Rußland: Eine Einführung auf Grund seiner Geschichte vom Japanischen bis zum Weltkrieg [2., vollst. umgearb. Aufl. Reprint 2019] 9783111714752, 9783111321431

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Rußland: Eine Einführung auf Grund seiner Geschichte vom Japanischen bis zum Weltkrieg [2., vollst. umgearb. Aufl. Reprint 2019]
 9783111714752, 9783111321431

Table of contents :
Vorwort zur zweiten Auflage
Inhaltsverzeichnis
Zeittafel
I. Buch
I. Kapitel. Das Erbteil der Vergangenheit
II. Kapitel. Die Entstehung des modernen Russlands und die Voraussetzungen der Revolution von 1905
III. Kapitel. Der Krieg mit Japan und die Revolution bis zum Zusammentritt der ersten Duma
II. Buch
IV. Kapitel. Innerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906-1914
V. Kapitel. Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik
VI. Kapitel. Verfassung, Verwaltung und Gericht
VII. Kapitel. Die ständische Gliederung, die Selbstverwaltung und die gesellschaftlichen Kräfte
VIII. Kapitel. Die geistige Wett
IX. Kapitel. Der Machtstaat
III. Buch. Die Nationalitätenfrage, Panslawismus und Nationalismus
X. Kapitel. Die Grenzmarken
XI. Kapitel. Die nationalen Probleme des Kerngebiets
XII. Kapitel. Nationalismus und Panslawismus
Schuss
Anhang
Personenregister

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O. Hoetzfch, Rußland.

Verlag Georg Reimer Berlin.

Rußland Eine Einführung auf Grund feiner Geschichte vom Japanischen bis zum Weltkrieg

von

Otto Äoetzsch

Zweite vollständig umgearbeitete Auflage Ulit 2 Karten

Berlin I9J7 Verlag von Georg Reimer

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, Vorbehalten.

Borwort zur zweiten Auflage. Die erste Auflage war im ersten Kriegsjahr vergriffen.

Zunächst

glaubten der Verlag und ich, für eine neue Bearbeitung das Ende des

Krieges abwarten zu müssen, so daß sich der Verlag, da die Nachfrage ununterbrochen weiter ging, mit einem zweimaligen anastatischen Neu­ druck behalf, der den bisherigen Text unverändert wiedergab und in dem

nur die Zeittafel bis zum Kriegsbeginn fortgeführt und statistische Bei­

gaben angefügt wurden.

Dieser Behelf konnte aber auf die Dauer nicht

genügen, und so habe ich eine vollständige Umarbeitung vorgenommen, die

unter Fortführung der geschichtlichen Entwicklung bis zum Kriegsausbruch 1914 ein Bild Rußlands geben will, wie es zu Beginn des Weltkrieges war.

Natürlich spiegelt sich der Reflex des Krieges an manchen Stellen wieder, indes ist die direkte Bezugnahme auf den Krieg oder gar auf seine möglichen

Folgen grundsätzlich vermieden worden. Das Buch will das Verständnis der entfernteren und besonders der näheren Voraussetzungen (seit der Revo­ lution) für den Zustand Mitte 1914 vermitteln, ist doch nunmehr das

Jahrzehnt von 1904 bis 1914 eine eigene abgeschlossene Periode russischer

Geschichte geworden. Die Disposition brauchte nicht allzu stark verändert zu werden. Da­

gegen konnte und mußte die Umarbeitung erheblich kürzen. Aus den Be­ sprechungen habe ich jede tatsächliche Verbesserung dankbarst verwendet. Für die Richtigstellung von Jrrtümem werde ich auch weiter immer dankbar

sein.

Ich darf darauf Hinweisen, daß Absicht und Sinn des Buches,

das auf der russischen und polnischen sowie der Literatur in den west­

europäischen Sprachen und auf eigener Anschauung des russischen Staats

.uttb Volkes ruht, mit ganz geringen Ausnahmen überall verstanden worden

ist.

In Rußland selbst ist es von der Zensur verboten worden.

Die

iKriegsliteratur über Rußland ist verarbeitet, bot freilich im Verhältnis

W ihrem Umfang nicht allzuviel brauchbares.

Vorwort.

IV

In Sachen der Transkription habe ich mich überzeugen lassen, daß die Anwendung der wissenschaftlichen Übertragung russischer Schriftzeichen, wie sie die erste Auflage versuchte, in einem für die weitere Öffentlichkeit

bestimmten Werke doch nicht angängig ist. Daher ist die Wiedergabe in

den gewohnten Zeichen erfolgt. Alle Daten sind, wenn nicht Doppeldaten mitgeteilt sind, durchgängig nach neuem Stil gegeben. Für die Beigabe der beiden Karten werden die Leser mit mir dem Herrn Verleger besonders

dankbar sein.

Trotz des Krieges habe ich Politik und Wissenschaft nicht vermengt und mich bemüht, so objektiv zu sein wie irgend möglich.

An anderer

Stelle habe ich Gelegenheit, regelmäßig unsere politischen Gegensätze zu

Rußland zu erörtern und dazu Stellung zu nehmen. Hier war es meine Aufgabe, wie in der ersten Auflage, in das Verständnis der russischen

Gegenwart auf Grundlage der Geschichte und unter Ausschluß jeglicher politischen Stellungnahme einzuführen.

Gegen

die

erste

Auflage

ist

von

vielen

Seiten

der

Einwand

erhoben worden, daß die Darstellung allzu optimistisch sei und keine Vor­ stellung von der inneren Zersetzung und Gärung gäbe, die durch Rußland

gehe. Der Verlauf des Krieges hat bisher gezeigt, daß meine Auffassung

sich

gegenüber

Kriege

immer

einer in Deutschland

wiederholten

sonst

weit

BetrachMngsweise

verbreiteten und russischer

Dinge

im

als

richtig erwiesen hat. Um so höhere Bewunderung wird, wer sich der Auf­ fassung dieses Buches anschließt, der Genialität unserer Führung und der Tapferkeit unserer Truppen zollen, die inmitten einer Welt von Feinden

diesen Gegner so glänzend niederwarfen! Berlin, im Febmar 1917.

Otto Hoetzsch.

Inhaltsverzeichnis.

Seite Zeittafel................................................................................................................................ IX I.

Buch..........................................................................................................................

1

Das Erbteil der Vergangenheit...................................................

1

I. Das geographische Erbteil............................................................................

5

l. Kapitel.

II. Das ethnographische Erbteil..............................................................................13 III. Das Erbteil der Geschichte..............................................................................23

1. Die Staatenbildung.................................................................................23 2. Der Aufbau des Staates (Byzanz, Tatarenherrschaft, Euro­

päisierung, Selbstherrschaft).................................................................27 3. Das Volk................................................................................................ 37 II. Kapitel.

Die Entstehung des modernen Rußlands und die Voraus­

setzungen der Revolution von 1905

.....................................................

40

I. Die Reformen Alexanders II...........................................................................40 II. Die geistigen Voraussetzungen der Revolution bis zu Alexander II. 50 in. Das Regierungsshstem Alexanders HL und Nikolais II. bis 1904 .

60

IV. Wirtschaftspolitik, Frühkapitalismus und Sozialismus............................ 67 V. Letzte geistige Voraussetzungen der Revolution............................................ 80

m. Kapitel. Der Krieg mit Japan und die Revolution bis zum Zu-

sammentritt der erstenDuma..........................................................................88 I. Der Krieg........................................................................................................... 88 II. Die Revolution.................................................................................................93 H. Buch...............................................................................................................................106

IV. Kapitel.

Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von

1906—1914

...............................................................................................

106

I. Parteibildungen...............................................................................................106 n. Die beiden ersten Dumm...............................................................................113

m. Die dritte und vierteDumabis 1914.............................................................. 122 V. Kapitel. Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik............................................... 138 I. Die volkswirtschaftliche Struktur des Kerngebiets und der Grenz­

marken hei Ausbruch des

Weltkrieges .

138

Inhaltsverzeichnis.

VI

Sette

n. Agrarftage und Agrarreform..........................................................................146

1. Bis zur Revolution...............................................................................146

2. Während und nach der Revolution.................................................... 165 HL Finanzen, Finanz- und Verkehrspolitik 1906—1914 ...........................

179

IV. Handel, Wirtschaft- und Sozialpolitik......................................................... 187

V. Entwicklung und Stand des Kapitalismus 1904—1914 ......................

191

VI. Kapitel. Verfassung, Verwaltung und Gericht................................................. 196

I. Die Verfassung...............................................................................................196 n. Die Verwaltung bis 1905 ...........................................................................

208

HL Gericht, Recht und Staatsdienst bis 1905............................................

217

IV. Veränderungen seit 1905 in Verwaltung und Gericht......................... 221 VH Kapitel.

Die ständische Gliederung, die Selbstverwaltung und die

gesellschaftlichen Kräfte............................................................................... 229 VHL Kapitel. Die geistige Welt............................................................................... 242

I. Die orthodoxe Kirche.....................................................................................242 H. Die Schule......................................................................................................... 259

HL Presse und Literatur..........................................................................................272 IV. Die russische Seele..........................................................................................275 IX. Kapitel. Der Machtstaat.....................................................................................280 I. Wesen, Richtungen und Träger der Machtpolitik.................................... 280

H Die Machtmittel: Heer und Flotte.............................................................. 288

HL Kolonialpolitik.................................................................................................... 295

1. Inhalt und Ziel.................................................................................... 295 2. Verkehrspolitik......................................................................................... 297 3. Sibirien....................................................................................................301 4. Turkestan....................................................................................................309

5. Der Kaukasus......................................................................................... 316 IV. Die auswärtige Politik vom Frieden von Portsmouth bis zum Ausbruch des Weltkrieges......................................................................... 319 HL Buch. Die Nationalitätenfrage, Panflavismus und Nationalismus .

.

333

X. Kapitel. Die Grenzmarken.....................................................................................333

I. Die nationale Zusammensetzung desReiches.................................................. 333 2. Die Nationalitätenftage während derRevolution......................................... 336 3. Das Zartum Polen..........................................................................................338 4. Die Ostseeprovinzen (Deutsche, Letten und Esten); die Deutschen im ganzen Reiche.................................................................................................... 354

5. Bessarabien..........................................................................................................362

6. Der Kaukasus und die armenische Frage.......................................................... 363 7. Finnland............................................................................................................... 368

Inhaltsverzeichnis.

VII

Seite 385

XI. Kapitel. Die nationalen Probleme des Kerngebiets

1. Litauen und Weißrußland

385

2. Der jüdische Ansiedlungsrayon

392 ........................................... 398

3. Die ukrainische Frage

403

4. Mohammedaner und Tataren

XU. Kapitel. Nationalismus und Panslavismus

408

I. Der Nationalismus

408

II. Der Panslavismus

412

422

Schluß

...........................

Literaturangaben

Die

Hauptzeitungen

433

.......................... 435

Personenregister

Karte des russischen Reiches Nationalitätenkarte

425

vor dem Titel

............................................................................. am Schluß

Zeittafel. (Daten nach neuem Stil.) 1882. 30.-Mai: Begründung der Bauernagrarbank.

1885. 15. Juni: Begründung der Adelsagrarbank. 1887—1892. I. A. Whschnegradski Finanzminister.

1888. Dezember: Erste große Anleihe Rußlands bei Frankreich. 1889. 24. Juni: Gesetz betr. Errichtung des Amts der „Semskie Natschalniki". 1890. 24. Juni: Gesetz betr. die Semstwos (die heute geltende Ordnung). 1891. 30. März: Ukas für den Beginn des Baues der Sibirischen Bahn.

11. Juni: Erlaß eines neuen (Hochschutzzoll-)Zolltarifs (gültig ab 1./13. Juli). Erste allgemeine Hungersnot. 1892. 23. Juni: (Heute geltende) Städteordnung.

11. September: Ernennung S. I. Wittes zum Finanzminister. 1894. Erste größere Arbeiterunruhen; neues Erwachen der Narodnaja Wolja.

10. Februar: Abschluß des deutsch-russischen Handelsvertrages (in Kraft getreten am 20. März); Aufhebung des Verbots (seit 1887) der Lombardierung russischer Wertpapiere bei der deutschen Reichsbank und Seehandlung. 14. März: Gesetz betr. die Fabrikinspektion. 18. Juni: Einführung des Branntweinmonopols (in Kraft getreten nach und

nach seit 1. Januar 1895).

1895. 9. Dezember: Umgestaltung der Bauernagrarbank.

1896. Streiks der Arbeiter und Studenten, von Petersburg aus. — Vertrag mit China über den Bau der chines. Ostbahn.

1897. 15. Januar: Allerhöchster Befehl betr. die Einführung der Goldwährung. (Dazu die Ukase vom 10. September und 26. November 1897.)

9. Februar: Erste allgemeine Volkszählung in Rußland. Hungersnot. — Gründung des jüdischen Arbeiterbundes im Zartum Polen und Litauen. — Wiedererscheinen der Sozialrevolutionäre. —

Zession Port Arthurs von China an Rußland. 1./2. Juni:

Revision des russisch-finnländischen Zolltarifs.

14. Juni: Gesetz betr. den Maximalarbeitstag. 10. September: Gesetz betr. Einführung der Goldwährung.

X

Zeittafel.

1898. Gründung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands.

15. März: Pachtung von Port Arthur. 24. August: Vorschlag des Zaren auf einen Friedenskongreß (dessen Tagung 18. Mai bis 29. Juli). 1899. 15. Februar: Manifest über die finnische Verfassung. 16. Februar bis 13. März: Beginn der eigentlichen Studentenbewegung in

Petersburg. 30. Juli: Gründung von Dalni; dessen Freihafenstellung. 23. September: Beginn des Studentenstreiks.

Preissturz der Aktienwerte; Dauer der Krisis bis 1902. — Subatowschtschina. 1900. Erstes Mandschureiabkommen zwischen Rußland und China. 1901. Wiederbeginn des Terrors und Konstituierung der „sozial-revolutionären"

Partei. 27. Februar: Ermordung des Kultusministers Bogoljepow. 10. März: Veröffentlichung der Exkommunikation L. Tolstois.

17. März: Große Studentendemonstration (mit Arbeitern) vor der KasanMärz:

schen Kathedrale in Petersburg. Studentendemonstrationen und

-streiks in Petersburg, Moskau,

Kiew, Odessa, Charkow, Kasan, Tomsk und Dorpat.

4. April: Attentat auf Pobjedonoszew. 12. Juli: Finnische Wehrordnung; Auflösung des finnischen Heeres.

1902. 5. Februar und 4. März: Kommissionen zur Lösung der Agrarflüge eingesetzt. März: Erster allrussischer Studentenkongreß. 8. April: Zweites Mandschureiabkommen zwischen Rußland und China. 15. April: Ermordung des Ministers des Innern Sipjagin; Nachfolger:

W. K. Plehwe. 5. Juni: Gründung der Semstwozentrale in Moskau. 14. Juli: Beginn des Erscheinens der „Oswoboschdenie" (erst in Stuttgart, dann in Paris) von P. Struve. Beschluß betr. die Bahnbauten Orenburg—Taschkent, Bologoje—Sjedlez,

Petersburg—Wjatka. — Vollendung der sibirischen Bahn. 1903. Sommer: Begründung des „Bundes des Befleiung", bis Oktober 1905. — Gründung des „Komitees für den fernen Osten". — Große Arbeiter­

demonstrationen im Laufe des Jahres. 11. März: Manifest über Agrarreformen und religiöse Toleranz.

9. April: 15. Juni: 20. Juni:

Bobrikow Diktator in Helsingfors. Haftpflichtgesetz für die Industrie. Erlaß über das Russische als Verwaltungs- usw.-Sprache in

Finnland. Juli—August: 'Generalstreik in Südrußland und im Kaukasus.

August: Erster russ.-sozialdemokratischer Parteitag (im Auslande). 12. August: Beginn der Verhandlungen zwischen Japan und Rußland. 13. August: Ernennung Alexejews zum Statthalter des fernen Ostens.

Zeittafel.

XI

29. August: Wittes Rücktritt vom Finanzministerium und Ernennung zum Präsidenten des Ministerkomitees. November: Zweiter allrussischer Studentenkongretz (in Odessa).

1904. Seit 1904 Ausdehnung einer armenischen Sozialdemokratie.

21. Januar: Ukas betr. Reform der bäuerlichen Gesetzgebung. 6. Februar:

Abbruch der Verhandlungen zwischen Rußland und Japan

durch letzteres. /9. 8.

Februar: Angriff auf Port Arthur.

18. Februar: Ernennung Kokowzows zum Finanzminister. 21. Februar: Ernennung

Kuropatkins

zum

Oberkommandierenden

der

Armee in der Mandschurei. 25. März: Aufhebung der Solidarhaft der Gemeinde. 1. Mai: Übergang der Japaner über den Dalu. 30. Mai: Besetzung von Dalni durch Japan. 16. Juni:

Ermordung des Generalgouverneurs Bobrikow in Helsingfors.

I. Juli: Protest Tolstois gegen den Krieg in der „Times". 28. Juli:

28. Juli:

Ermordung Plehwes. Deutsch-russischer

(Zusatz-)Handelsvertrag

(in

Kraft

tretend

1. März 1906 und laufend bis 31. Dezember 1917). 12. August: Geburt des Thronfolgers Alexej. 24. August: Gnadenmanifest, (Abschaffung der Prügelstrafe für die bäuerliche Bevölkerung, füi Heer und Flotte; Steuererlasse usw.).

26. August bis 4. September: Schlacht bei Liaojan.

8. September: Ernennung Swjatopolk-Mirskis zum Minister des Innern. II. September. Ausfahrt Roschdestwenskis aus Kronstadt.

25. September: Eröffnung der Baikalsee-Ringbahn. 30. September und ff.: Konferenz der Oppositionsführer in Paris, erster Zusammenschluß dieser Art. 9.—19. Oktober: Schlacht am Schaho. 21./22. Oktober: Beschießung einer englischen Fischerflotte an der Dogger­

bank (Einsetzung eines Schiedsgerichts darüber 25. November).

23. Oktober: Entsetzung Alexejews und Ernennung Kuropatkins zum Ober­

kommandierenden der gesamten Landarmee in Ostasien. 19. —22. November: Erster Semstwokongreß in Petersburg.

11. Dezember: Straßenunruhen in Petersburg. 19. Dezember: Straßenunruhen in Moskau. 25. Dezember: Ukas an den Senat (bäuerliche Gesetzgebung, Glaubens- und

Pressefteiheit, Unabhängigkeit der Gerichte usw.). 27. Dezember: Manifest über die Selbstherrschaft. 1905. 15. Januar: Kapitulation von Port Arthur. — Enthebung des Großfürsten

Sergius von der Stellung als Generalgouverneur von Moskau. 17. -20. Januar:

Streiks in Petersburg.

19. Januar: Scharfe Schüsse beim Fest der Wasserweihe in Petersburg.

xn

Zeittafel. 22. Jänuar: Der „Rote" Sonntag in Petersburg. 24. Januar: Ernennung Trepows zum Generalgouverneur von Petersburg; Aufhebung der Stadthauptmannschaft von Petersburg. Uuruhen in Helsingfors. — Schließung sämtlicher Hochschulen des Reiches. — Matrosenunruhen in Sewastopol. 1. Februar: Rücktritt Swjatopolk-Mirskis und Ernennung Bulygins zum Minister des Innern. — Empfang einer Arbeiterdeputation durch den Zaren. 6. Februar: Belagerungszustand in Polen. 10. Februar: Beginn des Schulstreiks und -bohkotts sowie überhaupt von Streiks im Zartum Polen. 17. Februar: Ermordung des Großfürsten Sergius in Moskau. 19. Februar ff.: Beginn von Unruhen im Kaukasus. 24. Februar bis 9. März: Schlacht bei Mulden. 3. März: Reskript an Bulygin: Volksvertretung zur Teilnahme an der Ausarbeitung und Beratung der Gesetzentwürfe". — Ukas an den Senat: Petitionsrecht für die Reichsreform. — Manifest gegen den inneren und äußeren Feind und über die Erhaltung der Selbst­ herrschaft.

17. März: Ernennung von Linjewitsch an Stelle Kuropatkins. 19. März: Straßenunruhen in Riga. März: Gründung des ,Dundes russischer Männer". Ende März: Unruhen in der Krim. 29. März: Aufhebung des finnischen Wehrgesetzes vom Juli 1901. 12. April und 19. Mai: Einsetzung eines Zentralkomitees für die Agrarfrage. 30. April: Erlaß aller bis zum 27. November 1894 gemachten Vorschüsse für die Bauern. 30. April: Toleranzedikt für die Altgläubigen. Mai: Erster Bauernkongreß in Moskau. 14. Mai: Toleranzedikt für die Bekenner anderer Konfessionen. 14. Mai: Ukas betr. Gestattung des Unterrichts im Polnischen und Litau­ ischen im Westgebiet und des Landerwerbs durch Polen ebendort. 21. Mai: Erster Kongreß und Gründung des „Verbandes der Verbände". 27./2S. Mai: Seeschlacht bei Tsuschima. 5. Juni: Ernennung Trepows zum Gehilfen des Ministers des Innern. — Ukas über das Preßrecht. 6. Juni: Semstwokongreß und Beschluß einer Adresse an den Zaren. 6./8. Juni: Zweiter Kongreß des „Verbandes der Verbände". — Unruhen in Petersburg. 8. Juni: Anregung Roosevelts zum Frieden , an Japan und Rußland. 14. Juni: Meuterei auf dem Kreuzer „Potemkin". 19. Juni: Empfang von Deputierten des Semstwokongresses durch den Zaren; Anrede von Fürst Sergius Trubezkoi.

Zeittafel.

XIH

19. Juni: Zulassung der polnischen Sprache in Schule und Verwaltung des Zartums Polen.

21. Juni:

Begründung des Reichsverteidigungsrats.

21.-25. Juni: Sttaßenkämpfe in Lodz. 26. Juni: Aufhebung des „Komitees für den fernen Osten". 27. Juni: Unruhen in Odessa. 27.-29. Juni: Dritter Kongreß des „Verbandes der Verbände". 29. Juni: Toleranzedikt für die Juden.

30. Juni: Auflösung des finnischen Militärbezirks. I. Juli: Gestattung deutscher Privatschulen in den Ostseeprovinzen.

19./22. Juli:

Zweiter eigentlicher Semstwo- und Städtevertteterkongreß

in Moskau. 23./21. Juli: Zusammenkunft Wilhelms H und Nikolais II. auf der Höhe von Björkö.

13. /14. August: Zweiter allrussischer Bauernkongreß und Gründung des all­ russischen Bauernbundes m Moskau. 19. August: Verfassung und Wahlgesetz.

5. September: Frieden von Portsmouth mtf Japan.

8. September: Gewährung der Autonomie an die Universitäten. 14. —17 September: Allrussischer Studentenkongreß in Wiborg.

23.-28. September: Dritter

Semstwo-

und

Städtevertteterkongreß

in

Moskau. September: Unruhen in Baku. II. Oktober und ff.: Eisenbahnerstreik und Generalausstand.

14. Oktober:

Gestattung des Polnischen und Litauischen als Unterrichts­

sprache in den Privatschulen des Zartums Polen. 25—31. Oktober: Gründung der Kadettenpartei. 27. Oktober: Ukas über das Versammlungsrecht. 28. Oktober: Generalstreik und Verhängung des

im

Kriegszustandes

Zartum Polen. 30. Oktober: Sog. Oktobermanifest. 31. Oktober: Unruhen in Petersburg. — Sttaßenkämpfe in Odessa. 1. November: Entlassung Pobjedonoszews. — Aufhebung der Zensur. —

Umgestaltung Ministerrat.

des

Ministerkomitees:

Ministerpräsidium

und

3. November: Ukas über Amnestie politischer Verbrecher. 4. November: Wiederherstellung der finnischen Verfassung.

6. November: Ernennung Wittes zum Ministerpräsidenten, DurnowoS zum

Minister des Innern. 8. November: Entlassung Trepows. — Meuterei in Kronstadt. 16. November:

Manifest bett, die Loskaufszahlungen, deren Herabsetzung

auf die Hälfte sür 1906 und völliger Erlaß für 1. Januar 1907. 16./20. November: Zweiter Generalstreik.

XIV

Zeittafel.

/27. 19.

November: 4. Kongreß der Semstwo- und Städtevertreter.

19./26. November: Dritter allrussischer Bauernkongreß.

24./29. November: Meuterei in Sewastopol. 30. November: Gründung des allrussischen Volksverbandes.

Oktober/November: Judenmassakers in Odessa und Kischinew. November: Ausbruch der Revolution in den Ostseeprovinzen.

29. November/10. Dezember:

Zweiter Eisenbahnerstreik (auch Post und

Telegraphie) und Versuch des Generalstreiks.

Dezember: Meutereien in zahlreichen Garnisonen. 7. Dezember: Aufhebung der Präventivzensur und Preßgesetz.

16. Dezember: Verhaftung und Auflösung des Arbeiterrats. 17. Dezember: Konstituierung des Oktoberverbandes. 20./31. Dezember: Ausstand und Revolution in Moskau. 24. Dezember:

Ukas über die Erweiterung des Wahlrechts.

1906. Januar: Judenverfolgung in Homel. 28. Januar bis 5. Februar: Kongreß der Mohammedaner in Petersburg.

4. März: Manifest und Ukas über den Reichsrat und die Duma. 17. März: Erlaß eines „temporären" Vereins- und Versammlungsgesetzes.

— Ukas bett. Einsetzung der Landorganisationskommissionen. 18.—30. März: Duma-Urwahlen.

21. März: Ukas betr. die Budgetregeln. 22. März: Festsetzung der dreijährigen Dienstzeit für die Infanterie. (Am 29. Juni veröffentlicht.)

10. April: Ermordung Gapons. 2. Mai: Gestattung des Deutschen, Lettischen und Estnischen als Unter­ richtssprache in den Ostseeprovinzen. 5. Mai: Verabschiedung Wittes und Durnowos. 6. Mai: Erlaß der Reichsgrundgesetze. 9. Mai: Aufhebung der Präventivzensur für Bücher. 10. Mai: Ernennung Goremykins zum Ministerpräsidenten, Stolypins zum Minister des Innern und Kokowzows zum Finanzminister.

10. Mai bis 21. Juli: Erste Duma. 12. Mai: Ernennung Iswolskis zum Minister des Auswärtigen. 17. Mai: Adreßannahme, Verlangen der Duma nach allgemeiner Amnestie.

26. Mai: Mißtrauensvotum gegen das Ministerium. 29. Mai bis 20. Juli: Beratung der Agrarfrage in der Duma.

14—18. Juni: Judenpogrom in Bialystok. Mitte Juni: Militärische Besetzung der Alandsinseln. 24. Juni: Meuterei des 1. Bataillons des Garderegiments Preobraschensk.

2. Juli:

Verlangen der Duma nych Ministerverantwortlichkeit und Ab­

schaffung der Todesstrafe. 20. Juli: Neue Landtagsordnung und Wahlgesetz für Finnland. 21. Juli: Auflösung der Duma.

Zeittafel.

XV

22. Juli: Ernennung Stolypins zum Ministerpräsidenten. 23. Juli: Wiborger Aufruf der Kadetten.

31. Juli: Meuterei in Sweaborg.

August:

Zahlreiche Unruhen und Plünderungen im Reiche.

2. August: Meuterei in Kronstadt. 25. August: Erfolgloses Attentat auf Stolypin. 25. August und 9. September: Bestimmung von im ganzen 9 Mill. Dessj. Apanagen- und Kronsland zum Verkauf an die Bauern.

1. September: Einführung der Feldkriegsgerichte. 15. September: Tod Trepows.

2. Oktober: Ukas über Erschließung der Kabinettsländereien zur Ansiedlung

in Westsibiren. 18. Oktober: Ukas betr. die rechtliche Gleichstellung der Bauern.

Oktober/November: Begründung der „Deutschen Vereine" und Neubelebung des deutschen Schulwesens in den Ostseeprovinzen; politischer Zu­

sammenschluß in der „Deutschen Gruppe" des Oktoberverbandes. — Gründung polnischer Schulen im Zartum Polen durch die „Macierz

Szkolna";

politischer

Zusammenschluß

der

Nationaldemokraten,

Ugodowzh und Fortschrittler. 30. Oktober: Ukas betr. Gestattung von Kirchengemeinden und -bau für Altgläubige und orthodoxe Sektierer.

18. November und 4. Dezember: Oktobristenkongreß: Msage an die Ka­ detten und die Rechte. 22. November: Ukas betr. Auflösung des Mir. 23. Dezember: Ermordung des Grafen Alexander Jgnatiew. Dezember: Terroristenkongreß in Luzern. 1907. 21. Januar bis 17. Februar: Dumawahlen.

28. Januar: Räumung der Mandschurei. 5. März bis 16. Juni: Zweite Duma.

15./16. März: Wahlen zum finnischen Landtag. 19. März: Stolypins Regierungsprogramm vor der Duma. 23. März: Tod Pobjedonoszews. 23. Mai: Rede Stolypins über.die Agrarfrage.

28. Mai: Ablehnung der Mißbilligung politischer

Verbrechen und des

Terrors durch die Duma. 14. Juni: Verweigerung der Ausschließung und Auslieferung von Mit­ gliedern zu strafrechtlicher Verfolgung wegen Verschwörung gegen

den Zaren. 16. Juni: Auflösung der zweiten Duma und Erlaß eines

neuen Wahlgesetzes. 26. Juni: Semstwokongreß. 28. Juli: Handesvertrag mit Japan.

30. Juli: Vertrag mit Japan über China.

Zeittafel.

XVI

3./6. August: Zusammenkunft Wilhelms II. und Nikolais IL vor Swinemünde.

31. August:

Abkommen mit England über Persien.

14. September:

Beginn der Neuwahlen.

27. Oktober bis 1. November: Wahlen der Abgeordneten. 14. November 1907 bis 11. September 1912: Dritte Duma.

26. November: Annahme der Adresse. 29. November: Programmerklärung Stolypins. 18. Dezember: Auflösung der „Macierz Szkolna" in Polen.

1908. 5. Januar: Gesetz bett. Erhöhung der Offiziersgehälter. Januar: Das „große" Flottenprogramm. 20. Februar: Verurteilung des Generals Stössel.

4. April: Auflösung des finnischen Landtags.

9. April: Feierlicher Empfang des Fürsten von Montenegro durch den

Zaren. 15. April: Beschluß des Baus der Amurbahn. 23. April: Ostfeeabkommen mit Deutschland, Dänemark und Schweden.

18. Mai: Programmrede Stolypins in der Duma über Finnland.

Mai: Allflawischer Kongreß in Petersburg. 6. und 9. Juni: Angriff Gutschkows auf die „unverantwortlichen Stellen" in Heer und Flotte.

9./10. Juni: Zusammenkunft Eduards VII. mit Nikolai II. in Reval. 16. Juni: Beschluß des Baues eines zweiten Gleises der Sibirischen Bahn.

18. Juni: Gründung des allrussischen Nationalverbandes.

Juli: Allflawischer Kongreß in Prag. 1. Juli: Neuwahlen in Finnland.

16. Juli: Protest L. Tolstois („Ich kann nicht schweigen"). 27./2S. Juli: Zusammenkunft des Zaren mit dem französischen Präsidenten. 21. August: Aufhebung des Reichsverteidigungsrats.

13. September: Wiedereröffnung der Universität Warschau (seit 1905 ge­

schloffen). 16. September: Beendigung des Kriegszustandes in den Ostseeprovinzen. September/Dezember: Senatorenrevisionen in Moskau und Turkestan.

1909. Januar/Februar: Angelegenheit Asew.

22. Februar:

Auflösung des finnischen Landtags.

April: Allflawischer Kongreß in Petersburg. 6. Juni: Gesetz bett. Schulbaudarlehnsfonds beim Ministerium für Volks­ aufklärung. 17./18. Juni: Zusammenkunft Wilhelms H und Nikolais IL vor Fredriks-

hamn. 23. Juni: Gesetz bett. Errichtung einer Universität in Saratow.

18. Juli: Poltawafeier. 25. Juli: Empfang von 120 Dumaabgeordneten durch Eduard VH

Zeittafel.

xvn

6. September: Verfügung des Ministerrats betr. Art. 96 der Reichsgrund­ gesetze. 22. September: Ukas über die Universitätsresorm.

Oktober: Reise von Stolypin und Kokowzow nach Sibirien. 23./25. Oktober: Besuch des Zaren beim König von Italien in Racconigi.

17./18. November: Militärkonflikt und Landtagsauflösung in Finnland.

15. Dezember: Annahme des Entwurfs über die bedingte Verurteilung und 29. Dezember: über die Reorganisation der Armee durch die^Duma.

1910. 9. Februar: Neuwahlen in Finnland. 23. Februar/3. März: Besuch des bulgarischen Königspaares und 22. März: des Königs von Serbien am russischen Hofe. 21. März: Dumapräsident Chomjakow (seit Anfang der 3. Duma) durch

Gutschkow ersetzt.

Seit April: Senatorenrevision in Warschau. 30. Mai: Annahme des Entwurfs über die Semstwos im Westgebiet in der Duma. 27. Juni: Gesetz über das Ausscheiden der Bauern aus der Gemeinde.

30. Juni: Gesetz betr. gemeinsame Gesetzgebung für Rußland und Finnland.

4. Juli: Abkommen mit Japan über die Mandschurei. 28. August: Ernennung des Königs von Montenegro zum russischen Feld­

marschall.

28. September: Ernennung Sasonows zum Minister des Auswärtigen. 8. Oktober: Auflösung des finnischen Landtags.

4./5. November: Besuch des Zarm in Potsdam. 20. November: Tod L. Tolstois. 8. Dezember: Annahme des 100 Millionenfonds für die Volksschule in der Kommission der Duma.

1911. 12. Januar: Neuwahlen in Finnland. 6. Februar: Annahme des Volksschulgesetzes in der Duma.

27. März: Staatsstreich: Ukas betr. Einführung der Semstwos im West­

gebiet. — Demission und Sieg Stolypins. — Niederlegung pes Dumapräsidiums durch Gutschkow. 2. April: Gesetz betr. das Urheberrecht.

19. Mai:

Potsdamer Abkommen mit Deutschland über Persien und die

Bagdadbahn. 27. Mai: Beginn des Konflikts mit Nordamerika in der Judenfrage.

11. Juni: Gesetz über die Landorganisation.

14. September: Attentat auf Stolypin in Kiew. 18. September: Tod Stolypins. 23. September: Ernennung Kokowzows zum Ministerpräsidenten.

23. September und 30. Oktober: Nationalisten. Hoetzsch, Rußland.

Zusammenschluß der Oktobristen und

Zeittafel.

XVIII 18. November:

Kündigung des russ.-amerikan. Handelsvertrages durch die

Vereinigten Staaten (in Kraft bis 18. November 1912).

29. November: Annahme der Vorlage gegen die Trunksucht in der Duma.

1912. 1. Januar: Gesetz betr. die Verstaatlichung der Warschau—Wiener Bahn.

23. Januar: Gesetz betr. den finnischen Reichswehrbeitrag. 2. Februar: Gesetz betr. Rechtsgleichheit russischer Untertanen in Finnland. 24. März: Gesetz betr. die Sekte der Mariawiten. 23. Mai:

Gesetz betr. Verbesserung der materiellen Lage der Gymnasial­

lehrer.

8. Juni:

Gesetz über die höheren Elementarschulen.

18. Juni: Ablehnung des Volksschulgesetzes im Reichsrat. 22. Juni: Gesetz betr. Einführung der Semstwos in den Gouvernements Astrachan, Orenburg und Stawropol.

22. Juni: Schluß der Duma. 28. Juni: Gesetz betr. Umwandlung des lokalen Gerichts. 2. Juli: Annahme des Flotten-Quinquennats durch die Duma (sog. kleines

Flottenprogramm). 4.-6. Juli: Zusammenkunft Wilhelms II. und Nikolais II. in Baltischpori. 6. Juli: Gesetz betr. Bildung des Gouvernements Cholm und betr. Abände­

rung des Statuts über die Wehrpflicht. — Die vier Arbeiterversiche­ rungsgesetze. 9. Juli: Gesetz betr. Gründung einer Staatsbank für den Semstwo- und

Kommunalkredit. 11. September: Auflösung der Duma. Vom 25. September ab Neuwahlen.

3. November: Vertrag mit dem Chutuchtu der Mongolei. 12. November: Abschluß der Urheberkonvention mit Frankreich. 28. November: Zusammentritt der vierten Duma. 6. Dezember: Abordnung aus der Mongolei in Petersburg. 1913. 16. Januar: Großfürst Michael Alexandrowitsch verliert die Rechte auf die

Thronfolge wegen seiner Mesalliance. 22. Januar: Ablehnung der Vorlage über Einführung des Semstwos für

das Gouvern. Archangel im Reichsrat. — Erinnerungsstreiks an den „Roten Sonntag". 1. Februar: Ernennung des General Dschunkowski

zum Gehilfen des

Ministers des Innern. 3. Februar: Minister Maklakow zieht alle Toleranzvorlagen aus der Duma zurück. 18. Februar: Abkommen mit der Mongolei zur Organisation der mongo­

lischen Armee. 27. Februar:

Der Ministerrat erklärt Jnitativanträge der Duma über

Unverletzlichkeit der Person, über Vereine und Versammlungen und

Änderung des Dumawahlrechts fiir unannehmbar.

Zeittafel.

XIX

28. Februar: Abschluß der deutsch-russischen Literarkouvention (veröffentlicht

19. April).

5. März: Nichtbestätigung des Fürsten G. E. Lwow als Moskauer Stadt­ haupt. 6. März: Romanow-Jubiläum. 24. März: Delcassö in Petersburg.

31. März: Konferenz der Balkandelegierten in Petersburg; Aufläuse wegen des Falles von Adrianopel.

7. April: Allslawische Straßendemonstration in Petersburg.

11. April: Regierungserklärung zur Balkanfrage. 17. April: Streiks wegen der Lena-Vorfälle. 24. Mai: Hochzeit der Prinzessin Viktoria Luise von Preußen in An­ wesenheit des Zaren.

13. Juni: Ministerrat lehnh Dumabesuch infolge Rede des Abg. Markow II. ab. 5. Juli: Annahme des Gesetzes betr. Gouv. Cholnr in der Duma.

21. Juli: Offizielle Erklärung betr. Bulgarien und Türkei. 3. August: Französische Militärmission unter Joffre in Petersburg. 10. August: Neuwahlen des finnischen Landtags.

14. August: Die deutsch-russische Literarkonvention tritt in Kraft. 13. September: Probemobilmachung in Witebsk und Livland. September: Besuche eines russischen Geschwaders in Portland und Brest. 7. Oktober: Anordnung einer Probemobilmachung itt den zentralasiatischcu Besitzungen. 8. Oktober bis 10. November: Beilis-Prozeß in Kiew.

18. Oktober: Einweihung des Romanowkanals in Turkestan. 20. Oktober: Offizielle Bekanntmachung der Absicht, den aktiven Heeres­

dienst um 2 Monate zu verlängern. 23. Oktober: Anordnung einer Probemobilmachung im Gebiet Samarkand.

28. Oktober: Beginn der 2. Session der 4. Duma. 30. Oktober: Erinnerungsstreiks in Petersburg für das Oktobermanifesl. 5. November: Vertrag zwischen China und Rußland über die Mongolei. 17. -20. November: Kokowzow in Berlin. 10. Dezember: Ablehnung des Gebrauchs der polllischen Sprache in der Städteordnung für Polen im Reichsrat. 15. Dezember: Ausscheiden von 14 linken Oktobristen,

18. Dezember: von weiteren 28 aus der Fraktion. 19. Dezember: Eröffnung eines Teils der Amurbahn.

29. Dezember bis 3. März 1914: Hochverratsprozeß in Marmaros-Szigeth;

Graf Bobrinski als Zeuge. 1914. 21. Januar bis 4. Februar:

50jährige Jubelfeier der Einführung der

Semstwos. 8. Februar: Leo Mechelin f. — Ukas betr. Übungen der gesamten Reichs­ wehr I. Aufgebots, außer in Polen, im Jahre 1914.

XX

Zeittafel. 13. Februar: Rücktritt Kokowzows, Ernennung von Goremykin zum Ministerpräsidenten und von Bark zum Finanzminister. 14. Februar: Generalgouverneur von Polen Skalon t18. Februar: Verordnung über den Verschluß bestimntter Häfen für fremde Kriegsschiffe. 3. März: Artikel der „Kölnischen Zeitung" über Kriegsvorbereüungen Rußlands. 9. März: 100. Geburtstag des ukrainischen Dichters T. Schewtschenko. 13. März: Artikel der „Birschewhja Wjedomosti" (Rußland ist fertig). 13. März: Erklärungen der „Rossija" und der „Nordd. Allgem. Zeitung" über die deutsch-russischen Beziehungen. 19. März: Reskript des Zaren an Goremykin. 1. Mai: Zusammenstoß zwischen Duma und Justizmnuster über die Rechte des Senats. 7. Mai: Sturmszenen in der Duma. 9. Mai: Annahme des Gesetzentwurfs betr. Verzollung ausländischen Ge­ treides im Reichsrat. 25. Mai: Ablehnung der Vorlage über die Städteordnung des Zartums Polen im Reichsrat. 29. Mai: Wlehnung der Wolostlandschast im Reichsrat. 12. Juni: Artikel der „Birschewhja Wjedomosti". 13. Juni: Zusammentteffen des Zaren mit dem König von Rumänien in Constanza. 15. Juni: Annahme des Gesetzes betr. Zoll auf ausländisches Getreide für Finnland in der Duma, am 22. Juni im Reichsrat. 10. Juli: Russischer Gesandter Hartwig f in Belgrad. 20. Juli: Besuch PoincarLs in Petersburg. 25. Juli: Russische Erklärung, im Konflikt zwischen Österreich und Serbien nicht unmteresstert bleiben zu können. 29./31. Juli: Mobilmachung des russischen Heeres. 31. Juli: Ultimatum Deutschlands an Rußland. 31. Juli/1. August: Russische militärische Angriffe auf deutsches Gebiet ohne Kriegserklärung. 31. Juli: Ukas bett. Aufhebung des staatlichen Branntweinmonopols. 8. August: Kriegssttzungen des Reichsrats und der Duma.

I. Buch. I. Kapitel.

Das Erbteil der Vergangenheit. „Das griechisch-slawische Prinzip trat in Rußland mächtiger hervor, als es jemals in der Weltgeschichte geschehen; die europäischen Formen, die

es annahm, waren weit entfernt, dies ursprüngliche Element zu erdrücken; sie durchdrangen es vielmehr, belebten es und riefen seine Kraft erst hervor" — mit diesen Worten von unnachahmlicher Knappheit und Fülle weist

Leopold Ranke Rußland den Platz in seinen „Großen Mächten" an. Er sagt so, ohne die geographischen und ethnographischen Faktoren darin

auch

nur

Problem.

prozeß

zu berühren,

bereits

das

Entscheidende über

das

russische

Gliedert man danach die russische Geschichte als den Werde­

eines

europäischen

Staates,

so

reicht

das

Altertum

bis

zu

Wladimir I. (980—1015). Sein Mittelalter endet nicht, wie gewöhnliche

Annahme ist, mit Peter dem Großen, sondern entweder mit Iwan IV. dem

Gestrengen

(f

1584)

oder

mit

der

Thronbesteigung

Michael

Romanows (1613) — denn der Absolutismus und die Rezeption west­ licher Staats- und Lebensformen, die in Rußland am offensichtlichsten die Neuzeit heraufführen, setzen nicht erst mit Peter ein, der kein Anfänger,

sondern der gewaltigste Fortsetzer und teilweise Vollender war. Wenn ein

Historiker aber die „Anfänge des zeitgenössischen Rußlands" schreiben will, so hat er mit dem Krimkrieg und den Reformen Alexanders II.

einzusetzen; damit beginnt das Rußland der neuesten Zeit. Diese teilt sich in zwei Perioden, beide eingeleitet und in der letzten

Wirkung ausgelöst durch zwei unglückliche Kriege, den Krimkrieg und

den Krieg mit Japan.

Beide Male haben die Folgen der auswärtigen

Politik die innere Entwicklung auf das stärkste beeinflußt. Der Fehlschlag Hoetzsch, Rußland.

1

I. Kapitel.

2 des

Krimkrieges

führte

zu

den

Reformen

II.,

Alexanders

der

des

japanischen Krieges zur Revolution von 1905. Aber die Voraussetzungen

dafür, daß diese Gewaltbewegung von unten her dem Selbstherrscher ihren

Willen wenigstens zum Teil aufzwingen konnte, liegen weiter zurück als in den Niederlagen des japanischen Krieges. Wenn das Neue auch erst in und mit der Revolution zu voller Wirkung und weiterer Beachtung in Europa kam, so ist es doch schon seit den letzten achtziger Jahren des

19. Jahrhunderts vorbereitet worden. Die Zuspitzung der Agrarfrage zur

chronischen Agrarkrisis, — der Ausbau des Eisenbahnnetzes, — die erste Jndustrialisiemng, damit die Entstehung eines Früh-Kapitalismus und städtischen

Arbeiterproletariats,



die

Goldwährung

und

Staats­

verschuldung — die Verbindung der in Nihilismus und Sozialdemokratie ausmündenden

geistigen

Bewegung

der

Intelligenz

eben

mit

jenem

städtischen Proletariat, — das sind die Elemente, aus denen das Rußland

der Gegenwart mit seiner Revolution herausgewachsen ist. Seit den 90er Jahren haben sie sich immer fühlbarer gemacht, bis sie, durch den aber­ maligen Fehlschlag der großen Politik entfesselt, den Staat mit revolu­

tionären Mitteln in einem gewaltigen Ruck vorwärts schieben konnten. Ein Ruck, der trotz aller späteren Abschwächung eine neue Zeit ein­

leitet, wie die ersten 60er Jahre des 19. Jahrhunderts, und nicht wieder ganz illusorisch gemacht werden kann. Aber selbstverständlich konnte damit

das Erbe der Vergangenheit nicht einfach ausgestrichen werden. Je mehr

sich vielmehr der Staat nach den ersten Erschütterungen, die ihn in Stücke zu reißen drohten, wieder auf seine alten Kräfte und deren Wurzeln besann, um so wichtiger wurde seine Aufgabe, Vergangenes, aber noch Lebensfähiges mit unaufhaltsam hereindringendem Neuen organisch zu

verbinden.

Vor den Augen Europas begann sich so in schweren Kämpfen sein

Übergang vom absolutistischen zum monarchisch-konstitutionellen Staats­ wesen zu vollziehen, und seit der Entstehung der Verfassung der Ber­ einigten Staaten von Amerika hat die Verfassungsgeschichte keine Ent­ wicklung dieses Maßstabes und dieses Interesses auf — verfassungs­

geschichtlich angesehen — Neuland vor sich gehen sehen wie diese russische.

Dahinter stand die Frage, inwieweit der äußeren Europäisierung, die der Inhalt der russischen Staatsgeschichte seit dem 16. Jahrhundert ist, mpi auch die innere Aufnahme und Verarbeitung westeuropäischer, intellektueller

Das Erbteil der Vergangenheit.

3

und ethischer, Ideen und Normen entsprochen habe und entspreche. Damit verbindet sich zuletzt, auch noch für die Gegenwart, die Zentralfrage, die bis heute weder in der russischen noch außerrussischen Wissenschaft und Welt

schon als entschieden gilt, ob sich die russische Entwicklung nach der Art ihres Volkstums überhaupt in den gleichen Bahnen wie die West­

europas bewegt und bewegen kann, ob nach dem Worte I. Samarins der Unterschied zwischen Rußland und Europa in dem Grade oder im

Wesm seiner Zivilisation liegt? — Der Geograph beginnt Osteuropa wohl erst mit der bisherigen Ost­

grenze des Deutschen Reiches, für die politisch-geographische und vollends die historisch-politische Betrachtung aber stellt Osteuropa eine

dar von der Elbe bis an den Ural.

Einheit

Durch Karparthen und unteren

Donaulauf gegen Südosteuropa abgegrenzt, ist es ein gewaltiger, sehr

wenig gegliederter Kontinent ohne natürliche Grenzen in sich, mit einer

entweder sehr kurzen oder für den Weltverkehr nicht geeigneten Meeres­ küste.

Die politische Gliederung dieses Gebietes hat nicht die Natur ge­

geben, sondern diese schufen die verschiedenen

indogermanischen Volks-

tümer, die auf ihm siedeln, in ihren Kämpfen der Staatenbildung. Auf

diesem großen Raume, der bis heute in ferner ganzen Ausdehnung noch Westeuropa gegenüber den kolonialen Charakter an sich trägt, kämpften

Deutsche, Polen und Russen um die Vorherrschaft, d. h. um . in möglichst großes Stück der baltischen Küste und um die zu ihr führenden Flußläufe.

Denn erst dies, Küste und Meer im Norden, machte den Anschluß an den alten west- und mitteleuropäischen Kulturkreis möglich und damit die Bahn

zur Aufwärtsentwicklung frei.

Die entsprechende Verbindung im Süden

(Küste des Schwarzen Meeres und Anschluß an das Kulturgebiet des Mittelländischen Meeres) war ja durch die von Osten, aus Asien, ein­

strömenden andersrassigen Stämme jahrhundertelang versperrt.

In diesem Ringen, dessen bestimmende Ideen für alle drei Völker spätestens im 10. Jahrhundert dauernd feststehen, war das ostslawische

Volkstum, dessen politische Idee im Worte Ruß, im Staate Wladimirs I., seit der Wende des 9. und 10. Jahrhunderts gegeben war, von vomherein

in der ungünstigsten Lage. Denn es entstand und gründete seinen Staat am weitesten von Europa und seinem damaligen Kultur-Zentmm nach Osten genickt. Ja, seine mittelalterliche Geschichte warf es danach noch Wetter von dieser Stellung zurück.

Denn die Geschichte Rußlands hat ja nicht mtt 1*

I. Kapitel.

1

Moskau begonnen, um in Petersburg weitergeführt zu luerbeit, sondern seine erste Staatenbildung lag weiter westlich, am Dujepr: der Kiewer

Staat steht ant Anfang seiner Geschichte. Als dieser rettungslos zusammengebrocheit war, flutete das aus verschiedenen ostslawischen Stammelt im

Dujeprtal und seinen Nebenflüssen bis zu bett Karpathen eben entstehende

Volkstum nach dem Nordosteu ab. Und hier, in den Bassins der Wolga,

Oka und Kama, int Süden der russischen Waldregiott, ist das groß­ russische Volkstunt und der russische Staat erwachsen, — gegen Westen

abgesperrt durch Pölen-Litaum und beit Staat des Deutschens Ordens, gegen Süden durch die Steppe, die es vom Meere und von Byzanz

trennte, gegen Osten und Südosteu durch Asiaten und durch Hemmnisse

der Natur, die man erst vom 16. Jahrhundert an überwand. Die Wirkung dieser Verschiebung und Absperrung, die „Lage int

Schatten" ist ein dauerndes Erbteil der russischen Vergangenheit geblieben. Sie isolierte auf ein halbes Jahrtausend dieses Volkstum gegen Europa,

sie zerriß seine Gemeinschaft mit der abeudländischeit Christenheit und zer­ störte das Gememsamkeitsgefühl mit ihr, die beide vorher lebendig da­ gewesen waren.

Das Volkstum des Moskauer Staates war kein Glied

der christlich-abendländischen Kulturgemeinschaft des Mittelalters, sondern

entwickelte

ein

selbständiges,

ausschließendes

osteuropäisches

religiös­

nationales Selbstbewußtsein. Für das Abendland aber wurde damit dieses

Osteuropa Orient, ja Asien, und blieb es auch nach seinen Nezeptioneu ans Europa, nach der bewußt vollzogeueu Wendung zu Europa.

Darin

fühlt Westeuropa bis heute das Wesensfremde im Nussentum, die Halb­

oder Mischkultur, die es sich noch nicht kongenial empfindet, ohne sich ba rüber zumeist klarer Rechenschaft zu geben, als mit dem banalen, aber int Grunde treffenden Worte, daß Rußland nicht Asien, aber nicht auch

Europa, daß Rußland eben Rußland sei. Auf dieses Empfinden stützt sich dann die zweifelnde Frage, ob Rußlands historischer Beruf und kulturelle

Mission sei, Vorposten der europäischen Menschheit gegen das Asiateutum

oder dessen Führer gegen Europa zu sein.

Und wenn man sieht, wie

ein altes europäisches Volkstum eine bis heute ununterbrochene jugendliche

Kolonialentwicklung in europäischen Formen, aber in einer den asiatischen Nachbargebieten gleichartigen Natur und Lebensweise vollzieht, so weiß

Europa nicht, ob es Rußland zu den Vereinigten Staaten und Kanada oder zu China und Japan in Parallele setzen soll oder — zu beiden.

Das Erbteil der Vergangenheit.

5

I. Das geographische Erbteil.

Die politisch-geographische Anschauung des heutigen Rußlands kann turnt Kiewer Zeitalter absehen; sie hat die Stadt und den Staat Moskau

au den Anfang zu stellen. Von dieser Stadt an der kleinen Mosktva, die beide, Fluß und Stadt, so merkwürdig Berlin unb der Spree in unserer

Geschichte vergleichbar sind, nimmt die russische Geschichte oder, was das­

selbe ist, die Expansion des Volkstums, das sich diesen Staat schuf, ihren eigentlichen Ausgang. Eine Expansion, die von Iwan III. an bis heute etwas Unheimliches, weil so ungeheuer Folgerichtiges, an sich trägt.

Diese Folgerichtigkeit war das Ergebnis des Zwanges der Lage. Denn die

Vielgestaltigkeit politischer Betätigung, die einem Lande mit rcichgegliedertcr Küste oder gar mit Jnselcharaktcr in die Wiege gelegt ist, war dem russischen Volke von vornherein versagt.

Seitdem der Ausgang feiner

Staatsbildung in die Gegend, wo heute Moskau liegt, zurückgeworfcn war, hatte diese mir die Alternative: entweder sich überall nach Küsten

und eisfreien Häfen hinznarbeiten oder in der Unfruchtbarkeit eines kleinen, asiatischen

Kontinentalstaates

zu

versinken.

Diese

Notwendigkeit,

die

gerade hier leicht zur nackten Eroberertendcnz und zur Mißachtung jedes

Maßstabes verführte, ist in der russischen Geschichte sehr früh erkannt

worden. Sie gibt ihr besonders im Gepräge mächtiger Einzelpersönlich­

keiten — Iwans III., Wassilis IV., Iwans IV. des Gestrengen, Peters des Großen, Katharinas II., der Zaren des 19. Jahrhunderts — die

Wucht uud zugleich die Einförmigkeit, die sie auszeichnet. Als der Weltkrieg ausbrach, stand Rußland da als ein Reich von 21,8 Millionen Quadratkilometern FlächenraumJ

Es umfaßte so ein

Sechstel der ganzen Erde, an Größe nur vom britischen Weltreich über­ troffen, zu dem es sich tvie 1:1,3 verhielt, fast doppelt so groß wie das Chinesische Reich, über doppelt so groß wie die Vereinigten Staaten von

Amerika, siebenmal so groß wie Deutschland einschließlich seiner Kolonien, dreinndvierzigmal so groß tvie das Deutsche Reich in Europa.

Seine

9 Dies die amtliche russische Zahl (19,15 Millionen Quadratwcrst ä 1,138 Quadratkilometer).

Die Zahl von 22,28 Millionen Quadratkilometer rechnet das

Asowsche und Kaspische Meer rind den Aralsee, die Zahl von 22,55 Millionen Quadratkilometer Chiwa und Buchara mit ein.

1. Kapitel.

6

Grenze war 69000 Kilometer lang, davon 49 000 Kilometer Meeres­

grenze, die Grenze gegen Europa 11200 Kilometer lang.

Es erstreckt

sich über 43 Breiten- und 187 Längengrade, und es vermag alles zu

produzieren außer den Produkten der tropischen Aquatorialzone.

Aber

in diesem gewaltigen, politisch zu einem Reiche organisierten Raume über­ trifft die landwirtschaftlich nutzbare Fläche die des Deutschen Reiches nur

um das 9—lOfache, ist von der Meeresgrenze verschwindend wenig für

den Weltverkehr brauchbar und läuft von der Landgrenze ein ungeheurer Teil durch Steppe, Wüste und Gebirge.

Die Lage zu den Straßen des

Weltverkehrs ist für eine Einbeziehung in diesen und damit in den west-

europäisch-amerikanischen Kulturkreis so ungünstig wie möglich, die Idee des Abschlusses nach außen und des wirtschaftlichen Selbstgenügens drängte

sich diesem Weltreich schon durch das Ergebnis seiner Raumgeschichte und seine geographische Lage und Gestaltung auf. Versucht man diese Masse etwas in sich zu gliedern, so wird eine spätere Zeit wohl den europäischen Reichsteil und Westsibirien trotz des

Ural als eine Einheit, ein Gebiet für sich, vielleicht als besonderen Kultur­ kreis zu erfassen haben.

Heute ist das noch nicht möglich. So muß die

alte Scheidung in europäisches und asiatisches Rußland noch stattfinden, die, soweit die — wenig gegliederte, aber schmale und nicht sehr hohe — Kette des Urals als Grenze dient, erkennbar getrennt sind, dann aber in der Steppe zwischen Orenburg und dem Kaspischen Meere ineinander über­

gehen, ohne durch den nun als Grenze geltenden Uralfluß wirklich ge­

schieden zu sein.

Dann stehen den 16 Millionen Quadratkilometern des

asiatischen Teils (Sibirien 12,5, mittelasiatische Gebiete und sog. Steppen­ gouvernements 3,5 Millionen Quadratkilometern) nur 5,7 Millionen des

europäischen (immer noch etwas über das Zehnfache des deutschen Reichs­

gebiets in Europa) gegenüber. Von letzterem sind die sog. „Grenzmarken" abzugliedern: Finnland

(326 000 Quadratkilometer)2), die Ostseeprovinzen Kurland, Livland und Esthland, obwohl sie amtlich in die 502) Gouvernements des europäischen Rußlands einbezogen werden (93 000 Quadratkilometer), das Zartum *) Mit den inneren Gewässern.

s) Das 1918 gebildete Gouvernement Cholin hatte noch keine eigene Existenz

gewonnen und erschien noch nicht in der uns zugänglichen Statistik, so daß wir an der Zähl der 50 Gouvernements durchgängig sesthalten.

Dos Erbteil der Vergangenheit.

7

Polen (127 000 Quadratkilometer) Bessarabien (44 000 Quadratkilometers

und der Kaukasus (469 000 Quadratkilometer)*), im ganzen rund eine

Million Quadratkilometer. Damit bleiben rund 4,7 Millionen Quadrat­ kilometer übrig, die zwar auch noch keine völlige ethnographische, wirtschaft­

liche und historische Einheit, aber gegenüber den Grenzmarken das Kern­ gebiet bilden.

Um den Kem Großrußlands, um Stadt und Gouvernement Moskau

(33 000 Quadratkilometer) sind drei konzentrische Kreise gelagert, von denen der äußerste in seinem westlichen und südlichen Teile starke nationale

Besonderheiten auftoeist2). Die Gliederung nach Gouvernements in ihnen spiegelt zwar einigermaßen die historisch-ethnographischen Grenzen wieder und läßt namentlich in dieser Anordnung das Wachstum des Moskauer Staates in seinem, historischen Gange erkennen. Aber da die Gouverne­

mentseinteilung Peters des Großen auf die natürlichen, wirtschaftlichen

und nationalen Einheiten keine Rücksicht nahm, sind die in der folgenden Einteilung gegebenen Grenzen z. T. doch etwas gewaltsam.

Vor allem

müssen dabei Kursk, Woronesch und Astrachan, obwohl sie z. T. klein­ russisch sind, ganz zu Großrußland gerechnet werden, ebenso das beinahe zur Hälfte weiß-russische Smolensk, während Charkow mit % Groß­ russen ganz zu Kleinrußland genommen ist usw. Aber die Gouvernements­

einteilung gibt allein einen bestimmten Rahmen und die Möglichkeit deutlicher Vorstellung.

Der äußerste Kreis wird gebildet von 1. Litauen (Gouv. Kowno,

Grodno, Wilna) mit 121000 Quadratkilometer und Minsk mit 90 000 Quadratkilometer. 2. Kleinrußland (Gouv. Wolhynien, Podolien, Kiew, Cherson, Tschernigow, Poltawa, Jekaterinoslaw, Charkow) mit 455 000 Quadratkilometer.

kilometer.

3. Gouv. Taurien (Krim) mit 60000 Quadrat­

4. Wolgagebiet (Gouv. Kasan, Simbirsk, Pensa, Samara,

Saratow, Astrachan, Gebiet der Donschen Kosaken, dazu Ufa und Orm*) Dabei ist Transkaukasien, das Rußland sonst zu seinem asiatischen Besitze

zählt, eingerechnet. - *) Litauen, Weiß- und Westkleinrußland werden oft als Westgebiet zusammen­

gefaßt, d. h. die 9 Gouvernements von der kurischen bis zur rumänischen Grenze

(zwischen dem Zartum Polen und Dnjepr und Düna). — Neurußland umfaßt die Gouvernements Jekaterinoslow, Cherson, Taurien, Bessarabien, manchmal auch das Gebiet der Don-Kosaken und Stawropol. Der Name existiert amtlich nicht

mehr und Wird besser überhaupt vermieden.

8

I. Kapitel.

bürg) mit 1,1 Millionen Quadratkilometer und 5. Nordostgebiet (Gouv.

Olonez, Wologda, Wjatka, Perm, Archangelsk) mit 1,86 Millionen. Der zweite Kreis umfaßt die Gouvernements Nowgorod, Peters­

burg, Pskow, Witebsk, Mogilew, Smolensk, Orel, Kursk, Woronesch, Tambow, Nischni-Nowgorod, Kostroma und Jaroslawl mit 750 000

Quadratkilometer, der innerste die Gouvernements Twer, Wladimir, Rjasan, Tula, Kaluga und Moskau — 250 000 Quadratkilometer.

So

steht 1 Million Quadratkilometer in 19 Gouvernements der beiden inneren

Kreise den 726 000 Quadrakilometer in 13 Gouvernements des äußeren,

den 1,86 Millionen in den 5 Gouvernements des Nordostgebiets und den 1,1 Million des Wolgagebiets gegenüber.

Im innersten Kreise liegen

die kleinsten Gouvernements des eigentlichen Rußlands, Tula und Kaluga mit je 31 000, Moskau mit 33 000 Quadratkilometer.

Diese drei konzentrischen Kreise stellen das Kerngebiet des russischen Reiches dar, in das Bessarabien eigentlich einzurechnen wäre und das

trotz der nationalen Eigenheiten im Westen und Süden als eine Einheit

zu fassen ist.

Das Weichselland, der baltische Schild und die finnische

Landbrücke stehen für sich, sind ihm aber, wie die geographische Be­

trachtung zeigt, für die Verbindung mit Europa uotwendig. Dieses Kern­ gebiet ist ungefähr so groß wie alle anderen europäischen Staaten zu­

sammen und trägt, geologisch wie orographisch vom Westen getrennt,

ganz kontinentalen, binnenländischen Charakters — 650 Kilometer ist Moskau vom Meere entfernt und die Ostsee und das Schwarze Meer sind

nur Binnenmeere, durch die Rußland wie „durch Flaschenhälse" auf das

freie Meer hinaussieht.

Es ist ein gewaltiges, einförmiges und von

niedrigen Höhenzügen (von 2—300 Meter Höhe) nur gelegentlich durch­ zogenes, durch sie uicht gegliedertes Tafelland, dem nur die Krim wie

eine Insel vorgelagert ist. Danach kann sein Klima nicht anders als halb

oder ganz kontinental sein. Es bewegt sich in extremen Wechseln der Jahres­ zeiten und schwankt, wenn die meteorologischen Beobachtungen den Gesamt­

schluß schon gestatten, in Cyklen schlechter und guter Jahre. Vornehmlich der Mangel an Feuchtigkeit rückt das Land den benachbarten asiatischen 0 Auf

die

geographische

Charakteristik

in

Kljutschewskis

russischer Geschichte, (Moskau 1908) P, S. 43—97 sei besonders

gemacht.

Kurs

aufmerksam

9

Das Erbteil der Vergangenheit.

Gebieten näher als denen Westeuropas. Reich ist Kernrußland an schiff­ baren Strömen, unter denen „Mütterchen Wolga" mit ihren» 3700 Kilo­ meter langen Laufe der größte Strom Europas ist und 38% des ganzen

russischen Wasserverkehrs trägt.

Mit ihrem geringen Gefälle sind die

Ströme dieses Kerngebiets Lebensadern des Wirtschaftsverkehrs, aber sic

sind fast die Hälfte des Jahres, weil zugefroren, wirtschaftlich wertlos und schließen mit ihren Mündungen ihr Land nicht an den Weltverkehr ent,

für den auch das nördliche Eisntcer oder gar das Kaspische Meer un­ brauchbar sind.

Unter diesen Verhältnissen konnte das Russentum auch

nie eine tüchtige Seebevölkerung stellen. Relativ arm ist Kernrußland an Schätzen des Bodens: Erze finden

sich am Donez, im Knie des Dnjepr und im Ural, Kohlen in den Vorbergen des Ural und vornehmlich im Donezbassin.

Aber wenigstens

zu einem Teile hat das Land fruchtbarsten Ackerboden.

Bis zum 60.

Breitengrade ist Getreidebau möglich, daneben der Anbau von Flachs und Hanf, selbst von Tabak und Wein. Aber alles leidet unter der Kürze

der Vegetationsperiode, und um so mehr, je weiter nach Osten der Anbau

betrieben wird. Die Art des Bodenreichtums bestimmte das ganze Gebiet

vornehmlich zu Ackerbau und Getreideausftthr, im Norden zur Wald­

wirtschaft, im Süden zur Viehzucht; autochthon wuchs bis heute allein die

Textilindustrie empor. Wer durch dieses Gebiet eine Nacht gefahren ist, glaubt am anderen Morgen, nicht von der Stelle gekommen zu sein, so gleichmäßig präsentiert sich die Gegend dem AugeJ. Diese wohl von allen Reisenden empfundene

Gleichförmigkeit ist viel größer als auf entsprechenden Strecken des euro­ päischen Westens, und sie hat eine ebenso große Gleichförmigkeit der Lebensbedingungen, der Lebensweise und damit der Kultur mit sich ge­

bracht. Es gibt keinen Lokalpatriotismus, keinen provinziellen Partikularismus und, soweit das Russische in Frage kommt, keine tiefen Dialekt­

unterschiede.

Diese Gleichförmigkeit hat auch bis heute ununterbrochene

Wanderungen begünstigt. Noch heute ist das russische Volk, das keine Aus­ wanderung lertnt2), im Innern wie Triebsand und hat die größte Binnen*) Ein Wort Lcroh-Beaulieus. 3) Die Zahl der über europäische Häfen auswandernden russischen Unter­ tanen (Juden, Letten, Litauer, Deutsche usw.) bezeichnet ja nicht die Auswanderung russischen Volkstums.

I. Kapitel.

10

Wanderung der Gegenwart, noch heute verläßt, wie am Anfang der mittel­

alterlichen Geschichte seines Volkes und wie der nordamerikanische Farmer, der russische Bauer leicht seine Scholle. Seine Hütte (Jsba), mit der er

schon darum niemals verwächst, weil der leichte Holzbau fortwährend abbrennt, ist ebenso rasch und gut an einem Punkte 100 Werst weiter

wieder aufgebaut, und Art wie Aussehen des Landes ruft ihm überall die Heimat ins Gedächtnis, in der er geboren ist1).

Diese gleichförmig ihn

umgebende Natur hat ihm, so wenig starke Reize sie ausübt, doch eine

tiefe Liebe zu ihr eingeflößt.

Aber ihre meteorologischen Eigenschaften

wiL ihre Maße haben ihn bisher noch nicht völlig zu ihrem Herrn werden lassen, er blickt zu ihr auf wie zu einer höheren Macht und nimmt sich,

weil sie doch stärker sei als er, daraus oft das Recht zu lveniger intensiver Arbeit.

Aber so gleichförmig dieses große Gebiet ist und so nivellierend es deshalb auf die, die es besiedelten, wirkte, ganz ohne Gliederung und Differenzierung ist es doch nicht.

Schon der aufmerksame Reisende, der

mit ein wenig Liebe in die Landschaft schaut, empfindet jenes Aperyu Leroy-Beaulieus

als

oberflächlich.

Er

bemerkt

den

Unterschied

der

Landschaft, wenn er von Petersburg nach Moskau, von Charkow nach

Melitopol oder von Kursk nach Kiew fährt, und er wird noch weniger das in jener Beobachtung anklingende Gefühl haben, daß diese gleich-

förmige Landschaft darum etwas Langweiliges haben müsse.

Der stille

freundliche Zauber der birkenbestandenen Landschaft des Nordens und der Mitte, wie der eigenartige melancholische Reiz der unübersehbaren Steppe im Süden ist oft genug von der landschaftmalenden russischen Poesie ge­ schildert worden und wird auch von dem empfunden, der sie durchfährt.

Und die Züge der Landschaft gewinnen um so stärkeren Reiz, je mehr der Beschauer sie dann in den Zügen des Volkstums und seiner Stämme wiedersindet. Die natürliche Gliederung des Kerngebiets, das nach und nach

an Moskau politisch herangezogen wurde, wie es physikalisch-geographisch

daraufhin gravitierte, ergibt folgende Teile: 1. Die Tundra, der mit Moos

*) S. Gogols meisterhafte Schilderung der russischen Erde im 11 Kapitel der „Toten Seelen".

Das Erbteil der Vergangenheit.

11

bedeckte Moorboden im äußersten Norden, nötig wegen der Verbindung zur

Meeresküste hin, so wenig wertvoll diese ist, und selbst, niemals völlig auf­

tauend, volkswirtschaftlich fast ohne Nutzen.

2. Das Waldgebiet und 3.

das waldlose Gebiet, nicht scharf voneinander geschieden, sondern inein­ ander übergehend, aber doch die grosse Cäsur der russischen Landschaft,

Wirtschaftsweise und Stammesunterschiede bezeichnend.

Im Waldgebiet

ist die Birke charakteristisch für den russischen Wald wie kein anderer

Baum, hier sind auch heute noch die gewaltigen Reservoirs, die eine un­

entwickelte Forstwirtschaft verwüstend ausbeutet, so den an sich schon be­

scheidenen Boden austrocknend und in seiner Ertragsfähigkeit gefährdend.

Nach Süden schließt sich baran1) das waldlose oder Steppen-Gebiet an.

Zunächst das Land der berühmten schwarzen Erde (Tschemosem), deren schwarz blinkender humusreicher Lößboden von größter, gleichfalls für

unerschöpflich

gehaltener

Fruchtbarkeit

ist,

ein

Gckiet,

das

von

der

Wolga — in Orenburg und Ufa über sie hinausgreifend — südlich der

Linie etwa Kasan-Tula (über Orel-Kursk herunter nach Charkow) in das Gebiet von Tschernigow und Kiew hineinstreicht und in seinen Aus­ läufern Wolhynien und Podolien, sowie das östliche Galizien wirtschastsgeographisch einbezieht.

Von der schwarzen Erde leitet die eigentliche

Steppe zur Küste des Schwarzen Meeres und in die Kaspische Senkung über, zum Teil, wie in dieser, reine Wüste, zum Test Grassteppe. Diese

Steppe ist jahrhundertelang das Durchzugsgebiet der asiatischen Völker­ schaften gewesen, die aus der großen Völkerpforte zwischen dem Südende des Ural und dem Kaspischen Meere hereinfluteten und diesem Süden

immer wieder die Keime des Lebens zertraten.

Diese Gliederung des Kerngebietes spiegelt sich in der Geschichte Rußlands ebenso wieder, wie in seiner heutigen Volkswirtschaft. Waldgebiet und Steppenregion sind ebenso voneinander unterschieden und gehen doch

ineinander über, wie Groß- und Kleinrussentum, die vornehmlich auf dem einen oder dem anderen ihre Sitze haben.

Aber diese natürliche

Gegensätzlichkeit ist geringer als die Einheit, die die verschiedenen Zonen miteinander verbindet. Man hat versucht, — so Haxthausen und manche nach ihm — mehrere selbständige wirtschaftsgeographische Einheiten gegen» *) S. die gute Bodenzonenkarte bei Kraßnow, Rußland, (Men 1907) S. 156.

I. Kapitel

12

einander zu stellen, mindestens die sog. Ufraina1) als eine eigene Einheit

schon geographisch herauszuheben. Aber so selbständig die Steppenrcgion geologisch, klimatisch und sonst sein mag, sie bildet mit dem Norden

zusammen eine naturgegebene Einheit.

Schon die nordsüdlich ziehenden

Wasserstraßen, die das Land wohl gliedern, aber deren Scheiden so leicht zu überwinden sind, halten dies Kerngebiet zusammen, in dem nach

Leroy-Beaulieus richtigem Wort zudem Ebene und Klima, die beiden großen

Genieinsamkeiten, eine isolierte Existenz beider Teile nicht möglich machen.

Wer alle Beobachtungen vom Weißen Meer und der Newamündnng bis zur Schwarzen-Meer-Küste, vom Ural bis zur Ostgrenze des Zartums Polen zusammennimmt, sammt zu dem Ergebnis, daß diese einzelnen

Teile von der Natur zu einer Einheit bestimmt sind.

Moltke klassisch ausgedrückt'):

Das hat schon

„Dian hat gesagt, daß bei zunehmender

Bevölkerung das unermeßliche Reich in sich zerfallen müßte.

Aber kein

Teil kann ohne den anderen bestehen, der waldreiche Norden nicht ohne

den kornreichen Süden, die industrielle Mitte nicht ohne beide, das Binnen­

land nicht ohne die Küste, nicht ohne die gemeinsame große Wasserstraße der 400 Meilen schiffbaren Wolga." Diese Einheit wirkt in der Gegenwart mit innner stärkerer Gewalt, und so sehr sich das Reich gedehnt hat,

Moskau ist das Herz dieses Gebietes geblieben und wurde es immer mehr, je fester die einzelnen Teile auch durch Verkehrsmittel miteinander in

Verbindung gebracht wurden.

Und um so wichtiger und notwendiger

wurde dann dieser Einheit die Küste im Norden und im Süden, auf die sich darum der

Druck der Staatsorganisation immer stärker richtete.

*) Ufraina bedeutet Grcnzlaud, Grenzmark, nämlich des polnischen und des Moskauer Staates gegen die Tataren des Südens. Das Wort ist kein bestimmter historisch-politischer und auch kein klar zn umgrenzender geographischer Begriff. Es kommt schon in den allrussischen Chroniken vor, tvird später lokalisiert aus die Gebiete der sog. Hetmanschtschina — Teile von Podolicn, Kietv, Tschernigow, Jekatcrinoslaw und Cherson, sowie ganz Poltawa —, ist aber niemals eine offizielle Bezeichnung gewesen. Die Begrenzung des Begriffs etwa aus die Gouver­ nements Poltawa, Tschernigotv, Charkow, Kiew, Wolhynien, Podolicn, Jekatcrinos­ law, Cherson, Tanricn und die Flächenbercchnung auf 500000 Quadratkilometer oder ähnlich ist willkürlich. Die an sich gute Landeskunde von St. Rudnickyj, Ufraina, Land und Volk (Wien 1916) wird in ihrem wissenschaftlichen Wert durch die nationalistische Tendenz sehr herabgesetzt, die Ukraine in dieser Weise als eine geographische Einheit darzustellen, was sie nicht ist. 2) In den 1856 geschriebenen „Briefen aus Rußland". (1877.)

13

Dos Erbteil der Aergangenheit.

II. Das ethnographische Erbteil. Diese Einheit bildet den natürlichen Untergrund für die russische

Geschichtsschreibung, die daher in patriotischem Stolze gern Großrussen mit der Bevölkerung Rußlands und Russisches Weltreich mit diesem Kerngebiet gleichsetzt, die Einheitlichkeit und in der Zarengewalt gipfelnde Geschlossenheit

betonend,

wie das

schon

das

erste

Werk

wissenschaft­

licher russischer Geschichtsschreibung, Karamsins Geschichte des russischen Staats in klassischer Weise tut. Da der Staat dieser offiziellen Auffassung

bis in die Gegentvart in Schule und Presse die fast ausschließliche Herr­

schaft erhalten konnte, hat sie auch int Auslande gewirkt. Dabei tritt in den Hintergrund einmal, daß dieses Kerngebiet zwar eine natürliche Einheit

darstcllt, aber in sich nicht von einem völlig einheitlichen Bolkstnme bewohnt wird.

Ferner wird die Tatsache leicht übersetzen, daß die Er­

hebung jener staatlichen Einheit mit Moskau an der Spitze zu einem europäischen Staate nur durch die gewaltsame Angliederung von Grenz­

marken möglich wurde, die ethnographisch dem Kerngebiet fremd sind:

Finnland, die Ostfeeprovinzen, Polen, Bessarabien, der Kaukasus

int

Westen und die mohammedanischen Gebietsteile im Osteit, die zur großen

Stellung in Asien überleiten.

Daß die Expansion nach Asien herein die

Bölkcrkarte des daditrch zum Weltreich tverdenden Staates dann ttoch

bunter machte, lag allerdings auch für den flüchtigen Beschauer auf der

Hand. Diese dreifach komplizierte nationale Mischung bestimmt das Bild der russischen Bevölkerung.

Tie Bevölkerung des rnssischen Reiches zahlte am 1. Januar 1913: 174 099 600 Seelen, ohne die beiden Vasallenstaaten Chiwa und Buchara, die aber wegen ihrer Lage und politischen Stellung mit eingerechnet werden

müssen; dann waren es 176% Million*). Das ist etwa ein Zehntel der *) Der Zustand der russischen Statistik ist so, daß auch bei sorgfältigster Ver­ wendung stets nur mit Annäherungszahlen gerechnet werden darf. Es existiert ein ungeheures Material, herausgcgeben vor altem vom „Zentralstatistischen Komitee" des Ministeriums des Innern, von den anderen Ministerien, den Semstwos usw. Aber es wird an den verschiedenen Stellen unter verschiedenen Gesichtspunkten gesammelt und verarbeitet und ist von der lokalen Polizei­ verwaltung abhängig, die wiederum ihre-Informationen auf dem Lande bei den Wolostschreibern und darunter den Dorffchulzen einholt. Trotz dieses gewaltigen

I. Kapitel.

14

Gesamtbevölkerung der Erde, zwei Fünftel der des britischen Weltreiches,

das l,8fache der der Bereinigten Staaten und das 2,6fache der reiche deutschen Bevölkerung.

Auf einer Quadratwerst wohnen im russischen

Weltreich 8,9 Menschen, in Deutschland 139,9 (123 auf ein Quadrat­ kilometer), Rußland ist also 43mal größer und 16mal dünner bevölkert als Deutschland.

Zum gewaltigen Raum die noch sehr dünne Be-

völkerung — das weist Rußland weiterhin inr Imperialismus der Gegentvart seine besondere Stellung an.

Im asiatischen Teile wohnten danach 20,7 Millionen, davon in Sibirien 9,7 (0,9)**) und in Zentralasien und den Steppengouvernements 10,9 Mill. (3,4).

Scheiden wir von den für den europäischen Teil

bleibenden 153,3 Millionen (29,8) die Grenzmarken, so fallen 32,7 Milli­ onen weg. In Finnland wohnten 3,1 (10,9), in den Ostseeprovinzen 2,7

(33,3) in Polen 11,9*) (114,5), im Kaukasus 12,5 (29,8), in Bessarabien 2,5 (65,1). Dann beträgt die Bevölkerung des Kerngebiets 120,6 Milli­ onen mit einer Dichtigkeit von zirka 28 auf die Quadratwerst.

Im ganzen Reiche waren am 1. Januar 1912 von 171 Millionen

85,7 Millionen Männer und 85,3 Millionen Frauen. Auf 100 Männer

kommen in Sibirien 80,6 in Zentralasien 84,6 im europäischen Teile (einschl. der Ostseeprovinzen) 93,6, im Kaukasus 79,1, in Polen 96,6 und in Finnland 110,1 Frauen.

Auf 1000 Einwohner wurden geboren starben heirateten Bevölkerungszunahnic

1901/05 (i. Durchschn.) 47,6

31,5



16,1 “/ 00

1907

.............................

46,6

28,1

8,8

18,5°/oo(2Mill.),

1908

.............................

44,3

28,0

7,9

16,3°/°° (1,85 „),

1909

.............................

44,0

28,9

7,9

15,1°/°° (1,74 „).

Diese Zahlen geben die große Geburtenzahl wie die hohe Sterblichkeits­

ziffer und die große Zahl der (in sehr frühem Alter stattfindenden) EheMaterials hat Rußland keine periodischen Volkszählungen, keine Berufs- und Gewerbestatistik in unserem Sinne und keine völlig genügende Agrarstatistik. Die

erste und bisher letzte allgemeine Volkszählung hat am 9. Februar 1897 statt­ gefunden; eine zweite war für 1915 in Vorbereitung. *) Zahl in Klammern die Dichtigkeit der Bevölkerung auf die Quadratwerst.

a) Die Abnahme gegen 12,4 Mill, am 1. Januar 1912 erklärt sich durch die Ablösimg des Gouvernements Tholm, das dem Kerngebiet zugezählt wmde.

Das Erbteil der Vergangenheit.

schließungen

zur

Genüge

15

wieder; tiefer eindringende Vergleichsstudien

kämpfen so gut wie hoffnungslos mit dem unzureichenden Rohmaterial.

Das russische Volk ist langlebig. Die hohe Sterblichkeitszisfer, die aber im letzten halben Jahrhundert von 35,8 auf obige Zahl gesunken ist, bedeutet

vor allem Kindersterblichkeit (im Durchschnitt 1901/05 auf das 1000:263), demnächst Erwachsenensterblichkeit vor dem Greisenalter infolge der hygie­ nischen Mängel aller Art.

Nach alledem ist die jährliche Geburtenver­

mehrung der russischen Bevölkerung in der Gegenwart auf mindestens 2 bis 2% Millionen Köpfe anzusetzen.

Rußland zählte 1725:13, 1762: 19,1796: 36,1800: 37,5,1825: 53,5, 1855: 72,7, 1870: 86,2, 1880: 99,7, 1890: 121,3, 1897: 128,8 und 1913: 174 Millionen Einwohner.

Diese gewaltige Vermehrung

verführt zu Berechnungen, — 400 Millionen nach einem halben Jahr­

hundert u. ä. —, die phantastisch sind, weil sie nur rechnen, oft die Zu­ nahme durch Eroberung vergessen und von allen anderen die Bevölkerungs­

vermehrung beeinflussenden Momenten ganz absehen.

Wenn man die

aus Nordamerika bekannte Lehre vom Bevölkerungszentrum auf Rußland anwendet, so lag dieses 1897 im Gouvernement Tambow (südöstlich von

Koslow) und rückt seitdem immer weiter nach Osten, mit einer Neigung nach Süden vor.

den

dünner

Das zeigt schon, daß sich ein Ausgleich zwischen

und dichter bevölkerten Gegenden

vollzieht.

In diesem

agrarischen Lande werden nicht die dichter bevölkerten Stellen dichter und die dünneren dünner, sondern der Prozeß geht aus naheliegenden Gründen

umgekehrt und wird durch die Agrarreform und die Übersiedelungs­

bewegung nach Sibirien vom Staate stark gefördert, durch die Industriali­ sierung heute noch kaum aufgehalten.

Auf absehbare Zeit reicht das

Land zur Aufnahme des Geburtenüberschusses aus, an dem, was sehr zu bemerken ist, die griechisch-orthodoxen Untertanen des Zaren den größten

Anteil haben: auf je 10 000 werden jährlich 292 Protestanten, 307 Juden, 315 römische Katholiken, 439 Jslambekenner, 511 Rechtgläubige

geboren.

Die

stärkste

physische

Kraft

liegt

also

in den Bekennern

der griechischen Kirche, d. h. im eigentlichen Russentume.

Diese hat

so gut wie ohne Einwanderung, aus sich heraus — wenn von der

durch

Eroberung

hinzugeschlagenen

Bevölkerung

die starke Bevölkerungszunahme bewirkt.

abgesehen

wird



Wesentliche Anzeichen der Er­

schlaffung sind trotz der sinkenden Geburtenziffer noch nicht vorhanden,

I. Kapitel.

16

obwohl der Philosoph Solowjew schon 1897 behauptete, daß die damalige Zählung das Aufhören der Zunahme des russischen Stammvolkes feststelle. Aber trotz seines Niesengebietes stellen die natürlichen und wirtschaftlichen Bedingungen Rußlands der Aussicht eine unübersteigliche Schranke ent­ gegen, daß es eine Bevölkerung int Stile Indiens oder Chinas erhielte; es wird sogar nicht einmal mit der Zunahme der Vereinigten Staaten oder Südamerikas Schritt halten können. 1912 wohnten von 171 Millionen in den Städten 23,8 Millionen - 13,9%; 1724: 3, 1796: 3,1, 1851: 7,8, 1878: 9,2 und 1897: 13%. Von 100 Menschen wohnten 1912: in Städten in Sibirien............................ ............................ 11,6 Kaukasus....................... ................................. 13,1 Europ. Reichsteil (einschl. Ostseeprovinzen) . 13,2 Zentralasieit . . . . ................................. 13,6 Finnland....................... ................................. 15,1 ................................. 23,3 Polen............................

auf dem Lande 88,4 86,9 86,8 86,4 84,9 76,7

Die Zahlen der Berufs- oder besser Standesstatistik sind ungenügend, rechnen Finnland nicht ein (was das Bild nicht wesentlich verschiebt) und stammen vor allem aus der Zählung von 1897. Es gab damals:

1. Adel: erblicher. ................................... persönlicher und Beamte.......................

1,2 Mill. = = 0,6 „

1,0% 0,5%

9 Erbliche Ehrenbürger*) (— Bourgeoisie) Kaufleute (— Bourgeoisie) ....

0,3 „ 0,28 „

1,5% 0,3% 0,2%

9 U. Kleinbürger*).............................................. 13,3 4. Bauern......................................................... 96,9

5. 6. 7. 8.

Geistlichkeit .............................................. Kosaken ................................................... Fremdstämmige-)........................................ Andere................................................... . *) S. Kapitel VII. 2) S. Kapitel X.

„ „ 0,58 „ 2,9 „ 8,2 „

= =

0,5% = 10,7% = 77,1% = 0,5% = 2,3% — 6,5% - 0,9%

17

Das Erbteil der Vergangenheit.

Die Fabrikarbeiter (damals 2,39 Mill.) stecken in den Gruppen

8, 3 und vor ollem 4, die Intelligenz in Gruppe 8. Diese zählte*) 0,35

Mill.; es gab 119 000 Arzte (1 auf 1000), 12000 Advokaten (1 auf 10 000), 201000 Lehrkräfte (1 auf 625) und 31000 der Wissenschaft und Literatur Anghörende (1 auf 4000).

In Prozenten der Bevölkerung stellt sich der Anteil der einzelnen Klassen in den verschiedenen Reichsteilen so: Adel

Bour­ Klein­ geoisie bürger

Bau­ ern

Geist­ lichkeil

Ko­ saken

Fremd-

stämm.

andere

1. Asiat. Rußland

0,8

0,3

5,6

70,9')

0,3

4,5

14,6

3,0

0,4

0,1

2,0

5,04j



3,3

88,9

0,3

a) Polen................. b) Kerngebiet (ein-

1,9

0,1

23,5

73,0

0,1

0,1

schl.Ostseeprovinzen) c) Kaukasus....

1,5 2,4

0,6

10,6

84,1

0,5

1,6

0,5

0,6

0,4

8,1

74,8

0,6

10,4

1,5

1,8

Sibirien................. Zentralasien .... 2. Europ. Rußland

1,3

So unvollkommen diese Zahlen sind, so geben sie doch ein Bild der sozialen Struktur, wobei zu beachten ist, daß in den Bauern — der

Begriff dieser Statistik ist ja der Bauer im ständischen, nicht im wirt­ schaftlichen Sinne — zumeist noch die Arbeiter jeder Art stecken, anderer­ seits aber die Kosaken und die Fremdvölker ihren Erwerb ganz überwiegend

in der Landwirtschaft haben.

Lesen und schreiben konnten am 1. Januar 1913 im ganzen Reiche (ohne Finnland): 21%, in Polen 30,5%, im übrigen europäischen Ruß­

land 22,9%, im Kaukasus 12,4%, in Sibirien 12,3%, in Zentralasien 5,3%. Auf 100 männliche Personen konnten weibliche lesen und schreiben:

im ganzen Reich 45, in Polen 77, in Sibirien 26.

Die Konfessionsstatistik zählte Rechtgläubige (Griech.-Kathol.) 69,9, Römisch-Katholische 8,9, Protestanten 4,85, Juden 4,0, Mohammedaner 10,8, andere christliche Kulte (fast nur die Armeno-Gregorianer) 0,96,

andere nichtchristliche Kulte 0,5. Danach hätte Rußland — gleiche Ver­ mehrung der Konfessionen, was nicht ganz zutrifft, vorausgesetzt — eine 0 Die °/o-Sätze haben sich kaum verändert.

’) Russische Bauern, sog. Übersiedler. Hoetzsch, Rußland.

I. Kapitel.

18

Christenbevölkerung von rund 147 Mill., der rund 18,8 Mill. Mohamme­ daner, 6,9 Mill. Juden und 0,9 Mill. Heiden gegenüberstünden.

Schließlich die Nationalitätenfrage*). Die amtliche russische Statistik unterscheidet folgende nationale Gruppen, deren Prozentverhältnis für das

ganze Reich nach der Zählung von 1897, da neuere Zahlen nicht existieren, mitgeteilt werden muß: Russen 65,5, Turko-Tataren 10,6, Polen 6,2,

Finnen (im Reich und in Finnland zusammen) 4,5, Juden 3,9, Litauer und Letten 2,4, „Germancy" (Deutsche und Schweden) 1,6, karthwelische

Gruppe 1,1, kaukasische Bergbewohner 0,9, Armenier 0,9, Mongolen 0,4,

andere 2,0. Das sind, diese Berhälmisse für die Gegenwart zugrunde gelegt,

von 174 Millionen ungefähr: 114 Mill. Russen, 11 Mill. Polen, 6,7 M.ll. Juden, 4 Mill. Litauer, VA Mill. Deutsche, VA Mill. Finnen und 28% Mill, andere Nationalitäten. Diese Zahlen, so wenig exakt sie sind, geben einen ersten Anhalt. Das

Weltreich umschließt (nach der Zählung von 1897), ohne die „anderen

Nationalitäten" und mancherlei Nüancen zu rechnen, 48 verschiedene Volks­ stämme. Auf dieser Musterkarte sind die slawischen Elemente mit fast 72% im ganzen die Mehrheit. Die Völker altaischen Stammes mit 11%

und die kaukasischen Stämme mit 3% können als unterworfene indigene Kolonialbevölkemng gelten. Dann wären für die Nationalitätenfrage des Reiches, da die 4% Juden für sich stehen, nur die finnischen, litauischen

und germanischen Elemente, 8%%

der Gesamtbevölkerung, von Be­

deutung. Es stünde mithin ein Block von mindestens 125 Millionen, als

national einen slawischen Einheitsstaat wagend und beherrschend, einer Kolonialbevölkerung von 28 bis 29 Millionen und einer andersrassigen, aber der beherrschenden sonst gleichstehenden von 13% Millionen gegen­

über, in der weder die Germanen noch die Letto-Litauer eine bedrohliche

Einheit darstellen.

Dem Slawenblock von 125 Millionen dürfen indes die 11—12 Mill. Polen nicht zugerechnet werden. Ist nun der Rest, die 113—114 Mill. Russen, eine in sich geschlossene volkliche Einheit? Die amtliche Statistik

schied sie 1897 nach der Muttersprache in Großrussen, Kleinrussen und Weißrussen, und wies damals für die Kleinrussen 22,4, für die Weißrussen 5,8 Millionen aus. Genaue Zahlen für die Gegenwart fehlen. Die

*) Genaueres in den Kapiteln X und XI.

Das Erbteil der Vergangenheit.

19

ukrainische Bewegung berechnet die Kleinrussen in Rußland aus 29 % bis 33 Millionen, der sorgfältige Semstwostatistiker A. Russow auf 27,5 im

Jähre 1911. Die Verteilung dürfte lingefähr das richtige treffen, die von

dm 113—114 Millionen Russen im Jahre 1913 den Großrussen rund 80 Millionen, den Kleinrussen rund 28 Millionen zuweist; der Rest von

etwa 6 Millionen fällt auf die Weißrussen. Letztere sitzen in den Gouvernements Minsk, Mogilew, Mtebsk und

Smolensk, sowie auch im eigentlichen Litauen. Die Hauptsitze der Klein­ russen^) sind die Gouvernements Poltawa, Tschernigow und Charkow

links und Kiew, Wolhynien und Podolien rechts des Dnjepr, demnächst

in Jekaterinoslaw und Cherson, wo sie überall eine starke Mehrheit von 50—100% ausmachcn; am reinsten kleinmssisch sind Poltawa mit 98 und Tschernigow mit 86%.

Die Kleinmssen erreichen ferner etwas den

Don und Kuban,, in einzelnen Siedlungen auch Sibirien und erstrecken ihre Sitze über die Reichsgrenze hinaus, da Ostgalizien bis zum San

ethnographisch dazu gehört: die Ruthenm Galiziens, Nordostungams und

der Bukowina sind eines Stammes und einer Sprache mit den Klein­ russen des Zarenreiches.

Das Großmssentum sitzt so östlich von den

Weißrussen und nördlich und östlich, aber auch südlich und südöstlich von

den Kleinrussen. Was der Unterschied zwischen groß- und kleinmssisch wirklich be­

deutet, ethnographisch und linguistisch, historisch und politisch — darüber existieren begründete, doch auch nicht einheitliche Vorstellungen nur in dem

kleinen Kreise, der sich wissenschaftlich mit der sog. ukrainischen Frage be­

schäftigt.

Eine lebhafte Agitation für diese hat dagegen die grundsätzlichen

Gesichtspunkte eher verwirrt, ja oft verfälscht.

Die von Österreich aus­

gegangene ukrainische Bewegung erhebt den Anspmch, daß die Kleinrussen

eine selbständige slawische Nation mit eigener Sprache, wie die Tschechen

oder Serben seien.

Sie verwendet deshalb ausschließlich den modemen

und nicht historischen Namen Ukrainers für sie, mit dem die anderen Namen: Kleinmssen, Ruthenen synonym ftrtb*2), und lehnt jede Gemein­

samkeit mit dem Großmssentum ab. *) Die beste und vorsichtigste Karte findet sich in Hruschewskijs Grundriß. 2) Der Großrusse nennt dm Kleinrussm mit Spitznamen „Chochol" (Haar­ schopf) und wird dafür von ihm „Kazap" (Bocksbart) genannt.

I. Kapitel.

20

Ter richtige Standpunkt - ist nicht allzuschwer jit gewinnen, wenn

man von der Entstehung des russischen Volkstums durch die Kolonisation ausgeht.

Von den Ursitzen der ostslawischen Stämme (Karpathen und

östliches Vorgelände bis Kiew und nach Norden in die heutigen Sitze der Weißrussen) strömt nach dem Zusammenbnich des Kiewer Staats (end­

gültig mit der Eroberung von Kiew 1169 durch Andrei Bogoljubski) in einer der Kolonisation unseres Ostens durchaus vergleichbaren Bewegung

die Bevölkerung nach Nordosten, nach der Wolga und Oka und darüber hinaus.

Im Kampfe und in der Assimilation mit den Vorgefundenen

finnischen, also asiatischen Elementen verschmelzen diese Jndogermonen zu

einer neuen Einheit. Aus diesem Prozeß, der, immer höher hinauf nach

Nordosten reichend, in der Gegenwart noch nicht zum Stillstand gekommen

ist, ist das Großrussentum erwachsen, das den Moskauer, den petrinischen Staat und das russische Weltreich geschaffen Hot, ein Kolonialvolk wie

die Preußen der Mark und des deutschen Ostens, das, wie diese, den auf mutterländischem Boden zerfallenden Staat wieder aufrichtete und ihm

seine Züge unbedingt und dauernd aufdrückte.

und russische Sprache sind großrussischer Natur.

Russischer Staatsgedanke

Was auf dem mutter­

ländischen Boden zurückblieb und dort jahrhundertelang unter den von Osten kommenden Asiaten unb der von Westen kommenden polnischen Expansion zu leiden hatte, wurde das heute kleinrussisch genannte Element des russischen BolksMms. Dieses ist zwar auch nicht vollständig rein ge­

blieben, sondern hat sich mit turko-tatarischem, auch jüdischem Blute

gemischt, hat aber seinen Volkscharakter reiner erhalten, als die Groß­ russen, die durch die finnische Blutzufuhr stark verändert worden sind.

Es greift siedelnd nach Süden, in die eigentliche Steppe aus erst wieder leiser mit dem 14., dann stärker seit Mitte des 16. Jahrhunderts, seitdem,

besonders nach den Eroberungen Katharinas II., dorthin und nach Süd­

osten, aber immer stärker mit dem Großrussentum gemischt. Von beiden Elementen

getragen

wird

sodann

die

britte

große

Kolonisation,

die

Sibiriens, seit dem 19. Jahrhundert. So sind am reinsten slawisch die Weißrussen, die in den alten Sitzen zurückgeblieben und dort degenerierten. Sie bilden zum großen Teil

den Untergrund der litauischen Geschichte und waren so in das Gewirr

der litauisch-polnischen und moskauischen Kämpfe einbezogen, wie sie auch

in der Gegenwart in den Bereich der litauischen Frage, Bewegung, Hoff-

Das Erbteil der Vergangenheit.

21

nung oder wie man das undeutliche, aber im ganzen nicht (Groß-)Ruß-

landfreundliche Gewirr der Probleme des Nordwestgebiets nennen will,

hereingehören. Etwas mehr mit anderen Volkselementen vermischt haben sich die Kleinrussen, am stärksten aber ist der fremde Einschlag im groß­

russischen Stamme. Dessen Charakter vor allem ist durch die Wanderungs­

geschichte hart geworden, so daß er sich nicht und nirgends entnationälisieren läßt und stark genug ist, andere, auch Angehörige sog. höher stehender

Volkstümer, sich völlig zu assimilieren. Vornehmlich die Völkerinselu des Nordostens und Ostens erobert dieses Russentum in langsamer und

sicherer Assimilierung, während es im fernen Osten dem reinen Mon­

golentum nicht gewachsen ist.

Diese Blutmischung hat im Norden den

gewaltigen staatenbildenden Sinn hervorgebracht, durch den das Großrussentum zur ersten politischen Macht aller Slawen geworden ist. Da­

gegen ist, wie es scheint, gerade ihre geringere Vermischung und größere

Reinheit des Volkscharakters den Kleinrussen immer hinderlich gewesen, zu

einem eigenen Staat zu kommen. Der anthropologische Unterschied zwischen beiden Elenrenten ist auch

heute noch zu erkennen. Es hat nichts genützt, daß die russische Regierung sogar die Existenz eines kleinrussischen Dialekts negierte, indem sie den Gebrauch dieses Dialektes einfach verbot. Wenn der flüchtige Reisende in Südrußland, in der Gegend von Poltawa oder Charkow, nichts vom klein­

russischen merkte, so war dieses doch vorhanden, und wer einigermaßen scharf zusieht, erkennt den ethnographischen Unterschied zwischen den Groß­

russen, deren beste Typen man etwa in Wladimir oder Nischni-Nowgorod sieht, und den Kleinrussen leicht. Wallace schon bemerkt, daß es sich

um zwei verschiedene Nationalitäten handle, die sich schärfer unterscheiden als Engländer und Schotten.

Indes

zur Stabilierung einer eigenen

Nation reichen diese anthropologischen Unterschiede, die sich aus der ver­ schiedenen Blutmischnng erklären, nicht aus; ethnographisch ist der Gegensatz nicht größer als der ztvischen zwei Stämmen gleichen Volkstums und ge­ ringer als der gemeinsame Unterschied gegen andere slawische Volkstümcr.

Freilich sind die Entwicklungen beider Stämme lange genug neben­ einander hergegangen, so daß erhebliche Besonderheiten entstehen konnten.

Die Bauernhütte zeigt Unterschiede zwischen der großrussischen „Jsba" und der kleinrussischen „Chata". Die Siedlung des Südens kennt die agrarische Ztvangsgenossenschaft des Mir nicht oder nicht mehr. Im Norden hat alle

22

1. Kapitel.

staatliche Tradition an das Moskauer Zarentum angeknüpft, im Süden an

die



kleinrussische

ganz



Kosakenromantik.

BolksdichMng, nach Jagiö der schönsten und

In

seiner

reichsten der siawischen

Stämme, in seinen „Dump" und Kosakendichtungen zeigt das Kleinrussen-

tum stärkere poetische und Phantasiebegabung, als das realistischere Großrussentum.

Jenes ist individualistischer, dieses associativer, jenes weicher,

dieses härter, jenes melancholischer, sentimentaler, sinnender, dieses heiterer,

praktischer, positiver, jenes mehr Kind des Südens, darum den Süd­ slawen

näherstehend,

dieses

Kind

des

Nordens.

Demokratisch,

nach­

ahmungsbegabt, rezeptions- und kulturfähig sind sie beide.

Auch in der Sprache sind sie geschieden. Das kleinrussische war ein früh selbständig entwickelter Dialekt. Während der Tatarenherrschaft, die

die südrussische von der nörd- und östlichen Gruppe trennte, und durch die Zugehörigkeit zu einem andereil (dem polnischen) Staatswesen wurde es

immer

selbständiger,

bis

die

Intelligenz

daraus eine eigene Schriftsprache schuf.

im

19.

Jahrhundert

Mer trotzdem blieb der gemein­

same Grundcharakter. Freilich stößt, auch wer die russische Schriftsprache,

das

großrussische,

Schwierigkeiten.

gut

beherrscht,

dem

lleinrussischen

gegenüber

auf

Die Unterschiede beschränken sich indes wesentlich auf

Aussprache und Orthographie*), sowie auf fremdes Sprachgut, und recht­ fertigen schwerlich die wissenschaftliche Charakteristik des lleinrussischen als einer eigenen Sprache; großrussisch und lleinrussisch stehen einander

gegenüber >vie hochdeutsch und niederdeutsch oder tschechisch und slowakisch. Alle diese Besonderheiten sind von dem unterwerfenden Großrussentuln doch als so stark, das darauf sich gründende und erhaltende Bewußtsein des nationalen Gegensatzes so sehr als separatistisch-gefährlich empfunden

worden, daß es die Kleinrussen barbarisch unterdrückt hat, bis zur vollen

Entwicklung der Leibeigenschaft unter Katharina II. und bis zur offiziellen Unterdrückllng der lleinrussischen Sprache 1876. Dagegen hat eine freiheit­ liche Bewegung, die jedenfalls durch sich schon die lleinrussisch-lckrainische

Sonderart bewies, reagiert, und ist, vom literarischen durch die Unter-

*) Die Großrussen schreiben die alle Orthographie, die Kleinrussen ver­ wenden eine phonetische Orthographie, die den Unterschied beider Idiome un­

berechtigt groß erscheinen läßt.

Das Erbteil der Vergangmheit.

23

drückung zum politischen Selbstbewußtsein gesteigert, in Betonung der

eigenen geschichtlichen Überlieferungen zu einem gewissen politischen Sepa­ ratismus, doch nicht zu mehr, gediehen. Aber trotz alledem wirkt schon die

einheitliche Art

des Landes

zwischen beiden Stämmen

assimilierend.

Sprache und vor allem Religion ziehen wie die Geographie die Kleinrussen auf die großrussische Seite. Nach Süden und Südosten gehen beide Stämme

ineinander über; auf dem ganzen kleinrussischen Gebiet sind der große Besitz, die Städte und ein großer Teil der Intelligenz großrussisch, und im

Lande der Donschen Kosaken, der Krim und des Gouvernements Jekaterinoslaw schneiden die Großrussen die Kleinrussen stark vöm Meere ab. Jedenfalls

erlaubt

weder die

Ethnographie noch

die Linguistik, die

„Ukrainer" als eine eigene Nation den Polen und „Moskowitern" gegen­ überzustellen.

III. Das Erbte« der Geschichte. 1. Die Staatenbildung. Die Hauptdaten der Staatenbildung sind: 862 (als offizielles Grün­

dungsjahr angenommen) die Begründung durch Rurik — 989 der Über­ tritt Wladimirs I. von Kiew zum Christentum in seiner griechischen Form

— bis 1015 Begründung des Kiewer Staates als der ersten Staatsbildung des Ostslawentums — 1169 endgültige Verschiebung des Schwerpunktes

(nach den Zeiten der Zersplitterung im Teilfürstenzeitalter) nach Nordosten an Wolga und Oka — 1224 Schlacht an der Kalka und Beginn der

Tatarenherrschaft — 1328—1340 Iwan I., Abschluß der Begründung des Moskauer Staates — 1480 Abschüttelung des Tatarenjoches.

Die Tatsachen der Expansion sind dann diese: 1479 Eroberung von

Nowgorod; 1552 von Kasan; 1554 von Astrachan; 1584 Gründung

von Archangelsk; 1654 Vertrag von Perejaslawl; 1667 Frieden von

Andrussow und 1686 von Moskau,, durch die die Ukraine links des Dnjepr

gewonnen wurde. Von dieser Basis aus beginnt mit Peter denl Großen die Erweiterung,

die zu den» Ergebnis der Neuzeit geführt hat: 1721 Friede von Nystad,

I. Kapitel.

24

durch den der größte Teil der Ostseeprovinzen russisch wurde — 1772, 98 und 95 die Teilungen Polens — 1795 Angliederung von Kurland — 1809 Friede von Fredrikshamn, durch den Finnland ganz zu Rußland

geschlagen wurde, — die Reihe der Friedensschlüsse (1774, 1792, 1812,

1856, 1878), durch die die Grenze Rußlands gegenüber der Türkei ver­ schoben wurde.

Durch diesen Prozeß, der den Hauptinhalt der äußeren Geschichte fett

Peter dem Großen ausmacht, dehnte sich das ursprüngliche Kerngebiet nach

allen Richtungen. Es erreichte im Norden das Weiße Meer, den Finnischen Meerbusen und die Ostsee, es stieß im Westm keilförmig weit nach Mittel­ europa hervor. Es erreichte nach Südwesten den Pruth und gewann die Hälfte der Küste des Schwarzen Meeres. Es hatte nach Osten die Wolga­

grenze bis zu ihrer Mündung nicht nur erreicht, sondern überschritten; schon unter Iwan IV. ziehen die Kosaken Jermaks über den Ural und

beginnen die Eroberung Sibiriens (1582).

Es umfaßte den Kaukasus,

den es sich im 19. Jahrhundert (abgeschlossen 1856) erobert hat und von dem aus es im kleinasiatischen Teile der Türkei Fuß faßte. Dazu gewinnt

es sich im 19. Jahrhundert ein asiatisches Kolonialgebiet, das in der Mitte das Pamirplateau beinahe erreichte und es zum unmittelbaren Nachbam Chinas und zum Küstenstaate des Stillen Ozeans machte.

Die erste russische Staatsbildung, der von den germanischen Warägern

geschaffene Kiewer Staat, viel günstiger zu Europa gelegen als das spätere Moskau, brach zusammen. Mit der Kolonisation des Nordostens „wen­ deten nun diese Ostftawen Europa den Rücken zu", und ein eigenartiger, gar nicht heroischer und skrupelloser Zweig des Rurikgeschlechts, die sich

merkwürdig gleichenden Danilowitschi, verstand es, um Moskau hemm die Zersplittemng zu überwinden, den Gmnd zum Weltstaat zu legen

und den Widerstand der Bojaren zu besiegen. So entstand er als typischer Kolon'ialstaat, nicht, wie die Vereinigten Staaten, durch das Volk, das sich von der Siedelungsarbeit aus in freier Zusammenarbeit feinen

Staat aufbaute, sondern durch die Dynastie, die durch Kirche, Adel und

Heer dem Volke die Staatsorganisation aufdrückte. Moskau „sammelte", nach dem treffenden Ausdruck der mssischen Geschichtsschreibung, genau so

wie ein sonst in Europa entstehender Gesamtstaat, Territorien um sich, durch kriegerische Unterwerfung und durch Angliederung, die zunächst auch

die innere Selbständigkeit, die Autonomie des angegliederten Teiles bestehen

Das Erbteil der Vergangenheit.

ließ*).

25

Die Ukraine, die Ostseeprovinzen, Finnland, im gewissen Sinne

auch Bessarabien uttb Polen treten zu dem von Moskau neu gesammelten Staat prinzipiell ebenso, wie Preußen oder Cleve zu Brandenburg. Durch Rezeß und Privileg, Gnadenbrief des Herrschers und Huldigung der

Unterworfenen wird hier die Unterordnung unter den entstehenden Gesamt­

staat geradeso begründet, die innere Freiheit der neuen Staatsglieder ebenso garantiert, wie in gleichen Prozessen des Westens.

Für die Ostseepro­

vinzen (Privilegien von 1710, 1712, 1731, 1801) liegt das ebenso auf der Hand wie für Finnland (1809 Manifest von Borgä), für das aber

die Verhältnisse anders werden, als (1869) sein Landtag, zum modernen

ParlameM wird, als sein Verhältnis als ständischer Staat zum absoluten Herrscher auf die Grundlage des Gesetzes, der Volksvertretung gestellt wird.

Auch die Ukraine ist so zu Moskau gekommen. Zwischen 1169 und dem

Kosakentum des 16. Jahrhunderts ohne selbständiges, politisches Leben,

wird sie durch die Verträge von 1654 und 1667 Moskau unterworfen, be­ hält in ihnen aber ihre Autonomie und Privilegien garantiert.

Damit

war der Kiewer Staat mit dem Moskauer vereint, die beide ja aus einer Wurzel stammen. Denn der Kiewer Staat ist dem ganzen Russentum ge­ meinsam; ihn selbständig dem Moskauer gegenüberzustellen und von einer

eigenen ukrainischen Staatsidee zu sprechen, ist historisch unmöglich — es hieße dasselbe, als wenn sich Bayern und Preußen gegenseitig das

Königtum der Karolinger streitig machen wollten. Kleinrußland entsteht eigentlich erst in den Kämpfen der Kosaken gegen Polen und zieht in

diesen den Anschluß an Moskau vor, das mit dieser Unterwerfung der Steppe den ersten Schritt zum Großstaat tut. Die Schlacht bei Poltawa

(1709) entscheidet sodann über eine nochmalige selbständige Reaktion Klein­ rußlands, dem danach Peter der Große und Katharina II. seine Besonder­

heiten, wie erwähnt, in brutalster Unterdrückung nehmen. Wenn der russische Staat dann ebenso auch die sonst gewährten Autonomien

antastet,

so

ist

auch

das

der

gleiche

Prozeß

wie

im

Westen, daß sich über dem dualistischen Ständestaat der Absolutismus *) S. die ausgezeichnete Arbeit von Baron B. Nolde, Einheit und Unteil­

barkeit Rußlands in seinen: Otscherki russk. goaeudaretv. prawa (Petersburg

1911) S. 228 bis 554; der auf die Ukraine bez. Teil (S. 287 bis 831) ist ins französische übersetzt (L'Ukralne sous le protectorat niese, Paris 1015) und

wurde von der ukrainischen Bewegung verbreitet.

26

I. Kapitel.

erhebt. Weder Peter noch Katharina II. sind Russifikatoren int Sinne Pob-

jedonoszews und Mexmrders HI., aber sie haben beide schon bewußt unt) mit Unterdrückung der Autonomie zu russifizieren, d. h. den zentralisierten

Staat, wie Friedrich Wilhelm I. in Preußen, herzustellen gesucht, der seine Einheit zunächst nur im Herrscher fand. So löst sich — rein wissenschaftlich

betrachtet — der scharfe Gegensatz zwischen Karamsins Geschichtsauf­ fassung, die die Einheit des Staates betont und ihr Werden allein schildert,

und der etwa Kostomarows, der ähnlich wie Alexander Herzen den Födera­ lismus als das natürliche Prinzip des Slawentums betrachtet, die russische Geschichte als Prozeß der Vergewaltigung föderalistischer Selbständigkeiten

durch die roh zentralisierende Moskauer Gewalt auffaßt. Im Zeitalter des Absolutismus erweüerte Rußland, in paralleler Entwicklung mit den

westlichen Staaten, seine Machtstellung außerordentlich und steigerte seine wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeit gewaltig. Und dieses Ergebnis war

eine große Leistung politischer Kraft; an staatenbildender Fähigkeit und

Kraft hat es, wie die Geschichte lehrt, dem Großrussentum nicht gefehlt.' Aber es fehlte an etwas anderem und daher darf diese Parallele nicht

über die Formen der Verfassung hinaus getrieben werden. Diese Staaten­

bildung verband wohl zur natürlichen Einheit, zur wirtschaftlichen Er­ gänzung bestimmte Zonen und konnte aus diesen Gründen Zusammenhalt und inneren Zusammenhang schaffen. Aber national hingen weder Finn­

land noch die Osffeeprovinzen, weder Litauen noch Polen, weder die Krim

noch der Kaukasus, weder die von mohammedanischen Völkerschaften be­ wohnten Ufer der Wolga noch gar Sibirien und Zentralasien mit dem

Kerngebiet ihres Reiches zusammen. Und dieser Staat vermochte nicht, die innere Verschmelzung dieser Teile zu einer höheren Einheit herzustellen, wie es etwa den Hohenzollern nach der äußeren Staatsbildung so glänzend ge­ lang. Das Großrussentum hat es verstanden, über alle von ihm unter­

worfenen Völkerschaften ein einheitliches Verwaltungs- und Militärnetz zu legen; es hat sich ihnen allen polittsch-militärisch weit überlegen gezeigt. Aber es hat sich diese Völkerschaften nirgends assimiliert, hat dies an den meisten Stellen gar nicht gewollt und da, wo es das wollte, nicht gekonnt.

Im Wesen war diese Expansion zunächst nichts anderes als die anderer Staaten und ihre Motive waren die gleichen. Oft genug sind sie genannt worden: der Zug nach dem Westen und das Streben nach der natürlichen

Grenze, vor allem zu den eisfreien Häfen und Zugängen der Weltmeeres,

27

Das Erbteil der Bergangenheu.

in dern das Verlangen nach der am leichtesten erreichbaren, dem Herzen des Staates und seinen natürlichen Reichtümern am nächsten liegenden Passage, der des Bosporus und der Dardanellen, am stärksten war. Gerade wegen

seines binnenländischen Charakters ist dieser Zug des russischen Staates zum Meere elementar, er fühlte früh, daß ihm mit dem Zugang zunr

offenen Meere die Freiheit der Bewegung fehlte, und wegen seiner un­

günstigen geographischen Lage wird der Drang zum Meer fast Mittel­ punkt seiner Machtpolitik. Im 19. Jahrhundert kam dann der wirtschaft-

liche Gesichtspunkt seiner Ausfuhr, besonders seiner Getreideausfuhr im Süden dazu. Diese Staatsbildung hat nun auch ein immer stärkeres und aggressiver

werdmdes Nationalbewußffein in ihrem Volke geschaffen.

Ihre Expan­

sionsidee ist im 19. Jahrhundert gewiß auch gedanklich vertieft, ja mystisch verklärt toorben; man denke an Dostojewskis Opfer- und Befreiungsidee,

die er der Machtpolitik seines Staates als sittliche Mission zugrunde legte, an den ideologischen national-religiösen Untergrund des Panslawismus,

auch der Ostasienpolitik*). Trotzdem aber empfindet Europa diese Staats­ geschichte als noch hohl, ja negativ, weil ihr noch zu wenig originaler Kulturgehalt entspricht, den freilich auch die ähnliche Expansion der Ver­ einigten Staaten nicht einmal schaffen konnte, obwohl ihre Siedler mit

dem Kulturreichtum Europas an ihre Küsten kamen, während Rußland dieser Zustrom fehlte.

2. Der Ausbau des Staates. (Byzanz, Tatarenherrschaft,

Europäisierung,

S e l b st h e r r s ch a f t.)

Die itngeheure Arbeit, deren es bedurfte, um auch nur diesen ziel­

bewußten Prozeß tiott sechs Jahrhunderten zum bisherigen Erfolg zu führen, war nur durch ebenso ungeheure Steigerung der Staatsmacht zu

leisten. Auch bei stärksten Einzelpersönlichkeiten wäre sie indes ohne Ein­ flüsse rind Kraftquellen von außen nicht durchzusetzen gewesen. *) S. das Schlutzkapitel.

I. Kapitel.

28

Zuerst hat das Christentum die zarische Gewalt außerordentlich ge­ hoben. Es war in seiner griechischen Fassung angenommen worden; als

Byzanz fiel, ging das Patronat seiner Kirche auf den Moskauer Staat über. In seiner Heirat mit der Verwandten des letzten Paläologenkaisers (1472) und der Aufnahme des byzantinischen Adlers in das Moskauer

Wappen dokumentierte Iwan III. Wassiljewitsch (1462—1505) auch,

daß er sich der Tragweite dieses Zusammenhanges bewußt war.

Damit

wurde der byzantinische Zäsaropapismus auf das russische Volk übertragen. Es ist zunächst gleichgültig, daß in diesem kirchenpoliüschen System die

weltliche Macht des Zaren und die geistliche der Patriarchen noch mit­

einander um die Herrschaft ringen. In jedem Falle kam die im Worte selbst ausgedrückte engste Verbindung der Kirche mit dem Staate der

Fürstengewalt gegen Gesellschaft und Volk zu einer großen Steigerung ihrer Verfügungsfreiheit über Leben und Geist der Untertanen zu Hilfe,

und sie umgab den Zaren mit einer fast göttlichen Glorie, die ihn seinen Untertanen geradezu entrückte.

In gleicher Richtung wirkte die Herrschaft der Tataren (1224—1480). Zuerst vermochte auch die wieder gefestigte großfürstliche Gewalt ihr Volk

nicht zu schützen, zwei Jahrhunderte lang lastete das Joch der Tataren, merkwürdig unheroisch ertragen, auf Staat und Volk Moskaus. Da diese

Tatarenherrschast nicht eine ins einzelne dringende Herrschaft an Ort und

Stelle war, sondern der Chan der Goldenen Horde, der bei Zarizyn an der Wolga residierte, sich mit der Entrichtung des Jahrestributs begnügte, sich dafür aber an die Person des Großfürsten hielt, wurde dieser der lokale Repräsentant der tatarischen Oberherrschaft für sein eigenes Volk. Wie er vor dem Chan zittern mußte, dessen Schiedsspruch auch in den Thronstreitigkeiten der großfürstlichen Familie angerufen wurde, so mußte

sein Volk vor ihm zittern, der ihm gegenüber der Vertreter der Fremd­ herrschaft war. Und da das Verhättnis zwischen Großfürst und Tataren­

chan gar nicht ethisch, sondem nur auf Gewalt und roher Abhängigkeit begründet war,

so werden auch die Beziehungen

zwischen Großfürst

und Volk nicht versittlicht. Das hob die fürstliche Gctvalt ihren Untertanen

gegenüber, brutalisierte aber die Beziehungen zwischen Fürst und Volk und beraubte sie alles gemütlichen Inhalts, wie nirgends sonst in einem indogermanischen Volke. Dieser Druck hat zwei Jahrhunderte angedauert,

während außerdem noch seine Lage diesem Staatswesen die Vorstellungen

Dos Erbteil der Vergangenheit.

29

des asiatischen Despotismus näher rückte als dem Westen, korrigierende und

mildernde Vorstellungen aus dem Christentume heraus aber hier unendlich

viel schwächer wirkten. Dagegen darf die allgemeine Wirkung der Tatarenherrschaft nicht so,

wie es gewöhnlich geschieht, überschätzt werden. Von einem rassenmäßigen Einfluß ist nur bei einem klemm Teile des Dienstadels zu reden. Sonst

hat ein „connubium" zwischen Russen und Tataren nicht bestanden; was man heute als tatarisch

am Großrussentum bezeichnet, sind die

Folgen seiner finnisch-ugrischen Blutmischung in der Kolonisationszeit.

In das Private oder religiöse Leben der Unterworfenen hat sich die Tataren­ herrschaft nicht eingemischt.

Dagegen hat sie auf das stärkste die Aus­

bildung der absoluten Fürstengewalt und der Finanzverwaltung und das Ethos der Unterworfenen beeinflußt. Die kulturelle Nachwirkung konnte nicht anders als sehr gering sein, die Herrschaft eines so niedrig stehenden

Eroberervolkes aber nur korrumpierend wirken.

Ist schon die fatalistische

Art, in der sie ertragen wurde, einzigartig, nur mit der Türkenherrschaft auf dem Balkan zu vergleichen, so ist kein Wunder, daß die sittlichen Vor­ stellungen in Rußland heute noch (z. B. in der Nichtachtung der Persön­ lichkeit, dem Mangel an Wahrheitsliebe und an Achtung vor dem öffent­

lichen Eigentum) die Folgen der Tatarenzeit an sich tragen.

Vor allem

aber zog sie die Kluft gegen Europa noch weiter und tiefer. Darum wurde der Sprung nach Europa, als er von Peter getan

wurde, auch als so gewaltsam empfunden, obwohl sich das Gesicht Mos­ kaus schon längst Europa zugewandt hatte. Die Voraussetzungen für eine

schrankenlose Staatsgewalt, die in der mittelalterlichen Geschichte Moskaus gegeben waren, haben zu unerhörter und in Europa sonst nicht erreichter

Höhe gesteigert Peter der Große und Katharina II. Die Mittel dazu fanden sie beide in dem, was man die Europäisierung ihres Staatswesens genannt hat.

Der Widerspruch zwischen indogermanischem Volkscharakter und

asiatischer Umgebung, ja Herrschaft hat die Zaren Moskaus frühzeitig auf die technische und militärische Überlegenheit des Westens hingewiesen. Der

Gedanke, die Einrichtungen dieses Westens anzunehmen, um die Tataren­ herrschaft abwerfen und die Expansion zum Meere hin weiterführen zu

können, ist daher schon von ihnen energisch gedacht worden.

Nur eine

graduelle Steigerung ist es, wenn Peter der Große aus gleichen politischen Motiven heraus die technisch-militärisch-politischen Mittel des damaligen

I. Kapitel.

30

Europas in vollem Umfange übernimmt.

Er hat das ganze System des

absolutistisch-merkantilistischen Staatslebens seiner Zeit mit gewaltigster Kraftanstrengung und erstaunlichem Erfolge auf seinen Staat übertragen. Denn er sah allein darin die Möglichkeit, ihn vom Moskauer Territorial­

staat zum europäischen Großstaat zu erhebm. Wenn er damit auch europäische Zivilisation in breitem Strom hereinführte, so hat er dies nur als Mittel zu jenem realistisch gesehenen und gewollten Zweck seines

Lebens benutzt.

Er hat die Frage ignoriert oder gar nicht gesehen, ob die

Entwicklung seines Volkes prinzipiell in derselben Bähn gehen werde und

müsse, wie die der europäischen Völker, und ob deshalb eine unbedingte Nachahmung und Einführung europäischer Kulturelemente ohne weiteres gestattet sei.

Deshalb schwankt bis heute noch die Beurteilung seines

Lebenswerks in der russischen Geschichtsschreibung und kaum etwas ist

für die Zwiespältigkeit im mssischen Wesen charakteristischer als die Tat­

sache, daß die Nation noch heute keine übereinstimmende Anschauung von ihrem größten Herrscher hat.

Genau in seinen Bahnen ist Katharina II. weiter gegangen.

Sie

hat auch Elemente der geistigen Kultur Europas, der sie als deutsche Prinzessin und französisch gebildete Dame angehörte, gefördert; wesentlich

war das aber für sie als Herrfcherin nicht.

Die zarische- Staatsgewalt

wollte und konnte nur einen europäischen Staatsbau schaffen, der ihr die

Mittel zur Erreichung ihrer großen politischen Zwecke gab, in Stellung

des Fürsten, Beamtentum, Finanzen, Heer, und das gelang in vollem Maße.

Es war das Wesen des Staates, der seit 1904 nach dem Willen

der Revolutionäre zugrunde gehen oder nach dem der Liberalen von Gmnd

aus umgestaltet werden sollte, daß er autokratisch war. Das war auch die hauptsächlichste Vorstellung, die Europa von Rußland hatte, und die von

dort aus bewußt und geschickt genährt worden ist, daß dieses riesengroße Reich dem Willen eines einzigen Mannes gehorchen müsse, dessen -Herrscher­ gewalt nicht die geringsten Schranken gesetzt seien, und der sich zur Durch­

setzung seines Willens eines ungeheuren, vor keinem Verbrechen zurück­

scheuenden

Beamtenorganismus

haltenes Volk bediene.

gegen

ein

in

Sklavengehorsam

ge­

Die Vorstellung war allgemein, daß das Leben

in Rußland einer im Dunkeln schleichenden grenzenlosen Willkür preis­ gegeben sei und jede Oppositton gegen den in die Einzelheiten des Lebens eindringenden zarischen Willen mit der Verschickung nach Sibirien bestraft

Das Erbteil der Vergangenheit.

31

werde. Durch eine bewußte Abschließungspolitik, die den Verkehr mit dem Auslande am liebsten überhaupt verhindert hätte, tat auch das herrschende System, vor allem unter Nikolai I. und Alexander III., alles, um sich

diese Vorstellung in Europa so sehr wie möglich festsetzen zu lassen.

Sie

schreckte von der Erforschung Rußlands ab und ließ demgemäß das Urteil

über seine wirkliche Lebenskraft, vor allem seine militärische und politische Schlagfertigkeit in einem höchst erwünschten, unbestimmten Dunkel.

In

diesem Dunkel steigerte sich die Vorstellung von der großen Macht Rußlands ins Ungemessene. Sie wurde zwar regelmäßig durch die in bestimmten Ab­

ständen wiederkehrenden schlimmen Erfahrungen eines Krieges — so

1858/55, 1877/78, 1904/05 — erheblich ernüchtert und herabgestimmt, kehrte aber in den folgenden Friedenszeiten ebenso regelmäßig wieder

zurück.

Richtig war in diesen unbestimmten Urteilen, die zwischen über­

und Unterschätzung unsicher hin- und herschwankten, daß die fürstliche Gewalt in Rußland eine Steigerung erfahren hatte, wie nirgends in der indogermanischen Welt.

So sehr, daß der Begriff der Selbstherrschaft

(Samoderschawie/), mit dem die russische Sprache den Absolutismus be­

zeichnet, von der slawophilen Anschauung als einer der drei Grundsteine,

auf denen Rußland ruht, betrachtet wurde, deren Erschüttemng oder Beränderung die russische Zukunft gefährden soll.

Wer fragt, was der

Konstitutionalismus in Rußland heute bedeuten kann, muß sich vor

allem das Wesen dieser zarischen Gewalt klar machen. Ihre geschichtlichen Wurzeln liegen in der Zeit der Moskauer Zaren. Das russische Volk hat nicht von Anbeginn seiner Geschichte an ein abso­

lutes Herrschertum hervorgebracht und ertragen.

Im Gegenteil zeigte

der Kiewer Staat wie der Freistaat Groß-Nowgorod eine erstaunlich hohe

Bedeutung des Volkes neben dem Staate.

Und die Schwächung der

fürstlichen Gewalt durch die Zersplitterung des Kiewer Reiches in Teil­ fürstentümer und die Unsicherheit der großfürstlichen Gewalt trug auch

nicht dazu bei, eine starke Staatsgewalt zu schaffen.

Diese ist erst auf

dem Boden des Moskauer Staates erstanden, und in den großen Zaren des 15. und 16. Jahrhunderts, Iwan III., Wassili IV., Iwan IV., zur

Vollendung gebracht worden. Die persönlichen Fähigkeiten der Herrscher*) Die Wortübersetzung der byzantinischen Autokratie.

I. Kapitel.

32

reihe, dir den Vtoskauer Staat geschaffen hat, fandm Bundesgenossen im Charakter des Volkstums, das sich mit dieser Staatsbildung selbst erst ganz

äusbildete, und in jenen von außen wirkenden Momenten. So liegen die Wurzeln des Absolutismus weder im Altertum (die Selbstherrschaft ist nicht, wie manche Slawophilen wollen, dem russischen Volke ureigen) noch

in der Neuzeit (sie ist nicht erst von Peter dem Großen geschaffen), sondern in seinem Mittelalter. Als die Tatarenherrschaft beseitigt war (1480), war die zarische Ge­ walt fertig. Sie war die patriarchalische Eigentümerin des ganzen Reiches

— die Vorstellung, daß das Reich im Grunde nur Privateigen der kaiser­

lichen Familie sei, ist bis in die Gegenwart lebendig geblieben — und hatte sich auch ihre Organe zur Durchsetzung ihres Willens im Inneren

und zur Führung ihrer Politik nach außen geschaffen.

Formal, im

System von Verfassung und Verwaltung, Finanzen und Heer, ist später

von Peter dem Großen bis zu Alexander I. ein völliger Neubau errichtet

worden. Dagegen sind dabei materiell die Beziehungen zwischen Zar und Gesellschaft nur äußerlich verändert worden. Es sei daher das Gebier for­

maler Arbeit und das Erbteil der Vergangenheit daraus später lediglich für die Neuzeit festgestellt. Aus dem Mittelalter aber wurde, wenigstens

in

seinen

dauernden

Wirkungen,

zweierlei

herübergenommen:

das

„Mjestnitschestwo" und die „Kormlenie".

Das merkwürdige System des- MjesMitschestwo, das einem Manne

verbot, im Staatsdienst eine niedrigere Stellung gegenüber einem anderen einzunehmen, als ihre beiderseitigen Vorfahren zueinander eingenommen

hatten, ist allerdings unter Feodor Alexejewitsch (1676—1682) aufgehoben worden. An seine Stelle hat Peter der Große die noch heute im wesentlichen geltende Hierarchie der Rang-*)Tabelle von 1714 gesetzt.

Trotzdem sind

die Wirkungen aus dem Mittelalter nicht beseitigt worden; sie lebten, wenn auch in anderer Form, gerade in der neuen Ordnung Peters fort. Denn

in beiden Systemen ist das 'Entscheidende, daß ausschließlich die Stellung

zur Person des Zaren die ganze Hierarchie bestimmt. Wort und Begriff des „Dienstes" (Sluschba), so, wie sie noch für das heutige Rußland so

charakteristisch sind, sind hier erwachsen, in dem Satz gipfelnd:

„Groß

*) Russisch: Tschin. — Die Tabelle ist, wie sie heute gilt; abgedruckt z. B.

bei Palme, Die ruff. Verfassung, S. 110 s.

Das Erbteil der Vergangenheit.

33

und klein lebt man (nur) durch die Gnade des Zaren."

Dieses Ver­

hältnis war aber nicht durch sittliche Beziehungen geadelt, wie persönliche

Hingabe an den Fürsten oder Begeisterung für die Idee des Staates,

sondern wurde durch die zarische Gewalt erzwungen und durch die Furcht vor ihr erhalten.

Aus den Beziehungen des Großfürsten zu den Tataren entstand erst in vollem Umfange das Beamten- und Finanzwesen des Moskauer Staates. Und wenn im Verhältnis zu den Tataren die Ethik keine Stelle hatte, so kamen auch in das Ämter- und Finanzsystem Ethik und Pflicht nicht herein.

Wie der Großfürst sich kein Gewissen daraus machte, den Tataren zu Über­ vorteilen, so auch seine Beamten nicht gegenüber dem Volke in der Er­

hebung der Steuer, aus der der Tribut bezahlt wurde.

Erpressung und

Unterschleif sind dämm im russischen Mittelalter schon typisch und wurzeln

um so fester, als die Sittenlehre der Kirche einen Halt dagegen nicht ge­ währte, eine Sittenlehre des Staatslebens nicht vorhanden war.

So ist

der für Rußland so charakteristische Begriff und Gmndsatz der Kormlenie, der „Emährung" im Wortsinne entstanden, daß nämlich Amt und Dienst

nicht Vergütung für pflichtgemäße Erfüllung des Amtes sind, sondern Mittel, sich als Glied der dienenden Klasse zu erhalten, daß Amt und Vaterland für den Träger des Amts nach einem Worte des Satirikers

Saltykow-Schtschedrin nur „ein süßer Knödel" sind, nur zur Emähmng

und zum Genuß für den Beamten da sind. Und so erklärt es sich, wamm die Kormption von Anfang an geradezu ein Fundamentälprinzip im

Staatskörper geworden ist. Der Absolutismus nach europäischem Muster, den Peter ver Große

einführte und Katharina II. abschloß, ist danach nicht etwas grundsätzlich Neues. Er steigerte vielmehr nur bereits vorhandene Einrichtungen oder

besser, da das prinzipiell nicht möglich war, er stellte die größeren Mittel des europäischen Absolutismus für den Dienst der Zarengewalt bereit.

Die Europäisiemng ist in diesem Sinne nichts als die übemahme der Verwaltungs- und Heereseinrichtungen Europas. An die Stelle der alten

Verwaltung tritt das System, das Peter begründete und Alexander I.

1802 abschloß: die Zentralbehörden als: Senat (1711 errichtet), Reichsrat

(1802 geschaffen), Ministerkomitee und Ministerien begründet),

dazu

yoetzsch, Rußland.

der

„Allerheiligste

Synod"

(1721

(gleichfalls begründet), 3

1802

als

1. Kapitel.

34

Organ des -arischen.Willens in Kirchenangelegenheilen, da der Kampf

zwischen Zar und Patriarch mit dem vollständigen Siege der weltlichen

Spitze in der Kirche geendet hat. Darunter das System der Gouverne­

ments- und KreisverwalMng und daneben das stehende Heer, das Peter an die Stelle des wertlos gewordenen allgemeinen Aufgebots und der

überlebten Ritterorganisation gesetzt hatte.

Auf allen Gebieten wird der

Dienst für den Staat und, da Staat und Zar zusammenfallen, der Dienst

für den Zaren das alles in Anspruch nehmende und alles regulierende Prinzip des Lebens,

überall reichen die Wurzeln in das Mittelalter

zurück, aber überall hat die absolutistische Neuzeit frühere Anfänge zur Vollendung geführt und gesteigert. Das gilt namentlich für zweierlei.

Die Staatsdienstpflicht des Adels war schon im Mittelalter ohne

Einschränkung durchgesetzt worden, mochten diese Adligen auf freiem Erbe oder auf Lehnsgut sitzen; es gab, als Peter der Große sein Werk begann, grundsätzlich in seinem Staate keinen von der Pflicht des Staatsdienstes freien adligen Mann.

Trotzdem hätte eine Grundaristokratie wie in

England oder Preußen vorhanden sein können.

Aber der russische Adel

ist nur eine bevorzugte Schicht der Gesellschaft geworden, in erster Linie zum Dienst mit der Waffe verpflichtet, wofür der Landbesitz Belohnung,

nicht aber Basis einer eigenen selbständigen Lebensführung ist1), eine be­ vorrechtete Klasse, die wie jeder andere Russe.

aber

vor dem Zaren

brochen, indem er jene Rangtabelle einführte.

nur

wie

eine

genau so rechtlos war,

Peter hat ihr dann vollends das Rückgrat ge­

Hofrangordnung,

aber

sie

ist

Zunächst erscheint diese

mehr.

Sie

stellt

die

Hierarchie eines Beamtentums dar, dessen Glieder stets den ihrem Amte

entsprechenden Rang haben sollten, und in die der Adel dadurch voll­ ständig einbezogen oder durch die er dadurch vollständig aufgelöst wurde,

daß mit einer bestimmten Stelle der persönliche und mit einer bestimmten

— höheren — Stelle der erbliche Adel von selbst „erdient" (Wysluga) wird. Damit wurde eine unabhängige Aristokratie als Stand unmöglich,

und, was im 15. und 16. Jahrhundert vorbereitet war, abgeschlossen: die Entstehung einer großen Beamtenklasse, die der Zar zur Durchsetzung

*) Der russische Adel ist nie mit dem Boden wirklich verwachsen, er hat Frei-

Teilbarkeit seines Besitzes und sträubte sich immer gegen Majorat und Fideikommiß. Der russische Adlige heißt auch nicht nach seinem Gute,

35

Das Erbteil der"Vergangenheit.

fernes Willens braucht, die von ihm unbedingt abhängig, mit ihm aus

Gedeih und Verderb verbunden ist, und die dem Volk überall, auch im

kleinsten und untersten Beamten, als der Zar in Person mit aller feiner unbegrenzten Machtfülle gegenübertritt, sich vom Volk durch eine weite Kluft getrennt fühlt. Der neuzeitliche Absolutisrnus hat aber auch hier nichts getan, um

in die Beziehungen seiner Beamten zu ihm imb der Beamten zum Volk einigermaßen sittlichen Inhalt hereinzutragen. Was Friedrich Wilhelm I. aus genau dem gleichen Absolutismus heraus erzieherisch für sein Be­

amtentum leistete, fehlt in der russischen Geschichte völlig. Dieses Beamten­

tum, das im Absolutismus erwuchs, übernahm aus dem Mittelalter den alten Begriff der Dienstpflicht und ihrer Ausnutzung, der Kormlenie, und

stabilierte damit die Korrupüon weiterhin wie ein leitendes Prinzip des

Verwaltungsrechts.

Auch Rußland hat in der Neuzeit sehr viele sitt­

lich unanfechtbare VerwalMngsbeamte gehabt, die ihrem Staat aus Hin­ gabe an die Pflicht oder aus Begeisterung für die Idee des Vaterlandes

oder aus persönlicher Anhängigkeit an Zar und Dynastie dienten. Aber

dergleichen ist nicht aus dem staatlichen Verwaltungsrecht und Beamtentum selbst entstanden, sondern durch Erziehung oder Berührung der Individuen

mit west-europäischem Denken ausgenommen worden.

So war das Erbteil der Vergangenheit zu Beginn der Revolution

formal: ein gewaltiger staatlicher Mechanismus, der, nach dem Vorbilde Westeuropas aufgebaut, den Staatsdienstbegriff bis aus das Äußerste ge­ steigert hatte, dessen Funktionieren aber dadurch sehr erschwert wurde, daß

Zahl und Bildungsniveau seines Beamtentums in einem schreienden Miß­

verhältnis zu dem ungeheuren Raume und seinen Riesenbedürfnissen stand. An der Weitmaschigkeit des Verwaltungssystems, dem Mangel an

Verkehrsmitteln und den Eigenschaften der Bureaukratie fand die Willkür des Staatsbeamtentums und die Machtvollkommenheit des Zaren eine

oft unübersteigbare Schranke. Tatsächlich genoß das russische Volk und

genossen auch die anderen Nationalitäten im Reich eine viel größere

Freiheit, als man in Europa annahm. Freilich in den Beziehungen, auf die es dem Staate ankam, zog er die

einzelnen sehr ausgiebig heran.

Es lag ihm nicht so sehr daran, das

BiLungsniveau seiner Untertanen zu heben, und es bekümmerte ihn wenig,

wenn daher das Schulwesen auf sehr niedriger Stufe stehen blieb. Aber für

3*

I. Kapitel.

36

seine Machtansprüche verstand dieser Staat die Untertanen aufs äußerste jit

fassen. Im Innern, insofern als ein außerordentlich ausgebildetes Polizei-

fystem Ruhe und Ordnung auftechterhielt — letztere in ganz mechanischem Sinne, den in höchster Ausprägung Nikolai I. vertrat —, wenn auch die

Staatsgewalt

zu

keiner

Zeit

stark

genug

gewesen

ist,

revolutionäre

Zuckungen des Volkskörpers ganz zu verhindern oder den verbotenen Ver­

kehr mit den Ideen des Auslandes völlig abzuschließen. Für die Macht­

ansprüche nach außen aber brauchte der Staat ein großes Heer und in weiterem Abstande eine Flotte und die dafür notwendigen finanziellen Mittel. Mit seinem Ukas von 1699 über die Pflicht der Rekrutengestellung und der ersten „Revision" (d. h. Zählung zu Aushebungs- und Steuer­

zwecken) 1718/19 hat Peter der Große auch hierfür die Grundlinien gezogen und die Dienstverpflichtung für die Masse des Volkes abgeschlossen.

Das Dorf haftete solidarisch für die Zahl der Rekruten, die es zu stellen hatte, und für den Anteil an der — 1722 eingeführten — Kopfsteuer,

der auf es fiel1). Diese Anteile wurden nach der Zahlung der „Seelen" (der männlichen kopfsteuerpslichtigen Bauern), deren Revision alle zehn

Jahre stattfinden sollte1), bestimmt; in der Zwischenzeit fand die natürliche Bevölkerungsveränderung keinen Reflex in der Seelenzahl — ein Mißver­

hältnis, auf dem Gogols Tfchitschikow in den „Toten Seelen" sein geniales

Schwindelmanöver aufbaut. Damit war auch die bäuerliche Masse ganz in den Dienst des Staates gestellt, der Mechanismus war fertig, wie im friderizianischen Staat.

Denn ebenso waren die — viel getingelten — Schichten der Kaufleute und Gewerbetreibenden in ihren Pflichten genau reglementiert; sie hingen ja

auch vor allem von den Aufträgen und Bedürfnissen des Staates ab. Während aber das sonst ebenso aufgebaute Preußen Friedrichs des Großen

unter allen Umständen den einzelnen erfaßte, erreichte hier der Staat seine Zwecke zum großen Teile mittelbar.

Die Dorfgemeinde

war für den

Anteil der Rekruten und Steuern solidarisch haftbar. Wie sie aber diesen *) Die Solidarhaftung (krugowaja Poruka) für die Steuer ist gesetzlich erst durch das Manifest von 1811 festgestellt worden, aber schon seit der Moskauer Zeit in Übung gewesen. ■ 3) Die erste derartige Revision hat 1718/19, die letzte (10,) 1856 bis 1858 stattgefunden.

Das Erbteil der Vergangenheit.

37

Anteil unter sich verteilte, wie sie ihre Angelegenheiten sonst — und diese waren sehr umfassend — regelte, das blieb ihr überlassen. Die Bauem-

gemeinde, die überwiegende Mehrheit des russischen Volkes, hat sich bis in die unmittelbare Gegenwart einer Autonomie erstellt, von der man sich in Westeuropa niemals eine richtige Vorstellung gemacht hat.

Man sah

nicht, daß zwischen den Bauern und dem Zaren nicht nur der Grundherr, sondern auch die Dorfgemeinde als die herrschende Macht des einzelnen

Lebens stand. Das aber führt zu der Frage nach dem Erbteile der Ver­ gangenheit für das Volk.

3. Das Volk ging in die Zeit der Reformen gebunden herein.

Ge­

bunden war es zunächst materiell durch seine agrarische Organisation, und zwar trug es — wenigstens in seiner überwiegenden Mehrheit —

sowohl die Gebundenheit der „Großfamilie", die sich bei fast allen slawischen

Vollem findet, wie die Gebundenheit der Dorffeldgemeinschaft, die wir aus der allgemeinen Agrargeschichte kennen, an sich. Diese Feldgemeinschaft (Mir)*), die den einzelnen an die Verfügungs­

gewalt der Gemeinde über das Land band und die in immer wiederholten Umteilungen des Landes nach den Veränderungen der Zahl der Dorf­

bewohner ein individuelles Verhältnis des einzelnen zu seiner Scholle nie­

mals aufkommen ließ, die so ohne weiteres erklärt, warum der Abso­ lutismus die Solidarhaftung einführen konnte, wurde durch die guts-

herrlich-bäuerlichen Verhältnisse, die Leibeigenschaft ergänzt und in ihrer Wirkung abgeschlossen. Ist die Feldgemeinschaft schon in frühesten Zeiten

der russischen Geschichte vorhanden, so entsteht die Leibeigenschaft erst in ihrem Mittelalter.

Sie ist am Ende dieses Mittelalters, durch den Ukas

von 1597 zum Abschluß gekommen, der im Interesse der kleineren Dienst­ mannen die Freizügigkeit der Bauern verbot. Dem Wesen nach entstanden mit Mir und Leibeigenschaft bäuerliche Verhältnisse, wie sie in West­

europa, insonderheit Deutschland ebenso vorhanden waren.

Nur einen

Gradunterschied bedeutet die schärfere Anspannung der Abhängigkeitsver­

hältnisse, die bis zum Verkauf von Leibeigenen ohne Land, also bis zur

reinen Sklaverei und zu barbarischen Mißhandlungen führte.

*) Näheres s. Kapilel V.

I. Kapitel.

38

Diese dreifache Bindung — durch die Dorfgemeinde, den Grund­ herrn und den Staat — wurde nun durch den weltlichen Absolutismus

des Zaren, dessen psychologische Wirkungen noch einmal betont werden müssen, und den geistlichen der Kirche noch außerordentlich verstärkt. Die Tatarenherrschast hatte in die kirchlichen Verhältnisse nicht ein­

gegriffen, und so zog die Kirche in ihrem Bunde mit dem ZarenMm auch für sich aus der Stärkung der großfürstlichen Gewalt Vorteil, um so mehr,

als ihre Führung noch lange in den Händen der Griechen, also volks­ fremder Elemente, lag. Nur flüchtig sei hier schon darauf hingewiesen^, was es für Rußland gegenüber Westeuropa bedeutet, daß es das griechische

Christentum annahm. Die griechische Kirche, die Wladimir I. einführte,

war aber auch schon innerlich erstarrt und hat an lebendigen Kräften wenig

in das Volksleben hereingeleitet, wenn auch gerade die Tatarenherrschaft,

die Anhänglichkeit an die Kirche vertiefend, die Gleichsetzung von Religion und Vaterland begründete, aus der der tief im Volksgemüt verankerte Be­ griff des „heiligen Rußland" hervorwuchs. An Bildungselementen und sittlicher Erziehung vermochte sie verzweifelt wenig zu bieten, weshalb sie auch bis heute die Reste des HeideMums nicht ganz hat überwinden können.

Das Wesentlichste ist doch an ihr ihre Verbindung mit dem Zarentum.

Dadurch vermochte sie, das Fürstentum durch die Erfüllung mit dem religiös verklärten byzaMinischen Staatsgedanken noch hebend und steigernd,

die Gemüter zu binden und zu beherrschen, das ganze Volk von der höchsten

Spitze bis zum letzten Bauern an sich zu fesseln, es ihrem Dogma und noch mehr ihrem Ritus in einer Weise zu unterwerfen, die über ihre

innere lebendige Kraft oft täuscht. Ein Kampf gegen die Kirche war daher

bis zur Gegenwart, wie die Geschichte aller sektiererischen Bewegungen in Rußland lehrt, ein Kampf gegen den Staat, also Revolution.

Eine

Abkehr von ihr geschieht bis heute nur, indem sich der Russe innerlich

von ihr frei macht, ohne aber den Entschluß zu einem entschlossenen Atheismus oder zum Übertritt zu einer anderen Konfession zu finden. Die Bindung der Geister, die die orthodoxe Kirche herbeizuführen ver­

standen hat und die heute in der Masse noch ungehindert in Macht ist, kann Psychologisch gar nicht hoch genug angeschlagen werden.

*) Weiteres s. Kapitel VIII.

Das Erbteil der Vergangenheit.

39

So war also dies das Erbteil der Vergangenheit für das 19. Jahr­

hundert: ein dreifach, durch die lokale Organisation (Familie, Gemeinde, Gutsherr), durch die Staatsgewalt, durch die Kirche gebundenes Volk, eine ins äußerste gesteigerte fürstliche Gewalt mit einem gewaltigen Orga­

nismus, der ihren Zwecken dienstbar war und das ganze Volk für ihre Zwecke dienstbar machte, ein Staat, der nach seiner äußeren Entfaltung das volle Recht, als europäischer Großstaat betrachtet zu werden, erworben

hatte und nachdrücklich geltend machte. Er hatte die dafür in ihm liegenden Ansätze durch BestuchMng mit europäischen Gedanken und Einrichtungen

außerordentlich und einseitig ausgebildet und zu einem großen System ent­ wickelt, das in der slawophilen Anschauung seine theoretische Begründung

fand. Ihre drei Schlagworte: Selbstherrschaft, orthodoxe Kirche und (groß­ russisches) Volkstum (Samoderschawie, Prawoslawie, Narodnost), sprechen

in einer geläufigen Formel diese historische Anschauung und zugleich ein politisches Programm aus, wobei freilich gern vergessen wird, daß erst die Befruchtung mit dem aus Westeuropa (Polen, Holland, Deutschland,

Frankreich) Gekommenen diese Entwicklung vorhandener Ansätze ennöglicht

hat, daß erst durch die aus Europa hereingeholten Steine diese drei Funda­

mente des mssischen Staates zu dem gewaltigen Bau von heute ausgebaul werden konnten. Auf Kolonialland, aus indogermanischem Grundstock und finnischem Einschlag hatte der großrussische Volkscharakter sich gebildet.

Zwar war

er Asien zugewandt, aber der Mensch war stärker in ihm als das Land

und Europa stärker als Asien. Realistisch-positiv war er in dieser Natur geworden, mit starkem natürlichen Verstand und tief-religiöser Anlage, an­ passungsfähig (mit der „russischen Akzeptivität", wie A. Herzen sagt),

wenig originell, oft rätselhaft in seinen Instinkten, harmlos kindlich und

weich (mit dem „russischen Mitleid" Dostojewskis), aber auch bestialisch-wild und roh, groß vor allem in passiver Widerstandsfähigkeit und Tapferkeit,

schwach in aktivem Wollen und Ausdauern.

Unter allem Druck, der

schwerer auf ihm lastete als je auf einem europäischen Volke, wahrte sich

dies VolksMm doch eine naturwüchsig starke sittliche Kraft. Anziehend und abstoßend zugleich war sein,Charakter geworden, nicht völlig rätselhaft,

aber schwer zu begreifen. Seine Psychologie haben weder das neue Rußland

seit 1855 noch das neueste seit 1905 wesentlich geändert.

II. Kapitel.

Die Entstehung des modernen Rntzlauds nnd die Voraussetzungen der Revolution von 1905. I. Die Reformen Alexanders II. Der Entwicklung des Staates zum europäischen Großstaat und der

äußeren Europäisierung seines Aufbaues und der Gesellschaft hatte eine Durchdringung mit der westlichen Kultur noch nicht in gleichem Maße

entsprochen.

Dieser

Widerspruch

wurde

schon

im

18.

Jahrhundert

empfunden; man fühlte, daß das, was dieser Staat beanspruche und dar­ stelle, nicht dem entspreche, was er für sein Volk und was dieses Volk wieder­

um für die Menschheit leiste. Und ebenso früh empfand man den Wider­

sinn, daß die bestehende Staatsorganisation auch nur die Erörterung dieser Fragen, die Diskussion eines stärkeren Anschlusses an die europäische

Ideenwelt nicht dulden zu können glaubte.

Daher konnte die geistige

Bewegung, die diesen Widerspruch zu lösen strebte und forderte, so wichtig sie ist, bis zur neuesten Zeit nur einen kleinen Teil des Volkes erfassen.

Sie mußte sich auf die sog. Intelligenz*) und einen Teil des Adels, des Beamtentums und Offizierkorps beschränken, da der Versuch, den der

Nihilismus in den 70er Jahren machte, die Bauern zu gewinnen, voll*) Dieser Begriff ist in allen slawischen Ländern sehr beliebt und in seinem Umfange klar. Eigentlich alle umfassend, die lesen und schreiben können (gramotnhe), bezeichnet er vornehmlich die liberalen Berufe (Anwälte, Arzte, Lehrer, Schriftsteller u. dgl.). Er überläht es dem Beamtentum, wieweit es sich selbst zu dieser sozialen Gruppe rechnen will, die bewußt den Fortschritt, ja den Radikalismus vertritt und überall da eine große Rolle spielt, wo eine starke Aristokratie oder Bourgeoisie noch fehlt. Das ist in Kernrußland der Fall, während in Polen und seinem fertigen sozialen Bau, ebenso wie in den Ostseeprovinzen, diese Kreise heute bereits die richtige Stelle und Bedeutung haben.

41

Die Entstehung des modernen Rußlands.

ständig scheiterte. Von einer die bestehenden Zustände ernstlich bedrohenden geistigen Bewegung ist daher erst zu reden, seitdem ein industrielles

Proletariat die Verbindung mit der Intelligenz fand.

Deshalb ist hier

zunächst wichtiger als die geistige Bewegung, die mehr Vorbereitung der

Gegenwart ist, die große Arbett der staatlichen Reformen, die sich mit dem Namen Alexanders II. verbindet).

Das System der ausschließlich auf die Zwecke des Staats eingestellten

politischen und sozialen Ordnung war schon vor Alexander II. in einem wesentlichen Zuge verändert worden.

Peter III. hatte 1762 die Dienst­

pflicht des Adels, die ohne Unterschied bestand und zu einem großen Teile Voraussetzung und Bedingung seines Landbesitzes bildete,

aufgehoben.

Dieser Schritt war an sich ebenso notwendig gewesen, wie die Modifizierung

der Lehen in Westeuropa, da das auch in Rußland eingeführte moderne Heerwesen den Lehnsritterstand hier ebenso überflüssig gemacht hatte wie im

Westen. Dann aber war an dieser Stelle das Band zwischen Gesellschaft und Staat zerschnitten; der Adel besaß seitdem sein Land zu freiem Eigen­

tum und hatte nur noch eine moralische Verpflichtung zum Dienst gegen den Staat, die hier freilich besonders stark weiterwirkte. Es gelang ja nicht,

wie in Preußen, im Adel ein richtiges Verhältnis zwischen dem unab­ hängigen Grundbesitzer und dem Offizier oder Staatsdiener herzustellen.

Der Adel bedeutete als Stand nichts mehr, auch die korporative Verfassung

Katharinas II. für ihn änderte daran nichts; an seiner Statt stand als

geschlossene Klasse der neue Beamtenstand der „Tschinowniki", in der Adel und Nichtadel ineinander aufgingen.

Die organische Ergänzung der Dienstverpflichtung des Adels war im absoluten Rußland die Abhängigkeit, die Leibeigenschaft der Bauern

gewesen, deren Aufhebung die logische Folge der Aufhebung der staatlichen Dienstpflicht für den Gutsbesitzer gewesen wäre. Gegen die Leibeigenschaft

ist seit Ende des 18. Jahrhunderts Sturm gelaufen worden; tatsächlich wurde an ihr nichts geändert, obwohl sich Katharina II. wie Alexander I. und auch Nikolai L. lebhaft damit beschäftigt haben.

Am Ende der Regierung Nikolais I. aber, der noch einmal und mit imponierender Kraft das alte Rußland verkörperte, zeigte sich, daß dieses System absoluter Staatsgewalt und unbedingter Zentralisation, das die

*) Eine auch nur.entfernt genügende deutsche Darstellung dieser Reformen fehlt völlig; russische Werke s. im Literaturverzeichnis.

IL Kapitel.

42

individuelle Freiheit und die Verbindung mit Gedanken Westeuropas grundsätzlich ausschloß, nicht einmal seine Aufgaben für die politischen Zwecke erfüllte, für die es da war und in denen es seine Rechtfertigung

fand.

Diese Erkenntnis verbreitet und vor allem in den maßgebenden

Kreisen durchgesetzt zu haben, ist die große Bedeutung des Krimkrieges. Mit der Überzeugung, daß es mit diesem System nicht weitergehen könne,

weil es sich in der großen Probe des Kampfes gegen England und Frank­ reich nicht bewährt hatte, setzt die Einleitung zu der Geschichte des neuen

Rußlands ein. Der Grundgedanke für die Arbeit, die nun beginnen sollte, ist wenigstens in den Karsten Köpfen der Reformzeit der gewesen, die be­

stehende Staatsorganisation umzubilden und dadurch zu ergänzen, daß die Kräfte der Gesellschaft zu freier Mitarbeit am Staate entbunden

würden. Dafür hatte die — immer illegale — geistige Bewegung unab­ hängig vom Staate auf das stärkste vorgearbeitet.

Ihre Phasen waren

gewesen: die Berührung mit den Ideen von 1789, die durch den Aufent­

halt der russischen Armee auf französischem Boden gewonnen worden

war und im Aufstande der Dekabristen schon ihre Früchte getragen hatte, — der Aufschwung der schönen Literatur seit Puschkin und Ler­ montow —, die Arbeit der „Männer der 40er Jahre", — der geistige

Kampf der Slawophilen und „Westler". Noch einmal aber muß unter­ strichen werden, daß diese geistige Bewegung nur auf die oberen Schichten

beschränkt blieb, daß sie nicht revolutionierend wirken konnte, weil sie an das Volk gar nicht herankam, und weil sie auch in den gebildeten Schichten fortwährend durch Staat und Polizei gehemmt und unterbunden wurde.

Daher fehlt in Rußland eine allgemeine geistige VorbereiMng, wie sie die

Reformzeit in Preußen zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorfand. Tie

Formeln für die Reformen sind im Kampf der Geister geprägt worden bis zu der letzten Konsequenz, der Forderung einer Verfassung, aber das

Werk selbst, die Durchführung der Reform, ist ausschließlich Arbeit und Verdienst des Staates, d. h. des Zaren und seiner Diener gewesen.

Das Urteil über Alexander II. lautet gemeinhin in dieser Beziehung ungünstig, weil er die Reformarbeit in der zweiten, längeren Periode seiner

Regierung aufgegeben hat. Aber trotzdem steht er am Beginn der neu­

zeitlichen Geschichte Rußlands, und ist dieser Beginn sein persönlickes Verdienst.

Ein Verdienst weniger der Einsicht — denn daß es anders

Die Entstehung des Modernen Rußlands.

48

werden müsse, war allgemeine Überzeugung geworden, und wie es anders werden sollte, darüber war auch genug diskutiert und geschrieben worden —

als des Willens und der Tatkraft, die den Widerstand der konservativen

Tendenzen in der eigenen Familie, am Hofe, im Adel und Beamtentum überwanden und in sehr kurzer Zeit die Grundsteine für den Neubau legten.

Sicherlich war Alexander dabei insofern im Vorteil, als Rußland die

Vorbilder der westeuropäischen Staaten für diese Arbeit vor sich batte. Daß

diese,

insonderheit

das preußische, das

Werk der

Reform

sehr

stark beeinflußt haben, ist keine Frage, wenn es auch in der russischen

Geschichtsschreibung wenig zum Ausdmck kommt.

Und weiter konnte

Alexander sein Volk mit der ganzen traditionellen, durch nichts gehemmten

Macht des Zarentums in diese Bahnen leiten; der Widerstand, den er fand, ist dem, der sich in Preußen den Reformen entgegenstellte, nicht zu

vergleichen. Aber schon darin lag auch eine Schwäche. Alle Verantwortung legte sich auf die Schultern eines Mannes, zugleich mit der lähmenden

Frage, auf die das Zarentum bis heute keine es selbst befriedigende und be­ freiende Antwort gefunden hat: ob nicht diese Umbildung des eigenen Staates und Volkes in die Bahn des westeuropäischen Individualismus

und Konstitutionalismus hinein mit der grundlegenden Veränderung des

bestehenden Systems auch die Stellung der Dynastie, die innere Geschlossen­

heit des Einheitsstaats und seine Stellung nach außen gefährlich erschüttere. In dem Zweifel, den diese Frage aufrührte, besonders als die Einwirkungen

des Aufstandes in Polen dazukamen, liegt schon die psychologische Er­ klärung dafür, warum den ersten frohen Jahren der Erwartung und

Reform so schnell die Enttäuschung unt) Kritik, die Reaktion und eine schnell immer schärfer werdende Opposition folgten. Mit der Reformgesetzgebung hat der Ukas von: 19. Februar/3. März 1861 über die Auflösung der gutsherrlich-bäuerlichen Abhängigkeitsver­

hältnisse begonnen. Die Bauernbefreiung ist dabei in beit Bahnen ähnlicher Gesetzgebungen Westeuropas vor sich gegangen, ist aber auf halbem Wege stehen geblieben. Denn sie hat lediglich die Gebundenheit des Bauern an seinen Grundherrn aufgelöst, den sie durch vom Bauern an ihn zu ent­

richtende Loskaufszahlung und Abtretung von Land entschädigte. Sie hat so, radikaler und sofort durchgreifender als in Preußen, das Band zwischen

Herrn und Bauer mit einem Male zerrissen, aber sie setzte für den Bauern

an die Stelle der Abhängigkeit von: Herrn nun die Abhängigkeit von der

44

n. Kapitel.

Gemeinde. Denn sie hat nicht die Gebundenheit des Bauern an diese, an die agrarische Zwangsgemeinschast des Mir, und an seine Großfamilie beseitigt, und hat damit eine Quelle größter Mißstände und sozialer Krankheiten er­

halten.

Diese zweite notwendige Hälfte der Bauernbefreiungsgesetzgebung

hat dämm erst unter dem Dmcke der Revolution in der Gegenwart nach­ geholt werden müssen. Aber trotz dieses schweren Fehlers wurde mit der

Reform ein gewaltiger Schritt vorwärts getan.

Es ist die größte soziale

Bewegung seit der französischen Revolution und eine Bewegung, die ohne Bürgerkrieg, nur durch die Tatkraft eines einsichtigen Autokraten durchgeführt worden ist.

Mit ihr erst konnte der Kapitalismus ein­

dringen, durch sie erst die im Lande noch fast völlig fchlende Bourgeosie entstehen, wie sie auch die Entwicklung eines ländlichen Proletariats nicht nur nicht verhindert, sondem sogar gefördert hat.

Die Bauern­

befreiung bedeutete noch keine unbedingte Mobilisierung des Eigentums am Land und ebenso nicht der freien Arbeit, die Voraussetzung des modernen Industrialismus und Kapitalismus ist. Aber ein weiter Schritt

in dieser Richwng wurde getan, der Grund zu einer kapitalistischen Volks­ wirtschaft gelegt, deren von vomherein noch zwiespältiger Charakter freilich

damit gleich gegeben war.

Die Bauembefreiung hat maßgebend auch auf die Lage des Adels eingewirkt, der ebensowenig wie das Bauerntum auf diesen jähen Über­

gang in die kapitalistische Wirtschaft vorbereitet war. Denn er wurde mit einem Male auf die Basis freier Arbeit gestellt und vom Getreideexport ins

Ausland abhängig gemacht. Es ist dämm nicht verwunderlich, daß dieser ganz unvermittelte Umschwung nicht nur vom Bauernstande, sondern auch

vom Adel teuer bezahlt werden mußte.

Der nächste Schritt war die Reform der Justiz (2. Dez. 1864). Man

schuf die Organisation der Gerichtsbehörden und die Zivilprozeßordnung, die in der Hauptsache heute noch gelten, und wollte bewußt die europäische

Form dieser Ordnungen auf russischen Boden übertragen.

Das war

nach zwei Richtungen von epochaler Bedeutung. Die Trennung der Justiz

von der Verwaltung löste die Rechtsbeziehungen aus der bisherigen Ver­

quickung mit der Verwaltung heraus und vermochte die Rechtsprechung selbst im Sinne einer für alle gleichen und unbestechlich richtenden Justiz

zu modernisieren.

Dieser große Fortschritt konnte selbstverständlich nicht

in kurzer Zeit praküsch werden. Denn auch der Richterstand trug dieselben

Die Entstehung des modernen Rußlands.

45

Züge an sich wie das ganze Beamtentum, und fomtte, aus denselben Wurzeln wie dieses erwachsen und nachdem er sich ebenso als eine vom

Zaren abhängige, ihr Amt als Nährquelle ausnutzende Beamtenklasse wie

alle anderen betätigt hatte, nicht in wenigen Jahren zu einer gebildeten und unbestechlichen „Noblesse de Robe" werden. Hier mußte die Wirkung der Zeit abgewartet werden, wenn nur der Wille des Staates, die Reform weiterzuführen, ununterbrochen derselbe blieb. Bedenklicher war es, daß auch hier die Arbeit, entsprechend der

Bauernbefreiung, auf halbem Wege stehen blieb.

Indem man die Dorf­

gemeindeverfassung nicht auflöste, beseitigte man auch nicht ihre Gerichts­

autonomie und die ständige Absonderung der Bauern vom übrigen Volke. Es beeinträchtigt den

sozial-geschichtlichen

Wert der

Rechts-Reformen

Alexanders H. und daher ihre Bedeutung für die Neugestaltung Rußlands

außerordentlich, daß sie sich in der Gerichtsorganisation nur auf die nicht­ bäuerliche Minderheit des Volkes beschränkten und für die bäuerliche Mehrheit nur Polizei- und Kontrollmaßregeln brachten. Infolgedessen ist jener Fortschritt nur der Minorität zugute gekommen und stand die Gegen­

wart, die unter dem Drucke der Revolution das gleichfalls nachholen sollte, nicht nur vor der Aufgabe, die bäuerliche Mehrheit des Volkes auch hier mit

dem übrigen Volksteil zu verbinden und die Rechtsprechung für sie zu modernisieren, sondern für sie überhaupt erst ein bürgerliches Recht zu

schaffen. Von größter Wichtigkeit aber war, daß dieses Justizreformgesetz für

alle Gebiete, in denen die neuen Gerichtsordnungen eingeführt wurden, die

Kabinettsjustiz gmndsätzlich aufhob: der absolute Zar band sich freiwillig,

indem er der unmittelbaren Ausübung der richterlichen Gewalt entsagte. Freilich ist die Unabsetzbarkeit der Richter als unumgängliche Voraus­

setzung einer unabhängigen Justiz später nicht gewahrt worden. Daß ferner die Amtsverbrechen vom Geschworenengericht eximiert und politische Ver­

brechen Sondergerichtshöfen ohne Geschworene zugewiesen waren, minderte

den Wert dieser Reform herab und ließ bis zur Gegenwart der Verwaltung

nach wie vor einen großen Einfluß auf die Rechtsprechung. Aber der grundsätzliche Fortschritt war groß und er führte naturgemäß die Reformwünsche

weiter zu der Idee, das so in seiner rechtlichen Existenz sichergestellte Boll nun auch unmittelbar an der Bestimmung der Geschicke des Staates

zu beteiligen.

11. Kapitel.

46

Daß der Gedanke einer Verfassung in diesen Jahren von vorn­ herein gehegt wurde, lag zu sehr im Gange der Reform, und dafür sonnte auch an freilich vergessene Erinnerungen der Vergangenheit ange­

knüpft werden. Vorher aber faßte Alexander die Frage von einer anderen Seite an.

Man konnte das Volk, die Gesellschaft zur Mitarbeit an den

Aufgaben des Staates heranziehen entweder in einer Verfassung, durch

Parlament und

Wahlrecht, oder durch die

Verwaltung, durch

eine

Organisierung der Gesellschaftsgruppen und Übertragung staatlicher Ver­

waltungsausgaben an sie.

Der letztere Gedanke mußte im russischen Staate

naheliegen, wo die Gesellschaft schon vollständig durch den Staat organisiert worden war. Katharina II. hatte im Jahre 1785 eine Städteordnung

verliehen und 1775 die Organisation des Adels geschaffen, die heute noch besteht, die zunächst nur für die Standesinteressen des Adels bestimmt,

organisch mit der Staatsgewalt verbunden ist: an der GouvernementsverwalMng und ihren Untergliedern hat der Adel sehr starken Anteil und

Einfluß. Für die bäuerliche Welt bestand schließlich seit alters die Auto­

nomie der Dorfgemeinde, die nach unten und im Innern ihre Angelegen­ heiten in staunenswerter Selbständigkeit ordnete. So war der Gedanke der Selbstverwaltung im Zusammenhang der alexandrinischen Reformen nicht so revolutionär und neu, wie er zuerst

erschien. Für die weitere Ausbildung aber fand der Zar innerhalb seines Reiches, in den Ostseeprovinzen, ein trefflich arbeitendes Vorbild, das schon

für die Bestrebungen Katharinas auf diesem Gebiete benutzt worden ist.

Denn wenn auch für die 1864 begründete Landschaftsorganisation (die sog. Semstwos) wohl die preußischen Einrichtungen mit als Anregung benutzt wurden, so hat doch namentlich die ritterschaftliche Selbstverwaltung der deutsch regierten baltischen Provinzen als Vorbild gedient. Jedenfalls führte

das Gesetz vom 13. Januar 1864 in den „Semstwos"^) eine Organisation

der SelbstverwalMng ein, die von beinahe gleicher Bedeutung werden

konnte, wie die Befreiung der Bauern. Ausgesprochenermaßen war die

Absicht, wie es in der Denkschrift zum Entwurf heißt, „nach Möglichkeit die volle und folgerichtige Entwicklung des Prinzips der lokalen Selbst­

verwaltung". Mit diesen Kreis- und Gouvernementssemstwos, mit ihren

Kreis- und Gouvernementsämtern (Uprawa) wurde ein Element in den *) Das Wort wird Wohl am besten mit Landschaft wiedergegeben.

Die Entstehung des modernen Rußlands.

47

russischen Staatskörper eingeführt, das der preußischen Selbstverwaltung durchaus entspricht, und oberflächlich ist das Semstwo in Kreis und Gou-

vernement damit charakterisiert, wenn nlan sich seine Tätigkeit, wie die von Kreistag und Kreisausschuß, von Provinziallandtag und Provinzialausschuß in Preußen vorstellig.

Damit und mit der neuen Städteordnung von 1870, die den Ge­ danken kommunaler Selbstverwaltung in weitem Ausmaß verwirklichte, trat nun aber doch ein neues Prinzip in das Staatsleben ein. Rußland hatte jetzt die Möglichkeit, die aktiven Kräfte eines Liberalismus, der durch

die geistige Bewegung entstanden war, in der Selbswerwaltung zu wirklich konstitutionellem

Denken, zum

Gefühl staatsmännischer

Verantwort­

lichkeit zu erziehen. Wer die Reihe der politischen Führer in der Gegenwart überblickt, sieht auch, wie segensreich diese Semstwoeinrichtung geworden

wäre, wenn man sie sich ungestört hätte betätigen lassen. Man ist in und

außerhalb Rußlands im Urteil über diese Reform geneigt, die Leistungen der Semstwos entweder zu überschätzen oder sie zu gering zu bewerten.

Wo sie auf dem Gebiete der Volkswohlfahrt und des Schulwesens etwas leisten konnten, haben sie ungemein segensreich gewirkt. Daß sie öfter ver­

sucht haben, ihre — nicht Kar bezeichneten — Grenzen zu überschreiten, und daß ihre Finanzwirtschaft nicht überall musterhaft war, ist gleichfalls

richtig.

Aber ohne Zweifel sind die Elemente, die die Entwicklung

Rußlands ruhig und organisch weiterführen wollen und ein Augenmaß für das politisch Mögliche haben, beinahe durchgängig aus der Schule der Semstwoverwaltung

gekommen.

Wenn

trotzdem aus

dieser Reform

nicht die Voraussetzung für ein gesundes konstitutionelles Leben, die daraus hätte entstehen können, geworden ist, so lag die Schuld zunächst daran, daß

man die nötige verwalMngsrechtliche Lösung, die Teilung der Gewalten

zwischen Staats- und Selbstverwaltungsbehörden, nicht gefunden und so

den Konflikt zwischen Selbstverwaltung und Staatsverwaltung, in dem die Bureaukratie natürlich im Vorteil war, verewigt hat. Später wurde der Charakter des SelbstverwalMngsorgans im Semstwo auch bewußt und durch gesetzgeberische Maßregeln immer mehr eingeengt und auf die

Stufe eines staatlichen Beratungsorgans heruntergedrückt. Auch hier blieb

die Reform stehen, gewissermaßen am zweiten Drittel ihres Weges, der l) Näheres s. Kap. VII.

48

II. Kapitel.

dann ein ganzes Teil wieder zurückgegongen wurde. Dadurch wurde die

Bedeutung der Einrichtung für die Zukunft gelähmt und die Elemente der Gesellschaft, die dafür in Frage kamen, in den Radikalismus herein­

getrieben. Bei seiner Begründung wurde das Semstwo vor allem deshalb mit

großer Begeisterung ausgenommen, weil es Anfang und Voraussetzung für eine Konstitution zu sein schien, wie auch der Moskauer Adel gleich damals bat, das ganze Werk durch die Bemfung einer allgemeinen Versammlung

von „aus dem russischen Volk gewählten Leuten" zu krönen. Es kamen da Vergangenheit und Gegenwart merkwürdig zusammen.

Obwohl die

Reichstage (semskie Sobory) der Moskauer Zeit seit Mitte des 17. Jahr­ hunderts verschwunden waren*), lebte die Erinnerung daran, daß selbst

in diesem Lande eines schrankenlosen Absolutismus früher auch das Volk in seiner damaligen ständischen Gliederung an den Aufgaben des Staates

mitgewirkt hatte, noch fort, wie sie auch 1904 sofort wieder neu belebt worden ist. Andererseits lag, wenn einmal das Zarentum gewisse Gebiete

der staatlichen Verwaltung an die Selbstverwaltung abgab, der Gedanke nahe genug, die Organisation der Semstwos durch ein Reichssemstwo

abzuschließen. Wollte man eine Rechtfertigung dafür auch aus der Geschichte der Romanows selbst, so lagen die Verfassungsentwürfe vor, die Speranski

1809 und Nowossilzow zwischen 1819 und 1821 für Alexander I. gemacht

haben. Aber Alexander II. konnte sich zu diesem letzten Schritt nicht ent­ schließen. Er hat auch nicht das Gefühl gehabt, daß er gerade mit seinen Reformen Kräfte entfesselte, die zu diesem Abschluß drängen mußten, und

daß es staatsklug gewesen wäre, die Entwicklung selbst fest in die Hand zu

nehmen und weiterzuführen. Besonders unter dem Eindrücke der Atten­ tate auf ihn — das erste, von dem die Schwenkung des Zaren datiert, ist

das Karakosows am 15. April 1866 gewesen — hat Alexander diese Ver­ fassungspläne bis kurz vor seinem Ende liegen gelassen. Es liegt eine un­

geheure Tragik nicht nur für Alexander als Menschen, sondern für die Ge­

schichte des neuzeitlichen Rußlands überhaupt darin, daß, als Alexander II.

am 13. März 1881 von dem tödlichen Bombenwürfe getroffen wurde, wenigstens der Ansatz zu einer Verfassung in seinem Kabinett unter­ schrieben vorlag: die sogenannte Konstitution des Grafen Loris-Melikow").

*) Die Einrichtung ist in Europa ganz unbekannt geblieben. 2) Seit 18. August 1880 Minister des Innern.

Die Entstehung des modernen Rußlands.

49

Sie hätte zunächst die Wünsche der konstitutionellen Semstwomänner

wenigstens

einigermaßen

befriedigt,

indem

sie

eine

Kommission

aus

Semstwo- und Städtevertretern und ernannten (auch Regierungs-)Mitgliedern zur Ausarbeitung dringender Gesetze, also eine , Art von Volks­

vertretung in Aussicht nahm. Wie anders wäre die Entwicklung Rußlands verlaufen, wenn das Reformwerk der sechziger Jahre früh genug in dieser Weise gekrönt worden wäre! —

Es war schließlich noch nach zwei Richtungen ergänzt wordm. Zu­

nächst mußte die beginnmde Befreiung des Individuums von einer um­ fassenden Reform des Unterrichtswesens begleitet sein. Freilich haben das

UniversitätsstaMt von 1863 und die neue Ordnung für die Mittelschulen

bei weitem nicht das getan, was geschehen mußte, und die Reaktion hat nicht einmal diese Keime zur Entwicklung kommen lassen. Vor allem auf dem

Gebiete des Volksschulwesens geschah zu wenig, reichte, was geschah, nicht

entfernt an das Notwendige heran; dem Gedanken der allgemeinen Schul­ pflicht, der so eng mit diesen Reformideen zusammenhing, blieb man ganz fern.

Was wirklich geschah, geschah durch die Semstwos; sonst blieb die

ungeheure Arbeit auf diesem Gebiete vollständig dem Rußland seit 1904 überlassen. Diesen Überblick schließt die Armeereform sinngemäß ab. Das Gesetz

von 1874, das Werk Dmitri Miljutins (f 1912), führte die allgemeine Wehrpflicht ein und setzte die aktive Dienstzeit, die ursprünglich volle 25

Jahre gedauert hatte, aber schon früher auf 12 und 10 Jahre herabgesetzt worden war, auf 5 fest. Bei der Lage des Volksbildungswesens bedeutete der

Dienst in der Armee, durch den nun jeder gehen mußte und der freilich

in diesem am Anfang des Kapitalismus stehenden Lande die jungen männ­

lichen Kräfte 5 Jahre der Erwerbszeit fern hielt, einen wichtigen Teil der Erziehung; für die Europäisierung des Bauern ist die allgemeine Wehr­

pflicht fast wichtiger geworden als alle anderen Reformen zusammen.

So ist ein gewaltiges Stück Arbeit in den wenigen Jahren von 1861 bis 1864 geleistet worden, in denen sich der Gedanke einer Umgestaltung

Rußlands frei entfalten konnte. Wenn auch die Sympathien der Bureau­ kratie rasch erschöpft waren und sich eine erfolgreiche Reaktion aus Hof,

Adel und Beamtenschaft gegen jede Reform bald sammelte, so war doch eine soziale Entwicklung durch die Autokratie begonnen worden, über deren

Bedeutung sich diese selbst kaum klar war. Hoetzsch, Rußland.

Halbheft und Mangel an 4

50

II. Kapitel.

Konsequenz werden mit Recht den Reformm Alexanders II. vorgeworfen,

aber ohne sie wäre Rußland entweder in völlige Stagnation versunken

oder durch eine Revolution erschüttert worden, gegen die die Bewegung der Gegenwart ein Kinderspiel gewesen wäre.

n. Die geistigen Voraussetzungen der Revolution bis z« Mexander II. Aller geistigen Vorbereitung zur Revolutton hat der Absolutismus des 19. Jahrhunderts eine wesentliche Voraussetzung immer unterbunden: die Freiheit nicht nur der Organisation, sondern auch die der legalen

Rede und Erörtemng. Daher die beiden Charakterzüge der geistigen Be­ wegung im 19. Jahrhundert: sie vollzieht sich illegal, oft geheim und revolutionär, verschleiert häufig durch die Formen der schönen Literatur,

die dadurch einen ganz tendenziösen Charakter erhält.

Und sie geht, im

engsten Zusammenhang zwischen Philosophie, LiteraMr, Religion und Politik, ohne zureichende erkenntnistheoretische Gmndlegung und mit großer Vorliebe für ethische Fragen, fast ausnahmslos die Bahnen völlig ab­ strakten, extrem-doktrinären Denkens, in einer Intelligenz, von der man

treffend gesagt hat, daß der russische Bauer ihr Vater und Frankreich ihre

Mutter sei, für die besonders das geistreiche Wort eines Russen gilt: „Vielleicht liegt es an der Kraft des jungfräulichen russischen Bodens, daß

jegliches darauffallende Samenkom sich bis zu den äußersten Grenzm der

Möglichkeit auswächst."

Im 19. Jahrhundert sind als vorbereitend für die Revolutton und zugleich politisch-parteibildend zu unterscheiden: die geheimen Gesellschaften

und die Dekabristen unter Mexander I., — die literarische Bewegung der 40er Jahre •—, die Slawophilen und die sog. Westler, — Nihilisten und

Sozialrevolutionäre —, die Richtungen unter Nikolai II. bis 19041). Zwischen den ersten vier zusammen und der fünften besteht der grund­

sätzliche Unterschied, daß jene nur Bewegungen der Intelligenz sind, obwohl der Nihilismus versucht hat, die Bauern, und die Sozialrevolutionäre sich

*) Der Raum gestattet nicht die Angabe von vielen Zahlen und Titeln; dafür sei auf die im Literaturanhang zitierten Werke von Kropotkin, Masarhk und Wolkonski verwiesen.

Die Entstehung des niodernen Rußlands.

51

bemüht haben, die Arbeiter mobil zu machen. Aber erst in der Gegenwart

erhalten diese geistigen Strömungen ein breiteres und tieferes Bett, indem erste

Streiks^),

die

Anfänge

sozialdemokratischer

Parteibildung,

Be­

rührungen zwischen Intelligenz und Arbeiterschaft, politische Gärungen

im Bauemstande entstehen. Alles das fehlte den älteren Richtungen, deren große Bedeutung in ihrem Einfluß auf die Geister, auf das Denken der

Führer liegt und deren Gedanken alle noch in der geistigen Struktur des politischen Russen der Gegenwart nachleben.

Wenn man von den Freimaurerbünden unter Katharina II. ab­ sieht, ist der wesentlichste Anstoß für die Entwicklung der politischen Ideen der schon erwähnte Aufenthalt der russischen Armee aus französischem

Boden während der Befreiungskriege gewesen.

Er brachte das Offizier­

korps in Berührung mit den Ideen von 1789, überhaupt mit der euro­

päischen Gedankenwelt, und führte in ihm und den ihm nahestehenden

Kreisen zu einer Revision der herrschenden Anschauungen, die bald über diese Hinaustrieb. den

sie

alle in

Gleich diese erste Bewegung zeigt den typischen Gang, Rußland seitdem

eingeschlagen

haben:' man nimmt

neue — philosophische, politische, volkswirtschaftliche — Ideen rasch an und

läßt aus ihnen ein Streben gleich nach den äußersten Reformen erwachsen,

das an den bestehenden Gewalten scheitert und erstaunlich schnell erst theoretisch, dann praktisch zu Gedanken an gewaltsamen Umsturz führt.

Die Anhänger dieser Offizierbewegung sind die Träger der ersten großen politischen Reformbewegung in Rußland. Sie haben die Grundsätze

einer Verfassung diskutiert und erscheinen mit ihren Grundforderungen als

erster Ansatz zu einer politischen liberalen Partei.

Freilich ergab sich der

Widerstreit zweier Richtungen unter ihnen aus der Lage der russischen

Verhältnisse schon von selbst.

Den einen, Pestel an der Spitze, lag die

gewaltsame Durchsetzung ihrer Wünsche näher, während die anderen ihre

Ziele und Wege mehr auf der Seite der Reform suchten: Nikolai Turgenjew

kann als ihr Typus gelten, der sich auf der Universität Göttingen und im Verkehr mit dem Freiherrn vom Stein seine tiefgreifenden Reform­

gedanken über Steuer- und Zollwesen und namentlich über die Bauern­

befreiung schuf. Die Richtung Pestels überwog: im Dezember 1825 brach *) 1896 der berühmte erste Versuch eines gewerkschaftlichm Massenkampfes in Petersburg.

H. Kupilci.

52

die als Dekabristenverschwörung bekannte Militärrevolte aus, für die der Boden in Geheimgesellschaften vorbereitet wordm war. Parallel mit ihnen

und sie stützend ging die allgemeine Opposition am Hof und in der Gesell­ schaft, die sich, da eine andere Form politischer Meinungsäußerung un­

möglich war, der schönen Literatur bediente.

Puschkins und Rylejews

Verse, Gribojedows berühmte Komödie „Verstand bringt Leiden" geben diese Stimmung wieder. Ihre von nun an typischen Elemente: oppositio­

nelle Literatur und politische Verschwörung, der alte absolutistische Druck

und die schärfste Ablehnung des Staates durch eine Gesellschaft, die doch noch ganz in seinen Dienst gepreßt war, geben dem Staatsleben des 19.

Jahrhunderts das Dumpfe und Ungesunde und entsittlichen in ihrem

Gegensatz sowohl die Träger der alten Ordnung wie die Verfechter der Umgestaltung. Ohne Mühe wurde der Dekabristenaufstand niedergeworfen. Es be­ gann das 30jährige Regiment Nikolais I., das die Beherrschung der Ge­ müter durch den Absolutismus bis in die äußersten Konsequenzen durch­

geführt hat. Die fortarbeitende Umbildung der Geister in Opposition und

Negation hat es gleichwohl nicht aufhalten können. Jetzi erst gewinnt die Belletristik ihre ungeheure Bedeutung für die politischen und sozialen Betvegungen. Der Druck der Zmsur führte dabei zu höchster Ausbildung der Geschicklichkeit, den Leser in einer nur andeutenden oder doppelsinnigen

Ausdrucksweise das „zwischen den Zeilen lesen zu lassen", wie man es technisch nannte, was man aus Angst vor der Polizei offen nicht sagen

konnte. Kunst und Dichtung galten als mächtigste soziale Hebel, — diese Anschauung hat am schärfsten und erfolgreichsten der Schöpfer der litera-

risch-publizistischen Kritik, Rußlands größter Kritiker, W. G. Bjelinski (1811—1848) vertreten. „Es erschien nicht seltsam, ein Schauspiel für die

Verteidigung des Freihandels oder ein Gedicht zum Lobe einer gewissen Art von Steuern zu schreiben, noch daß man in einer Erzählung seine

staatlichen Ansichten darlegte, während der Gegner in einem Lustspiele dagegen stritt." Darum kann man die Phasen des politischen und sozialen

Denkens leicht an den Männerthpen und Helden der großen Dichter ver­ folgens: Puschkins Eugen Onjegin, Lermontows Petschorin, Gontscharows *) Am wichtigsten sind Turgenjews Romane, in der Reihenfolge, wie sie der

Dichter selbst gelesen wünscht: Dmitri Rudin (1855), Das Adelsnest (1859), Am

Vorabend (1860), Väter und Söhne (1862), Dunst (1867), Neuland (1876).

Die Entstehung des modernen Rußlands.

53

Oblomow, Herzens Beltow, Turgenjews Basarow, desselben Neschdanow

und Solomin (in „Neulands, Dostojewskis Stawrogin (in den „Dä­

monen^ und die Tolstoischen Gestalten. Nimmt man dazu noch ein Meister­ werk der so wichtigen Satire, Gogols Werke oder Saltykow-Schtschedrins „Herren Golowlew", dann Aksakows und Chomjakows Schriften, Katkows Lebenswerk und Bjelinskis Kritik, dann ist mit diesen Werken der schönen

Literatur schon fast der ganze politisch-soziale Gedankenkreis beschrieben, der bis an die Schwelle der Gegenwart geherrscht hat. Was klingt darin immer wieder? Die Opposition gegen den Staat, in dem man lebt, die ^Begeisterung für die Freiheit und die Ideale des

Liberalismus, später des Sozialismus, der Drang nach Reformen auf allen Gebieten, der Kampf um die Weltanschauung und die Auseinandersetzung mit den geistigen Strömungen des Westens, die Gefühle der Enttäuschung,

des Verzagens, der Resignation, des Pessimismus, des Weltschmerzes und der Weltverachtung, bis zur wildesten Verzweiflung an sich und an der Zukunft, religiös-mystische, manchmal an den Wahnsinn streifende

Verzückung, unendlich viel Reflexion und Zerfaserung des eigenen Fühlens und Denkens, unendlich wenig Wollen. Dabei bleibt bei allen, auch bei den Sozialisten, die Grundlage ein starker Glaube an das eigene Volk, eine rührende Vaterlandsliebe, die, manchmal phantastisch-religiös ge­

steigert, zu seltsam grotesker Überschätzung der Bedeutung und Rolle Rußlands im Weltgeschehen führt.

Es ist eine ungemein reiche geistige

Welt, zu einem großen Teile nicht gesund und ohne reale Fundamente,

oft ohne geistige Disziplin, nur verständlich im Zusammenhang mit ihrer politisch-sozialen Umgebung, auf die sie unbedingt wirken will, aber nur

sehr gehindert wirken kann. Schon vor 1840 waren die Körner gesät worden, aus denen die über­ haupt wichtigste gedankliche Weiterentwicklung aufging.

An der Uni­

versität Moskau hatte sich damals ein Kreis zusammen gefunden, dem nach und nach angehörten: Aksakow, Chomjakow, Katkow, Bjelinski, Bakunin, Herzen und Ogarjew. Das sind vornehmlich die „Männer der vierziger Jahre", deren geistiges Schaffen für das Wissen Westeuropas

von Rußland noch längst nicht ausgeschöpst ist, Männer von Generationen dauernder Wirkung auf das geistige Leben ihres Vaterlandes, seine eigentlich

selbständigen Denker, und daher die Führer aller kommenden geistigen Richtungen, die die Zeit Alexander II. erfüllen: Slawophilen, Panflawisten,

II. Kapitel.

54

Liberale, Sozialisten, Anarchisten.

Sie stehen unter dem stärksten Ein­

flüsse des Auslandes, vor allem der deutschen Philosophie, demnächst der Naturwissenschaft und des Sozialismus von Marx und Engels, sie regten die Schwingen besonders, als mit Alexander II. eine neue und freiere Zeit

beginnen wollte. Bis 1863 hin gehen diese Jahre der Erwartung, die langsam trotz

aller Reformen zur Enttäuschung wird. In ihnen bildet sich der durch die Dekabristen und „Männer der vierziger Jahre" begründete Liberalismus

zu einem demokratischen Radikalismus um, der sozialistisch angehaucht

ist und auch schon Verbindungen mit revolutionären Gedanken des Aus­ landes, Mazzinis, Garibaldis u. a. findet.

Er trat in Widerspruch gegen

den aristokratischen Snobismus, der seinen typischen, schlagwortmäßigen Ausdruck in Gontscharows 1858 erschienenem „Oblomow" hatte.

Im

leidenschaftlichen Kampf gegen dies Oblomowtum, das überall ins Leere führte und jegliches Wollen lähmte, wird der Liberalismus radikaler, aktiver, befaßt er sich entschlossener mit konstitutionellen und volkswirtschaft­

lichen Gedanken. Das ist im ganzen die Geistesrichtung der sog. „Westler", so genannt, weil sie die Übertragung der politischen und sozialen Vor­

stellungen des Westens auf Rußland sans phrase fordern, dabei ohne weiteres annehmend, daß die russische Entwicklung nur zeitlich hinter der

Westeuropas zurück sei, aber der Art nach dieselben Bahnen gehe, gehen müsse, solle Rußland überhaupt aus Mittelalter und asiatischer Gebunden­

heit emporsteigen.

Diese „Westler" der vierziger, fünfziger und ersten

sechziger Jahre — N. Turgenjew, Bjelinski, Stankewitsch, Granowski,

Tschitscherin, zuletzt der Dichter Iwan Turgenjew — sind in Welt- und Staatsanschauung die geistigen Väter der heutigen „Kadetten". Noch nicht von ihnen scharf zu trennen war im Anfang die slawophile

und die Richmng Alexander Herzens. Die Begründer der Slawophilie sind

Kirjejewski, ihr stärkster philosophischer Kopf, Aksakow und Chomjakow; Juri Samarin, Katkow, Dostojewski führen sie weiter. Sie wurzelt in der Romantik, entstand unter Nikolai I. aus der Reaktion gegen die geistige

Vorherrschaft Europas über Rußland seit der Mitte des 18. Jahrhunderts und arbeitete, obwohl immer aufs stärkste westlich gebildet und beeinflußt,

mit Liebe die nationale und religiöse Sonderart des Slawentums und dcs

Russentums, beide Begriffe oft und besonders im Anfänge zusammen­ werfend, heraus. Deshalb betonte sie den grundlegenden Unterschied zweür

Die Entstehung des modernen Rußlands.

55

wesensverschiedener Kulturentwicklungen zwischen dem alten „heiligen"

Rußland und dem „faulenden" Westen, glorifizierte das Prinzip der Theokratie und Autokratie, verherrlichte Mir und Artjel als die nationalen Organisationsformen der Volkswirtschaft und gab der Vaterlandsliebe eine

besondere anspruchsvolle Nüance im Sinne etwa des Kawelinschen Wortes: „Wir sind das Volk der Zukunft. Nicht umsonst ist Jwanuschka der Narr

der Lieblingsheld der großrussischen Märchen. In der europäischen Völker­

familie sind wir Jwanuschka der Narr, aber denken wir daran, es wird

eine Zeit kommen, wo dieser Narr seine klugen Brüder überlisten wird." Oder tiefer und mystischer in dem messianischen Glauben des durchaus slawophilen Dostojewski, daß der Westen krank sei und am russischen Wesen

die Welt genesen solle. Auf diesem Boden erwuchsen später, nach 1863, nach der Niederwerfung des polnischen Aufstandes, die praktischen Forde­ rungen des aggressiven Nationalismus, d. h. die Russifizierung, dann, be­

sonders in den 70er Jahren, der politische Panslawismus und die Forde­ rung auch des wirtschaftlichen Abschlusses nach außen, der wirtschaftlichen

Autarkie, die sich

in

entschiedener

Schutzzollpolitik

ausdrückte.

Das

Reaktionäre, das allem Konstitutionalismus und aller Reform Feindliche lag jedoch nicht von vornherein in dieser Gedankenwelt.

Selbst Katkow

(1820—1887), der später zum extremen Führer der konservativen Richtung wurde, der größte, wenn auch nicht charaktervollste Publizist, den Rußland hervorgebracht hat, hat konstitutionelle Gedanken erörtert.

Und 'wenn

manche Slawophilen gegen eine Konstitution waren, so waren doch alle für die Emanzipation der Bauern.

Liberal war zuerst auch der Grundcharakter der Anschauung und

Tätigkeit Alexander Herzens (1812—1870), dessen, auch vom Zaren

gelesene, Zeitschrift „Kolokol" (Glocke) seit 1857, obwohl verboten, die öffentliche Meinung Rußlands jahrelang verkörperte, mindestens beherrschte. Ihm lag zunächst die Bauernbefreiung im Sinn; er ist nicht von vornherein

antizarisch

gewesen.

Aber er wurde bald

philosophisch wie politisch

radikaler, als ihm die Reformen nicht schnell genug gingen und durch

den Einfluß des viel mehr der kommunistisch-anarchistischen Bewegung

Westeuropas als der geistigen Bewegung Rußlands angehörendm Bakunin

(1814—1876). Wie schnell die Stimmung umschlug, zeigt schon 5 Jahre nach ter Thronbesteigung Alexanders IL eine Stelle aus Tschernhschewskis

offenem Brief an Herzen vom 1. März 1860: „Nur das Beil und nichts

56

H Kapitel.

/

anderes kann Rußland helfen. Deshalb soll die Glocke nicht zur Messe, sondern zum Sturm läuten." Wenn diese Ansicht so rasch um sich griff, so war daran nicht nur schuld,

daß die Ungeduld und die Neigung für das Extreme in Rußland besonders

groß war, sondern auch, daß sich die Regierung zu einer Gewährung der geistigen Freihest nicht entschließen konnte.

Namentlich wirkte die den

Universitäten gegenüber befolgte Politik aufreizend, geradezu revolutio­ nierend.

Auf den Universitäten mit ihren polizeilichen Beschränkungen

des akademischen Lebens, mit ihrem Proletariat, mit der zum Abstrakten

und zur Überschätzung des Wissens neigenden geistigen Disposition ihrer Schüler und auch ihrer Lehrer wurde darum der Boden für die den Libera­ lismus vornehmlich*) ablösende, übertrumpfende Stimmung des Nihilis­

mus Bereitet.

Begriff und Name des Nihilismus stammen bekanntlich von Iwan Turgenjew, der ihn in „Väter und Söhne" so meisterhaft geschildert hat,

daß man sein Porträt der Wirllichkeit in Rußland als Zerrbild empfand.

Gegen den übernommenen Despotismus aller Art, so definiert der Anarchist

Kropotkin (1842 geb.) den Nihilismus, konnte „nur eine starke gesellschaft­ liche Bewegung, die der Wurzel des Übels selbst einen Schlag versetzt

hätte, alles umbilden.

Und in Rußland nahm diese Bewegung, der

Kampf für die Jndividualstät, einen noch stärkeren Charakter an und wurde noch schonungsloser in ihrer Negation, als irgendwo anders".

Darum ist dieser Nihilismus keineswegs von vornherein Terrorismus und Anarchismus, er ist dem Sozialismus innerlich gerade entgegengesetzt, indem er einen ins äußerste Extrem getriebenen Individualismus und Sub­

jektivismus darstellt, der erst allmählich als geistige Struktur der mit den

alexandrinischen Reformen eingeleiteten neuen Zeit entstehen und sich durch­ kämpfen mußte und in diesen Anfängen allen Halt verlor, weil jede

rechtliche und sittliche, politische und soziale Norm ins Wanken gekommen war. Erst durch den Dmck von oben und außen ist diese geistige Strö­ mung in die „Propaganda der Tat", durch die sie dem Frühsozialismus nur ähnlich, aber nicht gleich wurde, gedrängt worden: fest 1868 wurde sie populäre Propaganda, seit 1877 zum Terrorismus. *) Zum kleineren Teile ging er, wie nachher zu zeigen ist, direkt zum Sozialismus über; dieser Übergang stellt sich am besten in der Erscheinung

Tschernhschewskis dar.

Die Entstehung des modernen Rußlands.

57

So lassen sich in den Anfängen Alexanders II. diese Ansätze zu politischer Parteiung unterscheiden: der gemäßigt liberale Adel — die liberal-radikale Schicht der Intelligenz, die schon ins Sozialistische einlenkte,

— der Nihilismus der noch Jüngeren, der zuerst mehr mit dem Wort als mit der Tat revolutionär war, — die Slawophilie als Ansatz einer konservativen Partei. Für das weitere waren entscheidend) der polnische Aufstand 1863 und dann das Attentat Karakosows' auf

Alexander II., Erfahrungen, die dem Zaren zeigten, wie weit die radikale Stimmung schon ins Revoluüonäre ging. Der namentlich in Herzen und Bakunin zutage tretende Zusammenhang mit den revolutionären Ten­

denzen Westeuropas verstärkte den Eindruck, daß man mit den Reformen Geister gerufen habe, die man vielleicht nicht mehr bändigen konnte.

So trat seit 1866 em voller Rückschlag in der Politik Alexanders ein, der Zartum und liberale Ideen von nun an unversöhnbar trennte. Die Geister schieden sich: Herzens Stellung in der öffentlichen Meinung, die seine dem Polenaufstand freundliche Haltung vernichtet hatte, nahm Katkow (in den „Moskauer Nachrichten") als Wortführer eines auf der

Slawophilie sich aufbauenden Nationalismus ein, und auf der anderen Seite ging Bakunin ganz zum internationalen Sozialismus über.

Schon seit 1862 arbeiteten auf der geistigen Gmndlage des Nihilismus

geheime Gesellschaften mit der Parole: Land und Freiheit (Semlja i Wolja) gegen die Regierung. Durch die Strafverschickungen ihrer Anhänger in kleine Städte gab die Regierung dieser Bewegung.ungewollt selbst eine Ver­

breitung über die Zentren hinaus auf das Land. Allmählich, von 1869 bss 1872, dringt nun neben dem Nihilismus der Sozialismus ein.

Noch nicht im Marxschen Sinne sozialistisch waren die „Historischen Briefe", die Peter Lawrow 1868/69, gerade in bemerkenswertem Gegensatz

zu Karl Marx, schrieb: noch erscheinen Schule und Genossenschaft, Bildung und Artjel als die Rezepte zur Heilung der sozialen Krankheiten Rußlands.

Aber schon war die Tätigkeit Bakunins und noch mehr die Netschajews

(seit 1869) rein revoluüonär, auf gewaltsamen Umsturz gerichtet, und bildete sie den Nihilismus völlig um. Bon 1872 bis 1875 wird die Pro­ paganda immer sozialistischer, bis 1878 wird daraus eine revolutionäre Agitation und ihre Durchsetzung durch den Terror. Nachdem schon 1862

das kommunistische Manifest ms russische übersetzt wordm war, folgte seit 1872 auch der 1. Band des „Kapitals" von Karl Marx. An dieser Quelle

II. Kapitel.

58

des internationalen Sozialismus hatten längst die Elemente getrunken,

die ins Ausland gegangen waren und die Schweizer Universitäten, nament­

lich Zürich, besuchten.

Sorgte doch die Regierung selbst immer wieder

für Nachschub in diese aufgeregte Jugend durch Schließung der Univer­

sitäten und die Behandlung der akademischen Welt daheim. In dieser Ent­ wicklung aber macht Epoche das Verbot, die Universität Zürich weiter zu besuchen, 1873. Während die Zusammenhanglosigkeit und Stagnation der Reformen die pessimistische und opposittonelle Stimmung steigerten und die Semstwos in Tatlosigkeit versinken mußten, strömte eine Menge

junges Volk in die Heimat zurück, das mit sozialistischen Ideen durch­

tränkt war. Noch war es nicht gleich durchaus revolutionär. Theoretisch stritten noch Lawrow und Bakunin miteinander: der zweite für Putsch, und

gewaltsamen Umsturz, der erste für die Fordemng, sich und das Volk zur Erringung der Macht erst reif zu machen. Und praktisch begann man zuerst in Lawrows Sinne zu handeln, in dem sog. Narodnitschestwo, dem

„Gehen ins Volk", — ein Ausdruck und eine Aufforderung (Gehet ins Volk!), die aus einer Bakuninschen Proklamation stammen.

Geschildert

ist diese Phase des Nihilismus wundervoll im letzten Roman Iwan

Turgenjews, in „Neuland" (erschienen 1876). Etwa von 1872 bis 1874 ist ihre Blütezeit: gebildete junge Leute beiderlei Geschlechts gingen ins

Bauerntum hinein, dieses zu gewinnen, für moderne Gedanken reif zu machen, zu bilden und zu erziehen. Es ist viel echter Idealismus in dieser

planlos friedlichen Propaganda über das Land hin, aber auch viel Unklar­

heit, mancherlei Segen und mancherlei Keime zum Guten hat sie aus­ gestreut. Die Bauen: zu gewinnen aber vermochte sie niemals; sie hat

nur Mißtrauen bei ihnen gefunden und nur Unruhe und Verwirrung

gestiftet. Seit 1874 suchte die Regierung diese Propaganda mit zunehmender Härte zu unterdrücken. Damit beginnt bte letzte Phase im Nihilismus, der vom schrankenlosen Individualismus über den Sozialismus und eine

friedlich-aufklärende Propaganda jetzt zur Negation der bestehenden Gewalt durch Wieder-Gewalt wird.

Die Demonstrationen auf dem Platz vor

der Kasanschen Kathedrale in Petersburg 1876 und das Attentat der Wera Saffulitsch 1878 (5. Februar) auf den General Trepow leiteten

diese Phase ein.

Sie verzichtet auf die auf den Bauernstand als aktiven

revoluttonären Faktor gesetzten Hoffnungen, sie zentralisiert die Organi-

Die Entstehung des modernen Rußlands.

59

sation und konzentriert die Taktik auf ein Mittel (das Dynamit) und auf Einzel-Ziele, von denen die Ermordung des Zaren schließlich das letzte

Ziel wird

Die Apathie der Gesellschaft ging mit dem Türkenkrieg von 1877/78 zu Ende. Die konstillltionellen Hoffnungen belebten sich, als die Regierung

den

Bulgaren

eine

Verfassung

erwirkte,

und

die

national-russische

Stimmung stieg durch die Sympathie für die Balkanslawen und die Miß­ stimmung gegen Deutschland nach dem Berliner Kongreß: die Slawo-

philie setzte sich in den Panslawismus um.

Aus den Männern der

Semstwos war schon in den siebziger Jahren eine konstitutionelle Be­ wegung gemäßigter und klarer, aber natürlich entschieden oppositioneller

Richtung entstanden, ein Semstwobund (Semski Sojus). Er suchte, ge­

schart besonders um I. I. Petrunkjewitsch, Verbindung mit allen, auch

den radikalen Strömungen, die auf eine Verfassung hingingen.

Z. T.

suchte er auch die vom Absolutismus am Boden gehaltenen, durch eine Verfassung naturnotwendig in die Höhe kommenden Nationalitätengegen­

sätze durch die Idee einer Föderativverfassung Rußlands an Stelle der Zentralisation zu lösen1).

Für die Terroristen aber war es wesentlich,

daß die vage Hoffnung auf größere Freiheit doch trog, die Regierung sich

auch

zu krönen.

tischen

jetzt nicht entschloß, die Reformen durch

eine Verfassung

Immer mehr wird das Attentat zur Form ihres poli­

Kampfes,

immer

kleiner,

straffer

ihre

Organisation,

immer

raffinierter ihre Anschläge; seit 1879 ist der Kaisermord der Mittel­ punkt ihrer Pläne.

Im August 1879 trennt sich die Partei, wenn

man die revolutionäre Gruppe „Selmja i Wolja" schon so nennen will,

in die Partei der „Narodnaja Wolja" und die der schwarzen Umteilung (Tscherny Peredjel), d. h. in eine politisch-terroristische und eine sozia-

listisch-agitatorische Gruppe. Auf der zweiten hat sich später Plechanows Arbeit für eine russische Sozialdemokratie aufgebaut, die erstere, die Jünger­

schaft Bakunins und die Grundlage für die heutigen Gruppen der Sozial­

revolutionäre, kennt nur noch die Jagd auf den Zaren: am 13. März

1881 erreichte sie mit der Ermordung Alexanders II. ihr Ziel. *) Ein Weg, den der russische Liberalismus in der Gegenwart ablehnt.

S. Kapitel IV und XU.

n. Kapitel.

60

III. Das Regierungssystem Alexanders III. und Nikolais II. bis 1904. Alexander III. ist unter den Romanows seit dem Tode der Elisabeth Petrowna der erste bewußt und durchaus russische Zar. In ihm gehen der Absolutismus und der russische Nationalgedanke zu einer bewußt

empfundenen Einheit zusammen — ein geistiger Prozeß, auf den allgemein­

europäische Strömungen so gut wie die zum Nationalismus gewordene

Slawophilie, besonders aber der tiefe Eindruck der polnischen Erhebung von 1863 eingewirkt haben.

Aus den starken Erschüttemngen seines

Staates, die er miterlebt hatte, hatte Alexander die Überzeugung, vor allem unter dem Einflüsse seines Erziehers Pobjedonoszew und Katkows,

in sich gefestigt, daß das Heilmittel nur in der unbedingten Erhaltung der bestehenden Ordnung auf national-russischer Grundlage liege, gemäß jener

Dreiheit des flawophilen Programms, in der ihm die Selbstherrschaft das wichtigste war. Gewissenhaft, sittlich ernst und tüchtig als Soldat, war

er früh zum Mann geworden und ergriff nun die Zügel in der Auf­ fassung

seines

Amts wie ein sehr strenger,

aber sehr gewissenhafter

Familienvater. Als eine in sich geschlossene Herrschematur, die er aller­ dings mehr zu sein schien, als tatsächlich war, war er imstande, jenes sehr­

einfache

politische Programm, das

ihm unerschütterlich feststand, mit

größter Folgerichtigkeit und Wirkung durchzuführen. Nachdem sich die Erregung der nihilistischen Agitation im Attentat

gegen Alexander II. entladen hatte, trat ein Rückschlag in Abspannung und

Lethargie

ein,

in

dem

Auf

und

Ab der

Empfindungen

und

Stimmungen, das für das russische Volk so charakteristisch ist. Dadurch war die Gesellschaft, als sich die schwere Hand Alexanders III. auf sie legte, psychologisch vorbereitet, in eine Zeit der Reaktion und eines bleiernen Dmckes herüberzugleiten, in der Europa nur aus den ab und zu vor­

kommenden Anschlägen gegen den Zaren merkte, daß diese Ruhe eben

nur die Folge eines ungeheuren Druckes war und unter ihm die alte Unzufriedenheit weiter schwelte. Zuerst erfolgte die entschiedene Mehr von den konstitutionellen Ge­

danken des Vaters, so wenig entschlossen diese gewesen waren. Die trei­ bende und entscheidende Kraft dafiir war Pobjedonoszew; er arbeitete

mit Hilfe Katkows ein Manifest für den Zaren aus, das dessen Beifall

Die Eiiistehittift des inoderne» Rußlands.

fand und am 11. Mai 1881 veröffentlicht wurde.

01

Darin war gesagt,

daß Alexander die Absicht habe, „im Gehorsam gegen die Stimme Gottes die Zügel fest zu fassen, im Glauben an die Kraft und Wahrheit der selbst­

herrschenden Gewalt, die zum Heile des Volkes zu befestigen und vor

allen Anfechtungen zu bewahren er berufen sei". Damit begann das Zeit­ alter Pobjedonoszews, das die Regicrungszeit Alexanders HL überdauerte,

und das Grundprinzip der neuen Regierung war gegeben. Nach 13 Jahren hat, wie verbürgt erzählt wird, Alexander HI. in Liwadia auf dem Sterbe­

bette feinem Sohne Nikolai das Versprechen abgenommen, unerschüttert die gleiche Bahn weiterzugehen. Alexander HI. wollte so zum Regierungs­

system Nikolais I. zurückkehren und in der Praxis ähnelt seine Regierungs­

zeit auch der des Großvaters. zweierlei,

Aber er unterschied sich vom Ahnen in

was seiner Regierung

ein

ganz

anderes

Gepräge

als der

Nikolais I. gibt.

Nikolai war in erster Linie Monarch, Mitglied und Führer der großen europäischen Fürstenfamilie, die in ihm den Hort der Legitimität

verehren sollte. Bewußt als Russe und im Gegensatz zu anderen Natio­

nalitäten seines Reiches und Europas hat er sich nicht gefühlt; der nationale Gedanke lag ihm fern.

Wenn er die Autonomie der Polen unterdrückte,

so war das die Strafe für den Aufstand von 1830; den loyalen Balten und Finnen hat er ihre Selbständigkeit nicht angetastet. Das ist bei seinem

Enkel

gmndfätzlich

anders.

Dieser

war

nicht

nur

national-russisch,

sondern schon nationalistisch; er wurde so der erste Zar einer bewußten, vom extrem nationalen Gedanken getragenen Russisizierung. Ferner ver­

änderte sich unter ihm Rußlands Stellung nach außen.

Die herzlichen

Beziehungen der Dynastien Romanow und Hohenzollern, die der Zeit bis 1881 das Gepräge gegeben hatten, wurden schwächer, wenn der Zar

die orientalische Frage unter national-russischen Gesichtspunkten ansah, und die aus dem Nationalismus erwachsende Abneigung gegen das deutsche

Wesen von den deutschfeindlichen Kreisen ausnutzen ließ, in die er auch durch seine Gemahlin, die dänische Prinzessin Dagmar, einbezogen wurde. Doch hinderte ihn seine unbedingte Friedensliebe — er ist der einzige Zar aus

der Dynastie Romanow, der keinen großen Krieg geführt hat — daran,

daß dieser neue Charakter der russischen Politik in die WeltverhälMisse

eingriff. Dagegen trat das Aggressive seines Absolutismus in der inneren

Politik stark hervor.

II. Kapitel. Seme nächsten Diener formulierten diese Gedanken und führten sie

auf den einzelnen Gebieten des Staatslebens durch: Ignatjew, Pobjedonoszew, Graf Dmitri Tolstoi und Katkow, vier Männer von sehr ver­

schiedenem Geiste und Gehalt, aber alle einig im Programm ihres Zaren.

Mit Ignatjew, der eine kurze Zeit Minister des Innern war, kam

schon ein Haupt der Panslawisten zu Einfluß auf die inneren Geschicke Rußlands.

In seiner Richtung hatte der Panslawismus die Wendung

genommen, die ursprünglich nicht in der slawophilen Theorie lag, die aber

dem Regierungssystem Alexanders III. entsprach: die grundsätzliche Ver­ bindung mit der Idee der Selbstherrschaft und damit die ebenso grundsätz­

liche Feindschaft gegen alle Reformen und Verfassungspläne, — was

übrigens diese Richtung niemals hinderte, demokratische Empfindungen

innerhalb und außerhalb des Reiches zu begünstigen. Ignatjews Bedeutung liegt in der Ausbreitung dieses panslawistischen Gedankens, für den er schon unter Alexander II. durch seine Agitation unter den Balkanslawen gearbeitet hatte und nach seiner Ministerzeit unter Alexander III. als Präsident der

„Slawischen Wohltätigkeitsgesellschaft" weiter erfolgreich tätig geblieben ist. Viel bedeutender als er ist K. P. Pobjedonoszew (1827—1907). Von

Haus aus Jurist, Professor in Moskau und einer der besten Kenner des russischen Zivilrechts, über das er ein viel benutztes Lehrbuch geschrieben

hat, wurde er 1860 Lehrer der kaiserlichen Prinzen, unter denen der spätere Zar war, 1868 Mitglied des Senats, 1872 des Reichsrats und

1880 Oberprokuror des „Allerheiligsten Synods", welches Amt er bis zum

1. November

1905 bekleidet hat.

Eine kühle, reflexive Natur,

äußerlich mehr den Eindruck eines Gelehrten als eines Staatsmannes

machend, persönlich selbstlos und seinem Amte völlig hingegeben, wirkte er durch die unerbittliche Logik seiner Anschauungen, durch seinen kaltleiden­ schaftlichen Patriotismus und die Energie seines Willens zunächst auf seinen Schüler, dann auf Kirche und Staat und schließlich auch auf den

Sohn seines Schülers, der in von ihm stark beeinflußten Anschauungen den Thron bestieg.

In Pobjedonoszews politischen Anschauungen ist wenig Originelles und Neues.

Denn sie sind alle schon im Kreise der Männer der 40er

Jahre erörtert worden. Das Neue liegt bei ihm vielmehr in 8er Praxis,

in der Anwendung auf das Staatsleben, in der Steigerung dieser Gedankm zu einem Programm aktiver und aggressiver innerer Politik. Ihm

63

Die Entstehung des modernen Rußlands.

sind die orthodoxe Kirche und die Selbstherrschaft die einzigen zuverlässigen,

von Gott gewollten und geschichtlich begründeten Fundamente des russischen

Staates.

Rußland ist ihm das Bollwerk Europas gegen Osten und hat

darin seine historische Mission. Die Kraft dazu findet es in seiner Nationalität und seiner orthodoxen Kirche, die beide auf das engste miteinander verbunden sind, und von denen die Staatskirche nicht angegriffen werden

kann, ohne daß auch der nationale Gedanke, der zugleich die Selbstherrschaft

umschließt, erschüttert wird. Darum mußten ihm freilich die fremden Natio­ nalitäten und Kirchen im Staate als Fremdkörper, ja als Gefahr erscheinen, und von ihnen betrachtete er die evangelische Kirche und das diese tragende und von ihr zusammengehaltene Deutschtum als besonders staatsgefährlich.

Seine Art der Deutschfeindlichkeit zeigt ein Satz von ihm, wie dieser: „Die

Majorität der deutschen Kulturträger" blickt auf uns bis jetzt noch immer wie auf halbe Barbaren herab, sie sieht in unserer Religion einen

Stillstand und den ertötendm Geist des Byzantinismus, in unseren Patrioten Demagogen, im einfachen Volk einen einfachen, wenig ent­

wicklungsfähigen

Charakter,

der

von

dem

Geschick

dazu

ausersehen

ist, von den Deutschen exploitiert zu werden." Im Gefühl, daß in einem föderativen Charakter des Staates eine große Gefahr liegen könne, und in der Überzeugung, daß seine Kirche und seine Nationalität auch wirklich die höherstehenden seien, fand Pobjedonoszew weiter die berechtigenden Gründe für die Russifiziemng, für eine Politik, die die innere Verbindung der nichtorthodoxen und nicht-großrussischen Reichs­

teile durch gewaltsame Einführung der russischen Sprache und Schule, Rechtsprechung, Verwaltung und Kirche herbeiführen und sicherstellen

wollte. So ist er vor anderen der geistige Urheber und Träger der Russi­

fiziemng geworden. Er hat die Slawophilie zu einem Programm gewalt­ samer und intoleranter Russifikation umgestaltet, auch gegen slawische

Bestandteile des Reiches, wie die Polen und die Kleinrussen.

Er weicht

dabei von der Auffassungsweise Ignatjews insofern ab, als es ihm aus­

schließlich darauf ankommt, den g r o tz - mssischen Gedanken zum Siege zu führen, womit er in einen unlösbaren Widerspmch zum Panslawismus

trat — diesen hat er wohl überhaupt nicht als erfolgversprechende Idee und als Realüät betrachtet.

Indem er so die älteren Gedanken mit seiner

modernen Bildung ftmdierte und in einer brutalen Praxis und mit Fana­

tismus ins Staatslebm einführte, hat er das Regiemngssystem Alexan-

64

TI. Kapitel.

ders III. dogmotisiert und außerordentlich gehärtet. Er hat ferner diesem

System durch die Verbindung mit der Kirche auf Leben und Tod auch das geringste Paktieren mit anderen Gedanken fast unmöglich gemacht.

Wie

er als das Kirche und Staat verbindende weltliche Mitglied der höchsten

Kirchenbehörde Rußlands, des „Synods", diese Kirche selbst in einer knechtischen Abhängigkeit vom Staate hielt, damit einen von Peter dem Großen begonnenen, von Alexander I. fortgesetzten Prozeß zum Abschluß

brachte und jedes eigene Leben in dieser Kirche ertötete, so hat er auch

den Staat und das Zarentum, in deren Dienst er die Kirche stellte, wiedemm von ihr und von der unlösbaren Verbindung mit ihr abhängig gemacht. Die Macht über die Kirche, die er so als letzter Faktor in einem

Jahrhunderte währenden Kampfe dem ZarenMm verlieh, kehrte sich damit

wiederum gegen dieses selbst, indem sie ihm Fesseln anlegte, die jede Aner­ kennung moderner Gedanken ausschlossen. In dieser Kombination lag die gewaltige Stärke Pobjedonoszews, die er niemals für sich persönlich aus­

genutzt hat, und lag der Gmnd zu den schweren Konflikten, die der Zar in

sich durchfechten mußte, als seit 1904 doch neue Gedanken unwiderstehlich an ihn und seinen Staat herandrängten. Pobjedonoszew war daher auch der einzige Staatsmann, für den auch nur ein Verhandeln mit diesen ganz ausgeschlossen war; er ist deshalb am 1. November 1905 aus seinem

Amte geschieden. Kurze Zeit darauf, am 23. März 1907, ist er gestorben.

Neben ihm, auf dem die historische Verantwortung für die Katholiken- und Uniatenverfolgungen in Polen und Litauen, wie für die Russifizierung der Ostseeprovinzen ruht, stehen Tolstoi und Katkow. Der be­ deutende Aristokrat aus altem moskauischen Adel, aber mit westeuropäischer

klassischer Bildung, Graf Dmitri Tolstoi hatte schon als Unterrichtsminister unter Alexander II. die gleiche überzeugte Rechtgläubigkeit, seine gwßrussisch-nationale Staatsgesinnung und seine von reaktionären Zügen nicht freie konservative Überzeugung mit großer Energie dem Staatsdienst dienst­

bar gemacht. Sein Ideal war der Kampf gegen den Nihilismus, der in die

Zeit Nikolais I. zurückführen sollte, und er hat sich zuerst als Unterrichts­ minister durch die Gestaltung des Jugendunterrichts bemüht, die geistige

Vorbereitung der nächsten Generation dafür in die Hand zu bekommen.

Dazu erschien ihm das Studium der klassischen Sprachen als vortreff­ lichstes Mittel, der Jugend Disziplin beizubringen und sie zu guten Staats­ bürgern und Gegnern des Nihilismus zu erziehen.

Vom erzieherishen

65

Die Entstehung des modernen Rußlands.

Werte des Klassizismus für Kultur- und Staatsleben durchdrungen, ver­

mochte er diesem Prinzip nur durch ein entsetzlich formalistisches Unter­ richtssystem Leben zu geben, weil er den in der russischen Kulturgeschichte liegenden Widerspruch nicht überwinden konnte, — fehlt doch Rußland

ganz die Lateinschule des Mittelalters und seiner KulMr die Gmndlage

1882 ist er dann als Nachfolger Ignatjews Minister des

der Antike.

Innern geworden (bis 1889). Positive Leistungen konnten nicht gut von ihm erwartet werden.

Denn die Möglichkeit dazu lag gar nicht in dem

System der inneren Politik Alexanders III. Was er überhaupt durchführtc:

die temporären Regeln über die Juden und die Presse vom Jahre 1882,

— das Universitätsstatut von 1884 und die Förderung der Kirchen­

schulen, — die Errichtung des Instituts der Landhauptleute (semskie Natschalniki) 1889, — die Änderungen in der Gerichtsverfassung, besonders im Geschworenengericht, und die fast völlige Beseitigung der gewählten Friedensrichter vom selben Jahre, — das den Begriff der Selbstverwaltung so gut wie aufhebende Gesetz über die Semstwos 1890, — die Städte­

ordnung vom Jahre 1892 endlich, alles zielte nur auf Festigung und

Steigerung der absoluten Staatsgewalt und aus eine maßlose Zentralisation der Verwaltung hin. Damit verband er die rücksichtslose Verfolgung jeder

Opposition, die Unterstützung der Russifikation im Geiste Pobjedonoszews,

die weitgehendste Überwachung alles Lebens durch Polizei und Zensur und den Abschluß gegen Europa, die Erschwerung des Verkehrs aus

Rußland heraus und in das Land hinein. Und alle diese Maßnahmen, alle Ideen, aus denen sie flössen, ver­

kündete als das Sprachrohr der Regierung Katkow in seinen „Moskauer Nachrichten". Durch ihn wurden die Begriffe slawophil und reaktionär ganz identisch,

er

predigte

den

Klassizismus,

die

Russifizierung,

er

war vor allem aber der Herold einer neuen Orientierung Rußlands auch

in der

äußeren Politik.

Von seinem berühmten Artikel vom

31. Juli 1886 mit den Fragen: „Ist die Freundschaft zwischen Deutsch­ land

und

Rußland

mehr

eine

Notwendigkeit

für

Deutschland

als

ein Vorteil für Rußland? Wozu diese Bündnisse? Welche Bedürfnisse hat Rußland, den europäischen Frieden zu sichern?" kann die bewußt ge­

wordene Abkehr von der bisherigen Politik datiert werden, die durch

die Differenzen in der orientalischen Frage und die Mißstimmung über den Berliner Kongreß vorbereitet war. Hoc-sch, Rußland.

Und wenn er auch fortfuhr: 5

II. Kapitel.

66

„Wir sind überzeugt, daß man in unseren Worten eine Anspielung auf

eine französisch-russische Allianz sehen wird, aber wir protestierm gegen eine ähnliche Überlegung", so ist Katkow doch gerade einer der ersten und erfolgreichsten Wegbahner dieser neuen politischen Verbindung für sein

Vaterland gewesen. Mit dem Kriegsminister Wannowski und Obrutschew, der als Chef des Generalstabs vor allem den Gedanken des Bündnisses mit Frankreich

vertrat, ist dies der nächste Kreis der Staatsdiener, mit denen Alexander III. seine

Politik

machte.

Ihm

gelang

tismus unerschüttert zu erhalten.

es,

die

Stellung

des

Absolu­

Das bedeutete in.der Verwaltung

die ungehinderte Herrschaft der Bureaukratie, die, unkontrolliert wie sie war

und nur auf das Weiterklappern der Verwaltungsmaschine angewiesen, M Leistungen und Integrität immer schlechter wurde, zur Verzweiflung des

Zaren selbst, der das sah und dessen persönlicher Ehrenhaftigkeit alle Korruption ein Greuel war, der aber gegen das System auch machtlos blieb.

Und, wo diese Politik, wie in den Grenzmarken, an andersartige

Einrichtungen und Anschauungen stieß, an "die baltische oder polnische oder

finnische oder litauische Besonderheit, konnte sie nirgends innerlich das

erreichen, was sie anstrebte.

Später zeigte sich, daß sie nur zerstört, den

Boden für revolutionäre Erhebung geradezu vorbereitet hatte.

Nach außen aber erschien diese von einem großen Selbstbewußtsein

getragene Regierung von Jahr zu Jahr stärker.

Da kriegerische Ver­

wicklungen vermieden wurden, vergaß Europa bald die Schwächen, die der

Feldzug von 1877 und 78 im russischen Heer gezeigt hatte. Durch die Per­ sönlichkeit Alexanders III. absichtlich gefördert, stieg die Vorstellung Europas von der Macht Rußlands immer mehr, weil es sah, wie sich der alte Ab­ solutismus aufrecht erhielt, seine Stellung in Europa durch die Verbindung

mit Frankreich noch hob und zugleich eine grandiose Politik erst in Zentral­

asien, dann in Ostasien führte und beinahe vollendete.

Ein begründetes

Urteil über die lebendigen Kräfte dieses Staatswesens hatten in West­

europa nur sehr wenige, wenn man auch ahnte, daß die Ruhe im Innen: zum Teil die des Kirchhofs war, und auch sah, daß ein gut Stück des großen Prestiges nur auf der nicht zu.erschütternden Friedensliebe des

Zaren beruhte.

So wurde die Zeit Mexanders UI. eine Periode der höchsten Macht nach außen, während im Innern von einer positiven Politik nicht gesprochen

Die Entstehung des modernen Rußlands.

67

werden konnte, die Kulturarbeit des Staates fast gleich Null war, das Land zurückging, die Bevölkerung, wie in den letzten Jahren Alexanders III. auch Europa schon bemerkte, immer ärmer wurde.

Und diejes System,

das sich über die Schwäche seiner eigenen Basis von Jahr zu Jahr immer unklarer wurde, hat Nikolai II. in vollem Umfange übernommen. Nach

feinem Wesen anders, weicher und zarter als der Vater, konnte er sich, selbst wenn er gewollt hätte, aus dem System Alexanders III. und

Pobjedonoszews allein gar nicht freimachen. Man spürte zwar, daß die

Hand, die die Zügel des Ganzen hielt, leichter war, als die des Vaters, aber das Regime im ganzen änderte sich nicht. Der Einfluß Pobjedonoszews dauerte ungeschwächt fort, der jeden Hinweis auf eine Änderung mit den

Worten abwies: „C’est ainsi qu’on faisait du temps du feu Ozar." Das System erweichte sich an manchen Stellen, aber es blieb in den Prinzipien dasselbe und steigerte höchstens noch die Herrschaft der Polizei, der Spionage und des Denunziantentums.

Regimes

änderten

daran

nichts,

weder

Auch die neuen Züge des

die

imperialistische

Politik,

der sich der Zar unter dem Einflüsse seines Jugendfreundes, des Fürsten E. E. Uchtomski*) entschieden zuwandte, noch die Finanz- und Wirtschafts­

politik, die Witte feit 1892 inaugurierte. Das Prestige nach außen wurde

fast noch erhöht: durch den Abschluß des französischen Bündnisses, durch die Fertigstellung der sibirischen Bahn und durch die große ostasiatische Politik, die mit steigender Wucht betrieben wurde. Aber gerade aus ihr kam der

Anstoß, der den Staat Alexanders III. und Nikolais II. auf das stärkste

erschütterte und das Ventil für eine Opposition öffnete, von deren Umfang und Kraft Europa keine und die herrschenden Kreise Rußlands nur eine

schwache Vorstellung hatten. IV.

Wirtschaftspolitik, Frühkapitalismus und Sozialismus.

Die Revolution von 1905 ist nicht zu verstehen, wenn man nur aus die bisher charakterisierten Voraussetzungen blickt und die wirtschaftlich­ sozialen und sozialistischen Vorbedingungen außer Acht läßt.

In dieser

*) Er hatte Nikolai 1890/91 auf der Reise begleitet, die diesen als den ersten

Zaren nach dem fernen Osten geführt hat. S. darüber Uchtomskis Buch, das ein

wichtiges

Werk

zur

russischen

Ostasienpolitik ist':

8. A. 1 le CSsarevitch. 2 Bde. Paris 1893/98.

Voyage

en

Orient

de

II. Kapitel.

68

Beziehung war sie zum Teil Bauernunruhe, deren tiefere Gründe und

elementar-zusammenhangsloser Charakter später geschildert werdens, zum

Teil Arbeiterbewegung, geführt von der Intelligenz und bestimmt vom Sozialismus, der mit dem fortschreitendem Kapitalismus Boden und

Klärung gewann.

Diese Voraussetzungen entstehen zwischen dem Tode

Alexanders III. und 1904.

In einem Lande, in dem der Staat so ein und alles war, wie hier, nmßte auch die Wirtschaftsentwicklung und die sich aus ihr ergebende soziale Gliederung die Spuren des Staatswillens aus das stärkste an sich trogen.

Indes ist auch dies nicht eine Besonderheit des russischen Absolutismus,

sondern die gleiche Erscheinung, wie sonst in der neuzeitlichen Geschichte: der wirtschaftspolitische Ausdruck des Absolutismus ist die merkantilistische

Wirtschaftspolitik, die Politik, die Handel und Industrie, überhaupt die

Wirtschaftskraft des Volkes zu allererst zur Konsolidierung des Staats­ wesens entwickelt und in seinen Dienst stellt. Diesen Zusammenhang hatte

Peter der Große voll erfaßt, und darum bildete er seine Wirtschaftspolitik in jeder Weise dem westeuropäischen Merkantilismus nach.

Das Be­

sondere für Rußland aber ist, daß dieser Charakter der Wirtschaftspolitik

ununterbrochen bis heute erhalten geblieben ist.

Rußland hat keine Zeit

des freien Handels gehabt, um dann erneut zu Schutzzoll und Neumerkanti­ lismus zurückzukehren, sondern ist immer und bis heute von merkantili­

stischen Gesichtspunkten bestimmt gewesen. Das zeigt seine spezielle Handels­

politik und ihre Geschichte, in der trotz mancherlei Schwankungen in den Tarifen der Schutzzoll bis zur Ausschließung fremden Imports immer

festgehalten worden ist.

Noch wesentlicher ist, daß die Förderung des

Handels und Industrie bisher niemals Selbstzweck war, sondem zuerst

dazu dienen sollte, das steigende Geldbedürfnis des Staates zu befriedigen. Aus dieser Abhängigkeit von staatsfinanziellen Gesichtspunkten hat sich die russische Handels- und Weltwirtschaftspolitik bisher nicht freimachen

können. Sie waren, wie überall sonst, das erste und drängendste, sie sind

es im Unterschied zu anderen Ländern aber auch geblieben, weil die Auf­ gabe der Bildung und Konzentrierung des Staates noch nicht gelöst ist.

Das gibt der russischen Betätigung auf diesem Gebiete eine große Ge­ schlossenheit, aber auch Einseitigkeit, die immer in Gefahr ist und meist

auch dahin wirkt, die Kraft des Volkes übermäßig für die Aufgaben des ') S. Kap. IV und V.

Die Entstehung des modernen Rußlands.

Staates anzuspannen.

69

So ist die Geschichte der staatlichen Fürsorge für

die Wirtschaft und auch des Kapitalismus hier in erster Linie die Ge­

schichte seiner Finanzpolitik und seiner Finanzminister. AIs die Reformen Alexanders II. die Entstehung des modernen Ruß­ lands einzuleiten begannen, war dieses ein so gut wie ungewerbliches Land. Eine Volkswirtschaft gab es nicht. In jeder Weise war die Landwirtschaft

die Grundlage aller Wirtschaft.

Millionen Einzelwirtschaften standen,

ihren Bedarf fast allein deckend, wie Atome nebeneinander, nur lose ver­

bunden durch lokale Märkte, Jahrmärkte (vor allem die Messe in Nischni-

Nowgorod), und ein bescheidenes Wandergewerbe in der nationalen Form des Artjel.

Ohne handwerkliche Tätigkeit war der Bauer freilich nicht.

Im Gegenteil hatten die lange Winterzeit und die manuelle Geschicklichkeit des Volkes ein Handwerk (Kustar) von einem Umfang, einer Vielfältigkeit

und Kunstfertigkeit entstehen lassen, wie in kaum einem Lande der Welt.

Noch heute ist dies Kustarhandwerk des Bauerntums die nationale Be­ triebsform des Handwerks, die ein städtisches Handwerk als beinahe über­

flüssig erscheinen ließ; „der Kleinbürger (Mjeschtschanin) und der Hand-

tvcrker waren nur der Muschik der Städte". Eine Art Bürgertum über

ihnen bildeten die Kaufleute, jene „breit angelegten Naturen" der „Kupzy", die Ostrowskis Komödien so anscharilich schildern.

Verkehrsmittel, freie

Lohnarbeit, Industriekapital fehlten fast ganz. Anfänge der Industrie gab

es, aber wie überall unter dem Absolutisnius, vom Staat für die Be­ dürfnisse des Heeres und der Flotte geschaffen: Tuch und Eisengerät

brauchte der Staat.

Er hatte durch Privilegien, Bestellungen, ht§ Land

gezogene Ausländer eine Textil- und eine Eiseumanufaktur geschaffen, von denen erstere an die Kustarweberei und -Spinnerei anknüpfte. Die Eisen­

industrie erwuchs ganz aus den Bestellungen des Staates; sie stützte sich auf die seit Anfang des 18. Jahrhunderts betriebene Roheisenproduktion des Ural, die aber seit Anfang des 19. Jahrhtinderts ununterbrochen zurückging. Für Heer, Adel, Hof arbeitete diese Manufaktur allein, deren

Produktionswert 1854 auf 160 Millionen Rubel in rund 10 000 Fabriken mit 460000 Arbeitern geschätzt wurde.

Die überwiegende Mehrheit des

Volkes brauchte sie überhaupt nicht, die Slawophilie war teilweise geradezu

kapitalfeindlich und freute sich, im Mir einen Schutz gegen den Einbruch des Kapitals zu habens. *) S. Kapitel V.

n. Kapitel.

70

Viel anders war — von Kongreßpolen abgesehen — das Bild beim

Tode Alexanders II. auch noch nicht, wo man den Produktionswert der Industrie auf 998 Millionen Rubel in 31 000 Fabriken mit 770 000

Arbeitern schätzte. Krimkrieg wie türkischer Krieg hatten dazu die Wirtschaft

furchtbar überanstrengt und zurückgeworfen. Aber zwei wesentliche Voraussetzungen des Kapitalismus hatte diese Regierungszeit eingeführt: die Eisenbahnen und die freie Lohnarbeit, letztere wenigstens zum Teil. Der

Krimkrieg hatte gezeigt, wie schlecht die einzelnen Reichsteile miteinander

verbunden waren.

Deshalb übersprang, wie man gesagt hat,

Ruß­

land das Zeitalter der Chausseen und konzentrierte alle Verkehrspolitik darauf, sich ein Eisenbahnnetz zu schaffen. Dieser Entschluß revolutionierte

hier stärker als irgendwo sonst, weil der Ausbau sehr rasch erfolgte und mit der Bauembefreiung zusammentraf.

Damit wirkte der Anreiz zur

industriellm Produktion außerordentlich stark und umgestaltend.

Das

Kapital aber, mit dem dieses Eisenbahnsystem gebaut wurde und mit dem eine einheimische Eisenindustrie erst wirllich entstand, wurde aus dem Auslande hereingezogen, in Form der Staatsanleihe oder der Anlage

ausländischen Kapitals in Privatunternehmungen: 1860 wurde durch den

Engländer I. Hughes die Gesellschaft „Neurußland" gegründet und damit

das Fundament zur südrussischen Montanindustrie gelegt, für die mit der „Donez-Eisenbahn" in den 70er Jahren auch der schon 1839 begonnene

Steinkohlenabbau im Donezbassin einen großen Aufschwung nahm. Das gleiche galt von der älteren, organischer erwachsenen Textilindustrie.

Sie

brachte es mit dem freien Arbeiter und durch fremde Hilfe rasch zu einer be­

deutenden Entwicklung, die auch ein Ausländer, der Bremer Ludwig

Knoop (1894 f), seit 1856 vor allem gefördert hat. Sie schuf einen großen Textilindustrierahon, den mittelrussischen Jndustriebezirk, dessen Mittel­

punkte Moskau, Wladimir und Kostroma geworden sind und der zum

Teil die Organisationsformen vom Kustardorf zum städtischm Fabrik­ zentrum schon durchlaufen hat, zum Teil die Zwischenstadien noch aufwcist. Schließlich lag die Bedeutung der Eisenbahnen für die entstehende Bollswirtschaft darin, daß erst sie den Absatz von Getreide ermöglichten und damit die Verbindung mit der Weltwirtschaft herstellten, der sie das

Getreide über die Seehäfen, besonders Odessa, zuführten.

Auf den euro­

päischen Märkten fand es' bei den geringen Getreidezöllen und der Konkurrenzlosigkeit der sonstigen Getrcideproduktion in den 60er urib 70er

Die Entstehung des modernen Rußlands.

71

Jahren auch guten Absatz, was angenehme Wirkungen für die Zahlungs­

bilanz des Staates mit sich brachte.

So sahen die 60er und 70er Jahre doch eine Mobilisierung der Arbeitskraft und eine Steigerung der Jndustriealisierung, die hier das

Vorspiel

zum

Frühkapitalismus

darstellen;

die

Motoren

waren die

Bauernbefreiung, der Eisenbahnbau, eine etwas freiheitlichere Tendenz der Zollpolitik und die Heranziehung westeuropäischen Kapitals.

Im letzten

Jahrzehnt Alexanders III. kamen nun zusammen die kritisch werdende Lage

der Landwirtschaft (aus inneren Gründens und infolge des Sinkens der

Weltgetreidepreise — auch die deutsche Schutzzollpolitik wirkte mit —) und die finanziellen Staatsbedürfnisse, denen ein ungeordnetes Steuersystem,

eine schwankende Währung und ein chronisches Defizit im Reichsbudget

gegenüberstanden.

So gewann in dieser schwierigen Lage der merkantili­

stische Geist vollends die Oberhand in der Wirtschaftspclitik, was auch der

nationalistischen Tendenz Alexanders HI. und seiner Ratgeber entsprach:

man strebte durch den Hochschutzzoll, eine nationale Industrie zu entwickeln, damit Rußland sich womöglich wirtschaftlich selbst genügen könne. I. A. Wyschnegradski, hot, von 1887 bis 1892 Finanzminister,

bereits diese mit Unrecht als spezifisch Wittesches System bezeichnete neumerkantilistische, große und — waghalsige Wirtschafts- und Finanz­ politik energisch und einseitig verfolgt. Er begann die Verstaatlichung der Eisenbahnen und strebte die Sicherung der Währung an, die Wieder­

herstellung der Metallzirkulation oder wenigstens Wertes des Kreditrubels.

sein

schon

in

der

Vorgänger

Reichsbank

als

eine

Fixiemng des

Doch kam er darin nicht weiter, als — wie

Bunge

getan

Grundlage

einen

Goldvorrat

anzusammeln.

Außerdem

hatte,

dafür



suchte er fremdes Kapital durch Anleihen hereinzuziehen. Da der deutsche Markt infolge des Verbots der Lombardierung russischer Werte bei der

Reichsbank und Seehandlung — es

hat von

1887,—1894

gegolten

— verschlossen war, hat schon Wyschnegradski den Blick nach Paris gerichtet: die erste große Anleihe Rußlands auf dem französischen Kapital­ markt (125 Millionen Rubel) ist unter ihm, sehr mit Unterstützung all­

gemein politischer Motive auf beiden Seiten, im Dezember 1888 ab­ geschlossen worden. Mit diesen Prinzipien rückte die Sorge um die Handels-

*) S. Kap. V.

n. Kapitel.

72

und Zahlungsbilanz bald immer ausschließlicher in den Mittelpunkt der

Finanzpolitik, da die Entstehung einer nationalen Industrie so schnell nicht ging und man durch die Kapitaleinfuhr für sie und für die Staats­

bedürfnisse gerade vom Auslande abhängiger wurde. Je kapitalistischer man werden wollte, um so mehr kam es zunächst auf den internationalen Krevit an. Dieser aber War nur durch wirkliche Aktiva zu sichem, und das wesent­

lichste Aktivum blieb noch allein die Landwirtschaft, deren Lage jedoch,gerade

sie nicht mehr als ausreichende Quelle für die Staatssinanzen erscheinen

ließ. Gleichwohl wußte schon Wyschnegradski, der darum ebenso wie Witte mit der Opposition des Großgrundbesitzes zu kämpfen hatte, nichts anderes,

als die Landwirtschaft weiter als allein tragendes Fundament der ganzen

Staatswirtschaft auszunutzen, ohne der sich ankündigenden Agrar-Krisis entgegenzuarbeiten. Die Aufgabe war für Wyschncgradskis Nachfolger, Witte, 1892 prin­

zipiell llar: die Politische Europäisierung des Staates durch die finanzielle und wirtschaftliche zu ergänzen und zu beenden, damit jene dauernd zu

sichern rind die Grundlage für die kulturelle Europäisierung zu legen.

Praktisch hieß das nichts weiter, als für die ununterbrochen steigenden Aus­

gaben an politische Zwecke Geld zu schaffen, die Finanzen zu konsolidieren,

um das Verträum des Auslandes zu gewinnen, und dann, wenn es noch möglich war, die Schäden der Volkswirtschaft zu heilen. Nur die Maß­

stäbe und die Sorgen waren für Witte viel größer, als für seine Vor­ gänger: Hungersnot als chronische Krankheit des Bauernstandes und asiatische Expansion — das waren die Probleme, an denen sich seine

Finanzkunst und Wirtschaftspolitik bewähren sollten.

S. I. Witte (1849—1915) stammte aus einer russischen (nicht­

adligen) Beamtenfamilie, hatte aber von Vatersseite germanisches Blut in

seinen Adern. Diese Herkunft hat ihm wesentliche Charakterzüge vermittelt, aber auch verschuldet, daß er bis zum Ende seiner glänzenden Laufbahn weder in der Beamtenhierarchie noch am Hofe eine feste, von dauerndem

Vertrauen getragene Stellung hat gewinnen können, weil er nicht un­ bedingt zum Nationalrussentum gerechnet wurde und auch innerlich nicht

dazu gehörte. Er begann seine Karriere in der Verwaltung der damals

privaten Südwestbahn und erwarb sich dort feine vorzügliche Kenntnis des Eisenbahnwesens; das noch heute geltende „Eisenbahnreglement" hat

er entworfen. 1888 wurde er, als die Verstaatlichung der Eisenbahnen

Die Entstehung des modernen Rußlands.

einsetzte, in den Staatseisenbahndienst gezogen.

73

Dort bewies

er seine

großen finanztechnischen Gaben; binnen 4 Jahren wurde er Verkehrs­ minister (Februar 1892). Am 11. September desselben Jahres wurde er

zum Finanzminister ernannt und ist das bis zum 29. August 1903 ge­ blieben?)

Witte war in seinen wirtschaftspolitischen Anschauungen ein Anhänger der Ideen Friedrich Lists und der Bismarckschen Zollpolitik.

Damit

forderte er nichts Neues für die Wirtschaftspolitik seines Vaterlandes, aber

ihr Geist und ihre Tendenz sind allerdings vor ihm niemals mit solcher theoretischen Klarheit ausgesprochen und mit so umfassender praktischer Ent­

schiedenheit vertreten worden, über Wittes rein Politische Tätigkeit schwankt das Urteil heute noch, aber über seine finanzpolitischen und finanztechnischen

Leistungen steht es fest.

Denn auf diesen Gebieten hat er sich glänzend

bewährt. Er hat zunächst das Branntweinmonopol durchgeführt. Das Gesetz, vom 18. Juni 1894, galt (bis zum 3. August 1914, an dem der Zar

es ohne Einschränkung aufhob), überall außer in Turkestan, Trans­

kaukasien

und

dem

sogenannten

Kamtschatkas und Sachalins).

Küsten-(Amur)-Gebiet

(einschließlich

Der Gesichtspunkt, unter dem Witte die

Verstaatlichung des Branntweinhandels — denn das Monopol war kein Produktions-, sondern nur ein Handelsmonopol — durchgeführt hat, war

in erster Linie fiskalisch.

Er hat sich zwar dagegen verwahrt, daß der

Staat die Trunksucht fördere und das wegen der.hohen Erträge aus dem

Monopol tun müsse.

Gewiß hatte er auch sozialpolitische Gesichtspunkte

im Auge: er wollte durch die Verstaatlichung des Handels wenigstens garantieren, daß dem Volke, wenn es nun einmal ohne den Wodka nicht

auskommt, reiner Stoff geliefert werde, und dem entsetzlichen Wucher der Branntweinschenkwirte ein Ende machen.

Aber die Hauptsache war das

fiskalische Interesse, die Eröffnung einer neuen Einnahmequelle für den Staat. Unzweifechaft hat es dadurch schädlich gewirkt, vor allem, weil sich

der Finanzminister an diese Einnahmequelle gewöhnte, die 600—800 Millionen Rubel, gleich einem Viertel oder Fünftel des ganzen Budgets,

*) Seme spätere Lauftiahn s. Kap. IV.

Seit 5. Mai 1906 war er ver­

abschiedet, Mitglied des Reichsrats; ohne je wieder eine wesentliche Rolle gespielt

zu haben, ist er am 13. März 1915 gestorben.

II. Kapitel.

74

ausmachte, und aller Agitation in der Duma und im Volle gegen die Trunksucht nur achselzuckend erwidern konnte, daß erst andere Steuer­

quellen erschlossen werden müßten. Wittes zweites finanztechnisches Verdienst war die Durchführung der

(Gesetz vom

Währungsreform

10.

Sept.

1897).

Ihm

gelang,

worum seine Vorgänger erfolglos gerungen hatten, die russische Währung auf die feste Basis des Goldrubels (— 2,16 Mk.) zu stellen und damit die

Rubelspekulation und Kursschwankungen, die eine Stabilität der wirt­ schaftlichen Verhältnisse unmöglich machten, zu beseitigen.

Die Maß­

nahme war ein verschleierter teilweiser Staatsbankrott, weil der Gold­ rubel nur auf Grmü> des Wertes von zwei Drittel des Nominalwertes

gesichert wurde. Aber damit kam Rußland aus der Kreditrubelwirtschaft heraus — die konsolidierte Währung war die notwendige Voraussetzung zur weiteren Kapitalisierung der Volkswirtschaft, und diese hat Witte Ihre schwache Seite, blieb freilich, daß sie nicht aus eigener

geschossen.

Kraft durchgeführt und sichergestellt werden konnte, sondern mit fremdem

Golde, mit dem Witte den Goldvorrat der Reichsbank verstärkte und aus dem er die Zinsen der Anleihen im Auslande bezahlte.

Denn das war sein drittes und größtes Verdienst, daß er ftemdes

Kapital

in

Gestalt

von

Staatsanleihen

und

ausländischen

Unter­

nehmungen in einem Maße hereinzog, wie es noch keinem seiner Vorgänger

gelungen war.

Die Verschuldung

Rußands ist unter ihm von 5,3

Milliarden Rubel (Anfang 1892) auf 6,6 Milliarden Rubel (Anfang 1904)

auf

gestiegen.

das

stand,

im

schärfste

In

früheren

angegriffen

Auslande

Jahren

worden,

fortwährend

zu

ist

das

dieses

letzten

borgen

und

System

Endes

die

Witte

darin

be­

Zinsen dieser

Schulden aus Schulden beim Auslande selbst wieder zu bezahlen. Man

glaubte nicht einmal an das Vorhandensein des berühmten „freien Be­

standes" der Reichsrentei (der Zentralreichskasse), mit dem man die

Defizits rechnungsmäßig ausglich.

Mindestens

aber prophezeite

man

diesem System einen vollständigen Zusammenbruch, wenn einmal das Vertrauen des ausländischen Kapitals erschüttert würde, der Abfluß der

mühsam aufgestapelten Goldreserve der Reichsbank nicht mehr aufzu­

halten sei und so die Goldwährung zusammenbräche. Wer trotz der großen Krisen seit Wittes Rücktritt als Finanzminffter hat der Zinsmdienst niemals gestockt, ist das Vertrauen des ausländischen Kapitals nicht ins

Die Entstehung des modernen Rußlands.

Wanken gekommen.

75

Gegen die Erwartungen des Auslandes hat sich

Wittes Werk glänzend bewährt, sowohl die schwarzen Jahre der inneren Wirtschastskrisis

(1900—1903),

wie

die

große

Probe

des

russisch-

japanischen Krieges und die unsichere Zeit der Revolution überstanden.

Die Konsolidierung der Staatsfinanzen wurde noch durch den Ab­ schluß der Konversionen erhöht, durch den neben dem Zinsgewinn Kapital

im Lande für die Industrie frei wurde, und der Eisenbahnverstaatlichung, durch die der Staat Unternehmer und Herr des weitaus wichtigsten Teiles

des

ganzen Bahnnetzes geworden

ist.

Alle diese Maßnahmen, mit

Ausnahme des Branntweinmonopols, waren schon von seinem Vorgänger

vorbereitet.

Aber das schmälert Wittes Verdienste nicht.

Denn er ist

schneller und entschiedener und mit größeren Maßstäben auf dieser Bahn

vorangegangen und hat die Reformen gegen dm einflußreichen Groß­ grundbesitz, der in Sipjagin und dann in Plehwe seine Vertreter in der Regierung hatte, durchzusetzen vermocht. Er hatte sich so zum Herm des Geldverkehrs im Lande gemacht, er war, zumal er auch das Ministerium

für Handel und Industrie mit wahrnahm, die Verkörperung der Wirt­ schaftspolitik, er war der Mann des Vertrauens für das ausländische

Kapital, und übertriebene Bewunderung konnte ihn als einen Peter den Großm

für die finanzielle und wirtschaftliche Europäisierung seines

Vaterlandes feiern. Die Steigerung der Macht des Finanzministers war

natürlich zugleich eine solche der Staatsmacht überhaupt; ganz, richtig hat

Fürst Meschtscherski von Witte gesagt: „Kaum ein Minister dürfte soviel

zur Stärkung staatlicher Macht beigetragen haben wie Witte." Die Bilanz des Reichsbudgets stieg unter ihm von 965 Millionen Rubel in 1892

auf 2 Milliarden in 1903 (von 1883—1892 von 778 auf 965 Millionen, von 1903—1913 von 2 Milliarden auf 3% Milliarden).

Und Wittes

Verdienst war es unbestritten, daß Rußland 1905 während der Friedens­ verhandlungen mit Japan noch eine Gesamtgoldreserve von über einer

Milliarde Rubel einzusetzen hatte, während Japan pekuniär am Ende war. Er hat eine, ost geschmacklose, unbedingte Bewundemng gefunden, wie eine scharfe, oft weit übertriebene, weil mit zu kleinen Maßstäben rechnende

und kurzsichtige Kritik des Auslandes*). Heute wird man das Verdienst *) Diese hatte sehr oft rein polittsche Mottve.

Obwohl Witte kaum im

eigentlichen Sinne deutschfreundlich war, vertrat er zum mindesten bett Stand-

II. Kapitel.

76

dieses Ministers um die Finanzen und damit die politische Geltung seines Staates sehr hoch werten müssen; ein Charlatan war dieser Staatsmann nicht.

Aber freilich kamen, wenn er das Einnahme-Budget von ein auf

zwei Milliarden steigerte, also mehr als verdoppelte, davon nicht weniger als 659 Millionen Rubel, d. h. drei Fünftel auf Anleihen im Auslande,

und vom übrigen erheblich mehr aus der fiskalischen Anspannung des Steuerdruckes, besonders durch das Branntweinmonopol, und die

ge­

steigerten Umsätze der Staatsunternehmungen überhaupt als aus der absolut gestiegenen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Volkes.

Hier lag

nun aber die Kardinalfrage.

Auf die Dauer war ein solches System nur möglich, wenn mit ihm die produktiven Kräfte des Landes weiter entwickelt wurden.

auch Wittes Gedanke, den er so ausgedrückt hat:

Das war

„Das Schutzzollsystem

ist eine Schule für die Industrie, deren Kosten auf allen Bevölkerungs­

schichten

lasten.

werden.

Die Befreiung davon kann durch Hcreinziehung ausländischer

Wir

müssen

daher

sehen,

wie

wir

diese

Last

los

Kapitalien nach Rußland erreicht werden. Wir haben keine eigenen Kapi­ talien; wo aber solche vorhanden sind, da sind sie unbeweglich.

Durch

Heranziehung ausländischer Kapitalien wird die Schule des Schutzzoll­

systems billiger. Gewiß ist zuzugeben, daß mit dem Zuflusse ausländischer Kapitalien für uns Opfer verbunden sind.

Ist es nun besser, daß wir

ausländische Erzeugnisse für Hunderte von Millionen einführen, oder daß

wir mit Hilfe fremder Kapitalien, die im Lande bleiben, eine eigene

russische

Industrie

schaffen?

Ein

ausgedehnter Zufluß

ausländischer

Kapitalien nach Rußland ist nach Möglichkeit zu fördern." Diesen Motor

hat er auch in großem Maße hereingeführt. Er hat fremdes Kapital nicht

nur in Gestalt von Staatsanleihen herangezogen, für die er den Pariser Markt voll eröffnete und den Berliner beibehielt (seit 1894 wieder eröffnet). Er hat es auch zu Anlagen in privaten Unternehmungen ins Land

gelockt und ist so der Vater der eigentlichen Industrialisierung Rußlands

geworden, die er durch Herabsetzung der Eisenbahn-Personentarifc, durch

die Differentialtarife für Getreide und — als erster russischer Handels­

punkt, daß die deutschen und die russischen Wirtschaftsinteresscn aufeinander an-

gewiesen seien.

Die Entstehung des modernen Rußlands.

77

minister — durch Handelsverträge mit Tarifbindung und ermäßigten Zollsätzen weiter förderte').

Der Beginn prinzipiell-kapitalistischer Entwicklung liegt für Ruß­

land etwa ein Jahrfünft vor Wittes Amtsantritt. Will man ein Jahr angeben, fo kann man 1887 als Ausgangspunkt nennen.

Die Förde­

rung der modernen Industrie galt schon damals als das wesentliche,

geradezu

als eine patriotische Tat.

Aber unter Witte nimmt dieser

Übergang Rußlands vom „Agrikultur"- zum Agrikulturmanufakturstaat"

ein rapides Tempo an. Bis 1897 steigt das ununterbrochen an, um vom

Winter 1899 an durch eine lange Krise, besonders 1901/02, abgelöst zu werden, die erst von 1903 an überwunden war und in der Hunderte

von Millionen an französischem und belgischem Kapital verloren wurden. Die Hausse ist auch durch Krieg und Revolution nicht wesentlich unter­ brochen worden; nur vorsichtiger ist man seitdem geworden als in jenen

90er Jahren der eigentlichen Gründerzeit. Denn das war sie im verwegenen

Sinne des Wortes. Und der Staat ging vor allem auf dem Gebiete des Eisenbahnbaues unternehmend und Produktionsanreizend voran: 1892 hatte Rußland 31000 Kilometer, 1902 über das Doppelte (64 200 Kilo­ meter) an Eisenbahnen. Deshalb wurde auch die Eisen- und Kohlen'ndustrie

in erster Linie von dem Gründungsfieber und dem Jndustriefanatismus ergriffen. Die Katharinenbahn (Bau beschlossen 1880) hatte Kohle

und Eisen des Südens zusammengebracht. Jetzt entstanden dort Berg­

werke, Hütten und Hochöfen mit größter Schnelligkeit.

Die Produktion

in Eisen und Stahl betrug 1893: 945 000, 1902: 1870 000 Tonnen. Die anderen Zweige, besonders die Textilindustrie, folgten langsamer, aber

sie folgten auch. 1897 zählte man 34154 Betriebe mit 2499,5 Millionen

Rubel Umsatz.

1902 gab es schon 302 industrielle Großbetriebe mit

über 1000 (im ganzen 710000) Arbeitern. Typus und Rythmus der Kapitalisierung wurden namentlich in den ausgehenden 90er Jahren des

Jahrhunderts als amerikanisch empfunden und gefeiert.

Dem entsprach

auch die Konzentration: 1903 schossen die Syndikate nur so aus dem

Boden, in der Eisen- und Stahlproduktion erreichte die Syndizierung schon die Züge Westeuropas.

Den Grad der Verschiebung zeigte die Berufs­

statistik, die zum ersten Male 1897 ausgenommen wurde und freilich immer noch ergab: *) Deutsch-russischer Handelsvertrag vom 10. Februar 1894.

II. Kapitel.

78 als beschäftigt in:

Millionen

Prozent der Bevölker

.

.

93,7

.

.

.

12,2

...................................

.

.

4,9

4

Verkehrswesen.......................

.

.

1,9

1,5

....

.

.

2,1

1,6

.

.

5,7

4,8

Landwirtschaft....................... Bergbau, Industrie usw. .

Handel

Beamte, Militär

Private Dienstleistungen .

.

75,5 9,7

Im ganzen bot sich so das typische Bild des Frühkapitalismus, d. h. einer Stufe, auf der noch keine große und geschlossene Klasse ernst­

haft am Kapitalismus beteiligt und interessiert ist, also den Staat auch noch nicht entscheidend im kapitalistischen Interesse beeinflussen und be­

stimmen kann. Witte meinte in vollem Ernst, durch eine derartige Groß­ industrie nach europäischem Vorbild die produktive Kraft des Landes zu wecken und seine Volkswirtschaft vollkommen zu einer solchen aus­ zugestalten.

Man konnte auch nicht von einer „künstlichen" russischen

Großindustrie

schlechthin reden, wem:

man diesen

Import

fremden

Kapitals, technischen Geistes und Unternehmertums im Auge hatte. Denn

die realen Vorbedingungen für eine Großindustrie waren und sind in

Rußland ja vorhanden. Die Besonderheit liegt darin, daß hier die Ver­ bindung von Kapital und Technik mit Rohmaterial allein durch die Regierungspolitik hervorgerufen ist (mit Ausnahme der von dem Schweden

R. Nobel seit 1874 in Baku begründeten Naphthaindustrie), und daß sie bisher nicht von einem inländischen Bürgertum geschaffen und getragen

wird, sondern das Ausland und die Ausländer noch stark beteiligt bleiben: nicht die natürlichen, sondern die sozialen Voraussetzungen fehlten.

Freilich war Witte nicht volkswirtschaftlich geschult genug, um zu

wissen, inwieweit eine kapitalistische Großindustrie rein nach europäischem Muster im Lande eingeführt werden konnte.

Um eine Anknüpfung an

einheimische Ansätze kümmerte er sich nicht, wie auch der Kustar trotz

aller Modefürsorge vernachlässigt wurde. Am bedenklichsten aber war, daß sich dieses Finanz- und Jndustriesystem schließlich doch allein auf Kosten des Bauem auswirkte.

Witte hat den verhängnisvollen Zirkel nicht ge­

schaffen, in dem sich sein Vaterland bewegte, daß ein an vielen Stellen chronisch

an

Hungersnot

leidendes

Land

einen gewaltigen

Getreide­

export aufrechterhalten mußte. Aber er hat auch nichts getan, um das

Die Entstehung des modernen Rußlands. Volk aus diesem Zirkel herauszuführen.

79

Er hat gehofft, daß der Bauer

noch eine Zeitlang diese Anspannung aushalten würde, weil er eine be­

rechtigt große Vorstellung von der Fähigkeit seines Volkes, Not zu leiden, hatte, und er glaubte, daß Rußland Zeit genug haben würde, um sich von diesem Zustande ausländischer Kapitaleinfuhr und auf Kosten des

Bauem zu bezahlender Verschuldung an das Ausland zur gereiften boden­

ständigen Volkswirtschaft zu entwickeln. Es ist auch nicht erlaubt, über sein

System in dieser Beziehung einfach verurteilend abzusprechen. Gewiß war die agrarische Not sehr groß, aber denkbar war es, die wirtschaftliche Kraft

des Volkes zunächst auf dem von Witte eingeschlagenen Wege so weit zu

festigen, daß dann an eine agrarische Reform gegangen werden konnte. Nur war dafür die Voraussetzung, deren Notwendigkeit Witte auch immer ein­

gesehen hat, daß Rußland eine längere Zeit friedlicher Entwicklung beschieden

war.

Witte erkannte die Notwendigkeit der Expansion nach dem fernen

Osten an, aber sie durfte nach ihm nur friedlich sein. Von jeder kriegerischen

Verwicklung mußte er befürchten, daß sein finanztechnisches Lebenswerk dadurch erschüttert

würde' und daß Millionen

volkswirtschaftlich

un­

produktiv weggeworfen werden müßten. Daher gehörte er zu den Gegnern

der Kriegspolitik, die aber über ihn hinweg ging und siegreich blieb.

Er wurde 1903 gestürzt, indem die jahrelangen Wirkungen der industriellen

Krise, die Gegenarbeit der agrarischen Gegner und die seinem System Schuld gegebenen revolutionären Bewegungen übermächtig gegen ihn zu-

sammenflossen. Nun hatte aber weder der Krieg noch die aus ihm hervor­ gehende Revolution die befürchteten finanziellen Folgen.

Deshalb ist

dieses sog. System Witte auch nicht im ganzen zusammengebrochen. Nur insoweit hat diese Krisis gewirkt, als die Vernachlässigung der Agrarfrage

zugunsten anderer Zweige von nun an schlechterdings nicht mehr erlaubt

war. Die einseitige Förderung einer Großindustrie um jeden Preis wurde aufgegeben und die Agrarreform begonnen.

Sonst aber ist die spätere

Wirtschafts- und Finanzpolitik ganz auf den Bahnen Wittes weiter­ gegangen.

Für die Revolution von 1904 aber schuf die Wittesche Jndustrie-

polittk unmittelbar eine Voraussetzung durch das Arbeiterproletariat, das sie mit sich brachte.

l) Lositzki.

Ein Statistikers rechnete, daß zu Beginn des 20.

80

II. Kapitel.

Jahrhunderts fast K (22%) der russischen Bevölkerung proletorisiert waren. Aber weder das agrarische noch das Lumpenproletariat der Städte (der sog. 5. Stand Gorkis) waren zu einer Revolution allein im Stande,

sondem dazu mußten sich mit ihnen die Jndustriearbeiterzentren verbinden,

die im modernen Sinn erst jetzt entstanden. 1879 zählte man 685286, 1890:. 868 844, 1897: 1487 019 Arbeiter; die Zahlen der offiziellen Gewerbezählung von 1897 sind noch höher: 2,39 Millionen in Industrie, Bergbau und Bauwesen, davon 2 Millionen männlicher Arbeiter. Diese Verschiebung machte sich durch Streiks uitb- Lohnbewegungen, vor allem durch eine Sozialdemokratie fühlbar, und das ergab für die ältere nihilistisch­ revolutionäre Bewegung eine ganz neue Aussicht.

V. Letzte geistige Voraussetzungen der Revolution.

Als der Nihilismus auch mit dem Zarenmord von 1881 den Um­ sturz des Staates nicht herbeizuführen vermochte, haben seine zerstörenden

Kräfte unter der Oberfläche weiter gearbeitet. Die Partei der „Narodnaja

Wolja" blieb bestehen und versuchte in weiteren Attentaten auf den Zaren und seine Diener doch noch zu ihrem letzten Ziel zu kommen. sie erfaßte weitere Kreise nicht mehr, weil diese einsahen,

Aber

daß die

Staatsorganisation die stärkere blieb und ihren Druck auf das öffentliche

Leben deshalb höchstens steigerte. Dafür ging die zerstörende Arbeit geistig im Verborgenen unaufhaltsam weiter. Der prinzipielle Anarchismus, in

den der Nihilismus schließlich ausgemündet war und dessen Haupwertrcrer P. Kropotkins ist, sammelte in den 20 Jahren bis zum Beginn der

Revolution nicht übermäßig viele tatbercite Anhänger. Um so stärker wirkte er auf die Geister mit seinen radikalen Lösungen, die dem russischen Geiste so besonders nahe lagen, und wurde darin durch die schöne Literatur

unterstützt. Erst in diesen zwei Jahrzehnten ist Dostojewski (gest. 1881) zu seiner vollen destruktiven Wirkung gekommen. Da er wie die russische moderne

Dichtung überhaupt aufs stärkste in fremde Sprachen übersetzt wurde, ge­ wann diese Richtung eine große Bundesgenossenschaft, indem durch ihre

Schilderungen des russischen Lebens die öffentliche Meinung Westeuropas *) S. bessert Memoiren eines Revolutionärs. Stuttgart 1900 f.

81

Die Entstehung des modernen Rußlands.

stark beeinflußt wurde. Dieses Moment tritt im Urteil über den Einfluß

der Russen auf die westeuropäische, besonders die deutsche Literatur der 90er Jahre zu sehr zurück.

Man nahm sie in erster Linie als Potenzen

der allgemeinen geistigen Bewegung in der Literatur. Man staunte über die unerhörte realistische Kühnheit, mit der sie vor keiner Schattenseite des

Lebens zurückschreckten, und über die so noch nirgends erreichte Sensibilität, mit der die psychologische Analyse, die Schilderung seelischer Stimmungen und Schwingungen eine ungeahnte Höhe erklomm. Uber dieser allgemeinen

Wirkung ist immer übersehen worden, daß diese Literatur voll bestimmter

Tendenzen zugleich auch russisches Leben schilderte und der russischen Un­ zufriedenheit ein auf diese Weise gewaltig erweitertes Feld der Äußerung gab.

Kaum haben sich die russische Regierung und die maßgebenden

Kreise des Landes überlegt, was diese einseitigen und tendenziösen, aber oft von Meisterhand und mit

elementarer Kraft gezeichneten

Bilder des

russischen Lebens für die Bewertung Rußlands in Europa f > Deutet haben.

Was sich so vorbereitet hatte, hat dann Leo Tolstoi

1828—1910)

zu einer Höhe gesteigert, die nicht Überboten werden konnte.

Aus dem

großen Romancier war in der Mitte der 70er Jahre ein Religions­

philosoph geworden, der sich in die Sittenlehre des Urchristentums ver­ tiefte und immer mehr den schreienden Widerspruch empfand, in dem diese zu dem Rußland seiner Gegenwart, insonderheit zu der Lage der

Bauern stand. Man war zuerst geneigt, die Art, in der Tolstoi aus seinen

neuen Überzeugungen die praktischen Konsequenzen für sein eigenes Leben zog, als Narrheiten eines Sonderlings zu beurteilen und darüber zu

übersehen, wie destruktiv es wirken mußte, daß dieser Mann in seiner

Lehre und in seinem Leben entschlossen auch vor den Autoritäten des Staates und der Kirche nicht Halt machte, mit denen er sich in Wider­ spruch fühlte. Die Leute, die in den 70er Jahren „in das Volk gingen",

haben den Bauer nicht zu gewinnen vermocht, aber Tolstoi, der ein Volks­

schriftsteller ersten Ranges war und dessen kleine volkspädagogische Schriften ungeheuer verbreitet wurden, hat das gekonnt. Und der theoretische Komnin-

nismus, mit dem er endete, war um so wirksamer, als er an Urvor­ stellungen im Bauerntum anknüpfte, die noch sehr lebendig waren. Mil

seiner Lehre hat Tolstoi so den Nihilismus zwar geistig überwunden, indem er, von einer starken religiösen Gmndlage pantheistischer Färbung aus­

gehend, eine umfassende Sittenlehre predigte. Aber er hat die auf ZerHoeßsch, Rußland.

6

II. Kapitel.

82

stömng des bestehenden Staates gerichtete Lendmz dieser geistigen Be­ wegung abgeschlossen, indem er mit seiner Lehre die bestehende staatliche

und kirchliche Ordnung einfach auflöste.

Dadurch, daß diese Ideen von

einem Meister der Literatur mit größter geistiger Kraft, mit aller Schön­

heit der Sprache ausgesprochen wurden, waren sie ihrer Wirkung auf die Intelligenz immer sicher und fanden sie im Auslande Verbreitung und

Beifall. Durch ihre Wendung zum Praktischen aber, die zur Aufforderung zur Steuerverweigerung und Verweigerung des Militärdienstes führte,

gewannen sie Kreise, an die bis dahin die Agitation niemals herangekommen

war. So ist Tolstoi in den zwei Jahrzehnten vor 1904 einer der stärksten Wegbereiter der Revolution gewesen, ein Feind des bestehenden Staates

und der bestehenden Kirche, den diese beiden Mächte der Autorität in sich

nicht mehr dulden konnten. Die Kirche hat dämm, von ihrem Stand­ punkt aus mit Recht, die Konsequenz gezogm, indem sie ihn exkommuni­ zierte (März 1901)1).

Jedoch .ms diesen beiden Quellen, dem Nihilismus letzter Phase und dieser destrm'tto

wirkenden Literatur, hätte nicht der

Strom

werden

können, der 1905 mit so großer Wucht gegen das Gebäude des Zaren­ tums heranbrauste. Es war für den Staat wohl schädlich und verhängnis­ voll, daß seine gebildeten Kreise vielfach dieser geistigen Anarchie ver­ fielen und daß die vorhandene Unzuftiedenheit der Bauern in der Lehre Tolstois einen praktischen Ausdmck und ein Ziel fand. Aber die Revolution

wurde, obwohl es manchmal so schien, nicht eine Agrarrevolution über das ganze Land hin, weil dieses Bauemtum nicht reif genug dazu war

und des Klassenzusammenhangs mtbehrte. Vielmehr ist die agrarische Unzufriedenheit, die allerdings dann nach Lage der Bedürfnisse des Landes'

in der Duma eine sehr große Rolle spielte, benutzt und vorgespannt worden von einer anderen Bewegung, die die Dinge zum Ausbmch trieb.

Schon in den ersten Jahren Alexanders Hl. hatte ein begabter Kopf des damaligen Nihilismus, selbst ein Mitglied der „Narodnaja Wolja", eingesehen, daß man auf diesem Wege geistig so gut wie praktisch

zu nichts kam.

Und er fand den Weg aus diesen im Kreise gehenden

*) Tolstoi hat darauf eine „Antwort an den Heiligen Synod" (vom 17. April

1901) veröffentlicht, die bei aller sie durchwehenden religiösen Kraft die hier auf­ gezeigte Kluft auch nicht zu überbrücken vermochte.

Die Entstehung des niodernen Rußlands.

88

Gedanken durch den vollständigen Anschluß an die Lehrm des westeuropäischen Sozialismus.

G. Plechanow schrieb 1883 „Der Sozialismus

und der Politische Kampf" und 1885 „Unsere Meinungsverschiedenheiten" (in der Partei der „Narodnaja Wolja" nämlich) und stellte damit die

Verknüpfung mit dem westeuropäischen, insonderheit dem deutschen Sozia­

lismus in der Fassung von Karl Marx erst endgültig her. Jetzt wurde aus der einfachen Herübernahme sozialistischer Ideen ihre Anpassung an die

Forderungen des russischen Lebens: Rußland sängt an, ein kapitalistischer Staat zu werden, erhält also ein Proletariat. Deshalb braucht die gegen

das Zarentum gerichtete revolutionäre Bewegung nicht mehr auf die Bauem zu hoffen, sondern kann sich auf die Industriearbeiter stützen. So

kam es darauf an, einmal die nihilistische Intelligenz in immer stärkerem

Maße mit den Gedanken des westlichen internationalen Sozialismus zu

erfüllen; Zusammenhänge, die längst bestanden, erhielten eine neue BedeuMng. Femer mußte diese Plechanowsche Anschauung die soziale Schicht

finden, auf die sie sich stützen konnte, und danach doch auch an dir

für das Gelingen einer Revolution in Rußland unbedingt notwendige Schicht, die Bauern, heranzukommen suchen.

Das letztere ist in einer

Agitation angestrebt worden, die mit Geschick an die vorhandenen kommu­ nistischen Vorstellungen anknüpfte. Sie hätte trotzdem dasselbe Schicksal

gehabt, wie die Bewegung des „Jns-Bolk-Gehens" in den 70er Jahren, wenn ihr nicht die gewaltige, seitdem entstandene Unzufriedenheit der

Bauem

entgegengekommen wäre, und wenn sie nicht eben die Ver­

stärkung gefunden hätte, die jener früheren geistigen Bewegung gefehlt hatte, ein industrielles Proletariat, Zusammenballungen von Arbeitern

in den großen städtischen Zentren. Der geistige Kampf um diese Fragen, zwischen den Bertretem der

letzten Phase des Nihilismus und des Marxismus, erfüllt die achtziger, noch mehr die neunziger Jahre.

Die Namen: Plechanow, Axelrod,

Struve, Tugan-Baranowski, Wera Sassulitsch, Lenin, Martow führen schon in die GegenwaA herein.

Sie zeigen zugleich auch die enge Ver­

bindung mit der deutschen marxistischen Sozialdemokratie, die namentlich

durch Plechanow und Axelrod hergestellt war.

In ihnen belebte dieser

russische Marxismus der 90er Jahre die Jntelligmz von neuem, indem

er sie aus den extremen Phantasien des letzten Nihilismus auf den festen Bodm der wirtschaftlichen und sozialm Verhältnisse und des Klassen-

6*

II. Kapitel.

84 kampfes stellte.

Die Führer der Arbeiter übernehmen unter Nikolai II.

die Rolle der Dekabristen unter Alexander I., und auf diese

Weise

wurde, wie man es ausgedrückt hat, zunächst theoretisch der bisherige bäuerlich-ethische Sozialismus zum Ausdruck des Klassenkampses zwischen

Bourgeosie und industriellem Proletariat. Das Leben paßte freilich nicht

ganz zu dieser Theorie: die Ansätze des industriellen Proletariats hängen noch fest mit dem Dorfe zusammen, und die Bourgeosie ist bis zur Gegen­ wart keine geschlossene soziale Klasse geworden, sondern zahlenmäßig schwach

und vom Staate abhängig geblieben.

Gleichwohl veränderte sich

Charakter der dem Staate feindlichen

Schichten, die Voraussetzungen

der

einer revolutionären Umgestaltung wurden breiter und gefährlicher. Das

war in Streiks und in den Anfängen der politischen Arbeiterorganisation zu

erkennen.

Nachdem die überhaupt ersten eigentlichen Streiks im Jahre

1885 vorgekommen waren, fallen die ersten wirklich bedeutungsvollen Streiks in die Jahre 1894, 1895, vor allem 1896:. der große Streik

der Textilarbeiter.

Ebenfalls in die 80er Jahre reichen die Versuche der

Organisation zurück.

Die Plechanowsche Gruppe der „Befreiung der

Arbeit" von 1883 ist, im Auslande organisiert, der Ausgang der russischen

Sozialdemokratie; die erste sozialdemokratische Organisation in Rußland selbst ist 1895 entstanden.

Erst in den 90er Jahren, unter der Wirkung

der Jndustriepolitik, ging die Organisation mehr in die Breite: 1895

entstand

ein

Verband

zur „Befreiung der Arbeiterklasse",

1897 der

allgemeinjüdische Arbeiterbund von Rußland und Polen, der auch russisch

sog. „Bund", 1898 verwandeln sich die sog. „Kampfverbände" in den

Provinzen in „Komitees der russisch-sozialdemokratischen Partei".

Seit­

dem war eine russische Sozialdemokratie und auch eine solche der Grenz­ marken vorhanden. Ebenso war die „Narodnaja Wolja" wieder aufgclcbt

(1894), die 1902 zur Partei der Sozialrevolutionäre wurde, und bald waren verschiedene einander befehdende Richtungen da, in denen sich der

Geist Bakunins und der von Karl Marx bekämpften.

Die Bedeutung

dieser neuen sozialen Bewegung wurde noch offenbarer, als sie den An­

fang

einer

Sozialpolitik

erzwang

(1897

Fabrikinspektion

und

Gesetz

über den Maximalarbeitstag) und die Regierung seit 1899 eine Gegen­ propaganda durch Organisierung staatstreuer Arbeiter versuchte (durch

den Moskauer nannt).

Polizeimeister

Subatow,

daher

Subatowschtschina

ge­

Die Entstehung des modernen Rußlands.

85

Der Ring all dieser Voraussetzungen zur Revolution wurde geschlossen, als — im Jahre 1901 zum ersten Male — in den Studentenunruhen, die damals die Universitäten bewegten, sich die Intelligenz mit dem Proletariat

verbündete und nun gemeinsam die Revolutionierung des Bauerntums in die Hand nahm. Das vor allem gefährdete den Staat, da die geschilderte

geistige Entwicklung aus dem Studentenleben in das Beamtentum über­

tragen wurde, und das gleiche, aus den Offizierbildungsinstituten heraus,

in den Offizierkorps wenigstens der Spezialwaffen und der Flotte, zum Teil aber auch der Linieninsanterie, geschah. Nimmt man hinzu, daß sich

diese ganze Entwicklung in den nichtrussischen Teilen des Staates, wenn

auch mit Unterschieden, gleichfalls vollzog, daß in den Ostseeprovinzen, in Polen und Finnland auch ein industrielles Proletariat entstanden war, und daß in diesen drei Grenzmarken und in der Ukraine zu all dem

noch der nationale alte Gegensatz und neue Haß hinzukam, den die Rüssi-

fizierung geschaffen hatte, so sind die historischen Voraussetzungen für die Revolution vollständig gegeben.

Und es bedurfte nur eines verhältnis­

mäßig geringen Anstoßes von außen, um den so aufgehäuften Zündstoff in hellen Flammen emporschlagen zu lassen.

Wie weit war, als die Revolution losbräch, die Europäisierung

Rußlands gediehen?

Das Herrscherhaus ist ein Glied der europäischen

KulMrgemeinschaft geworden, aber dadurch, daß es die blutmäßige Ver­

bindung mit dem eigenen Volke aufgegeben hat. Ist doch seit Peter III., dessen Mutter, die Gemahlin eines Holstein-Gottorper Herzogs, noch eine

Romanow (die Tochter Peter des Großen) war, kein russisches Blut in diese Herrscherfamilie gekommen*). Vom Herrscherhause aus wird die innerliche Europäisierung immer schwächer, je weiter die einzelnen Kreise von diesem Mittelpunkte entfernt

sind. Unfraglich ist in den Kreisen der Beamten und Offiziere ein sehr erheblicher Prozentsatz auch innerlich, geistig wie sittlich, europäisch Ge­

bildeter vorhanden.

Aber keineswegs alle Glieder dieser Schicht und des

Adels überhaupt haben den Widerspruch in sich überwunden, den Peter, Elisabeth und Katharina damit schufen, daß sie erst deutsch-holländische und bann französische Kultur in das russische Wesen eingeführt haben.

*) Trotz aller dagegen sprechenden Momente ist Paul als Sohn Peters TU und Katharinas, nicht Katharinas und SallykowS anzusehen.

n. Kapitel.

86

Die Französierung des russischm Adels, die im 18. Jahrhundert dadurch

erreicht war,

ist freilich durch die bewußt national-russische Haltung

Alexander HL wieder rückgängig gemacht worden. Aber auch damit sind in der Oberschicht die verschiedenen Elemente ihrer Kultur noch nicht aus­ geglichen worden, sondem lagert die fremde, oft nur äußerlich angenommene

Kultur noch unvermittelt neben dem Wesen des eigenen Volkes, mit dem rin enger Zusammenhang für große Kreise des Adels auch heute noch

besteht.

So ist wohl ein großer Abstand zwischen der dünnen Oberschicht

des Besitzes und der Zivilisation und der davon ausgeschlossenen großen

Masse

entstanden,

aber

dieser

Gegensatz

erscheint

für den flüchtigen

Blick stärker, als ihn die Abneigung des Volkes gegen Klassengeist und

-Vorurteile

und

der

allen eigene demokratische Zug tatsächlich haben

werden lassen. Auch die Intelligenz hat sich innerlich in vielen ihrer Glieder euro-

päisiert. Selbst die Führer des Nationalismus in der Gegenwart arbeiten, wenn auch nicht immer bewußt, mit dem Kapital, das sie dem geistigen

Anschlüsse an Europa verdanken. Aber diese Intelligenz bedeutet bei der

Lage des Schulwesens und ihrer eigenen geringen Zahl auch heute noch nicht allzuviel, besonders da die gesamte Intelligenz geistlichen Berufs

ganz ausfällt. Dasselbe gilt für die zahlenmäßig gleichfalls nicht große Schicht der Kaufmannschaft und Gewerbetreibenden, um so mehr, als in dieser sehr viele nichtrussische Elemente tätig sind und andererseits sich gerade im

Kaufmannsstande das Altrussentum, oft in Verbindung mit dem „alt­

gläubigen" Wesen, noch sehr lebendig erhält). Aus seiner früheren Ge­ schichte hat ja das russische Volk auch das als Erbteil in die neueste Zeit hereingenommen, daß seiner sozialen Struktur ein dritter Stand im west­ europäischen Sinne fehlte.

Auch heute noch ist es bis zu vier Fünftel

seiner Bevölkerung ein Bauemvoll.

Und dieses Bauernvolk trägt das

geschilderte — autochthone — Erbteil der Vergangenheit mindestens geistig noch in vollem Umfange mit sich. Das Zeitalter des Individualismus ist bisher noch nicht erreicht, für diese Stufe der Europäisierung schlt auch

heute noch die soziale Grundlage. *) Es sei

erinnert.

an dm heute noch

Dagegen sind die im Volkscharakter sehr

geläusigen Begriff des

„MoSkwiffch"

Die Entstehung des modemen Rußlands.

87

und in der geographischen Lage liegenden Bedingungen für eine Konser­ vierung mittelalterlichen Wesens und psychischer Gebundenheit durch die

politische Geschichte noch gewaltig gesteigert worden: in seiner wirtschaft­ lichen, sozialen und geistigen Entwicklung hat sich das russische Volk

jahrhundertelang sehr langsam vorwärts bewegt, während seine politische Organisation mit ihren Bedürfnissen in großer Wucht und Schnelligkeit

wuchs.

UI. Kapitel.

Der Krieg mit Japan nnd die Revolnlion bis zum Zusammentritt der ersten Duma.

i. Die asiatische Kolonialpolitik hatte Rußland immer tiefer in die

Probleme des fernen Ostens verstrickt, die mit dem Kriege zwischen Japan und China (1894) ins Rollen gekommen waren. Getragen wurde diese Politik von dem „Departement des fernen Ostens"

in seinem

Ministerium des Äußeren, dann seit 1903 von dem selbständig daneben

gestellten „Komitee für den fernen Osten", das 1905 nach dem großen Fehlschlage des Krieges wieder aufgehoben worden ist.

Das Korea-Abkommen 1897, das russische Geschwader in Port

Arthur Dezember 1897, der Pachtvertrag mit China über Port Arthur März 1898, die Begründung der russisch-chinesischen Bank 1896, die

wieder die ostchinesische Eisenbahngesellschaft begründete, der Bau dieser ostchinesischen Bahn seit 1898, die Befestigung von Port Arthur und die

Anlage eines „asiatischen San Franziskos" (Dalni) in demselben Jahre schienen Etappen einer ebenso glücklichen Expansion im fernen Osten

zu sein, wie diese es im Kaukasus, in Turkestan und Mestsibirien gewesen war. Ihr Ziel war die Nordmandschurei und durch sie hindurch eine Ver­

bindung (Charbin—Port Arthur) der großen sibirischen Bahn mit dem Stillen Ozean an einer günstigeren Stelle, als in dem zu weit nördlich ge­ legenen Wladiwostok, und an einer Stelle, die eine bessere Möglichkeit des

Einflusses auf die chinesische Frage bot.

Manchen, als deren Führer der

Fürst Uchtomski galt, standen dahinter noch höhere Ziele der russischen Herrschaft in Asien, für die Uchtomski sogar eine Verschmelzung von Slawen und Mongolen propagierte.

Seit seiner Reise im fernen Osten

stand auch der Zar im Banne dieser weit fliegenden Gedanken, die die

Der Krieg mit Japan und die Revolution.

89

russische Politik von Europa ablenkten und der Kulturmission Rußlands so sehr zu entsprechen schienen, und ihn umgaben Diener, die zur Er­

reichung dieser Ziele vor nichts zurückschreckten. So ging wenigstens eine bestimmte Richtung, die freilich die Verantwortlichen Minister des Zaren

in

auswärtigen

Dingen

(Graf Murawjew,

Graf

Lambsdorff),

nur

ungern mitmachten, darauf aus, so viel wie möglich vom nördlichen China

unter russische Botmäßigkeit

zu

bringen.

1903

wurde schon

eine eigene Verwaltungsstelle eingerichtet, die Statthalterschaft „Dalni Wostok", d. h. ferner Osten, in deren Bereich (Transbaikalien, Amur-

und Küstengebiet, Kwantung und Sachalin) auch das Gebiet an der chinesischen

Ostbahn

und die

„an

die

Statthalterschaft

angrenzenden

jenseits der Grenze liegenden russischen Besitzungen", d. h. die Mand­ schurei einbezogen wurden. Jenes besondere selbständige Komitee für den

fernen Osten unter Leitung eines Staatssekretärs (Minister ohne Porte­ feuille) Besobrasow hatte in Petersburg diese Politik zu treiben und mit

ihm hatte, unabhängig von der verantwortlichen Führung der auswärtigen Geschäfte, der Statthalter des fernen Ostens, F. G. Alexejew, zu arbeiten.

Diese Politik trug ohne Zweifel einen großen Zug. Sie war logisch,

indem sie eine seit Jahrhunderten nach dem Osten vordringende Expansion abrunden und günstigere Verbindungen mit dem Stillen Ozean anstreben wollte, als Rußland bisher hatte. Eher konnte auch das Werk des Grafen Murawjew-Amurski nicht als vollendet gellen. Diese Politik war Impe­

rialismus, der auch in Rußland jetzt bewußt als Programm ausgenommen wurde, nicht nur das Werk einer egoistischen Klique von Holz- und

Minenspekulanten in Korea. Aber sie hotte in ihrem über ein Jahrzehnt fast ungehindert vorangehendem Vorwärtsdrängen das Augenmaß für das verloren, was sie gegen Japan durchsetzen konnte.

Hingewiesen worden ist die russische Politik auf dieses Hindernis

durch die aus Japan kommenden Proteste, durch die Berichte ihres Vertreters in Tokio, des Barons Rosen, und schließlich durch den Besuch des führenden japanischen Staatsmannes Ito int Dezember 1901 in

Petersburg.

Weitblickender als Rußland, ließ Japan damals seinem

Nachbarn und Rivalen die friedliche Auseinandersetzung in Ostasien an­

bieten, zu der sich Rußland schließlich 1910 und endgültig erst im Welt­ kriege verstanden hat.

Aber die damalige russische Staatsknnst glaubte,

den Gegner verachten zu können, Ito wurde abgewiesen, und schon am

HI. Aapttel.

90

30. Januar 1902 schloß England sein Bündnis mit Japan.

Seitdem

war ein Krieg zwischen Rußland und Japan sicher. Die Gefahren, die er Rußland bringen konnte, sah die Partei

am Hofe, die sich um Witte, den Grafen Lambsdorff und den Kriegs­ minister (seit 1898 Kuropatkin) gruppierte — auch der nächste Vertraute

des Zaren, der Hofminister Baron Fredericks, gehörte dazu — gar wohl.

Auf der anderen Seite stand die Gruppe, die Rußland in leichtsinniger Unterschätzung des Gegners in den Krieg hereingetrieben hat: vornehmlich

Besobrasow und Alexejew; auch Plehwe, der Minister des Innern, war auf ihrer Seite.

Der Zar war friedlich gesinnt, aber erfüllt von

jener großen Mission Rußlands in Asien und ließ, sich daher immer

tiefer in den drohenden Konflikt hereinziehen, obwohl die öffentliche Mei­

nung von einer Angriffspolitik in Ostasien nichts wissen wollte.

Denn

die asiatische Politik ist der russischen Gesellschaft immer unsympathisch oder

gleichgültig gewesen; für sie bleibt die orientalische Frage im alten Sinne

die Zentralfrage.

Von vornherein mußte daher ein Krieg mit Japan

damit rechnen, höchst unpopulär zu sein.

Witte hat sich trotzdem den

Kriegstreibern nicht mit aller Kraft entgegengestellt und ist rühmlos ge­

wichen. Er wurde am 29. August 1903 entlasten, nachdem am 13. August Alexejew ernannt worden war. Gereizt durch die Verschleppung der Verhandlungen, brach Japan

diese am 5. Febmar 1904 ab und begann den Krieg. Von vornherein waren die Aussichten für Rußland ungünstiger.

An Ort und Stelle

reichten die verfügbaren Truppen bei weitem nicht aus, langwierige Transporte mußten sie erst verstärken. Der Krieg mußte ferner bei der

Lage Japans zu einem wichtigen Teile Seekrieg sein, in dem Rußlands Stärke niemals gelegen hat und in dem es auch insofern die schwächere

Position hatte, als der Verschluß der Meerengen seiner Schtvarzmeer-

flotte die Ausfahrt und Teilnahme am Kampf unmöglich machte. Die Lage seiner Finanzen schien auch nicht zu dem Kriege zu ermutigen, waren doch schon seit einigen-Jahren in Europa Zweifel an ihrer Solidität laut

geworden und drohten Fehlschläge namentlich das französische Kapital ge­ fährlich mißtrauisch zu machen. Und die internationale Sicherung reichte

nicht aus, weil das Bündnis mit Frankreich, obwohl auf den fernen

Osten auch ausgedehnt, durch die Vorbereitung zur Entente Frankreichs

mit England in seiner BedeuMng geschwächt war und England, auch

Der Krieg mit Japan und die Revolution. Wenn

91

eS später militärisch nicht in dm Krieg eintrat, so Frankreich

fesselte. Für einen russischen Erfolg sprach nur die alte Ausdauer und

Tapferkeit der Landarmee, die sich dann auch glänzend bewährt hat, die

unerschöpfliche militärische Reserve und die Haltung Deutschlands, das

Aber alles in allem genommen,

Rußland die europäische Flanke deckte.

begann im Februar 1904 ein Krieg unter so ungünstigen Umständen wie noch niemals in der russischen Geschichte.

Man hat die Gründe für

die Niederlage Rußlands ganz richtig so formuliert, daß mit Japan über

Rußland Moltke über Napoleon gesiegt habe.

Diese Verschiedenheit der

Strategie und Taktik war aber in einem tiefen Unterschied zwischen beiden Völkem begründet, der bei rein militärischer Betrachtung nicht hervortritt.

Man kritisierte die mssischen Heerführer, Stackelberg, Grippenberg, Kuropatkin besonders, der sich in Turkestan seine Sporen verdient hatte, seit

Jahren als kommender Mann galt und nun versagte, und man pries die an Moltke erinnernden Züge der japanischen Heerführer Ojama und

Nogi. Aber noch wichtiger als diese Überlegenheit in der Tmppenfühmng war, daß die modeme Taktik im russischen Heere längst nicht so zur

Geltung kommen konnte wie im japanischen, einfach weil den russischen

Soldaten die Vorbildung, die persönliche, intellektuelle und moralische Eignung dazu fehlte. Der Grundgedanke einer modernen Schlachtanlage, die Auflösung in Schützenschwärme, die sich mit größer Selbständigkeit der

Unterführer und des einzelnen Mannes in individueller Feuertaktik und der Arbeit

mit dem

Spaten

an

den

Feind heranarbeiten,

war

in

einem Heere nicht denkbar, das noch ganz auf die alte Kolonnen- und Stoßtaktik erzogen war und dessen Offiziere und Soldaten in ihrer seelischen

Struktur, in ihrer Erziehung und Bildung für die selbständige Tätigkeit des Einzelnen in der modernen Riesenschlacht nichts mitbrachten. Daher

zwar die alt-russische Tapferkeit im geschlossenen Kampf, die das „graue Tierchen" — nach Dragomirows Koseausdruck für den mssischen Soldaten

— auch diesmal zeigte, daher aber auch der Mangel an Verständnis für das moderne Feuergefecht, für Aufllärung und Sicherung, daher oft die völlige Kopflosigkeit in unerwarteten Lagen.

Dazu wirkten Einflüsse auch aus

Petersburg auf die Fühmng störend ein. Jeder Schwung fehlte und jede

moralische Unterstützung aus dem Patriotismus der Heimat, überall stieß man auf Mißtrauen in der Armee, und diese litt unter den alten

92

HL Kapitel.

Organisationsfehlem, den Erfahmngen in Ausrüstung und Versorgung,

die Rußland in jedem modemen Kriege (mit Ausnahme deS Weltkrieges)

gemacht hat und die bei den ungeheuren Entfemungen doppelt und drei­ fach wirkten. Bewunderswert war nur, wie es gelang, mit dem einen Geleife der sibirischen Bahn den Nachschub

zu bewältigen, besonders

da die Verbindung dieser Bahnlinie mit der Heimat über die Wolga

an einer einzigen Brücke hing, der Alexanderbrücke bei Batraki, un­

weit Sysran, deren Zerstömng durch die Revolutionäre fortwährend be­ fürchtet werden mußte. Erst allmählich machte sich für Rußland geltend, daß der Gegner

in diesem Kriege ein strategisches Ziel nicht haben konnte. Zwar gewann er die Herrschaft zur See durch den Sieg von Tsushima und eroberte Korea

und Port Arthur.

Da aber Rußland trotzdem stark genug blieb, den

Krieg fortzusetzen, stieß auch die höchste Feldherrnkunst und der todes­ mutigste Opfermut der Japaner ebenso ins Leere wie Napoleon 18:12. Zum Staunen Europas trat zudem die erwartete Erschüttemng der

russischen Finanzen nicht ein, Rußland war nicht gezwungen, den Krieg

aus Geldmangel vorzeitig zu beenden, während gerade der Dmck des fremden Kapitals, das Japan weitere Mittel nicht zur Verfügung stellte,

dieses zu Friedensverhandlungen zwang. Am 5. September 1905 wurde unter Vermittlung der Vereinigten Staaten der Friede von Portsmouth geschlossen.

Der russische Unter­

händler war Witte, der, nachdem die Gegenpartei gründlich Schiffbruch ge­

litten hatte, wieder aufgetaucht war. Mit dem Ruhme, seinem Vaterlande

den Frieden gebracht zu haben, obwohl sein tatsächliches Verdienst ziemlich gering war, ist er in die Heimat zurückgekehrt, um dort wieder der

Retter des Vaterlandes zu werden.

Rußland verlor Port Arthur und

Dalni, verzichtete auf Korea und den südlichen Teil der ostchinesischen Bahn, sowie die Südhälfte von Sachalin. Dagegen vermochte es mit Erfolg

die Verpflichtung zu einer Kriegsentschädigung abzuwenden.

Im ganzen

ist so seine Stellung in Ostasien durch den Krieg, so schwer er sein Prestige geschädigt hat, nicht wesentlich erschüttert worden; aus größerer Distanz gesehen war er ein ungeheuer kostspieliges Kolonialabenteuer, aber

nicht mehr.

Der Krieg mit Japan und die Revolution.

93

n. Freilich erschütterten die Niederlagen den Staat viel schwerer als je

ein früherer Fehlschlag, und war daher ihre Wirkung auf die inner­

russische Entwicklung von größter Bedeutung. Der Krieg war nicht nur höchst unpopulär, seine Niederlagen wurden sogar daheim von Liberalen

und Revolutionären mit Freuden begrüßt, weil man von ihnen eine Schwächung der absoluten Gewalt erhoffte — so stark war damals

der Widerspruch zwischen der Weltpolitik des Staates und den Wünschen

des Volkes geworden.

Als die Niederlagen nun erwiesen, daß der Staat

nicht einmal auf seinem eigensten Gebiet seine Aufgabe zu erfüllen ver­

mochte, brach die seit einem Menschenalter aufgesammelte Unzufriedenheit mit elementarer Kraft gegen ihn los. Semstwokreise, Arbeiter und Bauern,

Studenten und Intelligenz gerieten in eine von Monat zu Monat wachsende Unruhe. Allerlei Reformen und Zugeständnisse, die schon seit dem Jahre 1902 gewährt worden waren, zeigten, daß den regierenden Schichten bereits vor

Ausbruch des Krieges schwül geworden war.

Das war die Wirkung

des Zusammengehens von Proletariat und Intelligenz, das in den ersten

Jahren des 20. Jahrhunderts bemerkt wurde.

Das Jahr 1901 kann

mit dem blutigen Streik in den Obuchowwerken, dem über 100 Streiks

im Reiche folgten, und seinen Studentenunruhen als Epoche dafür fest­

gehalten werden. Attentatsversuche gegen hohe Würdenträger zeigten dazu, daß diese vereinigte Freiheitsbewegung das ihrem neuen Charakter ent­

sprechende Kampfmittel des Streiks und die alten Mittel des Nihilismus wirksam verband.

Am 15.

April

1902 war der Minister des Innern Sipjagin

ermordet worden. Sein Nachfolger wurde W. K. Plehwe (1846—1904), einer der entschlossensten Anhänger des alten Systems und ein Mann von

stärkster Willenskraft. Gleichsam als Antwort auf seine Ernennung schufen sich die Liberalen neue wirksame

Organe für ■ ihre

Bewegung.

Bei

der Krönung des Zaren in Moskau 1896 hatten die Semstwokreise erneut

Beziehungen unter sich hergestellt, die im Juni 1902 zur Begründung

der Zentrale für Semstwoangelegenheiten in Moskau führten. Damit be­ gründeten die Semstwos von sich aus eine Art Reichsvertretung, die die Staatsgewalt ihnen nicht hatte gewähren wollen. Und vom Auslande her arbeitete und minierte die Zeitung Oswoboschdenie'(Die Befreiung), die

111. Kapitel.

94

Peter Struwe seit Juli 1902 herausgab, — em Preßorgan, das an

Herzens „Kolokol" erinnernd, ihn weit übertraf und, obwohl selbstver­ ständlich verboten, in Rußland stark verbreitet und gelesen, ein Heerruser

der revolutionären Bewegung wurde.

Alles das, die

amtlichen Konzessionen, die Semstwozentrale

und

Stmwes Blatt, zeigten wie Fanale, daß jene geistigen und materiellen

Voraussetzungen der Revolution, die die neunziger Jahre gebracht hatten, jetzt der Öffentlichkeit zu Bewußtsein gekommen waren. Auf diese wirkten die Niederlage im Osten, die Blamage, die sich das bestehende System

dort holte, die furchtbaren Eindrücke dieses

ersten modernen Krieges

rasch so sehr ein, daß die Opposition und revolutionäre Stimmung zur Siedehitze stiegen.

Von heute auf morgen war der Absolutismus freilich nicht zu stürzen, dämm richtete sich die revolutionäre Bewegung zuerst gegen die zu allem entschlossenen und zuverlässigen Träger des bisherigen Systems, die den

Zaren umgaben. In der Ermordung Plehwes, der am 28. Juli 1904

durch einen Bombenwurf getötet wurde, glaubte sie, dieses System ent­

scheidend zu treffen. Denn e r galt ihr als seine Verkörperung in all seiner harten Willkür und Skmpellosigkeit, und ihn persönlich traf der un­ geheure Haß, den Intelligenz und Proletariat gegen ihren Staat an­ gesammelt hatten.

Tatsächlich geht auch mit diesem Attentat das alte

absolutistische Rußland zu

Ende und beginnt die Revolution.

Wäre

Rußland nicht in einem unglücklichen Kriege gewesen, so wäre dieser Mord einer der vielen gewesen, mit denen der Nihilismus die Bureau­ kratie erschreckte.

Jetzt aber äußerte sich nach diesem Attentat allgemein

die Überzeugung auch in der Beamtenschaft und in den Kreisen des Hofes mit unwiderstehlicher Kraft genau so wie am Ende des Krimkrieges, daß

es so wie bisher nicht weiter gehen könne.

Diese Kraft war aber nicht

nur wie damals die Unzufriedenheit liberaler Führerschichten, sondern die

der gesamten Intelligenz, der Fabrikarbeiterschaft und der Studentenschaft.

Sofort zu Beginn der Bewegung trat die Regierung so auf, wie sie es bis zur Emennung Stolypins in dieser Krisis tat: man sah die Not­ wendigkeit, Zugeständnisse zu machen, nicht ein und glaubte die Unruhe

durch halbe und Scheinkonzessionen zu beschwichtigen, die regelmäßig, wenn als Gnade des Zaren gewährt, als ungenügende Abschlagszahlung

zurückgewiesen wurden, so daß sie immer über sich selbst hinausführend,

Der Krieg mit Japan und die Revolution.

95

den Staat, ehe er es sich versah, in den Strudel der Wahlkämpfe und der Verhandlungen in der ersten Duma Hineinrissen. Da die Revolution

zu keiner Zeit, auch im Winter 1905/06 nicht, das ganze Land ergriff,

sondern bei Teilaufständen und lokalen Unruhen in den großen Zentren blieb, so hätte die herrschende Gewalt, zumal sie nach dem Friedensschlüsse

im September 1905 auch die Armee wieder frei bekam, wenn sie die Lage entschlossen erfaßt hätte, die Krisis viel ruhiger und ohne große De­

mütigungen bestehen können. Freilich zeigte schon die erste Lockerung des bisherigen Druckes — als diese wurde die Ernennung des Fürsten Swjatopolk-Mirski (8. Sept.

1904) zu Plehwes Nachfolger aufgefaßt, auf den im Herbst 1904 große

Hoffnungen gesetzt wurden —, wie vorbereitet in Programm und Or­ ganisation die Freiheitsbewegung schon war.

Zuerst traten die Semstwomänner

auf den Plan.

Rund

100

Semstwomitglieder hielten in Petersburg vom 19. bis 22. November 1904 den ersten der Semstwokongresse ab, die, später durch Städtevertreter er­

gänzt, in der ganzen Bewegung so wichtig wurden.

Das war bereits

das Reichssemstwo, ein Vorparlament, das halb erlaubt und halb ver­

boten tagen konnte, obwohl die Semstwos damit zweifellos ihre Befugnisse

überschritten.

Die „elf Forderungen" dieses Kongresses, in der Haupt­

sache die bekannten Grundrechte, stellten als Programm das Mindestmaß

dessen auf, was nach Meinung dieser Gesellschaftskreise vom Staat gewährt werden mußte. Es war noch in keiner Weise revolutionär, es veränderte zwar den bisherigen Staatsbau, weil alles eine VolksvertreMng forderte,

aber das Parlamentsregime und die Souveränität des Volkes wollte man keineswegs.

Die politisch reifsten Elemente der Freiheitsbewegung hatten damit gesprochen. Aber dem Zaren und dem Teil seiner Umgebung, der unbedingt

am alten System festhielt, muteten sie doch den entscheidenden Verzicht auf die Selbstherrschaft zu.

Da in diesen November- und Dezemberwochen

am Hofe kaum jemand ein Urteil über die Stärke der nach oben drängenden unterirdischen Kräfte hatte, kämpften die verschiedenen Gruppen erbittert um die Person des Zaren, während die verantwortliche Regierung der Erregung ratlos gegenüberstand. Eine allbeherrschende Persönlichkeit fehlte

in der Regierung wie am Hofe, auch Witte war das nicht, wollte oder konnte es nicht sein, und so entschloß man sich weder zur Repression noch

111. Kapitel.

96

zu Konzessionen. Kein Wunder, daß die freiheitliche Bewegung rasch an­

schwoll und auf Banketten und Kongressen der verschiedenen Berufszweige, in Stadtverwaltungen und Semstwoverhandlungen die elf Forderungen leidenschaftlich diskutierte. Aber noch beschränkte sie sich auf die Gebildeten

und Besitzenden, in den drei Richtungen der Semstwomänner, des Ver­

bandes der Verbände und des Bundes der Befreiung, dessen Organ das Siruwesche Blatt war. Gewissermaßen als Antwort auf die Forderungen dieser Kreise ge­

währte der Zar die ersten realen Zugeständnisse, in einem Ukas vom

25. Dezember

1904:

Maßnahmen

zur

rechtlichen

Gleichstellung

der

Bauern und zur Erweitemng der Selbstverwaltung, Unabhängigkeit der

Gerichte, kirchliche Toleranz, Preßfreiheit und staatliche Versicherung. Aber

in diesem Ukas „zur Vervollkommnung der Staatsordnung" war der

Hauptwunsch, die Berufung eines Parlamentes, mit keinem Wort er­ wähnt.

So wurden diese Zugeständnisse geradezu als Hohn der leitenden

Kreise auf die bitter ernst gemeinten Reformwünsche der Liberalen auf­ gefaßt.

Und

nun

meldeten

sich

zu

den

direkt revolutionären ungestüm zum Wort.

Studentendemonstrationen, die

schon

liberalen

Elementen

die

Auf Straßenunruhen und

vorgekommen

waren,

rote Sonntag in Petersburg am 22. Januar 1905.

folgte

der

Die Masse, die

der jugendliche und verkommene Priester Gapon an diesem Tage den Newskiprospekt herauf nach dem Winterpalast führte, damit sie dem Zaren

die Wünsche des Volkes überbringe, war ebenso bunt zusammengesetzt, wie

ihre

Anschauungen

und Wünsche

konfus waren.

Arbeiter und

Studenten, Großstadtgesindel und Frauen, Neugierige, wie die zahllosen Droschkenkutscher der russischen Großstadt, alles das hatte sich unter der Führung dieses Priesters, der mit dem Kreuz in der Hand dem Zug

voranging, vereinigt, um vom Zaren die Menschenrechte, die Konstitution und den sofortigen Friedensschluß zu fordern.

Zum ersten Male in der

russischen Geschichte stand die Masse gegen den Zaren selbst auf, werm

auch ohne Waffen, und soweit sie überhaupt wußte, was sie wollte,

nicht in der Absicht, Gewalt anzuwenden.

Aber sie war durch Bcr-

schwörergruppen, die es über das ganze Reich hin gab, „Befreier", Sozial­ revolutionäre, Sozialdemokraten, zusammengehetzt, die Demonstration sollte

in der Erwartung, daß Blut fließen würde, die nicht revolutionsbcreiten Massen zu Gewalttaten hinreißen. Im blutigen Straßenkampf wurde sie

Der Krieg mit Japan und die Revolution.

97

durch Militär auseinander gejagt, die Führer hatten sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen gewußt.

So wenig dieser Straßenputsch den Staat über den Haufen werfen konnte, so sehr hatte er eine Bereitschaft der revolutionären Elemente ge­

zeigt, die man nicht geahnt hatte. einen ungeheuren Eindruck.

Deshalb machte er auch im Auslande

Daß aber diese Bewegung nicht nur auf

Petersburg beschränkt war, zeigten nun die Nachrichten von überall her:

aus Moskau, aus Polen, aus dem Kaukasus und so fort. Überall dasselbe Bild: der Untergrund die Arbetterbewegung, von stärkster revolutionärer

und sozialdemokratischer Agitation aufgehetzt, im Bunde mit der jugendlichm Intelligenz — schon Ende Januar hatten sämtliche Hochschulen des Reiches geschlossen werden müssen. Die Intelligenz in Amt und Würden

aber sah der Bewegung mindestens billigend und zustimmend zu ; sie nahm den Effekt gern an, daß alles dies zu einer Erschütterung der Selbst­ herrschaft führen müsse.

Gefährlicher noch war, daß der wirtschaftliche

Streik jetzt auch angewandt wurde, um die Verkehrsanstalten des Landes

lahm zu legen und dadurch die Träger der Regierung, ihres Zusammen­ hanges beraubt, zu isolieren und zu Zugeständnissen zu zwingen.. Dazu kam vollends der Ausbruch von Bauernrevolten, die im Febmar 1905,

von den Gouvernements Orel und Kursk ausgehend, nach und nach das ganze Reich ergriffen.

Und daß auch die auf Beseitigung der maß­

gebenden Persönlichkeiten gerichteten Bemühungen rastlos weiter gingen, zeigte sich am 17. Februar 1905, als der Großfürst Sergius, einer der

einflußreichsten Träger der Reaktion, der bis zum 15. Januar General­

gouverneur von Moskau gewesen war, auf der Fahrt durch den Kreml durch ein Bombenattentat getötet wurde. In dieser Zeit, vom 22. Januar bis zum Dezemberaufstand 1905 in Moskau, kann allein von einer Revolution in Rußland gesprochen werden. Und unter den Eindrücken der

Februarwochen, während draußen die Riesenschlacht bei Mukden tobte,

überzeugte sich der Zar von der Notwendigkeit mtscheidender Zugeständnisse. Am 3. März 1905 gewährte ein Ukas an den Senat das allgemeine

Recht zu Petitionen um die Reform des Staates und ein Reskript an

den Minister des Innern (seit 1. Februar A. G. Bulygin) nun wirklich

eine Volksvertretung.

Aber auch jetzt wollte der Zar dieser nur eine

beratende Stimme zugestehen,

also einen semski Sobor^), nicht mehr

*) S. oben S. 48.

Hoetzsch, Rußland.

7

HL Kapitel.

98

und nicht weniger. Damm kam auch dieses Zugeständnis zu spät. Am 4. März rief der Priester Gapon zur offenen Revolution auf und diese

nahm immer gefährlichere Formen an. Straßenkämpfe durchtobten War­

schau, Petersburg, Odessa, Nischni-Nowgorod, Riga, Lodz; ebenso waren Finnland,' die Krim und der Kaukasus in Bewegung. Die Nachricht von der

furchtbaren Niederlage bei Tsushima (27./2S. Mai) beflügelte die Oppo­

sition weiter. Man verlachte die Zugeständnisse des Staates und rüstete

sich zur Volkserhebung in einer Organisation, die erstaunlich schnell olle Kreise erfaßte. Der Bund mssischer Mmmer bildete sich und (Mai1905) der

„Verband der Verbände", ein Bauemkongreß trat in Moskau zusammen

und ein Bauernbund entstand. Vor allem aber traten die Semstwomänmer wieder in die Front: im Juli trat der zweite Semstwokongreß zusammen.

Die Überzeugung, daß nur eine wirklich demokratische Volksvertretung Rußland aus der Revolution retten könne, ein Parlament als Constituante,

wurde allgemein und drängte die konservativ gerichtete Gmppe der Schipow, Stachowitsch, Graf Heyden, d. h. der Semstwomänner alten Schlages, zurück.

Man wollte die Regiemng des Volkes durch das Parlament

und fragte nicht, ob die Voraussetzungen dafür schon vorhanden wären,

ob sich diese Verfassungsform mit den Bedürfnissen des Staates vereinen ließe, und ob man damit nicht soziale Kräfte wie nationale Ansprüche wachriefe, die den Staat auseinander reißen könnten. Dabei wurden in der

Provinz sehr rasch Programme laut, in denen sich äußerste demo­

kratische Fordemngen mit weitgehenden wirtschaftlichen Ansprüchen und

nationalen Autonomiewünschen verbanden und mit denen die Freiheits­

bewegung über die Wünsche der Semstwovertreter weit hinausging. Je mäher indes die Beendigung des Krieges rückte, um so mehr

konnte die Regiemng sich davon überzeugen, daß die revolutionäre Be­

wegung trotz allen Lärmes, aller Unordnung und Unsicherheit nirgends auch nur vorübergehend das Heft in die Hand bekam. Der Zar konnte

es deshalb als

ein erhebliches Zugeständnis betrachten, als

er am

19. August die versprochene Verfassung tatsächlich gewährtes. Den Ent­ wurf hatte der Minister des Innern Bulygin ausgearbeitet, ebenso das sehr

demokratische Wahlrecht. Aber immer noch hielt der Zar daran fest, daß *) Schon am 30. April war das sog. Toleranzedikt ergangen, das den Grund­

satz religiöser Duldung verkündete. S. Kap. VUL

Der Krieg mit Japan und die Revolution.

99

das Parlament nur beratende Stimme haben sollte unb darum trat das

Gegenteil dessen ein, was er von diesem Geschenk erwartete. Der nächste, dritte, durch Städtevertreter erweiterte, Kongreß der Semstwomänner (23.-28. September) verlangte denn auch unbedingt einen wirklich gesetz­

gebenden, beschließenden Reichstag. Was an Opposition hier noch einiger­

maßen gemäßigt zu Worte kam, vergröberte sich auf den allrussischen Bauern- und Studentenkongressen, auf denen die extremste Demokratie das Wort führte. Daran mußten Zar und Hof mitsamt den regierenden Kreisen

erkennen, daß die Unzufriedenheit viel tiefer saß, als man gedacht hatte.

Denn zu den Putschen und Straßenkämpfm in den Städten waren jetzt im

gmzen Kerngebiete Bauemunmhen hinzugekommen. Die Intelligenz und

die Arbeiterschaft hatten die Verbindung mit den Bauernmassen gefunden, die durch die Agrarnot zu einer Beteiligung an revolutionärer Unzu­ friedenheit vorbereitet war.

Mit den Unruhen in den Städten und den

Bauernrevolten, die elementar und sinnlos zerstörend überall aufflammten, verbanden sich im Herbst 1905 in immer größerem Maßstabe Streiks,

besonders der Berkehrsanstalten.

Im Oktober war durch den wochen­

langen Streik der Eisenbahn- und Telegraphenbeamten der Verkehr fast

im ganzen Reiche lahm gelegt. Aridere Streiks schlossen sich an: Fabrik­ arbeiter und Setzer, Apotheker und Anwälte, Lehrer und Gymnasiasten,

sogar die Ärzte, alles streikte — das öffentliche und wirtschaftliche Leben stand einfach still.

Am gefährlichsten aber war, und erst das hat der Regierung den

Emst ganz klar gemacht, daß die Revolution auch das Heer ergriffen hatte. Schon im Juni hatte das eine Meuterei auf dem Kreuzer „Fürst Potemkin"

in Odessa bewiesen; überall, wo Matrosen und Marinetruppen lagen, in Kronstadt wie in Reval, in Odessa wie in Sewastopol folgten einander die Meutereien. Noch erschüttemder war, daß gleiche Symptome jetzt auch

im Landheer hervorbrachen. Der Krieg hatte die Disziplin gelockert, und, als der Friede geschlossen war, strömten die Reservisten in die Heimat zurück, wo sie, weil das wirtschaftliche Leben daniederlag, überall die Unzufriedenheit

und die revoluttonäre Bewegung verstärkten. Diese hatte es auch vermocht,

in die Kasemen einzudringen und durch eine ganz krause Verkoppelung mili­ tärischer, wirtschaftlicher und polttischer Wünsche eine Unmhe hervorgemfen, die im Herbst an zahlreichen Stellen in offener Meuterei ausbrach. Die

Offizierkorps aber standen dem bis in ihre höchsten Spitzen nicht geschlossen 7*

in. Kapitel.

100

gegenüber, zahlreiche unsichere Elemente waren in ihnen, und die schwierige

wirtschaftliche Lage, vor allem der Offizierkorps der Linien-Jnfanterie, die nach dem Kriege besonders drückend wurde, vermehrte die Unzuver­

lässigkeit weiter.

Erst dadurch wurde der Zar zur Einsicht gezwungen,

daß die Grundlagen seines Staates ins Wanken gekommen waren, daß

um die Sicherheit der Dynastie gesorgt werden mußte. Witte, dessen An­ sehen wieder gestiegen war, je mehr man sah, daß seine Ansicht über die

asiatische Politik richtig gewesen war, hat den Ausschlag für den ent­ scheidenden Schritt gegeben, für das Manifest vom 30. Oktober, das auf

Grundlage seiner Denkschrift vom 25. Oktober erlassen wurde.

Das

Manifest lautete: „Die Wirren und Aufregungen in den Hauptstädten und in vielen

Gegenden unseres Reiches erfüllen unser Herz außerordentlich mit großem und schwerem Leid. Das Wohl des russischen Zaren ist untrennbar von dem Wohle des Volkes und die Trauer des Volkes ist seine Trauer. Aus

den jetzt entstandenen Erregungen kann eine tiefe Unordnung im Volke und eine Bedrohung der Einheit des Allrussischen Reiches hervorgehen.

Das große Gelübde des Zarenamtes gebietet uns, mit allen Kräften des Verstandes und der Macht nach der schnellsten Beendigung dieser

für das Reich so gefährlichen Wirrsal zu streben.

kompetenten

Behörden befohlen

haben,

Nachdem wir den

Maßnahmen

zur

Beseitigung

direkter Erscheinungen der Unordnung, der Schlechtigkeiten und Gewalt­ tätigkeiten zu ergreifen zum Schutze der friedlichen Leute, die der ruhigen

Erfüllung der einem jeden obliegenden Pflicht nachstreben, haben wir

zur erfolgreicheren Ausführung der allgemeinen, von uns zur Befriedung des Staatslebens beabsichtigten Maßnahmen für notwendig erachtet, die

Tätigkeit der obersten Regiemng zu vereinheitlichen. Der Regiemng legen wir als Pflicht die Erfüllung unseres uner­

schütterlichen Willens auf:

1. der Bevölkerung unerschütterliche Gmndlagm der bürgerlichen Freiheit nach den Gmndsätzen wirklicher Unantastbarkeit der Person- der Freiheit des Gewissens, des Wortes, der Versammlungen und der Vereine

zu geben.

2. Ohne die angeordneten Wahlen zur Reichs-Duma aufzuhaltm, jetzt zur Teilnahme an der Duma, soweit das bei der Kürze der bis zur Bemfung der Duma bleibenden Zeit möglich ist, die Klassm der

Der Krieg mit Japan und die Revolution.

101

Bevölkerung heranzuziehen, die jetzt völlig des Wahlrechts beraubt sind,

indem dabei die weitere Entwicklung des Grundsatzes des allgemeinen Wahlrechts der neueingeführten gesetzgeberischen Ordnung anheimgestellt bleibt, und

3. als unerschütterliche Regel festzustellen, daß kein Gesetz ohne Ge­ nehmigung der Reichsduma Geltung erhalten kann, und daß den vom

Volke Erwählten die Möglichkeit wirklicher Teilnahme an der Aufsicht über die Gesetzmäßigkeit der Akte der von uns eingesetzten Behörden ge­ sichert ist. Wir rufen alle treuen Söhne Rußlands auf, ihrer Pflicht gegen

das Vaterland eingedenk zu sein, zur Beendigung der unerhörten Wirrsal zu helfen und mit uns alle Kräfte zur Wiederherstellung der Ruhe, und

Ordnung und des Friedens auf dem Heimatboden anzuspannen."

Mit großem Jubel wurde dieses erlösende Wort begrüßt, erweiterte es doch die Zusagen vom 19. August auf die Gewährung einer wirllichcn

Konstitution, versprach es doch das allgemeine Wahlrecht und die Grundrechte. Es wurde auch gleich durch die Schaffung eines Ministerkabinetts (1. November), durch die Aufhebung der Zensur (1. November), durch über das Vrrsammlungsrecht (25.

einen Ukas

Oktober)

und einen

Amnestie-Erlaß (3. November) ergänzt. Alles das wurde zusammen am 4. November veröffentlicht und dem Volk als ein Bukett kaiserlicher

Gnaden dargebracht.

Gleichzeitig traten Pobjedonoszew, Bulygin und

etwas später Trepow zurück. Minister des Jnnem wurde allerdings ein harter Konservativer, Durnowo, aber an die Spitze des zum Staats­ ministerium umgestalteten Ministerrats trat als Ministerpräsident Witte.

Darin sah man das Versprechen, daß jetzt liberal regiert werden solle, man erlebte

zunächst eine kurze Zeit

der Freude und froher

Er­

wartung.

Denn dieses Oktober-Manifest war nun wirklich eine ganze

Maßregel.

Mit Recht wird es noch heute als die Magna Carta Ruß­

lands betrachtet und auf dieses Manifest hin haben sich aus den politischen

Strömungen geschlossene Parteien herauskristallisiert. Aber es sollte noch geraume Zeit bauern, ehe Rußland zum Frieden kam. Obwohl die bisherigen Konzessionen noch durch das Manifest vom

16. November, das den Bauern die Loskaufszahlungen erließ, ergänzt wurden, brach im selben Monat in Petersburg ein zweiter Generalstreik,

im Dezember ein abermaliger Eisenbahnerstreik aus.

überall im Reich

HI. Kapitel.

102

tobten Matrosenaufstände und Militärrevolten, Streiks und Pogroms (die blutigen Erhebungm des Volkes gegen die Juden) und vor allem

die Agrarunruhen, die unter Führung des Bauernbundes jetzt in ein

Flammenmeer der Agrarrevolution zusammen zu fließen schienen.

Am

Ende des Jahres herrschte in Moskau die offene Rebellion, überall war das „Chaos" an der Arbeit, die Grenzmarken drohten abzufallen, Finn­

land mußten seine Rechte zurückgegeben werden, Polen war in Em­ pörung und in den Ostfeeprovinzen befriedigte die Urbevölkemng der Letten und Eschen ihren alten Haß gegen die deuffche Herrschaft in einer schreck­

lichen sozialistisch-demokratffchen und nationalen Erhebung.

Und überall

erhob der entschiedene Republikanismus sein Haupt gegen das Zarentum.

Wenn er sich dazu in den Ostseeprovinzen und in Litauen, in Polen, Finnland und der Ukraine mit nationalen Autonomieforderungen verband,

enthüllte sich die ungeheure Gefahr ganz, die in dieser Revolution für den Bestand des Reiches lag.

Denn dmm rief sie überall die zentrifugalen

Kräfte wach, deren Ideen mit dem bestehenden russischen Staate schlechthin

unvereinbar waren.

Sah man von der unmittelbaren Umgebung des

Zaren ab und vom deutschen Elemente der Ostseeprovinzen, das sich auch

in der schwersten Zeit nicht in seiner Kaiser- und Staatstreue erschüttern ließ, so hatte der Zar an der Wende 1905/06 niemanden, keine Klasse, keine Schicht, kein Organ, auf das er sich unbedingt verlassen konnte.

Heer und Marine waren im Wanken, Arbeiterschaft und Bauemtum

in heller Empörung und die Intelligenz negierte theoretisch und praktisch

den Staat überhaupt. Und alle diese Bewegungen wurden durch das — wiederum unter dem Druck der Revolution — abgepreßte Wahlgesetz vom

24. Dezember 1905 geradezu organisiert, ihre Wünsche auszudrückm, an deren Ende nichts anderes stand, als die Beseitigung des Hauses Romanow

und die Auflösung des Staates Peters des Großen in einen losen Ver­

band nationaler und demokratischer Republiken.

Denn dieses Wahlgesetz

dehnte das Wahlrecht auf alle Wohnungsmieter in den Städten aus, so

daß zu den Bauern und Jmmobilienbesitzem des Bulyginschen Ent­ wurfes nun auch die unbemittelte Intelligenz und die Arbeiterschcft als wahlberechtigt hinzukamen.

Damit war die kommende Dumah der

radikalen Opposition von vornherein preisgegeben. In den Wähler vom

0 Diese Bezeichnung für einen Reichstag wurde in Analogie von Brjarenduma, Stadtduma u. ä. gebildet und bürgerte sich sehr rasch ein.

Der Krieg mit Japan und die Revolution.

103

Febmar bis April 1906 wurden denn auch mindestens zur Hälfte DumaAbgeordnete gewählt, die in offener Feindschaft gegen ihren Staat standen. Aber schon vor den Wochen, in denen durch die Wahlen die Bewegung noch einmal zu hellen Flammen entfacht tourbe, sah die Regierung, daß sie stärker war, als sie selbst geglaubt hatte, daß die unabsehbare Zahl

von Revolten, Brandstiftungen, Mordtaten eine Revolution im eigent­ lichen Sinne des Wortes doch nicht war, daß hinter der Zügellosigkeit der Presse nicht die reale Macht stand, die man fürchtete, und daß es sich nicht,

wie auch dem Auslande eine größtenteils tendenziöse und voreingenommene Berichterstattung erzählt hatte, um eine einheitliche Revolutions-Bewegung handelte.

Ganz war das Heer durch die sozialistische Agitation nicht zu

zerwühlen und zwischen den Hoffnungen und Zielen der Intelligenz und Arbeiterschaft einerseits und des Bauerntums andererseits blieb nach wie

vor

ein

klaffender Gegensatz.

Nach dem

Höhepunkte

der

Moskauer

Dezembertage erlahmte denn auch die Revolution und konnte eine Reaktion

sich anbahnen. Schon die Ausfühmng des Oktobermanifestes zeigte, daß sich die Am 4. März 1906 erging die Ver­

Regierung wieder sicherer fühlte.

ordnung, die den Reichsrat entsprechend der Zusage des Zaren aus einer

teilt beratenden Versammlung hoher Würdenträger zur ersten Kammer umgestaltete (zur Hälfte vom Zaren ernannt, zur Hälfte von verschiedenen Organisation des Volkes gewählt).

die

Duma

gestellt

und

ein

Damit wurde ein Oberhaus neben

Hort

konservativer

den Reichstag eines höchst demokratischen Wahlrechts.

Tendenzen

neben

Am 17. März

folgte ein temporäres Vereins- und Versammlungsgesetz, das die Zügel wieder straffer zog, und die Einfetzung des „Komitees der Landorgani­ sation" beim Landwirtschaftsministerium, sowie der dazu gehörigen Gou­

vernements-

und

Kreiskommissionen,

durch

welche

Maßnahme

die

Regierung schon vor Zusammentritt der Duma die entschiedene Initiative

in der Hauptftage, der Agrarreform, ergriff. Am 21. März erschienen die „Regeln über dm Modus der Prüfung des Reichsbudgets", durch die die Regierung das neue Budgetrecht einseitig schuf, und schließlich am 6. Mai

die Reichsgmndgesetze, in denen unmfttelbar vor Zusammentritt der Duma die Verfassung oktroyiert wurde. Im Verlauf der Kämpfe um diese Kundgebungen mußte Witte, nachdem er noch eine Milliardenanleihe in Paris zustande gebracht hatte,

HL Kapitel

104 vom Schauplatz weichen.

Je sicherer die bisherigen Gewalten wieder

wurden, um so stärker war seine Position ins Wanken gekommen, gegen die die konservativen und agrarisch-großbesitzlichen Jnteresien kämpften.

Wenig feierlich und rühmlich erfolgte sein Rücktritt am 5. Mai 190(1;

sein Nachfolger wurde sein entschiedener Gegner Goremykin, neben den als Minister des Innern P. A. Stolypin und als Finanzminister W. N.

Kokowzow, die beiden kommenden Männer, traten.

Witte hat in der großen Krisis, in der er über ein halbes Jahr lang an der Spitze des Staates stand, nicht geleistet, was man von ihm

erwartete.

Die Widerstände am Hofe und in der Bureaukratie waren

zu groß, man traute ihm weder auf der Rechten noch auf der Linken der

Parteien und Gruppen, die um den Staat kämpften, und in seiner Per­ sönlichkeit reichten Kraft und Willensstärke nicht aus.

Wer dadurch,

daß er in dieser Zeit an der Spitze stand, hat er, der Vertrauensmann des

ausländischen Kapitals, seinem Vaterlande den großen Dienst geleistet, daß es ohne finanzielle Erschüttemng durch diese Kämpfe hindurchgehcn

konnte. Einen Tag nach seiner Verabschiedung wurden die Reichsgrund­

gesetze publiziert, mit Absicht vier Tage vor dem Zusammentritt der Duma, als Verordnung, als freier Willensakt des Zaren.

Sie sind aus dem

Staatsrecht des absoluten Rußlands und dem neuen Staatsrecht des

Oktobermanifestes — sehr rasch — zusammengearbeitet, sie sind die Ver­

fassung, aus freiwilligem Entschluß des Zaren ergangen, oktroyiert wie die

Verfassung

Preußens.

Danach

war

rechtlich

kein

Zweifel, daß der

Reichstag, der nun zusammentrat, nicht eine konstituierende Versammlung

sein sollte, und damit eröffnete sich von vornherein die Aussicht schwerer Konflikte mit dieser Duma, deren Mchrheit sich gerade in dieser Wsicht und mit festen Entschluß dazu hatte wählen lassen.

Mit dem 10. Mai

1906, an dem der erste russische Reichstag zusammentratt), war die

Revolution, so sehr Unordnung und Unsicherheit noch herrschten, zu Ende. Sie hat weder die Volkswirtschaft Rußlands noch den überkommenen Bau des absoluten Staates zettrümmern können. Namentlich zu Anfang ist sie

*) Die Duma tagt im Taurischen Palais, das, weitab vom Zentrum der Stadt gelegen, von Katharina H ihrem Günstling Potemkin geschenkt wordm war, der Reichsrat im Marienpalast am Platze dieses Namens mitten in der Stadt.

Der Krieg mit Japan und die Revolution.

105

öfter mit der großen französischen Revolution verglichen worden. Heute

liegt das Unzutreffende dieses Vergleichs auf der Hand. Eher konnte man an die deutsche Revolution von 1848 denken, erinnerten doch auch die

Kadetten in ihrer geistigen Verfassung und Stimmung ganz an den deutschen Liberalismus jener Zeit. Der große Unterschied gegen 1789 ist, daß hinter diesem ersten Gliede, dem Liberalismus, in Rußland nichts

weiter stand als das Proletariat der Städte. Der proletarische Charakter

der revolutionsähnlichen Erhebungen 1905/06 war nicht zu bestreiten, aber zur Erschütterung des Reiches war er nicht stark genug. Denn die Hoff­ nung auf die Bauem wie auf die — aus Bauern bestehende Armee —

trog schließlich doch, so daß die Revolution eine, nicht einmal einheitlich und sicher geleitete, unzusammenhängende Stadtrevolution bleiben mußte.

In Intelligenz und Arbeiterschaft stand der herrschenden Gewalt eine uneinheitliche, zahlenmäßig schwache Gegnerschaft gegenüber, wenn es jener

gelang, das mit beiden zeitweilig

zusammengehende

Bauerntum

von

ihnen los zu sprengen. In der Unvollständigkeit der sozialen Struktur liegt

also vor allem die Erklämng dafür, daß die mssische Revolution der Gegenwart nicht mit der von 1789 verglichen werden konnte: das zahl­ reiche, unabhängige und selbstbewußte Bürgertum fehlte. Aber diese anderthalb wirrenreichen und gefährlichen Jahre hatten doch ausgereicht, das Staatswesen organisch zu verändern, wenn auch das

Erkämpfte und Erreichte zunächst nur formale Bedeutung hatte.

Was

1906 der Selbstherrschaft abgetrotzt war, bekam ja nur einen Sinn,

wenn es die Bahn zu durchgreifenden Reformen im Agrarwesen und in der Volksbildung, in der Verwaltung und in der Volkswirtschaft er­

öffnete. Was ist davon im Jahrzehnt bis zum Weltkrieg erreicht worden?

II. Buch.

IV. Kapitel.

Jrmerpolttisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906-1914* i. Es war keine ungegliederte Masse, die am 10. Mai 1906 in der

Zahl von 450—500 Abgeordneten zur Eröffnung des ersten russischen Reichstags zusammenströmte, und ihre politischen Anschauungen waren

schon weit stärker differenziert, als daß die Duma lediglich in radikale und konservative, in staatsfeindliche und staatserhaltende Elemente zerfallen wäre.

Am ersten waren im Kerngebiet wie in den Grenzmarken die revo­

lutionären Elemente mit ihren Programmen und Organisationen fertig.

Seit

18831)

gab

es

eine

russische

System von Karl Marx fußte;

Sozialdemokratie,

die

auf

dem

1898 hatte sie ihren ersten, 1903

ihren zweiten Parteitag abgchalten. Daneben waren (1897) der jüdische

„Bund" und die sozialdemokratischen Organisationen der Polen (P. P. S.)

und Letten getreten. Im theoretischen Kampfe mit dem revolutionären Nihilismus letzter Phase hatte die marxistische Sozialdemokratie gesiegt.

Aber auch sie geriet in die Kämpfe zwischen der marxistischen Ortho­ doxie und einem Revisionismus, die sie 1903 in zwei große Gruppen aus­

einandertrieben: die „Bolschewik!" unter Lenin und die „Menschewiki" unter Martow. Wollten und wollen — der Gegensatz besteht heute noch — die

ersteren das „mehr", wie der Name sagt, also die Revolution im stramm sozialistischen Sinne, so begnügten sich die zweiten mit dem „weniger" der Organisation und Agitaüon auf eine Umgestaltung hin, die ja doch kommen

*) S. oben S. 84.

Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914.

müsse.

107

Beider Programm ist ganz marxistisch, politisch für eine demo­

kratische Republik

Rußland.

Ihr Agrarprogramm war- mangelhaft;

für die Expropriation des Großgrundbesitzes, die dann das Hauptschlagwort wurde, hat sich zuerst Plechanow ausgesprochen.

Geschieden von diesen Sozialdemokraten blieben die alte Richtung

der „Narodnaja Wolja", die seit 1901 wieder auflebte und die sog. sozial­ revolutionäre Partei begründete, und die „Kampforganisation" (Bojewaja

Organisazhja), von der die Attentate der Revolutionszeit ausgingen. Auch sie zerfielen in zwei Gruppen, die Maximalisten und die Minimalisten,

die leicht mit den entsprechenden Flügeln der Sozialdemokratie verwechselt werden, weil sie ihnen im Programm nahekommen.

Doch bleibt der

Unterschied prinzipell bestehen: die Sozialdemokraten sind auf die In­

dustriearbeiter gerichtete Marxisten, die Sozialrevolutionäre halten die Bauern für die gegebene Schicht und das Werkzeug der Revolution, erstere sind die Modernen, letztere die Altmodischen.

Als besondere Strömung gab cs daneben einen reinen Anarchismus,

der sich im Auslande namentlich um den alten Kropotkin sammelte und den geistigen Anarchismus Tolstois auf sich wirken ließ, aber für Rußland

nicht mehr bedeutet als für irgend ein anderes Land Europas und keine Partei von Einfluß darstellt. Für'den bürgerlichen Liberalismus hatte, nach den ersten Ansätzen

der siebziger Jahre um I. I. Petrunkjewitsch und den Vorbereitungen von 1894, seit 1902 das Zentralbureau für die Semstwofragm, der Keim

des „Reichssemstwos" in Moskau, den eisten Kern für eine Partei ge­ bildet, der Kreis aus Schipow, Stachowitsch, PetrNnkjewitsch, Golownin,

Kokoschkin. Als Fürst Swjatopolk-Mirski Minister wurde, konnte ein lebhafterer Meinungsaustausch politischer Gedanken und eine politische Organisation

beginnen. Radikalere-Zeitungen konnten erscheinen; die schon vorhandene juristisch-polttische Wochenschrift „Prawo" (Das Recht), herausgegeben von

den Gebrüdern Hessen,'konnte sich freier bewegen. Um sie hatte sich der Kreis gesammelt, aus dem zusammen mtt den eigentlichen „Oswoboschdenzy" — den (im 1903 von Petrunkjewitsch gegründeten „Bund der Be­

freiung" vereinigten) Anhängern der Zeitschrift „Oswoboschdenie" — und den sog. Semstwo-Konstitutionalisten im Spätherbst 1905 die Partei

IV. Kapitel.

108

der Kadetten*) hervorging — Männer tote Fürst Eugen Trubezkoi, die Brüder Hessen und namentlich der spätere Führer der Kadetten, der

Historiker P. N. Miljukows, dem Stande nach überwiegend Professoren, Anwälte, Arzte, Journalisten, während die Semstwomänner dem Stande

nach mehr Gutsbesitzer, Adelsmarschälle und dergleichen warm.

Dieser

Kreis bezeichnete sich selbst als nationalliberal im deutschen Sinne. Doch entsprechen die Kadetten nach ihrem Verhältnis zum Staatsgedanken und

ihrem Staatsbegriff eher dem deutschen Freisinn: sie wollen eine liberale Vermittlungspartei sein, oppositionell, aber nicht revolutionär.

So waren schon drei Hauptrichtungen vorhanden: die Umstürzler verschiedener Nüancen — die Liberalen der Intelligenz, für die die große

politische Forderung (Verfassung und Wahlrecht) die Hauptsache war, —

die Semstwomänner, die mehr Gewicht auf die Reform und die organische Fortbildung legten.

Diese drei Richtungen verfügten bald über Organe

und Klubs, bekämpften sich gegenseitig und förderten so das politische

Denken, fortwährend gequält von der Polizei, da die für den politischen Kampf nötigen Freiheiten noch nicht recht gewährt wurden.

Dagegen waren die Kräfte auf der Gegenseite noch nicht gesammelt. Männer wie Fürst Meschtscherski, Fürst Schtscherbatow, der Oberst Komarow (Herausgeber des panslawistischen „Swjet") konnten als die

Führer der auf der rechten Seite vorhandenen verschiedenen Richtungen

betrachtet werden, der „Graschdanin" des Fürsten Meschtscherski und der „Swjet", auch die „Nowoje Wremja" Suworins°) als ihre Organe.

Vor allem blieben die alten Katkowschen „Moskowskija Wjedomosti"

das

Sprachrohr der streng konservativen Tendenzen

xanders

HL,

seit

1895

redigiert

von

dem

(von

im Sinne Ale­ deutschen

Eltern

stammenden) W. A. Gringmuth, der der erste entschiedene Führer einer konterrevolutionären Bewegung und Organisation wurde. *) Die Partei, gegründet am 31. Oktober 1905, nennt sich „Partei der

Volksfreiheit", konstitusionell-demokratische Partei; nach diesen beiden Anfangs­

buchstaben K und D kam der Spitzname Kadetten auf, der sich erhalten hat. 2) 1859 geboren, früher

akademischer

Lehrer,

heute

nut

Politiker

und

Publizist, der maßgebende Kopf der Kadetten und ihrer Zeitung Rjetsch.

s) Alexej Suworin (1834 bis 1912) war der russische Scherl und Reclam zugleich, nur politisch prononcierter als beide, ein glänzender Geschäftsmann, dmch den die (1876 von ihm gegründete) „Nowoje Wremja" zum weitaus ersten, freilich

nicht charaktervollsten Blatte Rußlands wurde. Seit seinem Tode gehört es einer Aktiengesellschaft, die zum größten Teil in den Händen von Oktobristen ist.

Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914.

109

Diese politischen Strömungen und Kreise tonnten sich sofort zu poli­

tischen Parteien umbilden, wenn sie Versammlungs- und Redefreiheit er­

hielten. Und mehr oder weniger kamen sie doch alle auf das eine hinaus, daß zur Herbeiführung gesünderer Zustände die Krönung der Reformen Alexanders EL durch eine Verfassung notwendig sei. Man betrachtete das

einfach als Axiom; lediglich die Kreise der „Moskowskija Wjedomosti"

lehnten die Erörterung überhaupt ab, ob Rußland eine Verfassung brauche und welche — für sie war das absolute Rußland mit Zarentum und

Orthodoxie das einzig mögliche politische Programm. Nun kommen diese Ansätze der Parteibildung, die sich bisher nur

unter dem Druck von Polizei und Zensur, nur im Geheimen und Verbotenen

oder

im

Ausland

hatten

borbereiten

können,

in

rasche

Bewegung, als die Revolution begann. Die Überraschung war in Europa nicht gering, als, nachdem einmal die Schranken gefallen waren, in

Rußland sofort eine große politische Presse und ein weit vorgeschrittenes

politisches Parteiwesen erschienen. Man war mit Recht erstaunt, daß dieses Volk gleich in seiner ersten Duma eine Fülle ausgezeichneter politischer Redner aufwies und Diskussionen dort gehört wurden, die alles andere

waren, als das kindliche Stammeln eines eben zum politischen Leben er-

wachmden Volkes.

Denn alles war fix und fertig da, was man zur

Technik eines parlamentarischen Lebens brauchte, und auch dessen äußere

Formen wurden überraschend schnell ausgebildet und gehandhabt. Noch merkwürdiger war das plötzliche Entstehen einer großen poli­

tischen Presse.

Neben die zwei, drei Zeitungen, die bis dahin überhaupt

etwas bedeuteten, traten zahlreiche neue Zeitungen und Jouruale von denen freilich viele nur ein kurzes Leben gehabt habens, und in ihnen wurde mit großer Virtuosität und formaler Reife politisch diskutiert. Jetzt

zeigte sich, welche Wirkungen Polizei und Zensur für die russische Sprache gehabt hatten. Die Notwendigkeit, alles darauf zu prüfen, ob es vor den Augen der Zensur bestehen könne, und das Bestreben, trotzdem alles Ver­

botene auszusprechen und zwischen den Zeilen lesen zu lassen, hatte die natürliche Biegsamkeit der russischen Sprache so gesteigert, daß sie sich, als die politische Erörterung freigegeben wurde, sofort als ein im höchsten

Maße brauchbares Werkzeug erwies.

*) S. die Übersicht im Anhang.

IV. Kapitel.

110

Im Winter 1905/06 wurde das Ventil geöffnet, und nun brauste die entfesselte Flut politischer Wünsche und Hoffnungen über die öffentliche Meinung

hin.

Zu

den

bisherigen

Gruppen

traten

neue

hinzu,

die Extremen, die entschlossen auf die Republik und die ^Beseitigung des Zaren hinarbeiteten, und Gruppen, die sich im Verborgenen auch schon

vorbereitet hatten, jetzt aber zu allgemeiner Überraschung auf den Plan traten, wie die Föderalisten und Autonomisten, d. h. die Führer der nicht­ großrussischen Untertanen des Reiches, die mit den demokratisch-freiheitlichen

Ideen die nationale Autonomie, die Auflösung des Reiches in seine national

selbständigen Teile und eines durch das andere erreichen wollten. Die Wahlbewegung, aus der die erste Dun'.a hervorging, zeigte folgende politische Parteien oder Ansätze dazu:

1. Liberale oder Demo­

kraten, in den drei, von 1 bis 3 zunehmend radikaler werdenden Kreisen: 1. Zentrum und linker Flügel der Semstwomänner. 2. „Verband der

Verbände" (Sojus Sojusow, 21. Mai 1905 begründet), eine von Miljukow angeregte Zusammenfassung von Berufsorganisationen vornehmlich libe­

raler Berufe, die in der ersten Zeit der Unruhe unter Benutzung der wenigstens tatsächlich zugestandenen Koalitionsfreiheit außerordentlich um sich griff, aber nur im Sommer 1905 von Bedeutung war und bald

wieder verschwand. Und 3. jene „Befreier". Diesen Richtungen war das

Grundideal einer möglichst demokratischen Verfassung gemeinsam.

Die

Stellung zum nationalen Problem, zur Föderationsidee, blieb noch unklar,

da man sich mit den demselben demokratischen Ideal zustrebenden nichtgroßrussischen Untertanen des Reiches zunächst noch ganz eines Sinnes fühlte.

Erst als der den Staat direkt negierende Föderalismus deutlicher wurde, wurde der großrussische Liberalismus zentralistisch, ja geradezu nationali­

stisch. Aus diesen Gruppen zusammen ewstand die Partei der „Kadetten". Links davon standen die Revolutionäre, die sich in 1. Sozialrevo­

lutionäre, 2. russische Sozialdemokraten, 3. Agrarkommunisten, 4. Anar­

chisten und Terroristen schieden. Gemeinsam war ihnen das rücksichtslos

ausgedrückte entschiedene Bekenntnis zum gewaltsamen Umsturz. Rechts von den liberalen Gruppen begannen sich die konservativen Elemente erst zusammenzufinden.

Sie waren ebenso wie die Regierung

von der Wirkung der Niederlagen des Krieges überrascht worden und konnten sich daher erst im Laufe des Jahres 1905 sammeln.

Durch

Gringmuth entstand im November 1905 der „Verband des allrussischen

Innenpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914.

m

Volkes", als erster der großen Verbände, in denen, ohne bestimmte Partei­

färbung und -organisation, Aristokraten, Geistliche, Beamte und Agitatoren

die Masse im konservativ-reaktionären Sinn organisierten. Zwischen diesen Konservativen und den liberalen Parteien trat gleich­

zeitig eine Gruppe hervor, die in einer ehrlichen Versöhnung des russischen

Staatsgedankens mit der konstiMtionellen Idee ihr Programm sah.

Sie

kam aus den Semstwokreisen, die nicht in den Kadetten ausgingen, aus dm sog. Semstwo-KonstiMtionalisten, denen die Partei der Bolksfreiheit zu radikal wurde, und fand ihr Programm im Manifest vom 30. Oktober

1905. So entstand — am 17. Dezember 1905 begründet — der „Verband vom 17./30. Oktober", die Partei der Oktobristen. Ihr Programm war ganz präzis: das Oktobermanifest des Zaren — nicht mehr und nicht weniger. Nicht mehr — die monarchische Grundlage wollten die Oktobristen

unbedingt gewahrt wissen. Aber auch nicht weniger: man betrachtete die Zusagen der Grundrechte und einer Konstitution als unabänderlich, hinter die zurückzugehen die innere Lage Rußlands schlechterdings nicht erlaube.

Damit war auch nach rechts eine Grenze gegen die Elemente gezogen,

vie entweder bewußt auf die Zurücknahme der Zusagen des Zaren hin­ arbeiteten, oder die zwar äußerlich den Konstitutionalismus bestehen lassen,

ihn aber Schritt für Schritt auf dem Wege der VerwalMng unwirksam

machen wollten.

Die Oktobristen waren so von vomherein eine Mittelpartei und haben an sich die Schicksale einer solchen reichlich erfahren. An ihrer Spitze

standen damals die besten politischen Köpfe, die Rußland überhaupt hatte. Vor allem Alexander Gutschkows, ein hochbegabter Mann, der geborme Führer einer. Mittelpartei, ohne freilich, wie sich später herausstellte, die seinen Geistesgaben mtsprechende Energie und Konsequenz zu besitzen.

Neben ihm standen als Begründer des Verbandes noch der Adelsmarschall

von Orel,

Stachowitsch

(1861

geboren),

Schipow

(heute

Mitglied

des Neichsrats) und Graf Heyden aus Pskow (1845 bis 1907). Dazu

trat später

Baron

Alexander Meyendorff,' ein Livländer^), der,

der

höchsten mssischen und baltischen Aristokratie zugleich angehörend, durch *) 1862 geb.; sein Vater war ein altgläubiger Kaufmann, seine Mutter Französin, er selbst ist deutsch gebildet. *) Geb. 1869, Großneffe des russischen Vertreters am Berliner Hof von 1840 bis IM, Barons Peter Meyendorff.

IV. Kapitel.

112

seinen Bildungsgang deutsches und russisches Wesen gleich gut kannte und mit glänzender Rednergabe und parlamentarischer Sicherheit eine

in der Duma einzig dastehende, juristische Schulung und Kenntnis verband. In der Wahlbewegung wurde nur um die extremen Schlagworte ge­

fochten, und da riß die demokratische Welle zunächst jeden Widerstand nieder.

In ihr tauchten noch jme Autonomisten auf, in zahlreichen

Gruppen: 1. Polen, als Allpolen — Versöhnler (Ugodowzy) — National­

demokraten — Sozialdemokraten (als P. P. S., d. h. Polnisch-sozialdemokratische Partei), S. D. P. L. (d. h. Sozialdemokratie von Polen und Litauen) und „Bund" d. h. Verband jüdischer Sozialdemokraten.

2.

Kleinrussen oder Ukrainer.

3. die lettisch-estnischen Autonomisten.

4. die Kaukasier verschiedener Richtungen, Mohammedaner — Anfang 1906 hatte in Petersburg ein politischer Mohammedanerkongreß statt­

gefunden — usw. Die Deutschen der Ostseeprovinzen sammelten sich nicht

in einer besonderen, Autonomie fordernden, Gruppe, sondern schlossen sich dem Oktoberverband an.

Am 10. Mai 1906 trat der erste Reichstag Rußlands zusammen, vom Zaren selbst im Georgssaal des Winterpalais mit einer Ansprache**)

eröffnet, bei deren schönen, aber allgemeinen Worten sich die Parteien das

Verschiedenste denken konnten. Die im ganzen 524 Abgeordneten, — die aber niemals vollzählig wurden, da die aus den entferntesten Reichsteilen ge­ wählten erst in Petersburg eintrafen, als die Duma schon wieder aufgelöst war, — gliederten sich in nicht weniger als 26 politische und 16 nationale

Gruppen. Die hauptsächlichsten warm Mitte Juni: die konstitutionellen

Demokraten, ungefähr 177. Nach links schloß sich an die 102 Mitglieder zählende Linke, die sog. Arbeitsgruppe*), die Sozialdemokraten, Sozial-

revoluttonäre, Anarchisten und Radikale sowie den 29 Mitglieder zählenden (sozialrevolutionärm und kommunistischen) Bauernbund umfassend. Nach rechts folgten die Parteien der demokratischen Reform (4—8), der Ver­ band vom 30. Oktober (13) — die Handels- und Jndustriepartei (l)ä) *) Die Eröffnungsreden sind bei Sawitsch, Nowy gossudarstw. stroj

Rossij (Petersburg 1907) S. 132 ff. abgedruckt. 2) Die „Trudowiki", eine radikale, aber nicht ausgesprochen sozialdemokratische

Arbeiter-Partei, die zwischen Sozialdemokraten und Kadetten steht. •) Eine Vertretung der Bourgeoisie unter Leitung des Vorsitzenden des

Moskauer Börsenkomitees G. A. Krestownikow.

Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914. — die Partei der Rechtsordnung (4) — die Monarchisten.

H3

Daneben

standen „Gemäßigte", Parteilose (50—100) und — politisch zur Linken gehörend — die verschiedenen Autonomistenklubs: die Parteien des König­ reichs Polen — die polnisch-litauische Partei — der ukrainische Klub

(3ft—40) — die Litauer, Letten usw. (über 60 im ganzen).

Nach nationalen Gruppen gegliedert zählte die Duma 265 Groß­ russen, 62 Kleinrussen, 12 Weißrussen, 51 Polen, je 6 Litauer und Letten,

je 4 Deutsche und Eschen, 8 Tataren, 4 Baschkiren, je 2 Mordwinen und Wotjaken, je 1 Bulgaren, Kirgisen, Tschuwaschen, Tschetschenzen, Moldauer

Und Kalmücken, und 13 Juden.

Man hatte ja die Verfassung nicht

nur dem Kerngebiet, sondern auch dem kaukasischen und dem asiatischen

Reichsteile gewährt. Politisch waren diese „Fremdstämmigen" fast durch­

aus .Sozialrevolutionäre.

339 waren griechisch-orthodox und 63 römisch-katholisch, je 14 Luthe­ raner und Mohammedaner, 13 Juden, 4 Altgläubige, je 1 Baptist, Budd­

hist und Freireligiöser.

Dem Stande (im Rechtssinne) nach waren:

204 Bauern, 164 Adlige, 24 Kleinbürger, 14 Geistliche, 12 Kosaken, 11

Kaufleute, 9 erbliche Ehrenbürger. Dem Berufe nach gehörten: zur Land­ wirtschaft 276 (42 zum großen, 72 zum mittleren, 162 zum Kleinbesitz),

zu Industrie und Handel 51 (2 Industrielle, 24 Kaufleute, 25 Arbeiter).

Staats- und Kommunalbeamte waren 76 (davon 15 Staatsbeamte), zur

sog. Intelligenz zählten 105 (davon 14 Professoren und 38 Anwälte). Eine höhere Bildung hatten genossen 189, die Mittelschule besucht 62, die Volksschule 111.

Als Autodidakten bezeichneten sich 84, Anal-

phabeten sollten nur 2 unter den Abgeordneten sein.

n. Die Wahlen waren über alle wahlpolitischen Berechnungen der Re-

giemng hinweggegangen und hatten eine rein opposiüonelle Duma er­ geben. Diese beherrschten Politisch die Kadetten und Sozialisten gemeinsam, wirtschaftspolitisch die revolutionären Bauern, und die Welt erlebte das

Schauspiel, daß der Hort des Absolutismus, die konsequenteste Verkörpe­

rung der monarchischen Gewalt, die bis dahin der russische Staat dar­ gestellt hatte, ein Parlament sah, in dem der Radikalismus das Wort führte und von Sieg zu Sieg zu schreiten schien.

Hoetzfch,

Rußland.

8

114

IV. Kapitel. Die Thronrede hatte ein Programm nicht geboten, auch kamen keine

Anträge und Vorlagen von der Regiemng — so ging die Duma selbst vor. Die Adresse, die sie an den Zaren richtete, war so unehrerbietig, selbstbewußt und radikal, daß der Zar die Annahme verweigerte.

Politisch gingen

ihre Forderungen auf das allgemeine Wahlrecht und die Ministerverant­

wortlichkeit, auf Befeitigung des Reichsrats und der Todesstrafe, auf die Grundrechte, auf Agrar- und Sozialreform, vor allem aber auf eine un­

eingeschränkte politische Amnestie.

So begannen die Debatten sogleich in scharfer Gegensätzlichkeit. Bon

einer ernsthaften Zusammenarbeit zwischen Regiemng und Parlament zu

positivem gesetzgeberischen Schaffen war von vomherein nicht die Rede. Wie

sollte auch eine Bureaukratie, die bis dahin hoch über dem Volke gethront und, nur von ihresgleichen kontrolliert, ihres Amts gewaltet hatte, mit einem Male sich der Kontrolle eines Parlaments unterwerfen, zumal die

Grenzen zwischen Legislative und Exekutive noch im Unklaren waren? Und die Duma, die sich als KonstiMante fühlte, sah in ihrem Sieges­ bewußtsein, als erstes mssisches Parlament dem Selbstherrscher abgetrotzt, überhaupt keine Grenzen ihrer Macht.

Es war keine Situation, die

dauern konnte, um so mehr als die Agrardebatten und -Programme der Duma revolutionär an den Gmndlagen der Wirtschafts- und Gesellschafts­ ordnung rüttelten.

Das A und O war ja die Agrarfrage und die Agramot. Zwar war

die politische Reife und Organisation der Sauern noch nicht entwickelt genug, als daß sie eine eigene Agrarpartei hätte bilden können.

Wie

die Namen der Parteien zeigen, hatten zumeist erst die allgemeinen Formeln der politischen Doktrinen parteibildend und namengebend gewirkt.

Aber

hinter diesen allgemeinen Debatten um die radikalen politischen Fordemngen

trat immer mehr die materielle Frage der Agrarreform hervor, und diese

radikale und sogar sozialfftische Dumamehrheit war auch in der Agrar­ frage sehr geneigt, sich die weitgehendsten Fordemngen zu eigen zu machen.

Vor allem forderte sie die Krons-, Kabinetts-, Kloster- und Kirchen­ ländereien und die Zwangsenteignung des Großgrundbesitzes als Mittel

zur Befriedigung der Landnot, in der man allein das Wesen der Agrar­ krisis sah.

Das w.ar bei den Bauem begreiflich. Nicht gleich begreiflich

aber war, daß auch die Kadetten sich diese Forderung zu eigm machten. Ihre Führer hatten jedoch in dem allgemeinen Wirrwarr kein Urteil mehr

Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914.

H5

über die innere Kraft der revolutionären Bewegung und überschätzten sie

im Überschwang dieser Monate, die so rasch die zarische Gewalt gedemütigt hatten.

Um nun von der radikalen Welle nicht selbst verschlungen zu

werden und an der Spitze der Freiheitsbewegung zu bleiben, forderte die

Kadettenpartei, die grundsätzlich gerade den Individualismus vertrat, in

ihrem Agrarprogramm die Expropriation des gutsherrlichen und staat­ lichen Gmnd und Bodens für die Bauern.

Wie gefährlich das für sie selbst war, konnte sie gleich sehen, als die ihr sonst verwandte liberale Bewegung Polens dabei nicht mit ihr ging.

Die Polen stimmten sonst natürlich allen liberalen Forderungen zu, von

denen sie ja für ihre nationale Bewegungsfreiheit den größten Vorteil hatten. Aber sie sahen, daß eine derartige Verbindung mit dem revolutio­

nären Agrarkommunismus für sie ein Wahnsinn war, und machten daher den Sturm gegen den großen Besitz nicht mit.

An der Agrarfrage kam es zur Entscheidung. Die Regiemng hatte — nach anfänglichem eigenen Schwanken — wie der Zar die Unverletz­

lichkeit des Privateigentums ausdrücklich proklamiert. Trotzdem arbeitete

die Duma ein Gesetz auf der entgegengesetzten Grundlage aus und wendete

sich mit einer Erklärung an das Volk. Für die Regiemng wurde es so, je zügelloser die Debatten in chrm politischen und wirtschaftlichen Fordemngcn wurden, klar, daß sie mit ihrm Zugeständnissen zu wett gegangen war.

Dieses parlamentarische Leben löste den Staat einfach auf und drohte, ihn mit seiner Begünstigung sozialistischer Massenwünsche und nationaler Autonomiefordemngen^) in ein allgemeines Chaos zu reißen. Man sah

zudem, daß man des Heeres in der Hauptsache doch sicher geblieben war,

und wurde durch die vor allem im Großgmndbesitz vertretenen konser­ vativen Elemente gestützt, die sich immer mchr sammelten, weil sie sich

in ihrer Existenz bedroht sahm. Damm faßte die Regiemng — Stolypin *) Zu diesem Punkte hatte bereits die Adresse der Duma folgendes gesagt: „Die Duma hält es für nötig, unter ihren unaufschiebbaren Aufgaben die Entscheidung der Frage über die Befriedigung längst reifer Fordemngen der einzelnen

Nationalitäten zu nennen.

Rußland stellt einen von zahlreichen Stämmen und

Völkerschaften bewohnten Siaat dar. Die geistige Einheit aller dieser Stämme und

Völkerschaften ist nur möglich bei Befriedigung der Bedürfnisse eines jeden von ihnen, indem die Eigenatt der einzelnen Seiten ihres Lebens dabei entwickelt wird.

Die Duma wird für weitgehende Befriedigung dieser berechtigten Bedürfnisse sorgen." 8«

IV. Kapitel.

116

gab in Peterhof am 21. Juli den Ausschlag — den unter diesen Um­ ständen mutigen, aber notwendigen Entschluß, die erste Duma nach ihrer 38. Sitzung — sie hat 72 Tage gesessen — aufzulösen; die Berufung

der neuen Duma wurde auf den 5. Mai 1907 festgesetzt. Am 22. Juli

wurde der bisherige Minister des Innern, P. A. Stolypin, zum Minister­ präsidenten ernannt. Die Kadetten begaben sich — am 23. Juli — in größter Erregung nach Wiborg, auf finnischen Boden, der der russischen Polizei entzogen war, und wandten sich von hier in einem flammenden Aufruf an das

Volk, die Regierungsmaßnahme mit der Steuerverweigerung und der Ver­ weigerung

des Militärdienstes zu

beantworten.

Die Intelligenz des

Landes proklamierte somit den Bürgerkrieg, und des Landes selbst be­ mächtigte sich die revolutionäre Erregung von

neuem.

Streiks

und

Revolten flammten in der zweiten Hälfte des Jahres 1906 wieder auf,

Mordtaten, Plünderungen und Brandstiftungen nahmen überhand, oft mit einer Frechheit ausgeführt, die ebenso in Erstaunen setzte wie die

Kopflosigkeit, die die lokalen Behörden und die Polizei dabei häufig be­ wiesen.

Auch jetzt war es keine eigentliche Revolution, nur an wenigen

Stellen geriet die Staatsgewalt in die Hände der ,^ramola", aber die

öffentliche Unsicherheit stieg auf das höchste, die Verwaltung funktionierte an vielen Orten nicht mehr, die Steuern wurden nicht erhoben, die Schulen nicht besucht, die Zensur wurde nicht ausgeübt, die Straßenpolizei

war wirkungslos, der Eisenbahnverkehr gestört. Und abermals schlug die Erregung in dos Heer und die Marine über. Im Juli fand eine Meuterei

in Sweaborg, im August eine solche in Kronstadt statt, und was von der Unzufriedenheit im Heere bekannt wurde, die sich ganz naiv in großen

Offiziermeetings zu Wort meldete, war schlimm genug, um in diesen der Dumaauflösung folgenden Monaten bis tief in den Herbst hinein die

Situation wiederum als höchst gefährlich erscheinen zu lassen.

Es ist das Verdienst des neuen Ministerpräsidenten Stolypin ge­ wesen, in diesem Wirrwarr zunächst einmal einen festen Standpunkt ein­

genommen zu haben und ihm dann mit Erfolg entgegengetreten zu fein1). *) P. A. Stolypin, geb. 14. April 1862, aus wohlhabendem Landadel, Adels­ marschall in Kowno, Gouvernem in Grodno und (seit 1903) in Saratow, 10. Mai 1906 Minister des Innern, 22. Juli 1906 Minister-Präsident, 18. September 1911 in Kiew ermordet.

Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914.

117

Die Geschichte wird Stolypin schwerlich zu den größten Staatsmännern

zählen; der Vergleich mit dem Freihcrrn von Stein, der gelegentlich laut geworden ist, ist übertrieben. Denn zu einem wirklich großen Staatsmanne

fehlte ihm die Freiheit des Geistes, die Weite des staatsmännischen Blickes, der Reichtum an neuen Gesichtspunkten.

Dafür hatte er die in dieser

Lage noch wesentlichere Eigenschaft eines festen und sicheren Willens auf einem durchaus schwankenden Boden.

Umgeben von täglich sein Leben

bedrohenden Gefahren, — am 25. August 1906 wurden bei einem Atten­ tat in seinem Hause auf der Apothekerinsel nicht weniger als 27 Personen

getötet und seine Tochter schwer verletzt —, keineswegs gestützt von den Fraktionen des Hofes, eigentlich nur getragen von dem Vertrauen seines

Kaisers, hat Stolypin zwei große Verdienste von dauernder Bedeutung.

Er hat der zügellosen Unordnung, in die sich alles Leben in Rußland auf­ löste, mit Erfolg gesteuert. Dieses negative Verdienst ergänzte er durch

ein positives, indem er der Vater der Agrarreform geworden ist.

Der

Ukas vom 22. November 1906 über die Auflösung des Mir trägt den Namen dieses Ministers, der ihn durchsetzte, dem es dadurch gelang, eine Intelligenz und Bauerntum schließlich

auseinandertreibende Spaltung

anzubahnen, und der so die wirkliche Gefahr der Revolution beseitigte.

Er regierte zunächst ohne Duma, auf Grund des berühmt gewordenen Notverordnungsparagraphen 87 der Reichsgrundgesetze, der dem noch be­

rühmteren Paragraphen 14 der österreichischen Verfassung nachgebildet ist. Rücksichtslos drängte er die Revolution mit Hilfe sog. Feldkriegsgerichte zurück — es war eine Erweiterung und Verkürzung der Militärgerichts­

barkeit, der Kriegszustand gegen das eigene Volk. Als Stolypin auf diese Weise fest zufaßte, erwies sich die bestehende Ordnung fester, als man

geglaubt hatte.

Jener Aufruf der Kadetten verpuffte völlig; sobald die

Ordnung einigermaßen wiederhergestellt war, gingen die Steuern ein und stellten sich die Rekmten.

Die Neuwahlen fanden erst zu Beginn der Jahres 1907 statt. Bis dahin setzte sich auch im Streit der Partei eine wesentliche Klärung

durch. Die Kadettm blieben nach wie vor auf dem Standpunkte, daß der

Staat nur durch entschiedene Reformarbeit die Revolutton überwinden und nur so die Mitarbeit der Liberalen gewinnen könne.

Dieser Auf­

fassung, die praktisch auf ein Paktieren mit der Revolution hinauslicf, traten die Oktobristen unter Führung Gutschkows entgegen: erst sei Ruhe

IV. Kapitel.

118

und Ordnung herzustellen, ehe der Staat auf der Bahn der Reformen —

das war auch für die Oktobristen eine sehr wesentliche Fordemng —

weiterginge.

Auf ihren Kongressen im November und Dezember 1906

sagten die Oktobristen so nach rechts und links, den Kadetten wie den

Monarchisten ab. In Praxi bedeutete die Auffassung der Oktobristen die

Unterstützung der Stolhpinschen Politik.

Sie traten damit vom Boden

der großen prinzipiellen Auseinandersetzungen auf den der Kompromisse und

haben die Folgen davon in den nächstm Jahren

an sich

er­

fahren. Aber nur so war, während die Anschauungen der Kadetten und

Stolypins in unvereinbarem Widerspmch, dm nur die stärkere Macht ent­ scheiden konnte, standen, eine Versöhnung zwischen Absolutismus und konstitutionellem Programm wenigstens denkbar; das Land hat dem auch

die Ordnung und ein ruhiges Arbeiten der dritten Duma verdankt. Inzwischen nahm nicht nur die Befriedigung des Landes durch die

Energie des Premierministers ihren Fortgang, sondern auch die positive Arbeit des Staates.

Am 22. November erwirkte Stolypin jenen Ukas

über die Auflösung des SJeir1).

Den Altgläubigen wurden Rechte und

Freiheiten verliehen, in den nichtrussischen Grenzmarken ließ man die durch die Revolution erkämpstm Freiheiten vorläufig bestehen; so konnten

in den Ostseeprovinzen deutsche, im Zartum Polen polnische Schulen

entstehen usw. Die Preßfreiheit wurde nicht wesentlich eingeschränkt, wenn auch eine so zügellose Freiheit des Wortes wie im Winter vorher nicht

mehr erlaubt ward. Stolypin war auch nicht gewillt, die konstitutionellen Zugeständnisse rückgängig zu machen. Daß die revolutionäre Bewegung

zwar fortdauerte, zeigte ihm die Ermordung des Grasen Ignatjew am 23. Dezember 1906, in dem die Revolution den nach Pobjedonoszew und Plehwe bedeutendsten Träger der Reaktion tödlich traf. Aber trotzdem und

trotz der bösen Erfahrungen mit Wahlrecht und Duma fanden die Neu­

wahlen nach demselben Wahlrecht im Februar 1907 statt; am 5. Marz 1907 trat die zweite Duma zusammen.

Die Parteien zeigten dieselben Verhältnisse wie in der ersten Duma, aber in schärferer Abgrenzung. bandes

des russischen

Volkes"

Rechts standen die Gruppen des „Ver­

(unter Führung

von

Purischkjewitsch,

Dubrowin u. a.), der Monarchisten und der Rechtsordnung, unter der Darüber s. Kapitel V,

Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1806—1914.

Führung namentlich

Gringnmths.

Dann

folgte

119

der Verband vom

30. Oktober, von dem sich die Gruppen der „friedlichen Erneuerung" (die

späteren Progressisten) und der „demokratischen Reform" losgelöst hatten (Schipow, Graf Heyden, Fürst Trubezkoi und Fürst Lwow.) Nach links

kamen weiter die Kadetten, Arbeitsparteiler, Sozialdemokraten, Sozialrevo­ lutionäre^ und Anarchisten. Mit dieser Linken, aber selbständig bleibend,

ging der allmssische Bauernbund zusammen, der keine politische Partei, nur eine soziale Einheit zu taktischen Zwecken war.

Die Ukrainer, unter

ihrem Frührer Schräg aus Tschernigow, und die beiden polnischen Gruppen, das „Kolo Polskie" aus dem Zartum und die polnisch-litauische

Partei, standen wie in der ersten Duma für sich. Im ganzen war die zweite Duma genau so radikal und revolutionär wie die erste, da die Linke an 400 Mitglieder (von 524) zählte. Stolypin erklärte vor ihr am 19. März, daß sich Rußland in einen Rechtsstaat verwandeln müsse, und

entrollte ein großes Programm

seiner gesetzgeberischen Absichten, das auch die Grundlage für die Arbeit der nächsten Jahre geworden ist2). Aber die Duma war für die Regierung

nicht arbeüsfähig. Sie hat nur vom 5. März bis zum 16. Juni getagt

und Spuren ihrer Tätigkeit nicht hinterlassen. Als die Regierung die Aus­ schließung von 55 sozialdemokratischen Mitgliedern, die der Verschwörung

gegen Staat und Zaren beschuldigt waren, forderte und die Duma ihr nicht rasch genug zu Willen war, wurde auch sie aufgelöst; die neue Duma sollte am 13. November zusammentreten.

Im Lande machte diese Auflösung gar keinen Eindmck. Inzwischen aber war die Regierung wieder stark genug geworden, um noch einen Schritt weiter wagen zu können. Am Tage der Dumaauflösung wurde ein neues Wahlrecht oktroyiert, das sehr rasch vom Gehilfen Stolypins im Mini­

sterium des Innern, Krhschanowski, ausgearbeitet worden war.

Mit dieser Maßnahme, also im Juni 1906, beginnt die Kontrerevolution, die bis zum Kriege immer stärker arbeitete, von 1911 ab durch den Nationalismus eine besondere Note erhielt, wohl die Verfassung und *) Die Arbeiterschaft hatte 1906 eine sehr straffe revolutionäre Leitung in

einem „Arbeiterrat" unter G. Nossar-Chrustalew gehabt, der im Dezember 1906

verhaftet und dadurch beseitigt worden war. h Die sehr lange Rede ist abgedruckt bei Schlesinger, Rutzland im 20. Jahrhundert (Berlin 1908) S. 311 ff.

IV. Kapitel.

120

die Dumarechte beschnitt und verletzte, aber zu ihrer Beseitigung nicht stark

genug geworden ist. Schon die Oktroyierung des neuen Wahlrechts war ein glatter Rechtsbruch, da die Gesetzgebung über das Wahlrecht ausdrücklich

vom § 87 der Reichsgrundgesetze ausgenommen ist.

Daß sich Kadetten

und alles, was links von ihnen stand, dem in erbitterter Opposition ent­

gegenstellten, war selbstverständlich. Aber sie konnten nichts daran ändern und haben auch nicht die praktischen Konsequenzen daraus gezogen, nämlich

die Maßnahme für ungesetzlich zu erklären und sich deshalb der Beteili­ gung an den Wahlen und an der neuen Duma zu enthalten.

Bei aller

grundsätzlichen Gegnerschaft haben sie sich vielmehr auf den Boden des

neuen Staatsrechts gestellt und auch in einer unter ganz anderen Ver­ hältnisfen gewählten Duma ihren Platz eingenommen.

So blieb den

Oktobristen auch nichts anderes übrig, als, zum Teil mit schwerem Herzen,

den Staatsstreich zwar als solchen zu verurteilen, aber hinzunehmcn und auf der neuen Basis die neue Arbeit zu beginnen.

Das ist geschehen,

aber von vornherein mit Mißtrauen gegen die Reichsregierung. Das neue Wahlrecht war so angelegt, daß es die Besitzenden vor den

Nichtbesitzenden und innerhalb der Besitzenden das großrussische Element vor den Nichtrussen begünstigte.

Ersteres Motiv sprach der Ukas nicht

aus, dagegen sagte er, schon den kommenden aggressiv-großmssischen Geist der Regierung andeutend, über das Zweite sehr offen:

„Die Reichsduma

die zur Festigung des russischen Reiches geschaffen ist, muß auch ihrem Geist nach russisch sein.

Die anderen Völkerschaften, die zu unserem Reich

gehören, sollen in der Reichsduma Vertreter ihrer Bedürfnisse haben,

aber sie sollen und werden nicht in einer Zahl erscheinen, die ihnen die

Möglichkeit gibt, in rein russischen Fragen ausschlaggebend zu. sein. In

den Grenzmarken des Reiches aber, in denen die Bevölkerung noch nicht die genügende staatsbürgerliche Entwicklung erlangt hat, müssen die Reichs­ dumawahlen zeitweilig sistiert werden." Die Zahl der Abgeordneten wurde auf 442 heruntergesetzt, in der Hauptsache auf Kosten der nichtrussischen Nationalitäten.

Das Zartum

Polen kam von 36 auf 121), der Kaukasus von 29 auf 9, Sibirien von 21 auf 14, Zentralasien von 23 auf 1 Vertreter herunter. Das war eine

Gesamtverminderung von 109 auf 36, durch die die Grenzmarken und *) Im ganzen 14, aber 2 müssen Russen sein.

Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914.

Fremdstämmigen

eines wirklichen

121

Einflusses in der Duma beraubt

würden; so wurde sie wirklich ein russischer Reichstag.

Das Wahlrecht blieb indirekt, der Zensus wurde nicht erhöht. Auch

wurde nach wie vor in Kurien gewählt: für Grundbesitzer, Bauern, Städter und Fabrikarbeiter.

Aber die Verteilung der Wahlmänner und

damit der Abgeordneten auf die Kurien wurde so geändert, daß rund

50 Bauernabgeordnete ausfielen und dafür Großgrundbesitzer eintraten. Auf 100 Wahlmänner kamen: auf

nach dem bis­ herigen Wahlrecht

42

1. Bauern 2. Arbeiter

4

3. Mielssteuerzahlende (also Städter — Beamte und Intelligenz

4. Großgrundbesitzer

68

22

nach dem neuen

22 2

36

12

32

5. Größere städtische Eigentümers

Von 6034 Wahlmännern (aus dem Reiche ohne Kaukasus, Zartum

Polen und Sibirien) für die erste und zweite Duma wählten die Bauem: 2529, die Städter 1336, die Gutsbesitzer 1963, die Arbeiter 208. Von 5163 Wahlmännern für die dritte Duma (desselben Gebiets) wählen die

Bauern 1168, die Städter 258, die Gutsbesitzer 2644, die Arbeiter 114.

Außerdem sind Wahlmännergruppen und Zensus so kompliziert — das Wahlrecht kann bis 4-stufig sein, indem der Bauer Wolostvertreter wählt,

diese Bevollmächtigte, diese Wahlmänner und diese erst den Dumaab­ geordneten wählen —, daß die Wahlen sehr stark beeinflußt werden können.

An sich haben in 28 Gouvemements Kemmßlands die Wahlmänner des Großbesitzes schon die absolute Mehrheit, in den anderen, wenn sie mit

den „größeren städtischen Eigentümern" zusammengehen. Das Wahlrecht ist also durchaus plutokratisch und hält die besitzlose Intelligenz in sehr

großem Maße, die Revolutionäre fast ganz von der Duma fem. Der Erfolg sprach für die Regierung. Die Maßnahme erfuhr zwar heftigsten Widerspruch, aber sie hat zu bewaffneter Erhebung nicht einmal

in den polnischen Gebieten geführt, geschweige denn im Kerngebiet, wo das Bauerntum sich an der Agrarreformarbeit zu beruhigen und das Inter­ esse für die liberale Agitation und sozialistische Hetze zu verlieren begann. *) Diese Kurie wurde 1907 neu eingeführt.

Die 5 großen Städte wählen

16 Abgeordnete direkt, davon die Kurien Nr. 8 und 5 je die Hälfte.

IV. Kapitel.

122

Die Erstarkung der Staatsgewalt, die Tatsache, daß Wahlrecht und Zensus an sich nicht verändert waren, die Wirkung der begonnenen Reformen und

schließlich auch der Volkscharakter, alles ermöglichte Stolypin einen vollen

Erfolg: diese auf Grund des neuen Wahlrechts gewählte Duma hat ihre verfassungsmäßige Zeit (1907—1912) vollkommen erfüllt und Rußland zum ersten Male ein ruhiges Parlamentsarbeiten gezeigt.

m.

Die Parteien der dritten Duma waren fast dieselben, wie die bis­

herigen, aber zahlenmäßig war ihr Verhältnis ganz anders geworden. Waren die beiden ersten Dumm kadettisch, so ist die dritte Duma bis 1911

oktobristisch gewesen; danach wurde der ausschlaggebende Einfluß der Oktobristen durch das Hervortreten der nationalistischen Richtung ge­

schwächt.

In der 1. Session gab es 11 Fraktionen: 1. die Rechte 51, — die Nationalisten 26, — die gemäßigten Rechten 70, im ganzen eine Rechte

von 127 Mitgliedem. Dann 2. die Oktobristen (154), einschließlich der gemäßigten Reformer und Balten. 3. die Kadetten 54, mit 28 von ihnen nicht wesentlich verschiedenen Progressisten — 82 Mitglieder. 4. die Linke:

Arbeitsgruppe 14 und 19 Sozialdemokraten — 33.

Das waren 127

Rechte gegen 115 Linke und 154 Mittelparteiler. Dazu 5. die Autono­

misten, d. h. 11 Polen, 7 polnisch-litauisch-weißrussische Gruppe, 8 Mo­

hammedaner.

Die Ukrainer waren als besondere Gmppe vollständig

verschwunden, die Gesamtzahl der Autonomisten so gering geworden, daß sie in der Mehrheitsbildung keine Rolle mehr spielten. So standen sich in

der Duma 4 politische Anschauungen gegenüber: die äußerste Rechte und die äußerste Linke, die die Verfassung nicht anerkennen, sondem sie ent­ weder zurück in den Absolutismus oder vorwärts in die Republik ver-

ändem wollten. Von ihnen war die äußerste Linke ohne Einfluß, während

die äußerste Rechte zunehmend wichtiger wurde. Aber in jenen Zahlen geht eine Anzahl Duma-Mitglieder nicht auf: Parteilose, und zwar parteilose Rechte, die zwischen der reaktionären und der reformerischen

Rechten standen. Aus ihnen und sich absplitternden Oktobristen bildete sich im Verlauf der 5 Dumajahre eine immer stärker werdende nationalistische

Partei, die freilich zu einem vollständigen Parteiabschluß noch nicht kam,

Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914.

123

aber mit der äußersten Rechten zusammen den beherrschendm Einfluß der

Oktobristen brach. Danach zeigte die letzte Session folgendes Bild: Rechte

52 — Nationalisten 93 — Rechts-Oktobristen 11, im ganzen 156; Oktobristen 121; Kadetten 53 und Progressisten 37 — 90; Arbeitsgruppe 11 und Sozialdemokraten 13 = 24; Parteilose 23. Das ergab eine Rechte

von 179, eine Linke von 114 und eine Mittelpartei von 121 Mitgliedern**). Der Sieg der Oktobristen über die Linke wird noch klarer, wenn man

die Berufsgliederung der Abgeordneten betrachtet. Im Gegensatz zu den

beiden ersten Dumen, die eine große Zahl proletarischer Existenzen auf­

wiesen, hatte die dritte Duma 230 akademisch Gebildete.

134 hatten

Mittelschul-, 86 Volksschulbildung genossen; als Autodidakten gingen 35.

Noch deutlicher redete die Standesgliederung: 220 erbliche Adlige,

94 Bauem und Arbeiter, 46 Priester (davon ein römisch-katholischer), 42 Kaufleute, 12 Kleinbürger, 15 Kosaken.

Für die Intelligenz bleibt

allerdings nicht nur der Rest, sondern zahlreiche Glieder der Intelligenz ge­ hören zu den 220 Adligen, von denm nur 195 Gutsbesitzer (darunter

29 Adelsmarschälle) waren. 173 Mitglieder hatten aktiven Anteil an der lokalen Selbstverwaltung*).

Das war eine Duma, die für konservativ

gelten konnte, wenn, wie es der Fall war, die Bauern auf der rechten Seite gehalten werden konnten.

Trotz der erheblichen Verstärkung der

rechtsstehenden Elemente verfügten diese indes nicht über die Mehrheit. Gelang es nicht, eine Arbeitsmehrheit zu schaffen, einen Block, dessen

Kern die Oktobristen darstellten, so war es auch jetzt der Regierung nicht leicht gemacht. Drei Momente wirkten nun auf die Umgestaltung der Parteiverhälmisse ein.

Zunächst kamen die grundsätzlichen Erörtemngen um die

Verfassung nicht,zur Ruhe. Dabei traute ein Teil der Duma dem andern nicht und traute sie im ganzen der Regierung nicht. Stolypin war zwar

*) Die Autonomistengruppen unverändert. *) Der Nationalität nach waren in der 3. Duma 377 Großrussen, 28 Klein­ russen, 12 Weißrussen, 22 Polen, 13 Deutsche, 5 Litauer, je 4 Armenier, Baschkiren, Juden, Letten und Tataren, je 2 Moldauer, Grusinier, Griechen und Eschen, je 1 Lesghiner, Türke, Shrjane und Abchasier, — der Konfession nach 414 Recht­ gläubige, 27 römische Katholiken, 20 Lutheraner, 10 Mohammedaner, 6 Alt­ gläubige, je 2 Armeno-Gregorianer und Armeno-Katholiken usw. Danach war eine überwältigende großrussisch-rechtgläubige Mehrheit vorhanden.

124

IV. Kapitel.

von der Notwendigkeit der monarchisch-konstitutionellen Staatsform für Rußland ehrlich überzeugt, aber der Zwang, die Staatsautorität wieder herzustellen, führte ihn zuerst oft dazu, die verfassungsmäßigen Kompe­ tenzen mindestens zu berühren, wenn nicht zu überschreiten; er hatte dafür

auch eine unbedingte Stütze am Hofe und am Zaren.

Darüber hinaus

legte der verhältnismäßig rasche Sieg über die Revolution den einfluß­ reichen Gruppen am Hofe den Gedanken nahe, auch die gegebenen Zu­ geständnisse rückwärts zu revidieren, und mit der leidenschaftlichen Be­

tonung der „Samoderschawie", die trotz allem erhalten sei, wurden immer

wieder — unterstützt durch die zweideutigen Eingangsworte des 4. Ver­

fassungsartikels — Vorstöße in dieser Richtung gemacht.

Der Einzel­

kampf zwischen Verwaltung und Parlament, der damit begann, erschwerte

den Oktobristen ihre Stellung als Mittelpartei immer mehr.

War es

doch leichter, von rechts und links seinen Standpunkt in prinzipieller Klarheit auszusprechen, als in der Mitte Kompromisse durchzuführen, an deren Haltbarkeit häufig keineswegs die ganze Partei glaubte. Sie ist darüber auch nicht zu einer wirklich festen und einigen Fraktion geworden.

Ferner wurden die polttischen Parteigegensätze fortwährend durch die agrarische Frage durchkreuzt. Zu einer eigentlichen Bauernpartei kam

es nicht, vielmehr fanden sich in den agrarischen Fragen die an ihnen

Interessierten aus allen Parteien zusammen und schoben so die politischen

Gegensätze zurück. Das aber hinderte wieder die Ausbildung scharf gegen­ einander abgegrenzter und geschlossener politischer Parteien.

Schließlich aber bildete der Nationalismus die Parteiverhältnisse um, zu dem Stolypin im Frühjahr 1911 die volle Schwenkung vollzog, als er

in einem erneuten Staatsstreich die Verordnung über die Einführung der Semstwos im Westgebiet mit dem Paragraphen 87 durchsetzte. Für seine

Politik, die für die Grenzmarken die Errungenschaften" der Revolution

illusorisch machen wollte und immer mehr nationalistisch-aggressiv wurde,

suchte er daher seine Stütze in der gemäßigten und extremen Rechten, die ihm eine Gruppe von fast 200 Mitgliedern in der Duma zur Verfügung

stellte. Die Legislaturperiode ging freilich zu Ende, ehe diese Entwicklung

zu einer vollständig neuen Parteigruppiemng führte, zumal sich die

Oktobristen im Oktober 1911 mit den Nationalisten, wenigstens für die Wahltaktik, zusammenschlossen. Sie haben dadurch ihre Stellung auch in der vierten Duma in der Hauptsache behauptet, aber das Wesen ihrer

Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914.

125

Partei insofern verändert, als die nationalistische Politik, der sie nun mitdienen mußten und wollten, mit dem liberalen Inhalt ihres Pro­

gramms grundsätzlich nicht vereinbar ist. Arbeitsfähig ist die Duma infolge des Staatsstreichs wenigstens ge­ worden; in den 5 Jahren ist auch außerordentlich viel in ihr gearbeitet

worden. Das fällt, abgesehen von jenen großen prinzipiellen Widerständen,

um so mehr ins Gewicht, als die Summe dessen, was zu tun war,

ungeheuer war. Denn eine Fülle von verwickelten Reformarbeiten forderte nun Erledigung. Und dafür war die Zahl der zur Einzelarbeit geeigneten und willigen Kräfte unter den Abgeordneten relativ geringer, als in irgend­

einem anderen Parlament. Aber — nach 5 Jahren lag diese Erfahrung vor — Rußland hat derartige Kräfte in der Duma gehabt. Bei ihrem Beginn stand die große Reformarbeit erst noch weniger

im Vordergrund als die Eingewöhnung in die Technik des parlamen­

tarischen Lebens überhaupt.

Diese hat sich leichter und schneller bei den

Abgeordneten vollzogen als bei den Regierungsvertretem; jene haben sich

sehr rasch in die parlamentarische Routine nach dem europäischen Vorbild gefunden.

Das Präsidium und die zweite Vizepräsidentenstelle blieben

immer in den Händen der Oktobristen, während die Rechte die erste Vize­

präsidentenstelle besetzte; erst 1913 wurde auch diese mit einem Oktobristen besetzt.

Präsidenten waren N. A. Chomjakow (der Sohn des bekannten

Slawophilen) bis 1910, A. Gutschkow bis März 1911, seit dem M. W. Rodsjanko, der auch Präsident der vierten Duma tourbe1).

Unter den

Vizepräsidenten sind Fürst W. M. Wolkonskij und namentlich Baron A. Meyendorff zu nennen. Die Linke, auch die Kadettenpartei, blieb von der Leitung der Dumageschäfte ausgeschlossen, was sich aus der Mehrheit

und dem Mißtrauen der konservativen Kreise gegen die Kadetten wegen ihrer Haltung in der Revolution ergab. Die Kadetten haben das geschickt

ausgenutzt.

Sie hatten dadurch den Vorteil geschlosseneren Auftretens in

der Duma, wobei sie durch ihre große Zahl bedeutender Köpfe unter­

stützt

wurden;

besonders

trat

unter

ihnen

Miljukow

immer

mehr

als der unbestrittene Führer hervor, der vorzüglichste Kenner der aus-

j 1859 geboren, adliger Gutsbesitzer aus dem Gouvernement Jekaterinoslaw. *) 1868 geboren, Gutsbesitzer und Welsmarschall aus dem Gouvernement

Tambow, im Kriege Gchilfe im Ministerium des Innern geworden.

IV. Kapitel.

126

wärtigen, namentlich Balkanpolitik, der darin gelegentlich, wie in den Aus­ einandersetzungen mit Iswolski, geradezu Wortführer der gesamten Duma war.

Sonst Has infolge dieser Minoritätsstellung die positive Mitarbeit

der Kadetten an den großen Reformprojekten, vor allem der Agrarstage,

gefehlt.

Dafür nahm ihre Bedeumng im Lande immer mehr zu.

Da

das Vertrauen zur Regierung, namentlich zur Ehrlichkeit ihrer konstitutio­ nellen Gesinnung sank, stieg der Kredit der Oppositionsparteien im Lande, und je mehr die nationalistische Richtung der Regierungspolitik hervortrat

und je unsicherer die Stellung der Oktobristen dazu wurde, um so schärfer und erfolgreicher konnte die Opposition der Kadetten werden. Diese Dinge wurden aber erst im dritten und vierten Fünftel der

LegislaMrperiode klarer. ordnungschaffende

Politik

Zunächst ging man, während im Lande die des

Premierministers

immer

erfolgreicher

voranschritt, mit voller Kraft und auch Lust an die Erledigung der Ge­

schäfte. Die Arbeit wurde dadurch erleichtert, daß die öffentliche Meinung immer weniger in sie hereinredete; die Duma war eben keine vollkommene

Vertretung des Volkes, sondern nur eine solche der besitzenden Klassen, in

der die besitzlose Opposition ungenügend zu Wort kam.

Andererseits

aber stand der Wille, zu arbeiten, vor großen Schwierigkeiten.

Die

Verfassung enthielt Unklarheiten genug über die Kompetmzstagen. Deshalb suchte man im ersten Übereifer so viel wie möglich an sich heranzuziehen

und die Regierung unterstützte hi kluger Berechnung das: je mehr sich das Parlament in Einzelheiten vergrub, um so mehr blieb die Staats­

gewalt in der Hand der Regiemng. Gleich die erste große Aufgabe der Budgetkntik zeigte alle diese

Klippen. Es drehte sich um ein Riesenbudget, das zwar seit Jahrzehnten,

seit 1863, veröffentlicht wurde, aber höchst unübersichtlich und vornehm­ lich unter dem Gesichtspunkt angelegt war, dem Auslande einen recht

günstigen Abschluß zu präsentieren.

Die Spezialisierung der einzelnen

Titel war möglichst vermieden, zahlreiche Mißbräuche und Schiebungen fanden sich in diesem Reichshaushalte. Technisch kam noch die Schwierig­

keit hinzu, daß das Budgetjahr unpraktischerweise mit dem 1. Januar beginnt, so daß, weil die Duma nicht eher als im Oktober berufen werden

kann, die Zeit zur gründlichen Etatberatung regelmäßig sehr kurz war. Die Duma hatte indes das Glück, vor allem in dem Oktobristen M. M.

Aleksjejenko einen ausgezeichneten Präsidentm chrer Budgetkommission zu

Jnnerpolitisches Leben, Parteien und'Staatsmänner von 1906—1914.

127

finden, unter dessen Leitung die Behandlung und Kritik des Budgets rasch in feste Bahnen gekommen ist; 1910 wurden nur 29, 1911 nur 17, 1912:

30 Sitzungstage gebraucht, um das Budget zum Abschluß zu bringen. Die Regierung erleichterte diese Arbeit ganz und gar nicht. Ihr Stand­

punkt zum Budgetrecht der Duma war keineswegs klar und entgegen­ kommend.

Das Budgetrecht an sich wurde ja nicht ernstlich bestritten,

aber seine Grenzen waren sehr unsicher. Zudem lag eine besondere Haupt­ schwierigkeit in der Stellung zum Zaren. Das absolute Rußland hat eine

Scheidung zwischen Schatulle und Staatsfinanzen nicht ausreichend durch­

geführt; die Vorstellung blieb herrschend, daß der Staat mit seinen Ein­ nahmen und Gütern nichts als das Dominium des Zaren sei. aber richteten

sich

Dann

alle Erörterungen um das Budgetrecht gegen die

Person des Zaren selbst.

Und dieses Verhältnis wurde noch peinlicher,

weil die Budgetkritik die Tätigkeit von Mitgliedern der Zarenfamilie direkt berühren mußte. Eine ganze Anzahl höchster Staatsstellungen war in den

Händen von Großfürsten und unter der Leitung dieser großfürstlichen Chefs warm die betreffenden Ressorts keineswegs Musteranstalten ge­

worden.

Weil traditionell Mitglieder der Zarenfamilie an die Spitze

wichtiger Verwaltungszweige gestellt wurden, denen Sachkenntnis, Über­

sicht, oft auch guter Wille fehlte, war in wichtigen Ressorts Korruption und Unordnung eingerissen, die sich im Kriege schwer gerächt hatten.

Schließlich hatten die Reichsgrundgesetze geradezu eine Mauer aufgerichtet,

über die die konstitutionelle Budgetkritik überhaupt nicht hinwegsteigen konnte, in den sogen, gepanzerten Krediten, Teilen des Etats, die der Er­

örterung und Bewilligung der Duma von vornherein entgegen1) und

trotz des

Bemühens der Duma, darauf Einfluß

zu

gewinnen, em

unklares Gebiet geblieben sind. Das Problem, Budgetrecht und zarische

Prägorative in den Finanzen zu versöhnen und Reibungen auszuschalten, ist noch nicht gelöst worden.

Bei Eröffnung der Duma wurde in der Presse folgmdes Reform­ programm aufgestellt: neben den Budgetfragen die Ordnung und Dezen­ tralisation in der Verwaltung, die Agrarreform, die Verbesserung der

Lebenshaltung der Offiziere und Soldaten in der Landarmee, der Neubau der Flotte, die Reform und der Ausbau des Eisenbahnsystems, die Bolks*) Siche Kapitel VI.

128

IV. Kapitel.

bildung, die Reform der Lokalverwaltung, und des Lokalgerichts, dazu die Folgerungen aus dem Toleranzedikt für das gesamte Kirchenrecht und

die Fragen der Unantastbarkeit der Person, der Preßfreiheit und Zensur, die unmittelbar aus dem Wesen des Verfassungsstaates folgten, schließlich Besserung allgemeiner Schäden des Staatslebens, wie der Lage der In­

dustriearbeiter oder der von mehrenen Abgeordneten leidenschaftlich be­

kämpften Trunksucht. Im ganzen ein Riesenprogramm, an das man häufig in der glücklichen Naivität heranging, zu glauben, daß schon die gesetzliche

Maßnahme die Reform sei. Zu all den Aufgaben traten später die ver­ wickelten Gesetzentwürfe hinzu, die die Schwenkung der Regierung zum Nationalismus mit sich brachte und die die Duma in große, zum Teil sehr

unfruchtbare Kämpfe Hereinrissen. Sie haben auch seit ihrer dritten Session

die Reformarbeit immer ergebnisloser gemacht. Daß diese nicht so vorankam, wie es möglich und nötig war, hing ferner mit der Stellung der Regierung zur Duma und mit der der ersten zur zweiten Kammer zusammen. Je mehr sich die Staatsgewalt wieder

festigte, um so mehr verbreitete sich ja die Überzeugung, daß die Zugeständ­

nisse des Oktobermanifests zu weit gegangen seien.

Sie offen zurück­

zunehmen, dazu fühlte sich die Staatsgewalt auch jetzt nicht stark genug.

Aber sie versuchte, die Kontrolle des Parlaments und die Beschränkung der selbstherrlichen Gewalt in möglichst engen Grenzen zu halten. Und wenn auch die Duma immer mehr ein organischer Faktor des Staats­

lebens wurde, so wußte Stolypin, daß sie nach Zusammensetzung und Wahlrecht eine grundsätzliche Opposiüon gegen die Regierung gar nicht machen konnte, wenn sie nicht ihre eigene Existenz gefährden wollte. Die

Probe auf dieses Exempel machte er, als er vom beruhigenden, konstitu­ tionellen, reformierenden Staatsmann zum nationalistisch-konservativen Minister wurde. Diese Entwicklung ging parallel, beeinflußte und wurde ihrerseits beeinflußt durch die Erstarkung der nationalistischen Richtung in

der Duma, die sich von 1909 an vollzog. Als die dritte Duma zusammentrat, war vom Nationalismus noch

keine Rede. Die Adresse an den Zaren berührte nationale Fragen nicht, sprach nur von der Koirsolidierung der Größe und Macht des „unteil­ baren" Rußlands, und das Arbeitsprogramm, mit dem Stolypin am 29. November 1907 vor die Duma trat, erwähnte die nationalen Fragen gleichfalls nicht. Aber daß sie von Bedeutung werden mußten, lag auf der

Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914.

129

Hand; das große Problem, wie die konstitutionellen Forderungen mit dem

russischen Nationalitätenstaat zu vereinen seien, trat im Laufe des Jahres 1909 an Duma und Regierung heran. Dafür war nun sehr wesentlich,

daß nach der sozialen Struktur Rußlands die sich konsolidierende Rechte

der Duma nicht konservativ-aristokratisch*) sein konnte, sondern demo­ kratisch-agrarisch ist und sich als solche in einem großrussischen, chau­ vinistisch auftretenden Nationalismus fand, der geistig recht sehr aus Pob-

jedonoszews und Katkows Ideen schöpfte. Dagegen hatten in dieser Zentral­ frage weder die Oktobristen, noch ein großer Teil der Linken einen ent­

sprechend einheitlichen Standpunkt. Diese Veränderung in den Parteiver­

hältnissen wirkte auch auf den leitenden Staatsmann ein, der, je mhiger das Land wurde, immer mehr das Nationalitätenproblem aufnahm, so mit der

Gesetzgebung gegen Finnland, mit dem Gesetz über die Einführung der

Semstwos im Westgebiet und mit der Vorlage gegen die deutschen Kolo­ nisten.

Im Kampf um die zweite Vorlage kam es im Frühjahr 1911

zur größten Krisis, die zu einem Staatsstreich Stolypins, zu erbitterter Opposition in beiden Kammern und zu einem Rücktrittsgesuch Stolypins führte.

Sie endete aber mit seinem vollen Siege, weil der Zar, auch

wenn er Stolypin hätte preisgeben wollen, ihn schlechterdings nicht ent­

behren konnte. Die Arbeit der Duma wurde sodann durch den Neichsrat erschwert.

Dieser stand, wenn nicht unbedingt auf der Seite Stolypins, so doch ent­ schieden auf der Seite der Regierung, des Bestehenden überhaupt.

Er

war in eine erste Kammer verwandelt worden und bestehl nun halb aus ernannten, halb aus gewählten Mitgliedern.

Die ernannten Mitglieder

blieben derselben Art wie bisher: pensionierte Generale und Minister, die aktiven Minister und andere hohe Würdenträger.

Von den 98 zu

wählenden Mitgliedern sind 43 von den Semstwos, 18 von den Adels­

korporationen, 13 vom Großgrundbesitz in den Gouvernements ohne Semstwos (namentlich im Westgebiet und den Ostseeprovinzen), davon

6 vom Großgrundbesitz des Königreichs Polen, 6 von der Geistlich­ keit, 6 von den Universitäten und von der Akademie der Wissenschaften und 12 von Handel und Industrie zu wählen.

Diese Zusammensetzung

*) Konservativ-aristokratische Elemente der Duma sind daher mit wenigen

persönlichen Ausnahmen merkwürdigerweise lediglich die Vertreter der Großindustrie (der Börsenkomitees).

Hoetzsch, Rußland.

9

IV. Kapitel.

130

sichert den bureaukratisch-konservativm Elementen weitaus die Mehrheit;

die wenigen Liberalen, die die Universitäten oder Handel und Industrie

stellen können, spielen keine Rolle.

Es waren daher nur verschiedene

Nüancen der konservativen Grundgesinnung, wenn sich auch im Reichs­

rat Parteien bildeten. Diese sind (ernannte und gewählte Mitglieder zu­ gleich umfassend) folgendes: die äußerste Rechte 70 Mitglieder, darunter

die meisten früheren Minister usw., geführt von P. N. Durnowo; das — nationalistische

— rechte

Zentrum

(19,

geführt von

Stolypins

Schwager Neidhardt), das für „ein Zusammenarbeiten des Reichsrats und

der Reichsduma" arbeitende Zentmm (60, dabei die Balten und Polen, unter Fühmng A. A. Sabmrows), die Linke (12, unter Fühmng des Professors Grimm, dabei die Vertreter der Universitäten) Parteilose (22). Für sich steht die Gruppe der aktiven Minister (13). Die Führung und mit der Neidhardt-Gmppe die absolute Mehrheit hatte die reaktionäre

Rechte unter Durnowo").

Unter ihrem maßgebenden Einfluß sah der Reichsrat von Anfang an

seine Aufgabe geradezu darin, die gesetzgeberische Tätigkeit der Duma un­ möglich zu machen; es ist vor allem seine Schuld, wenn aus der Fülle von Reformgesetzmtwürfen, die die dritte Duma behandelt hat, verhältnis­ mäßig wenig Gesetz und Recht geworden ist. Sicherlich hatte sich in den 5 Jahren der dritten Duma die kon­

stitutionelle Staatsreform noch nicht ganz eingelebt. Aber die Duma hatte

Lebens- und Arbeitsfähigkeit gezeigt, auch Positive Arbeit reichlich ge­

leistet.

Daß die Verfassung im Volke als notwendig empfunden wurde,

zeigte die Wahlbewegung für die vierte Duma.

Trotz stärkster Beein­

flussung durch die Regierung und trotz der Unterstützung der Kirche, die

beide eine Dumamehrheit im Regiemngssinne, d. h. eine nationalistischkonservattve erstrebten, ging die gesamte Rechte eher geschwächt daraus hervor.

Die Stärke der Parteien betrug im Dezember 1912, als die vierte Duma ihre Arbett begann: Rechte 64, Nationalisten 88, Gemäßigte Rechte

(oder Zentmm) 33 — 185; Oktobristen 99; Kadettm 58, Progressisten 47, Arbeitsgruppe 10, Sozialdemokraten usw. 14 — im ganzen 129. Dazu *) Die Zahlen nach dem Stande von Februar 1914. *) 1844 bis 1916, Nov. 1905 bis Mai 1906 Minister des Innern.

Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914.

131

kamen 15 Polen, Litauer und Weißrussen, 6 Mohammedaner und 5 Parteilose.

Daneben gibt es, die immer noch schwankenden Parteiunter­

schiede durchbrechend, unpolitische Gruppen: je eine Bauern-, Kosaken-, städtische und Semstwo-Gruppe.

Die großrussisch-orthodoxe Mehrheit wurde nicht verändert: über

380 Orthodoxe stehen rund 60 Andersgläubigen gegenüber.

366 sind

Großrussen, 19 Polen, je 9 Deutsche und Kleinrusscn, je 5 Litauer und

Tataren, je 4 Weißrussen und Armenier, je 3 Juden und Moldauer, je 2 Eschen, Letten, Griechen, Grusinier usw.

Hochschulbildung hatten 217, Mittelschulbildung 118, Volksschul­

bildung 75 und.häusliche Bildung 29 Abgeordnete.

Dem Bemfe nach

gehörten 95 zur Intelligenz, 45 zur Geistlichkeit; 41 Adelsmarschälle und 10 Arbeiter waren gewählt worden. Nach diesen Parteizahlen hatte auch die vierte Duma kein festes Arbeitszentrum.

Für die Arbeitsmöglichkeit kam es darauf an, ob die

Rechte eine geschlossene Gruppe bildete und wie sich die Oktobristen stellen und entwickeln würden.

Die Rechte ist überhaupt keine geschlossene Partei, auch nicht in den nationalen Fragen, sondern

umfaßt die eigentlichen Rechten, die auf

Grund der (groß-)russischen Staatsidee nationalistisch sind, und die Natio­ nalisten, die das auf Grund der slawischen Rassenidee, also Panslawisten

sind. Sie ist, wie erwähnt, demokratisch-agrarisch, — sind doch auch ihre Führer vor allem Bureaukraten, Bauern und Geistliche. Immer deutlicher ist das beim Werben der Parteien um das Volk geworden, d. h. um die

Bauemmassen, die in den großen monarchistischen Verbänden (Verband des

russischen Volkes, der russischen Leute, des Erzengels St. Michael) organi­ siert sind und das Rückgrat der Rechten bilden, aber auch der Agitation von links zugänglich sind, jedenfalls nicht von

panstawistisch sind.

Haus aus nationalistisch-

Das gibt dem parlamentarischen Leben Rußlands

seinen besonderen Zug, daß ihm eine konservative Partei aus Adel und

Bürgertum fehlt, und daß sich vornehmlich nur (von der Geistlichkeit beein­

flußtes) Bauemtum und Intelligenz, deren Parteien (Kadetten und Pro-

gressisten) auch heute noch nicht „legalisiert" sind, sondem nur ungesetzlich existieren, gegenüberstehen. Darin liegt eine Sicherung gegen alle wirklich

tief greifendm reaktionären, d. h. auf Beseitigung der Verfassung gerichteten Tendenzen, jedoch eine geringe Sicherheit für ein ruhiges konstitutionelles 9*

IV. Kapitel.

132

Leben und eine noch geringere Sicherheit dafür, daß diese politische Ver­

tretung sich auch der Kulturaufgaben annimmt. Die Rechte hält die Ver­ fassung gegen die Linke und, wenn nötig, gegen die Regierung, nutzt sie

aber in ihrem engen, wesentlich von Bauemtum und Klerus bestimmten Interesse aus.

Nun diente der Nationalismus und die nationalistische Bewegung vor

allem dazu, die verschiedenen Gruppen der Rechten immer mehr einander näher zu führen, während sie sich an der reaktionären Politik der Regierung

viel weniger stießen als die Linke. Jnnerpolitisch war der Nationalismus jetzt am besten in der großen Erklärung Kokowzows vor der Duma am 19. Dezember 1912 formuliert: „Auf diesem festen Boden (der bestehmden

Staatsordnung) sind die Negierungsinstitutionen zum unbeirrten Schutz der von altersher zur Gmndlage des russischen Staatslebens dienenden

und durch ihre Geschichte geheiligten Einheit und Unteilbarkeit des Reichs, der Vorherrschaft der russischen Nationalität in ihm und des orthodoxen

Glaubens berufen, unter dessen wohltätigem Einfluß das russische Land entstanden und gefestigt ist und lebt." Auf dem Boden dieses Programms, das sie aktiver faßte als der Ministerpräsident, stand die Rechte ohne Einschränkung.

Seit 1908 aber — dem Jahre, in dem die Wendung

vom fernen zum nahen Osten bewußt erfaßt und ausgenommen wurde — belebte sich der Nationalismus durch den Neopanflawismus, durch die

Krisen der Balkanhalbinsel und die mehrfachen Kriegsgefahren außer­ ordentlich. Das kam den Rechten vornehmlich zugute, und das nutzten sie auch aus: sie blieben nationalistisch und sie wurden panslawistisch.

Letztere Strömung ergriff aber auch die Oktobristen, deren Führer Gutschkow

besonders

sich

immer

leidenschaftlicher

in

sie

hineinwarf.

Anderseits stellte die nationalistische Regierungspolitik namentlich in der

finnischen Frage und die steigende Reaktion diese Partei vor die Frage,

ob nicht ihr im Grund liberales Programm die Opposition gegen die

Regierung fordere. Auf Kongressen und im Hauptblatt der Oktobristen, dem Golos Moskwy, machte sich Gutschkow zum Wortführer auch der

regierungsfeindlichen Richtung. Aber er brachte diese sonderbare Synthese zwischen panflawistisch und oppositionell nicht zustande.

Den schärfer

werdenden Parteigegensätzen fiel diese Mittelpartei zum Opfer; nach der

Parteikonferenz im November 1913 brach sie auseinander: eine Gruppe

von Linksoktobristen (Schidlowski, auch Mehendorff), eine zentrale der

Jrmerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914.

1ZZ

sog. Landschaftsoktobristen und eine der Rechtsoktobristen entstand. Gutsch­ kow, der seine Führerstellung darüber einbüßte, zog sich immer mehr vom

innerpolitischen Leben zurück und gab sich ausschließlich der immer fessel­

loser flutenden panslawistischen und deutschfeindlichen Welle hin.

Seine

Partei verlor darüber bis zum Kriege an Bedeutung und gewann sie auch

im Kriege nicht zurück.

Durch dieses Heruntersinken der Oktobristen gewann der Liberalismus aber nicht so viel, wie man annehmen mochte. Der reaktionären Politik stand er freilich in scharfer Opposition gegenüber, in der Miljukow nach

wie vor führte. Aber es fehlte ihm schon das feste Programm und die soziale Grundlage, um die Massen gewinnen zu können, und er fand auch keinen

festen Standpunkt zum Nationalismus.

Außerpolitisch stand Miljukow,

der Vorkämpfer russischer Orientpolitik, gar nicht anders als Gutschkow, ruhiger zwar, dafür orientierter und folgerichtiger.

Und im Innern

wurde der Liberalismus immer großrussischer, besonders unter dem Ein­ fluß P. Struves, der die Einheit des russischen Staats und das Ideal des „großen Rußlands" vertrat. Weder die sinnische noch die polnische Frage, weder die Klagen der Deutschen noch die der Kleinmssen haben in

diesen Jahren bei den Kadetten wesentlich Gehör gefunden.

Sie sind

zentralistisch, großrussisch, ja chauvinistisch geworden und verfochten die Angriffspolitik nach außen — als Oppositionspartei brauchte sie trotz

großer Reden keine Regiemng zu fürchten.

Noch weniger hatte sie von Sozialdemokraten und Sozialrevolutio­ nären zu besorgen.. Deren Parteien verfielen, hatten weder innere Kraft

noch Organisation.

Auch die Streikbewegung, die in der ersten Hälfte

1914 sehr anschwoll — Juli 1914 zählte man 951 Streiks mit 322 000

Streikenden — schien nur politisch zu werden, sie machte die Arbeiterparteien der Regierung nicht gefährlich.

Die Parteigruppierung war bei Ausbruch des Krieges diese: Rechte 59, Nationalisten 86, Zentrum 33, Rechtsoktobristen 23 — 201; Land­ schaftsoktobristen 64, Linksoktobristen 20; Kadetten 55, Progressisten 44,

Arbeitsgruppe 10, Sozialdemokraten 14 — im ganzen 123; 9 Parteilose

und 20 Nichtrussen.

Eine feste Mehrheit war danach noch weniger als

zu Anfang vorhanden.

Am 14. September 1911 war Stolypin durch ein Attentat in Kiew ermordet worden; sein Nachfolger wurde W. N. Kokowzow, der das

134

IV. Kapitel.

Portefeuille des Finanzministers beibehielt2). Kokowzow, der bedeutendste Schüler Wittes, hat dessen Werk in bett gleichen Bahnen und, unterstützt

durch die guten Ernten, mit gleichem Erfolge fortgeführt. Als Minister­ präsident wollte er2) auf der

Grundlage des Oktobermanifestes in einem

monarchisch-konstitutionellen Staatswesen unter entschiedener Wahrung

seiner historischen und politischen Einheit eine gewälüge Summe von Einzelreformen durchführen.

Aber, selbst weder reaktionär noch extrem­

nationalistisch noch gar Kriegshetzer — von der Notwendigkeit friedlicher

Politik war er so tief überzeugt wie Witte —, hat er diesen drei Tendenzen

in der Leitung des Staates nicht erfolgreich Widerstand leisten können. Die unaufhaltsam stärker werdende Strömung gegen die Verfassung und die

Duma, in seinem Kabinett durch die Minister des Innern Makarow und Maklakow, den Justizminister Schtscheglowitow und den Oberprokuror

Sabler vertreten, hemmte die Reformarbeit immer mehr und zwang Kokowzow zu Kompromiß und Nachgiebigkeit, die ihn trotz seiner großen

Gewandheit schließlich doch nicht hielten. Man konnte nicht zugleich Ver­ fassungsminister und Reaktionär, Nationalist und europäischer Reformer

sein — an der Unmöglichkeit, diese Gegensätze auszugleichen, da er nicht entschlossen und stark meiner Richtung zu gehen vermochte, ist Kokow­ zow gescheitert. Am 13. Febmar 1914, wurde er, mit dem Grafentitel, unerwartet verabschiedet, sehr erfolgreich als Finanzminister und ohne

wesentlichen Ertrag seiner Arbeit als Ministerpräsident. Sein Nachfolger als

Finanzminister

wurde

P. Bark2),

als

Ministerpräsident I. W.

GoremhkinJ. Die Reskripte des Zaren an beide, vom 13. Februar an Bark und

vom 19. März an Goremhkin, schienen durch den Herrscher selbst neue

Richtlinien für eine Politik anzugeben, die aus der Stagnation heraus*) 1853 geb., 1890 Gehilfe des Staatssekretärs des Reichsrats, 1896 Adjunkt

Wittes, 10. Mai 1906 Finanzminister, 23. Sept. 1911 auch Ministerpräsident, 13. Februar 1914 verabschiedet.

*) Vgl. seine Erklärung vor der Duma am 19. Dezember 1912.

’) 1869

geb.,

unter

Wyschnegradski

ins

Finanzministerium

eingetreten,

Sekretär Wittes, in der Reichsbank und in der Wolga-Kama-Bank tätig, zuletzt Gehilfe im Handelsministerium. *) 1839 geb., Vizegouverneur von Plock u. Kjelce, 1891 Gehilfe des Justiz­

ministers, 1895 bis 1899 Minister des Innern, 10. Mai bis 21. Juli 1906 Ministerpräsident.

Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914.

135

führen sollte. Bark wurden „radikale Reformen in der Verwaltung der

Staatsfinanzen und der wirtschaftlichen Aufgaben des Landes" aufge­ tragen; der Zar nahm dabei auf persönliche Eindrücke von den schlechten

wirtschaftlichen Zuständen im Lande bezug. Ausgeführt davon wurde bis zum Ausbruche des Weltkrieges nichts. legenden

finanz-politischen

Erst dieser gab zu einer grund­

Änderung

Veranlassung

mit

der

Auf­

hebung des Branntweinmonopols, um dessen Reform sich die Debatte

vor und nach Kokowzows Rücktritt gedreht hatte.

Das Reskript an

Goremhkin klang zwar den Gedanken jenes Witteschen Berichts, der das

Oktobermanifest 1905 veranlaßt hatte'), in manchem ähnlich, war aber unklar und unbestimmt, positiv nur in seinem entschieden nationalistischen

Zuge. Die Weisung eines „Einvernehmens zwischen der Regiemng und den gesetzgebenden Institutionen" wurde zudem durch die Persönlichkeit

des Adressaten von vornherein hinfällig.

Deim Goremhkin, entschieden

konservativ und großrussisch-nationalistisch, legte vor allem Gewicht darauf,

daß die Bauernmasse im richtigen Verhältnis zu ihrem Staate stehe; dem Liberalismus war er entschlossen feindlich, und er rührte, in dem

Bestreben, die Rechte der „Selbstherrschaft" unbedingt zu erhalten, in

der Praxis auch an unzweifelhafte Rechte der Verfassung. Damit wurde der latente Konflikt zwischen Berfassungsparteien und Reaktion, der in der Kontrerevolution seit 1908 immer mehr zugenommen hatte und den

Kokowzow nicht hatte lösen

können, akut.

Es

kam in der Duma

zu Szenen, die an die stürmischen Tage von 1906 erinnerten, zu leiden­ schaftlichen Angriffen auf die Minister, auf Rasputin") u. a., zu Skan­ dalen und Obstruktion gegen den greisen Ministerpräsidenten. Auf Seiten

der Regierung, die vom Reichsrat unbedingt unterstützt wurde, war aber nicht der geringste gute Wille zu erkennen, mit der Duma zu arbeiten. Die

Hoffnung, organische Reformen durchzubringen, schwand ganz, weder

') S. oben S. 100. -) Gregor Rasputin, ein in den fünfziger Jahren stehender, ungebildeter, aber begabter sibirischer Bauer, der, halb Charlatan, halb Gläubiger, als religiöser Kurpfuscher und Gesundbeter auf den Zaren und seine Familie großen Einfluß gewann. Am 11. Mai 1914 sagte Miljukow von ihm in der Duma, daß Rasputin 1913 über Krieg und Frieden entschieden habe: „So liegt die Kirche in den Händen der Hierarchie, die Hierarchie ist Gefangene des Staates und der Staat ist Gefangener eines — Landstreichers."

IV. Kapitel.

136

Regierung noch Reichsrat schienen solche auch nur zu wollen, und ihr

Programm schien die Auflösung dieser Duma, die von Haus aus gar nicht oppositionell war, vielleicht noch mehr: die Suspension oder wenigstens die Revision der Verfassung im reaktionären Sinne zu sein.

Diese Politik

steigerte und verstärkte die Opposition in der Duma, der sich auch der

größte Teil der Oktobristen anschloß.

Die Unzufriedenheit wurde so be­

drohlich, daß Menschikow, der bekannte Mitarbeiter der Nowoje Wremja,

schrieb, es „rieche nach 1905", und man fand, die Haltung der Bureau­ kratie erinnere an ihr Auftreten unter Plehwe. Aber der Zar, auf den die trotz allem sehr patriotische Haltung der Duma in den Landesverteidi­

gungsfragen wirkte*), war nicht geneigt, den Bogen Überspannen zu lassen.

Im Juli mehrten sich die Anzeichen eines Kurswechsels: der bedeutendste Kopf im Kabinett, der Landwirtschastsminister A. W. Kriwoscheins

hatte dem Zaren ein großes Reformprogramm einreichen können und galt als Goremykins Nachfolger im Sinne der Forderungen der Gesellschaft.

Der Kriegsausbmch durchschnitt das alles.

In der ersten Kriegssitzung

der Duma am 8. August 1914 wurden die schweren Kämpfe der ersten

Jahreshälfte beiseite geschoben, die Duma trat fast geschlossen an die Seite

der Regierung. Man hat vermutet, daß die Regierung den Krieg als Blitzableiter für eine innere Krisis benutzt habe, deren sie nicht mehr Herr werden

konnte. Richtig ist wohl, daß dem Zaren die Vorstellung erweckt wurde, das Land stehe vor einer Revolutton. Die innere Lage wurde als hoff­

nungslos empfunden und dargestellt, Sensationsprozesse förderten die all­

gemeine Spannung und die innerpolitische Atmosphäre schien einer Ent-,

ladung gegen die Reaktion und Willkür der Regiemng und Verwaltung zuzutreiben. Aber das galt nur für die großen Städte, die sog. Gesellschaft

und die Arbeiterschaft; „100 Werst im Umkreis von den Zentren, sagte

Kokowzow, gehe die Unzufriedenheit, nicht weiter." Die Provinz war still,

die Grenzmarken auch.

Das Bauemtum stand der Polstik wieder ganz

fern, war mit der Agrarreform, die in eiliger Arbeit einen individuell

wirtschaftenden Bauemstand schaffen wollte, beschäftigt, und in der Armee rüstete man auf den Krieg. Ohne Bauem und ohne Armee aber war an

9 S. Kapitel IX. 6 1859 geboren, 1908 bis 1915 (8. November) Landwirtschaftsminister.

Innenpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914.

137

keine Revolution zu denken, verpuffte die Aufregung des politischen

Treibms in Petersburg und Moskau und konnte sich die Gämng der Arbeiterschaft nicht über Streikdemonstrationen hinaus erheben. —

Die Jahre 1904 bis 1906 warm eine Zeit revolutionärer Hoch­ spannung, die zeitweilig den größten Teil des Volkes mitriß. folgte eine Depression etwa bis 1910 und die Gegenrevolution.

Ihnen

Diese

verband sich von Jahr zu Jahr mehr mit bet! aggressiv-patriotischen und nationalistischen Stimmung, die auch die gebildeten oppositionellen Kreise ergriff und ihren Widerstand gegen die Reaktion schwächte. Aber

die Duma und Verfassung zu beseitigen hat diese nicht gewagt.

Das

politische Leben des Jahrzehnts von 1904—1914 schloß damit ab, daß

Rußland als monarchisch-konstitutioneller Staat in den Weltkrieg herein­

ging.

V. Kapitel.

Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik. I. Die volkswirtschaftliche Struktur des Krrngebietes und der Grenzmarken bei Ausbmch des Weltkrieges. Mit wenigen Strichen ist ein vorläufiges Bild von der Volkswirt­ schaft Rußlands zu entwerfen, damit sich auf diesem Hintergmnd die

Agrarfrage, die Finanz- und Wirtschaftspolitik und der kapitalistische

Stand der Gegenwart richtig abhebe. Das Reich ist überwiegend Agrar­

land und steht in der Frühzeit des Kapitalismus, der nur in den Grenz­ marken schon zur Reife gekommen ist.

Kernrußland ist noch in den

Anfängen einer Volkswirtschaft, aber durch die Bedürfnisse seines Staates, die zu starkem Getreideexport zwingen, schon fest an die Weltwirtschaft geknüpft. Der asiatische Reichsteil, einschließlich des Kaukasus, ist wirt­ schaftlich, außer einigen Ansätzen in der westsibirischen Landwirtschaft und

in der Baumwollkultur Turkestans, noch nicht organisch, mit dem euro­

päischen verbunden"). So ist in diesem Wirtschaftsleben vieles rudimentär

und vieles Symptom einer Übergangszeit, in der der unfertige Charakter der Volkswirtschaft und ihre trotzdem enge Verbindung mit der Welt­ wirtschaft für das Volk im ganzen noch recht unerfreuliche Folgen mit sich

bringen. Die wirtschaftlichen Verhältnisse der, auch wirtschaftlich mit dem

Ganzen organisch zusammenhängendm, Grenzmarken, d. h. Finnlands, der Ostseeprovinzen und Polens"), sind ausgeglichener und reifer als die des Zentmms, und zwar in dieser Stufenfolge nach aufwärts: Ostsee­

provinzen, Finnland, Polen. ") Die wirtschaftlichen Verhältnisse dieser Gebiete als der Kolonien werden

daher in Kapitel IX behandelt. *) Bessarabien unterscheidet sich wirtschaftlich kaum vom Kerngebiet.

Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.

139

Die Ostseeprovinzen sind ein agrarisches Gebiet, in dem die Bauernbefreiung so gut wie restlos durchgeführt ist. Dadurch hat sich ein selb­ ständiger und wohlhabender (lettischer und esthnischer) Bauernstand ent­ wickelt, der zu dem vomehmlich in deutschen Händen befiMichen Groß­

grundbesitz nur noch in wirtschaftlicher Beziehung steht. Der Prozeß des Übergangs des bäuerlich bestellten Landes in bäuerliches Eigentum ist nahezu

vollendet.

Aber

obwohl damit die Vorbedingungen

für den

Kapitalismus auch in der baltischen Landwirtschaft gegeben waren und diese in der Hauptsache auch kapitalistisch arbeitet, hat der Kapitalismus

nicht bauernlandvermindernd wirken können, weil durch den in Geltung

gebliebenen sog. „roten Strich" das eigentliche Bauernland für Legungs­

tendenzen unangreifbar blieb.

Daher ist bei aller Kompliziertheit der

Besitzverhältnisse ein gesundes VerhälMis der Besitzverteilung zwischen großem, mittlerem und kleinem Besitz entstanden. Und deshalb war für

die Revolution, die 1905/06 gerade diese Gebiete mit besonderer Heftigkeit

ergriff, ein wirtschaftlicher Grund nicht vorhanden.

Die wirtschaftlichen

Verhältnisse waren im GegeMeil gesund und gut, von Ausbeutung und

Knechtung der Bauern durch die deutschen Barone schon deshalb keine Rede, weil dazu

alle wirtschaftlichen und rechtlichen Vorbedingungen

fehlten. Wirtschaftlich hatte die Revolution die Folge, daß sie einen großen Teil des Wohlstandes im Großgrundbesitz vernichtete oder erschütterte,

und daß der Großgrundbesitz daraufhin zu einem Teile begann, die alten wirtschaftlichen Beziehungen zur bäuerlichen Bevölkemng zu lösen.

Er

bestrebte sich, an Stelle der lettischen und esthnischen Landarbeiter und Pächter Deutsche als Arbeiterkolonisten anzusiedeln, russische Untertanen aus den Wolgagegenden oder aus Wolhynien, die durch den Nationalismus

oder andere Motive von ihrer Scholle gelockert wurden. Neben diesen landwirtschaftlichen VerhälMissen steht ein alter, in den deutschen Städten domizilierender Ostseehandel und eine erst in der

Gegenwart stärker mtwickelte Industrie. Der Handel zieht in denselben Bahnen, wie sie vor Jahrhunderten

von der Hansa zuerst befahren wurden, und hat auch an seinem Teile

unter der ZurücDrängung des gesamten Ostseehandels in der Weltwirtschaft

zu leiden gehabt. Dazu kam, daß die wirtschaftlichen Vorteile der baltischen Häfen: Libau, Riga und Reval, nicht ausgenutzt wurden, weil das natur­

gegebene Hinterland des Reiches, das an dieser Stelle die jahrhundertelang

V. Kapitel.

140

umkämpfte Verbindung mit dem Meere gefunden hat, verkehrspolitisch

nicht fest genug an die baltische Grenzmark gekettet wurde; nationalistische Abneigung gegen die im wesentlichen noch deutsch bestimmten Ostsee­ provinzen und die Rivalität der innerrussischen Handels- und Industrie­ kreise,

namentlich

Moskaus

verhinderten

ausreichende

Eisenbahnver­

bindungen. Deshalb konnten die Ostseeprovinzen nicht die Stellung in der

Volkswirtschaft des Reiches, die ihnen nach ihrer geographischen Lage und

wirtschaftlichen Struktur zukam, gewinnen. Erst in der neuesten Zeit, unter Witte, sind industrielle Unter­

nehmungen in größerem Maßstabe entstanden, in Libau, Reval und namentlich in Riga, das ein Industriezentrum ersten Ranges geworden

ist.

Diese Unternehmungen sind zumeist nicht in national-russischen,

sondem in deutschen Händen oder stehen unter dem Einfluß ausländischen Kapitals.

Sie haben eine breite kapitalistische Bourgeoisie noch nicht

schaffen können; wirtschaftlich und sozial ist vielmehr im ganzen Gebiete der Großgrundbesitz der bestimmende Faktor gMeben.

Aber sie haben in

diesen Städten eine Arbeiterbevölkerung und damit eine Sozialdemokratie entstehen lassen.

Ein Stufe kapitalistischer ist Finnland, dessen Zusammenhang mit der Volkswirtschaft des Reiches noch lockerer ist, als der der baltischen Provinzm — es war ja auch ein selbständiges Wirtschafts- und Zollgebiet

innerhalb des Reiches. Das Land ist gleichfalls wesentlich agrarisch, aber Waldwirtschaft und Viehzucht stehen dem Getreidebau an Bedeutung

voran. Daneben geht ein beträchtlicher Handel mit dem Reich, Deutschland, England, Skandinavien einher. Die Industrie hat sich erst in der Gegen­

wart mehr ausgedehnt, vor allem in der Holzverarbeitung und in der Ausbmtung der Mineralbodenschätze. Die soziale Stmktur ist demokratischer als in den baltischen Provinzen,

da der Adel zahlenmäßig und wirtschaftlich schwach ist.

Das Land

hat einen gesunden und selbstbewußtm Bauernstand und ein ebensolches

Bürgertum und Intelligenz — das sind die führenden und bestimmenden Schichten.

Abermals eine Stufe höher steht das wirtschaftliche Leben im Zartum Polen. Hier sind rechtliche und wirtschaftliche Vorbedingungen zusammen­

gekommen, um in einem Menschenalter (seit 1863) einen vollständig reifen

Kapitalismus und eine dementsprechende soziale Gliederung zu schaffen.

Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.

141

Nachdem im Aufstande von 1863 die Hoffnungen auf die Wieder­ herstellung Polens zu Boden geschlagen waren, setzte eine friedliche Er­

neuerung ein. In der Bauernbefreiung, die nun, von 1864 an, nachdem 1807

der code Napoleon die persönliche Freiheit der Bauern ausgesprochen

hatte, vollständig durchgeführt wurde, begünstigte die mssische Regierung die Bauern sehr stark gegen den Adel, um sie sich ergeben zu machen.

So konnte sich, unterstützt durch den guten Boden, in Polen gleichfalls ein kräftiger Bauernstand entwickeln, und damit sind auch hier gesunde agrarische Verhältnisse entstanden.

Der Großgrundbesitz ist zum Teil

durch die mssische Politik zerrieben worden, zum Teil hat er sich in die neue

kapitalistische Betriebsweise gut gefunden und sich dadurch neu fundiert. Mit der Bauernbefreiung wurden sodann Hände zur Ausbeutung der

großen industriellen Möglichkeiten in diesem Lande frei. Diese ist mit der

Arbeitskraft des polnischen Volkes und mit der Technik und dem Kapital des Auslandes, d. h. Deutschlands und Frankreichs geschehen.

Diese

Faktoren aus dem Auslande haben die Textilindustrie vor allem in Lodz

und Lyrardow, die Maschinen- und Zuckerindustrie in und um Warschau geschaffen und die Ausbeutung der Bodenschätze an Steinkohle, Eisen-

und Zinkerzen im Süden um Dombrowa, in der Fortsetzung des ober­ schlesischen Kohlenreviers, begonnen.

Durch die Schutzzollpolitik wurden

diese günstigen Vorbedingungen weiter unterstützt.

Dazu hatte sich seit

1851, mit der Aufhebung der Zollgrenze zwischen Polen und dem eigent­

lichen Rußland, für den polnischen Gewerbefteitz ein ungeheures Absatz­ gebiet neu aufgetan und kamen in den neunziger Jahren als wefteres kapitalistisches Motiv die aus Deutschland fließenden Löhne der Saison-

arbeiterwanderung hinzu. Aus diesen Gründen erklärte sich die amerikanisch rasche Entwicklung des Landes, die etwa im Steigen der Einwohnerzahl

von Lodz am augenfälligsten erschien. Für die Gegenwart ergab das folgende Struktur. Zu dem starken Bauernstand trat eine Großindustrie und damit eine Bourgeoisie hinzu,

in der das Polentum stark genug gewesen ist, die fremden (deutschen,

französischen und jüdischen) Elemente sich zu assimilieren.

Die Ent­

wicklung hat so weit geführt, daß der Wert der Industrieproduktion*) bei weitem den der landwirtschaftlichen übersteigt, und daß diese frühere

*) 1880 erreichte er zuerst den der landwirtschaftlichen Produktion.

V. Kapitel.

142

Kornkammer Europas heute den eigenen Bedarf an Nahrungsmitteln nicht

mehr aus sich selbst deckt.

Dadurch hat Polen zu seinem Bauem- und

Bürgertum und dem Teile des Adels, der der neuen Verhältnisse Herr

geworden ist, eine gewaltige Jndustriearbeiterschaft erhalten. Dieser ganz reife polnische Kapitalismus, der eine eigene polnische Volkswirtschaft und einen Aufbau der Gesellschaft, wie ihn das selbständige Polen niemals

gehabt hat, entstehen ließ, verknüpfte andererseits das Zartum viel enger mit dem russischen Reiche, als es vor 1863 der Fall war.

Es brauchte

die Nahrungsmittelzufuhr aus dem Reichsinnern und gab dafür seine

industriellen Produkte ab, insonderheit die der Textilindustrie, die in einem

lebhaften Konkurrenzkämpfe mit der Moskauer Textilindustrie steht.

Als

Techniker, Ingenieure und ähnliche Pioniere eines nwdernen wirtschaftlichen Lebens haben sich die Polen zudem überallhin über das weite Reich

verbreitet, während die Tätigkeit des polnischen Kapitals im Innern eben erst begann. Ganz anders sehen die wirtschaftlichen Verhältnisse in Kem-Rußland

aus. Dieses Gebiet, in der Hauptsache noch agrarisch, lebt mit einer reichen

Natur und einer armen Bevölkerung, in einer rückständigen, kapitalarmen Technik und Organisation des landwirtschaftlichen Betriebes*), und mit

einer Organisation des Getreidehandels, die trotz der großen BÄeutung des Getreideexports für Staat, und Volkswirtschaft unvollkommen und un­

rationell geblieben ist. In der Landwirtschaft drängt die außerordentlich kurze — je weiter

nach Osten, um so kürzere — Bestellungs- und Vegetationsperiode die

Arbeit sehr zusammen. Der Bauer hat also hier viel mchr unbeschäftigte

Zeit, als der polnische oder lettische oder gar der westeuropäische Bauer. Diese freie Zeit wird heute noch zu einem großen Teile volkswirtschaftlich

nutzlos vertan, ist aber auch die Voraussetzung für zwei wichtige wirt­

schaftliche Erscheinungen. An Ort und Stelle wird sie fett alter Zeit zum Hauswerk (Kustar) genutzt, das infolgedessen und bei der großen manuellen Geschicklichkeit

*) Doch gibt es eine sehr bedeutende Zuckerrübenindustrie (mit dem Mittel­

punkte Kiew) und ein landwirtschaftliches Brennereigewerbe, das % des gesamten Branntweinquantums liefert (mittlerer Schwarzerderayon, dann erst das Nordwest­ gebiet, das Weichselgebiet, auch die Ostseeprovinzen).

143

Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.

des Volkes entwickelt worden ist, wie an nur wenig Stellen außer­ halb Rußlands8*).* * *Dieses * Hauswerk führt dem Bauerntum schätzungs­ weise über % Milliarde Rubel jährlichen Verdienstes zu und hat zudem

in seiner Weise die Verbindung mit der Weltwirtschaft gefunden, indem seine Produkte über die Grenze gehen und im Auslande lebhaft gefragt

werden. Auf das Hauswerk hat sich dann weiter eine Industrie aufgebaut,

indem sich das Hauswerk an manchen Stellen sehr differenzierte und in weitgeführter Arbeitsteilung Produkte herstellt, die man sich sonst nur

in fabrikmäßiger Produktion hergestellt denken kann.

Z. B. wurde bis

in die Gegenwart der gewaltige Bedarf an Samowaren durch diese Organi­ sation des Hauswerks gedeckt.

So entsteht, indem zum Hausfleiß ein

Zwischenmeister- und Kleinunternehmertum Hinzutritt, bereits eine be­ sondere Form der Industrie.

Die freie Zeit des Bauern wird weiter wirtschaftlich genutzt, indem der Bauer aus seinem Dorf auswandert, sich anderswo Arbeit sucht und nur zu der kurzen Bestellungs- und Emtezeit heimkehrt.

Diese Binnen­

wanderungen schaffen zu einem Teil die Möglichkeit großindustrieller Pro­ duktion, aber sie sind auch eine gewaltige Verschwendung von Zeit und Kraft und so ein Organisationsfehler in der Volkswirtschaft.

Von den Motiven der Entstehung einer Großindustrie, nämlich den Bedürfnissen des Verkehrs und der Bauernbefreiung-), wurde schon ge­ sprochen. Sie schufm vornehmlich die Eisen- und Textilindustrie, jene im

südrussischen Montanbezirk (seit 1860), diese im Textilindustrierayon von Moskau, Wladimir und Kostroma.

Die natürlichen Voraussetzungen

waren in den Erzlagern des Südens (am Donez und um Kriwoi Rog

im Knie des Dnjepr zwischen Krementschug und Cherson) und des SüdUrals gegeben, während die Bodenschätze des Kaukasus, Turkestans und

Sibiriens dafür noch kaum erst herangezogen sind.

Die Textilindustrie

deckt ihrm Bedarf an Baumwolle schon zur Hälfte mit einheimischem Roh*) Kustar ist die russische Form des (nach der Terminologie Büchers) so­

genannte» Hauswerks, der gewerblichen Bearbeitung selbsterzeugter Rohstoffe zunächst für den Hausbedarf, dann für den Markt (2. Stufe), die auch in die Hausindrstrie (bei der ein Unternehmer Arbeiter in ihren Wohnungen beschäftigt)

übergcht.

8) S. oben S. 70.

V. Kapitel.

144

material, aus Turkestan. Kohle ist namentlich in den Becken des Donez und von Dombrowa vorhanden; beide zusammen deckten 1913: 95%

der ganzen 30,7 Millionen Tonnen betragenden Kohlenförderung*), das von Dombrowa mit fast 6 Millionen Tonnm

V*—% der Gesamt­

förderung. Die Kohlenvorräte sind sehr ungleich verteilt und stehen nicht im Verhältnis zur Ausdehnung des Reiches. Die Standorte der Industrie sind außer im Donezbecken (und in Polen) nicht von der Natur gegeben;

am auffälligsten ist das bei der um Wladimir zusammengeballten Textil­

industrie, die gleichweit vom Meer und vom Heizmaterial entfernt ist. Auch die Eisenindustrie ist durch die Entfernung zwischen den Erz- und

Kohlenlagern behindert.

Die Wärmeversorgung sonst wird durch den

Holzvorrat erleichtert: der Norden heizt mit Holz, auch auf den Eisen­ bahnen, die sich im Süden neben Kohle auch mit Masut (dem Rück­

stände der Naphtha) behelfen.

Für das Kerngebiet ergibt sich somit im großen folgende wirtschaftliche

Gliederung.

Zwischen

Schwarzerde

liegen

dem

nördlichen

die gewerblichen

Waldgebiet

und der südlichen

Ubergangsgouvernements in

den

Becken der oberen Wolga und Oka und zwischen beidm Flüssen, während das gewaltige Industriezentrum Petersburg für sich steht.

Das West­

gebiet ist agrarisch und nur durch die landwirtschaftlichen Nebengewerbe mit der Industrie verbunden. Die Steppe im Süden wird durch die süd­

russische Montan- und Kohlenindustrie zwischen Dnjepr einerseits und Don und Donez andererseits unterbrochen; Jusowka, das den Namen

jenes Engländers Hughes^) festhält, liegt, nordwestlich von Taganrog, ungefähr in der Mitte zwischen diesen beiden Linien.

Im Osten, d. h.

im mittleren und Südteile des Südurals (südlich Jekaterinburgs) schließen

die Bergwerke und Hütten diese Gruppierung ab, in der der alte historische Mittelpunkt Moskau auch das modern-wirtschaftliche Zentrum geblieben ist und bleibt. Zwei besondere Züge trägt diese Großindustrie noch heute an sich:

daß sie vornehmlich durch Willen und Interesse des Staates geschaffen ist und von beiden abhängig bleibt, und daß sie in der Hauptsache mit

l) Damit steht Rußland an siebenter Stelle unter dm kohlenfördernden

Staaten, nm wenig höher als Belgien. ’) S. oben S. 144.

Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.

fremdem Kapital entstand.

145

Sie wurde unvermittelt auf die vorhandene

unfertige Wirtschaftsorganisation aufgesetzt und ist an der Entfaltung zu

ganz kapitalistischen Formen neben allem anderen durch die Sicherheft der staatlichen Preise und durch die Schutzzollpolitik behindert. Aber im

letzten Jahrzehnt vor dem Kriege deckte der Staat doch durchschnittlich 94% des jährlichen Eisenkonsums durch die heimische Produktion*).

Im Handel stehen uralter Messehandel und modemer Handel noch nebeneinander. Die Bedeutung, namentlich der Messe von Nischni-Nowgorod

ist heute erschüttert, aber keineswegs erloschen: sie ist längst nicht

mehr so wichtig für den Fernhandel mit Asien — darin lag der Grund

ihrer Entstehung wie ihre frühere Bedeutung —, dafür aber immer

wichttger für den Binnenhandel des Reiches geworden.

Da kommen

immer noch alljährlich ungeheure Massen von Waren aus allen Teilen des Reiches zusammen, und zwar in Natur. Denn es wird nicht nach

Proben gehandelt, sondern der Messecharakter ist heute noch völlig erhalten,

wie die Typen der Kaufleute, die in uralten Formen, mit dem Rechenbrett und ohne moderne Buchführung, Millionengeschäfte machen. Daneben steht

der moderne Großhandel, am wichttgsten der Großgetreidehandel. Aber der

Umfang dieses Großhandels, in dem zudem das ausländische Element besonders wichtig ist, hat bisher ebensowenig wie der der Industrie für den

sozialen Aufbau Kernrußlands ausgereicht, eine Bourgeoisie und einen

Mittelstand zu schaffen. Die Eigenart der weltwirtschaftlichen Beziehungen, die sich so er­

geben hat, ist die, daß das russische Reich nach dem (europäischen) Westen

Getreide und nach dem (asiattschen) Osten industrielle Produkte exportiert, und daß es aus jenem Westen industrielle Produkte und aus diesem Osten

solche der Urproduktion importiert. Schwierigketten schafft die Verbindung über See, nach Nordwesten, wo nur der südlichste der Ostseehäfen, Libau,

das ganze Jahr eisfrei ist, Kronstadt 163, Helsingfors 139, Baltischport 33 Tage zugefroren sind, während im Südwesten der Verschluß der Meer-

engett nach dem Mittelländischen Meere auch im Frieden drohte, so in den Ballankriegen, da die Türkei sie auch für den neutralen, also damals auch den russischen Handel schloß. *) Der Eisenkonsum betrug auf den Kopf der Bevölkerung im gleichen Durch-

schnitt jährlich 1,13 Pud (in Deutschland 11,47 Pud).

Haetzsch, Rußland.

10

V. Kapitel.

146

Vom Handwerk ist eigentlich nur im Zusammenhang mit der Land­

wirtschaft die Rede: der wichtigste Teil ist auch heute noch das Hauswerk

in seiner — quantitativ, wie nach der Differenzierung seiner Zweige — gewaltigen Ausdehnung. Das selbständige Stadthandwerk ist größtenteils nicht organisch entstanden, sondern durch sremden Import, in dem sich

Handwerk und Künstlertum oft eigenartig mischten. Spuren davon sind

in den Organisationen der Kaufteute und Handwerker heute noch erhallen,

neben denen die nationale Organisationsform des Artjels stehti). Alles das ergibt heute dieses Bild: eine agrarisch wirtschaftende und

lebende Masse, die noch tief in der Naturalwirtschaft steckt, aber durch den Getreideexport bereits von den Schwankungen der Weltkonjunktur abhängig ist — ein zahlenmäßig schwaches Unternehmer- und BürgerMm, dessen

in der Hauptsache nicht russische Entstehung noch zu erkennen ist und das sich viel stärker, als diese soziale Gruppe es sonst tut und wünscht, an den Staat anlehnt —, eine Arbeiterschaft, die, durch Not vom Lande in die Fabrik getrieben, den Zusammenhang mit dem Lande eben erst zu ver­ lieren beginnt, wenn sie auch tatsächlich schon proletarisch ist. Kernrußland

ist so von einer Summe von Einzelwirtschaften besetzt, die erst zu einer Volkswirtschaft zusammenzuwachsen ansangen.

n. Agrarfrage und Agrarreform. 1. Bis zur Revollu 1 ion. Neben dem politischen Ziele des Sturzes der Autokratie war die

Lösung des wirtschaftlich-sozialen Problems der Agrarnot die Hauptfrage, um die sich die revolutionäre Bewegung und die gesetzgeberische Arbeit der ersten ruhigen Jahre drehte.

Alle anderen Reformen sind mehr oder

minder Konsequenzen des großen Agrarresormwerkes, dessen zweite Hälfte

die Jahre 1906 und 1910 gebracht haben. Zwei einander widersprechende Tatsachen stehen an der Spitze jeder

Betrachmng des russischen Agrarproblems.

Einmal nimmt Rußland in

der Welt-Getreideproduktion eine bedeutende Stellung ein und ist mit seinem 48etreideexport für die Nachbarschaft, besonders Deutschland, zeit­

weise gefährlich konkurrierend aufgetreten — es liefert bei wirklich guter

*) S. Kap. V1L

147

Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.

Emte beinahe ein Drittel der gesamten Quantität, die auf dem Welt­ getreidemarkte angeboten wird.

Andererseits war in ihm die Hungers­

not chronisch geworden, hatte der russische Bauer nicht genug zu essen, —

zu welcher Feststellung man noch nicht einmal die Berechnung brauchte, wieviel Pud

Getreide

auf den Kopf der Bevölkerung kommen und

wieviel auf ihn kommen müßten.

Denn die Tatsache der mindestens

zeitweiligen, akuten Hungersnot stand fest, ist seit Jahren auch in West­ europa beleuchtet worden und hat zur Revolution wesentlich beigetragen.

Aber die Verhandlungen und Kämpfe um die Beseitigung der Not haben auch gezeigt, daß mit dem vor und während der Revolution fortwährend erhobenen Schlachtmf der „dopolnitelnoje Nadjelenie" (Ergänzung des

Landbesitzes), — daß der Bauer zu wenig Land habe und mehr Land

auf Küsten des Groß- und Kronbesitzes erhalten müsse, — eine Panacee nicht gegeben war. Eine

Agrarfrage

existierte

so,

wie

sie

Staat

schäftigte und Europa interessierte, nur im Kerngebiet.

und

Duma

be­

Weder in Finn­

land noch in den Ostseeprovinzen, weder in Polen noch auch in Lftauen und im Westgebiet konnte von ihr in diesem Sinne gesprochen werden.

Die bäuerliche Bevölkerung hatte dort auch ihre Nöte, ist aber zum größten Teile, was besonders für die Ostseeprovinzen und Polen gilt, durch die Bauernbefreiung in eine gute und geordnete Lage gekommen, so daß, wenn sich das Bauerntum dieser Gebiete an der Revolution beteiligte,

seine eigene Lage nicht Anlaß dazu war und daher auch nicht die Be­

rechtigung dazu gab, die die großmssischen Bauern in ihrer Not finden

konnten. Da es sich aber mit dem großrussischen Element um die Mehr­ heit der Untertanen des Zaren handelt, so kann man von einem russischen

Agrarproblem schlechthin sprechen, ohne zu vergessen, daß damit so gut wie ausschließlich Großrußland und die Gegenden gemeint sind, in die, wie z. B. West-Sibirien, die großmssischen Verhältnisse mit hinübergenommen

worden sind. Das großmssische Dorf ist es, dessen Organisation und Nöte hier zu (erörtern sind: mit seiner kurzen und breiten Straße, die im Sommer steinhart, im Frühjahr unpassierbar und im Winter eine herrliche Schlitten­

bahn ist, mit feinen beiden Reihen aneinandergedrängter Holzhütten, deren innere Einrichtung etwa durch Tolstois „Macht der Finsternis" oder

Gorkis Schriften bekannt geworden ist, mit seiner Kirche, deren blaue und 10*

V. Kapitel.

148

goldene Kuppeln im Sonnenlicht glänzen, mit seiner Staats- oder (meist) Semstwoschule und seiner Kronschnapsschänke, mit seinen Bauem und

Bäuerinnen, deren charakteristische, grellfarbige Tracht von den russischen Malern gern dargestellt wird. Jni Durchschnitt leben etwa 220 Menschen

in einem Dorfe, 8 in einem Hofe,

doch

sind die Verhältnisse

sehr

verschieden: im Zentmm 150—160, in Kleinrußland 3—400 Seelen1). Dieses großrussische Dorf lebte in einer Organisation des landwirt­

schaftlichen Eigentums und der landwirtschaftlichen Technik, die, als sie in Westeuropa zuerst genauer durch die Schriften des Frecherm August

von Haxthausen bekannt wurde1), dort Überraschung erregte und seitdem gern als etwas spezifisch Russisches angesehen wurde. Man sah, daß hier das Eigentum an Ackerland, Wald und Weide Gemeindesache war, und zwar so sehr, daß die Gemeinde, die als ein fast unbeschränkter rechtlicher und sozialer Organismus, als eine autonome kleine Demokratie im Staate

für

sich

lebte,

in

Periodisch

wiederkehrenden

Neu-Verteilungen

ihres

Landes souverän dafür sorgte, daß der Anteil des einzelnen daran möglichst

gleich blieb, entsprechend den Verschiebungen, die in der Dorfgemeinde durch die natürliche Bevölkemngsverändemng eintraten. Das schim eine

kommunistische Organisation zu sein, die z. B. von den Slawophilen als

eine Rußland ganz eigenartige Einrichtung gefeiert wurde, die durch sich ein Proletariat und überhaupt eine soziale Frage unmöglich machen sollte, weil den natürlichen Verschiebungen und der Vermehrung der Bevölkemng

automatisch eine entsprechende Neuverteilung des Landes folgte und so landlose Existenzen nicht entstehen konnten. Die liberale Kritik dagegen griff

diese Gebundenheit an, die die bäuerliche Menschheit Rußlands auf einer

niedrigen, kollektivistischen Stufe zurückhielt, und forderte mit ihrer Auf­

lösung die Möglichkeit zur freien Betätigung des Individuums auch für den Bauernstand. Man muß sich diese Organisation ganz klar machen, um die eigen­

tümlichen Schwierigkeiten der Bauernbefreiung in Rußland und die Frage zu verstehen, warum trotz dieser Bauernbefteiung nach westeuropäischem

Vorbilde Rußland doch in eine Agramot geriet, für deren Erklärung die

*) Die großen Dörfer (über 450) finden sich in der Steppe und im Wolgaund Uralgebiet, die kleinsten (bis zu 20) in den Ostseeprodinzen und Finnland.

*) S. das Literaturverzeichnis.

Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.

149

rückständige landwirtschaftliche Technik und der große staatliche Steuerdmck nicht völlig ausreichten.

Die Gebundenheit, in der der großrussische Bauer lebte, zerfiel in mehrere Elemente. Zuerst die Abhängigkeit vom Herren, die Leibeigenschaft

oder das gutsherrlich-bäuerliche Abhängigkeitsverhältnis, — diese Ge­ bundenheit ist weder etwas der russischen Entwicklung Eigentümliches,

noch hat sie seit alters im russischen Volke bestanden.

Sie trug dieselben

Züge, die sich für das Gebiet der Gutsherrschaft überhaupt herausgebildct hatten, und sie ist vollständig durch den Staat ausgebildet worden — vom Ukas von 1597, der die Freizügigkeit völlig beseitigte, und vom Gesetzbuch

Alexeis von 1649, das die Leibeigenschaft abschloß, an bis zu den Maß-

nahmm Peters von 1718/22, die die Kopfsteuer und die sog. Revisionen der pflichtigen Leute einführten, wozu noch die Praxis der solidarischen Haft­

barkeit der Gemeinde und des Gutsbesitzers für die staatlichen Leistungen

der Bauern trat.

Katharina II. hat diese Rechtsnormen auch in Klein­

rußland eingeführt (1783) und so wenigstens für diese erste Gebundenheit gleiche Verhältnisse in Groß- und Kleinrußland hergestellt, weshalb die

Bauernbefteiung Alexanders II. auch Kleinrußland mit einbegreifen mußte. Das zweite Element ist jene Organisation der Feldgemeinschaft, des

ÜDHr1). Sie ist dem Prinzip nach viel älter als die gutherrlich-bäuerlichen Abhängigkeitsverhältnisse, wenn sie auch ihre letzte Ausbildung erst durch die Bedürfnisse des Staates im 17. und 18. Jahrhundert erhalten hat.

In dieser vollen Ausbildung herrschte sie nur in Großrußland, während Kleinrußland Einzelbesitz hatte; die Grenzen beider Besitzformen decken sich

beinahe mit den alten Grenzen zwischen dem Moskauer und dem litauisch-

polnischm Staate, soweit er über Weiß- und Kleinrußland herrschte. Diese kommunistische Organisation der Landgemeinde ist nun nicht etwas Ruß­ land eigentümliches, sondem ihre Hauptzüge sinden sich im großen und

ganzen in der europäischen Agrargeschichte auch sonst wieder. Der ideelle Anteil des einzelnen an der Ackerflur, der prinzipiell dem des anderen gleich sein soll, die Umteilungen, der Flurzwang, die. Dreifelderwirtschaft, das Gemeineigen an Wald und Weide, die Autonomie der Landgemeinde *) Mir bedeutet Gemeinde und Welt und ist die Versammlung der Stimm­ berechtigten des Dorfes. Für Feldgemeinschaft im oben geschilderten Sinne ist das russische Wort Obschrschina; bei den Bauern ist indes nur das Wort Mir ge­ bräuchlich.

150

V. Kapitel.

mit ihren administrativen und rechtlichen Folgen, alles das sind Züge

ebenso der germanischen Markgenossenschaft wie des russischen Mir. Die Auflösung dieser Gebundenheit ist auch in der preußischen Bauernbefreiung

ein integrierender Teil gewesen, der nur gegenüber dem anderm in der öffentlichen Beachtung sehr zurückgetreten ist, weil er weniger politisches

Kampfobjekt war, der aber mit der Verkoppelung, der Gemeinheitsteilungs­

ordnung und der Arbeit der Generalkommissionen mindestens ebenso revo­ lutionierend gewirkt hat, wie die Erklärung der persönlichen Freiheit und Diese Gebundenheit ist aber

die Lösung der Abhängigkeit vom Herrn.

in Rußland, was fast immer übersehen wird, von der Bauernbefreiung der 60er Jahre nicht beseitigt worden.

Man erkannte damals gar nicht

an, daß in ihr Schäden liegen könnten.

Im Gegenteil betrachtete eine

immer einflußreicher werdende Richtung gerade diese Organisation als

etwas wirtschaftlich Heilsames und sozial Gutes, und bis zur Aufhebung

der Kopfsteuer (1883—1889) und der Solidarhaft der Gemeinde für den

auf sie entfallenden Anteil der ©teuern (1904) hat auch der Staat aus ihr den Vorteil gezogen, um deswillen Peter der Große diese ohne Zutun des

Staates erwachsene soziale Organisation staatlich sanktioniert und zu einem Grundstein der ganzen Staatsordnung gemacht hatte. Noch schwieriger war die Behandlung des dritten Elements dieser

bäuerlichen Gebundenheit, das nun allerdings — nicht den

Russen,

sondem den Slawen — eigentümliche Züge der agrarischen Urorganisation

zeigt.

Auf deutschem Boden ist bei allem Festhalten an der Idee des

Gemeineigens der Gedanke des Privateigens für den einzelnen Bauern an

seiner Hufe tatsächlich durchgesetzt worden.

Das war in der russischen

Organisation auch einigermaßen der Fall. Denn Neuumteilungen fanden bei weitem nicht in dem Maße statt, wie man annahm.

Auch hier ist

aus der Gemeinde aller persönlich Berechtigten immer mehr die Real­

gemeinde, die sich der natürlichen Vermehrung der Genossen nicht mehr anpaßte, geworden, in die die Markgenossenschaft des Westens übergegangen

ist. Aber der tiefgreifende Unterschied zwischen germanischer und flämischer Entwicklung war, daß dieser Prozeß in der deutschen Entwicklung dem

Individuum, dem einzelnen Bauem, zugute kam, der dann als Familien­ haupt über seinen Anteil immer mehr privatrechtlich frei verfügte, während

sich in Rußland zwischen dem Mir und dem Einzelnen der Begriff des Familieneigens bis zur Gegenwart lebendig erhielt.

Nicht nur bei den

Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.

161

Russen, sondern bei allen Slawen — mit Ausnahme der Polen — blieb

die Familie als Lebensgemeinschaft und primitive Arbeils- und Erwerbs­ genossenschaft ihrer Mitglieder, die diese für sich arbeiten läßt und sie aus

dem Gesamtertrag emährt, die sogenannte Hauskommunion oder Groß­ familie, lebendig.

Es war eine Genossenschaft von Verwandten bis zum

zweiten, dritten Grahe, die auf demselben Hofe saßen und gemeinsam das EigeMum

an

diesem Hofe hatten.

Geschlechtsältesten,

des

Hausvaters

Sie

standen

unter

(Domochozjain);

die

Leitung des Beziehungen

untereinander waren nur durch die Tradition geregelt, aber gerade darum um so fester. Man muß also diese patriarchalische Großfamilie mit ihrem

besonderen Familienrecht, die auch durch die Bauernbefteiung nicht ver­ schwand, und den Mir auseinanderhalten, in dem jeder erwachsene — kopf­ steuer- und heerdienstpflichtige — Bauer seinen Anteil am „Seelen"-

lanb1) oder das Anrecht darauf besaß und besitzt.

Oder anders ausge­

drückt: es sind zu trennen der „Krestjamn" (Bauer) als Mitglied des Mir und der „krestjanski Dwor" (Bauernhof) als die Einheit der dörflichen Landwirtschaft, unter Lettung des Domochozjain eine Reihe physischer

Personen in einer auf Familien- und Arbeitsgemeinschaft begründeten

Gruppe umfassend, die durch den Domochozjain die ihnen

zustehenden

Nadjelrechte wahrnehmen und genießen. Dieser Unterschied ist bis in die Gegenwart von allen nichtrussischen Beobachtern des Agrarproblems so gut

wie völlig übersehen worden. Freilich existierten auch, da der Staat keine

Veranlassung hatte, diese Großfamilie rechtlich genauer zu fassen — woran er sich hielt, das war der übergeordnete Mir —, diese familienrechtlichen

Beziehungen jahrhundertelang im Halbdunkel des Gewohnheftsrechts, oft sehr wenig hervortretend, aber das Leben des Bauernvolks auf das tiefste bestimmmd. Das macht folgende Betrachtung noch klarer. Der Mir hat die Entstehung eines Proletariats und die Abwanderung

nach der Stadt nicht aufhalten können. Gleichwohl blieben die Beziehungen seiner nach der Stadt, in die Fabrik abgewanderten Glieder zu ihm be­ stehen; sie blieben ihrer Heimatgemeinde nach wie vor „angeschrieben". ’) Nadjel — Anteil innerhalb der Flur der Obschtschina. — Seele (Duscha)

oder Bauernseelc ist der köpf- und heerdienstpflichtige Bauer; Revisionsseele ist jeder männliche Leibeigene jedes Alters „vom Alten bis zum letzten Jungen"

(so im Ukas Peters über die erste Revision von 1718/19); man rechnete dieses Alter von 14 bis 60 Jahren.

152

V. Kapitel.

Tatsächlich

bedeutete

das,

abgesehen

von den

Paßscherereien, immer

weniger; was konnte die Solidarhaft seiner — oft tausende von Werst entfemten — Gemeinde für ein Glied des Mir, das in der Stadt als proletarische Existenz lebte, bedeuten? Dagegen der Zusammenhang mit seiner Familie, die Vorstellung daß ihm als Glied der Familie auch noch ein

Teil am Nadjel, wenn auch nur ideell, zustünde, die blieb auf das stärkste erhalten.

Sie sitzt auch heute noch in diesen Tausenden von Dworniki

(Portiers mit polizeilichen Funktionen), Jswoschtschiki (Droschkenkutschern), Dienstpersonen der großen Städte usw. ganz fest. Sie zu zerstören und so

ein tatsächliches Proletariat auch rechtlich zu einem solchen zu machen,

m. a. W. außer der Gebundenheit durch den Mir auch diesen urflawischen Familieneigentumsbegriff zu beseitigen, das war die eigentliche große

Schwierigkeit in der Agrarreform. Zu alledem ist noch eine Tatsache der russischen Agrargeschichte

hervorzuheben. Neben der bäuerlichen Siedlung stand seit Anfang die GrundHerrschaft, dann die Gutsherrschaft in einer Organisation und mit einem

Charakter, die der westeuropäischen durchaus entsprachen*). Darin lag von

vomherein für den Mir die Unmöglichkeit, seine nach Ansicht der Slawophilen so großen Vorteile betätigen zu können.

Denn trotz aller Kriege

wuchs doch die Bevölkemng des Moskauer Staates. Es hätte also auch

das Land wachsen müssen, das einem Mir für seine wachsende Familien­

zahl zur Verfügung stand. Diese Erwartung drückt sich auch darin aus, daß in der Ackerflur, deren Einteilung bis in die Gegenwart erhalten ist, eine feste Gewinneinteilung nicht festzustellen ist. Aber das zur Besiedlung freibleibende Land verringerte sich sehr rasch.

war scharf ausgebildet.

Das fürstliche Bodenregal

Aus ihm folgte die Möglichkeit zu Verleihungen

von Land an die fürstlichen Diener und an die Kirche, die die Moskauer Fürsten auch in großem Maßstabe vornahmen. Diesem Prozeß der Ein­

engung des freien Landes entzog sich das Bauerntum zuerst durch Ab­

wanderung in einer großen, immer weiter nach Osten vorschreitenden Kolonisation „wüster" Gegenden.

Hauptsache an der Wolga.

Aber diese fand ihre Grenzen in der

Dann mußte sich die wachsende Bevölkemng

mehr und mehr auf derselben Landfläche einrichten, da der fürstliche,

*) S. die ganz dmchgeführte Vergleichung von Pawlow-Silwanski, Feodalism w udjelnoj Rossij. (Petersburg 1910.)

Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.

153

kirchliche und gutsherrliche Besitz alles andere in Beschlag genommen

hatten.

Die Familienanteile in der einzelnen Gemeinde mußten also

bei neuen Teilungen immer kleiner werden.

Der Unterschied gegen die

deutsche Entwicklung liegt dann darin, daß in Deutschland die einzelne Hufe immer weiter geteilt, in Rußland aber das ganze, dem Mir gehörende

Land immer von neuem verteilt wurde.

Praktisch kam dieser Ätomisie-

rungsprvzeß der Dorfflur auf dasselbe hinaus wie im Westen, aber der

Zusammenhang mit der Dorfgemeinde wurde durch den erhalten bleibenden Begriff des Familieneigens hier viel stärker konserviert als dort. Zu Beginn der Reform Alexanders II. war so der Mir die unterste

Zelle des sozialen Organismus, die nur durch ihren Gemeindevorsteher

(Starosta) mit dem Staate zusammenhing. Abgesehen von den wenigen, wenn auch freilich tiefgreifenden staatlichen Verpflichtungen lebte dieser

Mir vollständig für sich, ein wahrer Mikrokosmos, autonom in Ver­ waltung, Gericht und Recht. Der Gutsherr, — der Edelmann war —,

war an den Gemeindeversammlungen ebensowenig beteiligt wie der Staat. Die Hauptaufgabe dieser Gemeindeversammlung mit dem Ältesten an der

Spitze, deren stimmfähige Mitglieder alle in der Gemeinde berechtigten Bauernseelen toaren1), war die in bestimmten Abständen nm vorzu­ nehmende Umteilung des Landes, die gemäß dem Wachstum der Bevöllemng souverän vorging und ihrm Willen den einzelnen Mitgliedern gegenüber auf die barbarischste Weise zum Ausdmck bringen konnte. Auf diese Weise zerfiel die Ackerflur — da nun auch wieder innerhalb der

Familie die weitgehendste Realteilung galt und stattfand — immer mehr in eine Masse kleiner Parzellen.

Natürlich mußten sie im Flurzwang be­

stellt werden, für den ein rohes, nicht durchaus festes Dreifeldersystem

galt: Wintergetreide — Sommergetreide — Brache. Die Technik der Acker­ bestellung war dabei so, wie sie seit Jahrhunderten gewesen war: kein künstlicher Dünger, der altmodische Pflug, äußerste Extensität.

Privat­

eigentum war nur am Hof (Usadba), Vieh, barem Geld und außerdem an dem Land vorhanden, das außerhalb der Flur des Mir vom einzelnen

erworben war — was an sich möglich war. Das sog. Anteil-(Nadjel-) Land gehörte dem Mir und war mr zu — allerdings oft sehr lange nicht

unterbrochener — Nutzung den einzelnen Bauernseelen in einer Größe

*) Bei Abwesenheit des Bauern vertrat ihn in der Dorfversammlung die Frau.

V. Kapitel.

154

zugeteilt, die jeweilig der von ihrer Familie umfaßten Kopfzahl wenigstens

theoretisch entsprechen sollte. Diese Summe von Familien im Mir haftete solidarisch für den Anteil an Rekruten und Kopfsteuer, der auf das Dorf

fiel.

Und diese Bauem dienten ihrem Gutsherrn durch Zahlung des

Obrok (Pachtrente) für ihr Land, dessen Obereigentümer der Gutsherr

ja kraft fürstlicher Verleihung war, und durch Leistung von Frondiensten

auf dem Teile des gutsherrlichen Landes, das im gutsherrschaftlichen Eigen­ betriebe genutzt tourbe1). Etwa die Hälfte des Großgrundbesitzes hatte die

Leibeigenen nur auf Abgaben (in Natura und Geld) gestellt, d. h. auch das eigentliche Gutsland ausgegeben, verpachtet.

Dann nutzte die Bauern­

gemeinde zu ihrem Mir-Land auch das ganze Eigenland des Herrn samt dem Walde. Für diesen Teil der Bauern war daher die Emanzipation be­

sonders empfindlich, weil sie ihnen nicht nur die gemeine Weide auf den

Feldern der Gutswirtschaft, sondern auch die landwirtschaftliche Nutzung

eines Teiles ihres, bisher von ihnen genutzten Gebietes entzog. Von den Ab­ gaben (Gesamtname dann Obrok) lebte der Gutsbesitzerstand im großen und

ganzen naturalwirtschaftlich, da von einem nennenswerten Getreideexport noch nicht die Rede war. Er war dem Staate dafür haftbar, daß von seinen

Bauern Kopfsteuer und Rekmtenzahl eingingen, wie der Staat es ver­ langte,

und

genoß

für

diese

VerpflichMng

weitgehende

staatliche

Rechte in Polizeigewalt und Gerichtsbarkeit gegenüber seinen Bauern. Die

vollständige Rechtlosigkeit des Bauem, die so entstand und ihn der Will­ kür des Gutsbesitzers preisgab, die Abhängigkeit des Bauern vom Willen seines Herrn, die sogar das Recht zum Verkauf ohne Land, wie zur Ver­ schickung nach Sibirien und zur Wgabe zum Militär gab, das waren eben

die Erscheinungen der Leibeigenschaft, gegen die sich der Widerspmch schon im 18. Jahrhundert richtete. Diese Verhältnisse haben aber auch nicht einen gesunden Grundbesitzer-

stand geschaffen. Der Typus des Gutsbesitzers war vorlviegend der kleinere

Besitzer, der unter 100 Seelen hatte, — denn nach der Zahl der Seelen bemaß sich der Wohlstand, nicht nach der Zahl der Dessjatinen, die wertlos waren, wenn niemand sie bebaute — und als Obrok-Gutsbesitzer seine

Einnahmen gewöhnlich fern vom Gute verzehrte. Die Bequemlichkeit, zu

*) Die Einheit der dem Gutsherm zu leistenden Fronden und Wgaben hieß Tjaglo.

Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.

155

der diese Organisation des Lebens verführte, verhinderte auch bei den

Gutsherren jede Ausbildung des wirtschaftlichen Sinnes und führte in

dieser guten alten Zeit oft zu einer Verlottemng der Adelsfamilien,

wie sie Saltykow-Schtschedrin in seinem düstersatirischen Roman „Die Herren Golowlew" so kraß und scharf gemalt hat.

Dabei glaubte der

Menschenfreund — Puschkins Eugen Onjegin! — auf diese Obrokorganisation noch stolz sein zu müssen.

Auf diese Verhältnisse wurde die Bauernbefreiung angewendet, die sich

nur auf Kern-Rußland bezieht.

Für Polen datiert sie aus den Jahren

1807 und 1864, für die Ostseeprovinzen aus den Jahren 1804,16,17,

19, 49, 56 63 und 68; von Finnland mit seinen den skandinavischen verwandten Agrarverhältnissen ist vollends abzusehen.

Ihre Hauptgmndsätze warm: 1. die Person des Sauern wird frei — damit war zunächst, allgemein und praktisch ebenso bedeutungslos, dieselbe

große Idee ausgesprochen, wie in Steins berühmtem Patent. Land blieb zunächst Eigentum des Gutsherm.

2. Das

Der Bauer wurde nur

dauernder Nutznießer des Bauernlandes, dessen Größe von der Gesetz­

gebung bestimmt wurde: im Durchschnitt sollten 3^ Dessjatinen (also 14

preußische Morgen) auf die Bauernseele kommen. 3. Die Ablösung des gutsherrlichen Eigentumsrechts sollte für das Gehöstland überall erfolgen,

für das Ackerland nur mit Zustimmung des Gutsherm. Die Regiemng bestimmte die Sätze, die von nun an als Entgelt des Bauem für die Lösung

der bisherigen Abhängigkeitsverhältnisse zu zahlen waren und durch eine

Kapitalzahlung ganz abgelöst wurden; für die Jahreszahlungen auf dieses vorgeschossene Kapttal wurde seitdem der alte Name Obrok in der Um­

gangssprache beibehalten.

Es wurde berechnet, indem man den Jahres-

Satz mit 6% kapitalisierte. Da-aber die Bauem zu einer solchen Geld­

zahlung nicht in der Lage waren und der AblösungsprozeA an dessen Ende nach dem Willen der Regierung das freie Eigentum des Bauem am Boden stehen sollte, auf diese Weise auf dem Papier stehen geblieben wäre, folgte der Staat auch darin dem Vorbilde anderer Bauembefreiungm,

daß die Regiemng das Geld vorschoß und m 5% tragenden Bankbillets

(Loskaufscheinen) den Gutsbesitzem auszahlte. Von den Bauem trieb der Staat dafür 6% der Ablösungssumme ein, worin Zinsen, Kosten und die

Amortisation steckten, die in 49 Jahren, also 1920, beendet sein sollte. Das sind die sog. Loskaufsgelder, die für die Bauem eine immer steigende Last

V. Kapitel.

156

wurden und deren Rest im Jahre 1905 (Ukas vom 16. November) für 1906

zur

Hälfte

und

vom

1.

1907

Januar

vollständig

erlassen

worden ist. Durch dieses Verfahren, das den Staat in eine große finan­

zielle Erschütterung hätte bringen können, ist die Ablösung sehr befördert

worden. Die Gutsherren aber, die schon vor der Bauernbefreiung vielfach hoch verschuldet waren, weil der Ertrag ihrer Güter zur Befriedigung der

seit Katharina II. sehr gestiegenen Luxusbedürfnisse nicht ausgereicht hatte, griffen gern nach dem baren Gelde, das ihnen in Gestalt der Pfandbriefe

Sie haben freilich diesen überstürzten Übergang aus

M die Hände floß.

der Naturalwirffchaft mit Geldschulden in eine völlig geld- und kreditwirtschaftliche Gestaltung ihrer Lebensweise nicht so gut überstanden wie der

Staat.

Das Befreiungswerk betraf 10 Millionen gutsherrlicher Bauern mit 33% Millionen Dessjatinen, 9,6 Millionen Kronsbauem mit 57

Millionen

Dessjatinen,

900 000

Apanagebauern

mit

4,3

Millionen

Dessjatinen und 1,8 Millionen Hofleute*) und andere Bauernkategorien mit 21,6 Millionen Dessjatinen, im ganzen 22,3 Millionen Bauern und

116,8 Millionen Dessjatinen. Damit

das

wurde

Fundament

eines

modemen

Aufbaues

der

Staats- und Wirtschaftsordimng gelegt. Hat es das erstrebte Ziel erreicht:

die Sicherstellung des Bauernstandes, der zur Erfüllung seiner Verpflich­ tungen gegen Staat und Gutsbesitzer fähig war? Der erste Eindruck war gewaltig:

hast

„Du

gesiegt,

Nazarener!",

rief

Alexander

Herzen

Alexander II. zu. Rasch aber traten Ernüchterung und Enttäuschung ein. Die Rückstände der Loskaufszahlungen wuchsen bald erschreckend an, und

trotz der pekuniären Vorteile hielten immer noch genug Gutsbesitzer den

Gang

der

Ablösung

werden mußte.

auf,

so

daß

diese

1881

obligatorisch

gemacht

Und beide Hindemisse, die Rückstände der Loskaufs­

zahlungen und die Rückständigkeit der Gutsbesitzer, stellten sich der Reform

des Steuersystems möglich,

entgegen; die Aufhebung der Kopfsteuer war erst

wenn tritt diesen

gutsherrlich-bäuerlichen

Verhältnissen ganz

reiner Tffch gemacht war.

Jedenfalls sah man schon in den ersten Jahrzehnten nach der Be-

sreiung, daß der Bauernstand wirffchaftlich nicht vorankam. Schon in den *) Der Teil der leibeigenen Bevölkerung, der auf den Gutem im unmittel­ baren Dienste der Gutsherren lebte.

Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.

157

70er Jahren wurde die Behauptung statistisch untersucht und begründet,

daß die Landmasse, die in der Befreiung den Sauern zugewiesen war, zu klein und die dafür zu zahlende Ablösung zu hoch berechnet gewesen

sei. „Der Bauer bekam weniger Land, als er brauchte, und mußte mehr dafür bezahlen, als es wert war", so wurde dieses Urteil bald verall­ gemeinert und übertrieben.

Fast wesentlicher noch war, daß die Be­

freiung auf halbem Wege stehen blieb, indem sie nicht auch den Mir auf­ löste. Denn damü trat an Stelle des Gutsherm nun die Gemeinde, die des

Mir und die durch die Verordnung über die Bauernbefreiung errichtete Wolost, die, mehrere Mirgemeinden zusammenfassend, seitdem die Polftische

Landgemeinde als untersten staatlichen Bezirk darstellt, sozial aber schon eine Samtgemeinde ist.

Dadurch wuchs die Macht der Gemeinde über chre

Glieder noch mehr:-sie konnte die Prügelstrafe verhängen, sogar zur Zwangs­ ansiedlung nach Sibirien verschicken, sie verteilte wie bisher die Landanteile,

erhob die Steuern, trieb diese bei und hielt auch die Abgewanderten fest, da

sie die Pässe zu erteilen hatte. So hatte sich gegen den früheren Rechts­ stand nur soviel geändert, daß jetzt jedes ausgleichende und helfende Moment

aus der patriarchalischen Zeit weggefallen war, weil die Gemeinde eher

noch härter und drückender über ihren Gliedern waltete als vordem der Herr. Die Folgezeit aber suchte die agrarischen Verhältnisse eher nach

rückwärts als vorwärts zu organisieren.

Zwar rührte sie nicht an die

Ablösungsgesetzgebung, Wohl aber hemmte sie mit Absicht und Erfolg den weiteren Übergang des Landes in PrivateigenMm.

Man suchte nur

(in Gesetzen von 1886 und 1893) die Dispositionsrechte der Gemeinde­

versammlung und auch des Einzelnen mehr unter die Staatskontrolle zu bringen, aber den Mir selbst konservierte man rechtlich wie tatsächlich.

Zwar fühlte man, daß in ihm die Hauptursache der wachsenden Schwierig­ keiten des Bauerntums lag, aber man hielt an ihm fest, weil man meinte, er verhindere die Entwicklung der Bauernstand,

wenn

auch

persönlich

Grotzfamilie nach wie vor gebunden.

eines

frei,

Proletariats.

So blieb

an Landgemeinde und

Diese Gebundenheit wirkte um so

schlimmer, als sie in keiner Weise zu der kapitalistischen Wirtschaft, zu

der nun auch der Bauernstand gezwungm wurde, paßte; alles überlebte

und Rückständige war konserviert und schützte doch nicht vor den Schäden des kindringenden Kapitalismus.

Mit der persönlichen Freiheit konnte

V. Kapitel.

158

der Bauer nichts anfangen, solange ihn der Flurzwang, das Gemeinde­

eigentum, die Umteilung, der Familienbesitz fesselten; sie bestand für ihn lediglich in dem Rechte, Personalschulden zu machen, solange ihm der

Dorfwucherer (der Kulak) borgte. Denn er konnte von ihr nicht einmal durch Abwandemng in die Stadt vollen Gebrauch machen, da ihn die

alten Fesseln der ständischen Gebundenheit ja auch dahin begleiteten. Was bis zur Revolution an gesetzlichen Maßnahmen dazu erlassen wurde,

doktorte am Problem nur hemm und verbaute sich selbst die Möglichkeit zu durchgreifender Hilfe.

Aber auch den Gutsbesitzem bekam der Übergang in die neuen

Verhältnisse nicht.

Sie wußten mit den gewaltigen Summen baren

Geldes, die ihnen zuströmten, nichts anzufangen und verjubelten es in

der Hauptsache.

Diese fette Zeit dauerte bis Ausgang der 80er Jahre.

Dann kamen die Wirkung dieser Verschwendung und der Rückgang der Weltgetreidepreise zusammen, um auch dem Adel die Unsicherheit des Fundaments klar zu machen, das die Bauembefreiung aus Schuld des

Staates und der beteiligten Schichten geschaffen hatte — wie das der traurige Vers von Nekrassow so schlagend und richtig ausdrückt:

„Ja, ja, die starke Kette brach Und sprang in Stücke ganz. Das eine Stückchen traf dm Herm, Die andem trafm uns/") Diese Wirkungen traten für den Adel schon in den achtziger Jahren,

für den Bauernstand in vollem Umfange in den ersten neunziger Jahren hervor. Seit 1890/91 wurde es von Jahr zu Jahr eindringlicher und erschreckender klar, daß sich im Lande die Hungersnot chronisch festsetzte.

1897 gab das Finanzministerium ein großes statistisches Werk über den

„Einfluß der Ernten und Getreidepreise auf einige Seiten der mssischen

Volkswirtschaft" heraus. Da war berechnet, daß pro Kopf der mssischen Bevölkemng im Jahre 19 Pud Getreide zur Emähmng und 7% Pud

zur Fütterung des Viehs notwendig seien, daß aber in nicht weniger als 40 Gouvernements des europäischen Teiles das bäuerliche Anteilsland

diesen Nahmngsbedarf

nicht

zu decken vermochte.

70%

der ganzen

x) Aus dem realistisch echten und melancholisch reizvollen Werke: „Koran

na Rusi schit choroscho?" (,/JBer lebt glücklich in Rußland?') geschrieben 1873—76.

Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.

159

bäuerlichen Bevölkemng konnten nach diesen Aufstellungen ihren eigenen nicht mehr

Nahrungsbedarf

aufbringen.

Das

Land

und die

euro­

päische öffentliche Meinung standen vor der Tatsache, daß der gewaltige

Getreidexport Rußlands und seine großartige weltpolitische Betätigung

durch permanente Unterernährung seines Bauerntums erkauft wurden, auf dessen Kraft dieser Staat noch in ganz anderem Maße mhte als Westeuropa.

Mißernten und Hungersnöte hatte es auch schon vorher seit der Bauernbefreiung gegeben. Jetzt aber litt Kemrußland entweder im ganzen

oder zu seinem größeren Teile chronisch daran. Bis zur Revolution erlebte es (ganz oder zu einem so großen Teile, daß es im ganzen empfindlich zu merken war) Mißernten in den Jahren 1891, 1892, 1896, 1897,

1898, 1899, 1900, 1901, 1905, danach 1906, 1907 und 1911. Selbst

in den fruchtbarsten Gebieten, in den Strichen der schwarzen Erde, hörte der Notstand nicht auf und mußten von Jahr zu Jahr größere Auf­

wendungen des Staates und besonders der Semstwos, die darin Außer­ ordentliches

leisteten, versuchen, der Agrarnot

zu steuern.

Aus

dem

Boden mußte, da die Bevölkerung sehr stark zugenommen hatte — 1861

waren es 45, 1900 85 Millionen Köpfe — immer mehr herausgeholt werden, aus einem Boden, der im Süden zwar von unerschöpflicher Fruchtbarkeit ist,

sich

aber jetzt für

Aussaugung seiner Kraft rächte.

hatte

in

dem

Menschenalter

geringsten Fortschritt gemacht. Währung

und

seinen

eine jahrhundertelang betriebene

Denn die landwirtschaftliche Technik

seit

Beginn

der

Befreiung

nicht

den

Und trotzdem mußte der Staat, um seine

ausländischen

Kredit halten

zu

können,

durch

Steuerdruck die Bauern zwingen, gleich nach der Emte mehr zu ver­ kaufen, als sie zum Unterhalt entbehren konnten. Diese unbestreitbare agrarische Not mochte ihre Gründe außerhalb des

Mir haben, zumal es den Gegenden des Hofsystems im Westen, Südwesten

und Süden, die übrigens auch regellose Gemengelage und Besitzzer­ splitterung haben, gleichfalls schlecht ging. Aber das wurde in diesem Jahr­

zehnt auch unwiderleglich bewiesen, daß der Mir weder die Entstehung

dieser Agramot noch die eines Proletariats hintangehalten hatte. Rußland

hatte nicht nur Ansätze eines städtischen Proletariats, sondem — was schlimmer war — zweifellos ein ländliches, ein landloses Proletariat,

das nach der slawophilen Theorie wegen der Existenz des Mirs gar nicht

V. Kapitel.

160

möglich hätte sein dürfen. Wenn durch die Umteilungen für die wachsende Bevölkerung gesorgt war — woher kamen dann die Arbeitermassen in den

großen Zentren für die Jndustriepolüik Wittes? Wenn der Mir richtig

funktioniert hätte, dann hätte es kein landloses Proletariat in dem Sinne

geben dürfen, daß Sauern, die früher (d. h. nach 1861) Land besessen

hatten, ein Menschenalter später keines mehr hattm, und ferner mußte bei gleichgebliebenem Landvorrat und gestiegener Bevölkerung eine ungeheure

Zersplitterung, geradezu eine Pulverisiemng der Bodenanteile eingetreten

sein. Beides traf aber nicht zu. Denn es gab 40 Jahre nach Beginn der Bauernbefreiung Bauern, die ihren Landanteil eingebüßt hatten, und die

Zersplitterung des Besitzes war zwar außerordentlich groß, stellte sich

aber als nicht so groß heraus, wie sie nach den gegebenen Voraussetzungen

hätte sein müssen. Wenn in einer Feldgemeinschaft das Umteilungssystem nach Revi­

sionsseelen galt, was wohl das typische war, so hatte jeder Bauernhof so viel Anteile erhalten, als 1859, d. h. bei der 10. und letzten Revision,

Revisionsseelm zu chm gehört hatten. In den achtziger Jahren begann daher unter dem Druck der vielköpfigen Familien der Umteilungsmodus

nach „vorhandenen Seelen" oder nach „Essern" sich durchzusetzen. Dieser

Umschwung brachte eine Periode eifriger und häufiger Umteilungen mit

sich.

Trotzdem zeigte die genaue Untersuchung*), daß, während sich die

Bevölkerung von 1848—1893 um 45% % vermehrt hatte, die Zahl der

am Mir Anteilsberechtigten in dem Menschenalter seit Beginn der Be­ freiung stark zurückgegangen war. Proletariat gewordm.

Aus den anderen war ein landloses

Ebenso ergab sich, daß die Zahl der Höfe —1858:

8,1905:12 Millionen — nicht entsprechend der Bevölkerungszunahme ge­ stiegen war, und auch die auf den Hof kommende Kopfzahl zeigte keine

wesentliche Veränderung. Ein erheblicher Teil der Bauern erhielt also — das bewies diese Statistik unwiderleglich — trotz des Mir keinen Anteil

mehr am Land, diese vom Boden losgerissenen Elemente sind in die Städte, in die Fabriken, nach Sibirien abgeflossen. Dementsprechend zeigte

die Volkszählung von 1897 einen Stillstand in der Bewegung der Bevölkemng da, wo sie 20 Jahre vorher am stärksten gewesen war, im

ZeMmm und im Gebiet der Schwarzerde, dafür eine Steigerung an der *) Besonders in der von Witte veranlaßten Arbeit von P. Lochtin, Bensemelny Proletariat. (Moskau 1905.)

161

Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik. Peripherie.

Fast durchgängig waren z. B. die Fabrikarbeiter des Mos­

kauer Gouvernements derartige „Bauern", die tatsächlich einen Anteil an der Dorfflur nicht mehr hatten, gleichwohl aber von der Dorfgemeinde noch festgehalten wurdm, in ihr weiter solidarisch für den Steuerameil mit hafteten und in Paß- und Militärdienst-Angelegenheiten von ihr ab­

hängig blieben.

Der Mir hatte seine Aufgabe, die natürliche Zunahme

der Bevölkemng in sich aufzunehmen und ihr in sich Nahrungsspielraum zu gewährm, nicht erfüllt, oder anders ausgedrückt: die Umteilungen des

Bodens, die den Verschiebungen in der Dorfbevölkerung folgen sollten,

hatten tatsächlich im letzten Menschenalter überhaupt viel weniger statt­ gefunden, als man sich vorgestellt hatte, und zwar wurden sie von Süden

nach Norden zu immer seltener: im Norden, wo der Bauer düngen muß, war sein Verhältnis zu der von ihm gerade bebauten Scholle enger und

fester als im Süden, wo das nicht nötig ist oder nicht für notwendig er­ achtet wurde. Ja, trotz aller rechtlichen Schranken war sogar eine große

Ungleichheit in der Besitzverteilung entstanden. Wie wenig kam doch diese scheinbar alles regelnde und beherrschende Staatsgewalt an den Einzelnen wirklich heran, wenn sich eine solche Umbildung ohne die Staatsgewalt, ja eigentlich gegen sie, vollziehm konnte! Die Reform von 1861 hatte Höfe

verschiedener Landgröße geschaffen, da die Familien zahlenmäßig ver­ schieden waren.

Danach sammelten schon von vornherein einzelne Höfe

mehr Anteile auf sich. Diese haben dann im Laufe der Jahrzehnte diese Anteile noch auf Kosten der Anteile erweitern können, die eingezogen wurden, weil in der Familie arbeitsfähige Erwachsene fehlten oder weil der Hausvater zum Militär einberufen war oder vor allem, weil Höfe

mit ihren Zahlungspflichten meinde im Rückstände waren.

((Steuern,

Loskaufsgeldern)

bei der Ge­

So ist irregulär, vielfach durch Unrecht

und Gewalt, der Mir zur engeren Realgemeinde geworden wie die deutsche Markgenossenschaft, und wenn Umteilungen noch stattfanden, so vollzogen

sie sich ost nur unter dieser stärkeren Minderheit.

Von hier erklärt sich

auch die Figur des Dorfkulaks und die auf den ersten Blick ganz un­ verständliche Erscheinung, daß bei kollektivem Eigentum an der Dorfflur

und bei der Unmöglichkeit hypothekarischer Verschuldung ein landloses Proletariat entstand und die zurückbleibende Dorfgemeinde ihrer Mehr­ heit nach in die Schuldknechtschaft eines einzelnen oder einer Minderheit

geraten konnte.

Hoetzsch, Rußland.

11

V. Kapitel.

162

So war dieses System, das einmal Vernunft gewesen war, jetzt Unsinn, frühere Wohltat unerträgliche Plage geworden.

Es konservierte

einen Rechts-Zustand wie zum Hohn, weil unter ihm und durch ihn die

Dorfbevölkemng hungerte. Es hielt, weil der „Peredjel", die Umteilung, immer noch als Möglichkeit über der ganzm Organisation schwebte, das

Jndividualeigentum, allen technischen Fortschritt und alle kapitalistische

Aufwendung mit Gewalt fern. Und auch die wirtschaftlich Stärkeren in der Gemeinde laborierten an der Erschlaffung des Bodens. Für den Staat

aber hatte diese Lage die unangenehme Folge, daß die Bauern mit den —

von ihm ja vorgeschossenen — Loskaufszahlungen in hoffnungslosen Rück­ stand kamen und daß auch die Steuererträge zurückgingen.

Das Bild ist nicht vollständig, wenn, wie es meist geschieht, diese Agrarnot lediglich als Not der Bauern dargestellt wird.

Die Bauern­

befreiung war hier, wie überall, der Beginn der Mobilisierung des Grund

und Bodens.

Durch die Ablösungssumme, die der Staat den Bauern

vorschoß und den Gutsherrn einhändigte, kam in die bis dahin säst ganz

naMralwirtschaftliche Urproduktion Kapital herein.

Die Kapitalisierung

der Urproduktion ist überall von Schmerzen und Schwierigkeiten begleitet gewesen, in Rußland aber wurde dieser Übergang besonders ins Schlimme

verkehrt, weil man dem Kapitalismus den Weg nur halb frei machte und

weil man die bei jeder Lösung der gutsherrlich-bäuerlichen Abhängigkeits­

Verhältnisse rasch akut werdende Landarbetterfrage nicht einmal angriff. So von heute auf morgen gezwungen, sich in neue VerhälMisse zu finden, hat sich der Adel Rußlands überhaupt nicht in sie hereingesunden. Die

Folge war: er hat das Land nicht in seiner Hand halten können. Der Grundbesitz umfaßte vor der Revolutton, im Jahre 1905, in

Kern-Rußland (47 Gouvernements, also ausschließlich der Ostseeprovinzen, Polens und Finnlands) im ganzen 388 Millionen Dessjatinen. Davon betmg der Besitz der Krone, Kirche usw.: 154,7 Millionen Dessjatinen, und

zwar Kronsbesitz**) 137,4*), Schatull- und Apanagenland') 7,8, Kirchen- und *) Staatsrechtlich heute — Domänm, verwaltet vom Landwirtschafts­ ministerium, Abteilung für die „gossudarstwmnhja Jmuschtschestwa" (— Domänen). *) Mit den Ostseeprovinzen hat Rußland 138 Mill. Dessj. Domänen