staatlich durchgeführte Adelsrevision stand dieser Stärkung der ständischen Rechte entgegen. Deshalb übertrug Katharina die Durchführung der Adelsverifikation an die Szlachta selbst. Ihr Sohn und Nachfolger Paul I. startete zu Beginn seiner Regierung einen zweiten Anlauf, die Adelsrevision als ein staatliches Projekt durchzusetzen. Doch auch er scheiterte an der Schwäche der russischen Staatsgewalt und musste diesen Versuch bald wieder abbrechen. Alexander I. wiederum drängte nicht auf einen zügigen Abschluss der Adelsverifikation, so dass die Adelsversammlungen die Überprüfungen aufschoben und das Verfahren insgesamt stagnierte. In jenen Jahren machte die Integration des polnischen Adels auch die meisten Fortschritte. Selbst wenn Alexander die in ihn gesetzten Hoffnungen auf eine Wiedervereinigung Polens enttäuschte, so waren während seiner Regierung die Möglichkeiten politischer Partizipation am größten. Polnische Adlige machten im Militär sowie bei Hof Karriere und erhielten mitunter höchste Regierungsämter. Erst Nikolaus I. vollzog die Wende von einer pragmatischen zu einer normativen Integrationspolitik. Ihm gelang es, die Adelsverifikation in Gang zu setzen und in vergleichsweise kurzer Zeit zum Abschluss zu bringen. Dass ihm scheinbar mühelos glückte, was mehr als dreißig Jahre lang nicht gelingen wollte, hatte zwei wesentliche Gründe. Zum einen war der Staatsausbau in der Ära Alexanders I. so weit fortgeschritten, dass Nikolaus Möglichkeiten zur Verfügung standen, die Katharina II. oder Paul I. noch nicht hatten. Zum anderen

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Zwischen Elitenkooptation und Staatsausbau

brach Nikolaus mit dem ständepolitischen Prinzip Katharinas, dass der Adel sich selbst verwalten müsse. Auf diese Weise löste er den Widerspruch zwischen Elitenkooptation und Staatsausbau auf und kehrte letztlich zu jener Politik zurück, die Katharina II. nach der ersten Teilung kurzzeitig begonnen hatte. Eine Abkehr von den Prinzipien der Gnadenurkunde erschien Nikolaus I. nötig, da sein Vertrauen in den Adel im Allgemeinen und in die Szlachta im Besonderen nach dem Dekabristen- und dem Novemberaufstand schwer erschüttert war. Gleichzeitig schien ihm der russische Staat nun in der Lage, die Adelsrevision in Eigenregie durchzuführen. Der Erfolg der staatlichen Adelsrevision bedingte das Scheitern der Integration. Die Deklassierung großer Teile der Szlachta und die fehlenden Möglichkeiten der adligen Partizipation an diesem grundsätzlichen Eingriff in das Leben vieler Adliger zog eine wachsende Entfremdung des polnischen Adels vom Russischen Reich nach sich. Gleichzeitig war der Novemberaufstand Wasser auf die Mühlen jener Stimmen in der zarischen Elite, die den polnischen Adel pauschal als illoyal und revolutionär einstuften. Hatten Katharina II. und Alexander I. noch eine imperiale Adelspolitik vertreten, die auf Elitenkooptation setzte, so hatte sich unter Nikolaus I. eine nationalistische Adelspolitik durchgesetzt, welche die Szlachta in erster Linie als „polnisch“ ansah und deren kulturelle Assimilation zur Voraussetzung für Integration machte. Diese nationalistische Sichtweise sollte sich nach dem Januaraufstand von 1863 vollends durchsetzen. Nun galt nicht länger die Szlachta, sondern „die Polen“ als ein Hort der Aufruhr. Michail Murav’ëv sprach sich nun nicht mehr nur für eine Deklassierung des polnischen Kleinadels aus, sondern forderte die Niederwerfung des „polnischen Elements“: Nachdem man diesem die Maske der Untertänigkeit vom Gesicht gerissen habe, müsse das russische Volkstum gestärkt und die „alten russischen Gebiete“ nun endgültig zum Bestandteil des Imperiums werden.393 Und Michail N. Katkov entwickelte infolge des Januaraufstands das Konzept einer „politischen Nation“ für das Imperium, in dem die Polen keinen Platz mehr hatten: Allein die russische Nationalität sollte als politische Nationalität anerkannt werden, auch und gerade in den westlichen Provinzen des Reiches.394

393 Četyre političeskija zapiski grafa Michaila Nikolaeviča Murav’ëva Vilenskago (Denkschrift vom 14.5.1864), S. 186–197. 394 Vgl. Utz: Russlands unbrauchbare Vergangenheit, S. 218f.

II. VON DER STÄNDISCHEN KORPORATIO N ZU R „STAATLICHEN VERANSTALTUN G “? DIE TRANSFORMATION DER POLNISCHEN LA N D TA G E IN RUSSISCHE ADELSVERSAMMLU N G EN

Die Integration der polnischen Teilungsgebiete fiel im Zarenreich mit einer tief greifenden Verwaltungs- und Adelsreform zusammen. Katharina II. hatte sich zum Ziel gesetzt, die Verwaltungsstrukturen des Reiches zu vereinheitlichen und die Staatsgewalt auf die lokale Ebene auszuweiten. Erschwerend für den Aufbau leistungsfähiger Behörden erwies sich zunächst der Mangel an qualifizierten Beamten. Hier konnte die Förderung des Bildungswesens seine Wirkung erst mittel- und langfristig entfalten.1 Katharina II. übertrug deshalb in ihrer Gouvernementsreform von 1775 Aufgaben der lokalen Verwaltung an den Provinzadel. Die Adligen vor Ort sollten aus ihren Reihen in turnusmäßig stattfindenden Wahlen Kandidaten für lokale Ämter bestimmen. Den staatlichen Akteuren stand damit auf lokaler Ebene eine adlige Selbstverwaltung zur Seite. Die Gnadenurkunde von 1785 präzisierte die Rechte des Adels und regelte die Bedingungen für die Teilnahme an den Wahlen. Die Adelsversammlungen sollten nach dem Willen Katharinas nicht nur staatlich verordnete Wahlveranstaltungen, sondern ständische Korporationen sein. Während Katharina II. zur Zeit der Teilungen Polens bemüht war, im Russischen Reich Adelskorporationen erst einzuführen, blickte die Szlachta auf eine lange Tradition ständischer Verfasstheit zurück.2 Schon Kasimir III. („der Große“, 1310–1370) hatte im Zuge des Landesausbaus Adelsversammlungen als Beratungsgremien einberufen. Nach dem Aussterben der Piasten wählte der Adel 1386 1 Vgl. Torke: Das russische Beamtentum, S. 145–173; Grundlegend zum Ausbau des Bildungswesens unter Katharina II. und dessen langfristigen Erfolgen vgl. Kusber: Eliten- und Volksbildung, S. 93–275. 2 Vgl. Hans Roos: Ständewesen und parlamentarische Verfassung in Polen (1505–1772), in: Dietrich Gerhard (Hg.): Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert, 2. Auflage, Göttingen 1974, S. 310–367. Zur Einordnung in einen europäischen Kontext siehe Gottfried Schramm: Polen – Böhmen – Ungarn. Übernationale Gemeinsamkeiten in der politischen Kultur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Joachim Bahlcke / Hans-Jürgen Bömelburg / Norbert Kerksen (Hg.): Ständefreiheit und Staatsgestaltung in Ostmitteleuropa. Übernationale Gemeinsamkeiten in der politischen Kultur vom 16.-18. Jahrhundert, Leipzig 1996, S. 13–38; Adam Mączak: Stände und Zentralmacht im 16. Jahrhundert. Polen und England im Vergleich, in: ebd., S. 95–117.

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Władysław II. Jagiełło, den Großfürsten von Litauen, zum König und begründete damit sowohl die Dynastie der Jagiellonen als auch das Recht des polnischen Adels auf die Königswahl. 1493 kamen die Vertreter aller Bezirks- und Landtage (sejmiki) zum ersten Mal zu einem Reichstag (sejm) zusammen. 1505 legte die Konstitution von Radom mit dem Gesetz Nihil novi fest, dass ohne Beteiligung des Adels keine Gesetze erlassen werden sollten. Dieser Akt bildete fortan die rechtliche Grundlage der Adelsrepublik. Als mit dem Tode Sigismund II. Augusts 1572 die Jagiellonendynastie erlosch, änderte sich auch die politische Praxis der Königswahl. Aus einer bis dahin nur formal freien Abstimmung wurde eine echte Wahl. Der Adel spielte fortan geschickt seine neue Rolle als Königsmacher, indem er sich kontinuierlich eine Ausweitung seiner Rechte und Befugnisse zusichern ließ. So konnte zum Beispiel der König nur Truppen aufstellen, wenn er diese auch selbst finanzierte – und dennoch durfte er ohne die Zustimmung des Reichstags keinen Krieg führen. Auf regionaler Ebene regelte der Adel seine Angelegenheiten selbst. Die Landtage entwickelten sich zum wichtigsten Organ der ländlichen Selbstverwaltung. Sie entschieden Fragen des regionalen Handels sowie der Finanzen selbst und waren für die Umsetzung aller Reichstagsbeschlüsse zuständig, die Fragen der Besteuerung, der Rekrutenaushebung und des adligen Landbesitzes betrafen. Jeder Landtag wählte zudem zwei Vertreter für die Landbotenkammer des Reichstages und stattete sie mit politischen Instruktionen für die anstehenden Abstimmungen aus. Daneben wählten die sejmiki auch zwei Abgeordnete für das Krontribunal.3 Das Zarenreich hatte sich im Zuge der Teilungen Polens also Gebiete einverleibt, in denen sich die politische Partizipation des Adels bereits im 15. und 16. Jahrhundert institutionell verfestigt hatte. Hier existierten seit rund 300 Jahren jene ständischen Einrichtungen, die Katharina II. in Russland erst aufbauen wollte. Die Landtage waren als ständische Vertretungen des Provinzadels im politischen Gefüge der Adelsrepublik fest verankert. Für die zarische Staatsgewalt bedeuteten diese historischen Voraussetzungen sowohl eine Gefahr als auch eine Chance. Einerseits war von eigenständigen Korporationen ein grundsätzlicher Widerstand gegen das Wachstum der zentralen Staatsgewalt zu erwarten, da die lokalen Eliten häufig andere Interessen als die Krone verfolgten und zum eigenen Machterhalt auch konkurrierende Legitimationsideologien entwickeln konnten.4 Auf der 3 Ein verfassungsgeschichtlicher Überblick zum sejm und den sejmiki findet sich bei Bardach  / Leśnodorski  / Pietrzak: Historia ustroju i prawa polskiego, S.  217–225. Siehe außerdem Jerzy Michalski (Hg.): Historia sejmu polskiego, 2 Bde., Bd 1: Do schyłku szlacheckiej Rzeczyposplitej, Warschau 1984; Marek Borucki: Sejmy i sejmiki szlacheckie, Warschau 1972; Wojciech Kriegseisen: Sejmiki Rzeczypospolitej szlacheckiej w XVII i XVIII wieku, Warschau 1991. 4 Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt, S. 210.



Die Implementierung zarischer Normen

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anderen Seite stellten die Landtage der zentralen Staatsgewalt jene institutionellen Möglichkeiten bereit, die sich für die Expansion der Staatsgewalt nutzen ließen und die in der russischen Provinz noch fehlten. Dieses Kapitel geht der Frage nach, inwieweit und auf welche Weise die polnischen Landtage in die Institutionenlandschaft des Zarenreiches integriert wurden. Welche Probleme brachte die Konstellation mit sich, in der selbstbewusste Standesvertretungen auf eine autokratische Monarchie trafen, die kaum über eigene Erfahrungen mit den Formen politischer Willensbildung in einer ständestaatlichen Ordnung verfügte? Inwieweit trafen die von Katharina II. eingeführten lokalen Selbstverwaltungsorgane in den polnischen Provinzen gar auf ideale Voraussetzungen, da dort bereits eine lokale Adelsgesellschaft existierte und nicht erst staatlich initiiert werden musste?

1. Vermögen, Dienst und Rang: Die Implementierung zarischer Normen durch die Einschränkung d es Wahlrechts Auf den ersten Blick waren die Teilungen Polens ein tiefer Einschnitt in der Geschichte der ständischen Selbstverwaltung des polnischen Adels. In den beiden weißrussischen Gouvernements Polock und Mogilëv wurden 1778 die Bestimmungen der Gouvernementsreform eingeführt und damit die lokale Verwaltung den Verhältnissen im Zarenreich angepasst. Dennoch sind die institutionellen Kontinuitäten größer, als sich zunächst vermuten lässt. Das Litauische Statut von 1588 behielt etwa seine Gültigkeit. Damit war eine weitgehende Kontinuität im Rechtswesen gegeben, denn das Litauische Statut war nicht nur ein kodifiziertes Gesetzbuch, sondern regelte auch die Prozessordnung: Man benannte lediglich die Gerichte um. Das polnische Ziemstwogericht bestand unter dem russischen Namen zemskij sud als Landgericht fort und entschied alle Zivilangelegenheiten in erster Instanz. Seine Richter und Beisitzer wurden vom Adel gewählt. Das Tribunal in Wilna, das in der Adelsrepublik erste Appellationsinstanz gewesen war, ging in den Provinziallandgerichten und den Gouvernementslandgerichten auf. Deren Richter und Beisitzer wählte ebenso der Adel. All diese Gerichte verhandelten weiterhin auf Polnisch und sprachen nach polnischem Recht ihre Urteile. Strafsachen wurden allerdings von den Gouvernementskanzleien entschieden.5 5 Vgl. den Senatsukas vom 8.5.1773, in: PSZ I, Bd. 19, Nr. 13.977, S. 755–758. Siehe dazu auch V. A. Šaŭkapljas: Asablivasci arganizacyi mjascovych organaŭ kiravannja i sudy ŭ Belarusi ŭ kancy XVIII – pačatku XIX ct., in Vesci Akademii BSSR. Seryja hramadskich navuk 1972, H. 2, S. 47–55, hier 51f.

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Auch die lokalen Selbstverwaltungsorgane wurden keineswegs aufgelöst. Die Landtage hatten bereits in der Adelsrepublik die Ämter auf lokaler Ebene durch Wahlen besetzt und damit schon längst jene Aufgaben ausgeführt, die Katharina II. den neu geschaffenen Adelsversammlungen übertragen hatte. Es war also gar nicht nötig, die sejmiki im Zuge des Herrschaftswechsels zu zerschlagen. Vielmehr galt es, diese ständischen Korporationen zu erhalten und auf den vorhandenen Strukturen aufzubauen. Ziel einer solchen Integration der polnischen Landtage war, ihnen weitgehende Eigenständigkeit bei der Regelung der lokalen Angelegenheiten des Adels zu gewähren und ihnen zugleich die äußere Gestalt sowie innere Organisation russischer Adelsversammlungen zu geben. Das politische Ziel der aufgeklärt-absolutistischen Herrschaft Katharinas II., die Strukturen des Reiches zu vereinheitlichen, zog eine Transformation der polnischen Landtage in russische Adelsversammlungen nach sich. Die zarische Politik verfolgte von Beginn an eine doppelte Zielsetzung: den Erhalt der etablierten ständischen Strukturen bei deren gleichzeitiger Umwandlung in Institutionen des Zarenreichs. Schon im Mai 1773 legte ein Senatsukas fest, dass die Richter in den beiden neuen weißrussischen Gouvernements weiterhin durch die Szlachta zu wählen seien. Allerdings führte der Senat gleichzeitig einen Wahlzensus ein, der allein in den annektierten polnischen Provinzen galt: Nur Adlige, die mindestens zehn Leibeigene besaßen, durften das aktive Wahlrecht ausüben. Das passive Wahlrecht erhielten sogar nur diejenigen, die wenigstens über zwanzig Leibeigene verfügten.6 Ein Wahlzensus war im Zarenreich nichts Außergewöhnliches. Schon bei den Wahlen für die sogenannte Gesetzgebende Versammlung im Jahre 1767 durften nur diejenigen Adligen als Deputierte nach Moskau entsandt werden, die in ihrem Wahlkreis auch Grund und Boden besaßen.7 Die Gouvernementsreform von 1775 weitete die Zahl der Wahlbeamten erheblich aus. Die wichtigsten Wahlämter waren der Adelsmarschall als höchster Repräsentant des Adels und der Kreishauptmann (zemskij ispravnik), der die polizeiliche Gewalt auf lokaler Ebene ausübte. Dazu wurden Letzterem eine eigene Kanzlei und ein kleines Kommando Soldaten zur Seite gestellt. Zur Zusammensetzung der Adelsversammlung traf das Gesetz jedoch keine genauen Regelungen.8 Der tatsächliche Ablauf der Adelswahlen kristallisierte sich erst in der politischen Praxis heraus. 6 Senatsukas vom 8.5.1773, in: PSZ I, Bd. 19, Nr. 13.977, S. 755–758, hier 756. 7 Namentlicher Ukas Katharinas II., in: PSZ I, Bd. 17, Nr. 12.801, abgedruckt auch in: Zakonodatel’stvo Ekateriny II, Bd. 1, S. 153–175, hier 158. Zu den Wahlen zur Gesetzgebenden Versammlung siehe außerdem de Madariaga: Russia in the Age of Catherine the Great, S. 139– 150. 8 Vgl. den Abschnitt zur „Ordnung in Besetzung der Ämter“ in: Ihro Kaiserlichen Majestät Catharina der Zweiten, Kaiserin und Selbstherrscherin aller Reußen, Verordnungen zur Verwaltung



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Eine zentrale Rolle bei der konkreten Ausgestaltung der Adelswahlen spielte Jakob Sievers. Der livländische Adlige hatte die Reformen Katharinas II. maßgeblich beeinflusst und organisierte 1776 im Auftrag der Zarin die ersten Adelswahlen in Tver’. Zwar verlieh er dort allen Adligen das aktive Wahlrecht, für das passive Wahlrecht machte er jedoch einen Besitz von mindestens zehn Seelen zur Voraussetzung. In das Amt eines Adelsmarschalls konnte man sich sogar nur wählen lassen, wenn man wenigstens zwanzig Seelen sein Eigen nannte. Sievers Richtlinie wurde jedoch nicht in allen Gouvernements übernommen. So war der Wahlzensus beispielsweise in Kaluga am Widerstand der Adligen gescheitert. Und selbst in Tver’ wurde der Zensus nach dem Ausscheiden Sievers’ wieder ausgehöhlt. Dennoch hatte der Baltendeutsche die russischen Adelsversammlungen nachhaltig geprägt. Sein Reglement der Adelsversammlung in Tver’ wurde nicht nur zum viel beachteten Vorbild für die Umsetzung der Gouvernementsreform, sondern fand auch Eingang in Katharinas Gesetzgebung. Ihr Dekret vom 25. November 1778 gab den Adelsversammlungen eine einheitliche Gestalt und korporative Rechte. Die Gnadenurkunde von 1785 bestätigte im Grunde nur noch diese zentrale Weichenstellung und präzisierte die Rechte des Adels sowie die Bedingungen für die Teilnahme an den Wahlen.9 Vor der Veröffentlichung von Katharinas Gnadenurkunde herrschten in den einzelnen Gouvernements noch uneinheitliche Regelungen. Bei den Adelswahlen im Gouvernement Kiew, das sich zu dieser Zeit noch aus Gebieten der linksufrigen Ukraine zusammensetzte, war im Jahre 1781 zum Beispiel der Besitz von Grund und Boden eine notwendige Voraussetzung, um an der Adelsversammlung teilzunehmen.10 In den beiden weißrussischen Gouvernements Mogilëv und Polock waren im Jahr 1784 neben den Gutsbesitzern auch all jene Adligen zu den Wahlen zugelassen, die ein Krongut (Starostei) für wenigstens drei Jahre gepachtet hatten. Gutsbesitzer, die ihr Eigentum verpfändet oder verpachtet hatten, waren von der Adelsversammlung hingegen ausdrücklich ausgeschlossen. Anders als noch im Jahre 1773 war der Besitz einer festgelegten Zahl von Leibeigenen dieses Mal kein Kriterium für das Wahlrecht.11 Nachdem die Bestimmungen der Gouvernementsreform die Zusammensetzung der Adelsversammlungen offen und damit den Gouverneuren einen entder Gouvernements des Russischen Reichs, 2 Bde., St. Petersburg 1777 und 1780, hier Bd. 1, S. 10–14. 9 Vgl. Jones: Emancipation, S. 244–287; de Madariaga: Russia in the age of Catherine the Great, S. 277–299; zur Rolle von Jacob Sievers bei der Umsetzung der Gouvernementsreform vgl. Robert E. Jones: Provincial Development in Russia. Catherine II and Jakob Sievers, New Brunswick 1984, S. 113–119; Katharinas II. Ukas vom 25.11.1778, in: PSZ I, Bd. 20, Nr. 14.816, S. 760–763. 10 Namentlicher Ukas Katharinas II. vom 26.10.1781, in: PSZ I, Bd. 20, Nr. 15.265, S. 295–297. 11 Senatsukas vom 16.3.1784, in: PSZ I, Bd. 22, Nr. 15.961, S. 80–82.

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sprechenden Spielraum gelassen hatten, beendete die Gnadenurkunde für den Adel von 1785 diese Phase der Einzelfallregelung. Die Gnadenurkunde erlaubte grundsätzlich jedem Adligen, „der in das adeliche Geschlechtsbuch einer Stathalterschaft eingeschrieben ist“ und „sein mündiges Alter erreicht hat“ an der Adelsversammlung teilzunehmen.12 In der Frage des Stimmrechts gab es jedoch Einschränkungen. Zum einen durfte „ein Edelmann der selbst kein eigenes Gut besitzt oder noch nicht fünf und zwanzig Jahre alt ist (…) zwar in der Versammlung des Adels zugegen seyn, hat aber darinn keine Stimme“.13 Das passive Wahlrecht war noch stärker eingeschränkt als das aktive. Die Gnadenurkunde untersagte die Wahl eines Adligen, „der weniger als hundert Rubel Einkünfte von seinen Gütern hat, oder der noch nicht fünf und zwanzig Jahre alt ist“.14 Nach der zweiten und dritten Teilung Polens wurden die Bestimmungen der Gnadenurkunde auch in den neu geschaffenen Gouvernements angewandt. Katharina II. wies etwa den Generalgouverneur von Minsk, Iz-jaslav und Braclav, Timofej I. Tutolmin, explizit darauf hin, dass gemäß ihrer Gnadenurkunde nur Adlige mit Besitz zu den anstehenden Adelswahlen zuzulassen seien. Pächter und Adlige, die ihr Land verpfändet hätten, seien hingegen von den Versammlungen auszuschließen.15 Dieser Wahlzensus stand dem adligen Gleichheitsideal der untergegangenen Adelsrepublik entgegen. In den altpolnischen Landtagen hatten alle Adligen das aktive und passive Wahlrecht genossen, und zumindest theoretisch konnte auf dem Reichstag jeder von ihnen zum König gewählt werden. Dennoch war der Bruch, den das neue Zensuswahlrecht bedeutete, weit weniger tief, als es zunächst den Anschein hat. Vielen Magnaten war der politische Einfluss des verarmten Kleinadels längst ein Dorn im Auge. Die Verfassung vom 3. Mai 1791 hatte zwar ausdrücklich die Gleichheit des Adels betont, indem sie verfügt hatte: „Wir erkennen die Edelleute unter sich für gleich, und zwar nicht bloß in Rücksicht der Bewerbung um Ämter und Verwaltung solcher Dienste im Vaterlande, die Ehre, Ruhm und Vortheil bringen, sondern auch in Rücksicht des gleichen Genusses der Privilegien und Prärogativen des Adelsstandes.“16

12 Katharina II.: Vom Adel, St. Petersburg 1786, S. 33. 13 Ebd., S. 30. 14 Ebd. 15 Ukas Katharinas II. an Tutolmin vom 3.5.1795, in: PSZ I, Bd. 23, Nr. 17.327, S. 694–695. Abgedruckt auch in: Sbornik dokumentov kasajuščichsja administrativnago ustrojstva severo-zapadnago kraja pri Imperatrice Ekaterine II (1792–1796). Izdanie Vilenskoj Komissii dlja razbora drevnich aktov, hg. v. F. N. Dobrjanskij, Wilna 1913, S. 42–44, hier 43. 16 Verfassung vom 3. Mai, in: Die Verfassungen in Europa 1789–1949. Wissenschaftliche Textedition unter Einschluß sämtlicher Änderungen und Ergänzungen sowie mit Dokumenten aus der



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Dennoch hatte der Vierjährige Sejm wenige Wochen vor der Verfassung ein Gesetz über die Landtage verabschiedet, welches das Wahlrecht des Provinzadels erheblich einschränkte. Sitz und Stimme auf dem Landtag erhielten nur Adlige, die entweder ein Erbgut besaßen und Steuern bezahlten, sowie Edelleute, die über Grundbesitz auf Lebenszeit oder über ein Pfandgut verfügten und mindestens 100 Złoty im Jahr Steuern entrichteten, und schließlich der Kriegsdienst leistende Adel mit Grundbesitz. Keine Stimme hatte hingegen der besitzlose Adel, auch dann nicht, wenn er auf königlichem, kirchlichem oder privatem Land ansässig war oder in einem Dienstverhältnis stand. Ebenso waren adlige Pächter von den Wahlen ausgeschlossen.17 Damit hatte bereits der Reformreichstag am Ende der Adelsrepublik ein Zensuswahlrecht eingeführt, das den besitzlosen Kleinadel von der politischen Partizipation auf regionaler und lokaler Ebene ausschloss.18 Katharina II. und die polnischen Reformer hatten also recht ähnliche Vorstellungen von regionalen Standesvertretungen. Die Zarin sah in den Adelsversammlungen Orte der Elitenvergemeinschaftung. Aus diesem Grunde gewährte sie nicht unterschiedslos jedem Adligen das Recht, an den Landtagen teilzunehmen und über die anstehenden Fragen mit zu entscheiden. So legte sie in der Gnadenurkunde neben dem Besitz und dem Einkommen noch weitere Voraussetzungen für die Teilnahme an den Adelswahlen fest: „Ein Edelmann der entweder gar nicht gedient oder sich nicht bis zum OberofficiersRange aufgedient hat (…), kann zwar in der Versammlung des Adels zugegen seyn, soll aber weder mit dem verdienten Adel sitzen, noch in der Versammlung des Adels eine Stimme haben, noch zu denjenigen Stellen die durch die Wahl des versammelten Adels besetzt werden, gewählt werden.“19

Der Militär- oder Zivildienst war eine Voraussetzung, die der Adel in den Teilungsgebieten kaum erfüllen konnte. Deshalb war es in den Westgouvernements möglich, den Dienstrang durch einen anderen Nachweis zu ersetzen. Im Vorfeld der Wahlen von 1792 wies Katharina II. in den weißrussischen Gouvernements explizit darauf hin, dass der Nachweis für den russischen Staatsdienst durch einen englischen und amerikanischen Verfassungsgeschichte, hg. v. Dieter Gossewinkel und Johannes Masing, München 2006, S. 377–384. 17 Das Gesetz über die Landtage vom 24.3.1791 ist abgedruckt in: Rudolf Jaworski (Hg.): Nationale und internationale Aspekte der polnischen Verfassung vom 3. Mai 1791, Frankfurt a. M. u.a. 1993, S. 151–169, hier 153f. 18 Zur Diskussion und Verabschiedung dieses Gesetzes vgl. Łukasz Kądziela: Local Government Reform during the Four-Year Diet, in: Samuel Fiszman (Hg.): Constitution and Reform in Eighteenth-Century Poland. The Constitution of 3 May 1791, Bloomington, Indianapolis 1997, S. 379– 396. 19 Katharina II.: Vom Adel, S. 30f.

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polnischen Orden ausgeglichen werden könne. Außerdem gewährte die Zarin auch jenen Adligen das Wahlrecht, die bereits ein Amt innehatten.20 Schließlich galt die Leistung des Treueides als Voraussetzung für die Teilnahme an den Adelswahlen.21 Neben einem gewissen Vermögen und der Bewährung im Staatsdienst war die Loyalität gegenüber der Zarin die dritte Sonderregelung des adligen Wahlrechts in den Westgouvernements. Ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Szlachta wird auch in einer Bestimmung von 1792 deutlich, die all jenen das Wahlrecht entzog, welche die polnische Maiverfassung verteidigt hatten.22 Die Gesetzgebung der Regierung verfolgte also das Ziel, die Landtage der untergegangenen Adelsrepublik in eine Versammlung von Gutsbesitzern zu überführen. Diese Politik wurzelte in Katharinas Vorstellung vom Adel als landbesitzender Elite. Das Bild, das man sich vor den Teilungen von den polnischen Landtagen gemacht hatte, entsprach dieser Idee jedoch nicht. Gerade im politischen Wirken der verarmten Szlachta sah man einen der Gründe für die vermeintliche Schwäche der Adelsrepublik und damit eine wesentliche Ursache für deren Untergang. Platon Zubov, ehemaliger Favorit der Zarin und inzwischen Generalgouverneur von Ekaterinoslav, Voznesensk und Taurien, sah in einer Denkschrift von 1796 gerade im Ausschluss des Kleinadels einen der entscheidenden Unterschiede zwischen den altpolnischen Landtagen und den Adelsversammlungen in den Westgouvernements. Vor den Teilungen habe die mittellose Szlachta die Stimmenmehrheit in den Landtagen gehabt. Die Magnaten seien somit auf diese Adligen angewiesen gewesen, wenn sie um politische Mehrheiten rangen. Diese starke Stellung der Szlachta sei nun durch die zarische Regierung gebrochen und damit seien auch die unruhigen und aufsässigen Landtage der alten Adelsrepublik zerschlagen worden. Durch den Ausschluss der mittellosen Kleinadligen von den Adelsversammlungen habe man deren politischen Einfluss verringert und die Unabhängigkeit der Magnaten gestärkt.23 In Zubovs Ausführungen wird eine in der politischen Elite des Zarenreichs verbreitete Sichtweise deutlich. Der verarmte Kleinadel trage die Schuld für die „Unordnung“ in den Landtagen sowie auf dem Reichstag der Adelsrepublik. Einem solchen „unruhigen Element“ könne man unmöglich die lokale Verwaltung in die Hände geben. Aus diesem Grunde wurde die in den großrussischen Gouvernements bereits eingeführte Praxis, mittellose Adlige nicht zu den Adelsversammlungen zuzulassen, in den Westgouvernements zu einer politischen Maxime. 20 21 22 23

Ukas Katharinas II. vom 9.11.1792, in: PSZ I, Bd. 23, Nr. 17.079, S. 368–369. Senatsukas vom 16.3.1784, in: PSZ I, Bd. 22, Nr. 15.961, S. 80–82, hier 81. Ukas Katharinas II. vom 9.11.1792, in: PSZ I, Bd. 23, Nr. 17.079, S. 368–369. Diese Denkschrift ging unverändert ein in den Namentlichen Ukas Katharinas II. vom 5.6.1796, in: PSZ I, Bd. 23, Nr. 17469, S. 897–900, hier 897.



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Die polnischen Landtage wurden also nicht bruchlos in die institutionelle Struktur des Russischen Reiches eingefügt. Der Integration ging eine Umformung voraus, die einen Teil des Adels von der politischen Partizipation auf lokaler Ebene ausschloss. Ähnlich wie in der Adelspolitik trug auch die Integration der adligen Standesvertretungen von Beginn an einen Widerspruch in sich, der fortan die zarische Politik prägte: Einerseits sollten die Landtage als ständische Korporationen erhalten bleiben, andererseits waren die Adelsversammlungen nicht als Repräsentationsorgane des gesamten Provinzadels konzipiert. Vielmehr standen sie nur jenen Adligen offen, die der Regierung als würdige Repräsentanten und belastbare Stützen des Zarenreiches in der Provinz galten. Der Tod Katharinas II. am 6. November 1796 markiert einen Einschnitt im Verhältnis zwischen der russischen Staatsgewalt und den polnischen Adelsversammlungen. Schon der Altmeister der russischen Geschichtsschreibung, Vasilij Ključevskij, warf Katharinas Sohn und Nachfolger Paul I. vor, mit seiner Gesetzgebung polnisches Recht wieder eingeführt und somit die Integration der Szlachta in das Russische Reich unnötig erschwert zu haben.24 Dieser Deutung folgt die Historiographie im Kern bis heute. Auch sie betont, Paul habe alte Rechte wiederhergestellt und damit die sejmiki wiederbelebt.25 In welcher Weise änderten sich in der Folge von Pauls Gesetzgebung das Gesicht und der Charakter der Adelsversammlungen in den Westgouvernements? Zunächst bleibt festzuhalten, dass Paul I. in zwei wichtigen Punkten tatsächlich zu den Rechten und Gewohnheiten der Adelsrepublik zurückkehrte. Zum einen wurden eine Reihe von Ämtern in der Rechtsprechung – wie im Litauischen Statut und der polnischen Konstitution von 1764 vorgesehen – erneut auf Lebenszeit besetzt.26 Zum anderen ließ Paul wieder alle Adligen zur Wahl zu: explizit auch jene ohne Grundbesitz.27 Diese Politik brach mit der Gnadenurkunde Katharinas, stand allerdings in der Kontinuität zarischer Kooptationspolitik. Paul I. war bereit, auf die Traditionen der Szlachta Rücksicht zu nehmen und ihr vorübergehend Sonderrechte einzuräumen. Gleichzeitig wollte er jedoch insgesamt die Privilegien und Freiheiten des Adels beschneiden. Er schränkte die Befreiung des Adels vom Dienst, die Peter III. 1762 verfügt und Katharina II. bestätigt hatte, in einigen Punkten wieder ein und unterwarf den Adel zum ersten Mal einer Steuerpflicht, indem er ihm die Kosten für die lokalen Verwaltungs-

24 Vasilij O. Ključevskij: Kurs russkoj istorii, 5 Bde., Moskau 1989 (= Sočinenija Bd. 1–5), Bd. 5, S. 176. 25 Thaden: Russia’s Western Borderlands, S. 66; Kappeler: Russland als Vielvölkerreich, S. 76. 26 Namentlicher Ukas Pauls I. vom 14.10.1799, in: PSZ I, Bd. 25, Nr. 19.154, S. 812. 27 Dieser Ukas vom 19. März 1800 ist uns nur durch seine Aufhebung überliefert, vgl. den Namentlichen Ukas Alexanders I. vom 8.6.1802, in: PSZ I, Bd. 27, Nr. 20.288, S. 159.

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organe auflud.28 Auch die Szlachta in den Westgouvernements war von Pauls Streben nach staatlichen Regelungen für adlige Belange nicht ausgenommen. So stand der Ausweitung des Wählerkreises eine Einschränkung des passiven Wahlrechts gegenüber. Im Vorfeld der Wahlen, die 1797 in den Westgouvernements stattfanden, ordnete Paul an, dass der Adel „ehrbare“ und „verdiente“ Kandidaten wählen sollte. Der Zar beließ es aber nicht bei einem unverbindlichen Appell. Die Namen der neu gewählten Amtsträger mussten dem Zaren vorgelegt werden und ihre Wahl war erst nach dessen Bestätigung gültig. Die Kategorien „ehrbar“ und „verdienstvoll“ eröffneten dem Zaren einen erheblichen Ermessensspielraum, die Wahl von unliebsamen Kandidaten zu verhindern.29 Da die Wahl eines jeden Amtsträgers unter dem Vorbehalt einer Bestätigung durch den Zaren stand, gab es im Grunde keine Wahlbeamten mehr, sondern lediglich gewählte Kandidaten.30 Die staatlichen Eingriffsmöglichkeiten wuchsen noch weiter an, indem die Gouvernementsregierungen vakante Wahlämter durch geeignete Kandidaten besetzen konnten.31 Die Politik Pauls war auch hinsichtlich der Sitzungsfrequenz der Adelsversammlungen widersprüchlich. Katharina II. hatte in ihrer Gnadenurkunde für den Adel festgelegt, dass die Adelsversammlungen alle drei Jahre einberufen werden sollten.32 Unter Paul I. fand dagegen eine Rückkehr zum polnischen Recht statt. Er verfügte, dass in Litauen die adligen Landtage auf Kreisebene wieder jährlich zusammentreten sollten, um die Ämter in der lokalen Rechtssprechung zu wählen.33 Anderthalb Jahre später befahl er, in allen Westgouvernements die Beamten nach den dort üblichen Regeln zu wählen.34 Da allerdings nur die Schöffen jährlich, die Richter hingegen alle drei Jahre gewählt wurden, kritisierte der Senat diese Praxis. Er gab zu bedenken, dass sich der Adel allein aufgrund der weniger wichtigen Schöffenwahl nun jedes Jahr in der Kreisstadt einfinden müsse. Um dem polnischen Recht genüge zu tun, schlug der Senat eine pragmatische Lösung vor: Die Adelsversammlung sollte sich auch auf Kreisebene nur alle drei Jahre treffen. Die Wahl der Schöffen sollte für jedes Amt mindestens drei Kandidaten hervorbringen. Im ersten Jahr sollte der Schöffe mit den meisten Stimmen das Amt bekleiden. Im zweiten Jahr war das Amt dem Kandidaten zu übertragen, der 28 Vgl. McGrew: Paul I, S. 223. 29 Vgl. die beiden Namentlichen Ukase Pauls I. vom 6.2.1797, in: PSZ I, Bd. 24, Nr. 17.789 und Nr. 17.790, S. 319. 30 So der treffende Kommentar zu Pauls Gesetzgebung von Korf: Dvorjanstvo, S. 234. 31 Senatsukas vom 20. Juli 1797, in: PSZ I, Bd. 24, Nr. 18.057, S. 660f. Mit dem Ukas Nr. 18.154 gliederte Paul die Wahlbeamten der Westgouvernements zudem in die Ordnung der Rangtabelle ein, vgl. Namentlicher Ukas vom 24.9.1797, in: PSZ I, Bd. 24, Nr. 18.154, S. 742. 32 Katharina II.: Vom Adel, S. 23f. 33 Namentlicher Ukas Pauls I. vom 21.3.1798, in: PSZ I, Bd. 25, Nr. 18.449, S. 171. 34 Namentlicher Ukas Pauls I. vom 14.10.1799, in: PSZ I, Bd. 25, Nr. 19.154, S. 812.



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bei der Wahl auf dem zweiten Platz gelandet war. Und im dritten Jahr sollte der Kandidat mit dem drittbesten Wahlergebnis das Schöffenamt übernehmen.35 Paul billigte diesen Vorschlag, der das in der zarischen Regierung vorherrschende Verständnis von den adligen Korporationen als bloße Wahlveranstaltungen illustriert. Für Katharina II. hatten die Wahlen neben der Besetzung von Ämtern den ebenso wichtigen Effekt, dass sich der Adel versammelte und lokalpolitische Belange diskutierte. Die Schaffung einer adligen Gesellschaft in der Provinz scheint in Pauls Überlegungen hingegen keine Rolle mehr gespielt zu haben. Die pragmatische Lösung der Schöffenwahl verdeutlicht, dass es der Staatsgewalt zu diesem Zeitpunkt vor allem darum ging, die lokalen Ämter zu besetzen. Pauls Verständnis der Adelsversammlungen als Wahlveranstaltungen kommt noch in weiteren Gesetzen zum Ausdruck. So hielt er es für unpraktisch, dass der Adel in die mitunter weit entfernte Gouvernementsstadt fahren musste, nur um einige Ämter auf Gouvernementsebene zu wählen. Zur Erleichterung sollte sich der Gouvernementsadel gar nicht mehr versammeln müssen, sondern in den jeweiligen Kreisstädten die Wahlen unter Aufsicht des Gouverneurs, des Vizegouverneurs oder des Gouvernementsmarschalls abhalten.36 Damit konnte die Wahl des Gouvernementsmarschalls nicht mehr wie bisher stattfinden. Paul hielt einen Wahlgang für dieses Amt ohnehin für überflüssig. Der jeweilige Amtsinhaber galt nun als bestätigt, wenn sich in keinem der Kreise eine Mehrheit gegen seine Wiederwahl fand. Nur wenn der bisherige Gouvernementsmarschall sein Amt zur Verfügung stellte oder einer der Kreise gegen die Forstsetzung seiner Amtszeit stimmte, war eine Neuwahl vonnöten. Doch selbst in diesem Falle war keine Versammlung des Gouvernementsadels vorgesehen. Stattdessen sollten die Kreisadelsmarschälle in der Gouvernementsstadt zusammenkommen und aus ihrer Mitte den Gouvernementsmarschall einsetzen. Dabei oblag es ihnen, darüber zu entscheiden, ob der neue Marschall durch eine Abstimmung oder durch ein Losverfahren gefunden werden sollte.37 Mit dem Wegfall der Wahl eines Gouvernementsmarschalls war die Gouvernementsadelsversammlung überflüssig geworden. Der Senat musste nur noch die Wahl des Vorsitzenden des Gouvernementshauptgerichts regeln, die bislang ebenfalls von diesem Gremium gewählt worden war. Auch hier fand sich eine pragmatische Lösung. Die Kreisadelsversammlungen sollten jeweils drei Kandidaten auswählen und diese dem Gouverneur mitteilen. Der Gouverneur wählte aus den eingegangenen Vorschlägen die drei Kandidaten aus, die am häufigsten vorgeschlagen wurden, und reichte die Liste zur kaiserlichen Bestätigung an den 35 Bericht des Senats an Paul I. vom 1.11.1800, in: PSZ I, Bd. 26, Nr. 19.628, S. 367–370, hier 369. 36 Namentlicher Ukas Pauls I. vom 14.10.1799, in: PSZ I, Bd. 25, Nr. 19.154, S. 812. 37 Bericht des Senats an Paul I. vom 1.11.1800, in: PSZ I, Bd. 26, Nr. 19.628, S. 367–370, hier 369.

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Senat weiter.38 Der Gouverneur – der höchste Vertreter der Staatsgewalt in der Provinz – bekam infolgedessen bei der Besetzung des höchsten Richteramtes im Gouvernement eine wichtige Rolle zugesprochen. Paul I. brach durch diese Gesetzgebung nicht nur mit dem politischen Ziel seiner Mutter, den Provinzadel stärker in die politische Verantwortung zu nehmen. Die Reduktion der Adelsversammlungen auf reine Wahlveranstaltungen stand auch im Widerspruch zu den Rechten und der politischen Kultur der altpolnischen Landtage. Zudem verstand Paul die Adelsmarschälle, Richter und Schöffen weniger als Standesvertreter, die adlige Rechte ausübten, sondern als staatliches Personal, das es mit möglichst wenig Aufwand zu finden galt. Ein Losverfahren schien dabei nicht weniger geeignet zu sein als eine Wahl. Die Adelsversammlungen wurden so zu Vollzugsorganen einer staatlichen Beamtenrekrutierung. Man kann deshalb nicht davon sprechen, dass Paul die alten Rechte der Szlachta wiederhergestellt und die polnischen Landtage wiederbelebt hätte. Seine Gesetzgebung war vielmehr von dem Willen geleitet, den 1762 vom Dienst befreiten Adel unter eine stärkere Aufsicht des Staates zu stellen. Aus diesem Grund hätte es der Senat auch gerne gesehen, wenn die pragmatische Reform des Wahlrechts nicht nur in den Westgouvernements, sondern im ganzen Reich Anwendung gefunden hätte.39 Die Herrschaft Pauls markiert zweifellos einen Bruch mit der Politik Katharinas. Pauls Adelspolitik war von gänzlich anderen Grundsätzen und Zielen geleitet als die weitreichenden Reformen seiner Mutter. Betrachtet man jedoch sein Vorgehen in den Westgouvernements, so scheinen auf diesem Felde die Kontinuitäten größer als die Brüche zu sein, da auch seine Mutter die Rechte des polnischen Kleinadels hatte beschneiden wollen. Die Gesetzgebung Pauls kann allerdings kaum als eine Stärkung der autonomen Rechte der Szlachta gesehen werden. Stattdessen begrenzte er die Kompetenzen der Adelsversammlungen ausschließlich auf Standesfragen und erhöhte deren Abhängigkeit von den staatlichen Verwaltungsorganen. Auf diese Weise wurden die ehemaligen Landtage der Adelsrepublik stärker mit den Behörden des Zarenreiches verbunden. Paul verschob in dem austarierten Verwaltungssystem, das Katharina umsichtig aufgebaut hatte, zwar die Gewichte, behielt jedoch den Bauplan bei. Die wenig systematisch erscheinende Gesetzgebung Pauls blieb im Grunde Stückwerk und verstärkte auf diese Weise die bereits vorhandenen Widersprüche zwischen Staatsausbau und Elitenkooptation. Nach dem Sturz Pauls folgte ihm sein Sohn auf dem Zarenthron. Alexanders I. knapp fünfundzwanzigjährige Herrschaft wird in der Geschichtsschreibung 38 Ebd., S. 367f. 39 Ebd., S. 369f.



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häufig als eine abflachende Kurve innenpolitischer Reformen charakterisiert. Der 23-Jährige habe mit der Politik seines Vaters gebrochen und sei wieder zu den Prinzipien Katharinas II. zurückgekehrt, die von Beginn an die Erziehung und den Bildungsgang ihres Enkels maßgeblich geprägt hatte.40 Inwieweit folgte auf den Thronwechsel von 1801 aber auch ein Wandel in der zarischen Politik gegenüber den Adelskorporationen in den Westgouvernements? Eine der ersten Amtshandlungen Alexanders I. bestand darin, Katharinas Gnadenurkunde für den Adel wieder in vollem Umfang in Kraft zu setzen.41 Doch noch im selben Monat schränkte er deren Gültigkeit für die Westgouvernements wieder ein. Zwar hatte der Adel wieder das Recht, die lokalen Amtsträger nach den örtlichen Gewohnheiten zu wählen, doch zugleich räumte er den Kreisadelsmarschällen die Option ein, einen der Ihren zum Gouvernementsmarschall zu küren und auf eine Gouvernementsadelsversammlung zu verzichten. Die Kreisadelsversammlungen sollten in diesem Fall Kandidaten für alle anderen Ämter auf Gouvernementsebene benennen, aus denen dann der Gouverneur eine Auswahl treffe.42 Dies war der Beginn einer insgesamt widersprüchlichen Gesetzgebung, mit der Alexander gleichzeitig an die Prinzipien Katharinas anknüpfen, den lokalen Gegebenheiten gerecht werden und eine Reihe von Regelungen seines Vaters übernehmen wollte. Der Adel hatte Schwierigkeiten, Adelswahlen im Rahmen von Gesetzen zu organisieren, die sich seit der Thronbesteigung Pauls I. bald jährlich änderten. 1802 beschwerte sich Fürst Poniński im Auftrag des Adels von Wolhynien darüber, dass die Widersprüche zwischen zarischer Gesetzgebung und dem alten Recht in den einzelnen Kreisen zu einer regional unterschiedlichen Gesetzesauslegung und infolgedessen zu unterschiedlichen Verfahren bei den Wahlen führten. Alexander I. ordnete daraufhin an, in den polnischen Provinzen nach einheitlichen Regeln zu wählen. Diese hätten den Bestimmungen der Gouvernementsreform und der Gnadenurkunde für den Adel zu folgen.43 Auf diese Weise machte er die durch Paul vorgenommenen Einschränkungen am Reformwerk Katharinas rück40 Die Literatur betont dabei meist den Widerspruch zwischen den öffentlich geäußerten, liberalen Ansichten Alexanders I. und seinem selbstverständlichen Festhalten an der Autokratie. Demzufolge gilt Alexander I. als „konservativer“ (Marc Raeff) oder als „paternalistischer“ (Allen McConnell) Reformer, siehe Janet Hartley: Alexander I, London, New York 1994, S. 4–11. Matthias Stadelmann charakterisierte die Politik Alexanders I. überzeugend mit dem Begriffspaar „reformerische Überlegung und zurückhaltende Praxis”, vgl. Matthias Stadelmann: Die Romanovs, Stuttgart 2008, S. 153. 41 Manifest Alexanders I. vom 2.4.1801, in: PSZ I, Bd. 26, Nr. 19.810, S. 601–602. Einige von Paul getroffene Regelungen wurden durch einen Beschluss des Senats jedoch wieder in Kraft gesetzt, vgl. den vom Zaren bestätigten Bericht des Senats vom 5.5.1801, in: PSZ I, Bd. 26, Nr. 19.856, S. 622–625. 42 Namentlicher Ukas Alexanders I. vom 17.4.1801, in: PSZ I, Bd. 26, Nr. 19.839, S. 613f. 43 Namentlicher Ukas Alexanders I. vom 19.5.1802, in: PSZ I, Bd. 27, Nr. 20.273, S. 146f.

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gängig. Bemerkenswert ist, dass der Wunsch nach Vereinheitlichung hier vom polnischen Adel ausging, der mithin die Beschneidung seiner alten Rechte in Kauf nahm. Nur wenige Wochen später führte Alexander I. in den Westgouvernements das Zensuswahlrecht wieder ein und knüpfte auch in dieser Frage an die Politik seiner Großmutter an. Ausdrücklich erklärte er das Gesetz seines Vaters, das in den Westgouvernements alle Adligen unabhängig von ihrem Besitz das Wahlrecht zugesprochen hatte, für ungültig. Der Zar begründete diesen Schritt damit, dass in einigen der polnischen Provinzen die Zahl der armen Adligen sehr groß sei und diese im Grunde die Lebensweise der Bauern teilten. Der arme Adel habe bei den letzten Wahlen eine Reihe ungebührlicher Zwischenfälle und eine Störung des Wahlablaufs provoziert. Aus diesem Grunde seien in den Gouvernements Wilna, Grodno, Minsk, Wolhynien, Podolien und Kiew in Zukunft nur jene Edelleute zu den Wahlen zugelassen, die eine der folgenden Voraussetzungen erfüllten: den Besitz eines Landgutes, die Pacht von Staatsgrund, die Pacht eines privaten Landgutes für mindestens zehn Jahre oder das Zahlen einer Abgabe in die Staatskasse. Hingegen sei das Wahlrecht nicht an einen bestimmten Rang gebunden, womit den regionalen Besonderheiten Rechnung getragen werde.44 Mit der letzteren Einschränkung wurde in den polnischen Provinzen der zweiten und dritten Teilung immerhin eine Regelung der Gnadenurkunde außer Kraft gesetzt, die unter Katharina II. noch für das gesamte Imperium gegolten hatte. Auch der wieder eingeführte Wahlzensus blieb hinter den strengeren Auflagen der Gnadenurkunde zurück. Dort hatte Katharina II. das Eigentum von Grund und Boden zur unumstößlichen Voraussetzung für das aktive Wahlrecht gemacht. Selbst das Gesetz über die Landtage, das der Vierjährige Sejm im Jahre 1791 verabschiedet hatte, war in diesem Punkt rigoroser, indem es adlige Pächter eines Kron- oder Staatsguts von den Wahlen ausschloss.45 Trotz einer Rhetorik, welche die Fortführung von Katharinas Grundsätzen proklamierte, ging die Gesetzgebung Alexanders I. einen Mittelweg zwischen einer wortgetreuen Anwendung der Gnadenurkunde in allen Provinzen des Reiches und einer partiellen Rückkehr zu polnischen Gesetzen, wie sie sein Vater Paul I. vorgenommen hatte. Alexanders Gesetzgebung löste damit eine uneinheitliche Rechtslage ab, blieb selbst jedoch nur eine Übergangslösung. Erst der Kaiserliche Ukas vom 3. März 1805 gab den Westgouvernements eine umfassende Wahlordnung, die in den folgenden Jahren Bestand haben sollte. Diese Verordnung erhöhte noch einmal die Hürden für die 44 Namentlicher Ukas Alexanders I. vom 8.6.1802, in: PSZ I, Bd. 27, Nr. 20.288, S. 159. Das Gesetz wurde 1806 noch einmal bestätigt, vgl. den Namentlichen Ukas Alexanders I. vom 29.1.1806, in: ebd., Bd. 29, Nr. 22.011, S. 37. 45 Vgl. Katharina II.: Vom Adel, S. 30; Gesetz über die Landtage vom 24.3.1791, S. 153f.



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Teilnahme an den Adelswahlen. Aktives Wahlrecht hatten demnach nur diejenigen Adligen, deren Gutsbesitz jährlich mindestens 150 Rubel an Einkünften abwarf und wenigstens acht Rauchfänge zählte. Der Sohn eines stimmberechtigten Gutsbesitzers konnte ebenso an den Adelswahlen teilnehmen. Allerdings hatten Adlige unter 23 Jahren kein passives und Minderjährige weder aktives noch passives Wahlrecht. Besaß ein Gutsbesitzer zwei volljährige Söhne, so konnten diese nur dann an den Wahlen teilnehmen, wenn das Gut des Vaters über wenigstens 16 Rauchfänge verfügte. Für das Wahlrecht eines jeden weiteren Sohnes waren jeweils weitere acht zusätzliche Rauchfänge nötig.46 Zwei Jahre später trat eine weitere Einschränkung hinzu: Adlige, die in Kiew ein Haus besaßen und nicht über den vorgeschriebenen Grundbesitz auf dem Lande verfügten, wurden nicht zu den Adelswahlen zugelassen. Sie sollten sich vielmehr in die städtischen Stände einschreiben und an den Wahlen zur Stadtduma teilnehmen.47 Indem Alexander I. an einem Wahlzensus festhielt, folgte er der Überzeugung Katharinas II., dass nur dem gutsbesitzenden Adel die Verantwortung für lokale Angelegenheiten zu übertragen sei. Der verarmte Kleinadel sollte an der Vergesellschaftung des Provinzadels nicht teilnehmen. Gleichzeitig brach Alexander jedoch mit den weitgehenden Vereinheitlichungsabsichten Katharinas. Stattdessen erhielten die Westgouvernements eine eigene Wahlordnung, die zumindest partiell auf den historischen Traditionen der Szlachta aufbaute. Diese Politik stand in der Kontinuität zur zarischen Elitenkooptation und knüpfte an die Gesetzgebung Pauls an. Allerdings hatte Alexander I. für die Westgouvernements einen höheren Wahlzensus festgelegt als im restlichen Imperium. Hatte Katharina II. in ihrer Gnadenurkunde für das passive Wahlrecht noch ein Jahreseinkommen von 100 Rubel vorgeschrieben, so musste ein Adliger in den Westgouvernements schon für das aktive Wahlrecht nun ein Einkommen von 150 Rubel nachweisen. Alexander I. begründete diese Ungleichbehandlung der Szlachta mit deren besonderer Sozialstruktur: Nur eine weniger heterogene Adelsversammlung könne einen geregelten Ablauf der Wahlen gewährleisten.48 Diese Rechtfertigung verdeutlicht, wie treu Alexander jenem Leitbild einer „guten Ordnung“ folgte, das bereits die Politik Katharinas II. maßgeblich geprägt hatte. Und gleich seiner Großmutter hatte Alexander das Bild verinnerlicht, die Adelsrepublik sei politisch an den chaotischen Zuständen gescheitert, die der Kleinadel im Sejm und auf den Landtagen herbeigeführt habe. Seine mitunter polonophile Rhetorik, die bis heute das Bild von Alexander bestimmt, verschleiert, dass sein historisches 46 Namentlicher Ukas Alexanders I. vom 3.3.1805, in: PSZ I, Bd. 28, Nr. 21.646, S. 883f., hier 883. 47 Senatsukas vom 25.6.1807, in: PSZ I, Bd. 29, Nr. 22.540 a, S. 1201–1208, hier 1207f. 48 Vgl. den Namentlichen Ukas Alexanders I. vom 8.6.1802, in: PSZ I, Bd. 27, Nr. 20.288, S. 159 und den Namentlichen Ukas Alexanders I. vom 3.3.1805, in: ebd., Bd. 28, Nr. 21.646, S. 883f.

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Urteil über die Adelsrepublik stark von jenem Zerrbild beeinflusst war, das Katharina zur Legitimierung der Teilungen gezeichnet hatte. Und Alexander zog daraus dieselben Konsequenzen wie bereits seine Großmutter: Dem angeblich politisch unzuverlässigen und unruhigen Kleinadel war der Einfluss auf die Selbstverwaltungsorgane des Zarenreiches zu verwehren. Inwieweit wurden diese gesetzlichen Regelungen in die Praxis umgesetzt? Zunächst ist zu beachten, dass die Gouvernementsregierungen die Möglichkeit hatten, rechtliche Vorgaben an regionale Verhältnisse anzupassen. So konnte beispielsweise in Kiew bei den Wahlen des Jahres 1805 der Nachweis über ein jährliches Einkommen von 150 Rubel auch durch ein Einkommen von 500 Goldmünzen oder das Zahlen einer Kopfsteuer ersetzt werden. Diese Kopfsteuer war noch ein Relikt aus den Zeiten der Adelsrepublik und umfasste den zehnten Teil eines Einkommens. Hier wurden also staatliche Bestimmungen in regionale Gepflogenheiten übersetzt. Auch die Feststellung der Leibeigenen wurde flexibel gehandhabt. Die polnische Zählweise von acht Rauchfängen wurde der russischen Vorgabe von 25 Seelen gleichgesetzt und beide Varianten waren bei der Zulassung zu den Wahlen gültig.49 Die Ausführungsbestimmungen zu den Wahlen in Minsk im Jahre 1808 fielen wiederum ein wenig anders aus. Hier wollte man nur Adlige zu den Wahlen zulassen, die über eigenen Grundbesitz verfügten oder seit mindestens zehn Jahren ein Gut gepachtet und außerdem die Kopfsteuer bezahlt hatten.50 Eine pragmatische Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben passte also die politische Praxis an die lokalen Traditionen und Gewohnheiten an. Alexander I. erhob auch die Rangtabelle wieder zu einem Kriterium für das Wahlrecht. Er folgte den Bestimmungen der Gnadenurkunde für den Adel und erklärte den Rang eines Oberoffiziers zur Voraussetzung für das aktive und passive Wahlrecht. Doch auch hier gab es Ausnahmen. Alexander stellte in Rechnung, dass der Adel aus den Gebieten der zweiten und dritten Teilung schwerlich bereits russische Dienstkarrieren vorweisen konnte. Er setzte diese Vorgabe in den Westgouvernements für vier Wahlperioden – also für zwölf Jahre – aus. Erst ab der fünften Wahl sollte diese reichsweite Regelung auch in den polnischen Provinzen gelten.51 Obwohl die Frist von zwölf Jahren für das Erreichen eines Offizierranges eher großzügig bemessen war, fehlte in den weißrussischen Gouvernements noch 1823 den meisten Adligen diese Voraussetzung. Der Provinzadel der Westgouvernements blieb offensichtlich dem russischen Militär- und Zivildienst fern. So 49 Bericht des Vorsitzenden des Kiewer Hauptgerichts, Morzkowski, an den Kiewer Militärgouverneur, Tarmasov, vom 27.5.1805, in: CDIAK f. 533, op. 1, d. 850, l. 6–9. 50 Schreiben der Gouvernementsverwaltung von Minsk an den Gouvernementsmarschall von Minsk vom 29.7.1808, in: NIAB f. 320, op. 2, d. 6, l. 1–2. 51 Namentlicher Ukas Alexanders I. vom 8.6.1802, in: PSZ I, Bd. 27, Nr. 20.288, S. 159.



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wurden notgedrungen auch 30 Jahre nach der zweiten Teilung Polens ranglose Adlige zu den Wahlen zugelassen. Allerdings galt die alternative Bedingung, dass die Kandidaten wenigstens bereits einmal ein Wahlamt bekleidet haben mussten. Die Geduld der zarischen Regierung war zu diesem Zeitpunkt bereits stark strapaziert. Der Ukas betonte, dass diese erneute Ausnahme „entschieden zum letzten Mal“ erfolge, und drohte für die nächste Wahl an, diejenigen Ämter, die mangels vorschriftsmäßiger Kandidaten vakant blieben, selbst mit Beamten zu besetzen.52 Diese Regelung verdeutlicht die Homogenisierungsabsichten Alexanders. Die zarische Regierung war nicht bereit, einmal getroffene Ausnahmeregelungen dauerhaft gelten zu lassen, sondern strebte mittelfristig die Implementierung staatlicher Normen in den polnischen Adelsversammlungen an. Dennoch setzte sie ihre Drohung nicht in die Realität um. Als bei den nächsten Adelswahlen einmal mehr zu wenig Adlige einen Rang vorweisen konnten, akzeptierte man als Ersatz auch einen Orden oder eine neunjährige Dienstzeit in einem Wahlamt.53 Derartige Ausnahmeregelungen wurden vor Ort wiederum großzügig angewandt und abgewandelt: In Vitebsk erklärte der Generalgouverneur mangels Kandidaten kurzerhand eine sechsjährige Dienstzeit für ausreichend.54 Ein weiterer Versuch staatlicher Normdurchsetzung war die Einführung eines „mit Schnüren benähten Buchs“ (šnurnaja kniga) als Wählerregister. Alexander I. verfügte 1805, dass auch in den Westgouvernements ein solches Buch zu führen sei, das die Wahlberechtigten eines Gouvernements und deren Besitzverhältnisse festhielt. Der Gouverneur verwahrte die šnurnaja kniga, doch für das Führen des Buches war der Adelsmarschall zuständig, dem es zu diesem Zweck vom Gouverneur vorübergehend ausgehändigt wurde. Falsche Einträge wurden unter Strafe gestellt.55 Die šnurnaja kniga war damit ein staatliches Verzeichnis des landbesitzenden Adels. Das Innenministerium schrieb die äußere Form vor, nach denen das Buch geführt werden sollte.56 Dem Gouverneur bot es die Möglichkeit, Informationen über einzelne Adlige einzuholen, da ihm ausdrücklich gestattet war, Abschriften aus dem Buch anzufertigen. Zudem war er angehalten, die Eintragungen des Gouvernementsmarschalls zu überprüfen. Angesichts dieser weitgehenden Aufsichtsrechte betonte Alexander I., dass damit für den Gouverneur nicht die Befugnis einhergehe, persönlich bei Adelswahlen zu intervenieren.57 52 Namentlicher Ukas Alexanders I. vom 6.3.1823, in: PSZ I, Bd. 38, Nr. 29.346, S. 813. 53 Statut des Ministerkomitees vom 12.1.1826, in: PSZ II, Bd. 1, Nr. 49, S. 68–69. 54 Schreiben des Generalgouverneurs an den Vitebsker Adelsmarschall vom 26.3.1830, in: NIAB f. 1297, o. 1, d. 5508, l. 5–6. 55 Namentlicher Ukas Alexanders I. vom 3.3.1805, in: PSZ I, Bd. 28, Nr. 21.646, S. 883f. 56 Ebd., S. 884. Die Adelsmarschälle vor Ort nahmen dies als einen staatlichen Eingriff wahr, vgl. zum Beispiel für das Gouvernement Kiew das Schreiben von Pëtr Pankrat’ev an Pëtr Prokof’ev vom 30.3.1805, in: CDIAK f. 533, op. 1, d. 850, l. 5. 57 Namentlicher Ukas Alexanders I. vom 3.3.1805, in: PSZ I, Bd. 28, Nr. 21.646, S. 883f., hier 884.

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Die šnurnaja kniga stand in Konkurrenz zum Geschlechterbuch des Adels (dvorjanskaja rodoslovnaja kniga), das der Adelsmarschall eigenverantwortlich führte. Einerseits stand jedem Adligen, der vom Kreisadelsmarschall in das Geschlechterbuch aufgenommen wurde, das Recht auf eine Teilnahme an der Adelsversammlung zu. Andererseits war ein Eintrag in der šnurnaja kniga die Voraussetzung für dessen Stimmrecht. In der Praxis kam es offenbar vor, dass Adelsmarschälle die Einträge aus dem Geschlechterbuch einfach in die šnurnaja kniga übertrugen. So beauftragte der Kiewer Gouverneur den Vorsitzenden des Gouvernementhauptgerichts damit, die Wahlberechtigung jedes einzelnen Adligen zu prüfen und persönlich mit den Einträgen in der šnurnaja kniga abzugleichen.58 Auch dieser Versuch einer Implementierung staatlicher Normen stieß in der sozialen Realität der Westgouvernements an seine Grenzen und die Praxis sah mitunter ganz anders aus. In Grodno waren 1817 schon im Geschlechterbuch des Adels so wenige Personen verzeichnet, dass deren Zahl nicht einmal ausgereicht hätte, um alle zur Wahl stehenden Ämter zu besetzen. An eine weitere Eingrenzung des Wählerkreises auf die in der šnurnaja kniga verzeichneten Adligen war unter diesen Umständen gar nicht zu denken. Der Gouverneur sah sich vielmehr genötigt, die Regierung in St. Petersburg um eine Aussetzung der staatlichen Bestimmungen zu bitten. Er eignete sich dabei die Argumente der Szlachta an, mit denen diese für gewöhnlich das Fehlen von Adelsnachweisen gegenüber der Staatsgewalt rechtfertigte: Der Krieg von 1812 habe viele Akten zerstört, so dass zahlreiche Adlige nun nicht mehr ihren Adelsnachweis führen könnten. Auch falle es schwer, den notwendigen Nachweis zu erbringen, wenn die entsprechenden Akten in Archiven lägen, die sich nun auf preußischem oder österreichischem Boden befanden. Das Ministerkomitee folgte der Bitte des Gouverneurs und ließ in Grodno auch jene Adlige zu den Wahlen zu, die nicht im Geschlechterbuch eingetragen waren. Allerdings knüpfte es diese Ausnahme an die Bedingung, dass diese Adligen im Falle einer Wahl innerhalb der dreijährigen Amtszeit ihre Adelsnachweise vorzulegen hätten und sie in das Buch nachzutragen seien. Andernfalls könnten sie bei den folgenden Wahlen nicht mehr kandidieren.59 Die Erfassung des Adels in der dvorjanskaja rodoslovnaja kniga und der wahlberechtigten Adligen in der šnurnaja kniga führte auch innerhalb der Szlachta zu Konflikten. So beschwerten sich zum Beispiel zwei Adlige beim Kiewer Gouvernementsmarschall darüber, dass der Kreisadelsmarschall von Uman’ sich selbst 58 Bericht des Vorsitzenden des Kiewer Hauptgerichts, Moržkovskij, an den Kiewer Militärgouverneur, Tarmasov, vom 27.5.1805, in: CDIAK f. 533, op. 1, d. 850, l. 6–9. 59 Statut des Ministerkomitees vom 1.12.1817, in: PSZ I, Bd. 34, Nr. 27.170, S. 899.



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und seine beiden Söhne rechtswidrig in die šnurnaja kniga eingetragen habe.60 Seit den Reformen unter dem letzten polnischen König Stanisław II. August hatten polnische Adlige einen Ausschluss des verarmten Kleinadels aus den politischen Entscheidungsgremien der Adelsrepublik gefordert. Es kann also kaum verwundern, wenn polnische Adlige auch nach den Teilungen diese politische Richtlinie vertraten. Ein ordnungsgemäßes Führen der šnurnaja kniga konnte durchaus in ihrem Sinne sein, da sich mit Hilfe dieses Instrumentes vor allem der besitzlose Kleinadel von den Wahlen ausschließen ließ. So ging denn auch manche Einschränkung des adligen Wahlrechts vom Adel selbst aus. Der Adelsmarschall von Wilna, Drucki-Lubecki, erreichte etwa mit einer Initiative beim Zaren, dass in Wilna und Grodno nicht mehr der gesamte Adel eines Gouvernements zu einer Versammlung zusammengerufen wurde, sondern jeder Kreis sich in der Gouvernementsstadt durch zehn Delegierte vertreten ließ.61 Die Umwandlung einer Vollversammlung des Adels in eine Art Deputiertenparlament wird zweifellos zur Funktionalität der Gouvernementsadelsversammlung beigetragen haben. In unserem Zusammenhang zeigt die Initiative Drucki-Lubeckis allerdings auch, dass gutsbesitzende Adlige bei der Transformation der polnischen Landtage zu Repräsentationsorganen der regionalen Elite stellenweise mit der russischen Staatsgewalt an einem Strang zogen. Der russische Staat beließ es allerdings nicht bei einer Beschränkung des adligen Wahlrechts. In den Gouvernements Mogilëv und Wilna wurde 1823 der Kreishauptmann (zemskij ispravnik) nicht mehr gewählt, sondern durch den Gouverneur ernannt. Der Gouverneur erhielt das Recht, das Amt nach eigenem Befinden zu besetzen. Dem Adel wurde bei dieser Entscheidung keinerlei Mitsprache gewährt.62 Eine derartige Beschneidung des adligen Wahlrechts lag wiederum nicht im Interesse der grundbesitzenden Adelselite. Alexander I. kehrte also allenfalls partiell zu den Prinzipien Katharinas zurück. Analog zur Politik seiner Großmutter war er bestrebt, die Adelsversammlung zu einer Korporation der lokalen Elite zu machen. Zu diesem Zweck führte er den Wahlzensus wieder ein und machte den Staatsdienst zu einer Voraussetzung für das passive Wahlrecht. Von den künftigen Amtsinhabern wurden somit gesellschaftlicher Status und ein gewisses Ausbildungsniveau verlangt. Allerdings verloren die Adelswahlen ihre gemeinschaftsstiftende Funktion. Ging es Katharina II. in erster Linie darum, mit der Schaffung ständischer Korporationen eine lokale Gesellschaft entstehen zu lassen, so verstand Alexander wie schon sein Vater die 60 Vgl. das Schreiben von Stanisław Szołajski und Onufry Chalecki an den Gouvernementsmarschall von Kiew, Piotr Potocki, vom 3.12.1811, in: CDIAK f. 533, op. 1, d. 1440a, l. 108–111. 61 Namentlicher Ukas Alexanders I. vom 5.7.1811, in: PSZ I, Bd. 31, Nr. 24.709, S. 806. 62 Namentlicher Ukas Alexanders I. vom 11.4.1823, in: PSZ I, Bd. 38, Nr. 29.419, S. 909–910.

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Adelsversammlungen als ein Instrument zur Beamtenrekrutierung. Allerdings wollte sich die zarische Regierung nicht darauf verlassen, dass der Adel diejenigen Kandidaten wählte, die auch in ihrem Sinne die geeigneten Amtsinhaber waren. Aus diesem Misstrauen gegenüber den Unberechenbarkeiten einer Wahl wuchs das Bestreben, das Wahlrecht zu reglementieren und damit die Wahl zu kontrollieren. In letzter Konsequenz lief diese Absicht darauf hinaus, dass der Gouverneur die Ämter per Dekret besetzte. Die Politik des Staatsausbaus war in jenen Jahren nicht auf die Westgouvernements beschränkt. Die Regierung mischte sich vielmehr grundsätzlich in die Zusammensetzung der Adelsversammlungen ein. So versuchte sie zum Beispiel, vorbestraften Adligen das passive Wahlrecht zu entziehen, damit diese nicht in angesehene Staatsämter gelangen konnten.63 Die Entwicklung in den Westgouvernements hinkte der zentralrussischen Praxis sogar hinterher. Nach wie vor durften in den polnischen Provinzen Adlige wählen, die in den anderen Gouvernements des Reiches kein Wahlrecht besaßen.64 Da die Wahlbeamten staatliche Funktionen übernahmen, wollte die Regierung zudem sicherstellen, dass geeignete und loyale Kandidaten gewählt wurden. Die persönliche „Würde“ und die allgemeine „Befähigung“ galten als charakterliche Voraussetzungen für die Übernahme eines Amtes. Im Zweifelsfall wog das gewünschte Wahlergebnis denn auch schwerer als ein ordnungsgemäßes Wahlverfahren. In den Westgouvernements bargen staatliche Eingriffe in die Adelswahlen jedoch das Risiko, dass der polnische Adel diese als unliebsame Einmischungen der russischen Staatsgewalt verstehen konnte. Der Novemberaufstand von 1830/31 war auch für die sejmiki eine Zäsur. Nikolaus I. erließ am 6. Dezember 1831 ein neues Wahlgesetz, das den Kreis der wahlberechtigten Adligen weiter einschränkte. Für das aktive und passive Wahlrecht musste man entweder den Besitz von 100 männlichen Seelen oder einen Grundbesitz von 3.000 Desjatinen nachweisen. Adlige, die weniger als 100, aber mehr als fünf Seelen besaßen, erhielten das Recht, einen Bevollmächtigten zu wählen. Dies geschah folgendermaßen: Mehrere Adlige legten ihren Besitz zusammen, bis sie gemeinsam den vorgeschriebenen Wert von 100 Seelen oder 3.000 Desjatinen erreichten, und wählten aus ihrer Mitte einen Bevollmächtigten. Dieser 63 Vgl. Korf: Dvorjanstvo, S. 412–415. 64 Eine Ausnahme war insbesondere die Zulassung von Adligen, die nur Pächter waren oder ihr Gut verpfändet hatten, vgl. den Namentlichen Ukas Alexanders I. vom 8.6.1802, in: PSZ I, Bd. 27, Nr. 20.288, S. 159. Der Rang eines Oberoffiziers als Voraussetzung für das Wahlrecht wurde in großrussischen Gouvernements sehr viel strenger gehandhabt, vgl. zum Beispiel für Jaroslavl’ den Senatsukas vom 15.3.1809, in: PSZ I, Bd. 30, Nr. 23.538, S. 878–881. Dagegen galt in den weißrussischen Gouvernements noch 1823 eine deutlich flexiblere Regelung, vgl. den Namentlichen Ukas Alexanders I. vom 6.3.1823, in: PSZ I, Bd. 38, Nr. 29.346, S. 813.



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hatte das volle Stimmrecht. Der Kleinadel war also nur noch über Wahlmänner in der Adelsversammlung vertreten. Die armen Adligen, die weniger als fünf Seelen besaßen, erhielten ein eingeschränktes Stimmrecht, sofern sie ordnungsgemäß im Geschlechterbuch eingetragen waren, das 21. Lebensjahr vollendet und im Staatsdienst den 14. Rang erreicht hatten: Sie konnten zwar an den Wahlen, jedoch nicht an allen übrigen Abstimmungen teilnehmen.65 Der Wahlzensus hatte sich damit kontinuierlich gesteigert. Waren unter Katharina II. noch zehn Seelen und ein Jahreseinkommen von 100 Rubel die Voraussetzung für das aktive und passive Wahlrecht, so mussten die adligen Wähler unter Alexander I. schon 25 Seelen oder Einkünfte von 150 Rubel vorweisen. Indem Nikolaus I. nur Adligen mit einem Besitz von mindestens 100 Seelen das volle Wahlrecht gewährte, hatte sich die Höhe des Wahlzensus seit den Zeiten Katharinas II. verzehnfacht. Hatte die aufgeklärte Zarin noch das Ziel verfolgt, den besitzlosen Adel von den Wahlämtern fernzuhalten, so machte Nikolaus I. die Teilnahme an den Wahlen zu einem Privileg des mittleren und vermögenden Adels. Die Entsendung von Bevollmächtigten ermöglichte dem Kleinadel zwar noch die Teilnahme an den Wahlen, doch sank sein Einfluss deutlich. Noch fehlen empirische Studien, welche die Inanspruchnahme dieses Rechts durch den Kleinadel ermitteln. Nikolaus I. setzte noch an einer zweiten Stelle an, um die zarischen Ordnungsvorstellungen bei den Adelswahlen zu etablieren: dem Rang. Katharina II. hatte in ihrer Gnadenurkunde den Rang eines Oberoffiziers zur unabdingbaren Voraussetzung für das Wahlrecht in der Adelsversammlung erklärt. Paul I. hatte diese Bestimmung rückgängig gemacht. Alexander I. setzte diese Regelung in den Westgouvernements wiederum aus, da sie sich nicht durchsetzen ließ. Nikolaus I. schien zunächst den pragmatischen Kurs seines Vorgängers zu bestätigen. Im Januar 1826 ließ das Ministerkomitee in den weißrussischen Gouvernements die Teilnahme von Adligen ohne Rang an den Wahlen zu, sofern sie einen Orden erhalten oder bereits neun Jahre in einem Wahlamt gedient hatten.66 Doch nur wenige Wochen später brach der Senat mit dieser Linie und ordnete kategorisch an, dass Adlige, die nicht gedient und nicht mindestens den Rang eines Oberoffiziers erreicht hatten, fortan kein Recht zur Teilnahme an der Adelsversammlung hatten. Das passive Wahlrecht wurde noch enger gefasst. Zusätzlich zum Rang eines Oberoffiziers sollten die Kandidaten auch der russischen Sprache mächtig

65 Statut über die Ordnung der Adelsversammlungen, der Adelswahlen und des Dienstes in Wahlämtern vom 6.12.1831, in: PSZ II, Bd. 6,2, Nr. 4.989, S. 247–273, hier 251ff. 66 Verordnung des Ministerkomitees vom 12.1.1826, in: PSZ II, Bd. 1, Nr. 49, S. 68–69.

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sein. Ausdrücklich wies der Senat darauf hin, dass er keine Ausnahmen von diesen Bestimmungen zulassen wolle.67 Das Wahlstatut vom 6. Dezember 1831 schuf auch in dieser Frage eine reichsweit einheitliche Regelung. Für das aktive Wahlrecht waren der 14. Rang oder ein dreijähriger Dienst in einem Wahlamt notwendig.68 Damit hatte die zarische Regierung die Bestimmungen wieder ein wenig gelockert. Als sich der Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv und Smolensk beim Innenministerium darüber beschwerte, dass es an adligen Amtsträgern mangele, verwies der Innenminister ausdrücklich auf die Möglichkeiten des neuen Wahlstatuts, den Kreis der Kandidaten zu erweitern.69 Im folgenden Jahrzehnt blieb es in den Westgouvernements schwierig, ausreichend Kandidaten für die diversen Wahlämter zu finden. Die Staatsmacht reagierte darauf mit einer schrittweisen Lockerung der rechtlichen Bestimmungen. Seit 1835 konnten in den Gouvernements Wilna, Grodno, Minsk und Wolhynien sowie im Gebiet Białystok ranglose Adlige in ein Amt gewählt werden, wenn sie zehn Jahre im Staatsdienst aktiv gewesen waren. Gleichzeitig wurde allerdings die im Wahlstatut eröffnete Alternative der dreijährigen Dienstzeit in einem Wahlamt verschärft: Nun musste ein Kandidat zwei Amtsperioden von insgesamt sechs Jahren vorweisen können.70 Die zarische Regierung sah im Staatsdienst einen zentralen Loyalitätsbeweis. Die kürzeren Dienstzeiten sollten für polnische Adlige ohne Wahlrecht als Anreiz dienen, eine militärische oder zivile Laufbahn einzuschlagen. Gleichzeitig nahm man denjenigen Adligen, die nur drei Jahre ein Wahlamt bekleidet hatten, das passive Wahlrecht und versuchte sie auf diese Weise zum Staatsdienst zu motivieren. Der Mangel an geeigneten Kandidaten, die alle geforderten Bedingungen für ein Wahlamt erfüllten, blieb ein Problem. Ein Jahr später lockerte Nikolaus I. auf Bitten des Gouverneurs von Wilna die Konditionen. Adlige, die beim Militärdienst eine Verwundung erlitten oder sich an der Niederschlagung des Novemberaufstandes von 1830/31 beteiligt hatten, konnten fortan auch bei einer kürzeren Dienstzeit in eine Reihe von Ämtern auf lokaler Ebene gewählt werden, unter anderem auch zum Kreisadelsmarschall.71 Und 1842 gab das Komitee für die Westgouvernements einem Gesuch des Wilnaer und Minsker Adels statt und ordnete an, dass in den Gouvernements Wilna, Grodno, Minsk, Wolhynien, Podolien sowie im Gebiet 67 Senatsukas vom 9.3.1826, in: PSZ II, Bd. 1, Nr. 188, S. 285–287. 68 Statut über die Ordnung der Adelsversammlungen, der Adelswahlen und des Dienstes in Wahlämtern vom 6. Dezember 1831, in: PSZ II, Bd. 6,2, Nr. 4.989, S. 247–273, hier 250. 69 Brief des Innenministers an den Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv und Smolensk vom 3.8.1832, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 5547, l. 145–148. 70 Namentlicher Ukas Nikolaus’ I. vom 12.10.1835, in: PSZ II, Bd. 10,2, Nr. 8.463, S. 1012f. 71 Namentlicher Ukas Nikolaus’ I. vom 21.5.1836, in: PSZ II, Bd. 11,1, Nr. 9.197, S. 533f.



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Białystok die Dienstzeit in einem Wahlamt als Staatsdienst angerechnet werden könne. Durch diese Bestimmung war die für das passive Wahlrecht vorgeschriebene zehnjährige Dienstzeit leichter zu erreichen.72 All diese gesetzlichen Regelungen haben gemeinsam, dass sie die staatliche Loyalität der Wahlbeamten zu gewährleisten versuchten. Für Nikolaus I. war der Dienst im russischen Militär oder für den zarischen Staat in doppelter Weise ein Beleg für die Loyalität eines Adligen: Zum einen sei der Eintritt in den Dienst ein klares Bekenntnis zum Zarenreich, zum anderen würden junge Adlige bei der Armee oder im Staatsdienst erzogen und geformt werden. Es erregte deshalb sein Misstrauen, wenn ein Adliger den Dienst mied. Genau darin bestand jedoch der Vorwurf, den der Zar 1835 gegenüber dem polnischen Adel erhob: „Indem wir unser Augenmerk auf die momentane Lage in den von Polen zurückgewonnenen Gouvernements richten, stellen wir mit besonderer Unzufriedenheit fest, dass der Adel dieser Gebiete zum größten Teil sowohl den Dienst in unseren Truppen als auch den Zivildienst meidet und dem Müßiggang frönt. Aus diesem Grund sind der größte Teil der Ämter bei den Wahlen auf Gouvernementsebene durch Adlige besetzt worden, die entweder überhaupt nicht oder nur für eine sehr kurze Dauer im Staatsdienst gestanden haben. Auf diese Weise wird das Privileg, das dem großrussischen Adel gerechterweise für seine Treue und für die edelmütige Aufopferung seines Lebens im Dienst geschenkt wurde, zu einem Privileg, das ohne jeglichen Verdienst genutzt wird und nur noch dem Auffüllen von vakanten Verwaltungsstellen mit vollkommen unerfahrenen, unfähigen und oft unzuverlässigen Personen dient.“73

Nikolaus I. zieht hier eine deutliche Grenze zwischen dem russischen und dem polnischen Adel. Sein Bild vom russischen Adel steht ganz in der Tradition Katharinas II., die in den Adligen „Söhne des Vaterlandes“ gesehen hatte, die dem Zarenreich stets treu und selbstlos dienten.74 Der polnische Adel erscheint in Nikolaus’ Worten als das genaue Gegenteil: Treulos und faul missbrauche er die Privilegien, die der Zar ihm gewährt habe. Eine derartige Einschätzung der Szlachta kommt dem Eingeständnis gleich, dass die traditionelle Kooptationspolitik in den polnischen Provinzen gescheitert war. Von einer solchen Sichtweise zeugen auch die wiederholten Äußerungen der zarischen Regierung, dass ihre Geduld mit dem polnischen Adel nun ein Ende habe. So stellte zum Beispiel der Senat im März 1826 klar, dass man für die 72 Verordnung des Komitees für die Westgouvernements vom 22.5.1842, in: PSZ II, Bd. 17,1, Nr. 15.673, S. 390–391. 73 Namentlicher Ukas Nikolaus’ I. vom 12.10.1835, in: PSZ II, Bd. 10,2, Nr. 8.463, S. 1012–1013, hier 1012. 74 Vgl. Utz: Russlands unbrauchbare Vergangenheit, S. 69–72.

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Adelswahlen in den Westgouvernements Ausnahmeregelungen getroffen habe, weil man der Szlachta eine Übergangsfrist einräumen wollte, innerhalb derer sie die Einführung der reichsweit geltenden Regeln vorbereiten könne. Doch in den vergangenen 30 Jahren habe es in diesem Punkt überhaupt keine Fortschritte gegeben. Der polnische Adel sei nicht bereit, in den Militär- oder Staatsdienst einzutreten, um dort eine Ausbildung und die notwendigen Erfahrungen für ein späteres Wahlamt zu erwerben. Stattdessen strebten die Adligen schon in jungen Jahren in die Wahlämter, die sie als Ersatz für den Militär- oder Staatsdienst betrachteten. Auf diese Weise würden gänzlich unerfahrene Personen, die weder der Aktenführung kundig noch der russischen Sprache mächtig seien, wichtige lokale Ämter besetzen.75 Die zarische Regierung gelangte zu dieser Auffassung nicht zuletzt aufgrund von Berichten über widerrechtlich gewählte Amtsträger.76 Bislang hatte sich die russische Staatsgewalt in solchen Fällen noch zu pragmatischen Lösungen bereit gezeigt. Während der Herrschaft Nikolaus’ I. ging man jedoch dazu über, Ausnahmeregelungen Zug um Zug abzubauen und so den staatlichen Normen auf lokaler Ebene Geltung zu verschaffen. So hatte zum Beispiel das Ministerkomitee noch 1826 der Kandidatur eines Adligen ohne jeglichen Grundbesitz und ohne Rang zugestimmt, da insgesamt zu wenig Bewerber für die Wahlämter zur Verfügung standen.77 Zehn Jahre später zeigte sich die zarische Staatsgewalt weniger kompromissbereit und entzog allein im Gouvernement Minsk 177 Adligen das Wahlrecht, da sie keinen Rang vorweisen konnten.78 Der fortschreitende Ausschluss von Adligen aus den Adelsversammlungen hatte zur Folge, dass es immer schwerer fiel, alle Wahlämter zu besetzen, was vor allem die wenig einflussreichen Ämter betraf. Aus diesem Grunde wurden immer mehr lokale Posten per Dekret vergeben. Schon 1826 hatte der Bruder des Zaren, Großfürst Konstantin Pavlovič, angeordnet, dass in den Westgouvernements die Kreishauptmänner und die Hälfte der Schöffen an den Niederen Landgerichten von der Krone zu bestimmen seien. Die Stellen sollten mit Staatsdienern besetzt werden. Für die Berufung der Kreishauptmänner war nun das Innenministerium zuständig, und die Schöffen wurden von der Gouvernementsregierung ausgewählt.79 Im Vergleich zum ausgehenden 18. Jahrhundert war die Zahl der Beam75 Senatsukas vom 9.3.1826, in: PSZ II, Bd. 1, Nr. 188, S. 285–287, hier 286. 76 Vgl. z. B. die durch den Zaren bestätigte Ansicht des Reichsrates vom 14.6.1827 zu einem Fall aus Grodno im Jahr 1827, in: PSZ II, Bd. 2, Nr. 1.174, S. 531–532. 77 Verordnung des Ministerkomitees vom 19.10.1826, in: PSZ II, Bd. 1, Nr. 628, S. 1055–1056. 78 Vgl. die Korrespondenz der Minsker Gouvernementsregierung mit dem Gouvernementsmarschall von Minsk im Herbst 1835, in: NIAB f. 320, o. 1, d. 157, l. 81–82ob; ebd. d. 159, l. 17–18; ebd. d. 160, l. 12ob.-14ob. 79 Senatsukas vom 9.3.1826, in: PSZ II, Bd. 1, Nr. 188, S. 285–287, hier 286.



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ten im Zarenreich deutlich gestiegen. Die Besetzung von Wahlämtern mit lokalen Notablen war weit weniger notwendig geworden.80 Die Regierung konnte es sich deshalb erlauben, vakante Stellen fortan mit Staatsdienern aufzufüllen.81 Das von Nikolaus I. nach dem Dekabristenaufstand einberufene „Komitee des 6. Dezember 1826“ hatte vorgeschlagen, im Falle eines Mangels an adligen Kandidaten die vakanten Posten mit vornehmen Bürgern zu besetzen.82 Nikolaus I. vertraute jedoch seinen Staatsdienern grundsätzlich mehr als einer Partizipation gesellschaftlicher Kräfte und griff diesen Vorschlag nicht auf. In den Westgouvernements fielen also zwei politische Tendenzen zusammen. Einerseits wurde dort das Wahlrecht eng an den Staatsdienst und an das Erreichen eines bestimmten Ranges gekoppelt. Andererseits bot die Besetzung vakanter Stellen der Staatsgewalt die Möglichkeit, einen stärkeren Einfluss auf das Personal der lokalen Administration zu nehmen. Diesen Zusammenhang erkannte auch die zarische Regierung. Verordnungen, welche die Wählbarkeit von Adligen einschränkten, enthielten in der Regel zugleich den Hinweis auf die alternative Möglichkeit, auf frei bleibende Stellen staatliche Kandidaten zu setzen.83 Katharina II. und Alexander I. hatten die Besitzverhältnisse des Adels in den Mittelpunkt ihrer Gesetzgebung gestellt, da ihnen als Leitbild eine lokale Elite vorschwebte, die staatliche Aufgaben in der Provinz eigenständig löste. Nikolaus I. dagegen betrachtete den Adel in erster Linie als Gefolgschaft, welche die Anordnungen des Zaren vor Ort bereitwillig umsetzte. Dienst und Rang galten in seinen Augen als Ausdruck politischer Loyalität. Aus diesem Grunde waren die Ausnahmen, welche die zarische Regierung unter seiner Führung beim Wahlrecht gewährte, eng mit alternativen Loyalitätsbekundungen verknüpft, etwa einem langjährigen Staatsdienst oder der Beteiligung bei der Niederschlagung des Novemberaufstandes. Die große Bedeutung, die Nikolaus I. der Loyalität des Adels beimaß, führte zu einem neuen Problem: Wie sollte man mit denjenigen Adligen verfahren, die zwar die gesetzlichen Voraussetzungen für die Teilnahme an der Adelsversammlung erfüllten, jedoch unter polizeilicher Aufsicht standen? Mit dieser Frage beschäftigte sich die zarische Regierung zum ersten Mal bereits zwei Jahre vor dem Novemberaufstand 1830/31. Am 9. Februar 1829 setzte die Gouvernementsregierung in 80 Vgl. Walter M. Pintner: The Evolution of Civil Officialdom, 1755–1855, in: ders.  / Don Karl Rowney (Hg.): Russian Officialdom. The Bureaucratization of Russian Society from the Seventeenth to the Twentieth Century, Reprint Houndmills 2001, S. 190–226, hier 192. 81 Statut über die Ordnung der Adelsversammlungen, der Adelswahlen und des Dienstes in Wahlämtern vom 6.12.1831, in: PSZ II, Bd. 6,2, Nr. 4.989, S. 247–273, hier 263. 82 Vgl. Torke: Das russische Beamtentum, S. 34f. Zum „Komitee des 6. Dezember 1826“ vgl. Lincoln: Nikolaus I., S. 116–125. 83 Vgl. zum Beispiel den Namentlichen Ukas Nikolaus’ I. vom 12.12.1835, in: PSZ II, Bd. 10,2, Nr. 8.463, S. 1012–1013.

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Kiew die Dritte Abteilung Seiner Kaiserlichen Majestät Höchsteigenen Kanzlei – einer von Nikolaus 1826 eingerichteten Staatspolizei, die das öffentliche Leben wie den gesamten Staatsapparat überwachen sollte – davon in Kenntnis, dass an den vergangenen Adelswahlen eine Reihe von Adligen teilgenommen hätten, die unter der geheimen Aufsicht der Polizei stünden. Die Gouvernementsregierung erwartete von der Dritten Abteilung nun Instruktionen, wie in diesem Fall weiter zu verfahren sei.84 Der Leiter der Dritten Abteilung, Alexander Benckendorff, sandte daraufhin eine Liste mit den Namen jener Adligen nach Kiew, die unter der geheimen Aufsicht der Polizei standen: vier von ihnen wegen Mitgliedschaft in einer Geheimgesellschaft sowie der Teilnahme am Dekabristenaufstand, zwei wegen einer ungesetzlichen politischen Meinung, einer wegen Trunkenheit sowie Gewalttätigkeit und ein letzter wegen seines ausschweifenden Lebenswandels.85 Am 15. September 1829 erfolgte die Entscheidung des Innenministeriums, diese neun Personen von den Adelswahlen auszuschließen.86 Dieser Präzedenzfall hatte ein grundsätzliches Problem aufgeworfen. Konnte man Adligen, die unter polizeilicher Aufsicht standen, ihre adligen Rechte entziehen? Da nur ein polizeilicher Verdacht vorlag und noch kein Gerichtsverfahren eingeleitet worden waren, fehlte eigentlich die gesetzliche Grundlage für einen Entzug des Wahlrechts. Benckendorff entschied die Frage jedoch nicht nach juristischen Gesichtspunkten, sondern nach eigenen Kriterien. Er ordnete den Ausschluss der sechs politisch Verdächtigen an und erlaubte den beiden Adligen mit unstetem Lebenswandel die Teilnahme an den Wahlen. Die Gouvernementsregierung von Kiew erhob gegen diese Anweisung rechtliche Bedenken. Sie könne nur denjenigen Adligen das Wahlrecht entziehen, deren polizeiliche Aufsicht von einem Gericht angeordnet worden sei. Die besagten Adligen stünden jedoch lediglich unter geheimer polizeilicher Aufsicht. Benckendorffs Gehilfe vor Ort schlug deshalb vor, sich auf eine kaiserliche Anordnung zu berufen, welche alle Teilnehmer am Dekabristenaufstand von den Adelswahlen ausschloss.87 Dieser Schachzug schlug jedoch offenbar fehl. Bei den Wahlen wurde einer der betreffenden Adligen zum Kandidaten für das Amt eines Kreisadelsmarschalls gewählt. Dieser Umstand rief nun den Kiewer Militärgouverneur auf den Plan. Er war besorgt, dass hier ein Präzedenzfall geschaffen würde und alle anderen 84 Schreiben Arsenij Zakrevskijs an Alexander Benckendorff vom 9.2.1829, in: GARF f. 109, op. 4, d. 79, l. 1–1ob. 85 Schreiben Alexander Benckendorffs an Arsenij Zakrevskij vom 12.2.1829, in: GARF f. 109, op. 4, d. 79, l. 2–3ob. 86 Schreiben des Geheimen Staatsrates Ėngel’ an Alexander Benckendorff vom 15.9.1829, in: GARF f. 109, op. 4, d. 79, l. 4–4ob. 87 Schreiben Arsenij Zakrevskijs an Alexander Benckendorff vom 20.10.1829, in: GARF f. 109, op. 4, d. 79, l. 5–7.



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Adligen, die unter geheimer Polizeiaufsicht stünden, ebenfalls zu den Wahlen zugelassen werden müssten.88 Dieses Beispiel verdeutlicht, dass selbst bei klarer Rechtslage die tatsächliche Praxis vor Ort ausgehandelt wurde. Im Grunde hätten alle acht Adligen zur Wahl zugelassen werden müssen, da kein Gericht die Polizeiaufsicht über sie verhängt hatte. Die Dritte Abteilung bewegte sich allein schon mit der Anordnung einer „geheimen Aufsicht“ in einer rechtlichen Grauzone. Eindeutig gesetzeswidrig war es jedoch, den Adligen allein aufgrund der Verdächtigungen durch die Geheimpolizei das Wahlrecht zu entziehen. Dennoch setzte die Dritte Abteilung alle Hebel in Bewegung, um deren Teilnahme an den Wahlen zu verhindern. Der Kiewer Gouverneur beurteilte die Rechtslage anders und kam der Forderung Benckendorffs zumindest nicht in allen acht Fällen nach. Die nach den Wahlen vom Militärgouverneur geäußerten Bedenken deuten allerdings auf eine unterschiedliche Auslegung des Falles durch die lokalen Verantwortlichen hin. Vermutlich war die Zulassung eines Teils der unter Verdacht stehenden Adligen ein Kompromiss, den man vor Ort gefunden hatte. Die Aussicht jedoch, dass einer dieser „unsicheren Kantonisten“ das Amt eines Kreisadelsmarschalls übernehmen könnte, brachte diese Einigung wieder ins Wanken. Der Novemberaufstand von 1830/31 verschärfte das Problem noch zusätzlich. Für die zarische Regierung stand außer Frage, dass Aufständische an Wahlen teilnehmen oder gar selbst in ein Amt gewählt werden konnten. Sie gab sich mit dem Ausschluss rechtmäßig Verurteilter jedoch noch nicht zufrieden. Der Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien, Vasilij V. Levašov, ordnete vielmehr an, dass sowohl den Adligen, gegen die ein Untersuchungsverfahren wegen einer Teilnahme am Aufstand anhängig sei, als auch jenen, die wegen eines solchen Verdachts unter polizeilicher Aufsicht stünden, die Mitwirkung an den Adelswahlen versagt werden sollte.89 In dieser Verordnung kommt das inzwischen tief sitzende Misstrauen zarischer Amtsträger gegenüber der Szlachta zum Ausdruck. Verdachtsmomente von Seiten der Polizei sollten jetzt schon ausreichen, um einen polnischen Adligen aufgrund mangelnder Loyalität seiner politischen Rechte zu berauben. Selbst der Gouverneur von Wolhynien, Andrej P. Rimskij-Korsakov, konnte seine Verwunderung über eine solche Maßnahme kaum verhehlen und fragte noch einmal nach, ob diese Maßnahme tatsächlich in ihrer jetzigen Form umzusetzen sei. Er wies darauf hin, dass in Wolhynien gegen zahlreiche Adlige, die unter polizeilicher Aufsicht stünden, gar kein Untersuchungsverfahren anhän88 Schreiben Arsenij Zakrevskijs an Alexander Benckendorff vom 24.4.1830, in: GARF f. 109, op. 4, d. 79, l. 11–12. 89 Vgl. das Antwortschreiben des Gouverneurs von Wolhynien an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 16.7.1832, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1265, l. 19–19ob.

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gig sei. Sie würden keiner aktiven Teilnahme am Aufstand verdächtigt, sondern hätten sich nur durch den Besitz von Waffen oder eines unerlaubten Grenzübertritts nach Galizien verdächtig gemacht.90 Rimskij-Korsakov konnte sich mit seinen Argumenten nicht durchsetzen: Adlige unter polizeilicher Aufsicht blieben von den Wahlen ausgeschlossen. Der Gouverneur äußerte auch noch drei Jahre später seine Bedenken gegen eine Praxis, die Adlige aufgrund eines unerlaubten Grenzübertritts wie Verräter behandelte. Er setzte dem Generalgouverneur auseinander, dass man hier zwischen zweierlei Phänomenen zu unterscheiden habe. Auf der einen Seite gebe es durchaus Adlige, die zusammen mit den Aufständischen über die Grenze geflüchtet seien, um sich dem Zugriff der zarischen Truppen zu entziehen. Diese befänden sich in der Regel nicht nur unter polizeilicher Aufsicht, sondern stünden wegen der Beteiligung am Aufstand auch vor Gericht. Auf der anderen Seite hätten sich zahlreiche Adlige gar nicht mit den Aufständischen solidarisiert, sondern seien allein vor den Unruhen geflüchtet, um in Galizien das Ende der Gewalt abzuwarten. Nach der Niederschlagung des Aufstandes seien sie mit Erlaubnis der Gouvernementsregierung wieder an ihre Wohnorte zurückgekehrt. Rimskij-Korsakov wies abschließend darauf hin, dass gemäß dem Wahlstatut aus dem Jahr 1831 sogar beide Gruppen das Recht hätten, an den anstehenden Adelswahlen teilzunehmen, und bat um Instruktionen, wie in diesem Fall zu verfahren sei.91 Auch wenn die Entscheidung des Generalgouverneurs nicht überliefert ist, so zeichnete Rimskij-Korsakov bereits eine mögliche Kompromisslinie vor: den Ausschluss allein derjenigen Adligen, die gemeinsam mit den Aufständischen die russisch-österreichische Grenze illegal übertreten hatten. Eine solche Regelung hätte die praktizierte Einzelfallregelung ersetzt. In den Akten finden sich zahlreiche Eingaben von Adligen, die dem Entzug ihres Wahlrechts widersprachen und dabei argumentierten, dass sie zwar die Grenze illegal überquert, jedoch nicht am Aufstand teilgenommen hätten. Deshalb stünden sie zu Unrecht unter polizeilicher Aufsicht.92 Die Frage nach dem Umgang mit Adligen, die auf ungeklärte Weise in das Aufstandsgeschehen involviert waren, beschäftigte die zarischen Behörden hingegen noch bis zum Jahr 1848. Erst zu diesem Zeitpunkt wurden die Teilnehmer des Novemberaufstands wieder zu den Wahlen zugelassen.93 In der Praxis partizipierten die Aufstandsteilnehmer allerdings bereits vor 1848 regelmäßig an den Wahlen. Die Staatsgewalt hatte trotz der sich ausweitenden 90 Ebd. 91 Schreiben des Gouverneurs von Wolhynien an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 15.5.1835, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1882, l. 45–46. 92 Vgl. dazu u.a. das Schreiben des Gouverneurs von Wolhynien an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 19.7.1832, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1265, l. 23–24ob. 93 Namentlicher Ukas Nikolaus’ I. vom 15.10.1848, in: PSZ II, Bd. 23, Nr. 22.652, S. 646–647.



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Überwachungstätigkeit der Dritten Abteilung nicht die Möglichkeit, jeden Adligen in den polnischen Provinzen zu überprüfen. Als das Komitee für die Westgouvernements im Januar 1834 eine Stichprobe durchführte und die Mitwirkenden der letzten Wahl im Gouvernement Kiew überprüfte, entdeckte es sowohl unter den Wählern als auch unter den gewählten Amtsträgern eine ganze Reihe von Aufständischen.94 Das Komitee machte den Generalgouverneur Levašov für diesen Missstand verantwortlich. Der Zar nahm diesen Vorfall sehr ernst. Er bestellte Levašov zu einer Audienz ein und verlangte einen persönlichen Rechenschaftsbericht über die Zustände im Gouvernement Kiew.95 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die zarische Gesetzgebung bestrebt war, die polnischen Landtage nach und nach in eine Veranstaltung des besitzenden und verdienten Adels umzuwandeln. Die Weichen stellte bereits Katharina II. Sie machte Dienst und Besitz zur Voraussetzung für die erstmals verliehenen korporativen Standesrechte des Adels. Dieses Prinzip übertrug sie nach den Teilungen auch auf die annektierten polnischen Gebiete. Unter Paul I. erfolgte eine Rückkehr zu polnischem Recht. Dies war jedoch nur ein kurzes Zwischenspiel. Alexander I. setzte über den Umweg zahlreicher Übergangslösungen den gesetzlichen Wahlzensus bis zum Ende seiner Herrschaft durch. Nikolaus I. beseitigte die letzte Ausnahmeregelung für die Szlachta, indem er auch in den Westgouvernements den Militär- oder Staatsdienst zur Vorraussetzung für die Teilnahme an den Adelswahlen erhob. Nikolaus I. vollendete das politische Ziel Katharinas II., die polnischen Landtage in russische Adelsversammlungen umzuwandeln. Der Enkel verfolgte jedoch nicht mehr jene Homogenisierungsabsichten der Großmutter. Mit dem Novemberaufstand hatte sich in den zarischen Regierungskreisen ein Polenbild durchgesetzt, in dem die Szlachta als illoyale Unruhestifter galt. Seit 1855 durften nichtorthodoxe Einwohner der Westgouvernements nur noch ein Amt übernehmen, wenn sie vorher mindestens zehn Jahre in einem großrussischen Gouvernement gedient hatten.96 Ein solcher Vorschlag verriet immerhin noch den Glauben, potentiell untreue Polen könnten in einer russischen Umwelt zu zuverlässigen Untertanen des Zaren erzogen werden. Die Polen wurden also dazu angehalten, das zarische Normen94 Journal des Komitees für die Westgouvernements, Eintrag vom 5.2.1834, in: RGIA f. 1266, op. 1, d. 14, l. 18–22. 95 Journal des Komitees für die Westgouvernements, Eintrag vom 5.5.1834, in: RGIA f. 1266, op. 1, d. 14, l. 166–171ob. 96 S. M. Seredonin: Istoričeskij obzor dejatel’nosti komiteta ministrov. K stoletiju komiteta ministrov (1802–1902), 5 Bde., St. Petersburg 1902, Bd. 3,1, S. 160. Zwei Jahre später hob Alexander II. diese Bestimmung, die auch auf Widerstand im Minsterkomitee gestoßen war, wieder auf, vgl. ebd., S. 164f.

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und Wertegerüst zu verinnerlichen und sich an die russische Kultur anzupassen. Nikolaus I. verfolgte somit eine normative Integrationspolitik mit den Mitteln der Akkulturation. Die zarische Regierung ging zwar nicht offen gegen die polnische Sprache und Kultur vor, doch versprach sie sich von einem Leben in einer russischen Umwelt die automatische Aneignung der russischen Sprache, Sitten und Gewohnheiten.97 Trotz des pauschalen Misstrauensvorschusses gegenüber dem polnischen Adel kann die zarische Politik gegenüber der Szlachta nicht als ein Ausschluss aus der zarischen Gesellschaft verstanden werden. Ihre Einbindung in den Militär- und Staatsdienst folgte eher einer Inklusionsstrategie. Allerdings erfolgte Exklusion in vormodernen Gesellschaften häufig durch die Verweigerung von Partizipationsmöglichkeiten.98 Der Ausschluss des besitzlosen Kleinadels, der Szlachta ohne russischen Dienstrang und später der vermeintlich Illoyalen von den Adelsversammlungen verwehrte diesen Adligen den Zugang zur politischen Partizipation und kam einer Exklusion aus der staatlichen Elite des Zarenreiches gleich. Das Pendant zur Akkulturation des polnischen Adels mithilfe eines langjährigen Diensts in staatlichen Institutionen des Zarenreichs war die „Russifizierung des Raumes“ durch die Ansiedlung russischer Adliger in den Westgouvernements. Wiederholt sprachen sich Gouverneure dafür aus, mit allen Mitteln die Zahl der russischen Gutsbesitzer in den Adelsversammlungen zu erhöhen. Das Ziel war, eine aus Russen bestehende Mehrheit zu erwirken, um anschließend dem polnischen Adel alle Entscheidungen diktieren zu können. Das Komitee für die Westgouvernements wies solche Forderungen zwar als rechtswidrig zurück, stimmte aber dem Anliegen grundsätzlich zu, den Einfluss russischer Gutsbesitzer zu stärken.99 Nach dem Novemberaufstand schlug in der russischen Regierung also ein Denken in nationalen Kategorien Wurzel. Auch wenn sich die Vertreter einer nationalen Sicht nicht immer durchsetzen konnten und sich deren Vorstellungen in der Gesetzgebung nur partiell widerspiegeln, so existierte zumindest eine Denkweise, die eine einfache und scheinbar schlüssige Erklärung für die künftigen Konflikte zwischen russischer Staatsgewalt und polnischem Adel zur Verfügung stellte. In der Ära Nikolaus’ I. begann auch die uneinheitliche Behandlung der einzelnen Westgouvernements. Als die Regierung im Oktober 1831 den Einfluss des Adels zurückzudrängen und gleichzeitig die Rolle der staatlichen Beamten zu stärken versuchte, nahm sie die Gouvernements Mogilëv und Vitebsk von die97 Vgl. Robert Redfield / Ralph Linton / Melville J. Herskovits: Memorandum for the Study of Acculturation, in: American Anthropologist 38 (1936), S. 149–152. 98 Vgl. Stichweh: Inklusion und Exklusion, S. 18f. 99 Journal des Komitees für die Westgouvernements, Eintrag vom 17.2.1833, in: RGIA f. 1266, op. 1, d. 12, l. 13–19ob.



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sen Maßnahmen ausdrücklich aus.100 Dort wurden sowohl die Kreishauptmänner als auch die Schöffen weiterhin durch Wahlen bestimmt.101 Diese Differenzierung hatte ihre kurzfristigen Ursachen darin, dass die Beteiligung der Szlachta am Novemberaufstand in Mogilëv und Vitebsk am geringsten war.102 Spätestens jetzt hielt die Regierung die Integration der Gebiete, die bereits 1772 annektiert worden waren, für weiter fortgeschritten als die Eingliederung jener Provinzen, deren Umprägung erst vor 20 Jahren begonnen hatte. Diese Ungleichbehandlung setzte sich in den folgenden Jahren fort. So galten die Verordnungen, die einen Rang oder eine zehnjährige Dienstzeit als Voraussetzung für das adlige Wahlrecht machten, weder in den weißrussischen Gouvernements Mogilëv und Vitebsk noch im Gouvernement Kiew.103 Kiew war das östlichste der ukrainischen Gouvernements rechts des Dnjeprs und seine Gouvernementsstadt war schon seit dem Frieden von Andrusovo im Jahre 1667 Bestandteil des Russischen Reiches. Auch in diesem Fall sah die zarische Regierung die polnische Prägung offenbar verblassen. Die politische Linie, die sich in der zarischen Gesetzgebung niederschlug, gibt jedoch nicht die Einstellung aller staatlichen Repräsentanten wieder. So setzte sich der Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien, Dmitrij Bibikov, wiederholt für eine Lockerung des durch Nikolaus I. eingeschränkten Wahlrechts ein. Im Jahr 1845 richtete er zum Beispiel ein Gesuch an den Zaren, die Adelswahlen in Podolien nach dem gleichen Recht wie in Kiew abzuhalten. Er argumentierte, dass eine Rückkehr zur früheren Regelung einen gesunden Einfluss auf den Adel in allen Westgouvernements ausüben würde, da eine solche Regelung den guten Willen der Regierung beweise.104 Der Zar entsprach dem Gesuch. Zwei Jahre später erwirkte Bibikov, dass diese Bestimmung auch im Gouvernement Wolhynien in Kraft gesetzt wurde.105 Häufig forderten die Repräsentanten der Staatsgewalt vor Ort ein pragmatisches Vorgehen ein. Die Gouverneure waren an der Funktionsfähigkeit der Lokalverwaltung interessiert und machten sich deshalb für Kandidaten stark, die sie 100 Namentlicher Ukas Nikolaus’ I. vom 30.10.1831, in: PSZ II, Bd. 6,2, Nr. 4.894, S. 159–160. 101 Kaiserlich bestätigte Verordnung des Ministerkomitees vom 30.1.1832, in: PSZ II, Bd. 7, Nr. 5.124, S. 52–53; Siehe auch Michail O. Bez-Kornilovič: Istoričeskija svedenija o primečatel’nejšych mestach v Belorussii s prisovokupleniem i drugich svedenij k nej že otnosjaščichsja, St. Petersburg 1855 (Reprint 1995), S. 333. 102 Vgl. Ol’ga V. Gorbačëva: Vosstanie 1830–1831 gg. na Belarusi, kand. diss., Minsk 1995, S. 127. 103 Vgl. den Namentlichen Ukas Nikolaus’ I. vom 12.12.1835, in: PSZ II, Bd. 10,2, Nr. 8.463, S. 1012–1013; Kaiserlich bestätigte Verordnung des Ministerkomitees vom 6.5.1841, in: PSZ II, Bd. 16,1, Nr. 14.531, S. 377–379. 104 Kaiserlich bestätigte Verordnung des Komitees für die Westgouvernements vom 23.3.1845, in: PSZ II, Bd. 20, Nr. 18.860, S. 295. 105 Senatsukas vom 23.1.1847, in: PSZ II, Bd. 22, Nr. 21.663, S. 84–85.

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aufgrund ihres persönlichen Eindrucks für zuverlässig hielten, denen jedoch die gesetzlichen Voraussetzungen für ein Wahlamt fehlten. Im Jahr 1845 bat der Gouverneur von Wilna in insgesamt 44 Einzelfallentscheidungen um individuelle Wahlzulassungen, der Gouverneur von Minsk stellte 33 und der Gouverneur von Grodno zehn derartige Anträge. Anders als zur Regierungszeit Alexanders I., der solchen Bitten in der Regel stattgab, war Nikolaus I. weit weniger bereit, gesetzliche Ausnahmen zuzulassen. In diesem Jahr lehnte er alle 87 Gesuche der drei Gouverneure ab.106 Insgesamt war die normative Integrationspolitik Nikolaus’ von der Sehnsucht nach Stabilität des Reiches geprägt. Doch anders als die Gouverneure sah der Zar nicht, dass politische Partizipation eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Elitenintegration war. Unter diesem blinden Fleck hatten auch integrationsbereite polnische Adlige zu leiden. Als der Adel der Gouvernements Wilna und Minsk darum bat, die gleichen Rechte und Privilegien zu erhalten, die auch der Adel in den großrussischen Gebieten des Reiches besitze, wies die zarische Regierung dieses Ansinnen kategorisch zurück. Dem Wilnaer und Minsker Adel war es dabei insbesondere darum gegangen, dass auf lokaler Ebene mehr Ämter durch Wahlen besetzt und in den Ministerien in St. Petersburg mehr katholische Bewerber zum Zuge kommen sollten. Die Szlachta zeigte sich somit bereit und willens, mehr politische Verantwortung vor Ort und in der Hauptstadt des Imperiums zu übernehmen. Die zarische Regierung begegnete diesem Ansinnen mit Unverständnis und Misstrauen. Der Wilnaer Generalgouverneur, Fëdor Ja. Mirkovič, betonte, dass die Ungleichbehandlung von polnischem und russischem Adel der Rechtslage entspreche. Außerdem sei es durchaus sinnvoll dass die Krone die wichtigen Richterstellen in den Westgouvernements besetze, da dort häufig Glaubenssachen verhandelt werden. Der katholische Klerus, aber auch die vom rechten Weg der Orthodoxie abgekommenen Unierten machten sich häufig Verbrechen gegen den Glauben schuldig. Diesen Vergehen müssten staatliche Amtsträger nachgehen. Und da es in den Westgouvernements von Zeit zu Zeit immer noch politische Unruhen gäbe, könnten auch die örtlichen Polizeikräfte nicht vom Adel gewählt werden, da sonst die Unterbindung derartiger Tätigkeiten nicht gewährleistet sei. Dmitrij G. Bibikov, Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien, bestätigte die Ansichten Mirkovičs ausdrücklich, und auch der Innenminister schloss sich dieser Auffassung an. Der Wunsch des Wilnaer und Minsker Adels nach mehr politischer Partizipation wurde zurückgewiesen.107

106 Vgl. Lugovcova: Politika Rossijskogo samoderžavija, S. 37. 107 Journal des Komitees für die Westgouvernements, Eintrag vom 2.5.1842, in: RGIA f. 1266, op. 1, d. 30, l. 110–120.



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Nach Ralf Dahrendorf führt es zur sozialen Desintegration, wenn einem Kreis von Personen die Möglichkeit verwehrt wird, ihre Interessen innerhalb einer Gruppe durchzusetzen, und der Personenkreis infolgedessen die mangelnde Befriedigung ihrer Interessen auf die Gruppenmitgliedschaft selbst zurückführt. In solchen Fällen, so Dahrendorf, organisieren sich die desintegrierten Gruppenmitglieder zu einer eigenen Gruppe. Hier schlägt die „latente“ Interessenlage in eine „manifeste“ Interessenartikulation um. Die kleinere Gruppe muss einen Konflikt mit den anderen Gruppenmitgliedern riskieren, um ihre Interessen durchzusetzen.108 Indem Nikolaus I. die politische Partizipation des polnischen Adels einschränkte, trug er in der Tat zu dessen sozialer Desintegration und zur nationalen Selbstorganisation bei. Da sich die polnische Nationalbewegung die Überwindung der Teilung auf die Fahnen geschrieben hatte, erreichte der Zar letztlich das Gegenteil von dem, was er beabsichtigt hatte: Das Reich wurde nicht stabilisiert, sondern durch die offene polnische Frage destabilisiert.

2. Oligarchische Veranstaltung oder Re präsentationsorgan des Adels? Die Wahlbeteiligung in den A delsversammlungen der Westgouvernements Die zarische Gesetzgebung lässt naturgemäß keine Rückschlüsse auf die tatsächliche Teilnahme an den Adelswahlen zu. Wiederholte Klagen der staatlichen Repräsentanten über die rechtswidrige Wahlbeteiligung von Adligen weisen vielmehr auf eine Diskrepanz zwischen gesetzlicher Norm und sozialer Praxis hin. Wie viele Adlige nahmen also tatsächlich an den Wahlen teil? Diese Frage wirft erhebliche methodische Probleme auf. Zum einen sind die Teilnehmerzahlen für die einzelnen Adelswahlen nur lückenhaft überliefert. Verlässliche Daten stehen erst für die dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts zur Verfügung. Zum anderen bleibt das tatsächliche Ausmaß von gesetzwidriger Wahlbeteiligung im Dunkeln. Überliefert sind nur diejenigen Fälle, die den zarischen Behörden bekannt und deshalb aktenkundig geworden sind, und die Dunkelziffer dürfte die Zahl der aufgedeckten Fälle bei weitem übersteigen. Die tatsächliche Teilnahme an den Adelswahlen lässt sich aufgrund dessen nur annähernd bestimmen. Die Praxis der unrechtmäßigen Teilnahme an den Wahlen kann überhaupt nicht quantifiziert, sondern nur anhand einiger typischer Einzelfälle nachgezeichnet werden. Am dürftigsten ist die Überlieferung des 18. Jahrhunderts. Bekannt ist, dass 1789 im Gouvernement Polock nur 219 Adlige wahlberechtigt waren. 80 Prozent 108 Ralf Dahrendorf: Zu einer Theorie des sozialen Konflikts, in: Wolfgang Zapf (Hg.): Theorien des sozialen Wandels, Köln, Berlin 1969, S. 108–123.

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des Adels waren hingegen von den Wahlen ausgeschlossen: vorwiegend Kleinadlige, die kein Landgut besaßen.109 Im Gouvernement Minsk war der Anteil der Wähler noch geringer. Dort fanden sich von insgesamt 21.819 männlichen Adligen nur 443 Vertreter zu den Kreisadelswahlen ein.110 Diese Zahlen sprechen für eine recht wirkungsvolle Durchsetzung des Wahlzensus, den Katharina II. mit der Gnadenurkunde vier Jahre zuvor erlassen hatte. Unter den gewählten Amtsträgern finden sich dementsprechend auch keine besitzlosen, jedoch erstaunlich viele Kleinadlige. Rund drei Viertel der gewählten Schöffen in den niederen Landgerichten besaßen zwischen 50 und 60 Seelen. In die Stellung des Kreishauptmannes wurden noch ärmere Adlige gewählt: Sie hatten im Durchschnitt nur 25 Seelen.111 Leider sind für diese Wahlen keine Angaben für die gewichtigen Ämter des Adelsmarschalls oder des Vorsitzenden des Hauptgerichts überliefert. Dennoch kann man an diesen Zahlen zweierlei ablesen: Der Bruch zwischen den Landtagen zu Zeiten der Adelsrepublik und den ersten Adelsversammlungen unter russischer Herrschaft war abrupt, sichtbar und fühlbar. Der Ausschluss der überwiegenden Mehrheit des Provinzadels machte aus einer einst unübersichtlichen Versammlung von über Tausend Adligen ein Repräsentationsorgan mit 210 Mitgliedern. Diese Adelsvertretung wählte jedoch nicht die Vermögenden und Reichen aus ihrer Mitte in die staatlichen Ämter, sondern die ärmeren ihrer Angehörigen. Leider liegen keine Teilnehmerzahlen zu den Adelsversammlungen jenes kurzen Zeitabschnitts vor, in dem der Wahlzensus und alle weiteren Einschränkungen durch Paul I. wieder abgeschafft worden waren. Da Adelsversammlungen jedoch nur noch auf Kreisebene stattfanden, ist auch hier mit überschaubaren Teilnehmerzahlen zu rechnen. Anfang des 19. Jahrhunderts, nachdem Alexander I. die Bestimmungen der Gnadenurkunde wieder in Kraft gesetzt hatte, gleicht das Bild jenem aus der Herrschaftszeit Katharinas II. Der Adelsmarschall von Wilna beklagte sich über die niedrige Wahlbeteiligung in seinem Gouvernement.112 Allerdings ist von diesen Wahlen auch ein Verstoß gegen den Wahlzensus überliefert. Der Kreisadelsmarschall von Lida hatte die Abstimmung manipuliert, indem

109 Vgl. Jaŭgen K. Aniščanka: Dvaranskija vybary ŭ Polackim namesnictve 1789 g., in: Vesci Akademii navuk Belarusi. Seryja hramadskich navuk 1992, H. 3–4, S. 49–56, hier 50–52. 110 Vgl. Jaŭgen K. Aniščanka: Inkarparacyja. Litoŭskaja pravincyja ŭ padzelach Rėčy Paspalitaj, Minsk 2003, S. 306ff. Die Wahlen auf Kreisebene fanden in der Regel drei Monate vor den Gouvernementsadelswahlen statt, vgl. Tamara E. Leont’eva (Hg.): Minskaja gubernija. Gosudarstvennye, religioznye i obščestvennye učreždenija (1793–1917), Minsk 2006, S. 85. 111 Vgl. Aniščanka: Dvaranskija vybary, S. 54f. 112 Bericht des Wilnaer Gouvernementsmarschalls an den Wilnaer Gouverneur, o. d. [1802], in: LVIA f. 391, op. 1, d. 1535, l. 64–83, hier 64ob.



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er eine Reihe von Minderjährigen und Besitzlosen an den Wahlen teilnehmen ließ. Auf diese Weise konnte er sich knapp gegen seinen Herausforderer durchsetzen.113 Von vergleichbaren Manipulationsfällen abgesehen fiel die Teilnahme an den Wahlen auch in den anderen Westgouvernements eher gering aus. In Kiew nahmen im Jahr 1802 auf Gouvernementsebene nur 482 Adlige an den Wahlen teil.114 Die soziale Zusammensetzung der Wählerschaft ist nicht überliefert. Immerhin waren zwei Magnaten, die ihren Lebensmittelpunkt in St. Petersburg hatten, aus der Hauptstadt angereist und wurden auch zu Mitgliedern der Adelsdeputiertenversammlung gewählt. Dieses Beispiel weist darauf hin, dass einzelne Magnaten den lokalen Adelswahlen eine gewisse Bedeutung schenkten und auch bereit waren, in ihrer Heimatprovinz politische Verantwortung zu übernehmen. Allerdings lässt sich von diesen beiden Einzelfällen nicht auf die allgemeinen Verhältnisse schließen. Im Gegenteil: Allein die Tatsache, dass der Adelsmarschall die Teilnahme der beiden Magnaten in seinem Schreiben an den Gouverneur besonders hervorhebt, deutet darauf hin, dass es sich hierbei eher um eine Ausnahme als um den Normalfall handelte.115 Zehn Jahre später gingen in Kiew noch weniger zur Wahl. Im Jahre 1811 fanden sich nur noch 343 Adlige in der Gouvernementsstadt ein.116 Die Wählerschaft setzte sich vorwiegend aus dem mittleren und vermögenden Adel zusammen. Im Kreis Čerkasy waren zum Beispiel 23 wahlberechtigte Adlige erschienen. Neben zehn Magnaten, von denen jeder mehr als ein Tausend Seelen besaß, entstammten zwölf Wähler dem mittleren und reichen Adel, der zwischen 100 und 1.000 Seelen sein Eigen nannte. Nur ein Teilnehmer hatte weniger als 100 Seelen.117 Diese Zusammenkunft entsprach also recht genau den Vorstellungen, die sich Katharina II. von den Adelsversammlungen gemacht hatte. Hier versammelte sich die regionale Elite und widmete sich lokalpolitischen Aufgaben, indem sie sich in Ämter wählen ließ und damit Verantwortung für ihre Provinz übernahm. Allerdings muss einschränkend hinzugefügt werden, dass in den ukrainischen Gouvernements sehr viel mehr vermögende Gutsbesitzer lebten als in Litauen und Weißrussland, wo sich die soziale Zusammensetzung des Adels in einer stär-

113 Schreiben des Wahlzensors an den Generalgouverneur von Litauen vom 3.11.1802, in: LVIA f. 378 o/o, god 1802, d. 528, l. 200-203. 114 Schreiben des Kiewer Gouvernementsmarschalls an den Militärgouverneur vom 7.9.1802, in: CDIAK f. 533, op. 1, d. 84, l. 2-2ob. 115 Schreiben des Kiewer Gouvernementsmarschalls an den Gouverneur vom 10.9.1802, in: CDIAK f. 533, op. 1, d. 84, l. 3. 116 Vgl. Schreiben des Kiewer Gouvernementsmarschalls an den Gouverneur vom 20.11.1811, in: CDIAK f. 533, op. 1, d. 1440a, l. 135. 117 Liste der wahlberechtigten Adligen des Kreises Čerkassk aus dem Oktober 1811, CDIAK f. 533, op. 1, d. 1440a, l. 23-24ob.

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keren Präsenz des Mittel- und Kleinadels bei den Wahlen widergespiegelt haben dürfte. In Kiew ging die Zahl der Teilnehmer an den Adelsversammlung in den folgenden Jahren kontinuierlich zurück. Im Jahr 1832 nahmen nur noch 241 Adlige an der Gouvernementsadelsversammlung teil und damit rund 100 Adlige weniger als noch 20 Jahre zuvor.118 Auch in den Kreisadelsversammlungen schrumpfte die Teilnehmerzahl. In Čerkasy war die Zahl der Wähler von 23 Adligen im Jahre 1811 auf sieben Edelleute im Jahre 1835 gefallen. Mag die kleine Gruppe von 23 Adligen noch alle wichtigen Familien und Parteiungen des Landkreises vertreten haben, so kann eine Versammlung aus sieben Personen kaum mehr als Repräsentationsorgan angesehen werden. Wie die folgende Aufstellung zeigt, waren auch in den anderen Kreisen des Gouvernements die Adelsversammlungen eher kleine Zirkel von durchschnittlich 20 Teilnehmern. Anzahl der Teilnehmer an den Adelswahlen im Gouvernement Kiew am 20.10.1835:119 Kreis

Kiew Vasil’kov Radomysl’ Skvira Man’kovka Lipovec Tarašča Uman’ Zvenigorodka Boguslav Čigirin Čerkasy Durchschnitt

Wähler

26 10 19 34 23 18 17 17 22 20 23 7 19,7

Eine solch niedrige Wahlbeteiligung hatte naturgemäß Auswirkungen auf den Ausgang der Wahlen. Im Kreis Uman’ bestand zum Beispiel der Kreis der Wähler 118 Vgl. die Ergebnisse der Adelsmarschallswahlen auf Kreisebene in Kiew vom 15.10.1832, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1263, l. 113-114ob. 119 Vgl. Aufstellung des Innenministeriums für den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 23.10.1835 über die Teilnahme an den Adelswahlen im Gouvernement Kiew 1835, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1880, l. 27-33ob.; Nachtrag zu dieser Aufstellung des Innenministeriums an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 23.10.1835, in: ebd., l. 34-35ob.; Nachtrag zu dieser Aufstellung des Innenministeriums an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 25.10.1835, in: ebd., l. 36-37ob.



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ausschließlich aus Amtsträgern.120 Eine Auswahl unter mehreren Bewerbern war hier mangels Kandidaten gar nicht mehr möglich. Stattdessen schoben sich die wenigen anwesenden Adligen die zu besetzenden Ämter gegenseitig zu. Diese Praxis stellte die zarische Staatsmacht vor ein Problem. Die gewählten Kandidaten waren alternativlos, auch wenn sie die gesetzlichen Voraussetzungen für das passive Wahlrecht nicht erfüllten. Wiederholt deckten die staatlichen Stellen derartige Unregelmäßigkeiten auf, mussten schließlich aber die gewählten Kandidaten in ihrem Amt bestätigen.121 Die zarischen Amtsträger vor Ort zeigten sich mit dieser Situation mitunter unzufrieden. So erkannte der Generalgouverneur gegenüber dem Vitebsker Adelsmarschall durchaus die Probleme an, die es bei den Adelswahlen regelmäßig gebe, weil sich zu wenige Adlige zur Wahl stellten oder nur solche, die nach dem geltenden Gesetz kein Wahlamt übernehmen dürften. Selbst alteingesessene Familien mit bedeutendem Grundbesitz seien von den Wahlen ausgeschlossen, da sie keinen entsprechenden Dienstrang hätten oder andere Bestimmungen nicht erfüllten. Diese Adligen fühlten sich zu Recht benachteiligt, und auch die lokale Gesellschaft sowie die Staatsgewalt vor Ort nähmen durch deren Abwesenheit Schaden.122 Der Generalgouverneur sah also keinen Sinn darin, die gesetzlichen Voraussetzungen für Wahlämter immer weiter zu erhöhen, wenn infolgedessen einflussreiche Adlige und fähige Personen für die Wahlämter nicht zur Verfügung stünden. Der drastische Einbruch der Wahlbeteiligung resultierte jedoch nur teilweise aus der fortschreitenden Einschränkung der Wahlberechtigung. Die allzu niedrigen Zahlen deuten vielmehr darauf hin, dass viele Adlige auf die Ausübung ihres Wahlrechts verzichteten. Die persönlichen Motive für eine solche Entscheidung sind im Einzelnen nicht zu ermitteln. Es ist aber durchaus vorstellbar, dass der verbreitete Wählerschwund mit dem Umstand zusammenhing, dass die Adelsversammlungen an Attraktivität verloren hatten.123 Denkbar ist auch, dass aufgrund der kleinräumigen Verhältnisse der lokale Adel sich schon vorab auf die Besetzung der Ämter geeinigt hatte. Der Wahlgang selbst wäre dann nur noch der Vollzug eines längst ausgehandelten Kompromisses gewesen. In diesem Fall hätte es tatsächlich ausgereicht, wenn nur die Amtsbewerber erschienen wären und die 120 Ebd. 121 So bestätigte zum Beispiel der Kiewer Gouverneur zwei Schöffen, denen gesetzliche Voraussetzungen für das passive Wahlrecht fehlten, vgl. das Schreiben der Kiewer Gouvernementsregierung an den Militärgouverneur von Kiew, Michail Miloradovič, vom 15.2.1812, in: CDIAK f. 533, op. 1, d. 1440a, l. 142–143. 122 Schreiben des Generalgouverneurs von Vitebsk, Mogilev, Smolensk und Kaluga an den Vitebsker Adelsmarschall vom 26.3.1830, in: NIAB f. 1297, o. 1, d. 5508, l. 5–6. 123 Daniel Beauvois deutet das Fernbleiben von den Adelswahlen sogar als „une résistance patriotique passive“, vgl. Beauvois: Pouvoir russe, S. 218.

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bereits feststehenden Kandidaten gewählt hätten. In Wilna äußerte der Gouverneur offen einen solchen Verdacht. Da allzu viele Wahlgänge einstimmig ausgegangen waren, unterstellte er dem Adel, er habe die Ämter nicht in geheimer Wahl, sondern einvernehmlich in offener Abstimmung besetzt.124 Eine solche Lenkung der Wahlen durch die lokalen Eliten hätte sicherlich zum Funktionieren der Adelsversammlungen beigetragen und wäre auch keine polnische Besonderheit gewesen. Wahlmanipulationen und Stimmenkauf waren in der frühen Neuzeit vielmehr ein europäisches Phänomen, das gerade in sozial fragmentierten Adelsgesellschaften ein stabilisierendes Element darstellte.125 Ein informelles Regelsystem zur Verteilung der lokalen Führungsämter lag also zunächst sowohl im Interesse der lokalen Eliten als auch des zarischen Staates. Allerdings bedeuteten derartige Wahlabsprachen auch, dass die Kommunikation der Adelsgesellschaft – entgegen der staatlichen Zielsetzung – inzwischen außerhalb der staatlichen Foren stattfand. Zudem ließen sich informell gesteuerte Wahlen leichter manipulieren. So verfolgte die Szlachta mitunter die Strategie, nicht wahlberechtigte Adlige so zahlreich in Ämter zu wählen, dass die zarische Staatsgewalt sich genötigt sah, diese mangels Alternativen zu bestätigen. Den staatlichen Behörden entging nicht, dass der Adel hier gezielt das Wahlrecht beugte. So warf die Kanzlei des Innenministeriums dem Gouvernementsmarschall von Wilna vor, der Adel habe dort bewusst eine große Zahl von Standesgenossen in Ämter gewählt, die vor Gericht angeklagt seien und deshalb über kein passives Wahlrecht verfügten. Der Adel habe den Eindruck erweckt, in einigen Kreisen mangele es an Wählern und man habe deshalb auch jene Adlige zugelassen, die wegen kleinerer Vergehen angeklagt seien. Dieses Vorgehen habe der Adelsmarschall damit begründet, dass er sich über die genaue Rechtslage im Unklaren gewesen sei. Er sei davon ausgegangen, dass nur im Falle einer Anklage wegen eines Kapitalverbrechens vor dem Strafgerichtshof der Ausschluss von den Adelswahlen erfolge.126 Der Gouverneur widersprach der Darstellung des Gouvernementsmarschalls entschieden. Es könne keine Rede davon sein, dass der Adel die gesetzliche Lage nicht gekannt habe. Er persönlich habe vor der Wahl die Rechtslage allen Adelsmarschällen noch einmal ausdrücklich ins Gedächtnis gerufen und darüber hinaus angeordnet, diese auch

124 Schreiben des Wilnaer Gouverneurs an den Gouvernementsmarschall, o. d. [März 1824], in: LVIA f. 391, op. 6, d. 189, l. 9–10. 125 Für den Fall der venezianischen Adelsrepublik vgl. Alexander Nützenadel: „Serenissima corrupta“. Geld, Politik und Klientelismus in der späten venezianischen Adelsrepublik, in: Jens Ivo Engels / Andreas Fahrmeir / Alexander Nützenadel (Hg.): Geld – Geschenke – Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa, München 2009 (= Historische Zeitschrift, Beihefte Bd. 48), S. 121–139. 126 Brief des Kanzleileiters des Innenministeriums an den Wilnaer Gouvernementsmarschall vom 26.2.1824, in: LVIA f. 391, op. 6, d. 189, l. 2–7 ob, hier 2–3.



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in den Kreisen bekannt zu machen.127 Das Innenministerium folgte in diesem Fall der Auffassung des Gouverneurs und stimmte der Rechtsauslegung des Adelsmarschalls nicht zu.128 Es bleibt also festzuhalten, dass man von einer niedrigen Wahlbeteiligung nicht ohne weiteres auf ein verbreitetes Desinteresse an den Adelswahlen schließen kann. Die entscheidende Rolle der Adelsmarschälle in der Kommunikation mit der zarischen Staatsgewalt sowie die alltägliche Bedeutung der Richter und Schöffen sprechen allein schon gegen eine solche Gleichgültigkeit. Zudem drohten die Magnaten ihren lokalen Einfluss zu verlieren, wenn sie auf die Mitsprache bei der Verwendung öffentlicher Mittel verzichteten.129 Und auch die exekutive Gewalt des Kreishauptmanns (zemskij ispravnik) war auf lokaler Ebene von großer Bedeutung. Aus diesem Grund richtete im Jahr 1824 der Adelsmarschall von Grodno, Graf Grabowski, im Namen des gesamten Adels ein Gesuch an den Innenminister, den Kreishauptmann nicht länger durch den Gouverneur zu ernennen, sondern durch den Adel wählen zu lassen. Grabowski begründete seine Forderung damit, dass der polnische Adel nicht anders als der russische behandelt werden sollte. Zwar habe es in der Vergangenheit Probleme mit einzelnen Amtsträgern gegeben, doch diese seien vor allem darauf zurückzuführen, dass jene die russische Sprache nicht ausreichend beherrscht hätten. Knapp 30 Jahren nach den Teilungen hätte sich der polnische Adel allerdings die russische Sprache und die administrative Praxis des Zarenreiches angeeignet. Eine Wahl des Kreishauptmanns gäbe dem Adel die Möglichkeit, dieses wichtige Amt mit einer erfahrenen und ernsthaften Persönlichkeit zu besetzen. Eine fortdauernde Schlechterstellung des polnischen Adels berge hingegen die Gefahr, dass dieser das Vertrauen in das Zarenreich vollständig verliere.130 Der Adel von Grodno hatte also ein großes Interesse daran, ein wichtiges Amt durch Wahlen selbst zu besetzen und argumentierte geschickt mit dem für die russische Politik so zentralen Loyalitätsgedanken. Die zarische Regierung kam diesem Wunsch nach mehr Partizipation jedoch nicht nach. Das Ministerkomitee lehnte das Gesuch schließlich ab, da die Polizeigewalt vor Ort 127 Schreiben des Wilnaer Gouverneurs an den Wilnaer Gouvernementsmarschall, o. d. [März 1824], in: LVIA f. 391, op. 6, d. 189, l. 9–10. 128 Brief des Kanzleileiters des Innenministeriums an den Wilnaer Gouvernementsmarschall vom 26.2.1824, in: LVIA f. 391, op. 6, d. 189, l. 2–7 ob, hier 6–6ob. 129 Diese Motivation für politisches Engagement vor Ort weist Tatjana Tönsmeyer für den böhmischen und englischen Adel nach, vgl. Tatjana Tönsmeyer: Adeliges Politisieren vor Ort. Böhmische Gemeindevertretungen und englische Grafschaftsräte (1848–1918), in: Jörn Leonhard / Christian Wieland (Hg.): What Makes the Nobility Noble? Comparative Perspectives from the Sixteenth to the Twentieth Century, Göttingen 2011, S. 188–200. 130 Denkschrift des Innenministeriums für das Ministerkomitee vom 16.1.1824 über die Bitte des Adels von Grodno, die Kreishauptmänner wählen zu dürfen, in: RGIA f. 1263, op. 1, d. 368, l. 486–491 ob, hier 486–487ob.

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zu wichtig sei, um sie dem polnischen Adel zu überlassen. Letzterer versuche mit diesem Anliegen doch nur, sich der staatlichen Aufsicht zu entziehen.131 In diesem Fall hat es also nicht am Interesse des Adels an lokalen Angelegenheiten gefehlt, sondern der zarischen Regierung am Willen, diese Bereitschaft für eine stärkere Einbindung der Szlachta zu nutzen. Auch die vorhandenen Zahlen stützen die Annahme, dass der Adel trotz geringer Beteiligung an den Wahlen dieser Einrichtung weder gleichgültig noch ablehnend gegenüberstand. Allerdings sind auch in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts die überlieferten Angaben so lückenhaft, dass sich keine eindeutige Entwicklung der Wählerschaft nachzeichnen lässt: Teilnehmer der Adelsversammlungen der Gouvernements Vitebsk, Mogilëv, Podolien, Wolhynien und Kiew in den Jahren 1829 bis 1837 bzw. 1838:132 1829

1832

1835

1837/38

Vitebsk

224

k. A.

k. A.

k. A.

Mogilëv

293

348

k. A.

17.461

Podolien

k. A.

k. A.

430

k. A.

Wolhynien

k. A.

383

730

582

Kiew

k. A.

241

236

k. A.

Die Mogilëver Adelswahlen von 1837 fallen im Vergleich zu den anderen Daten völlig aus dem Rahmen. In diesem Jahr nahmen rund 50-mal mehr Adlige an den 131 Ebd., l. 489ob.-491ob. 132 Die Angaben für Vitebsk stammen aus dem Schreiben des Gouverneurs von Vitebsk an den Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv und Smolensk vom 5.2.1829, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 4484, l. 18–19. Die Zahlen zu Mogilëv nach der Liste mit den Ergebnissen der Adelswahlen im Gouvernement Mogilëv vom 21.1.1829, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 3818, l. 10, der Liste mit den Ergebnissen der Adelswahlen im Gouvernement Mogilëv vom 4.6.1832, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 6198, l. 69–84 und der Aufstellung des Gouvernementsmarschalls von Mogilëv über die Anzahl der Adligen im Gouvernement Mogilëv vom 25.8.1837, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 4804, l. 33. Die Angabe für Podolien nach der Liste der Ergebnisse der Wahlen zum Kreisadelsmarschall aus dem Kreis Maševka am 6. und 7.9.1835, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 2630, l. 20–105. Die Zahlen für Wolhynien basieren auf den Abstimmungsergebnissen der im Gouvernement Wolhynien gewählten Kreisadelsmarschälle vom 30.7.1832, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1265, l. 111–119ob.; dass. vom 22.5.1835, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1882, l. 77–135; dass. vom 25.5.1838, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 2631, l. 71–141. Die Angaben zu Kiew schließlich basieren auf den Ergebnissen der Kreisadelsmarschallswahlen in Kiew vom 15.10.1832, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1263, l. 113–114ob. und der Aufstellung des Innenministeriums für den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 23.10.1835 über die Teilnahme an den Adelswahlen im Gouvernement Kiew 1835, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1880, l. 27–33ob. mit einem Nachtrag vom Innenministerium vom 23.10.1835, in: ebd., l. 34–35ob. und einem Nachtrag vom Innenministerium vom 25.10.1835, in: ebd., l. 36–37ob.



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Wahlen teil als noch fünf Jahre zuvor. Da die Zahl in Wolhynien eher rückläufig war, scheint hier ein regionales Ereignis dazu geführt zu haben, dass in diesem Jahr die Adligen so zahlreich zu den Wahlen strömten. Dieser statistische Ausreißer zeigt, dass sich die Szlachta den Adelswahlen im Zarenreich nicht grundsätzlich entzogen hat. Das Beispiel deutet vielmehr darauf hin, dass bei einem entsprechenden Anlass eine große Zahl von Wählern mobilisierbar war. Betrachtet man die Teilnehmerzahlen der einzelnen Kreise, dann wird sichtbar, dass es Ende der 1830er Jahre im gesamten Gouvernement eine deutlich höhere Wahlbeteiligung gab als in den Jahren zuvor: Teilnehmer der Kreisadelsversammlungen des Gouvernements Mogilëv in den Jahren 1829, 1832 und 1837:133 Kreise Mogilëv Čausy Babinoviči Mstislav Belica Klimovica Čerikov Senno Orša Kopys’ Rogačëv Bychov Gesamt

1829 38 14 26 19 25 13 20 26 13 43 36 20 293

1832 33 12 40 29 15 33 24 30 15 40 40 37 348

1837 1.286 933 541 1.335 996 2.296 2.754 314 525 1.016 4.876 589 17.461

Die zarische Verwaltung registrierte dieses Phänomen zwar, doch sind für diesen sprunghaften Anstieg der Wählerschaft keinerlei Erklärungen in den Akten überliefert. Allein die Tatsache, dass die Wahlen ein Jahr vor dem regulären Termin stattfanden, spricht für außergewöhnliche Vorkommnisse im Gouvernement. Ein ähnliches Phänomen wird sichtbar, wenn man die Teilnehmerzahlen der Adelswahlen in Wolhynien aus dem Jahr 1835 in die einzelnen Kreise aufschlüsselt:

133 Die Angaben für das Jahr 1829 nach der Liste mit den Ergebnissen der Adelswahlen im Gouvernement Mogilëv vom 21.1.1829, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 3818, l. 10. Für das Jahr 1832 siehe die Liste mit den Ergebnissen der Adelswahlen im Gouvernement Mogilëv vom 4.6.1832, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 6198, l. 69–84. Die Zahlen des Jahres 1837 nach der Aufstellung des Gouvernementsmarschalls von Mogilëv über die Anzahl der Adligen im Gouvernement Mogilëv vom 25.8.1837, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 4804, l. 33.

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Teilnehmer der Kreisadelsversammlungen des Gouvernements Wolhynien in den Jahren 1835 und 1838:134 Kreise Žitomir Obručevsk Starokonstantin Zaslavl’ Ostrog Luck Dubno Rovno Vladimir-Volynskij Kovel’ Kremenec Novograd-Volynskij

Gesamt

1832 k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. 383

1835 377 25 40 9 32 48 22 23 36 34 35 49 730

1838 85 55 51 14 53 56 42 44 54 52 43 33 582

Auch wenn uns für 1832 keine Zahlen für die Kreise vorliegen, so spricht der Vergleich mit dem Jahr 1838 dafür, dass die Verdoppelung der Wählerschaft von 383 im Jahr 1832 auf 730 Adlige bei den Wahlen von 1835 allein auf einen überproportionalen Anstieg der Wähler im Kreis Žitomir zurückzuführen ist. Hier scheint es also nur in einem Kreis zu einem lokal bedeutsamen Ereignis gekommen zu sein, das dort die Wahlbeteiligung nach oben trieb. Im nächsten Jahr sank die Zahl der Wähler in Žitomir wieder – entgegen dem allgemeinen Trend – auf Normalmaß zurück. Diese wenigen Indizien sprechen dafür, die allgemein niedrige Wahlbeteiligung nicht mit einem breiten Desinteresse an den Adelswahlen oder gar einer grundsätzlichen Verweigerungshaltung der Szlachta zu erklären. In nicht näher rekonstruierbaren Ausnahmefällen fanden sich die Adligen durchaus zahlreich zu den Wahlen ein. Dies stützt die Annahme, dass sich der lokale Adel im Normalfall bereits vor den Wahlen auf bestimmte Kandidaten verständigt hatte und es nicht weiter für nötig erachtete, zum Vollzug dieser Absprachen in die Gouvernementsstadt zu fahren. Ein weiteres Phänomen spricht gegen ein Desinteresse der Szlachta an den Adelswahlen. In den Akten der Gouvernementsregierungen findet sich eine große 134 Die Angaben für das Jahr 1835 nach den Listen der Ergebnisse der Wahlen zum Kreisadelsmarschall aus den Kreisen des Gouvernements Wolhynien vom 22.5.1835, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1882, l. 77–131. Die Angaben für das Jahr 1838 nach den Listen der Ergebnisse der Wahlen zum Kreisadelsmarschall aus den Kreisen des Gouvernements Wolhynien vom 27.5.1838, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 2631, l. 69–124.



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Zahl von Eingaben, in denen Adlige Einspruch gegen ihren Ausschluss von den Adelswahlen erhoben. Die beiden häufigsten Gründe waren dabei ein fehlender Adelsnachweis und der Umstand, dass der Adlige schon einmal vor Gericht gestanden hatte.135 Mitunter summierte sich eine Reihe von kleineren Vergehen, die für sich genommen folgenlos geblieben wären, zu einer Relegation. So wurde Jurij Luskin zu den Adelswahlen im Jahr 1829 nicht zugelassen, weil er zum einen seine Pacht nicht beglichen, zum anderen eine schwangere Frau geschlagen hatte, die daraufhin eine Frühgeburt erlitt. Und schließlich hatte sich Luskin, der als Vorsteher einer Poststation arbeitete, im Jahr 1820 geweigert, dem durchreisenden Tross des Kaisers frische Pferde zu stellen.136 In diesem Fall verband sich ein strafrechtlicher Anstoß mit dem Verdacht der Illoyalität gegenüber dem Zaren. Die Adelsversammlungen der Westgouvernements haben also trotz oder gerade wegen ihrer mäßigen Beteiligung recht gut funktioniert. Der zarischen Staatsgewalt war es offenbar gelungen, die Landtage zu domestizieren und für die Rekrutierung lokaler Würdenträger einzuspannen. Waren somit aus den polnischen Landtagen, in denen einst lebhaft über politische Fragen diskutiert wurde, russische Adelsversammlungen geworden? Ein Vergleich der Beteiligung an den Adelswahlen in den Westgouvernements mit den Teilnehmerzahlen russischer Adelsversammlungen zeigt die strukturellen Ähnlichkeiten dieser beiden Veranstaltungen. In den zentralrussischen Gouvernements hatten an den ersten Wahlen unmittelbar nach der Einführung der Gouvernementsreform noch rund ein Drittel der Adligen teilgenommen. Doch schon ab der folgenden Wahl ging die Anwesenheit kontinuierlich zurück. Ende des 18. Jahrhunderts wirkte nur noch ein Sechstel bis ein Fünftel des lokalen Adels an den Wahlen mit.137 In den folgenden Jahrzehnten blieb die Zahl der Wähler konstant. Als durchaus typisch darf die Teilnahme an den Adelswahlen von 1827 im Gouvernement Simbirsk gelten. Der Adel umfasste dort 1.136 Personen, von denen nur 752 in das adlige Geschlechterbuch eingetragen waren. Von diesen Wahlberechtigten nahmen allerdings nur 250 Personen an der Wahl von 120 Ämtern teil. Auch die soziale Zusammensetzung der Wähler weist eine weitgehende Übereinstimmung der russischen mit den polnischen Provinzen auf: Die Großgrundbesit-

135 Vgl. z.B. den Fall des Kollegiensekretärs Reutta aus dem Jahr 1826, in: NIAB f. 1297, o. 1, d. 1669, l. 1–6. 136 Vgl. Schreiben des Gouverneurs von Mogilëv an den Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv und Smolensk vom 9.3.1829, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 3818, l. 36–37. 137 Vgl. Robert d. Givens: Eighteenth-Century Nobiliary Career Patterns and Provincial Government, in: Walter McKenzie Pintner / Don Karl Rowney (Hg.): Russian Officialdom: The Bureaucratization of Russian Society from the Seventeenth to the Twentieth Century, Reprint, Houndmills, Basingstoke 2001, S. 106–129, hier 113ff.

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zer blieben den Versammlungen fern und der verarmte Kleinadel war durch die zarische Gesetzgebung von den Wahlen ausgeschlossen.138 Während sich die polnischen Landtage also langsam in russische Adelsversammlungen verwandelten, veränderte sich gleichzeitig die soziale Zusammensetzung des russischen Adels. Im 19. Jahrhundert schritt die Verarmung des russischen Kleinadels voran, so dass man auch in Kernrussland verstärkt auf Adlige traf, die sich kaum noch von der Bauernschaft unterschieden. Damit stieg auch in Russland die Zahl derjenigen, die den vorgeschriebenen Zensus nicht erfüllten. Sie blieben zusammen mit jenen Personen von den Wahlen ausgeschlossen, die zwar einen Adelstitel führten, jedoch nicht in die Adelsmatrikel aufgenommen worden waren, da sie keine Adelsnachweise vorlegen konnten.139 Die Verhältnisse in den polnischen und den zentralrussischen Provinzen glichen sich also aneinander an. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die ursprüngliche Funktion der polnischen Landtage in den zwanziger und dreißiger Jahren eingeschränkt wurde und diese in erster Linie als Wahlveranstaltungen zusammentraten. Mit Hilfe des Wahlgesetzes hatte die zarische Regierung den besitzlosen und armen Adel von den Wahlen ausgeschlossen und auf diese Weise zu einem Repräsentationsorgan der Gutsbesitzer gemacht. Der statistische Ausreißer der Adelswahlen von 1837 in Mogilëv weist allerdings auf eine bleibende Partizipationsbereitschaft des Kleinadels hin. Dieses Beispiel spricht gegen einen generellen Ausschluss der Kleinadligen von den Adelswahlen. Da der Kleinadel jedoch bereits in der Adelsrepublik weitgehend Parteigänger unterschiedlicher Magnaten war, änderte sich an den lokalen Machtverhältnissen durch dessen regelmäßige Abwesenheit von den Adelsversammlungen wenig bis gar nichts. Die Magnaten hatten es nun allerdings nicht mehr nötig, für jede Abstimmung sämtliche abhängige Kleinadlige zu mobilisieren, um sicherzugehen, am Ende nicht überstimmt zu werden. An die Stelle der Vollversammlung des Provinzadels trat der vorab ausgehandelte Elitenkompromiss. Die zarische Regierung hat mit dieser Transformation der Landtage letztlich die Politik umgesetzt, die am Ende der Adelsrepublik von den polnischen Reformkräften gefordert und eingeleitet worden war. Das vom Vierjährigen Reichstag verabschiedete Gesetz zu den Landtagen hatte das Wahlrecht bereits an das Vermögen geknüpft: Nur Adlige mit Grundbesitz oder Pächter, die mindestens 100 Złoty Steuern im Jahr zahlten, waren zu den Landtagen zugelassen. Schon damals hatten rund 300.000 Adlige und damit mehr als 40 Prozent des Adels ihre politi138 Vgl. Schalhorn: Lokalverwaltung und Ständerecht, S. 71f. 139 Vgl. ebd., S. 75.



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schen Rechte verloren.140 Allein die Veränderung ihrer Zusammensetzung machte aus den polnischen Landtagen also noch keine Veranstaltungen des Zarenreiches. Inwieweit konnten die sejmiki unter den veränderten Bedingungen ihren ständischen Charakter bewahren und bis zu welchem Grade gelang es der zarischen Regierung, ihre Normen in diesen Institutionen zu implementieren?

3. Von ständischen Korporationen zu „staatlichen Veranstaltungen“? Die Transformation der sejm iki zu Adelsversammlungen des Zarenreiches 3.1. Politische Leitbilder und gesetzliche Normen von Katharina II. bis Nikolaus I. Die Eingriffe der zarischen Regierung in die organisatorische Struktur der sejmiki beschränkten sich nicht auf eine Reduktion der Wählerschaft. Es galt vielmehr, die Funktion und den Verlauf der Veranstaltung den staatlichen Normen der Teilungsmacht anzupassen. Das Petersburger Leitbild einer russischen Adelsversammlung widersprach den damaligen Vorstellungen von polnischen Land- und Reichstagen. Die politischen Institutionen der Adelsrepublik standen im Ruf, von Chaos und Korruption beherrscht zu sein. Sollten aus den sejmiki Veranstaltungen des Zarenreiches hervorgehen, mussten sie sich sichtbar wandeln. Im Folgenden sollen der Grad und die Art der Transformation der ständischen Korporationen des polnischen Adels näher bestimmt und beschrieben werden. Wie sah das Ideal einer russischen Adelsversammlung aus und inwieweit änderten sich die politischen Konzepte vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts? Auf welche Weise versuchte die Regierung, die sejmiki entlang dieser Vorstellungen umzuformen? Und inwieweit wandelte sich der Verlauf der Adelsversammlungen und deren politische Praxis? Katharina II. hat in ihrer Gnadenurkunde für den Adel den Ablauf einer Adelsversammlung idealtypisch skizziert. Der Generalgouverneur oder der Gouverneur sollte die Versammlung alle drei Jahre „zur Winterszeit“ einberufen. Daraufhin sollte der Adel die ihm „anvertrauten Wahlen“ durchführen und sich die „Vorschläge des General-Gouverneurs oder Gouverneurs“ anhören.141 Die Adelsversammlungen waren formal gesehen also keine gesellschaftlichen Korporatio-

140 Vgl. Gesetz über die Landtage vom 24.3.1791, in: Jaworski (Hg.): Nationale und internationale Aspekte der polnischen Verfassung vom 3. Mai 1791, S. 151–169. 141 Katharina II.: Vom Adel, S. 23.

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nen, sondern „staatliche Veranstaltungen“142: Der Staat berief sie ein, er übertrug ihnen mit den Adelswahlen eine konkrete Aufgabe und der Gouverneur nutzte die Zusammenkünfte als Möglichkeit, dem Adel seine politischen Anliegen zu unterbreiten. Nach dem Wahlgang, der entlang der staatlichen Vorgaben durchgeführt wurde,143 war es der Versammlung „erlaubt, dem General-Gouverneur oder Gouverneur wegen ihrer gemeinen Bedürfnisse, oder ihres gemeinen Nutzens wegen Vorstellung zu thun“.144 Und schließlich hatte Katharina II. der Adelsversammlung auch gestattet, „durch ihre Deputirte sowohl dem Senat als auch Kaiserlicher Majestät nach Vorschrift der Gesetze Vorstellungen und Beschwerden zu übergeben.“145 Hier fungiert die Adelsversammlung zwar als Interessenvertretung des Adels, doch kann sie selbst keine politischen Entscheidungen treffen, sondern lediglich ihre Wünsche und Bitten dem Gouverneur oder – und dies war ein besonderes Privileg – unmittelbar der Zarin anzuvertrauen. Allein diese rechtlichen Rahmenbedingungen unterschieden sich fundamental von der Bedeutung und dem Selbstverständnis der sejmiki in der Adelsrepublik. In der politischen Praxis waren die Landtage seit dem 17. Jahrhundert die wichtigste politische Institution in der Provinz. Sie fassten regionalpolitische Beschlüsse, konnten Steuern erheben und verfügten auch über die Ausgaben in der jeweiligen Woiwodschaft.146 Die Reformer der späten Adelsrepublik hatten die sejmiki als ein regionales politisches Entscheidungsgremium in das Verfassungsgefüge Polens integriert. Das Gesetz über die Landtage vom 24. März 1791 verfügte ausdrücklich: „So erörtern die versammelten Personen die vom König und der Rechtswache dem Landtag übermittelten Propositionen, Gesetzentwürfe, sowie die desideria, respective der Woiwodschaft, des Landes oder des Kreises, die von der Woiwodschafts- oder der Kreiskommission oder den Bürgern übergeben worden sind.“147 142 Zur Interpretation der russischen Adelsversammlungen als „staatliche Veranstaltung“ siehe Dietrich Geyer: „Gesellschaft“ als staatliche Veranstaltung, S. 44. Im Folgenden wird auf diese treffende Formulierung zurückgegriffen, ohne jedoch die negative Wertung Geyers, die das Scheitern der Adelsversammlungen impliziert, zu übernehmen. Siehe dazu auch Kusber: Eliten- und Volksbildung, S. 19. 143 Die Adelsversammlung hatte über jeden anwesenden Wahlberechtigten einzeln abzustimmen, was die Wahl mitunter zu einem zeitraubenden Verfahren machte, vgl. Rex Rexheuser: Ballotage. Zur Geschichte des Wählens in Russland, in: Daniel Clarke Waugh (Hg.): Essays in Honor of A. A. Zimin, Columbus 1985, S. 305–344, hier 323ff. 144 Katharina II.: Vom Adel, S. 26. 145 Ebd. 146 Vgl. Juliusz Bardach / Bogusław Leśnodorski / Michał Pietrzak: Historia ustroju i prawa polskiego, 5. Auflage, Warschau 2003, S. 223f. 147 Gesetz über die Landtage vom 24. März 1791, in: Jaworski (Hg.): Nationale und internationale Aspekte, S. 163.



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Daraufhin erstellte die Versammlung den Entwurf einer Instruktion, die das Stimmverhalten des Landboten auf dem nächsten Reichstag festlegte. Strittige Fragen wurden diskutiert und zur Abstimmung gestellt. Schließlich wurde im Anschluss an den Reichstag ein Relationslandtag einberufen, dem der Landbote Bericht erstattete und vor dem er sein Abstimmungsverhalten rechtfertigen musste.148 Nicht allein die Staatsgewalt bestimmte demnach den Gegenstand der Verhandlungen, hier konnten sogar Nicht-Adlige durch Eingaben ihre Anliegen auf die Tagesordnung setzen lassen. Die Einführung der Adelsversammlungen durch Katharina II. war für den russischen Adel zweifelsfrei ein Zugewinn an Mitbestimmung. Den polnischen Adel konnten diese Rechte allerdings kaum beeindrucken. So verwundert es nicht, dass sich in den Gouvernements Mogilëv und Polock kritische Stimmen regten, als dort die Adelswahlen eingeführt wurden. Černyšëv berichtet in einem Brief an die Zarin von einem polnischen Adligen namens Olszewski, der sich mit der Einführung der Gouvernementsreform unzufrieden gezeigt habe, obwohl diese ja die lokale Selbstverwaltung stärkte. Katharina II. antwortete ihrem Generalgouverneur: „Das kann man eher seinem Leichtsinn sowie Unverstand und vielleicht, wie Sie schreiben, den Bewohnern der Provinz eigentümlichen Intrigen zurechnen als irgendeiner schlechten Absicht, und ich hoffe, dass er sich, durch Ihre Verfügung einigermaßen zur Ruhe gebracht, noch mehr beruhigen wird, wenn er sieht, dass diese Einrichtung ihnen nicht zum Schaden gereichen werden, da alle unsere Untertanen diese mit großem Verlangen annehmen.“149

Katharina war also nicht gewillt, in den polnischen Provinzen aufgrund deren Erfahrung mit ständischen Versammlungen eine andere Form von Adelsvertretung zu akzeptieren. Vereinheitlichung war auch auf diesem Gebiet ein Leitmotiv der aufgeklärten Zarin. Zugleich spricht aus diesem Zitat die Erwartung, dass der polnische Adel die zarischen Adelsversammlungen nicht nur akzeptiere, sondern auch ihren positiven Einfluss anerkenne. Die polnischen Landtage sollten also nicht nur in russische Adelsversammlungen umgewandelt, sondern die Szlachta auch vom Sinn dieser Maßnahme überzeugt werden. Mit der Thronbesteigung Pauls I. änderten sich die rechtlichen Rahmenbedingungen der Adelsversammlungen im gesamten Russischen Reich. Die Historiographie verstand die Politik Pauls auch auf diesem Feld als die Restauration alter Rechte: Er habe die Homogenisierungsbestrebungen seiner Vorgängerin rück148 Ebd., S. 163f. 149 Brief Katharinas an Černyšev vom 2.8.1777, in: RGADA f. 16, op. 1, d. 763, l. 18.

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gängig gemacht und die polnischen Landtage in ihrer früheren Gestalt wiederhergestellt.150 Tatsächlich kehrte Paul zur jährlichen Einberufung der Landtage sowie zur Wahl von Richtern auf Lebenszeit zurück und ließ auch die verarmte Szlachta an den Adelswahlen wieder teilnehmen.151 Es wäre jedoch verfehlt, in ihm einen Befürworter ständischer Selbstverwaltung und einer politischen Autonomie des polnischen Adels zu sehen. Im Gegenteil: Paul förderte die Zentralisierung der Reichsverwaltung und setzte auf eine verstärkte staatliche Kontrolle der Provinz. Diese Ziele kommen auch in seiner Umgestaltung der Adelsversammlungen zum Ausdruck. Er berief den Gouverneur zum Mitglied der Adelsversammlung und übertrug diesem die Aufgabe, für einen geregelten Ablauf der Zusammenkünfte zu sorgen.152 Bis dahin hatte der Gouverneur zwar die Versammlungen eröffnet und geschlossen, war aber auf ihren Sitzungen nicht anwesend. Paul versuchte nun das autokratische Prinzip auch in der lokalen Verwaltung durchzusetzen. Der Gouverneur sollte den monarchischen Willen in der adligen Selbstverwaltung zur Geltung bringen. Ein derartiges Verständnis stand der Idee einer ständischen Korporation diametral entgegen. Vielmehr hatte Paul die Adelsversammlung dem Einfluss des Gouverneurs unterworfen. Vor diesem Hintergrund urteilte Baron Korf, Paul habe den Gouvernementsadel als Korporation sowie als juristische Person abgeschafft und damit die wohldurchdachte Konstruktion Katharinas II. zerstört.153 Auch die Abschaffung der Gouvernementsadelsversammlung stärkte nicht die politische Stellung des Adels, der sich fortan nur noch auf Kreisebene konstituieren konnte.154 Im November 1800 wurde zudem eine ganze Reihe von Ämtern, die bis dahin vom Adel gewählt worden waren, durch die Gouvernementsregierung ernannt.155 Als Quintessenz dieser widersprüchlichen Gesetzgebung bleibt: Paul hat die Adelsversammlung zwar als Instrument der lokalen Verwaltung anerkannt, doch er stellte sie unter staatliche Aufsicht.156 150 Siehe u. a. Żółtowski: Border of Europe, S. 92; Blackwell: Alexander I and Poland, S.  13; Thaden: Russia’s Western Borderlands, S. 66. 151 Vgl. zur jährlichen Einberufung der Landtage den Namentlichen Ukas Pauls I. vom 21.3.1798, in: PSZ I, Bd. 25, Nr. 18.449, S. 171; zur lebenslangen Amtszeit der Richter vgl. den von Paul I. bestätigten Bericht des Senats vom 1.11.1800, in: ebd., Bd. 26, Nr. 19.628, S. 367–370, hier 368; die Ausweitung des Wahlrechts wurde von Paul I. am 19.3.1800 angeordnet und durch Alexander I. am 8.6.1802 wieder rückgängig gemacht, vgl. den Namentlichen Ukas Alexanders I. vom 8.6.1802, in: ebd., Bd. 27, Nr. 20.288, S. 159. 152 Namentlicher Ukas Pauls I. vom 14.10.1799, in: PSZ I, Bd. 25, Nr. 19.154, S. 812. 153 Korf: Pavel’ I i dvorjanstvo, S. 11f. 154 Namentlicher Ukas Pauls I. vom 14.10.1799, in: PSZ I, Bd. 25, Nr. 19.154, S. 812. 155 Dies betraf zum Beispiel die Landkommissare (zemskie komissary), die Beisitzer in den niederen Land-, Stadt- und Kammergerichten und eine ganze Reihe weiterer niederer Ämter, vgl. den Namentlichen Ukas Pauls I. vom 1.11.1800, in: PSZ I, Bd. 26, Nr. 19.628, S. 367–370, hier 370. 156 Roderick E. McGrew: Paul I of Russia, 1754–1801, Oxford 1992, S. 223f.



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Alexander I. kehrte – wie auf so vielen anderen Feldern – auch in der Politik gegenüber den polnischen Landtagen zu den Prinzipien Katharinas II. zurück. Die von Paul I. wieder hergestellten polnischen Sonderrechte wurden zugunsten einer Vereinheitlichung abermals der allgemeinen Rechtslage angepasst. So wurden die Adelsversammlungen nur noch alle drei Jahre einberufen und die Amtszeiten der Adelsmarschälle und Richter, die in der Adelsrepublik noch auf Lebenszeit gewählt worden waren, erneut auf drei Jahre befristet.157 Auch ein Wahlzensus wurde wieder eingeführt.158 Dmitrij Troščinskij, der 1814 Justizminister werden sollte, gab in einer 1811 für den Zaren angefertigten Denkschrift zur staatlichen Verwaltung als politische Leitlinie vor, dass die westlichen Grenzgebiete keine politischen und sozialen Institutionen entwickeln sollten, die sich von jenen im übrigen Imperium unterschieden: „Wenn es keine triftigen Gründe gibt, aus denen sich die Verwaltungsform der polnischen und kleinrussischen Gouvernements von jener der russischen Gouvernements unterscheiden sollte, dann kann man die dort existierende Verschiedenheit umso weniger rechtfertigen. Elf polnische und kleinrussische Gouvernements werden auf achterlei unterschiedliche Art und Weise verwaltet, und obwohl diese Unterschiede insgesamt gesehen nicht wichtig und nur in einer mehr oder weniger großen Zahl von Behörden vorhanden sind, sind sie dessen ungeachtet sowohl für die Regierung hinderlich, die bei jeder Entscheidung sich in Übereinstimmung mit der spezifischen Verwaltungsordnung eines jeden Gouvernements befinden muss, als auch für Privatpersonen, die nicht wissen, an welche Stelle sie ihr Gesuch richten müssen.“159

Auch wenn Alexander I. dem Großfürstentum Finnland oder dem Königreich Polen weitgehende Autonomie gewährte, folgte er in den Westgouvernements eher dem Verdikt Troščinskijs. Dort tagten die Adelsversammlungen weiterhin unter der Aufsicht des Gouverneurs, der für den vorschriftsmäßigen Verlauf der Zusammenkünfte zu sorgen hatte. Dieses Anliegen war der zarischen Regierung äußerst wichtig, denn sie ordnete zugleich an, dass Gouverneure, die sich als zu schwach erwiesen, um gegen auftretende Unordnung während der Sitzungen vorzugehen, umgehend ihres Amtes zu entheben seien.160 Eine staatliche Kontrolle der Adelsversammlungen in den Westgouvernements stand zweifelsohne in engem Zusam-

157 Vgl. Thaden: Russia’s Western Borderlands, S. 66f. 158 Ukas vom 8.6.1802, in: PSZ I, Bd. 27, Nr. 20.288, S. 159. 159 [Dmitrij P. Troščinskij]: Zapiski Dmitrija Prokof’eviča Troščinskago ob učreždenii ministerstv, in: Sbornik russkago istoričeskago obščestva 3 (1868), S. 1–162, hier 159. 160 Abschrift aus dem von Alexander I. bestätigten Journal des Ministerrates vom 3.3.1809, in: PSZ I, Bd. 30, Nr. 23.513, S. 839–842, hier 840.

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menhang mit einer reichsweiten Verwaltungspraxis, welche die Autorität des Gouverneurs gegenüber den Adelsversammlungen zu stärken versuchte.161 Nikolaus I. hielt am Verständnis von Adelsversammlungen als Wahlveranstaltungen fest. Es erscheint symptomatisch, wenn Nikolaj Chovanskij, Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv, Smolensk und Kaluga, dem versammelten Adel von Vitebsk 1829 ins Stammbuch schrieb, dass angesichts der Anwesenheit von Adligen, die gar kein Recht auf die Teilnahme bei den Adelswahlen hätten, und eingedenk der zahlreichen Schwierigkeiten und unglücklichen Ereignisse, welche es bei den letzten Versammlungen gegeben habe, der Adel in diesem Jahr seine gesamte Aufmerksamkeit darauf zu richten habe, bei den anstehenden Wahlen strengste Gewissenhaftigkeit walten zu lassen.162 Der Generalgouverneur zeigte sich also nicht an einer lebendigen Diskussion lokalpolitischer Probleme, sondern vor allem an einem reibungslosen Ablauf der Wahlen interessiert. Das Wahlstatut vom 6. Dezember 1831 enthielt insofern wenig Neues und bestätigte einmal mehr den Charakter der Adelsversammlung als Wahlveranstaltung: „Der hauptsächliche Zweck einer regelmäßig stattfindenden Gouvernements-adelsversammlung besteht in der Wahl von Beamten. Darüber hinaus kann der Adel in der Versammlung Besprechungen über seine Bedürfnisse sowie Interessen durchführen und diese durch den Gouvernementsmarschall gegenüber dem Gouverneur oder dem Innenministerium vertreten; in wichtigen Fällen kann er auch ein alleruntertänigstes Gesuch an seine Kaiserliche Hoheit richten.163

Zugleich wurde die staatliche Verwaltung weiter ausgebaut. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verdreifachte sich die Zahl der Beamten.164 Die zarische Staatsgewalt war immer weniger auf die adlige Selbstverwaltung angewiesen und baute diese schrittweise ab.165 Indem Nikolaus I. eine Reihe von Wahlämtern durch die Krone ernennen ließ, knüpfte er an die Politik seines Vaters Paul I. an.166 Hatte Katharina II. mit der Einführung der Adelsversammlungen noch das Ziel verfolgt, den Provinzadel zu einem Engagement in eigener Sache zu motivieren und auf

161 Vgl. Janet Hartley: A Social History of the Russian Empire 1650–1825, London, NewYork 1999, S. 94f. 162 Rede des Generalgouverneurs von Vitebsk, Mogilëv und Smolensk anlässlich der Eröffnung der Adelsversammlung von Vitebsk im Jahre 1829, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 4486, l. 1–9. 163 Statut über die Ordnung der Adelsversammlungen, der Adelswahlen und des Dienstes in Wahlämtern vom 6.12.1831, in: PSZ II, Bd. 6,2, Nr. 4.989, S. 247–273, hier 249. 164 Vgl. Pintner: The Evolution of Civil Officialdom, S. 192. 165 Vgl. Ključevskij: Kurs russkoj istorii, Bd. 5, S. 241 und 248. 166 Senatsukas vom 9.3.1826, in: PSZ II, Bd. 1, Nr. 188, S. 285–287, hier 286.



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diese Weise eine lokale Elite zu formen, so scheint für die Herrschaft Nikolaus’ I. das Urteil Dietrich Geyers zu gelten: „Nirgends ist zu erkennen, dass Adelsversammlungen, Wahlen oder Beschlüsse der ‚Korporationen‘ einen anderen Sinn haben sollten als den, dem Staat für die niederen Ämter Staatsdiener zu stellen, für Ruhe und Ordnung in den Provinzen haftbar zu sein und dem Fiskus Steuern und Rekruten zuzuleiten.“167

Diese Form der Adelsversammlung hatte mit den Landtagen der polnischen Adelsrepublik nur noch wenig gemein. Eine Transformation der sejmiki in Adelsversammlungen des Zarenreiches hieß aus Sicht der Regierung, ständische Korporationen in „staatliche Veranstaltungen“ umzuwandeln.

3.2. Von der symbolischen Aneignung zur politischen Integration: Die politische Praxis der Adelswahlen als Aushandlungsprozess zwischen Zentrum und Peripherie Die Umwandlung der polnischen Landtage in Veranstaltungen des Zarenreiches erfolgte zunächst auf symbolischem Wege. So hing zum Beispiel im Saal der Minsker Adelsversammlung schon 1795 ein Portrait Katharinas II.168 Eine solche Umcodierung des Raumes war leicht zu bewerkstelligen und stellte deshalb zumeist den ersten Schritt auf dem Weg zu einer symbolischen Vereinnahmung der sejmiki durch die zarische Staatsgewalt dar. Auch die Eröffnungszeremonie wurde unmittelbar nach den Teilungen der russischen Tradition angepasst. Die Gnadenurkunde für den Adel hatte festgelegt, dass die Adelsversammlung durch den Gouverneur einberufen wird. Symbolischen Ausdruck fand diese gesetzliche Vorgabe darin, dass der Gouverneur die Veranstaltung durch eine Rede einleitete. Dies gab ihm die Möglichkeit, die Versammlung als staatliche Veranstaltung zu inszenieren. Der Generalgouverneur von Iz-jaslav, Braclav, Minsk und Podolien, Timofej Tutolmin, appellierte zum Beispiel bei der Eröffnung der Adelsversammlung in Minsk am 2. März 1795 an das Pflichtgefühl und die Ehre der teilnehmenden Adligen. Sie trügen eine Verantwortung gegenüber ihren Standesgenossen, dem ganzen Volk und auch gegenüber der Zarin, deren Güte und Mildtätigkeit diese Adelsversammlung ermöglichen würde. Es sei ein Privileg des Adels, Richter und Beamte zu wählen, und deshalb eine Ehre, an dieser Zusammenkunft 167 Geyer: „Gesellschaft“ als staatliche Veranstaltung, S. 40. 168 Bericht von Generalgouverneur Tutolmin über die Sitzung der Adelsversammlung von Minsk am 10.3.1795, in: NIAB f. 319, op. 1, d. 1a, l. 4–7, hier 4.

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teilzunehmen. Dies sei ein Dienst am Vaterland, aber auch eine Pflichterfüllung gegenüber ihrer Kaiserlichen Majestät, die sich um die Ordnung und das Wohlbefinden des Landes sorge.169 Mit diesen Worten erinnerte Tutolmin die Adligen nicht nur daran, dass die Adelswahlen eine Veranstaltung des Zarenreiches waren. Er inkludierte die Szlachta vielmehr in die Monarchie und das Imperium, indem er die Teilnahme zu einer patriotischen Pflicht erhob. Der Adel hatte sich nach seiner Auffassung nicht dazu versammelt, um seine Interessen zu artikulieren, sondern um der Zarin zu dienen. Diese Auffassung mag russische Adlige nicht weiter verstört haben, da Katharina II. ihnen die Adelsversammlung als einen Akt der Gnade gewährt hatte. Für den polnischen Adel stellte es einen deutlichen Bruch zum bisherigen Selbstverständnis der Landtage dar. Die zarische Regierung hielt an diesem Verständnis in den folgenden Jahrzehnten fest und brachte dies stets aufs Neue zum Ausdruck. So charakterisierte der Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv, Smolensk und Kaluga, Nikolaj N. Chovanskij, 1829 in seiner Rede zur Eröffnung der Adelsversammlung von Vitebsk die Adelswahlen ebenfalls als Dienst am Vaterland und besondere Ehre. Er wies darauf hin, dass dank der Gnadenurkunde Katharinas II. die Adelsgesellschaft sich hier selbständig versammeln und ihr Recht auf Wahlen ausüben könne. Und er ermahnte die Anwesenden, sich bei der Wahl der Adelsmarschälle nicht nur von ihren eigenen Interessen leiten zu lassen, sondern die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der allgemeinen Ordnung zu übernehmen. Die Wähler sollten auch im Sinne ihrer abwesenden Standesgenossen handeln und die Erwartungen der Regierung sowie „unseres wohltätigen Zaren“ erfüllen. Jedem der hier Anwesenden sei seine heilige Pflicht gegenüber sich selbst, der Gesellschaft und dem Zaren bewusst. Zum Abschluss seiner Rede betonte der Generalgouverneur, dass Weißrussland „unsere Heimat“ und „Teil der Mutter Großrussland“ sei.170 Auch 1829 wurde also die Wahl als eine patriotische Pflichterfüllung charakterisiert und damit die Szlachta in das „russische Vaterland“ einbezogen. Zur symbolischen Inkorporation der sejmiki in das Russische Reich gehörten auch Eingriffe in den formalen Ablauf der Wahlveranstaltung. So beanspruchte die zarische Staatsgewalt etwa das Recht, den Zeitpunkt der Wahlen nach eigenem Ermessen festzusetzen. Der Gouverneur berief die Adelsversammlung nicht nur formell ein, er legte im Vorfeld auch ihren Termin fest. An diesem Punkt stieß der Versuch staatlicher Normdurchsetzung jedoch auf Widerstände. Im Gouvernement Wilna war im Jahre 1802 nur ein geringer Teil des Adels in der Haupt169 Rede des Generalgouverneurs Tutolmin bei der Eröffnung der Adelsversammlung im Gouvernement Minsk vom 2.3.1795, in: NIAB f. 319, op. 1, d. 1a, l. 1–3. 170 Rede des Generalgouverneurs von Vitebsk, Mogilëv und Smolensk anlässlich der Eröffnung der Adelsversammlung von Vitebesk im Jahre 1829, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 4486, l. 1–9.



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stadt erschienen, da der angesetzte Termin in die Erntezeit gefallen war und sich viele Adlige von ihren Gütern nicht hatten frei machen können. Da viele es zudem nicht einsahen, für die Wahl der Ämter auf Kreisebene in die Gouvernementsstadt zu fahren, hatte man diese Ämter kurzerhand in den Kreisstädten gewählt. Die Szlachta hielt mit dieser Praxis an den Traditionen der Adelsrepublik fest. Auf der staatlich einberufenen Versammlung des Gouvernementsadels waren somit nur noch die Ämter für die Gouvernementsebene zu wählen. Nicht wenige Adlige dürften die weite Reise gescheut haben, um ständische Repräsentanten zu wählen, die in ihrer unmittelbaren Lebenswelt eine weit geringere Rolle spielten als die Kreisbeamten.171 Die zeitliche Festlegung der Adelsversammlung konnte auch noch in den späten zwanziger Jahren zu Konflikten führen. So beschwerten sich die Kreisadelsmarschälle von Mogilëv im Jahre 1828 beim Generalgouverneur darüber, dass die Adelswahlen nicht wie bislang üblich im September, sondern im Dezember stattfinden sollten. Sie argumentierten, dass im September jeder Gutsbesitzer die Zeit habe, in die Gouvernementsstadt zu fahren und an den Wahlen teilzunehmen.172 Der Generalgouverneur bestand jedoch auf dem neuen Termin, da im gesamten Generalgouvernement zu dieser Zeit gewählt würde. Auch der Innenminister, der als nächsthöhere Instanz die Streitfrage entscheiden sollte, konnte nicht einsehen, aus welchem Grund der Adel von Mogilëv im Dezember nicht in die Gouvernementsstadt fahren könne, während der Adel von Wilna und Smolensk damit keine Probleme habe.173 So entschied schließlich der Generalgouverneur, dass die nächsten Adelswahlen in Vitebsk und Mogilëv im Dezember 1828, in Smolensk im Januar 1829 stattzufinden hätten.174 Die Vereinheitlichungsbestrebungen der Staatsgewalt trafen hier auf lokale Traditionen. Und es ist kein Zufall, dass sich der Konflikt an einer organisatorischen Frage wie der Anberaumung eines Termins entzündete. Die russische Staatsgewalt setzte ihre Normen gerade beim Ablauf und dem Zeremoniell der Versammlungen durch

171 Bericht des Wilnaer Gouvernementsmarschalls an den Wilnaer Gouverneur, o. d. [1802], in: LVIA f. 391, op. 1, d. 1535, l. 64–83, hier 64ob. 172 Schreiben des Gouverneurs von Mogilëv an den Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv und Smolensk vom 28.1.1828 mit dem Bericht der Kreisadelsmarschälle von Mogilëv, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 2715, l. 1–3. 173 Schreiben des Innenministers an den Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv und Smolensk vom 5.3.1828, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 2715, l. 11–12. 174 Schreiben des Generalgouverneurs von Vitebsk, Mogilëv und Smolensk an den Innenminister vom 16.3.1828, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 2715, l. 13. Aufgrund von Rekrutenaushebungen wurden die Wahlen jedoch noch einmal um einige Wochen verschoben und fanden tatsächlich in allen drei Gouvernements erst im Januar 1829 statt, vgl. Schreiben des Innenministers an den Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv und Smolensk vom 16.11.1828, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 2715, l. 15.

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und transformierte die sejmiki zunächst auf symbolischer Ebene in eine Veranstaltung des Zarenreiches.175 Auch den Verlauf der Adelsversammlungen hatte die zarische Staatsgewalt normiert. Die Zusammenkünfte verliefen nach einem einheitlichen Programm, für dessen Einhaltung der Gouverneur zu sorgen hatte. Die Abfolge der Adelswahlen in Mogilëv sah im Jahr 1832 zum Beispiel wie folgt aus:176 Am ersten Tag übergab der Gouvernementsmarschall dem Gouverneur ein Namensverzeichnis mit den erwarteten Teilnehmern der Adelsversammlung. Darin waren der Name, das Alter, der Rang sowie der Besitz der einzelnen Adligen aufgeführt. Anschließend fand sowohl in der orthodoxen wie in der katholischen Kirche ein Gottesdienst statt. Am zweiten Tag trafen sich die Adligen um zehn Uhr im Saal der Adelsversammlung. Als erstes erläuterte der Adelsmarschall den Anwesenden die Relevanz der Wahlen. Anschließend wurde die Wahlordnung verlesen. Danach versammelten sich die Adligen erneut in der orthodoxen bzw. der katholischen Kirche und leisteten dort einen Eid, ihre Stimme unvoreingenommen abzugeben. Am dritten Tag traf sich der Adel um neun Uhr morgens wieder im Saal der Adelsversammlung. Nun hielt der Gouverneur eine Rede über die Bedeutung der Wahlen. Anschließend versammelte sich der Adel getrennt nach Kreisen an einem separaten Ort und wählte den Kreisadelsmarschall. Der Schriftleiter verlas die Namen der gewählten Kandidaten und teilte das genaue Stimmergebnis mit. Er gratulierte den Gewählten im Namen der Adelsgesellschaft und teilte dem Gouvernementsmarschall die Wahlsieger mit. Nachdem alle Kreise einen Adelsmarschall gewählt hatten, stellte der Schriftleiter diese dem Gouverneur persönlich vor. Damit endete der dritte Tag der Adelsversammlung. Am vierten Tag begann die Versammlung erneut um neun Uhr. Nun wählte der Adel aus den Reihen der tags zuvor gewählten Kreisadelsmarschälle den Gouvernementsmarschall. Der Schriftleiter gab das Ergebnis wieder öffentlich bekannt und meldete dem Gouverneur das Wahlergebnis. Der Gouverneur leitete die Namen der drei gewählten Kandidaten an den Generalgouverneur weiter, der auf dieser Grundlage einen der drei zum Gouvernementsmarschall ernannte. An den folgenden beiden Tagen wurden die übrigen Amtsträger gewählt: zunächst alle Richter und Schöffen und anschließend alle Kreisbeamten. Am siebten und letzten 175 Ein Bericht über die Adelsversammlung in Slonim von 1802 zeigt zum Beispiel, dass schon in den ersten Jahren nach den Teilungen der Ablauf streng entlang des russischen Zeremoniells erfolgte, vgl. Bericht über die Adelsversammlung von Slonim, o. d. [Februar/ März 1802], in: LVIA f. 378 o/o, god 1802, d. 528, l. 9–26. 176 Zum Folgenden vgl. das Zeremoniell der Adelsversammlung in Mogilëv im Januar 1832, vom Gouverneur von Mogilëv am 17.12.1831 aufgestellt und dem Generalgouverneur zur Kenntnisnahme übersandt, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 5547, l. 36–42.



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Tag fand in beiden Kirchen jeweils ein Abschlussgottesdienst statt. Dort leisteten die Gewählten den Treueid auf den Zaren. Dieses Programm war typisch für den Verlauf einer Adelsversammlung und galt mit geringen Abweichungen in allen Westgouvernements.177 Es zielte auf eine reine Wahlveranstaltung ab und bot keinen Raum für Sachdiskussionen. Der einzige Programmpunkt, der die Besonderheiten der polnischen Provinzen berücksichtigte, war der Kirchgang in ein orthodoxes wie ein katholisches Gotteshaus. Und schließlich fällt auf, dass der Gouverneur die Rolle eines Aufsehers einnahm: Er erinnerte bei der Eröffnung die Anwesenden an ihre Pflichten und nahm das Wahlergebnis entgegen.178 Seine herausragende Bedeutung veranschaulicht ein Beispiel aus dem Gouvernement Kiew. Als der Gouverneur im Jahr 1805 mit fünf Tagen Verspätung zu den Adelswahlen eintraf, musste er feststellen, dass diese noch gar nicht begonnen hatten. Stattdessen herrschte Streit unter den versammelten Adligen. Der Adel selbst drängte den Gouverneur, trotz angeschlagener Gesundheit den Beginn der Wahlen möglichst zügig anzusetzen. Schon am nächsten Tag begannen die Wahlen und wurden innerhalb einer Woche ordnungsgemäß durchgeführt.179 Diese zentrale Rolle des Gouverneurs verdeutlicht, dass die Versammlungen nicht als autonome Veranstaltungen des Adels konzipiert waren, sondern eine staatliche Funktion zu erfüllen hatten: „Vom Staat, nicht vom Stand war der Dienst gewählter Untertanen abzuleiten“180 – so hat Dietrich Geyer den Status der Adelswahlen auf den Punkt gebracht. Der zarische Gesetzgeber hatte sehr konkrete Vorstellungen, welchen persönlichen Umgang die Adligen während der Versammlung mit ihren Standesgenossen pflegen sollten. Das Wahlstatut vom 6. Dezember 1831 legte fest: „§ 65 Alle Handlungen in der Adelsversammlung werden in Ruhe und mit dem nötigen Anstand ausgeführt. Darüber wachen der Gouvernementsmarschall im Allgemeinen und die Kreisadelsmarschälle jeweils für ihre Kreise. Es ist ihre Pflicht, auf das Einhalten der Regeln, die in diesem Statut aufgestellt sind, streng zu achten und keinem zu gestatten, die gesetzlich festgeschriebenen Grenzen zu überschreiten. § 66 Sollte in der Adelsversammlung wider Erwarten Unordnung, Lärm oder Verwirrung aufkommen und der Gouvernementsmarschall mit seinen Ermahnungen keinen 177 Vgl. zum Beispiel die Wahlordnung für die Adelswahlen im Gouvernement Vitebsk im Jahr 1829, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 4484, l. 11–13; oder das Programm der Adelswahlen in Wolhynien im Jahre 1832, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1265, l. 17. 178 Allerdings stand es laut Gesetz dem Gouverneur nicht zu, an den Sitzungen der Adelsversammlung teilzunehmen, vgl. Avenir P. Korelin: Dvorjanstvo v poreformennoj Rossii 1861–1904. Sostav, čislennost’, korporativnaja organizacija, Moskau 1979, S. 133. 179 Bericht des Kiewer Gouverneurs Pëtr Pankrat’ev an den Kiewer Militärgouverneur, Aleksandr Tormasov, vom 21.9.1805, in: CDIAK f. 533, op. 1, d. 850, l. 47–49. 180 Geyer: „Gesellschaft“ als staatliche Veranstaltung, S. 39.

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Erfolg haben, diese zu beenden, dann steht es ihm frei, die Versammlung zu schließen und den Gouverneur davon zu benachrichtigen, der in diesem Fall diejenigen, die als Unruhstifter ausgemacht wurden, unmittelbar zu sich ruft, ihnen einen Verweis erteilt und klar zu verstehen gibt, dass sie im Falle einer Wiederholung namentlich dem Generalgouverneur gemeldet würden und darüber hinaus die Adelsversammlung eine entsprechende Strafe ableisten müsse.“181

Jede Versammlung benötigt Regeln, um zu funktionieren. „Unordnung“ und „Lärm“ entstehen jedoch mitunter, wenn mehrere Dutzend Personen in einem Raum zusammenkommen. Die starke Disziplinierung des Adels verdeutlicht, dass dieses Statut keine um politische Fragen streitende Adelsversammlung als Leitbild hatte. Vielmehr legte die zarische Staatsgewalt den Schwerpunkt auf die Funktionsfähigkeit dieses Organs. Auch die minutiös geregelte Tagesordnung verdeutlicht, dass die Wahlen in erster Linie der Rekrutierung von Staatsbeamten dienten. Der Staat bestimmte nicht nur den Verlauf der Adelsversammlung, auch der Wahlakt war vorgegeben. Das Wahlverfahren der Ballotage war bereits in der Adelsrepublik üblich gewesen. Der Wähler warf eine Kugel in eine Kiste mit zwei Öffnungen. Die linke Öffnung war mit weißer Farbe markiert oder einem „Ja“ gekennzeichnet, die rechte Öffnung entsprechend mit schwarzer Farbe oder einem „Nein“. Die Kiste hatte im Inneren eine Trennwand, so dass die Kugeln separat aufgefangen wurden und anschließend die Stimmen ausgezählt werden konnten.182 Am 1. November 1800 legte die zarische Regierung auch die genaue Reihenfolge und Prozedur für die Wahl der einzelnen Ämter fest.183 Die Vereinheitlichung des Ablaufs der Adelsversammlungen hatte eine große Bedeutung für die allmähliche Transformation der polnischen Landtage, denn die regelhafte Wiederholung von Handlungen führte zu deren unhinterfragter Akzeptanz und die Verstetigung von politischen Praktiken zur Institutionalisierung.184 Die scheinbar belanglose Auseinandersetzung um den Termin der Zusammenkunft berührte die Frage, inwieweit die Adelsversammlung noch eine ständische oder bereits eine staatliche Veranstaltung war. Auch die sejmiki waren also Schauplätze einer

181 Statut über die Ordnung der Adelsversammlungen, der Adelswahlen und des Dienstes in Wahlämtern vom 6.12.1831, in: PSZ II, Bd. 6,2, Nr. 4.989, S. 247–273, hier 257. 182 Zur Ballotage vgl. Rexheuser: Ballotage, S. 305f. 183 Vgl. Nikotin: Stoletnij period, Bd. 1, S. 357. 184 Vgl. Jörg Baberowski: Imperiale Herrschaft. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich, in: ders. / David Feest / Christoph Gumb (Hg.): Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt a. M., New York 2008, S. 9–13, hier 10.



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Inszenierung, durch die sowohl der Staat als auch der Adel Sinn stifteten und Bedeutung herstellten.185 All diese Vereinheitlichungsbestrebungen ließen sich in der Praxis jedoch nicht ohne weiteres umsetzen. Die Beharrungskraft des Lokalen widersetzte sich häufig den staatlichen Homogenisierungsversuchen und unterlief die gesetzlichen Vorschriften. So hatte sich der Adel des Kreises Gorki im Gouvernement Wilna bei den Adelswahlen von 1797 geweigert, einen Adelsmarschall zu wählen. Als Begründung für diese Haltung führte der Adel an, der Kreis Gorki habe bislang keinen Adelsmarschall gewählt und werde dies auch in Zukunft nicht tun. Der Gouverneur konnte die anwesenden Adligen nicht dazu bringen, es den anderen Kreisen des Gouvernements gleichzutun und dieses Amt durch Wahl zu besetzen. Er schloss seinen Bericht an den Generalgouverneur mit der Ankündigung, er werde bei den nächsten Wahlen noch einmal sein Glück versuchen.186 Häufiger Streitpunkt zwischen lokalem Adel und zentraler Staatsgewalt war auch die Anzahl der zu wählenden Kandidaten. In den Westgouvernements hatte der Adel drei Kandidaten für das Amt eines Adelsmarschalls zu wählen.187 Dem Gouverneur stand es frei, einen der drei auszuwählen und zum Adelsmarschall zu ernennen. In vielen Fällen versuchte der Adel diese Regelung zu unterlaufen. So hatte zum Beispiel die Adelsversammlung des Gouvernements Vitebsk bei den Wahlen im Jahre 1832 nur zwei Kandidaten für das Amt des Gouvernementsmarschalls gewählt: den bisherigen Amtsinhaber, einen Staatsrat Karnicki, und einen Rittmeister Ciechanowiecki. Der Innenminister beschwerte sich daraufhin beim Generalgouverneur über diese Praxis und forderte die Einhaltung des Wahlstatuts. Zudem komme Ciechanowiecki für das Amt gar nicht in Frage, da er schon einmal vor Gericht gestanden habe. Vor diesem Hintergrund bliebe nur noch ein Kandidat „zur Auswahl“. Auf dieser Grundlage könne kein Adelsmarschall ernannt werden. Er forderte den Generalgouverneur auf, ihm die Namen der beiden Kreisadelsmarschälle mitzuteilen, die bei ihrer Wahl die meisten Stimmen erhalten hatten. Diese werde er kurzerhand als die beiden fehlenden Kandidaten betrachten.188 185 Vgl. Karsten Holste / Dietlind Hüchtker / Michael G. Müller: Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Akteure – Arenen – Aushandlungsprozesse, in: dies. (Hg.): Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Akteure – Arenen – Aushandlungsprozesse, Berlin 2009, S. 9–19, hier 10. 186 Schreiben des Wilnaer Gouverneurs an den Generalgouverneur von Litauen vom 25.4.1797, in: LVIA f. 378 o/o, god 1797, d. 9, l. 604–633, hier 604f. 187 In den zentralrussischen Gouvernements waren hingegen nur zwei Kandidaten vorgeschrieben, vgl. das Statut über die Ordnung der Adelsversammlungen, der Adelswahlen und des Dienstes in Wahlämtern vom 6.12.1831, in: PSZ II, Bd. 6,2, Nr. 4.989, S. 247–273, hier 260. 188 Schreiben des Innenministers an den Generalgouverneur von Vitebsk, Minsk, Mogilëv und Smolensk vom 9.8.1832, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 6153, l. 82–83.

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Der Generalgouverneur gab die Beschwerde und die Bitte des Innenministers an den Gouverneur weiter. Dieser verteidigte jedoch den Wahlverlauf und berief sich dabei auf das Wahlstatut von 1831, das für das Amt des Adelsmarschalls die Wahl von nur zwei Kandidaten vorschrieb. Der Gouverneur selbst und der bisherige Adelsmarschall, der wiedergewählte Karnicki, hätten vergeblich versucht, weitere Adlige zur Kandidatur zu überreden. Die Angesprochenen hätten jedoch aus den unterschiedlichsten Gründen auf eine Kandidatur verzichtet: fehlendes Vermögen für ein aufwendiges Leben in der Gouvernementsstadt, die weite Entfernung der Gouvernementsstadt vom eigenen Gutsbesitz oder schwierige familiäre Verhältnisse. Zugleich habe das Wahlstatut das passive Wahlrecht so weit eingeschränkt, dass es schon schwer gefallen sei, in jedem Kreis einen rechtmäßigen Kandidaten für das Amt des Adelsmarschalls zu finden. Viele wohlhabende Gutsbesitzer hätten sich zunächst nicht zur Wahl aufstellen lassen und mussten durch die anwesenden Adligen erst mühsam zur Kandidatur überredet werden.189 Der Gouverneur sah auch die vom Innenminister vorgeschlagene Lösung kritisch, die beiden fehlenden Kandidaten für den Posten des Gouvernementsmarschalls einfach mit zwei Kreisadelsmarschällen aufzufüllen. Er wandte ein, dass die einzelnen Kreise über eine recht unterschiedliche Zahl wahlberechtigter Adliger verfügten und folglich auch die Zahl der zur Wahl erschienenen Adligen sehr stark variiere. Wenn man, wie vom Innenminister vorgeschlagen, von der absoluten Zahl der erhaltenen Stimmen ausgehe, dann habe einer der jüngsten Amtsinhaber das beste Ergebnis, weil er aus einem der größten Kreise stamme. Mache man hingegen das Verhältnis der Ja- zu den Nein-Stimmen zur Grundlage, dann hätten die beiden dienstältesten Kreisadelsmarschälle das beste Ergebnis bekommen. Deren beide Namen gab der Gouverneur schließlich auch zur Vervollständigung der Liste an den Innenminister weiter.190 Nur wenige Tage später bestätigte dieser den Kandidaten Karnicki als Gouvernementsmarschall, ohne auf das vom Gouverneur eingeschlagene Verfahren weiter einzugehen.191 Dieses Beispiel ist typisch für die Art und Weise, wie die zarische Regierung in den Adelsversammlungen der Westgouvernements ihre Normen implementierte. Hier findet sich jenes Kräftefeld wieder, das nach Achim Landwehr die Umsetzung postulierter Normen in die Praxis bestimmt: Die zarische Regierung fungierte als „Programmgeber“, der die Normen aufstellte und – in Person des Innenministers – deren Einhaltung einforderte. Der Gouverneur war in der Rolle des „Programmanwenders“, der die gesetzlichen Bestimmungen in der Peripherie 189 Schreiben des Vitebsker Gouverneurs an den Generalgouverneur von Vitebsk, Minsk, Mogilëv und Smolensk vom 18.8.1832, NIAB f. 1297, op. 1, d. 6153, l. 86–88. 190 Ebd. 191 Schreiben des Innenministers an den Generalgouverneur von Vitebsk, Minsk, Mogilëv und Smolensk vom 31.8.1832, NIAB f. 1297, op. 1, d. 6153, l. 95.



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praktisch umsetzte. Er musste einen Weg finden, die abstrakten Normen an die lokalen Gegebenheiten anzupassen. Der Adel war schließlich der „Programmempfänger“, der die staatlichen Normen akzeptieren sollte. Im geschilderten Fall entzog er sich jedoch den staatlichen Ansprüchen, indem kein Adliger zur Kandidatur bereit war. Form und Umfang der Implementierung staatlicher Normen wurde also wesentlich von den Akteuren dieses Kräftefeldes bestimmt. 192 Im geschilderten Beispiel war der Innenminister bestrebt, die Regeln des Wahlstatuts wenigstens formal durchzusetzen. Er bestätigte letztlich zwar den wiedergewählten Amtsinhaber, doch beharrte er darauf, dass ihm noch zwei weitere Kandidaten zur Auswahl genannt werden müssten. Ihm ging es offensichtlich nicht darum, die Wahl des Adels zu unterlaufen, es sollte nur den staatlichen Normen Genüge getan werden. Die Ernennung Karnickis stand vermutlich nie in Zweifel, denn sie war die einzige Möglichkeit, den Bestimmungen des Wahlstatuts zu entsprechen. Zudem wäre die Ernennung eines Kandidaten, der überhaupt nicht zum Gouvernementsmarschall gewählt worden war, ein unnötiger Affront gegenüber dem lokalen Adel gewesen. Der Innenminister pochte also auf die Wahrung der Form, auch wenn er gegen das Wahlergebnis selbst keinerlei Einwände hatte. Während der Innenminister auf die Einhaltung der gesetzlichen Regeln drängte und damit eine Politik der Vereinheitlichung betrieb, machte sich der Gouverneur zum Anwalt der Interessen des Adels. Er argumentierte einerseits, dass sich die allgemeinen Prinzipien vor Ort nicht anwenden ließen, und kritisierte zugleich das zarische Wahlstatut, da dessen Einschränkung der Wahlberechtigten den Vollzug der Wahlen erschwerte. Der Gouverneur trat in diesem Fall also als Vermittler der adligen Interessen auf. Seine Rolle bestand darin, die gesetzlichen Normen soweit zu verändern, dass sie mit den örtlichen Verhältnissen in Einklang zu bringen waren. Der Generalgouverneur fungierte hingegen als eine Zwischeninstanz. Er versuchte einerseits dem Gouverneur die Position der Regierung zu erläutern, andererseits vertrat er gegenüber dem Innenminister die Argumentation des Gouverneurs.193 Der Ausgang derartiger Aushandlungsprozesse war grundsätzlich offen. Am Ende konnte sich durchaus die lokale Ebene gegen die zentrale Staatsgewalt durchsetzen, wenn sie die besseren Argumente auf ihrer Seite hatte. Die Staatsgewalt suchte ihrerseits meist nach einer pragmatischen Lösung, auch wenn diese gegen die eigenen Normen verstieß. Die Adelsversammlung von Kiew etwa hatte 1812 zwei Adlige zu Schöffen im Niederen Landgericht gewählt, obwohl diese 192 Landwehr: Policey vor Ort, S. 51. 193 Schreiben des Generalgouverneurs von Vitebsk, Minsk, Mogilëv und Smolensk an den Innenminister vom 20.8.1832, NIAB f. 1297, o. 1, d. 6153, l. 90–93.

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die formalen Voraussetzungen für das passive Wahlrecht nicht erfüllten. Der Kreisadelsmarschall argumentierte, dass es zwar noch weitere 44 Adlige gebe, die das passive Wahlrecht besäßen und noch kein Amt bekleideten, doch traue man diesen schlicht die Amtsführung nicht zu. Der Gouverneur stimmte der Wahl eines der beiden Schöffen mit der Begründung zu, dass der Kandidat Dobrowolski zwar nicht die formalen Kriterien erfülle, jedoch bereits einmal ein Amt innegehabt und beim Militär gedient habe. Da in manchen Kreisen des Gouvernements Kiew zu wenig Adlige das passive Wahlrecht hätten, wolle er hier eine Ausnahme machen.194 Auch in diesem Fall pochte der Gouverneur also nicht auf eine strikte Umsetzung staatlicher Normen, sondern agierte flexibel. Allerdings bestätigte er nur einen von insgesamt zwei fraglichen Schöffen im Amt. Er war also nicht bereit, jede beliebige Wahl des Adels zu akzeptieren. Vielmehr stellte er ein eigenes Normengerüst auf, das auf pragmatischen Gesichtspunkten basierte. Dobrowolski hatte bereits Erfahrung in der lokalen Verwaltung gesammelt und seine Loyalität durch einen mehrjährigen Militärdienst bewiesen. Von ihm konnte man eine erfolgreiche Amtsführung erwarten. Der zweite Schöffe konnte keine vergleichbaren Referenzen vorweisen. Er war ein unbeschriebenes Blatt und wurde vom Gouverneur deshalb nicht in seinem Amt bestätigt. Gouverneur und Adelsmarschall handelten die vor Ort auftretenden Unstimmigkeiten zwischen zarischer Staatsgewalt und polnischem Adel aus. Der Gouverneur von Kiew focht beispielsweise die Adelswahlen von 1812 an, da es bei der Abstimmung über den Kreisadelsmarschall von Uman’ zu Unregelmäßigkeiten gekommen war. Zum einen hätte eine Reihe von Adligen an der Ballotage teilgenommen, die nicht wahlberechtigt gewesen seien, zum anderen habe der schließlich siegreiche Kandidat selbst seine Stimme abgegeben. Aufgrund dieser Verstöße gegen das Wahlgesetz bestätigte der Gouverneur den gewählten Stachurski nicht in seinem Amt und ordnete stattdessen eine Wiederholung der Wahlen an. Der Gouverneur brachte keine grundsätzlichen Einwände gegen den gewählten Kandidaten vor. Stachurski übte sein Amt bereits seit drei Jahren aus und war bei der Wahl darin bestätigt worden. Der Gouverneur beanstandete nur das Wahlverfahren, das nicht den gesetzlichen Regelungen entsprach. Schließlich fand man eine praktikable Lösung des Konflikts: Der Gouverneur setzte eine Wiederholung der Wahl an und beließ Stachurski bis dahin im Amt. Diese Regelung missfiel jedoch dem Grafen Moszyński. Er war bei den Wahlen auf dem zweiten Platz hinter Stachurski gelandet und beanspruchte nun das Amt für sich. Er beklagte sich beim Gouverneur, dass der amtierende Adelsmarschall gemeinsam mit der lokalen 194 Schreiben der Kiewer Gouvernementsregierung an den Militärgouverneur von Kiew, Michail Miloradovič, vom 15.2.1812, in: CDIAK f. 533, op. 1, d. 1440a, l. 142–143.



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Beamtenschaft die Neuwahl unnötig hinauszögere, und forderte von Stachurski eine Herausgabe aller Akten, was letztlich einer Amtsübergabe gleichkam. Damit war aus einer Auseinandersetzung zwischen der Staatsgewalt und der Adelsversammlung ein Konflikt innerhalb des Adels geworden. Dem Gouverneur fiel nun die Rolle eines Schiedsrichters zu. Ihn überzeugte die Argumentation Moszyńskis allerdings nicht. Er stellte klar, dass Moszyński zwar als Kandidat für das Amt des Adelsmarschalls gewählt, jedoch anschließend nicht von ihm im Amt bestätigt worden sei. Deshalb habe er auch kein Recht, die Aushändigung der Akten zu verlangen und das Amt des Adelsmarschalls zu bekleiden. Stattdessen sollten bis zur Wiederholung der Wahl alle in ihrem Amt bleiben, auch der Kreisadelsmarschall Stachurski.195 Die zarische Staatsgewalt bestand also auf einer formal korrekten Wahl, verfolgte dieses Ziel jedoch möglichst in Einvernehmen mit dem Adel und beließ den Adelsmarschall vorerst im Amt. Der Versuch des unterlegenen Moszyński, die Situation zu seinen Gunsten auszunutzen, scheiterte, da er seinen Anspruch nicht auf geltendes Recht gründen konnte. Die genauen Hintergründe dieser Auseinandersetzung gehen aus den Akten zwar nicht hervor, doch scheinen sich hier zwei Lager gegenübergestanden zu haben: zum einen der Amtsinhaber Stachurski, der von den örtlichen Beamten und einem Teil des Adels unterstützt wurde, zum anderen Graf Moszyński, der einen anderen Teil des Adels hinter sich hatte und ohne die Manipulationen Stachurskis die Wahl möglicherweise sogar gewonnen hätte. Nicht zuletzt adlige Konflikte boten also die Möglichkeit, rechtliche Normen zu implementieren, da der Staat als Schlichter angerufen wurde. In den meisten Klagen warfen Adlige ihren Standesgenossen vor, die Voraussetzungen für das passive Wahlrecht nicht zu erfüllen oder die Wahlen durch Zulassung von nichtwahlberechtigten Parteigängern manipuliert zu haben. So verhalf letztendlich der Adel selbst dem zarischen Wahlgesetz zur Geltung: Indem sich die streitenden Parteien an die Staatsgewalt wandten, mussten sie sich zwangsläufig auf die Rechtslage im Zarenreich berufen, denn nur eine solche Argumentation hatte Aussichten auf Erfolg. Hier löst sich die klare Dichotomie von staatlicher Normdurchsetzung und örtlichem Widerstand auf. Der lokale Adel war eben kein in sich geschlossenes Gebilde, sondern gliederte sich in verschiedene Interessensgruppen, die wiederum der Staatsgewalt die Möglichkeit boten, sich einzuschalten. Ihre Repräsentanten versuchten gar nicht erst, die staatlichen Normen vollständig durchzusetzen, sondern agierten in der Sache pragmatisch und versuchten allenfalls die äußere Form zu wahren. Der Adel wiederum unterlief die staatlichen Normen nicht grundsätzlich, sondern nur, wenn diese seinen Interessen entgegenstanden. Verhalf das staat195 Vgl. das Schreiben der Kiewer Gouvernementsregierung an den Militärgouverneur Miloradovič vom 4.7.1812, in: CDIAK f. 533, op. 1, d. 1440a, l. 133–135.

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liche Ordnungskonzept allerdings dazu, Interessen durchzusetzen oder die eigene Machtposition zu behaupten, bedienten sich Adlige des zarischen Rechts und der staatlichen Institutionen zur Erreichung ihrer Ziele; und zwar auch dann, wenn sie den Normen auf diese Weise unfreiwillig Geltung verschafften. Die Implementierung von Normen war also kein anonymer Prozess, sondern hatte Akteure, die sich klar benennen und im sozialen Gefüge der lokalen Gesellschaft verorten lassen. Der Erfolg des Staates bei der mittel- und langfristigen Etablierung seiner Normen hing nicht zuletzt von einer lokalen Nachfrage nach diesen Normen und der Rolle des Staates als Normgarant ab.196 Die zarische Staatsgewalt trat auf lokaler Ebene regelmäßig als Schiedsrichter zwischen zwei streitenden Adelsparteien auf. Die Gouvernementsregierungen erreichten häufig Klagen, in denen Adlige den rechtmäßigen Verlauf von Wahlen anzweifelten. Schwierige Fälle musste sogar der Innenminister schlichten. In Wilna etwa hatte bei den Adelswahlen von 1802 ein Kreisadelsmarschall seine Wiederwahl nur durchsetzen können, indem er vorab Minderjährige und Besitzlose zur Wahl zugelassen hatte. Der Wilnaer Gouvernementsmarschall und vier Kreisadelsmarschälle zeigten diesen Fall bei den zarischen Behörden an und brachten ihn schließlich bis vor den Innenminister. Dieser traf seine Entscheidung nach pragmatischen Gesichtspunkten. Zwar habe es Unregelmäßigkeiten bei der Wählerschaft gegeben, doch letztlich sei nicht nachzuweisen, inwieweit tatsächlich minderjährige und besitzlose Adlige an der Wahl teilgenommen hätten. Außerdem sei der Einspruch nicht schon vor, sondern erst nach den Wahlen erhoben worden. Eine Wiederholung der Wahlen sei deshalb nicht notwendig und der Kreisadelsmarschall bleibe im Amt.197 Auch dieser Fall zeigt ein typisches Muster: Der Adel rief den Staat als Schiedsrichter in einem Streitfall an, die zarischen Behörden prüften den Fall auf der Basis der geltenden Rechtslage und verhalfen mit ihrer Entscheidung den russischen Gesetzen zur Gültigkeit in der polnischen Provinz. 196 Michael Frank hat bereits am Beispiel eines westfälischen Dorfes im 17. und 18. Jahrhundert gezeigt, dass die Chancen des Staates, sein Normensystem in Konkurrenz zu tradierten Ordnungen durchzusetzen, dort besonders groß sind, wo gesellschaftlicher Wandel die lokalen Besitzund Machtstrukturen auflöst und Teile der ländlichen Gesellschaft es als nützlich erachten, sich auf das staatliche Normenangebot zu berufen, vgl. Michael Frank: Dörfliche Gesellschaft und Kriminalität. Das Fallbeispiel Lippe 1650–1800, Paderborn u.a. 1995, S. 34–39 und 351–360. Frank stützt sich in seiner Studie auf die Arbeit von Wrightson, der am Beispiel zweier englischer Dörfer das Aufeinandertreffen von dörflichen und obrigkeitsstaatlichen Ordnungsvorstellungen im Alltag untersucht hat, vgl. Keith Wrightson: Two Concepts of Order: Justices, Constables and Jurymen in Seventeenth-Century England, in: John Brewer / John Styles (Hg.): An Ungovernable People. The English and their Law in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, New Brunswick 1980, S. 21–46. 197 Brief des Generalgouverneurs von Litauen an den Innenminister, o. d. [November 1802], in: LVIA f. 378 o/o, god 1802, d. 528, l. 247–251ob.



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Eine Appellation bei staatlichen Institutionen verfolgte das Ziel, das zarische Recht für die Verfolgung eigener Interessen zu instrumentalisieren. Viele der eingereichten Beschwerden waren haltlos und wurden abgewiesen. Mitunter verbanden Amtsträger, die mit Klagen überhäuft wurden, ihre Entscheidung sogar mit einer deutlichen Ermahnung, die staatliche Administration künftig nicht mehr mit sinnlosen Eingaben zu belästigen. So wies zum Beispiel der Innenminister Viktor Kočubej den Generalgouverneur von Litauen, Leontij Bennigsen, an, er solle dem Adligen Mirski mitteilen, dass es für ihn dieses Mal keine Folgen habe, eine derartig haltlose Beschwerde beim Innenministerium eingereicht zu haben. Er solle vor das zuständige Gericht gehen und dort Beweise in seiner Angelegenheit vorlegen, sofern er denn überhaupt welche habe.198 Zur Umsetzung staatlicher Normen gehörte also auch, die Antragsteller zur Einhaltung des behördlichen Instanzenweges zu bewegen. Wollten die staatlichen Repräsentanten den zarischen Gesetzen auf lokaler Ebene Geltung verschaffen, so waren sie mitunter gezwungen, diese zu verändern. In Kiew empörte sich zum Beispiel ein Teil des Adels, dass die Adelsversammlung im Jahr 1800 einfach geschlossen wurde, nachdem die Wahlen nicht innerhalb von drei Wochen durchgeführt worden waren. Als die Versammlung kurz darauf wieder eröffnet wurde, erhielten nur noch die reichen Adligen die Erlaubnis zur Stimmabgabe.199 Hier hatten die örtlichen Magnaten und der Gouverneur offenbar kooperiert und eine zunächst durch den Gemeinadel blockierte Wahl durchgesetzt, indem sie die Adelsversammlung kurzerhand in eine funktionierende Vertretung der Magnaten umgewandelt hatten. Die Transformation der sejmiki in russische Adelsversammlungen stieß vor Ort also nicht nur auf Widerstand, sondern insbesondere unter den vermögenden Gutsbesitzern mitunter auch auf tatkräftige Unterstützung. Die zarischen Gesetze erlangten also nicht zuletzt in einem kreativen Aneignungsprozess durch den lokalen Adel ihre Geltung. Dieser Implementierungsprozess bedingte eine Umschreibung der gesetzlichen Normen durch die lokalen Akteure.200 Doch nicht nur Gesetze und Verordnungen veränderten sich bei ihrer Anwendung, sondern auch diejenigen, die sich die Gesetze aneigneten und umdeuteten. So prägte die Verwaltungspraxis die Akteure, selbst wenn sie nicht im eigentlichen Sinne des Gesetzgebers handelten. Bisweilen ging die Initiative für eine Anpassung der polnischen Landtage an die Normen einer russischen Adelsversammlung auch von Teilen der Szlachta aus. So bat zum Beispiel der Adel des Gouvernements Wolhynien im Jahr 1802 198 Brief des Innenministers an den Generalgouverneur vom 20.12.1803, in: LVIA f. 378 o/o, god 1802, d. 528, l. 336–336ob. 199 Vgl. I. A. Linničenko: Iz vremen imperatora Pavla I, in: Istoričeskij vestnik 1896, Nr. 8, S. 491– 496. 200 Siehe dazu auch Haas: Kultur der Verwaltung, S. 36.

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darum, die anstehenden Wahlen genau nach der Ordnung durchzuführen, die Katharina II. einst den Adelsversammlungen gegeben hatte.201 Die gutsbesitzende Szlachta trat hier für die Wiedereinführung des Zensuswahlrechts ein, das Paul I. nach seinem Herrschaftsantritt abgeschafft hatte. Auch andere Regelungen der russischen Gesetzgebung stießen in den Westgouvernements auf Zustimmung. Der Wilnaer Adel hieß 1802 eine Begrenzung der Amtszeit für Richter, die in der Adelsrepublik noch auf Lebenszeit gewählt worden waren, auf drei Jahre ausdrücklich für gut.202 In der Adelsrepublik war die Wahl von Amtsträgern mit der Schließung des Landtages beendet. Eine russische Adelsversammlung wählte hingegen ihre Amtsträger nur unter dem Vorbehalt einer staatlichen Bestätigung. Nach den Wahlen prüfte der Gouverneur, ob die gewählten Kandidaten rechtmäßig dem Adel angehörten, sie bereits andere Ämter inne hatten, mit anderen Amtsinhabern verwandt waren und die nötige „Würde“ für das Amt besaßen. Wenn all diese Zweifel ausgeräumt waren, bestätigte der Gouverneur den Gewählten, und erst mit dieser Anerkennung war die Wahl auch rechtskräftig. Die zarische Staatsgewalt kontrollierte also die Wahlentscheidung des Adels. Dabei wurde in erster Linie darauf geachtet, dass die gewählten Kandidaten dazu berechtigt waren, ein Amt zu übernehmen. Der Gouverneur von Minsk, Alexander von Drebuš, legte seine Befugnisse sogar noch weiter aus. Er fasste die Wahlen als eine staatliche Demonstration auf, die allen vor Augen führen sollte, dass die Regierung keine eigenen Favoriten bevorzuge, sondern nach wahrem Verdienst und dem Wert jedes einzelnen entscheide.203 In diesem eigenwilligen Verständnis diente die staatliche Überprüfung nicht nur dem Zweck, die Wahl in Übereinstimmung mit der gültigen Rechtslage zu bringen, sondern eine überparteiliche Prüfung und gegebenenfalls auch eine Korrektur des Wahlergebnisses durchzuführen. Die Staatsgewalt habe demnach in einer Art Qualitätssicherung darauf zu achten, dass sich der jeweils beste Kandidat durchsetzte und nicht derjenige, der von einem einflussreichen Netzwerk unterstützt wurde. Gesellschaftliche Partizipation stand nach dieser Vorstellung unter staatlichem Vorbehalt. Bestanden Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer Kandidatur, war der Gouverneur angehalten, eine Überprüfung einzuleiten. Er holte bei den lokalen Stellen Informationen ein und versuchte sich ein Bild vom jeweiligen Kandidaten zu machen. Das Verfahren war ergebnisoffen. Der weitaus größere Teil der Nachprüfungen bestätigte das Ergebnis, das die adlige Selbstkontrolle im Vorfeld der Wah201 Namentlicher Ukas Alexanders I. vom 19.5.1802, in: PSZ I, Bd. 27, Nr. 20.273, S. 146–147. 202 Bericht des Wilnaer Gouvernementsmarschalls an den Wilnaer Gouverneur, o. d. [1802], in: LVIA f. 391, op. 1, d. 1535, l. 64–83, hier 65. 203 Schreiben von Drebušs an Benckendorff vom 29.9.1832, in: GARF f. 109, op. 5, d. 386 l.A., l. 46–47ob, hier 47ob.



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len bereits ergeben hatte. Diese Praxis bot somit auch die Möglichkeit, einen unbegründet erhobenen Vorwurf zu entkräften. Zum Beispiel: Feliks Zechanowski, der bei den Adelswahlen in Vitebsk im Jahre 1832 zum Kandidaten für das Amt des Kreisadelsmarschalls gewählt worden war, wurde von einem unterlegenen Mitbewerber beim Gouverneur angezeigt. Der Kontrahent erhob den Vorwurf, die Wahl Zechanowskis sei rechtswidrig, da dieser bereits einmal als Angeklagter vor Gericht gestanden habe. Entsprechend der Gnadenurkunde für den Adel war dies ein Ausschlusskriterium für sämtliche Wahlämter. Allerdings sei diese Tatsache nicht in der Abschrift seiner Personalakte vermerkt worden, so dass er zur Wahl zugelassen worden sei. Eine Überprüfung des Falles brachte zu Tage, dass es vor dem Strafgerichtshof im Jahre 1830 tatsächlich ein Verfahren gegen Zechanowski und dessen Frau gegeben hatte: Beiden hatte man vorgeworfen, ihre Bauern und Hofleute mit maßloser Härte zu bestrafen. Einzelne Bauern seien dadurch zu Tode gekommen, andere hätten sich aus Verzweiflung selbst das Leben genommen. Allerdings ergaben die Nachforschungen des Generalgouverneurs auch, dass das Gericht die beiden Angeklagten auf ganzer Linie freigesprochen hatte. Aus diesem Grunde hatte der Adelsmarschall den Vorgang nicht in der Personalakte Zechanowskis vermerkt und diesen zu den Adelswahlen zugelassen. Der Generalgouverneur erklärte die Wahl Zechanowskis daraufhin für rechtmäßig.204 In wie vielen Fällen verweigerte der Gouverneur die Bestätigung eines gewählten Kandidaten? Die Überlieferung ist für belastbare Angaben zu lückenhaft. Aus den Akten geht jedoch hervor, dass die Staatsgewalt mitunter nachhaltig in die Wahlentscheidung des Adels eingriff. In Kiew wurden zum Beispiel im Jahr 1832 von 125 gewählten Adligen 45 – und damit rund ein Drittel – vom Gouverneur nicht in ihrem Amt bestätigt.205 Es sind jedoch genauso Fälle überliefert, in denen das Bestätigungsverfahren völlig reibungslos vonstattenging. So erhob der Generalgouverneur im selben Jahr in Podolien gegen keinen der Kandidaten für das Amt eines Kreisadelsmarschalls irgendwelche Einwände. Dies lag nicht zuletzt daran, dass in den meisten Fällen die amtierenden Marschälle in ihrem Amt bestätigt wurden oder die Gewählten bereits ein anderes Wahlamt innegehabt hatten. Die Kandidaten waren also weitgehend bekannt und hatten sich offenbar zudem in ihren Ämtern bewährt.206 204 Vgl. Schreiben des Generalgouverneurs von Vitebsk, Mogilëv und Smolensk an den Innenminister vom 10.6.1832, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 6153, l. 44–45. 205 Schreiben des Gouverneurs von Kiew an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 25.10.1832, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1263, l. 163–171ob.; Schreiben des Gouverneurs von Kiew an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 22.11.1832, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1263, l. 232–236ob. 206 Schreiben des Gouverneurs von Podolien an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 14.9.1832, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1264, l. 6–11ob.; Antwortschreiben des Generalgouverneurs an den Gouverneur von Podolien vom 18.9.1832, in: ebd., l. 21–21ob.

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Welche Umstände veranlassten einen Gouverneur dazu, einen gewählten Adligen in seinem Amt nicht zu bestätigen? Die Liste der Begründungen ist so lang wie die Zahl der Voraussetzungen, die ein Adliger für die Wahrnehmung des passiven Wahlrechts zu erfüllen hatte. Am häufigsten sind Fälle, in denen der gewählte Kandidat keinen oder einen zweifelhaften Adelsnachweis hatte.207 Naturgemäß fehlten den polnischen Adligen auch häufig ein russischer Rang oder die entsprechenden Dienstzeiten. In Wolhynien enthob der Gouverneur zum Beispiel 1832 gleich fünf Kreisadelsmarschälle ihrer Ämter, da sie weder einen Rang noch einen russischen Orden besaßen und auch keinen dreijährigen Dienst vorweisen konnten.208 Manche Gouverneure achteten auch darauf, dass sich in den Gerichten und der lokalen Verwaltung keine Sippschaften einnisteten. So intervenierte zum Beispiel der Gouverneur von Mogilëv, nachdem im Kreis Čaus der Kollegienassessor Solov’ëv und der Kollegienregistrator Gedymin zu Schöffen gewählt worden waren. Der Gouverneur weigerte sich, Gedymin in seinem Amt zu bestätigen, da dieser mit der Tochter Solov’ëvs verheiratet sei und somit ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen den beiden Schöffen bestehe. Gedymin bestritt dies vehement und behauptete, dass er nicht mit einer Solov’ëva, sondern mit einer Adligen namens Stronskaja verheiratet sei. Die Überprüfung des Falles ergab schließlich, dass Gedymin hier sehr spitzfindig argumentiert hatte, um den Gouverneur hinters Licht zu führen. Tatsächlich war er mit einer Stronskaja verheiratet, doch deren Mutter hatte nach dem Tode ihres ersten Mannes besagten Solov’ëv geheiratet. Also war Gedymin zwar nicht mit der leiblichen Tochter, jedoch mit der Stieftochter von Solov’ëv verheiratet, die nur den Namen ihres leiblichen Vaters behalten hatte. Aufgrund dieses Umstandes betrachteten der Innenminister und der Generalgouverneur dessen Wahl als nicht rechtens.209 Dieses Beispiel ist insofern typisch, als der Adel bei der Umgehung staatlicher Normen davon ausging, dass die Amtsträger in der Gouvernementstadt oder in St. Petersburg kaum Kenntnis von den Verhältnissen vor Ort hatten. In diesem Fall setzte Gedymin darauf, dass seine enge Verbindung zu Solov’ëv nicht bekannt würde. Als weitere Voraussetzung für die Übernahme eines Amtes hatte Katharina II. in der Gnadenurkunde festgelegt, dass der Kandidat eines Amtes „würdig“ zu 207 So zum Beispiel bei den Adelswahlen im Gouvernement Vitebsk im Jahre 1829, vgl. das Schreiben des Innenministers an den Generalgouverneur vom 25.5.1829, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 4484, l. 1. 208 Schreiben des Gouverneurs von Wolhynien an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 27.8.1832, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1265, l. 165–170; Schreiben des Innenministers an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 14.3.1833, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1265, l. 212–215. 209 Schreiben des Innenministers an den Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv und Smolensk vom 27.8.1835, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 7655, l. 123–124.



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sein habe. Diese Bestimmung war reichlich unkonkret und eröffnete den Gouverneuren Spielräume, um unliebsame Anwärter abzulehnen. In der Praxis wurden für gewöhnlich jene Adlige als „unwürdig“ eingestuft, die sich eine Straftat hatten zuschulden kommen lassen. So hatte zum Beispiel der Kiewer Gouverneur die Wahl des Titularrats Traczewicz zum Bannerträger nicht bestätigt, da der Gewählte in seiner Funktion als Sekretär der Adelsversammlung zusammen mit seinem Schwager mehrere Tausend Rubel unterschlagen hatte. Dieser Fall war zu jener Zeit beim Kreisgericht anhängig. Der Gouverneur verweigerte die Bestätigung Traczewicz’ mit der Begründung, es sei seine gesetzliche Pflicht, die Wahlämter vor lasterhaften und tugendlosen Kandidaten zu schützen.210 Die rechtliche Vorschrift, dass die gewählten Kandidaten vor Amtsantritt durch den Gouverneur bestätigt werden mussten, gab der zarischen Staatsgewalt ein Mittel in die Hand, mit dem sie den Bestimmungen des Wahlrechts Geltung verschaffen konnte. Dennoch kann auch hier nicht von einer umfassenden Normdurchsetzung die Rede sein. Die Gouverneure wichen in der Alltagspraxis regelmäßig von den gesetzlichen Vorschriften ab. Der Versuch der Staatsgewalt, ihre Normen auf lokaler Ebene zu etablieren, stieß vor Ort allerdings Umdeutungs- und Aushandlungsprozesse an, die zwar zu keiner umfassenden Normdurchsetzung führten, den Verlauf und das Ergebnis der Adelsversammlungen in den Westgouvernements jedoch deutlich veränderten. Der zarischen Regierung gelang es somit durchaus, ihre staatlichen Normen zu implementieren.211 Wie reagierten die gewählten Adligen, die vom Gouverneur nicht in ihrem Amt bestätigt wurden? Die meisten reichten Beschwerde ein und äußerten Unverständnis über die Entscheidung des Gouverneurs. Drei Umstände sind dabei auffällig. Zum einen erfüllten die meisten Kandidaten offensichtlich nicht die Voraussetzungen für das passive Wahlrecht. Dennoch erhoben sie wortreich Einspruch gegen die Entscheidung des Gouverneurs. In ihren Beschwerdebriefen hielten sie häufig wichtige Informationen zurück oder verschleierten geschickt den Sachverhalt, so dass ihre Darstellung tatsächlich zunächst den Eindruck erweckte, der Gouverneur habe grob willkürlich gehandelt. Erst eine nähere Untersuchung förderte jene Informationen ans Licht, welche die einseitige Darstellung des Beschwerdeführers zu seinen Ungunsten ergänzte. Die Adligen rechneten offenbar damit, die Tatsachen unbemerkt verdrehen zu können. In vielen Fällen unterschätzten sie jedoch die Möglichkeiten der Behörden, Wissen zu akkumulieren. Es bedurfte zwar eines gewissen Aufwandes, doch die Recherchen des Gouverneurs oder Generalgouverneurs förderten häufig recht genaue Angaben über die betreffenden Personen zu 210 Bericht des Kiewer Gouverneurs Pankrat’ev an den Kiewer Militärgouverneur Tormasov vom 17.10.1805, in: CDIAK f. 533, op. 1, d. 850, l. 73–75. 211 Vgl. Landwehr: Policey vor Ort, S. 50f.

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Tage. Die Adligen gingen also von einer mangelnden lokalen Präsenz der Staatsgewalt aus, die im 19. Jahrhundert immer weniger den Tatsachen entsprach. Zum anderen fällt auf, dass die Adligen die gültige Rechtslage im Zarenreich sehr genau kannten und sich in ihren Beschwerdebriefen zumeist auf jene Gesetzesparagraphen beriefen, die sich zu ihren Gunsten anführen ließen.212 Im Verkehr mit der Staatsgewalt erkannten die Adligen also die rechtlichen Normen des Zarenreichs an. Dies bedeutet nicht, dass sie die herrschenden Normen auch internalisiert hatten. Da die rechtliche Argumentation ein bestimmtes Ziel verfolgte, waren die Adligen vielmehr von konkreten Interessen geleitet. Versteht man soziales Handeln mit Max Weber jedoch nicht als ein durch Werte motiviertes Handeln, sondern hält die Erfolgsorientierung, also die Intention, für maßgeblich, dann trug diese Praxis zur sozialen Integration der Adligen in das Zarenreich bei.213 Und schließlich verdient der Umstand Beachtung, dass viele Adlige ihr (vermeintliches) Recht mit einer beeindruckenden Hartnäckigkeit verfolgten. Eine Zurückweisung ihres Einspruchs hatte häufig einen neuerlichen Einspruch bei der nächsthöheren Instanz zur Folge. So brachte zum Beispiel der Adlige Dem’jan Kočubej, der in Gluchov zum Kandidaten für den Adelsmarschall gewählt, jedoch vom Gouverneur Kleinrusslands Fürst Repnin nicht bestätigt worden war, seinen Fall bis vor das Ministerkomitee. Und dieses gab ihm sogar Recht.214 Auch die Kenntnis des Weges durch die Institutionen und deren Anerkennung als Entscheidungsinstanzen kann als eine Form von pragmatischer Integration gewertet werden. Auf die Wahl der Kandidaten, die aus rechtlichen Gründen strittig war, folgte also ein nicht selten mehrjähriges Gerangel zwischen Adelsmarschall, Gouverneur, Generalgouverneur und Innenministerium. Der Adelsmarschall verteidigte dabei die Interessen der gewählten Standesgenossen. Die Gegenseite vertrat der Gouverneur, der mit seinem Entschluss, den Gewählten nicht zu bestätigen, die Wahlentscheidung des Adels erst zu einer staatlichen Angelegenheit machte. Der Generalgouverneur und das Innenministerium waren wiederum die erste Entscheidungs- und Appellationsinstanz. Diese vier Repräsentanten waren Akteure in einem Aushandlungsprozess, dessen Ausgang in der Regel offen war. Ein Beispiel soll den praktischen Verlauf dieser Kommunikation zwischen adligen und staatlichen Amtsträgern veranschaulichen. Der Generalgouverneur von 212 Vgl. zum Beispiel den Brief des Gutsbesitzers Michał Wasilewski an den Gouverneur von Minsk, o. d. [August 1808], in: NIAB f. 320, op. 2, d. 6, l. 49. 213 Vgl. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 1. 214 Vgl. Schreiben Repnins an Benckendorff vom 11.1.1830, in: GARF f. 109, op. 4, d. 414, l. 9; Auszug aus dem Sitzungsprotokoll des Ministerkomitees vom 24.2. und vom 10.3.1831, in: ebd., l. 16–17.



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Vitebsk, Mogilëv und Smolensk war sich unsicher, ob er den im Kreis Mstislav zum Schöffen gewählten Adligen Sypiło in seinem Amt bestätigen sollte. Einerseits war Sypiło der ehemalige Vorsitzende des Landgerichts und verfügte sowohl über Ansehen in der lokalen Gesellschaft als auch über Erfahrung in der Rechtsprechung. Andererseits hatte er unlängst selbst vor Gericht gestanden. Man hatte ihm Ungehorsam gegenüber dem Staat und Trägheit bei der Ausführung seiner Amtsgeschäfte vorgeworfen, weil er in einem finanziellen Streitfall die erforderliche Korrespondenz mit der Gouvernementsregierung sehr langsam und wenig sorgfältig geführt hatte. Der örtliche Kreisadelsmarschall setzte sich dennoch für dessen Bestätigung im Amt eines Schöffen am Landgericht von Mstislav ein. Er bezeugte den Eifer und die Sorgfalt, die Sypiło im Dienst stets habe walten lassen, und bezog sich explizit auf die russische Gesetzessammlung (svod zakonov), die ausdrücklich gestatte, vorbestrafte Adlige in ihrem Amt zu bestätigen, wenn ihr Vergehen nur geringfügig war. Der Gouverneur berief sich seinerseits auf denselben Gesetzesparagraphen im svod zakonov, kam jedoch zu dem Schluss, dass Sypiłos Wahl gesetzwidrig gewesen sei. Der Generalgouverneur schloss sich bei dieser unterschiedlichen Rechtsauslegung der Ansicht des Adelsmarschalls an. Er hielt das Vergehen Sypiłos für geringfügig und plädierte dafür, ihn in seinem Amt als Schöffe zu bestätigen. Der Innenminister wiederum brachte zur Beurteilung des Falles noch einen weiteren Paragraphen des svod zakonov ins Spiel. Darin war geregelt, dass die Entscheidung in laufenden Gerichtsverfahren beim Senat lag. Da das Verfahren Sypiłos vor dem Strafgerichtshof einerseits bereits abgeschlossen und die Strafe andererseits sehr gering ausgefallen war, schloss sich der Innenminister der Auffassung des Generalgouverneurs an, dass man ihn im Amt bestätigen könne.215 In diesen Aushandlungsprozessen standen sich also nicht der polnische Adel und die zarische Staatsmacht gegenüber. Zwar vertrat der Adelsmarschall die Interessen des adligen Wahlbeamten, die staatlichen Repräsentanten spielten jedoch ganz unterschiedliche Rollen. Der Gouverneur war dafür verantwortlich, dass bei den Adelswahlen die gesetzlichen Vorgaben eingehalten wurden. Er verstand sich also als staatlicher Agent in der Provinz. Generalgouverneur und Innenminister vermittelten jedoch im Falle unterschiedlicher Rechtsauffassung zwischen den beiden Parteien. Sie schlugen sich nicht automatisch auf die Seite des Gouverneurs, nur weil dieser de jure die Interessen des Staates vertrat. Vielmehr behielten sie sich vor, den jeweiligen Fall erneut zu prüfen und ein eigenständiges Urteil zu fällen. Auch sie machten das geltende Recht zur Grundlage ihrer Entscheidung. Damit vermittelten sie nicht zwischen divergierenden Interessen des Provinz215 Vgl. das Schreiben des Innenministers an den Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv und Smolensk vom 27.8.1835, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 7655, l. 123–124.

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adels und des Gouverneurs, sondern urteilten im Falle zweier unterschiedlicher Rechtsauffassungen. Generalgouverneur und Innenminister fungierten also eher als Richter, denn als Angehörige der Exekutive. Und die überlieferten Akten vermitteln nicht nur in dem geschilderten Beispiel, sondern insgesamt den Eindruck, dass sie diese Rolle neutral ausübten. Was geschah jedoch in den Fällen, in denen der Gouverneur in seiner Auffassung bestätigt wurde, dass die Wahl eines Beamten rechtswidrig sei? Die Staatsmacht konnte – etwa durch Überprüfung der Adligkeit – einzelne Wahlbeamte ihres Amtes entheben, doch hatte sie nicht das Recht, solche vakanten Stellen nach eigenem Gutdünken mit einem Staatsdiener zu besetzen. Vielmehr stand es dem Adel zu, für den nicht bestätigten Standesgenossen einen Ersatzmann zu wählen. Es sind auch Fälle überliefert, in denen tatsächlich eine außerordentliche Adelsversammlung einberufen wurde, um eine solche Wahl durchzuführen. In Kiew hatte der Gouverneur ein Mitglied der Adelsdeputiertenversammlung aus seinem Amt entlassen. Der Kreisadelsmarschall setzte daraufhin eine Adelsversammlung an, die einen Nachfolger wählte.216 In der Regel verzichtete man jedoch auf die Einberufung einer außerordentlichen Adelsversammlung. Da die meisten Adligen erst einmal Widerspruch gegen die Entscheidung des Gouverneurs einlegten, dauerte es häufig zwei bis drei Jahre, ehe der Fall geklärt und endgültig entschieden wurde. Da die Adelswahlen im Rhythmus von drei Jahren stattfanden, war es oftmals nicht mehr lange bis zur nächsten regulären Adelsversammlung. Aus diesem Grunde beließ die zentrale Staatsgewalt in solchen Fällen die Adligen bis zu den nächsten Wahlen im Amt. Auch in anderen Fällen ging der zarische Staat mit illegitimen Wahlbeamten pragmatisch um. Bei den Adelswahlen in Podolien war es 1814 zu groben Verstößen gegen das Wahlrecht gekommen. Da die Adelsbücher nicht entlang der gesetzlichen Vorschriften geführt worden waren und die Kreisadelsmarschälle Personen nach eigenem Ermessen in das Adelsbuch aufgenommen hatten, war zudem die Zusammensetzung der Adelsversammlung unrechtmäßig. Am Ende wurden 214 Personen in Ämter gewählt, die eigentlich kein passives Wahlrecht besaßen. Der Militärgouverneur von Podolien war sich darüber im Klaren, dass die Rechtslage in diesem Fall eindeutig war und eine Wiederholung dieser ungültigen Wahlen vorsah. Er gab allerdings zu bedenken, dass es nicht genügend Gutsbesitzer gäbe, die für ein Wahlamt zur Verfügung stünden. Er empfahl deshalb, die lokale Praxis zu dulden, auch wenn dadurch besitzlose Adlige ohne Wahlrecht in Ämter gehievt würden.217 Der Innenminister zeigte sich über eine solche Praxis besorgt, denn 216 Schreiben des Kiewer Kreisadelsmarschalls an den Kiewer Gouvernementsmarschall vom 11.3.1804, in: CDIAK f. 533, op. 1, d. 512, l. 3–3ob. 217 Vgl. Senatsukas vom 12.1.1815, in: RGIA f. 1341, op. 15, d. 594, l. 1–14.



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inzwischen würden sich derartige Fälle häufen: Schon 1806 in Wolhynien und 1808 in Minsk habe man derartige Abweichungen von der Rechtslage geduldet. Dieses Vorgehen dürfe sich nicht etablieren. Stattdessen seien unrechtmäßig verlaufende Wahlen grundsätzlich zu wiederholen. Allerdings ließ auch der Innenminister ein Hintertürchen offen: Wenn nicht genügend Adlige als Kandidaten zur Verfügung stünden und die Wahlen bewährte Amtsträger bestätigt hätten, sei es dem Gouverneur frei gestellt, diese auch im Amt zu bestätigen.218 Noch in den 1830er Jahren finden sich wiederholt Fälle, in denen die zarische Regierung aus pragmatischen Gründen auf eine Durchsetzung des Wahlrechts verzichtete. In Wolhynien beließ die Regierung 1833 sogar fünf Kreisadelsmarschälle in ihrem Amt, obwohl sie nicht die Voraussetzungen für das passive Wahlrecht erfüllten. Der Generalgouverneur versicherte glaubhaft, dass es außer den Gewählten keine anderen fähigen Kandidaten gebe, und hatte gegen deren Amtsenthebung plädiert. Der Zar folgte dieser Empfehlung.219 Die zarische Staatsgewalt setzte ihre Normen in der polnischen Provinz also keineswegs dogmatisch durch, sondern legte die eigenen Gesetze in der Regel recht flexibel aus. Wenn die Wahlen zwar rechtswidrig verlaufen waren, jedoch die fähigsten oder die einzig verfügbaren Kandidaten ins Amt gebracht hatten, wählte die Regierung eine pragmatische Lösung. Da eine Skandalisierung des Wahlbetrugs nur den lokalen Adel gegen die Regierung aufgebracht hätte, akzeptierte man die Wahl und ließ den Fall zumeist auf sich beruhen. Da die Regierung sich in den meisten vergleichbaren Fällen dafür entschied, das Wahlergebnis zu akzeptieren, eröffneten sich Spielräume für den lokalen Adel. Die Erfahrung lehrte, dass die zentrale Staatsgewalt die Bestätigung der gewählten Beamten durch den Gouverneur nur in Ausnahmefällen noch einmal revidierte. Gelang es also, Kandidaten bis zur unmittelbar Bestätigung der Wahl durch das Verfahren zu schleusen, konnte man davon ausgehen, die gesetzlichen Vorschriften erfolgreich umgangen zu haben. Leider gibt es keinerlei Aufzeichnungen von Adligen, die ein gezieltes Vorgehen belegen. Doch die Häufigkeit derartiger Fälle und die weitreichenden juristischen Kenntnisse des Adels legen nahe, dass es sich nicht nur um zahlreiche Pannen handelte, in denen Adlige widerrechtlich in Wahlämter gewählt wurden. Vielmehr ist zu vermuten, dass hinter einem solchen Vorgehen eine wohl kalkulierte Strategie stand, die sowohl auf eine mangelnde Informiertheit der staatlichen Repräsentanten vor Ort als auch auf die Langsamkeit einer Überprüfung durch die zentrale Staatsgewalt setzte. 218 Vgl. Bericht des Innenministers an den Senat vom 14.3.1815, in: RGIA f. 1341, op. 15, d. 594, l. 18–23. 219 Schreiben des Innenministers an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 14.3.1833, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1265, l. 212–215.

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3.3. Von einer ständischen Interessenvertretung zur staatlichen Wahlveranstaltung: Die Disziplinierung der sejmiki durch die Autokratie Der zarischen Regierung war es innerhalb weniger Jahre gelungen, ihre Normen in die ständischen Korporationen der polnischen Adelsrepublik zu implementieren und sie auf diese Weise in das rechtliche und institutionelle Gefüge des Imperiums zu integrieren. Welche Folgen hatte dieser Prozess für die sejmiki selbst? Inwieweit waren aus den eigenständigen und selbstbewussten Organen politischer Willensbildung „staatliche Veranstaltungen“ geworden? Wie nahm die zarische Regierung die Tätigkeit der sejmiki wahr? Und inwieweit veränderte sich die politische Praxis der Landtage nach den Teilungen? Die Regierung in St. Petersburg bewertete die politische Praxis der sejmiki vor dem Hintergrund ihres aufgeklärt-absolutistischen Selbstverständnisses, für Ruhe und Ordnung sorgen zu müssen. Die Maxime Katharinas II., das Imperium sei nur dann wohlgeordnet, wenn sich auch alle seine Teile in Ordnung befänden, galt uneingeschränkt auch für ihre Nachfolger.220 Katharina hatte die Landtage bereits vor den Teilungen negativ beurteilt. Ihre Kritik richtete sich gegen turbulent ablaufende Sitzungen sowie die Beteiligung der gesamten Szlachta an der Diskussion von politischen Angelegenheiten. Mit diesem Urteil stand die Zarin nicht allein. Auch die Reformkräfte der späten Adelsrepublik hatten die politische Praxis der sejmiki als einen Missstand angeprangert.221 Es war das erklärte Ziel der zarischen Regierung, der „Unordnung“ auf den Landtagen ein Ende zu setzen. Platon Zubov sah mit der Gouvernementsreform von 1775 das Ende aller „unruhigen und aufständischen Landtage“ kommen und nun auch in den polnischen Provinzen „Ordnung“ einziehen, die das Volk mit Dankbarkeit annehmen würde.222 Da die zarische Regierung ihr Augenmerk auf Ordnung legte, registrierte sie umso aufmerksamer jegliche Formen von Unordnung. Unter diesen Begriff fielen lautstark ausgetragene Meinungsverschiedenheiten, die von Tumulten bis zu Handgreiflichkeiten reichen konnten. In Wilna herrschte zum Beispiel bei den Wahlen von 1809 ein solches Durcheinander, dass es einigen Adligen gelang, das Siegel der Wahlurne unbemerkt aufzubrechen und sämtliche Wahllisten zu ver-

220 Vgl. Jörg Ganzenmüller: Ordnung als Repräsentation von Staatsgewalt. Das Zarenreich in der litauisch-weißrussischen Provinz (1772–1832), in: Jörg Baberowski / David Feest / Christoph Gumb (Hg.): Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt a. M., New York 2008, S. 59–80. Siehe dazu auch Kapitel I.1. 221 Vgl. Thaden: Russia’s Western Borderlands, S. 66f. 222 Vgl. die Gesetzesvorlage Zubovs, die wörtlich in den Namentlichen Ukas Katharinas II. vom 5.6.1796 einging, in: PSZ I, Bd. 23, Nr. 17.469, S. 897–900, hier 897.



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nichten.223 In Podolien war es 1808 sogar zu einer handfesten Prügelei gekommen, bei der am Ende die Polizei eingreifen musste. Sie nahm drei streitlustige Adlige fest und das Ministerkomitee entschied, dass ihnen entsprechend den geltenden Gesetzen der Prozess gemacht werden sollte.224 Der Innenminister hielt derartige Vorfälle für ein Erbe der Adelsrepublik. Die Neigung des polnischen Adels zur Unruhe stamme aus jenen Zeiten und sei noch immer virulent. Auf der anderen Seite machte er die soziale Zusammensetzung der Adelsversammlung für die Turbulenzen verantwortlich. Er hielt es geradezu für „sittlich verderbt“, dass der allerbeste Grundbesitzer das gleiche Stimmrecht habe wie ein Kleinadliger, der in der Regel keinen Ehrbegriff besitze und von irgendeiner Partei gekauft worden sei.225 In der folgenden Ära Nikolaus’ I. sollten deshalb die Maßnahmen Pauls I. als Sündenfall gelten. Während die Homogenisierungsbestrebungen Katharinas II. noch für Ordnung sorgten, habe die Rückgabe der Rechte und Privilegien dem polnischen Adel völlig den Kopf verdreht. Sofort habe Geschrei, Lärm und Parteiengezänk wieder Einzug in die Adelsversammlungen gehalten.226 Alle Formen von Unordnung rührten in dieser Sichtweise von der politischen Kultur der Adelsrepublik her und waren anachronistische Überbleibsel, die es nach Möglichkeit zu beseitigen galt. Die Regierung reagierte auf derartige Vorfälle mit Strenge. Am 3. März 1809 ordnete sie an, die Anstifter von Unruhe und deren Gefolgsleute von künftigen Adelswahlen auszuschließen. Gleichzeitig waren Gouverneure, die solchen Umtrieben nicht wirksam entgegentraten, ihres Amtes zu entheben.227 Man erhöhte also den Druck sowohl auf die Gouverneure als auch auf den Adel, um die zarischen Ordnungsvorstellungen zur Geltung zu bringen. Dieses Vorgehen fand durchaus den Beifall der Zeitgenossen. Der aus Minsk stammende Journalist Fadej Bulgarin begrüßte die Maßnahmen als längst fälligen Bruch mit der Praxis der Adelsrepublik. Es könne nicht angehen, dass der Gouverneur eine Adelsver223 N. F. Dubrovin: Russkaja žizn’ v načale XIX veka in: Russkaja starina 1899, Nr. 3, S. 539–569, hier 560. 224 Žurnaly komiteta ministrov. Carstvovanie Imperatora Aleksandra I, 1802–1826 gg., 2 Bde., St. Petersburg 1888–1891, Eintrag vom 25.9.1808, Bd. 1, S. 179–185, hier 180; Eintrag vom 13.10.1809, Bd. 1, S. 366–368, hier 368. Der Justizminister hatte dem Zaren auch von einer Reihe von Vorkommnissen berichtet, bei denen es in den polnischen Provinzen zu „Unordnung“ während der Adelswahlen gekommen sei, vgl. den Namentlichen Ukas Alexanders I. vom 29.1.1806, in: PSZ I, Bd. 29, Nr. 22.011, S. 37. 225 Auszug aus dem Kaiserlich bestätigten Journal des Ministerkomitees, in: PSZ I, Bd. 30, Nr. 23.513, S. 839–842. 226 Schriftliche Notiz „Über die Stimmung der Einwohner in den von Polen zurückgekehrten Gebieten“, ohne Unterschrift, ohne Datum [1836], in: GARF f. 109 s/a, op. 2, d. 257, l. 1–4ob., hier 1ob. 227 Auszug aus dem Kaiserlich bestätigten Journal des Ministerkomitees, in: PSZ I, Bd. 30, Nr. 23.513, S. 839–842.

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sammlung einberufe und Dutzende von Kleinadligen durchfüttere, nur damit diese sich gegenseitig verprügelten.228 Es ist nicht möglich, die Wirksamkeit dieser Maßnahmen zu beurteilen, da es keine quantitativen Erhebungen über Unregelmäßigkeiten in den Adelsversammlungen gibt. Allerdings berichten Zeugnisse aus der Regierungszeit Nikolaus’ I. von vergleichbaren Turbulenzen. Bei den Adelswahlen in Wolhynien kam es im Juli 1832 zu einem schweren Zwischenfall. Nachdem die Ämter auf Kreisebene gewählt worden waren, trat am 28. Juli die Vollversammlung zur Wahl der Gouvernementsämter zusammen. Dort warf der Gutsbesitzer Suwiński aus dem Kreis Novograd-Volynskij dem gerade im Amt bestätigten Kreisadelsmarschall von Žitomir, Iwan Głębocki, vor, dieser schulde ihm 22.000 Rubel und weigere sich, das Geld zurückzuzahlen. Daraufhin erhob sich ein solcher Lärm im Saal, dass der Gouverneur die Streitenden trennen musste und einen Teil der randalierenden Adligen in einen anderen Saal verwies. Als Suwiński den Saal verlassen wollte, wurde er von fünf Gefolgsleuten Głębockis angehalten, wüst beschimpft und schließlich verprügelt. Der noch amtierende Gouvernementsmarschall schloss aufgrund dieser Vorkommnisse die Versammlung und verschob die Sitzung auf den folgenden Tag.229 Die Adelsversammlungen waren also durchaus Arenen, in denen politische, unter Umständen aber auch private Meinungsverschiedenheiten ausgetragen wurden. Wie im geschilderten Fall hingen politische und private Fehden häufig eng miteinander zusammen. Da Suwiński unmittelbar vor den Wahlen zum Gouvernementsmarschall einen Kandidaten als säumigen Schuldner an den Pranger stellte, ist zu vermuten, dass er dessen Wahl hintertreiben wollte. Als langjähriger Kreisadelsmarschall wäre Głębocki zumindest ein aussichtsreicher Kandidat gewesen. Diese Art der Auseinandersetzung missfiel jedoch nicht nur den zarischen Beamten. Es war der noch amtierende Gouvernementsmarschall, der in diesem Fall für Ruhe sorgte, denn auch der Adel hatte ein Interesse daran, dass die Wahlen auf geordnete Weise abliefen. Typisch für das zarische Verständnis von „Unordnung“ ist auch ein Bericht, den Benckendorff vom Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien erhielt. Bei den Adelswahlen in Žitomir im Jahr 1838 standen den Adligen keine Stühle zur Verfügung, so dass sie sich in einem unübersichtlichen Haufen zusammenfanden. Die Situation war dadurch schwer zu überblicken, so dass es einigen Adligen ohne Stimmrecht gelang, an den Wahlen teilzunehmen. Zudem wurde 228 Faddej V. Bulgarin: Vospominanija. Otryvki iz vidennago, slyšannago i ispytannago v žizni, St. Petersburg 1846, S. 75. 229 Schreiben des Oberst Gofman, Stabsoffizier des Gendarmeriekorps in Žitomir, an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien, Vasilij Levašov vom 29.7.1832, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1265, l. 105–106.



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nach einem Wahlgang in der Wahlurne neben den Bällen auch eine Feige gefunden. Schließlich reisten viele Adlige schon vor der offiziellen Schließung der Adelsversammlung ab, so dass der Gouverneur eine Reihe von gewählten Adligen nicht mehr in ihrem Amt bestätigen konnte. Er ordnete daraufhin an, in den Kreisversammlungen neue Kandidaten zu wählen.230 Es fällt auf, dass unter dem Begriff „Unordnung“ nicht nur „Prügeleien“ und ähnliche Tumulte gemeldet wurden. Vielmehr betrafen die Klagen eklatante Verstöße gegen das geltende Wahlrecht. In den meisten Fällen wurde die unrechtmäßige Wahlbeteiligung von Adligen beanstandet.231 Auch eine frühzeitige Abreise galt als Verstoß gegen den Ablauf, den die zarische Regierung den Adelsversammlungen vorgeschrieben hatte. Firmierten hinter dem Begriff „Unordnung“ also zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch politische Praktiken, die zwar nicht gesetzwidrig waren, jedoch als chaotisch empfunden und dem Geist der Adelsrepublik zugeschrieben wurden, so hatte die rechtliche Reglementierung der Adelswahlen unter Nikolaus I. zur Folge, dass man unter „Unordnung“ nun klare Verstöße gegen die gesetzlich fixierten Normen verstand. Die hier angeführten Fälle stehen allerdings unter einem gewissen Vorbehalt. Regieren unter dem Vorzeichen „guter Policey“ war nur möglich, wenn die zu ordnenden Verhältnisse bzw. die auftretenden „Missstände“ den Entscheidungsträgern bekannt waren.232 Aus diesem Grunde registrierten die zarischen Amtsträger gewissenhaft alle Fälle von „Unordnung“, die so möglicherweise einen überproportionalen Eingang in die Quellen gefunden haben. Die Akten berichten zwar auch von Adelswahlen, die ruhig und ohne Zwischenfälle verlaufen seien.233 Solche Meldungen nahmen jedoch naturgemäß wenig Raum in der Korrespondenz der zarischen Verwaltung ein, da es nichts Auffälliges zu berichten gab. Häufig dürfte eine vorschriftsmäßig abgehaltene Adelsversammlung gar keine Erwähnung in der amtlichen Korrespondenz gefunden haben. Insgesamt vermitteln die überlieferten Dokumente den Eindruck, dass es immer wieder zu Vorfällen kam, die der zari230 Schreiben des Generalgouverneurs von Kiew, Podolien und Wolhynien, Dmitrij Bibikov, an Alexander Benckendorff vom 7.7.1838, in: CDIAK f. 442, op. 788a, d. 172, l. 13–14. 231 Siehe zum Beispiel auch den Bericht des Generalgouverneurs von Kiew, Podolien und Wolhynien von den Adelswahlen des Jahres 1839, bei denen aufgrund unübersichtlicher Rahmenbedingungen während der Wahlen Personen den Raum verlassen sowie eintreten konnten und am Ende mehr Stimmen abgegeben worden waren, als es Stimmberechtigte gab, vgl. den Brief des Generalgouverneurs von Kiew, Podolien und Wolhynien an den Innenminister vom 14.1.1839, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 2630, l. 199–202. 232 Vgl. Holenstein: „Gute Policey“, S. 24. 233 So zum Beispiel die Adelswahlen von 1797 in Wilna, die ersten Wahlen, die dort nach den Teilungen stattfanden, vgl. den Bericht des Wilnaer Gouverneurs an den Generalgouverneur von Litauen vom 25.4.1797, in: LVIA f. 378 o/o, god 1797, d. 9, l. 604–633, hier 604. Für die Wahlen 1830 in Mogilëv siehe das Schreiben des Gouverneurs von Mogilëv an den Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv und Smolensk vom 5.2.1830, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 4804, l. 8.

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schen Staatsgewalt missfielen und die sie als Abweichung von den aufgestellten Normen registrierte. Es scheint sich aber eher um regelmäßig auftretende Einzelfälle als um ein massenhaft auftretendes Phänomen gehandelt zu haben. Auch müssen die Vorkommnisse, welche die Repräsentanten des Zarenreiches als „Unordnung“ festhielten, die Durchführung der Wahlen selbst gar nicht behindert haben. Es ist deshalb zu unterscheiden, inwieweit allein die Abweichung von normierten Abläufen als Unordnung verstanden oder die Wahlen tatsächlich in ihrem Ergebnis beeinträchtigt wurden. Eine hitzige Diskussion, die unter Umständen auch zu Handgreiflichkeiten führte, musste den eigentlichen Wahlgang nicht zwangsläufig stören. Hingegen konnte die Zusammensetzung der Wählerschaft sehr wohl den Ausgang einer Wahl beeinflussen. Im Gouvernement Wilna war es zum Beispiel üblich, gegen Konkurrenten oder unliebsame Amtsträger unmittelbar vor den Wahlen ein Gerichtsverfahren anzustrengen. Hier nutzte man jenen Passus der Gnadenurkunde für den Adel aus, dem zufolge ein vor Gericht angeklagter Adliger in kein Amt gewählt werden konnte. Das Innenministerium erkannte in dieser Praxis zwar ein Problem, brandmarkte diese Form der Manipulation jedoch nicht als „Unordnung“, da die geltende Rechtslage formal eingehalten wurde.234 Es sind allerdings auch zahlreiche Unregelmäßigkeiten überliefert, in denen sich die Ordnungsvorstellungen der russischen Staatsgewalt und des polnischen Adels nicht klar voneinander abgrenzen lassen. Häufig waren es gerade die Anzeigen polnischer Adliger, welche die russischen Behörden erst von Manipulationen oder offenen Rechtsbrüchen in Kenntnis setzten. In der Regel rief die bei den Wahlen unterlegene Partei die Staatsmacht an, weil sie sich von der gegnerischen Seite betrogen wähnte. So beklagte sich zum Beispiel der 1814 abgewählte Kreisadelsmarschall von Vil’komir beim Wilnaer Gouverneur, dass sich sein Gegner auf gesetzwidrige Weise durchgesetzt habe.235 Dies war kein Einzelfall. Standen sich bei einer Adelswahl zwei rivalisierende Parteien gegenüber, so blieb der unterlegenen Seite die Möglichkeit, die verlorene Wahl anzufechten, indem sie gegenüber den zarischen Behörden deren Verlauf als gesetzwidrig anprangerte. Da sich die klagende Seite auf die geltende Rechtslage berief, konnte die zarische Staatsgewalt ihre Normen in der Rolle eines Schiedsrichters implementieren. Zumindest diejenige Partei, die in solchen Fällen Recht bekam, nahm dies in Kauf. Und da die Beschwerdeführer ihre Gegner häufig dadurch 234 Brief des Kanzleileiters des Innenministeriums an den Wilnaer Gouvernementsmarschall vom 26.2.1824, in: LVIA f. 391, op. 6, d. 189, l. 2–7ob., hier 6ob. -7. 235 Brief des Wilnaer Gouverneurs and den Wilnaer Gouvernementsmarschall vom 22.12.1814, in: LVIA f. 391, op. 1, d. 1005, l. 38–39ob. Eine ganze Reihe derartiger Anzeigen behandelt der Brief des Wilnaer Gouverneurs an den Wilnaer Gouvernementsmarschall vom 16.12.1814, in: LVIA f. 391, op. 1, d. 1005, l. 62–66ob.



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aus dem Amt zu drängen versuchten, indem sie auf deren fehlende oder lückenhafte Adelsnachweise aufmerksam machten, konnte die russische Staatsgewalt schrittweise ihre rechtliche Definition von Adligkeit zur Geltung bringen. Im Alltag standen sich also polnische Adelsversammlung und russische Staatsgewalt nicht antagonistisch gegenüber. Vielmehr stellte die Regierung den institutionellen Rahmen für die politische Partizipation der Szlachta bereit, der mitunter auch als Arena für die Austragung lokaler Elitenkonflikte diente. Die zarische Regierung hielt die Gewährleistung von „Ordnung“ für ein entscheidendes Kriterium bei der Transformation der polnischen Landtage in russische Adelsversammlungen. In polnischer Perspektive waren die sejmiki hingegen lebendige Diskussionsforen und eigenständige Entscheidungsgremien. Stellt man also die Frage, inwieweit die Landtage der Adelsrepublik in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu Adelsversammlungen des Zarenreiches geworden sind, so muss man auch nach deren gesellschaftlicher Funktion fragen. Waren die Adelsversammlungen der Westgouvernements noch ständische Korporationen, in denen politische Fragen diskutiert und entschieden wurden? Oder waren sie nunmehr „staatliche Veranstaltungen“, in denen sich die Adligen nicht aus freien Stücken versammelten, sondern aufgrund der anordnenden Gewalt der Autokratie zusammenfanden und sich einem Staatszweck unterwarfen?236 Welche spezifische politische Kultur hatten jene russischen Adelsversammlungen, in welche die sejmiki letztlich umgewandelt werden sollten? Katharinas II. Gnadenurkunde von 1785 sah in ihnen den Ort, an dem sich der Adel sozial und politisch organisieren sollte. Die Versammlung durfte ein „Haus“ besitzen und für den Unterhalt der korporativen Einrichtungen Beiträge erheben. Zweifellos bestand ihre Hauptaufgabe in der Führung des Adelsregisters, doch hatte sie auch die Befugnis, dem Senat oder der Kaiserin Denk- und Bittschriften über lokale Angelegenheiten vorzulegen. Damit hatte ihr der Staat die Möglichkeit eingeräumt, politische Initiative im regionalen Raum zu entwickeln: „Hier trat das unausgesprochene eigentliche Ziel der Charta am klarsten zutage: den Adel als ‚freie Korporation’ neu zu konstituieren und ihn zu motivieren, sich – wenn auch unter der weisen Aufsicht der Monarchin – um die Ordnung der eigenen Belange zu kümmern.“237

Inwieweit entsprach die politische Wirklichkeit den Wunschvorstellungen Katharinas? In dieser Frage gehen die Einschätzungen seit jeher weit auseinander. Schon 236 So das Urteil für die russischen Adelsversammlungen bei Geyer: „Gesellschaft“ als staatliche Veranstaltung, S. 34. 237 Hildermeier: Der russische Adel, S. 181.

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in der zarischen Geschichtsschreibung standen sich Würdigung und fundamentale Kritik gegenüber. Während Michail Jabločkov und Aleksandr RomanovičSlavatinskij von der Rechtslage auf die soziale Praxis schlossen und die Eigenständigkeit der adligen Korporationen anerkannten,238 sprach Ključevskij den Adelsversammlungen jegliche unabhängige Entscheidungsgewalt ab.239 Heute überwiegt jenes kritische Urteil, das Baron Korf in seiner mittlerweile klassisch gewordenen Studie zum Adel vor den „Großen Reformen“ vertreten hat: Die Aristokratie habe nur wenig Zutrauen in die neuen Repräsentationsgremien und Mitwirkungsrechte gehabt und die Adelsversammlungen nie als ständische Korporationen angenommen. Vielmehr versuchten die Edelleute, die Übernahme von Wahlämtern zu vermeiden und einen Bevollmächtigten zu senden, anstatt persönlich zu erscheinen.240 Diese Deutung stimmt weitgehend mit der Wahrnehmung der zarischen Regierung überein. Nikolaus I. selbst klagte 1832 über die Adelsversammlungen: „Aus den Nachrichten, die Mich erreichen, habe Ich mit Kummer ersehen, dass die Adelswahlen nicht immer den Erwartungen der Regierung entsprechen. Die besten Adligen vermeiden entweder den Dienst oder nehmen nicht an den Wahlen teil, oder sie stimmen gleichmütig der Wahl von Leuten zu, die zur Erfüllung der ihnen auferlegten Pflichten nicht die nötigen Eigenschaften besitzen.“241

Nach Hans-Joachim Torke verloren die Adelsversammlungen gegen Ende der Regierungszeit Alexanders I. zudem an Bedeutung. Die Gouvernementsbehörden konnten seit 1820 Wahlbeamte entlassen und machten von diesem Recht mancherorts offenbar umfassend Gebrauch. So hatte der Gouverneur von Smolensk innerhalb von drei Jahren 189 Wahlbeamte vor Gericht gebracht. Das Ministerkomitee rügte ihn daraufhin vorsichtig, er sei hier wohl etwas zu weit gegangen.242 Die bis heute allgemein anerkannte Charakterisierung der russischen Adelsversammlungen stammt allerdings nach wie vor von Dietrich Geyer. Der Versuch, diesen Zwangsgemeinschaften ständisches Wesen, korporative Gesinnung und Verantwortlichkeit mitzugeben, sei gescheitert. Die Existenzberechtigung dieser adligen Korporation habe auf nichts anderem als auf der Pflicht beruht, durch periodische Wahlen Beamte für die zarische Bürokratie zu rekrutieren: 238 Michail T. Jabločkov: Istorija dvorjanskago soslovija v Rossii, St. Petersburg 1876, S. 557; Aleksandr V. Romanovič-Slavatinskij: Dvorjanstvo v Rossii ot načala XVIII veka do otmeny krepostnago prava, St. Petersburg 1870, S. 425–440. 239 Ključevskij: Kurs russkoj istorii, Bd. 5, S. 112–117. 240 Vgl. Korf: Dvorjanstvo i ego soslovnoe upravlenie, S. 436–447. 241 Namentlicher Ukas Nikolaus’ I. vom 1.1.1832, in: PSZ II, Bd. 7, Nr. 5053, S. 1–2, hier 1. 242 Vgl. Torke: Das russische Beamtentum, S. 34.



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„Neben dem Wahlakt, der die Adelsmarschälle erbringen musste, waren der Korporation als permanente Selbstbeschäftigung die Fürsorgepflicht für adlige Witwen und Waisen und die Führung der Adelsbücher zugewiesen, letzteres ein Hilfsdienst für die Petersburger Heroldei und für die Archive der Gouvernementsregierung. Ferner wurde den Versammlungen erlaubt, dem Generalgouverneur oder dem Gouverneur ihre gemeinsamen Bedürfnisse und Belange vorzutragen. Auch dem Senat und der Kaiserlichen Majestät sollten – ‚auf gesetzmäßiger Grundlage‘ – ‚Vorstellungen und Klagen’ durch Deputierte übermittelt werden dürfen. Ob sich so vage Zusagen praktizieren lassen würden, stand dahin. Die wichtigste Bestimmung der ‚Gesellschaft‘ aber war auch weiterhin in den vorgeschriebenen Ämterwahlen zu sehen: (…) Eine Fülle lokaler Positionen wurden den Gliedern der Gesellschaft aufgetan, und der Gouverneur blieb gehalten, den gewählten Personen die amtliche Bestätigung nicht zu versagen, falls ‚kein offenbares Laster‘ an ihnen haftete.“243

Die „Gesellschaft“, die Katharina II. mit Hilfe der Adelsversammlungen erschaffen wollte, sei unter diesen Bedingungen nur eine „staatliche Veranstaltung“ gewesen und habe sich auch nicht von einer Bevormundung durch die Autokratie befreien können. Erst als Alexander II. im Zuge seiner „Großen Reformen“ mit der Gründung der zemstva im Jahre 1864 die lokale Selbstverwaltung auf ein neues Fundament stellte, gewann der Adel die Befugnis, auch über Sachfragen befinden zu können. Aus adligen Wählern, die an einer staatlich organisierten Personalauslese teilnahmen, wurden nun politische Repräsentanten ihrer Provinz.244 Inwieweit kann die Kategorie der „staatlichen Veranstaltung“ als entscheidendes Wesensmerkmal einer russischen Adelsversammlung gelten und damit als Maßstab für eine Beurteilung des Transformationsprozesses der sejmiki dienen? Läuft man damit Gefahr, die rechtliche Stellung der Adelsversammlungen, wie sie auf dem Papier bestand, mit der politischen Praxis in den Westgouvernements gleichzusetzen? Möglicherweise waren die Adelsversammlungen in Zentralrussland in Wirklichkeit sehr viel lebendiger, als dies die historische Forschung bislang für möglich hält. Allerdings fehlen lokalgeschichtliche Untersuchungen, welche die alltägliche Praxis von russischen Adelsversammlungen beleuchten und die Frage beantworten, inwieweit die soziale Realität tatsächlich der rechtlichen Stellung innerhalb der staatlichen Verwaltung des Zarenreiches entsprach. Anders 243 Geyer: „Gesellschaft“ als staatliche Veranstaltung, S. 44. 244 Vgl. Andreas Grenzer: Adel und Landbesitz im ausgehenden Zarenreich. Der russische Landadel zwischen Selbstbehauptung und Anpassung nach Aufhebung der Leibeigenschaft, Stuttgart 1995, S. 60f.; Kermit E. McKenzie: Zemstvo Organization and Role within the Administrative Structure, in: Terence Emmons / Wayne S. Vucinich (Hg.): The Zemstvo in Russia. An Experiment in Local Self-Government, Cambridge u.a. 1982, S. 31–78, hier 44–48.

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Von der ständischen Korporation zur „staatlichen Veranstaltung“?

als die polnischen Landtage waren die russischen Adelsversammlungen nicht als Foren für politische Diskussionen konzipiert und verfügten über keinerlei politische Entscheidungsbefugnisse. An dieser Stelle kann nicht geklärt werden, ob die Adelswahlen in den zentralrussischen Gouvernements nicht doch vom Adel angenommen worden sind und sich in deren Folge eine lokale Elite herausbildete, die bereit war, vor Ort politische Verantwortung zu übernehmen. Wenn sich die Adelsversammlungen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts auch nicht zu selbstbewussten ständischen Korporationen entwickelten, die sich als Organe adliger Interessenvertretung gegenüber der Krone verstanden, so ist das nicht zwangsläufig mit einer „staatlichen Veranstaltung“ gleichzusetzen, die sich von der Autokratie bevormunden ließ. Aus diesem Grunde soll vielmehr gefragt werden, inwieweit die sejmiki in der Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Charakter als politische Interessensvertretung des Adels gegenüber der Krone verloren und sich in staatliche Wahlveranstaltungen verwandelt hatten, in denen der Adel über die Besetzung lokaler Ämter in der Verwaltung und im Gerichtswesen bestimmte. Eine Beurteilung des Wesens der Adelsversammlungen erscheint nur möglich, wenn man den konkreten Verlauf der Sitzungen untersucht. Inwieweit wurde dort diskutiert und gestritten? Welche Fragen standen im Fokus der Aufmerksamkeit? Wie verlief bei unterschiedlichen Auffassungen die Entscheidungsfindung, die letztlich zu einem Beschluss führte? All diese Fragen lassen sich jedoch kaum beantworten. Es fehlen die Quellen, mit deren Hilfe man das tatsächliche Geschehen auf den Adelsversammlungen rekonstruieren könnte. Nur wenige Sitzungsprotokolle sind überliefert und diese beschreiben nicht den Verlauf der Diskussionen, sondern halten lediglich die gefassten Beschlüsse und Wahlergebnisse fest. Meistens sind sie sogar ein reines Spiegelbild des vorab festgelegten Programms: Eröffnung durch den Gouverneur, Kirchgang, Durchführung der Wahlen, Schließung der Versammlung. Der einzige Unterschied zur Tagesordnung besteht darin, dass die Protokolle die Namen der Gewählten aufführen. Reden oder Diskussionen sind hingegen nicht festgehalten.245 Dies ist durchaus nicht ungewöhnlich. In frühneuzeitlichen Ständeversammlungen wurde gemeinhin beim Abschied Einmütigkeit und freiwillige Übereinkunft zwischen Herren und Ständen auch dann inszeniert, wenn es in der Sache zu erheblichen Konflikten gekommen war.246 Durchaus vergleichbar sind die Protokolle der zarischen Adelsversammlungen. Schriftlich fixiert wurden nur die Beschlüsse, die am Ende alle Teilnehmer unterzeichneten. Die Debatten, die zu diesen Entscheidungen geführt hatten, sind hingegen nicht 245 Vgl. zum Beispiel die Protokolle der Adelsversammlungen der Kreise Bobrujsk, Dzisna, Minsk und Pinsk bei den Adelswahlen in Minsk im Jahre 1820, in: NIAB f. 320, op. 2, d. 21, l. 8–11, 12–15, 16–18 und 22–28. 246 Stollberg-Rilinger: Symbolische Kommunikation, S. 511f.



Die Transformation der sejmiki zu Adelsversammlungen

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überliefert und damit nicht mehr rekonstruierbar. Sie behandelten in der Regel auch weniger lokal- oder gar allgemeinpolitische Fragen, sondern in erster Linie fiskalische Angelegenheiten, wie zum Beispiel das Festsetzen von Abgaben und die Verteilung der zur Verfügung stehenden Gelder für die Kanzleien, die Beamtenpensionen oder die Renovierung des Adelshauses. Doch auch wenn die Adelsversammlungen in erster Linie die Funktion erfüllten, die Wahlämter zu besetzen, so waren sie damit nicht automatisch „staatliche Veranstaltungen“, welche der Regierung einzig als Mittel zur Rekrutierung des Verwaltungspersonals dienten. Auch die Wahl von Amtsträgern war häufig eine politische Entscheidung, über die der Adel sowohl untereinander als auch mit den Repräsentanten des Zarenreiches stritt. Ein Beispiel des Jahres 1831 aus dem Gouvernement Kiew soll dies verdeutlichen. Dort hatte ein Adliger die Wahlen aufgrund von „Unregelmäßigkeiten“ angefochten und eine Wiederholung der Ballotage gefordert.247 Hintergrund dieser Beschwerde war ein lokaler Konflikt zwischen einer regierungsfreundlichen und einer regierungskritischen Adelspartei. Diese Auseinandersetzung war bei der Zusammenkunft im Dezember 1831 eskaliert. Eine Reihe von Adligen, die nicht zur Wahl erscheinen konnten, hatten Personen mit der Stimmabgabe bevollmächtigt, die selbst gar kein Wahlrecht hatten. Die Zahl der unberechtigten Wähler nahm auf diese Weise so stark zu, dass die nichtregierungstreue Seite gestärkt wurde und auf Gouvernementsebene sogar eine Mehrheit errang, mit der sie die wichtigsten Ämter besetzen konnte. Die Mehrheitspartei wählte schließlich auch eine Reihe von Adligen, denen das passive Wahlrecht eigentlich nicht zustand, da sie weder über einen Rang noch über Grundbesitz verfügten.248 Adelsversammlungen waren also nicht allein deshalb unpolitische Veranstaltungen, weil dort „nur“ lokale Ämter besetzt wurden. In unserem Fall gab es offenbar zwei Adelsparteien, die bestrebt waren, eine Mehrheit zu organisieren und möglichst viele Ämter mit eigenen Gefolgsleuten zu besetzen. Gerade weil die Adelsversammlung offenbar ihre Rolle als zentrales Entscheidungsorgan in lokalpolitischen Angelegenheiten verlor, wurden die Adelswahlen umso wichtiger. Schon allein aufgrund des dreijährigen Turnus, in dem sich der Adel auf Gouvernements- und Kreisebene versammelte, waren im Alltag die Amtsträger – insbesondere die Adelsmarschälle – diejenigen, die entscheidenden Einfluss auf den Gang der Politik im Kreis oder im Gouvernement ausübten. Die Wahl wurde somit zu einem zentralen politischen Ereignis. 247 Schreiben des Innenministers an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 26.11.1832, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1268, l. 1–1ob. 248 Schreiben des Kiewer Gouvernementsmarschalls an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 17.4.1833, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1268, l. 16–25, hier 16ob-19.

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Von der ständischen Korporation zur „staatlichen Veranstaltung“?

Da der Adel die Wahllisten für die jeweiligen Kreise selbst aufstellte, gab es an dieser Stelle des Verfahrens offenbar die Möglichkeit, die Zusammensetzung der Wählerschaft zu manipulieren. Der Kiewer Adelsmarschall wies zwar sämtliche Vorwürfe zurück und betonte, die Wahlen seien ordnungsgemäß verlaufen.249 Doch unabhängig davon, wer in dieser Angelegenheit nun Recht hatte, erscheint für unseren Zusammenhang relevant, dass hier zwei rivalisierende Adelsparteien um die Besetzung von Wahlämtern konkurrierten. Beide versuchten offenbar schon im Vorfeld Mehrheiten zu organisieren, wobei die eine Seite ihre Gefolgschaft durch eine großzügige Interpretation des Wahlrechts vergrößert zu haben scheint. Eine solche Vorgehensweise war keine Seltenheit. In Podolien hatte beispielsweise eine Gruppe von Kreisbeamten so viele Angehörige des Magnatengeschlechts der Sobańskis in das Adelsbuch eingetragen, dass diese Familie die Adelswahl nach Belieben steuerte.250 Ebenso typisch ist, dass die unterlegene Seite die Wahl anfocht, indem sie dem Konkurrenten Verstöße gegen die Wahlordnung vorwarf. Man versuchte also, die Staatsgewalt zur Durchsetzung eigener Interessen einzuspannen. Doch indem der Staat angerufen wurde, akzeptierte man ihn einmal mehr als Schiedsinstanz in lokalen Angelegenheiten. Die Staatsgewalt erhielt auf diese Weise Informationen über die Umsetzung ihrer gesetzlichen Vorschriften und konnte zugleich regulierend in die Lokalpolitik eingreifen. Eine andere Frage ist, inwieweit die Staatsgewalt in Gestalt des Gouverneurs auf den Verlauf der Sitzungen und auf die Ergebnisse der Adelswahlen Einfluss nahm. In den zentralrussischen Provinzen mischten sich die Gouverneure und ihre Beamten mitunter über Gebühr ein. Wiederholt diskutierte das Ministerkomitee darüber, wie man diesem Missstand Abhilfe schaffen könnte.251 Nachdem bekannt wurde, dass der Gouverneur von Kaluga für bestimmte Kandidaten Partei nahm und der Adelsversammlung sogar drohte, im Falle der Wahl anderer Kandidaten diese umgehend wieder aus ihren Ämtern zu drängen, sah sich Alexander I. persönlich veranlasst, die Gouverneure in ihre gesetzlichen Schranken zu weisen.252

249 Schreiben des Kiewer Gouvernementsmarschalls an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 17.4.1833, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1268, l. 16–25, hier 19ob-25. 250 Schreiben Konstantin Pavlovičs an den Gouverneur von Podolien vom 28.12.1829, in: GARF f. 109, op. 4, d. 451, l. 6–9ob. 251 Vgl. Seredonin: Istoričeskij obzor dejatel’nosti komiteta ministrov, Bd. 1, S. 276; Dubrovin: Russkaja žizn’ v načale XIX veka, S. 551ff. 252 Namentlicher Ukas Alexanders I. vom 16.8.1802, in: PSZ I, Bd. 27, Nr. 20.372, S. 221–222; Namentlicher Ukas Alexanders I. vom 16.8.1802, in: ebd., Nr. 20.374, S. 223–226. Auch die Gouvernementsprokurateure, die örtlichen Vertreter des Justizministeriums, wurden 1811 angewiesen, sich jeder Einflussnahme bei den Adelswahlen zu enthalten, siehe den Namentlichen Ukas Alexanders I. vom 27.2.1811, in: PSZ I, Bd. 31, Nr. 24.539, S. 563.



Die Transformation der sejmiki zu Adelsversammlungen

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Bezeichnend ist auch, dass die Gouverneure 1808 aufgefordert wurden, mit den Adelsmarschällen im üblichen Behördenton zu verkehren.253 Welchen Einfluss hatten die Gouverneure im polnischen Umfeld der Westgouvernements? Das eben geschilderte Beispiel aus Kiew wirft auch hier ein Schlaglicht auf die Beziehung zwischen Staatsgewalt und Adel in der politischen Praxis. Die staatlichen Behörden waren in diesem Fall nicht Herr des Wahlverfahrens, sondern gegenüber den Praktiken des Adels machtlos. Als Nikolaus I. den Generalgouverneur aufforderte, die dortigen Zustände zu erklären, rechtfertigte Letzterer sein Versäumnis, die gewählten Kandidaten vor einer Bestätigung eingehend zu überprüfen, mit der angeblich widersprüchlichen Rechtslage und einem Mangel an Zeit.254 Und obwohl die Überprüfung der gewählten Kandidaten ans Licht gebracht hatte, dass die Adelsversammlung in drei Fällen widerrechtlich Kandidaten ins Amt gewählt hatte, sah das Innenministerium dennoch von einer Absetzung dieser Amtsträger ab, um die Macht der dortigen Gouvernementsverwaltung nicht noch weiter zu schwächen.255 Dieses Beispiel zeigt, dass die Adelsversammlungen der Westgouvernements zwar in erster Linie der Wahl von Amtsträgern dienten, doch damit nicht zwangsläufig „staatliche Veranstaltungen“ waren. Der Charakter einer Adelsversammlung hing letztlich von ihrem konkreten Verlauf ab, und dem Adel blieben genug Möglichkeiten, die Wahlen zu seiner eigenen Veranstaltung zu machen. Die Repräsentanten der Staatsgewalt hatten in solchen Fällen kaum eine Möglichkeit, den staatlichen Normen Geltung zu verschaffen. Und auch die Regierung in St. Petersburg scheute in solchen Fällen davor zurück, den Konflikt mit dem lokalen Adel zu wagen. Häufig konnte sich die lokale Ebene wie in Kiew am Ende durchsetzen, und der Staatsgewalt gelang es nicht, ihre Normen durchzusetzen. Es würde allerdings zu kurz greifen, die Adelsversammlungen auf das offizielle Veranstaltungsprogramm zu reduzieren und allein auf dieser Grundlage ihren Charakter bestimmen zu wollen. Auch wenn auf den Versammlungen selbst die Wahlen im Vordergrund standen, so boten die Zusammenkünfte des Gouvernementsadels auch die Gelegenheit, sich über politische Fragen auszutauschen. Im Mittelpunkt standen dabei lokale Belange wie das örtliche Schulwesen oder der Zustand der Straßen.256 Der Adel scheint das Forum aber auch dazu genutzt zu 253 Namentlicher Ukas Alexanders I. vom 28.5.1808, in: PSZ I, Bd. 30, Nr. 23.042, S. 278. 254 Schreiben Nikolaus’ I. an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 19.1.1834, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1268, l. 30–31ob.; Schreiben des Innenministers an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 14.5.1834, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1268, l. 34–34ob. 255 Schreiben des Innenministers an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 19.1.1834, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1268, l. 28–29. 256 Vgl. Dundulis: Napoléon et la Lituanie, S. 12.

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Von der ständischen Korporation zur „staatlichen Veranstaltung“?

haben, brisante Themen wie die Bauernfrage zu diskutieren. So debattierten die Adelsversammlungen in Wilna und Grodno 1817 über die Aufhebung der Leibeigenschaft und plädierten schließlich mehrheitlich für eine Bauernbefreiung.257 Allerdings existieren nur wenige Zeugnisse darüber, inwieweit allgemeinpolitische Fragen auf den Adelsversammlungen besprochen wurden. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass solche Diskussionen von staatlicher Seite nicht erwünscht waren. Die Vorkommnisse in Wilna missfielen Alexander I. zutiefst und er klagte gegenüber dem Militärgouverneur von Litauen: „Mit Betrübnis sehe ich, dass einige Adlige, obschon vielleicht von Menschenliebe und edlen Absichten bewegt, in diesem Fall trotzdem jene Schranken der Mäßigung niedergerissen haben, die Besonnenheit und Gesetze vorschreiben.“258

Es gab also eine klare Abgrenzung zwischen Angelegenheiten, die eine Adelsversammlung verhandeln durfte, und Themen, die sich nicht für eine öffentliche Debatte eigneten. Die Vorfälle in Wilna und Grodno zeigen allerdings auch, dass der Adel diese Grenzen in der Praxis überschritt. Neben aktuellen politischen Fragen wie der Bauernbefreiung dürfte nicht zuletzt die zarische Adelsrevision ein viel diskutiertes Thema gewesen sein. Immerhin berührte diese Frage den Lebensalltag der Szlachta und bedrohte die Existenz vieler Adliger. In Podolien hatte zum Beispiel bei den Adelswahlen im Jahre 1839 ein Richter am Gewissensgericht namens Wilamowski in Anwesenheit des gesamten Adels eine Rede über die Tätigkeit der Kiewer Revisionskommission für die Adelsüberprüfung gehalten und einige Vorschläge gemacht, wie man künftig den Nachweis der Adligkeit zu erbringen habe. Dem Gouverneur missfiel allein schon, dass der Richter diese Rede auf Polnisch hielt. Schwerer wog jedoch, dass die Vorschläge Wilamowskis nicht im Einklang mit dem Gesetz standen. Der Fall kam bis vor den Innenminister, der den Gouvernementsmarschall aufforderte, Wilamowski zur Rechenschaft zu ziehen.259 Der Austausch über aktuelle Fragen konnte allerdings auch abseits des offiziellen Programms stattfinden. Einen politischen Skandal löste die Rede eines Adligen namens Ubri aus, der den Rang eines Kollegienassessors innehatte und das Amt eines Kreisadelsmarschalls bekleidete. Ubri hatte anlässlich seiner Wahl auf der Vitebsker Adelsversammlung 1832 eine Rede in französischer Sprache gehalten. Dort gestand er dem versammelten Provinzadel, dass es ihm nicht leicht 257 Vgl. Żółtowski: Border of Europe, S. 93f. 258 Zit. in: Seredonin: Istoričeskij obzor dejatel’nosti komiteta ministrov, Bd. 1, S. 265. 259 Brief des Generalgouverneurs von Kiew, Podolien und Wolhynien an den Innenminister vom 14.1.1839, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 2630, l. 199–202.



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gefallen sei, sich für ein Amt zu bewerben. Er zweifelte den Sinn von Wahlen an, wenn man in einem System lebe, in dem alle Gewalt von einem Einzelnen ausgehe und die adligen Rechte und Privilegien jederzeit verletzt werden könnten. Da von einer absoluten Monarchie grundsätzlich nichts Gutes zu erwarten sei, forderte er die Anwesenden auf, bei den anstehenden Wahlen eine oppositionelle Haltung zum Ausdruck zu bringen. Schließlich schwor er den Adel auf Geschlossenheit ein, denn eine politische Zersplitterung spiele nur dem Despotismus in die Hand.260 In der zarischen Regierung sorgte diese Rede für helle Aufregung, denn hier war auf einer staatlichen Veranstaltung die Autokratie in Frage gestellt worden. Als erstes wurde Alexander Benckendorff informiert, dessen Geheimpolizei den Vorfall nach St. Petersburg meldete.261 Er legte die Rede dem Zaren persönlich vor.262 Nikolaus I. muss daraufhin seinen Innenminister, Dmitrij Bludov, zur Rede gestellt haben, denn nur zwei Tage später verlangte dieser vom Generalgouverneur, Nikolaj Chovanskij, einen ausführlichen Bericht über den Vorfall.263 Chovanskij versicherte, dass er keinerlei Kenntnis von dieser Rede habe, und wollte nähere Erkundigungen einholen.264 Sämtliche Kreisadelsmarschälle gaben jedoch an, von dem Vorfall nichts zu wissen. Nur ein ehemaliger Adelsmarschall aus Polock bestätigte den Vorfall, berichtete jedoch, dass Ubri die Rede nicht im Saal der Adelsversammlung, sondern in einem benachbarten Arbeitszimmer gehalten habe.265 Es ist letztlich nicht mehr zu rekonstruieren, inwieweit Ubris Auftritt einen Ausnahmefall darstellt oder ob im Umfeld der Adelsversammlungen wiederholt politische Grundsatzreden gehalten wurden. Da derartige Reden nicht Bestandteil des offiziellen Teils der Adelsversammlung waren, fanden sie nur dann Eingang in die Akten, wenn – wie in diesem Fall – die Dritte Abteilung davon erfuhr. Es spricht für die Außergewöhnlichkeit dieses Ereignisses, dass sich sogar der Zar mit diesem Vorfall auseinandersetzte. Es zeugt aber zugleich von der Nervosität der zarischen Regierung nach dem Novemberaufstand, dass man diesem Ereignis eine solche Bedeutung beimaß. Fest steht, dass die Regierung bestrebt war, politi260 Rede des Adligen Ubri vom 4.6.1832 auf der Adelsversammlung von Vitebsk, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 6048, l. 2–7. 261 Brief des Stabsoffiziers des Gendarmeriekorps im Gouvernement Vitebsk an Benckendorff vom 12.6.1832, in: GARF f. 109, op. 6, d. 281, l. 1–9ob. 262 Notiz Benckendorffs vom 25.6.1832, in: ebd., l. 11–11ob. 263 Schreiben des Innenminsters an den Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv, Smolensk und Minsk vom 27.6.1832, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 6048, l. 1. 264 Schreiben des Gouverneurs von Vitebsk an den Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv, Smolensk und Minsk vom 20.7.1832, in: ebd., l. 34–39. 265 Schreiben des Gouverneurs von Vitebsk an den Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv, Smolensk und Minsk vom 18.8.1832, in: ebd., l. 40–46.

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Von der ständischen Korporation zur „staatlichen Veranstaltung“?

sche Themen aus den Adelsversammlungen herauszuhalten. Politisierende Adlige mussten sich deshalb andere Diskussionsforen suchen. Adelsversammlungen waren also nicht der Ort, an dem sich der Adel über politische Themen austauschen konnte. Doch boten die Zusammenkünfte eine Gelegenheit, dies andernorts zu tun. Indem die Diskussionen aus den Adelsversammlungen heraus verlagert wurden, verständigte sich der Adel intern über seine Interessen ohne diese gegenüber der Staatsgewalt vertreten zu können. Selbst an unmittelbar die Existenzgrundlage der Adligen betreffende Entscheidungen wie der Bauernbefreiung oder der Adelsrevision konnte der Provinzadel politisch nicht partizipieren. Damit war die Chance vertan, die Szlachta mittels einer institutionalisierten politischen Teilhabe in das Zarenreich zu integrieren. Stattdessen wurden die Debatten von den Orten politischer Kommunikation ferngehalten und der gesellschaftlichen Selbstorganisation überlassen. Auf diese Weise vergrößerte sich die Distanz zwischen russischer Staatsgewalt und polnischer Adelsgesellschaft, zumal jenseits des staatlich-institutionellen Rahmens mehr Raum für Fundamentalopposition war. Die Adelswahlen fanden jedoch nur alle drei Jahre statt. Im Alltag dürften deshalb andere Foren zum politischen Austausch gedient haben. Im Gouvernement Grodno bildete zum Beispiel eine Gruppe von Adligen um den Fürsten Radziwiłł einen Diskussionszirkel. Man traf sich auf dem Gut des Fürsten und formierte sich dort zu einer eingeschworenen Gemeinschaft. Unter den Teilnehmern dieses Zirkels waren auch Adlige, die in Wahlämtern ihren Dienst versahen, etwa der Gouvernementsmarschall, ein Kreisadelsmarschall und ein Schöffe am Hauptgericht in Grodno.266 Bei der Staatsmacht erregten solche Gesellschaften großes Misstrauen. Der Polizeiminister wies in einem Schreiben den Gouverneur von Grodno auf den Kreis um Radziwiłł hin und äußerte den Verdacht, dieser stünde im Dienst des Herzogtums Warschau.267 Der Gouverneur wiegelte in seiner Antwort diese Befürchtungen jedoch ab. Er halte die erhobenen Vorwürfe gegenüber dieser „Gesellschaft“ für unglaubwürdig. Die meisten der vermeintlichen „Verschwörer“ hätten ihren Wohnsitz überhaupt nicht in Grodno und hielten sich auch nur selten im Gouvernement auf. Der Polizeiminister sei irgendeinem Wichtigtuer aufgesessen, der aus Dummheit oder aus persönlichem Interesse dieses „Märchen“ erfunden habe. Auf der anderen Seite nutzte der Gouverneur die Gelegenheit für den Hinweis, dass seines Erachtens weniger einzelne Adlige, sondern die polnische Nation als Ganzes das Problem sei. Zwar sei momentan alles ruhig, doch könne 266 Notiz eines Beamten im Polizeiministerium über den Vortrag des Informanten Krzyżanowski vom November 1811, in: GARF f. 1165, op. 1, d. 491, l. 49–49ob. 267 Schreiben des Polizeiministers an den Gouverneur von Grodno vom 30.11.1811, in: GARF f. 1165, op. 1, d. 491, l. 50.



Soziale Zusammensetzung und Karrieremuster der Wahlbeamten

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niemand garantieren, dass die von der Szlachta zurzeit entgegengebrachte Ergebenheit aufrichtig sei und diese sich unter anderen Umständen nicht sofort gegen die Regierung erheben würde.268 Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Adelsversammlungen in der politischen Praxis des Zarenreiches ihren Charakter veränderten: Die Ämterwahl stand im Mittelpunkt und die politischen Debatten gingen häufig nicht über eng begrenzte lokale Angelegenheiten hinaus. Dennoch wird man nicht von einer weitgehenden Durchsetzung zarischer Ordnungsvorstellungen sprechen können. Einerseits registrierte die Regierung noch in den 1830er Jahren lebhafte Auseinandersetzungen und verschiedenartige Wahlmanipulationen, andererseits ließen sich politische Debatten im Umfeld von Adelsversammlungen nicht verhindern. Allenfalls suchten sich die Adligen neue Foren, indem sie abseits des Plenums diskutierten oder sich in privaten Zirkeln organisierten. Der russischen Staatsgewalt gelang eine Etablierung ihrer Ordnungsvorstellungen vor allem in den Fällen, in denen zwei rivalisierende Adelsparteien sie als Schiedsrichter anriefen. Dies war in erster Linie bei strittigen Wahlentscheidungen der Fall. In diesen Fällen konnte die zarische Regierung ihre Wahlgesetze vor Ort implementieren und gewann somit Einfluss auf die Zusammensetzung der Wählerschaft wie der Wahlbeamten.

4. Unerfahrene Jünglinge oder ausgemusterte Militärs? Soziale Zusammensetzung und Karrieremuster der Wahlbeamten Das verbreitete negative Urteil über die russischen Adelsversammlungen basiert nicht zuletzt auf der Ansicht, sie hätten in erster Linie ältere Adlige, die aus dem Militär- oder Staatsdienst ausgeschieden waren und sich auf ihrem Landgut in der Provinz zur Ruhe gesetzt hatten, in Amt und Würden gebracht.269 Dietrich Geyer brachte diese Sichtweise wie folgt auf den Punkt: „In der historischen Literatur herrscht Einverständnis darüber, dass von den Wahldiensten, ja von den korporativen Einrichtungen überhaupt, nur ein geringer Anreiz auf privatisierende Gutsbesitzer ausgegangen ist. (…) Fast durchweg sind es arme, auf 268 Schreiben des Gouverneurs von Grodno an den Polizeiminister Alexander Balašëv vom 15.12.1811, in: GARF f. 1165, op. 1, d. 491, l. 51–52ob., hier 52. 269 So konnte Robert D. Givens zeigen, dass über die Hälfte der Provinzsekretäre bereits einen Militärdienst von mehr als 20 Jahren hinter sich hatten, ein Viertel sogar länger als 30 Jahre gedient hatte, vgl. Givens: Eighteenth-Century Nobiliary Career Patterns, S. 122.

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Von der ständischen Korporation zur „staatlichen Veranstaltung“?

Zusatzversorgung bedachte Edelleute gewesen, die den Wahlämtern Interesse entgegenbrachten. (…) Seiner Identität wurde sich der Edelmann nicht im lokalen Wahldienst, nicht im Kreis lokaler Gesellschaft bewusst, sondern wie eh und je in der Offizierskarriere. Wer taugte, von leidlicher Bildung war, strebte – jedenfalls in jungen Jahren und für einige Zeit – aus der Provinz heraus, an Plätze, wo mit Talent und Fortune die ‚große Welt‘ sich aufschließen mochte.“270

Dieses Bild geht auf die vorrevolutionäre Historiographie Russlands zurück. So hat Baron Korf darauf hingewiesen, dass die Wahlämter beim Adel wenig beliebt gewesen seien, da sie nicht das gleiche Renommee wie der Militärdienst oder ein Amt in der Hauptstadt versprachen.271 Die Regierung versuchte dieser Entwicklung entgegenzuwirken, indem sie im August 1801 den Dienst in Wahlämtern dem Staatsdienst rechtlich gleichstellte.272 Dennoch blieb es offensichtlich schwierig, ausreichend Adlige zum Wahldienst zu motivieren. Nur wenige Jahre später war im Gouvernement Pskov eine Reihe von Wahlämtern unbesetzt geblieben. Die fehlenden Adligen mussten durch Staatsdiener ersetzt werden.273 In den polnischen Provinzen herrschten jedoch andere Voraussetzungen. Hier war dem Adel eine ständische Selbstverwaltung nicht fremd. Außerdem stellten die Partizipationsrechte nach dem Herrschaftswechsel ein Stück Kontinuität zur Adelsrepublik dar. Schon Korf hob die Verhältnisse in den polnischen Provinzen positiv von jenen in Zentralrussland ab. Der polnische Adel habe insgesamt ein höheres kulturelles Bewusstsein und seine Oberschicht wandere weit weniger in die Hauptstädte des Reiches ab, als dies bei seinen russischen Standesgenossen der Fall sei. Die Adelsmarschälle der Westgouvernements entstammten deshalb dem wohlhabenden und gebildeten Adel, der auch in der Lage sei, das Amt mit der notwendigen Würde auszufüllen.274 Das Urteil Nikotins fiel hingegen kritischer aus. Da in den Westgouvernements der Provinzadel stärker in die Wahlämter strebte, würden dort sehr viele junge und unerfahrene Personen gewählt, die weder Kenntnisse in der Schriftführung hatten noch die russische Sprache beherrschten.275 Zunächst scheinen die Teilungen keine markanten Veränderungen in der Wahlbeamtenschaft verursacht zu haben. In Wilna hatte beispielsweise die Hälfte der 270 Geyer: „Gesellschaft“ als staatliche Veranstaltung, S. 45. Ähnlich argumentiert auch Marc Raeff: Staatsdienst, Außenpolitik und Ideologien, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 7 (1959), S. 147–181. 271 Vgl. Korf: Dvorjanstvo i ego soslovnoe upravlenie, S. 353. 272 Namentlicher Ukas Alexanders I. vom 4.8.1801, in: PSZ I, Bd. 26, Nr. 19.961, S. 735–736. 273 Senatsukas vom 20.7.1808, in: PSZ I, Bd. 30, Nr. 23.170, S. 448–449. 274 Vgl. Korf: Dvorjanstvo i ego soslovnoe upravlenie, S. 437f. 275 Nikotin: Stoletnij period, Bd. 1, S. 365.



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Soziale Zusammensetzung und Karrieremuster der Wahlbeamten

Kreisadelsmarschälle, die bei den ersten Adelswahlen unter russischer Hoheit im Jahre 1797 gewählt wurden, bereits vor den Teilungen das Amt des Unterwoiwoden inne gehabt: Sie wurden also gewissermaßen in ihrer Funktion bestätigt.276 Eine noch höhere Kontinuität herrschte bei den mittleren und niederen Wahlämtern. Insgesamt bestätigte im Jahr 1797 der Wilnaer Adel 149 Amtsträger, nur 87 wurden erstmals gewählt.277 Es ist leider nicht möglich, eine prosopographische Studie zu erstellen, die eine zuverlässige Auskunft über die soziale Zusammensetzung der Wahlbeamtenschaft in den Westgouvernements gibt. Die Wahlergebnisse sind nur lückenhaft überliefert und enthalten häufig nur die Namen der Gewählten. Dennoch soll auf der Grundlage der vorhandenen Quellen der Versuch unternommen werden, ein Bild von den gewählten Amtsträgern in den Westgouvernements zu zeichnen. Wie alt war die Wahlbeamtenschaft? Für die Adelswahlen des Jahres 1808 im Gouvernement Minsk liegt eine ausreichende Datengrundlage vor, die belastbare Aussagen zu dieser Frage ermöglicht. Alter der Wahlbeamten auf Kreisebene im Gouvernement Minsk im Jahr 1808:278

250 Wahlbeamte

unter 30

30–39

40–49

50–59

60 +

Durchschnitt

97 (38,8 %)

83 (33,2 %)

44 (17,6 %)

22 (8,8 %)

4 (1,6 %)

35,0

Mit einem Durchschnittsalter von 35 Jahren waren die gewählten Amtsträger vergleichsweise jung. Über 70 Prozent waren unter 40 und immerhin rund 40 Prozent jünger als 30 Jahre alt. Bemerkenswert ist, dass der allgemeine Altersdurchschnitt kaum von jenen Adligen abweicht, die als Adelsmarschälle und Vorsitzende der Hauptgerichte die höchsten Posten in der Hierarchie der Wahlbeamtenschaft bekleideten.

276 Bericht des Wilnaer Gouverneurs an den Generalgouverneur von Litauen vom 25.4.1797, in: LVIA f. 378 o/o, god 1797, d. 9, l. 604-633, hier 605–617. 277 Verzeichnis der gewählten Beamten im Gouvernement Wilna vom 25.4.1797, in: LVIA f. 378 o/o, god 1797, d. 9, l. 1171–1179. 278 Nach den vom Gouvernementsmarschall zusammengestellten Listen in: NIAB f. 320, op. 2, d. 6, l. 8–10; 76–78; 80–81; 87–89; 112–115; 123–124; 148–151.

234

Von der ständischen Korporation zur „staatlichen Veranstaltung“?

Alter der Kreisadelsmarschälle und der Vorsitzenden des Hauptgerichts im Gouvernement Minsk im Jahr 1808:279

17 höhere Wahlbeamte

unter 30

30–39

40–49

50–59

60 +

Durchschnitt

5 (29,4 %)

7 (41,2 %)

3 (17,6 %)

1 (5,9 %)

1 (5,9 %)

35,7

Auch hier lag der Anteil der unter Vierzigjährigen bei rund 70 Prozent, der Anteil der über Fünfzigjährigen knapp über zehn Prozent. Der einzige Unterschied besteht darin, dass rund zehn Prozent weniger Adlige unter 30, dafür zehn Prozent mehr zwischen 30 und 40 Jahren alt waren. Es strebten also vornehmlich die 20bis 40-jährigen in die Wahlämter, wobei in den Spitzenpositionen die Erfahrenen überrepräsentiert waren. Wie stellte sich die Situation rund 20 Jahre später dar? Die schlechte Überlieferung erlaubt leider keinen direkten Vergleich mit dem Gouvernement Minsk. Der weißrussische Historiker Aleksandr Kiselëv hat das Alter der Wahlbeamten in den Gouvernements Litauen, Vitebsk, Mogilëv und Minsk untersucht und kam dabei zu folgenden Ergebnissen: Alter der Wahlbeamten in den Gouvernements Litauen, Vitebsk, Mogilëv und Minsk im Jahr 1825: 280 197 Wahlbeamte

unter 30

30–39

40–49

50–59

60 +

k. A.

74 (37,6 %)

65 (33,0 %)

40 (20,3 %)

11 (5,6 %)

2 (1,0 %)

5 (2,5 %)

Diese Zahlen zeigen, dass sich die Altersstruktur der Wahlbeamten in den litauisch-weißrussischen Gouvernements im Grunde nicht veränderte. Im Jahr 1825 waren immer noch rund 70 Prozent jünger als 40 Jahre. Der Anteil der über Fünfzigjährigen hat sich von zwölf auf sechs Prozent halbiert, so dass insgesamt sogar eine leichte Verjüngung festzustellen ist.

279 Nach der Liste mit den Ergebnissen der Adelswahlen im Gouvernement Minsk, o. d. [1808], in: NIAB f. 320, op. 2, d. 6, l. 96 und der Liste mit den Ergebnissen der Adelswahlen im Gouvernement Minsk, o. d. [1808], in: NIAB f. 320, op. 2, d. 6, l. 95. Das Alter einer der gewählten Kreisadelsmarschälle ist nicht überliefert. 280 Vgl. Aleksandr A. Kiselëv: Sistema gosudarstvennych učreždenij i činovničestvo Belarusi v politike rossijskogo pravitel’stva (konec XVIII – pervaja polovina XIX v.), diss. kand., Minsk 2003, S. 146.



235

Soziale Zusammensetzung und Karrieremuster der Wahlbeamten

Auch hier soll ein Blick auf die Wahlbeamten in höheren Funktionen das Ergebnis Kiselëvs etwas verfeinern. Für die Adelswahlen der Jahre zwischen 1829 und 1831 in Vitebsk und Mogilëv liegen dazu ausreichend Zahlen vor: Alter der Adelsmarschälle und Wahlbeamten in den höheren Gerichten der Gouvernements Vitebsk und Mogilëv in den Jahren 1829 bis 1831:281

193 Wahlbeamte

unter 30

30–39

40–49

50–59

60 +

Durchschnitt

12 (6,2 %)

59 (30,6 %)

74 (38,3 %)

36 (18,7 %)

12 (6,2 %)

43,4

Es fällt auf, dass sich die Altersstruktur der Adelsmarschälle und Beamten an den höheren Gerichten von derjenigen der allgemeinen Wahlbeamtenschaft unterscheidet. In dieser angesehenen Position sind mit rund sechs Prozent deutlich weniger Adlige anzutreffen, die das dreißigste Lebensjahr noch nicht vollendet hatten. Entsprechend stärker vertreten ist die Alterskohorte zwischen 40 und 60 Jahren. Der Anteil der Adligen in den Vierzigern ist bei den Beamten an den höheren Gerichten fast doppelt so hoch wie bei den Wahlbeamten insgesamt, derjenige in den Fünfzigern beträgt sogar das Dreifache. Während Anfang des 19. Jahrhunderts also die Generation der 20- bis 40-Jährigen alle administrativen Ebenen dominierte, hatte sich das Bild 20 Jahre später gewandelt. Zwar stellen die Beamten unter 40 Jahren immer noch die deutliche Mehrheit aller Amtsträger, doch in den angesehenen Gerichtsposten haben die 30- bis 50-Jährigen eine ähnliche Bedeutung. Unmittelbar nach den Teilungen waren also vor allem junge Adlige bereit, sich dem neuen Staat zu verschreiben und Verantwortung zu übernehmen. Die ältere Generation, die in der Adelsrepublik aufgewachsen war, einen großen Teil ihres Lebens in einem unabhängigen Polen verbracht hatte und in dieser Zeit womöglich politisch aktiv gewesen war, konnte sich mit einem Dienst für das Zarenreich hingegen nur schwer anfreunden. 20 Jahre später hatte die Bereitschaft der Jugend, dem Zaren zu dienen, nicht nachgelassen. Gleichzeitig befanden sich diejenigen Adligen, die um 1810 noch 30 Jahre alt waren, 1825 in den Mittvier281 Nach der Liste mit den Ergebnissen der Adelswahlen im Gouvernement Mogilëv vom 21.1.1829, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 3818, l. 10; Aufstellung der Wahlergebnisse des Vitebsker Gouvernementsmarschalls vom 27.10.1830, NIAB f. 1297, o. 1, d. 5508, l. 10–11; Aufstellung der Wahlergebnisse des Mogilëver Gouvernementsmarschalls vom 16.1.1831, NIAB f. 1297, o. 1, d. 5508, l. 14–19; Schreiben des Gouverneurs von Mogilëv an den Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv und Smolensk vom 25.1.1829, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 3818, l. 18–19; Schreiben des Gouverneurs von Mogilëv an den Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv und Smolensk vom 28.2.1829, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 3818, l. 21–23; Aufstellung des Gouverneurs von Vitebsk für den Generalgouverneur vom 21.2.1829, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 4484, l. 68–76.

236

Von der ständischen Korporation zur „staatlichen Veranstaltung“?

zigern. Die Fähigen unter ihnen hatten inzwischen Karriere gemacht und waren in der Hierarchie aufgestiegen. Aus diesem Grunde war gerade in den höheren Wahlämtern die mittlere Generation überproportional vertreten. Doch inwieweit entstammten die höheren Amtsmänner der mittleren Generation auch der Schicht der angesehenen Adligen vor Ort? Welche soziale Struktur wies die Wahlbeamtenschaft insgesamt auf? Anders als in West- und Mitteleuropa war im Zarenreich nicht der Grundbesitz für das Vermögen eines Adligen maßgebend. Stattdessen zog der Staat die Anzahl der Leibeigenen, der so genannten „Seelen“, als Bemessungsgrundlage für die abzuführende Kopfsteuer heran und hielt in den Personalbögen seiner Beamten den Seelenbesitz jedes Einzelnen fest. Auch in der Adelsgesellschaft hing das Ansehen eines Edelmannes neben dem Rang von der Anzahl der Seelen ab, die sich in seinem Besitz befanden. Schließlich verwandten Adlige ihre Leibeigenen auch als Sicherheit, wenn sie einen Kredit aufnahmen: ein Umstand, den Nikolaj Gogol’ in seinem Roman „Tote Seelen“ so vortrefflich karikiert hat.282 Katharina II. hatte mit Hilfe eines Wahlzensus versucht, die armen Adligen aus der lokalen Selbstverwaltung auszuschließen. Das passive Wahlrecht stand nur denjenigen zu, die mindestens 20 Seelen ihr Eigen nennen konnten. So dominierte im Gouvernement Polock 1789 der Kleinadel, der mehr als 20 aber weniger als 100 Seelen besaß, die Adelswahlen. Er stellte mit 55 Prozent die Mehrheit der gewählten Amtsträger. Ein weiteres Drittel der Wahlämter besetzte der mittlere Adel, der über 100 bis 500 Seelen verfügte. Nur zwölf Prozent der Wahlbeamten entstammten dem reichen Adel (500 bis 1.000 Seelen) oder der Schicht der Magnaten (mehr als 1.000 Seelen).283 Allerdings besetzte der Kleinadel eher die niederen und mittleren Ämter in der Exekutive. Der mittlere Adel war vor allem in der Funktion der Schöffen oder Richter in niederen Gerichten zu finden. Die vermögenden Adligen wiederum strebten in die angesehenen Posten, welche auch politische Gestaltungsmöglichkeiten boten.284 Nachdem Paul I. den Wahlzensus abgeschafft hatte, führte Alexander I. ihn in einer abgemilderten Form wieder ein. Nun war allerdings nicht mehr der Leibeigenenbesitz ausschlaggebend, sondern das Jahreseinkommen. Inwieweit konnten unter diesen Bedingungen arme Adlige Ämter übernehmen? Führte die neue Rechtslage allgemein zu einer Stärkung des kleinadligen Elements in den Wahlämtern? Für die Adelswahlen in Minsk von 1808 liegen folgende Daten vor: 282 Zum historischen Hintergrund von Gogol’s Geschichte siehe Schramm: Von Puschkin bis Gorki, S. 134–141. 283 Vgl. Aniščanka: Dvaranskija vybary, S. 51. 284 Vgl. ebd., S. 55.



237

Soziale Zusammensetzung und Karrieremuster der Wahlbeamten

Besitzstand der Wahlbeamten im Gouvernement Minsk im Jahr 1808:285

250 Wahlbeamte

Armer Adel (0 – 20 Seelen)

Kleinadel (21 – 100 Seelen)

33 (13,2 %)

107 (42,8 %)

Mittlerer Adel Reicher Adel Magnaten (101 – 500 (501 – 1.000 (über 1.000 Seelen) Seelen) Seelen) 89 (35,6 %)

11 (4,4 %)

10 (4,0 %)

Die Zahl der armen Adligen in den Wahlämtern war also begrenzt. Es dominierte vielmehr der Klein- und der mittlere Adel. Zusammen besetzte diese Gruppe knapp 80 Prozent der Wahlämter. Die reichen und sehr reichen Adligen hatten nur acht Prozent der Ämter inne. Die soziale Zusammensetzung der Adelsmarschälle und Vorsitzenden des Gouvernementhauptgerichts wich aufgrund der politischen Bedeutung dieser Ämter von den allgemeinen Verhältnissen ab. Besitzstand der Adelsmarschälle und Vorsitzenden des Hauptgerichts im Gouvernement Minsk im Jahr 1808:286

18 Wahlbeamte

Armer Adel (0 – 20 Seelen)

Kleinadel (21 – 100 Seelen)

– (0 %)

1 (5,6 %)

Mittlerer Adel Reicher Adel Magnaten (101 – 500 (501 – 1.000 (über 1.000 Seelen) Seelen) Seelen) 10 (55,5 %)

1 (5,6 %)

6 (33,3 %)

Während der Kleinadel rund 50 Prozent der Wahlbeamten stellte, war er unter den Adelsmarschällen und den vorsitzenden Richtern des Gouvernementhauptgerichts unterrepräsentiert. Diese Ämter besetzte vor allem der mittlere Adel. Außerdem waren die Magnaten deutlich stärker vertreten: Die Großgrundbesitzer mit mehr als 1.000 Seelen stellten ein Drittel der Amtsträger und von zehn gewählten Magnaten im Gouvernement Minsk finden sich allein sechs in diesen beiden angesehenen Funktionen wieder. Wie entwickelte sich die soziale Zusammensetzung der Wahlbeamtenschaft im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts? Darüber geben die Zahlen Auskunft, die Alexander Kiselëv für die Gouvernements Litauen, Vitebsk, Mogilëv und Minsk zusammengetragen hat. 285 Nach den vom Gouvernementsmarschall zusammengestellten Listen in: NIAB f. 320, op. 2, d. 6, l. 8–10; 76–78; 80–81; 87–89; 112–115; 123–124; 148–151. 286 Nach der Liste mit den Ergebnissen der Adelswahlen im Gouvernement Minsk, o. d. [1808], in: NIAB f. 320, op. 2, d. 6, l. 96; Liste mit den Ergebnissen der Adelswahlen im Gouvernement Minsk, o. d. [1808], in: NIAB f. 320, op. 2, d. 6, l. 95.

238

Von der ständischen Korporation zur „staatlichen Veranstaltung“?

Besitzstand der Wahlbeamten in den Gouvernements Litauen, Vitebsk, Mogilëv und Minsk im Jahr 1825:287

196 Wahlbeamte

Armer Adel (0 – 20 Seelen)

Kleinadel (21 – 100 Seelen)

19 (9,7 %)

96 (49,0 %)

Mittlerer Adel Reicher Adel Magnaten (101 – 500 (501 – 1.000 (über 1.000 Seelen) Seelen) Seelen) 72 (36,7 %)

5 (2,6 %)

4 (2,0 %)

Auch wenn man die Angaben für 1825 nicht unmittelbar mit jenen von 1808 vergleichen kann, da sich Letztere nur auf das Gouvernement Minsk beziehen, so lassen sich aufgrund der ähnlichen Sozialstruktur der vier litauisch-weißrussischen Gouvernements doch zwei Tendenzen herauslesen. Es scheint eine leichte Verschiebung hin zum Kleinadel gegeben zu haben, dessen Anteil auf 60 Prozent gestiegen war. Gleichzeitig halbierte sich der Anteil der reichen Adligen und der Magnaten. Mit jeweils rund zwei Prozent war diese einflussreichste Gruppe des polnischen Adels in den Wahlämtern kaum noch präsent. Man kann vermuten, dass junge Magnatensöhne während der Herrschaft Alexanders I. weniger Wahlämter übernahmen, da polnische Adlige in jenen Jahren verstärkt in das Militär oder in die Hauptstadt des Reiches strebten. Für eine solche Erklärung spricht auch die Zusammensetzung der höheren Wahlbeamtenschaft: Besitzstand der Adelsmarschälle und Wahlbeamten in den Höheren Gerichten der Gouvernements Vitebsk und Mogilëv in den Jahren 1829 bis 1831:288

196 Wahlbeamte

Armer Adel (0 – 20 Seelen)

Kleinadel (21 – 100 Seelen)

17 (8,7 %)

83 (42,3 %)

Mittlerer Adel Reicher Adel Magnaten (101 – 500 (501 – 1.000 (über 1.000 Seelen) Seelen) Seelen) 82 (41,8 %)

9 (4,6 %)

5 (2,6 %)

287 Vgl. Kiselëv: Sistema gosudarstvennych učreždenij, S. 144. 288 Nach der Liste mit den Ergebnissen der Adelswahlen im Gouvernement Mogilëv vom 21.1.1829, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 3818, l. 10; Aufstellung der Wahlergebnisse des Vitebsker Gouvernementsmarschalls vom 27.10.1830, NIAB f. 1297, o. 1, d. 5508, l. 10–11; Aufstellung der Wahlergebnisse des Mogilëver Gouvernementsmarschalls vom 16.1.1831, NIAB f. 1297, o. 1, d. 5508, l. 14–19; Schreiben des Gouverneurs von Mogilëv an den Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv und Smolensk vom 25.1.1829, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 3818, l. 18–19; Schreiben des Gouverneurs von Mogilëv an den Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv und Smolensk vom 28.2.1829, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 3818, l. 21–23; Aufstellung des Gouverneurs von Vitebsk für den Generalgouverneur vom 21.2.1829, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 4484, l. 68–76.



Soziale Zusammensetzung und Karrieremuster der Wahlbeamten

239

Anders als noch zu Beginn des Jahrhunderts wich die Sozialstruktur der höheren Ämter nicht wesentlich von der allgemeinen Sozialstruktur der Wahlbeamtenschaft ab. Da sich insbesondere die Magnaten vom Wahldienst zurückgezogen hatten, dominierten sie auch nicht mehr in den wichtigen politischen und rechtsprechenden Funktionen. An deren Stelle traten nun Kleinadlige, die in diesen Positionen noch 20 Jahre zuvor kaum anzutreffen waren. In diesem Punkt unterschieden sich die Westgouvernements nun deutlich von den zentralrussischen Provinzen. Dort gehörte die Mehrheit der Adelsmarschälle zu den vermögenden Großgrundbesitzern.289 Inwieweit besaßen die Wahlbeamten auch die notwendige Bildung, um ein Amt in der lokalen Verwaltung oder in der Rechtsprechung auszufüllen? Hier ist es äußerst schwierig, belastbare Aussagen zu treffen, da der jeweilige Schul- bzw. Universitätsabschluss nur in Ausnahmefällen zu den Angaben gehörte, welche die Gouvernementsregierung mit den Wahlergebnissen nach St. Petersburg übermittelte. Dennoch hat Alexander Kiselëv auf dieser Basis eine Übersicht zum Bildungsstand der Beamten in Litauen und Weißrussland erstellt. Bildungsstand der Staatsbeamten in den Gouvernements Litauen, Vitebsk, Mogilëv und Minsk im Jahr 1825:290

Gouvernementsbeamte Kreisbeamte

Häusliche Bildung 38 (82,6 %) 192 (97,5 %)

Elementarbildung 3 (6,5 %) 1 (0,5 %)

Mittlere Bildung – 2 (1,0 %)

Höhere Bildung 4 (8,7 %) 1 (1,0 %)

keine Angaben 1 (2,2 %) 1 (1,0 %)

Die Kategorie „Häusliche Bildung“ ist schwer zu füllen. Sie konnte auf der einen Seite eine exzellente und umfassende Ausbildung durch hochqualifizierte Hauslehrer, aber ebenso einen von Eltern und Verwandten erteilten Unterricht bedeuten. Da in der Provinz kaum hervorragende Lehrer zu finden waren und der Kleinadel sich in der Regel kein Hauspersonal leisten konnte, dürfen wir davon ausgehen, dass ein weit überwiegender Teil der Wahlbeamten wenig gebildet war, insbesondere auf der Kreisebene. Gleichwohl unterschied sich der Wahlbeamte damit kaum vom Staatsbeamten, der häufig ebenso nur über elementare Kenntnisse im Rechnen und Schreiben verfügte.291

289 Vgl. Grenzer: Adel und Landbesitz, S. 59. 290 Vgl. Kiselëv: Sistema gosudarstvennych učreždenij, S. 147. 291 Vgl. Pintner: The Evolution of Civil Officialdom, S. 223.

240

Von der ständischen Korporation zur „staatlichen Veranstaltung“?

Ähnlich lückenhaft ist unser Wissen darüber, inwieweit die Wahlbeamten Militärdienst geleistet hatten. Es liegt auf der Hand, dass sich in den polnischen Provinzen weniger ausgemusterte Offiziere der zarischen Armee um Wahlämter bemühten. Tatsächlich hatten die Amtsträger der Westgouvernements ganz unterschiedliche militärische Karrieren hinter sich. Geleisteter Militärdienst der Wahlbeamten der Gouvernements Litauen, Vitebsk, Mogilëv und Minsk im Jahre 1800:292

77 Wahlbeamte

Keinen Dienst geleistet 81 %

In der zarischen In der polnischen In beiden Armee Dienst Armee Dienst Armeen Dienst geleistet geleistet geleistet 8%

10 %

1%

Geleisteter Militärdienst der Wahlbeamten der Gouvernements Litauen, Vitebsk, Mogilëv und Minsk im Jahre 1825:293

46 Gouvernementsbeamte 197 Kreisbeamte

Keinen Dienst geleistet

In der zarischen Armee Dienst geleistet

In der polnischen Armee Dienst geleistet

In der französischen Armeen Dienst geleistet

In der zarischen und franz. Armee Dienst geleistet

89,0 %

4,5 %

6,5 %





91,4 %

4%

1,3 %

2,6 %

0,7 %

Die meisten Wahlbeamten hatten keinen Militärdienst geleistet: weder in der Adelsrepublik, noch in der zarischen Armee. Im Laufe des 19. Jahrhunderts nahm die Zahl der Ungedienten zu. Angesichts des fortgeschrittenen Alters derjenigen, welche die Adelsrepublik noch selbst erlebt hatten, nahm die Zahl der einst in polnischem Dienst gestandenen Adligen naturgemäß ab. Hinzu kamen auf der anderen Seite Adlige, die in der Zeit der Napoleonischen Kriege in französischem Dienst gestanden hatten. Die hohe Zahl der Ungedienten legt die Vermutung nahe, dass polnische Adlige eine Laufbahn im Zivildienst der zarischen Armee vorzogen. Ein Wahlamt in der lokalen Verwaltung bot schließlich die Möglichkeit, im Heimatgouvernement und damit in einem polnischen Umfeld zu bleiben. 292 Vgl. Kiselëv: Sistema gosudarstvennych učreždenij, S. 134. 293 Vgl. ebd., S. 148.



Soziale Zusammensetzung und Karrieremuster der Wahlbeamten

241

Diese Statistiken zeichnen jedoch nur ein sehr abstraktes Bild von der adligen Wahlbeamtenschaft der Westgouvernements. Die überlieferten Personalakten ergänzen diese Zahlen, da in ihnen die individuellen Lebensläufe zumindest schlaglichtartig zum Vorschein kommen. Was für Menschen waren diese Adligen, die für ein Wahlamt im Zarenreich kandidierten und von einer Mehrheit ihrer Standesangehörigen auch gewählt wurden? Auf der Grundlage von rund 60 Einzelbiographien von Adelsmarschällen, wie sie in den Abschriften aus den Personalakten festgehalten sind, kristallisieren sich vier Typen von Adligen heraus, die dieses höchste Wahlamt in den weißrussischen und ukrainischen Gouvernements bekleideten. Der erste Typ stammte aus dem mittleren Adel, hatte sich zunächst in anderen Wahlämtern bewiesen und war in mittlerem Alter schließlich in dieses Amt gewählt worden. Er hatte sich also nicht zuletzt durch seine Amtsführung Ansehen erworben, und die Wahl zum Adelsmarschall stellte den Höhepunkt einer längeren Wahlbeamtenlaufbahn dar. So begann zum Beispiel Konstanty Janiszewski seine Karriere 1805 im Alter von 16 Jahren als Schöffe am Kreisgericht von Kovel’ in Wolhynien. Nach sechs Jahren Wahldienst wurde er Kornett. 1814 machte er einen wichtigen Karriereschritt: Er wurde zum Mitglied in der Adelsdeputiertenversammlung seines Kreises gewählt. In diesem Amt wurde er bei den folgenden beiden Wahlen bestätigt, ehe er 1823 als Delegierter seines Kreises in die Adelsdeputiertenversammlung des Gouvernements Wolhynien gewählt wurde. 1826 wählten seine Standesgenossen den inzwischen 37-Jährigen zum Kreisadelsmarschall von Kovel’. In den folgenden vier Wahlen, die zwischen 1829 und 1838 stattfanden, wurde er in seinem Amt stets bestätigt.294 Józef Malanowski, Gutsbesitzer mit 388 Seelen, hatte sich in seinem Dienst offenbar großes Ansehen erworben. Er diente zunächst zwanzig Jahre in verschiedenen niederen und mittleren Wahlämtern in seinem Heimatkreis NovogradVolynskij, ehe er 1831, im Alter von 49 Jahren, in Ovruč Kreisadelsmarschall wurde.295 Manche Adlige verfolgten das Ziel, Adelsmarschall zu werden, sehr hartnäckig. Józef Rudzyński, Gutsbesitzer mit 236 Seelen, unterlag zum Beispiel in drei Wahlen einem Konkurrenten, ehe er im vierten Anlauf schließlich doch noch Kreisadelsmarschall von Luck im Gouvernement Wolhynien wurde.296 294 Vgl. Abschrift aus der Personalakte Konstanty Janiszewskis vom 30.7.1832, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1265, l. 129ob-130; dass. vom 21.5.1835, in: ebd., d. 1882, l. 122–125; dass. vom 30.5.1838, in: ebd., d. 2631, l. 104; dass. vom 30.5.1838, in: ebd., d. 2631, l. 105–110ob. 295 Vgl. Abschrift aus der Personalakte Józef Malanowskis vom 30.7.1832, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1265, l. 117ob-118; dass. vom 22.5.1835, in: ebd., d. 1882, l. 82–85; dass. vom 30.5.1838, in: ebd., d. 2631, l. 116–117. 296 Vgl. Abschrift aus der Personalakte Józef Rudzyńskis vom 30.5.1838, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 2631, l. 140–141.

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Von der ständischen Korporation zur „staatlichen Veranstaltung“?

Der zweite Typ Adelsmarschall unterscheidet sich vom ersten dadurch, dass er aus dem Kleinadel stammte und zunächst ein Studium absolvierte, ehe er in ein Amt gewählt wurde. Seine Karriere stellt also einen sozialen Aufstieg innerhalb des Adels dar. Marian Sulatycki hatte zum Beispiel in jungen Jahren an der Universität Französisch, Russisch, Deutsch und Latein gelernt und wurde nach seiner Rückkehr in den Heimatkreis zum Richter, später zum Kornett gewählt. Im Alter von 34 Jahren wählte ihn der Adel von Mogilëv im Gouvernement Podolien zum Kreisadelsmarschall.297 Der dritte Typ stammte aus einer einflussreichen Magnatenfamilie und erreichte diese Stellung, ohne sich vorher in anderen Ämtern bewährt zu haben. Die Söhne dieser Familien wurden offenbar schon in jungen, mitunter sogar in sehr jungen Jahren als Repräsentanten des Adels akzeptiert. Wiktor Lazański gehörte zu jenen Magnaten, die vergleichsweise jung zum Adelsmarschall gewählt wurden. Er besaß zwei Güter mit insgesamt 1.272 Seelen und wurde bereits mit 21 Jahren zum Richter gewählt. Diese Funktion nahm er sechs Jahre lang wahr. Ohne dass er in den nächsten Jahren ein weiteres Amt ausgeübt hätte, wählte ihn der Adel von Vinnica 1835 zu seinem Kreisadelsmarschall.298 Es gab aber auch Adlige, die mit noch weniger Erfahrung Adelsmarschall wurden. Graf Konstanty Przeździecki besaß in Podolien zwei Güter mit 4.808 Seelen. 1808 wurde er im Alter von 23 Jahren zum Kreisadelsmarschall von Proszkowski gewählt. Trotz seiner Jugend und seiner fehlenden Erfahrung scheint Przeździecki seine Standesgenossen von seiner Amtsführung überzeugt zu haben. 1820 wählte man ihn zum Gouvernementsmarschall von Podolien. Bei den folgenden sechs Wahlen wurde er wiederholt in diesem Amt bestätigt. Auch die russische Staatsmacht erkannte die Leistungen Przeździeckis durch eine außergewöhnliche Fülle von Orden an: 1823 erhielt er den Annen-Orden 2. Klasse, 1827 den Wladimir-Orden 3. Klasse, 1832 den Stanislaw-Orden 1. Klasse und 1835 den Annen-Orden 1. Klasse. Eine besondere Auszeichnung war, dass Przeździecki an der Krönungszeremonie Nikolaus’ I. teilnehmen durfte.299 Przeździecki wurde also nicht nur vom Adel in jungen Jahren als dessen Repräsentant respektiert und später als Adelsmarschall geschätzt, sondern auch von der zarischen Staatsgewalt als Kooperationspartner gewürdigt. Seine Herkunft aus einer Magnatenfamilie war für sein Ansehen bei Hofe sicher förderlich.

297 Vgl. die Abschrift aus der Personalakte Marian Sulatyckis, o. D., in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1881, l. 209–209ob. 298 Vgl. die Abschrift aus der Personalakte Marian Sulatyckis o. D., in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1881, l. 247–248. 299 Vgl. die Abschrift aus der Personalakte Konstanty Przeździecki vom 6.9.1838, in: CIDAK f. 442, op. 1, d. 2630, l. 154–161.



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Der vierte und letzte Typ Adelsmarschall hatte zunächst eine Laufbahn im Militär oder im Staatsdienst vollzogen, ehe er auf sein Gut zurückkehrte und im heimatlichen Kreis zum Adelsmarschall gewählt wurde. Die militärischen und staatlichen Karrieren konnten höchst unterschiedlich sein. Alexander Fedcov stammte aus einer kleinadligen Familie und besaß ein Gut mit 184 Leibeigenen in Podolien. Nach seinem Studium trat er 1822 als Zwanzigjähriger in den Staatsdienst beim Justizministerium in St. Petersburg ein. 1824 erhielt er den Rang eines Kollegienregistrators. Einen Monat später schied er aus dem Zivildienst aus und kehrte nach Podolien zurück, wo er im Kreis Jampol’ 1829 zum Mitglied der Adelsdeputiertenversammlung gewählt wurde. Drei Jahre später wählten ihn seine Standesgenossen zum Richter am Gouvernementsgericht und 1838 schließlich zum Kreisadelsmarschall.300 Doch nicht nur St. Petersburg bot Karrieremöglichkeiten. Mieczysław Prusiński diente zunächst drei Jahre im Innenministerium des Königreichs Polen unter dem Großfürsten Konstantin. Nachdem er sich 1830/31 als Mitglied einer Kommission zur Bekämpfung der Cholera in seinem Heimatkreis Starokonstantin bewährt hatte, wählte man ihn 1832 in die Adelsdeputiertenversammlung und bei den nächsten Adelswahlen zum Kurator eines Gymnasiums in Wolhynien. 1838 wurde Prusiński schließlich Kreisadelsmarschall von Starokonstantin.301 Das Ansehen eines Adligen bei seinen Standesgenossen litt offenbar nicht darunter, wenn dieser für die zarische Staatsgewalt Dienst geleistet hatte: sei es in der autonomen Verwaltung des Königreichs Polen, sei es in der Regierungsbürokratie der russischen Hauptstadt. Die militärischen Karrieren der Adelsmarschälle in den Westgouvernements waren noch vielfältiger als deren zivile Laufbahnen. Politisch unverfänglich und deshalb relativ häufig war der Militärdienst im Königreich Polen, da die polnische Armee einerseits autonom war, andererseits unter dem Oberbefehl des Großfürsten Konstantin Pavlovič stand.302 Graf Przemysław Potocki war zum Beispiel nach dem Studium 1822 als 18-Jähriger in die Armee des Königreiches eingetreten. Nach sieben Jahren schied er auf eigenen Wunsch hin aus und verlegte seinen Lebensmittelpunkt nach Podolien, wo er ein Gut mit 2.149 Leibeigenen besaß. Mit nur 28 Jahren wurde er dort 1832 zum Kreisadelsmarschall von Jampol’ gewählt.303 300 Vgl. die Abschrift aus der Personalakte Aleksandr Fedcovs vom 6.9.1838, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 2630, l. 96–97. 301 Vgl. die Abschrift aus der Personalakte Mieczysław Prusińskis vom 30.5.1838, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 2631, l. 82–85. 302 Zu den militärischen Karrieren polnischer Adliger im Königreich Polen siehe Kraft: Polnische militärische Eliten, S. 285–293. 303 Vgl. die Abschrift aus der Personalakte Przemyslaw Potockis aus dem Jahr 1835, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1881, l. 167–168.

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Erstaunlich ist die Karriere des Grafen Henryk Tyszkiewicz. Er war 1809 im Alter von 24 Jahren in den Dienst des Herzogtums Warschau eingetreten. Dort stieg er bis zum Major auf und wurde mit einer Reihe von Orden ausgezeichnet. Nachdem er aus gesundheitlichen Gründen aus dem Militärdienst ausgeschieden war, zog er sich auf sein Gut mit 2.424 Leibeigenen in das Gouvernement Kiew zurück. 1823 wurde er dort zum Kreisadelsmarschall von Lipovec gewählt. Dies war der Beginn einer zweiten Karriere als Wahlbeamter im Zarenreich. 1826 reiste er nach Moskau und vertrat den erkrankten Gouvernementsmarschall bei der Krönungszeremonie Nikolaus’ I. Im selben Jahr erhielt er den Rang eines Staatsrats und wurde als 36-Jähriger zum Gouvernementsmarschall von Kiew gewählt.304 Die Karriere Tyszkiewiczs zeigt, dass zumindest vor dem Novemberaufstand ein klares Bekenntnis für einen polnischen Staat oder das Zarenreich nicht nötig war. Im Gegenteil: Tyszkiewicz konnte im Zarenreich bis zum Staatsrat aufsteigen, obwohl er 1809 für Napoleon und das Herzogtum Warschau optiert hatte. Vom Adel wurde er als dessen Repräsentant anerkannt, obwohl er im selben Jahr einen russischen Rang einnahm und der Krönung Nikolaus’ I. beiwohnte. Außergewöhnlich erscheint auch die Laufbahn Adolf Świderskis. Er hatte nicht nur in der Armee des Herzogtums Warschau gedient, sondern hatte 1809 bei der Schlacht von Sandomir an der Seite Napoleons gegen Österreich gekämpft. Allerdings schied er 1810 als Oberleutnant aus der Armee aus und nahm somit nicht an Napoleons Russlandfeldzug teil. Er kehrte ins Gouvernement Kiew, auf sein Gut mit 318 Seelen zurück. Dort wählte ihn 1826 der Adel von Tarašča zum Kreisadelsmarschall. Zwei Jahre später wurde er Vorsitzender des Versorgungskomitees der 2. Armee. Der einstige Mitstreiter Napoleons war damit für die Requirierung von Lebensmitteln für die Soldaten des Zarenreiches zuständig.305 Der Adel der Westgouvernements honorierte allerdings nicht nur den Kampf an der Seite Napoleons. Er wählte auch Standesgenossen zu Adelsmarschällen, die auf der russischen Seite gegen die Grande Armée gekämpft hatten. Iwan Głębocki hatte von 1805 bis 1814 seinen Militärdienst im Zarenreich geleistet und war dort bis zum Oberleutnant aufgestiegen. Für seine Leistungen im Jahre 1812 wurde er ausgezeichnet. 1826 wählte ihn der Adel von Žitomir, wo er vier Güter mit insgesamt 432 Leibeigenen besaß, zum Kreisadelsmarschall. Bei den folgenden beiden Adelswahlen 1829 und 1832 wurde er im Amt bestätigt.306 Dieses Beispiel zeigt, 304 Vgl. die Abschrift aus der Personalakte Henryk Tyszkiewiczs vom 21.2.1828, in: CDIAK f. 533, op. 2, d. 249, l. 17–20. 305 Vgl. die Abschrift aus der Personalakte Adolf Świderskis vom 2.7.1829, in: CDIAK f. 533, op. 2, d. 500, l. 105–108. 306 Vgl. die Abschrift aus der Personalakte Iwan Głębocki vom 30.7.1832, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1265, l. 115ob-116.



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dass auch der loyale Dienst in der zarischen Armee kein Hindernis war, um im Heimatkreis in ein hohes Amt gewählt zu werden. Die Systematisierung der individuellen Karriereverläufe von Adelsmarschällen aus den Westgouvernements zeigt, dass es unterschiedliche Wege in das höchste adlige Wahlamt gab. Dort fanden sich soziale Aufsteiger ebenso wie magnatische Jünglinge oder ehemalige Militärs. Nur eines waren die Adelsmarschälle nicht: Männer, welche die besten Jahre ihres Lebens schon hinter sich hatten und ihren Ruhestand durch ein Wahlamt schmückten. Vielmehr kamen die Adelsmarschälle allesamt aus der Mitte der Adelsgesellschaft: Sie waren sowohl Adlige, die schon seit Jahren in den unterschiedlichsten Funktionen tätig waren, als auch Heimkehrer aus St. Petersburg oder Söhne arrivierter Magnaten vor Ort. All diese Karrieren sprechen dafür, dass hier Personen in ein Amt gewählt wurden, die vor Ort politische Verantwortung übernehmen wollten. Dies führt zu der Frage, aus welchen Motiven die Adligen sich zur Wahl stellten. War es tatsächlich der Wille, die lokale Lebenswelt politisch mitzugestalten? Inwieweit wurde eine solche Mitgestaltung als Möglichkeit verstanden, lokale Angelegenheiten selbst zu regeln und damit der angestrebten Normdurchsetzung des Zarenreiches entgegenzuwirken? Wurde man Adelsmarschall im Geist der Opposition oder in der Bereitschaft, die Zukunft des eigenen Kreises innerhalb des Zarenreichs mitzugestalten? Und inwieweit rechnete man damit, dass eine Bekleidung von Wahlämtern das persönliche Ansehen heben würde? Der Adel der Westgouvernements hatte eine andere Einstellung zum Staatsdienst als der Adel in Zentralrussland. Ein russischer Adliger sah im staatlichen Dienst, möglichst beim Militär oder in der Hauptstadt, den idealen Weg, um zu Rang und Ansehen zu gelangen. Wahlämter in der Provinz brachten hingegen weder Prestige noch Macht oder Einkommen und übten auf junge, ehrgeizige Adlige weniger Reiz aus. Wahlämter galten manchem sogar als Zwangsdienst, dem man sich mit allen Kräften zu entziehen versuchte.307 In den Westgouvernements war es genau andersherum. Hier genoss der Staatsdienst nur geringes Ansehen während die Wahlämter auf lokaler Ebene ein größeres Prestige versprachen. Die Tradition der Adelsrepublik wirkte in dieser Frage fort. Obwohl die meisten Wahlämter unbezahlt waren, gab es dennoch verhältnismäßig viele Freiwillige, die bereit waren, einen solchen Posten zu übernehmen. Gerade das Amt eines Adelsmarschalls war Ausdruck des Ansehens bei den Standesangehörigen und versprach Einfluss in lokalpolitischen Angelegenheiten. Schon bei den Zeitgenos-

307 Vgl. Korf: Dvorjanstvo i ego soslovnoe upravlenie, S. 459; Hildermeier: Der russische Adel, S. 181f.

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sen galt das Prestige des Amtes als ein wesentliches Motiv für eine Kandidatur bei den Adelswahlen.308 Trotz schlechter Bezahlung waren für den Kleinadel auch materielle Interessen ein Motiv für den Dienst. Allerdings versprach hier weniger der Posten eines Adelsmarschalls ein Nebeneinkommen, sondern vor allem eine Stellung bei Gericht. Nach Svetlana Lugovcova bereicherte sich hier der polnische genauso wie der russische Kleinadel.309 Ein noch viel stärkeres persönliches Motiv war jedoch die Hoffnung, sich über ein Wahlamt die Statuszugehörigkeit oder das Wahlrecht zu sichern. Angesichts der prekären Situation, in der sich viele Adlige aufgrund der staatlichen Adelsüberprüfung befanden, hofften viele von ihnen, mit der Übernahme eines Wahlamtes die juristische Zugehörigkeit zum Adel zu wahren.310 Der Gouverneur von Vitebsk beschwerte sich 1830 beim Gouvernementsmarschall darüber, dass sich vor allem Adlige zur Wahl stellten, die nach dem geltenden Gesetz nicht das Recht hatten, an der Wahl teilzunehmen und ein Amt zu übernehmen.311 Seit 1831 war der 14. Rang oder ein dreijähriger Dienst eine gesetzliche Voraussetzung für das passive Wahlrecht.312 Dies dürfte die Tendenz, ein Wahlamt aus Gründen der Statussicherung zu übernehmen, noch verstärkt haben. Es gibt hingegen keine Indizien, dass Adlige ein Wahlamt übernahmen, um auf lokaler Ebene Obstruktionspolitik zu betreiben. Leon Sapieha schildert in seinen Erinnerungen ein Gespräch mit seinem Standesgenossen Fürst Lubecki. Letzterer schlug vor, nicht nur im Königreich Polen, sondern gerade auch in den Westgouvernements so viele Ämter wie möglich zu besetzen, damit am Ende „nicht Russland uns verwaltet, sondern wir Russland“. Sapieha hielt einen solchen Weg jedoch für unmöglich. Jeder, der nach einer Karriere im Zarenreich strebe, komme bei den Patrioten in Verruf. Er müsse entweder zu denken aufhören oder auf die Seite Russlands überlaufen. Ein Beispiel dafür sei der Fürst Czartoryski. In seiner Eigenschaft als russischer Minister und Günstling des Zaren habe er der Heimat zahlreiche Verdienste erwiesen. Man verdanke ihm polnische Schulen und die Universität in Wilna sowie das Königreich Polen, das mit Ausnahme des Monar308 A. Pastorė: Zapiski markiza Pastorė o 1812 gode, in: Polocko-Vitebskaja starina 1916, H. 3, S. 181–214, hier 200. Dem folgt auch die neuere Forschung, vgl. Aniščanka: Dvaranskija vybary, S. 55. 309 Zur Bestechlichkeit der Wahlbeamten siehe Korf: Dvorjanstvo i ego soslovnoe upravlenie, S. 356f. Zu den Westgouvernements im Speziellen siehe Lugovcova: Politika Rossijskogo samoderžavija, S. 35. 310 Vgl. Aniščanka: Dvaranskija vybary, S. 55. 311 Schreiben des Generalgouverneurs von Vitebsk an den Gouvernementsmarschall von Vitebsk vom 26.3.1830, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 5508, l. 5–6. 312 Statut über die Ordnung der Adelsversammlungen, der Adelswahlen und des Dienstes in Wahlämtern vom 6.12.1831, in: PSZ II, Bd. 6,2, Nr. 4.989, S. 247–273, hier 250.



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chen von Russland gänzlich unabhängig sei. Und trotzdem nenne man ihn einen Verräter und Feind des Vaterlandes. In der zweiten Hälfte seines Lebens hingegen, als er im Exil war und für seine Heimat nichts mehr tun konnte, da habe man ihn auf Händen getragen und ihm größtes Vertrauen entgegengebracht.313 Für denjenigen Teil der Szlachta, der in Fundamentalopposition zum Zarenreich stand, kam die Übernahme eines Wahlamtes also kaum in Frage: noch nicht einmal, um die russische Administration zu schwächen. Letztlich sind die Motive, aus denen Adlige ein Wahlamt oder bereits die Kandidatur ablehnten, nicht im Einzelfall rekonstruierbar. Auf der einen Seite fehlen Selbstzeugnisse, in denen Adlige ihre Intentionen darlegten, auf der anderen Seite begründeten sie die Ablehnung eines Amtes gegenüber der zarischen Regierung mit offensichtlich vorgeschobenen Argumenten. So hatte zum Beispiel der Gutsbesitzer Marian Sulatycki aus Podolien den Gouverneur darum gebeten, ihn seiner Amtspflichten als Schöffe zu entheben, da er kein Russisch spreche. Hinzu komme, dass er dieses Amt nie angestrebt habe und auf der letzten Adelsversammlung gegen seinen Willen gewählt worden sei. Der Gouverneur entschloss sich dazu, dieser Bitte nicht nachzukommen. Er habe keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Wahl Sulatyckis, sehr wohl aber an dessen Behauptung, dass er des Russischen nicht mächtig sei. Der an ihn gerichtete Brief sei von Sulatycki nämlich eigenhändig auf Russisch verfasst und von ihm unterschrieben worden.314 Möglicherweise war der Rücktritt Sulatyckis ein Protest gegen die Tendenzen, Russisch zur alleinigen Amtssprache in den Westgouvernements zu erklären. Der Gouverneur ging auf diese Provokation allerdings nicht ein und beließ ihn im Amt. Adlige, die sich zu einer Kandidatur für das angesehene Amt eines Adelsmarschalls entschlossen hatten, mussten sich gegen Mitbewerber durchsetzen. Inwieweit geben die Quellen Aufschlüsse über Strategien, mit denen die Adligen den Wahlausgang zu ihren Gunsten zu beeinflussen suchten? Hatten Magnaten aufgrund der wirtschaftlichen Abhängigkeit zahlreicher Standesgenossen größere Chancen, sich gegen Konkurrenten durchzusetzen? Die Adelswahlen des Jahres 1808 in Minsk sind eines der seltenen Beispiele, bei dem nicht nur die Wahlergebnisse, sondern auch die Liste mit Angaben über die 124 Wähler überliefert sind. Auf dieser Grundlage lassen sich Aussagen darüber treffen, wen die Adligen aus ihrer Mitte in die einzelnen Ämter wählten. Zum Kreisadelsmarschall wählte die Versammlung Karol Czapski. Er war mit 3.699 Leibeigenen und 7.028 Rubel Steueraufkommen der Vermögendste unter 313 [Leon l. Sapieha]: Memuary knjazja l. Sapegi, Petrograd 1915, S. 109f. 314 Brief des Gouverneurs von Podolien an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 11.1.1839, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 2630, l. 392–392ob.

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den Anwesenden. Allerdings war er ohne Familienanhang nach Minsk gekommen. Seine Wähler würdigten wohl seine herausragende Stellung im Kreis. Als zweiter Kandidat für das Amt des Kreismarschalls wurde Michał Kostrowicki gewählt. Er war das jüngste und zugleich das wohlhabendste Mitglied seiner Familie, allerdings mit 215 Seelen und 408 Rubel bei weitem nicht so reich wie Czapski. Dafür war er mit einer großen Sippschaft angereist. Schließlich einigte sich die Versammlung noch darauf, Tadeusz Horodeński als Kandidaten für die Wahl des Präsidenten am Gouvernementshauptgericht ins Rennen zu schicken. Horodeński stammte aus dem mittleren Adel und wurde ohne Gegenstimme gewählt. Dies deutet auf eine reine Personenwahl hin.315 Dieses Beispiel spiegelt drei möglich Varianten einer Wahlentscheidung wider: Man wählte einen angesehenen Magnaten, ein gut vernetzter Adliger setzte sich durch oder man stimmte für eine Person, die man für besonders befähigt hielt, das Amt auszufüllen. Darüber hinaus fällt auf, dass von acht anwesenden Magnaten, die mehr als 1.000 Leibeigene besaßen, nur Czapski für ein Amt kandidierte. Es bleibt Spekulation, ob die anderen sieben nicht bereit waren, sich für weniger repräsentative Ämter zu bewerben oder ob sie aus Altersgründen nicht antraten: Józef Ignaciewicz, Joachim Chmara und Adam Czartoryski waren schon über 70 Jahre alt, Dominik Radziwiłł war mit 23 Jahren noch vergleichsweise jung.316 Einflussreiche Magnaten setzten sich nicht automatisch gegen andere Kandidaten durch. So trat zum Beispiel im Kreis Kovel’ (Wolhynien) Graf Adam Leszczyński gegen Konstanty Janiszewski an. Der Graf war erst 35 Jahre alt und konnte schon auf eine beeindruckende Karriere zurückblicken. Er war bei einem Kavalleriegarderegiment bis zum Unterleutnant aufgestiegen und 1826 zum Mitglied in der Adelsdeputiertenversammlung im Kreis Luck gewählt worden. 1831 wurde er von der Gouvernementsregierung zum Kreisadelsmarschall von Kovel’ ernannt, bei der nächsten Wahl im Jahre 1832 jedoch nicht bestätigt. Dort setzte sich Konstanty Janiszewski durch, der zwar nicht beim Militär gedient, sich jedoch in zahlreichen Funktionen auf lokaler Ebene verdient gemacht hatte: als Beisitzer am Kreisgericht, als Kornett und als Delegierter in der Adelsdeputiertenversammlung. Bei den Adelswahlen von 1838 trat Graf Leszczyński noch einmal gegen Janiszewski an und unterlag ihm abermals. Der Adel zog den 65-Jährigen

315 Vgl. die Liste der wahlberechtigten Adligen aus dem Kreis Minsk, o. d. [1808], in: NIAB f. 320, op. 2, d. 6, l. 195–202; Liste der im Kreis Minsk gewählten Beamten, o. d. [1808], in: NIAB f. 320, op. 2, d. 6, l. 80–81. 316 Vgl. die Liste der wahlberechtigten Adligen aus dem Kreis Minsk, o. d. [1808], in: NIAB f. 320, op. 2, d. 6, l. 195–202.



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Leszczyński, der aufgrund seiner zahlreichen Ämter nicht nur angesehen, sondern auch gut vernetzt gewesen sei dürfte, dem jungen Grafen vor.317 Amtsträger aus dem mittleren Adel waren mitunter keine unabhängigen Kandidaten. Hinter ihnen standen unter Umständen einflussreiche Magnatenfamilien, aus deren Reihen zwar niemand persönlich kandidierte, die aber im Hintergrund die Fäden zogen. Der Adlige Sulatycki aus Podolien hatte zusammen mit anderen Amtsträgern im Jahre 1823 das Adelsbuch gefälscht und auf diese Weise einer Reihe von Adligen zum Wahlrecht verholfen. Darunter befand sich unter anderem die große Magnatenfamilie der Sobański, die einen besonderen Einfluss auf die Adelsgesellschaft hatten. Sulatycki gewann auf diese Weise die Gewogenheit der Partei der Sobański und wurde bei den folgenden Adelswahlen dank deren Unterstützung zum Vorsitzenden des Hauptgerichts gewählt.318 Der polnische Adel dominierte in den Westgouvernements numerisch und kulturell. Allerdings lebten auch russische Adlige in den polnischen Provinzen des Zarenreiches. Schon Katharina II. hatte im Zuge der drei Teilungen Polens Güter mit insgesamt 190.000 Leibeigenen konfisziert und an Favoriten oder hohe Beamte verschenkt.319 Es ist unklar, in welchem Ausmaß darüber hinaus russische Beamte, die in den Westgouvernements ihren Dienst versahen, dort Land kauften und sich niederließen. In Westpreußen war es gängige Praxis, dass preußische Beamte Grundbesitz erwarben und eine neue Landeselite bildeten.320 In den Gouvernements Kiew und Mogilëv war der Anteil russischer Adliger vergleichsweise hoch. Dies lag in der Geschichte dieser Gebiete begründet. Das Gouvernement Kiew bestand nicht nur aus Territorien der zweiten Teilung Polens. Ein kleiner Teil mit der Gouvernemenstadt befand sich auf dem linken Ufer des Dnjeprs und war damit bereits seit 1667 Bestandteil des Zarenreiches. Im Jahr 1833 lebten 124 russisch-orthodoxe Adlige mit Grundbesitz im Gouvernement Kiew. Sie gehörten alle der Schicht der Großgrundbesitzer an und besaßen mehrere hundert oder gar tausend Leibeigene.321 Daneben gab es weitere 661 Gutsbesitzer, die katholisch oder griechisch-orthodox waren.322 Der Anteil der russischorthodoxen Gutsbesitzer betrug demnach knapp 16 Prozent. 317 Vgl. die Abschrift aus den Personalakten von Konstanty Janiszewski und Adam Leszczyński vom 30.5.1838, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 2631, l. 105–112. 318 Schreiben Konstantin Pavlovičs an den Gouverneur von Podolien vom 28.12.1829, in: GARF f. 109, op. 4, d. 451, l. 6–9ob. 319 Vgl. Thaden: Russia’s Western Borderlands, S. 45. 320 Vgl. Bömelburg: Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat, S. 338. 321 Vgl. die Aufstellung im Schreiben des Gouverneur von Kiew an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 5.6.1833, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1391, l. 11–23. 322 Vgl. das Schreiben des Gouverneurs von Kiew an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 21.11.1833, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1391, l. 38–39.

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Auch in Mogilëv war der Anteil des russischen Adels vergleichsweise hoch, da es bereits seit 1772 zum Zarenreich gehörte. Bekenntnis der männlichen Adligen im Gouvernement Mogilëv im Jahr 1838:323 Russischorthodox 4.842 (26,3 %)

Römischkatholisch 11.402 (62,1 %)

Griechischorthodox 2.091 (11,4 %)

Reformiert 33 (0,2 %)

Nach der ersten Teilung hatten viele polnische Adlige den Treueid an die Zarin verweigert und sich auf Güter, die in der damals noch bestehenden Adelsrepublik lagen, zurückgezogen. Der konfiszierte Grund und Boden wurde in der Regel an russische Adlige verschenkt. Im Vergleich dazu war der Anteil russisch-orthodoxer Adliger im Gouvernement Vitebsk weitaus geringer: Bekenntnis der männlichen Adligen im Gouvernement Vitebsk im Jahr 1838:324 Russischorthodox 304 (2,5 %)

Römischkatholisch 11.431 (96,3 %)

Griechischorthodox 44 (0,4 %)

Reformiert 91 (0,8 %)

Leider liegen für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht für alle Westgouvernements Zahlen über die konfessionelle Zusammensetzung des Adels vor. Tendenziell war der Anteil der Russisch-Orthodoxen in westlichen Gouvernements wie Grodno oder Wilna niedriger als in den östlichen Gebieten der ersten Teilung. Das Gleiche gilt für die ukrainischen Gouvernements, wobei hier eine starke Stellung des griechisch-orthodoxen Adels zu berücksichtigen ist. Inwieweit waren diese russischen Adligen in der Adelsgesellschaft der Westgouvernements integriert? Folgt man dem Mogilëver Publizist I. I. Serdjukov, dann blieb die lokale Macht in den Händen der Gutsbesitzer und eifrigsten Patrioten, während Russen nie in ein Amt gewählt wurden.325 Legt man die Ergebnisse der Adelswahlen zu Grunde, so sprechen diese gegen eine erfolgreiche Integration der russischen Adligen. In den Listen der gewählten Beamten finden sich kaum Namen russischer Adliger. Doch es gab auch Ausnahmen. Fëdor Protopopov hatte im Gouvernement Kiew ein Gut mit 1.220 Seelen erworben. Er diente fünf Jahre beim Militär, ehe er dort 1823 ausschied und sich auf seinen 323 Liste des Gouvernementsmarschalls von Mogilëv zum religiösen Bekenntnis des örtlichen Adels vom 15.4.1838, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 4804, l. 55. 324 Liste des Gouvernementsmarschalls von Vitebsk zum religiösen Bekenntnis des örtlichen Adels vom 15.4.1838, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 4804, l. 55. 325 Vgl. I. I. Serdjukov: Avtobiografičeskaja zapiska, in: Kievskaja starina 1896, Nr. 12, S. 337–374, hier 366.



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Landbesitz niederließ. Nur drei Jahre später wählte ihn die Adelsversammlung des Kreises Zvenigorodka zu ihrem Abgeordneten in die Adelsdeputiertenversammlung. 1830 wurde er in seinem Amt bestätigt.326 Graf Lev Saltykov wurde 1829 sogar zum Gouvernementsmarschall von Mogilëv gewählt. Der dreißigjährige Großgrundbesitzer, der 1.347 Leibeigene besaß und einem berühmten russischen Adelsgeschlecht angehörte, setzte sich in der Wahl gegen seinen polnischen Konkurrenten Feliks Męciszewski durch, der mit 45 Jahren erfahrener war und dem mittleren Adel entstammte.327 Beide Fälle waren jedoch Ausnahmen, und es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass Saltykov in dem bereits stärker russisch geprägten Mogilëv zum Adelsmarschall gewählt wurde. Weitaus weniger Erfolg hatte hingegen Peter I. Severin. Nach seiner Abberufung aus dem Amt des Gouverneurs in Vitebsk zog er sich 1801 auf sein Gut zurück, das er während seiner einjährigen Amtszeit erworben hatte. Es umfasste 400 Seelen und lag nur 25 Werst von Vitebsk entfernt. Severin gehörte damit zu den wohlhabenden Gutsbesitzern des Gouvernements. Als er sich 1807, also sechs Jahre nach seiner Abberufung, bei den Adelswahlen um das Amt des Leiters der Gouvernementsmiliz bewarb, da entfielen von dreihundert Stimmen nur drei auf ihn.328 Trotz oder gerade wegen seiner Amtszeit als Gouverneur war er in der lokalen Adelsgesellschaft offenbar wenig angesehen. Insgesamt deuten die Quellen darauf hin, dass der polnische und der russische Adel in weitgehend getrennten Sphären lebten. Der Gouverneur von Podolien berichtete noch im Jahr 1837, also knapp 40 Jahre nach den Teilungen, dass der russische und polnische Adel weder auf dienstlicher noch auf gesellschaftlicher Ebene einen vertrauten Umgang miteinander pflegten. Und der Gouverneur prophezeite, dass dies noch lange Zeit so bleiben werde.329 Auch in Wolhynien war nach Auskunft des Generalgouverneurs der gesellschaftliche Einfluss des russischen Adels so gering, dass man über dessen Rolle überhaupt nichts berichten könne.330 Über die Gründe der mangelnden Integration des russischen Adels in die Gesellschaft der Westgouvernements machten sich auch die staatlichen Repräsen326 Abschrift aus der Personalakte des Fëdor Protopopov vom 25.5.1830, in: CDIAK f. 533, op. 2, d. 574, l. 2–3. 327 Vgl. die beiden Schreiben des Gouverneurs von Mogilëv an den Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv und Smolensk vom 23.1. und vom 25.1.1829, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 3818, l. 12–13 und l. 18. 328 Vgl. Dobrynin: Žizn’, S. 330. 329 Lagebericht des Gouverneurs von Podolien für das Jahr 1837, o. D., in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 2256, l. 75–138, hier 79ob-80. 330 Bericht des Generalgouverneurs von Kiew, Podolien und Wolhynien an Nikolaus I. über den Zustand der Gouvernements Kiew, Podolien und Wolhynien im Jahr 1839, vom 22.3.1840, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 2788, l. 1–107, hier 64.

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tanten vor Ort Gedanken. Aus Sicht eines Beamten der Kiewer Gouvernementsregierung, des Wirklichen Staatsrates Loškarëv, gab es im Gouvernement Kiew zwar genügend russische Adlige, um die Dominanz der Szlachta auf lokaler Ebene zu beschränken. Das Problem bestehe allerdings darin, dass viele der russischen Gutsbesitzer gar nicht in Kiew, sondern auf einem ihrer Güter in einem anderen Gouvernement lebten oder an einem anderen Ort im Staatsdienst stünden. Diejenigen russischen Adligen wiederum, die ihren Lebensmittelpunkt im Gouvernement Kiew hätten, nähmen an den lokalen Angelegenheiten keinen Anteil und mieden Zusammentreffen mit dem polnischen Adel. Nur eine verschwindend kleine Minderheit des russischen Adels nehme an den Adelswahlen teil, weshalb dieser auch bei den Amtsträgern deutlich unterrepräsentiert sei.331 Loškarëvs Eindruck, der russische Adel zeige gar kein Interesse an den Adelswahlen, wird durch die Akten bestätigt. Eine Überprüfung des Adelsbuches des Gouvernements Kiew aus dem Jahr 1835 ergab, dass von 638 adligen Grundbesitzern 566 im Adelsbuch verzeichnet waren. Den größten Teil der 72 Adligen, die auf einen Eintrag und damit auch auf ihr Wahlrecht verzichtet hatten, bildeten russische Adlige.332 Dieser Umstand spricht für ein verbreitetes Desinteresse an den Adelswahlen. Die russischen Adligen gehörten nicht zum alteingesessenen Adel, sondern kamen als Fremde in die polnischen Provinzen. Es gelang ihnen offenbar nicht, sich im Lauf der Jahre in die polnische Adelsgesellschaft einzufügen und ein Interesse für die lokale Selbstverwaltung zu entwickeln. Die zarische Staatsgewalt war über diesen mangelnden Einfluss des russischen Adels in den Westgouvernements wenig erfreut. Loškarëv sah es deshalb als seine Aufgabe an, der zarischen Regierung Vorschläge zu unterbreiten, wie dies geändert werden könne. Er schlug vier Maßnahmen vor, mit denen die Zahl der russischen Adligen in den Westgouvernements erhöht und deren Einfluss gestärkt werden sollte. Zunächst seien alle russischen Gutsbesitzer in das dortige Adelsbuch einzutragen, auch wenn sich ihr ständiger Wohnsitz in einem anderen Gouvernement befinde. Auf diese Weise könnten sie ihr Stimmrecht in den polnischen Provinzen ausüben, wo dies notwendiger sei als in einem zentralrussischen Gouvernement. Loškarëv rechnete allerdings nicht damit, dass die russischen Adligen allein aus patriotischem Pflichtgefühl zu den Adelswahlen anreisen würden. Deshalb schlug er vor, dass es all denjenigen, die nicht selbst zu den Wahlen erscheinen konnten, künftig erlaubt sein sollte, jemanden zur Stimmabgabe zu bevollmächtigen. Dies sollte am besten ein anderer russischer 331 Vgl. das Schreiben des Innenministers an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 24.3.1833, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1391, l. 1–7, hier 1–2ob. 332 Aufstellung der Kiewer Adelsdeputiertenversammlung vom 24.8.1835 über die eingetragenen Adligen im Adelsbuch des Gouvernements Kiew, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1391, l. 40–70.



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Gutsbesitzer sein. Allerdings wäre trotz all dieser Maßnahmen der russische Adel noch immer in der Minderheit. Deshalb wollte Loškarëv, dass die zarische Regierung die örtliche Führung damit beauftrage, durch „vernünftige und zurückhaltende Mittel“ den Einfluss des russischen Adels so zu stärken, dass die Mehrheit der Stimmen stets auf dessen Seite sei. Loškarëv war sich darüber im Klaren, dass derartige Maßnahmen den polnischen Adel gegen die zarische Staatsgewalt aufbringen mussten. Deshalb betonte er, dass all diese Maßnahmen im Geheimen zu ergreifen seien.333 Der Gouverneur scheute sich also nicht, dem Innenministerium die Manipulation der Adelswahlen vorzuschlagen. Durch einige Regeländerungen und Kunstgriffe sollte das Ergebnis der Adelswahlen beeinflusst werden. Loškarëv gewichtete das Interesse der Staatsgewalt, das gewünschte Ergebnis bei den Wahlen zu erzielen, höher als die integrative Funktion der adligen Interessenvertretung. Die Szlachta sollte am politischen Prozess in der Provinz nicht länger partizipieren, sondern aus der lokalen Verwaltung herausgedrängt werden. Die zarische Regierung wies die Vorschläge Loškarëvs zurück. Das Komitee für die Westgouvernements diskutierte dessen Anregungen zwar intensiv, verwarf sie schließlich jedoch. Man zeigte sich stattdessen überzeugt, bereits alle notwendigen Maßnahmen ergriffen zu haben, um das schrittweise Aufgehen der polnischen Provinzen im Russischen Reich zu fördern: Das Russische sei alleinige Amtssprache, die Universität Wilna und das Gymnasium in Krzemenec geschlossen, der römisch-katholische und der griechisch-katholische Klerus stünden unter aufmerksamerer Beobachtung. Neue orthodoxe Kirchen würden errichtet und baufällige Gotteshäuser renoviert. Die zivile Verwaltung sei den innerrussischen Strukturen angeglichen, die Güter von Aufständischen seien konfisziert und an russische Adlige vergeben. All diese Maßnahmen hielt das Komitee für die Westgouvernements mittelfristig für Erfolg versprechend. Die Vorschläge Loškarëvs wies man hingegen als nicht umsetzbar zurück. Sie hätten zum einen zur Folge, dass sich Polen und Russen noch weiter entfremden würden. Zum anderen verstießen sie gegen geltendes Recht. Eine Manipulation der Adelswahlen mit dem Ziel, den russischen Adligen stets die Mehrheit zu verschaffen, stelle einen eklatanten Bruch geltenden Rechts dar. Vorstellbar sei nur der Versuch, die Zahl der russischen Adligen in den Adelsversammlungen dadurch zu erhöhen, indem der Gouverneur alle russischen Stimmberechtigten persönlich dazu einlade, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen.334 333 Vgl. das Schreiben des Innenministers an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 24.3.1833, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1391, l. 1–7, hier 1–2ob. 334 Vgl. das Schreiben des Innenministers an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 24.3.1833, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1391, l. 1–7, hier 4–5ob.

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Von der ständischen Korporation zur „staatlichen Veranstaltung“?

Die eigentliche Sorge der zarischen Regierung galt nicht den getrennten Lebenswelten russischer und polnischer Adliger, sondern der Gefahr einer Verschmelzung des russischen Adels mit seiner polnischen Umwelt. Regelmäßiges Entsetzen riefen bei den zarischen Amtsträgern Fälle hervor, in denen russische Adlige polnische Frauen heirateten und sich ganz in die polnische Lebenswelt eingefügten. Der Gouverneur von Podolien berichtete zum Beispiel: „Den ersten Platz in der Bevölkerung nimmt der Adel ein. Er ist vollständig polnisch. Sogar diejenigen Adligen, die von alten russischen Geschlechtern abstammen, haben nicht nur ihre Muttersprache vergessen, sondern auch ihren Glauben und ihre Herkunft.“335

Integration war im Verständnis der zarischen Regierung also eine Einbahnstraße. Während vom polnischen Adel erwartete wurde, dass er sich an die sprachlichen und kulturellen Gegebenheiten des Zarenreiches anpasste, so empfand man es als Ungeheuerlichkeit, wenn russische Adlige in den Westgouvernements im Alltag Polnisch sprachen und die dortigen Sitten übernahmen. Je mehr die Regierung auf eine normative Integrationspolitik setzte, desto weniger war sie bereit, die kulturellen Merkmale der polnischen Provinzen zu akzeptieren. Für die zarische Staatsgewalt blieb der russische Adel ein gleichsam natürlicher Ansprechpartner in den Westgouvernements. Als es in Podolien im Jahre 1811 nicht gelang, polnische Adlige als Informanten für die Regierung zu gewinnen, wandte man sich an den lokalen russischen Adel, um in Erfahrung zu bringen, welche Gründe die Ursache für diese Verweigerungshaltung waren. Und der russische Adel gab auch bereitwillig Auskunft.336 Diese besondere Beziehung dürfte wiederum der Szlachta nicht verborgen geblieben sein. So ist durchaus nachvollziehbar, wenn polnische Adlige ihre russischen Standesgenossen als Vertreter der Zarenmacht und damit als „Fremde“, wenn nicht gar als „Eindringlinge“ wahrnahmen. Die zarische Regierung verfolgte das Ziel, das „russische Element“ in den Westgouvernements zu stärken, und hatte nach dem Novemberaufstand auch erste Maßnahmen, die in diese Richtung zielten, ergriffen. Die Adelsversammlungen blieben davon jedoch unberührt. Zum einen war die Regierung nicht bereit, gegen ihre eigenen Gesetze zu verstoßen. Zum anderen erkannte man, dass eine Manipulation der Adelswahlen eine fortschreitende Desintegration des polnischen 335 Schreiben des Gouverneurs von Podolien an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien, o. d. [1841], in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 3623, l. 23–29ob., hier 23ob.-24ob. 336 Auszug aus dem Bericht des Wirklichen Staatsrates Kržižanovskij an das Polizeiministerium vom 30.9.1811, in: GARF f. 1165, op. 1, d. 491, l. 21.



Soziale Zusammensetzung und Karrieremuster der Wahlbeamten

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Adels zeitigen würde. Dies war explizit nicht gewollt. Nach wie vor war die Integration des polnischen Adels das Ziel der zarischen Politik. Die Aufständischen von 1830/31 wurden zwar aus der zarischen Gesellschaft exkludiert, indem man sie in die Verbannung schickte. Die loyalen Teile des Adels der Westgouvernements sollten aber nach wie vor an der politischen Willensbildung auf lokaler und regionaler Ebene partizipieren. Trotz der Einführung des Russischen als alleinige Verwaltungssprache und trotz der Schließung der polnischen Bildungseinrichtungen warb die zarische Regierung noch immer beim polnischen Adel für eine Integration in das Imperium. Gleichzeitig setzte die nach 1830 forcierte normative Integrationspolitik nicht allein auf eine Vereinheitlichung der institutionellen Strukturen, sondern auf eine kulturelle Assimilation. Indem man den polnischen Adel jedoch politisch und kulturell bevormundete, verlor das Zarenreich jegliche Anziehungskraft. Der Innenminister Alexanders II., Peter Valuev, sollte dieses Dilemma zarischer Politik nach dem Januaraufstand auf den Punkt bringen: „Ein Volk, dessen politische Rechte darauf beschränkt sind, Steuern zu zahlen, Rekruten zu liefern und ‚Hurra!’ zu schreien, besitzt noch keine Assimilationskraft.“337

5. Zusammenfassung Auch die Integration der sejmiki war von den Widersprüchen der zarischen Politik geprägt. Einerseits übernahm man diese ständische Institution der untergegangenen Adelsrepublik und beließ ihr das Recht, zahlreiche Ämter auf regionaler und lokaler Ebene durch Wahlen zu besetzen. Andererseits versuchte das Zarenreich, die für russische Adelsversammlungen geltenden Normen in den sejmiki durchzusetzen. Auch auf diesem Feld stand die zarische Politik einerseits in der Tradition der Kooptationspolitik früherer Jahrhunderte und ließ sich andererseits von den Ansprüchen einer expandierenden Staatsgewalt leiten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts zeigte die partielle und tendenziell ausgreifende Implementierung staatlicher Normen ihre Wirkung auf die Adelsversammlungen der Westgouvernements. Konflikte und das Zusammenspiel von monarchischer Staatsgewalt und ständischen Verwaltungsorganen wechselten sich ab, liefen aber wie in ganz Europa auf eine Eingliederung dieser Institutionen in die einheitliche Staatsgewalt hinaus.338 Die polnischen Landtage wuchsen langsam in die Vorgaben einer russischen Adelsversammlung hinein und näherten sich den Erwartun337 Pëtr A. Valuev: Dnevnik ministra vnutrennich del v dvuch tomach, hg. v. Pëtr A. Zajončkovskij, 2 Bde., Moskau 1961, Anmerkung 48 vom 12.7.1868 zum Eintrag vom 1.3.1861, S. 337–342, hier 340. 338 Vgl. Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt, S. 211.

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gen der zarischen Staatsgewalt immer mehr an. Die stärkste und nachhaltigste Veränderung erfuhren die Adelsversammlungen der Westgouvernements durch die schrittweise Exklusion des verarmten Kleinadels aus der Schicht der Edelleute. Da der Ausschluss aus dem Adelsstand mit dem Verlust des Wahlrechts einherging, veränderte sich die soziale Zusammensetzung der Adelsversammlungen. Gleichzeitig stellte die zarische Regierung gesetzliche Hürden für die Ausübung des Wahlrechts auf. Indem sie ein bestimmtes Einkommen oder Grundbesitz zur Voraussetzung für eine Beteiligung an den Adelswahlen machte, schloss sie die mittellosen und ärmeren Adeligen von den Wahlämtern und damit von der politischen Partizipation auf regionaler Ebene aus. Die ansässigen Magnaten wiederum erschienen erst gar nicht zur Wahl. Sie lebten in der Regel nicht auf ihren weitläufigen Gütern, sondern auf ihrem Familienstammsitz oder in der Stadt und scheuten die weite Anreise. So verwandelten sich die ehemaligen sejmiki seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts sukzessive zu einer Veranstaltung des mittleren und wohlhabenden Adels: Er dominierte zunächst die Wahlämter, bald stellte er aber auch die Wählerschaft. Auch der Ablauf der Landtage näherte sich schrittweise dem Hergang einer russischen Adelsversammlung an. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatten sich die sejmiki, auf denen in Zeiten der Adelsrepublik noch politische Angelegenheiten diskutiert und entschieden wurden, in reine Wahlversammlungen verwandelt. Damit hatte die zarische Regierung diese ständische Einrichtung der Adelsrepublik zwar erfolgreich in das Institutionengefüge des Zarenreiches integriert, doch gleichzeitig ihre gesellschaftliche Bedeutung reduziert. Die Adelsversammlung hatte an Attraktivität verloren und stellte nicht mehr das Zentrum des politischen Lebens in der Provinz dar. Das Ablegen politischer Traditionen stellte sich für den polnischen Adel als Identitätsverlust und kulturelle Überformung durch ein hegemoniales Zarenreich dar. Die institutionelle Integration der sejmiki wurde auf diese Weise zu einem wesentlichen Moment der zunehmenden Entfremdung des polnischen Adels.

III. STAATSAUSBAU UND HERRSCHAFTSPRA X IS IN DER POLNISCHEN PROVINZ: DIE ETA BLIERUN G DER ZARISCHEN STAATSGEWALT IN D EN WESTGOUVERNEMEN TS

In der Nacht vom 30. auf den 31. Juli 1811 zerstörte ein Großbrand in Berdičev 541 Häuser, 175 Läden und sieben jüdische Schulen. Obwohl Berdičev ein wichtiger Handelsplatz war, standen den örtlichen Polizeikräften keine Pferde zur Verfügung, so dass sie das Löschwasser in Eimern zu den Brandherden tragen mussten. Schließlich konnte das Feuer nur gelöscht werden, weil die privaten Ordnungskräfte des Fürsten Radziwiłł der Polizei tatkräftig zur Seite sprangen.1 Dieses Beispiel verdeutlicht, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts die russische Staatsgewalt in der polnischen Provinz kaum anwesend war. Die lokalen Behörden waren häufig zu schwach, um für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung sorgen zu können. Vielmehr waren Magnaten und deren Gefolgschaft der entscheidende Faktor vor Ort. Sie prägten das öffentliche Leben sowie die Lokalpolitik, und die staatliche Verwaltung war von ihrem Wohlwollen abhängig. Nicht immer agierten staatliche Amtsträger und Gutsbesitzer Hand in Hand, wie bei der Löschung eines Großbrandes. Konflikte zwischen der Staatsgewalt und den Magnaten wurden vor Ort leicht zu einer Kraftprobe zwischen den zarischen Amtsträgern und einem örtlichen Großgrundbesitzer. Gavriil Deržavin berichtet einen typischen Vorfall, der sich im Jahr 1799 im Gouvernement Mogilëv zugetragen hatte. Ein Gericht hatte dort entschieden, dass das Dorf Berezjatnja, das sich im Besitz des Grafen Polé befand, zu konfiszieren sei. Der Verwalter des Grafen erkannte das Urteil jedoch nicht an und berief sich dabei auf polnisches Recht. Der Kreishauptmann und die Beamten der Landespolizei, die den Verwalter aufsuchten, um das Urteil zu vollstrecken, wurden von dessen Gefolgsleuten verprügelt und aus dem Dorf gejagt. Als Deržavin in seiner Funktion als Generalstaatsanwalt die Vorkommnisse vor Ort untersuchen wollte, traf er dort auf eine lethargische und gelähmte Gouvernementsregierung, die ihn bei seiner Arbeit nicht unterstützte.2 Dieser Fall hätte sich in ähnlicher Weise auch in einem zentralrussischen Gou1 2

Vgl. die Gesprächsnotiz des Ministerialbeamten Lotyński mit dem Staatsrat Krzyżanowski vom 24.8.1811, in: GARF f. 1165, op. 1, d. 491, l. 12–12ob. Vgl. Zapiski Deržavina, in: Sočinenija Deržavina, hg. v. Jakov K. Grot, 9 Bde., St. Petersburg 1864–1883, Bd. 6, S. 405–842, hier 720f.

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Staatsausbau und Herrschaftspraxis in der polnischen Provinz

vernement ereignen können. Spezifisch an dieser Begebenheit ist, dass sich der Verwalter auf altes polnisches Recht berief und mit dieser Begründung das gefällte Urteil nicht anerkannte: obwohl die Richter wie der Kreishauptmann Wahlbeamte und damit vom polnischen Adel bestellt waren. Deržavin beklagt in seinen Ausführungen in erster Linie das Unvermögen der ländlichen Verwaltung im Gouvernement Mogilëv. Die örtliche Polizei war zu schwach, um ein gerichtliches Urteil zu vollstrecken. Und die Gouvernementsregierung erwies sich als ebenso wenig in der Lage, die staatlichen Normen gegen einen polnischen Magnaten durchzusetzen. Dieses Beispiel verdeutlicht ein zentrales Problem, vor dem die zarische Regierung bei der Integration der polnischen Provinzen in das Russische Reich stand. Das Zarenreich war unterverwaltet und verfügte nicht über das nötige Personal, um die annektierten Gebiete mit eigenen Behörden und entsprechendem Personal administrativ zu durchdringen. Deržavins Ansicht kommt dem Urteil nah, das auch die Historiographie über die lokale Verwaltung des Zarenreiches gefällt hat. Nach Hans-Joachim Torke standen sich ein Minimum an Ergebnissen und ein Maximum an Arbeitsaufwand, Formalität und Zeremonie gegenüber.3 Dietrich Geyer urteilte nicht weniger scharf: „Nicht ‚Zivilbediente‘ des Karrieredienstes, sondern fast durchweg angegraute, blessierte Oberoffiziere wurden in kümmerlich ausgestattete lokale Kanzleien verpflanzt, verbrauchte Veteranen, die ohne Gehalt und ‚Akzedentien‘ unversorgt geblieben wären. Die Übung, privaten Nutzen im öffentlichen Amte leben zu lassen, gehörte zu den Grundgesetzen dieses Regierungssystems, das sich in der lokalen Sphäre – na mestach – vergeblich zu etablieren suchte. Sein vielleicht folgenschwerstes Kennzeichen war die fehlende Beziehung zwischen den provinzialen Behörden und der Bevölkerung, die jenen Ämtern unterstand.“4

Susanne Schattenberg wies jüngst in einer kulturgeschichtlichen Untersuchung des russischen Beamtentums in der Provinz den anachronistischen Anspruch einer „professionellen“ Bürokratie zurück. Vielmehr habe vor den „Großen Reformen“ Alexanders II. in Russland ein Verwaltungssystem vorgeherrscht, das auf Klientelbeziehungen und einem traditionellen Ehrbegriff fußte.5 Bei der Etablierung der Staatsgewalt in den annektierten ostpolnischen Gebieten war die zarische Regierung mit derselben strukturellen Schwäche wie in der

3 4 5

Torke: Russisches Beamtentum, S. 218. Geyer: „Gesellschaft“ als staatliche Veranstaltung, S. 23f. Vgl. Schattenberg: Die korrupte Provinz, S. 90–117.



Staatsausbau und Herrschaftspraxis in der polnischen Provinz

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russischen Provinz konfrontiert: Das weite Land war chronisch unterverwaltet.6 Unter diesen administrativen Voraussetzungen musste jegliche Implementierung von Normen und Ordnungen unter Mitwirkung der lokalen Selbstverwaltung vonstatten gehen. Dieses Kapitel untersucht denn auch den Handlungs- und Wirkungszusammenhang von Obrigkeit und lokaler Gesellschaft in den Westgouvernements beim zarischen Projekt des Staatsausbaus. Standen in den vorangegangenen Kapiteln die zarische Politik gegenüber dem Adel sowie den ständischen Institutionen im Mittelpunkt, so sollen im Folgenden die einzelnen Amtsträger stärker in den Blick genommen und untersucht werden, inwieweit die russische Staatsgewalt in den polnischen Provinzen etabliert und auf welche Weise Herrschaft vor Ort ausgehandelt wurde. Diese Fragen sollen auf drei Ebenen untersucht werden. Zunächst stehen die Etappen des Staatsausbaus von den Teilungen Polens bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts im Fokus. Welche unterschiedlichen Wege beschritten Katharina II., Paul I., Alexander I. und Nikolaus I., um die russische Staatsgewalt in den Westgouvernements zu verankern? In welchem Maße kam die institutionelle und personelle Durchdringung der polnischen Provinz in dieser Zeit voran? Das zweite Teilkapitel richtet den Blick auf die Gouverneure als höchste staatliche Repräsentanten in der Provinz. Sie waren die Agenten des Zaren, die Herrschaft vor Ort konkret ausübten. Max Weber hatte Herrschaft als „die Chance“ definiert, „für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“.7 Alf Lüdtke sprach sich gegen eine solche eindeutige Trennung in Herrschende und Befehlsempfänger aus. Auch Herrschende befänden sich mitunter in Abhängigkeiten, so dass die Beherrschten mehr als passive Adressaten von Befehlen seien. Außerdem existierten Ungleichheiten und Widersprüche zwischen Herrschenden ebenso wie zwischen den Beherrschten.8 Herrschaft sei deshalb immer auch ein Aushandlungsprozess.9 Diese Untersuchung schließt methodisch an das Konzept Alf Lüdtkes an und versteht die Herrschaftsausübung der Gouverneure als eine soziale Praxis. Daraus leiten sich folgende erkenntnisleitende Fragen ab: Wie agierten die von außerhalb der polnischen Provinzen kommenden Gouverneure in einem fremden lokalen Umfeld? Wie gestaltete sich ihre Beziehung zur zentralen Staatsgewalt? In welcher Weise war ihre Herrschaft von

6 7 8 9

Vgl. John Keep: Light and Shade in the History of Russian Administration, in: Canadian-American Slavic Studies 6 (1972), S. 1–9, hier 8. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 28. Lüdtke: Herrschaft als soziale Praxis, S. 12ff. Lüdtke: Alltagsgeschichte: Aneignung und Akteure, S. 85; ders.: Geschichte und Eigensinn, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.): Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, S. 139–153, hier 146f.

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Staatsausbau und Herrschaftspraxis in der polnischen Provinz

lokalen Eliten und Netzwerken abhängig? Welche Strategien entwickelten sie, um Herrschaft ausüben zu können? Nach Max Weber wirkt sich die Herrschaft im modernen Staat „in der Handhabung der Verwaltung im Alltagsleben“ aus und liegt „notwendig und unvermeidlich in den Händen des Beamtentums.“10 Im dritten Teilkapitel soll deshalb ein Blick auf den Verwaltungsalltag Aufschluss über die Formen zarischer Herrschaft in der polnischen Provinz geben. Politische Herrschaft soll dabei nicht nur als institutionelle Struktur verstanden werden. Herrschaft vor Ort fand nicht, oder wie Wolfgang Reinhard etwas vorsichtiger sagt, nicht nur durch Zwang nach dem Schema Befehl und Gehorsam statt, sondern wurde in einem fortwährenden Aushandlungsprozess zwischen Herrscher und Untertanen oder zwischen Zentrum und Provinz stets aufs Neue bestimmt.11 Auch Achim Landwehr hat in seinen Arbeiten zur Implementierung frühneuzeitlicher Policeyordnungen darauf hingewiesen, dass die Akteure auf lokaler Ebene nicht in einem starren hierarchischen Verhältnis zueinander standen, sondern in verschiedenen Situationen und Lebenslagen unterschiedliche Umgangsweisen mit dem Gesetz entwickelten. Norm und Praxis seien deshalb nicht als diametrale Gegensätze zu konzipieren. Weniger die Frage, ob staatliche Normen eingehalten wurden, berge Erkenntnispotential, sondern die Frage nach der Art und Weise, wie verschiedene soziale Gruppen aus welchem Grund mit Normen umgingen.12 Und Stefan Brakensiek hat darauf hingewiesen, dass die Funktionsweise eines territorialstaatlichen Herrschaftssystems nicht allein durch das bürokratische Handeln der Amtsträger zu erfassen ist, sondern auch deren sozialen Beziehungen und ungeschriebenen Gewohnheiten zu berücksichtigen seien.13 Dieses letzte Teilkapitel untersucht auf dieser methodischen Grundlage, wie sich russische Staatsgewalt und polnischer Adel begegneten. Wie wurde Herrschaft auf lokaler Ebene ausgehandelt und wer waren die entscheidenden Akteure? Inwieweit vermochte die russische Staatsgewalt ihre Normen zu implementieren und die lokalen Machtstrukturen mit den eigenen Ordnungsvorstellungen zu überformen?

10 11 12 13

Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 825. Reinhard: Staatsbildung, S. 430; Freist: Staatsbildung, S. 13. Landwehr: Policey vor Ort, S. 48–52. Stefan Brakensiek: Fürstendiener – Staatsbeamte – Bürger. Amtsführung und Lebenswelt der Ortsbeamten in niederhessischen Kleinstädten (1750–1830), Göttingen 1999, S. 382.



Das Vordringen der Staatsgewalt auf die lokale Ebene

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1 . Das Vordringen der Staatsgewalt auf die lokale Ebene: Aufbau und Ausbau von Verwaltun gsstrukturen in den Westgouvernements 1.1. Vereinheitlichungsbestrebungen und Gouvernementsreform: Herrschaftswechsel und Staatsausbau unter Katharina II. „Ruhe“ (tišina) und „gute Ordnung“ (porjadok, blagoustrojstvo) waren zwei Schlüsselbegriffe in den politischen Ordnungsvorstellungen Katharinas II. Die Zarin hatte sie aus der zeitgenössischen Policeywissenschaft entnommen, deren Werke einen wichtigen Bestandteil ihrer Lektüre bildeten.14 Die staatliche Verwaltung rückte somit auch in den Mittelpunkt von Katharinas Denken, denn im Policeydiskurs erschien sie als Garant eines wohlgeordneten Gemeinwesens. Die russische Kaiserin brachte diesen Zusammenhang gegenüber den Gouverneuren von Pskov und Mogilëv dergestalt zum Ausdruck: „Die Ordnung ist in allem die Seele der Verwaltung.“15 Wiederholt hatte die Zarin die Aufgaben der Provinzialverwaltung im Russischen Reich mit der Herstellung sowie Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung definiert. In ihrer Instruktion an die Gouverneure gab sie als politische Leitlinie vor: „Das Ganze kann nicht vollkommen sein, wenn sich dessen Teile in Unordnung befinden.“16 Das Imperium befinde sich demnach nur dann in einer guten Ordnung, wenn auch die einzelnen Provinzen wohlgeordnet seien. Katharina II. verfolgte also in den polnischen Provinzen das gleiche aufgeklärte Projekt wie im gesamten Russischen Reich und bewegte sich damit ganz auf der Höhe ihrer Zeit, denn der Staatsausbau war auch in West- und Mitteleuropa ein noch lange nicht abgeschlossenes Projekt. Der Unterschied zum Westen bestand darin, dass es dort eine gewachsene institutionelle „Unordnung“ gab, die man beseitigen oder für die eigenen Zwecke einspannen konnte. Polen war in dieser Hinsicht „der Westen im Osten“. Im vorangegangenen Kapitel wurde das Streben Katharinas gezeigt, die „unruhigen“ polnischen Landtage in „geordnete“ Adelsversammlungen zu überführen. 14 Vgl. David M. Griffiths: Catherine II: The Republican Empress, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 21 (1973), S. 323–344, hier 331–341; Raeff: The Well-Ordered Police State, S. 222– 229. Auch das Hofleben wurde vom Prinzip der Ordnung beherrscht, vgl. Richard S. Wortman: Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy, Bd. 1: From Peter the Great to the Death of Nicholas I, Princeton 1995, S. 132. 15 Instruktion Katharinas II. für die Gouverneure von Pskov und Mogilëv, Kachovskij und Krečetnikov, anlässlich ihrer Amtseinführung vom 28.5.1772, in: PSZ I, Bd. 19, Nr. 13.808, S. 507–511, hier 508. 16 Instruktion Katharinas II. für die Gouverneure vom 21.4.1764, PSZ I, Bd.16, Nr. 12.137, S. 716– 720, hier 716.

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Staatsausbau und Herrschaftspraxis in der polnischen Provinz

Inwieweit versuchte sie auch die lokale Verwaltung entlang ihrer aufgeklärten Leitlinien umzuformen? Nach der ersten Teilung gab Katharina II. „Ordnung“ als politische Richtlinie für die Etablierung der russischen Staatsgewalt in polnischen Provinzen vor.17 Die Statthalter der russischen Kaiserin in der litauisch-weißrussischen Provinz verinnerlichten diesen Anspruch und gaben ihn wiederum an die ihnen unterstellten Amtsträger weiter. So schrieb der Generalgouverneur Weißrusslands, Zachar Černyšëv, an Michail Krečetnikov, den Gouverneur von Pskov: „(…) und bemühen Sie sich auf jede Weise, bei allen Amtshandlungen die vorgeschriebene Ordnung einzuführen und selbst den kleinsten Teilen jenes Ansehen zu verleihen, das für sie nötig ist und ihnen zukommt, denn Schönheit zeigt Ordnung und Ordnung bewirkt Erleichterung in allen Dingen.“18

Gleichzeitig entwickelte sich „Ordnung“ zu einer Kategorie, in der die örtlichen Repräsentanten ihre Erfolge nach St. Petersburg meldeten. So hob Černyšëv in seinen Berichten an Katharina II. hervor, wie das Zarenreich in den beiden Gouvernements durch die Einrichtung neuer Institutionen sowie durch die Pflege des äußeren Erscheinungsbildes der Städte und Landschaften Ordnung schaffe.19 Als ein wesentliches Element dieser „guten Ordnung“ galt eine funktionierende Verwaltung. So forderte Černyšëv Krečetnikov auf: „Tragen Sie dafür Sorge, dass die eingesetzten Behörden die Gesetze berücksichtigen sowie regelmäßig tätig sind, die Beamten ihre Pflicht erfüllen, so dass die Einwohner vertrauensvoll Schutz bei ihnen suchen können und die russische Regierungsmacht dadurch in dem neuen Gebiet tiefere Wurzeln schlägt, als es durch die bloße Übermacht möglich ist. Die Gouverneure sollen ihre Gebiete oft bereisen, selbst über die richtige Ausführung der Obliegenheiten wachen und die verschiedenartigen dort herrschenden Zustände mit offenen Augen betrachten, insbesondere diejenigen, die der Zentralregierung sonst verborgen bleiben.20

Gegenstand jeder wohlgeordneten Verwaltung sei „das Wohlergehen des Volkes“ – so Katharina II. in ihrer Instruktion vom 28. Mai 1772. Es sei die Pflicht 17 Instruktion Katharinas II. für Kachovskij und Krečetnikov anlässlich ihrer Amtseinführung vom 28.5.1772, S. 508f. 18 Brief Černyšëvs an Krečetnikov vom 8.10.1772, in: Pis’ma k generalu i kavaleru Michailu Nikitiču Krečetnikovu grafa Zachara Grigor’eviča Černyšova i drugich s 1769 po 1785 god, S. 42–45, hier 43. 19 Brief Černyšëvs an Katharina II. vom 29.10.1774, in: RGADA f. 16, op. 1, d. 898, l. 85–85ob. 20 Brief Černyšëvs an Krečetnikov, o. D., in: Pis’ma k Krečetnikovu, S. 61f.



Das Vordringen der Staatsgewalt auf die lokale Ebene

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der Regierung, die Freiheit und den Besitz derjenigen zu schützen, die in Ruhe und Frieden lebten, ihren Treueid schwüren und diesen ungeheuchelt einhielten.21 Katharina war also von der Überlegenheit einer aufgeklärten Herrschaft gegenüber dem politischen System der polnischen Adelsrepublik fest überzeugt. Und sie gingen davon aus, dass ihre neuen Untertanen diese Vorzüge früher oder später auch erkennen würden. Das Zarenreich wollte seine Präsenz auf dem ehemals polnischen Territorium durch konkrete Leistungen legitimieren, die der Bevölkerung zugutekommen sollten. So gab die Zarin den von ihr eingesetzten Gouverneuren bei deren Amtseinführung mit auf den Weg: „Wir wünschen, dass diese Provinzen nicht durch Waffengewalt allein Uns untertänig werden, sondern dass die Herzen aller in ihnen lebenden Menschen die Überzeugung erfüllt, unter der guten, geordneten, Gerechtigkeit übenden, schonenden, milden und menschenliebenden Herrschaft des Russischen Reiches zu stehen, und dass sie Grund haben, ihre Loslösung von der Anarchie der polnischen Republik als einen ersten Schritt zu ihrem Glück anzusehen.“22

Wolfgang Reinhard hat betont, dass die Etablierung der Staatsgewalt stets mit einer Homogenisierung von Territorium und Bevölkerung einhergegangen sei.23 Auch die Politik Katharinas enthält Elemente der Uniformierung ihres Imperiums. Allerdings bezog sie die lokalen Gegebenheiten stets in ihre Politik des Staatsausbaus mit ein.24 Gegenüber dem Fürsten Vjazemskij umriss sie die Grundsätze ihrer Integrationspolitik im Westen des Reiches mit folgenden Worten: „Kleinrussland, Livland und Finnland sind Provinzen, die entlang der ihnen bestätigten Privilegien verwaltet werden; diese Privilegien zu verletzen oder abzuschaffen wäre ungebührlich, jene Länder aber fremde Provinzen zu nennen und entsprechend mit ihnen umzugehen, wäre nicht nur ein Irrtum, sondern kann man guten Glaubens eine Dummheit nennen. Diese Provinzen, wie auch Smolensk, sind mit so milden Mitteln wie möglich zu russischen zu machen (obruseli) und dahin zu bringen, dass sie aufhören, wie die Wölfe nach dem Walde zu blicken.“25 21 Instruktion Katharinas II. für Kachovskij und Krečetnikov anlässlich ihrer Amtseinführung vom 28.5.1772, S. 509. 22 Ebd., S. 508. 23 Vgl. Reinhard: Geschichte des modernen Staates, S. 12. 24 Vgl. Boris V. Nosov: Strukturelle Angleichung als Ziel der russischen Politik gegenüber Polen, den baltischen Provinzen und der Ukraine im Vorfeld der ersten Teilung Polens, in: Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte 1996, Heft 1, S. 191–202, hier 197–201. 25 Sobstvennoručnoe nastavlenie Ekateriny II knjazu Vjazemskomu pri vstuplenie im v dolžnost’ general-prokurora (1764 goda), in: Sbornik imperatorskago russkago istoričeskago obščestva 7 (1871), S. 345–348, hier 348.

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Staatsausbau und Herrschaftspraxis in der polnischen Provinz

Auch wenn sich Katharina II. bewusst war, die neu hinzugewonnenen Territorien nicht auf Anhieb an die rechtlichen, administrativen und sozialen Strukturen des Zarenreiches anpassen zu können, so war eine Vereinheitlichung der Verhältnisse doch das politische Fernziel. Ihre Metapher von den Wölfen, die nicht mehr nach dem Walde blicken sollen, impliziert die Vorstellung, dass Akkulturation eine Voraussetzung für Integration ist: Erst wenn die erworbenen Provinzen russisch seien, würden sie nicht mehr vom Zarenreich fortstreben. Katharina II. ging die Integration der 1772 annektierten Gebiete zielstrebig an. Schon ihre erste Instruktion macht deutlich, dass sie in den weißrussischen Provinzen von Beginn an ein „Uniformierungsprogramm“26 verfolgte. Die Gouvernements- und Kreiseinteilung erfolgte ebenso nach russischem Vorbild wie die Einrichtung einer Gouvernementskanzlei. Russisch war von Beginn an einzige Amtsprache.27 Zum 1. Januar 1773 wurde die Kopfsteuer eingeführt.28 Im Juni desselben Jahres waren die Verwaltungsinstitutionen auf Gouvernements- und Kreisebene eingerichtet.29 Da aber zur Zeit der ersten Teilung bereits eine grundlegende Reform der Lokalverwaltung des Zarenreiches in Planung war, bildete sich in den Gouvernements Mogilëv und Pskov ein Übergangszustand heraus. Weißrussland wurde auf diese Weise zu einem Experimentierfeld für die anstehende Gouvernementsreform.30 Die beiden Gouvernementskanzleien, die dem Gouverneur bei seinen Aufgaben zur Seite standen, wurden ganz entlang des russischen Vorbilds eingerichtet. Sie waren allerdings personell besser ausgestattet als ihre innerrussischen Pendants, weil die beiden weißrussischen Gouverneure als oberste Beamte von Grenzgebieten auch über die Zoll- und Militärverwaltung zu wachen hatten. Černyšëv reformierte die alte Ordnung und richtete in der Kanzlei verschiedene Abteilungen ein, der je ein höherer Beamter vorstand. Zudem erhöhte er allgemein die Zahl der Planstellen in den Behörden. Die wichtigsten Beamten waren: der Vizegouverneur als nächster Gehilfe des Gouverneurs, der Kammerdirektor, der Oberkriegskommissar, zwei Gouvernementsräte, ein Staatsanwalt, ein Kammerrat, ein Oberpro26 So Lehtonen: Polnische Provinzen, S. 243. Boris Nosov sieht im Streben nach einer strukturellen und administrativen Vereinheitlichung des östlichen Mitteleuropas sogar eines der innenpolitischen Motive Katharinas II. für die Teilungen Polens, vgl. Nosov: Strukturelle Angleichung, S. 200f. 27 Instruktion Katharinas II. für Kachovskij und Krečetnikov anlässlich ihrer Amtseinführung vom 28.5.1772, S. 508 und 510. 28 Ein Bauer musste 70 Kopeken und ein Četverik (= 24 Liter) Getreide zahlen, Juden einen Rubel und eine zusätzliche Abgabe an den Kahal, Kaufleute wurden mit einem Rubel 20 Kopeken belegt, vgl. Zakalinskaja: Votčinnye chozjajstva mogilëvskoj gubernii, S. 25. 29 Vgl. Bericht über die weißrussischen Gouvernements von Zachar Černyšëv vom 1.6.1773, in: RGADA f. 12, op. 1, d. 159, l. 114–186ob. Der Bericht enthält eine genaue Auflistung aller bereits existierenden Institutionen. 30 Lehtonen: Polnische Provinzen, S. 273f.



Das Vordringen der Staatsgewalt auf die lokale Ebene

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viantmeister, ein Gouvernementskommissar – der als Inspektor für das Wegenetz und das Postwesen zuständig war –, ein Architekt, zwei Landmesser, ein promovierter Mediziner und drei Wundärzte. Hinzu kamen noch die zu den einzelnen Abteilungen gehörenden Sekretäre und Kanzleidiener, wie Kanzlisten, Kassierer, Übersetzer, Kopisten usw. Insgesamt bestand eine Gouvernementskanzlei aus 247 bezahlten Beamten.31 Jedes Gouvernement wurde in kleinere Verwaltungseinheiten, die Provinzen, unterteilt. Das Gouvernement Pskov bestand aus fünf, das Gouvernement Mogilëv aus vier Provinzen. Jeder Provinz stand eine Provinzialkanzlei vor, die ein Woiwode leitete und sich darüber hinaus aus folgendem Personal zusammensetzte: ein Assessor des Woiwoden, ein Staatsanwalt, zwei Sekretäre, ein Protokollant, ein Registrator, mehrere Kanzlisten, Boten und andere Kanzleidiener sowie ein 57 Mann starkes Kommando Soldaten. In einer Provinzialkanzlei arbeiteten insgesamt 77 bezahlte Beamte.32 Die Provinzen wurden weiter in Kreise unterteilt. An die Stelle der in den innerrussischen Gouvernements üblichen Woiwodschaftskanzlei trat in den annektierten polnischen Provinzen allerdings das Amt des Kreiskommissars. Da ein Großteil der Aufgaben der Woiwodschaftskanzlei durch die neu gegründeten Provinziallandgerichte und Provinzialkanzleien übernommen wurde, erschien die Einrichtung von Woiwodschaftskanzleien in den weißrussischen Provinzen nicht nötig. Katharina II. folgte einem Vorschlag Černyšëvs und begnügte sich damit, einen Kreiskommissar einzusetzen und ihm eine kleine Kanzlei zur Unterstützung an die Seite zu stellen. Die Kreiskommissare bildeten damit die unterste Instanz der staatlichen Verwaltung auf lokaler Ebene. Allerdings blieben im Gouvernement Pskov in den Gebieten, die bereits vor der ersten Teilung zum Russischen Reich gehört hatten, die Woiwodschaftskanzleien neben den neuen Verwaltungseinrichtungen bestehen. In jeder Provinz wurden zwei Kreiskommissare eingesetzt. Sie regelten nicht nur Verwaltungsangelegenheiten, sondern entschieden auch bei geringfügigen rechtlichen Streitigkeiten. Konkret bestand ihre Amtspflicht aus folgenden Aufgaben: erstens, die Aufrechterhaltung der allgemeinen Ordnung, die Weisungen der Provinzialkanzleien auszuführen und die Steuern einzutreiben; zweitens, die von den Einwohnern mündlich vorgebrachten kleineren Streitfragen zu schlichten; drittens, Beschwerdeschriften und Gesuche an die Gerichtsstühle oder die Verwaltungsbehörden entgegenzunehmen; viertens, alle Streitfälle öffentlich und 31 Kaiserlich bestätigter Bericht des Generalgouverneurs von Weißrussland vom 18.9.1772, in: PSZ I, Bd. 44,2, Nr. 13.866, S. 125–133; Stellenplan für die weißrussischen Gouvernements vom 22.6.1773, in: ebd., Nr. 14.014, S. 147–154. 32 Kaiserlich bestätigter Vortrag Zachar Černyšëvs vom 9.10.1772, in: PSZ I, Bd. 19, Nr. 13.879, S. 584–585; Namentlicher Ukas Katharinas II. vom 13.12.1772, in: ebd., Nr. 13.920, S. 687.

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unverzüglich zu verhandeln sowie zu entscheiden; fünftens, regelmäßig Berichte über die Ordnung in ihrem Kreis und ihre eigene Tätigkeit zu verfassen und an die Provinzialkanzlei zu senden; sechstens, dem Militär bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse behilflich zu sein und zugleich darauf zu achten, dass weder von Seiten des Militärs den Einwohnern noch von den Einwohnern dem Militär Schaden oder Kränkungen zugefügt würden. Zur Erfüllung dieser Aufgaben wurde dem Kreiskommissar eine kleine Kanzlei an die Hand gegeben, die aus einem Kanzlisten, einem Unterkanzlisten und zwei Kopisten bestand. Außerdem verfügte er über 29 Soldaten, die er zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit einsetzen konnte.33 Katharina II. verfolgte in den 1772 annektierten polnischen Provinzen zwar eine Politik der Vereinheitlichung, indem sie dort Institutionen nach russischem Vorbild schuf. Eine Homogenisierung der Verwaltungsstrukturen musste jedoch nicht zwangsläufig zu einer ethnischen Russifizierung der lokalen Administration führen.34 Im Gegenteil: Katharina II. wies in ihrer ersten Instruktion an die Gouverneure von Mogilëv und Pskov ausdrücklich darauf hin, dass Einheimische von den neu geschaffenen Ämtern nicht auszuschließen seien, sofern sie sich dem Russischen Reich gegenüber loyal zeigten.35 Und der Generalgouverneur Černyšëv forderte Krečetnikov explizit dazu auf, den Posten eines Gouvernementsrats sowie die Stelle des Richters am Gouvernementsgericht mit Einheimischen zu besetzen.36 In dieser Frage agierte die zarische Regierung anders als Friedrich II. In Westpreußen trat an die Stelle der gewachsenen ständischen Strukturen nicht nur der komplette Neuaufbau einer Verwaltung, der die Summe der Erfahrungen des preußischen Zentralismus und der rationalen Verwaltungskunst verkörperte, sondern der preußische König besetzte die neuen Posten gezielt mit landesfremdem Personal.37 Inwieweit konnte die zarische Regierung die neu geschaffene Verwaltung in den Gouvernements Pskov und Mogilëv auch tatsächlich mit Beamten auffüllen? Und wie setzten sich die Amtsträger in den weißrussischen Gouvernements 33 Senatsukas vom 22.7.1773, in: PSZ I, Bd. 19, Nr. 14.014, S. 796–800. 34 Zwar benennt Katharina II. ihr politisches Ziel, die Randgebiete des Imperiums zu „russifizieren“ (obrusit’), doch bezeichnet dieser Begriff zu dieser Zeit noch keine ethnische Homogenisierung, sondern eine Vereinheitlichung der Verwaltungsstrukturen, vgl. Nosov: Strukturelle Angleichung S. 200f. 35 Instruktion Katharinas II. für Kachovskij und Krečetnikov anlässlich ihrer Amtseinführung vom 28.5.1772, S. 510. 36 Brief Černyšëvs an Krečetnikov Ende September 1772, in: Pis’ma k generalu i kavaleru Michailu Nikitiču Krečetnikovu, S. 8–10, hier 10; Brief Černyšëvs an Krečetnikov vom 9.1.1773, in: Pis’ma k generalu i kavaleru Michailu Nikitiču Krečetnikovu, S. 17–19, hier 18. 37 Vgl. Bömelburg: Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat, S. 237 und 254.



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zusammen? Die Besetzung der neuen Stellen ging bemerkenswert schnell vonstatten. Bereits im Juni 1773, also rund ein Jahr nach der Inbesitznahme des ersten Teilungsgebietes, war der Personalbestand der Gouvernements Pskov und Mogilëv bereits weit fortgeschritten: Personalbestand der staatlichen Verwaltung in den Gouvernements Pskov und Mogilëv (Stand 1. Juni 1773):38 39 40 41

Gouvernementskanzlei Provinzialkanzleien39 Woiwodschaftskanzleien40 Kreiskommissariate41 Gesamt

Gouvernement Pskov Planstellen davon offen 159 32 165 11 60 15 36 26 420 84

Gouvernement Mogilëv Planstellen davon offen 159 25 63 1 – – 36 – 258 26

Im Gouvernement Pskov waren damit 80 Prozent und in Mogilëv 90 Prozent der Planstellen besetzt. Diese Angaben Černyšëvs werden durch die Erinnerungen Gavriil Dobrynins bestätigt, der im Jahre 1777 die Provinzialkanzlei von Rogačëv weitgehend besetzt vorfand.42 Außerdem ist zu berücksichtigen, dass in den Gouvernements- und Provinzialkanzleien in erster Linie die Posten von Ärzten und Feldschern vakant blieben, was auf den allgemeinen Ärztemangel im Zarenreich zurückzuführen ist und in den zentralrussischen Gouvernements nicht anders war. In den Kreiskommissariaten unterschied sich die Personalsituation in den beiden Gouvernements sehr stark. In Mogilëv waren auf der untersten Verwaltungsebene alle Stellen besetzt. In Pskov war hingegen in fünf von sechs Kreiskommissariaten nur die Stelle des Kreiskommissars vergeben. Lediglich in Režica taten auch ein Kanzlist, ein Unterkanzlist und zwei Kopisten ihren Dienst. Die Stelle des Wächters war in allen sechs Kreisen vakant. Zum Teil mag dies eine 38 Vgl. die Aufstellung zu den weißrussischen Gouvernements von Zachar Černyšëv vom 1.6.1773, in: RGADA f. 12, op. 1, d. 159, l. 114–186ob. 39 Im Gouvernement Pskov gab es fünf Provinzialkanzleien, die ihren Sitz in Pskov, Velikie Luki, Polock, Vitebsk und Dvina hatten; im Gouvernement Mogilëv existierten drei Provinzialkanzleien mit Sitz in Mstislav, Orša und Rogačëv. 40 Anders als in Mogilëv existierten in Pskov noch vier Woiwodschaftskanzleien, die allesamt in jenen Gebieten des Gouvernements lagen, die bereits vor der ersten Teilung Polens zum Russischen Reich gehörte hatten. Sie hatten ihren Sitz in Opočka, Ostrov, Zavoloskoe und Velikie Luki. 41 Im Gouvernement Pskov gab es sechs Kreiskommissariate: in Sebež, in Nevel’, in Veliž, in Mestečne gorodok, in Režica und in Mariengauzen; im Gouvernement Mogilëv existierten acht Kreiskommissariate mit Sitz in Šklov, in Bychov, in Čerekov, in Miloslav, in Senno, in Dubrovno, in Gomel’ und in Čečersk. 42 Vgl. Dobrynin: Žizn’, S. 157.

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Folge des Umstandes gewesen sein, dass in Pskov die bereits existierenden Woiwodschaftskanzleien fortbestanden und sich so die Verwaltungsstrukturen partiell überlagerten. Aus diesen Zahlen kann aber auch geschlossen werden, dass der Gouverneur von Mogilëv, Michail Kachovskij, den Aufbau einer lokalen Verwaltung energischer vorangetrieben hatte als sein Amtskollege in Pskov, Michail Krečetnikov. Insgesamt konnte sich diese Bilanz durchaus sehen lassen. Dem weißrussischen Generalgouverneur Černyšëv war es innerhalb eines Jahres gelungen, in den annektierten Provinzen die zarische Staatsgewalt durch den Aufbau einer staatlichen Verwaltung zu etablieren. Allerdings ist bei diesem Erfolg zu berücksichtigen, dass die Mehrzahl der Amtsträger dem militärischen Stand angehörten und jenen Regimentern entnommen waren, die in die neuen Landesteile verlegt worden waren.43 Inwieweit wurden auch Einheimische in die Gouvernementsverwaltung integriert? Černyšëv hielt in seiner Aufstellung nur für die wichtigsten Ämter auch den jeweiligen Amtsträger namentlich fest. Den Namen nach zu urteilen handelte es sich hier ausschließlich um Russen.44 Darüber hinaus dürften auch sonst kaum Polen in den Amtsstuben zu finden gewesen sein. Am meisten hätte man deren Dienste als Übersetzer benötigt, doch gerade auf diesem Gebiet herrschte Personalmangel. So antwortete Černyšëv auf die Bitte Krečetnikovs, ihm doch ein paar Übersetzer für die Gouvernementskanzlei in Pskov zu schicken: „Ich wäre froh, wenn ich Ihnen polnische Übersetzer zur Verfügung stellen könnte, doch ich habe selbst noch keine.“45 An den Gerichten sah die Zusammensetzung des Personals anders aus. An den Landgerichten von Pskov und Mogilëv waren die Vorsitzenden zwar Russen, unter den anderen Richtern finden sich hingegen überwiegend polnische Namen.46 Dieser Befund überrascht kaum. Schon in ihrer ersten Instruktion hatte Katharina II. verordnet, dass in den beiden neu gegründeten Gouvernements die Amtssprache Russisch sei.47 Anders stellte sich die Lage in den Landgerichten dar: Hier wurde in polnischer Sprache und nach polnischem Recht verhandelt. Zudem wurden die Richter nicht von den Gouverneuren ernannt, sondern gewählt. Černyšëv bat zwar 43 Vgl. Brief Černyšëvs an Krečetnikov vom 15.9.1772, in: Pis’ma k generalu i kavaleru Michailu Nikitiču Krečetnikovu, S. 39–42, hier 41. 44 Aufstellung zu den weißrussischen Gouvernements von Zachar Černyšëv vom 1.6.1773, in: RGADA f. 12, op. 1, d. 159, l. 114–186ob., hier 119ob.-125 und 147–152. 45 Brief Černyšëvs an Krečetnikov vom 8.8.1772, in: Pis’ma k generalu i kavaleru Michailu Nikitiču Krečetnikovu, S. 4–7, hier 6. 46 Aufstellung zu den weißrussischen Gouvernements von Zachar Černyšëv vom 1.6.1773, in: RGADA f. 12, op. 1, d. 159, l. 114–186ob., hier 125ob. und 152ob. 47 Instruktion Katharinas II. für Kachovskij und Krečetnikov anlässlich ihrer Amtseinführung vom 28.5.1772, S. 510.



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Krečetnikov, dafür zu sorgen, dass nur rechtschaffene und fleißige Personen zu Richtern ernannt würden, die den Absichten der Kaiserin entsprächen.48 Dennoch dürften die Gouverneure in der Praxis keinen großen Einfluss auf die Wahlen gehabt haben. Gleichzeitig hatte der polnische Adel weiterhin ein Interesse an der Rechtsprechung vor Ort. Das zunächst eingerichtete Verwaltungssystem bestand in Weißrussland nur acht Jahre lang. Katharina II. stellte mit der Gouvernementsreform von 1775 die lokale Verwaltung im Zarenreich insgesamt auf eine neue Grundlage. Sie verkleinerte die Gouvernements und schaffte die Verwaltungsebene der Provinz ab. Verwaltung, Finanzen und Justiz wurden einer klaren institutionellen Trennung unterzogen. Die lokalen Organe waren nicht mehr einer Vielzahl von zentralen Regierungsstellen wie den Kollegien, sondern dem vor Ort residierenden Gouverneur verantwortlich. Eine ganze Reihe von Richterstellen sowie die neu geschaffene Funktion des Kreishauptmannes (zemskij ispravnik) wurden nicht von staatlicher Seite ernannt, sondern auf lokaler Ebene gewählt. Die Zarin wollte den Mangel an ausgebildetem Verwaltungspersonal in ihrem Reich dadurch ausgleichen, dass sie den Provinzadel zu einem freiwilligen Engagement in der lokalen Verwaltung zu motivieren versuchte.49 Dietrich Geyer brachte diesen zentralen Gedanken der Gouvernementsreform wie folgt auf den Punkt: „Die russische Autokratie hatte mithin nachzuholen, was die Geschichte dem Absolutismus im Westen gleichsam schon mitgegeben hatte. Ihr musste daran gelegen sein, durch Herstellung ständischer Verbände sich ‚Gesellschaft‘ verfügbar zu machen, Sozialkörper, die geeignet wären, die Staatsanstalt von unten her, in den Provinzen und Kreisen mitzutragen.“50

Im Frühjahr 1778 wurden die Bestimmungen der Gouvernementsreform in den weißrussischen Gouvernements Polock51 und Mogilëv eingeführt. Nun gingen 48 Brief Černyšëvs an Krečetnikov vom 16.5.1773, in: Pis’ma k generalu i kavaleru Michailu Nikitiču Krečetnikovu, S. 19–21, hier 21. 49 Zur Gouvernementsreform vgl. u.a.: Robert E. Jones: Catherine II. and the Provincial Reform of 1775: A Question of Motivation, in: Canadian Slavic Studies 4 (1970), S. 497–512; ders.: The Emancipation of the Russian Nobility, 1762–1785, Princeton 1973, S. 210–243; Isabel de Madariaga: Russia in the Age of Catherine the Great, New Haven, London 1981, S. 277–291; Janet Hartley: Katharinas II. Reformen der Lokalverwaltung: Die Schaffung städtischer Gesellschaft in der Provinz? in: Claus Scharf (Hg.): Katharina II., Rußland und Europa. Beiträge zur internationalen Forschung, Mainz 2001, S. 457–477. Der Gesetzestext der Reform in: PSZ I, Bd. 20, Nr. 14.392, S. 229–304; wiederabgedruckt in: O. I. Čistjakov / T. E. Novickaja (Hg.): Zakonodatel’stvo Ekateriny II, 2 Bde., Moskau 2000/2001, hier Bd. 1, S. 380–469. 50 Geyer: „Gesellschaft“ als staatliche Veranstaltung, S. 24. 51 1776 bildete die zarische Regierung das Gouvernement Pskov um. Die Provinzen Velikie Luki und Pskov wurden von den annektierten weißrussischen Gebieten wieder losgelöst und zu einem

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nicht nur umfassende Aufgaben der Gerichte, sondern auch ein wichtiger Teil rein administrativer Funktionen durch Wahl auf Einheimische über, insbesondere in der untersten örtlichen Verwaltung.52 In Mogilëv gab es nach der Einführung der Gouvernementsreform 458 Wahlämter: 50 auf Gouvernements- und 408 auf Kreisebene. Hinzu kamen 161 staatlich bestellte Beamte in der Gouvernementsregierung und anderen staatlichen Einrichtungen. Damit waren immerhin rund drei Viertel der Amtsträger Wahlbeamte.53 Bereits zwei Jahre später waren die meisten Stellen belegt. In Polock waren auf Gouvernementsebene 227 von 231 Stellen und auf Kreisebene 515 von 576 Stellen besetzt. Im Gouvernement Mogilëv sah das Bild ähnlich aus. Hier waren auf Gouvernementsebene 225 von 230 Stellen und auf Kreisebene 543 von 610 Stellen an Amtsträger vergeben.54 Die zweite und dritte Teilung Polens schufen völlig neue Voraussetzungen für den Aufbau einer staatlichen Verwaltung. Umfasste das Gebiet, das sich das Zarenreich in der ersten Teilung Polens einverleibte, rund 87.000 Quadratkilometer und eine Bevölkerung von 1,3 Millionen Einwohnern, so annektierte das Russische Reich 1793 und 1795 eine Fläche von insgesamt 376.200 Quadratkilometern mit einer Bevölkerung von sechs Millionen Einwohnern.55 Dem Zarenreich fehlten die personellen Ressourcen, um ein im Vergleich zum ersten Teilungsgebiet viermal so großes Territorium mit seinen eigenen Behörden zu durchdringen. Als Katharina II. den russischen Thron bestieg, bestand die gesamte staatliche Beamtenschaft aus gerade einmal 16.500 Personen.56 Die historische Russlandforschung hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die russischen Beamten Ende des 18. Jahrhunderts keine effizient und selbständig handelnde Klasse mit einem politischen Bewusstsein waren.57 Stattdessen ist der russische Beamte von Susanne Schattenberg zuletzt sehr treffend mit der Weberschen Kategorie des „patrimonialen Beamten“ beschrieben worden: Sie dienten keinem unpersönlichen Staatswesen mit seinen abstrakten Normen, sondern richteten sich ganz auf

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„großrussischen“ Gouvernement Pskov zusammengeschlossen. Die drei polnischen Provinzen dieses Gouvernements, Polock, Vitebsk und Dvina, bildeten nun das neue Gouvernement Polock, vgl. den Namentlichen Ukas Katharinas II. vom 24.8.1776, in: PSZ I, Bd. 20, Nr. 14.499, S. 408. Vgl. John P. LeDonne: Ruling Russia. Politics and Administration in the Age of Absolutism 1762– 1796, Princeton 1984, S. 319–325. Vgl. Jaŭhen K. Aniščanka: Belarus’ u časy Kacjaryny II (1772–1796 hady), Minsk 1998, S. 105. Vgl. Verzeichnis des Personalbestands in der Statthalterschaft Polock im Jahr 1780, in: RGADA f. 16, op. 1, d. 381, l. 89ob.-92; Verzeichnis des Personalbestands in der Statthalterschaft Mogilëv im Jahr 1780, in: RGADA f. 16, op. 1, d. 381, l. 370ob.-373. Vgl. Thaden: Russia’s Western Borderlands, S. 42 und 51. Vgl. Sergej M. Troickij: Russkij absoljutizm i dvorjanstvo v XVIII v. Formirovanie bjurokratii, Moskau 1974, S. 176f. Vgl. Marc Raeff: The Russian Autocracy and its Officials, in: Hugh McLean / Martin E. Malia / George Fischer (Hg.): Russian Thought and Politics, Cambridge/Mass. 1957, S. 77–91, hier 79 und 90f.



Das Vordringen der Staatsgewalt auf die lokale Ebene

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ihren Dienstherrn aus, zu dem sie in einem persönlichen Verhältnis standen.58 An diesem Punkt kamen nun Gouvernementsreform und die Ausweitung der Staatsgewalt auf das annektierte Territorium der Adelsrepublik zusammen. Das Zarenreich konnte die polnischen Provinzen nur mit Hilfe von Wahlbeamten verwalten, und gleichzeitig war die Übernahme lokalpolitischer Verantwortung eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration der städtischen und ländlichen Eliten der Adelsrepublik. Die Reform der Lokalverwaltung, so hat bereits Heinz-Dietrich Löwe betont, stellte erst jene Institutionen zur Verfügung, mit deren Hilfe die zarische Regierung die unterschiedlichen Reichsteile in ein einheitliches System einbauen konnte.59 Nach wie vor war „Ordnung“ das politische Leitbild der zarischen Regierung. So zeigte sich Platon Zubov nach einem Besuch des eben eingerichteten Gouvernements Minsk entsetzt darüber, in welcher „Unordnung“ sich die dortigen Gebiete befänden. Da sie bislang fern jeglichen staatlichen Zugriffs gelegen hätten, sei es die vordringlichste Aufgabe der Gouverneure, eine neue, vorbildliche Ordnung zu errichten: Die Bevölkerung müsse gezählt, das Land vermessen und eine Verwaltung sowie eine Polizei aufgebaut werden.60 Der institutionelle Aufbau erfolgte nach dem Muster von 1772: Die Grenzen der neuen Gouvernements wurden gezogen, der Generalgouverneur, die Gouverneure sowie Vizegouverneure bestallt und die Verwaltung sowie Gerichte entsprechend der Gouvernementsordnung von 1775 eingerichtet.61 Die Gerichte auf Kreisebene blieben allerdings ebenso bestehen, wie die Rathäuser und Magistrate in den Städten.62 Die neuen Voraussetzungen erforderten neue Maßnahmen. Anders als nach der ersten Teilung Polens konnte und wollte die zarische Regierung die annektierten Gebiete nicht mit einem Heer ortsfremder Beamter überziehen. Der Gouverneur von Minsk, Nepljuev, ordnete vielmehr an, dass in der Verwaltung zunächst jener Zustand wiederhergestellt werden solle, der vor der Maiverfassung von 1791 geherrscht habe.63 Allerdings plädierte Katharinas Vertrauter Zubov für eine Auswechslung aller amtierenden Wahlbeamten. Deren Aufgabe könne nur noch darin bestehen, neue Wahlen durchzuführen.64 Michail Krečetnikov, der 58 Vgl. Schattenberg: Die korrupte Provinz?, S. 44–48. 59 Heinz-Dietrich Löwe: Nationalismus und Nationalitätenpolitik als Integrationsideologie im zarischen Rußland, in: Andreas Kappeler (Hg.): Die Russen. Ihr Nationalbewußtsein in Geschichte und Gegenwart, Köln 1990, S. 55–79, hier 56. 60 Aufzeichnungen des Fürsten Zubov, o. J. [1793], in: RGADA f. 12, op. 1, d. 223, l. 1–5. 61 Namentlicher Ukas Katharinas II. vom 23.4.1793, in: PSZ I, Bd. 23, S. 417–419, hier 418. 62 Namentlicher Ukas Katharinas II. vom 30.10.1794, in: PSZ I, Bd. 23, S. 572–585, hier 575. 63 Resolution des Gouverneurs von Minsk, Nepljuev, vom 11.5.1793, in: Sbornik dokumentov kasajuščichsja administrativnago ustrojstva, S. 149f. 64 Aufzeichnungen des Fürsten Zubov, o. J. [1793], in: RGADA f. 12, op. 1, d. 223, l. 1–5, hier 2.

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nach der zweiten Teilung Polens Generalgouverneur von Minsk, Braclav und Iz’’jaslav geworden war, setzte wiederum in seinem Verantwortungsbereich neben russischen vor allem Beamte aus Kleinrussland oder den Gouvernements Polock und Mogilëv ein. Er griff also gezielt auf Personal zurück, das aus der westlichen Peripherie des Reiches stammte. Diese Staatsdiener hatten den Vorzug, dass sie einerseits mit der polnischen Sprache und Kultur vertraut waren und andererseits ihre Loyalität in den vergangenen Jahrzehnten unter Beweis gestellt hatten.65 Aus polnischer Sicht war dieser Herrschaftswechsel im Vergleich zur ersten Teilung sanft vonstatten gegangen. Der Adlige Omulski berichtete im Mai 1793, dass die Land- und Stadtgerichte wieder tätig seien und ihre Urteile im Namen der Zarin verkündeten. Diese Kontinuität auf lokaler Ebene fand Omulskis Gefallen: Wenn die polnischen Gesetze dauerhaft erhalten blieben, dann würde die neue Herrschaft durchaus erträglich werden. Sollten die neuen Teilungsgebiete jedoch auf dieselbe Weise verwaltet werden wie die Annexionsgebiete aus der ersten Teilung Polens, dann stieße dies unter den neuen Untertanen auf keine Zustimmung, denn in diesem Fall würde niemand mehr sein Recht bekommen.66 Die zarische Regierung verfolgte auch nach der zweiten und dritten Teilung Polens das politische Ziel, die Staatsgewalt zügig in der polnischen Provinz zu etablieren. Innerhalb eines Jahres richtete man eine staatliche Verwaltung nach dem Vorbild der Gouvernementsreform von 1775 ein. In den polnischen Provinzen existierten jedoch, anders als in Zentralrussland, bereits erprobte Strukturen der adligen und städtischen Selbstverwaltung. Die zarische Regierung stand vor der Frage, inwieweit diese in den Dienst des Russischen Reiches zu stellen waren. Als Katharina II. am 6. November 1796 starb, war der Herrschaftswechsel zwar gesetzlich geregelt, jedoch vor Ort noch nicht umgesetzt worden. Nun lag es an ihrem Sohn Paul, einen Weg zur Integration der polnischen Selbstverwaltung in das Institutionengefüge des Zarenreiches zu finden.

1.2. Stärkung der Staatsgewalt und Wahrung polnischer Traditionen: Die widersprüchliche Politik Pauls I. Der Tod Katharinas II. bedeutete nicht nur einen Einschnitt in der zarischen Adelspolitik und der Tätigkeit der Adelsversammlungen in den Westgouvernements. Die Herrschaft Pauls I. brachte auch einen Bruch im Verhältnis zwischen zent65 Vgl. Valentina S. Šandra: General-gubernatorstva v Ukraïni. XIX – počatok XX st., Kiew 2005, S. 266. 66 Rjabinin: Nekotoryja dannyja, S. 10.



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raler Staatsgewalt und lokaler Administration mit sich. Hatte Katharina II. auf eine weitgehende Vereinheitlichung der Verwaltungsstrukturen des Imperiums gesetzt, so wird ihrem Sohn und Nachfolger eine „größere Achtung der traditionellen Strukturen in den Randgebieten“ attestiert.67 In den Westgouvernements habe Paul I. die lokale Selbstverwaltung gestärkt und weite Teile des Gerichtswesens in ihrer früheren Gestalt wiederhergestellt.68 Tatsächlich erließ Paul I. nur wenige Wochen nach seiner Thronbesteigung einen Ukas, in dem er den Gouvernements Kleinrussland, Kurland, Litauen, Minsk, Weißrussland, Wolhynien, Podolien und Kiew – also der gesamten westlichen Peripherie des Reiches – zubilligte, „auf besonderen Grundlagen, gemäß ihren Rechten und Privilegien“ verwaltet zu werden.69 In den folgenden Jahren konkretisierte Paul I. dieses allgemeine Zugeständnis: Er setzte das Litauische Statut in einer Reihe von Rechtsfragen wieder in Kraft, weitete die Wählbarkeit der Richter und Schöffen aus und gab dem Polnischen als Verhandlungssprache vor Gericht mehr Gewicht.70 Gleichzeitig trieb Paul I. den Staatsausbau voran. Indem er den zentralen Regierungsapparat straffte, wollte er dessen Effizienz erhöhen und die Leistungsorientierung der staatlichen Behörden stärken.71 Zudem reduzierte er die Zahl der Gouvernements von 50 auf 41 und verringerte die Zahl der Gerichte sowie den Personalbestand der Verwaltung.72 Die zehn polnischen Gouvernements wurden zu sechs zusammengelegt: Die fünf ukrainischen Gouvernements Braclav, Podolien, Wolhynien, Kiew und Voznesensk wurden zu drei Gouvernements – Podolien, Wolhynien und Kiew – vereinigt; aus den Gouvernements Polock und Mogilëv, die das Gebiet der ersten Teilung Polens umfassten, ging das Gouvernement Weißrussland hervor, dessen Regierung ihren Sitz in Vitebsk hatte; schließlich wurden Wilna und Slonim zum Gouvernement Litauen zusammengelegt.73 Neben der Straffung der regionalen und lokalen Verwaltung trat in den folgenden Jahren eine immer stärkere Tendenz zur Zentralisierung zu Tage. Am 14. Oktober 1799 übertrug Paul I. die Ernennung der Kreishauptmänner an die Gouverneure und mit seinem Ukas vom 14. Mai 1800 erhielt der Senat das Recht,

67 Kappeler: Russland als Vielvölkerreich, S. 75. 68 Žukovič: Zapadnaja Rossija, S. 224f. 69 Namentlicher Ukas Pauls I. vom 12.12.1796, in: PSZ I, Bd. 24, Nr. 17.634, S. 229–230. Diese Maßnahme galt nicht für jene Gebiete, die im Zuge der ersten Teilung Polens an Russland gegangen waren. 70 Vgl. Žukovič: Zapadnaja Rossija, S. 201–217. 71 Hierin sieht McGrew eine wesentliche Leistung der meist nur negativ gezeichneten Herrschaft Pauls, vgl. McGrew: Paul I, S. 222. 72 Vgl. Kločkov: Očerki pravitel’stvennoj dejatel’nosti, S. 588–595. 73 Vgl. den Namentlichen Ukas Pauls I. vom 12.12.1796, in: PSZ I, Bd. 24, Nr. 17.634, S. 229–230.

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im gesamten Imperium die Schöffen der Niederen Landgerichte zu ernennen.74 Seine Pläne zur Professionalisierung der Verwaltung sahen vor, die Beamten in der Provinz grundsätzlich zu ernennen, anstatt sie wählen zu lassen. Diese politische Zielsetzung hatte ihre Wurzeln in Pauls militärischen Ordnungsvorstellungen von staatlicher Verwaltung, zu der eine Beteiligung der Stände an der Lokalverwaltung im Widerspruch stand.75 So konterkarierten seine Zentralisierungsabsichten die Maßnahmen zur Wiederherstellung der lokalen Traditionen und alte Rechte in den westlichen Provinzen des Reiches. Wie sind diese Widersprüche in Pauls Politik zu erklären? Zunächst muss einschränkend festgehalten werden, dass uns kaum Quellen zur Verfügung stehen, die über die politischen Intentionen Pauls Auskunft geben.76 Sein politisches Wirken folgte allerdings dem Leitmotiv der Stabilisierung.77 Paul I. sah seine Herrschaft durch zwei Faktoren bedroht. Die Französische Revolution und insbesondere die Hinrichtung Ludwigs XVI. hatten bei allen europäischen Monarchen tiefe Spuren hinterlassen. Wie schwer dieses Ereignis auch Paul I. erschüttert hatte, wird an seiner teilweise hysterisch anmutenden Gesetzgebung deutlich. Der Zar ließ nicht nur alle privaten Druckereien schließen, sondern verbot auch die Verwendung von Wörtern wie „Konstitution“ oder „Republik“ und untersagte das Tragen von runden Hüten und Kleidern nach französischer Mode.78 Den Grund für den Sturz des französischen Königs sah Paul I. in der Schwäche der Regierung Ludwigs XVI. Infolgedessen war nach seiner Überzeu-

74 Die Kreishauptmänner wurden in Zentralrussland bereits seit Februar 1798 von den Gouverneuren ernannt, vgl. den Namentlichen Ukas Pauls I. vom 11.2.1798, in: PSZ I., Bd. 25, Nr. 18.368, S. 61. Diese Regelung wurde anschließend auf die Westgouvernements ausgeweitet, vgl. den Namentlichen Ukas Pauls I. vom 14.10.1799, in: PSZ I, Bd. 25, Nr. 19.154, S. 812; die Ernennung der Schöffen der Niederen Landgerichte durch den Senat vgl. den Namentlichen Ukas Pauls I. vom 6.2.1797, in: PSZ I, Bd. 24, Nr. 17.788, S. 318–319; Namentlicher Ukas Pauls I. vom 14.10.1799, in: PSZ I, Bd. 25, Nr. 19.154, S. 812; durch den Zaren bestätigter Bericht des Senats vom 1.11.1800, in: PSZ I, Bd. 26, Nr. 19.628, S. 367–370. 75 Vgl. John L. H. Keep: Paul I and the Militarization of Government, in: Hugh Ragsdale (Hg.): Paul I. A Reassessment of his Life and Reign, Pittsburgh 1979, S. 91–103. 76 Eines der wenigen konzeptionellen Zeugnisse Pauls I., sein politisches Testament aus dem Jahre 1788, bleibt gerade hinsichtlich seiner verwaltungspolitischen Absichten äußerst vage. Die lokale Verwaltung wird mit keinem Wort erwähnt, vgl. Scharf: Staatsauffassung, S. 100. 77 Paul I. trat während seiner Krönungszeremonie als Garant von Stabilität und Ordnung auf und setzte sich mit diesem Gegenentwurf bewusst von Katharina II. ab, die in zeremoniellen Angelegenheiten weniger Strenge walten ließ, vgl. Wortman: Scenarios of Power, S. 173. 78 Vgl. Alexander Fischer: Die Herrschaft Pauls I., in: Handbuch der Geschichte Russlands Bd. 2: Vom Randstaat zur Hegemonialmacht (1613–1856), hg. v. Klaus Zernack, Stuttgart 1986–2001, S. 935–950, hier 943.



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gung die Stärkung der Autokratie das geeignete Mittel, einer Revolution im eigenen Lande vorzubeugen.79 Das Streben nach Stabilisierung hatte seinen Ursprung zudem im Legitimationsdefizit, das die Herrschaft Pauls I. von Beginn an überschattete. Katharina II. hatte ihrem Sohn die Fähigkeit zum Regieren abgesprochen. All die Jahre hatte sie ihn von den Staatsgeschäften ferngehalten und keinen Hehl daraus gemacht, dass sie in ihrem Lieblingsenkel Alexander den geeigneten Nachfolger sah. Kurz vor ihrem Tode hatte sie sogar eine Nachfolgeregelung vorbereitet, die Paul von der Thronfolge ausgeschlossen und stattdessen Alexander zur Krone verholfen hätte. Als Katharina schon im Sterben lag, durchsuchte Paul die Papiere seiner Mutter und warf die bereits ausgefertigte Urkunde ins Feuer.80 Indem Paul I. eine Stärkung der Autokratie verfolgte, versuchte er auch seine eigene Macht zu festigen. Er war sich des Adels, der die Herrschaft Katharinas II. als goldenes Zeitalter erlebt hatte, nicht sicher und sah deshalb in einer zentralisierten Bürokratie eher ein Fundament seiner Herrschaft als in der adligen Selbstverwaltung, die seine Mutter auf den Weg gebracht hatte.81 Aus der Kritik an Katharinas Gouvernementsreform entwickelte Paul aber kein eigenständiges Konzept. Er entwarf kein alternatives System einer zentralen oder lokalen Verwaltung, sondern hüllte seine Vorstellungen in vage Andeutungen.82 Doch er ersetzte – wo immer es möglich war – Wahlbeamte durch staatlich bestellte Amtsträger. Zudem reduzierte er die Kosten der Lokalverwaltung um rund ein Drittel, indem er zahlreiche Posten bei den Gerichten und den Verwaltungsämtern in der Provinz strich.83 Hatte Katharina also noch durch eine Beteiligung des lokalen Adels „Gesellschaft“ in der Provinz schaffen wollen, so sah Paul in einem straffen und effizienten Behördenapparat die einzig sinnvolle Form staatlicher Präsenz in der Provinz. Auch in den Westgouvernements war Pauls Politik vom Prinzip der Stabilisierung geleitet. Hier verfolgte er dieses Ziel jedoch mit anderen Mitteln. Die französische Revolution und die militärischen Erfolge Napoleons rückten die Frage der Loyalität der polnischen Untertanen ins Zentrum sämtlicher politischen Überlegungen. Da Paul der Ansicht war, dass den Polen durch die Teilungen ein schweres Unrecht zugefügt worden war, war er sich der prekären Loyalität der Szlachta sehr wohl bewusst. Vom ersten Tag seiner Herrschaft an distanzierte er sich durch Akte symbolischer Politik von der Polenpolitik seiner Mutter: Er lud den ehemaligen 79 Vgl. [Fëdor N. Golicyn]: Zapiski knjazja Fëdora Nikolaeviča Golicyna, in: Russkij archiv 12 (1874), Nr. 1, Sp. 1271–1336, hier 1307. 80 Vgl. McGrew: Paul I., S. 190. 81 Zu Pauls I. ablehnender Haltung gegenüber dem Wahldienst vgl. Korf: Dvorjanstvo, S. 257–265. 82 Scharf: Staatsauffassung, S. 100. 83 Vgl. Kločkov: Očerki pravitel’stvennoj dejatel’nosti, S. 420f.

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König Stanisław II. August zu seiner Krönung nach Moskau ein, befreite Tadeusz Kościuszko persönlich aus seiner Festungshaft in Schlüsselburg und ordnete die Freilassung von 12.000 polnischen Gefangenen an, die aufgrund ihrer Teilnahme am Kościuszko-Aufstand zur Zwangsarbeit verurteilt worden waren. In diesem Kontext ist auch die Gewährung der alten Rechte und Privilegien zu sehen. Nach Pauls Auffassung hatte die Gouvernementsreform seiner Mutter Schaden angerichtet. Das Streben nach Vereinheitlichung habe zu wenig Rücksicht auf polnisches Recht und lokale Sitten genommen.84 Diese Einschätzung korrespondierte mit Gesuchen, die der Adel der Westgouvernements an den Zaren richtete. So bat die Abordnung, die den Minsker Adel bei Pauls Krönungszeremonie in Moskau repräsentierte, den Zaren darum, auch polnische Mitglieder in die Gouvernementsregierung aufzunehmen sowie polnische Gerichte auf Polnisch und entsprechend der althergebrachten Prozessordnung verhandeln zu lassen. Ähnliche Wünsche äußerte auch der Adel von Braclav. Er klagte in einer Bittschrift, dass in seinem Gouvernement weder den Richtern noch den streitenden Parteien die russischen Gesetze ausreichend bekannt seien, und bat darum, die Prozesse nach polnischem Brauch führen zu dürfen.85 Paul I. kam mit seiner Politik diesen Wünschen des polnischen Adels zumindest teilweise entgegen. Zusammenfassend lässt sich die Politik Pauls I. als eine bewusste Abkehr von den Homogenisierungsbestrebungen Katharinas kennzeichnen. Auch wenn er sich die Stärkung der Autokratie auf die Fahnen geschrieben hatte, so stieß dieser politische Grundsatz in den Westgouvernements an seine Grenzen. Zum einen waren die Gebiete, die sich das Zarenreich im Zuge der zweiten und dritten Teilung einverleibt hatte, zu groß, um sie mit einem staatlichen Beamtenkorps in der Fläche zu durchdringen. Zum anderen wagte es der Zar nicht, neben der politischen Konfrontation mit dem russischen Adel auch noch die Peripherie des Reiches gegen sich aufzubringen. Paul I. versuchte vielmehr die Loyalität der polnischen Untertanen zu gewinnen, indem er ihren politischen Forderungen so weit wie möglich entgegenkam. Der Wunsch nach Stabilisierung der Verhältnisse führte deshalb in den Westgouvernements zu einem partiellen Rückzug der zarischen Staatsgewalt.

1.3. Russische Staatsgewalt mit polnischen Amtsträgern: Der Behördenausbau unter Alexander I. Die Palastrevolution vom 11./12. März 1801, die Paul I. das Leben kostete und seinen Sohn Alexander an die Macht brachte, zog auf zahlreichen Politikfeldern 84 Vgl. McGrew: Paul I., S. 197 und 220f. 85 Vgl. Žukovič: Zapadnaja Rossija, S. 201f.



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eine Wende nach sich.86 Der russische Adel erwartete von der Herrschaft Alexanders I. eine Rückkehr zu den „goldenen Zeiten“ Katharinas II. Wie bereits geschildert kam der junge Zar einem verbreiteten Bedürfnis des Adels nach und setzte die Gnadenurkunde für den Adel wieder in vollem Umfang in Kraft.87 Alexander revidierte auch eine Reihe von Entscheidungen seines Vaters zur Administration in den Westgouvernements. 1802 kehrte er zu kleineren Verwaltungseinheiten zurück und teilte Litauen in die beiden Gouvernements Wilna und Grodno, Weißrussland in Mogilëv und Vitebsk.88 Bei der Einsetzung von Amtsträgern kehrte man ebenso zum alten Verfahren zurück: Der Kreishauptmann sowie die Beisitzer des Niederen Land- und des Kreisgerichts wurden nicht länger ernannt, sondern wieder vom Adel gewählt.89 Gleichzeitig bestätigte Alexander I. jene Gesetze seines Vaters, welche die Rechte des lokalen Adels in den Westgouvernements gestärkt hatten. So hielt er zum Beispiel im Gerichtswesen an der polnischen Sprache und der polnischen Prozessordnung fest.90 Die lokale Verwaltung und das Schulwesen blieben ebenso in polnischer Hand. Nur die Spitze der Behörden sowie das Militär waren russisch.91 Alexanders innenpolitische Reformen waren von einem stetig fortschreitenden Behördenausbau gekennzeichnet und liefen der Dezentralisierung in den Westgouvernements entgegen. Zunächst erhielt die Regierung in der Hauptstadt ein neues Gesicht: Ministerien lösten die alten Kollegien ab, die Kompetenzen des Senats wurden auf die Funktion eines obersten Gerichts beschränkt und ein Reichsrat als legislatives Beratungsorgan des Kaisers ins Leben gerufen.92 86 Der 23-jährige Alexander wusste zwar von den Vorbereitungen des Staatsstreichs, war jedoch keine treibende Kraft gewesen, vgl. Constantin de Grunwald: L’Assassinat de Paul Ier, tsar de Russie, Paris 1960; Natan Ja. Ėjdel’man: Gran’ vekov. Političeskaja bor’ba v Rossii. Konec XVIII – načalo XIX stoletija, Moskau 1982, S. 266–304. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte findet sich in: Die Ermordung Pauls und die Thronbesteigung Nikolaus’ I. Neue Materialien, hg. v. Theodor Schiemann, Berlin 1902, S. 1–89. 87 Vgl. Manifest Alexanders I. vom 2.4.1801, in: PSZ I, Bd. 26, Nr. 19.810, S. 601–602. 88 Senatsukas vom 27.2.1802, in: PSZ I, Bd. 27, Nr. 20.162, S. 59–60. Im Zuge des Tilsiter Friedens wurde am 15.10.1807 das Gebiet Białystok (russ. Belostok) gegründet, vgl. den Namentlichen Ukas Alexanders I. vom 15.10.1807, in: PSZ I, Bd. 29, Nr. 22.647, S. 1299–1301. 89 Namentlicher Ukas Alexanders I. vom 15.3.1801, in: PSZ I, Bd. 26, Nr. 19.790, S. 590–591. 90 Senatsukas vom 15.2.1806, in: PSZ I, Bd. 29, Nr. 22.027, S. 45–47. 91 Vgl. Thaden: Russia’s Western Borderlands, S. 68. 92 Zu Alexanders I. Reform der zentralen Regierungsbürokratie vgl. John P. LeDonne: Absolutism and Ruling Class. The Formation of the Russian Political Order, 1700–1825, New York, Oxford 1991, S. 105–112; Daniel T. Orlovsky: The Limits of Reform. The Ministry of Internal Affairs in Imperial Russia, 1802–1881, Cambridge, London 1981, S. 16–27; O. A. Narkiewicz: Alexander I and the Senate Reform, in: Slavonic and East European Review 47 (1969), S. 115–136. Zum bedeutenden Einfluss Speranskijs und dessen weitergehenden Plänen zur konstitutionellen Beschränkung der Autokratie vgl. Marc Raeff: Michael Speransky: Statesman of Imperial Russia 1772–1839, The Hague 1957, S. 105–117; David Christian: The Political Ideals of Michael Speransky, in: Slavonic and East European Review 54 (1976), S. 192–213; John Gooding: The

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Die lokale Verwaltung behielt zwar weitgehend ihre institutionelle Ordnung, wandelte sich jedoch durch die zunehmende Professionalisierung des Personals grundlegend. Michail Speranskij setzte etwa 1809 durch, dass alle höheren Staatsbeamten ein Staatsexamen ablegen mussten, in dem unter anderem Lateinkenntnisse und die Beherrschung moderner Sprachen verlangt wurden.93 Zudem zogen die neu geschaffenen Ministerien Kompetenzen an sich, so dass die Zahl der Entscheidungen, die auf lokaler Eben gefällt wurden, zurückging.94 Ein weiteres Kennzeichen der fortschreitenden Bürokratisierung war das Wachstum des Beamtentums, das sich unter Alexander I. deutlich beschleunigte. Zu Beginn der Herrschaft Katharinas II., in den frühen sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts, umfasste die staatliche Verwaltung des Zarenreiches insgesamt 16.500 Amtsträger. Um 1800 waren es rund 38.000, und 1856, als Alexander II. den Thron bestieg, bereits rund 114.000. Das Wachstum des Behördenapparats beschleunigte sich also im 19. Jahrhundert. Hatte sich die Zahl der Beamten in den letzten vier Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts verdoppelt, so verdreifachte sie sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.95 Auch ist die Qualifikation der Beamtenschaft während Alexanders I. Herrschaft gestiegen. Unter Katharina II. füllten zu einem wesentlichen Teil alte Militärs, die am Ende ihrer Karriere standen, die neu geschaffenen Wahlämter auf lokaler Ebene aus.96 Die Zahl dieser Beamten, die unmittelbar nach dem Militärdienst höhere Stellen in der lokalen Verwaltung übernahmen, ging aufgrund der erhöhten Bildungsstandards in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich zurück.97 Inwieweit gelang es der reichsweit wachsenden Bürokratie, auch die Westgouvernements zu durchdringen? Diese Frage ist aufgrund fehlender Daten nicht zufriedenstellend zu beantworten, denn bis zum Ende des Zarenreiches ist es zu keiner belastbaren Datenerhebung gekommen.98 Der weißrussische Historiker Alexander Kiselëv konnte auf der Grundlage von mehr als 200 Personalakten

93 94 95 96 97 98

Liberalism of Michael Speransky, in: Slavonic and East European Review 64 (1986), S. 401– 424. Vgl. Kusber: Eliten- und Volksbildung, S. 313f; Raeff: Speransky, S. 60–63. Vgl. Boris N. Mironov: Local Government in Russia in the First Half of the Nineteenth Century: Provincial Government and Estate Self-Government, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 42 (1994), S. 161–201, hier 166f. Vgl. Pintner: Evolution of Civil Officialdom, S. 192. Robert d. Givens konnte zeigen, dass über die Hälfte der Provinzsekretäre einen mehr als zwanzigjährigen Militärdienst hinter sich hatte, ein Viertel hatte sogar mehr als 30 Jahre gedient, vgl. Givens: Eighteenth-Century Career Patterns, S. 122. Vgl. Janet Hartley: Provincial and Local Government, in: The Cambridge History of Russia, Bd. 2: Imperial Russia, 1689–1917, hg. v. Dominic Lieven, Cambridge 2006, S. 449–467, hier 466. Vgl. Torke: Russisches Beamtentum, S. 132.



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immerhin folgende Angaben zur Beamtenschaft in den Gouvernements Litauen, Minsk und Weißrussland für die Jahre 1800 und 1825 zusammenstellen: Regionale Herkunft der Staatsbeamten in den Gouvernements Litauen, Minsk und Weißrussland in den Jahren 1800 und 1825:99

Gouvernementsebene Kreisebene Gesamt

Aus den Westgouvernements Aus dem übrigen Reich oder stammend dem Ausland stammend 1800 1825 1800 1825 9 (25 %) 51 (56 %) 27 (75 %) 40 (44 %) 10 (28 %) 47 (80 %) 16 (62 %) 12 (20 %) 19 (31 %) 98 ( 65%) 43 (69 %) 52 ( 35%)

Trotz des reichsweiten Behördenausbaus nahm der Anteil der ortsfremden Amtsträger in den Westgouvernements zwischen 1800 und 1825 ab. Stammten 1800 noch mehr als zwei Drittel der Beamten aus anderen Gouvernements des Zarenreiches, so war es 1825 nur noch rund ein Drittel. Auf Kreisebene verlief diese Entwicklung noch rasanter: Während 1800 nur rund ein Viertel der Amtsträger aus den Westgouvernements kamen, waren es 25 Jahre später mit 80 Prozent die überwiegende Mehrheit. Die Ausbildung neuer Beamter konnte mit dem steigenden Bedarf offenbar nicht Schritt halten. In den Westgouvernements führte dies zu einer stärkeren Rekrutierung von einheimischen Kräften.100 Da das Bildungswesen hier noch auf dem soliden Fundament ruhte, das die katholische Kirche in der Adelsrepublik gelegt hatte, herrschte in den polnischen Provinzen weit weniger Mangel an geeignetem Verwaltungspersonal. Der reichsweite Behördenausbau und die allgemeine Anhebung der Bildungsanforderungen förderten in den Westgouvernements also den Rückgriff auf einheimische Kräfte für die zarische Administration. Aus welchen Bevölkerungsgruppen rekrutierte das Zarenreich Beamte für die staatliche Verwaltung? Darüber gibt die ebenfalls von Kiselëv eruierte soziale Zusammensetzung der Amtsträger Auskunft:

99 Vgl. Kiselëv: Sistema gosudarstvennych učreždenij, S. 133 und 140. 100 Diese Tendenz entspricht auch dem Eindruck der Zeitgenossen, vgl. Gorizontov: Paradoksy imperskoj politiki, S. 160f.

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Staatsausbau und Herrschaftspraxis in der polnischen Provinz

Soziale Herkunft der Staatsbeamten in den Gouvernements Litauen, Minsk und Weißrussland im Jahr 1800:101 Gouvernementsebene Kreisebene Gesamt

Adel Klerus Armee Kaufleute raznočincy k. A. 25 3 4 1 2 1 (69 %) (8 %) (11 %) (3 %) (6 %) (3 %) 17 3 6 (65 %) (12 %) (23 %) 42 6 10 1 2 1 (68 %) (10 %) (16 %) (1,5 %) (3 %) (1,5 %)

Gesamt 36 (100 %) 26 (100 %) 62 (100 %)

Besitzstand der Staatsbeamten in den Gouvernements Litauen, Minsk und Weißrussland im Jahr 1800:102

Gouvernementsebene Kreisebene Gesamt

Ohne 1–20 21–100 Besitz Seelen Seelen 26 3 2 (72 %) (8,5 %) (5,5 %) 23 3 – (88 %) (12 %) 49 6 2 (79 %) (9 %) (3,5 %)

101–300 301–500 501–1.000 Seelen Seelen Seelen 2 2 1 (5,5 %) (5,5 %) (3 %) – – – 2 (3,5 %)

2 (3,5 %)

1 (1,5 %)

Gesamt 36 (100 %) 26 (100 %) 62 (100 %)

Zu Beginn der Herrschaft Alexanders I. schlugen also überwiegend Kleinadlige eine Beamtenlaufbahn ein. Daneben rekrutierte der Staat seine Beamten in nennenswerten Umfang aus dem Klerus und der Armee. Der Staatsdienst bot also gerade jenen gesellschaftlichen Schichten, deren materielle Existenz prekär war, die Möglichkeit, ein Auskommen zu finden. Als durchaus typisch kann die Karriere des polnischen Adligen Wróblewski gelten. Er verfügte weder über ein Gut noch über Leibeigene. Sein ganzer Besitz bestand aus einem Holzhaus in Kiew. Der Staatsdienst bot ihm jedoch eine Chance, sein Einkommen zu sichern und eine ansehnliche Karriere zu machen. Nachdem er an der örtlichen Schule in Berdyčev Russisch, Polnisch und Latein gelernt hatte, trat er 1802 seinen Dienst am Hauptgericht von Kiew an. 1809 wurde er dort Advokat und weitere drei Jahre später zum staatlichen Advokaten ernannt. Aufgrund seiner vorbildlichen Diensterfüllung erwarb er sich einen guten Ruf und erhielt 1814 den Rang eines Kollegienregistrators. 1824 wurde er in das Amt des Schreibers für polnische Rechtsfälle

101 Vgl. Kiselëv: Sistema gosudarstvennych učreždenij, S. 131. 102 Vgl. ebd., S. 130.



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Das Vordringen der Staatsgewalt auf die lokale Ebene

am Hauptgericht berufen und im selben Jahr für seine hervorragenden Dienste mit dem Rang eines Gouvernementssekretärs ausgezeichnet.103 Der zarische Staatsausbau eröffnete der mittellosen Szlachta also neue Einkommens- und Aufstiegsmöglichkeiten. So erscheint es plausibel, dass sich im Jahre 1825 die soziale Zusammensetzung der staatlichen Amtsträger kaum verändert hatte. Den Berechnungen Kiselëvs zufolge hatte die Beamtenschaft folgende Besitzstruktur: Besitzstand der Staatsbeamten in den Gouvernements Litauen, Minsk und Weißrussland im Jahr 1825:104

Gouvernementsebene Kreisebene Gesamt

Ohne 1–20 Besitz Seelen 72 1 (79 %) (1 %) 49 3 (84 %) (5 %) 121 4 (81 %) (3 %)

21–100 Seelen 9 (10 %) 5 (9 %) 14 (9 %)

101–300 301–500 Seelen Seelen 6 1 (7 %) (1 %) 1 – (2 %) 7 1 (5 %) (1 %)

k. A.

Gesamt

2 (2 %) –

91 (100 %) 58 (100 %) 149 (100 %)

2 (1 %)

Als einzige sichtbare Verschiebung fällt die Zunahme der Beamten, die aus dem mittleren Adel stammten, auf. Für die Übernahme eines staatlichen Amtes waren also nicht mehr nur materielle Gründe ausschlaggebend. Offenbar engagierten sich verstärkt auch Adlige, die vor Ort Verantwortung übernehmen wollten. Bürokratisierung und eine steigende Beteiligung des polnischen Adels am Staatsdienst gingen also Hand in Hand. Die Einbeziehung lokaler Kräfte in die staatliche Verwaltung konnte das Projekt des Staatsausbaus allerdings auch unterlaufen. Im Jahr 1818 beschloss die zarische Regierung, zur Vorbereitung eines einheitlichen Gesetzbuches zunächst eine Sammlung der unterschiedlichen lokalen Gesetze im Vielvölkerreich anzufertigen. Dazu wurden unter anderem auch in den Westgouvernements Komitees gegründet.105 Der Generalgouverneur war angehalten, in der Rechtsprechung bewanderte und erfahrene Personen auszuwählen und als Mitglieder zu berufen. Den Komitees wurde es ausdrücklich gestattet, Mängel und Lücken der lokalen Gesetze aufzudecken und nach St. Petersburg weiterzuleiten. Die zarische Regierung war also einerseits bei der Informationsbeschaffung auf Vertreter der lokalen Ebene angewiesen, gleichzeitig gewährte sie 103 Abschrift aus der Personalakte des Gouvernementssekretärs Wróblewski, o. d. [1830], in: CDIAK f. 533, op. 2, d. 574, l. 52–55. 104 Vgl. Kiselëv: Sistema gosudarstvennych učreždenij, S. 136. 105 Zum Folgenden vgl. Pergament / Nol’de: Obozrenie istoričeskich svedenij, S. 40–50.

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Staatsausbau und Herrschaftspraxis in der polnischen Provinz

eine – wenn auch begrenzte – Partizipation, indem sie Verbesserungsvorschläge entgegennahm. Das Vorhaben der Regierung scheiterte jedoch auf ganzer Linie. Im Jahr 1823 hatte allein das Komitee aus dem Gouvernement Podolien eine Sammlung der örtlichen Gesetze angefertigt. Das weißrussische Komitee lieferte stattdessen eine knappe Zusammenfassung des Litauischen Statuts. Das Minsker Komitee hatte eine Namensliste erstellt und dieser einen allgemeinen Abschnitt über das Vertragsrecht angehängt. Das Wilnaer Komitee hatte im Laufe von sechs Sitzungen die Arbeit unter seinen Mitgliedern aufgeteilt, um 14.000 Rubel für Ausgaben sowie das Gehalt seiner Mitglieder gebeten und schließlich mitgeteilt, dass man nun mit einer Abschrift der zarischen Ukasse der Jahre 1795 bis 1797 beginne. Das Kiewer Komitee hatte sich gar nicht erst konstituiert. Angesichts dieses niederschmetternden Rücklaufs ist fraglich, ob die lokalen Beauftragten die Weisung aus der Hauptstadt lediglich missverstanden und deshalb ihre Aufgabe nicht erfüllt haben.106 Vielmehr erweckt die teilweise abwegige Aufgabenerfüllung den Eindruck einer bewussten Obstruktionspolitik durch die lokale Elite, zumal es auf der Hand lag, dass die benötigten Informationen zur Vereinheitlichung der Rechtsverhältnisse dienten. Eine Zusammenfassung des auch in St. Petersburg wohlbekannten Litauischen Statuts oder gar die Abschrift der Anordnungen, welche die zarische Regierung selbst erlassen hatte, kann schwerlich als ernst gemeinte Erfüllung des Auftrages gelten. Denkbar ist auch, dass man der Forderung, erfahrene Kenner der lokalen Gesetze in die Komitees zu schicken, erst gar nicht nachkam. Indem man Personen mit einer Aufgabe betraute, die diese gar nicht verstanden, konnte man genauso gut ein Scheitern dieser Kommissionen bewusst herbeiführen. Mit dem Versuch, Kenntnis von den lokalen Rechtsverhältnissen in den Westgouvernements zu gewinnen, erlitt die Regierung Schiffbruch. Auch als im Jahre 1830 der Svod zakonov – das erste kodifizierte Gesetzbuch des Russischen Reiches – erarbeitet werden sollte, herrschte in St. Petersburg noch immer Unklarheit über die gültige Rechtslage in den ehemals polnischen Gebieten. Man verabschiedete sich notgedrungen von der Vorstellung, dass ein neues Gesetzbuch auch den lokalen Begebenheiten in den Westgouvernements gerecht werden würde. Vielmehr galt die weitgehende Vereinheitlichung der Rechtsverhältnisse nun als eine Stärke des Svod zakonov. Das kaum zu überblickende Chaos von Gewohnheitsrechten und Texten, die in einer Mischung aus Latein und Polnisch verfasst worden waren, sollte von einem kodifizierten Gesetzbuch abgelöst werden, da Ersteres nur Rechtsverdrehern und halbgebildeten Advokaten in die Hände spielen würden.107 106 So Pergament und Nol’de, vgl. ebd., S. 41. 107 Ebd., S. 49f.



Das Vordringen der Staatsgewalt auf die lokale Ebene

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Unter Alexander I. schritt der Behördenausbau im Russischen Reich also voran, und in den Westgouvernements hatten polnische Amtsträger einen wachsenden Anteil daran. Nach den Napoleonischen Kriegen und der zwischenzeitlichen Existenz des Herzogtums Warschau ließ sich eine autonome Verwaltung allerdings nicht mehr aus der Tradition einer russischen Kooptationspolitik herleiten, sondern kam dem Versprechen einer nationalen Selbstbestimmung gleich. Der fortschreitende Staatsausbau und die von Alexander am Leben gehaltene Hoffnung auf eine politische Autonomie der Westgouvernements verschärften die grundsätzlichen Widersprüche der zarischen Integrationspolitik noch zusätzlich.

1.4. Die Wende zum forcierten Staatsausbau: Nikolaus I. und die Folgen des Novemberaufstandes 1830/31 Die ersten beiden Kapitel haben gezeigt, dass der Novemberaufstand einen tiefen Einschnitt in der zarischen Politik gegenüber der Szlachta und ihren ständischen Repräsentationsorganen zur Folge hatte. Welche Bedeutung hatte die Herrschaft Nikolaus’ I. und insbesondere der Aufstand von 1830/31 für die zarische Politik des Staatsausbaus in den Westgouvernements? Als Nikolaus I. am 14. Dezember 1825 den russischen Thron bestieg, erbte er von seinem Bruder ein nach wie vor unterverwaltetes Reich. Der Behördenausbau hatte unter Alexander I. zwar spürbare Fortschritte gemacht, doch es herrschte nach wie vor ein Mangel an Beamten. Die Arbeitsbelastung der niederen Amtsträger nahm in jenen Jahren eher zu. Die von Peter I. eingeführten Dienstzeiten wurden regelmäßig überschritten. Ein zehnbis zwölfstündiger Arbeitstag war eher die Regel als die Ausnahme, und bei wichtigen Terminen mussten Schreiber und Kopisten mitunter die ganze Nacht hindurch Schriftstücke anfertigen.108 Eine weitere Folge der personellen Unterbesetzung der Kanzleien war die lange Bearbeitungszeit von Akten. In den polnischen Provinzen gab es wie in anderen Gouvernements des Zarenreiches immer wieder Klagen über unordentliche Kanzleien und lange Bearbeitungszeiten von Eingaben, die sich nicht selten über Jahre hinzogen.109 Die zarische Regierung reagierte auf diese Berichte mit einer Aufstockung des Personals in den Gouvernementskanzleien.110 Der Dienst an der westlichen Peripherie des Reiches war allerdings unbeliebt. Die Regierung versuchte deshalb russische Beamte mit besonderen Vergünstigungen, 108 Vgl. Torke: Russisches Beamtentum, S. 181f. 109 Vgl. z.B. Bericht des Kiewer Militärgouverneurs über den Zustand des Gouvernements vom 19.11.1827, in: RGIA f. 1409, op. 2, d, 4997, l. 2–13, hier 2; Schreiben des Kiewer Gouverneurs an den Generalgouverneur Pëtr Želtuchin vom 9.6.1828, in: CDIAK f. 533, op. 2, d. 269, l. 5–8. 110 Anordnung des Innenministers vom 4.3.1829, in: RGIA f. 1152,op. 1, d. 47, l. 3–9ob.; Auszug aus dem Journal des Ministerkomitees vom 12. und 26.3.1829, in: ebd., l. 2–2ob.

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wie sie sonst nur in den von der Hauptstadt weit entfernten und dünn besiedelten Gebieten im Osten des Imperiums üblich waren, in die polnischen Provinzen zu locken. So erhielt ein russischer Beamter in den Westgouvernements das Fahrtgeld für mehrere Heimreisen gestellt und durfte außerdem neben seinem Gehalt auch die Pension aus seinem früheren Dienst beziehen.111 Nikolaus I. sah in einer Politik der Zentralisierung die Lösung zur Behebung der Defizite in der lokalen Verwaltung. Unter dem Eindruck des Dekabristenaufstandes gab er der Polizei eine neue Organisationsform und weitete ihr Tätigkeitsfeld aus. Dies geschah insbesondere durch die Gründung einer Geheimpolizei, der berühmt-berüchtigten „Dritten Abteilung Seiner Majestät höchsteigener Kanzlei“, und durch die Schaffung eines Gendarmeriekorps als einer ständigen Polizeitruppe.112 Sieht man von dieser landesweiten Neuordnung ab, so erließ Nikolaus I. vor dem Novemberaufstand allerdings keine Gesetze, welche die Behörden der Westgouvernements den allgemeinen Verwaltungsstrukturen des Reiches anpassten.113 Allerdings ersetzte der Zar eine Reihe von hohen polnischen Beamten durch Russen und billigte 1828 die Pläne zur Wiedervereinigung der Unierten mit der Russisch-orthodoxen Kirche.114 Der Novemberaufstand von 1830 brachte, wie schon in der Adelspolitik, auch in Bezug auf die Verwaltung eine Wende. Zahlreiche Adlige der Westgouvernements hatten sich am Aufstandsgeschehen beteiligt.115 Es ist kaum festzustellen, inwieweit die adligen Wahlbeamten loyal blieben, da deren Verhalten nur in Einzelfällen überliefert ist. Im Gouvernement Vitebsk kam es immerhin zu einzelnen Entlassungen, da adlige Amtsträger Sympathie mit den Aufständischen gezeigt hätten.116 Es gibt jedoch keinerlei Anhaltspunkte für die Einschätzung des Gouverneurs von Grodno, Michail Murav’ëv, die polnischen Amtsträger hätten sich entweder den Aufständischen angeschlossen oder die Anordnungen der Regierung sabotiert.117 111 Vgl. Torke: Russisches Beamtentum, S. 177. 112 Zur Dritten Abteilung siehe Sidney Monas: The Third Section. Police and Society in Russia under Nicholas I., Cambridge 1961; Peter S. Squire: The Third Department. The Establishment and Practices of the Political Police in the Russia of Nicholas I, Cambridge 1968. 113 Vgl. Nikotin: Stoletnij period, S. 23f. 114 Vgl. Thaden: Russia’s Western Borderlands, S. 77. 115 Vol’ga Harbačova konnte allein für die weißrussischen Gouvernements 2.300 Aufständische namentlich ausfindig machen und hat diese in einem biographischen Lexikon zusammengeführt. Der überwiegende Teil der Aufständischen stammte demnach aus dem Adel, vgl. Vol’ga V. Harbačova: Udzel’niki paŭstannja 1830–1831 hh. na Belarusi, Minsk 2004. 116 Vgl. die Anordnungen des Vitebsker Gouverneurs aus dem Jahr 1832, in: NIAB f. 1430, o. 1, d. 2742, l. 2–2ob.; d. 2873, l. 1–2; d. 29761, l. 3. 117 M. N. Murav’ëv: Zapiska o chode mjateža v gubernijach ot Pol’ši vozvraščënnych i zaključenija o pričinach stol’ bystrago razvitija onago, izvlečënnyja iz svedenij, počerpnutych na meste proisšestvija i podlinnych doprosov, abgedruckt in: d. A. Kropotov: Žizn’ grafa M. A. Murav’ëva,



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Diese Äußerung Murav’ëvs weist – unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt – auf eine entscheidende Folge des Novemberaufstandes hin: Die Ursachenanalyse der Regierung führte zu einer neuen Wahrnehmung des polnischen Adels. Die russischen Beamten hatten, anders als die preußischen oder österreichischen, nach den Teilungen nicht die vermeintliche Rückständigkeit der neu erworbenen polnischen Gebiete thematisiert und die russischen Wahrnehmungen Polens waren nicht von einem „zivilisatorischen Gefälle“ geprägt.118 Noch wenige Monate vor dem Novemberaufstand hatte der neu eingesetzte Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien, Boris Knjažnin, einen sehr positiven Eindruck von den adligen Wahlbeamten vor Ort: Sie führten ihre Aufgaben gut und zielgerichtet aus. Die staatliche Verwaltung hatte bei ihm hingegen einen sehr viel schlechteren Eindruck hinterlassen. Es gebe viel zu wenige Beamte, und gerade die niederen Stellen seien kaum besetzt. Die Polizei befinde sich sogar in einem geradezu bedauernswerten Zustand.119 Dmitrij Bibikov, einer der Nachfolger Knjažnins als Generalgouverneur, zeichnete zehn Jahre später in einem Bericht an den Zaren ein völlig anderes Bild vom Wirken des polnischen Adels in den Westgouvernements: „Der polnische Adel nimmt immer noch keinen Abstand von jenen aufrührerischen Ideen, die schon das ehemalige Polen in Unruhe versetzt und schließlich zu Fall gebracht haben. Noch mehr als früher folgen sie den törichten Einflüsterungen westlicher Liberaler und der polnischen Emigration, die zwar unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Charakters sind, jedoch in der verbrecherischen Hoffnung auf Unruhe zusammenfinden. (…) Aufgrund der Nichtsnutzigkeit ihres Charakters sowie der bereits ergriffenen Gegenmaßnahmen sind sie zweifellos nicht in der Lage, sich zu einer Gefahr zu entwickeln oder Verzweiflungstaten zu begehen. Sie sind jedoch stets bereit, geheime Ränke zu schmieden und alle möglichen Formen von Unordnung zu erzeugen. Sie pflegen den Müßiggang, sind nicht an Ordnung gewöhnt, haben ein verderbtes Recht und schließlich mangelt es ihnen an familiärer Glückseligkeit. Dies alles fördert die Phantasterei unter ihnen, zumal Träume nichts kosten, und schürt ihre v svjazi s sobytijami ego vremeni i do naznačenii ego gubernatorom v Grodno. Biografičeskij očerk, St. Petersburg 1874, S. 504–519, hier 511. 118 Zu der preußischen und österreichischen Wahrnehmung der polnischen Teilungsgebiete vgl. Marian Drozdowski: Der Zusammenstoß des preußischen Verwaltungssystems mit den polnischen Verwaltungstraditionen (1772–1806), in: Peter Nitsche (Hg.): Preußen in der Provinz, Frankfurt a. M. 1991, S. 22–34; Hans-Jürgen Bömelburg: Aufgeklärte Beamte gegen barock-katholische Adelseliten. Ein Vergleich der österreichischen und preußischen Verwaltungspraxis in Galizien und Westpreußen (1772–1806), in: Walter Leitsch / Stanisław Trawkowski (Hg.): Polen und Österreich im 18. Jahrhundert, Warschau 2000, S. 19–40. 119 Vgl. Schreiben des Kiewer Generalgouverneurs Knjažnin an Benckendorff vom 18.3.1830, in: GARF f. 109, op. 5, d. 131, l. 1–1ob.

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Eigenliebe in beträchtlichem Ausmaß. Natürlich gibt es keinen einzigen Polen, der nicht einmal daran denken würde, dass er in der früheren Ordnung König hätte werden können. (…) Wer hat diese Aufwallung der Gefühle beendet? Die russische Herrschaft, das Gesetz und die eingeführte Ordnung. Trotzdem haben sie ihre Träume nicht verloren und fürchten, dass die Realität diese zerstöre. Die hiesigen Polen sind der Rest und die Trümmer eines arretierten, einst selbständigen Volkes, das das Siegel der Selbstzerstörung trägt.“120

Bibikov entwirft hier eine Dichotomie, in der Polen für Unordnung und das Zarenreich für Ordnung steht. Dieser Grundgedanke steht ganz in jener von Katharina II. begründeten Tradition russischen Denkens, das die Adelsrepublik als „Hort der Unordnung“ stigmatisierte.121 Doch während Katharina II. daraus den Anspruch ableitete, die Polen von der ordnungsstiftenden Macht des Zarenreiches zu überzeugen, erklärt Bibikov diesen Widerspruch für unauflöslich. Er zeichnet das Bild eines grundsätzlich illoyalen polnischen Adels, dessen „Träume“ nur durch die demonstrative Stärke der zarischen Herrschaft domestiziert werden können. Die Polen sollten nicht mehr durch Fortschritt für das Zarenreich eingenommen und von den Leistungen zarischer Herrschaft überzeugt, sondern ruhig gestellt werden. Der Bericht Bibikovs ist kein Einzelfall. Nach dem Novemberaufstand zeichneten die zarischen Amtsträger vor Ort durchgehend jenes Bild vom illoyalen polnischen Adel und bestätigten damit jene Vorbehalte, die in der Regierung gegenüber der Szlachta bereits vorherrschten. So deckte die Dritte Abteilung regelmäßig Fälle auf, in denen polnische Wahlbeamte mit revolutionären Adligen zusammengearbeitet hätten, etwa beim Verteilen von Flugblättern.122 Gleichzeitig beschrieben staatliche Gesandte den Zustand der lokalen Verwaltung als personell unterbesetzt und durchsetzungsschwach. Insbesondere die Gendarmerie informierte ihren Vorgesetzten, Alexander Benckendorff, in zahlreichen Schreiben über die angeblich katastrophalen Zustände vor Ort. Der Stabsoffizier der Gendarmerie von Grodno, Dmitrij Vlasov, berichtete zum Beispiel, die Gouvernementsverwaltung sei in den letzten Jahren so schwach geworden, dass nur noch „ein Faden“ übrig sei. In Grodno verfügten weder die Gerichte noch die Polizei oder das Postkontor über eigene Gebäude, sondern seien in den Heim120 Bericht des Generalgouverneurs von Kiew, Podolien und Wolhynien an Nikolaus I. über den Zustand der Gouvernements Kiew, Podolien und Wolhynien im Jahr 1839, vom 22.3.1840, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 2788, l. 1–107, hier l. 43–48 ob, hier 42ob.-43. 121 Zu Katharinas II. Legitimation der Teilungen durch die fortschrittlichen Leistungen des Zarenreiches, vgl. Ganzenmüller: Ordnung als Repräsentation der Staatsgewalt, S. 62–69. 122 Vgl. z. B. den Brief des Stabsoffiziers des Gendarmeriekorps in Minsk an Benckendorff vom 21.7.1831, in: GARF f. 109, op. 6, d. 469, l. 1–2ob.



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stätten der Bediensteten untergebracht, meist im Wohnhaus des leitenden Beamten. Besitze dieser kein Haus, werde eines angemietet, was hohe Kosten verursache. Die Kanzleibeamten betrachteten in diesen Fällen die Amtsräume als ihr Eigentum und wohnten teilweise sogar darin. In der Stadt Lida befänden sich das Niedere Landgericht und die Polizei in einem niedrigen Holzhaus, das einem Juden gehörte, der in demselben Gebäude eine Schenke mit einem Billardtisch betreibe.123 Ein anderer Bericht hob die geringe Bildung der staatlichen Beamten hervor. Die Kanzleien der Gouverneure setzten sich aus Personen zusammen, die bislang kaum administrative Erfahrung hätten, so dass ihnen die Bevölkerung auch nicht die notwendige Achtung entgegenbringe. Aus diesem Grunde habe es den Gouvernementsregierungen an der notwendigen Durchsetzungskraft gefehlt, um die „Aufwallungen der Jahre 1830 und 1831 zu bändigen“.124 Mitunter wurde der Novemberaufstand auch als Argument eingesetzt, um eine Personalaufstockung zu erwirken. Als der Innenminister die Bitte des Militärgouverneurs von Kiew, Podolien und Wolhynien nach einer Aufstockung der Kanzlisten aus Kostengründen abschlug, da wies der Militärgouverneur explizit auf die schwierige politische Lage in der Region hin, die einen höheren Personalbestand erfordere. Diese Argumentation war erfolgreich. Der Zar gewährte dem Militärgouverneur die erbetenen Stellen.125 Die angebliche Illoyalität des polnischen Adels und die gleichzeitige Schwäche der staatlichen Amtsträger verbanden sich zu der Deutung, die lokalen Institutionen in den Westgouvernements seien nicht zuletzt deshalb ungefestigt, weil sie zu einem wesentlichen Teil von polnischen Adligen getragen würden. Der Leiter eines Gendarmeriekorps in Wilna, Generalmajor Lesovskij, charakterisierte den örtlichen Polizeimeister als schwach und wenig tatkräftig. Da er Pole sei, pflege er familiäre und freundschaftliche Kontakte zur lokalen Gesellschaft und könne deshalb nicht frei von persönlichen Interessen agieren.126 Nicht die Akzeptanz zarischer Amtsträger im lokalen Umfeld stand bei solchen Argumentationen im Vordergrund, sondern ein vermeintlich unauflösbarer Konflikt zwischen den Inter123 Vgl. den Brief Vlasovs an Benckendorff vom 14.12.1831, in: GARF f. 109 s/a, op. 2, d. 287, l. 20–29ob., hier 22–23. 124 Schriftliche Notiz „Über die Stimmung der Einwohner in den von Polen zurückgekehrten Gebieten, ohne Unterschrift, ohne Datum [1836], in: GARF f. 109 s/a, op. 2, d. 257, l. 1–4ob., hier 2ob.-3. 125 Schreiben des Militärgouverneurs von Kiew, Podolien und Wolhynien an den Innenminister vom 27.1.1831, in: RGIA f. 1286, op. 5, d. 155, l. 1–1ob.; Schreiben des Innenministers an den Militärgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 2.3.1831, in: ebd., l. 9–10ob.; Schreiben des Militärgouverneurs von Kiew, Podolien und Wolhynien an den Innenminister vom 18.3.1831, in: ebd., l. 11–11ob.; Schreiben des Innenministers an den Militärgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 31.3.1831, in: ebd., l. 12–12ob. 126 Bericht des Leiters des 3. Kreises des Gendarmeriekorps, Generalmajor Lesovskij, an Benckendorff vom 3.1.1830, in: GARF f. 109, op. 6, d. 34, l. 4–5, hier 4ob.-5.

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essen der Adelsgesellschaft und jenen der Staatsgewalt. Nach dem Novemberaufstand wurde dieser Gegensatz verstärkt national gedeutet. So warf zum Beispiel der Militärgouverneur von Wolhynien in einem Schreiben an das Innenministerium dem Zivilgouverneur Unfähigkeit und Faulheit vor, wollte ihn aber dennoch weiterhin im Amt sehen, weil er Russe sei.127 Hier hatte sich die nationale Weltsicht bereits von der zunächst utilitaristischen Argumentation, illoyale Polen seien unzuverlässige Beamte, gelöst: Die russische Nationalität des Zivilgouverneurs wog letztlich schwerer als seine geringen administrativen Fähigkeiten. Eine Problemanalyse, welche die Schwäche der Staatsgewalt vor Ort und die mangelnde Loyalität des polnischen Adels als wesentliche Ursachen für den Novemberaufstand ausmachte, ließ nur eine logische Schlussfolgerung zu: Die staatlichen Institutionen mussten gestärkt und der Einfluss des polnischen Adels in der lokalen Verwaltung zurückgedrängt werden. Dieser politischen Zielsetzung glaubte die zarische Regierung mit Hilfe dreier Maßnahmen näher zu kommen: einer Zentralisierung der Verwaltung, einer Vereinheitlichung der lokalen Gesetze und Institutionen sowie schließlich einer „Russifizierung“ des Beamtenkorps. Die angestrebte Zentralisierung sollte durch eine Reduktion der Wahlämter erreicht werden. Die Präsidenten des Hauptgerichts, das nach russischem Vorbild in Strafgericht umbenannt wurde, ernannte nun der Zar persönlich, die Räte in den Gouvernementsregierungen und in den Kameralhöfen bestellte der zuständige Minister gemeinsam mit dem Generalgouverneur. Die Kreishauptleute sowie die Schöffen setzte die Gouvernementsregierung ein.128 Diese Neuregelung schränkte die Partizipationsrechte des Adels in Gericht und Verwaltung stark ein und stärkte gleichzeitig die Stellung der zentralen Staatsgewalt, indem über die Besetzung von Amtsstellen vermehrt in St. Petersburg und in der Gouvernementsstadt entschieden wurde. In dieser Verlagerung der Kompetenzen sah Nikolaus I. einen entscheidenden Faktor, um weiteren Aufständen vorzubeugen: „Um eine Unordnung, wie sie in den Westgouvernements im Zuge des Aufruhrs im ehemaligen Königreich Polen aufkam, zu verhindern, sind entschiedene und strenge Maßnahmen erforderlich, die von der gewöhnlichen Verwaltungsordnung in einigen Punkten abweichen. Hätte man diese Maßnahmen rechtzeitig ergriffen, hätte man den allgemeinen Aufruhr eindämmen können. Wir müssen zugeben, dass unter den jetzigen Bedingungen in diesen Gouvernements eine endgültige Ordnung nur dann errichtet und für Ruhe gesorgt werden kann, wenn wir auf der einen Seite einige dauerhafte Veränderungen in der zivilen Verwaltung vornehmen und auf der anderen Seite der örtlichen 127 Schreiben des Gouverneurs von Wolhynien an das Innenministerium vom 6.1.1831, in: GARF f. 109, op. 6, d. 46, l. 2–2ob. 128 Namentlicher Ukas Nikolaus’ I. vom 30.10.1831, in: PSZ II, Bd. 6,1, Nr. 4.894, S. 159–160.



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Regierung zeitweilig die besondere Befugnis zubilligen, die Beamten der Polizei zu ernennen, und ihr damit die Möglichkeit geben, mit jener Geschlossenheit und Strenge zu handeln, die in der momentanen Situation notwendig ist.“129

Das Wahlbeamtentum wurde in dieser Begründung letztlich zu einem entscheidenden Faktor für das Versagen der staatlichen Institutionen während des Novemberaufstandes umdefiniert. Das vom Generalgouverneur Knjažnin unmittelbar vor dem Novemberaufstand gezeichnete Bild einer schwachen staatlichen Verwaltung und einem funktionierenden Wahlbeamtentum war damit auf den Kopf gestellt. Im Komitee für die Westgouvernements herrschte allerdings Uneinigkeit darüber, wie weit die staatliche Ernennung von lokalen Beamten gehen sollte. Einen Austausch sämtlicher Amtsträger auf der unteren Verwaltungsebene wurde angesichts des großen Personalmangels als unrealistisch verworfen. Auch lehnte der Generalgouverneur von Smolensk, Vitebsk und Mogilëv, Nikolaj Chovanskij, die Einführung einer besonderen Polizeiverwaltung für die weißrussischen Gouvernements ab, da dies nur unnötigen Widerstand in einer gerade erst politisch beruhigten Region provozieren würde.130 Schließlich einigte man sich auf einen Kompromiss: Anstatt eine staatliche Polizeiverwaltung einzuführen, kam man überein, in jedes Gouvernement vier Stabsoffiziere zu entsenden, die dort die Polizeiarbeit überwachen sollten.131 Das zweite Mittel gegen einen erneuten Aufstand bildete eine Reihe von Maßnahmen, welche die Westgouvernements rechtlich wie administrativ an die Verhältnisse in Kernrussland angleichen sollten. Kern dieses Strebens nach Vereinheitlichung war die Abschaffung des bis dahin geltenden polnischen Rechts. Am 1. Januar 1831 wurde in den Gouvernements Mogilëv und Vitebsk das Litauische Statut für ungültig erklärt. An dessen Stelle traten das russische Verwaltungssystem und Gerichtswesen.132 Die zarische Regierung hatte damit dem russischen Recht zunächst nur in jenen Gebieten, die aus der ersten Teilung Polens stammten, Geltung verschafft. Damit folgte sie einem Vorschlag des Komitees für die Westgouvernements. Unter dem Einfluss Michail Murav’ëvs war man dort zu der Überzeugung gelangt, dass die unterschiedlichen Gebiete der Westgouvernements weder mit den gleichen Mitteln noch mit der gleichen Geschwindigkeit den zentralrussischen Verhältnissen angepasst werden könnten. Aufgrund der unterschiedlichen Zusammensetzung der Bevölkerung sowie der jeweiligen historischen Erfahrungen sollte die Anpassung an die russischen 129 Ebd., S. 159. 130 Journal des Komitees für die Westgouvernements, Eintrag vom 4.7.1833, in: RGIA f. 1266, op. 5, d. 135, l. 4–12ob. 131 Schreiben Alexander Golicyns an Dmitrij Bludov vom 20.7.1833, in: ebd., l. 1–3. 132 Namentlicher Ukas Nikolaus’ I. vom 1.1.1831, in: PSZ II, Bd. 6,1, Nr. 4.233, S. 1.

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Rechtsverhältnisse in den Gouvernements Wilna, Grodno und Minsk sowie im Bezirk Białystok nur schrittweise erfolgen. In den Gouvernements, in denen die Orthodoxie stärker in der Bevölkerung verankert sei, könne hingegen schneller vorgegangen werden.133 Tatsächlich erfolgte die rechtliche Vereinheitlichung in den Westgouvernements langsam und schrittweise. In Kiew löste im Jahr 1835 das russische Munizipalrecht das Magdeburger Recht ab und in den anderen Westgouvernements verlor das Litauische Statut erst fünf Jahre später seine Gültigkeit. Am 25. Juni 1840 setzte Nikolaus I. die russischen Gesetze in den Gouvernements Kiew, Podolien, Wolhynien, Minsk, Wilna, Grodno und im Kreis Białystok vorbehaltlos in Kraft. Sämtliche noch bis dahin bestehenden Institutionen, die aus der Adelsrepublik übernommen worden waren, löste er damit auf. In allen Einrichtungen war fortan Russisch alleinige Amtssprache, und nur den Adelsdeputiertenversammlungen sowie den Adelsmarschällen war es noch erlaubt, ihre Akten auf Polnisch zu führen.134 Beinhaltete die zarische Politik vor dem Novemberaufstand eine latente Spannung zwischen pragmatischer und normativer Integrationspolitik, so hatte sich in den Jahren nach dem Novemberaufstand die normative Integrationspolitik durchgesetzt. Eine Partizipation des polnischen Adels in lokalpolitischen Angelegenheiten war inzwischen unerwünscht, ja galt sogar als potentiell gefährlich. Stattdessen verfestigte sich in der politischen Elite des Zarenreichs die Auffassung, nur eine möglichst umfassende Geltung russischer Normen würde die Westgouvernements zu einem unverbrüchlichen Bestandteil des Imperiums machen. Aus diesem Grunde erklärte die zarische Regierung das Russische zur alleinigen Verwaltungssprache. Der Staatsgewalt fehlten jedoch noch die Möglichkeiten, einer derart weit in den Alltag eingreifenden Regelung Geltung zu verschaffen. So war man von der Einführung des Russischen als Verhandlungssprache vor Gericht noch weit entfernt. Nach wie vor verhandelten die Kreisgerichte auf Polnisch und entschieden trotz der Abschaffung des Litauischen Statuts zunächst weiterhin nach polnischem Recht.135 Die normative Integrationspolitik war in der zarischen Regierung allerdings auch nach dem Novemberaufstand nicht unumstritten. Die „Zweite Abteilung Seiner Majestät höchsteigener Kanzlei“ hatte 1830 Ignacy Danilowicz, einen Spezialisten für litauisches Recht, der einst an der Universität Wilna gelehrt hatte, damit beauftragt, die in den Westgouvernements gebräuchlichen Gesetze zu sys133 Vgl. Lepeš: Komitet zapadnych gubernij, S. 33. 134 Namentlicher Ukas Nikolaus’ I. vom 26.6.1840, in: PSZ II, Bd. 15,1, Nr. 13.591, S. 443–445. 135 Vgl. den Bericht des Generalgouverneurs von Kiew, Podolien und Wolhynien an Nikolaus I. über den Zustand der Gouvernements Kiew, Podolien und Wolhynien im Jahr 1839, vom 22.3.1840, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 2788, l. 1–107, hier 4 und 66–66ob.



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tematisieren und zu kodifizieren. Als er seine Arbeit zehn Jahre später zur Veröffentlichung vorbereitete, entbrannte darüber eine Diskussion im Komitee für die Westgouvernements. Dmitrij Bibikov, Generalgouverneur von Kiew, trat dabei vehement gegen das litauische Recht ein. Er argumentierte, dass nur ein einheitliches Recht und Gerichtswesen die Einwohner Russlands vereinen könnten. Sondergesetze würden hingegen den separatistischen Geist in der polnischen Bevölkerung aufrechterhalten und ein polnisches Rechtssystem bewahren, das der Mehrheit der orthodoxen Einwohner fremd sei. Dem widersprach Dmitrij Bludov, der für die Angelegenheiten nicht-orthodoxer Glaubensbekennisse zuständig war. Er könne in dem von Danilowicz ausgearbeiteten Code keine Gefahr für das Imperium erkennen. Chaos und Verwirrung entstünden vielmehr dann, wenn man nicht die gebührende Rücksicht gegenüber etablierten Rechtspraktiken und Gebräuchen übe.136 Hier trafen also noch einmal die unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen einer pragmatischen und einer normativen Integrationspolitik aufeinander. Während die Pragmatiker auf das permanente Aushandeln eines komplexen und wandelbaren Gemeinwesens setzten, wollte die andere Seite eine stabile und endgültige Gesellschaftsform durch Vereinheitlichung schaffen. Nikolaus I. ließ sich von den Argumenten Bibikovs überzeugen und hob am 25. Juni 1840 die Gültigkeit des Litauischen Statuts auf. Mit dieser Entscheidung hatte sich das Konzept einer normativen Integration durchgesetzt. Die Implementierung der eigenen Normen wurde nun zum Wesen zarischer Integrationspolitik. Benckendorff sah darin nicht zuletzt ein politisches Signal an die Szlachta, denn es gelte „den Polen zu beweisen, dass diese unsere alten Eroberungen für immer und unteilbar in den Bestand des Reiches eingegliedert wurden und sie sie nur durch die Zerstörung unserer Macht wieder von uns losreißen können.“137 Für Benckendorff trat die zarische Regierung also mit einer erfolgreichen Normdurchsetzung den Beweis der Legitimität der Teilungen an und zementiere diese für die Zukunft. In dieser Auffassung war die Integration der polnischen Provinzen zu einer vitalen Frage des territorialen Besitzstandes des Zarenreiches geworden. Die Einführung russischer Gerichte und Gesetze verringerte die Abhängigkeit der zarischen Staatsgewalt von einheimischen Beamten. Damit bestand nun die Möglichkeit, den Staatsausbau stärker als bisher durch den Einsatz russischer Staatsdiener voranzutreiben. Die staatlichen Repräsentanten vor Ort unterstützten diesen Kurs. Der Gouverneur von Mogilëv, Georgij Bažanov, hielt die Wählbarkeit der Landschaftsordner nur dann für sinnvoll, wenn auch ehrliche und dienst136 Vgl. A. Ė. Nol’de: Očerki po istorii kodifikacii mestnych graždanskich zakonov pri Grafe Speranskom, Bd. 1: Popytka kodifikacii litovsko-pol’skago prava, St. Petersburg 1906, S. 86–104 und 244–250. 137 [Benckendorff]: Iz zapisok grafa Benkendorfa, S. 84.

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eifrige Personen gewählt würden. Eine solche Amtsführung sei bei orthodoxen Russen grundsätzlich zu erwarten, doch sei in Mogilëv der Adel nun einmal katholisch und von 76 gewählten Amtsträgern seien nur drei rechtgläubig. Katholische Beamten verfolgten allerdings einseitig die Interessen der katholischen Kirche und ließen die Belange der orthodoxen Gemeinden vollständig unberücksichtigt.138 Ein noch düstereres Bild zeichnete der Gouverneur von Grodno, Michail Murav’ëv. Die Gerichte befänden sich in einem lethargischen Zustand und überall treffe man auf polnische Beamte, die ihre Zeit mit Nichtstun verbrächten. In den Kanzleien herrsche große Unordnung, da sich keiner um die Bearbeitung der anstehenden Fälle kümmere. Manche Einrichtungen würden überhaupt nur auf dem Papier existieren. Nirgends sei die russische Ordnung tatsächlich eingeführt worden, die Akten würden weiterhin auf Polnisch geführt und die Beamten träten allem Russischen mit größter Verachtung gegenüber. Murav’ëv ließ keinen Zweifel daran, dass nur die energische Einführung einer russischen Ordnung diese Missstände beseitigen könnte.139 Einen solchen Schritt traute Murav’ëv allerdings nur russischen Beamten zu. Er und andere Gouverneure, wie zum Beispiel Grigorij Doppel’majer aus Wilna, forderten deshalb unverblümt den Austausch der polnischen Amtsträger. Diese seien illoyal und aus diesem Grunde allesamt durch russische Staatsdiener zu ersetzen.140 Dieser radikale Vorschlag war zwar realitätsfremd, doch wurden die Gouverneure immerhin dazu aufgefordert, alle offenen Stellen künftig mit Personen zu besetzen, die nicht aus den Westgouvernements stammten.141 Und der Landschaftsordner, der als einziger Wahlbeamter über Polizeigewalt verfügte, wurde in den Westgouvernements fortan nicht mehr durch den Adel gewählt, sondern vom Innenministerium bestimmt.142 Das Komitee für die Westgouvernements diskutierte schon bald nach seiner Einberufung die Frage, auf welche Weise man die Zahl der russischen Beamten erhöhen könnte. Schnell kam man darin überein, dass es dafür materieller Anreize bedürfe.143 Am Ende der Diskussionen stand eine Reihe von Gesetzen, die den russischen Beamten Fahrtgeld für Besuche in ihren jeweiligen Heimatkreisen 138 Schreiben des Gouverneurs von Mogilëv an den Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv, Smolensk und Minsk vom 21.8.1832, in: NIAB f. 1297, o. 1, d, 6587, l. 5–6. 139 Bericht des Gouverneurs von Grodno, o. D. [1832], in: RGIA f. 1341, op. 33, d. 881, l. 1–619, hier 107–113f. 140 M. N. Murav’ëv: Zapiska 1831 g. ob učreždenii priličnago graždanskago upravlenija v gubernijach ot Pol’ši vozvraščënnych i uničtoženii načal, naibolee služivšich k otčuždeniju onych ot Rossii, in: Četyre političeskija zapiski grafa Michaila Nikolaeviča Murav’ëva Vilenskago, in: Russkij archiv 1885, Nr. 6, S. 161–199, hier 175–181; Lepeš: Komitet zapadnych gubernij, S. 27. 141 Vgl. Thaden: Russia’s Western Borderlands, S. 124. 142 Ukas des Ministerkomitees vom 31.3.1831, in: PSZ II, Bd. 6,1, Nr. 4.466, S. 275–276. 143 Vgl. das Protokoll des Komitees für die Westgouvernements vom 21.2.1832, in: RGIA f. 1266, op. 1, d. 10, l. 54–54ob.



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gewährte sowie eine höhere Pension in Aussicht stellte.144 Diese Vorrechte waren für mittlere und niedere Beamte mit geringen Gehältern allerdings nicht ausreichend. Der Minister für Volksaufklärung, Sergej Uvarov, wies 1836 im Ministerkomitee darauf hin, dass die Erstattung von Reisekosten den Mangel an russischen Beamten in den Gouvernements Mogilëv und Vitebsk sogar noch verstärkt habe. Da sich die Höhe des Fahrtgeldes nach der Entfernung vom Heimatort bemesse, hätten zahlreiche Beamte ihre Stellung im Osten Weißrusslands verlassen und seien in weiter westlich liegende Gouvernements umgesiedelt. Der Gouverneur von Mogilëv habe daraufhin um eine Überweisung von 8.000 Rubel gebeten, um diesen Exodus durch Sonderzulagen stoppen zu können.145 Auch in den folgenden Jahren forderten die Gouverneure eine Ausweitung der Privilegien für russische Beamte, die ihren Dienst in der polnischen Provinz versahen. Im Dezember 1838 stand dieser Punkt erneut auf der Tagesordnung des Komitees für die Westgouvernements. Dort wies man allerdings derartige Ansprüche mit dem Hinweis zurück, dass bereits genügend Vergünstigungen gewährt worden seien und die finanzielle Unterstützung seitens der Regierung ausreichend sei.146 Auch drei Jahre später blieb das Komitee bei diesem Beschluss und lehnte abermalige Forderungen von Seiten der Gouvernementsverwaltungen ab.147 Da es der zarischen Regierung nicht gelang, russisches Personal in ausreichendem Maße für einen Dienst in den Westgouvernements zu gewinnen, blieb ihr als Alternative nur der Rückgriff auf einheimische Kräfte. Die neue Generation von Beamten polnischer Herkunft sollte allerdings die russische Sprache beherrschen und die russische Kultur verinnerlicht haben. Akkulturation galt damit als Vorbedingung für glaubhafte Loyalität. Damit blieb das Problem bestehen, genügend Personal für den Staatsdienst zu rekrutieren. Die zarische Regierung versuchte mit Anreizen den Dienst für den polnischen Adel attraktiver zu gestalten. Seit dem Oktoberukas von 1831 reichte ein Zertifikat der Adelsdeputiertenversammlung als Adelsnachweis rechtlich nicht mehr aus. Im Falle eines Eintritts in den Staatsdienst galt in den Westgouvernements jedoch eine deutlich konziliantere Regelung. Mit einem Erlass vom 3. Dezember 1831 weichte der Zar die harten Bestimmungen des Oktoberukasses wieder auf. Diejenigen Einwohner der Westgouvernements, die noch keinen bestätigten 144 Vgl. den Senatsukas vom 15.4.1832, in: PSZ II, Bd. 7, Nr. 5.293, S. 201–202; Senatsukas vom 28.6.1832, in: ebd., Nr. 5.473, S. 472; Kaiserlich bestätigtes Statut des Ministerkomitees vom 14.4.1842, in: ebd., Bd. 17,1, Nr. 15.507, S. 277. 145 Vgl. Lepeš: Komitet zapadnych gubernij, S. 59. 146 Vgl. das Protokoll des Komitees für die Westgouvernements vom 25.3.1838, in: RGIA f. 1266, op. 1, d. 22, l. 65. 147 Vgl. das Protokoll des Komitees für die Westgouvernements vom 31.5.1841, in: RGIA f. 1266, op. 1, d. 28, l. 143.

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Adelsnachweis vorgelegt hatten, konnten trotzdem in den Dienst aufgenommen werden, wenn sie stattdessen ein Zertifikat der Adelsdeputiertenversammlung vorwiesen, das ihre Adligkeit bestätigte. Anschließend sollten die örtlichen Behörden die Dokumente zur Überprüfung an das Heroldsamt weiterleiten, das innerhalb eines halben Jahres eine Entscheidung zu treffen habe. Doch selbst ein negatives Urteil des Heroldsamts zog keine Entlassung aus dem Staatsdienst nach sich. Der entsprechende Amtsträger war in diesem Fall unter die Kanzleibeamten der dritten Klasse einzureihen. Nach sechs Jahren Dienst erreichte er dann den ersten Offiziersrang, womit die Verleihung der persönlichen Adelswürde verbunden war.148 Diese Regelung bot den Adligen mit unvollständigen oder zweifelhaften Adelsnachweisen die Möglichkeit, über den Staatsdienst in absehbarer Zeit legal in den Adelsstand aufgenommen zu werden. Trotz dieses Werbens um polnische Amtsträger blieb die staatliche Verwaltung in den Westgouvernements unterbesetzt. In der Mitte des 19. Jahrhunderts waren noch immer 20 bis 40 Prozent der Stellen in der Gouvernements- und Kreisverwaltung vakant.149 Der Personalbestand der Westgouvernements war dabei noch vergleichsweise klein. Die vier weißrussischen Gouvernements Mogilëv, Vitebsk, Minsk und Grodno wurden von jeweils 1.500 Amtsträgern verwaltet.150 Im Gouvernement Mogilëv kamen damit auf einen Beamten 573 Einwohner.151 Im Gouvernement Minsk war das Verhältnis noch unbefriedigender. Dort entfielen auf 935.345 Einwohner 1.273 Beamte. Und eine regionale Metropole wie Kiew, die damals 50.137 Einwohner hatte, wurde mit lediglich 159 Rangbeamten verwaltet.152 In einer weniger bedeutenden Gouvernementsstadt wie Kamenec-Podol’sk bestand die Polizei aus insgesamt 20 Beamten.153 Den wesentlichen Grund für diese anhaltende personelle Unterbesetzung der Verwaltung sah die zarische Regierung in der angeblich fehlenden Bereitschaft des lokalen Adels zum Staatsdienst. Schon 1829 war Nikolaus I. bei einem Aufenthalt in Podolien „eine gewisse Abneigung“ des katholischen Adels gegen den russischen Dienst aufgefallen.154 1848 ließ der Zar eine Liste mit denjenigen Adligen zwischen 16 und 30 Jahren anfertigen, die in Kiew, Wolhynien und Podolien nicht im Dienst standen, und verlangte vom Ministerkomitee Vorschläge, wie 148 Namentlicher Ukas Nikolaus’ I. vom 3.12.1831, in: PSZ II, Bd. 6,2, Nr. 4.982, S. 241. 149 Vgl. Kiselëv: Sistema gosudarstvennych učreždenij, S. 63. 150 Vgl. S. M. Tokc’: Asabovy sklad dzjaržaŭnaga aparatu Rasijskaj Imperyi ŭ Belarusi (30–60-ja hady XIX ct.), in: Vesci Nacyjanal’naj Akademii Navuk Belarusi. Serija gumanitarnych navuk 1996, Nr. 2, S. 70–76, hier 74. 151 Vgl. Kiselëv: Sistema gosudarstvennych učreždenij, S. 23. 152 Vgl. Torke: Russisches Beamtentum, S. 133f. 153 Vgl. Zustandsbericht des Gouverneurs von Podolien für das Jahr 1837, o. D., in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 2256, l. 75–138, hier 95. 154 Namentlicher Ukas Nikolaus’ I. vom 13.8.1829, in: PSZ II, Bd. 4, Nr. 3092, S. 598.



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man gegen diese „verbrecherische Richtung“ vorgehen könne. Dmitrij Bibikov sprach sich als Generalgouverneur gegen eine Dienstpflicht aus, da diese gegen die Gandenurkunde verstoße und jegliche Sondergesetze der gewünschten Angleichung des polnischen an den russischen Adel entgegenwirkten. Als probates Mittel schlug Bibikov hingegen eine Mehl- und Hafersteuer vor, die all jene Adligen zu entrichten hätten, die nicht in den russischen Dienst eintraten. Dagegen erhob der Justizminister den Einwand, dass eine derartige Maßnahme gegen die Steuerfreiheit des Adels verstoße. Da sich das Ministerkomitee auf keine einheitliche Position verständigen konnte, stellte Nikolaus I. die Frage zunächst einmal zurück.155 Vier Jahre später erließ der Zar jedoch ohne weitere Anhörung des Ministerkomitees eine Reihe von Gesetzen, mit denen er die Söhne polnischer Adliger, die mehr als 100  Leibeigene hatten, dazu verpflichtete, nach Vollendung ihres 18. Lebensjahres in den Staatsdienst einzutreten. Die Dienstzeit umfasste fünf Jahre. Ausgenommen von dieser Dienstpflicht waren nur schwächliche und kranke Adlige sowie Einzelkinder, die sich um den Gutshof der Eltern kümmern mussten. Die Generalgouverneure wurden angewiesen, jeweils zum 1. Januar und zum 1. Juli eines jeden Jahres die adlige Jugend auf deren Dienstfähigkeit hin zu mustern. Damit hatte Nikolaus I. die 1762 abgeschaffte Dienstpflicht für die Szlachta in den Westgouvernements wieder eingeführt. Er begründete diesen Schritt damit, dass der größte Teil der jungen polnischen Adligen sich dem Dienst entzöge und dem Müßiggang fröne.156 Das Bestreben Nikolaus’, den polnischen Adel verstärkt zum Staatsdienst heranzuziehen und ihn schließlich zum Dienst zu verpflichten, stand in deutlichem Widerspruch zu seinem mangelnden Vertrauen in die Loyalität der Szlachta. Es galt also, nicht nur polnische Adlige für den Staatsdienst zu gewinnen, sondern diese zugleich in treue Untertanen des Zaren zu verwandeln. Die zarische Regierung schrieb deshalb bereits im Jahr 1831 vor, dass Beamte aus den Westgouvernements ihre Laufbahn zunächst in einem anderen Gouvernement beginnen und dort fünf Jahre Dienst leisten mussten. Seit 1835 wurde diese Politik auch auf den Wahldienst angewandt, indem ein zehnjähriger Militär- oder Zivildienst zur Voraussetzung für das passive Wahlrecht in den Adelsversammlungen erhoben wurde.157 Und die 1852 schließlich eingeführte 155 Vgl. Seredonin: Istoričeskij obzor dejatel’nosti komiteta ministrov, Bd. 2,1, S. 240f. 156 Namentlicher Ukas Nikolaus’ I. vom 21.4.1852, in: PSZ II, Bd. 27,1, Nr. 26.190, S. 285–286; Kaiserlich bestätigtes Statut über den Adel in den Westgouvernements vom 5.6.1852, in: ebd., S. 388–392; Kaiserlich bestätigtes Statut des Ministerkomitees vom 10.6.1852, in: ebd., S. 400– 404. 157 Vgl. Thaden: Russia’s Western Borderlands, S. 124; Kiselëv: Sistema gosudarstvennych učreždenij, S. 33.

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Dienstpflicht für den polnischen Adel schrieb explizit den Dienst in einem zentralrussischen Gouvernement vor. Der mehrjährige Dienst in einem russischen Umfeld stellte jedoch nicht nur einen Loyalitätsbeweis dar. Ziel war es, junge polnische Adlige zu treuen Untertanen des Zaren „umzuerziehen“.158 Der Generalgouverneur von Wilna, Fëdor Mirkovič, sprach dieses Motiv deutlich aus: Nach dem Dienst in Russland würden die Zöglinge „als zu Russen gewordene Personen“ (ljud’mi obruselymi) in ihre Heimat zurückkehren und dort „der Jugend nicht von den stürmischen Landtagen aus alter Zeit, sondern schon von der Heiligen Rus’ und ihrer Macht erzählen“.159 Ein Dienst in Zentralrussland sollte also mehr bezwecken als das Erlernen der russischen Sprache und der russischen Verwaltungsabläufe. Mirkovič sah in einer Akkulturation der Szlachta sogar das eigentliche Ziel eines Dienstes fernab der polnischen Provinzen. Allerdings herrschte in der Elite des Zarenreichs kein Einvernehmen darüber, inwieweit eine solche Maßnahme auch zielführend sei. Manche lehnten einen solchen Pflichtdienst in Zentralrussland ab, da dieser nur den Hass des polnischen Adels auf die zarische Regierung verstärken würde.160 Die Praxis gab jedoch weder der einen, noch der anderen Seite Recht. Die polnischen Adligen verstanden es vielmehr, sich dieser Anordnung zu entziehen. Am 10. März 1837 teilte Nikolaus I. dem Ministerkomitee mit, er habe erfahren, dass die jungen Adligen der Westgouvernements sich hauptsächlich in Odessa, Neurussland und Bessarabien anstellen ließen. Die Szlachta zog also einen Dienst in den südlich benachbarten Gouvernements den zentralrussischen Provinzen vor. Damit taten sie dem Gesetz genüge, lebten aber statt in einer russischen in einer polyethnischen Umgebung nicht fern der Heimat. Nikolaus I. befürchtete, dass eine derartige Konzentration von polnischen Adligen den gegenteiligen Effekt bewirken und revolutionäres Gedankengut noch attraktiver machen könnte. Er ordnete daher an, Polen in Zukunft nur noch in den großrussischen Gouvernements anzustellen, „damit sie sich mehr an die grundlegenden russischen Sitten und an die Sprache gewöhnen“.161 Wer in Odessa unterhalb des 9. Ranges diente, wurde sogar versetzt. Die Frage der Loyalität der polnischen Beamten beschäftigte Nikolaus bis zum Ende seiner Herrschaft. Noch auf dem Sterbebett befahl er, dass nichtorthodoxe Einwohner der Westgouvernements nur dann ein Amt übernehmen 158 So Dolbilov / Miller: Zapadnye okrainy, S. 105. 159 [Fëdor Ja. Mirkovič]: Imperator Nikolaj i korol’ Fridrich-Vil’gel’m IV v 1840 g. Iz zapisok Fëdora Jakovleviča Mirkoviča, in: Russkaja starina 1886, Nr. 8, S. 305–334, hier 311. Siehe dazu auch Gorizontov: Paradoksy imperskoj politiki, S. 43. 160 A. A. Planson: Poslednee slovo o pol’skom voprose v Rossii, Leipzig 1868, S. 31. 161 Sobstvennoručnyja zapiski Imperatora Nikolaja I-go k stats-sekretarju A. S. Tanevu (10.3.1831), in: Sbornik istoričeskich materialov, izvlëčennych iz archiva sobstvennoj Ego Imperatorskago Veličestva kanceljarii, 13 Bde., St. Petersburg 1876–1906, Bd. 10, S. 1–34, hier 22.



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dürften, wenn sie vorher mindestens zehn Jahre in großrussischen Gouvernements gedient hätten.162 Der Novemberaufstand hatte nicht nur die Loyalität der polnischen Amtsträger in den Westgouvernements in Frage gestellt. Nikolaus I. sorgte sich seitdem auch um die Zuverlässigkeit der Beamten, die in St. Petersburg bei der Regierung ihren Dienst versahen. Während des Aufstandes war es Adligen aus den Westgouvernements verboten, nach St. Petersburg zu kommen und dort eine Stelle anzutreten.163 Am 11. Juni 1831 gab der Zar die Anweisung, in allen Ministerien nachzuforschen, „wie viele Beamte ausländischer Konfessionen, und auch welcher“ dort dienten.164 Zwei Wochen später traf Nikolaus I. zudem die Anordnung, „durch ein geheimes Zirkular allen Ressorts in Petersburg vorzuschreiben, ohne MEINE Erlaubnis keine Einheimischen der Gouvernements Wilna, Grodno, Minsk, Białystok, Wolhynien und Podolien anzustellen“.165 Und als das Ministerkomitee beschloss, über alle aus den Westgouvernements stammenden Personen vor ihrem Amtsantritt in der hauptstädtischen Verwaltung Erkundigungen einzuholen, da notierte der Zar an den Rand des Sitzungsprotokolls: „Überaus gerechtfertigt.“166 Die Forschung hat all diese Maßnahmen Nikolaus’ häufig als Beginn einer Russifizierungspolitik gedeutet.167 Der Begriff „Russifizierung“ ist allerdings schillernd. Er kann sowohl Akkulturation wie Assimilation bedeuten und wird mitunter schon für das Streben des aufgeklärten Absolutismus nach einer Vereinheitlichung der Verwaltung verwendet.168 Die zarische Regierung forderte von der 162 Vgl. Seredonin: Istoričeskij obzor dejatel’nosti komiteta ministrov, Bd. 3,1, S. 160. 163 Vgl. ebd., Bd. 2,1, S. 75. 164 Sobstvennoručnyja zapiski Imperatora Nikolaja I-go k stats-sekretarju A. S. Tanevu (11.6.1831), in: Sbornik istoričeskich materialov, izvlëčennych iz archiva sobstvennoj Ego Imperatorskago Veličestva kanceljarii, Bd. 8,1, S. 1–36, hier 2. Die Nachforschungen Benckendorffs ergaben schließlich, dass insgesamt 1.080 Polen, die aus den Westgouvernements stammten, bei Regierungsstellen in der Hauptstadt des Zarenreiches dienten, vgl. die Rückmeldungen auf die Anfrage Benckendorff an alle Ministerien und staatlichen Stellen in St. Petersburg, wie viele Polen aus den Westgouvernements dort ihren Dienst taten, in: GARF f. 109, op. 6, d. 503, l. 1–194. 165 Sobstvennoručnyja zapiski Imperatora Nikolaja I-go k stats-sekretarju A. S. Tanevu (25.7.1831), in: Sbornik istoričeskich materialov, izvlëčennych iz archiva sobstvennoj Ego Imperatorskago Veličestva kanceljarii, Bd. 8,1, S. 2. 166 Seredonin: Istoričeskij obzor dejatel’nosti komiteta ministrov, Bd. 2,1, S. 75. 167 Vgl. u. a. Hans Roos: Die polnische Nationalgesellschaft und die Staatsgewalt der Teilungsmächte in der europäischen Geschichte (1795–1863), in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 14 (1966), S. 388–399, hier 395; Thaden: Russia’s Western Borderlands, S. 124; Beauvois: The Noble, the Serf and the Revizor, S. 220f.; Gorizontov: Paradoksy imperskoj politiki, S. 40–44. 168 Bereits Edward C. Thaden machte auf die unterschiedlichen historischen Kontexte aufmerksam, in denen der Begriff „Russifizierung” gebraucht wird, vgl. Edward C. Thaden: Russification in Tsarist Russia, in: ders.: Interpreting History. Collective Essays on Russia’s Relations with Europe, New York 1990, S. 211–220. Zuletzt haben auf die Unschärfe des Begriffes und seine zahlreichen Bedeutungen hingewiesen: Theodore R. Weeks: Russification: Word and Practice

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Szlachta weder eine kulturelle Assimilation, noch strebte sie danach, die polnischen Traditionen in den Westgouvernements restlos zu tilgen. Das Zarenreich schloss polnische Adlige auch nicht grundsätzlich vom Staatsdienst aus. Allerdings forderte die Regierung nach dem Novemberaufstand einen neuen Loyalitätsbeweis. Katharina II. hatte sich nach den Teilungen noch mit der Leistung eines Treueides begnügt. Die Beteiligung polnischer Adliger an Napoleons Russlandfeldzug und der Novemberaufstand hatten jedoch die Wahrnehmung weiter Teile der politischen Elite des Zarenreiches verändert. Man verlangte nun vom polnischen Adel als neuen Loyalitätsbeweis, die rechtliche und institutionelle Vereinheitlichung der Westgouvernements mitzutragen sowie die Werte und Normen des Zarenreiches zu verinnerlichen. Der Begriff der „Akkulturation“ kennzeichnet diese Forderungen besser als der mehrdeutige und inflationär gebrauchte Terminus „Russifizierung“. Akkulturation beschreibt einen Prozess, im Zuge dessen sich eine Kultur durch den Kontakt mit einer anderen Gemeinschaft verändert. Es wird also nicht davon ausgegangen, dass die bestehenden Traditionen und Überzeugungen vollständig abgelöst werden. Vielmehr beinhaltet das Konzept die Vorstellung eines vielschichtigen Wandels, im Zuge dessen sowohl Altes durch Neues ersetzt wird, manche Bestandteile beider Kulturen durch den Kontakt verschmelzen und in etwas Neuem aufgehen, und wieder andere Elemente unverändert nebeneinander bestehen bleiben.169 Die Ziele der zarischen Regierung gingen über diesen Anspruch nicht hinaus. Die polnischen Adligen sollten durch einen mehrjährigen Dienst in einer russischen Umwelt die Werte und Normen des Zarenreiches zwar verinnerlichen, mussten ihre politische und kulturelle Identität jedoch nicht vollständig abstreifen. Akkulturation wurde allerdings zur Bedingung für Loyalität: Die Szlachta galt nun pauschal als unzuverlässig und verräterisch, und ein polnischer Adliger hatte seine Loyalität erst durch Akkulturationsleistungen zu beweisen. Allerdings – und hier besteht ein zentraler Widerspruch der zarischen Politik – gab es keinerlei Garantie, dass eine Internalisierung der Normen und Werte des Zarenreiches 1863–1914, in: Proceedings of the American Philosophical Society 148 (2004), S. 471–489; Ricarda Vulpius: Nationalisierung der Religion. Russifizierungspolitik und ukrainische Nationsbildung 1860–1920, Wiesbaden 2005, S. 26–30; Alexey Miller: „Russifications“? In Search for Adequate Analytical Categories, in: Guido Hausmann / Angela Rustemeyer (Hg.), Imperienvergleich. Beispiele und Ansätze aus osteuropäischer Perspektive, Wiesbaden 2009, S. 123–143. 169 Zur klassischen Definition von Akkulturation vgl. Redfield / Linton / Herskovits: Memorandum for the Study of Acculturation, S. 149–152. Zur Leistungsstärke des Begriffs in der Geschichtswissenschaft vgl. Ulrich Gotter: “Akkulturation” als Methodenproblem der historischen Wissenschaften, in: Wolfgang Eßbach (Hg.), wir / ihr / sie. Identität und Alterität in Theorie und Methode, Würzburg 2000, S. 373–406. Zum Zusammenhang von Integration und Akkulturation siehe Marita Krauss: Integration und Akkulturation. Eine methodische Annäherung an ein vielschichtiges Problem, in: Mathias Beer / Martin Kintzinger / dies. (Hg.): Migration und Integration, Aufnahme und Eingliederung im historischen Wandel, Stuttgart 1997, S. 11–25.



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zu einer Gleichbehandlung mit den russischen Beamten führte. Denn gleichzeitig brachte man allen polnischen Amtsträgern in St. Petersburg ein pauschales Misstrauen entgegen. Diese pauschale Voreingenommenheit zeugt von einer Ungleichbehandlung, die sich mittel- und langfristig als ein signifikanter Desintegrationsfaktor erweisen sollte. Der jahrelange Dienst in den Ministerien und staatlichen Institutionen der russischen Hauptstadt hätte als hinreichender Loyalitätsbeweis gelten können. Stattdessen fürchtete die Regierung offenbar, die polnischen Beamten hätten sich bereits so weit assimiliert, dass sie überhaupt nicht mehr zu erkennen seien. Aus diesem Grund ordnete Nikolaus I. deren Zählung und namentliche Auflistung an. Das Misstrauen gegenüber „den Polen“ war in seiner Wahrnehmung bereits derart konstitutiv, dass hier der Beginn einer nationalistischen Denkart lag, die sich nach dem Januaraufstand von 1863 auch in der Öffentlichkeit des Zarenreiches durchsetzte.170 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Novemberaufstand von 1830 eine Wende in der Politik des Staatsausbaus zur Folge hatte. Oberste Priorität hatte nun die Stärkung der Staatsgewalt und die weitgehende Vereinheitlichung der Verwaltungsstrukturen. Die politische Partizipation des Adels in der lokalen Administration und die Wahrung eines eigenen Rechts- und Gerichtswesens galten hingegen als Hindernis für eine Integration des polnischen Adels. Eine normative Integrationspolitik löste nun endgültig die pragmatische ab. Hatten die Pragmatiker der imperialen Elite noch eine Ordnungsvorstellung verfochten, die prekär war und in der Praxis ständig aufs Neue hergestellt werden musste, verfolgte die normative Integrationspolitik das Ziel, in den Westgouvernements eine neue und endgültige Ordnung zu errichten. Diese normative Politik engte allerdings auch die Handlungsspielräume ein, welche das pragmatische Austarieren unterschiedlicher Ordnungsvorstellungen noch gewährt hatte. Eine Folge dieser politischen Neuausrichtung war ein „Verlust an imperialer Routine“.171 Die traditionelle Elitenkooptation galt nicht mehr als pragmatischer Weg zum Staatsausbau in einer an personellen Ressourcen schwachen Region, sondern als latent gefährliche Rekrutierung zweifelhafter Personen für den Staatsdienst. Die Weigerung der Polen, sich dieser neuen Ordnung einfach zu unterwerfen, interpretierten die zarischen Eliten als Undankbarkeit oder sogar als Verrat. Sie reagierten darauf mit immer radikaleren Maßnahmen, welche die polnische Integrationsbereitschaft weiter schwinden ließ. Auf beiden Seiten nahmen Enttäuschung und Frustration zu. Auch wenn der 170 Vgl. Renner: Russischer Nationalismus, S. 206–248. 171 Diese Deutung entwickelte Maurus Reinkowski am Beispiel der Reformperiode der Tanzimat (1839–1876) im Osmanischen Reich, vgl. Maurus Reinkowski: The Imperial Idea and ‚Realpolitik’. Reform Policy and Nationalism in the Ottoman Empire, in: Jörn Leonhard / Ulrike von Hirschhausen (Hg.): Comparing Empires. Encounters and Transfers in the Long Nineteenth Century, Göttingen 2011, S. 453–471.

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Staatsausbau weiter voranschritt, so stand der Verlust an imperialer Routine einer nachhaltigen Integration der polnischen Provinzen in das Zarenreich entgegen.

2. Der russische Staat in der polnischen Provinz: Die Gouverneure als Akteure in einem fremden U mfeld 2.1. Die Repräsentation der Staatsgewalt und die Gewährleistung von „Ruhe und Ordnung“: Architektur und Infrastruktur als Symbole aufgeklärter Herrschaft An der Spitze der regionalen Verwaltung im Zarenreich standen die Gouverneure. Peter I. hatte dieses Amt im Jahr 1708 geschaffen, als er das Territorium des Russischen Reiches in acht Gouvernements unterteilte. Die Gouverneure waren die Vertreter des Zaren vor Ort und hatten in erster Linie für die Eintreibung der Steuern und die Aushebung von Rekruten zu sorgen.172 Katharina II. verstand den Gouverneur als „Haupt und Hausherr“ (glava i chozjain) des ihm anvertrauten Gouvernements. Mit dieser Charakterisierung hob sie dessen weitgehend selbständige Stellung als Vertreter der zarischen Herrschaft in der Provinz hervor: Er war nur der Zarin sowie dem Senat verantwortlich und hatte zugleich unmittelbaren Zugang zur Kaiserin.173 Die Gouverneure verinnerlichten das Selbstverständnis ihres Amtes schnell und griffen in ihrer Korrespondenz regelmäßig auf den Begriff „Hausherr“ zur Umschreibung ihrer Stellung zurück.174 Die wichtigste Aufgabe der Repräsentanten vor Ort war es, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Bis zu den „Großen Reformen“ Alexanders II. waren dies die zentralen Kategorien, an denen sich die Gouverneure messen lassen mussten.175 Der Mangel an Ordnung war eine geläufige Begründung für die Amtsenthebung von Gouverneuren. So musste zum Beispiel der Kiewer Gouverneur Kovalëv seinen Posten räumen, weil es ihm in den Augen des Militärgouverneurs an Härte 172 Vgl. Ivan A. Blinov: Gubernatory. Istoriko-juridičeskij očerk, St. Petersburg 1905, S. 56–59. 173 Katharinas II. Instruktion für die Gouverneure vom 21.4.1764, in: PSZ I, Bd. 16, Nr. 12.137, S. 716–720, Zitat S. 717. 174 Der Generalgouverneur von Weißrussland bezeichnete den Gouverneur von Pskov als „Hausherrn“, vgl. Brief Černyšëvs an Krečetnikov vom 16.5.1773, in: Pis’ma k generalu i kavaleru Michailu Nikitiču Krečetnikovu, S. 19–21, hier 20. Der Gouverneur von Minsk, Nepljuev, sah sich selbst als „Hausherr“ seines Gouvernements, vgl. Resolution Nepljuevs über das Landgericht von Rečickij vom 11.5.1793, in: Sbornik dokumentov kasajuščichsja administrativnago ustrojstva, S. 149–150, hier 150. 175 Vgl. Schattenberg: Korrupte Provinz, S. 143–174; dies.: Weder Despot noch Bürokrat. Der russische Gouverneur in der Vorreformzeit, in: Jörg Baberowski / David Feest / Christoph Gumb (Hg.): Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt a. M., New York 2008, S. 81–101, hier 83–87.



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und Durchsetzungsfähigkeit fehlte. Er sei zwar ein gutherziger und ehrenvoller Mensch, doch gerade seine positiven Charakterzüge, nicht zuletzt seine Selbstlosigkeit, brächten eine Führungsschwäche mit sich, aufgrund derer sich das Gouvernement letztlich in Unordnung befinde.176 In der Praxis hieß dieser hohe Anspruch, dass sich die Gouverneure um alles kümmern mussten. Sie übten die Aufsicht über die Verwaltung, auch die Adelsverwaltung, sowie die Zivilgerichte aus und beteiligten sich am Polizei-, Finanz- und Strafgerichtswesen. Die Konzeption des altrussischen Woiwoden war in diesem Amt noch immer lebendig.177 Die Gouvernementsreform von 1775 stärkte zwar die unterbesetzte Gouvernementsregierung, indem das Amt eines Vizegouverneurs eingerichtet und dem Gouverneur zudem zwei Räte an die Seite gestellt wurden.178 Das Urteil des Grafen Zubov, den Gouverneuren stünden nun ausreichend Mittel zur Verfügung, um jegliche Form von „Unordnung“ vor Ort zu unterbinden, erscheint jedoch allzu optimistisch.179 Nach wie vor war die Gouvernementsverwaltung personell unterbesetzt und im Verwaltungsalltag bewegte sich deren Tätigkeit zwischen Machtüberschreitung und Herrschaftsunterlassung.180 Katharina II. schuf 1775 außerdem das Amt des Generalgouverneurs. Mit dieser neuen Instanz zog sie eine administrative Ebene zwischen dem Zaren und den Gouverneuren ein. Ein Generalgouverneur war für drei bis fünf Gouvernements zuständig und fungierte als Vermittler zwischen Zentrum und Peripherie. Die Gouverneure sollten sich nicht länger direkt an den Monarchen wenden, sondern stattdessen mit dem jeweiligen Generalgouverneur korrespondieren. Dieser sollte auftretende Probleme so weit wie möglich selbst lösen und nur bei schwierigen Entscheidungen Rücksprache mit dem Zaren oder dem Senat nehmen. Damit büßten die Gouverneure ihr Recht auf direkten Zugang zum Zaren ein. Dieses Privileg ging an die Generalgouverneure über, ehe sie 1802 dem Innenminister unterstellt und diesem rechenschaftspflichtig wurden.181 Generalgouverneure, die an der Peripherie des Reiches eingesetzt wurden, erhielten zusätzlich die Aufgabe, die vorhandene Infrastruktur mit dem Kerngebiet des Reiches zu verzahnen und weiter auszubauen. Dazu gehörten die Aus176 Vgl. Brief des Innenministers Vasilij Lanskoj an den Militärgouverneur von Kiew, Pëtr Želtuchin vom 14.12.1827, in: CDIAK f. 533, op. 2, d. 1179, l. 99–99ob.; Brief Želtuchins an Lanskoj vom 26.12.1827, in: ebd., l. 100–101. 177 Torke: Russisches Beamtentum, S. 179. 178 Vgl. Blinov: Gubernatory, S. 171–179. 179 Brief Platon Zubovs an Katharina  II. vom 14.7.1793, in: RGADA f. 16, op.  1, d.  758, č. 1, l. 37–40, hier 37ob. 180 Vgl. Blinov: Gubernatory, S. 249f. 181 Vgl. John P. LeDonne: Russian Governors General, 1775–1825. Territorial or functional administration, in: Cahiers du monde russe 42 (2001), S. 5–30, hier 11f.

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besserung alter und der Bau neuer Straßen, die Errichtung von Brücken, die Etablierung eines Netzes von Poststationen und der Ausbau der Gouvernements- und Kreisstädte.182 In der Praxis konnte der Generalgouverneur, der in St. Petersburg und nicht in einem der Gouvernements residierte, schon allein aufgrund seiner häufigen Abwesenheit kaum in die alltägliche Politik vor Ort eingreifen. Sein Amt entwickelte sich in der Praxis deshalb zu einer Art Inspektor, der die Tätigkeit der Gouvernementsregierung kontrollierte.183 Paul I. schaffte im Zuge seiner Politik der Zentralisierung die Institution des Generalgouverneurs ab. Alexander I. hielt dies für einen Fehler und führte diese Zwischeninstanz wieder ein, allerdings nicht in allen Regionen, sondern vor allem an der Peripherie des Reiches: in den Westgouvernements, in Finnland, im Baltikum, in Bessarabien, im Kaukasus und in Sibirien.184 Susanne Schattenberg hat in ihrer Studie zur russischen Provinzverwaltung betont, dass die Zaren von ihren Gouverneuren nicht erwarteten, an abstrakten Staatsvorstellungen orientierte Rechtsnormen und Lebensstandards durchzusetzen. Er diente dem Zaren und hatte dessen Ansehen zu mehren sowie die Autokratie zu schützen. Folglich bestand seine Aufgabe nicht darin, eine moderne Verwaltung zu etablieren, sondern für Ruhe und Ordnung in der Provinz zu sorgen.185 Doch was genau war mit dieser Forderung gemeint? Worin bestand der konkrete Erfolg eines Gouverneurs, wenn er im 18. Jahrhundert in knappen Worten nach St. Petersburg berichtete, in seinem Gouvernement herrsche Ruhe und Ordnung? Für die zarische Regierung bedeutete „Ruhe und Ordnung“ in erster Linie die Akzeptanz des Ressourcentransfers (Steuern und Rekruten) von der lokalen Ebene an die zentrale Staatsgewalt. Allein diese primäre Aufgabe verweist darauf, dass es nicht um die Konservierung eines vorgefunden Zustandes ging, sondern um einen staatlichen Eingriff in bestehende Verhältnisse. Diese Intervention sollte also in Ruhe und Ordnung verlaufen. Auch im weiteren Sinne wurden Veränderungen nicht mit Unruhe gleichgesetzt. Im Gegenteil: Unmittelbar nach dem Herrschaftswechsel fand in den Teilungsgebieten eine rege Bautätigkeit statt. So entstanden zum Beispiel in den Gouvernements Mogilëv und Pskov (und ab 1776 in Polock) repräsentative Steinbauten, die als Sitz für die neuen Verwaltungseinrichtungen dienten, die Katharina II. mit der Gouvernementsreform geschaffen hatte. Im Jahr 1777 hatte man im Gouvernement Mogilëv bereits 24 Gebäude errichtet, darunter eine Gouvernements- und eine Provinzialkanzlei, aber auch Wohnhäuser für den 182 Vgl. Viktor V. Čerkesov (Hg.): Institut general-gubernatorstva i namestničestva v Rossijskoj imperii, Bd. 1, St. Petersburg 2001, S. 54–56. 183 Vgl. LeDonne: Russian Governors General, S. 21. 184 Vgl. Čerkesov (Hg.): Institut general-gubernatorstva, S. 65–93; LeDonne: Russian Governors General, S. 21–28. 185 Schattenberg: Korrupte Provinz, S. 141ff.



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Kammerdirektor, den Vizegouverneur und den Oberkriegskommissar. Im Gouvernement Polock wurden im selben Zeitraum 22 Häuser gebaut.186 Im Jahre 1784 gab es in diesen beiden weißrussischen Gouvernements bereits 270 staatliche Gebäude, darunter 59 aus Stein.187 Die Gouverneurssitze repräsentierten städtebaulich das Imperium in der Provinz. Sie wurden an zentralen Plätzen der Gouvernementsstädte errichtet, dominierten die umliegenden Gebäude und folgten dem klassizistischen Baustil jener Zeit. Sie demonstrierten einerseits den zarischen Herrschaftsanspruch und gaben andererseits der Staatsgewalt reichsweit ein einheitliches Gesicht. Gleichzeitig zählten die Neubauten häufig zu den ersten Steinhäusern in jenen neuen Verwaltungszentren, die häufig eher Marktflecken als Städten glichen. Sie verliehen dem Anspruch der zarischen Regierung, Fortschritt in die litauisch-weißrussische Provinz zu tragen, symbolischen Ausdruck. Besonders augenfällig tritt diese doppelte Funktion der Bautätigkeit in Gomel’ zu Tage. Dort ließ Graf Rumjancev anstelle eines hölzernen Schlosses, das einst Sitz der Fürsten Czartoryski war, mit finanzieller Unterstützung der Zarin in den Jahren 1777–1782 eine prächtige Villa errichten. Das Zarenreich beließ es aber nicht bei einer bloßen Aneignung des Raumes. Rumjancevs Villa war das erste Gebäude in Osteuropa, das im Stile von Palladios Villa Rotonda gebaut wurde.188 Die Aneignung des Raumes erfolgte also in einem fortschrittlichen und klassischen Gewand, was den Ewigkeitsanspruch der russischen Herrschaft in besonders augenfälliger Weise zu visualisieren vermochte. Die Gestaltung der Städte ist nur ein Bereich, in dem das Zarenreich die Infrastruktur der weißrussischen Gouvernements ausbaute. Unmittelbar nach der ersten Teilung drängte Katharina II. auf die Ausbesserung und den Neubau von Straßen, die Errichtung von Brücken, die Anlage von Kanälen sowie die Organisation eines funktionierenden Postwesens. Eine Reihe von zeitgenössischen Berichten lässt den Schluss zu, dass auf diesem Gebiet innerhalb weniger Jahre Enormes geleistet wurde. Gavriil Dobrynin, der 1777 als 25-Jähriger nach Weißrussland kam, um sich dort eine Anstellung als Beamter zu suchen, zeigte sich vom guten Zustand der Straßen, den fortschrittlichen Steinhäusern sowie den sauberen und gut funktionierenden Poststationen tief beeindruckt.189 Auch Lev Ėngel’gardt, dessen Vater als Vizegouverneur in Mogilëv diente, beschreibt in seinen Erinnerungen die weißrussischen Gouvernements acht Jahre nach der Teilung als vorbildlich: Breite, gerade verlaufende Birkenalleen verbanden die Kreise untereinander 186 Brief Zachar Černyšëvs an Katharina II. vom 10.10.1777, in: RGADA f. 16, op. 1, d. 763, l. 21– 24. 187 Brief Peter Passeks an Katharina II. vom 26.10.1784, in: RGADA f. 16, op. 1, d. 766, l. 3–5. 188 Vgl. V. F. Morozov: Gomel’ klassičeskij. Ėpocha, mecenaty, architektura, Minsk 1997, S. 51f. 189 Dobrynin: Žizn’, S. 155f.

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und die beiden Gouvernements sowohl mit der Hauptstadt des Reiches als auch mit den angrenzenden Regionen. Hügel waren abgetragen, Brücken über Flüsse gebaut und entlang der Straße auf beiden Seiten Kanäle angelegt worden, um das Reisen so angenehm wie möglich zu gestalten. Nicht zuletzt die Zarin zeigte sich bei ihrem Besuch des Gouvernements Mogilëv im Jahre 1780 mit dem wohlgeordneten Zustand ihrer neuen Herrschaftsgebiete sehr zufrieden. Ganz besonders lobte sie die Straßen: Sie seien wie Gärten.190 Dieser Vergleich war eine besondere Anerkennung, stand doch die Gartenarchitektur im aufgeklärten Absolutismus für die Kunstfertigkeit, wilde Natur in Parks und damit das Chaos zum Kosmos zu verwandeln.191 Der forcierte Ausbau der Infrastruktur hatte auf der einen Seite ganz pragmatische Gründe: Die Einrichtung eines leistungsfähigen Verkehrsnetzes trug zur Integration der Teilungsgebiete in das Imperium bei, da erst ein funktionierendes Kommunikationswesen, das einen dauerhaften Austausch von Informationen gewährleistet, Herrschaft jenseits des Machtzentrums ermöglicht.192 Auf der anderen Seite weist die äußere Gestaltung der Wege und Poststationen auf den performativen Gehalt dieser Maßnahmen hin. Symbolisches Handeln erschöpft sich gerade nicht in der Erreichung eines bestimmten Zweckes, sondern wirkt sinnstiftend.193 Das Zarenreich inszenierte sich in diesen Infrastrukturmaßnahmen nicht nur als neue, sondern als eine fortschrittliche Macht. Die Landschaft war eine vorrangige Projektionsfläche für das Planungs- und Ordnungsdenken der Aufklärung. Die kunstvoll geformten Parkanlagen bändigten die wildwüchsige Natur, schufen Ordnung und stellten Übersichtlichkeit her.194 Katharina II. folgte der 190 Ėngel’gardt, Zapiski, S. 26ff. Alexander Bezborodko, einer der maßgeblichen außenpolitischen Berater Katharinas II., notierte in seinem Reisebericht darüber hinaus die Zufriedenheit der staatlichen Inspektoren im Gefolge der Zarin, vgl. [Aleksandr A. Bezborodko]: Dnevnaja zapiska putešestvija Eja Imperatorskago Veličestva črez Pskov i Polock v Mogilëv, a ottuda obratno črez Smolensk i Novgorod, in: SIRIO 1 (1867), S. 384–420, hier 393–413. 191 Vgl. Klaus Gestwa: Der Blick auf Land und Leute. Eine historische Topographie russischer Landschaften im Zeitalter von Absolutismus, Aufklärung und Romantik, in: Historische Zeitschrift 279 (2004), S. 63–125, hier 68–74. Auch in Galizien fiel den Reisenden der hervorragende Zustand der Straßen auf. Die Habsburgermonarchie ging also ebenso den Ausbau der Infrastruktur zügig an und inszenierte sich auf diese Weise als fortschrittliche Macht, vgl. Ernő Deák: Galizien bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in statistisch-topographischer Sicht, in: Österreichische Osthefte 41 (1999), S. 445–479, hier 446–450. 192 Dieser Zusammenhang findet sich bereits in der Literatur des 18. Jahrhunderts, vgl. Wolfgang Behringer: Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2003, S. 296–301. 193 Vgl. Stollberg-Rilinger: Symbolische Kommunikation, S. 497. 194 Vgl. Klaus Gestwa: Primat der Umgestaltung und Pathos des Bewahrens. Literarische Landschafts- und Gesellschaftspanoramen im industriellen Wandel des zarischen Russlands und der frühen Sowjetunion, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003), S. 1068–1097, hier 1068–1080. Die von Katharina II. eroberte Krim sollte diesem Ordnungsprinzip unterworfen



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Policeywissenschaft in der Auffassung, dass die Beschaffenheit der Straßen und das Postwesen ein Gradmesser für den Zustand der Kultur eines Landes seien.195 Die Geometrisierung des Raumes durch den Straßenbau galt als Schöpfung von Ordnung und Übersicht.196 Die Zarin hatte schon in ihrem Plakat vom 16. August 1772 betont, dass ihre neuen Untertanen von der aufgeklärten Herrschaft profitieren würden. Sie gewährte der konfessionell gemischten Bevölkerung nicht nur Religionsfreiheit, sondern beschenkte sie „mit all den Rechten, Freiheiten und Privilegien“, welche die Einwohner des Russischen Imperiums bereits besaßen. Im Gegenzug erwartete die Kaiserin, dass sich die neuen Untertanen „durch aufrichtige Liebe zum neuen Vaterland und unerschütterliche Treue zur so großmütigen Herrscherin“ ihrer Gnade würdig erweisen würden.197 Das Plakat machte den Herrschaftswechsel bekannt und legitimierte ihn zugleich. Die Rechtmäßigkeit russischer Herrschaft wurde maßgeblich darauf zurückgeführt, dass mit Katharina II. eine Kaiserin das Land regierte, die der Bevölkerung nicht länger die Errungenschaften des Fortschrittes vorenthalte. Insofern waren die neue Architektur und der Ausbau der Infrastruktur nicht nur ein Mittel zur Konstituierung von Herrschaft, sondern eine Form der Repräsentation von legitimer Herrschaft.198 Eine Politik des Staatsausbaus, wie sie in Russland spätestens durch Katharina II. forciert wurde, erweiterte also die staatliche Zielsetzung bei der Verwaltung der Provinz. Die Amtsträger vor Ort sollten für eine reibungslose Steuereintreibung und Rekrutenaushebung sorgen, den staatlichen Normen und dem staatlichen Gewaltmonopol in der Fläche des Imperiums zur Geltung verhelfen sowie ein Programm des „gemäßigten Fortschritts“, etwa den Ausbau der Infrastruktur,

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werden, vgl. Andreas Schönle: Garden of the Empire. Catherine’s Appropriation of the Crimea, in: Slavic Review 60 (2001), S. 1–23. Auch das gesamte Hofleben wurde vom Prinzip der Ordnung beherrscht, vgl. Wortman: Scenarios of Power, S. 132. Katharina II. folgte auch in dieser Frage der Policeywissenschaft, die den Zustand der Straßen und des Postwesens als ein Gradmesser für den Zustand der Kultur eines Landes betrachtete, vgl. Behringer: Im Zeichen des Merkur, S. 293 und S. 297ff. Vgl. Gestwa: Blick auf Land und Leute, S. 75. Namentlicher Ukas Katharinas II. vom 16.8.1772, in: PSZ I, Bd. 19, Nr. 13.850, S. 553–559, hier 555. Die „Liebe“ des Volkes war ein rhetorisches Leitmotiv Katharinas II., das einerseits auf ihr aufgeklärtes Herrschaftsverständnis hinwies, andererseits auch ein Teil ihrer Legitimationsstrategie war, vgl. Wortman: Scenarios of Power, Bd. 1, S. 111–113. Auch Friedrich II. legitimierte die Annexion der polnischen Teilungsgebiete damit, dass die neuen Untertanen durch den Herrschaftswechsel in den Vorzug einer besseren Regierung und Verwaltung kämen, vgl. Boris Olschewski: Zwangsinklusion durch Herrschaftswechsel – Besitzergreifungspatent und Erbhuldigungseid im Kontext der Ersten Teilung Polens und Litauens, in: Helga Schnabel-Schüle / Andreas Gestrich (Hg.): Fremde Herrscher – fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa, Frankfurt a. M. u.a. 2006, S. 359–384, hier 371.

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durchsetzen.199 Die zarische Regierung reduzierte Fortschritt allerdings nicht auf technische Neuerungen, sondern verstand darunter auch einen Umbau von Staat und Gesellschaft. Die beiden Leitbegriffe „Ruhe“ und „Ordnung“, die Katharina II. aus der zeitgenössischen Policeywissenschaft entnommen hatte, drückten nicht nur den Wunsch nach reibungsloser Herrschaft aus, sondern waren ebenso Ausdruck für die Fortschrittlichkeit des Zarenreichs.200 Klassizistische Architektur, komfortable Alleen und ein funktionierendes Postwesen sollten nicht nur die Leistungsfähigkeit des Imperiums demonstrieren. Die ansehnlichen Gebäude selbst, die gepflegten Straßen und die ordentlichen Uniformen der Postbeamten verliehen dieser aufgeklärten Politik einen performativen Ausdruck, denn – so Černyšëv gegenüber Krečetnikov: „Schönheit zeigt Ordnung.“201 Somit war das Haus des Gouverneurs nicht nur Sitz des zarischen Statthalters. Es war Bestandteil einer symbolischen Kommunikation, die sowohl die Herrschaft des Gouverneurs vermittelte als auch die wohlgeordnete Verwaltung des Zarenreichs in der Provinz für alle Augen sichtbar manifestierte.202 Die Gouverneure inszenierten die zarische Herrschaft in den Westgouvernements darüber hinaus als ein freudiges und von allen Seiten begrüßtes Ereignis. Zachar Černyšëv zelebrierte seine Ankunft in Mogilëv am 14. Oktober 1774 mit einem rauschenden Fest. Die Mitglieder des Magistrates und die Kaufleute der Stadt kamen ihm entgegen und geleiteten ihn die letzten sieben Werst in die Stadt. Den Weg vom Stadttor bis zum Schloss säumten die Mitglieder der Zünfte und bildeten mit ihren Emblemen eine Ehrenwache für den neuen Generalgouverneur, der vor dem Schloss vom griechisch-katholischen Bischof begrüßt wurde. Den ganzen Tag donnerten Kanonen und die ganze Nacht währte ein Feuerwerk.203 Auch der zweite Besuch Černyšëvs im Jahre 1778 war von zahlreichen feierlichen Zeremonien begleitet. Dobrynin schildert in seinen Erinnerungen plastisch, wie der Generalgouverneur sein Erscheinen in der Gouvernementsregierung inszenierte: 199 Hier unterschied sich der Zielhorizont der zarischen Regierung kaum von den Vorstellungen anderer europäischer Staaten. Für Preußen siehe Wagner: Bauern, Junker und Beamte, S. 69f. 200 Vgl. Raeff: The Well-Ordered Police State, S. 222–229. 201 Brief Černyšëvs an Krečetnikov vom 8.10.1772, in: Pis’ma k generalu i kavaleru Michailu Nikitiču Krečetnikovu, S. 42–45, hier 43. 202 Zur konstruktivistischen Prämisse des Begriffes Performanz, dem zufolge soziale Realität von den Akteuren durch performative Akte stets aufs Neue geschaffen wird, vgl. z. B. Jürgen Martschukat / Steffen Patzold: Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Eine Einführung in Fragestellungen, Konzepte und Literatur, in: dies. (Hg.): Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln, Weimar, Wien 2003, S. 1–32, hier 10f. 203 Vgl. Aleksandr Trubnickij: Chronika belorusskago goroda Mogilëva, in: Čtenija v Imperatorskom obščestve istorii i drevnostej rossijskich pri Moskovskom universitete 3 (1887), S. 1–109 und 131–142, hier 83.



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„An schönen Sommertagen pflegte er zu Fuß zu erscheinen, ihm voran das Gefolge, das ihm als Generalfeldmarschall zukam, und begleitet von den Militärbeamten und dem vornehmsten Adel des Gouvernements, sowie von jungen Edelleuten, von denen einem Generalgouverneur je zwei aus jedem Kreise bei sich zu haben erlaubt war. In geringer Entfernung von der Freitreppe der Regierung erwartete ihn die Garde: von der Statthalterschaftsregierung, von den drei Gerichtshöfen, von dem Gewissensgericht, von dem Amt für öffentliche Fürsorge und von den beiden Departements des Oberlandesgerichts je ein Gardist. Sie waren in Bandelieren von karmesinroter Farbe sowie in Uniformen von blauer Farbe gekleidet und gingen, einen kupfernen Stab vor sich haltend, dem Gefolge des kaiserlichen Statthalters bis zum Portal der Statthalterschaftsregierung voran, wo der Graf in das Amtslokal eintrat, während die übrigen im Saal und in den anderen Räumen zurückblieben. Dieselbe Ehre mussten alle Gardisten, wenn der Generalgouverneur nicht anwesend war, auch dem Gouverneur bezeugen.“204

Ein prunkvolles Auftreten war Teil der Repräsentationspflichten eines jeden Gouverneurs. Gouverneure, denen eine möglichst glanzvolle Inszenierung ihrer eigenen Person gelang, machten sich mitunter über die Grenzen des eigenen Gouvernements hinaus bekannt und galten als leuchtende Vorbilder einer gelungenen Herrschaftsrepräsentation.205 Dazu gehörte auch, im Gouverneurspalast rauschende Feste zu geben und die Gouvernementsstadt auf diese Weise zum Zentrum des gesellschaftlichen Lebens in der Provinz zu machen.206 Der Adel wiederum erkannte die Rolle des Gouverneurs an, indem er ihm Geschenke darreichte. Der Kiewer Gouvernementsmarschall überreichte zum Beispiel dem Gouverneur Pankrat’ev im Namen des lokalen Adels eine goldene, mit Brillanten besetzte Tabatiere.207 Die Repräsentation der zarischen Herrschaft durch die Gouverneure ist das Spiegelbild des von Katharina II. vertretenen Anspruchs, die russische Staatsgewalt habe in den polnischen Provinzen als ordnungsstiftende Macht aufzutreten. Durch Feste und Huldigungsakte wurde die Freude und Zustimmung der neuen 204 Dobrynin: Žizn, S. 202f. 205 So machte zum Beispiel Michail Krečetnikov als Gouverneur von Pskov durch seine pompösen Auftritte von sich reden, vgl. Art. Krečetnikov, in: Dmitrij Bantyš-Kamenskij: Slovar’ dostopamjatnych ljudej russkoj zemli soderžaščij v sebe žizn’ i dejanija znamenitych polkovodcev, ministrov i mužej gosudarstvennych, velikich ierarchov pravoslavnoj cerkvi, otličnych literatorov i učënych, izvestnych po učastiju v sobytijach otečestvennoj istorii, hg. v. Aleksandr Širjaev, 5 Bde., Moskau 1836, Bd. 3, S. 111–114. 206 Zu Wilna vgl. A. Lomačevskij: Zapiski žandarma. Vospominanija s 1837-go po 1843-j god, in: Vestnik Evropy 1872 Nr. 3, S. 242–288, hier 254; zu Vitbesk siehe N. Ja. Nikiforovskij: Stranička iz nedavnej stariny goroda Vitebska. Vospominanija starožila, Minsk 1995, S. 20; zu Kiew vgl. Arkadij V. Kočubej: Zapiski. Semejnaja chronika 1790–1873, St. Petersburg 1890, S. 233ff. 207 Vgl. Seredonin: Istoričeskij obzor dejatel’nosti komiteta ministrov, Bd. 1, S. 271.

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Untertanen zu ihrem aufgeklärten Projekt inszeniert. Gleichzeitig dienten Feste im Gouverneurspalast dazu, den zarischen Repräsentanten in die lokale Gesellschaft zu integrieren. Diese Eingliederung geschah jedoch nicht auf egalitäre Weise, sondern hob den Gouverneur sichtbar aus der Masse der Untertanen hervor. Die symbolische Integration des Gouverneurs in die lokale Gesellschaft erfolgte also in einer autokratischen Form. Aufgrund der rechtlichen, sozialen und kulturellen Unterschiede gehörte der Gouverneur auf eine prekäre Weise zur lokalen Gesellschaft.208 Das Selbstverständnis der zarischen Staatsgewalt als aufgeklärte Herrschaft korrespondierte sehr eng mit dem Bild, das sich die russische Elite vom polnischen Staat gemacht hatte. Im russischen Polendiskurs der Teilungszeit wurde die Adelsrepublik als unmittelbarer Gegenentwurf zur aufgeklärten Herrschaft Katharinas II. bezeichnet. Die Zarin selbst sah in Polen einen Hort der Unordnung. Sie ging davon aus, dass ihre neuen Untertanen schon bald „ihre Loslösung von der Anarchie der polnischen Republik als einen ersten Schritt zu ihrem Glück“ ansehen würden.209 Auch die zweite Teilung Polens von 1793 rechtfertigte sie mit der Begründung, dass Unordnung und Zwietracht die Adelsrepublik letztlich zerrissen hätten.210 Das von der Zarin gezeichnete Bild gehörte zum Kern der Legitimation der Teilungen Polens. Es bestand jedoch nicht nur aus vorgeschobenen Argumenten zur Rechtfertigung einer machtpolitisch motivierten Expansion des Russischen Reiches. Die Wahrnehmung der polnischen Adelsrepublik entsprang vielmehr der Mitte des aufgeklärten Selbstverständnisses der Zarin. Deshalb beließ es Katharina II. nicht bei öffentlichen Rechtfertigungen der Teilungen, sondern verstand die Annexion der polnischen Ostgebiete als eine Verpflichtung zum Ausbau der Staatsgewalt. So prägten die Vorstellungen, die man sich in St. Petersburg vom politischen Leben der Adelsrepublik machte, die Selbstdarstellung des Zarenreichs in dem litauisch-weißrussischen Teilungsgebiet.211 Symbolische Repräsentation bildete also auch in diesem Fall nicht die Wirklichkeit ab, sondern stellte sie erst her.212 Nach dem Novemberaufstand von 1830/31 erhielten die Begriffe „Ruhe“ und „Ordnung“ für die Westgouvernements eine weitere Bedeutung: Sie standen nun 208 Siehe dazu allgemein: Brakensiek: Fürstendiener, S. 388f. 209 Instruktion für Kachovskij und Krečetnikov vom 28.5.1772, in: PSZ I, Bd. 19, Nr. 13.808, S. 507–511, hier 508. 210 Manifest Krečetnikovs zur Bekanntmachung eines Befehls Katharinas  II. bei den russischen Truppen im Lager Polonno vom 27.3.1793, in: PSZ I, Bd. 23, Nr. 17.108, S. 410–412, hier 410. 211 Zur wechselseitigen Beeinflussung von Vorstellung und Darstellung vgl. Chartier: Die unvollendete Vergangenheit, S. 11 und 14. 212 Vgl. Jörg Baberowski: Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault, München 2005, S. 103.



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für den inneren Frieden und bildeten das Gegenstück zu Aufruhr und Revolution. Diese Bedeutungsverschiebung wird in dem Konflikt zwischen dem Minsker Gouverneur Wincenty Gieczewicz und dem deutlich jüngeren Gendarmen Lesovskij greifbar. Gieczewicz hatte nach Lesovskijs Kritik an der Amtsführung des Gouverneurs klargestellt: „In meinem Gouvernement herrscht Gehorsam und Ruhe, doch Ergebenheit gibt es nicht und wird es nie geben.“213 Lesovskij meldete diesen Vorfall sogleich nach St. Petersburg und schwärzte den Gouverneur bei Benckendorff als „nicht zuverlässig“ an.214 Gieczewicz unterschied als aufgeklärter Bürokrat zwischen ruhigen Verhältnissen in seinem Gouvernement sowie der inneren Einstellung der Bevölkerung und fühlte sich als Gouverneur nur für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zuständig. Benckendorff und seine Gendarmen sahen hingegen im politischen Denken der Aufständischen die Wurzeln der Revolution. Deren Konzeption von Ruhe griff deshalb deutlich über die öffentliche Ordnung hinaus und umfasste auch die politische Einstellung der Untertanen zur Autokratie. Aus einem bürokratischen Anspruch der „Guten Policey“ war somit der Wunsch nach politischer Kontrolle über die Bevölkerung durch die Staatsgewalt geworden. In der Verwaltungspraxis überwog jedoch auch nach 1830 das pragmatische Konzept von öffentlicher Ruhe und Ordnung. Als in Minsk im August 1831 das Exemplar einer aufrührerischen Proklamation gefunden wurde, leitete der Gouverneur von Drebuš sofort Nachforschungen über die Herkunft und die Verbreitung dieses Pamphlets ein. Außerdem wollte er wissen, inwieweit noch weitere revolutionäre Schriften in Umlauf seien. Die Untersuchung ergab, dass der Gutsbesitzer Jacyn aus dem Gouvernement Mogilëv maßgeblich an der Verbreitung dieser Schrift beteiligt war. Auch kam ans Licht, dass sehr viele Personen diese Proklamation gelesen haben mussten, da diese von Hand zu Hand weitergereicht worden war. Der Gouverneur schlug jedoch vor, von einer genaueren Untersuchung des Falles abzusehen, da viele Personen darin verstrickt seien und infolgedessen jede weitere Aufklärung nur Unannehmlichkeiten und Schaden für das Gouvernement nach sich ziehen, für die Beteiligten jedoch ohne rechtliche Konsequenzen bleiben würde. Der Generalgouverneur Dolgorukov erklärte sich mit von Drebuš’ Vorschlag einverstanden und stellte die Untersuchung ein. Er begründete diesen Schritt damit, dass ausgedehnte Nachforschungen jenen Mitgliedern der lokalen Gesellschaft nicht zu vermitteln seien, die „Ruhe und Ordnung“ wollten.215 Hier setzte sich also die Überlegung durch, dass eine staatliche Verfolgung 213 Bericht des Chefs des dritten Kreises der Gendarmerie, Generalmajor Lesovskij, vom 12.2.1831, in: GARF f. 109, op. 6, d. 62, l. 4–4ob., hier 4. 214 Ebd. 215 Schreiben Nikolaj Dolgorukovs an Benckendorff vom 9.8.1831, in: GARF f. 109, op. 6, d. 469, l. 5–6.

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politisch Andersdenkender nicht für Ruhe und Ordnung sorgen, sondern die allgemein stabilen Verhältnisse in Unordnung bringen würde. Die Staatsgewalt ging also um der öffentlichen Ruhe willen in diesem Fall einem politischen Konflikt aus dem Wege.

2.2. Zarische Amtsträger im Westen des Imperiums: Eine Typologie der Gouverneure Der Gouverneur stand an der Spitze der lokalen Verwaltung. Sämtliche Behörden einer Provinz waren ihm verantwortlich. Ursprünglich ernannte der Zar die Gouverneure und sie waren ihm allein rechenschaftspflichtig. Im Jahr 1801 betraute Alexander den Innenminister mit der Auswahl und Kontrolle der Gouverneure, 1829 erhielt das Ministerkomitee diese Zuständigkeit. Der Zar vereidigte seine Gouverneure aber weiterhin persönlich. Formale Voraussetzung für das Amt war der Titel eines Wirklichen Staatsrates und damit der 4. Rang in der Rangtabelle. Die Unabhängigkeit des Gouverneurs von lokalen Klientelgruppen sollte ein Verbot von Grundbesitz in dem Gouvernement, dem er vorstand, sicherstellen.216 Die konkrete Auswahl von Kandidaten erfolgte in der autokratischen Praxis vor allem aufgrund der Gunst des Zaren oder auf nachdrückliche Empfehlung eines Ministers. Die Motive, die zu der Ernennung einzelner Gouverneure führten, lassen sich nicht mehr rekonstruieren. Allgemein war es jedoch von Bedeutung, dem Kaiser oder seiner Umgebung persönlich bekannt zu sein und damit als vertrauenswürdig zu erscheinen.217 Allerdings stellt sich die Frage, welche Persönlichkeiten zu Gouverneuren in den Westgouvernements ernannt wurden. Schickten die Zaren tüchtige Beamte in die annektierten Provinzen oder belohnten sie alternde Militärs am Ende ihrer Karriere mit einem repräsentativen Amt? Gibt es signifikante Gemeinsamkeiten in den Biographien der Gouverneure? Lassen sich aus der Fülle von Biographien bestimmte Typen bilden und damit eine Systematik bei der Ernennung der Gouverneure erkennen? Nimmt man die Karriereverläufe der Gouverneure in den Blick, dann lassen sich drei Typen unterscheiden: erfolgreiche und hochrangige Militärs, für deren politische Reichskarriere der Gouverneursposten eine Durchlaufstation nach oben war; zivile Beamte, die sich als Verwaltungsexperten in der Region bewährt hatten; schließlich verdiente militärische sowie 216 Vgl. Richard G. Robbins: The Tsar’s Viceroys. Russian Provincial Governors in the Last Years of the Empire, Ithaca, London 1987, S. 6–16. 217 Vgl. Schattenberg: Korrupte Provinz, S. 142; Richard G. Robbins: Choosing the Russian Governors. The Professionalization of the Gubernatorial Corps, in: The Slavonic and East European Review 58 (1980), S. 541–560, hier 541f.; Geoffrey Hosking: Patronage and the Russian State, in: The Slavonic and East European Review 78 (2000), S. 301–320, hier 307ff.



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zivile Staatsdiener, die am Ende ihrer langen Karriere noch mit einem Gouverneursposten belohnt wurden. Michail Kachovskij und Michail Krečetnikov, die beiden ersten Gouverneure im geteilten Polen, repräsentieren das Modell des aufstrebenden Staatsdieners beinahe idealtypisch. Kachovskij hatte sich nach einer Ausbildung in einer Kadettenanstalt im Siebenjährigen sowie im Russisch-Türkischen Krieg erste Meriten auf dem Schlachtfeld erworben. 1771 wurde er zum Generalmajor befördert. Noch vor dem endgültigen Abschluss des Teilungsvertrages zwischen Russland, Preußen und Österreich ernannte Katharina II. den 38-Jährigen zum Gouverneur von Mogilëv. Dort richtete er innerhalb kurzer Zeit eine funktionstüchtige Verwaltung ein und wirkte als besonnener Administrator. Katharina zeigte sich mit seiner Arbeit sehr zufrieden, suchte seinen Rat und nahm auch wiederholt Vorschläge von ihm an. Nach einem Zerwürfnis mit dem Generalgouverneur Černyšëv ließ sich Kachovskij wieder zur Armee versetzen, wo er weitere Erfolge feierte, nicht zuletzt die Einnahme Warschaus im August 1792. Katharina II. ernannte ihn daraufhin zum Generalgouverneur von Penza und Nižnij Novgorod. Auch Paul I. schätzte Kachovskijs Fähigkeiten. Am Tag seiner Krönung erhob er ihn in den Adelsstand, schenkte ihm ein Gut mit 2.000 Leibeigenen und machte ihn zum Befehlshaber der Taurischen Division. Am 13. Februar 1800 ließ sich Kachovskij aus Altersgründen in den Ruhestand versetzen und verstarb kurze Zeit darauf.218 Ganz ähnlich verlief die Karriere Michail Krečetnikovs. Nachdem er im neu gegründeten Gouvernement Pskov von 1772 bis 1775 erfolgreich eine russische Verwaltung aufgebaut hatte, wurde er in Anerkennung seiner Leistungen zum Generalleutnant befördert und zum Gouverneur von Tver’ ernannt, um dort in einer Art Pilotprojekt die Gouvernementsreform umzusetzen. Er erfüllte diesen Auftrag offenbar mustergültig, denn Katharina II. übertrug ihm diese Aufgabe anschließend auch noch für die Gouvernements Kaluga, Tula und Rjazan’. 1790 wurde er zum General befördert und zum Generalgouverneur von Kleinrussland ernannt. 1792 leitete er als Oberbefehlshaber die militärische Besetzung der Gebiete, die sich das Zarenreich im Zuge der zweiten Teilung Polens angeeignet hatte.219 Die Gouverneure der ersten Generation waren also in der Regel hochrangige Militärs, die mit dem Gouverneursamt eine zivile Aufgabe übernahmen, ohne endgültig aus der Armee auszuscheiden. Es scheint sich überwiegend um begabte Leute mittleren Alters gehandelt zu haben, für die das Gouverneursamt ein 218 Art. Michail Kachovskij, in: Russkij biografičeskij slovar’, hg. v. Aleksandr A. Polovcov, 25 Bde., St. Petersburg 1896–1918, Bd. 8, S. 565–572; Vasilij A. Bil’basov: Ekaterina II i Vasilij Vasil’evič Kachovskij, 1791–1793, in: Russkaja starina 104 (1900), S. 278–299. 219 Art. Michail Krečetnikov, in: Russkij biografičeskij slovar’, hg. v. Aleksandr A. Polovcov, 25 Bde., St. Petersburg 1896–1918, Bd. 9, S. 430–432.

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Sprungbrett für ihre weitere Karriere war. Die Karriereverläufe der Generalgouverneure glichen jenen der Gouverneure, allerdings auf einem höheren Niveau. Zachar Černyšëv, erster Generalgouverneur von Weißrussland, war bei seinem Amtsantritt bereits 56 Jahre alt und konnte demzufolge auch schon auf eine längere militärische Karriere zurückblicken. Er galt als einer der besten Generäle seiner Zeit und war seit 1763 Vizepräsident des Kriegskollegiums. 1774 wurde er schließlich Präsident dieses höchsten Organs der Militärverwaltung. Černyšëv hatte sich zum einen durch seine administrativen Fähigkeiten, zum anderen bei der militärischen Besetzung des polnischen Teilungsgebietes empfohlen, die er zusammen mit seinen beiden Feldkommandanten, Krečetnikov und Kachovskij, geleitet hatte. 1772 ernannte ihn Katharina deshalb zum Generalgouverneur von Weißrussland.220 Černyšëv stand im Ruf, tatkräftig und durchsetzungsstark zu sein, allerdings auch heißblütig und ruhmsüchtig.221 Im Rahmen von Katharinas II. Besuch in Mogilëv kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen Černyšëv und Potëmkin. Daraufhin sank Ersterer in Katharinas Gunst und wurde 1782 als Generalgouverneur nach Moskau versetzt, auf einen Posten mit weitgehend zeremoniellen Aufgaben.222 Während die polnischen Provinzen in den erfolgreichen Karrieren Kachovskijs und Krečetnikovs also nur Durchgangsstationen waren, bildete für Černyšëv das repräsentative Amt des Generalgouverneurs den Zenit seiner Laufbahn. Es gab aber ebenso Karrieren, bei denen das Amt des Generalgouverneurs nur ein vorläufiger Höhepunkt war. Nikolaj Chovanskij hatte sich zunächst in der Armee bis zum General hochgedient und unter anderem an der Völkerschlacht von Leipzig 1813 teilgenommen. Als er sein Amt als Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv, Smolensk und Kaluga antrat, war er mit 46 Jahren zehn Jahre jünger als Černyšëv und saß bereits seit zwei Jahren im Senat. Nach 13-jähriger Tätigkeit krönte Chovanskij seine Karriere, indem er 1836 Mitglied des Reichsrates wurde.223 Katharina II. betraute in der Regel also erfolgreiche Militärs mit der Verwaltung der Westgouvernements. Sie belohnte allerdings keine ergrauten Generäle, die am Ende ihrer Laufbahn standen, mit einem einträglichen Posten, sondern schickte bewährte Persönlichkeiten, die sich an der westlichen Peripherie des Reiches auszeichnen und für höhere Aufgaben empfehlen konnten. Ausnahmen bestätigen diese Regel. Der Nachfolger von Zachar Černyšëv, Peter Passek, scheint mit dem Amt des Generalgouverneurs eher versorgt worden zu sein. Passek hatte eine bedeutsame Rolle bei Katharinas Staatsstreich 1762 gespielt und war von ihr 220 Art. Zakharii Grigor’evich Chernyshev, in: The Modern Encyclopedia of Russian and Soviet History, hg. v. Joseph l. Wieczynski, 59 Bde., Gulf Breeze 1976–1996, Bd. 7, S. 21–22. 221 Zur Persönlichkeit Černyševs vgl. Lehtonen: Polnische Provinzen, S. 366–377. 222 Art. Zakharii Grigor’evich Chernyshev, S. 22. 223 Art. Nikolaj Chovanskij, in: Russkij biografičeskij slovar’, Bd. 21, S. 380.



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reichlich mit Grundbesitz und einer lebenslangen Pension belohnt worden. 1766 zog er sich aus dem aktiven Dienst zurück und lebte zwölf Jahre als Privatier auf seinen Gütern.224 Die Umstände seiner Rückkehr in den Staatsdienst sind unklar, doch galt er als Spieler, der wiederholt hohe Schulden gemacht hatte.225 Jedenfalls ernannte ihn Katharina II. 1780 zum Gouverneur von Mogilëv und nur zwei Jahre später zum Generalgouverneur von Mogilëv und Pskov. Glaubt man den Memoiren Gavriil Dobrynins, dann war diese Beförderung weniger durch umsichtiges Regieren gerechtfertigt, da Passek in Mogilëv vor allem durch seinen Hang zum Glücksspiel und zu Pferdewetten sowie durch amouröse Abenteuer auffiel.226 Die Beförderung zum Generalgouverneur war wohl eine Art Schadensbegrenzung durch Hinwegloben, da er in dem neuen Amt nicht mehr in die tägliche Verwaltungsarbeit involviert war, sondern lediglich eine Oberaufsicht über die Gouverneure ausübte. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts veränderten sich die Karrieremuster der Gouverneure. Eine erfolgreiche militärische Laufbahn, wenn möglich mit Auszeichnungen im Felde, verlor als Voraussetzung für die Ernennung zum Gouverneur immer mehr an Bedeutung. Wichtiger wurde dagegen die Erfahrung im Zivildienst, was auf eine zunehmende Professionalisierung der Gouverneure hindeutet. Bereits unter Nikolaus I. setzte sich deren Mehrheit aus Verwaltungsexperten zusammen. Zwar hatten die meisten Amtsinhaber noch eine Kadettenschule besucht, sich im Anschluss daran jedoch für eine zivile Karriere entschieden und bis zum Amt des Gouverneurs hochgedient. Grigorij Laškarëv begann seinen Staatsdienst 1797 im Kollegium für äußere Angelegenheiten, wo er unter anderem als Übersetzer tätig war. 1808 wechselte er ins Innenministerium, wo er seit 1810 die Abteilung für Bergbau leitete. Angesichts der napoleonischen Bedrohung wechselte er 1813 ins Militär und nahm am „Vaterländischen Krieg“ teil. 1821 verließ er die Armee im Rang eines Oberstleutnants und setzte seine zivile Laufbahn fort. Zunächst diente er als „Beamter mit besonderen Aufgaben“ dem Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv, Smolensk und Kaluga, ehe er 1826 Vizegouverneur und 1832 schließlich Gouverneur in Grodno wurde. Im folgenden Jahrzehnt bekleidete er außerdem noch in Kiew, Podolien und Wolhynien das Amt des Gouverneurs. 1844 wurde er Mitglied des Senats.227 Laškarëv konnte also auf eine bemerkenswerte Karriere zurückblicken, die ihn vom Übersetzer bis in den Rang eines Wirklichen Staatsrates geführt und ihm zahlreiche Orden eingebracht hatte. Er hatte seine Ausbildung in der Peters224 225 226 227

Art. Pëtr Passek, in: Russkij biografičeskij slovar’, Bd. 13, S. 359–361. Ein negatives Urteil über Passek fällt LeDonne: Governers General I, S. 61. Vgl. Dobrynin: Žizn’, S. 203ff. Art. Grigorij Laškarëv, in: Russkij biografičeskij slovar’, Bd. 10, S. 96.

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burger Ministerialbürokratie erhalten und sich in der Gouvernementsverwaltung bewährt. Auffällig ist, dass seine Laufbahn als Gouverneur ihn nicht – wie sonst üblich – in ganz verschiedene Teile des Reiches führte: Laškarëv stand ausschließlich Westgouvernements vor. Offenbar schätzte der Zar seine Tätigkeit in den polnischen Provinzen und beließ ihn deshalb in der Region. Während Laškarëv acht Jahre bei der Armee verbracht hatte, verlief die Laufbahn von Nikolaj Žukovskij vollständig innerhalb des Zivildienstes. Er war in seiner Jugend noch nicht einmal in einem Kadettenkorps, sondern erhielt seine Ausbildung nur von Hauslehrern. Dennoch konnte er am Ende seines Staatsdienstes auf eine beeindruckende Karriere zurückblicken. Er trat in jungen Jahren beim Kreisgericht von Čeljabinsk in den Dienst ein. Anschließend arbeitete er in der Kanzlei des Orenburger Militärgouverneurs. Es folgte eine Phase, in der Žukovskij mehrere Wahlämter innehatte: Zunächst wählte ihn der Adel von Čeljabinsk zum Schöffen am dortigen Landgericht und 1814 zum Kreisadvokaten. 1816 setzte Žukovskij seine Karriere im Staatsdienst fort. Er wechselte zu Michail Speranskij in die Kanzlei des Generalgouverneurs von Sibirien, wo er innerhalb von drei Jahren zum Abteilungsleiter aufstieg. Im Zuge der Teilung des Generalgouvernements Sibirien wurde Žukovskij Kanzleileiter beim Generalgouverneur von Westsibirien. Ab 1823 leitete er die Gouvernementsregierung von Tobol’sk, 1829 wechselte er auf eine Beamtenstelle ins Innenministerium nach St. Petersburg. Nur ein Jahr später verließ er die Hauptstadt wieder für eine leitende Funktion beim Orenburger Militärgouverneur. In Orenburg bekleidete er von 1832 bis 1835 auch seinen ersten Gouverneursposten, ehe er 1835 zum Gouverneur in Wolhynien ernannt wurde. Anders als bei Laškarëv war die westliche Peripherie für Žukovskij nur eine Durchgangsstation. Schon 1837 trat er das Gouverneursamt in Kaluga an, 1843 wurde er Gouverneur von St. Petersburg. Seine Ernennung zum Senator im Jahr 1851 bildete schließlich den Höhepunkt seiner Karriere, die ihn immerhin vom kleinen Gerichtsdiener in das Herrschaftszentrum des Zarenreiches geführt hatte.228 Während Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts also überwiegend verdiente, zum Teil hochdekorierte Militärs an der Spitze der Gouvernementsverwaltung eingesetzt worden waren, gewannen im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts zivile Karrieren ein deutliches Übergewicht. Diese Entwicklung deutet auf eine zunehmende Entmilitarisierung der regionalen Verwaltung und eine Bürokratisierung des Russischen Reiches hin. Mitte des 19. Jahrhunderts waren nicht mehr die Fähigkeiten auf dem Schlachtfeld für einen Gouverneursposten ausschlaggebend, sondern der langjährige Dienst innerhalb der zarischen Verwaltung und

228 Art. Nikolaj Žukovskij, in: Russkij biografičeskij slovar’, Bd. 7, S. 119.



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damit das spezifische Fachwissen, das sich die Amtsträger im Laufe der Jahre auf allen Ebenen der staatlichen Administration erworben hatten. Als Unterkategorie des Verwaltungsexperten kristallisieren sich diejenigen Gouverneure heraus, die sich darüber hinaus als Kenner der Westgouvernements etablieren konnten. Grigorij Laškarëv zählt zweifellos zu ihnen: Er diente zunächst beim Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv, Smolensk und Kaluga und war anschließend in vier Westgouvernements Gouverneur, jedoch in keiner anderen Region des Russischen Reiches. In diese Kategorie lässt sich auch Michail Murav’ëv einordnen, dessen Karriere insgesamt recht ungewöhnlich verlief und in vielerlei Hinsicht als Spezialfall gelten muss. Als 16-Jähriger wurde er in der Schlacht bei Borodino verwundet und ausgezeichnet. Nach dem „Vaterländischen Krieg“ schloss er sich einem Kreis junger Reformer an, die 1816 die erste Geheimgesellschaft im Zarenreich gründeten. 1820 wurde er aufgrund revolutionärer Unruhen in seinem Regiment verhaftet und musste den Dienst quittieren. Diese Nähe zu revolutionären Kreisen führte nach dem Dekabristenaufstand zu seiner erneuten Festnahme. Da er seine Unschuld beweisen konnte, wurde er jedoch wieder freigelassen und konnte auch in den Zivildienst eintreten. 1826 wurde er zum Vizegouverneur von Vitebsk ernannt. Murav’ëv wollte sich dem Kaiser für höhere Aufgaben empfehlen und verfasste im Januar 1827 eine Denkschrift, in der er seine Vorstellungen zur Lokalverwaltung und zum Gerichtswesen darlegte. Er prangerte darin die Nachkommen der mittellosen Adligen und die raznočincy an, Träger der verbreiteten Korruption zu sein. Personen, die selbst in einfachen Besitzverhältnissen lebten, würden so ganze Kreise und Gouvernements verwalten. Da sie bereits als Jugendliche in den Staatsdienst einträten, wüchsen sie von klein auf in das korrupte Verwaltungssystem hinein und erhielten es am Leben. Nikolaus I. scheint Gefallen an dieser Analyse gefunden zu haben, denn ein Jahr später ernannte er Murav’ëv zum Gouverneur von Mogilëv.229 In den folgenden Jahren baute Murav’ëv seinen Ruf als Verwaltungsexperte und Kenner der polnischen Provinzen konsequent aus. Unmittelbar nach dem Ausbruch des Novemberaufstandes 1830 verfasste er eine Denkschrift, in der er dem Zaren Vorschläge für die „Annäherung“ der Gouvernements Mogilëv und Vitebsk an die zentralrussischen Provinzen machte. Er forderte eine Vereinheitlichung auf der konfessionellen, der rechtlichen und der sprachlichen Ebene. So sollte die orthodoxe gegenüber der katholischen Kirche gestärkt, das Litauische Statut

229 Vgl. Kropotov: Žizn’ grafa M. N. Murav’ëva, S. 69–111 und 130–247. Einen knappen Überblick seiner Biographie bietet auch die Einleitung seiner Memoiren, die allerdings nur seine Jahre in Wilna nach dem Januaraufstand von 1863 beleuchten, vgl. Der Dictator von Wilna. Memoiren des Grafen M. N. Murawjew, Leipzig 1883, S. XIV-XXV.

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abgeschafft und Russisch als Amts- und Unterrichtssprache eingeführt werden.230 Bereits 1831 verfasste er eine weitere Denkschrift. Darin machte er die Schwäche der lokalen Verwaltung als Hauptgrund für den Erfolg der Aufständischen aus und schlug den Ausbau der staatlichen Administration bei gleichzeitigem Zurückdrängen der adligen Selbstverwaltung vor.231 Noch im selben Jahr ernannte ihn Nikolaus I. zum Gouverneur von Grodno. Dieser Wechsel kann durchaus als ein Vertrauensbeweis verstanden werden, stand Murav’ëv doch nun einer der westlichen polnischen Provinzen vor, in denen der Einfluss der Szlachta noch stärker als in den Gebieten aus der ersten Teilung war. Murav’ëv blieb bis 1835 in Grodno und setzte von dort aus seine Karriere zunächst als Militärgouverneur in Kursk, dann in verschiedenen Funktionen in St. Petersburg fort. 1850 wurde er Mitglied im Staatsrat, 1856 ernannte ihn Alexander II. zum Minister der Apanagen. In diesem Amt kämpfte er erbittert gegen die Bauernbefreiung, konnte sie jedoch nicht verhindern und trat daraufhin 1863 von seinem Ministeramt zurück. Sein Ruf als Verwaltungsexperte und Fachmann für die polnischen Provinzen brachte ihn jedoch noch einmal zurück in die Politik. Nach dem Januaraufstand von 1863 vertraute Alexander II. ihm das Amt des Generalgouverneurs in Wilna an. Dort festigte er in seiner zweijährigen Amtszeit seinen zweifelhaften Ruf als antipolnischer „Menschenfresser“ (Tjutčev) und „Hänger“ oder „Henker“ von Wilna. Als Zwischenergebnis lassen sich drei Gouverneurstypen festhalten: zum einen bewährte Militärs, denen man auch die Verwaltung eines Gouvernements zutraute und in deren Karriere der Gouverneursposten nur eine Zwischenstation auf dem Weg nach oben war; zum zweiten Gouverneure, die sich in der zarischen Verwaltung häufig von kleinen Beamtenposten bis zum Gouverneur hochgedient hatten und deren Laufbahn ebenso noch höhere Posten bereithielt; der dritte Typ bestand aus älteren Militärs und Staatsmännern, die unmittelbar vor ihrem Abschied aus dem aktiven Dienst mit einem Gouverneursamt belohnt wurden. Die Letzteren bildeten die mit Abstand kleinste Gruppe. Überdies gab es im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Verschiebung von den verdienten Militärs hin zu reinen Verwaltungskarrieren. Welchen regionalen Ursprung hatten die Gouverneure der polnischen Provinzen? Grundsätzlich kamen die Amtsträger aus allen Regionen des Reiches und mitunter sogar aus dem Ausland. So amtierte der in Deutschland geborene und 1772 in den russischen Dienst getretene Peter von Berg 1808 in Podolien und 230 Die Denkschrift Murav’ëvs vom Dezember 1830 ist abgedruckt in: Četyre političeskija zapiski grafa Michaila Nikolaeviča Murav’ëva Vilenskago, in: Russkij archiv 1885, Nr. 6, S. 161–199, hier 161–175. 231 Vgl. ebd., S. 175–181.



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von 1809 bis 1811 in Mogilëv als Gouverneur. Der Bruder der Kaiserin Maria Fëdorovna, Alexander Friedrich Karl von Württemberg, war sogar elf Jahre, von 1811 bis 1822, Generalgouverneur von Vitebsk und Mogilëv. Dem Gouvernement Wolhynien stand von 1800 bis 1802 mit Ivan Kuris ein Grieche vor, der im Russisch-Türkischen Krieg von 1768–1774 auf der Seite des Zarenreiches gekämpft hatte. Eine Auffälligkeit weisen die Geburtsorte der Amtsinhaber allerdings auf: Sie kamen häufig von der westlichen Peripherie des Reiches, die einst zum territorialen Bestand des Königreichs Polen gehört hatte. Eine ganze Reihe der Gouverneure stammte aus dem Smolensker Adel, etwa der bereits vorgestellte Michail Kachovskij, dessen Familie einst Kochowski hieß. Auch Gavriil Rešetov, der zwischen 1802 und 1805 Gouverneur von Wolhynien war, stammte aus Smolensk und wurde vom dortigen Adel 1794 zum Adelsmarschall gewählt. Aus der Ukraine kamen ebenso überproportional viele Gouverneure der Westgouvernements, insbesondere aus Kiew und dem ehemaligen Hetmanat. Fëdor Lubjanovskij, von 1831 bis 1833 Gouverneur von Podolien, gehörte zum Beispiel einem alten polnischen Adelsgeschlecht an. Er war ebenso im Gouvernement Poltava geboren wie Aleksej Butovič, der von 1818 bis 1823 in Vitbesk als Gouverneur amtierte. Die Häufung von Amtsträgern aus einst polnischen Provinzen deutet darauf hin, dass man bei den Beamten aus dieser Region eine gewisse Vertrautheit mit den polnischen Angelegenheiten voraussetzte. Möglicherweise war auch ihre Sprachkompetenz ein Faktor bei deren Berufung, denn Polnisch gehörte nicht zum Curriculum russischer Schulen. Es ginge allerdings zu weit, in dieser Personalpolitik ein Entgegenkommen gegenüber dem polnischen Adel zu sehen. Betrachtet man die konkreten Maßnahmen der einzelnen Amtsinhaber, dann ist kein Zusammenhang zwischen westlicher Herkunft und einer maßvollen Politik zu erkennen. So stammte zwar Nikolaj Chovanskij aus altem litauischem Adel, trat aber dennoch für eine Unifizierungspolitik im ersten Teilungsgebiet ein und setzte als Generalgouverneur dort das Litauische Statut außer Kraft.232 In einigen bemerkenswerten Einzelfällen kam es sogar zur Berufung von Personen, die aus dem Teilungsgebiet selbst stammten. Bartłomiej Giżycki erlebte eine jener außergewöhnlichen Laufbahnen. Als 17-Jähriger kämpfte er gegen die mit russischen Truppen verstärkte Konföderation von Targowica und zog sich enttäuscht auf sein Landgut zurück, als König Stanisław II. August der Konföderation beitrat. Aufgrund eines Konfliktes mit der Geistlichkeit vor Ort ging Giżycki nach St. Petersburg, wo er bald in den russischen Militärdienst eintrat und eine erfolgreiche Karriere begann. 1797 wurde er zum Oberst befördert und ein Jahr später zum Generalmajor. Er befehligte 1805 im dritten Koalitionskrieg gegen Napoleon 232 Vgl. Thaden: Russia’s Western Borderlands, S. 122f.

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ein Dragonerregiment, im vierten Koalitionskrieg eine Brigade. Sein Dienst in der zarischen Armee scheint seiner Reputation in der Heimat nicht geschadet zu haben, denn 1814 wählte ihn der Adel von Wolhynien zum Gouvernementsmarschall. Dort setzte er sich für die Interessen der polnischen Gutsbesitzer ein und geriet mit dem amtierenden Gouverneur Michail Kombulej in Konflikt. Giżycki nutzte seine guten Kontakte nach St. Petersburg und erwirkte beim Senat eine Revision in Wolhynien, im Zuge derer Kombulej im Jahr 1815 seines Amtes enthoben wurde. Dessen Nachfolger hielt sich nur ein Jahr, ehe 1816 Giżycki selbst zum Gouverneur von Wolhynien ernannt wurde. Während Giżycki als Adelsmarschall noch selbst die polnische Partei angeführt hatte, geriet er als Gouverneur nun selbst in Konflikt mit dem lokalen Adel und dem neuen Adelsmarschall. Er übte das Amt für die Dauer von acht Jahren und damit überdurchschnittlich lange aus.233 Auch sein Nachfolger kam aus den Westgouvernements. Michał Andrzejkowicz stammte aus dem Gouvernement Grodno und war der Sohn eines Schreibers. Über ihn ist nur wenig bekannt, aber auch sein Lebensweg verlief nicht geradlinig. 1794 kämpfte Andrzejkowicz noch an der Seite Kościuszkos gegen die russische Armee, 1819 wurde er jedoch Gouverneur von Grodno; von dortaus wechselte er 1824 nach Wolhynien.234 Zusammenfassend lässt sich die Einschätzung, die John LeDonne für die Generalgouverneure getroffen hat, auch auf einen erheblichen Anteil der Gouverneure in den Westgouvernements übertragen: Sie waren „men of the frontier“ und hatten eine lange Erfahrung mit der Grenze, sei es als Baltendeutsche, als „Ukrainer“ aus dem Hetmanat oder als Russen mit Wurzeln im polnischen oder litauischen Adel.235 Erstaunlich ist, dass vereinzelt auch einheimische Adlige bis an die Verwaltungsspitze eines Gouvernements aufsteigen konnten. Dabei spielte es offensichtlich keine Rolle, auf welcher Seite diese zur Zeit der Teilungen gestanden hatten. Es spricht für die zarische Integrationspolitik, dass eine Karriere vom Teilnehmer am Kościuszko-Aufstand zum Gouverneur in einer polnischen Provinz möglich war, und die Laufbahn von Bartłomiej Giżycki zeigt, dass eine erfolgreiche Karriere im Zarenreich keine Entfremdung von den heimatlichen Standesgenossen nach sich ziehen musste: Der Adel von Wolhynien wählte ihn trotz oder vielleicht sogar wegen seiner militärischen Laufbahn und seines guten Drahts nach St. Petersburg zum Adelsmarschall. In Konfrontation mit dem lokalen Adel geriet er erst, als er jene Interessen der zarischen Staatsgewalt vor Ort 233 Art. Barłomiej Giżycki, in: Polski słownik biograficzny, hg. v. Kazimierz Lepszy, Wrocław, Krakau, Warschau 1935ff., Bd. 8, S. 21; Art. Varfolomej Gižickij, in: Russkij biografičeskij slovar’, Bd. 5, S. 175–176. 234 Igor’ Trusov / Andrej Černjakevič: Perečityvaja klassikov: Iz istorija grodnenskich gubernatorov, in: Večernij Grodno vom 7.4.2010. 235 LeDonne: Governers General I, S. 78f.



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vertreten und durchsetzen musste, die denen des Adels widersprachen. Das Bild von der russischen Staatsgewalt wurde in der Provinz also ganz entscheidend vom Gouverneur geprägt: Er gab als höchster Repräsentant vor Ort dem Zarenreich ein Gesicht und machte zarische Herrschaft zu einer konkreten Erfahrung. Das folgende Kapitel rückt deshalb die Herrschaftspraxis der Gouverneure in den Mittelpunkt und untersucht die Formen und Grenzen zarischer Herrschaftsausübung an der westlichen Peripherie des Imperiums.

2.3. Hausherren in der Fremde: Herrschaftsstrategien in den polnischen Provinzen Im 18. und 19. Jahrhundert genossen staatliche Behörden in ganz Europa ein beträchtliches Maß an Autonomie. „Verwaltungskunst“ hieß zu jener Zeit, dass von der Zentrale eher Impulse als eindeutige Anordnungen ausgingen, so dass die ausführenden Amtsträger die lokalen Verhältnisse und Logiken berücksichtigen konnten und sollten.236 Auch Katharina II. hatte ihre Gouverneure als „Hausherren“ der Gouvernements bezeichnet und zahlreiche Amtsträger griffen selbst auf diesen Begriff zurück, um ihre eigene Stellung zu beschreiben. Die Generalgouverneure und Gouverneure der Westgouvernements hielten ihre Verwaltungsautonomie sogar für eine Voraussetzung, um die ihnen auferlegten Aufgaben in einer Grenzregion des Imperiums zu erfüllen.237 Auf welche Weise übte jedoch der Gouverneur Herrschaft in seiner Provinz aus? Wie autonom konnte er in der Verwaltungspraxis agieren? Inwieweit und auf welche Weise übte er Macht in den polnischen Provinzen aus? Die strukturelle Schwäche der staatlichen Verwaltung erleichterte den Gouverneuren ein ungebundenes Regieren in der Provinz. Tadeusz Bobrowski schildert in seinen Erinnerungen etwa den Gouverneur Bibikov als einen kleinen Zaren, der auf seinem Kiewer Thron gesessen und das Gouvernement wie ein souveräner Monarch regiert habe.238 Neuere Untersuchungen zur lokalen Verwaltung im Zarenreich bestätigen Bobrowskis Darstellung. Die Forschung stimmt darin überein, dass die Gouverneure vor Ort relativ unabhängig vom Zentrum agieren konnten.239 Die zarische Regierung leistete dieser Entwicklung zusätzlich Vorschub, 236 Thomas Ellwein: Über Verwaltungskunst oder: Grenzen der Verwaltungsführung und der Verwaltungswissenschaft, in: Staatswissenschaft und Staatspraxis 1 (1990), S. 89–104, hier 102. 237 Vgl. Gorizontov: Paradoksy imperskoj politiki, S. 160. 238 Bobrowski: Pamiętnik, S. 288. 239 Nikolaj P. Eroškin: Mestnye gosudarstvennye učreždenija doreformennoj Rossii (1800–1860 gg.). Učebnoe posobie, Moskau 1985, S. 7f.; Sergej V. Mironenko: Samoderžavie i reformy. Političeskaja bor’ba v Rossii v načale XIX v., Moskau 1989, S. 50; Oksana V. Morjakova: Sis-

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indem sie formalisierte Strukturen und staatliche Institutionen in erster Linie als Einschränkung der Autokratie verstand. So befand sie sich in einem Dilemma: Zwar wollte man die Anbindung der Provinzfürsten an die Zentralgewalt, lehnte aber die Form einer institutionellen Kontrolle grundsätzlich ab.240 Die Fluktuation der Gouverneure war hoch. Zwischen 1825 und 1853 amtierte ein Gouverneur im Durchschnitt vier Jahre.241 Die Hälfte der Gouverneure diente sogar nur zwei Jahre oder kürzer in ein und demselben Gouvernement.242 Auch in den Westgouvernements waren die Amtszeiten der Gouverneure kurz. Die meisten standen nur wenige Jahre einer der polnischen Provinzen vor, ehe sie auf einen anderen Posten oder in ein anderes Gouvernement versetzt wurden. Im Gouvernement Vitebsk wechselte der Gouverneur im Zeitraum zwischen 1796 und 1840 im Schnitt alle drei Jahre. Die längste Amtszeit hatte der Gouverneur Šreder mit sechs Jahren, manche blieben aber auch nur ein Jahr in ihrer Stellung. Natürlich gab es auch Gouverneure, die über lange Zeit hinweg am selben Ort ihren Dienst versahen, doch insgesamt waren Dienstzeiten von mehr als zehn Jahren in ein und demselben Gouvernement die Ausnahme und nicht die Regel. Eine Versetzung in andere Gouvernements war hingegen durchaus üblich. So wurde Michail Krečetnikov nach drei Jahren Amtszeit in Pskov 1775 zum Gouverneur von Tver’ und anschließend auch noch Gouverneur von Kaluga, Tula und Rjazan’. Auch Rochaden innerhalb der Westgouvernements waren nicht selten. So war zum Beispiel Alexander Rimskij-Korsakov von 1801 bis 1803 Gouverneur von Weißrussland und 1806–1809 von Litauen, wohin er nach dreijähriger Unterbrechung 1812 zurückkehrte, um weitere 18 Jahre im Amt zu bleiben, bevor er 1830 für fünf Jahre noch einmal Gouverneur von Wolhynien wurde. Die Gouverneure kamen in der Regel also von außerhalb der Region, der sie vorstanden. Folglich mussten sie sich in die vorgefundenen lokalen Machtbeziehungen so einfügen, dass sie ihrer Rolle als „Hausherr“ des Gouvernements auch gerecht werden konnten. Welche Strategien entwickelten sie, um trotz schmaler Machtbasis und dünner Personaldecke als Ortsfremde Herrschaft in der polnischen Provinz ausüben zu können? Das zu Beginn des Kapitels geschilderte Beispiel des Grafen Polé zeigt, dass die Staatsgewalt in der Regel zu schwach war, um sich vor Ort gegen einen der mächtigen Großgrundbesitzer durchzusetzen. Viele Gouverneure wagten eine solche Kraftprobe deshalb nicht, sondern arrangierten sich mit den lokalen Machttema mestnogo upravlenija Rossii pri Nikolae I., Moskau 1998, S. 41; Schattenberg: Die korrupte Provinz, S. 135ff. 240 Schattenberg: Korrupte Provinz, S. 136. 241 Vgl. Torke: Russisches Beamtentum, S. 184. 242 Vgl. Pëtr A. Zajončkovskij: Pravitel’stvennyj apparat samoderžavnoj Rossii v XIX v., Moskau 1978, S. 153.



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verhältnissen. Dies war auch im Gouvernement Kiew der Fall. Dort hatte der Verwalter des Grafen Potocki, ein Mann namens Zander, den ansässigen Zinsadel aufgefordert, eine Einwilligung zu erhöhten Zinszahlungen an den Grafen zu unterschreiben.243 Als sich 19 Familien weigerten, eine solche Unterschrift zu leisten, schickte Zander einen Trupp bezahlter Schläger in die Dörfer, der die Häuser der resistenten Familien niederriss und die Familien selbst in den Nachbarkreis vertrieb. Die restlichen Adligen ließen sich von diesem gewalttätigen Vorgehen beeindrucken und leisteten die geforderte Selbstverpflichtung. Schließlich nahm sich der Kommissar der Landespolizei des Falles an und versuchte, die vertriebenen Adligen wieder im Kreis Uman’ anzusiedeln. Doch auf Betreiben Zanders hin verweigerten die Dorfbewohner im gesamten Kreis den Vertriebenen die Aufnahme in die Steuergemeinschaft und damit den Zuzug. Da der Kreis Uman’ vollständig im Besitz des Grafen Potocki war, fanden die vertriebenen Familien keine Möglichkeit, dorthin zurückzukehren. Als der Kiewer Gouverneur von dieser eigenmächtigen Gewaltanwendung erfuhr, sandte er den Gouvernementsfiskal vor Ort und trug ihm auf, den Kommissar der Landespolizei dazu aufzufordern, mit dem Grafen Potocki über das Vorgehen seines Verwalters zu sprechen. Der Gouverneur ließ es also nicht auf eine direkte Konfrontation mit Zander ankommen, sondern setzte auf eine Vermittlung des Grafen. Nur für den Fall, dass sich Potocki nicht im Kreis Uman’ aufhalte, sollte die Kreisverwaltung mit Zander persönlich einen Ausgleich suchen. Man solle eine Delegation zu ihm schicken und in Auskunft bringen, welche Gründe ihn zu seinem eigenmächtigen Vorgehen veranlasst hätten und warum er nicht das Niedere Landgericht zur Entscheidung des Streitfalles angerufen habe. Anschließend sei die Rückkehr der vertriebenen Familien einzuleiten und der Verwalter streng zu ermahnen, dass er künftig derartige Eigenmächtigkeiten zu unterlassen habe. Der Gouverneur pochte also auf das Machtmonopol der Staatsgewalt und wies den Verwalter auf die staatlichen Institutionen hin, die für die Lösung derartiger Konflikte zuständig waren. Es war jedoch leichter, eine solche Vorgabe in Kiew zu formulieren, als sie in Uman’ umzusetzen. Der Gouvernementsfiskal erreichte immerhin, dass sich das Niedere Landgericht des Falles annahm. Außerdem sprach er den vertriebenen Adligen das Recht zur Rückkehr zu. Allerdings sahen weder der Kommissar der Landespolizei noch der Adelsmarschall, wie eine solche Anordnung gegen den Willen Zanders durchzusetzen sei. Aus diesem Grunde wandte sich schließlich der Gouvernementsprokurateur mit der Bitte an den Mili-

243 Vgl. zu folgendem Vorgang den Brief des Gouvernementsprokurateurs an den Militärgouverneur von Kiew, Andrej Fen’š, vom 19.6.1802, in: CDIAK f. 533, op. 1, d. 61, l. 37–38ob.

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tärgouverneur, dieser möge den Grafen Potocki davon überzeugen, die Angelegenheit nach der Rückkehr der vertriebenen Adligen auf sich beruhen zu lassen. Dieser Fall macht den mangelnden Zugriff des Gouverneurs auf die lokale Ebene deutlich. Zwar war die Staatsgewalt vor Ort durch Institutionen wie Gerichte und Polizei präsent, doch konnten sich diese bei Konflikten nicht gegen die Hausmacht eines Magnaten oder auch nur gegen dessen Verwalter durchsetzen. Die lokalen Behörden waren also gut beraten, es gar nicht erst auf eine solche Machtprobe ankommen zu lassen. Stattdessen strebte der Gouverneur eine einvernehmliche Lösung an: Entweder gelang es, sich mit Zander darauf zu verständigen, dass die staatlichen Institutionen zuständig waren, oder man war darauf angewiesen, den Grafen vom ungebührlichen Vorgehen seines Verwalters zu überzeugen, so dass dieser seinen Angestellten zur Räson rufe. Nicht der Gouverneur, sondern nur Potocki selbst konnte also Zander Einhalt gebieten. Und gegen den Willen des Grafen konnte sich niemand im Gouvernement durchsetzen. Die Macht der Gouverneure hing auf lokaler Ebene also entscheidend vom Wohlwollen des grundbesitzenden Adels, insbesondere der Magnaten, ab. Wollte ein Gouverneur seine Herrschaft auf ein stabiles Fundament stellen, dann musste er versuchen, seine Abhängigkeit von einzelnen Magnaten zu lösen. Nur wenn es ihm gelang, sich in die jeweiligen Adelsgesellschaften zu integrieren, gewann er einen gewissen Handlungsspielraum. Gleichzeitig machte er sich jedoch gegenüber der zentralen Staatsgewalt angreifbar. Im März 1832 beschwerte sich der Leiter der Wilnaer Gendarmerie, Oberst Rutkowski, beim Leiter der Dritten Abteilung der Höchsteigenen Kanzlei des Zaren, Alexander Benckendorff, bitter über den Gouverneur Dmitrij M. Obreskov.244 Oberst Rutkowski warf dem Wilnaer Gouverneur vor, er habe ein zu enges Verhältnis zur lokalen Gesellschaft und schade damit der Gouvernementsverwaltung. Mit adligen Gutsbesitzern und wichtigen Persönlichkeiten der polnischen Gesellschaft pflege er einen freundschaftlichen Umgang. Mit dem Magnaten Pusłowski treffe er sich beispielsweise wöchentlich zum Mittagessen. Insbesondere erregte Rutkowskis Argwohn die enge Beziehung des Gouverneurs zu den Damen der polnischen Gesellschaft, vor allem sein Verhältnis mit einer Frau Łopaciński, die wiederum in engem Kontakt zu Teilnehmern des Novemberaufstandes stand. Über seinen gesellschaftlichen Vergnügungen vernachlässige der Gouverneur seine Amtspflichten. Nur selten erscheine er in der Gouvernementsregierung, so dass er für viele Beamten nur schwer anzutreffen sei und auch nicht die notwendigen Unterschriften leiste. Aus diesen Gründen käme der ganze Geschäftsgang ins Stocken. In den seltenen Fällen, in denen der Gouverneur doch einmal in 244 Vgl. zum Folgenden den Bericht des Oberst Rutkowski an Benckendorff vom 3.3.1832, in: GARF f. 109 s/a, op. 2, d. 271, l. 5–9ob.



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seiner Amtsstelle erscheine, empfange er in seinem Dienstzimmer polnische Adlige und man vernehme aus den Diensträumen nur lautes Lachen. Die Beamten müssten hingegen vier Stunden oder länger warten, um dem Gouverneur ihre Dienstangelegenheiten vortragen zu dürfen, häufig empfange er sie auch überhaupt nicht. Oberst Rutkowski zog daraus das Fazit: Die Polen hätten den Gouverneur völlig vereinnahmt und könnten nun dank seiner Protektion tun und lassen, was sie wollten. Die eigentliche Macht – so könnte man aus den Ausführungen Rutkowskis schließen – lag in Wilna nicht mehr beim Staat, sondern beim polnischen Adel. Allerdings verliefen die Fronten zwischen staatlicher Verwaltung und polnischer Gesellschaft nur auf den ersten Blick so eindeutig. Der politische Hintergrund der Beschwerde Rutkowskis war nämlich eine Machtverschiebung innerhalb der Wilnaer Adelsgesellschaft. Obreskov hatte sich bei der Ernennung des Kreisadelsmarschalls von Omjany nicht für den bisherigen Amtsinhaber und engen Freund seines Vorgängers entschieden, sondern ihm den anderen gewählten Kandidaten vorgezogen, der seinem eigenen Freundeskreis entstammte. Stein des Anstoßes war also nicht, dass Obreskov sich zu sehr auf die polnische Adelsgesellschaft einließ, sondern dass er innerhalb dieser Gesellschaft auf andere Netzwerke setzte als sein Vorgänger. Zentrale Figur war hierbei der bereits erwähnte Pusłowski, der über weite Ländereien verfügte und zahlreiche Kleinadlige sein Gefolge nannte. Er galt als eine der mächtigsten Personen Litauens und unterhielt freundschaftliche Kontakte zu einflussreichen Persönlichkeiten innerhalb und außerhalb des Gouvernements Wilna. Mit Hilfe Pusłowskis gelang es dem Gouverneur auch, Einfluss auf die Adelswahlen zu nehmen und eine Reihe ihm genehmer Kandidaten als Kreisadelsmarschälle zu installieren. Rutkowski betont in seinem Schreiben, dass dies nur ein Beispiel dafür sei, wie Obreskov mittels Freundschaft und Beziehungen das Gouvernement regiere. Hier verschwimmen die vermeintlich klaren Fronten zwischen russischer Staatsgewalt und polnischer Adelsgesellschaft. Tatsächlich haben wir es mit zwei konkurrierenden lokalen Netzwerken zu tun, mit denen die Repräsentanten des Staates auf die eine oder andere Weise umgehen mussten. In unserem Fall entschied sich der neue Gouverneur offenbar gegen die Nutzung der von seinem Vorgänger geknüpften Kontakte zum polnischen Adel. Stattdessen baute er sich sein eigenes Netzwerk auf. Dies führte zu Verschiebungen von Macht und Einfluss innerhalb der lokalen Elite und zog fast zwangsläufig auch Beschwerden bei der zarischen Regierung über den von ihr entsandten Repräsentanten nach sich. Die dabei erhobenen Vorwürfe, die von Bestechlichkeit bis zum ausschweifenden Lebensstil reichten, sind im Einzelnen nicht mehr zu überprüfen. Viel wichtiger ist es dagegen zu untersuchen, auf welche Weise sich die Gouverneure in ein fremdes, lokales Machtgefüge einpassten. Eine Erfolg versprechende Strategie war

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offenbar, sich in eines der lokalen Netzwerke zu integrieren. Dies erzeugte auf der einen Seite gewisse Abhängigkeiten der Amtsträger von den lokalen Eliten. Es bot aber gleichzeitig die Möglichkeit, sich dieses Netzwerk zunutze zu machen, um staatliche Interessen durchzusetzen. Das hier angeführte Beispiel des Wilnaer Gouverneurs Obreskov ist kein Einzelfall. Dem Generalgouverneur von Wilna, Grodno und Minsk, Nikolaj Dolgorukov, gelang es offenbar, sein Haus zum Zentrum des gesellschaftlichen Lebens in Wilna zu machen, indem er Bälle und Feste veranstaltete. Während seine Amtszeit von den lokalen Amtsträgern später nostalgisch verklärt wurde,245 führte Michail Murav’ëv nach dem Januaraufstand von 1863 Dolgorukov als Beispiel für jene unwürdige Repräsentanten in den Westgouvernements an, die vom Geld der polnischen Magnaten abhängig gewesen seien.246 Befürworter einer starken zarischen Staatsgewalt wie Murav’ëv verstanden das Verhältnis von staatlicher Verwaltung und polnischer Adelsgesellschaft als eine Konfrontation, bei der sich der Gouverneur selbstverständlich auf die Seite der Staatsgewalt zu schlagen habe. Im Alltag verlief diese Frontstellung jedoch weit weniger eindeutig. Der Vitebsker Gouverneur Severin protegierte zum Beispiel zwei Adlige, die Beisitzer am Niederen Landgericht waren, und verhalf ihnen zur Stelle des Landkommissars in Vitebsk bzw. in Mogilëv. Um die Stelle des Vitebsker Landkommissars freizubekommen, schwärzte Severin den Amtsinhaber, Gavriil Dobrynin, bei einer Revision an, so dass dieser sein Amt verlor. Gegen die geballte Hausmacht des Gouverneurs, der beiden Adligen samt ihren Familien und den ihnen gehörenden Dörfern konnte Dobrynin als zarischer Beamter wenig ausrichten. Ihm blieb als letzte Möglichkeit, eine übergeordnete Instanz der zentralen Staatsgewalt in diese lokale Angelegenheit einzuschalten. Sein Schreiben an den Generalprokurateur hatte jedoch nicht die erhoffte Wirkung. Also wandte er sich an einen alten einflussreichen Freund, der den Generalprokurateur persönlich kannte. Erst aufgrund des Empfehlungsschreibens seines Freundes nahm der Generalprokurateur die Beschwerde an und gab Dobrynin schließlich recht. Severin musste seinen entlassenen Beamten wieder einstellen.247

245 So Lomačevskij: Zapiski žandarma, S. 254. 246 Michail N. Murav’ëv: Zapiski ego ob upravlenii Severo-zapadnym kraem i ob usmirenii v nëm mjateža, 1863–1866 gg., in: Russkaja starina 1882, Nr. 11, S. 387–432 und Nr. 12, S. 623–646, hier Nr. 12, S. 627. Ähnlich wurde über den Vitebsker Generalgouverneur berichtet, vgl. N. Ja. Nikiforovskij: Stranička iz nedavnej stariny goroda Vitebska. Vospominanija starožila, Minsk 1995, S. 20. Auch Arkadij V. Kočubej hatte sich als Vizegouverneur gut in die Kiewer Gesellschaft eingefügt. Gemeinsam mit seiner Frau gab er Festivitäten und zeichnete sich durch Großzügigkeit gegenüber dem Adel, insbesondere dem Adelsmarschall Tyškevič, aus, vgl. Kočubej: Zapiski, S. 233ff. 247 Vgl. Dobrynin: Žizn’, S. 321–329.



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In diesem Fall haben wir es also mit einem lokalen Netzwerk zu tun, an dessen Spitze der Gouverneur stand, zu dessen Gefolge aber auch Teile des lokalen Adels und deren Anhang gehörten. Auf der anderen Seite stand Dobrynin, der sich im Dienst mit den beiden Gerichtsbeisitzern überworfen hatte und infolgedessen von deren Patron, dem Gouverneur, aus dem Amt entlassen wurde. Nur indem Dobrynin über andere Kanäle einen direkten Draht zum Generalprokurateur in St. Petersburg fand, konnte er ein wirksames Gegengewicht zum lokalen Netzwerk des Gouverneurs in die Waagschale werfen. Zahlreiche solcher lokalen Zwistigkeiten erweisen sich bei näherem Hinsehen nicht als Konflikte zwischen russischer Staatsgewalt und polnischem Adel, sondern als Auseinandersetzungen zweier einflussreicher Netzwerke oder gar als ein persönlicher Streit. Im geschilderten Fall standen sich der Gouverneur sowie einflussreiche polnische Adlige auf der einen Seite und ein russischer Beamter sowie ein Repräsentant der zentralen Staatsmacht auf der anderen Seite gegenüber. Die Strategie der Gouverneure, sich in die vorgefundenen lokalen Netzwerke zu integrieren, war nicht auf die Westgouvernements beschränkt. Wie Susanne Schattenberg in ihrer Studie zum Patronagewesen im Zarenreich zeigt, mussten sich die ortsfremden Gouverneure auch in der russischen Provinz in die örtlichen Machtverhältnisse einfügen, um Herrschaft ausüben zu können. Diese reichsweite Praxis scheint im 18. Jahrhundert noch von der zentralen Staatsgewalt als Herrschaftsinstrument gebilligt worden zu sein. Doch in den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts stieß diese Strategie auf das verstärkte Missfallen der zarischen Regierung. Immer lauter wurden Bedenken, Gouverneure oder andere Amtsträger seien schwach und würden zu Marionetten der polnischen Gesellschaft. Die eingangs vorgestellte Denunziation des Oberst Rutkowski bei Benckendorff argumentierte auf genau diese Weise und war damit letzten Endes auch erfolgreich. Obreskov wurde in seinem Gouverneursamt abgelöst und ihm folgte der als „standhaft“ geltende Grigorij Doppel’majer. Doch man muss sich die Interpretation der zarischen Regierung nicht zu eigen machen. Die enge Beziehung zwischen Gouverneur und wichtigen Repräsentanten des polnischen Adels weist darauf hin, dass der ortsfremde Obreskov sich erfolgreich in die lokale Gesellschaft integriert hatte. Wenn Integration der polnischen Provinzen in das Zarenreich hieß, dass zunächst die zentrale Staatsgewalt auf lokaler Ebene etabliert werden musste, dann bildete die Fähigkeit der Repräsentanten der Staatsgewalt, sich in die lokale Gesellschaft einzufügen, eine wichtige Voraussetzung dafür. Obreskov scheint dies gelungen zu sein. Die Gouverneure hatten darüber hinaus eine weitere Möglichkeit, sich eine lokale Herrschaftsbasis aufzubauen. Wincenty Gieczewicz hatte als Gouverneur von Minsk an den zentralen Schaltstellen der Gouvernementsverwaltung seine Verwandten installiert: Sein Sohn war Kreisadelsmarschall ebenso wie sein

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Schwiegersohn und einer seiner Neffen. Ein Bruder Gieczewicz’ war Präsident der ersten, ein weiterer Neffe Präsident der zweiten Abteilung des Gouvernementslandgerichts. Der Vorsitzende der Gouvernementsregierung war wiederum der Schwiegersohn jenes Neffen, der Präsident am Gouvernementslandgericht war. Der Schwager des Gouverneurs war ein ständiges Mitglied im Amt für öffentliche Fürsorge, und ein weiterer Schwiegersohn war Vorsitzender des Landvermessungsgerichts.248 Diese Form des Nepotismus ist ebenfalls kein Einzelfall und lässt sich durchaus als alternative Herrschaftsstrategie der Gouverneure deuten: Unabhängigkeit von den lokalen Netzwerken versprach nur die Etablierung eines eigenen, alternativen Netzwerkes. Dem Gouverneur Gieczewicz scheint dies außerordentlich gut gelungen zu sein, da seine Verwandtschaft sogar bis in Wahlämter vordrang. Dabei kam ihm sicherlich zugute, dass er aus der Region stammte und von 1818 bis 1831, also 13 Jahre lang, Gouverneur von Minsk war. Ihm stand also ausreichend Zeit zur Verfügung, wichtige Posten nach und nach mit seinen Gefolgsleuten zu besetzen. Es mussten nicht immer Verwandte sein. Verbreitet war auch die Praxis, Beamte, mit denen neu berufene Gouverneure in der Vergangenheit erfolgreich zusammengearbeitet hatten, in das Gouvernement mitzubringen. Der Kiewer Vizegouverneur Levkovič, der ursprünglich aus Simbirsk stammte, hatte nach seiner Ernennung in Kiew ein dichtes Netz aus Simbirsker Beamten gespannt, die er allesamt aus seiner früheren Tätigkeit kannte und nun in der Gouvernementsverwaltung einsetzte. Auf diese Weise hatte der Vizegouverneur bald seinen Einfluss auf alle wichtigen administrativen und rechtsprechenden Organe gesichert.249 Solch alternative Netzwerke stießen bei Teilen der lokalen Gesellschaft verständlicherweise auf Ablehnung. So beschwerten sich die Ehrenbürger des Gouvernements Wilna, dass Gieczewicz einerseits Schwindler vor gerichtlicher Verfolgung schütze, wenn diese unter seiner Protektion stünden, andererseits verdiente Beamte entlasse, um die freien Stellen mit seinen Verwandten und Gefolgsleuten zu besetzen. 250 Politische Gegner schalte er mit Hilfe von geschickt inszenierten Intrigen aus.251 Die zarische Regierung registrierte derartige Berichte aufmerksam, da die Gefahr bestand, dass ein solches Patronagesystem bald nicht mehr die Interessen des Staates, sondern nur noch die der jeweiligen Klientel verfolgte. 248 Vgl. den Bericht des Leiters der Kreisgendarmerie, Generalmajor Lesovskij, vom 12.2.1831, in: GARF f. 109, op. 6, d. 62, l. 4–4ob. In der Anlage schickte Lesovskij eine Auflistung derjenigen Amtsträger im Gouvernement, die Verwandte des Gouverneurs waren, vgl. ebd., l. 5. 249 Vgl. den Bericht des Oberstleutnant Rutkowski an Benckendorff über das Gouvernement Kiew vom 23.6.1829, in: GARF f. 109, op. 4, d. 227, l. 21ob.-22. 250 Vgl. das Schreiben des Großfürsten Konstantin Pavolovič an den Kommandanten des Litauischen Polizeikorps vom 13.10.1829, in: GARF f. 109, op. 4, d. 314, l. 11–22. 251 Bericht über die Verhältnisse im Gouvernement Minsk aus dem Jahr 1829 von einem unbekannten Verfasser, in: GARF f. 109 s/a, op. 2, d. 305, l. 1–2ob., hier 2.



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Wollten die Gouverneure nicht machtlos zwischen allen Stühlen sitzen, standen ihnen also zwei Wege offen, Herrschaft in der Provinz auszuüben: Entweder sie arrangierten sich mit den herrschenden lokalen Machtverhältnissen und versuchten, bestehende Netzwerke nutzbar zu machen. Oder sie etablierten ein eigenes Netzwerk, das aus Verwandten und ortsfremden Amtsträgern bestand. Wenn aus dieser Klientel keine russische Parallelgesellschaft entstehen sollte, musste dem Gouverneur allerdings die Verflechtung seines Netzwerkes mit den existierenden lokalen Eliten gelingen. Die zarische Regierung lehnte jedoch beide Strategien ab. Obreskov wurde vorgeworfen, er sei nur eine Marionette der polnischen Adelsgesellschaft, und deshalb wurde er von seinem Amt entbunden. In der Vorgehensweise Gieczewicz’ sah man weniger eine gelungene Integration des Gouvernements Minsk in das Zarenreich, sondern schlicht Begünstigung im Amt: Kurz nachdem das enge Verwandtschaftsgeflecht Gieczewicz’ in St. Petersburg bekannt geworden war, wurde er seines Amtes enthoben und man leitete eine Untersuchung wegen Amtsmissbrauchs ein.252 In St. Petersburg sah man an der Spitze der Westgouvernements hingegen gerne starke Persönlichkeiten, die weitgehend unabhängig agieren sollten, da sie nur so die Interessen des Staates verfolgen könnten. Staat und Gesellschaft waren in dieser Vorstellung zwei klar getrennte Sphären und sollten dies auch bleiben. Die Perspektive des polnischen Adels auf die Gouverneure stand dem Selbstbild der Amtsträger diametral gegenüber. Die Gouverneure empfanden ihre Machtposition in den fremden Provinzen als schwach. Wollten sie Herrschaft ausüben, dann mussten sie sich ein Netzwerk aufbauen, das als Machtbasis fungieren konnte. Der polnische Adel sah in den Gouverneuren jedoch den Ausdruck einer russischen Willkürherrschaft. Der Kreisadelsmarschall von Minsk, Łubanowski, prangerte in einem Brief an Nikolaus I. nicht nur einzelne Amtsträger, sondern die Institution als solche an.253 Sowohl die Zivil- als auch die Militärgouverneure besäßen eine solche Machtfülle, dass sie tun und lassen könnten, was sie wollten, und sich an keinerlei Gesetz gebunden fühlten. Man könne die Gouverneure deshalb mit den römischen Prokonsuln oder einem türkischen Pascha vergleichen. Diese unterschieden sich von den Gouverneuren allerdings darin, dass ihr Handeln, ob gut oder böse, stets dem Willen der Amtsträger entspringe und mit ganzer Macht vertreten werde. Die russischen Gouverneure empfänden hingegen keinerlei Verantwortung und agierten deshalb nicht politisch, sondern seien nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Zwar habe der Zar sie mit einem politischen Auftrag ein252 Schreiben Novosil’cevs an Benckendorff vom 12.3.1831, in: GARF f. 109, op. 6, d. 62, l. 8–8ob. 253 Vgl. zum Folgenden den Brief des Kreisadelsmarschalls von Minsk, Staatsrat Łubanowski, an Zar Nikolaus I., o. d. [1831], in: GARF f. 109 s/a, op. 3a, d. 45, l. 1–32ob., hier 12–23.

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gesetzt, den diese jedoch nicht erfüllten. Die schlechte Politik der Gouverneure sei demnach nicht Ausdruck falscher politischer Ziele des Zaren, sondern Folge von deren verantwortungslosem und unkontrolliertem Handeln. Łubanowski zeichnete in seinem Brief zudem die Funktionsweise der Gouverneursherrschaft nach. Die Beamten seien vom persönlichen Wohlwollen der Gouverneure abhängig. Letztere könnten die Dümmsten mit Auszeichnungen überhäufen und die Ehrlichsten ihres Amtes entheben. Da die Beamten keine Möglichkeiten hätten, sich bei einer höheren Stelle zu beschweren, seien sie vollkommen von den täglichen Launen ihres Dienstherren abhängig. Die Herrschaftspraxis der Gouverneure färbe auf die Verwaltungspraxis ihrer Untergebenen ab. Gegenüber Bittstellern zeigten sie sich ähnlich selbstherrlich wie ihr Vorgesetzter und missbrauchten ihr Amt auf jede erdenkliche Art und Weise. Ein Beamtenethos existiere nicht. Kein Beamter diene heute aus einem persönlichen Wunsch oder aufgrund der mit dem Amt verbundenen Ehre, sondern nur zum persönlichen Nutzen. Dies fördere einerseits die Korruption und andererseits die verbreitete Lethargie in den Amtsstuben. Die meisten Beamten würden ihren Dienst notdürftig erfüllen und sich damit zufriedengeben, nach einer gewissen Zeit eine Auszeichnung zu erhalten. Jede Regierung – so das Fazit Łubanowskis – habe die Aufgabe, Ruhe und Ordnung zu sichern. In Russland sei es die Polizei selbst, die zur Zerstörung der Ordnung beitrage, weil deren Repräsentanten nur nach persönlichem Vorteil strebten. Zwei Punkte an dieser Fundamentalkritik erscheinen in unserem Zusammenhang interessant. Im Gegensatz zum Selbstbild der Gouverneure als „zahnlose Tiger“, welche die lokalen Machtstrukturen nicht kannten und deshalb leicht zwischen alle Stühle gerieten, wird hier das Bild allmächtiger Amtsträger gezeichnet, die ihre Macht nicht zur Durchsetzung politischer Ziele nutzten, sondern in erster Linie auf ihr eigenes Wohl bedacht waren. Zum anderen wird dieser Missstand als systemimmanenter Fehler der russischen Autokratie gedeutet und letztlich als Fremdherrschaft stigmatisiert. Der Vergleich mit dem Römischen und dem Osmanischen Reich verweist darauf, dass die zarische Staatsgewalt als imperiale Macht in den polnischen Provinzen gesehen wurde. Der Hinweis auf den „türkischen Pascha“ rückte das Zarenreich in die Nähe einer „orientalischen“ Herrschaft, die einen gewissen Grad an Barbarei beinhaltete. Die kulturelle Kluft zwischen dem polnischen Adel und der zarischen Staatsgewalt betont Łubanowski an anderer Stelle noch einmal explizit. In Russland diskutierten zwar einige Gebildete über eine Verfassung, doch letztlich fehle ihnen sowohl die historische Erfahrung als auch der geistige Horizont, um derartige politische Fragen in ihren großen Zusammenhängen zu erfassen. Hinzu komme, dass Russland ein Vielvölkerreich sei. Es bestehe zwar vorwiegend aus slawischen Völkern, doch unterschieden sich diese in ihren Sitten, in ihrem Wesen und in ihrer Mentalität so stark voneinander, dass



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eine Verfassung zwangsläufig zur Anarchie und letztendlich zu einem Auseinanderfallen des Imperiums führen müsse.254 Indem Łubanowski dem Russischen Reich die politische Reife für eine Verfassung absprach, koppelte er das Zarenreich von der europäischen Entwicklung ab und definierte zugleich Polen, das sich 1791 eine Verfassung gegeben hatte, aus dem Imperium heraus. Die autokratische Herrschaft der Gouverneure – so könnte man die Position Łubanowskis auf den Punkt bringen – passe nicht zur politischen Tradition des polnischen Adels. Łubanowskis Fundamentalkritik der zarischen Herrschaft und das Aufzeigen einer Dichotomie zwischen russischer Autokratie und polnischer Freiheit ist keine Besonderheit, sondern spiegelt eher eine im Adel der Westgouvernements verbreitete Einstellung wider. Łubanowski äußerte seine Kritik jedoch nicht vor anderen Adligen, sondern hatte sie als Amtsträger an den Zaren persönlich gerichtet. Und er verfiel nicht in den Ton einer dumpfen Polemik, sondern bettete seine Kritik in eine sachkundige Darstellung der rechtlichen Verfasstheit des Zarenreiches in Geschichte und Gegenwart ein. Łubanowskis Schreiben kann deshalb durchaus als ein ernst gemeinter Beitrag zur damaligen Reformdiskussion über die Notwendigkeit und Bedingungen einer Konstitution im autokratischen Russland gesehen werden. Łubanowski übernahm nicht nur Verantwortung für seine Heimatregion, indem er sich in das Amt eines Adelsmarschalls wählen ließ, sondern zeigte durch die Beteiligung am Reformdiskurs seinen Willen zur Partizipation am politischen Prozess des Zarenreiches insgesamt. Wie reagierte die zarische Regierung auf Łubanowskis Vorstoß? Der Brief wurde an Benckendorff weitergeleitet und damit zu einem Fall für die Polizei. Die interne politische Kritik eines polnischen Adelsmarschalls galt spätestens seit dem Novemberaufstand nicht mehr als Versuch, Missstände vor Ort anzuprangern, sondern als Ausdruck der politischen Illoyalität. Inklusion und Exklusion im Luhmann’schen Sinne werden durch Kommunikation geregelt. Inklusion drückt sich darin aus, dass man einem anderen mitteilt, dass man ihn wahrgenommen hat, und fordert ihn auf diese Weise auf, dem Interaktionssystem beizutreten. Exklusion vermeidet genau diese Kommunikation. Sie unterlässt oder verweigert das Anerkennen der Wechselseitigkeit der Wahrnehmung und vollzieht derart den Ausschluss aus dem Interaktionssystem.255 In diesem Sinne ist der Brief Łubanowskis als eine Bereitschaft zur Inklusion in das Zarenreich zu sehen, dem von der Regierung mit Exklusion begegnet wird. Łubanowskis Brief wurde nicht beantwortet, der Adelsmarschall war kein Adressat innerhalb des staatlichen Kommunikationssystems. Stattdessen leitete man seinen Brief an die Geheimpolizei weiter. Łubanowski wurde damit nicht nur aus dem politischen Diskurs der Elite 254 Ebd., l. 28–28ob. 255 Vgl. Stichweh: Inklusion und Exklusion, S. 180.

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ausgeschlossen, sondern als potentieller Revolutionär aus der zarischen Gesellschaft insgesamt exkludiert. Łubanowskis Brief an den Zaren zeigt also zweierlei: eine polnische Perspektive auf die Herrschaftsausübung der Gouverneure vor Ort und die politische Exklusion integrationsbereiter Adliger nach dem Novemberaufstand 1830/31. Auch wenn Łubanowski die Verhältnisse vor Ort überzeichnete, so hatte seine Kritik durchaus ihre Berechtigung. Insbesondere seine Beobachtung, dass es den zarischen Amtsträgern am politischen Gestaltungswillen fehle, bestätigen Quellen aus anderen Gouvernements. Nicht alle Gouverneure hatten einen ausgeprägten Willen zur Macht oder eine ausreichend starke Persönlichkeit, um die ihnen aufgetragene Rolle des „Hausherren“ entsprechend ausfüllen zu können. In solchen Fällen entstand ein politisches Vakuum. Diese Lücke füllten mitunter Amtsträger, die dem Gouverneur formal zwar unterstanden, jedoch mehr Machtstreben als ihr Vorgesetzter an den Tag legten. Die Regierungsweise Peter Passeks, der von 1780 bis 1781 Gouverneur von Mogilëv war, ist ein typisches Beispiel für eine derartige Machtverschiebung innerhalb der Gouvernementsregierung. Folgt man der Darstellung von Gavriil Dobrynin, dann interessierte sich Passek weniger für seine Amtsgeschäfte als für das Kartenspiel, Pferde und Frauen.256 Aufgrund der häufigen Abwesenheit des Gouverneurs führte de facto der Staatsrat Poljanskij die Geschäfte. Dobrynin schildert Poljanskij als einen gebildeten Mann, der sehr redegewandt gewesen sei und aufgrund dieser Begabung stets eine gute Figur bei öffentlichen Auftritten gemacht habe. Poljanskij sei allerdings auch sehr ehrgeizig gewesen. Da Passek ihm aufgetragen hätte, selbständig zu handeln und zu entscheiden, habe Poljanskij immer mehr Kompetenzen an sich gerissen. Indem er bald auch über die Einstellung von neuen Beamten entschied, baute er sich schnell eine Hausmacht auf. So sei die Ära Passek in Mogilëv in Wahrheit eine „Selbstherrschaft“ Poljanskijs gewesen. Zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen Passek und Poljanskij sei es nicht gekommen. Zum einen hätten sich die beiden schnell angefreundet, zum anderen wären sie voneinander abhängig gewesen: Passek sei darauf angewiesen gewesen, dass sein Untergebener die Amtsgeschäfte am Laufen hielt, während er selbst seinen privaten Vergnügungen nachgegangen sei; Poljanskij wiederum hätte diese Machtfülle nur bewahren können, solange mit Passek ein am Dienst weitgehend desinteressierter Vorgesetzter das Gouverneursamt bekleidete. Eine solche Konstellation musste jedoch nicht zum Schaden des Gouvernements sein. Selbst Dobrynin, der mit Kritik an Poljanskij nicht sparte, gestand ein, dass dieser die Ordnung sowohl innerhalb der Gouvernementsregierung als auch im gesamten Gouvernement aufrechterhalten hätte. Poljanskij spielte also die Rolle des „Hausherrn“, die eigentlich für den Gouverneur vorgesehen war. Da Passek seiner Pflicht jedoch nicht nachkam, trat an seine Stelle ein ehrgeiziger und 256 Der folgende Abschnitt stützt sich auf: Dobrynin: Žizn’, S. 203–205.



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verantwortungsbewusster Beamter, der die Amtsgeschäfte führte. So gewann Poljanskij zwar Macht und Einfluss, war jedoch selbst auch auf das Wohlwollen seiner Beamten angewiesen. Diese Abhängigkeit verringerte er, indem er sich in der Gouvernementsregierung eine eigene Hausmacht schuf. Dobrynin schilderte ihn zudem als eine charismatische Persönlichkeit, die sowohl von der Beamtenschaft wie vom Adel respektiert worden sei. Da Poljanskijs Machtausübung nicht auf formalen Kompetenzen fußte, scheint ein solches Charisma zur Stabilität seiner Herrschaft wesentlich beigetragen zu haben. Ähnliche Arrangements zwischen einem „schwachen Gouverneur“ und einem „starken Beamten“ finden sich auch in anderen Gouvernements. Tadeusz Bobrowski schildert den Gouverneur von Kiew, Dmitrij Bibikov, als einen klugen und gebildeten Menschen, der allerdings kein Interesse an der täglichen Verwaltungsroutine gehabt habe. Das Alltagsgeschäft überließ er deshalb dem Leiter der Gouvernementskanzlei, Nikolaj Pisarëv. Dieser nutzte seine Stellung jedoch dazu aus, um sich persönlich zu bereichern. Er verpachtete etwa staatlichen Grund an denjenigen, der ihn an den Einnahmen beteiligte. Außerdem hätte er die Ämter in der Gouvernementsverwaltung verkauft und auf diese Weise bald ein Netzwerk aus Günstlingen und Abhängigen geknüpft. Seinen Klienten ließ er weitere Vergünstigungen zukommen und hielt bei lokalen Konflikten seine schützende Hand über sie. Der Gouverneur Bibikov duldete diese Praxis, da ihm Pisarëv ein unentbehrlicher Helfer gewesen sei.257 Eine derartige stellvertretende Ausübung von Herrschaft kam immer wieder vor, war allerdings nie von langer Dauer. Die Amtszeit der Gouverneure betrug im Durchschnitt nur zwei bis drei Jahre, und mit der Abberufung des Gouverneurs endete in der Regel auch die Herrschaft eines untergeordneten Beamten. Ein derartiges Arrangement konnte allerdings auch zu einem handfesten Machtkampf führen. Vom Minsker Gouverneur, Alexander von Drebuš, wird berichtet, er habe seine Amtsgeschäfte nicht selbst geführt, sondern an seinen Vizegouverneur Skopin übergeben. Skopin baute in dieser Zeit ein gutes Verhältnis zum Militärgouverneur auf. Graf Stroganov galt jedoch als ein Gegner von Drebušs. Gemeinsam betrieben Skopin und Stroganov nun die Absetzung des Gouverneurs, damit Skopin auch offiziell dessen Amt übernehmen könnte. Stroganov habe sich in dieser Angelegenheit sogar an den Zaren gewandt und von Drebuš als einen Parteigänger der Minsker Gutsbesitzer und damit der Feinde Russlands angeschwärzt.258 Von Drebuš konnte diesen Angriff offenbar abwehren: Er blieb noch drei weitere Jahre im Amt, und Skopin wurde auch nicht sein Nachfolger. 257 Vgl. Bobrowski: Pamiętnik, S. 286 und 290ff. 258 Vgl. Notiz Benckendorffs vom 25.4.1832, in: GARF f. 109, op. 5, d. 386 lA, l. 41–41ob.

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Hinterließ ein schwacher Gouverneur ein politisches Vakuum, bot dies nicht nur anderen Amtsträgern die Möglichkeit, in dieses Vakuum vorzustoßen. Ein lokal gut vernetzter Adelsmarschall konnte in diesem Fall den staatlichen Herrschaftsanspruch des Zarenreiches auf lokaler Ebene leicht unterlaufen. In Grodno scheint Georgij I. Bažanov als Gouverneur kaum Fuß gefasst zu haben. Stattdessen hatte der Gouvernementsmarschall ein weit gespanntes Netz von Verwandten und Freunden geknüpft.259 Er pflege zu den Magnaten des Gouvernements genauso gute Beziehungen wie zu den höchsten staatlichen Beamten. Der Stabsoffizier der Gendarmerie von Grodno gestand ihm zu, dass er mit Hilfe seiner Beziehungen sämtliche Hindernisse, die sich ihm bei der Verwirklichung seiner Vorhaben in den Weg stellten, beiseite räumen könnte. Die staatlichen Amtsträger verneigten sich sogar vor ihm und brächten ihre Gunstbezeugungen auf Polnisch vor. Der Adelsmarschall übe nicht nur einen großen Einfluss auf die adligen Wahlbeamten in der Rechtsprechung aus, sondern auch auf die von der Krone ernannten Polizeibeamten. Die Landschaftsordner seien allesamt Einheimische oder mit einer aus der Region stammenden Polin verheiratet. Sie hätten sich alle freiwillig dem Adelsmarschall unterstellt. Im Gegenzug erhielten sie dessen Protektion und kämen mit dessen Hilfe zu staatlichen Auszeichnungen. Dieses Beispiel zeigt, dass die herausgehobene Stellung der Gouverneure als „Hausherren“ ein Ausdruck schwacher Staatlichkeit war. Die Gouverneure waren in der Verwaltungspraxis nicht nur vom lokalen Adel abhängig, sondern mussten aufpassen, die Herrschaft nicht ganz an einflussreiche Magnaten vor Ort zu verlieren. Ein ortsfremder Gouverneur hatte im Ringen um die Macht eine deutlich schlechtere Ausgangsposition als der Adelsmarschall, der aus der Region stammte und dort auf vielfältige Weise mit dem lokalen Adel und den staatlichen Beamten verwoben war. Mitunter ließ sich ein Gouverneur sogar durch großzügige Geschenke zum Klienten eines Adelsmarschalls machen.260 In der Historiographie wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass familiäre Beziehungen, Patronage und Netzwerke eine zentrale Rolle bei der Herrschaftsausübung in der russischen Provinz spielten.261 Folglich war Nepotismus ein Vor259 Vgl. zum Folgenden den Brief Dmitrij Vlasovs (Stabsoffizier der Gendarmerie in Grodno) an Benckendorff vom 14.12.1831 aus Grodno, in: GARF f. 109 s/a, op. 2, d. 287, l. 20–29ob, hier 20ob-21ob. 260 Der Gouverneur von Wolhynien, Žukovskij, hatte vom örtlichen Adelsmarschall zum Beispiel ein Geldgeschenk in Höhe von 40.000 Rubel entgegengenommen, vgl. den Brief des Landschaftsordners von Novograd-Volynskij, Oberstleutnant Miller, an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien, Graf Tur’ev, vom 6.11.1835, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 1864, l. 4–6. 261 Vgl. John P. LeDonne, John P.: Frontier Governors General 1772–1825, Part I: The Western Frontier, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 47 (1999), S. 56–88; Löwe: Poles, Jews, and Tatars, S. 60 und 88; Jörg Baberowski: Vertrauen durch Anwesenheit. Vormoderne Herrschaft im



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wurf, der regelmäßig auch gegenüber Gouverneuren in zentralrussischen Gouvernements erhoben wurde. Worin bestanden die Besonderheiten dieser Form der Herrschaftsausübung in den Westgouvernements? Zum einen gab es keine russische Gesellschaft, auf die sich die Gouverneure stützen konnten. Im preußischen Teilungsgebiet bildeten die ortsfremden Beamten eine neue Elite, die nach und nach in führende Positionen aufrückte. Man pflegte als Fremde den Kontakt untereinander und unterhielt kaum Verbindungen zur republikanisch-ständisch geprägten adligen und bürgerlichen Oberschicht. Der preußische Staat konnte seine Herrschaft auf diese sich vergesellschaftende Beamtenelite gründen.262 In den polnischen Provinzen des Zarenreiches blieben die russischen Amtsträger hingegen atomisiert. Obwohl auch sie alle fern der Heimat waren, pflegten sie jenseits der Amtsstube untereinander kaum private Kontakte. Ihre gegenseitige Beziehung war vor allem durch die Amtshierarchie bestimmt und blieb stets ein Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Untergebenen. Russische Zirkel innerhalb einer polnischen Gesellschaft bildeten sich nicht heraus.263 Auch die Gouverneure bildeten kein Zentrum, um das sich eine russische Gesellschaft scharen konnte. Im Gegenteil: Sie pflegten vorwiegend einen standesgemäßen Umgang mit den polnischen Magnaten und wurden eher Teil der polnischen Adelsgesellschaft. Nicht nur Standesdünkel veranlasste sie zu einem solchen Verhalten. Der Kiewer Gouverneur Bibikov hielt die polnische Gesellschaft sogar für allzu aristokratisch, zog diese aber dennoch der russischen vor, weil er dort interessanten Personen wie hohen Richtern, Universitätsprofessoren und anderen anregenden Gesprächspartnern begegnete.264 Auch der Generalgouverneur Dolgorukov lud die Wilnaer Gesellschaft regelmäßig in seinen Salon. Auf den rauschenden Festen sei kein Wort Russisch, sondern nur Französisch und Polnisch zu hören gewesen.265 Neben dem privaten Vergnügen der Gouverneure dienten diese Feste der symbolischen Kommunikation von Herrschaft, indem die hegemoniale Stellung der etablierten Elite durch die Nähe zum Gouverneur öffentlich dargestellt wurde.266 späten Zarenreich, in: ders. / David Feest / Christoph Gumb (Hg.): Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt a. M., New York 2008, S. 17–37, hier 22ff.; Schattenberg: Korrupte Provinz, S. 150–177; dies.: Weder Despot noch Bürokrat, S. 87–93. 262 Vgl. Bömelburg: Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat, S. 338. 263 Vgl. Ja. Balvanovič: Čto takoe russkoe obščestvo v severo-zapadnom krae? in: Semën Šolkovič (Hg.): Sbornik statej raz’’jasnjajuščich pol’skoe delo po otnošeniju k zapadnoj Rossii, 2 Bde., Wilna 1885–1887, Bd. 2, S. 369–374, hier 369. 264 Bobrowski: Pamiętnik, S. 286. 265 Lomačevskij: Zapiski žandarma, S. 254. 266 Nicht nur die staatliche Obrigkeit, sondern auch herrschende Klientelverbände und Netzwerke kommunizieren ihre vorrangige Stellung in der Regel durch symbolische Handlungen nach un-

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Es trafen aber nicht nur hohe staatliche Repräsentanten und Magnaten zusammen. Die Beamten der mittleren und unteren Verwaltungsebene hatten mehr private Kontakte zu ihrer polnischen Umwelt als zu ihren Vorgesetzten. Der Metropolit von Litauen hatte zudem den Eindruck, dass die Beziehungen der russischen Amtsträger zu ihrer polnischen Umwelt enger seien als die Kontakte in ihre Heimatgouvernements.267 Auch Balvanovič zeichnete das Bild einer gelungenen Integration der Beamten in ihr lokales Umfeld. Die orthodoxen Gläubigen hätten katholische Messen besucht, polnische Bücher gelesen und bald fließend Polnisch gesprochen.268 Der polnische Historiker Tadeusz Korzon kam in seiner Studie zu Minsk im 19. Jahrhundert zu dem Ergebnis, dass die russischen Beamten ihren neuen Wohnort bald als Heimat begriffen und sogar eine polnische Identität angenommen hätten.269 Immerhin waren russisch-polnische Eheschließungen an der Tagesordnung.270 Wie weit die Integration der russischen Beamten tatsächlich ging, ist angesichts der dürftigen Quellenlage schwer zu sagen. Die meisten derartigen Berichte stammen aus dritter Hand und sind nicht von den Beamten selbst verfasst worden.271 Plausibel erscheinen zumindest die wiederholten Berichte, dass Amtsträger, die eine polnische Frau geheiratet hatten, sowie deren gemeinsame Kinder im Alltag Polnisch sprachen.272 Eine zu enge Verflechtung von russischem Beamtentum und polnischer Gesellschaft stieß in St. Petersburg jedoch auf Vorbehalte. Die zarische Regierung wachte mit Argusaugen über das Verhältnis ihrer Repräsentanten zur Szlachta und registrierte jeden Ansatz von Fraternisierung mit deutlichem Unbehagen. Dem Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien war 1839 zu Ohren gekommen, dass in vielen Teilen der Verwaltung die russischen Beamten nicht nur mit den Einheimischen, sondern auch untereinander polnisch sprächen. Er hielt es deshalb für unabdingbar, alle russischen Beamten der Westgouvernements dahingehend zu belehren, dass es ihre Pflicht als Russen sei, die eigene Muttersprache in den

267 268 269 270 271 272

ten, vgl. Dagmar Freist: Staatsbildung, lokale Herrschaftsprozesse und kultureller Wandel in der Frühen Neuzeit, in: Ronald G. Asch / dies. (Hg.): Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln, Weimar, Wien 2005, S. 1–47, hier 11f. Brief Josefs, Metropolit von Litauen und Wilna, an den Oberprokurateur des Heiligen Synods, Graf Protasov, vom 10.1.1855, abgedruckt in: Pravoslavie v Severo-zapadnom krae v 1855 godu, in: Russkaja starina 102 (1900), S. 211–218, hier 211–216. Balvanovič: Čto takoe russkoe obščestvo, S. 373. Tadeusz Korzon: Mińsk w połowie XIX wieku. Ze wspomnień osobistych, Warschau 1906, S. 1. Vgl. Czubaty: Zasada „dwóch sumień“, S. 214f. Die umfangreichen und anekdotenreichen Memoiren von Dobrynin, der immerhin 47 Jahre in der Gouvernementsverwaltung von Vitebsk und Mogilëv diente, berichten hingegen kaum von Begegnungen mit Einheimischen, vgl. Dobrynin: Žizn’. Vgl. Planson: Poslednee slovo o pol’skom voprose, S. 5.



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polnischen Provinzen des Reiches zu verbreiten und nicht sich selbst in Polen zu verwandeln.273 Der Gouverneur von Podolien versuchte in seinem Antwortschreiben den Generalgouverneur zu beruhigen. Die Lage sei weit weniger dramatisch. Natürlich sprächen die russischen Beamten untereinander nicht polnisch, sondern russisch. Doch die Umwelt sei nun einmal polnisch und deshalb werde im Alltag mit den Einheimischen auf Polnisch gesprochen. Auch sprächen die Kinder der Beamten in der Schule polnisch, so dass es ihnen mitunter schwer falle, zu Hause in eine andere Sprache zu wechseln. Aus diesem Grunde komme es vor, dass die Kinder mit den Eltern auch zu Hause polnisch sprächen.274 Diese Nachricht konnte den um die russische Sprache besorgten Generalgouverneur allerdings kaum beruhigen. Am Rand des Briefes kommentierte er: „Entsetzlich!“275 Unter Nikolaus I. wurde der Vorwurf der „Polonisierung“ der Beamtenschaft immer lauter, fand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die zunehmende Publizistik Verbreitung und prägte schließlich das allgemeine Bild vom „polonisierten russischen Beamten“ in den Westgouvernements. Russisch-polnische Ehen erregten zudem die Sorge vor einer „Polonisierung“ des Nachwuchses.276 Den Amtsträgern selbst warf man vor, sie gäben sich möglichst polnisch, um sich den einflussreichen Gutsbesitzern anzudienen. Sie sprächen im Alltag nur noch polnisch und vergäßen ihre russische Muttersprache.277 Diese Entwicklung gefährde die zarische Herrschaft, da die Beamten durch die Nähe zu ihrer Umwelt letztlich „vom Kopf bis zu den Füssen vom polnischen Geist angesteckt“ würden.278 Dieser skeptische Blick der Regierung und der entstehenden Öffentlichkeit auf das Verhältnis von staatlichen Repräsentanten und lokaler Gesellschaft bildet einen signifikanten Unterschied zwischen den Westgouvernements und Zentralrussland: In den polnischen Provinzen wurde dem Gouverneur und seinen Beamten ein zu enges Verhältnis zur ortsansässigen Szlachta zum Vorwurf gemacht. Eine gute Beziehung zwischen Gouverneur und russischem Adel galt hingegen als wünschenswert. Dies offenbart die nationale Prägung des Blicks der nikolaitischen Regierung auf die Westgouvernements: Die Szlachta wurde nicht mehr zuerst als Adel, sondern als Polen wahrgenommen. 273 Brief des Generalgouverneurs von Kiew, Podolien und Wolhynien an die Gouverneure von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 21.10.1839, in: CDIAK f. 442, op. 789a, d. 330, l. 1–1ob. 274 Brief des Gouverneurs von Podolien an den Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien vom 31.10.1839, in: CDIAK f. 442, op. 789a, d. 330, l. 2. 275 Ebd. 276 Vgl. Planson: Poslednee slovo o pol’skom voprose, S. 5. 277 So M. Peskovskij: Na rubeže dvuch ėpoch (Iz ličnych vospominanij), in: Russkaja starina 85 (1896), S. 511–539, hier 513. 278 Ja. Balvanovič: Čto takoe russkoe obščestvo, S. 373.

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Vor diesem Hintergrund erregte die Herrschaftsstrategie der Gouverneure, sich mit Hilfe unterschiedlicher Techniken ein lokales Netzwerk aufzubauen, das latente Misstrauen der Regierung in St. Petersburg. Vor 1830 stand dabei noch der Vorwurf im Vordergrund, die Gouverneure verfolgten ihren eigenen Vorteil, nicht jedoch die Interessen des Staates. Benckendorffs Gendarme deckten lokale Netzwerke vor allem mit dem Hinweis auf persönliche Bereicherung auf. Dem Wilnaer Gouverneur Peter Gorn warf man vor, ein Netzwerk aus einigen Beamten und „Schwindlern“ aufgebaut zu haben, mit dessen Hilfe er vor allem seine eigenen Interessen und diejenigen seiner Frau verfolge.279 Der Kiewer Gouverneur Vasilij Katerinič wiederum habe dank verwandtschaftlicher Kontakte das gesamte Gouvernement im Griff und tue „ungeheuerliche Dinge“ zu seinem eigenen Nutzen.280 Korruption und die Veruntreuung von Geldern standen im Fokus der Nachforschungen, die von der Gendarmerie betrieben wurden, und gehörten zu den häufigsten Vorwürfen, die man gegenüber den Gouverneuren erhob.281 Daneben setzte eine als übertrieben empfundene Selbstdarstellung die „Hausherren“ der Gouvernements dem Vorwurf der „Selbstherrlichkeit“ aus. Empört berichtete etwa der Großfürst Konstantin Pavlovič über die Praxis des Minsker Gouverneurs, auf jenem Teilstück einer Straße, die über seinen Besitz führte, eigenmächtig einen Wegezoll einzutreiben. Darüber hinaus müssten die Dorfeinwohner jedes Mal, wenn der Gouverneur von zu Hause aufbrach, den Weg zu seinem Wohnsitz säubern. Und bei seiner Durchreise durch das Dorf Voložina ließ er dreihundert Personen zusammenrufen, die einen neuen Fahrweg für den Schlitten des Gouverneurs bauen mussten.282 Nach dem Novemberaufstand änderten sich die Berichte der Gendarmen in einem wesentlichen Punkt: Nicht mehr der Hang zur persönlichen Bereicherung und die mangelnde Kontrolle durch die zentrale Staatsgewalt empörten Benckendorff und seine Helfer, sondern Klientelbeziehungen zur polnischen Umwelt und die vermeintliche Abhängigkeit der Gouverneure vom polnischen Adel. So kennzeichnete eine bei Benckendorff eingegangene Anzeige den Gouverneur von Grodno, Michail Bobjatinskij (Bobiatyński), nicht nur als schwach, sondern als politisch verdächtig. Er lasse die Adligen, die unter polizeilicher Beobachtung 279 Vgl. zum Beispiel den Bericht des Leiters der Gendarmerie des Gouvernements Wilna, Generalmajor Lesovskij, an Benckendorff vom 3.1.1830, in: GARF f. 109, op. 6, d. 34, l. 4–5, hier 4. 280 Brief des Stabsoffiziers der Gendarmerie des Gouvernements Kiew an Benckendorff vom 20.1.1832, in: GARF f. 109 s/a, op. 2, d. 295, l. 1–1ob, hier 1ob. 281 So hätte zum Beispiel der Minsker Gouverneur Gieczewicz Gelder des Amts für öffentliche Fürsorge seinem Sohn zur Verfügung gestellt, vgl. das Schreiben von Konstantin Pavolovič an den Kommandanten des Litauischen Polizeikorps vom 13.10.1829, in: GARF f. 109, op. 4, d. 314, l. 11–22. 282 Schreiben des Großfürsten Konstantin Pavolovič an den Kommandanten des Litauischen Polizeikorps vom 13.10.1829, in: GARF f. 109, op. 4, d. 314, l. 11–22.



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stehen, in all ihren Handlungen frei gewähren. Selbst auf eine Anzeige hin, die ein Baron Rozen gegen zwei Beisitzer im Niederen Landgericht erhoben habe, habe er nicht reagiert. Die Beamten in der Gouvernementskanzlei seien nicht nur faul, sondern läsen sogar aufrührerische Schriften.283 Ein zweiter Bericht wurde noch deutlicher. Bobjatinskij sei zwar ein Mann mit großer Verwaltungserfahrung, jedoch ohne Geist und Charakter. Selbst in den unruhigen Zeiten des Novemberaufstandes verbringe er so wenig Zeit wie möglich in seinen Amtsräumen. Er führe seine dritte Ehe mit einer Polin und habe zahlreiche Kontakte nach Litauen. Bobjatinskij selbst stamme aus Weißrussland und habe den größten Teil seines Dienstes in litauischen Kanzleien und in niederen Ämtern verbracht. Aufgrund seiner persönlichen Schwäche befinde er sich ganz in den Händen seiner Frau und ihrer Verwandten. Er teile inzwischen auch die patriotischen Ansichten der Familie seiner Frau. Aus diesem Grunde stehe die gesamte Verwaltung des Gouvernements unter dem Einfluss des einheimischen Adels und entwickle sich langsam zu einem Hort des Aufstands. Der Adelsmarschall von Novogrudok stehe nicht unter Aufsicht, obwohl er eine Geheimgesellschaft gegründet habe und bei der Vorbereitung zum Aufstand ertappt worden sei. Obwohl der Gouverneur die Aufständischen kannte, habe er nichts gegen deren Treiben unternommen.284 Hier stand nicht mehr der Vorwurf im Raum, der Gouverneur strebe mit Hilfe lokaler Netzwerke nach politischem Eigengewicht, sondern vielmehr die Gefahr der Abhängigkeit von „der polnischen Gesellschaft“ oder vom Geld der polnischen Magnaten. Der anonyme Bericht zog das Fazit: „Man muss ganz klar sagen, dass das Gouvernement Grodno in jeder Beziehung eine völlige Umgestaltung der inneren Verwaltung benötigt: einen Wechsel der Gouvernementsregierung, eine Neugründung der Polizei, eine Neubesetzung der Stellen mit zuverlässigen Leuten, eine Ablösung des örtlichen Militärkommandos; Maßnahmen zur Vorbeugung eines Aufstandes sind zu ergreifen und gefährliche Personen sowie überführte Übeltäter aus der Verwaltung zu entfernen. In einem Wort: In diesem Gouvernement wie auch im Gouvernement Wilna konnte sich das Übel lange Zeit aufgrund der Fehler der örtlichen Verwaltung entfalten. (…) Diese Gouvernements sollen wegen der Schwierigkeiten bei ihrer Umgestaltung einem besonderen Statthalter unterstellt werden, der die Gründe für das aktuelle Übel erkennt, die vorausgegangenen Fehler der Verwaltung als eine heilsame Erfahrung sieht, seine Lehren für einen künftigen moralischen Geist zieht und das entsprechende Verständnis für die schwierige Lage der

283 Vgl. das Schreiben des Beamten Kankrin an Benckendorff vom 13.5.1831, in: GARF f. 109, op. 6, d. 287, l. 1–2ob. 284 Bericht über die Lage im Gouvernement Grodno im August 1831 von einem unbekannten Autor, o. d. [1831], in: GARF f. 109 s/a, op. 2, d. 287, l. 1–18ob., hier 1–7.

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Region aufbringt, in die sie leichtsinnige und hinterlistige Personen gebracht haben. (…) Man braucht nun eine kluge, vorausschauende und tatkräftige Regierung, die alle Zweige der Verwaltung und Nuancen des polnischen Charakters kennt. Andernfalls wird man in dieser Region keine Ruhe herstellen können.“285

Die bewusste Verknüpfung von charakterlichen Schwächen, polnischer Umgebung und Tatenlosigkeit gegenüber den Aufständischen war eine politische Mixtur, die Gouverneure leicht zu Fall brachte. Wenige Wochen nach der anonymen Anzeige bei Benckendorff wurde Bobjatinskij seines Amtes enthoben. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Gouverneure als Fremde in die Westgouvernements kamen und vor Ort Strategien entwickeln mussten, um trotz eines kleinen Beamtenapparates Herrschaft ausüben zu können. Zwei Möglichkeiten standen ihnen offen: Entweder sie arrangierten sich mit den sozialen Netzwerken, die sie vor Ort vorfanden, oder sie versuchten mit dem Knüpfen eines eigenen Netzwerks sich aus der Abhängigkeit von lokalen Eliten zu lösen. Da die russische Staatsgewalt in den polnischen Provinzen generell auf die Kooperation mit dem lokalen Adel angewiesen war, blieben die Chancen herrschaftlicher Durchdringung gering und die Spielräume traditioneller Gewalten groß. Die gewählten Herrschaftsstrategien brachten die Gouverneure zudem leicht in Konflikt mit der zentralen Staatsgewalt. Die Regierung witterte in einer zu engen Verbindung zwischen staatlichen Repräsentanten und polnischer Adelsgesellschaft die Gefahr, dass der Gouverneur letztlich zur Marionette des örtlichen Adels würde, und eine enge Verflechtung von niederen Amtsträgern und polnischer Umwelt weckte die Befürchtungen einer Polonisierung des russischen Beamtentums. Auf der anderen Seite galt der Aufbau eines eigenen Netzwerks aus Verwandten und Vertrauten als Nepotismus. In diesen Fällen stand schnell der Vorwurf im Raum, der Gouverneur verfolge nur noch seine eigenen Interessen. Die zarische Herrschaft war allerdings soweit institutionalisiert, dass schwache Gouverneure von den Verwaltungsstrukturen aufgefangen wurden. Ein höherer Beamter konnte die Lücke schließen, die ein durchsetzungsschwacher oder am Regieren desinteressierter Amtsinhaber hinterließ. Trutz von Trotha beschreibt Herrschaft als das Ergebnis eines Vorgangs, in dem sich Macht verfestigt, Akteure Machtchancen akkumulieren und sich die Verfügungsgewalt über diese Ressourcen institutionalisiert. Allerdings weist von Trotha auch darauf hin, dass dieser Prozess keineswegs selbstverständlich, sondern ein grundsätzlich instabiler,

285 Ebd., l. 8–9.



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jederzeit umkehrbarer Vorgang sei.286 Auch wenn die zarische Herrschaft im Alltag stabil und soweit institutionalisiert war, dass selbst schwache Gouverneure diese nicht ernsthaft beschädigen konnten, so führte der Novemberaufstand von 1830/31 deren grundsätzliche Fragilität vor Augen. Da es der Regierung und den Gouverneuren nicht gelungen war, die russische Herrschaft über die Westgouvernements als eine „gerechte Herrschaft“ zu vermitteln, war deren Legitimation prekär und deren Institutionalisierung blieb fragil.

3. Herrschaftspraxis im Alltag: Russische Staatsgewalt und po lnische Adelsgesellschaft beim Aushandeln ihrer Interessen 3.1. Der Ausbau des Straßennetzes und des Postwesens: Infrastrukturmaßnahmen als Interessenkonvergenz von Staat und Adel Katharina II. forcierte nach den Teilungen die Erschließung der inkorporierten Provinzen. Ein ausgedehntes Straßennetz und ein flächendeckendes Postwesen stellten die Infrastruktur für einen berechenbaren, gleichmäßigen und regelmäßigen Nachrichtenaustausch zur Verfügung. Diese „Kommunikationsrevolution“ erwies sich im 18. Jahrhundert in ganz Europa als eine wesentliche Voraussetzung für weitere Modernisierungsprozesse, insbesondere für den fortschreitenden Staatsausbau.287 Der Ausbau der Infrastruktur diente jedoch nicht allein der Herrschaftssicherung. Als aufgeklärte Monarchin verfolgte Katharina auch den Anspruch, ihre Untertanen durch das Programm eines gemäßigten Forschritts zu beglücken. Auch die Bewohner in den annektierten polnischen Provinzen sollten von den Leistungen der zarischen Herrschaft überzeugt werden.288 Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit der Ausbau der Infrastruktur ein gemeinsames Projekt von russischem Staat und polnischem Adel war und wie sich deren Verhältnis bei einer bestehenden Interessenkonvergenz gestaltete. Inwieweit empfand es der polnische Adel als Zumutung und Einmischung von außen, wenn der russische Staat sich mit Erwartungen an ihn wandte, die letztlich dem Gemeinwohl zugute kamen?

286 Trutz von Trotha: Koloniale Herrschaft: Zur soziologischen Theorie der Staatsentstehung am Beispiel des „Schutzgebietes Togo“, Tübingen 1994, S. 1–21. 287 Zur allgemeinen Bedeutung des Postwesens für eine standardisierte Kommunikation vgl. Behringer: Im Zeichen des Merkur, S. 682–688. Für die Entwicklung im Zarenreich vgl. Roland Cvetkovski: Modernisierung durch Beschleunigung. Raum und Mobilität im Zarenreich, Frankfurt a. M., New York 2006, S. 16f. und 88–183. 288 Vgl. Ganzenmüller: Ordnung als Repräsentation der Staatsgewalt, S. 62–69.

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Der Aufbau eines weit verzweigten Straßennetzes und eines intakten Kommunikationssystems sind Elemente von Staatsbildungsprozessen, im Zuge derer stets die Etablierung einer Verwaltung und der Ausbau von Infrastrukturen vorangetrieben werden.289 Infrastrukturen verbinden nicht nur Zentrum und Peripherie, sondern sind gesellschaftliche Integrationsmedien, die Lebenswelten durch Vereinheitlichung kolonisieren.290 Auch Katharina II. legte großen Wert auf einen raschen Ausbau der Straßen und des Postwesens in den polnischen Provinzen. Nur wenige Wochen nach der ersten Teilung Polens erließ sie eine Postordnung für die beiden neu gegründeten Gouvernements. In Pskov und Mogilëv waren 134 neue Poststationen geplant, die in ausreichendem Maße mit Postillionen, Kurieren, Kutschen und schnellen Pferden ausgestattet sein sollten. An jeder Station war ein Gebäude zu errichten, das ausreichend Platz für ein Postkontor und Unterbringungsmöglichkeiten für Reisende bieten sollte. Die reguläre Post sollte einmal pro Woche verkehren.291 Auch den Straßenbau trieb die Zarin voran und sicherte damit nicht nur ihre Herrschaft über vom Zentrum weit entlegene Gebiete, sondern förderte nicht zuletzt die Entstehung eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes. Der Ausbau des Kommunikationsnetzes war also auch Teil einer imperialen Integrationspolitik.292 Für Katharina II. hatte aus diesem Grund die Einrichtung einer Postverbindung zwischen den Gouvernementsstädten der annektierten Provinzen und St. Petersburg sowie einer Handelsroute zwischen Weißrussland und den Ostseehäfen Priorität.293 Die zarische Regierung zeigte ein starkes Interesse am Ausbau der Infrastruktur, an der Instandhaltung des Straßennetzes und am Funktionieren des Postbetriebs. Dem russischen Staat fehlten jedoch die finanziellen und personellen Mittel, um diese Projekte in Eigenregie durchführen zu können. So bezog der Staat die lokalen Eliten zu einem erheblichen Maße in die Verwirklichung seiner Infrastrukturprojekte in den Westgouvernements mit ein. Katharina II. stellte für den Bau von Poststationen in den Gouvernements Minsk, Wolhynien und Podolien zwar eine Anschubfinanzierung von 265.000 Rubel zu Verfügung. Nach drei 289 Vgl. Dirk van Laak: Infrastrukturen und Macht, in: François Duceppe-Lamarre / Jens Ivo Engels (Hg.): Umwelt und Herrschaft in der Geschichte / Environnement et pouvoir: une approche historique, München 2008, S. 106–114, hier 107. 290 Vgl. Dirk van Laak: Infra-Strukturgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 367– 393, hier 368 und 375. 291 Ukas Katharinas II. über die Postverwaltung in den Gouvernements Pskov und Mogilëv vom 23.11.1772, in: PSZ I, Bd. 19, Nr. 13.911, S. 660–667. 292 Vgl. Herfried Münkler: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005, S. 160. 293 Vgl. die Instruktion für Kachovskij und Krečetnikov vom 28. Mai 1772, in: PSZ I, Bd. 19, Nr. 13.808, S. 507–511, hier 510, und den Senatsbeschluss vom 17.8.1772, in: PSZ I, Bd. 19, Nr. 13.852, S. 559.



Herrschaftspraxis im Alltag

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Jahren sollte jedoch der örtliche Adel die Summe aufbringen, die für den Betrieb des Postwesens nötig sei.294 In den litauischen Gouvernements musste sich der Adel darüber hinaus mit einer Sonderabgabe am Bau von Poststationen finanziell beteiligen.295 Die Instandhaltung der Straßen wurde ebenso in die Verantwortung der lokalen Gesellschaft gegeben. Das Streckennetz des Gouvernements Mogilëv wurde in Abschnitte aufgeteilt und deren Instandhaltung in die Verantwortung der jeweiligen Anlieger – Gutsbesitzer oder in der Nähe liegende Dörfer – gegeben. Diese mussten die anfallenden Reparaturarbeiten selbstständig durchführen. Der Kreishauptmann achtete nur darauf, dass die Verantwortlichen die Schäden ihrer jeweiligen Teilstücke auch wirklich behoben.296 Das Delegieren der Verantwortung für das Wegenetz auf die lokale Ebene folgte einem Vorbild, das die zarische Regierung in Livland kennen und schätzen gelernt hatte. Unter schwedischer Herrschaft waren dort die Haupt- und Poststraßen vermessen und den umliegenden Dörfern ein bestimmter Streckenabschnitt zur Instandhaltung zugeteilt worden. Sollten Brücken oder Straßen baufällig sein, dann waren die Schäden von demjenigen zu beheben, dessen Haus der beschädigten Stelle am nächsten lag. Die Haupt- und Poststraßen waren jedes Frühjahr und jeden Herbst auszubessern. Die anfallenden Arbeiten waren von den Bauern der Dörfer auszuführen und wurden von einem lokalen Beamten überwacht.297 Der Bezug auf das Gemeinwohl ist bei Infrastrukturprojekten stets Teil der technokratischen Hintergrundideologie.298 Doch nicht der Staat allein hatte ein Interesse am Ausbau des Kommunikationsnetzes. Gerade adlige Gutsbesitzer, die nicht nur für den Eigenbedarf, sondern Überschüsse produzierten und verkauften, profitierten von intakten Verkehrswegen. Der Ausbau des Dnjestrs als Wasserstraße und das Anlegen von Kanälen zwischen dem Dnjestr und der westlichen Düna sowie der Weichsel erschlossen neue Handelswege in die Türkei.299 Und die Zugänglichkeit der Schwarzmeerhäfen wie Odessa oder Cherson eröffnete gerade den ukrainischen Gutsbesitzern einen Zugang zum lukrativen Schwarz-

294 Vgl. die Anordnung Katharinas II. an den Generalgouverneur von Minsk, Iz-jaslavsk und Braclav, Timofej Tutolmin, vom 6.9.1795, in: PSZ I, Bd. 23, S. 765–771. 295 Vgl. die Anordnung Katharinas II. an Generalgouverneur von Litauen, Nikolaj Repnin, vom 29.10.1796, in: PSZ I, Bd. 23, S. 964–966. 296 Vgl. den Gouverneursbericht aus Mogilëv von 1808, in: RGIA f. 1281, op. 11, d. 79, l. 50–74, hier 53ob-54. 297 Zu den Verordnungen für Livland, deren Gültigkeit 1797 auf das gesamte Reich übertragen wurde, vgl. den Senatsukas vom 31.8.1797, in: PSZ I, Bd. 24, Nr. 18.120, S. 713–719. 298 Vgl. Dirk van Laak: Garanten der Beständigkeit. Infrastrukturen als Integrationsmedien des Raumes und der Zeit, in: Anselm Doering-Manteuffel (Hg.): Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2006, S. 167–180, hier 168. 299 Vgl. Thaden: Russia’s Western Borderlands, S. 55.

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meerhandel.300 Die zarische Regierung berief sich auf diese wirtschaftlichen Vorteile, wenn sie die lokale Adelsgesellschaft in die Pflicht nahm. Zwar benötige man Straßen und Brücken für den Postverkehr und Truppenbewegungen, von ihnen hänge aber auch der Handelsverkehr ab. Die Anwohner sollten deshalb zu ihrem eigenen Wohl darauf achten, dass die Wege stets ausgebessert und in einem ordentlichen Zustand gehalten würden.301 Der Adel erkannte zudem die Vorzüge, die ein zuverlässiges Postwesen mit sich brachte. In den weißrussischen Gouvernements Pskov und Mogilëv kümmerten sich die ansässigen Gutsbesitzer darum, dass die in ihren Dörfern neu errichteten Poststationen in angemessenen Häusern untergebracht und ausreichend Postillione und frische Postpferde zur Verfügung standen.302 Das baufällige Postgebäude in Mogilëv wurde mit staatlichen Geldern und Spenden des lokalen Adels wieder instand gesetzt.303 Die Post war die Voraussetzung für eine Kommunikation mit der Welt und lag dem Adel deshalb sehr am Herzen. Bei den Gouverneuren gingen etwa regelmäßig Beschwerden von Adligen ein, die sich über die hygienischen Bedingungen in den Stationen, den Zustand der Postpferde oder die hohen Gebühren beklagten.304 Und in Litauen äußerte der lokale Adel sogar den Wunsch, die Lage des unterfinanzierten und deshalb unzureichenden Postwesens durch eine allgemeine Sonderabgabe zu verbessern.305 Darüber hinaus gab es auch Adlige, deren Lebensgrundlage unmittelbar mit dem Postwesen zusammenhing. Der russische Staat verpachtete die Poststationen auf jeweils 15 Jahre an Personen jeden Standes und gestand ihnen das Recht zu, dort eine Wirtschaft zu betreiben und Nachtquartiere zu vermieten.306 Für Kleinadlige bot dies die Möglichkeit, sich einen Lebensunterhalt zu verdienen. Es gab also jenseits der allgemeinen Vorzüge, die eine zuverlässige Briefzustellung und ein regelmäßiger Personentransport mit sich brachten, eine Reihe von Adligen, die ein konkretes wirtschaftliches Interesse an einem prosperierenden Postwesen hatten.307

300 Vgl. Norman E. Saul: Russia and the Mediterranean 1797–1807, Chicago, London 1970, S. 177– 180; Jan Reychman: Le commerce polonais en Mer Noire au XVIIIe siècle par le port de Kherson, in: Cahiers du monde russe et soviétique 7 (1966), S. 234–248. 301 Senatsukas vom 31.8.1797, in: PSZ I, Bd. 24, Nr. 18.120, S. 713–719, hier 716. 302 Vgl. Vgl. Ėngel’gardt: Zapiski, S. 26. 303 Vgl. Gouverneursbericht aus Mogilëv von 1808, in: RGIA f. 1281, op. 11, d. 79, l. 50–74, hier 53ob.-54. 304 Vgl. zum Beispiel das Schreiben des Wilnaer Gouverneurs an den Wilnaer Gouvernementsmarschall vom 28.12.1809, in: LVIA f. 391, op. 6, d. 51, l. 23–27. 305 Vgl. den Ukas Pauls I. vom 3.9.1799, in: PSZ I, Bd. 25, Nr. 19.111, S. 783f. 306 Ukas Katharinas II. über die Postverwaltung in den Gouvernements Pskov und Mogilëv vom 23.11.1772, in: PSZ I, Bd. 19, Nr. 13.911, S. 660–667. 307 Vgl. zum Beispiel das Schreiben des Adligen Savickij, der die Poststation in Novobychov unterhielt, an den Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv, Smolensk und Minsk mit der Bitte um



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Trotz mancher Beschwerden scheint der staatlich forcierte und vom Adel mitfinanzierte Ausbau der Infrastruktur in den Westgouvernements gut funktioniert zu haben. Dafür spricht zum einen, dass in den Quellen keine Konflikte zwischen zentraler Staatsgewalt und lokalem Adel überliefert sind, die sich am Bau einer Straße oder der Einrichtung einer Poststation entzündet hätten. Zum anderen berichten zahlreiche Zeugnisse von dem vortrefflichen Zustand des Wegenetzes und des Postwesens in den polnischen Provinzen. Während sich die Landwege in Russland – wie auch in anderen Teilen Europas – Ende des 18. Jahrhunderts noch in einem bedauernswerten Zustand befanden,308 lobten die Reisenden die vorbildliche Beschaffenheit der weißrussischen Chausseen. Lev Ėngel’gardt erinnerte sich nicht nur an breite, gerade Birkenalleen, Brücken und Kanäle entlang der Straßen, sondern auch an ein Netz von Poststationen, das dem erschöpften Reisenden in neu errichteten Holzhäusern eine Mahlzeit oder ein Zimmer zur Übernachtung biete.309 Paul I. stellte auf seiner Reise durch das Baltikum persönlich fest, dass die Wege und Brücken in Litauen, Kurland und Livland in bestem Zustand waren, und empfahl sie als Vorbild für das gesamte Imperium.310 Die weißrussischen Alleen hielten selbst dem unbestechlichen Urteil von ausländischen Reisenden stand. So schrieb etwa Joseph II. im Jahr 1780 an seine Mutter: „Les chemins sont très-bons, fort larges, plantés, mais point ferrés, et uniquement de terre et de sable, par conséquent gâtés aux moindres pluies.“311 Die Etablierung eines flächendeckenden Postwesens ging vergleichsweise rasch vonstatten. Innerhalb eines Jahres war im Gouvernement Pskov ein Netz von 67 Poststationen entstanden, die mit 884 Pferden und 442 Postillionen ausgestattet waren.312 Im Gouvernement Mogilëv gab es 1773 sogar 69 Poststationen.313 Reiseberichte bestätigen, dass es sich bei diesen um keine Potëmkinschen Dörfer handelte. Gavriil Dobrynin, der 1777 als 25-Jähriger von Kleinrussland in das

308 309 310 311 312

313

die Auszahlung der mit ihm vereinbarten Unterstützung vom 2.12.1826, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 1530, l. 1–2ob. Cvetkovski: Modernisierung, S. 17f. Vgl. Ėngel’gardt: Zapiski, S. 26. Anordnung Pauls I. an den Generalprokurateur vom 23.5.1797, in: PSZ I, Bd. 24, Nr. 17.970, S. 616. Brief Josephs II. an Maria Theresia vom 14.6.1780, in: Maria Theresia und Joseph II. Ihre Correspondenz sammt Briefen Joseph’s an seinen Bruder Leopold, hg. v. Alfred Ritter von Arneth, 3 Bde., Wien 1867–1868, Bd. 3, S. 256. Zwei der Stationen befanden sich in neu errichteten Steinbauten, 32 in Holzhäusern. An fünf Stationen befanden sich die Häuser noch im Bau, an den restlichen hatten die Bauarbeiten jedoch noch nicht begonnen, vgl. den Bericht über die weißrussischen Gouvernements von Zachar Černyšëv vom 1.6.1773, in: RGADA f. 12, op. 1, d. 159, l. 114–186ob., hier 132ob.-133. Bericht über die weißrussischen Gouvernements von Zachar Černyšëv vom 1.6.1773, in: RGADA f. 12, op. 1, d. 159, l. 114–186ob., hier 159–160ob.

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Gouvernement Mogilëv gekommen war, um sich eine Anstellung als Beamter zu suchen, hielt folgende Eindrücke in seinen Erinnerungen fest: „Als wir in das neu erworbene weißrussische Land hinüberzogen, wunderten wir uns, als wir die endlose Allee erblickten, auf der wir wanderten. Auf beiden Seiten waren Birken in zwei Reihen gepflanzt, und wir eilten, um ihr Ende zu erreichen. Aber zu unserem großen Erstaunen und zu unserer Wanderfreude erfuhren wir, dass dies die große Poststraße war, die auf den Befehl des damaligen Generalgouverneurs von Weißrussland, Graf Zachar Grigorevič Černyšëv, errichtet worden war (…) Und als ich dann das neu erbaute Posthaus, das ordentliche Gespann und die tüchtigen Leute entdeckte, die uns überall flink anspannten, ohne vorher auch nur das Postgeld oder den Reisepass zu erwähnen, als ich die mit einer Jacke von grünem Tuch uniformierten Postillione mit kupfernen Wappen vorn und einer Nummer hinten an den Mützen erblickte, als ich die in ihrer ganzen Breite festen und sogar schönen Straßen und Brücken erblickte, war ich so einfältig, dass es mir nicht im Entferntesten in den Sinn kam, dass alles, was wir da sahen, die Frucht des Wirkens und des gebildeten Geschmacks des Grafen Černyšëv sei. Vielmehr schloss ich aus allem, was ich gesehen hatte, dass wir bei der Ankunft in der ersten weißrussischen Stadt, Rogačëv, prachtvolle Gebäude sehen würden. Ein Beweis, dass ich nicht die geringste Kenntnis von dem politischen Zustand der Republik Polen besaß (…) Als wir uns nun der Stadt näherten erkannten wir in ihr ein gewöhnliches Dorf, und als wir einzogen, fanden wir als das beste von allen Gebäuden das neue Posthaus, das auf einem öffentlichen Platze errichtet war.“314

Auch wenn er in diesem Bericht die Rolle Černyšëvs verklärt, so bestätigt Dobrynin in einem entscheidenden Punkt andere Augenzeugenberichte: Die annektierten polnischen Provinzen verfügten nur wenige Jahre nach den Teilungen über eine intakte Infrastruktur, die aus einem ausgedehnten Wegenetz und einem flächendeckenden Postwesen bestand. Anders als Dobrynin vermutete, war dies allerdings nicht die Leistung der zarischen Regierung oder gar allein des Generalgouverneurs. Vielmehr ist darin das Ergebnis einer reibungslosen Kooperation zwischen russischer Staatsgewalt und polnischem Adel zu sehen, die in dieser Frage an einem Strang zogen, da beide ein vitales Interesse an einer funktionierenden Infrastruktur in den Westgouvernements hatten. Der Ausbau des Straßennetzes sowie des Postwesens in den Westgouvernements ist ein häufig vernachlässigtes Beispiel der staatlichen Durchdringung der polnischen Provinzen durch das Zarenreich. Die russische Staatsgewalt und den polnischen Adel verband in dieser Frage der gemeinsame Nutzen, den eine funktionierende Infrastruktur mit sich brachte. Den finanziellen Beitrag zum Straßenbau 314 Dobrynin: Žizn’, S. 155f.



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und das geforderte Engagement bei der Instandhaltung der Wege empfand der Adel offensichtlich nicht als eine staatliche Zumutung oder gar als Zwangsmaßnahme einer fremden Macht. Vielmehr akzeptierte man die zarische Herrschaft, die auf diesem Feld zum allgemeinen Vorteil wirkte. Nach Max Weber gibt es drei Motive für die Fügsamkeit in Ordnungen: „aus Opportunitätsgründen geheuchelt, aus materiellem Eigeninteresse praktisch geübt, aus individueller Schwäche und Hilflosigkeit als unvermeidlich hingenommen“.315 Katharina II. verstand es, ihre Herrschaft mit den Eigeninteressen der Untertanen zu verknüpfen und auf diese Weise die Integration des polnischen Adels zu fördern. Die Verbindung von privatem und staatlichem Interesse wird bei den Infrastrukturmaßnahmen besonders deutlich, da der Bau einer neuen Straße als eine Maßnahme gelten kann, die öffentliches und privates Interesse miteinander verbindet. Die Kooperation von Adel und Staatsgewalt trug insgesamt zu einer pragmatischen Integration der Szlachta in das Zarenreich bei. Die Adligen versprachen sich aus einer Beteiligung an den Infrastrukturprojekten des Zarenreiches mehr Nutzen als von einer Zurückweisung der staatlichen Ansprüche. Sie orientierten sich also an den vorhandenen Handlungsoptionen, zu denen es sehr wohl Alternativen gegeben hätte. Die Adligen agierten trotz dieser Auswahl an Möglichkeiten jedoch normengemäß, weil sie sich davon den meisten Nutzen versprachen. Die Nutzenmaximierung der Individuen führt auf diese Weise zu deren sozialer Integration.316

3.2. Herrschaft als soziale Praxis: Staatsgewalt und Adel im Verwaltungsalltag Jede Herrschaft ist auf Kooperation angewiesen. Befehle müssen an die Adressaten kommuniziert, Informationen über die lokalen Verhältnisse gesammelt, Soldaten ausgehoben, Steuern und Abgaben eingezogen und Dienste nutzbringend verwendet werden. Herrschaft bedarf also der regelmäßigen Zusammenarbeit zwischen den Inhabern von Herrschaftsrechten und den davon Betroffenen.317 In den Westgouvernements des Zarenreiches musste die russische Staatsgewalt mit dem polnischen Adel kooperieren. Mit Blick auf die adligen Wahlbeamten stellt sich die Frage, inwieweit diese den monarchischen Willen ausführten und im Zweifels-

315 Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 123. 316 Zur gesellschaftlichen Integration durch „soziales Handeln“ vgl. ebd., S. 3. 317 Vgl. Stefan Brakensiek: Herrschaftsvermittlung im alten Europa. Praktiken lokaler Justiz, Politik und Verwaltung im internationalen Vergleich, in: ders. / Heide Wunder (Hg.): Ergebene Diener ihrer Herren? Herrschaftsvermittlung im alten Europa, Köln, Weimar, Wien 2005, S. 1–21, hier 1f.

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fall auch gegen ihre Standesgenossen durchsetzten, und in welchem Maße sie als Interessenvertreter gegenüber der Zentralgewalt auftraten.318 An der Spitze der adligen Selbstverwaltung stand das von Katharina II. geschaffene Amt des Adelsmarschalls. Er war sowohl der höchste Repräsentant des Adels als auch ein Staatsdiener innerhalb des zarischen Verwaltungsapparates. Für das 18. Jahrhundert lässt sich mangels Quellen keine empirisch fundierte Aussage zur Beziehung zwischen Adelsmarschällen und Institutionen der Staatsgewalt treffen. Die Gouverneure meldeten in ihren jährlichen Berichten, dass vor Ort Ruhe und Ordnung herrschte. Über Formen der Interaktion zwischen staatlichen und ständischen Amtsträgern geben die Akten keine Auskunft. Möglicherweise sind die vermeintlichen Erfolgsmeldungen der Gouverneure lediglich Folge einer mangelnden Präsenz der Staatsgewalt in der Fläche. Die Versicherung, dass vor Ort Ruhe und Ordnung herrschte, kann eben auch Ausdruck eines fehlenden Gestaltungsspielraumes sein. Eine weitgehende Zurückhaltung der Staatsgewalt bei der Implementierung ihrer Normen erzeugte keine Konflikte und stützte somit die etablierte Ordnung. Im Laufe des 19. Jahrhunderts häufen sich allerdings Berichte, in denen eine Interaktion zwischen Gouverneuren und lokaler Adelsgesellschaft fassbar wird. Im Folgenden soll deshalb auf dieser Grundlage die Alltagsbeziehung zwischen zarischer Staatsgewalt und polnischem Adel am Beispiel der Gouverneure und der Adelsmarschälle untersucht werden. Adelsmarschälle waren Wahlbeamte, die sowohl auf Gouvernements- als auch auf Kreisebene für drei Jahre gewählt wurden. Der Gouvernementsmarschall war der einflussreichste Wahlbeamte im Zarenreich. Er stand in der Verwaltungshierarchie unmittelbar unter dem Gouverneur und hatte das Recht, sich mit allen Angelegenheiten, die den Adel betrafen, direkt an die Regierung in St. Petersburg zu wenden, ab 1802 an den Innenminister. Er führte die Ahnenbücher des Adels, schrieb beim Eintritt eines Adligen in den Staatsdienst ein Gutachten über den Kandidaten und führte in einer Reihe von regionalen Organen den Vorsitz. Die Kreisadelsmarschälle, die ebenfalls alle drei Jahre gewählt wurden, hatten als Amtsträger der lokalen Ebene im Verwaltungsalltag eine entscheidende Bedeutung. Sie standen praktisch allen Kreisbehörden vor, vertraten die Interessen des Kreisadels in den Verwaltungsorganen auf Gouvernementsebene und verfügten mit der Landespolizei auch über exekutive Macht. Der Kreisadelsmarschall war weder dem Gouvernementsmarschall noch der Gouvernementsregierung unterstellt, sondern nur seiner adligen Wählerschaft verantwortlich.319 Wahlbeamte 318 Walter Demel: Europäischer Adel. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2005, S. 84. 319 Vgl. Korf: Dvorjanstvo i ego soslovnoe upravlenie, S. 86ff., 313–332 und 402–412; Avenir P. Korelin: Dvorjanstvo v poreformennoj Rossii 1861–1904 gg. Sostav, čislennost’, korporativnaja organizacija, Moskau 1979, S. 133 und 220f.



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erhielten im Zarenreich ein Gehalt, das der Adel durch eine halbjährlich zu leistende Umlage aufbrachte. Davon ausgenommen waren die Adelsmarschälle und die Deputierten der Adelsversammlungen. Sie übten ihre Ämter ehrenamtlich aus, erhielten nur eine allgemeine Aufwandsentschädigung und bekamen anfallende Reisekosten zurückerstattet.320 Die fehlende Bezahlung weist auf den spezifischen Charakter hin, den Katharina II. den Adelsmarschällen zugedacht hatte: Sie sollten Interessenvertreter des lokalen Adels gegenüber der Regierung und zugleich ein freiwilliger Beitrag des Adels zur lokalen Verwaltung des Reiches sein. Die Historiographie hat die politische Autonomie der Adelsmarschälle bislang als eher gering veranschlagt. Schon Baron Korf betonte in seinem Standardwerk zur adligen Verwaltung, dass die zarische Regierung seit Beginn des 19. Jahrhunderts die Adelsmarschälle immer stärker mit staatlichen Aufgaben belegte und so in den Kreis der Staatsbeamten einbezog. Zu ihren Pflichten gehörte die Rekrutenaushebung ebenso wie der Kampf gegen Epidemien.321 Dieser Auffassung ist die moderne Historiographie weitgehend gefolgt. Nach HansJoachim Torke gewährte die Regierung der adligen Selbstverwaltung nur wenige Freiräume und sah in den Adelsmarschällen allenfalls eine besondere Art von Staatsbeamten. Unter Nikolaus I. verschmolzen ständische Selbstverwaltung und staatliche Bürokratie immer stärker miteinander, so dass der Adelsmarschall letztlich zu einem ausführenden Organ der Regierung geworden sei.322 Auch Dietrich Geyer zeigte sich skeptisch gegenüber den politischen Gestaltungsmöglichkeiten ständischer Vertreter, die zugleich Bestandteil der staatlichen Administration waren: „Auch der Adelsmarschall, der einzige ständische Repräsentant, über den das obščestvo des Kreisadels verfügte, wurde mehr und mehr in die vom Staat gesetzte Pyramide subordinierter Dienste eingebaut. Der Aufgabenkreis, den die predvoditeli im Rahmen der Lokalverwaltung versehen mussten, verwandelte dieses ständische Ehrenamt in ein transmittierendes Institut der gouvernementalen Gewalt. Den Adelsmarschällen oblag es, die Anforderungen der Behörden mit den Möglichkeiten der Landschaft in Übereinstimmung zu bringen. Es mochte die Frage sein, ob diese oszillierende Figur in einer Übergangszone zwischen Staat und ‚Gesellschaft’ dem Adelskorpus zu eigenständiger Kraft verhelfen konnte.“323

320 Vgl. Torke: Russisches Beamtentum, S. 32; In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts betrug diese Aufwandsentschädigung allerdings die beachtliche Summe von 1.300 bis 1.500 Rubel, vgl. Korelin: Dvorjanstvo v poreformennoj Rossii, S. 226. 321 Korf: Dvorjanstvo i ego soslovnoe upravlenie, S. 313–332. 322 Torke: Russisches Beamtentum, S. 31 und 40. 323 Geyer: „Gesellschaft“ als staatliche Veranstaltung, S. 41.

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Die Memoiren polnischer Adliger scheinen dieses Bild eines abhängigen Staatsdieners für die Westgouvernements zu bestätigen. Insbesondere nach dem Novemberaufstand und der Konarskij-Affäre von 1840 – der Aufdeckung einer polnischen Geheimgesellschaft – habe es kaum noch fähige Amtsträger gegeben, sondern nur noch unterwürfige Personen, die nach Titel und Ansehen strebten. Sie hätten sich gegenüber der staatlichen Macht als willfährige Diener verhalten und seien nur noch schwache Vertreter des Adels gewesen.324 Demgegenüber betonen jedoch neuere Arbeiten, dass der polnische Adel in den Westgouvernements vor 1864 die lokale Verwaltung dominierte und deshalb die eigentliche Herrschaft ausübte: allerdings im Namen des Zaren.325 Katharina II. hatte die adlige Selbstverwaltung mit Aufgaben betraut, die der zentralen Staatsgewalt nutzten. Inwieweit entsprachen die Aufgaben, die der Staat den lokalen Organen auftrug, auch den Interessen der lokalen Gesellschaft? Welche Aufgaben wurden als Zwang empfunden? An welchen Fragen entzündeten sich Konflikte zwischen der zentralen Staatsgewalt und den Adelsmarschällen? Bislang wurden die Stellung und die Tätigkeit der Adelsmarschälle der Westgouvernements im Verwaltungsalltag noch nicht untersucht. Die Historiographie stützte ihre Interpretationen allein auf die gesetzlichen Rahmenbedingungen und schloss von den staatlichen Normen auf die Verwaltungspraxis. Barbara StollbergRilinger hat jedoch darauf hingewiesen, dass die Integration des Gemeinwesens in vormodernen Gesellschaften in einem hohen Maße durch Interaktion erfolgte, das heißt durch persönliche Kommunikation unter Anwesenden.326 Trotz schwieriger Quellenlage soll in diesem Kapitel die Tätigkeit der Adelsmarschälle in der Praxis untersucht und ihre Stellung zwischen zentraler Staatsgewalt und polnischer Adelsgesellschaft näher bestimmt werden. Anschließend wird auch nach den Ausprägungen von Integration durch Kommunikation im Verwaltungsalltag zu fragen sein. Die zarische Staatsgewalt war bei der Abschöpfung von Ressourcen auf die Adelsmarschälle angewiesen. Sie spielten beim Eintreiben von Steuern, der Stellung von Rekruten und der Versorgung der stationierten zarischen Truppen eine wichtige Rolle. So erhob die Regierung zwar den Anspruch auf diese materiellen und personellen Forderungen, den konkreten Umfang der Leistungen handelten jedoch die Akteure vor Ort aus. Die Legitimität und die Verhältnismäßigkeit der 324 Vgl. Bobrowski: Pamiętnik, S. 83–87. 325 Chwalba: Polen und der Osten, S. 25f. An anderer Stelle betont Chwalba, dass der Januaraufstand in dieser Hinsicht einerseits zwar einen Einschnitt bedeute, da die zarische Regierung nach 1864 eine „Depolonisierung“ der Verwaltung betrieb, andererseits sei die lokale Administration auf Kreisebene davon jedoch nur wenig betroffen gewesen, vgl. Chwalba: Polacy w służbie moskali, S. 130. 326 Stollberg-Rilinger: Symbolische Kommunikation, S. 514.



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staatlichen Ansprüche konnten von Seiten des Adels also in Zweifel gezogen werden. Folglich bargen genau diese Politikfelder erhebliches Konfliktpotential. Das Eintreiben der Steuern verlief in keiner Region des Russischen Reiches reibungslos. Im Mai 1799 fehlten zum Beispiel im reichsweiten Durchschnitt immer noch zwölf Prozent jener Abgaben, die im Jahr 1798 auf Gouvernementsebene einzuziehen gewesen wären. In den Westgouvernements waren die Rückstände zwar überdurchschnittlich hoch, doch fielen sie nicht gänzlich aus dem Rahmen.327 Die meisten Konflikte scheint hingegen die Versorgung der stationierten Truppen verursacht zu haben. Die örtlichen Kommandanten wandten sich zum Beispiel regelmäßig mit Beschwerden an die Adelsmarschälle, wenn nicht genügend Futter für die Militärpferde oder Brennholz geliefert wurde.328 Wenn die Ernte schlecht war, sank auch die Bereitschaft zur Ablieferung von Getreide.329 Und wenn sich die örtlichen Gutsbesitzer weigerten, ihre Wiesen für das Weiden von Militärpferden zur Verfügung zu stellen, wandte sich der Gouverneur an den Adelsmarschall, damit dieser ausreichend Weideflächen für das Militär ausfindig machte.330 Es greift allerdings zu kurz, die Rolle des Adelsmarschalls als untergeordneten Befehlsempfänger für staatliche Aufgaben zu verstehen. Vielmehr sahen die staatlichen Organe in ihm einen Repräsentanten des Adels, der zwischen den staatlichen Anforderungen und den adligen Interessen vermitteln konnte. Im Fall der Weiderechte wurde dem Adelsmarschall zum Beispiel kein Auftrag erteilt, für dessen Erfüllung er die persönliche Verantwortung trug. Vielmehr erwartete der Gouverneur, dass der Adelsmarschall die örtlichen Gutsbesitzer darum bat, dem Militär ein Stück Weideland zu überlassen, bis am Ende eine ausreichende Fläche zur Verfügung stünde.331 Die Adelsmarschälle traten daraufhin mit den örtlichen Gutsbesitzern in Verhandlungen. Eine Lösung in diesem Interessenkonflikt zwischen Staatsgewalt und Adel konnte zum Beispiel so aussehen, dass Artilleriepferde gegen eine angemessene finanzielle Entschädigung auf Adelsbesitz weiden durften.332 Auch die Finanzierung des von Katharina II. initiierten Postwesens war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Gegenstand regelmäßiger Verhandlungen zwi327 Vgl. Ukas des Senats vom 2.5.1799, in: PSZ I, Bd. 25, S. 627f. 328 Vgl. z. B. den Brief des Kommandanten des stationierten Husarenregiments an den Kreisadelsmarschall von Urick vom 1.7.1834, in: LVIA f. 708, op. 2, d. 1199, l. 219. 329 Vgl. den Brief des Gouverneurs an den Generalgouverneur vom 25.2.1801, in: LVIA f. 378, god 1801, d. 135, l. 168–171. 330 Vgl. den Jahresbericht des Gouverneurs von Wolhynien für 1806 vom 4.5.1807, in: CDIAK f. KMF 11, op. 1, d. 91, l. 44–90, hier 53–53ob. 331 Ebd. 332 Einen solchen Kompromiss handelten zum Beispiel die Kreisadelsmarschälle von Wolhynien mit den örtlichen Gutsbesitzern aus, vgl. den Lagebericht des Gouverneurs von Wolhynien für das Jahr 1836 vom 23.7.1837, in: CDIAK f. 442, op. 1, d. 2037, l. 90–99, hier 98ob.

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schen Staat und Adel. Tatsächlich war die Abgabenlast für das Postwesen in den Westgouvernements deutlich höher als in den zentralrussischen Provinzen.333 So schlug zum Beispiel der Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv, Smolensk und Minsk am 24. November 1832 dem Mogilëver Gouverneur die Einberufung einer außerordentlichen Adelsversammlung vor, um die Frage des Unterhalts der Poststationen zu diskutieren. Ziel dieser Zusammenkunft sollte es sein, den Adel von einer Teilfinanzierung der Poststationen zu überzeugen, damit die Tarife gesenkt werden konnten.334 Der Gouverneur wandte sich daraufhin an den Gouvernementsmarschall, der ohne zu zögern die Verantwortung des Adels für den allgemeinen Nutzen des Gouvernements anerkannte. Allerdings betonte er auch, dass der Unterhalt der Post bereits einen großen Teil der Landessteuer (zemskij sbor) absorbiere und eine Ausweitung dieses Anteils letztlich zu Lasten anderer Verpflichtungen zu gehen drohe. Außerdem verlangte er konkrete Angaben darüber, in welchem Maße die Posttarife sänken, wenn man die Forderung des Gouverneurs erfüllte.335 Der Adel kam also weder der Bitte der Staatsmacht unmittelbar nach, noch verweigerte er sich dem staatlichen Ansinnen grundsätzlich. Stattdessen trat der Adelsmarschall in seiner Funktion eines gewählten Repräsentanten in Verhandlungen ein. Er wies auf die bestehende Abgabenlast hin und verlangte zudem Informationen über die Verwendung der geforderten Gelder. Es kam zwar nicht zu der vom Generalgouverneur angeregten außerordentlichen Adelsversammlung, doch auf der nächsten regulären Adelsversammlung wurde der Beschluss gefasst, die Poststationen aus der Landessteuer finanziell zu unterstützen. Allerdings achtete der Adel darauf, dass sich dadurch die allgemeine Abgabenlast nicht erhöhte. Die zur Verfügung gestellten Gelder speisten sich nämlich aus Überschüssen, die für das Bereitstellen von Futter für die Militärpferde nicht benötigt worden waren.336 Dieser Fall zeigt einen durchaus typischen Aushandlungsprozess zwischen russischer Staatsgewalt und polnischem Adel: Der Staat benötigte zum Unterhalt der Poststationen Geld. Der Adel zeigte sich zur Übernahme der Kosten bereit, legte aber Wert darauf, dass sich die bestehende Abgabenlast nicht weiter erhöhte. Am Ende traf die Adelsversammlung einen Beschluss, der die Interessen beider Seiten berücksichtigte. Der Gouverneur konnte dem Generalgouverneur als Verhandlungserfolg melden, dass die von ihm angeregte Finanzierung der Poststati333 Vgl. das Sitzungsprotokoll des Ministerrats vom 3.5.1824, in: RGIA f. 1263, op. 1, d. 360, l. 152–158. 334 Schreiben des Generalgouverneurs von Vitebsk, Mogilëv, Smolensk und Minsk an den Gouverneur von Mogilëv vom 24.11.1832, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 6517, l. 1. 335 Schreiben des Adelsmarschalls von Mogilëv an den Gouverneur von Mogilëv vom 31.1.1833, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 6517, l. 6. 336 Schreiben des Gouverneurs von Mogilëv an den Generalgouverneur von Vitebsk, Mogilëv, Smolensk und Minsk vom 4.2.1835, in: NIAB f. 1297, op. 1, d. 6517, l. 7.



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onen durch den Adel realisiert werde. Der Adel wiederum hatte sein Ziel erreicht, eine Steuererhöhung abzuwenden, und sah sein Geld in der Infrastruktur des Gouvernements nutzbringender angelegt als im Unterhalt des Militärs. Das Zarenreich sparte durch die adlige Selbstverwaltung beträchtliche Mittel ein, die eine tief gestaffelte, bis in die entferntesten Provinzen des Imperiums reichende Administration erfordert hätte. Dafür war der Preis zu entrichten, dass die ehrenamtlich tätigen kommunalen Amtsträger die Autorität und die Machtmittel des Staates zur Durchsetzung eigener materieller und immaterieller Interessen nutzten. Die „beauftragte Selbstverwaltung“ setzte also eine Interessenkonvergenz voraus, die materielle Vorteile, Einfluss, Prestige und Moral umfasste.337 Die finanzielle Abhängigkeit der Staatsgewalt zeigte sich besonders, wenn ein Gouverneur jenseits der Verwaltungsroutine lokalpolitische Projekte vorantreiben wollte. Im Jahr 1819 initiierte zum Beispiel der Mogilëver Gouverneur Dmitrij Tolstoj die Errichtung eines Denkmals für Zachar Černyšëv, den ersten Generalgouverneur Weißrusslands. Die Statue sollte von einem Bildhauer der Akademie der Künste entworfen und auf dem zentralen Platz der Stadt errichtet werden. Die Kosten, die der Gouverneur auf rund 25.000 Rubel schätzte, sollte der Mogilëver Adel tragen. Tolstoj beauftragte deshalb die Adelsversammlung mit dem Eintreiben von freiwilligen Spenden.338 Das Ministerkomitee unterstützte Tolstojs Initiative, und wenig später gab auch der Zar seine Zustimmung zu dem Projekt. Noch im selben Jahr legte die Akademie der Künste einen Denkmalsentwurf vor.339 Von diesem Moment an geriet die Erfolg versprechend angelaufene Initiative des Gouverneurs jedoch ins Stocken. Sechs Jahre nach seinem Vorschlag war noch immer keine einzige Spende des lokalen Adels eingegangen.340 Der Innenminister bat daraufhin den Generalgouverneur, Nikolaj Chovanskij, die Angelegenheit anlässlich der im Dezember 1825 stattfindenden Adelswahlen dem Mogilëver Adel vortragen zu lassen.341 Der Gouvernementsmarschall Dombrowski kam dieser Bitte zwar nach, doch zeigte dessen Aufruf keinerlei Wirkung.342 Auf der Adelsversammlung drei Jahre später appellierte der Adelsmarschall erneut an seine Standesgenossen: wiederum vergeblich. Der Adel bat um Verständnis, dass er aufgrund der schlechten Ernten in den letzten Jahren das notwendige Geld nicht 337 338 339 340

Siehe dazu allgemein: Brakensiek: Herrschaftsvermittlung, S. 10f. Schreiben Tolstojs an den Innenminister vom 14.2.1819, in: NIAB f. 2001, o. 1, d. 45, l. 1. Schreiben des Innenministers an Tolstoj vom 15.5.1819, in: NIAB f. 2001, o. 1, d. 45, l. 2–3. Schreiben des Adelsmarschalls an den Gouverneur von Mogilëv vom 11.8.1825, in: NIAB f. 2001, o. 1, d. 45, l. 26. 341 Schreiben des Generalgouverneurs, N. N. Chovanskij, an den Gouverneur von Mogilëv, I. F. Maximov, vom 5.11.1825, in: NIAB f. 2001, o. 1, d. 45, l. 32–33. 342 Schreiben des Gouvernementsmarschalls an den Gouverneur von Mogilëv vom 9.7.1826, in: NIAB f. 2001, o. 1, d. 45, l. 37.

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aufbringen könne.343 So war zehn Jahre nach der Initiative Tolstojs bei der Gouvernementsregierung noch immer keine einzige Kopeke eingegangen. Im Jahre 1830 legte der Innenminister das Projekt schließlich zu den Akten.344 Das lokalpolitische Projekt, dem zarischen Staat ein Denkmal für einen seiner Repräsentanten in den weißrussischen Gouvernements zu finanzieren, war an der fehlenden Spendenbereitschaft des Adels gescheitert. Dieses Beispiel verdeutlicht die finanzielle Abhängigkeit der russischen Staatsgewalt vom örtlichen Adel. Das schmale Budget der Gouvernementsregierung bot keinerlei Spielräume für kostspielige Projekte. Tolstojs Vorhaben, in Mogilëv ein Denkmal aufzustellen, hatte ohne die finanzielle Unterstützung des Adels keine Aussicht auf Erfolg. In diesem Fall konnte die Szlachta der staatlichen Initiative aber nur wenig abgewinnen. Černyšëv symbolisierte als erster Generalgouverneur der Region den russischen Herrschaftsanspruch und den politischen Akt der Teilungen Polens. Der offensichtliche Versuch Tolstojs, mithilfe dieses Denkmals den zentralen Platz Mogilëvs als russisch zu codieren und auf diese Weise die Stadt sowie die Region symbolisch in das Imperium zu integrieren, stieß beim polnischen Adel auf wenig Gegenliebe. Die Szlachta opponierte jedoch nicht offen gegen den Denkmalbau, indem sie den Versuch einer imperialen Vereinnahmung skandalisierte. Stattdessen ignorierte sie den Spendenaufruf und trug durch diese Verweigerungshaltung zum langsamen Sterben des Projektes bei. Die entscheidenden Rollen in diesem memorialpolitischen Drama spielten der Gouverneur und der Adelsmarschall. Tolstoj initiierte das Projekt und trieb es mit Energie voran, wurde jedoch ein Jahr später abgelöst. Seine Nachfolger zeigten hingegen keinerlei Engagement mehr. Die Angelegenheit ruhte so lange, bis der Generalgouverneur sich nach dem Stand der Dinge erkundigte. Nun wandte er sich an den Adelsmarschall mit der Bitte, um Spenden zu werben. Dombrowski stellte das Projekt daraufhin auf zwei Adelsversammlungen vor. Ihm kam die Rolle eines Mittlers zwischen zentralstaatlicher und lokaler Ebene zu. Er war einerseits das Sprachrohr des Generalgouverneurs gegenüber der lokalen Adelsgesellschaft und vertrat andererseits ihm gegenüber die adligen Interessen. Die Adelsmarschälle prägten somit die Kommunikation zwischen russischer Staatsgewalt und polnischer Adelsgesellschaft. Der Erfolg eines lokalpolitischen Projekts hing wesentlich von deren Überzeugung, in jedem Fall jedoch von ihrer Überzeugungskraft 343 Schreiben des Adelsmarschalls an den Gouverneur von Mogilëv vom 10.4.1829, in: NIAB f. 2001, o. 1, d.  45, l.  45–46. Auch die Aufrufe in den Adelsversammlungen der Kreise Čausy, Mstislav, Senno, Kopyc’, Orša und Bychov erbrachten keine Spenden, vgl. das Schreiben des Adelsmarschalls an den Gouverneur von Mogilëv vom 8.10.1829, in: NIAB f. 2001, o. 1, d. 45, l. 51. 344 Schreiben des Innenministers an den Generalgouverneur vom 15.2.1830, in: NIAB f. 1297, o. 1, d. 931, l. 37–38.



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ab. Das schwache Spendenergebnis für den Bau eines Černyšëvdenkmals legt den Schluss nahe, dass der Adelsmarschall nicht hinter dieser Initiative stand und wohl nur formal der Bitte des Generalgouverneurs um einen Spendenaufruf nachgekommen war. Er selbst hatte schließlich auch nichts gespendet, obwohl die Adelsmarschälle in solchen Fällen für gewöhnlich mit gutem Beispiel vorangingen. Der Adel der Westgouvernements verweigerte sich nicht grundsätzlich bei staatlichen Denkmalprojekten. Am 15. Mai 1814 hatte der Oberkommandierende in St. Petersburg, Sergej Vjazmitinov, zu Spenden für ein Alexanderdenkmal in der Hauptstadt und die Herausgabe einer Medaille zu Ehren Alexanders I. aufgerufen. Damit sollte der Zar für den Sieg über Napoleon geehrt werden.345 Bis zum Juli 1814 waren allein aus dem Gouvernement Minsk Spenden in Höhe von 96.292 Rubel eingegangen.346 Die im Vergleich zu Tolstojs Denkmalprojekt überwältigende Spendenbereitschaft lässt sich durch die anderen Umstände erklären. Es war ein großer Unterschied, ob man sich am Bau eines Denkmals für Černyšëv oder für den Zaren beteiligte. Des Weiteren war Černyšëv im polnischen Adel unbeliebt, mit Alexander I. verband sich hingegen die Hoffnung auf die Eigenstaatlichkeit. Und schließlich war ein Zarendenkmal in St. Petersburg eine Ehrbezeugung für Alexander I., die durchaus mit adligem Selbstverständnis in Einklang stand, und keine Manifestation zarischer Macht in den polnischen Provinzen. Nicht nur der Ort, an dem ein Denkmal errichtet werden sollte, spielte eine wichtige Rolle. Von Bedeutung war auch die historische Sinnstiftung, die mit dem Denkmal verfolgt wurde. Im Jahr 1825 bat der Generalgouverneur von Vitebesk, Mogilëv, Smolensk und Minsk den Gouvernementsmarschall von Minsk um dessen Unterstützung für einen Spendenaufruf zugunsten eines Denkmals für Dmitrij Donskoj. Die Statue sollte auf dem Schnepfenfeld (Kulikovo pole), wo das vereinigte Heer der nordostrussischen Fürstentümer im Jahre 1380 die Tataren geschlagen hatte, errichtet werden. Der Generalgouverneur erklärte das Spenden zu einer patriotischen Pflicht, indem er darauf hinwies, dass Dmitrij Donskoj das Vaterland vom Feind befreit habe.347 Dieser Appell konnte in Minsk kaum fruchten, da die Tataren zu jener Zeit mit dem Großfürstentum Litauen verbündet gewesen waren. In der Erinnerungskultur des polnisch-litauischen Adels hatte die Schlacht am Don also einen ganz anderen Platz eingenommen. So gingen letztlich nur aus vier Kreisen des Gouvernements Spenden in einer Höhe von insgesamt 70 Silber- und

345 Ukas des Senats vom 15.5.1814, in: NIAB f. 320, op. 1, d. 19, l. 2–3. 346 Listen der Adligen des Gouvernements Minsk und deren Spenden für das Alexanderdenkmal, o. d. [Juli 1814], in: NIAB f. 320, op. 1, d. 19, l. 10–153ob. 347 Schreiben des Generalgouverneurs von Vitebesk, Mogilëv, Smolensk und Minsk an den Gouvernementsmarschall von Minsk vom 30.5.1825, in: NIAB f. 320, op. 1, d. 68, l. 1–1ob.

354

Staatsausbau und Herrschaftspraxis in der polnischen Provinz

77 Papierrubel ein.348 Auch der Versuch, in Wilna Gelder für die Errichtung eines Denkmals des Fürsten Vladimir in Cherson zu sammeln, endete für die Regierung enttäuschend. Im Kreis Šavel’ hatten sich nur 16 Adlige dazu bereitgefunden, kleinere Kopekenbeträge zu spenden.349 Der polnische Adel entzog sich also nicht grundsätzlich einer finanziellen Beteiligung am staatlichen Denkmalbau. Er unterschied allerdings genau zwischen den einzelnen Projekten. Sammelte der Staat im ganzen Reich für ein Denkmal des Zaren, fand dies einerseits Unterstützung im polnischen Adel, andererseits war es auch eine Frage der Ehre, mit dem Spendenergebnis nicht hinter den anderen Regionen des Reiches zurückzubleiben. Der Bau einer Alexanderstatue wurde somit zu einem Projekt des polnischen Adels, ein Denkmal für Zachar Černyšëv oder Dmitrij Donskoj hingegen nicht. Die Rolle des Adelsmarschalls ist mit dem Geyer’schen Bild einer „oszillierenden Figur in einer Übergangszone zwischen Staat und ‚Gesellschaft’“ nur unzureichend beschrieben. Vielmehr standen die Adelsmarschälle an der Schnittstelle zwischen der staatlichen und der lokalen Herrschaftssphäre und fungierten deshalb als Makler von Informationen, Macht und Ressourcen. Aufgrund ihrer Verwurzelung in der lokalen Gesellschaft erfüllten sie wesentliche politische und kulturelle Mittler- und Übersetzerfunktionen. Während etwa in Ostelbien die preußischen Landräte als Ortsfremde die Rolle eines „Brokers“350 zwischen lokalen Eliten und dem Staat ausübten, fungierten in den Westgouvernements des Zarenreiches die einheimischen Adelsmarschälle als glaubwürdige und einflussreiche Vermittler zwischen staatlichen und ständischen Interessen.

3.3. Konfrontation statt Aushandeln: Konflikte zwischen Gouverneur und Adelsmarschall Hans-Joachim Torke schilderte die Beziehung zwischen Gouverneur und Adelsmarschall als eine Konfliktgeschichte. Die Gouverneure sahen sich in ihrer Rolle als „Hausherren“ den Adelsmarschällen übergeordnet und erwarteten von diesen, „höflich“ behandelt zu werden. In der Praxis bedeutete dies allzu oft, dass sie eine unterwürfige Haltung einforderten. Den Adelsmarschällen wiederum war die 348 Schreiben des Generalgouverneurs von Vitebesk, Mogilëv, Smolensk und Minsk an den Gouvernementsmarschall von Minsk vom 2.3.1826, in: NIAB f. 320, op. 1, d. 68, l. 13–14. 349 Schreiben des Innenministers an den Wilnaer Gouvernementsmarschall vom 19.7.1829, in: LVIA f. 391, op. 6, d. 280, l. 4. Das Spendenergebnis ist nur für den Kreis Šavel’ überliefert, vgl. die Auflistung der Spenden für ein Denkmal des Fürsten Vladimir in Cherson aus dem Kreis Šavel’ vom 24. Oktober 1829, in: LVIA f. 391, op. 6, d. 280, l. 13. 350 Wagner: Bauern, Junker und Beamte, S. 571.



Herrschaftspraxis im Alltag

355

Ehre zuteilgeworden, zu den herausragenden Repräsentanten des Adels gewählt worden zu sein. Sie wähnten sich den staatlich bestellten Gouverneuren moralisch überlegen, da Letztere dem Zaren dienten und damit eigentlich nur Befehlsempfänger waren.351 Die Konstellation eines politisch selbständigen Gouverneurs und eines den adligen Interessen verpflichteten Adelsmarschalls barg erhebliches Konfliktpotential und der Ausgang eines Kräftemessens zwischen Beiden war nicht vorhersehbar. Als zum Beispiel der Gouvernementsmarschall von Podolien, Graf Czacki, im Jahr 1829 nach Galizien fahren wollte, um seine kranke Schwester zu besuchen, verweigerte ihm der Gouverneur, Nikolaj Grochol’skij, einen Auslandspass. Eine Untersuchung brachte zu Tage, dass dieser Vorfall nur die Spitze einer Auseinandersetzung zwischen Czacki und Grochol’skij war, deren Ursprünge bis in das Jahr 1816 zurückreichten. Damals hatte der Gouverneur dem Grafen das ihm zustehende Honorar für Holzschlagarbeiten in seinem Wald verweigert. Seitdem war der Adelsmarschall dem Gouverneur wiederholt in die Quere gekommen. So hatte er einen Fall von Bereicherung im Amte aufgedeckt, den der Gouverneur bis dahin zu decken versucht hatte, da er mit dem Schuldigen befreundet war. Und bei den letzten Adelswahlen hatte Czacki erfolgreich interveniert, als der Gouverneur einige ihm missliebige Adlige von der Adelsversammlung ausschließen wollte. Die Verweigerung des Auslandspasses war also Teil eines sich seit 13 Jahren hinziehenden Kleinkrieges zwischen den beiden Amtsträgern.352 Dieses Beispiel zeigt, dass ein Konflikt zwischen Gouverneur und Adelsmarschall nicht unbedingt einem Gegensatz zwischen russischer Staatsgewalt und polnischem Adel entspringen musste. Vielmehr konnte eine solche Auseinandersetzung unterschiedliche oder – wie in unserem Beispiel – mehrere Schauplätze haben: ein privater Streit zwischen den beiden Amtsträgern, ein Konflikt zwischen rivalisierenden Netzwerken (hier die Entlarvung eines bestechlichen Vertrauten des Gouverneurs) und schließlich eine politische Frage (hier die Zulassung von Adligen zur Adelsversammlung). Die zentrale Staatsgewalt ergriff auch nicht automatisch für den Gouverneur und gegen den Adelsmarschall Partei. In unserem Beispiel gelangte der Fall bis zum Großfürsten Konstantin, dem Bruder des Zaren, der die Anweisung gab, dem Adelsmarschall den erbetenen Auslandspass auszustellen. Russische Staatsgewalt und polnische Adelsgesellschaft traten sich Ende des 18. und im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts auf lokaler Ebene nicht in Form von 351 Vgl. Torke: Das russische Beamtentum, S. 35f. 352 Vgl. Schreiben des Grafen A. Czacki an Alexander Benckendorff, o. d. [Dezember 1829], in: GARF f. 109, op. 4, d. 451, l. 1–4; Bericht von Alexander Benckendorffs an den Großfürsten Konstantin Pavlovič, vom 8.2.1830, in: ebd., l. 25–32ob.

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Staatsausbau und Herrschaftspraxis in der polnischen Provinz

Institutionen, sondern als Einzelpersonen gegenüber. In der alltäglichen Praxis war die Beziehung zwischen zarischem Staat und polnischem Adel nicht unpersönlich, sondern an konkrete Menschen geknüpft. Bei deren Begegnung spielten Faktoren wie persönliche Sympathie, private Interessen oder die Zugehörigkeit zu bestimmten Netzwerken eine wesentliche Rolle, die man bei einer Untersuchung der lokalen Verwaltung nicht unterschätzen darf. Aus diesem Grunde lassen sich politische und persönliche Konflikte meist gar nicht voneinander trennen. Die Auseinandersetzung zwischen Czacki und Grochol’skij begann als ein privater Streit um Geld und wurde durch den Umstand, dass beide ein Amt innehatten, anschließend auch auf lokalpolitischer Bühne ausgetragen. Ebenso sind Fälle überliefert, in denen sich der Konflikt genau umgekehrt entwickelte. In Wolhynien hatte der Gouverneur die Spenden des Adels veruntreut. Als der Gouvernementsmarschall Ledóchowski den Gouverneur auf diesen Umstand ansprach, entspann sich ein Wortwechsel, im Zuge dessen der Gouverneur Ledóchowski beleidigte. Die Meinungsverschiedenheit zweier Amtsträger um die Verwendung öffentlicher Gelder war nun zu einer privaten Fehde geworden, die einen Beleidigungsprozess nach sich zog.353 Eine derartige Vermischung von amtlichen und privaten Angelegenheiten war durchaus typisch für die lokale Verwaltung im Zarenreich. Noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich etwa im russischen Dorf keine klare Trennlinie zwischen der amtlichen und der privaten Sphäre durchgesetzt. Die Untersuchungsrichter folgten in Beleidigungsprozessen nicht selten der Argumentation der Verteidigung, dass die Beleidigung eines Amtsträgers dem Privatmann gelte und damit nicht zwangsläufig Widerstand gegen den Staat oder die öffentliche Ordnung gleichkomme.354 Konflikte zwischen Amtsträgern waren im Zarenreich an der Tagesordnung. In den Westgouvernements spiegelten derartige Auseinandersetzungen nur auf den ersten Blick die vermeintliche Frontstellung zwischen russischer Staatsgewalt und polnischem Adel wider. Auf lokaler Ebene spielten zahlreiche andere Faktoren oft eine bedeutendere Rolle. Der Gutsbesitzer Jakowicz aus dem Gouvernement Wilna wurde beispielsweise im Jahr 1811 zu sechs Monaten Haft verurteilt. Ihm war vorgeworfen worden, dass er auf einer Adelsversammlung die zarische Regierung beleidigt habe. Im Laufe des Revisionsverfahrens stellte sich heraus, dass Jakowicz sich während der Adelsversammlung überhaupt nicht gegen die Regierung ausgesprochen, sondern den Adelsmarschall Piłsudski beleidigt hatte. 353 Brief des Gouverneurs von Wolhynien an den Generalgouverneur von Kiev, Mogilëv und Wolhynien vom 20.7.1833, in: CDIAK f. 442, op. 67, d. 87, l. 1–6. 354 Vgl. David Feest: In Amt und Würden? Die Beleidigung dörflicher Amtsleute und die Repräsentation des Staates im ausgehenden Zarenreich, in: Jörg Baberowski / David Feest / Christoph Gumb (Hg.): Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich, Frankfurt a. M., New York 2008, S. 102–118.



Herrschaftspraxis im Alltag

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Piłsudski betrieb daraufhin die Verurteilung Jakowiczs wegen Störung der Adelswahlen und Beleidigung der zarischen Regierung. Mit der Verurteilung Jakowiczs gab sich Piłsudski allerdings noch nicht zufrieden. Gemeinsam mit einem Dutzend bewaffneter Kleinadliger drang er in den Gutshof von Jakowicz ein. Die Horde zerstörte das gesamte Saatgut und erschlug dabei auch einen Diener. Im Jahr 1813 wurde Jakowicz vom Adelsmarschall noch dazu verpflichtet, Rekruten zu stellen, obwohl er nur 20 Seelen besaß. Diese Forderung verstieß gegen das Gesetz, demzufolge Rekruten erst ab einem Besitz von 55 Seelen aufzubieten waren.355 Was auf den ersten Blick also wie ein Konflikt zwischen einem polnischen Adligen und der russischen Staatsgewalt aussieht, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als eine Auseinandersetzung zweier Adliger. Piłsudski bediente sich in diesem Streit der Institutionen und Instrumente des Staates, um seinem Kontrahenten zu schaden. Der Adelsmarschall nutzte seine amtlichen Befugnisse und seinen Einfluss auf die lokalen Gerichte, um eine Verurteilung Jakowiczs zu erwirken. Eine Anklage, die auf Beleidigung der zarischen Regierung lautete, versprach ein Urteil, das auch die Repräsentanten der Staatsgewalt zufrieden stellen und zu keinen weiteren Nachfragen führen sollte. Es bedurfte wiederum einer Beschwerde beim Großfürsten Konstantin, damit letztlich ein Revisionsverfahren eingeleitet und die wahren Hintergründe aufdeckt wurden. Die russische Staatsgewalt fungierte in diesem Beispiel also als Appellationsinstanz für einen polnischen Adligen, der sich gegen einen mächtigeren Standesgenossen allein nicht hatte zur Wehr setzen können. Zweifellos kam es in den Westgouvernements auch zu politischen Auseinandersetzungen zwischen Gouverneuren und Adelsmarschällen. Die Konstellation nach den Teilungen Polens war zu brisant, als dass gegenseitige Vorbehalte sich nicht auch im Alltag der Amtsträger niedergeschlagen hätten. Der Bericht des Generalgouverneurs Chovanskij von einer Abendgesellschaft in seinem Haus wirft ein Schlaglicht auf ein mitunter angespanntes Verhältnis zwischen den beiden Parteien. Als die Feierlichkeiten durch die Nachricht unterbrochen wurden, dass der Finnische Senat den Zaren nach Helsingfors eingeladen habe, da sei eine große Begeisterung unter den russischen wie nichtrussischen Gästen ausgebrochen und mancher habe sogar Tränen der Rührung nicht unterdrücken können. Nur der polnische Gast, der Gouvernementsmarschall Karnicki, habe „mit all seiner jesuitischen List und mit sichtbarer Gleichgültigkeit“ reagiert und ausgerufen: „C’est folie.“ Noch nie – so empört sich Chovanskij in seinem Schreiben an Benckendorff – habe er ein wahres Gefühl in den Herzen von Nichtrussen derart versiegen gesehen, wie in dieser Minute bei Karnicki und seinen Gleichgesinnten. Und der Generalgouverneur schloss seinen Bericht mit 355 Vgl. Lugovcova: Politika Rossijskogo samoderžavija, S. 15f.

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Staatsausbau und Herrschaftspraxis in der polnischen Provinz

der bitteren Bemerkung: „Sehen Sie, Durchlaucht, mit wem wir leben und von wem wir umringt sind!“356 Das russisch-polnische Verhältnis und die zarische Nationalitätenpolitik waren offensichtlich Themen, welche die Amtsträger vor Ort beschäftigten und worüber sie sich austauschten. Der Rahmen, in dem sie diskutiert wurden, waren jedoch Orte der Vergemeinschaftung wie Abendgesellschaften oder andere private Zusammenkünfte. In den Akten schlugen sich derartige Auseinandersetzungen deshalb kaum nieder. Vielmehr deuten die Archivalien darauf hin, dass der Verwaltungsalltag von derartigen politischen Grundsatzfragen weniger berührt war. Konflikte entzündeten sich eher an persönlichen Auseinandersetzungen zwischen Amtsträgern als an der Politik in St. Petersburg oder in Warschau.

3.4. Öffentliche Fürsorge und adlige Wohltätigkeit: Gesellschaftliches Engagement innerhalb und jenseits der staatlichen Sphäre Bislang standen lokalpolitische Projekte im Zentrum der Betrachtung, welche der Staat angestoßen hatte und zu denen sich der Adel in irgendeiner Weise verhalten musste. Doch selbstverständlich kam dem Adel nicht nur eine reaktive Rolle zu. In welcher Form wurde der Adel selbst lokalpolitisch aktiv? Inwieweit handelte er dabei innerhalb und inwieweit außerhalb staatlicher Strukturen? Und wie verhielt sich die zarische Staatsgewalt zu gesellschaftlichen Aktivitäten jenseits der staatlichen Sphäre? Katharina II. hatte im Zuge ihrer Gouvernementsreform Ämter für öffentliche Fürsorge (prikazy obščestvennogo prizrenija) geschaffen. Diese Institution sollte den Adel dazu anhalten, soziales Engagement auf lokaler Ebene zu entwickeln und dies innerhalb der staatlichen Strukturen zu entfalten. Sie finanzierten sich aus lokalen Einnahmen (wie zum Beispiel von den Gerichten verhängte Strafen), staatlichen Zuschüssen und zum größten Teil aus freiwilligen Spenden. Der Etat der Ämter für öffentliche Fürsorge gibt also Aufschluss darüber, in welcher Weise der vermögende Adel gesellschaftliche Verantwortung wahrnahm und inwieweit er sich dafür einer staatlichen Einrichtung bediente. Für die Gouvernements Podolien und Wolhynien liegen Zahlen vor, welche die Tätigkeit der Ämter für öffentliche Fürsorge über den Zeitraum von mehreren Jahren verfolgen lassen:

356 Brief des Fürsten Chovanskij an Benckendorff vom 13.6.1833, in: GARF f. 109 s/a, op. 2, d. 254, l. 1-2, Zitate l. 2.



Herrschaftspraxis im Alltag

359

Ausgaben des Amtes für öffentliche Fürsorge im Gouvernement Podolien von 1804–1810:357 Jahr

1804

Golddukaten

155

Silberrubel

369

Rubel

4.890

1805

128

296

8.144

1806

22

445

8.582

1807 1808 1809

k. A. – –

k. A. 267 566

k. A. 8.374 10.520

1810

22

3.058

15.768

Geförderte Einrichtungen

Krankenhaus, Park, botanischer Garten Krankenhaus, Apotheke, Park, botanischer Garten Krankenhaus, Apotheke, Park, botanischer Garten k. A. Krankenhaus, Apotheke, Park Krankenhaus, Apotheke, Park, Tuchfabrik Krankenhaus, Apotheke, Park, Tuchfabrik

Ausgaben des Amts für öffentliche Fürsorge im Gouvernement Wolhynien von 1804 bis 1810:358 Jahr 1804 1805 1806 1807

Golddukaten Silberrubel – 138.735 k. A. k. A. –

k. A. k. A. 627

Rubel 92.205 k. A. k. A. 23.382

Geförderte Einrichtungen Schulhäuser, Krankenhaus in Žitomir k. A. k. A. Schulhaus, Krankenhaus in Žitomir für Gefängnisinsassen

357 Bericht des Gouverneurs von Podolien für das Jahr 1804 vom 30.1.1805, in: CDIAK f. KMF 11, op. 1, d. 94, l. 1–25, hier 23; Bericht des Gouverneurs von Podolien für das Jahr 1805 vom 5.2.1806, in: CDIAK f. KMF 11, op. 1, d. 94, l. 26–47, hier 45; Bericht des Gouverneurs von Podolien für das Jahr 1806 vom 10.2.1807, in: CDIAK f. KMF 11, op. 1, d. 94, l. 48–96, hier 71ff.; Bericht des Gouverneurs von Podolien für das Jahr 1808 aus dem Februar 1809, in: CDIAK f. KMF 11, op. 1, d. 94, l. 157–198, hier 195; Bericht des Gouverneurs von Podolien für das Jahr 1809 vom 20.2.1810, in: CDIAK f. KMF 11, op. 1, d. 94, l. 199–236, hier 233; Bericht des Gouverneurs von Podolien für das Jahr 1810 vom 4.3.1811, in: CDIAK f. KMF 11, op. 1, d. 94, l. 237–265ob., hier 263. 358 Bericht des Gouverneurs von Wolhynien für das Jahr 1804 vom 10.2.1805, in: CDIAK f. KMF 11, op. 1, d. 91, l. 1–27, hier 25; Bericht des Gouverneurs von Wolhynien für das Jahr 1807 vom 26.2.1808, in: CDIAK f. KMF 11, op. 1, d. 91, l. 91–120, hier 118; Bericht des Gouverneurs von Wolhynien für das Jahr 1808 vom 31.3.1809, in: CDIAK f. KMF 11, op. 1, d. 91, l. 121–185, hier 138; Bericht des Gouverneurs von Wolhynien für das Jahr 1809 vom 27.8.1810, in: CDIAK f. KMF 11, op. 1, d. 91, l. 189–228ob., hier 225; Bericht des Gouverneurs von Wolhynien für das Jahr 1810 vom 3.6.1811, in: CDIAK f. KMF 11, op. 1, d. 91, l. 229–260, hier 256.

360 Jahr 1808

Staatsausbau und Herrschaftspraxis in der polnischen Provinz

Golddukaten Silberrubel – 10.480

Rubel 70.434

1809



3.475

97.699

1810



5.635

26.620

Geförderte Einrichtungen Krankenhäuser in Žitomir und Berdičev, Tuchfabrik, Armenhaus und ein Theater (alle in Žitomir) Krankenhäuser in Žitomir und Berdičev, Tuchfabrik, Armenhaus und ein Theater (alle in Žitomir) Krankenhäuser in Žitomir und Berdičev, Tuchfabrik, Armenhaus und ein Theater (alle in Žitomir)

Diese Angaben zeigen, dass der Adel die Ämter für öffentliche Fürsorge regelmäßig mit großen Geldsummen förderte. Auch wenn diese Institutionen des russischen Staates waren, so boten sie dem Adel die Möglichkeit, sein wohltätiges Engagement sinnvoll zu kanalisieren. Die Zahlen für das Gouvernement Kiew, die nur für das Jahr 1811 vorliegen, bestätigen sowohl die Größenordnung der Ausgaben als auch deren Verwendung. Dort investierte das Amt für öffentliche Fürsorge 1.234 Silberrubel und 31.440 Assignaten unter anderem für zwei Invalidenhäuser, zwei Krankenhäuser, zwei Armenhäuser, ein Hospital, ein Accouchierhaus und ein Heim für Geisteskranke.359 Ein Blick auf die geförderten Projekte lässt mehrere Schlussfolgerungen zu. Erstens stehen soziale Einrichtungen im Vordergrund. Doch auch öffentliche Grünanlagen oder eine – möglicherweise in Not geratene – Tuchfabrik konnten mit Zuwendungen unterstützt werden. Zweitens scheinen Einrichtungen in den Gouvernementsstädten bevorzugt gefördert worden zu sein. In der Provinz sind die Ämter für öffentliche Fürsorge offensichtlich weniger aktiv geworden. Und drittens haben die Ämter für öffentliche Fürsorge eine Art Patenschaft für bestimmte Einrichtungen übernommen, da diese jährlich unter den Begünstigten auftauchen. Sie finanzierten also in erster Linie den Unterhalt und weniger den Bau wohltätiger Einrichtungen. Der Adel stellte jedoch nicht nur den Ämtern für öffentliche Fürsorge Gelder zur Verfügung, sondern spendete auch direkt an wohltätige Einrichtungen. Dies brachte den Vorteil mit sich, dass der Geldgeber Einzelprojekte fördern konnte, die ihm besonders am Herzen lagen. In Wolhynien spendeten zum Beispiel im Jahr 1805 Graf Sierakowski aus Kamenec-Podol’sk und der Bischof von Luck und Žitomir, Kasper Cieciszowski, insgesamt 58.680 Silberrubel und 125 Rubel für den Erhalt der Schule und der Krankenhäuser des „Ordens der barmherzigen

359 Bericht des Gouverneurs von Kiew für das Jahr 1811 vom 12.5.1815, in: CDIAK f. KMF 11, op. 1, d. 93, l. 1–62, hier 46.



Herrschaftspraxis im Alltag

361

Schwestern“.360 Neben solchen individuellen Wohltätern, deren Aktivitäten sich in großer Zahl in den Akten niedergeschlagen haben, trat mitunter der Adel des gesamten Gouvernements als kollektiver Geldgeber auf, etwa in Wolhynien, wo er im Jahr 1810 3.144 Rubel für den Unterhalt der Krankenhäuser des Gouvernements spendete,361 oder in Podolien, wo er im selben Jahr 68.000 Rubel für die Einrichtung einer Militärschule gesammelt hatte.362 Der Neubau von Unterkünften für Schulen und Krankenhäuser wurde ebenso wenig aus den Jahresetats der Ämter für öffentliche Fürsorge, sondern aus Spenden des Adels finanziert. Nicht selten entstand aus einer solchen Initiative eine fortlaufende Partnerschaft. So hatte der Adel des Gouvernements Minsk durch Spenden den Bau eines Gymnasiums finanziert. Im Jahr 1814 regte er an, dass im großen Saal des Gebäudes ein Theater eingerichtet werden sollte, das insbesondere für die in Armut geratene und Not leidende Bevölkerung spielen sollte. Für die Kosten der Umbaumaßnahmen und die notwendigen Theaterrequisiten kam der Adel auf.363 Fortan ließ der Minsker Adel dieses Projekt nicht mehr aus den Augen und sprang dem Theater in Notlagen finanziell zur Seite.364 Die zarische Regierung hielt ein soziales Engagement des Adels auf lokaler Ebene also grundsätzlich für wünschenswert. Nicht in allen Fällen funktionierte das Zusammenspiel von adligem und staatlichem sozialen Engagement reibungslos. Im Gouvernement Vitebsk hatte zum Beispiel der Adel des Kreises Disna im Jahr 1834 die Gründung einer Adelsschule vorgeschlagen und war auch bereit, die laufenden Kosten für diese Einrichtung zu übernehmen. Das Ministerium für Volksbildung hielt eine solche Schule jedoch für überflüssig, da der Kreis Disna zu wenig Einwohner habe. Außerdem gebe es ganz in der Nähe, in Polock, bereits eine Adelsschule, die für die Adelskinder von Disna leicht zu erreichen sei. Aus diesen Gründen komme in Disna allenfalls die Gründung einer zweiklassigen Schule in Betracht.365 Die Regierung nahm also

360 Bericht des Gouverneurs von Wolhynien für das Jahr 1805 vom 18.2.1806, in: CDIAK f. KMF 11, op. 1, d. 91, l. 28–43, hier 41. 361 Bericht des Gouverneurs von Wolhynien für das Jahr 1810 vom 3.6.1811, in: CDIAK f. KMF 11, op. 1, d. 91, l. 229–260, hier 256. 362 Bericht des Gouverneurs von Podolien für das Jahr 1810 vom 4.3.1811, in: CDIAK f. KMF 11, op. 1, d. 94, l. 237–265ob., hier 263. 363 Schreiben des Gouverneurs von Minsk, Dobrinskij, an den Gouvernementsmarschall Rokicki vom 27.6.1814, in: NIAB f. 320, op. 1, d. 23, l. 1–2. 364 Besonders großzügig erwies sich der Adel zum Beispiel im Jahre 1822, als er dem Theater 7.038 Silberrubel und 36.144 Rubel zukommen ließ, vgl. das Schreiben der Adelsversammlung des Gouvernements Minsk an den Gouverneur von Minsk, Dobrinskij, vom 7. September 1822, in: NIAB f. 320, op. 1, d. 23, l. 5. 365 Schreiben des Kurators des weißrussischen Schulkreises im Volksbildungsministerium an den Kreisadelsmarschall von Disna vom 13.11.1834, in: NIAB f. 320, op. 1, d. 148, l. 4–4ob.

362

Staatsausbau und Herrschaftspraxis in der polnischen Provinz

nicht jede lokale Initiative dankbar an, sondern prüfte die Vorschläge und lehnte sie unter Umständen auch ab. Die zarische Staatsgewalt war in der Wohlfahrtspolitik auf die finanziellen Ressourcen des Adels angewiesen, zugleich aber bestrebt, die politische Federführung nicht vollständig aus der Hand zu geben. In Pinsk wurde zum Beispiel auf Initiative eines Gutsbesitzers ein städtisches Krankenhaus errichtet. Dieser Bau galt als Vorzeigeprojekt adligen Engagements, das der Gouverneur bei einem Besuch ausdrücklich gelobt hatte. Eine staatliche Baukommission entdeckte jedoch Mängel bei der Bauausführung und machte für deren Reparatur nun den Adel des Kreises Pinsk verantwortlich. Der Adel empfand diese Form der staatlichen Einmischung als kleinlich und undankbar und weigerte sich, den Forderungen der Baukommission Folge zu leisten.366 Anfang des 19. Jahrhunderts entstanden in den Westgouvernements eine Fülle von wohltätigen Gesellschaften, die vor allem vom Adel getragen wurden: 1802 die „Wohltätige Gesellschaft“ (Blagotvoritel’noe obščestvo) in Brest, 1807 die „Wilnaer Philanthropische Gesellschaft“ (Vilenskoe čelovekoljubivoe obščestvo), 1810 die „Gesellschaft der guten Ordnung in Novogrudok“ (Obščestvo dobroporjadočnosti v Novogrudke), 1811 die „Wohltätige Gesellschaft“ (Blagotvoritel’noe obščestvo) in Minsk, 1821 die „Gesellschaft zur Unterstützung mittelloser Studenten der Universität Wilna“ (Obščestvo vspomoščestvovanija nedostatočnym učenikam Vilenskago universiteta), 1822 das „Fürsorgekomitee für Arme in Sluck“ (Sluckoj popečitel’nyj komitet o bednych), im selben Jahr eine „Wohltätige Gesellschaft“ in Grodno und 1823 sowohl in Mogilëv wie in Minsk ein kirchliches Fürsorgeamt für verarmte Geistliche (Eparchial’nyj popečitel’nyj komitet o bednych duchovnago zvanija).367 Diese Gesellschaften waren vom Adel in Eigenregie gegründet worden, legten selbst den Zweck ihrer Tätigkeit fest und agierten unabhängig vom Staat. Die „Wohltätige Gesellschaft“ von Minsk gab zum Beispiel seit 1817 eine Zeitschrift mit dem Titel Žurnal’ Imperatorskago Čelovekoljubivago obščestva heraus. Darin wurden sowohl literarische Artikel zum Thema Wohltätigkeit als auch medizinische Beiträge zum Gesundheitsschutz oder zur Krankheitsbekämpfung veröffentlicht. Die Zeitschrift richtete sich sowohl an Inhaber öffentlicher Ämter oder Vertreter gesellschaftlicher Einrichtungen, als auch an Familienväter und Gutsbesitzer, die über Leibeigene verfügten. Die wohltätigen Gesellschaften sahen sich nicht als Gegenspieler der Staatsgewalt. Vielmehr hatte sich der Adel selbst eine Aufgabe gestellt, um sie in 366 Schreiben Alexander Skirmunts, Gutsbesitzer im Kreis Pinsk, an den Kreisadelsmarschall von Pinsk, Adam Skirmunt, vom 7.7.1836, in: NIAB f. 320, op. 3, d. 58, l. 7–8ob. 367 Vgl. Marianna A. Sokolova: Obščestvennye ob’’edinenija i dviženija kak faktory formirovanija graždanskogo obščestva v Belarusi (konec XVIII – načalo XX v.), kand. diss., Minsk 2000, S. 18.



Herrschaftspraxis im Alltag

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Eigenregie zu lösen. Dieses Engagement fand jedoch nicht gänzlich außerhalb der staatlichen Strukturen statt. Vielmehr waren gesellschaftliches Engagement des Adels und staatliche Wohltätigkeit eng miteinander verwoben. Die Wilnaer Philanthropische Gesellschaft war zum Beispiel eine Anstalt der Kaiserlichen Philanthropischen Gesellschaft, die 1802 gegründet worden war.368 Die „Wohltätige Gesellschaft“ in Minsk wiederum hatte sich 36 Jahre lang selbst organisiert und nach eigenen Regeln erfolgreich gearbeitet. Als öffentliche Anerkennung wurde sie im Jahr 1846 unter die persönliche Schirmherrschaft des Zaren gestellt und mit einem kaiserlichen Statut versehen. Der Staat würdigte mit diesem Schritt das soziale Engagement der Gesellschaft und machte deren Anliegen zu seinem eigenen. Fortan engagierten sich staatliche Repräsentanten und die Adelsgesellschaft gemeinsam für die Belange der Armen. Im Jahre 1847 zählten zu ihren Mitgliedern der Generalgouverneur von Grodno, Minsk und Kovno, der Gouverneur von Minsk, der Gouvernementsmarschall, der Kreisadelsmarschall, der Sekretär der Minsker Adelsversammlung und der Bürgermeister von Minsk. Neben diesen und anderen Vertretern des Staates und der Adelsgesellschaft waren auch zahlreiche kirchliche Würdenträger in der „Wohltätigen Gesellschaft“ von Minsk engagiert: sowohl von der orthodoxen als auch von der römisch-katholischen Kirche.369 Hier gingen also allein schon mit Blick auf das Personal gesellschaftliches und staatliches Engagement Hand in Hand. Es gab allerdings auch Bereiche, welche die Staatsgewalt in ihrer Hand behalten wollte und in denen adliges Engagement unerwünscht war. Im Gouvernement Kiew hatte im Jahre 1812 ein Raubmord für allgemeine Aufregung gesorgt. Ein Mennonit und seine beiden Begleiter waren am helllichten Tag auf einer Hauptstraße überfallen, ausgeraubt und ermordet worden. Daraufhin forderte der Gouvernementsmarschall, Graf Potocki, die Kreisadelsmarschälle auf, gemeinsam mit den örtlichen Polizeikräften entschiedene Mittel gegen derartige Räuber zu ergreifen. Da er die staatliche Polizei jedoch für schwach hielt, forderte er zudem den Zinsadel auf, eine adlige Polizeiwache zu bilden, welche tags und nachts die großen Straßen patrouillieren und alle dort anzutreffenden Landstreicher aufgreifen sollte. Die Gutsbesitzverwalter hielt er darüber hinaus an, in ihren Dörfern verstärkt ein Auge auf die Müßiggänger zu werfen, um die Sicherheit im Kreis zu erhöhen. Potocki nahm den Mennonitenmord also zum Anlass, die Schwäche der örtlichen Polizei zu beklagen und eine Adelspolizei zu gründen, welche fortan eigenständig für die öffentliche Sicherheit sorgen sollte. Mit dieser Maßnahme hatte Potocki jedoch das staatliche Gewaltmonopol unterlaufen. Der Gouverneur erkannte zwar die Sorgen des Gouvernementsmar368 Vgl. Amburger: Geschichte der Behördenorganisation, S. 160. 369 Vgl. Minskija gubernskija vedomosti vom 18.4.1847.

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Staatsausbau und Herrschaftspraxis in der polnischen Provinz

schalls um die Sicherheit der Einwohner als berechtigt an, kritisierte aber gleichzeitig die Gründung einer Adelspolizei als überflüssig. Zudem übersteige eine solche Maßnahme die Amtsbefugnisse des Adelsmarschalls. Ausdrücklich wies der Gouverneur auf die geltende Rechtslage hin, wonach das Einfangen flüchtiger Diebe und Räuber, die Niederwerfung eines Aufruhrs sowie das Einschreiten gegen jegliche Form von gesetzwidrigen Taten alleinige Aufgabe der Landespolizei sei. Diese habe nach dem Überfall auf den Mennoniten auch ohne zu zögern umfassende Maßnahmen ergriffen, um den Täter zu fassen. Aus diesem Grunde gebe es überhaupt keine Veranlassung, neben der städtischen und ländlichen Polizei auch noch eine Adelspolizei zu gründen. Der Gouverneur teilte deshalb den Kreisadelsmarschällen mit, dass der Gouvernementsmarschall seine Kompetenzen überschritten habe und sie seiner Aufforderung keine Folge leisten sollten.370 Obwohl selbst der Gouverneur das Bild einer zu schwachen Polizei vor Ort nicht entkräften konnte, war er dennoch nicht bereit, die Adelspolizei als eine Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung zu sehen. Anders als der Bau von Schulen und Krankenhäusern gefährdete Potockis Initiative das Gewaltmonopol des Staates und konnte vom Gouverneur auch nicht geduldet werden. Abschließend lässt sich festhalten, dass die unterfinanzierte Staatsgewalt vor Ort bei größeren lokalpolitischen Projekten vom Adel abhängig war. Der Adel verweigerte sich seiner Rolle als Finanzier nicht grundsätzlich, sondern wog den jeweiligen Nutzen ab. So hatten der Bau einer Schule oder eines Krankenhauses sehr viel größere Chancen, vom Adel finanziert zu werden, als ein Denkmal für einen Repräsentanten der zarischen Staatsgewalt. Auch ging die Initiative nicht immer vom Staat aus. Der lokale Adel war nicht nur bereit, Schulen oder Krankenhäuser zu unterstützen, sondern stieß mitunter auch die Einrichtung solcher Institutionen an. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts gründete er in den Westgouvernements eine ganze Reihe von „Wohltätigen Gesellschaften“, die sich vor allem in der Armenund Krankenfürsorge sowie im Bildungsbereich engagierten. „Gesellschaft“ tritt uns in den Westgouvernements also nicht als „staatliche Veranstaltung“ gegenüber, wie dies Dietrich Geyer mit Blick auf den russischen Adel für das Zarenreich konstatiert hat. Der Blick auf die lokale Ebene zeigt vielmehr, dass es Aushandlungsprozesse zwischen Staatsgewalt und Adelsgesellschaft gab, in denen der Adel seine Interessen und politischen Ziele als Gegenposition zu staatlichen Wünschen und Ansprüchen formulierte und mitunter auch in der Lage war, diese durchzusetzen. Genauso oft, wenn nicht noch häufiger, stößt man bei der Realisierung lokalpolitischer Projekte auf ein gemeinsames Handeln von 370 Beschluss der Kiewer Gouvernementsregierung vom 3.10.1812, in: GARF f. 1165, o. 1, d. 172, l. 5–6ob.

Zusammenfassung 365

Staatsgewalt und Adel. Weder musste „Gesellschaft“ in den Westgouvernements erst vom Staat initiiert werden, noch tritt die Szlachta als permanenter Gegenspieler der zarischen Staatsgewalt auf. Allerdings wurde bei der Artikulation und Umsetzung adliger Interessen der Staat zu einem Kristallisationspunkt, wie es ihn vorher in Polen nicht gegeben hat.

4. Zusammenfassung Die russische Staatsgewalt war schwach. Ihr fehlten die personellen Ressourcen, um einen zentral gelenkten Verwaltungsapparat auf lokaler Ebene einzurichten. Das Zarenreich konnte die polnischen Provinzen nur mit Hilfe von Wahlbeamten verwalten und gleichzeitig war die Übernahme lokalpolitischer Verantwortung eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration der städtischen und ländlichen Eliten der Adelsrepublik. Die Gouverneure kamen nicht als mächtige Potentaten in die Provinz. Wollten sie nicht ohnmächtig zwischen allen Stühlen sitzen, mussten sie sich in die lokale Gesellschaft integrieren. Herrschaft war auch in den polnischen Provinzen des Zarenreiches ein Aushandlungsprozess, und die Gouverneure sowie die Adelsmarschälle waren dabei die wichtigsten Akteure. Das Zusammenwirken von staatlichen und adligen Amtsträgern verlief naturgemäß nicht ohne Konflikte, doch entzündeten sich politische Auseinandersetzungen auf lokaler Ebene selten an nationalen Fragen, sondern vielmehr an lokalen oder privaten Zwistigkeiten. Die russische Staatsgewalt gewann auch unter diesen Voraussetzungen Einfluss auf die lokale Ebene. Zum einen gelang es Gouverneuren, sich in etablierte Netzwerke einzufügen oder eigene Netzwerke zu knüpfen. Diese stellten eine sichere Machtbasis dar, die es ihnen ermöglichte, staatliche Interessen zu vertreten. Zum anderen gelang es der zentralen Staatsgewalt, ihre Normen auf lokaler Ebene zu implementieren, indem sie eine Appellationsinstanz war, die Adlige bei der Austragung von lokalen Konflikten anrief, um sich gegen einen Kontrahenten durchzusetzen. Der Blick auf die lokale Ebene zeigt den langsamen, aber stetigen Erfolg einer solchen pragmatischen Integrationspolitik. Dort, wo die soziale Integration mit den Interessen von Adligen einherging, gab es am wenigsten Reibungsverluste und Konfliktpotential. Der Verwaltungsalltag war demzufolge nicht von nationalen Spannungen, sondern von Kooperation geprägt. Da die Partizipation der Szlachta in der lokalen Selbstverwaltung am stärksten gewährleistet war, verlief die Integration der örtlichen Eliten in diesem Bereich am erfolgreichsten. Der Novemberaufstand von 1830/31 bildete einen tiefen Einschnitt. Zwar änderte sich die Verwaltungspraxis in den polnischen Provinzen zunächst kaum, doch hatte die Konfrontation zwischen polnischer Nationalbewegung und russi-

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Staatsausbau und Herrschaftspraxis in der polnischen Provinz

schem Staat die Wahrnehmung auf beiden Seiten verengt. Die zarische Regierung unter Nikolaus I. sah im polnischen Adel fortan potentielle Verräter, denen die lokale Verwaltung des Zarenreiches nicht anzuvertrauen war. Es begann eine Politik des forcierten Staatsausbaus, der das Ziel verfolgte, die lokalpolitischen Partizipationsmöglichkeiten der Szlachta so weit wie möglich einzuschränken. Die normative löste auch auf diesem Feld die pragmatische Integrationspolitik ab. Gleichzeitig wurden lokale Differenzen zwischen russischen und polnischen Amtsträgern zu nationalen Konflikten hochgespielt, da diese Ebene der Auseinandersetzung beiden Seiten wirksame Argumente in die Hand gab. Der russische Beamte fand stets ein offenes Ohr bei seinen Vorgesetzten, wenn er seinen polnischen Kontrahenten der Illoyalität oder des Verrats bezichtigte. Und ein polnischer Adliger konnte sich des Rückhalts bei seinen Standesgenossen sicher sein, wenn er staatliches Verwaltungshandeln als Russifizierungspolitik brandmarkte. Nationale Argumentationen etablierten sich auf diese Weise auch in der lokalen Administration und erlangten sukzessive die Deutungshoheit über den Verwaltungsalltag in den polnischen Provinzen des Zarenreiches.

SCHLUSSBETRACHTUN G

1. Die polnischen Provinzen des Zarenreiches: Faktoren der Integration und Faktoren der Desintegration Die zarische Regierung griff bei der Integration der polnischen Teilungsgebiete auf die historischen Erfahrungen der russischen Expansion zurück. Die vielfach erprobte pragmatische Integrationspolitik, die stets die Interessen der regionalen Eliten bei der Eingliederung von Territorien berücksichtigte, kam auch nach den Teilungen Polens zur Anwendung. Die Elitenkooptation beließ dem polnischen Adel seine dominierende Rolle in der Region und eröffnete zugleich neue Karrierechancen im Imperium. Die Rechtsprechung und die lokale Selbstverwaltung blieben in der Hand des Adels, und ehrgeizigen Adligen eröffnete sich die Chance, eine Laufbahn in der russischen Armee oder am Zarenhof in St. Petersburg einzuschlagen: Der polnische Adel konnte also auf allen Ebenen des Imperiums tätig werden und am politischen Leben des Zarenreiches teilhaben. Die russische Staatsgewalt kam nicht als übermächtiger Akteur in die polnische Provinz. Die zarische Regierung band die bestehenden Institutionen sowie die zur Verfügung stehenden Amtsträger in die lokale Verwaltung ein. Gewohnheitsrechtliche Vorstellungen behielten ihre Wirkungsmacht und lokale Netzwerke verloren nicht an Einfluss. Dem Zarenreich fehlte das nötige Personal, um die neu gewonnen Gebiete mit eigenen Beamten und Behörden zu durchdringen. Die Gouverneure, die als ortsfremde Repräsentanten der russischen Staatsgewalt in die Region kamen, mussten sich mit den herrschenden Verhältnissen arrangieren, wollten sie nicht ohne Einfluss bleiben und letztlich scheitern. Gouverneure, denen es gelang, sich in die sozialen Netzwerke hineinzuschieben, integrierten sich zunächst selbst in die lokale Gesellschaft und trugen durch diese Verknüpfung von lokalen Eliten und Staatsgewalt mittelfristig zur Integration der lokalen Gesellschaft in das Zarenreich bei. Das russische Imperium etablierte aufgrund seiner strukturellen Schwäche seine Normen nur schrittweise. Der Herrschaftswechsel wurde nicht als Bruch mit allen bisher geltenden Prinzipien vollzogen, sondern zunächst durch symbolische Politik kommuniziert. Danach implementierte die zarische Regierung Zug um Zug ihre Normen in die Institutionen der untergegangen Adelsrepublik. Nicht selten schlüpfte der Staat in die Rolle eines Schiedsrichters, der adlige Konflikte auf der Grundlage zarischen Rechts löste und damit den eigenen Normen zur Geltung

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Schlussbetrachtung

verhalf. Die Implementierung von Normen ging also zumindest partiell mit den Interessen des Adels einher und fand gerade deshalb auch Akzeptanz. Die pragmatische Integrationspolitik traditioneller Prägung stand jedoch im Widerspruch zur Politik des Staatsausbaus mit der ihr eigenen Tendenz zur Normierung und Homogenisierung. Indem Katharina II. und ihre Nachfolger die vormodernen Strukturen des Zarenreiches an die neuen Herausforderungen ihrer Zeit anpassten, entzogen sie der traditionellen Integrationspolitik ihre Grundlage. Die Integration des polnischen Adels und der russische Staatsausbau gerieten so in Gegensatz zueinander. Diese Konstellation hatte eine widersprüchliche Politik zur Folge: Einerseits setzte die zarische Regierung die traditionelle Kooptationspolitik fort und versuchte andererseits den polnischen Adel entlang des eigenen Elitenkonzepts in eine gutsbesitzende Landelite zu transformieren. Die russische Staatsgewalt wurde auf diese Weise zum entscheidenden Akteur bei der Deklassierung des besitzlosen Kleinadels. Zwar knüpfte dieses Vorgehen an die Reformdebatten der ausgehenden Adelsrepublik an, doch musste die polnische Aristokratie nach den Teilungen die schmerzhafte Transformation des Adels nicht selbst durchführen. Die Adelspolitik entfremdete so den Kleinadel vom russischen Staat, da weite Teile der besitzlosen Szlachta aus dem Adelsstand ausgeschlossen wurden. In ihrer Wahrnehmung folgte auf die Teilungen Polens entweder der soziale Abstieg oder man fand sich in einer prekären Situation wieder, in welcher der Verlust der Adelswürde drohte. Die Reformkräfte im polnischen Adel sahen sich wiederum vor dem Dilemma, sich zwischen Standessolidarität und Loyalität zum Zarenreich entscheiden zu müssen. Da die Exklusion des Kleinadels jedoch national überhöht wurde, verlor eine mit der Regierung kooperierende Adelspolitik in der Szlachta insgesamt an Rückhalt. Die Reform des Adels durch die Deklassierung des Kleinadels wurde nicht mehr als Reformpolitik, sondern als Angriff der zarischen Staatsgewalt auf den polnischen Adel gedeutet. Dies entzog den Magnaten letztlich den Boden für eine Kooperation mit der Regierung. Auch die Übernahme ständischer Institutionen stand im Widerspruch zum fortschreitenden Staatsausbau. Die Etablierung der Staatsgewalt auf lokaler Ebene bedingte zum einen die administrative Durchdringung der Provinz und zum anderen die Implementierung zentralstaatlicher Normen in die lokalen Gesellschaften. Während der Staat die Kontrolle über sein gesamtes Herrschaftsgebiet anstrebte, sah die lokale Gesellschaft ihre Eigenständigkeit und ihre Traditionen bedroht. Aus dem folgerichtigen Konflikt zwischen Zentralstaat und lokaler Gesellschaft erwuchs so ein national leicht aufzuladendes Spannungsverhältnis zwischen russischer Staatsgewalt und polnischem Adel. Der Widerspruch zwischen pragmatischer Integrationspolitik und Staatsausbau blieb während der Herrschaft Alexanders I. bestehen. Erst Nikolaus I. löste diesen Widerspruch auf. Er brach mit der traditionellen Integrationsstrategie des



Die polnischen Provinzen des Zarenreichs

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Zarenreiches und setzte auf eine normative Integrationspolitik, die keinen Interessenausgleich mit dem polnischen Adel suchte, sondern auf die Durchsetzung staatlicher Normen in den Westgouvernements des Reiches drang. Spätestens mit der Thronbesteigung Nikolaus’ I. und der Niederschlagung des Dekabristenaufstandes war den Hoffnungen der polnischen Reformkräfte auf eine Modernisierung der polnischen Teilungsgebiete durch die Herrschaft aufgeklärter russischer Kaiser die Grundlage entzogen. Nikolaus brachte nicht nur die Deklassierung zu einem zügigen Abschluss, sondern schränkte außerdem die ständischen Partizipationsrechte des Adels weiter ein und betrieb dessen „Umwandlung in eine agrarsoziale Funktionselite“.1 Hatte es noch im Interesse der Magnaten gelegen, die polnischen Landtage in exklusive Veranstaltungen der grundbesitzenden Elite umzuwandeln, so beraubte deren Transformation in staatliche Wahlveranstaltungen ihnen die Möglichkeit der politischen Mitgestaltung auf regionaler und lokaler Ebene. Gleichzeitig wurden die Hoffnungen auf eine Konstitutionalisierung des Zarenreiches, genährt von der Gewährung einer Verfassung für das Königreich Polen, wiederholt enttäuscht. Unter diesen Umständen kann es nicht verwundern, dass sich die Reformkräfte im polnischen Adel vom Zarenreich abwandten und ihre politischen Ziele nur noch im Rahmen einer nationalen Selbstorganisation für erreichbar hielten. Der unabhängige Nationalstaat galt nun als Voraussetzung jeglicher Erneuerung. Damit war der Weg zu einer Integration des polnischen Adels durch eine Interessenkoalition zwischen zarischer Regierung und adligen Reformkräften verbaut. Die polnische Nationalbewegung hatte seit den Teilungen die Deutungshoheit über das politische Geschehen beansprucht und konnte diese umso leichter erringen, desto stärker die Partizipationsmöglichkeiten des polnischen Adels beschnitten wurden. In ihrer Deutung erschienen die Deklassierung des besitzlosen Kleinadels als eine antipolnische Maßnahme und der fortschreitende Staatsausbau als gezielte Russifizierungspolitik. Auch wenn die Integration des polnischen Adels ins Russische Reich nicht zwangsläufig scheiterte, so lag die Dynamik doch bei den desintegrierenden Faktoren. Der Staatsausbau schritt im Verlauf des 19. Jahrhunderts voran, und das Zarenreich war immer weniger auf die Mitwirkung gewählter Amtsträger angewiesen. Es klafften zwar noch immer große Lücken zwischen Norm und Wirklichkeit, doch unterschieden sich die Westgouvernements darin weder vom restlichen Zarenreich noch von anderen europäischen Regionen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Diskrepanz zwischen staatlichem Anspruch und Verwaltungspraxis verringerte sich im Laufe des Untersuchungszeitraums jedoch kontinuierlich. Gleichzeitig setzte sich die nationale Deutung der Beziehung von russischer Staatsgewalt und polnischem Adel zunehmend durch. Der Kościuszko1

Müller: Der polnische Adel, S. 223.

370

Schlussbetrachtung

Aufstand, die napoleonischen Kriege und die Gründung des Herzogtums Warschau trugen dazu bei, indem sie die Frage eines unabhängigen polnischen Staates auf der politischen Tagesordnung hielten. Eine besondere Bedeutung hatte in diesem Zusammenhang die Gründung des Königreichs Polen. Vor 1815 war die Wiedererrichtung eines polnischen Staates eine Frage der internationalen Politik gewesen. Nach dem Wiener Kongress ging die Initiative an den russischen Zaren über, der nun über 80 Prozent des Territoriums der alten Adelsrepublik verfügte. Die polnische Frage konnte nicht länger allein durch einen Ausgleich zwischen den drei Teilungsmächten gelöst werden, sondern war in erster Linie eine russische Angelegenheit geworden. Gleichzeitig ging die Dynamik der Ereignisse nach 1815 deutlich vom Königreich Polen aus. Der Novemberaufstand hatte dort seinen Ursprung und griff erst danach auf die Westgouvernements über. Das Jahr 1830 war der Kulminationspunkt einer langsam fortschreitenden Entfremdung zwischen polnischem Adel und russischer Staatsgewalt und zugleich ein abrupter und tiefer Einschnitt im polnisch-russischen Verhältnis. Von nun an setzte sich auf beiden Seiten die nationale Deutung durch. Der Novemberaufstand hatte den polnischen Adel in eine Situation gebracht, in der er sich zwischen einem unabhängigen Polen und der Loyalität zum Zaren entscheiden musste. Das nationale Paradigma war im Gegensatz zum Jahr 1812, als weite Teile des Adels abwartend blieben, so wirkungsmächtig, dass eine passive Haltung den Selbstausschluss aus der nationalen Gemeinschaft bedeutet hätte. Deshalb stellte sich schließlich auch Adam Czartoryski, dessen Karriere wie keine zweite für die Integrationsmöglichkeiten von Polen im Russischen Reich steht, genau in dem Moment an die Spitze des Novemberaufstandes, als er ihn nicht mehr verhindern konnte. Parallel zu dieser Entwicklung wurde die russische Wahrnehmung der polnischen Frage immer mehr von nationalen Deutungsmustern geprägt. Alexander Herzen hat das Jahr 1812 als einen Wendepunkt in der Geschichte des russischen Nationalismus bezeichnet.2 Konservative deuteten bereits die Beteiligung polnischer Soldaten in Napoleons Grande Armée als Verrat und stigmatisierten den polnischen Adel als illoyal. In den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts häuften sich die Berichte zarischer Amtsträger, welche die üblichen Konflikte zwischen einer ausgreifenden Staatsgewalt und den lokalen Eliten national deuteten und die Ursachen der Widerspenstigkeit der Polen zuschrieben. Der Novemberaufstand verhalf dieser nationalen Sichtweise zum Durchbruch: Die polnischen Adligen galten nun weithin als unzuverlässige und undankbare Untertanen. Der Novemberaufstand markiert deshalb auch das Ende einer pragmatischen Integrationspolitik, die noch auf einen Interessenausgleich zwischen zarischer Staatsgewalt und polnischem Adel gesetzt hatte. 2

Vgl. Blackwell: Alexander I and Poland, S. 108.



Formen der Integration im Westen des Russischen Reiches

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Der Glaube an Gemeinsamkeiten ist eine zentrale Quelle für Integration wie für Segregation. Die angenommenen Gemeinsamkeiten müssen dabei einer empirischen Überprüfung nicht standhalten. Entscheidender ist vielmehr, dass subjektiv ein entsprechendes Merkmal als gemeinsames empfunden wird.3 Indem sich eine nationale Weltsicht sowohl in der russischen Elite wie im polnischen Adel durchsetzte, ging in beiden Oberschichten die Vorstellung von einer Interessengemeinschaft verloren. In gleichem Maße wuchs der Glaube an nationale Eigenheiten und an die Unvereinbarkeit von polnischem Adel und russischem Staatswesen. Auch wenn die Konfrontation von zarischer Staatsgewalt und polnischem Adel in ihrer Grundkonstellation der Konflikt einer ausgreifenden Staatsgewalt und eines an seinen ständischen Rechten festhaltenden Adels war und zudem diese Frontstellung kein Spezifikum in der europäischen Geschichte darstellt, so setzte sich infolge des Novemberaufstandes die nationale Deutung durch. Fortan standen sich eine russische Staatsgewalt und ein polnischer Adel gegenüber.

2. Formen der Integration im Westen des Russischen Reiches: Die Ostseeprovinzen, Finnland und Bessarabien als Vergleichsfälle Wie lässt sich die Integration der polnischen Teilungsgebiete in die Geschichte der westlichen Expansion des Russischen Imperiums einordnen? Im Baltikum, in Finnland und in Bessarabien stieß das Zarenreich auf vergleichbare ständische Strukturen, und in allen drei Fällen wollte die Regierung diese für die Herrschaft vor Ort und als Impuls zur Ausbildung vergleichbarer Strukturen nutzen. Aus diesem Grund folgte die Integrationspolitik im Baltikum, in Finnland und in Bessarabien ebenso wie in den polnischen Gebieten den Prinzipien einer Kooperationspolitik, welche die ständischen Strukturen erhielt und den regionalen Adel kooptierte. Trotz vergleichbarer Voraussetzungen und den gleichen Herrschaftsprinzipien verlief die Integration dieser westlichen Peripherie auf denkbar verschiedene Art und Weise: Anders als in den polnischen Provinzen hielt man im Baltikum und in Finnland trotz des allgemein fortschreitenden Staatsausbaus an einer pragmatischen Integrationspolitik fest. Auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die regionalen Strukturen nicht zerschlagen und die Tendenz zur Homogenisierung des Herrschaftsgebietes stellte die lokale Herrschaft der baltischen Ritterschaft oder des finnländischen Adels nicht grundsätzlich in Frage. Das Ergebnis dieser auf Interessensausgleich basierenden Politik war, dass 3 Georg Hansen / Martin Spetsmann-Kunkel: Integration und Segregation. Ein Spannungsverhältnis, Münster u.a. 2008, S. 42.

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Schlussbetrachtung

die Ostseeprovinzen und Finnland bis heute als Paradebeispiele für eine gelungene Integration fremdstämmiger Gebiete ins Russische Imperium gelten. Wo liegen die Ursachen für die Fortsetzung einer pragmatischen Integrationspolitik im Nordwesten des Imperiums, während in Polen und Bessarabien mit diesem Erfolgsmodell gebrochen wurde? Mit der Annexion Estlands und Livlands hatte Peter I. dem Russischen Reich ein Stück Mitteleuropa einverleibt, das durch den Deutschen Orden, die deutsche Ostsiedlung und durch die schwedische Herrschaft geprägt war. Der russische Zar hatte es im Nordischen Krieg (1700–1725) verstanden, einen Teil der deutschbaltischen Adligen auf seine Seite zu ziehen, indem er ihnen jene Autonomie und Privilegien versprochen hatte, die diese durch den schwedischen Absolutismus unter Karl XII. bedroht sahen. Nach der Eroberung Estlands und Livlands im Jahre 1710 blieb die Regionalverwaltung und das Gerichtswesen bestehen, alle adligen Rechte und Privilegien wurden bestätigt, und nur die Generalgouverneure und Gouverneure repräsentierten die zarische Herrschaft vor Ort, wobei selbst diese Posten häufig mit Deutschbalten besetzt wurden.4 In den Ostseeprovinzen fand somit keine Unterwerfung der baltischen Ritterschaften, sondern vielmehr eine Inkorporation auf Vertragsbasis statt, wenn auch unter ungleichen Vertragspartnern. Als sich das Zarenreich im Zuge der dritten Teilung Polens das Herzogtum Kurland einverleibte und dieses als drittes Gouvernement den Ostseeprovinzen Livland und Estland zuordnete, wurden die Privilegien der Ritterschaft und die Selbstverwaltungsorgane bestätigt. Die Integration Kurlands lässt sich somit als eine Mischform zwischen der Inkorporation Polens und Livlands beschreiben: Die kurländische Ritterschaft wurde unfreiwillig zu den vertraglichen Konditionen Livlands in das Zarenreich integriert.5 Estland und Livland hatten für Peter I. eine ähnliche Modellfunktion, wie die ständische Ordnung der Adelsrepublik für Katharina II. In beiden Fällen bestand zudem ein Spannungsverhältnis zwischen einer Brückenfunktion mitteleuropäischer Gesellschaftsstrukturen und eines autokratischen Herrschafts- und Unifizierungsanspruchs. Der staatliche Zugriff im 18. Jahrhundert war in den Ostseeprovinzen allerdings kaum zu spüren. Im Gegenteil: Die baltischen Ritterschaften entwickelten sich zu geschlossenen Korporationen, monopolisierten die Landtage, vergrößerten ihren Grundbesitz und dehnten die Leibeigenschaft auf die estnischen und lettischen Bauern aus. Während die zarische Regierung in den polnischen Provinzen von Beginn an versuchte, den polnischen Adel umzuformen und die polnischen Landtage in Veranstaltungen des Zarenreiches zu transformieren, genoss die baltische Ritterschaft zunächst ein halbes Jahrhundert lang weitgehende Autono4 5

Vgl. Kappeler: Russland als Vielvölkerreich, S. 67ff. Vgl. Mesenhöller: Ständische Modernisierung, S. 258–269 und 405–434.



Formen der Integration im Westen des Russischen Reiches

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mie. Katharina II. war dazu allerdings nicht mehr bereit: Die Gnadenurkunde für den Adel von 1785 schränkte auch die Sonderstellung der baltischen Ritterschaft und ihrer ständischen Institutionen ein, doch Paul I. kehrte bereits 1796 wieder zur petrinischen Gouvernementsregierung zurück.6 Während die Integration der Ostseeprovinzen von einer „Interpenetration zentralstaatlicher und ostseeprovinzialer Strukturen“7 gekennzeichnet war, fand im Fall der Teilungen Polens kein gegenseitiger Austausch statt. Auch wenn Katharina II. sich die ständische Ordnung der Adelsrepublik zum Vorbild nahm, so wandelte sie doch die polnischen Landtage in russische Adelsversammlungen um, und nicht umgekehrt. Und als Gouverneure sandte sie Männer in die Westgouvernements, die zwar häufig aus der westlichen Peripherie des Reiches, jedoch nicht aus den polnischen Provinzen selbst stammten. In den Ostseeprovinzen fanden sich hingegen selbst auf jenen Posten, die von der zarischen Regierung besetzt wurden, mehrheitlich deutschbaltische Amtsträger.8 Die wesentlichen Unterschiede zwischen der Integration Estlands und Livlands sowie der polnischen Teilungsgebiete besteht also zum einen darin, dass die baltische Ritterschaft nicht unterworfen worden war und keine staatliche Unabhängigkeit verloren hatte, sondern einen Herrschaftswechsel vom schwedischen König zum russischen Zar vollzog. Katharina II. konnte hingegen zwar polnische Strukturen übernehmen, jedoch nicht ihre Verfasstheit verbriefen, jedenfalls nicht nach der Maiverfassung von 1791, die mit ihrem autokratischen Selbstverständnis unvereinbar war. Zum anderen war der Staatsausbau zur Zeit der Teilungen Polens weiter fortgeschritten. Katharina II. hatte die Etablierung der russischen Staatsgewalt in der Provinz ihres Reiches zu einem zentralen Projekt ihrer Herrschaft gemacht und war weniger als ihre Vorgänger dazu bereit, auf gewachsene Strukturen Rücksicht zu nehmen. Ihre Nachfolger kehrten im Baltikum jedoch wieder zu einer pragmatischen Integrationspolitik zurück, und selbst Nikolaus I. setzte diese – anders als in Polen – fort. Auf welche Weise erfolgte die Integration Finnlands, das hundert Jahre später als Estland und Livland ins Russische Imperium integriert wurde, also zu einer Zeit, in welcher der russische Staatsausbau merklich vorangeschritten war? Trotz der zeitlichen Nähe zu den Teilungen Polens sind die Ähnlichkeiten zur Integration der Ostseeprovinzen größer. Auch die Integration Finnlands erfolgte auf Vertragsbasis. Die finnische Oberschicht hatte ein Regionalbewusstsein entwickelt, das sich gegen den schwedischen König richtete. So fanden sich russlandfreundliche Kräfte in der finnischen Elite, die eine Loslösung von Schweden 6 7 8

Vgl. Tuchtenhagen: Zentralstaat und Provinz, S. 75–84 und 441–445. Ebd., S. 442. Vgl. ebd., S. 444.

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Schlussbetrachtung

und einen Anschluss an das Russische Reich unterstützten. Das 1808/09 eingerichtete Großfürstentum Finnland erhielt eine weitreichende Autonomie mit eigenem Landtag, einem eigenen Verwaltungs- und Gerichtssystem sowie einem ausschließlich finnischen Beamtenapparat, der lediglich durch einen Generalgouverneur beaufsichtigt wurde. Das Großfürstentum hatte sogar ein eigenes Münzwesen, ein eigenes Zollsystem und durfte eine eigene Armee unterhalten. Mit Russland verbunden war Finnland durch die Person des Zaren, der in Personalunion Großfürst war. Michail Speranskij brachte die Sonderstellung Finnlands mit dem Worten zum Ausdruck, es handele sich dabei eigentlich um einen Staat, und nicht um ein Gouvernement.9 Auf dem Landtag von Borgå (Porvoo) nahm Alexander I. den Treueid seiner neuen Untertanen entgegen und sicherte im Gegenzug den Fortbestand der ständischen Rechte und Privilegien sowie der „Grundgesetze Finnlands“ zu. Die Autonomie des Großfürstentums, die auf dieser Grundlage zwischen 1809 und 1826 ausgestaltet wurde, ging über die Rechte der Ostseeprovinzen hinaus und kam der Stellung des Königreichs Polen zwischen 1815 und 1831 sehr nahe. Auch wenn die russische Staatsgewalt inzwischen durchaus die Möglichkeit gehabt hätte, Finnland mit eigenen Behörden und Beamten zu verwalten, so respektierte Alexander I. dessen ständische Verfasstheit und die ausgehandelte Autonomie. Die politische Eigenständigkeit und der wirtschaftliche sowie kulturelle Aufschwung des Großfürstentums im 19. Jahrhundert förderte die Loyalität der finnischen Eliten zum Zaren. Nicht wenige Adlige entschieden sich für eine imperiale Karriere in der zarischen Armee oder im russischen Zivildienst, und erst im Kontext der Russischen Revolutionen von 1917 strebte Finnland nach staatlicher Unabhängigkeit.10 Die Integration Bessarabiens folgte zunächst ebenfalls den Prinzipien einer pragmatischen Integrationspolitik. Das Zarenreich hatte sich bereits im 18. Jahrhundert zur Schutzmacht der orthodoxen Untertanen des Sultans erklärt und dadurch beträchtlichen Einfluss auf den orthodoxen Klerus und den Adel in den Donaufürstentümern gewonnen. Im Frieden von Bukarest wurde das Fürstentum Moldau 1812 geteilt: Das Territorium östlich von Pruth und unterer Donau fiel unter die Herrschaft des Zaren. Alexander I. gewährte Bessarabien eine weitgehende Autonomie, wie sie auch Finnland erhalten hatte: Die Verwaltung, die Rechtsordnung und sogar das Steuersystem basierten auf den bisherigen Verhältnissen, und der regionale Adel übernahm alle Verwaltungsfunktionen mit Aus-

9 Zit. in: Nesemann: Ein Staat, kein Gouvernement, S. 12. 10 Vgl. Kappeler: Russland als Vielvölkerreich, S. 87–90; Nesemann: Ein Staat, kein Gouvernement, S. 23–106.



Formen der Integration im Westen des Russischen Reiches

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nahme derjenigen des Generalgouverneurs sowie dessen Stabes.11 Die Integration Bessarabiens erfolgte also ebenfalls auf Vertragsbasis, da der rumänischsprachige Adel den Herrschaftswechsel nicht als Unterwerfung, sondern als Befreiung von der osmanischen Herrschaft ansah. Anders als in den Westgouvernements verzichtete die zarische Regierung hier auf eine Deklassierung des relativ zahlreichen Kleinadels. Die rechtlichen und administrativen Traditionen, auf denen die Autonomie Bessarabiens beruhte, waren jedoch osmanischen Ursprungs und entsprachen nicht jener ständisch-korporativen Ordnung, welche die zarische Regierung im Baltikum, in Polen oder Finnland vorgefunden hatte. Im Jahr 1828 wurde die Autonomie Bessarabiens erheblich beschnitten, die administrative Struktur der russischen Ordnung angepasst und wichtige Posten mit russischen Beamten besetzt.12 Nach nur zehn Jahren war die zarische Regierung von einer pragmatischen auf eine normative Integrationspolitik umgeschwenkt. Obwohl die Eigenständigkeit Bessarabiens deutlich über die Rechte des polnischen Adels in den Westgouvernements hinausging, so war die Bereitschaft, die Autonomie als einen längerfristigen Integrationsversuch zu betrachten, deutlich weniger ausgeprägt als etwa im Königreich Polen, wo erst ein Aufstand der Autonomie ein Ende setzte. Ein Vergleich zwischen der Integration der Ostseeprovinzen, Finnlands und Bessarabiens auf der einen und der ostpolnischen Provinzen auf der anderen Seite fördert als wesentlichen Unterschied zu Tage, dass erstere nicht unterworfen, sondern auf Vertragsbasis in das Imperium integriert wurden. Die Bereitschaft des deutschbaltischen Adels, des finnländischen Adels sowie des rumänischsprachigen Adels in Bessarabien, die russische Herrschaft zu akzeptieren, war bereits vor dem Herrschaftswechsel vorhanden. Darauf konnte die zarische Regierung aufbauen, fand man doch in den jeweiligen regionalen Eliten Verhandlungspartner, mit denen man die künftige Herrschaftsbeziehung regeln konnte. Die Teilungen Polens waren hingegen ein Akt der Unterwerfung. Der Verlust der Eigenstaatlichkeit war das Resultat rücksichtsloser Großmachtpolitik und der KościuszkoAufstand ließ keinen Zweifel an dem Widerstand, auf den die Teilungspolitik in Polen stieß. Der polnische Adel war kein Partner der zarischen Regierung, mit dem man die Form der russischen Herrschaft aushandelte. Die Integration der polnischen Teilungsgebiete hatte somit andere Voraussetzungen als die Eingliederung des Baltikums, Finnlands oder Bessarabiens, wo der Herrschaftswechsel eine Befreiung von schwedischer bzw. osmanischer Herrschaft war. Die Sehnsucht nach einem eigenen Staatswesen war in der baltischen Ritterschaft, im finn11 Vgl. Kappeler: Russland als Vielvölkerreich, S. 91f. 12 Vgl. ebd., S. 92.

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Schlussbetrachtung

ländischen Adel und bei den rumänischen Bojaren deshalb weniger stark ausgeprägt. Die Rückkehr zur Eigenstaatlichkeit blieb hingegen während des gesamten 19. Jahrhunderts die zentrale Perspektive weiter Teile des polnischen Adels, selbst jener Adligen, die sich im Russischen Reich gut eingerichtet hatten.

3. Integrationsstrategien im geteilten Polen: Die Politik Preußens und der Habsburgermonarchie im Vergleich zum Russischen Reich Die beiden Teilungsmächte Preußen und Österreich standen vor einer ähnlichen Herausforderung wie das Russische Reich: Sie mussten einen Teil der Adelsrepublik in ihr Herrschaftsgefüge integrieren. Für die Regierungen in Berlin und Wien stellte sich damit ebenso die Frage, auf welche Weise man den polnischen Adel und seine ständischen Institutionen in das eigene Staatswesen einzufügen und zugleich die preußische bzw. österreichische Staatsgewalt auf lokaler Ebene etablieren sollte. Da die Voraussetzungen in Preußen wie in der Habsburgermonarchie jeweils andere waren als in Russland, ging man dort auch andere Wege zur Integration der polnischen Teilungsgebiete. Die preußische Politik gegenüber dem polnischen Adel und seinen ständischen Einrichtungen unterschied sich grundsätzlich vom Vorgehen des Zarenreiches. Während die russische Regierung bestrebt war, die ständischen Einrichtungen der Adelsrepublik für den Staatsausbau zu nutzen, zerschlug Preußen die gewachsenen Strukturen und ersetzte sie durch einen zentralistischen Verwaltungsapparat und ortsfremde Amtsträger. Die polnischen Ständeversammlungen konnten nicht mehr tagen und die Landräte wurden – anders als in anderen preußischen Provinzen – durch die staatlichen Behörden ernannt. Alle polnischen Beamten wurden suspendiert und an deren Stelle trat eine landesfremde höhere und mittlere Verwaltung, deren Personal größtenteils aus Ostpreußen stammte. Zudem gab es auf der unteren Verwaltungsebene keine Kreistage und damit keine ständische Vertretung des lokalen Adels mehr.13 Der Grund für diesen radikalen Bruch mit den altpolnischen Institutionen lag im Polenbild Friedrichs II. begründet. Der preußische König sah in Westpreußen einen naturbelassenen und geschichtslosen Raum, der eher einer kolonialen Erwerbung in Übersee als einem Teil Europas gleiche. Mehrfach, unter anderem 13 Vgl. Bömelburg: Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat, S. 231, 254 und 324–335; ders.: Landesherrliche und dezentral-ständische Reformen – Zwei Modernisierungspfade im Preußenland des 18. Jahrhunderts, in: Matthias Weber (Hg.): Preußen in Ostmitteleuropa. Geschehensgeschichte und Verstehensgeschichte, München 2003, S. 93–113, hier 109f; Drozdowski: Zusammenstoß des preußischen Verwaltungssystems, S. 24f.



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in einem Brief an Voltaire, verglich er die annektierten Gebiete mit Kanada und klagte über den angeblich schlechten Zustand der Verwaltung: „On ne peut comparer les provinces polonaises à aucun Etat de l’Europe: elles ne peuvent entrer en parallèle qu’avec le Canada. Il faudra par conséquent de l’ouvrage et du temps pour leur faire regagner ce que leur mauvaise administration a négligé pendant tant de siècles.“14

Friedrich II. und die preußischen Beamten hielten die altpolnische Verwaltung, Gesetze sowie Infrastruktur für rückständig und verstanden sich als Vertreter einer neuen rationalen, aufgeklärten Verwaltungskunst, welche die gesamte Region neu zu ordnen hätten. Die Tragfähigkeit der gewachsenen Landesstrukturen wurde deshalb gar nicht erst erprobt, sondern sofort mit einer zentralistischen Verwaltung und landesfremden Beamten ersetzt. Diese Beseitigung der ständischen Repräsentationsorgane in Westpreußen bedeutete einen vollkommenen Bruch mit der Ständeverfassung der polnischen Adelsrepublik.15 Erst der Thronwechsel von 1786 brachte einen Politikwechsel mit sich. Westpreußen erhielt nun eine „ständische Verfassung auf churmärkischen Fuß“, die dem Adel entsprechend den anderen ostelbischen Provinzen Mitwirkungsrechte auf Landes- und Kreisebene gab. Er erhielt das Recht zur Landratswahl, wobei die gewählten Kandidaten in Berlin geprüft und bestätigt werden mussten. Auch konnten zur Regelung lokaler Angelegenheiten nun Kreistage zusammentreten, die in wichtigen politischen Fragen gehört wurden. Landtage oder gemeinsame Treffen aller Landräte konnten allerdings nur auf Befehl des Landesherrn stattfinden.16 Nach dem Bruch mit den altpolnischen Strukturen wurde nun zumindest eine gewisse Mitsprache institutionell reetabliert. Damit hatte Westpreußen nach einer kurzen absolutistischen Phase bereits 15 Jahre nach der ersten Teilung jene Form erreicht, auf welche die russische Staatsgewalt Jahrzehnte hingearbeitet hatte und die erst Nikolaus I. mit dem Abschluss der Adelsrevision sowie der endgültigen Transformation der Adelsversammlungen in staatliche Veranstaltungen durchgesetzt hatte. Nach der zweiten und dritten Teilung ging die preußische Regierung behutsamer vor und verzichtete auf eine direkte Übertragung des ostpreußischen Modells auf Südpreußen sowie Neuostpreußen. Vor allem in der Provinzialgerichtsbarkeit 14 Brief Friedrichs II. an Voltaire vom 10.12.1773, in: Briefwechsel Friedrichs des Großen mit Voltaire, hg. v. Reinhold Koser und Hans Droysen, 3 Bde., Leipzig 1908–1911, Bd. 3, S. 284–286, hier 284. 15 Vgl. Bömelburg: Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat, S. 229–237. 16 Vgl. ebd., S. 347.

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Schlussbetrachtung

durften bisherige Amtsträger ihre Posten behalten, allerdings nur für eine Übergangszeit, bis man ausreichend Personal mit einer Fachausbildung und Ortskenntnissen hatte. In der Administration wurden nach wie vor ortsfremde Beamte eingesetzt, die ihre Verwaltungsvorschriften und administrative Routine aus Preußen mitbrachten.17 Auch in der Adelspolitik verfuhr Friedrich II. anders als das russische Zarenreich. Missliebige polnische Grundbesitzer wollte der Preußenkönig durch deren wirtschaftliche Diskriminierung möglichst bald zur Aussiedlung drängen. So musste der katholische Adel einen Steuersatz von 25 Prozent des Reinertrags seiner Güter entrichten, während seine protestantischen Standesgenossen mit nur 20 Prozent belastet wurden. Zahlreiche polnische Adlige verloren sogar ihre Lebensgrundlage, da der preußische Staat die polnischen Krongüter konfiszierte. Auf diese Weise entzog man der vorherrschenden Klientelwirtschaft die Grundlage. Die Pacht von Gutsanteilen durch den Kleinadel ging mit dem allgemeinen Landverlust des grundbesitzenden Adels zurück. Solchermaßen ihrer ökonomischen Basis und ihres politischen Einflusses beraubt, verlegten viele Magnaten ihren Lebensschwerpunkt in den polnischen Reststaat, sofern sie dort über Grund und Boden verfügten. Genau dies hatte Friedrichs II. beabsichtigt: Die missliebigen polnischen Gutsbesitzer sollten das annektierte Land verlassen. Die preußische Politik setzte zunächst also nicht auf eine Kooptation des polnischen Adels, sondern auf dessen Auswanderung.18 In der westpreußischen Adelsgesellschaft bildete sich durch die staatlichen Eingriffe eine neue Rangordnung heraus. Standen in der Adelsrepublik die Amtsinhaber mit politischen und judikativen Vollmachten an der Spitze der lokalen Gesellschaft, so entschieden nun die Beziehungen zur preußischen Administration über gesellschaftliches Ansehen und politischen Einfluss. Zudem fand innerhalb von drei Jahrzehnten ein weitgehender Elitenwechsel statt. Der Adel verlor seine gesellschaftliche Stellung an Beamte, Domänenpächter und Offiziere, die aus anderen preußischen Provinzen ins Land gekommen waren. Die neuen Einwohner rückten in führende Landespositionen ein und erwarben Grundbesitz, was die preußische Regierung durch die Neuvergabe des eingezogenen königlichen Domänenbesitzes nachhaltig förderte.19 Die Habsburgermonarchie nahm auf die gewachsenen Ständeverfassungen in ihrem Teilungsgebiet zunächst ebenso wenig Rücksicht wie Berlin. Auch die 17 Vgl. ebd., S. 324–335; Drozdowski: Zusammenstoß des preußischen Verwaltungssystems, S. 25; Charlotte Bussenius: Die preußische Verwaltung in Süd- und Neuostpreußen 1793–1806, Heidelberg 1960. 18 Vgl. Bömelburg: Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat, S. 341ff. und 354. 19 Vgl. ebd., S. 322–338.



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Wiener Regierung sah sich als Vertreterin einer aufgeklärten Staatsdoktrin und Verwaltungskunst, nach deren Prinzipien die annektierten Gebiete zu ordnen seien.20 Joseph II. berichtete seinem Bruder Leopold über seine ersten Eindrücke in Galizien: „Me voilà donc au milieu des Sarmates; il est incroyable tout ce que l’on trouve à faire ici, c’est une confusion qui n’a pas on semblable.“21

Joseph II. setzte sich fortan dafür ein, aus dem angeblich rückständigen Galizien eine Musterprovinz der Monarchie zu machen. Die Voraussetzungen für ein solches Projekt schuf die Wiener Regierung selbst, indem sie mit der militärischen Besetzung des Landes alle bestehenden staatlichen Institutionen für aufgelöst erklärte. Nun konnten alle Behörden, Ämter und Gesetze neu geschaffen werden, ohne dass man auf historische Rechtsverhältnisse Rücksicht nehmen musste.22 Einer energisch vorangetriebenen Integrationspolitik stand jedoch die Überlegung der Wiener Regierung im Wege, Galizien als Tauschobjekt für andere Landerwerbungen, insbesondere für eine Wiedergewinnung Schlesiens, nutzen zu können.23 Nach der ersten Teilung Polens wurde in Galizien durchaus noch an altpolnische Traditionen angeknüpft. Der Adel wählte zwar Versammlungen, die Maria Theresia huldigten, doch war sich die Wiener Regierung zunächst noch im Unklaren darüber, ob der galizische Adel als Stand zu behandeln sei und eigene Zusammenkünfte abhalten dürfe. Erst 1775 entschied der Staatsrat, in Galizien eine ständische Verfassung einzuführen. Mit dem Patent vom 13. Juni 1775 wurde ein politisch weitgehend einflussloser Landtag als politische Repräsentanz gegründet, in dem der Klerus, die Magnaten und der landbesitzende Adel vertreten waren. Entscheidungsbefugnisse hatte der Landtag nicht, er konnte lediglich Petitionen an den Kaiser richten. Die adligen Mitglieder wurden in einen Herren- und einen Ritterstand geteilt und saßen entsprechend in der ersten bzw. zweiten Kurie. Der unter österreichischer Herrschaft zugestandene Adelstitel sowie das steuerliche Aufkommen entschieden über die Zuordnung in eine der beiden Kurien. Damit waren die Gleichheit des Adels aufgehoben und die altpolnischen Landtage zer-

20 Vgl. Bömelburg: Aufgeklärte Beamte, S. 22f. 21 Brief Josephs II. an Leopold vom 1.8.1773, in: Maria Theresia und Joseph II.: Ihre Correspondenz, Bd. 2, S. 16. 22 Vgl. Glassl: Einrichtungswerk, S. 10f. 23 Zu den wechselnden Vorstellungen der österreichischen Regierung zur Funktion Galiziens in der Monarchie vgl. Hans-Christian Maner: Zwischen „Kompensationsobjekt“, „Musterland“ und „Glacis“: Wiener politische und militärische Vorstellungen von Galizien von 1772 bis zur Autonomieära, in: ders. (Hg.): Grenzregionen der Habsburgermonarchie im 18. und 19. Jahrhundert. Ihre Bedeutung und Funktion aus der Perspektive Wiens, Münster 2005, S. 103–122.

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Schlussbetrachtung

schlagen. Nach der dritten Teilung Polens wurden die Landstände zudem nicht mehr einberufen.24 Auch in der lokalen Verwaltung zogen die Teilungen einen Bruch mit den Strukturen der Adelsrepublik nach sich. Die österreichische Regierung hob unmittelbar nach der ersten Teilung die polnischen Ämter und Verwaltungseinrichtungen auf. Stattdessen wurde ein Gouverneur aus Wien entsandt, dem die neu gegründeten Provinzialämter unterstanden. Die höheren Posten wurden ausschließlich mit ortsfremden Beamten besetzt; erst im Verlauf der nächsten zwanzig Jahre rückten auch polnische Adlige in Führungspositionen vor.25 Die Kontinuität der mittleren und niederen Beamtenschaft war größer, da hier der Gouverneur entschied, welche Amtsträger suspendiert oder übernommen wurden. Nach dem Tode Maria Theresias löste Joseph II. die polnischen Gerichte auf und führte die gleiche Gerichtsordnung ein, wie sie in den deutschen Erbländern der Monarchie bestand. Mit der Einführung des ersten Teiles des „Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches“ für die gesamte Monarchie wurde die alte polnische Rechtsordnung abgelöst. Der Kaiser zeigte sich bei seinen Inspektionsreisen nach Galizien mit der Tätigkeit der staatlichen Institutionen höchst unzufrieden: Die Behörden arbeiteten nach seiner Auffassung schlampig und langsam. Die Hauptverantwortung für diese Defizite schrieb der Kaiser dem polnischen Adel zu, der sich von jeglicher Mitarbeit an der Staatsverwaltung zurückgezogen habe, weshalb es den Behörden an qualifiziertem Personal fehle.26 In der Adelspolitik setzte die Habsburgermonarchie wie das Zarenreich auf eine Adelsrevision, welche die Szlachta nach österreichischen Vorgaben ordnen sollte. Jeder Adlige musste seine edle Herkunft mittels eines Stammbaumes, eines Wappens und eines Beweises, dass seine Familie seit mehr als 150 Jahren Grundbesitz in Polen besessen hatte, dokumentieren. Eine Kommission, die aus Vertretern des Adels und staatlichen Beamten bestand, prüfte die eingereichten Papiere. Anschließend wurden die Adligen in zwei Klassen eingeteilt. Zum Herrenstand gehörten diejenigen Edelleute, die den Nachweis über einen Fürsten- oder Grafentitel erbracht hatten. Wer in der Adelsrepublik hohe Ämter (Wojewoden, Kastellane, Gerichtsvorsteher) bekleidet hatte, konnte ebenfalls den Fürsten- oder Grafentitel beantragen, alle anderen Amtsträger den Freiherrentitel. Die übrigen Adligen wurden der zweiten Klasse, dem Ritterstand, zugeschrieben. Wie in Russland, so fand also auch in der Habsburgermonarchie eine Adelsrevision statt. Die 24 Vgl. Bömelburg: Aufgeklärte Beamte, S. 24f.; Mark: Galizien, S. 5; Wandycz: Lands of Partitioned Poland, S. 12; Stanisław Grodziski: Der Landtag des Königreiches Galizien und Lodomerien, in: Helmut Rumpler / Peter Urbanitsch (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. VII: Verfassung und Parlamentarismus, Wien 2000, S. 2131–2169, hier 2132. 25 Vgl. Bömelburg: Aufgeklärte Beamte, S. 29f.; Mark: Galizien, S. 4ff. 26 Vgl. Glassl: Einrichtungswerk, S. 40 und 85–88.



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österreichische Regierung verfolgte damit allerdings nicht in erster Linie das Ziel, den Adel zu dezimieren. Der galizische Adel umfasste im Jahr 1780 rund 30.000 männliche Adlige und machte nur 2,3 Prozent der Bevölkerung in Galizien aus. Ziel der Wiener Adelspolitik war vielmehr, die rechtlich gleichgestellte Szlachta in die eigene Adelshierarchie aus Herrenstand und Ritterstand einzuordnen. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch am fehlenden Willen des Adels, die Aufnahme in den Herrenstand zu beantragen. Die starke Beschneidung adliger Rechte hatte dessen Bereitschaft zur Übernahme staatlicher Aufgaben deutlich schwinden lassen.27 Die Habsburgermonarchie verfolgte in Galizien zunächst also eine normative Integrationspolitik, die dem preußischen Vorgehen recht nahe kam. Die Wiener Regierung verstand unter Integration die möglichst zügige Anpassung an österreichische Verhältnisse. Maria Theresia und Joseph II. waren sich darin einig, dem polnischen Adel keinerlei Sonderrechte zu gewähren. Joseph ging sogar noch weiter und forderte, die Szlachta solle möglichst schnell ihre bisherige Landestracht ablegen und stattdessen französische Kleidung tragen. Und sein Nachfolger Franz II. verstand Integration als Verbreitung der deutschen Sprache und Kultur sowie die Übernahme deutscher Vornamen.28 Nach dem Wiener Kongress setzte Fürst von Metternich auf eine andere Integrationspolitik als noch Maria Theresia oder Joseph II. Seiner Ansicht nach sollte man aus den Polen nicht mit einem Male Deutsche, sondern erst einmal „ächte Gallizier“ machen, „damit sie aufhören, sich als Pohlen zu betrachten“.29 Und diese sollten noch nicht einmal einen Scheingrund haben, „sich als minder begünstigt oder wohl gar zurück gesetzt zu betrachten, (…) damit endlich einmal auch dort die so sehr erwünschliche lebhafte Überzeugung entstehe, daß bei dem gerechtesten Monarchen gleiche Ergebenheit und Treue immer auf gleiche väterliche Sorgfalt, Huld und Milde mit voller Zuversicht rechnen dürfen.“30

Nachdem die zarische Regierung das Königreich Polen gegründet hatte, zog Wien nach und verlieh Galizien ebenfalls den Rang eines Königreiches. 1817 erneuerte Kaiser Franz I. in einem Patent die galizischen Landstände. Allerdings wurden diese nicht durch Wahlen bestimmt, sondern setzten sich aus hohen Würdenträgern, Bischöfen, Erzbischöfen und vermögenden Gutsbesitzern zusammen. Theoretisch umfassten die Landstände mehrere hundert Personen, tatsächlich nahmen 27 Vgl. ebd., S. 92–113; Deák: Galizien bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, S. 450–462. 28 Vgl. Maner: Galizien, S. 53–58. 29 Vortrag Metternichs an Kaiser Franz über die Situation in Galizien vom 18.4.1815, in: Arthur G. Haas: Metternich, Reorganization and Nationality 1813–1818. A Story of Foresight and Frustration in the Rebuilding of the Austrian Empire, Wiesbaden 1963, S. 167–169, hier 167. 30 Ebd., S. 169.

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Schlussbetrachtung

aber nur 50 bis 70 Mitglieder an den jährlichen Sitzungen teil. Sie erledigten rasch die vorgegebene Tagesordnung und verfassten schließlich eine „Adresse“ an den Kaiser. Auch die Habsburgermonarchie hatte die altpolnischen Landtage somit durch „staatliche Veranstaltungen“ ersetzt. Im Vorfeld der Revolution von 1848 fanden auf den Landtagen allerdings lebhafte Diskussionen über eine Agrarreform statt. Nach der Revolution wurden die galizischen Landstände deshalb nicht mehr einberufen und bestanden nur noch auf dem Papier. Erst im Zuge der neuen Reichsverfassung von 1861 entstand mit dem galizischen Landtag wieder eine regionale Interessenvertretung.31 Preußen und die Habsburgermonarchie hatten also nach den Teilungen zunächst auf eine normative Integrationspolitik gesetzt, welche die altpolnischen Strukturen zerstörte und die Interessen des Adels missachtete. Beide Monarchien machten allerdings einen Lernprozess durch und erkannten, dass Integration nicht allein auf einer erzwungenen Übernahme von Normen und Institutionen basieren kann. Die kompromisslose Durchsetzung einer normativen Integrationspolitik wich deshalb zu Beginn des 19. Jahrhunderts einem Mittelweg, der in Österreich mehr und in Preußen weniger politische Partizipation zuließ. Das Zarenreich ging den entgegengesetzten Weg. Nach einer langjährigen Phase der pragmatischen Integrationspolitik schwenkte Nikolaus I. auf die Prinzipien einer normativen Politik um, da er die Eigenständigkeit des polnischen Adels als Schwäche der Autokratie ansah. Ein Blick über die Grenzen hätte der zarischen Regierung die Mängel einer normativen Integrationspolitik vor Augen geführt, doch eine solche wechselseitige Wahrnehmung der Polenpolitik der jeweils anderen Teilungsmächte fand nicht statt. Stattdessen glaubte sie aus der russischen Erfahrung einer dreihundertjährigen Expansion schöpfen zu können und musste im Zuge des Staatsausbaus gerade mit diesen lange Zeit erfolgreichen imperialen Traditionen brechen.

31 Vgl. Grodziski: Landtage, S. 2131–2134.

DANKSAGUNG

Die vorliegende Arbeit ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Wintersemester 2010/2011 von der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität angenommen wurde. Ihre Entstehung haben viele Menschen begleitet, für deren Unterstützung ich mich an dieser Stelle bedanken möchte. In erster Linie gilt mein Dank Prof. Dr. Joachim von Puttkamer (Jena). Er hat mich nach Jena geholt und mir die Gelegenheit gegeben, hier zu habilitieren. Als Mitarbeiter seines Lehrstuhls hatte ich stets die notwendigen Freiheiten, um weite Teile der Semesterferien in den Archiven zu verbringen und am Ende die Arbeit niederzuschreiben. In stets fruchtbaren Diskussionen hat er durch unerwartete Nachfragen und konstruktive Kritik diese Untersuchung in allen Arbeitsstadien entscheidend geprägt. Mein herzlicher Dank geht auch an meine beiden Jenaer Kollegen, Dr. Franziska Schedewie (inzwischen wieder in Heidelberg) und Dr. Raphael Utz, mit denen mich eine wunderbare gemeinsame Zeit verbindet und deren Freundschaft meine Forschungen in den vergangenen Jahren getragen hat. Ihnen verdanke ich wichtige Einsichten und wertvolle Anregungen, die sie mir in zahlreichen Gesprächen und im Zuge ihrer kritischen Lektüre des Manuskripts gegeben haben. Herrn Prof. Dr. Gottfried Schramm (Freiburg i. Br.) danke ich für seinen bewährten Rat bei der Umgestaltung der Habilitationsschrift zu einem Buch. Die Teilnehmer diverser Kolloquien, die über die verschiedenen Stadien des Projektes mit mir diskutierten, verhalfen mir zu wichtigen Einsichten. Für das Interesse an meiner Arbeit und die Möglichkeit, meine Überlegungen vorzutragen, danke ich deshalb Prof. Dr. Jörg Baberowski (Berlin), Prof. Dr. Dittmar Dahlmann (Bonn), Prof. Dr. Manfred Hildermeier (Göttingen), Prof. Dr. Claudia Kraft (Siegen), Prof. Dr. Jan Kusber (Mainz), Prof. Dr. Heinz-Dietrich Löwe (Heidelberg), Prof. Dr. Stephan Merl (Bielefeld), Prof. Dr. Dietmar Neutatz (Freiburg i. Br.), Prof. Dr. Stefan Plaggenborg (Bochum) und Prof. Dr. Martin Schulze Wessel (München) sowie Prof. Dr. Hans-Werner Hahn von meiner Heimatuniversität. Herrn Prof. Hahn und Herrn Prof. Hildermeier danke ich darüber hinaus für die Übernahme des Zweitgutachtens bzw. des auswärtigen Gutachtens im Rahmen meines Habilitationsverfahrens. Ihre Anmerkungen halfen mir bei der Überarbeitung des Manuskripts für den Druck weiter. Prof. Dr. Wolfgang Dahmen und Prof. Dr. Jörg Nagler übernahmen dankenswerterweise die beiden Lehrgutachten im Rahmen meines Habilitationsverfahrens. Prof. Dr. Andreas Gestrich (London) und

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Danksagung

Prof. Dr. Helga Schnabel-Schüle (Trier) danke ich für die offene Zusammenarbeit mit dem Trierer SFB 600 „Fremdheit und Armut“ sowie dem Projekt der Volkswagenstiftung „Die Teilungen Polens: Teilungserfahrung und Traditionsbildung“. Mein aufrichtiger Dank gilt auch allen Mitarbeitern der von mir aufgesuchten Archive und Bibliotheken. In Minsk standen mir Prof. Dr. Alexander Kochanovskij und Dr. Andrej Prochorov mit Rat und Tat zur Seite, nicht zuletzt als mein Koffer auf dem Flug nach Minsk beim Umsteigen in Wien verloren gegangen war. In Kiew war Dr. Alexander Ivanov eine große Hilfe, und unsere gemeinsamen Ausflüge waren zudem eine wohltuende Abwechslung vom Aktenstudium. Unvergessen ist der Archivaufenthalt in St. Petersburg im März 2005. Vier Wochen, bevor das RGIA wegen Umzugs seine Tore auf unbestimmte Zeit schloss, drängten Benutzer aus aller Welt in das Archiv, das diesen Ansturm kaum bewältigen konnte. Es ist der stoischen Gelassenheit der Mitarbeiter zu verdanken, dass man im Lesesaal dennoch effektiv arbeiten konnte, und der Solidarität einer kleinen Schar von Kollegen (bald allseits bekannt als nemcy – „die Deutschen“), dass man überhaupt einen Platz im Lesesaal bekam. Ohne die besondere Förderung durch das Historische Kolleg in München hätte diese Arbeit nicht geschrieben werden können. In der anregenden Ruhe der Kaulbach-Villa konnte ich meine Gedanken zu Papier bringen und weite Teile des Manuskripts niederschrieben. Ich bedanke mich beim Kuratorium für die Gewährung eines Förderstipendiums und bei den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Kollegs für die umsichtige Betreuung. Prof. Dr. Martin Schulze Wessel danke ich für meine Integration in seinen Münchner Lehrstuhlbetrieb und die willkommene Abwechslung von der einsamen Schreibtischarbeit. Mein Dank gilt dem Böhlau Verlag und den Herausgebern der „Beiträge zur Geschichte Osteuropas“ für die Aufnahme meiner Studie in ihre angesehene Reihe. Die VG Wort hat dankenswerterweise den Druck des Buches finanziert. Prof. Dr. Włodzimierz Borodziej (Jena / Warschau) und Prof. Dr. Jerzy Kochanowski (Warschau) gaben mir entscheidende Hinweise für die Suche nach einem Titelbild. Franziska Rodewald danke ich für die umsichtige Korrektur der Druckfahnen. An dieser Stelle möchte ich mich auch bei meinen Eltern für den gewohnten Rückhalt und das stete Vertrauen bedanken. Die größte Last trug aber Anita Pröger, welche die vielfältigen Entbehrungen, die das Verfassen meiner Habilitationsschrift mit sich brachte, mit großem Verständnis begegnet ist. Ihr ist dieses Buch gewidmet. Jena, im Februar 2013

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHN IS

1. Archivalien Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Drevnich Aktov (RGADA) (Russisches Staatsarchiv der alten Akten, Moskau) Fond 12 Dela o Pol’še i Litve (1510–1854) Fond 16 Vnutrennee upravlenie (1688–1857)

Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii (GARF) (Staatsarchiv der Russischen Föderation, Moskau) Fond 109 III otdelenie sobstvennoj ego imperatorskogo veličestva kanceljarii (1802–1881) Fond 109 s/a Sekretnyj archiv III otdelenij sobstvennoj ego imperatorskogo veličestva kanceljarii (1802–1881) Fond 1165 Osobennaja kanceljarija ministerstva vnutrennich del (1801–1826)

Rossijskij Gosudarstvennyj Istoričeskij Archiv (RGIA) (Russisches Historisches Staatsarchiv, St. Petersburg) Fond 1152 Gosudarstvennyj sovet – Departament ėkonomii (1810–1917) Fond 1263 Komitet ministrov (1802–1905) Fond 1266 Komitet zapadnych gubernii (1831–1848) Fond 1281 Ministerstvo vnutrennich del – Sovet ministra (1804–1917) Fond 1286 Ministerstvo vnutrennich del – Departament policii ispolnitel’noj (1802–1905) Fond 1341 Pervyj departament Senata (1797–1918) Fond 1347 Tretij departament Senata (1797–1888) Fond 1409 Sobstvennaja ego imperatorskogo veličestva kanceljarija (1723–1918)

Lietuvos valstybės istorijos archyvas (LVIA) (Litauisches Historisches Staatsarchiv, Vilnius) Fond 378 Kanceljarija Vilenskogo, Kovenskogo i Grodnenskogo generalgubernatora g. Vil’no (1768–1913)

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Fond 378 o/o Kanceljarija Vilenskogo, Kovenskogo i Grodnenskogo generalgubernatora, obščij otdel (1768–1913) Fond 391 Kanceljarija Vilenskogo gubernskogo dvorjanskogo deputatskogo sobranija (1709–1917) Fond 708 Uezdnye predvoditeli dvorjanstva i dvorjanskie opeki Vilenskoj i Kovenskoj gubernii (1808–1915) Nacional’nyj istoričeskij archiv Belarusi (NIAB) (Historisches Nationalarchiv Weißrusslands, Minsk) Fond 319 Minskoe dvorjanskoe deputatskoe sobranie (1795–1918) Fond 320 Minskij gubernskij predvoditel’ dvorjanstva (1823–1911) Fond 1297 Kanzeljarija general-gubernatora Vitebskogo, Mogilovskogo i Smolenskogo (1802–1856) Fond 1430 Kanceljarija vitebskogo graždanskogo gubernatora (1797–1917) Fond 2001 Kanceljarija mogilevskogo graždanskogo gubernatora (1803–1917) Central’nyj deržavnyj istoryčnyj archiv Ukraïn, m. Kyïv (CDIAK) (Zentrales Historisches Staatsarchiv der Ukraine, Kiew) Fond 442 Kanceljarija kievskogo, podol’skogo i volynskogo general-gubernatora (1796–1916) Fond 481 Central’naja komissija po revizii dejstvij dvorjanskich deputatskich sobranij kievskoj, podol’skoj i volynskoj gubernij (1836–1844) Fond 533 Kanceljarija kievskogo voennogo gubernatora (1796–1916) Fond KMF 11 Dokumenty po istorii gorodov i sel Ukrainy (1798–1917)

2. Dokumentensammlungen un d Q uelleneditionen: Archiv gosudarstvennago soveta, 5 Bde., St. Petersburg 1869–1904. Book on the Duties of Man and Citizen. Designated for reading in the Public Schools of the Russian Empire, and published by Royal Command, abgedruckt in: J. L. Black: Citizens for the Fatherland. Education, Educators, and Pedagogical Ideals in Eighteenth Century Russia, Boulder 1979, S. 209–266. Briefwechsel Friedrichs des Großen mit Voltaire, hg. v. Reinhold Koser und Hans Droysen, 3 Bde., Leipzig 1908–1911. Czartoryski, Adam J.: Sur le Système politique que devrait suivre la Russie présenté et lu la même année à l’Empereur Alexandre, abgedruckt bei: Patricia Kennedy Grimsted: Czartoryski’s System for Russian Foreign Policy, 1803. A Memorandum, Edited with Introduction and Analysis, in: California Slavic Studies 5 (1970), S. 19–91.



Quellen- und Literaturverzeichnis

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KARTEN

Karte 1: Die Karte stammt aus dem Buch: Michael G. Müller: Die Teilungen Polens. Verlag C.H. Beck oHG, München 1984 (ISBN 3406–30277–7). Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

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Karten

Karte 2: Bayerische Staatsbibliothek, 2 Mapp. 176 r, 1–46 (Ausschnitt). Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Bayerischen Staatsbibliothek.

ORTSREGISTER

Auerstedt 95 Babinoviči 185 Baltikum 24, 302, 343 Bayern 58 Belaja Cerkov 100 Belica 185 Berdičev 257, 360 Berezjatnja 257 Bessarabien 31, 296, 302 Białystok 14, 92, 101, 131, 166, 167, 277, 290, 297 Borodino 110, 315 Braclav 150, 195, 272, 273, 276 Bychov 185, 267, 352 Čausy 185, 352 Čeljabinsk 314 Čerikov 185 Čerkasy 179, 180 Char’kov 82, 86 Cherson 341, 354 Disna 361 Dubno 186 Düna 38, 341 Ekaterinoslav 48, 49, 152 Estland 9, 82 Finnland 31, 89, 193, 263, 302 Frankreich 87, 90, 96, 104 Galizien 69, 84, 87, 172, 304, 355

Gatčina 95 Gluchov 212 Gomel 267 Gomel’ 303 Gorki 201 Grodno 14, 77, 89, 92, 99, 110, 113, 116, 123, 125, 131, 132, 158, 162, 163, 166, 168, 176, 183, 228, 230, 231, 250, 277, 284, 286, 290, 292, 294, 297, 313, 316, 318, 324, 332, 336, 337, 362, 363 Iz-jaslav 150, 195 Jampol’ 243 Jena 95 Kaluga 13, 149, 194, 196, 226, 311, 312, 313, 314, 315, 320 Kamenec-Podol’sk 294, 360 Kaukasus 125, 126, 302 Kazan’ 11, 45 Kiew 13, 15, 51, 73, 77, 80, 83, 84, 90, 100, 106, 108, 110, 111, 115, 117, 130, 131, 132, 136, 139, 142, 149, 158, 159, 160, 161, 162, 170, 171, 173, 175, 176, 179, 180, 181, 184, 199, 203, 204, 207, 209, 211, 214, 218, 225, 226, 227, 228, 244, 249, 250, 252, 273, 280, 282, 285, 287, 290, 291, 294, 300, 307, 313, 317, 319, 321, 324, 326, 331, 333, 334, 336, 360, 363, 386 Kleinrussland 212, 263, 272, 273, 311, 343 Klimovica 185

420

Ortsregister

Kopys’ 185 Kovel’ 186, 241, 248 Kovno 13, 363 Krewo 14 Krzemieniec 83, 105 Kurland 73, 135, 273, 343 Lida 178, 287 Lipovec 180, 244 Lissabon 82 Litauen 14, 15, 24, 39, 53, 54, 63, 73, 82, 83, 89, 90, 93, 113, 135, 146, 154, 179, 207, 228, 234, 237, 238, 239, 240, 273, 277, 279, 280, 281, 320, 323, 334, 337, 342, 343, 353 Livland 9, 13, 31, 36, 82, 263, 341, 343 Lublin 14 Luck 186, 241, 248, 360 Minsk 14, 73, 77, 80, 89, 92, 132, 133, 138, 142, 150, 158, 160, 166, 168, 176, 178, 195, 208, 215, 217, 233, 234, 236, 237, 238, 239, 240, 247, 248, 271, 272, 273, 276, 279, 280, 281, 282, 290, 294, 297, 300, 309, 324, 325, 326, 327, 331, 334, 336, 340, 342, 350, 353, 361, 362, 363, 386 Mogilëv 13, 38, 39, 41, 45, 46, 47, 79, 88, 89, 97, 98, 99, 133, 138, 147, 149, 163, 166, 174, 175, 184, 185, 188, 191, 194, 196, 197, 198, 210, 213, 219, 234, 235, 237, 238, 239, 240, 242, 249, 250, 251, 257, 258, 261, 264, 265, 266, 267, 268, 269, 270, 272, 273, 277, 289, 291, 292, 293, 294, 302, 303, 304, 306, 309, 311, 312, 313, 315, 317, 324, 330, 334, 340, 341, 342, 343, 344, 350, 351, 352, 353, 362 Moskau 31, 45, 52, 82, 97, 99, 148, 244, 276, 312, 385

Mstislav 36, 185, 213, 267, 352 Neapel 82 Neurussland 40, 50, 51, 68, 69, 296 Niederlande 104 Nižnij Novgorod 311 Novograd-Volynskij 134, 186, 218, 241 Novogrudok 337, 362 Obručevsk 186 Odessa 296, 341 Orenburg 314 Orša 41, 185, 267, 352 Österreich 10, 36, 68, 69, 87, 244, 311 Ostrog 186 Ovruč 241 Penza 311 Pinsk 138, 362 Podolien 13, 15, 44, 49, 51, 73, 83, 84, 90, 92, 93, 101, 106, 108, 110, 115, 117, 125, 130, 131, 132, 136, 139, 158, 166, 171, 175, 176, 184, 195, 209, 214, 217, 218, 226, 228, 242, 243, 247, 249, 251, 254, 273, 282, 285, 287, 290, 294, 297, 313, 316, 317, 334, 335, 340, 355, 358, 359, 361 Polock 13, 22, 36, 38, 41, 45, 46, 47, 147, 149, 177, 191, 229, 236, 267, 269, 270, 272, 273, 302, 303, 361 Preußen 10, 23, 58, 68, 69, 86, 96, 306, 311 Proszkowski 242 Pskov 38, 232, 261, 262, 264, 265, 266, 267, 268, 269, 270, 300, 302, 307, 311, 313, 320, 340, 342, 343 Puławy 85 Radom 146 Režica 267

Ortsregister 421

Rjazan’ 311, 320 Rogačëv 185, 267, 344 Rogačėv 267 Rovno 186 Sandomir 244 Šavel’ 354 Senno 185, 267, 352 Sibirien 45, 302, 314 Simbirsk 187, 326 Slonim 198, 273 Sluck 362 Smolensk 13, 24, 97, 98, 99, 166, 194, 196, 197, 213, 222, 263, 289, 312, 313, 315, 317, 342, 350, 353 Starokonstantin 186, 243 Stockholm 82 St. Petersburg 18, 44, 47, 48, 52, 67, 75, 77, 78, 79, 81, 82, 83, 84, 86, 89, 97, 106, 132, 162, 176, 179, 210, 216, 227, 229, 239, 243, 245, 262, 281, 282, 288, 297, 299, 302, 308, 309, 314, 316, 317, 318, 325, 327, 334, 336, 340, 346, 353, 358, 385 Tarašča 180, 244 Taurien 48, 49, 152 Tilsit 14, 96, 277 Tobol’sk 314 Tula 311, 320 Tver’ 149, 311, 320 Ukraine 13, 14, 15, 24, 149, 317, 318, 386 Uman’ 162, 180, 204, 321 Velikie Luki 38, 267, 269 Vil’komir 220 Vinnica 242 Vitebsk 13, 36, 38, 39, 77, 88, 89, 98, 99, 114, 135, 138, 161, 166, 174, 175, 181,

184, 194, 196, 197, 201, 209, 213, 228, 234, 235, 237, 238, 239, 240, 246, 250, 251, 267, 270, 273, 277, 284, 289, 293, 294, 312, 313, 315, 317, 320, 324, 334, 342, 350, 361 Vladimir-Volynskij 186 Voznesensk 48, 49, 51, 152, 273 Warschau 13, 14, 22, 54, 67, 69, 83, 84, 85, 87, 89, 91, 92, 93, 95, 96, 97, 103, 104, 105, 110, 111, 230, 244, 283, 311, 358 Weißrussland 13, 15, 38, 73, 84, 93, 101, 179, 196, 239, 262, 264, 269, 273, 277, 279, 280, 281, 293, 300, 303, 312, 320, 337, 340, 344, 351, 386 Westpreußen 249, 266 Wien 22, 69, 83, 84, 85, 90, 100, 110 Wilna 13, 14, 39, 77, 80, 81, 84, 85, 86, 89, 92, 93, 97, 99, 103, 104, 105, 121, 129, 131, 132, 133, 135, 138, 142, 147, 158, 163, 166, 176, 178, 182, 196, 197, 201, 206, 208, 216, 219, 220, 228, 232, 233, 246, 250, 253, 273, 277, 282, 287, 290, 292, 296, 297, 307, 316, 322, 323, 324, 326, 333, 336, 337, 354, 356, 362, 363 Wolhynien 13, 15, 44, 73, 77, 78, 79, 83, 84, 90, 92, 93, 96, 101, 106, 108, 110, 111, 115, 117, 130, 131, 132, 134, 157, 158, 166, 171, 175, 176, 184, 185, 186, 207, 210, 215, 218, 241, 243, 248, 251, 273, 285, 287, 288, 290, 294, 297, 313, 314, 317, 318, 320, 332, 334, 340, 356, 358, 359, 360, 361 Zaslavl’ 186 Žitomir 97, 134, 186, 218, 244, 359, 360 Zvenigorodka 180, 251

PERSONENREG ISTER

A Alexander I. 14, 69, 74, 75, 76, 77, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 99, 100, 101, 102, 107, 110, 113, 122, 143, 144, 156, 157, 158, 159, 160, 161, 163, 165, 169, 173, 176, 178, 192, 193, 222, 226, 228, 236, 238, 259, 276, 277, 278, 280, 283, 302, 353 Alexander II. 105, 173, 223, 255, 258, 278, 300, 316 Andrzejkowicz, Michał 318 B Bažanov, Georgij I. 291, 332 Benckendorff, Alexander Ch. 84, 110, 113, 170, 171, 218, 229, 286, 291, 297, 309, 322, 325, 329, 336, 338, 357 Bibikov, Alexander A. 39 Bibikov, Dmitrij G. 39, 106, 108, 115, 130, 131, 175, 176, 285, 286, 291, 295, 319, 331, 333 Bludov, Dmitrij N. 125, 229, 291 Bobjatinskij, Michail T. 336, 337, 338 Bobrowski, Tadeusz 65, 131, 140, 319, 331 Braczkowski, Fadej 79 Branicki, Franciszek Ksawery 100 Bulgarin, Fadej 217 Butovič, Aleksej P. 317 C Černyšëv, Zachar G. 38, 39, 45, 191, 262, 264, 265, 266, 267, 268, 306, 311, 312, 344, 351, 352, 353, 354

Chmara, Joachim 248 Chovanskij, Nikolaj N. 194, 196, 229, 289, 312, 317, 351, 357 Chreptowicz, Joachim 41 Ciechanowiecki 201 Cieciszowski, Kasper 360 Czacki, A. 355, 356 Czacki, Tadeusz 83, 84 Czajkowski 133 Czapski, Karol 247, 248 Czartoryski, Adam Jerzy 44, 81, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 93, 94, 95, 96, 97, 100, 102, 139, 246, 248 Czartoryski, Adam Kazimierz 44, 97 D Danilowicz, Ignacy 290, 291 de Marbot, J. 98 Deržavin, Gavriil R. 257, 258 Deval’den, Sidor 135, 136 Dmitrij Ivanovič (Donskoj) 353, 354 Dobrowolski 204 Dobrynin, Gavriil 107, 267, 303, 306, 313, 324, 325, 330, 331, 334, 343, 344 Dolgorukov, Nikolaj A. 131, 309, 324, 333 Dombrowski 351, 352 Doppel’majer, Grigorij G. 292, 325 Drucki-Lubecki 163 Dunin 49, 134 E Ėngel’gardt, Lev 303, 343

Personenregister 423

F Fedcov, Alexander 243 Friedrich II. 106, 266, 305 G Gedymin 210 Gieczewicz, Wincenty 309, 325, 326, 327, 336 Giżycki, Bartłomiej 317, 318 Głębocki, Iwan 218, 244 Gogol’, Nikolaj V. 236 Golicyn, Alexander N. 39 Gorn, Peter G. 336 Grabowski 183 Grochol’skij, Nikolaj M. 355, 356 H Horodeński, Tadeusz 248 I Ignaciewicz, Józef 248 Iliński, Józef August 82 Iwański, August 139 J Jacyn 309 Janiszewski, Konstanty 241, 248 Joseph II. 106, 343 K Kachovskij, Michail V. 268, 311, 312, 317 Karamzin, Nikolaj M. 92, 93, 94, 101, 107, 108, 109 Karnicki 201, 202, 203, 357 Kasimir III. 145 Katerinič, Vasilij 336 Katharina II. 11, 12, 19, 31, 33, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 43, 44, 46, 47, 49, 50, 51, 52, 53, 56, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 70, 71, 74, 77, 82, 84,

93, 94, 101, 106, 108, 109, 115, 117, 118, 119, 121, 124, 136, 141, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 153, 154, 155, 157, 158, 159, 163, 165, 167, 169, 173, 178, 179, 189, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 208, 210, 216, 217, 221, 223, 236, 249, 259, 261, 262, 264, 265, 266, 268, 269, 270, 272, 273, 274, 275, 277, 278, 286, 298, 300, 301, 302, 303, 304, 305, 306, 307, 308, 311, 312, 313, 319, 339, 340, 345, 346, 347, 348, 349, 358 Katkov, Michail N. 144 Knjažnin, Boris Ja. 110, 285, 289 Kočubej, Dem’jan 212 Kočubej, Viktor P. 207 Kołłątaj, Hugo 54, 56 Kombulej, Michail 318 Konstantin Pavlovič 14, 86, 168, 243, 336 Kościuszko, Tadeusz 44, 67, 69, 82, 83, 84, 103, 276, 318 Kostrowicki, Michał 248 Kotelnicki 80 Kovalëv, Ivan G. 300 Koźman, Kajetan 96 Kraszewski, Jósef Ignacy 117 Krečetnikov, Michail N. 38, 262, 266, 268, 269, 271, 306, 307, 311, 312, 320 Krzyżanowski 97 Kuris, Ivan 317 L Laškarëv, Grigorij S. 313, 314, 315 Lazański, Wiktor 242 Ledóchowski 356 Lesovskij 287, 309 Leszczyński, Adam 248, 249 Levašov, Vasilij V. 171, 173 Levkovič 326

424

Personenregister

Łopaciński 322 Loškarëv 252, 253 Łubanowski 327, 328, 329, 330 Lubecki 246 Lubjanovskij, Fëdor P. 125, 317 Ludwig XVI. 274 Łukaszewicz, Fabian 134 Luskin, Jurij 187 M Malanowski, Józef 241 Malewski, Franc 84 Maria Fëdorovna 317 Męciszewski, Feliks 251 Mickiewicz, Adam 112 Mikulicz 134 Mirkovič, Fëdor Ja. 176, 296 Mirski 207 Moszyński 204, 205 Murav’ëv, Michail N. 110, 113, 116, 117, 118, 123, 124, 125, 144, 284, 285, 289, 292, 315, 316, 324 N Napoleon I. 14, 22, 43, 69, 85, 86, 87, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 102, 105, 110, 244, 275, 298, 317, 353 Nepljuev, Ivan N. 271, 300 Neverovskij, Dmitrij 51 Nikolaus I. 95, 102, 103, 105, 106, 112, 118, 119, 120, 122, 124, 125, 127, 132, 137, 138, 141, 142, 143, 144, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 173, 174, 175, 176, 177, 189, 194, 195, 217, 218, 219, 222, 227, 229, 242, 244, 259, 283, 284, 288, 290, 291, 294, 295, 296, 297, 299, 313, 315, 316, 327, 335, 347, 366 Novosil’cev, Nikolaj N. 94

O Obreskov, Dmitrij M. 322, 323, 324, 325, 327 Ogiński, Michał Kleofas 83, 89 Olszewski 191 Omulski, Adam 39, 41, 42, 272 Ożarowski, Adam 69 P Panin, Viktor 117, 118 Pankrat’ev, Peter P. 161, 307 Passek, Peter B. 312, 313, 330 Paul I. 51, 65, 66, 67, 68, 70, 74, 75, 76, 77, 82, 94, 101, 122, 126, 127, 143, 153, 154, 156, 157, 158, 165, 173, 178, 191, 192, 193, 194, 208, 217, 236, 259, 272, 273, 274, 275, 276, 302, 311, 343 Peter I. 31, 33, 36, 52, 60, 61, 66, 283, 300 Peter III. 33, 61, 75, 153 Pisarëv, Nikolaj 331 Plöth, Friedrich 134, 135 Polé 257, 320 Poljanskij 330, 331 Poniatowski, Stanisław August siehe Stanisław II. August 65, 82 Poniński 157 Potëmkin, Grigorij A. 39, 312 Potocki, Jan 83 Potocki, Piotr 321, 322 Potocki, Przemysław 243 Potocki, Seweryn 82, 83 Protopopov, Fëdor 250 Prusiński, Mieczysław 243 Przezdziecki, Konstanty 136 Puschkin, Alexander S. 43, 110, 112, 113, 114 Pusłowski 322, 323

Personenregister 425

R Radziwiłł, Dominik 230, 248, 257 Repnin, Nikolaj G. 212 Rešetov, Gavriil S. 317 Rimskij-Korsakov, Alexander M. 320 Rimskij-Korsakov, Andrej P. 171, 172 Rozen 337 Rudzki 84, 119 Rudzyński, Józef 241 Rumjancev, Nikolaj P. 303 Rutkowski 322, 323, 325

Tolstoj, Dmitrij A. 351, 352, 353 Traczewicz 211 Troščinskij, Dmitrij 193 Turgenev, Nikolaj 91 Tutolmin, Timofej I. 150, 195, 196 Tyszkiewicz, Henryk 136, 244

S Saltykov, Lev 251 Sapieha, Leon 246 Severin, Peter I. 251, 324 Sievers, Jakob 149 Sigismund II. 146 Skopin 331 Solov’ëv 210 Sołtyk, Roman 97 Speranskij, Michail 84, 88, 277, 278, 314 Spugov, Pavel 79 Šreder, Nikokaj I. 320 Stachurski 204, 205 Stanisław II. August 55, 163, 276, 317 Staszic, Stanisław 54, 85, 101 Stronskaja 210 Sulatycki, Marian 242, 247, 249 Suwiński 218 Świderskis, Adolf 244 Sypiło 213 Szuszkowski, Adam 76

V Valuev, Peter A. 255 Vereščagin, Vasilij 99 Vjazemskij, Alexander A. 263 Vjazmitinov, Sergej 353 Vlasov, Dmitrij 286 vom Stein, Heinrich Friedrich Karl 58 von Berg, Peter I. 316 von Drebuš, Alexander F. 208, 309, 331 von Montgelas, Maximilian 58, 59 von Nesselrode, Karl 109 von Württemberg, Alexander Friedrich Karl 317

T Tjutčev, Fëdor I. 316

U Ubri 228, 229 Uvarov, Sergej S. 116, 293

W Wilamowski 228 Władysław II. Jagiełło 146 Z Zajączek, Józef 85 Zander 321, 322 Zavadovskij, Peter 39 Zechanowski, Feliks 209 Zubov, Platon A. 47, 48, 49, 50, 51, 68, 124, 152, 216, 271, 301 Žukovskij, Nikolaj N. 314, 332

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RUSSLANDS IMPERIALE MACHT INTEGRATIONSSTRATEGIEN UND IHRE REICHWEITE IN TRANSNATIONALER PERSPEKTIVE

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Die Zeitschrift befasst sich mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit osteuropäischer Länder. Aufsätze, die sich auf neu erschlossene Archivmaterialien stützen, und Dokumente in Originalsprache und deutscher Übersetzung bilden den Schwerpunkt des historischen Teils des »Forums«. Der ideengeschichtliche Teil widmet sich vor allem der jahrzehntelangen Suche osteuropäischer Intellektueller nach den Alternativen zur herrschenden kommunistischen Doktrin. JG. 16, HEFT 1 (2012)

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