Rüstung, Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit im "Dritten Reich": Im Auftrag von MTU Aero Engines und BMW Group 9783486709780, 9783486588583

Die Wirtschaft des "Dritten Reichs" war zu weiten Teilen ausgerichtet auf Rüstung und Kriegsführung. Aufrechte

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Rüstung, Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit im "Dritten Reich": Im Auftrag von MTU Aero Engines und BMW Group
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Andreas Heusler, Mark Spoerer, Helmuth Trischler (Hrsg.) Rüstung, Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit im „Dritten Reich“

Perspektiven Schriftenreihe der BMW Group – Konzernarchiv

Band 3

R. Oldenbourg Verlag München 2010

Andreas Heusler, Mark Spoerer, Helmuth Trischler (Hrsg.)

Rüstung, Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit im „Dritten Reich“ Im Auftrag von MTU Aero Engines und BMW Group

R. Oldenbourg Verlag München 2010

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2010 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Satz: Typodata GmbH, München Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Bindung: Buchbinderei Klotz, Jettingen-Scheppach ISBN: 978-3-486-58858-3

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

Andreas Heusler, Mark Spoerer, Helmuth Trischler Rüstung und Zwangsarbeit im „Dritten Reich“: Eine Einführung . . . .

1

Rüstung Till Lorenzen Unternehmerische Handlungsspielräume der Bayerischen Motoren Werke im Flugmotorenbau 1933–1940. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Jonas Scherner, Jochen Streb Ursachen des „Rüstungswunders“ in der Luftrüstungs-, Pulverund Munitionsindustrie während des Zweiten Weltkriegs . . . . . . . . . . .

37

Daniel Uziel Der Volksjäger. Rationalisierung und Rationalität von Deutschlands letztem Jagdflugzeug im Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

Lutz Budraß Kommentar zu den Beiträgen von Lorenzen, Scherner/Streb und Uziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

Thomas Irmer Zwangsarbeit für die deutsche Elektroindustrie im besetzten Polen. Die „Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft“ (AEG) und das Kabelwerk Krakau 1941–1944. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

Stefan A. Oyen, Manfred Overesch „Starter für den Krieg“. Bosch Hildesheim im Dritten Reich. . . . . . . . .

107

Paul Erker Kommentar zu den Beiträgen von Irmer und Oyen/Overesch . . . . . . .

139

VI

Inhaltsverzeichnis

Zwangsarbeit Constanze Werner Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit bei BMW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

145

Elsbeth Bösl, Nicole Kramer, Stephanie Linsinger Die vielen Gesichter der Zwangsarbeit. Merkmale des „Ausländereinsatzes“ im Landkreis München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

149

John J. Delaney Rassistische gegen traditionelle Werte. Priester, Bauern und polnische Zwangsarbeiter im ländlichen Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

163

Patrice Arnaud „Ein so naher Feind“. Französische Zwangsarbeiter und ihre deutschen Kollegen in den Industriebetrieben des Dritten Reiches . . . .

179

Marc Buggeln „Menschenhandel“ als Vorwurf im Nationalsozialismus. Der Streit um den Gewinn aus den militärischen Großbaustellen am Kriegsende (1944/45) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

199

Fabian Lemmes Zwangsarbeit im besetzten Europa. Die Organisation Todt in Frankreich und Italien, 1940–1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

219

Sergey A. Kizima Forced Labour of Jews on the Territory of Generalbezirk Weißruthenien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

253

Jürgen Zarusky Kommentar zu den Beiträgen von Delaney, Arnaud und Kizima . . . . .

263

Inhaltsverzeichnis

VII

Erinnerungskultur Joachim R. Rumpf Die Entschädigungsansprüche deutscher Zwangsarbeiter vor Gericht. Zu spät erhoben – die Abweisung der Klagen wegen Verjährung der Ansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

269

Cord Pagenstecher Orte des Gedenkens. Die nationalsozialistische Zwangsarbeit im deutschen Geschichtsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

295

Raphael Spina Hüterin der Erinnerung an die Zwangsarbeit in Deutschland. Die „Fédération Nationale des Déportés du Travail“ seit 1945 . . . . . . .

315

Constantin Goschler Kommentar zu den Beiträgen von Rumpf, Pagenstecher und Spina . . .

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MTU Aero Engines und BMW Group Vorwort Im Rahmen des Projektes „Gemeinsames Erinnern“ veranstalteten die MTU Aero Engines und die BMW Group ein wissenschaftliches Symposium zum Thema „Rüstung, Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit im ,Dritten Reich‘“. Die Tagung fand am 15. und 16. März 2007 im Deutschen Museum in München statt. Die mehr als 100 Teilnehmer kamen aus Europa, Israel und den Vereinigten Staaten. Die Veranstaltung sollte einen Raum schaffen, um die neuesten wissenschaftlichen Forschungsergebnisse zu Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit im „Dritten Reich“ vorzustellen und in größerem Rahmen zu diskutieren. Die Publikation der Vorträge und die Einordnung in den wissenschaftlichen Kontext durch die Kommentare der jeweiligen Sektionsleiter liegen nun mit diesem Buch vor. Dieser Band ist die dritte Publikation in Rahmen des Projektes der beiden Unternehmen. Im Jahr 1999 begann die MTU Aero Engines als Rechtsnachfolgerin der früheren BMW Flugmotorenbau GmbH mit einem Projekt, das die wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas „Zwangsarbeit im Dritten Reich“ als Teil der eigenen Unternehmensgeschichte zum Ziel hatte. 2001 beteiligte sich die BMW Group als ehemalige Muttergesellschaft der BMW Flugmotorenbau GmbH an der historischen Aufarbeitung. Nach eingehenden Recherchen und Interviews mit Zeitzeugen erschien 2005 die Arbeit von Constanze Werner unter dem Titel „Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit bei BMW“, in der die Analyse des Zwangsarbeitereinsatzes mit einer Untersuchung der Unternehmensentwicklung verknüpft wurde. Im Jahr 2008 folgte der zweite Band von Till Lorenzen „BMW als Flugmotorenhersteller 1926–1940. Staatliche Lenkungsmaßnahmen und unternehmerische Handlungsspielräume“. Er befasste sich in diesem Band auf einer breiten Quellengrundlage mit unserer Unternehmensgeschichte in diesem Zeitraum und ordnete sie in den historischen Kontext und den aktuellen wirtschaftshistorischen Forschungsstand ein. Mit Erscheinen dieses dritten Bandes schließen wir die Forschungsarbeiten über unsere gemeinsame Unternehmensgeschichte im „Dritten Reich“ ab. Die beiden Unternehmen MTU Aero Engines und BMW Group haben ihre Archive für die Historiker geöffnet und den Wissenschaftlern alle historischen Unterlagen zur Verfügung gestellt. Wir danken den Autoren, die das Symposium mit ihrer fachlichen Kompetenz bereichert und sich der Mühe unterzogen haben, ihre Beiträge für die Drucklegung zu überarbeiten. Die Textredaktion besorgte dankenswerterweise Nicole Bergmann. Die Betreu-

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Vorwort

ung der Buchreihe übernahm für den Oldenbourg Verlag Gabriele Jaroschka, der unser Dank für ihr Engagement und die professionelle Unterstützung gilt. Unseren besonderen Dank sprechen wir dem wissenschaftlichen Beirat – Dr. Andreas Heusler vom Stadtarchiv München, Dr. Mark Spoerer vom Deutschen Historischen Institut Paris und Prof. Dr. Helmuth Trischler vom Deutschen Museum München – für die engagierte Begleitung des ganzen Projektes und die Herausgabe des vorliegenden Werkes aus. Der Beirat hat dafür Sorge getragen, dass das Projekt in voller wissenschaftlicher Freiheit bearbeitet werden konnte. Die Verantwortung unserer beiden Unternehmen wird es auch in Zukunft sein, die Gesellschaft über alle Facetten unserer Unternehmensgeschichte zu informieren. Eine glaubwürdige historische Selbstwahrnehmung muss Teil unserer Unternehmenskultur sein. Unsere Erinnerung aber gilt den Opfern. München, im Oktober 2009

MTU Aero Engines GmbH

BMW Group

Eckhard Zanger

Maximilian Schoeberl

Eva Melzer-Hollederer

Dr. Florian Triebel

Andreas Heusler, Mark Spoerer, Helmuth Trischler

Rüstung und Zwangsarbeit im „Dritten Reich“: Eine Einführung Kein militärischer Konflikt, nicht einmal eine Naturkatastrophe hat so viele Menschenleben zerstört und Ressourcen verbraucht wie der Zweite Weltkrieg. Um an der Front den Gegner vernichten zu können, mussten im Hinterland Millionen von Menschen ihre Arbeitskraft einsetzen, um aus wertvollen Rohstoffen Material zu fabrizieren, das einzig der Zerstörung diente und somit für den Lebensunterhalt nicht zur Verfügung stand.1 Im Kalkül der Aggressoren – Japan in Fernost, Deutschland in Europa – war der entgrenzte Verbrauch von Menschenleben und Material eine Investition, die notwendig erschien, um die Lebensgrundlagen des eigenen Volkes entscheidend und auf lange Sicht zu erweitern. Noch stärker als im Ersten Weltkrieg wurde für dieses Ziel die gesamte Gesellschaft mobilisiert. Gleichwohl hatte selbst ein totalitäres Regime wie das nationalsozialistische keine unbeschränkte Macht über seine „Volksgenossen“. Individuellen Widerstand konnte es brutal ersticken, doch auf kollektive Befindlichkeiten musste es Rücksicht nehmen. Wie ließen sich zurückhaltende Unternehmen zur Errichtung riesiger, nur für den Kriegsbedarf arbeitender Anlagen verleiten? Wie viele Arbeitsstunden durfte man den deutschen Beschäftigten zumuten, und wie viele Konsumgüter – deren Produktion zwangsläufig zu Lasten der Rüstung ging – musste man bereitstellen, um die „Volksgenossen“ bei Laune zu halten? Die Aushandlungsprozesse zwischen dem Regime beziehungsweise seinen vielfältigen und oft rivalisierenden Institutionen einerseits und den wirtschaftlichen Akteuren – Unternehmern und Beschäftigten – andererseits sind in den letzten Jahren verstärkt Gegenstand der Forschung geworden. Dabei hat sich das Begriffspaar „Zwangslagen und Handlungsspielräume“ insbesondere in der unternehmenshistorischen Forschung als außerordentlich fruchtbar gezeigt, da es den Blick für individuelle Interessenlagen schärft. Selbst wenn ein Unternehmer Parteimitglied und sogar überzeugter Nationalsozialist war, so war er noch lange nicht bereit, die wirtschaftliche Zukunft seines Unternehmens für die Interessen des Regimes aufs Spiel zu setzen – jedenfalls nicht ohne Gegenleistung. Ältere Erklärungsmuster zur Funktionsweise der nationalsozialistischen Rüstungs- und Kriegswirtschaft sind damit obsolet geworden. Weder kann generell von einer Interessenkongruenz zwischen Regime und (Groß-) 1

Vgl. an neueren Überblicksdarstellungen: Adam Tooze: The Wages of Destruction: The Making and Breaking of the Nazi Economy, London 2006; Christoph Buchheim (Hg.): German Industry in the Nazi Period, Stuttgart 2008.

2

Andreas Heusler, Mark Spoerer, Helmuth Trischler

Unternehmen ausgegangen werden, noch lässt sich die These von einer Zwangswirtschaft aufrechterhalten – sieht man von den Wirren der letzten Monate des Krieges ab.2 Die damit einhergehende Entideologisierung der Historiographie ist in den letzten 15 Jahren auf eine zunehmende Bereitschaft der Unternehmen gestoßen, die Zeit des Nationalsozialismus „aufarbeiten“ zu lassen. Es mag dahingestellt bleiben, inwieweit dahinter der wachsende Druck der Öffentlichkeit und US-amerikanischer Geschäftspartner steht. Tatsache ist, dass Historiker seit den 1990er Jahren verstärkt Zugang zu Unternehmensarchiven erhalten, die ihnen jahrzehntelang verschlossen geblieben waren. Seitdem haben viele deutsche Großunternehmen ihre Vergangenheit – einschließlich der im „Dritten Reich“ – wissenschaftlich untersuchen lassen.3 Für die Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte des „Dritten Reichs“ hat sich dies als höchst ertragreich erwiesen und zu einem weitaus besseren Verständnis der Funktionsweise der NS-Wirtschaft und der Rolle der Unternehmen geführt. Von der Interessenlage her bietet es sich an, eine Trennung zwischen staatlich und privatwirtschaftlich geführten Unternehmen vorzunehmen. Bei letzteren standen auch im „Dritten Reich“ stets ganz deutlich betriebswirtschaftliche Ziele im Vordergrund, also die Absicht, auf lange Frist nicht nur rentabel, sondern auch möglichst profitabel zu wirtschaften. Diese langfristige Perspektive konnte insbesondere im Krieg zu Konflikten mit den Rüstungsbehörden führen, die sich an kurzfristigen Erfordernissen der Kriegswirtschaft zu orientieren hatten. Eines dieser Konfliktfelder war der chronische Arbeitskräftemangel. Bei der Analyse dieses Aspekts hat sich die wirtschafts- und unternehmenshistorische Forschung mit einer anderen Forschungsrichtung getroffen, die aus der Sozial-, Alltags- und Lokalgeschichte kommt. Seit der Veröffentlichung von Ulrich Herberts Pionierstudie „Fremdarbeiter“ im Jahre 1985 hat sich

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Vgl. etwa Peter Temin: Soviet and Nazi Planning in the 1930s, in: Economic History Review 44 (1991), S. 573–593. 3 Hier sei nur eine kleine Auswahl genannt: Barbara Hopmann u. a.: Zwangsarbeit bei Daimler-Benz, Stuttgart 1994; Lothar Gall u. a.: Die Deutsche Bank 1870–1995, München 1995; Hans Mommsen/Manfred Grieger: Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf 1996; Gerald Feldman: Allianz and the German Insurance Business, 1933–1945, Cambridge 2001; Werner Abelshauser (Hg.): Die BASF. Von 1865 bis zur Gegenwart. Geschichte eines Unternehmens, München 2002; Lothar Gall (Hg.): Krupp im 20. Jahrhundert. Die Geschichte des Unternehmens vom Ersten Weltkrieg bis zur Gründung der Stiftung, Berlin 2002; Peter Hayes: From Cooperation to Complicity. Degussa in the Third Reich, Cambridge 2004; Ludolf Herbst/ Thomas Weihe (Hg.): Die Commerzbank und die Juden 1933–1945, München 2004; Stephan Lindner: Hoechst: ein I.G. Farben Werk im Dritten Reich, München 2005; Johannes Bähr u. a.: Die Dresdner Bank im Dritten Reich, 4 Bde., München 2006. – Eine große Lücke bildet die Elektroindustrie, wie der Beitrag von Paul Erker in diesem Band unterstreicht. AEG existiert nicht mehr und Siemens verfolgt eine sehr eigenwillige Geschichtspolitik.

Rüstung und Zwangsarbeit im „Dritten Reich“: Eine Einführung

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diese Thematik, befördert insbesondere auch durch die Entschädigungsdiskussion in den 1990er Jahren, in einer unüberschaubaren Vielzahl von Publikationen niedergeschlagen.4 Herbert war noch in der ersten Hälfte der 1980er Jahre der Zugang zu Unternehmensarchiven verwehrt worden. Die Öffnung der Unternehmensarchive hat den Blick für die Zwangslagen der Unternehmen – aber eben auch für die Handlungsspielräume – in der Frage des Ausländereinsatzes geschärft. In der normativen Bewertung unternehmerischen Handelns im Dritten Reich ist es in den letzten Jahren zu einer erstaunlichen Konvergenz der unternehmens- und der sozialhistorischen Forschung gekommen. Die Frage, inwieweit Manager aktiv nationalsozialistisches Gedankengut vertreten haben, ist zunehmend in den Hintergrund geraten. Weniger die ohnehin schwer zu fassende ideologische Gesinnung steht seitdem im Mittelpunkt des Forschungsinteresses, sondern vielmehr das konkrete Handeln. Zur Erklärung bestimmter Handlungsweisen – Partizipation an der „Arisierung“, Misshandlung und exzessive Ausbeutung von Zwangsarbeitern, Aneignung von Ressourcen ausländischer Volkswirtschaften – wird heute in viel stärkerem Ausmaß als früher als wichtigstes Motiv betriebswirtschaftlicher Opportunismus gesehen, der sowohl in der Diktatur wie auch in der Demokratie in gewisser Weise das alltägliche Unternehmenshandeln darstellt. Von diesem Durchschnitt wichen bestimmte Unternehmer und Manager nach oben oder unten ab, wenn sie etwa bewusst aus humanitären Erwägungen die Partizipation an nationalsozialistischen Verbrechen ablehnten, diese möglicherweise sogar sabotierten, oder umgekehrt aktiv vorantrieben. Kaum noch bestritten wird dabei heute, dass von einem Primat der Politik über die Wirtschaft auszugehen ist, d. h. der nationalsozialistische Staat setzte den institutionellen Rahmen. Gleichwohl ließ er zentrale wirtschaftliche Anreizmechanismen bestehen, um den Unternehmen nicht die Innovationskraft zu nehmen, derer der Staat dringend bedurfte. Wichtige Entscheidungen wurden daher nicht befohlen, sondern ausgehandelt, und stets akzeptierte der Staat das unternehmerische Gewinnmotiv. Damit verblieben den Unternehmen Handlungsspielräume, die sie nutzen konnten – entweder zum Wohle der eigenen Bilanz oder zu dem der vom Regime Entrechteten.5 4

Ulrich Herbert: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Bonn 1985 (2. Aufl. 1999); Andreas Heusler: Ausländereinsatz. Zwangsarbeit für die Münchner Kriegswirtschaft 1939–1945, München 1996; Mark Spoerer: Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Dritten Reich und im besetzten Europa 1939–1945, Stuttgart/München 2001; Florian Freund/Bertrand Perz/Mark Spoerer: Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen auf dem Gebiet der Republik Österreich 1939–1945, Wien 2004. 5 Vgl. etwa Christoph Buchheim: Unternehmen in Deutschland und NS-Regime 1933–1945. Versuch einer Synthese, in: Historische Zeitschrift 282 (2006), S. 351–390; ders./Jonas Scherner: The Role of Private Property in the Nazi Economy: The Case of

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Andreas Heusler, Mark Spoerer, Helmuth Trischler

Auch im Bereich der Technik- und Wissenschaftsgeschichte haben die Debatten um die Formen der Verknüpfung von Technik und Wissenschaft mit dem NS-Regime im Verlauf des letzten Jahrzehnts außerordentlich an Dynamik gewonnen. Im Zuge dieser umfassenden Neubewertung haben sich auf der einen Seite ältere Erklärungsmodelle wie etwa das einer vielfachen Selbstmobilisierung von Wissenschaftlern und Ingenieuren für die Ziele des NSRegimes insbesondere in der Endphase des Zweiten Weltkrieges als weiterhin tragfähig erwiesen.6 Auf der anderen Seite sind herrschende Grundannahmen wie die einer tiefen Wissenschaftsfeindlichkeit der NS-Eliten revidiert worden. Trotz aller Gleichschaltung der Technikerorganisationen wie auch der Hochschulen und der außeruniversitären Forschung verblieben den wissenschaftlichen und technischen Eliten ebenso wie den Unternehmern erhebliche Handlungsspielräume, die sie in je unterschiedlicher Weise nutzen konnten. Auch im Bereich von Technik und Wissenschaft konnte das Regime nicht umstandslos auf die vorhandenen Ressourcen zugreifen, sondern sah sich in einen permanenten Aushandlungsprozess verwickelt. Um diese Aushandlungsprozesse und die daraus resultierenden Handlungsspielräume analytisch zu fassen, hat sich das von Mitchell Ash vorgeschlagene Konzept der Ressourcenkonstellationen als besonders tragfähig erwiesen.7 Das NS-Regime stellte den Wissenschaftlern und Ingenieuren in der Erwartung, politisch, ideologisch und rüstungswirtschaftlich verwertbare Ergebnisse an die Hand zu bekommen, weitaus umfangreichere finanzielle Industry, in: Journal of Economic History 66 (2006), S. 390–416, sowie mit Bezug zum Einsatz von Zwangsarbeitern Lutz Budraß/Manfred Grieger: Die Moral der Effizienz. Die Beschäftigung von KZ-Häftlingen am Beispiel des Volkswagenwerks und der Henschel Flugzeug-Werke, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (1993), H. 2, S. 89–136; Mark Spoerer: Zur Verantwortlichkeit privatwirtschaftlicher Industrieunternehmen für den Einsatz von NS-ZwangsarbeiterInnen: das Beispiel Daimler-Benz, in: Gabriella Hauch (Hg.): Industrie und Zwangsarbeit im Nationalsozialismus, Linz 2003, S. 37–47. – Vgl. dagegen Werner Plumpe: Unternehmen im Nationalsozialismus. Eine Zwischenbilanz, in: Werner Abelshauser/Jan-Otmar Hesse/Werner Plumpe (Hg.): Wirtschaftsordnung, Staat und Unternehmen. Neue Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, Essen 2003, S. 243–266. 6 Karl-Heinz Ludwig: Technik und Ingenieure im Dritten Reich, Düsseldorf 1974; vgl. auch Herbert Mehrtens: Kollaborationsverhältnisse: Natur- und Technikwissenschaften im NS-Staat und ihre Historie, in: Christoph Meinel/Peter Voswinckel (Hg.): Medizin, Naturwissenschaft, Technik im Nationalsozialismus – Kontinuitäten und Diskontinuitäten, Stuttgart 1984, S. 13–32, und Helmuth Trischler: Self-mobilization or Resistance? Aeronautical Research and National Socialism, in: Monika Renneberg/ Mark Walker (Hg.): Science, Technology and National Socialism, Cambridge 1994, S. 72–87. 7 Mitchell Ash: Wissenschaft und Politik als Ressource füreinander, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hg.): Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 32–51; vgl. auch Sybilla Nikolow/Arne Schirrmacher (Hg.): Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander. Studien zur Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York 2007.

Rüstung und Zwangsarbeit im „Dritten Reich“: Eine Einführung

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und personelle Mittel zur Verfügung, als dies in der Weimarer Republik der Fall gewesen war. Im Gegenzug beeilten sich die wissenschaftlichen und technischen Eliten, den Erwartungen des Regimes gerecht zu werden.8 Wie das von Daniel Uziel in diesem Band ausgeführte Fallbeispiel der Luftfahrttechnik zeigt, wurden noch in der Endphase des Krieges mit hohem Ressourcenaufwand technische Innovationen auf den Weg gebracht, die der spezifischen Ressourcenkonstellation dieses Technikfeldes entsprangen. Das Konzept der Ressourcenkonstellationen bietet den Vorteil, die lange Zeit gepflegte These von einer „Indienstnahme“ oder einem „Missbrauch“ von Wissenschaft und Technik durch das NS-Regime, dem sich die Forscher und Technik vermeintlich widerwillig untergeordnet hätten, ad acta zu legen. Wie Rüdiger Hachtmann in einem instruktiven Forschungsüberblick jüngst nochmals betont hat, ging die Initiative weit häufiger eher von den Wissenschaftlern und Ingenieuren aus, die gezielt politische Ziele und ideologische Postulate des Nationalsozialismus nutzten, um ihre jeweiligen Interessen durchzusetzen.9 Der hier skizzierte Fortschritt in der historiographischen Betrachtung der nationalsozialistischen Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte hat natürlich auch markante Spuren in der erinnerungskulturellen und gedenkpolitischen Auseinandersetzung hinterlassen. Ausdruck dieses Wandels ist eine Verbreiterung des memorialen Diskurses, der nicht mehr vornehmlich die politischen, militärischen und polizeilichen Strukturen und Exekuteure des NS-Regimes in den Blick nimmt, sondern auch bislang vernachlässigte gesellschaftliche Gruppierungen – wie etwa die Unternehmer und leitenden Angestellten – und ihr ideologisches Bezugssystem thematisiert.10 Die Installation einer Gedenktafel für die beiden Flugzeugbauer Willy Messerschmitt und Claude Dornier im neu errichteten Bahnhof Garching der Münchener UBahn sorgte so im Jahr 2006 für einen Eklat, hatte man doch inzwischen hinreichend Kenntnisse über die fatale Verstrickung der beiden Unternehmer in das nationalsozialistische Unrechtssystem.11 Eine Konkretisierung der Erinnerungskultur erfolgte freilich neben der biographischen auch auf einer topographischen Ebene. Die Tendenz zur Regionalisierung und Lokalisierung 8

Siehe zuletzt Helmut Maier: Forschung als Waffe. Rüstungsforschung in der KaiserWilhelm-Gesellschaft und das Kaiser-Wilhelm-Institut für Metallforschung 1900– 1945/48, 2 Bde., Göttingen 2007; Ders. (Hg.): Gemeinschaftsforschung, Bevollmächtigte und der Wissenstransfer. Die Rolle der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im System kriegsrelevanter Forschung des Nationalsozialismus, Göttingen 2007. 9 Rüdiger Hachtmann: Wissenschaftsgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Archiv für Sozialgeschichte 48 (2008), S. 539–606. 10 Andreas Heusler: Styler alias Stiehler. Profil eines „Ariseurs“, in: Angelika Baumann/Andreas Heusler (Hg.): München „arisiert“. Entrechtung und Enteignung der Juden in der NS-Zeit, München 2004; Thomas Ramge: Die Flicks. Eine deutsche Familiengeschichte um Geld, Macht und Politik, Frankfurt a. M. 2004. 11 Süddeutsche Zeitung vom 10. April 2006, www.sueddeutsche.de/muenchen/214/366032/text [22. 01. 2009, 8:18].

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Andreas Heusler, Mark Spoerer, Helmuth Trischler

von Zeitgeschichtsschreibung rückt gleichsam nachdrücklich auch die Orte des Geschehens, oft auch Orte des Verbrechens, in den Vordergrund.12 So werden etwa die wenigen erhaltenen baulichen Überreste ehemaliger Zwangsarbeiterlager nicht länger einer renditeträchtigen Überbauung preisgegeben, sondern zunehmend als Gedenkorte in die museale Landschaft integriert. Im Berliner Ortsteil Schöneweide wurde 2006 die erste zentrale Gedenkstätte zur Geschichte der NS-Zwangsarbeit eröffnet. Über ein vergleichbares Projekt wird derzeit auch in München diskutiert.13 Mit dem vorliegenden Band haben sich die Herausgeber zum Ziel gesetzt, die Ergebnisse laufender oder vor kurzem abgeschlossener Forschungsprojekte vorzustellen. Er lehnt sich dabei an die Referate und Koreferate der Tagung „Rüstung, Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit im ‚Dritten Reich‘ – Internationales Symposium zur Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte 1933–1945 und zur Erinnerungskultur“ an, die am 15. und 16. März 2007 im Deutschen Museum in München stattfand. Anlass der Tagung war die Fertigstellung einer zweiten wissenschaftlichen Studie zur Geschichte von BMW.14 Ab 1999 hatte sich der Triebwerkshersteller MTU als Eigentümer und Rechtsnachfolger des ehemaligen BMW Großmotorenwerks Allach mit der Werksgeschichte auseinandergesetzt. Im Jahre 2001 schlossen sich MTU und BMW in der Projektgruppe „Gemeinsames Erinnern“ zusammen. Die beiden historischen Studien wurden dabei seit 2002 von einem Wissenschaftlichen Beirat begleitet, der sich aus den Herausgebern dieses Bandes zusammensetzt. Die Gliederung des Bands folgt der Konzeption der Tagung, auf der die Ergebnisse der konkreten Forschungsprojekte von den Koreferenten kommentiert und in einen größeren historiographischen Kontext gestellt wurden.15 Der Beitrag von Till Lorenzen eröffnet den Teilbereich des Bandes mit Studien zu Unternehmen in der Rüstungs- und Kriegswirtschaft des „Dritten Reiches“. Lorenzen resümiert die Ergebnisse seiner Studie zu den unternehmerischen Handlungsspielräumen von BMW für den Zeitraum von der nationalsozialistischen Machtübernahme bis zur Entfesselung des Zweiten Weltkriegs. Wie bei allen Unternehmen der Flugmotorenbranche so war auch das 12

Winfried Nerdinger (Hg.): Ort und Erinnerung. Nationalsozialismus in München, München 2006; Birgit Kirchmayr: „Kulturhauptstadt des Führers“. Kunst und Nationalsozialismus in Linz und Oberösterreich, Linz 2008. 13 Märkische Zeitung vom 24. August 2006; Süddeutsche Zeitung vom 3. Februar 2009. 14 Constanze Werner: Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit bei BMW, München 2006; Till Lorenzen: BMW als Flugmotorenhersteller 1926–1940. Staatliche Lenkungsmaßnahmen und unternehmerische Handlungsspielräume, München 2008. 15 Für die Richtigkeit der Inhalte und die Angemessenheit der Bewertungen sind die jeweiligen Autoren und Koreferenten verantwortlich.

Rüstung und Zwangsarbeit im „Dritten Reich“: Eine Einführung

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Handeln des Vorstands von BMW von wirtschaftlichen Zweckrationalitäten bestimmt. Bereitwillig vollzog BMW den Umbau des Unternehmens zu einem fast ausschließlich im Flugmotorenbau tätigen Konzern. Da sich die Rüstungsinteressen des Regimes und das unternehmerische Streben nach Gewinnmaximierung weitgehend deckten, sah sich das Management nur selten veranlasst, Kritik an vereinzelten Einschränkungen seiner unternehmerischen Entscheidungsautonomie zu üben. Die Bereitschaft zum Mitmachen – und dies hieß auch die Beteiligung an der Arisierung von Betrieben und am massenhaften Einsatz von Zwangsarbeitern – wurde durch die Politik der selektiven Anreize des Regimes verstärkt. Aus der Retrospektive erstaunt dabei weniger das Maß an staatlichem Dirigismus im rüstungswirtschaftlichen Schlüsselsektor der Luftfahrtindustrie als vielmehr die Persistenz ausgedehnter unternehmerischer Handlungsspielräume. Lorenzens Ergebnisse zeigen, dass sich das lange Zeit auch in der historischen Selbstwahrnehmung von BMW und MTU gezeichnete Bild eines seiner Entscheidungsfähigkeit beraubten Objekts nationalsozialistischer Rüstungspolitik als überaus schief erweist. Vielmehr konnte sich die Führung von BMW bemerkenswert große Handlungsspielräume bewahren und damit die Bedingungen mitgestalten, unter denen sie den politischen Zielen des Regimes folgte. Kaum einer Frage hat sich die Forschung zur Wirtschaftsgeschichte des „Dritten Reiches“ intensiver gewidmet als dem „Wunder“ der Steigerung in der Rüstungsproduktion während der zweiten Hälfte des Krieges. Von Februar 1942, als Albert Speer das Rüstungsministerium übernahm, bis Juli 1944 konnte die deutsche Wirtschaft den Ausstoß an Rüstungsgütern um das Dreifache steigern. Jonas Scherner und Jochen Streb liefern für die rüstungswirtschaftlichen Kernsektoren der Luftrüstungs-, Pulver- und Munitionsindustrie eine Erklärung, die den Mythos eines von Speer initiierten Rationalisierungsbooms hinterfragt. Auf der Basis einer seriellen Auswertung von Wirtschaftsprüfungsberichten der Deutschen Revisions- und Treuhand AG gelingt es ihnen, die Ursachen für die Produktionssteigerung der Rüstungsgüterindustrie zu bestimmen. Dabei können sie zeigen, dass der Anstieg der Arbeitsproduktivität lange vor dem Amtsantritt Speers einsetzte. Speer profitierte von dem vorangegangenen Ausbau der Produktionskapazitäten, in dem nun Lerneffekte zu greifen begannen und die Produktivität rasch ansteigen ließen. Hinzu kamen als weitere Ursachen eine Erhöhung der Kapitalintensität und die Senkung der Fertigungstiefe. Bemerkenswerter Weise verweist gerade das „Rüstungswunder“ der deutschen Kriegswirtschaft auf die überragende Bedeutung von Wissen als unternehmerische Ressource. Lerneffekte durch Wissensübertragung innerhalb, zwischen und über die Betriebe einer Branche hinweg waren umso mehr von Bedeutung, als der massive Einsatz von Zwangsarbeitern das Qualifikationsprofil der Belegschaften drastisch veränderte. Wie kaum ein anderes Produkt der Rüstungstechnik basierte das Strahlflugzeug Heinkel He 162 von Beginn an und fast ausschließlich auf dem mas-

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senhaften Einsatz von Zwangsarbeit; und auch den Volksjäger umgibt bis heute der Mythos einer Wunderwaffe, die – wäre sie rechtzeitig massenhaft an die Front gekommen – den Ausgang des Zweiten Weltkrieges hätte verändern können. Daniel Uziel dekonstruiert diesen Mythos prekärer Erinnerungskultur und arbeitet die rüstungspolitischen sowie industriellen Rationalitäten des Volksjägers heraus. Das Design dieses Kleinstjägers, der rasch und vergleichsweise kostengünstig produziert werden konnte, entsprach den spezifischen Bedingungen der Rüstungswirtschaft in der Endphase des Krieges. Er verbrauchte vergleichsweise geringe Ressourcen an knappen Materialien. Vor allem aber wurde er nicht, wie in der Luftfahrtindustrie üblich, in Taktfertigung, sondern in Fließfertigung produziert. Die Fließfertigung ermöglichte es, massenhaft Zwangsarbeiter einzusetzen, ohne die Qualität des Endprodukts zu gefährden. Die Fließfertigung der He 162 lief in den Heinkel-Werken aber nicht entlang von Fließbändern ab, sondern sie wurde durch den Transport von Einzelteilen mittels Handkarren organisiert. Wie Lutz Budraß in seinem Kommentar mit Recht hervorhebt, manifestiert der Volksjäger die Anpassung der Fertigung in der Luftfahrtindustrie an die Häftlingsarbeit und damit auf ein Produktionsregime, das konstitutiv auf Zwangsarbeit und letztlich auf die Vernichtung von Arbeitskraft ausgerichtet war. Wie eng Rüstung und Zwangsarbeit in der zweiten Kriegshälfte miteinander verknüpft waren, zumal in den besetzen Gebieten des „Dritten Reiches“, zeigt auch der Beitrag über das Kabelwerk Krakau der AEG. Der Berliner Elektrokonzern orientierte sich, wie Thomas Irmer in seiner Fallstudie herausarbeitet, an dem marktorientierten Kriterium der Gewinnmaximierung einerseits und der politischen Zielsetzung der Ausweitung der Rüstungsproduktion andererseits. Die Betriebsleitung war darauf fixiert, die Produktion aufrechtzuerhalten und setzte dabei auch Hunderte von polnischen Jüdinnen und Juden ein. Im Unterschied etwa zu Oskar Schindler unternahm die AEG aber nichts, um diese nicht nur vorübergehend vor der Vernichtung in den Konzentrationslagern zu bewahren. Vielmehr operierte die Betriebsleitung im Rahmen des nationalsozialistischen Besatzungsregimes, und dies bedeutete letztlich, den politischen Primat der „rassischen“ Vernichtung zu akzeptieren. Zurück in das „Kernreich“ führt der Beitrag über die Trillke-Werke GmbH der Robert Bosch AG in Hildesheim. Mit dem Bau dieses Zweigwerkes hoffte der Stuttgarter Konzern an dem lukrativen Markt der elektrotechnischen Aggregate für Panzer und Artilleriezugfahrzeuge zu partizipieren. Stefan A. Oyen und Manfred Overesch arbeiten die durchaus hohen unternehmerischen Handlungsspielräume beim Aufbau und der Finanzierung dieses Werkes heraus. Vor allem aber untersuchen sie das Regime der Zwangsarbeit bei Bosch-Hildesheim, und damit in einem Unternehmen, dem die Forschung aufgrund der Zugehörigkeit von Unternehmensgründer Robert Bosch zu liberalen Oppositionskreisen eine tendenzielle Regimeferne attestiert hat.

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Dabei zeigt sich, dass Bosch in Hildesheim keineswegs gleichsam ungewollt in die Zwangsarbeiterbeschäftigung hineingeriet, sondern sich aktiv um die Zuweisung von Häftlingen bemühte. Wie zahlreiche andere Großunternehmen weitete auch Bosch die betrieblichen Sozialleistungen vor und während des Krieges erheblich aus, nicht zuletzt, um die Tradition einer familiär-patriarchalischen Unternehmenskultur zu stabilisieren. Die betriebliche Sozialpolitik zielt jedoch allein auf die deutsche Belegschaft, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter blieben ausgegrenzt. Das Regime der Zwangsarbeit bei Bosch in Hildesheim, so das Fazit von Oyen und Overesch, unterschied sich nicht von dem vergleichbarer Unternehmen der Region wie etwa Volkswagen. Von einem liberalen Bosch-Geist bekamen die Zwangsarbeiter in Hildesheim nichts zu spüren. Während die Luftfahrtindustrie seit einigen Jahren im Fokus der historischen Forschung steht, ist die Elektroindustrie vergleichsweise wenig ausgeleuchtet worden. Freilich mangelt es nicht an einem professionellen Interesse der Zunft, wie die Beiträge von Irmer und Oyen/Overesch zeigen. Vielmehr leidet die Forschung an einem restriktiven Zugang zu einschlägigen Quellenbeständen der Unternehmen. Paul Erker mahnt diesen Zugang in seinem Kommentar vehement an, schon im Interesse einer intersubjektiven Überprüfung von Publikationen des Genres der „Hausgeschichtsschreibung“, wie sie etwa im Falle von Siemens vorliegen. Ein Thema, dessen wissenschaftliche Behandlung in besonderer Weise von der Öffnung der Archive profitiert hat, ist die Auseinandersetzung mit dem Einsatz ausländischer Zwangsarbeiter in den Betrieben der deutschen Industrie. Constanze Werner hat in ihrem Beitrag die wesentlichen Ergebnisse ihrer Arbeit zur Zwangsarbeit bei BMW zusammengefasst. Es zeigte sich, dass der Flugmotorenhersteller BMW als Unternehmen von besonderer rüstungswirtschaftlicher Bedeutung Vorreiter im Einsatz von Zwangsarbeitern, insbesondere auch von KZ-Häftlingen war. Wenn das Unternehmen bei Behörden intervenierte, um die Arbeits- oder Lebensbedingungen der Zwangsarbeiter zu verbessern, dann hatte es meist Erfolg – nur intervenierte es eben nicht häufig. Im weiteren Kriegsverlauf schwächte das Unternehmen seine Verhandlungsposition gegenüber den Behörden, da es aufgrund innerer Streitigkeiten nicht geschlossen auftrat. Letztlich, so Werner, führte das zu einer Deformierung des BMW Managements, was die Skrupellosigkeit des Zwangsarbeitseinsatzes erkläre. Neben Untersuchungen aus Unternehmen haben auch lokale Fallstudien das Wissen um Ursachen und Umstände des Ausländereinsatzes bereichert. Elsbeth Bösl, Nicole Kramer und Stephanie Linsinger haben den Zwangsarbeitseinsatz im Landkreis München untersucht. Trotz der sehr disparaten Quellenlage lässt sich ein vielschichtiges Bild zeichnen, das denen ähnlich gelagerter Fallstudien entspricht. Einmal mehr zeigt sich, wie unterschiedlich die Arbeits- und Lebensbedingungen der Zwangsarbeiter waren. Durch den hier gewählten Zugriff wird deutlich, dass dies nicht einheitlichen regionalen Spezifika geschuldet war, sondern die Spielräume der jeweiligen Arbeitgeber

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unterstreicht, die von freundschaftlichen bis hin zu extrem ausbeuterischen Haltungen changierten. Unternehmer mit besonders großen Freiräumen waren die Bauern. Über die individuelle Komponente hinaus spielten hierbei religiöse Prägungen eine bedeutende Rolle, wie John J. Delaney in seinem Beitrag über polnische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in den katholischen Gegenden Bayerns zeigt. Für die Bauern waren viele nationalsozialistische Verhaltensrichtlinien kontraproduktiv. Sie beurteilten die polnischen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen nach ihrer Arbeitsleistung. Sie als Untermenschen zu behandeln verbat sich, da sie derselben Glaubensrichtung angehörten und ihren Glauben offensichtlich praktizierten. Diese Ergebnisse verweisen darauf, dass der nationalsozialistische Staat auf dem Land schon aus räumlichen Gründen Schwierigkeiten hatte, seinen absoluten Herrschaftsanspruch gegen den Willen der Bauern durchzusetzen. Auch französische Zwangsarbeiter konnten darauf hoffen, in katholischen Gebieten erträglichere Lebens- und Arbeitsbedingungen zu finden. Der Beitrag von Patrice Arnaud ist aber der weitaus größeren Gruppe französischer Zwangsarbeiter gewidmet, die in Industriebetrieben arbeiten mussten. Arnaud hat dafür neben den klassischen Quellen Memoiren ehemaliger Zwangsarbeiter ausgewertet. Er lenkt den Blick auf eine bislang unterschätzte Komponente des alltäglichen Umgangs zwischen Deutschen und Ausländern: die gemeinsame Arbeit. Sie konnte die (französischen) Ausländer integrieren und die Solidarität fördern, aber auch isolieren, wenn sie die geforderte Leistung nicht bringen konnten oder wollten und damit den Deutschen Mehrarbeit aufbürdeten. Die Arbeitsproduktivität steht auch bei Marc Buggeln im Zentrum seiner Untersuchung. In der trotz ihrer immensen rüstungswirtschaftlichen Bedeutung immer noch vergleichsweise wenig untersuchten Bauindustrie wurde in internen Schreiben im Herbst 1944 der Vorwurf des Menschenhandels in der Branche erhoben. Dabei handelte es sich jedoch keineswegs um ein Beispiel von gegen den Zwangsarbeitereinsatz gerichteter Zivilcourage, sondern um eine Auseinandersetzung um die finanzielle Abrechnung der Zwangsarbeiter einsetzenden Unternehmen gegenüber dem Auftraggeber, der Organisation Todt, wie Buggeln detailliert zeigt. Die kurz vor dem Krieg entstandene und mit dem „Dritten Reich“ untergegangene Organisation Todt ist nach wie vor eine der größten Unbekannten in der Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft. Die archivalische Überlieferung ist gering und die wenigen bekannten Bestände weit verstreut, da die OT ihre Bauprojekte zunehmend im deutsch besetzten Europa durchführte. Sie war dabei in besonderer Weise auf den Einsatz ausländischer Arbeiter angewiesen. Fabian Lemmes hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Arbeitseinsatz der OT in Frankreich und Italien nachzuzeichnen, zwei der bedeutendsten Arbeitsgebiete der OT. Dabei betont er den unterschiedlichen Charakter des Arbeitseinsatzes auf diesen beiden Schauplätzen gegenüber denen im be-

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setzten Ost- und Südosteuropa. Während man dort vollkommen willkürlich gegen die einheimische Bevölkerung vorging, legten die Dienststellen der OT in Frankreich und Italien bis zum Ende der Besatzung Wert darauf, Zwangsmaßnahmen durch eine Rechtsgrundlage zu legitimieren. Eine Zunahme der Radikalisierung des Arbeitseinsatzes und die damit einhergehende Verschärfung repressiver Maßnahmen hingen, so Lemmes, oft mit der raumzeitlichen Nähe zu Kampfmaßnahmen zusammen. Das gegenüber den Verhältnissen in Süd- und Westeuropa weitaus härtere Besatzungsregime in den besetzten Ostgebieten beschreibt Sergey A. Kizima in seinem Beitrag über jüdische Zwangsarbeit im Generalbezirk Weißruthenien. Die jüdische Bevölkerung wurde nicht wahllos ermordet, sondern je nach wirtschaftlichem Nutzen noch eine zeitlang zu Zwangsarbeit in Ghettos, Konzentrationslagern oder Judenarbeitskommandos herangezogen. Insbesondere die Qualifikationen der aus historischen Gründen in Weißrussland sehr zahlreichen jüdischen Handwerker waren für das Besatzungsregime kaum ersetzbar; deswegen wurden sie zunächst oft von Mordaktionen ausgenommen. In der zweiten Jahreshälfte 1943 wurden jedoch auch die meisten von ihnen ermordet. Die Papiere von Arnaud, Delaney und Kizima werden von Jürgen Zarusky kommentiert. Zarusky verweist auf die Ähnlichkeiten zwischen den von Delaney und Arnaud beschriebenen Fällen, in denen es den Nationalsozialisten nicht gelang, traditionelle solidarische Verhaltensweisen am Arbeitsplatz durch rassenideologische Verhaltensnormen zu verdrängen. Zarusky vermisst dabei geschlechtsspezifische Ergebnisse – schließlich waren unter den polnischen Arbeitern auf bayerischen Bauernhöfen auch viele Frauen und Mädchen. Schließlich ruft er in Erinnerung, dass die dynamische Dimension des Kriegsverlaufs eine gewichtige Rolle im Verhältnis der Deutschen zu den Ausländern spielte, wie insbesondere der von Kizima geschilderte Fall Weißrusslands zeigt. Die abschließenden Beiträge zur Erinnerungskultur können angesichts der zwischenzeitlich erfolgten Verbreiterung des Gedenkdiskurses und der Renaissance der Wiedergutmachungsdebatte seit Ende der 1990er Jahre kaum mehr als einen kursorischen Ausblick bieten. Dies gilt in besonderem Maß bei der Frage der Entschädigung für die Ausbeutung von Arbeitsressourcen durch das NS-Regime und die deutsche Wirtschaft. Stefan Rumpf konzentriert sich hier auf einen Spezialaspekt: die frühen Klagen ehemaliger deutscher Zwangsarbeiter gegen ihre seinerzeitigen Arbeitgeber und deren erfolgreiche Abwehr vor deutschen Gerichten. Anschaulich zeigt Rumpf, wie sehr eine diffuse Rechtslage (etwa bei den Verjährungsfristen) und die anhaltende Untätigkeit des Gesetzgebers, Klarheit in diesen Fragen zu schaffen, zu einer jahrzehntelangen Verweigerung von Entschädigungsansprüchen aus Zwangsarbeit führte. Interessant ist in diesem Zusammenhang die restriktive Haltung der Industrie, deren Interessenvertretungen nicht nur Lobbyarbeit auf politischer Ebene leisteten, sondern in den 1960er Jahren auch eine Art Solidari-

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tätsfonds einrichteten, der auf Entschädigung verklagte Unternehmen unterstützen sollte. Erst Ende der 1990er Jahre konnte der juristische Haftungsausschluss der deutschen Wirtschaft durch massiven außenpolitischen Druck korrigiert werden. Vergleichsweise spät – Mitte der 1980er Jahre – wurde das Verfolgungsschicksal der ausländischen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen zum Gegenstand historischer Forschung. Noch später erfolgte die Eingliederung der Thematik in die deutsche Erinnerungskultur. Am Beispiel Berlins fragt Cord Pagenstecher nach den Gründen für diese verspätete memoriale Reflexion und betrachtet die heterogenen Formen von deren aktueller Repräsentation. Dabei orientiert er sich an einer Phänomenologie topographisch-räumlicher Erinnerungsorte und untersucht Funktion, Zielsetzung und Wirkung von einschlägigen Museen, Erinnerungsstätten und Mahnmalen. Durch die Interpretation dieses sich stetig ausweitenden Spektrums von Erinnerungsorten akzentuiert Pagenstecher seine These, wonach vor allem lokales bzw. regionales zivilgesellschaftliches Engagement der Motor für den gedenkpolitischen Diskurs zum Thema Zwangsarbeit gewesen ist. Wenig ist bislang bekannt über die Besonderheiten und die Vielschichtigkeit der Erinnerungskultur außerhalb Deutschlands. Dies gilt in besonderem Maße für den Umgang mit Arbeitseinsatz und Zwangsrekrutierung. Rafael Spina versucht, für Frankreich diese Lücke zu schließen, indem er seinen Blick auf einen Zusammenschluss ehemaliger Zwangsarbeiter richtet, die Fédération Nationale des Victimes et Rescapés des Camps Nazis du Travail Forcé. Die bereits 1945 gegründete FNDT hatte allein schon aufgrund ihrer starken Mitgliederzahl (es war zeitweise die viertgrößte Interessengruppe des Landes) beträchtliches politisches Gewicht – zumindest in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg. In dieser Zeit prägte die FNDT als gedenkkultureller Monopolist an entscheidender Stelle die Koordinaten für den französischen Erinnerungskanon. Darüber hinaus definierte der Verband auch das nationale Geschichtsbild im Hinblick auf Deportation und Zwangsarbeit. Die Problematik, die mit einer derart meinungsprägenden geschichtspolitischen Deutungshoheit verbunden ist, wird von Spina ebenso wenig verschwiegen, wie die Tatsache, dass die FNDT angesichts eines über Jahrzehnte idealistisch verklärten Heldennarrativs in einem expliziten Anerkennungswettbewerb zur Résistance stand. Constantin Goschler, der diese Sektion kommentiert, erkennt in allen drei Beiträgen trotz heterogener Themenschwerpunkte ein verbindendes Element: die Formulierung eines normativen Anspruchs „wie die von ihnen gezeichneten Verhältnisse eigentlich sein sollten“. Dieses Postulat einer mehr oder weniger deutlich akzentuierten Verfahrens- bzw. Verhaltensethik hat seine Ursachen zweifellos in der starken Gegenwartsnähe und politisch brisanten Aktualität der jeweiligen Fragestellungen, geht es doch um die breite gesellschaftliche Anerkennung erlittener Gewalt und – daraus abgeleitet – auch um die juristische bzw. politische Anerkennung von materieller Kompensation.

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Die in mancherlei Hinsicht noch anhaltende Offenheit dieses Prozesses kollidiert mit der in allen drei Beiträgen angedeuteten Problematik des Übergangs vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis. Ob der Ansatz einer transgenerationellen Verlängerung der Erinnerungs- und Entschädigungspostulate tragfähig ist, ob die Übertragung von Forderungen der Überlebenden auf die Generation der Nachlebenden sinnvoll ist, muss am Ende offen bleiben.

Till Lorenzen

Unternehmerische Handlungsspielräume der Bayerischen Motoren Werke im Flugmotorenbau 1933–19401 Heute stehen die Bayerischen Motoren Werke (BMW) für Automobile und Motorräder des Premiumsegments. Gegründet wurde die Firma während des Ersten Weltkriegs jedoch als Flugmotorenhersteller. Das Unternehmen erweiterte seine Produktpalette im Jahre 1923 zunächst um den Motorradbau und stieg erst 1928 in den Automobilbau ein. Das unternehmenstragende Kerngeschäft von BMW blieb allerdings bis 1945 der Flugmotorenbau. Analog zu dieser Tatsache fokussiert der vorliegende Artikel ausschließlich auf den Flugmotoren- und Triebwerksbau.2 Mit dem Flugmotorenbau verband sich in den 1920er und 1930er Jahren der Aufstieg von BMW von einem mittelständischen Unternehmen zu einem der bedeutendsten deutschen Industrieunternehmen. BMW entwickelte sich ab 1926 schnell zu einem Schlüsselunternehmen für die staatlichen Bestrebungen, sowohl eine eigenständige zivile als auch eine militärische deutsche Luftfahrt aufzubauen. Hauptsächlich der Flugmotorenbau war es auch, der dem Unternehmen in den 1920er und vor allem den 1930er Jahren geradezu eine Explosion in der Belegschaftsentwicklung sowie im Umsatz bescherte.3 Die gewaltige Expansion des BMW Konzerns fand vor dem Zweiten Weltkrieg demnach überwiegend im – zur restlichen Industrie lange Zeit weitgehend abgeschotteten – Luftfahrtsektor statt. Durch die rüstungswirtschaftliche Bedeutung von Flugmotoren, die Schlüsselstellung einer eigenständigen Luftwaffe in den Aufrüstungsbestrebungen der Reichsbehörden sowie die eingeschränkte Zahl von einschlägigen Marktteilnehmern war der deutsche Luftfahrtmarkt in den Aufbau- und Expansionsjahren von BMW hoch politisiert. Über weite Strecken der 1920/30er Jahre waren die deutschen staat-

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Der Artikel basiert auf den Ergebnissen meiner Untersuchung: BMW als Flugmotorenhersteller 1926–1940. Staatliche Lenkungsmaßnahmen und unternehmerische Handlungsspielräume, München 2008. 2 Das ehemalige Kerngeschäft des Flugmotorenbaus wurde von 1960 bis 1965 schrittweise an die MAN übertragen, die es ihrerseits in die 1969 neu gegründete Motoren und Turbinen-Union München GmbH – die heutige MTU Aero Engines (MTU) – einbrachte. 3 Beschäftigte BMW 1926 1 080 Mitarbeiter, waren es 1942 bereits 47 423. 1926 erwirtschaftete das Unternehmen 9,1 Mio. RM Umsatz. 16 Jahre später setzte BMW mit 558,5 Mio. RM mehr als 60-mal so viel um. Vgl. Aufstellung der Belegschaftszahlen und der Unternehmensumsätze von 1924–1944 in der „Geschichte des BMW Konzerns“, in: BMW Group Archiv ( BMW Arch) UA 15.

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lichen Beschaffungsstellen die wichtigsten Abnehmer der BMW Flugmotoren.4 Daher war das Unternehmen in seinem Entstehen und seiner Entwicklung den jeweiligen ordnungspolitischen Bestrebungen der staatlichen Stellen und damit einer starken Politisierung unterworfen. Aufgrund dieser branchenspezifischen Rahmenbedingungen erscheint BMW als ein Unternehmen, bei dem man annehmen könnte, dass die behördliche Einflussnahme unter NS-Herrschaft besonders hoch war und dass Druck und Zwang in der Interaktion von Staat und Unternehmen eine besondere Rolle spielten. Immerhin ist die These, dass die Nationalsozialisten die makroökonomischen Rahmenbedingungen in Deutschland ab 1933 derart beeinflussten, dass zumindest den Rüstungsunternehmen prinzipiell nichts anderes übrig blieb, als sich den Wünschen des Regimes zu fügen, immer noch weit verbreitet.5 Firmen, die sich den staatlichen Vorgaben nicht fügten, mussten, so die These, mit Verstaatlichung oder Zwangsmaßnahmen rechnen. Dieses Szenario, das es im Folgenden zu prüfen gilt, würde bedeuten, dass die privatwirtschaftlichen Entscheidungsspielräume und Handlungsoptionen des BMW Konzerns durch die Machtposition der Reichsbehörden in den 1930er Jahren auf ein Minimum zusammengeschmolzen wären. Fakt ist, dass die neue Reichsregierung nach der Machtübernahme Anfang 1933 mit enormer Dynamik daran ging, den institutionell-politischen Rahmen des aus der Weimarer Zeit übernommenen Wirtschaftssystems zu verändern. Wenn viele Veränderungsansätze in der Praxis auch auf halbem Weg stecken blieben, hatten die zahlreichen Eingriffe in das privatwirtschaftliche System Ende der 1930er Jahre gleichwohl eine andere Wirtschaftsordnung geschaffen. Es war in weiten Bereichen eine Art Lenkungswirtschaft entstanden, die mit der Marktwirtschaft am Ende der 1920er Jahre nur noch wenig gemein hatte. Das NS-Regime schaffte die Privatwirtschaft zwar nicht ab. Es setzte jedoch dem wirtschaftlichen Handeln durch seinen ineffizienten, aber umfassenden Planungs- und Steuerungsanspruch neue Rahmenbedingungen. Am Beispiel des BMW Flugmotorenbaus soll in diesem Beitrag nun ausgelotet werden, welche Handlungsspielräume dem Management für eine eigenständige Unternehmenspolitik und die Entwicklung einer autonomen Kon4

So berichtete der BMW Vorstand beispielsweise am 30. 10. 1939 an den Beirat der GmbH-Werke des Konzerns, dass das Reichsluftfahrtministerium (RLM) 85%, die Deutsche Lufthansa (DLH) 5% und die Zellenwerke sowie ausländische Kunden 10% der BMW Flugmotoren bestellten und abnahmen. Der Anteil der Ausfuhren betrug für die Jahre 1937/38 durchschnittlich 1,5% und 1939 2,8%. Er war demnach im Großen und Ganzen unbedeutend. Vorstands-Bericht an den Beirat der GmbH-Werke des BMW Konzerns vom 30. 10. 1939, in: BMW Arch UA 16. Da das Ministerium durch seine finanzielle und politische Macht jedoch auch maßgeblichen Einfluss auf die DLH und die Flugzeugzellenfirmen ausübte, kontrollierten sie letztendlich fast den gesamten Flugmotorenabsatz der Bayerischen Motoren Werke. 5 Vgl. hierzu z. B. Peter Temin: Soviet and Nazi Economic Planing in the 1930s, in: Economic History Review 44 (1991), S. 573–593.

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zernstrategie unter den gegebenen politischen und materiellen Sachzwängen verblieben, und ob und wie das Management sie nutzte. Inwieweit veränderten sich die Rahmenbedingungen unternehmerischen Handelns für den BMW Flugmotorenbau? Wie verwandelten sich die unternehmerischen Handlungsspielräume in einer Firma, die von zunehmendem Interventionismus der Rüstungsbürokratie geprägt wurde? Welche Möglichkeiten verblieben dem BMW Management, die eigene Produktivität und Profitabilität sowie die eigene Strategiefähigkeit unabhängig vom staatlichen Regulierungsanspruch und -druck zu sichern? Der Beitrag konzentriert sich ganz bewusst auf die Resultate, die für die gesamte Flugmotorenindustrie der 1930er Jahre repräsentativ waren.6 Die unternehmerischen Aktivitäten und Interessenlagen sämtlicher Flugmotorenhersteller waren, wie wohl bei sonst nur wenigen anderen Unternehmen, durchgehend von den Zwängen und Handlungsspielräumen ihrer traditionell subventionsabhängigen Branche bestimmt.7 Die von der Branche her dominierte Position in der Rüstungswirtschaft ließ vielfach gleichförmige Interessenlagen entstehen und konfrontierte die jeweiligen Unternehmen zumindest mit weitgehend gleichartigen Handlungsspielräumen. Lediglich der JunkersKonzern nahm durch die Einbindung in die Steuerung der Luftrüstung von Anfang an eine Ausnahmestellung ein, die nicht repräsentativ war für die Zustände in der privatwirtschaftlichen Flugmotorenbau-Industrie.8 Auf die Frage nach den unternehmerischen Handlungsspielräumen der Bayerischen Motoren Werke in den Jahren 1933–19409 pauschal zu antworten, würde die Realitäten ungenau abbilden. Vielmehr zeigt eine detaillierte Untersuchung bei BMW, dass der Geschäftsführung in den verschiedenen Unternehmensbereichen sehr unterschiedliche Entscheidungsspielräume zur Verfügung standen. Außerdem trifft die oft angenommene lineare Entwicklung einer zunehmenden Einengung unternehmerischer Handlungsspielräume über die Jahre unter nationalsozialistischer Herrschaft hinweg bis hin 6

Als Vergleichsperspektive zu den Verhältnissen im BMW Flugmotorenbau fungieren mit Junkers ein reichsbeteiligtes Unternehmen, mit Daimler-Benz (DB) ein privatwirtschaftliches Unternehmen und mit den Mitteldeutschen Motorenwerken (Mimo) ein Nachbauunternehmen von Junkers-Motoren. 7 Vgl. Paul Erker: Industrieeliten in der NS-Zeit. Anpassungsbereitschaft und Eigeninteressen von Unternehmern in der Rüstungs- und Kriegswirtschaft 1936–1945, Passau 1993, S. 65. 8 Hinsichtlich der Abhängigkeiten und Zusammenarbeit des Junkers-Konzerns mit staatlichen Dienststellen vgl. v. a. Lutz Budraß: Flugzeugindustrie und Luftrüstung in Deutschland 1918–1945, Düsseldorf 1998. 9 Das Datum des Kriegsausbruchs 1939 ist für die Fragestellung der Arbeit weitgehend irrelevant, da sich im Verhältnis Staat – Unternehmen nur wenige Änderungen ergaben und der vom Reich geforderte Ausbau des BMW Konzerns unverändert anhielt. Erst die im Jahre 1940 vollzogene umfangreiche Umstrukturierung der Bayerischen Motoren Werke bildete unternehmensgeschichtlich einen deutlichen Schnitt, da die 1933 einsetzende dynamische Phase der Konzernerweiterungen mit dieser gesellschaftsrechtlichen Neuordnung vorerst sein Ende fand.

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zum weitgehenden Verlust betrieblicher Souveränität während des Krieges die Realitäten nicht wirklich. Im Flugmotorenbau war eher eine wellenartige Entwicklung zu konstatieren. Abhängig vom politischen und wirtschaftlichen Kontext griff das Reichsluftfahrtministerium mal weniger, mal mehr in die betrieblichen Handlungsspielräume der Firmen ein. Die Interaktion der Flugmotorenhersteller mit dem Reichsluftfahrtministerium (RLM) prägte in den 1930er Jahren eine paradoxe Situation. Einerseits blieben sowohl das Privateigentum an Produktionsmitteln als auch die unternehmerische Entscheidungsautonomie formal rechtlich unangetastet.10 Andererseits war die direkte Verfügungsgewalt der schon zeitgenössisch als „gelenkte Unternehmer“11 bezeichneten Industriellen über die Produktionsfaktoren jedoch stark eingeschränkt.12 Die Luftfahrtindustriellen mussten in den 1930er Jahren bei Auseinandersetzungen mit den staatlichen Dienststellen immer das Beispiel von Hugo Junkers vor Augen haben, den die RLM-Vertreter aufgrund seiner demonstrativ eigenständigen Unternehmensführung nicht nur entmachtet, sondern auch enteignet hatten.13 Dieses Ereignis mussten alle anderen Luftfahrtindustriellen fortan als implizite Drohung verstehen.14 10

Vgl. Werner Plumpe: Unternehmen im Nationalsozialismus. Eine Zwischenbilanz, in: Werner Abelshauser/Jan-Otmar Hesse/Werner Plumpe (Hg.): Wirtschaftsordnung, Staat und Unternehmen. Neue Forschung zur Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, Essen 2003, S. 244–266, hier S. 251. 11 Vgl. Josef Winschuh: Der gelenkte Unternehmer, in: Der praktische Betriebswirt 18 (1938), S. 547–551, hier S. 547 und Karl Seeliger: Der Unternehmer in der gelenkten Wirtschaft, Leipzig/Berlin 1941. 12 Zahlreiche Autoren haben auf diesen Umstand hingewiesen. Vgl. u. a. Avraham Barkai: Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus: Ideologie, Theorie, Politik 1933–1945, Frankfurt a. M. 1988, S. 230; Peter Temin: Soviet and Nazi Economic Planing in the 1930s, in: Economic History Review 44 (1991), S. 573–593; Richard J. Overy: War and Economy in the Third Reich, Oxford 1994, S. 106; Gerold Ambrosius: Staat und Wirtschaftsordnung. Eine Einführung in Theorie und Geschichte, Stuttgart 2001, S. 130; Peter Hayes: Industry under the Swastika, in: Harold James/Jakob Tanner (Hg.): Enterprise in the Period of Fascism in Europe, Aldershot 2002, S. 26–40, hier S. 30–32; Thomas Großbölting/Rüdiger Schmidt: Unternehmerwirtschaft in Deutschland zwischen 1930 und 1960 – Stand und Perspektiven der Forschung, in: Dies. (Hg.): Unternehmerwirtschaft zwischen Markt und Lenkung. Organisationsformen, politischer Einfluß und ökonomisches Verhalten 1930–1960, München 2002, S. 9–38, hier S. 15–16 und Michael von Prollius: Das Wirtschaftsystem der Nationalsozialisten 1933–1939. Steuerung durch emergente Organisation und Politische Prozesse, Paderborn 2003, S. 230. 13 Zum Konflikt zwischen Junkers und dem RLM vgl. unter anderem Lutz Budraß: Flugzeugindustrie und Luftrüstung in Deutschland 1918–1945, Düsseldorf 1998, S. 320–335; Ders.: Unternehmer im Nationalsozialismus: Der Sonderbevollmächtigte des Generalfeldmarschalls Göring für die Herstellung der Ju 88, in: Werner Plumpe/ Christian Kleinschmidt (Hg.): Unternehmen zwischen Markt und Macht. Aspekte deutscher Unternehmens- und Industriegeschichte im 20. Jahrhundert, Essen 1992, S. 74–89, hier S. 78. 14 Vgl. Thomas Großbölting/Rüdiger Schmidt: Unternehmerwirtschaft in Deutschland zwischen 1930 und 1960 – Stand und Perspektiven der Forschung, in: Dies. (Hg.): Un-

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Damit waren auch die Entscheidungsspielräume der Unternehmensführungen eingeengt, sei es, dass bestimmte Handlungsvarianten von den zuständigen Reichsbehörden verboten oder extrem restriktiv behandelt, sei es, dass erwünschte Handlungsweisen vom Regime ökonomisch prämiert wurden. BMW war somit bereits lange vor Beginn des Zweiten Weltkrieges Teil eines Systems der gelenkten Marktwirtschaft mit planwirtschaftlichen Elementen geworden. Durch Rationierungen und Kontingentierungen, durch ministerielle Vorgaben für das unternehmerische Handeln und durch das allmähliche Einfrieren der wirtschaftlichen Rechnungssysteme wie die Preisbildung wurde die Lenkungsfunktion des Marktes zunehmend außer Kraft gesetzt. Nach und nach war eine staatlich verwaltete und gelenkte Wirtschaft entstanden, die zum Teil tief in die unternehmerischen Belange eingriff.15 Der Schlüssel der staatlichen Dienststellen zur Einflussnahme auf die einzelnen Unternehmen der Flugmotorenbauindustrie war deren finanzielle Abhängigkeit.

Flugmotorenentwicklung nach 1933 Vor allem auf das operative Geschäft der einschlägigen Flugmotorenbau-Gesellschaften hatte das RLM große Einflussmöglichkeiten. Unternehmerische Handlungsspielräume hinsichtlich autonomer Entwicklungsentscheidungen blieben den Flugmotorenproduzenten unter der Herrschaft des RLM nur wenige. Da das Ministerium ab 1933 sämtliche Entwicklungsaufträge finanzierte, beanspruchten seine Vertreter in zunehmendem Maße richtungsweisenden Einfluss auf die grundsätzlichen Entwicklungslinien der BMW Entwicklungsabteilung. Die staatlichen Dienststellen forderten zwar auch weiterhin unternehmerische Eigeninitiative. Entwicklungstätigkeiten wurden unter dem Einfluss des RLM jedoch mehr und mehr zu einer Frage der militärischen Aufgabenstellung. Die RLM-Funktionäre beanspruchten in diesem Zusammenhang das letztendliche Entscheidungsmonopol16 und machten bereits 1933 unmissverständlich klar, dass sie Sonderwege und Partikularinteressen im Entwicklungssektor in Zukunft nicht mehr dulden würden.17 ternehmerwirtschaft zwischen Markt und Lenkung. Organisationsformen, politischer Einfluß und ökonomisches Verhalten 1930–1960, München 2002, S. 9–38, hier S. 15. 15 Vgl. Paul Erker: Einleitung: Industrieeliten im 20. Jahrhundert, in: Ders./Toni Pierenkemper (Hg.): Deutsche Unternehmer zwischen Kriegswirtschaft und Wiederaufbau. Studien zur Erfahrungsbilanz von Industrie-Eliten, München 1999, S. 1–18, hier S. 4–5. 16 Vgl. Schreiben Junck, Entwicklungsabteilung des Technischen Amtes an Rudolf Stüssel, Deutsche Lufthansa, vom 21. 10. 1937, in: Daimler AG-Arch Kissel 9.34 Behörden und Institutionen. 17 Als sich Hugo Junkers mit seiner Weigerung, am staatlich angeordneten Austausch firmeneigener Wissens- und Erfahrungsbestände teilzunehmen, explizit gegen die

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Auch BMW bekam die Machtposition des RLM zu spüren. Die unzureichende Leistung der BMW Flugmotoren in deutschen Kampfflugzeugen während des Spanischen Bürgerkriegs veranlasste die Ministeriumsvertreter, einen Personalwechsel innerhalb der Flugmotoren-Entwicklungsabteilung des Münchener Unternehmens zu erzwingen. Der BMW Chefentwickler Friz wurde im September 1937 als Sündenbock für allgemeine Fehlentwicklungen in der Entwicklungsabteilung abgesetzt und in das Eisenacher Zweigwerk von BMW abgeschoben.18 Entwicklungsaktivitäten standen unter der Ägide des RLM ausschließlich unter unmittelbarem Verwertungsvorbehalt der staatlichen Geldgeber. Die Machtposition des RLM als Monopsonist veranlasste die meisten Flugmotorenindustriellen, ihre Entwicklungsplanungen mit den Ansichten der RLMVerantwortlichen in Einklang zu bringen. Beispielsweise entschieden letztendlich Reichsluftfahrtminister Göring und Generalluftzeugmeister Udet und nicht der BMW Vorstand, dass das Münchener Unternehmen seine Entwicklungsaktivitäten ab Ende 1936 von der flüssigkeits- auf die luftgekühlte Flugmotorentechnologie umstellen sollte und sich in Zukunft ausschließlich auf den Bau luftgekühlter Motoren beschränken musste.19 Durch das vom Technischen Amt im RLM praktizierte Prinzip der Parallelentwicklungen20 besaß das Ministerium nicht nur monetäre Anreiz- und Sanktionsmittel gegenüber den Flugmotorenherstellern, sondern auch die glaubwürdige Drohung mit den Entwicklungsfortschritten der innerdeutRüstungsagenturen stellte, erzwang das RLM nicht nur die Patentübertragung von Junkers, sondern betrieb auch seine Enteignung und übernahm die Mehrheitsanteile des Junkers-Konzerns. Zum Konflikt um den Patentpool vgl. Lutz Budraß: Zwischen Unternehmen und Luftwaffe. Die Luftfahrtforschung im „Dritten Reich“, in: Helmut Maier (Hg.): Rüstungsforschung im Nationalsozialismus. Organisation, Mobilisierung und Entgrenzung der Technikwissenschaften, Göttingen 2002, S. 142–182, hier S. 155ff. 18 Vgl. Sonderprotokoll über die interne Aufsichtsrats-Sitzung (AR-Sitzung) der BMW AG am 22. 09. 1937, in: Bundesarchiv Berlin (BArch) R 8119 F/P 3075, Bl. 214–216, hier Bl. 216. 19 Vgl. Bericht Geschichte des BMW Konzerns (o. D., wahrscheinlich 1943), in: BMW Arch UA 2, S. 1–29, hier S. 21. Ähnlich weitgehende Richtungsentscheidungen trafen die RLM-Ingenieure auch bei anderen deutschen Flugmotorenbauern wie z. B. den Mitteldeutschen Motorenwerken. Vgl. hierzu Peter Kohl/Peter Bessel: Auto Union und Junkers. Die Geschichte der Mitteldeutschen Motorenwerke GmbH Taucha 1935–1948, Stuttgart 2003. 20 Das RLM verfolgte bei Entwicklungsarbeiten das Konkurrenzprinzip, d. h. Aufträge für ein Projekt wurden in der Regel an zwei oder auch mehr Firmen gleichzeitig vergeben – bei leistungsstarken Reihenmotoren waren es insbesondere Junkers und Daimler-Benz, bei luftgekühlten Sternmotoren BMW und Siemens. Vgl. Kyrill von Gersdorff/Kurt Grasmann: Flugmotoren und Strahltriebwerke. Entwicklungsgeschichte der deutschen Luftfahrtantriebe von den Anfängen bis zu den europäischen Gemeinschaftsentwicklungen, München 1981, S. 43 und Peter Kohl/Peter Bessel: Auto Union und Junkers. Die Geschichte der Mitteldeutschen Motorenwerke GmbH Taucha 1935–1948, Stuttgart 2003, S. 64.

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schen Konkurrenten. Wichen die Betriebe mit ihren Konstruktionen von den Vorgaben des Ministeriums ab, mussten sie nicht nur damit rechnen, aus den militärischen Beschaffungsplänen gestrichen und gegenüber den Konkurrenzunternehmen benachteiligt zu werden. Es drohte ihnen im schlimmsten Fall sogar die zwangsweise Degradierung zur Lizenzfabrik.

Produktionsplanungen Das RLM hatte den radikalen Anspruch, analog zum Entwicklungssektor die gesamte Produktionsplanung der Flugmotorenindustrie in eigener Regie zu bestimmen. Sowohl die staatlichen als auch die unternehmerischen Produktionsplanungen standen nach 1933 unter der vom RLM definierten Maxime, dass der Staat die Aufgaben stellte, die von den Unternehmen gelöst werden mussten.21 Dementsprechend verplante die Beschaffungsstelle des RLM die formell privatwirtschaftlichen Unternehmen wie staatseigene Betriebe.22 Dabei glaubten die ministeriellen Entscheidungsträger mit Hermann Göring und Erhard Milch an der Spitze, mit dem Mittel der rüstungswirtschaftlichen Großplanungen die für den Aufbau der Luftwaffe notwendigen Produktionsstückzahlen schneller und effizienter erreichen zu können, als es durch die Konkurrenz freier Industrieunternehmen möglich gewesen wäre. Die Einbindung der Industrie in die Luftrüstung funktionierte vor allem über die zentrale Vergabe von sogenannten Projektierungs- und Mobilmachungsaufgaben.23 Darin bekamen die Firmen vom RLM detaillierte Planvorgaben, die sich an den Planungen der militärischen Stäbe der Luftwaffe und nicht an den Interessen der Unternehmensvorstände orientierten. Dadurch wurde das Prinzip der freien Entscheidung über eigene unternehmerische Produktionsziele seitens der Privatwirtschaft weitgehend außer Kraft gesetzt. So entschied die Beschaffungsstelle des Technischen Amtes an Stelle der BMW Geschäftsleitung, wie viele Flugmotoren welchen Typs bis wann zu fertigen waren, und wem und zu welchen Bedingungen Lizenzen vergeben wurden. Die vom RLM aufgestellte industrielle Großplanung war für die Unternehmen verbindlich. Wollten die einzelnen Firmen im Geschäft bleiben, waren die ihnen vom RLM übermittelten Produktionspläne keine Vertragsangebote, sondern eher verbindliche Vorgaben. Von der Industrie wurde erwartet, dass sie den Produktionsanweisungen der Militärbehörden wie militärischen 21

Vgl. hierzu z. B. die Rede des Präsidenten der Münchener Industrie- und Handelskammer, Albert Pietzsch, auf dem Tag der Wirtschaft in München am 14. 11. 1941, in: Bayerische Wirtschaftszeitung, Amtliches Organ der Wirtschaftskammer Bayern, 71. Jg., Nr. 24 vom 26. 11. 1941. 22 Vgl. Einleitung des Industrieausbauplans im RLM, den Industrierüstungsgrundlagen 01. 04. 1938, in: Bundesarchiv Militärarchiv Freiburg (BA-MA) RL 3/2449. 23 Vgl. z. B. die Projektierungsaufgabe des RLM für den Flugmotorenbau der BMW München vom 28. 06. 1934, in: BA-MA RH 8 I/942.

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Befehlen widerspruchslos und prompt nachkam.24 Andernfalls drohten staatliche Sanktionen. Praktisch galt im Produktionsbereich, dass nur eine Entscheidung im Sinne des Regimes die Bestandswahrung bzw. den Profit eines Unternehmens sicherte. Die Projektierungs- und Mobilmachungsaufgaben zogen für die Bayerischen Motoren Werke nicht nur eine weitgehende Offenlegung der Betriebsverhältnisse nach sich.25 Mit ihnen reglementierte das RLM sogar die Fertigungstiefe des Flugmotorenherstellers, was einen tiefen Eingriff in die Unternehmensautonomie bedeutete. Die Flugmotorenfabrikanten hatten Handlungsspielräume im Hinblick auf ihre Produktion im Wesentlichen nur noch im Binnenverhältnis der Betriebe, hauptsächlich hinsichtlich der wirtschaftlichen Organisation und Führung der eigenen Werke. Autonome privatwirtschaftliche Produktionsentscheidungen waren für das BMW Management in den 1930er Jahren äußerst schwierig geworden. Den Flugmotorenbauern blieb, im Rahmen eng begrenzter personeller und materieller Kapazitäten eine möglichst akkurate Planerfüllung anzustreben, um über die so geschaffene Vertrauensbasis zum RLM neue Aufträge zu akquirieren.26

Kontingentierungen von Rohstoffen, Zulieferbetrieben und Arbeitskräften Auch die Abhängigkeit der Unternehmen bei der Zuteilung von Rohstoffen, Zulieferbetrieben und Arbeitskräften dokumentiert, in welchem Umfang die Verfügungsgewalt der Industriellen über die Produktionsmittel beschnitten worden und wie eng die unternehmerischen Handlungsspielräume in wichtigen Bereichen geworden waren. Auch wenn die Flugmotorenfabrikanten aufgrund ihrer Sonderstellung als Luftrüstungskonzerne und ihres Engpassprodukts Flugmotoren in allen drei Bereichen wesentlich besser versorgt wurden als andere wichtige Industrieunternehmen, so war doch das unternehmerische Tagesgeschäft der Firmen zunehmend beherrscht von den ständigen Spannungen zwischen ihrem Bedarf und den jeweiligen Deckungsmöglichkeiten. Trotz vielfältiger institutioneller staatlicher Maßnahmen handelte es sich in der Rohstoffbewirtschaftung bis in den Krieg hinein um ständige Engpassplanungen, die einen stark provisorischen Charakter hatten.27 Die Vorstellung, es habe eine strikte Rohstoffplanung gegeben, ist somit falsch. Praktisch lag die Initiative zunächst bei den einzelnen Unternehmen. Die Überwa24

Vgl. Lutz Budraß: Flugzeugindustrie und Luftrüstung in Deutschland 1918–1945, Düsseldorf 1998, S. 354. 25 Vgl. ebd., S. 348. 26 Vgl. Protokoll der Beiratssitzung der BMW Flugmotorenbau GmbH vom 21. 09. 1938, in: BArch R 8119 F/P 3151, Bl. 27. 27 Gerold Ambrosius: Staat und Wirtschaftsordnung. Eine Einführung in Theorie und Geschichte, Stuttgart 2001, S. 134.

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chungsstellen schlossen anfangs lediglich bestimmte Verwendungsmöglichkeiten aus, legten jedoch keine bestimmte Verarbeitung der Rohstoffe fest. Die Rohstofflenkung erfolgte bis 1936 dementsprechend nur indirekt.28 Seit der Jahreswende 1935/36 begann sich die Versorgung vor allem der metallverarbeitenden Industrie insbesondere mit für den Flugmotorenbau wichtigen nichtedlen Metallen rasch zu verschlechtern.29 Zunehmend waren daher auch die Flugmotorenwerke gezwungen, auf ihre Materialvorräte zurückzugreifen, so dass zum Teil bereits ab 1936 keine nennenswerten Lagerbestände mehr vorhanden waren.30 Der Vierjahresplan des Jahres 1936 rückte dann die güterwirtschaftliche Zuteilung in den Mittelpunkt der staatlichen Rohstofflenkung. Die sukzessive Einschränkung der unternehmerischen Bewegungsfreiheit auf dem Rohstoffsektor ging mit einer für die einzelnen Unternehmen lästigen Ausbreitung der Wirtschaftsbürokratie einher.31 Die Tatsache, dass die einzelnen Rohstoffe von verschiedenen Dienststellen zentral bewirtschaftet wurden, führte vielfach auch dazu, dass die einzelnen Zuteilungen nicht aufeinander abgestimmt waren. Die Folge davon war, dass selbst Unternehmen, die ein Kontingent zugewiesen erhielten, dieses häufig nicht verarbeiten konnten, da ihnen andere Rohstoffe fehlten.32 Durch die Kontingentierungen gelang es letztendlich nicht, die Roh- und Werkstoffsituation der Flugmotorenbauer grundlegend zu verbessern, da die staatlichen Maßnahmen oft erst dann einsetzten, wenn sich für ein bestimmtes Material größere Schwierigkeiten ergaben.33 Analog zur staatlichen Kontingentierung der Rohstoffe bestimmte das RLM auch die Handlungsspielräume der Bayerischen Motoren Werke im 28

Vgl. Willi A. Boelcke: Die deutsche Wirtschaft 1930–45. Interna des Reichswirtschaftsministeriums, Düsseldorf 1983; Fritz Blaich: Die bayerische Industrie 1933–1939. Elemente von Gleichschaltung, Konformismus und Selbstbehauptung, in: Martin Broszat/Elke Fröhlich (Hg.): Bayern in der NS-Zeit II. Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt. Teil A, München/Wien 1979, S. 237–281, hier S. 253 und Ludolf Herbst: Nationalsozialistische Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, in: Bernd Sösemann (Hg.): Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft. Einführung und Überblick, Stuttgart 2002, S. 172–187, hier S. 180. 29 Vgl. z. B. Denkschrift des Bayerischen Staatsministeriums für Wirtschaft (MWi) „Zur Lage der Bayerischen Industrie Anfang Juni 1936“ vom 20. 06. 1936, in: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (BayHStA) MWi 5638, S. 1–38, hier S. 19. 30 Vgl. Schreiben des Technischen Amtes im RLM an das Luftkommandoamt vom 25. 08. 1936, in: BA-MA RL 3/938, Bl. 207. 31 Vgl. Fritz Blaich: Die bayerische Industrie 1933–1939. Elemente von Gleichschaltung, Konformismus und Selbstbehauptung, in: Martin Broszat/Elke Fröhlich (Hg.): Bayern in der NS-Zeit II. Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt. Teil A, München/ Wien 1979, S. 237–281, hier S. 253 und 258. 32 Vgl. Schreiben Karl Schlumprecht, MWi, an den Generalbevollmächtigten (GBV) für die Wirtschaft vom 08. 12. 1939, in: BayHStA MWi 5843. 33 Vgl. die Denkschrift „Der Zwang zur unwirtschaftlichen Betriebsführung in der Luftfahrtindustrie“ von Seiler, Bayerische Flugwerke AG (BFW), vom Ende Febr. 1937, in: BA-MA RL 3/2320, Bl. 177–192, hier Bl. 191.

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Hinblick auf ihre Zulieferfirmen. Die Beschaffungsabteilung des Ministeriums griff ab 1934 aktiv in die Beziehungen des Flugmotorenherstellers zu seinen Lieferanten ein und schrieb Letztere zum Teil sogar konkret vor.34 Insgesamt gelang es den nationalsozialistischen Rüstungsdienststellen bis 1945 jedoch auch durch die Reglementierungen im Zulieferbereich nicht, die Versorgungsprobleme bei den wichtigsten Zulieferteilen der Flugmotorenindustrie, wie z. B. Kurbelwellen und Vergasern, in den Griff zu bekommen, was bei allen Flugmotorenfirmen erhebliche Schwierigkeiten der Programmerfüllung verursachte.35 Trotz vielfältiger arbeitsmarktpolitischer Regularien der NS-Führung36 konnte auch das große Arbeitskräftedefizit der 1930er und 1940er Jahre nicht abgebaut werden. Bereits Ende 1934 traten insbesondere in der Metallindustrie und in der Bauwirtschaft erste personelle Engpässe auf. Wie alle anderen Unternehmen der Luftfahrtindustrie war auch BMW von der Verknappung auf dem Arbeitskräftesektor und vom verstärkt einsetzenden „ungeregelten Wettbewerb“37 um qualifizierte Fachkräfte betroffen. Spätestens ab 1936 herrschte in der Flugmotorenindustrie ein dramatischer Mangel an Ingenieuren und hochqualifizierten Facharbeitern vor. Seit Erreichen der Vollbeschäftigung in Deutschland machte sich stark bemerkbar, dass die vergleichsweise junge Flugmotoren-Branche in den wirtschaftlich schwierigen Zeiten seit ihrem Bestehen kaum Stammbelegschaften hatte aufbauen können. Letztendlich traten alle Flugmotorenkonzerne aufgrund der Überspannung der Kapazitäten der deutschen Rüstung in den letzten Vorkriegsjahren mit einem erheblichen ungedeckten Fehlbedarf an Arbeitskräften in den Krieg ein. Das Beschaffen von Rohstoffen, Zulieferteilen und Arbeitskräften verursachte den Firmen erhebliche unproduktive Kosten und Zeitverluste. Das staatliche Kontingentierungs- und Bewirtschaftungssystem lief in diesen Bereichen überdies auf ein indirektes Produktionsverbot hinaus, da für unerwünschte Fertigungen keine Mittel vom Staat zur Verfügung gestellt wur34

Vgl. Schreiben Popp an Udet vom 22. 07. 1937, in: BMW Arch UA 368. Vgl. hierzu auch Neil Gregor: Stern und Hakenkreuz. Daimler-Benz im Dritten Reich, Berlin 1997, S. 105 und 168 und Peter Kohl/Peter Bessel: Auto Union und Junkers. Die Geschichte der Mitteldeutschen Motorenwerke GmbH Taucha 1935–1948, Stuttgart 2003, S. 29. 36 Vgl. hierzu u. a. Andreas Kranig: Lockung und Zwang. Zur Arbeitsverfassung im Dritten Reich, Stuttgart 1983; Ders.: Arbeitnehmer, Arbeitsbeziehungen und Sozialpolitik unter dem Nationalsozialismus, in: Karl-Dietrich Bracher/Manfred Funke/ Hans-Adolf Jacobsen (Hg.): Deutschland 1933–1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 1992, S. 135–152; Ulrich Herbert: Arbeiterschaft im „Dritten Reich“. Zwischenbilanz und offene Fragen, in: Geschichte und Gesellschaft 15 (1989), S. 320–360 und Timothy W. Mason: Sozialpolitik im Dritten Reich. Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, Opladen 1977. 37 Der Begriff stammt aus einem Schreiben von Hjalmar Schacht an Hermann Göring vom 05. 08. 1937. Zitiert nach: Lutz Budraß: Flugzeugindustrie und Luftrüstung in Deutschland 1918–1945, Düsseldorf 1998, S. 481. 35

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den.38 Vor allem Unternehmer, die auf einem solch politisierten Absatzmarkt wie der Flugmotorenindustrie agierten, mussten daher schon im eigenen Interesse die vom Staat gewünschte Verwendung anstreben. Das bedeutet, die allgemeine Mangelsituation und die damit einhergehende Kontingentierung zwangen die unternehmerischen Aktivitäten in eine bestimmte Richtung, ohne ausdrücklich Gebot zu sein.

Grenzen der staatlichen Lenkungsmaßnahmen Sowohl der Rohstoff- als auch der Arbeitskräftesektor offenbarten jedoch auch, dass die staatlichen Dienststellen mit ihrem allumfassenden Lenkungsanspruch weitgehend scheiterten und dass sich den Industriellen dadurch Bewegungsspielräume eröffneten. Die Unternehmen traten in einen harten Konkurrenzkampf mit anderen Bedarfsträgern um unter anderem Rohstoffe und Arbeitskräfte. Wie alle Firmen der Flugmotorenindustrie meldete auch BMW beispielsweise deutlich überhöhte Rohstoffkontingente an, um wenigstens die wichtigsten Lieferungen zu erhalten.39 Außerdem waren in der Branche die seit 1933 steigenden Effektivlöhne nur zu einem Teil auf echte Leistungssteigerungen der Belegschaften zurückzuführen. Sie spiegelten in erster Linie den Kampf der Arbeitgeber um qualifizierte Arbeitskräfte, den vor allem die Rüstungsunternehmen mit verdeckten Lohnerhöhungen führten.40 Hoch bezahlte Überstunden, Sonn- und Feiertagsarbeit sowie hohe Akkordprämien boten den Bayerischen Motoren Werken relativ große Handlungsspielräume hinsichtlich der betrieblich festgesetzten Löhne. Alle Flugmotorenfabrikanten lockerten das starre System der Tarifordnung spätestens ab Mitte der 1930er Jahre durch hohe Leistungszulagen zunehmend auf und lockten so zusätzliche Arbeitskräfte in die Konzerne. Zunehmend operierten die Industriellen auch mit der systematischen Gewährung von geldwerten Leistungen im weiten Bereich der betrieblichen Sozialleistungen.41 Auffällig ist, dass fast alle diese Maßnahmen des betrieblichen Sozialwesens bei BMW und anderen Unternehmen vor allem in der zweiten Hälfte 38

Vgl. Dietmar Petzina: Der Nationalsozialistische Vierjahresplan von 1936. Entstehung, Verlauf, Wirkungen, Mannheim 1965, S. 240. 39 Vgl. hierzu z. B. Niederschrift der Unterredung zwischen Roeder und Siegler im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) am 03. und 04. 12. 1951, in: IfZ Db 68.18 und Bericht Oberkriegsgerichtsrat Roeder über die Untersuchung aus Anlass des Selbstmordes von Udet im Jahr 1942 vom 27. 06. 1947, in: BA-MA N 179/60, S. 1–9, hier S. 8. 40 Vgl. hierzu Fritz Blaich: Wirtschaft und Rüstung in Deutschland 1933–1939, in: Karl-Dietrich Bracher/Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobsen (Hg.): Nationalsozialistische Diktatur 1933–1945. Eine Bilanz, Bonn 1986, S. 285–316, hier S. 293. 41 Vgl. Avraham Barkai: Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus: Ideologie, Theorie, Politik 1933–1945, Frankfurt a. M. 1988, S. 215 und Rüdiger Hachtmann: Industriearbeit im Dritten Reich. Untersuchungen zu den Lohn- und Arbeitsbedingungen 1933–1945, Göttingen 1989, S. 254–301.

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der 1930er Jahre, d. h. nach Erreichen der Vollbeschäftigung in Deutschland, eingeführt wurden. Dies verdeutlicht, dass es einen engen Zusammenhang zwischen diesen Leistungen und den Bemühungen der Unternehmensleitungen um eine systematische Arbeitskräfterekrutierung gab. Die Folge war eine konstante Abwanderung der Arbeitskräfte zu den besser zahlenden Branchen wie der Metall- und Luftfahrtindustrie. Die Entwicklung der steigenden Effektivlöhne in der Flugmotorenbau-Industrie konnte das NS-Regime auch durch den staatlich verordneten Lohnstopp42 nicht verhindern. Das RLM konnte die Firmen zwar in isolierten Fällen zu Lohnsenkungen zwingen. Die Kontroll- und Überwachungsmechanismen des RLM blieben jedoch angesichts der vom weit verbreiteten Facharbeitermangel entfachten Dynamik der indirekten Lohnerhöhungsstrategien der Unternehmen weitgehend wirkungslos. Dies verdeutlicht, dass den Konzernvorständen in Bezug auf die Lohngestaltung auch unter NS-Herrschaft relativ große autonome Entscheidungs- und Handlungsspielräume zur Verfügung standen. Um die Beziehung des BMW Konzerns zum RLM in den 1930er Jahren beurteilen zu können, ist es wichtig zu betonen, dass staatlicher Zwang bei der prinzipiellen Partizipation des Unternehmens am Rüstungsgeschäft allenfalls eine untergeordnete Rolle spielte. Das NS-Regime setzte in seiner Wirtschaftspolitik zunächst weniger auf die Ausübung von Macht und Gewalt als vielmehr auf Anreize, indem es das privatwirtschaftliche Gewinnmotiv und den Wettbewerb unter den Unternehmen für seine Zwecke zu instrumentalisieren verstand. BMW partizipierte bereitwillig am 1933 einsetzenden Rüstungsgeschäft, um im großen Stil von den lukrativen staatlichen Aufträgen zu profitieren und dadurch Umsatzzuwächse und Gewinne zu realisieren.43 Vor allem in den ersten Jahren nach dem politischen Machtwechsel 1933 verliefen 42

Vgl. Reichsgesetzblatt (RGBl.) 1938 I, S. 691. Vgl. auch Fritz Blaich: Wirtschaft und Rüstung in Deutschland 1933–1939, in: Karl-Dietrich Bracher/Manfred Funke/HansAdolf Jacobsen (Hg.): Nationalsozialistische Diktatur 1933–1945. Eine Bilanz, Bonn 1986, S. 285–316, hier S. 294 und Gerold Ambrosius: Staat und Wirtschaftsordnung. Eine Einführung in Theorie und Geschichte, Stuttgart 2001, S. 136. 43 Vgl. hierzu auch Paul Erker: Industrieeliten in der NS-Zeit. Anpassungsbereitschaft und Eigeninteressen von Unternehmern in der Rüstungs- und Kriegswirtschaft 1936–1945, Passau 1993, S. 7; Ders.: Einleitung: Industrieeliten im 20. Jahrhundert, in: Ders./Toni Pierenkemper (Hg.): Deutsche Unternehmer zwischen Kriegswirtschaft und Wiederaufbau. Studien zur Erfahrungsbilanz von Industrie-Eliten, München 1999, S. 1–18, hier S. 4; Thomas Großbölting/Rüdiger Schmidt: Unternehmerwirtschaft in Deutschland zwischen 1930 und 1960 – Stand und Perspektiven der Forschung, in: Dies. (Hg.): Unternehmerwirtschaft zwischen Markt und Lenkung. Organisationsformen, politischer Einfluß und ökonomisches Verhalten 1930–1960, München 2002, S. 9–38, hier S. 23 und Astrid Gehrig: Zwischen Betriebsinteressen und Lenkungswirtschaft: Drei mittelständische Unternehmer im „Dritten Reich“, in: Thomas Großbölting/Rüdiger Schmidt (Hg.): Unternehmerwirtschaft zwischen Markt und Lenkung. Organisationsformen, politischer Einfluß und ökonomisches Verhalten 1930–1960, München 2002, S. 69–118, hier S. 72.

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die Produktionsinteressen des Staates und die Profitinteressen der Industrie zunächst weitgehend parallel. Nicht umsonst entwickelten sich die Bayerischen Motoren Werke durch die Dynamik des staatlichen Rüstungsbooms in nur wenigen Jahren von einem kleinen mittelständischen Flugmotorenbau-Betrieb zu einem international agierenden, gesellschaftsrechtlich und geographisch stark diversifizierten Konzernverbund – aufgeschlüsselt in die BMW AG als Holdinggesellschaft, drei Flugmotorenbau GmbHs und zahlreiche Standorte.

Privatwirtschaftliche Selbstständigkeit in der strategischen Unternehmensplanung Die Entwicklung der BMW Konzernstruktur zeigt, dass es im Rahmen der vorgegebenen Koordinaten der NS-Wirtschaftspolitik hinsichtlich der Investitionsentscheidungen der einzelnen Unternehmen durchaus individuelle Spielräume für eine eigenständige Unternehmenspolitik gab. Innerhalb der durch die vielen staatlichen Regulierungen geschaffenen neuen Rahmenbedingungen traf die BMW Konzernleitung soweit möglich eigenständige Entscheidungen und verhielt sich weitgehend privatwirtschaftlich. Das RLM setzte das ökonomische Rationalitätskalkül der gewinnorientiert agierenden Flugmotorenhersteller weder mit einem strikten Investitionsverbot noch mit einem direkten Investitionszwang außer Kraft.44 In diesem Zusammenhang ist interessant, dass der BMW Vorstand die staatlich initiierte Rüstungskonjunktur wie im Übrigen die Mehrzahl der Flugmotorenhersteller nicht nur mit Begeisterung aufnahm. Verschiedene Gründe nährten ihre Skepsis. Die Luftfahrtindustrie war bis 1933 mit ihrem begrenzten mittelständischen Leistungsvermögen und ihrer schmalen Kapitalbasis in ihren unternehmenspolitischen Konzepten stark eingeschränkt. Ab 1933 wurde plötzlich eine regelrechte Explosion der Produktionskapazitäten gefordert, die über Jahre hinweg erhebliche Kräfte band, neue Risiken hinsichtlich der künftigen kontinuierlichen Auslastung der vergrößerten Kapazitäten befürchten und schwerwiegende, bisher unbekannte Staatseingriffe in die unternehmerische Entscheidungsfreiheit ahnen ließ. Einem Aufschwung, der einzig und allein durch einen interventionistischen Staat initiiert wurde, trauten viele Industrielle nicht.45 Der BMW Generaldirektor Popp fürchtete spätestens ab der zweiten Hälfte der 1930er Jahre die Zeit, wenn der Staat seine großen Aufträ44

Vgl. Christoph Buchheim/Jonas Scherner: Anmerkungen zum Wirtschaftssystem des „Drittes Reichs“, in: Werner Abelshauser/Jan-Otmar Hesse/Werner Plumpe (Hg.): Wirtschaftsordnung, Staat und Unternehmen. Neue Forschung zur Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, Essen 2003, S. 81–97, hier S. 88. 45 Vgl. Christoph Buchheim: The Upswing of German Industry in the Thirties, in: Ders./Redvers Garside (Hg.): After the Slump. Industry and Politics in the 1930s Britain and Germany, Frankfurt a. M. 2000, S. 33–52, hier S. 49.

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ge zurückschrauben würde. Er war sich im Klaren darüber, dass die große staatliche Nachfrage früher oder später allein aus finanziellen Gründen ihre Grenzen erreichen würde. Dementsprechend setzte die BMW Unternehmensleitung mit ihrer Erweiterungsstrategie auch nicht nur die staatlichen Forderungen um. Vielmehr gestalteten die BMW Verantwortlichen die Bedingungen aktiv mit, unter denen sie schließlich bereit waren, den Wünschen des Regimes zumindest in Teilen nachzukommen. Dabei agierten sie aus Angst vor Überkapazitäten nach dem erwarteten Ende des Rüstungsbooms sehr bedächtig im Hinblick auf Erweiterungsinvestitionen. Je weiter die Wünsche und Forderungen des RLM von privatwirtschaftlich rationalen Strukturen unter Friedensbedingungen fortführten, um so mehr verlangten die BMW Verantwortlichen Risikogarantien durch den Staat.46 Beispielhaft hierfür stehen die Neugründungen der beiden BMW Flugmotorenwerke in Eisenach und München-Allach. Als das RLM 1936 von BMW den Ausbau der Flugmotorenanlagen in Eisenach durch den Neubau eines räumlich und betrieblich selbstständigen Flugmotorenwerks forderte, wählte das BMW Management bewusst den Weg eines reichsbeteiligten Werks, d. h. der begrenzten staatlichen Risikobeteiligung.47 Mit den Flugmotorenkapazitäten in Eisenach verband die BMW Chefetage auch hinsichtlich des zukünftigen Friedensbedarfes positive Erwartungen. Es war dem BMW Management wichtig, den Eisenacher Flugmotorenbau innerhalb der BMW Betriebsgemeinschaft zu halten. BMW ging in Eisenach daher den Weg der Reichsbeteiligung und trug somit absichtlich einen Teil des Risikos für das neue Werk. Die Finanzierungsmethode der Reichsbeteiligung erschien der BMW Konzernleitung gegenüber einem möglichen Verkauf der bestehenden Anlagen in Eisenach an das Reich – mit anschließender Pachtung – als das geringere Übel, da sie die Verfügungsrechte über die Flugmotorenbau-Kapazitäten nur geringfügig einschränkte. Insbesondere die schnelle Reprivatisierung der Flugmotorenfabrik Eisenach, die in nur dreieinhalb Jahren nach der Neugründung des Eisenacher Flugmotoren46

Wie Buchheim/Scherner bereits für die gesamte Rüstungsbranche konstatiert haben, beruhte ein Großteil der Investitionen auch in der Flugmotorenindustrie formal auf vertraglichen Vereinbarungen zwischen dem Reich und den privatwirtschaftlichen Unternehmen, vgl. Christoph Buchheim/Jonas Scherner: Anmerkungen zum Wirtschaftssystem des „Drittes Reichs“, in: Werner Abelshauser/Jan-Otmar Hesse/Werner Plumpe (Hg.): Wirtschaftsordnung, Staat und Unternehmen. Neue Forschung zur Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, Essen 2003, S. 81–97, hier S. 89. Vgl. auch Jonas Scherner: „Ohne Rücksicht auf Kosten“? Eine Analyse von Investitionsverträgen zwischen Staat und Unternehmen im „Dritten Reich“ am Beispiel des Förderprämienverfahrens und des Zuschussvertrages, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2 (2004), S. 167–188. 47 Bericht über die Entwicklung des finanziellen Verhältnisses der BMW AG zur BMW Flugmotorenbau GmbH und der BMW Flugmotorenbau GmbH zum RLM in den Jahren 1934 bis 1937 (o. D., wahrscheinlich Febr. 1938), in: BArch R 8119 F/P 3065, Bl. 185.

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werkes vollzogen war, beweist, wie optimistisch die BMW Unternehmensführung gegenüber der zukünftigen Wirtschaftlichkeit des Eisenacher Flugmotorenbaus eingestellt war. Indem die Bayerischen Motoren Werke die vollständigen Anteile der Flugmotorenfabrik Eisenach kauften, übernahmen sie nicht nur die volle Verantwortung für das dortige Flugmotorenwerk, sondern entledigten sich auch bewusst eines Teils der mit einer finanziellen Reichsbeteiligung einhergehenden RLM-Einflussmöglichkeiten auf den BMW Konzern. Bei der vom RLM geforderten Gründung eines neuen Flugmotorenwerks in München-Allach ging BMW strategisch einen anderen Weg. Anders als beim neuen Flugmotorenwerk in Eisenach sollte es sich nach RLM-Planungen beim Neubau in Allach um ein Mobilmachungs-Bereitschaftswerk handeln, das in Friedenszeiten nur rudimentär genutzt werden sollte. Das heißt, dieses Werk konnte gemäß den staatlichen Planungen zunächst nicht aktiv zur positiven Ertragslage der BMW Flugmotorenbau-Gesellschaften beitragen. Die Neugründung in Allach konnte das BMW Management aufgrund des massiven Drängens des RLM zwar nicht verhindern. Man ließ sich jedoch nur sehr ungern auf das unrentable Projekt ein, da durch die kurzfristige Aufblähung der Fertigungskapazitäten die eigene ökonomische Perspektive mittelfristig umso kritischer wurde. Für die Schaffung unwirtschaftlicher Überkapazitäten war die Geschäftsführung der Münchener Gesellschaft jedoch nicht bereit, finanzielle und gesellschaftsrechtliche Risiken zu übernehmen. Jegliche Maßnahmen, die die eigene Verschuldungssituation weiter belasteten, wurden strikt abgelehnt.48 Aus diesem Grund strebte die BMW Geschäftsführung in den Verhandlungen über die gesellschaftsrechtliche Konstruktion in Allach bewusst eine andere Lösung als in Eisenach an.49 Durch das Abtreten der Flugmotorenfabrik Allach GmbH an die staatliche Luftfahrtkontor GmbH und den anschließenden Pachtvertrag entledigte sich BMW der Risiken der vom RLM angewiesenen Bereitstellung von unrentablen Mob-Fall-Kapazitäten im BMW Flugmotorenbau.50 Lediglich auf die wirtschaftliche Verwaltung der staatlichen Werksanlagen ließ man sich ein. Der Pachtvertrag zwischen der Luftfahrtkontor Gesellschaft und der BMW Flugmotorenbau GmbH besiegelte genau diese Unternehmensstrategie.51 Pachtverträge wurden in den 1930er Jahren laut Buchheim und Scherner ins48

Vgl. Schreiben Popp und Klebe, BMW Vorstand, an den Aufsichtsratsvorsitzenden von Stauß vom 26. 07. 1935, in: BArch R 8119 F/P 3074, Bl. 232, S. 1–4, hier S. 3–4. 49 Vgl. Bericht Hille, BMW Vorstand, über „Konstruktive Fragen des BMW Konzerns“ vom 12. 04. 1940, in: BArch R 8119 F/P 3076, Bl. 464–465. 50 Vgl. Bericht über die Entwicklung des finanziellen Verhältnisses der BMW AG zur BMW Flugmotorenbau GmbH und der BMW Flugmotorenbau GmbH zum RLM in den Jahren 1934 bis 1937 (o. D., wahrscheinlich Febr. 1938), in: BArch R 8119 F/P 3065, Bl. 185. 51 Vgl. den Pachtvertrag vom 04. 08. 1937, in: BArch R 8119 F/P 3143, Bl. 7–10 und BMW Arch UA 58.

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besondere dann gewählt, wenn die Unternehmen ein Produkt bzw. eine Werksanlage, deren Herstellung die Reichsbehörden wünschten, auch langfristig unter Normalbedingungen nicht für konkurrenzfähig hielten.52 Ziel der Erweiterungsstrategie der BMW Geschäftsführung war es, das eigene Unternehmen als innerlich gesundes und leistungsfähiges Unternehmen zu erhalten. Dementsprechend hielt sich das Unternehmen spätestens in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre mit Werksausbauten und -erweiterungen innerhalb des eigenen Konzernverbundes eher zurück. Die Unternehmensleitung präferierte den Bau von Reichswerken und den Abschluss von Pachtverträgen.53 Da das RLM das grundsätzliche Prinzip der Vertragsfreiheit im Bereich der Investitionen respektierte, gelang es dem Unternehmen, das finanzielle Risiko für sich stark zu begrenzen. Die Luftfahrtfirmen mussten in der Regel keine Kapazitäten auf eigene Rechnung und innerhalb der eigenen Konzerne erstellen, wenn sie den Anlagen unter Normalbedingungen keine Zukunftsfähigkeit beimaßen. Bei der Verfolgung der eigenen Interessen in der langfristigen strategischen Unternehmensplanung bewies BMW daher ein erhebliches Maß an Selbstständigkeit und Autonomie. Die Unternehmensleitung behandelte das RLM hinsichtlich der behördlich geforderten Ausbauund Erweiterungsmaßnahmen wie einen privatwirtschaftlichen Geschäftspartner. Handelsrechtliche Entscheidungen über die BMW Konzernstruktur traf der BMW Vorstand in den 1930er Jahren auf der Basis ökonomisch rationaler und gewinnorientierter Abwägungsprozesse weitgehend unabhängig von staatlichen Vorgaben. Wenn sich der BMW Vorstand bei der Erweiterung der Fertigungskapazitäten zu einem größeren Tempo gezwungen sah, als ihm eigentlich lieb war, war dafür weniger der ministerielle Druck bzw. Zwang verantwortlich, als vielmehr die Gefahr, im Wettbewerb mit der Flugmotorenkonkurrenz Nachteile zu erleiden. Letztendlich waren demnach in erster Linie längerfristige Gewinn- und Wachstumsinteressen sowie der von den einschlägigen staatlichen Dienststellen bewusst geschürte Wettbewerb innerhalb der Flugmotorenbauindustrie die wesentlichen Mechanismen, die zur Bereitschaft von BMW führten, sich am Rüstungsgeschäft zu beteiligen.54 BMW agierte gegen52

Vgl. Christoph Buchheim/Jonas Scherner: Anmerkungen zum Wirtschaftssystem des „Drittes Reichs“, in: Werner Abelshauser/Jan-Otmar Hesse/Werner Plumpe (Hg.): Wirtschaftsordnung, Staat und Unternehmen. Neue Forschung zur Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, Essen 2003, S. 81–97, hier S. 92. 53 Diese Tatsache deckt sich im Übrigen mit den Befunden von Mommsen und Buchheim zur deutschen Großindustrie. Vgl. die Aussagen von Hans Mommsen im Interview: „Abgleiten in die Barbarei“, in: Der Spiegel 32 (2001), S. 141–144, hier S. 142 und Christoph Buchheim: The Upswing of German Industry in the Thirties, in: Ders./ Redvers Garside (Hg.): After the Slump. Industry and Politics in the 1930s Britain and Germany, Frankfurt a. M. 2000, S. 33–52, hier S. 52. 54 Vgl. hierzu auch Christoph Buchheim: Unternehmen in Deutschland und NSRegime 1933–1945. Versuch einer Synthese, in: Historische Zeitschrift 282 (2006), S. 351–390.

Unternehmerische Handlungsspielräume

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über dem RLM wie sämtliche deutsche Flugmotorenhersteller in den 1930er Jahren in einem Spannungsfeld von staatlichem Druck, langfristigen Profitinteressen und der Skepsis gegenüber den mit dem allein staatlich induzierten Rüstungsboom einhergehenden wirtschaftlichen und politischen Risiken.

Hohe Profitabilität im Flugmotorenbau Während man im RLM offiziell streng darauf bedacht war, durch eine rigide Preispolitik, nachträgliche Preiskorrekturen und erzwungene Gewinnrückzahlungen hohe Rüstungsgewinne bzw. das Abschöpfen von Kapitalmitteln aus dem Finanzierungskreislauf des Aufbaus der Luftwaffe zu verhindern55, verfolgten die Flugmotorenbauer privatwirtschaftliche Profitinteressen. Angesichts der sehr hohen Rentabilität des BMW Flugmotorenbaus erwiesen sich die strikten ministeriellen Gewinnbeschränkungsmaßnahmen daher sehr schnell als Rhetorik.56 Ein Vergleich der Umsatz- und Eigenkapitalrenditen der Bayerischen Motoren Werke mit Industrieunternehmen aus anderen Rüstungssektoren lässt vermuten, dass die Ertragsmöglichkeiten der einschlägigen Flugmotorenindustrie sogar deutlich höher lagen als bei der ohnehin bereits sehr hohen Profitabilität der deutschen Rüstungsindustrie.57 Einerseits war allen Beteiligten klar, dass es den staatlichen Dienststellen unmöglich war, die Buchführung des Unternehmens lückenlos zu überwachen.58 Dieser Umstand gewährte der BMW Geschäftsführung wichtige privatwirtschaftliche Handlungsspielräume in der Bilanzierung sowie in den komplizierten Verhandlungen mit Ministeriumsvertretern über Preis- und 55

Vgl. Wolfgang Bopp: The Evolution of the Pricing Policy for Public Orders during the Third Reich, in: Christoph Buchheim/Redvers Garside (Hg.): After the Slump. Industry and Politics in the 1930s Britain and Germany, Frankfurt a. M. 2000, S. 149–160 und Gerold Ambrosius: Staat und Wirtschaftsordnung. Eine Einführung in Theorie und Geschichte, Stuttgart 2001. 56 Vgl. dazu das Kapitel 7.7.2.: Gewinnsituation im BMW Flugmotorenbau, in: Till Lorenzen: BMW als Flugmotorenhersteller 1926–1940. Staatliche Lenkungsmaßnahmen und unternehmerische Handlungsspielräume, München 2008. Die nationalsozialistische Propaganda bewertete das Ziel der Privatwirtschaft, Gewinne zu erzielen, meist als Tendenz der illegitimen persönlichen Bereicherung und als bedauerliche persönliche Entgleisung. Vgl. z. B. Reichswirtschaftsminister Funk auf einer Tagung des Gauwirtschaftsamtes des Gaus München/Oberbayern am 14. 11. 1941, in: Bayerische Wirtschaftszeitung, Amtliches Organ der Wirtschaftskammer Bayern, 71. Jg., Nr. 24 vom 26. 11. 1941, in: BayHStA MWi 57. 57 Vgl. hierzu u. a. Mark Spoerer: Von Scheingewinnen zum Rüstungsboom. Die Eigenkapitalrentabilität der deutschen Industriegesellschaften 1925–1941, Stuttgart 1996 und Ders.: Industrial Profitability in the Nazi Economy, in: Christoph Buchheim/ Redvers Garside (Hg.): After the Slump. Industry and Politics in the 1930s Britain and Germany, Frankfurt a. M. 2000, S. 53–80. 58 Vgl. Stellungnahme vom Technischen Amt im RLM zu Preisprüfungsfragen vom 12. 12. 1936, in: BA-MA RL 3/169.

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Gewinnfestlegungen. Industrieunternehmen betrieben in den 1930er Jahren zum Teil massive Bilanzmanipulationen.59 Andererseits zeigen die hohen Gewinne der Bayerischen Motoren Werke jedoch auch, dass es der BMW Spitze gelang, die finanziellen Konditionen ihrer Partizipation am Rüstungsboom weitgehend mitzubestimmen. Um BMW freiwillig zur Kooperation im Rüstungsgeschäft zu bewegen, sah sich das RLM offenbar veranlasst, auf privatwirtschaftliche Interessen in diesen zentralen Bereichen unternehmerischen Handelns Rücksicht zu nehmen. Diese Handlungsspielräume nutzte BMW nicht nur, indem es die wirtschaftlichen Risiken des Kapazitätsausbaus weitgehend auf das Reich abwälzte. Die Unternehmensführung sicherte sich im Flugmotorenbau gleichzeitig üppige Gewinne. Das heißt, der BMW Vorstand forderte von den staatlichen Dienststellen erfolgreich Kompensation für die Zumutungen, die die Firma durch die Wirtschaftspolitik erfuhr. Mit anderen Worten erkaufte sich das RLM in den 1930er Jahren die Kooperation des Unternehmens am Aufbau der Luftwaffe, indem es die sehr hohen Renditen der BMW Flugmotorenbau-Aktivitäten tolerierte. Wenn Spoerer in Bezug auf die hohe Rentabilität der deutschen Industrieunternehmen feststellt, dass sich das Verhältnis zwischen dem NS-Regime und der Industrie in den 1930er Jahren weitaus besser durch „Verführung“ als durch „Gewalt“ kennzeichnen lässt, so gilt dies sicherlich auch für die Beziehung von BMW zum RLM sowie mutmaßlich auch für die anderen Flugmotorenbaufirmen.60

Keine einfache Formel von actio (Staat) und reactio (Unternehmen) Machtpolitisch standen den Beamten im Reichsluftfahrtministerium viele Mittel zur Verfügung, behördlichen Zwang anzuwenden. Sie nutzten diese Druckmittel insbesondere auf der operativen Ebene der Flugmotorenfabrikation, d. h. im Entwicklungs- sowie im Produktionssektor. In diesen Unternehmensbereichen scheinen die Regulierungen des RLM wesentlich tiefer in privatwirtschaftliche Belange eingegriffen zu haben als in anderen Branchen. Dass es der Industrie auf der anderen Seite jedoch gelang, ihr zentrales An59

Vgl. Mark Spoerer: Industrial Profitability in the Nazi Economy, in: Christoph Buchheim/Redvers Garside (Hg.): After the Slump. Industry and Politics in the 1930s Britain and Germany, Frankfurt a. M. 2000, S. 53–80, hier S. 56–62. Siehe hierzu auch: Ders.: ‚Wahre Bilanzen!‘ Die Steuerbilanz als unternehmenshistorische Quelle, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 40 (1995), S. 158–179. 60 Vgl. Ders.: Von Scheingewinnen zum Rüstungsboom. Die Eigenkapitalrentabilität der deutschen Industriegesellschaften 1925–1941, Stuttgart 1996, S. 170. Die Entwicklung bei den anderen Flugmotorenherstellern wie z. B. der Mimo bestätigen die BMW spezifischen Beobachtungen hinsichtlich der guten Ertragssituation. Vgl. z. B. Peter Kohl/Peter Bessel: Auto Union und Junkers. Die Geschichte der Mitteldeutschen Motorenwerke GmbH Taucha 1935–1948, Stuttgart 2003, S. 21.

Unternehmerische Handlungsspielräume

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liegen – die unternehmerischen Profitinteressen – weitgehend durchzusetzen, verdeutlicht, dass sich auch das Regime Konflikte mit der Privatwirtschaft nur bedingt leisten konnte. Die Tatsache, dass das Regime auf die leistungsstarken Flugmotoren und das langjährige technische und organisatorische Know-how von BMW bei der Realisierung seiner rüstungswirtschaftlichen Ziele weitgehend angewiesen war, zeigt, dass es sich nicht um ein eindimensionales Abhängigkeitsverhältnis ähnlich einer Prinzipal-Agent-Beziehung handelte.61 Da für das Reichsluftfahrtministerium ein reibungsloser Fertigungsablauf in den einzelnen Flugmotorenunternehmen unabdingbar war, sahen sich die RLM-Verantwortlichen offenbar veranlasst, auf die privatwirtschaftlichen Interessen des Unternehmens Rücksicht zu nehmen. Trotz der ministeriellen Machtposition mussten die RLM-Verantwortlichen somit akzeptieren, dass die zentralen finanziellen Komponenten unternehmerischen Handelns – das Ausmaß der Risikoübernahme und die Ertragssituation des Unternehmens – im Konsens ausgehandelt wurden. Wollten die Ministeriumsvertreter nicht zu ultimativen Sanktionsmitteln greifen, die immer auch Lieferausfälle hätten bedeuten können, verschaffte die Abhängigkeit des Ministeriums vom Mitwirken der Produzenten den Industriellen eine starke und gesicherte Verhandlungsposition und damit relativ große Handlungs- und Entscheidungsspielräume. So respektierte die Behörde in der Regel die Präferenzen der BMW Geschäftsführung, wie die gesellschaftsrechtliche Ausgestaltung eines neuen Flugmotorenwerks aussehen sollte. Es gelang der BMW Geschäftsführung dadurch, das finanzielle Risiko der Kapazitätserweiterungen der 1930er Jahre weitgehend auf das Reich abzuwälzen. Außerdem bemühte sich der BMW Vorstand vehement und letztendlich erfolgreich, die Verschuldungssituation des Konzerns so schnell wie möglich auf ein wirtschaftlich erträgliches Maß zurückzuführen sowie die Finanzerträge aus dem unter vergleichsweise strenger politischer Überwachung stehenden Flugmotorenbau abzuschöpfen und damit für den Gesamtkonzern zu sichern.62 Diese erfolgreichen Anstrengungen manifestierten somit den Status als privatwirtschaftliches und gewinnorientiertes Unternehmen. Durch das selbstbewusste Auftreten der BMW Geschäftsführung konnte sich BMW im Flugmotorenbau sehr hohe Rendi61

Vgl. hierzu Johannes Bähr: „Corporate Governance“ im Dritten Reich. Leitungsund Kontrollstrukturen deutscher Großunternehmen während der nationalsozialistischen Diktatur, in: Werner Abelshauser/Jan-Otmar Hesse/Werner Plumpe (Hg.): Wirtschaftsordnung, Staat und Unternehmen. Neue Forschung zur Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, Essen 2003, S. 61–80 und Christoph Buchheim: Unternehmen in Deutschland und NS-Regime 1933–1945. Versuch einer Synthese, in: Historische Zeitschrift 282 (2006), S. 351–390. 62 Vgl. Schreiben Hille an von Stauß vom 10. 05. 1941, in: BArch R 8119 F/P 3145, Bl. 288–290, hier Bl. 289 und Till Lorenzen: BMW als Flugmotorenhersteller 1926–1940. Staatliche Lenkungsmaßnahmen und unternehmerische Handlungsspielräume, München 2008, S. 189ff.

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ten sichern, die die Behörde trotz aller gegenteiligen Rhetorik bis in den Zweiten Weltkrieg hinein durchweg tolerierte. Es gelang dem BMW Management demnach auch unter der nationalsozialistischen Herrschaft in wichtigen Kernbereichen unternehmerischen Handelns, essentielle Handlungsspielräume zu bewahren. Nicht umsonst resümiert Buchheim, dass das Verhältnis zwischen Staat und Unternehmen in der NS-Zeit durch eine sehr komplexe Interaktion gekennzeichnet war, wobei beide Seiten – auch die staatliche – enorme Anreize zur Kooperation hatten, die jedoch nur zustande kam, wenn die Interessen beider Seiten – auch die der Unternehmer – in den Resultaten Berücksichtigung fanden.63 Der komplexe Aushandlungsprozess zwischen BMW und dem RLM hinsichtlich des BMW Flugmotorenbaus in den 1930er Jahren ist hierfür ein anschauliches Beispiel.

Fazit Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass alle deutschen Flugmotorenbauer in den 1930er Jahren in erster Linie am wirtschaftlichen Überleben sowie an der Partizipation am vom RLM forcierten Rüstungsboom interessiert waren. Diese Ziele verfolgten sie beharrlich und der jeweiligen Situation angepasst. Dazu gehörte auch die Überlegung, für die Zeit nach dem Krieg zu planen. Folglich waren die Unternehmen bemüht, im Rahmen ihrer Möglichkeiten die finanzielle Selbständigkeit zu bewahren. Dabei nutzten sie ihre ökonomischen und politischen Handlungsspielräume geschickt aus. Für die Flugmotorenindustriellen ging es darum, innerhalb des staatlich gesetzten Fixierungsrahmens wirtschaftlich klug und situationsorientiert zu agieren. Aus der Retrospektive kann man selbstverständlich einwenden, dass sich beispielsweise die beiden BMW Vorstände Popp und Hille aus den Geschäften mit dem RLM hätten heraushalten sollen oder zumindest aktiv hätten versuchen können, das Regime zu beeinflussen. Ein solcher Einwand übersieht jedoch die Tatsache, dass ihr Alltagsgeschäft darin bestand, die Bayerischen Motoren Werke unter den gegebenen Umständen voranzubringen. Weder Popp noch Hille erwogen ernsthaft, sich zurückzuziehen. Vor allem in den Anfangsjahren sprach die weitgehende Interessenkongruenz der unternehmerischen Profit- und der staatlichen Produktionsinteressen dagegen. Lediglich die Kooperation im Rahmen des Systems konnte ein Offenhalten von Handlungsspielräumen ermöglichen, die der Unternehmensleitung auch weiterhin das Verfolgen eigener Ziele erlaubte. Daher arrangierte man sich und machte mit. Das „Mitmachen“ und das Pflegen der politischen Kontakte zur Bürokratie der Nationalsozialisten schienen dabei ein geeignetes 63

Vgl. Christoph Buchheim: Unternehmen in Deutschland und NS-Regime 1933–1945. Versuch einer Synthese, in: Historische Zeitschrift 282 (2006), S. 351–390, hier S. 387–388.

Unternehmerische Handlungsspielräume

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Mittel, da nur funktionierende Unternehmen, d. h. Firmen, die Zugriff unter anderem auf Geldquellen, Rohstoffe, Vorprodukte und Arbeitskräfte hatten, überhaupt noch autonome Handlungsspielräume besaßen. Das unternehmerische Handeln der Protagonisten im BMW Vorstand war von ausgesprochener ökonomischer Zweckrationalität geprägt. Kritik an den Verhältnissen kam von ihnen immer nur dann, wenn sie das eigene Unternehmen bzw. die eigene Person in Gefahr sahen. Das Mitmachen erstreckte sich dabei nicht nur auf die Übernahme von Rüstungsaufträgen und die Veränderung des Investitionsverhaltens zugunsten einer ausgedehnten Rüstungs- und Kriegsproduktion. Es umfasste auch die Bereitschaft, die Arisierung von Unternehmen zu betreiben und nicht zuletzt auch die Bereitschaft, Zwangsarbeiter einzusetzen und deren unmenschliche Behandlung zumindest zu tolerieren.64 Indem die BMW Unternehmensleitung innerhalb des Systems agierte und entschlossen war, auch die sich unter der Herrschaft des Regimes ergebenden neuen Möglichkeiten zu nutzen, trug sie gleichzeitig zum Funktionieren der wirtschaftlichen, staatlichen und militärischen Ordnung bei und machte sich damit zum Komplizen der Rüstungspolitik des Regimes. Sowohl die Arisierungen als auch der Zwangsarbeitereinsatz erschienen der BMW Geschäftsführung lediglich als legitime Erweiterung der eigenen unternehmerischen Handlungsspielräume. Damit machten sie sich mitschuldig am menschenverachtenden Ausbeutungssystem unter den Nationalsozialisten. Aus den vielen einschlägigen unternehmenshistorischen Studien kristallisiert sich immer deutlicher das Bild heraus, dass private Industrieunternehmen, die während der NS-Zeit im Rüstungsgeschäft tätig waren, keineswegs ihre Autonomie verloren hatten, wie lange Zeit angenommen und von Industriellen nach 1945 aus apologetischen Gründen immer wieder behauptet worden war. Das Regime war zwar imstande, die Produktion mittels selektiver Anreize, der Beschränkung von Alternativen sowie eines massiven staatlichen Dirigismus, der zum Teil tief in die privatwirtschaftliche Selbständigkeit der einzelnen Firmen eingriff, weitgehend in seinem Sinne zu lenken. Dies wurde den Behörden vor allem durch den auch weiterhin existierenden Wettbewerb der Unternehmen untereinander erleichtert, den die staatlichen Dienststellen geschickt für ihre Zwecke zu instrumentalisieren wussten. Vor allem in den Jahren nach dem politischen Machtwechsel 1933 verliefen die Produktionsinteressen des Staates und die Profitinteressen der Industrie in vieler Hinsicht parallel. Daher mussten die Behörden im Allgemeinen auch nur in Ausnahmefällen direkten Zwang anwenden, um ihre Ziele zu verwirklichen. Sie agierten vielmehr erfolgreich mit der Gewährung entsprechender Anreize, gestanden den Unternehmen hohe Gewinne zu und übernahmen finanzielle Investitionsrisiken. Andererseits waren die betroffenen Unternehmen zu kei64

Zur Beschäftigung von Zwangsarbeitern und deren Behandlung bei BMW vgl. Constanze Werner: Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit bei BMW, München 2006.

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ner Zeit willenlose Objekte in den Händen des Regimes. Vielmehr agierten sie auch weiterhin wie privatwirtschaftliche Organisationen innerhalb einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Trotz der vielfältigen staatlichen Regulierungen blieben das langfristige Gewinninteresse, die Beobachtung der Konkurrenten im „Markt“ sowie die vorsichtige Abwägung des wirtschaftlichen und politischen Risikos handlungsleitende Determinanten der Unternehmen. Auf der Basis dieser Grundorientierung gelang es ihnen in der Regel, im Hinblick auf die Interaktion mit dem NS-Regime erhebliche autonome Entscheidungs- und Handlungsspielräume – wie unterschiedlich sie auch in einzelnen Bereichen ausgeprägt waren – zu bewahren und dadurch die Bedingungen, zu denen sie letztendlich zur Kooperation bereit waren, aktiv mitzugestalteten.

Jonas Scherner, Jochen Streb

Ursachen des „Rüstungswunders“ in der Luftrüstungs-, Pulver- und Munitionsindustrie während des Zweiten Weltkriegs* 1. Einleitung Im Februar 1942 übernahm Albert Speer als Nachfolger des tödlich verunglückten Fritz Todt die Leitung des Reichsministeriums für Bewaffnung und Munition, dem späteren Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion. Vertraut man dem ursprünglich vom Planungsamt des Rüstungsministeriums erstellten Index der deutschen Rüstungsproduktion1, gelang es der deutschen Wirtschaft von diesem Zeitpunkt an, die Rüstungsendfertigung bis Juli 1944 zu verdreifachen. Diese enorme Steigerung steht im augenscheinlichen Gegensatz zu den ersten Kriegsjahren, in denen der Rüstungsindex seit Sommer 1940 auf dem zu diesem Zeitpunkt bereits erreichten Niveau stagniert hatte.2 Es war Rüstungsminister Speer selbst, der anlässlich einer Rede vor Vertretern der rheinisch-westfälischen Industrie im Sommer des Jahres 1944 diese Leistungssteigerung als das „Wunder der Rüstung“3 bezeichnete. Adam Tooze weist in seiner kürzlich erschienenen Wirtschaftsgeschichte des Dritten Reichs explizit darauf hin, dass Speer diesen Mythos des „Rüstungswunders“ sowohl zur Stärkung des Durchhaltewillens der deutschen Bevölkerung als auch zur Festigung seiner eigenen Position in der Nazihierarchie bewusst propagandistisch hervorrief.4 Vortrefflich verdeutlicht wird dieses „Theater

*

Wir danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die finanzielle Unterstützung dieses Forschungsprojekts. 1 Die Verfasser zeigen in einem anderen Aufsatz, dass dieser später von Rolf Wagenführ veröffentlichte Rüstungsindex die Steigerung der deutschen Rüstungsendfertigung insbesondere deshalb überschätzt, weil er auch diejenigen Rüstungsgüter umfasst, die in den besetzten Gebieten produziert wurden. Vgl. Jonas Scherner/Jochen Streb: Das Ende eines Mythos? Albert Speer und das so genannte Rüstungswunder, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 93 (2006), S. 178f. 2 Vgl. Rolf Wagenführ: Die deutsche Industrie im Kriege 1939–1945, Berlin 1954, S. 178, 180. 3 BArch R 3/1787, „Rede des Reichsministers Speer über die Leistungen der Rüstungs- und Kriegsproduktion und die Bedeutung der Selbstverantwortung der Industrie. Gehalten am 9. Juni vor Vertretern der rheinisch-westfälischen Industrie.“ Abgedruckt ist der Schluss der Rede, der auf die Erläuterungen von Lichtbildern über die Steigerung auf allen wichtigen Produktionsgebieten folgte. Bl. 165. 4 Vgl. Adam Tooze: The Wages of Destruction: The Making and Breaking of the Nazi Economy, London 2006, S. 552–557.

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Jonas Scherner, Jochen Streb

der Rüstung“ von einer zeitgenössischen Fotografie, die Speer zeigt, wie er anhand einer grafischen Darstellung, ähnlich dem unten folgenden Schaubild 1, seinen Zuhörern den ungeheuren Erfolg seiner Rüstungspolitik zu verdeutlichen suchte.5 Daher wurde der Begriff des „Rüstungswunders“ von vielen zurückblickenden Historikern, wenn auch in Anführungszeichen gesetzt, für die Beschreibung der Entwicklung der deutschen Rüstungsproduktion seit Beginn des Jahres 1942 übernommen.6 Schaubild 1: Der deutsche Rüstungsindex 1942–1945, (1940/41=Jan/Feb. 1942=100)a 350 300 250 200 150 100 50 Mrz 44

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0

a) Rolf Wagenführ: Die deutsche Industrie im Kriege 1939–1945, Berlin 1954, S. 178, 180.

Die in Schaubild 1 dargestellte Steigerung des Indexes der Rüstungsproduktion erscheint nicht nur deshalb bemerkenswert, weil dieses Wachstum in einer Phase geschah, in der sich die deutsche Rüstungsindustrie in zunehmendem Maße Luftangriffen der Alliierten ausgesetzt sah. Bewunderung7 rief vor allem hervor, dass die Erhöhung der Rüstungsproduktion offensichtlich in erster Linie durch ein starkes Wachstum der Arbeitsproduktivität, mithin durch intensives Wachstum, und nur zu einem geringen Anteil durch eine Erhöhung der eingesetzten Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital, also durch extensives Wachstum erklärt werden muss.8 Die Ökonomen und Historiker gleichermaßen erstaunende und den Begriff des Wunders deshalb augenscheinlich rechtfertigende Steigerung der Arbeitsproduktivität um über 100% in nur zweieinhalb Jahren wird ihrerseits auf von Rüstungsminister Speer eingeführte bzw. durchgesetzte Rationalisierungsmaßnahmen zurück5

Vgl. Fotografie Nr. 30 ebd. Vgl. Richard J. Overy: War and Economy in the Third Reich, Oxford 1994, S. 344. 7 Vgl. Nicholas Kaldor: The German War Economy, in: Review of Economic Studies 13 (1946), S. 48. 8 Vgl. Rolf Wagenführ: Die deutsche Industrie im Kriege 1939–1945, Berlin 1954, S. 125. 6

Ursachen des „Rüstungswunders“

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geführt.9 Erstens wird angenommen, dass es unter Speer zu einer Reduktion der Typenvielfalt gekommen sei, die es den Unternehmen ermöglichte, Vorteile der Massenproduktion auszunutzen. Zweitens wird unterstellt, dass die Häufigkeit kleinerer Modifikationen an den einzelnen Waffentypen verringert wurde, was zu erheblichen Einsparungen von Anpassungskosten führte. Drittens sei auch dadurch eine Verstetigung der Produktion herbeigeführt worden, dass die vor 1942 häufigen Programmwechsel reduziert worden seien, nachdem die entsprechende Anordnungskompetenz von militärischen Stellen auf das Rüstungsministerium übergegangen war. Viertens habe das Rüstungsministerium gegen den Widerstand der Wehrmacht durchsetzen können, dass Fertigungsschritte, die die Kampfkraft einer Waffe nicht erhöhten, wie etwa Polieren und Lackieren, nicht mehr durchgeführt wurden – wodurch Einsparungen, insbesondere hinsichtlich der Fertigungszeit, realisiert wurden. Hinzu kam, dass man die produktivsten Unternehmen gezwungen habe, ihr Fertigungs-Know-how mit ihren Konkurrenten zu teilen. Dazu wurden Ausschüsse und Ringe gegründet, durch deren Tätigkeit den weniger effizienten Firmen die Verfahren der Bestfirmen zur Verfügung gestellt werden sollten. Auch wird eine zunehmende überbetriebliche Arbeitsteilung von Speer selbst in seinen Erinnerungen als eine der wichtigsten Quellen des Rüstungswunders bezeichnet.10 All diesen Rationalisierungsmaßnahmen ist gemeinsam, dass ihre Umsetzung in den Betrieben tatsächlich Spielräume zur Senkung der Produktionskosten eröffnet hätte. Richard Overy bezweifelt allerdings, dass die Unternehmen diese Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung tatsächlich wahrgenommen hätten, wenn es nicht im Jahr 1942 durch den generellen Übergang von Selbstkosten- zu Festpreisverträgen zu einem fundamentalen Wechsel der Anreizstruktur im staatlichen Beschaffungswesen gekommen wäre.11 Unternehmen, die Rüstungsgüter auf Basis eines Selbstkostenvertrags lieferten, bekamen nicht nur alle angefallenen Produktionskosten erstattet, sondern erhielten überdies einen prozentual auf die Kosten aufgeschlagenen Gewinn.12 Bei Gültigkeit eines derartigen Vertrags hatte ein Unternehmer keinen An9

Vgl. Hans Joachim Weyres-v. Levetzow: Die deutsche Rüstungswirtschaft von 1942 bis zum Ende des Krieges, München 1975, S. 47–49; Richard J. Overy: War and Economy in the Third Reich, Oxford 1994, S. 356–363; Werner Abelshauser: Germany: Guns, Butter and Economic Miracles, in: Mark Harrison (Hg.): The Economics of World War II: Six Great Powers in International Comparison, Cambridge 1998, S. 122–176. 10 Vgl. Albert Speer: Erinnerungen, Berlin 1969, S. 223. 11 Vgl. Richard J.Overy: War and Economy in the Third Reich, Oxford 1994, S. 357. 12 Für eine genaue Darstellung der nationalsozialistischen Ausgestaltung von Beschaffungsverträgen vgl. Jochen Streb/Sabine Streb: Optimale Beschaffungsverträge bei asymmetrischer Informationsverteilung: Zur Erklärung des nationalsozialistischen „Rüstungswunders“ während des Zweiten Weltkriegs, in: Zeitschrift für Wirtschaftsund Sozialwissenschaften 118, 1998, S. 275–294; Jochen Streb: Das Scheitern der staatlichen Preisregulierung in der nationalsozialistischen Bauwirtschaft, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2003/1, S. 27–48.

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reiz, seine Produktionskosten zu minimieren, da eine realisierte Kostensenkung unmittelbar zu einer Verringerung des absoluten Gewinns geführt hätte. Stattdessen hatte der Unternehmer aufgrund des positiven Zusammenhangs zwischen Gewinnhöhe und Kosten gar einen Anreiz, möglichst teuer zu produzieren. Daher konnten die oben angeführten Rationalisierungsmaßnahmen nur dann zu einer betrieblichen Umsetzung kommen, wenn das Anreizsystem für die Unternehmen geändert wurde. Dies geschah nach Auffassung von Overy im Jahr 1942, indem die Beschaffung von Rüstungsgütern grundsätzlich von Selbstkostenverträgen auf Festpreisverträge umgestellt wurde. Im Rahmen von Festpreisverträgen handelten die Rüstungsproduzenten und der staatliche Auftrageber bereits vor Produktionsbeginn einen fixen Preis für die Waffen aus, der auf Grundlage der erwarteten Kosten gebildet wurde. Falls es dem Rüstungsproduzenten gelang, die erwarteten Produktionskosten zu unterschreiten, konnte er diese Kostenersparnis als zusätzlichen Gewinn behalten – was nunmehr einen erheblichen Anreiz schuf, die Kostensenkungsmöglichkeiten, welche die oben aufgeführten Rationalisierungsmaßnahmen schufen, tatsächlich auszunutzen. Diese traditionelle Erklärung der Ursachen des „Rüstungswunders“ beruht im Wesentlichen auf Publikationen und Verhören von Albert Speer und seinen Mitarbeitern. Neueste Forschungen zum genauen Zeitpunkt der Einführung und Durchsetzung der traditionell Speer zugeschriebenen Rationalisierungsmaßnahmen stellen die vorherrschende ökonomische Erklärung für das angebliche Rüstungswunder jedoch eher in Frage.13 Tabelle 1:

Typenreduktion bei verschiedenen Rüstungsgütern

Rüstungsgüter Flugzeuge Munition Waffen Panzer Kriegsschiffe Pkw und Lkw Pulver und Sprengstoffe

Anteil am Rüstungsindex im Herbst 1943a (%) 35,7 31,5 9,7 7,9 6,6 5,5 3,1

Typenreduktion vor Sommer 1944? Neinb Neinc Anfang 1944d Neina Sommer 1943b Anfang 1942d Neine

a) Rolf Wagenführ: Die deutsche Industrie im Kriege 1939–1945, Berlin 1954, S. 69, 71. b) Dietrich Eichholtz: Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft Bd. 2: 1941–1943, Berlin 1985, S. 311f. c) Willi A. Boelcke: Deutschlands Rüstung im Zweiten Weltkrieg. Hitlers Konferenzen mit Albert Speer 1942-1945, Frankfurt a. M. 1969, S. 22f. d) Richard J. Overy: War and Economy in the Third Reich, Oxford 1994, S. 362f. e) Vgl. die Prüfungsberichte der Deutschen Revisions- und Treuhand AG für die wichtigsten Produzenten.

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Vgl. Jonas Scherner/Jochen Streb: Das Ende eines Mythos? Albert Speer und das so genannte Rüstungswunder, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 93 (2006); S. 182–190. Vgl. auch Adam Tooze: The Wages of Destruction: The Making and Breaking of the Nazi Economy, London 2006.

Ursachen des „Rüstungswunders“

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Manche der oben genannten Rationalisierungsmaßnahmen wurden nämlich nicht zu Beginn des Jahres 1942, sondern erst deutlich später, also nachdem Produktivität und Produktion in der Rüstungswirtschaft schon deutlich angewachsen waren, manche schon vor 1942, und manche gar erst so spät eingeführt, dass sie auf den Höchststand der Rüstungsproduktion im Sommer 1944 keinen Einfluss mehr haben konnten. Beispielsweise kam es auch noch nach Speers Amtsantritt zu häufigen Programmwechseln in der Rüstungsindustrie, wie das Planungsamt selbst in einer umfassenden Studie vom Sommer 1944 beklagte.14 Auch erfolgte, wie Tabelle 1 belegt, vor Sommer 1944 nur in sehr begrenztem Umfang eine Typenreduzierung in den verschiedenen Rüstungsbranchen. Insbesondere aber waren Festpreisverträge bereits lange vor Speers Amtsantritt in der deutschen Rüstungsindustrie die Regel.15 Ergänzend zu denjenigen Zweifeln an der traditionellen Erklärung der Steigerung der deutschen Rüstungsproduktion ab 1942, die durch die mangelnde zeitliche Übereinstimmung zwischen dem Beginn des „Rüstungswunders“ einerseits und der Einführung der verschiedenen Rationalisierungsmaßnahmen andererseits hervorgerufen werden, ist darauf hinzuweisen, dass eine systematische empirische Untersuchung der effektiven Auswirkungen der beschriebenen Reformen auf der Unternehmensebene bisher noch nicht erfolgt ist. Diese wissenschaftliche Zurückhaltung der Wirtschafts- und Unternehmenshistoriker war wohl bisher in erster Linie dem Umstand geschuldet, dass davon ausgegangen werden musste, dass die für diese quantitative Analyse notwendigen empirischen Unternehmensdaten auf breiter Ebene nicht zur Verfügung stehen. Vor kurzem entdeckten jedoch die Verfasser dieses Aufsatzes, dass diese Informationslücke durch eine im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde vorhandene umfangreiche Sammlung von Wirtschaftsprüfungsberichten der Deutschen Revisions- und Treuhand AG geschlossen werden kann.16 Der unter der Standortsignatur R 8135 geführte Bestand des

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Vgl. BArch R 3/1813, Bl. 10. Eine von Jonas Scherner zusammengestellte große Stichprobe von Rüstungsverträgen vor 1942 weist einen sehr hohen Anteil von Festpreisverträgen auf. Vgl. Jonas Scherner: Die Logik der Industriepolitik im Dritten Reich: Die Investitionen in die Autarkie- und Rüstungsindustrie und ihre staatliche Förderung, Stuttgart 2008. 16 Diese Wirtschaftsprüfungsgesellschaft war im Jahr 1922 als staatseigene Gesellschaft mit beschränkter Haftung zu dem Zweck gegründet worden, im Auftrag des Staates all diejenigen deutschen Unternehmen einer jährlichen Wirtschaftsprüfung zu unterziehen, die sich zumindest teilweise im Staatsbesitz befanden oder denen der Staat einen Kredit oder eine Bürgschaft gewährt hatte. Vgl. Reichshaushaltsordnung vom 31. Dezember 1922, § 48, §§ 110–117. Im Jahr 1924 wurde die Deutsche Revisions- und Treuhand in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und in die staatlichen Holding-Gesellschaft Vereinigte Industrieunternehmungen AG (VIAG) als Tochter eingegliedert. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb die Deutsche Revisions- und Treuhand AG die bevorzugte Wirtschaftsprüfungsgesellschaft des bundesdeutschen Staates. Sie wurde Schritt für Schritt privatisiert und fusionierte schließlich im Jahr 1998 mit Price Waterhouse Deutschland. 15

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Bundesarchivs umfasst Wirtschaftsprüfungsberichte der Deutschen Revisions- und Treuhand AG für eine Vielzahl deutscher Rüstungsunternehmen im Dritten Reich.17 Viele der verfügbaren Akten decken die Periode von 1939 bis 1943 ab. Daten für das Jahr 1944, in dem die maximale Rüstungsproduktion erreicht wurde, sind leider kaum vorhanden, da die Wirtschaftsprüfer in aller Regel mindestens ein Jahr benötigten, um den jährlich anfallenden Wirtschaftsprüfungsbericht abzuschließen, sodass die meisten der Prüfberichte für das Jahr 1944 wahrscheinlich nie fertig gestellt wurden. Gleichwohl ist dieser Aktenbestand eine erstklassige Quelle für wirtschafts- und unternehmenshistorische Forschungen zur deutschen Kriegswirtschaft während des Zweiten Weltkriegs. Der typische, mehr als einhundert Seiten umfassende jährliche Wirtschaftsprüfungsbericht über ein Rüstungsunternehmen enthält nämlich nicht nur eine ausführliche Diskussion der Bilanz und der Gewinnund Verlustrechnung, sondern überdies detaillierte Angaben über produzierte Mengen, Umsatz, Produktionskosten, Arbeitskräfteentwicklung und getätigte Investitionen. Wir nutzen im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützten Forschungsprojekts die im Bundesarchiv verfügbaren Wirtschaftsprüfungsberichte zur Identifizierung der Ursachen der beobachtbaren Produktionssteigerungen in der deutschen Rüstungsendfertigung während des Zweiten Weltkriegs. Unterschieden wird hierbei unter anderem zwischen extensivem Wachstum durch Erhöhung der eingesetzten materiellen Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital und intensivem Wachstum durch Produktivitätssteigerungen infolge von technischem und organisatorischem Fortschritt, Lerneffekten und überbetrieblichen Wissensübertragungen. Angesichts der Tatsache, dass der von Wagenführ bereitgestellte Rüstungsindex mit Flugzeugen, Panzern, Schiffen, Kraftfahrzeugen, Waffen, Munition sowie Pulver und Sprengstoffen Güter unterschiedlichster Qualität und Komplexität umfasst, konnte zu Beginn dieses Projekts nicht davon ausgegangen werden, dass eine übergeordnete ökonomische Erklärung des „Rüstungswunders“ gefunden werden kann, die für alle mit der Rüstungsproduktion befassten Unternehmen gleichermaßen Gültigkeit besitzt. Es erschien uns daher notwendig, Schritt für Schritt die Produktionsbedingungen in den unterschiedlichen Rüstungsbranchen zu untersuchen. In diesem Aufsatz werden die bisherigen Ergebnisse des Forschungsprojekts für Rüstungsunternehmen aus den drei verschiedenen Branchen Luftrüstung, Pulverindustrie und Munitionsindustrie zusammenfassend vorgestellt. Besonderer Wert wird auf die ausführliche Darstellung der Analysemethoden gelegt.

17

Weitere Wirtschaftsprüfungsberichte finden sich im Bestand des Rechnungshofes (R 2301).

43

Ursachen des „Rüstungswunders“

2. Wachstumsfaktoren in der deutschen Luftrüstungsindustrie Die Luftrüstungsindustrie hatte mit beispielsweise 35,7% im Herbst 1943 unter allen Rüstungsbranchen den größten Anteil am in Schaubild 1 dargestellten Rüstungsindex und bestimmte damit maßgeblich dessen Entwicklung während des Zweiten Weltkriegs.18 Tabelle 2: Produkte und Wachstumsfaktoren der betrachteten Luftrüstungsfirmena Firmen

Junkers Flugzeug- und Motorenwerke, Dessau Siebel Flugzeugwerke, Halle Mitteldeutsche Motorenwerke GmbH (Mimo) Leipzig Weser Flugzeugbau, Bremen Arado Flugzeugwerke, Potsdam ATG Allgemeine TransportanlagenGesellschaft, Leipzig Heinkel-Werke, Oranienburg

Produktions- Zeitschwerpunkt raum

Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate

Reale Produktion 1940– 87% 1942

Arbeits- Anlage- Arbeitsproduk- kapital kräfte tivität 70% 18% 17%

1939– 74% 1943

53%

7%

22%

1938– 71% 1943

33%

12%

29%

1939– 50% 1942 1940– 38% 1942

29%

17%

22%

24%

25%

14%

1940– 30% 1942

26%

30%

3%

Ju 88 1941– 23% Tragflächen u. 1943 Endmontage

0%

0%

23%

Ju 88 Bomber, Jumo Motoren Ju 88 Tragflächen u. Endmontage Jumo Motoren Ju 87 Bomber Ju 88 Tragflächen u. Endmontage Ju 88 Endmontage

a) Vgl. die Prüfungsberichte der Deutschen Revisions- und Treuhand AG für die jeweiligen Produzenten.

Eine zentrale Stellung im Produktionsprogramm der Luftrüstungsindustrie nahm die Erzeugung der von den Junkers Flugzeug- und Motorenwerken entwickelten Modelle Ju 87 und insbesondere Ju 88 ein. Allein von der Ju 88 wurden zwischen 1939 und 1944 ca. 14 000 Stück hergestellt. Die Wachstumsfaktoren der mit der Fertigung dieser beiden Flugzeugtypen befassten sieben Unternehmen Junkers, Arado, ATG, Heinkel-Oranienburg, Mitteldeutsche

18

Rolf Wagenführ: Die deutsche Industrie im Kriege 1939–1945, Berlin 1954, S. 69.

44

Jonas Scherner, Jochen Streb

Motorenwerke, Siebel und Weser werden im Folgenden näher untersucht. Tabelle 2 zeigt, dass das hohe durchschnittliche jährliche Wachstum der Produktionsleistung der betrachteten Luftrüstungsunternehmen zum Teil auch durch einen Anstieg der eingesetzten materiellen Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital erklärt werden muss. Insbesondere jedoch lässt die Zusammenschau der Spalten für die reale Produktion und für die Arbeitsproduktivität einen positiven Zusammenhang zwischen dem realen Produktionswachstum und dem Wachstum der Arbeitsproduktivität vermuten. Unternehmen wie Junkers, Siebel und die Mitteldeutschen Motorenwerke, deren Arbeitsproduktivität besonders stark anstieg, waren deshalb offensichtlich auch dazu in der Lage, ihre reale Produktion deutlich zu erhöhen. Hingegen wiesen Unternehmen wie ATG und insbesondere Heinkel mit vergleichsweise schwachem Wachstum der Arbeitsproduktivität auch nur ein relativ geringes Wachstum ihrer realen Produktion auf. Schaubild 2: Durchschnittliche Arbeitszeit pro Ju 88 (ATG, Junkers, Siebel) in Stunden, August 1939–August 1941, log-lineara 100000

Mrz 41

Mrz 40

10000

a) Lutz Budraß/Jonas Scherner/Jochen Streb: Learning and Outsourcing: Explaining Growth of Output and Labour Productivity in the German Aircraft Industry During World War II, in: Economic History Review (im Erscheinen).

Der Blick auf die zeitliche Entwicklung der benötigten Arbeitszeit pro erzeugter Ju 88 im Durchschnitt der drei Hersteller ATG, Junkers und Siebel in Schaubild 2 verdeutlicht darüber hinaus, dass es – passend zu den jüngsten Zweifeln an der Existenz eines plötzlichen „Rüstungswunders“ ab Februar 1942 – bereits lange vor diesem Termin zu einer erheblichen und vor allem kontinuierlichen Steigerung der Arbeitsproduktivität bei der Fertigung der Ju 88 gekommen ist. Diese deutliche Senkung der durchschnittlichen Arbeits-

Ursachen des „Rüstungswunders“

45

zeit19 von 100 000 Stunden pro Ju 88 im Oktober 1939 auf nur wenig mehr als 15 000 im August 1941 war dem Luftfahrtministerium nicht nur bekannt, sondern wurde von diesem im Rahmen seiner Output- und Arbeitskräftebedarfsprojektionen sogar erwartet.20 Als erstes Zwischenfazit ist somit festzuhalten, dass zumindest im Junkersprogramm das hohe Wachstum der realen Produktion in erster Linie durch ein ähnlich starkes Wachstum der Arbeitsproduktivität hervorgerufen wurde – und zwar auch schon, wie wir gerade gesehen haben, lange vor dem Amtsantritt Speers. Auf welchen Ursachen beruhte nun dieses Wachstum der Arbeitsproduktivität? Zur Beantwortung dieser Frage greifen wir nicht nur für den Fall der Luftrüstungsindustrie auf das Konzept der Gesamtfaktorproduktivität zurück.21 Die Entwicklung der Gesamtfaktorproduktivität eines Unternehmens kann mit Hilfe einer Cobb-Douglas-Produktionsfunktion abgeschätzt werden, welche die Verwirklichung einer bestimmten Produktionsleistung (O) durch den Einsatz der drei materiellen Produktionsfaktoren Arbeit (A), Kapital (K) und Vorleistungen (V) sowie durch das aktuelle Effizienzniveau (F) der betrachteten Produktionsstätte erklärt: (1)

O = F ⋅ Aα ⋅ K β ⋅ V γ

mit α + β + γ = 1 .

Unter der Annahme konstanter Skalenerträge entspricht die Summe der in dieser Gleichung verwendeten Produktionselastizitäten α, β und γ dem Wert 1. Angesichts der unvollständigen Information des staatlichen Auftraggebers muss angenommen werden, dass die deutschen Rüstungsfirmen während des Zweiten Weltkriegs einen erheblichen Preissetzungsspielraum besaßen, sodass die mit ihnen vereinbarten Abnahmepreise deutlich oberhalb ihrer Grenzkosten lagen. In diesem Fall empfiehlt es sich, die Produktionselastizitäten der drei materiellen Produktionsfaktoren nicht, wie bei vollständiger

19

Der in Schaubild 2 erkennbare kleine Anstieg der Kurve im Frühjahr 1940 war auf die Produktionsaufnahme der im Vergleich zu Junkers kleinen Firmen ATG und Siebel zurückzuführen, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht über die Erfahrungen der Ju 88-Pionierfirma verfügten. Der vergleichsweise starke, aber gleichwohl nur kurzfristige Einbruch in der Arbeitsproduktivität im Frühjahr 1941 war das Ergebnis eines Variantenwechsels zur Ju 88 A 4 und den damit verbundenen Anpassungskosten. 20 Lutz Budraß/Jonas Scherner/Jochen Streb: Learning and Outsourcing: Explaining Growth of Output and Labour Productivity in the German Aircraft Industry During World War II, in: Economic History Review (im Erscheinen). Vergleichbare Lerneffekte sind bei Henschel und Messerschmitt zu beobachten. Vgl. ebd. S. 19; Adam Tooze: The Wages of Destruction: The Making and Breaking of the Nazi Economy, London 2006, S. 583. 21 Für eine detaillierte Darstellung dieses Konzepts vgl. Jonas Scherner/Jochen Streb: Wissenstransfer, Lerneffekte oder Kapazitätsausbau? Die Ursachen des Wachstums der Arbeitsproduktivität in den Werken der Deutschen Sprengchemie GmbH, 1937–1943, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte. Journal of Business History 53 (2008), S. 100–122.

46

Jonas Scherner, Jochen Streb

Konkurrenz üblich, auf Grundlage der Produktionsleistung, sondern anhand ihres jeweiligen Anteils an den gesamten Produktionskosten abzuschätzen.22 In Wachstumsraten gilt für Gleichung (1): (2)

Oˆ = Fˆ + α ⋅ Aˆ + β ⋅ Kˆ + γ ⋅ Vˆ.

Durch Umformung von Gleichung (2) ergibt sich die Wachstumsrate der Gesamtfaktorproduktivität, mithin die Veränderungsrate des Effizienzniveaus F, als Residualgröße aus der Differenz zwischen der Wachstumsrate der Produktionsleistung und den mit ihren Produktionselastizitäten gewichteten Wachstumsraten der drei materiellen Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Vorleistungen: (3)

Fˆ = Oˆ − α ⋅ Aˆ − β ⋅ Kˆ − γ ⋅ Vˆ .

Alle Größen der rechten Seiten von Gleichung (3) sind messbar und können den von der Deutschen Revisions- und Treuhand AG erstellten Wirtschaftsprüfungsberichten entnommen werden. Die Entwicklung der Gesamtfaktorproduktivität auf der linken Seite von Gleichung (3) wird in aller Regel als eigenständige Fortschrittskomponente interpretiert, welche die Zunahme des ökonomisch genutzten Wissens quantifiziert, das durch Investitionen in bessere Maschinen und Humankapital oder auch durch Lerneffekte und durch überbetriebliche Wissensübertragung vermehrt werden kann.23 Zur Identifizierung und späteren Quantifizierung der potentiellen Determinanten des beobachtbaren Anstiegs der Arbeitsproduktivität in den untersuchten Unternehmen subtrahieren wir auf beiden Seiten von Gleichung (2) die Wachstumsrate des Produktionsfaktors Arbeit. Wir erhalten schließlich: (4)

Oˆ − Aˆ = Fˆ + β ⋅ ( Kˆ − Aˆ ) + γ (Vˆ − Aˆ ) .

Gleichung (4) zeigt in Wachstumsraten, dass ein Anstieg der Arbeitsproduktivität (O/A) nicht nur im Zuge einer Erhöhung des betrieblichen Effizienzniveaus (F), sondern auch durch einen Anstieg der Kapitalintensität (K/A) oder der Vorleistungsintensität (V/A) herbeigeführt werden kann.

22

Vgl. Jim R. Malley/V. Anton Muscatelli/Ulrich Woitek: The Interaction between Business Cycles and Productivity Growth, in: B. van Ark/S. K. Kuipers/G. H. Kuper (Hg.): Productivity, Technology and Economic Growth, Boston/Dordrecht/London 2000, S. 131–157, insb. S. 136–139. 23 Darüber hinaus beinhaltet diese Residualgröße aber auch alle anderen Einflussfaktoren des Produktionsergebnisses, die nicht durch eine mengenmäßige Veränderung der materiellen Produktionsfaktoren beziffert werden können. Hierzu gehören beispielsweise Veränderungen der individuellen Arbeitszeit und der Arbeitskräftestruktur in den Rüstungsbetrieben (männliche versus weibliche Arbeitskräfte, freiwillige Lohnarbeiter versus Dienstverpflichtete oder Zwangsarbeiter), aber auch alle Messfehler, die sich bei der Ermittlung der materiellen Produktionsfaktoren und des Produktionsergebnisses ergeben können.

Ursachen des „Rüstungswunders“

47

Welche dieser drei potentiellen Einflussgrößen verursachte die Steigerung der Arbeitsproduktivität in den betrachteten Luftrüstungsfirmen während des Zweiten Weltkriegs? Wie oben bereits angedeutet, finden sich in den Wirtschaftsprüfungsberichten alle zur Berechnung der Gleichungen (3) und (4) benötigten Informationen über die Produktionsleistung, die materiellen Produktionsfaktoren und die Produktionskosten der Luftrüstungsfirmen.24 Dabei ist die Produktionsleistung (O) als Summe aus dem Umsatz, den im aktuellen Wirtschaftsjahr selbst erstellten neuen Anlagen und der Veränderung des Lagerbestandes an Halb- und Fertigerzeugnissen in laufenden Preisen verfügbar. Zur Berechnung der realen Produktionsleistung verwenden wir einen selbst erstellten Preisindex für die Hauptprodukte der jeweiligen Unternehmen.25 Die Wachstumsrate des nominalen Kapitalstockes (K) interpretieren wir als einen hinreichend zuverlässigen Indikator für die Wachstumsrate des realen Kapitalstockes, weil die Opportunitätskosten des Kapitals – der Zinssatz – im regulierten Kapitalmarkt Deutschlands konstant waren. Da wir keine genauen Angaben über die wöchentlichen Arbeitszeiten in den betrachteten Unternehmen im Untersuchungszeitraum haben, verwenden wir als Indikator für den Arbeitseinsatz (A) die durchschnittliche jährliche Zahl der Arbeiter und Angestellten. Ein größeres Problem ergibt sich aus dem Umstand, dass ein Preisindex für die Vorleistungen (V), die von den betrachteten Unternehmen verbraucht wurden, aufgrund fehlender Angaben in den Wirtschaftsprüfungsberichten nicht berechnet werden kann, sodass lediglich Schätzungen für eine Obergrenze (Fall 1) und eine Untergrenze (Fall 2) der Preisentwicklung der Vorleistungen zur Verfügung stehen. Bei der Obergrenze (Fall 1) unterstellen wir, dass die Vorleistungspreise im Zeitablauf unverändert blieben und nicht wie die Preise der Produkte der Luftrüstungsunternehmen kontinuierlich sanken. Auf Grundlage dieser Annahme eines konstanten Preisindexes der Vorleistungsgüter errechnen sich minimale Wachstumsraten des realen Vorleistungsinputs (nominale Vorleistungen dividiert durch Preisindex der Vorleistungen) und damit der Vorleistungsintensität (reale Vorleistungen dividiert durch Arbeitseinsatz). Wenn, wovon auszugehen ist, im Betrachtungszeitraum die nicht dokumentierten Preise der Vorleistungsgüter gleichwohl gesunken sind und hierdurch eigentlich eine Steigerung des tatsächlichen realen Vorleistungseinsatzes und damit der Produktion bewirkten, wird dieser Produktionseffekt unter den Annahmen von Fall 1 indirekt durch eine Erhöhung der Residualgröße Gesamtfaktorproduktivität erfasst, die deshalb unter der 24

Für die Details der Berechnungen vgl. Lutz Budraß/Jonas Scherner/Jochen Streb: Learning and Outsourcing: Explaining Growth of Output and Labour Productivity in the German Aircraft Industry during World War II, in: Economic History Review (im Erscheinen). 25 Die Hauptprodukte sind Ju 88 Tragflächen (Arado, Heinkel und Siebel), Ju 52 und Ju 88 Rümpfe (ATG), Ju 87 (Weser), Ju 88 Zellen und Jumo Motoren (Junkers) sowie Jumo Motoren (Mimo).

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Jonas Scherner, Jochen Streb

Annahme konstanter Vorleistungspreise ihre maximale Wachstumsrate erreicht. Die Untergrenze (Fall 2) geht im Gegensatz zu Fall 1 davon aus, dass die Vorleistungspreise eines jeden Unternehmens mit dem gleichen Prozentsatz wie die Preise der von diesem Unternehmen hergestellten Endprodukte sanken. Somit weist Fall 2 in der Wachstumsanalyse den Produktionseffekt von (möglicherweise) erfolgten Preissenkungen bei den Vorleistungsgütern direkt dem Wachstumsfaktor Vorleistungsintensität zu. Hieraus ergeben sich maximale Wachstumsraten des realen Vorleistungsinputs und der Vorleistungsintensität und folglich eine minimale Steigerung der Gesamtfaktorproduktivität. Da es Hinweise darauf gibt, dass auch die Vorleistungsproduzenten ihre Produktionseffizienz während des Zweiten Weltkriegs steigern konnten, diese Effizienzsteigerungen aufgrund der geringeren Komplexität vieler Vorleistungsgüter aber weniger stark ausfielen als bei den Endprodukten der Flugzeugindustrie, kann wohl davon ausgegangen werden, dass die tatsächlichen Preissenkungen bei den Vorleistungsgütern und damit auch die Wachstumsraten der Gesamtfaktorproduktivität und der Vorleistungsintensität zwischen den hier geschätzten Ober- und Untergrenzen lagen. Die Auswertung dieser von den Prüfungsberichten bereitgestellten Informationen gemäß der Gleichungen (3) und (4) führte zu den in Tabelle 3 gezeigten Ergebnissen. Die in Tabelle 3 präsentierten Ergebnisse unserer Berechnungen zeigen erstens, dass das Wachstum der Arbeitsproduktivität der untersuchten sieben Luftrüstungsfirmen im Allgemeinen nicht durch eine Erhöhung der KapitalTabelle 3: Ursachen für die Steigerung der Arbeitsproduktivität in der Luftfahrtindustrie (in jährlichen Wachstumsraten)a Firma

Arbeitsproduktivität

GesamtfaktorKapitalproduktivität intensität Minimum Maximum (Fall 2) (Fall 1)

Vorleistungsintensität

69,9%

11,9%

27,2%

58,4%

Siebel

52,3%

Mimo

33,1%

Junkers

Minimum Maximum (Fall 1) (Fall 2)

43,2%

0,0%

12,9%

36,4%

–1,8%

17,4%

41,4%

7,7%

20,6%

–2,1%

15,6%

28,2%

Weser

28,7%

7,9%

12,1%

–1,2%

16,6%

22,2%

ATG

26,4%

–2,8%

6,4%

5,8%

14,2%

22,7%

Arado

23,5%

7,3%

15,3%

1,5%

6,5%

14,6%

0,3%

–4,9%

4,4%

–2,3%

–2,3%

6,5%

Heinkel

a) Die Summe der Wachstumsraten der Gesamtfaktorproduktivität und der mit ihren Produktionselastizitäten gewichteten Kapital- und der Vorleistungsintensitäten ergeben aufgrund von Rundungsfehlern nicht immer exakt den entsprechenden Wert der Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität. Quelle: Lutz Budraß/Jonas Scherner/Jochen Streb: Learning and Outsourcing: Explaining Growth of Output and Labour Productivity in the German Aircraft Industry During World War II, in: Economic History Review (im Erscheinen).

49

Ursachen des „Rüstungswunders“ Tabelle 4: Outsourcing: Anteil des Vorleistungsaufwands an den Gesamtkostena Jahr

Junkers

Siebel

1937 1938 1939

56%

Mimo

Weser

ATG

21%

36%

47%

47%

34%

52%

53%

58%

41%

59%

Heinkel

Arado

62%

52%

1940

63%

66%

64%

47%

58%

67%

53%

1941

71%

63%

66%

43%

62%

64%

51%

54%

63%

66%

55%

71%

68%

1942

79%

69%

68%

1943

88%

72%

72%

a) Lutz Budraß/Jonas Scherner/Jochen Streb: Learning and Outsourcing: Explaining Growth of Output and Labour Productivity in the German Aircraft Industry During World War II, in: Economic History Review (im Erscheinen).

intensität erklärt werden kann. Zweitens weisen – bis auf ATG und HeinkelOranienburg – alle betrachteten Firmen hohe Wachstumsraten der Gesamtfaktorproduktivität auf. Dieses Produktivitätswachstum ist auf Lerneffekte zurückzuführen: Im Verlauf steigender Stückzahlen sammelten sowohl die Manager als auch die Arbeiter der Luftfahrtunternehmen in den komplexen Produktionsprozessen des Flugzeugbaus beständig neue Erfahrungen und übten deshalb um so effizienter ihre Tätigkeiten aus, je öfter sie diese bereits zuvor durchgeführt hatten.26 Drittens spielte für das Wachstum der Arbeitsproduktivität die Steigerung der Vorleistungsintensität durch Outsourcing eine entscheidende Rolle: Standardisierte Komponenten wie Fahrgestelle oder Landeklappen, die zunächst von den Luftfahrtunternehmen selbst hergestellt worden waren, wurden im Verlauf des Krieges in zunehmendem Maße von der Zulieferindustrie produziert und einbaufertig an die Luftfahrtunternehmen geliefert. Dieser Ausbau der überbetrieblichen Arbeitsteilung erlaubte jeweils allen beteiligten Unternehmen die Realisierung von Vorteilen der Massenproduktion durch Spezialisierung – ähnlich wie Albert Speer es in seinen Erinnerungen auch behauptet hat. Wie Tabelle 4 zeigt, war allerdings zumindest im Bereich der Luftrüstung der Ausbau der Arbeitsteilung zwischen Flugzeugbauern und Lieferanten zu dem Zeitpunkt, im Jahr 1942, als Speer Rüstungsminister wurde, bereits weitgehend abgeschlossen.

26

Vgl. für eine ausführliche Analyse der Lerneffekte in der Luftrüstung Lutz Budraß/ Jonas Scherner/Jochen Streb: Learning and Outsourcing: Explaining Growth of Output and Labour Productivity in the German Aircraft Industry During World War II, in: Economic History Review (im Erscheinen).

50

Jonas Scherner, Jochen Streb

3. Wachstumsfaktoren in der deutschen Pulverindustrie Die Pulver- und Sprengstoffindustrie, die mit einem Anteil von 3% in Wagenführs Rüstungsindex einging27, wurde von den Großunternehmen DynamitAktiengesellschaft vorm. Alfred Nobel & Co und Westfälisch- Anhaltinische Sprengstoff AG sowie deren Tochtergesellschaften dominiert. Dieser Abschnitt beschränkt sich auf die Untersuchung der Wachstumsfaktoren der Deutschen Sprengchemie GmbH, die als ein sogenannter „Heereseigener Industriebetrieb“ gegründet und seit 1936 von der Westfälisch-Anhaltinischen Sprengstoff AG als privatwirtschaftlicher Pächter im Auftrag des Reiches betrieben wurde.28 Die Konzentration der Analyse auf die Sprengchemie wird erstens durch die enorme quantitative Bedeutung dieser Gesellschaft motiviert, die im Jahr 1942 54% des deutschen Pulvers produzierte und somit einen Anteil von 24% an der gesamten deutschen Pulver- und Sprengstoffproduktion hatte. Zweitens weisen die Wirtschaftsprüfungsberichte der Sprengchemie in ungewöhnlicher Detailfülle betriebswirtschaftliche Daten für alle acht, zu unterschiedlichen Zeitpunkten gegründete Produktionsstandorte aus29, sodass in dieser Fallstudie ausnahmsweise ein genauer innerbetrieblicher Vergleich der Produktivitätsentwicklung der einzelnen Werke eines Unternehmens und damit eine Beurteilung des Potentials von werksübergreifendem Wissenstransfer möglich ist. Eine Steigerung der Arbeitsproduktivität kann nämlich nicht nur durch Lerneffekte innerhalb eines Werkes, auf die bereits im vorangegangenen Abschnitt kurz eingegangen worden ist, sondern auch durch Wissensübertragung zwischen alten und neuen Werken hervorgerufen werden, wie im Folgenden anhand von Schaubild 3 näher erläutert werden soll. 27

Für das Folgende vgl. Jonas Scherner/Jochen Streb: Wissenstransfer, Lerneffekte oder Kapazitätsausbau? Die Ursachen des Wachstums der Arbeitsproduktivität in den Werken der Deutschen Sprengchemie GmbH, 1937–1943, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte. Journal of Business History 53 (2008), S. 100–122. 28 Generell zu heereseigenen Industriebetrieben vgl. Barbara Hopmann: Von der Montan zur Industrieverwaltungsgesellschaft (IVG) 1916–1951, Stuttgart 1996, S. 71–85. Zu den Motiven des staatlichen Eigentümers und der privatwirtschaftlichen Pächter vgl. Jonas Scherner: Die Logik der Industriepolitik im Dritten Reich: Die Investitionen in die Autarkie- und Rüstungsindustrie und ihre staatliche Förderung, Stuttgart 2008; Ders.: Investment Contracts between State Agencies and Industry in the Third Reich, in: Christoph Buchheim (Hg.): German Industry in the Nazi Period, Stuttgart 2008, S. 117–131. 29 Die beiden ältesten Werke waren Moschwig und Klietz im heutigen Bundesland Sachsen-Anhalt, die im Januar beziehungsweise April 1937 die Pulverproduktion aufnahmen. In den folgenden Jahren kamen mit Torgelow (Fabrikationsbeginn April 1939, Mecklenburg-Vorpommern), Oderberg (November 1939, Brandenburg), Kraiburg (Dezember 1940, Bayern), Forst (April 1941, Brandenburg), Geretsried (April 1941, Bayern) und schließlich Dreetz (Februar 1942, Brandenburg) sechs weitere Produktionsstandorte hinzu. Pünktlich zur Amtsübernahme von Rüstungsminister Albert Speer waren sämtliche acht Werke der Sprengchemie in Betrieb.

Ursachen des „Rüstungswunders“ Schaubild 3:

51

Lerneffekte und Wissensübertragungen – ein fiktives Beispiela

a) Jonas Scherner/Jochen Streb: Wissenstransfer, Lerneffekte oder Kapazitätsausbau? Die Ursachen des Wachstums der Arbeitsproduktivität in den Werken der Deutschen Sprengchemie GmbH, 1937–1943, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte. Journal of Business History 53 (2008), S. 110.

In Schaubild 3 wird die zunehmende Arbeitsproduktivität (abnehmender Arbeitskoeffizient) infolge von Lerneffekten durch die Bewegung auf der Lernkurve eines bestimmten Werkes beschrieben. Beispielsweise verringert sich der Arbeitskoeffizient in Werk A von 100 im Jahr 1937 schrittweise auf schließlich nur noch 10 im Jahr 1944. Das Konzept der Wissensübertragung von einem alten zu einem neuen Werk impliziert, dass zumindest ein Teil des in den alten Werken schrittweise aufgebauten Wissens um Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung von Beginn an in den jeweils neuen Werken genutzt werden kann. In Schaubild 3 wird dieser Effekt durch die vergleichsweise niedrigen Ausgangsniveaus der Lernkurven der neuen Werke B und C veranschaulicht. Werk B startet seine Fabrikation im Jahr 1939 nicht mit einem Arbeitskoeffizienten von 100, sondern aufgrund der genutzten Wissensübertragungen von Werk A bereits mit dem einem höheren Effizienzniveau entsprechenden Arbeitskoeffizienten von 80. Werk C profitiert von den bis 1941 in den Werken A und B realisierten Effizienzsteigerungen und kann seine Erzeugung daher mit einem vergleichsweise niedrigen Arbeitskoeffizienten von nur noch 60 beginnen. Wie entwickelte sich der Arbeitskoeffizient in den einzelnen Werken der Sprengchemie tatsächlich?30 Schaubild 4 zeigt, dass das älteste Werk Klietz 30

Zur Entwicklung von Produktion, Arbeitskräftebestand und Anlagevermögen in den einzelnen Werken vgl. Jonas Scherner/Jochen Streb: Wissenstransfer, Lerneffekte

52

Jonas Scherner, Jochen Streb

Schaubild 4: Die Entwicklung des Arbeitskoeffizienten in den Werken der Sprengchemie (Arbeitskoeffizient in Klietz 1937/38=100)a 130

120

110

100

90

Klietz Moschwig

80

Torgelow Oderberg Kraiburg 70

Forst Dreetz

60 1937/38

1938/39

1939/40

1940/41

1941/42

1942/43

a) Jonas Scherner/Jochen Streb: Wissenstransfer, Lerneffekte oder Kapazitätsausbau? Die Ursachen des Wachstums der Arbeitsproduktivität in den Werken der Deutschen Sprengchemie GmbH, 1937–1943, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte. Journal of Business History 53 (2008), S. 116.

zwischen 1937/38 und 1942/43 eine kontinuierliche Erhöhung seiner Arbeitsproduktivität verzeichnete, sodass die Indexzahl des Arbeitskoeffizienten (A/O) von 100 auf schließlich 68 sank. Zugleich war Klietz im Wirtschaftsjahr 1937/38 sowie zwischen 1939/40 und 1940/41 der Produktivitätsführer der Sprengchemie, in den anderen Wirtschaftsjahren gemessen an der Arbeitsproduktivität immer Zweiter hinter den ebenfalls vergleichsweise alten Werken Moschwig und Torgelow. Der Produktivitätseinbruch in Moschwig im Jahr 1939/40 ist durch den starken Rückgang der Produktion in den Monaten Januar und Februar 1940 infolge ausbleibender Kohlelieferungen zu erklären.31 In späteren Wirtschaftsjahren findet das Werk Moschwig aufgrund

oder Kapazitätsausbau? Die Ursachen des Wachstums der Arbeitsproduktivität in den Werken der Deutschen Sprengchemie GmbH, 1937–1943, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte. Journal of Business History 53 (2008), S. 111–115. 31 Vgl. Geschäftsbericht der Deutschen Sprengchemie GmbH, Berlin, für die Zeit vom 1. April 1939 bis 31. März 1940, BArch R 2301/5543 Teil 2, S. 2. Zur deutschen Transportkrise im Winter 1939/40 vgl. auch Adam Tooze: The Wages of Destruction: The Making and Breaking of the Nazi Economy, London 2006, S. 343f.

Ursachen des „Rüstungswunders“

53

seiner Umorientierung hin zu Granatfüllungen in der Produktivitätsanalyse keine Berücksichtigung mehr.32 Darüber hinaus legt Schaubild 4 auf den ersten Blick die Vermutung nahe, dass der innerbetriebliche Wissenstransfer zwischen den Betrieben gelang. Die neuen Werke wiesen zum Zeitpunkt ihrer jeweiligen Produktionsaufnahme einen deutlich niedrigeren Arbeitskoeffizienten als der jeweilige Produktionsführer bei seiner Produktionsaufnahme auf und erreichten sogar oft annähernd das aktuelle Effizienzniveau des Produktionsführers. Allerdings hat Gleichung (4) in Abschnitt 2 verdeutlicht, dass ein abnehmender Arbeitskoeffizient, das heißt eine zunehmende Arbeitsproduktivität, nicht nur durch eine Erhöhung des Effizienzniveaus, sondern zum Beispiel auch durch eine Erhöhung der Kapitalintensität bewirkt werden kann. Tatsächlich wird aus den Angaben in den Wirtschaftsprüfungsberichten ersichtlich, dass die neuen Werke der Sprengchemie zum Zeitpunkt der Produktionsaufnahme eine wesentlich höhere Kapitalintensität als die älteren Werke aufwiesen, die in vielen Fällen dem Drei- bis Vierfachen des jeweiligen Produktivitätsführers entsprach. Mit anderen Worten, der vergleichsweise niedrige Arbeitskoeffizient der neuen Werke zur Produktionsaufnahme muss nicht zwangsläufig auf erfolgreiche Wissensübertragung zurückgeführt werden, sondern könnte auch einfach nur dem Umstand geschuldet sein, dass in den später gegründeten Werken zunächst relativ viele Maschinen pro Arbeiter eingesetzt wurden. Um diese Hypothese zu überprüfen, berechnen wir in einem Gedankenexperiment den kontrafaktischen Arbeitskoeffizienten der neuen Werke, der sich ergeben hätte, wenn diese mit der gleichen Kapitalintensität wie der jeweilige Produktionsführer produziert hätten.33 Schaubild 5 zeigt das Ergebnis dieser Berechnungen. Nach der Reduktion ihrer vergleichsweise hohen Kapitalintensitäten weisen die meisten neuen Werke zu ihrem jeweiligen Fabrikationsbeginn keine höhere Arbeitsproduktivität auf, als das alte Werk Klietz bereits im Wirtschaftsjahr 1937/38 realisierte. So liegen die kontrafaktischen Arbeitskoeffizienten von Torgelow mit 119 im Wirtschaftsjahr 1939/40, von Kraiburg und Forst mit 107 beziehungsweise 103 im Wirtschaftsjahr 1941/42 sowie von Dreetz mit 100 im Wirtschaftsjahr 1942/43 nicht unterhalb des Basiswertes von Klietz mit 100 im Wirtschaftsjahr 1937/38. Dieser Befund impliziert, dass es den Managern der Sprengchemie nicht gelungen ist, das in den alten Werken im Zeitablauf akkumulierte Erfahrungswissen bei Fabrikationsbeginn in den neuen Werken 32

Das Werk Geretsried, das im Gegensatz zu den anderen Werken nicht Pulver, sondern Sprengladungen produzierte, wird aufgrund mangelnder Vergleichbarkeit in der Produktivitätsanalyse nicht berücksichtigt. 33 Für eine detaillierte Erläuterung dieser Berechnung vgl. Jonas Scherner/Jochen Streb: Wissenstransfer, Lerneffekte oder Kapazitätsausbau? Die Ursachen des Wachstums der Arbeitsproduktivität in den Werken der Deutschen Sprengchemie GmbH, 1937–1943, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte. Journal of Business History 53 (2008), S. 117 f.

54

Jonas Scherner, Jochen Streb

Schaubild 5: Die Entwicklung des kontrafaktischen Arbeitskoeffizienten in den Werken der Sprengchemie (Arbeitskoeffizient in Klietz 1937/38=100)a 160

Klietz Torgelow Kraiburg Dreetz

140

Moschwig Oderberg Forst

120

100

80

60

40 1937/38

1938/39

1939/40

1940/41

1941/42

1942/43

a) Jonas Scherner/Jochen Streb: Wissenstransfer, Lerneffekte oder Kapazitätsausbau? Die Ursachen des Wachstums der Arbeitsproduktivität in den Werken der Deutschen Sprengchemie GmbH, 1937–1943, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte. Journal of Business History 53 (2008), S. 119.

unmittelbar nutzbar zu machen. Der Wissenstransfer, sofern tatsächlich intendiert, war offensichtlich gescheitert.34 Um einen genaueren Eindruck über die tatsächlichen Ursachen der Arbeitsproduktivitätssteigerungen in den Werken der Sprengchemie zu erlangen, erfolgt analog zur Vorgehensweise bei der Analyse der Wachstumsfaktoren der Luftrüstungsindustrie35 eine Analyse der quantitativen Effekte von Gesamtfaktorproduktivität, Kapitalintensität und Vorleistungsintensität auf die Arbeitsproduktivität im vergleichsweise langlebigen Werk Klietz. In den ersten Produktionsjahren kann in Klietz (und auch in den anderen Werken) eine sehr hohe Wachstumsrate der Gesamtfaktorproduktivität beobachtet werden, die darauf schließen lässt, dass Arbeiter und Manager in der 34

Die Ausnahme von dieser Regel bildet das Werk Oderberg, das im Wirtschaftsjahr 1940/41 mit einem kontrafaktischen Arbeitskoeffizienten von 81 die Massenproduktion von Pulver aufnahm und im Wirtschaftsjahr 1942/43 bei Berücksichtigung der unterschiedlichen Kapitalintensitäten der effizienteste Pulvererzeuger der Werke der Sprengchemie war. 35 Vgl. Tabelle 3. Da im Falle der Pulvererzeugung ein Preisindex für die Vorleistungsgüter ermittelt werden konnte, war es hier nicht nötig, eine Ober- und Untergrenze der Preisentwicklung abzuschätzen.

55

Ursachen des „Rüstungswunders“

Anlaufphase der Pulverproduktion zunächst sehr hohe, aber offensichtlich nicht übertragbare Lerneffekte realisierten, die groß genug waren, um den gleichzeitigen Rückgang der Kapital- und Vorleistungsintensität mehr als auszugleichen und somit ein hohes Wachstum der Arbeitsproduktivität zu erzeugen. Anders als in der Luftrüstungsindustrie war bei der Pulvererzeugung das Lernpotential aber offensichtlich schon nach zwei Jahren weitgehend erschöpft. Nach dem Einlaufen der Produktion resultierten die weiteren Steigerungen der Arbeitsproduktivität vorwiegend aus einer Erhöhung der Kapitalintensität infolge anhaltender Investitionen und aus einer Erholung der Vorleistungsintensität, die in den ersten beiden Jahren stark gefallen war. Hierbei ist zu beachten, dass die Vorleistungsintensität im fünfjährigen Durchschnitt nahezu konstant geblieben ist und damit keinen Einfluss auf die langfristige Steigerung der Arbeitsproduktivität in Klietz ausübte. Der durchschnittliche Einfluss der Gesamtfaktorproduktivität war hingegen dominierend. So war das geometrische Mittel der jährlichen Wachstumsrate der Gesamtfaktorproduktivität im Zeitraum zwischen 1937/38 und 1942/43 fast so groß wie das der Arbeitsproduktivität. Tabelle 5: Ursachen für die Steigerung der Arbeitsproduktivität im Pulverwerk Klietz (in jährlichen Wachstumsraten)a Jahr Arbeitsproduktivität 38/39 39/40 40/41 41/42 42/43 Geometrisches Mittel

5,38% 9,22% 15,35% 2,94% 11,41% 7,61%

Jährliche Wachstumsrate Gesamtfaktor- Kapitalproduktivität intensitätb 20,34% 20,74% –0,98% –1,16% 1,33% 7,58%

–2,05% –2,23% 3,84% 3,81% 2,65% 1,17%

Vorleistungsintensitätb –12,91% –9,29% 12,5% 0,28% 7,34% –0,86%

a) Jonas Scherner/Jochen Streb: Wissenstransfer, Lerneffekte oder Kapazitätsausbau? Die Ursachen des Wachstums der Arbeitsproduktivität in den Werken der Deutschen Sprengchemie GmbH, 1937–1943, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte. Journal of Business History 53, 2008, S. 120. b) Die Wachstumsraten der Kapitalintensität und der Vorleistungsintensität sind mit den jeweiligen durchschnittlichen Produktionselastizitäten gewichtet. Die Kapitalquote beträgt hierbei 0,23, die Vorleistungsquote 0,61.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ebenso wie im Fall der betrachteten Luftrüstungsunternehmen auch bei den einzelnen Werken der Sprengchemie bereits lange vor Speers Amtsantritt Arbeitsproduktivitätssteigerungen zu beobachten sind. Lerneffekte spielten bei der Sprengchemie für die Steigerung der Arbeitsproduktivität die eindeutig dominante Rolle, wenn sie auch im Unterschied zur Luftrüstungsindustrie mit ihren ungleich komplexeren Erzeugnissen nur in der ersten Zeit nach der Produktionsaufnahme auftraten. Hingegen lassen unsere Berechnungen vermuten, dass das in den alten Werken akkumulierte Erfahrungswissen zum größten Teil nicht auf die neuen

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Jonas Scherner, Jochen Streb

Werke übertragen werden konnte. Dieser negative Befund, der durch die überdurchschnittlich gute Datenlage im Fall der Sprengchemie ermöglicht wurde, hat möglicherweise weitreichende Folgen für die Interpretation der Leistungssteigerung in der gesamten deutschen Rüstungsindustrie. Da der institutionelle Rahmen der Sprengchemie den werksübergreifenden Informationsaustausch im Vergleich zum Wissenstransfer zwischen unabhängigen und rivalisierenden Unternehmen erheblich erleichterte und dieser gleichwohl ohne messbare Folgen blieb, lässt sich auf Grundlage dieses Fallbeispiels zumindest vermuten, dass der von Speer und nachfolgenden Wirtschaftshistorikern so hervorgehobene potentielle Produktivitätseffekt des Wissenstransfers innerhalb der Ausschüsse und Ringe von nur geringer quantitativer Bedeutung war.

4. Besondere Wachstumshemmnisse in der Munitionsindustrie? Die Munitionsindustrie hatte einen Anteil von ca. 30% an Wagenführs Rüstungsindex und war damit nach der Luftrüstungsindustrie der zweitwichtigste Rüstungssektor während des Zweiten Weltkriegs.36 Aufgrund dieses vergleichsweise hohen quantitativen Gewichts übertrug sich die staatlich vorgegebene Reduktion der Munitionsproduktion nach dem Sieg gegen Frankreich im Sommer 1940 auf den übergeordneten Rüstungsindex und erklärt deshalb einen Großteil von dessen Stagnation in den Jahren 1940 und 1941.37 Diese Erkenntnis hebt den scheinbaren Widerspruch zwischen den Befunden der vorangegangenen Abschnitte, die für die Jahre 1940 und 1941 eine erhebliche Wachstumsdynamik in der Luftrüstungs- und Pulverindustrie konstatieren, und der wenig spektakulären Entwicklung des Rüstungsindexes im gleichen Zeitraum auf. Offensichtlich ist der makroökonomische Blick auf die Entwicklung des Rüstungsindexes allein irreführend. Die auf das einzelne Unternehmen bezogene Analyse der Wachstumsfaktoren in der Munitionsindustrie wird durch den Umstand erheblich erschwert, dass in dieser Rüstungsbranche im Unterschied zur Luftrüstungsindustrie und erst recht im Unterschied zur Pulverindustrie die Produktion nicht auf eine relativ überschaubare Zahl von Betrieben konzentriert war. Das lag unter anderem daran, dass der überwiegende Anteil der Munitionsfertigung nicht in Spezialbetrieben erfolgte, sondern vorwiegend von Unternehmen der Maschinenbau- und Metall verarbeitenden Industrie übernom36

Vgl. Jonas Scherner/Jochen Streb: Das Ende eines Mythos? Albert Speer und das so genannte Rüstungswunder, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 93 (2006), S. 178f. 37 Vgl. Adam Tooze: The Wages of Destruction: The Making and Breaking of the Nazi Economy, London 2006, S. 435.

Ursachen des „Rüstungswunders“

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men wurde, die vor Kriegsausbruch nur zivilwirtschaftliche Güter produziert hatten.38 Der Rückgriff auf das Produktionspotential dieser Unternehmen war bei der Munitionserzeugung deshalb möglich, weil die Produktionsprozesse hier wesentlich weniger komplex waren als beispielsweise bei dem High-Tech-Produkt Ju 88. Die wesentlich größere Anzahl von Betrieben und der Umstand, dass Munition auch von Unternehmen hergestellt wurde, die selbst während des Kriegs, zum Teil überwiegend, andere Produkte herstellten39, erschweren allerdings die Auswahl einer repräsentativen Stichprobe, zumal für die Mischbetriebe weitgehend keine Wirtschaftsprüfungsberichte überliefert sind. Daher haben wir uns in unserem Forschungsprojekt bisher lediglich auf die heereseigenen, aber privatwirtschaftlich betriebenen Munitionsproduzenten gestützt. Diese zehn Unternehmen40 mit insgesamt 17 Werken und 27 000 Beschäftigten zu Beginn des Jahres 1943 erzeugten allerdings nur einen kleinen Teil des deutschen Munitionsbedarfs, wie der Beschäftigtenanteil dieser Produzenten von etwa 1,4% an der gesamten deutschen Munitionsindustrie nahelegt.41 Ein weiteres Problem ergibt sich daraus, dass diese Munitionsproduzenten in aller Regel jeweils eine Vielzahl von Munitionstypen bei gleichzeitig häufigen Programmwechseln herstellten. Das erschwert die Analyse der Produktivitätsentwicklung. Allerdings kann aus der längerfristigen Preisentwicklung einzelner Munitionstypen indirekt doch auf die Produktivitätsentwicklung in den Munitionsunternehmen zurückgeschlossen werden, da die Festpreise42 für ein bestimmtes Produktionslos in aller Regel auf Basis der beobachteten Selbstkosten des vorausgegangenen Produktionsloses ausgehandelt wurden. Deshalb legen die in Tabelle 6 dokumentierten Preissenkungen für eine Reihe von Munitionstypen nahe, dass es auch in der Munitionsindustrie bereits vor dem Amtsantritt 38

Zur Rüstungsproduktion des Maschinenbaus, vgl. United States Strategic Bombing Survey (ed.): The Effects of Strategic Bombing on the German War Economy Overall Economic Effects Division, October 31, 1945, vol. 1, New York 1976, S. 219. 39 Vgl. z. B. für den Fall des Maschinenbauers Wanderer AG, Michael C. Schneider: Unternehmensstrategien zwischen Weltwirtschaftskrise und Kriegswirtschaft: Chemnitzer Maschinenbauindustrie in der NS-Zeit 1933–1945, Essen 2005. 40 Es handelt sich um die Unternehmen Märkisches Stahlformwerk GmbH, Deutsche Faserstoff-Gesellschaft mbH, Silva Metallwerk GmbH, Maschinenfabrik Donauwörth GmbH, Hanseatisches Kettenwerk GmbH, Metall und Eisen GmbH, Maschinen für Massenverpackungen GmbH, Collis Metallwerke GmbH, Gerätebau GmbH und Deutsche Messapparate GmbH. 41 Vgl. Wirtschaftsprüfungsberichte der heereseigenen Munitionsbetriebe. 1943 betrug die Beschäftigtenzahl in der deutschen Munitionsindustrie (einschließlich Böhmen und Mähren) 1,9 Millionen. Vgl. BArch R 3/1965, Zahlenübersicht III, Gliederung der Beschäftigten nach Erzeugung in Millionen für 1943. Im gleichen Jahr wurde Munition im Wert von 5 828 Mrd. RM produziert. Vgl. BArch R 3/1965, Brutto- und Nettoumsätze 1943, Bl. 2 4 7 . 42 Zur ökonomischen Funktionsweise von Festpreisverträgen vgl. die Ausführungen im ersten Abschnitt.

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Jonas Scherner, Jochen Streb

Albert Speers zu deutlichen Kostensenkungen, das heißt Effizienzsteigerungen gekommen ist. Beispielsweise sank im Fall der Märkisches Stahlformwerk GmbH der Festpreis des in dieser Zeit einzig produzierten Produktes, der Granate „15 cm Gr. 19“, zwischen dem Geschäftsjahren 1936/37 und 1938/39 von 39 RM auf 32,48 RM.43 Im folgenden Jahr kam es interessanterweise zu einer Unterbrechung dieser Abwärtsentwicklung und zu einem Wiederanstieg des Preises. Eine ähnliche Entwicklung ist auch bei anderen Munitionsproduzenten in den Geschäftsjahren 1939/40 und 1940/41 zu beobachten. Tabelle 6: Preisentwicklung in den heereseigenen Munitionsbetrieben (in RM); 1936/37–1943/44a Munitionstyp

1936/37 1937/38 1938/39 1939/40 1940/41 1941/42 1942/43 1943/44

Märkisches Stahlformwerk Granate 15 cm Gr. 19 39–34 35 Collis Metallwerke 3.7 cm Patrone 10.5 cm Patrone 8.66– (Stahl) 7.30 große 0.89Zündschrauben (Stahl) 0.66 kleine Zündschrauben 0,49(Messing) 0,43 Gerätebau Zünder S 30 Metall und Eisen GmbH 3.7 cm Patrone Hanseatisches Kettenwerk 2 cm Granate 3.7 cm Zünder 3.7 cm Patrone

32.48

33.56

31.93

2.45 6.103.40 0.710.64 0.33

2.09 4.27

2.20 4.38

0.64

0.57

0.30

0.30

13.33

12.48

2.97

1.50

27.70 2.17

2.10 3.88

12.48

10.41

9.85

2.59

2.43

2.32

0.70 0.98 2.63

0.70 1.27 2.67

0.58

0.57

2.40

1.85

23.67

9.82

a) Quelle: Wirtschaftsprüfungsberichte der jeweiligen Unternehmen. Die Geschäftsjahre der betrachteten Unternehmen dauerten jeweils vom 1. April bis zum 31. März des nachfolgenden Kalenderjahres.

Wahrscheinlich resultierte die in Tabelle 6 aufgezeigte diskontinuierliche Entwicklung von Festpreisen und Produktivität aus der bereits angesprochenen spezifischen Stop-and-Go-Politik des staatlichen Nachfragers nach Munition, die unter anderem dazu führte, dass in den ersten Kriegsjahren die kurzfristige Fluktuation der Arbeitskräfte in dieser Branche wohl wesentlich höher war als in der Luftrüstungs- und der Pulverindustrie. Eine starke Arbeits-

43

Vgl. Tabelle 6.

Ursachen des „Rüstungswunders“

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kräftefluktuation senkt im Allgemeinen die durchschnittliche Produktivität in einem Unternehmen – der Arbeitskoeffizient steigt, weil die Realisierung von betriebsspezifischen Lerneffekten durch die jeweils neuen Arbeitskräfte Zeit benötigt und das Erfahrungswissen von Stammarbeitern bei deren Entlassung oder Einberufung verloren geht. Überdies betonten die Zeitgenossen, dass ein zu rascher Zuwachs an neuen Arbeitskräften in Expansionsphasen dazu führen konnte, dass gar nicht genug Stammkräfte zum schnellen Anlernen der Neuankömmlinge vorhanden waren.44 Dass die Fluktuation von Arbeitskräften und der damit einhergehende Wandel in der Arbeitskräftestruktur tatsächlich einen nachweisbaren Einfluss auf die Arbeitsproduktivität der Munitionsunternehmen ausgeübt haben dürften, zeigt der Fall der Gerätebau GmbH. Für dieses Einproduktunternehmen liegen – im Unterschied zu den anderen Firmen – fast durchgängig Quartalsdaten über die Zahl der Beschäftigten und deren Qualifikationsprofil sowie die Festpreise für verschiedene, zeitlich aufeinander folgende Produktionslose vor. Diese Festpreise können unmittelbar als Indikator für die Entwicklung der Arbeitsproduktivität aufgrund von Lernen und Entlernen der Arbeitskräfte gedeutet werden, da im Betrachtungszeitraum die reale Vorleistungsintensität und die durchschnittliche Kapitalintensität der Gerätebau GmbH weitestgehend konstant blieben.45 Schaubild 6 verdeutlicht, dass relativ sprunghafte Erhöhungen der Beschäftigtenzahl und/oder eine deutliche Verschlechterung der Arbeitskräftequalität durch starke Fluktuationen und Senkung der Qualifikationsstruktur eine zentrale Rolle für Produktivitätseinbußen und damit für Erhöhungen der Festpreise bei der Gerätebau GmbH spielten. Insgesamt legen diese ersten Ergebnisse für die Munitionsindustrie nahe, dass auch in dieser Branche bereits vor Speer zeitweise Effizienzsteigerungen auftraten. Sie beruhten weitgehend auf Lerneffekten. Im Unterschied zu den Ju-88-Produzenten und zur Deutschen Sprengchemie wurden allerdings die Lernprozesse in einzelnen heereseigenen Munitionsbetrieben aufgrund eines deutlich stärkeren Zuwachses an unerfahrenen Arbeitskräften und ihrer erheblich stärkeren Fluktuation in der Anfangsphase des Krieges wahrscheinlich für eineinhalb bis zwei Jahre längerfristig unterbrochen.

44

Vgl. z. B. BA-MA RW 19/1503, Die Probleme der deutschen Rüstungswirtschaft im Kriege, OKW WiRüAmt Stab, Bearb.: Reg.Rat Dr. Tomberg, Abgeschlossen Ende September 1940, Bl. 99; BA-MA RW 21-25/20, Dissertation zu Auftragslenkung und Arbeitseinsatz im Bereich des Rüstungskommandos Halle, 1941. 45 Zwischen 1938/39 und 1941/42 kam es bei der Gerätebau GmbH zu keinen Kapitalinvestitionen, wahrscheinlich, weil das Werk bereits 1938/39 mit einer im Jahresdurchschnitt in etwa gleichen Zahl von Arbeitskräften wie in den folgenden drei Geschäftsjahren nur zu etwa zwei Dritteln ausgelastet war. Vgl. zur Auslastung BArch R 2301/5550, Lohn- und Leistungsstatistik der Montanbetriebe nach dem Stand vom 31. 12. 1938, Bl. 41. Zur Interpretation vgl. Gleichung (4).

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Jonas Scherner, Jochen Streb

Schaubild 6: Die Entwicklung des Preises bei einzelnen Auftragskontingenten des Flakzünders S 30 bei der Gerätebau GmbH und identifizierbare Einflussfaktoren, insbesondere Beschäftigungsschocks, 1938–1944 (RM/Stück)a

16

März bis Herbst 1938 massive Erhöhung der Beschäftigten; Qualifikationsstruktur bleibt unverändert

Sommer 1940: Rückgang um 40% nach Frankreichfeldzug; Qualifikationsstruktur bleibt unverändert

14

Anfang 1943 Umstellung der Fertigungsrohstoffe 12

10

8

6

4

Herbst/Winter 1939: Anstieg um 22%, weitgehend ungelernte

Oktober 1940 bis Frühjahr 1941:

weibliche Arbeitskräfte

um 44%, weitgehend ungelernte weibliche

Kurzfristiger Anstieg

Arbeitskräfte

Herbst 1941: Rückgang um 8%, hohe Zahl der

Sommer 1942: verstärkter Einsatz von

Einberufungen; massive Fluktuation in diesem Jahr

Kriegsgefangenen; hohe Zahl der Einberufungen;

(über 50%)

massive Fluktuation in diesem Jahr (ca. 40%)

2

0

a) Quelle: Wirtschaftsprüfungsberichte der Gerätebau GmbH. Die Abszisse zeigt die Abfolge der von 1 bis 28 durchnummerierten Produktionslose der Gerätebau GmbH. In Klammern wird das Geschäftsjahr aufgeführt, in dem das entsprechende Los produziert wurde.

5. Zusammenfassung Zusammenfassend hat die quantitative Analyse der während des Zweiten Weltkriegs wirksamen Wachstumsfaktoren gezeigt, dass das Produktionswachstum in den deutschen Unternehmen der drei Branchen Luftrüstung, Pulver und Munition nicht nur auf extensives Wachstum, sondern zu einem großen Anteil auf die Steigerung der Arbeitsproduktivität zurückzuführen ist. Die Steigerung der Arbeitsproduktivität fußte auf mehreren Ursachen, welche je nach Branche in unterschiedlicher Intensität eine Rolle spielten: erstens auf Lerneffekten, die wohl nicht von Person zu Person, von Werk zu Werk übertragbar waren, deren Realisierungsdauer von der Komplexität der Rüstungsgüter abhing und die überdies durch Arbeitskräftefluktuation infolge von Auftragsschwankungen massiv beeinflusst werden konnten, zweitens auf der Erhöhung der Kapitalintensität und drittens auf der Senkung der Fertigungstiefe.

Ursachen des „Rüstungswunders“

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Allerdings begann der starke Anstieg der Arbeitsproduktivität auf Unternehmensebene nicht wie von Speer und Wagenführ immer wieder während und nach dem Zweiten Weltkrieg suggeriert erst im Jahr 1942, sondern lange vor dem „Rüstungswunder“ und ist daher nicht exklusiv und auch nicht überwiegend der besonderen Leistungsfähigkeit des neuen Rüstungsministers zuzuschreiben. Vielmehr kam Albert Speer wohl eher der historische Zufall insoweit zu Passe, als der extensive Ausbau der deutschen Rüstungsindustrie erst und gerade zu seinem Amtsantritt weitgehend abgeschlossen war, sodass es oberflächlich betrachtet so schien, als ob der durch die Kapazitätserweiterung und die in den gerade aufgebauten oder umgestellten Werken anhaltenden Lerneffekte herbeigeführte Produktionsanstieg seiner Person zu verdanken war.

Daniel Uziel

Der Volksjäger Rationalisierung und Rationalität von Deutschlands letztem Jagdflugzeug im Zweiten Weltkrieg Im Jahr 1944 erreichte die deutsche Luftfahrtindustrie ihre höchsten Produktionszahlen: Insgesamt 39 607 Flugzeuge wurden hergestellt, im Vergleich zu 25 527 Maschinen im vorangegangenen Jahr. Die deutsche Führung hoffte, die Wende im Luftkrieg nicht nur durch die Steigerung der Produktion, sondern auch durch die Einführung neuester Flugzeugtypen zu erreichen. Fast alle Flugzeuge jedoch, die Deutschland in der zweiten Jahreshälfte 1944 und im Frühjahr 1945 produzierte, waren schon lange vorher entworfen und entwickelt worden. Das He 162-Düsenjägerprojekt – auch bekannt als „8-162“, „Volksjäger“, „Spatz“ und „Salamander“ – bildete diesbezüglich eine Ausnahme: Vor September 1944 existierte dieses Flugzeug noch nicht einmal auf dem Reißbrett, aber im März/April 1945 ging es bereits in die Serienfertigung. Die He 162 bildete nicht nur den zentralen Teil eines vollkommen neuen Konzeptes, um die alliierte Luftmacht zu bekämpfen, sondern sie bedeutete auch – und wichtiger noch – eine neue Produktionsstrategie innerhalb der deutschen Kriegswirtschaft. Die Geschichte des Volksjägers repräsentiert die Geschichte der deutschen Luftfahrtindustrie in den letzten Kriegsmonaten. Sie fasst die maßgeblichen Schritte der Umorganisation in der deutschen Luftfahrtindustrie während des Krieges zusammen. Das He 162-Projekt ist bislang kaum wissenschaftlich fundiert untersucht und seine Geschichte größtenteils populärwissenschaftlichen Arbeiten überlassen worden.1 Der folgende Aufsatz befasst sich mit der Produktionsgeschichte dieses Flugzeuges und versucht aufzuzeigen, welche wirtschaftliche und industrielle Rationalität hinter diesem Jäger-Projekt stand. Anhand der Entwicklungsund Produktionsgeschichte der He 162 sollen Arbeitsmethoden und Probleme der deutschen Luftfahrtindustrie in der Spätphase des Krieges näher beleuchtet werden. 1

Die wichtigsten Forschungen zu diesem Thema sind Ralf Schabel: Die Illusion der Wunderwaffen. Die Rolle der Düsenflugzeuge und Flugabwehrraketen in der Rüstungspolitik des Dritten Reiches, München 1994; Lutz Budraß: Flugzeugindustrie und Luftrüstung in Deutschland 1918–1945, Düsseldorf 1998; Ulrich Albrecht: Military technology and National Socialist ideology, in: Monika Renneberg/Mark Walker (Hg.): Science, Technology and National Socialism, Cambridge 1994, S. 88–125; Constanze Werner: Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit bei BMW, München 2006. Nutzbare populäre Werke sind v.a.: Alfred Hiller: Heinkel He 162 „Volksjäger“. Entwicklung, Produktion, Einsatz, Wien 1984; Jeffrey Ethell/Alfred Price: World War II Fighting Jets, Annapolis 1996; Richard J. Smith/Eddie J. Creek: Jet Planes of the Third Reich, Boylston 1982.

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Daniel Uziel

Idee und Konzeption Die Anfänge des Volksjägers sind im Herbst 1944 zu finden. Zu jenem Zeitpunkt realisierten Experten der Luftwaffe und des Reichsluftfahrtministeriums (RLM), dass der lang erwartete erste Strahltriebswerksjäger, die Messerschmitt Me 262, zu teuer, zu spät und in zu geringer Anzahl an die Front kam, um einen bedeutenden Einfluss auf den Luftkrieg ausüben zu können. Deswegen erreichten die Me 262-Verbände nie die erforderliche „kritische Masse“, die sich die Luftwaffenführung erhofft hatte, um die alliierte Luftmacht entscheidend zu bekämpfen. Wegen seiner komplizierten Konstruktion, seinem neuartigen und noch unausgereiften Strahltriebwerk, seiner hohen Kosten und verschiedener falschen Führungsentscheidungen wurden bis 10. Januar 1945 nur sechzig Me 262-Maschinen an die Luftwaffe geliefert.2 Außerdem erwies sich die Kampfleistung von Messerschmitts Maschine – die theoretisch ein überlegener Jäger war – bei den ersten Einsätzen als enttäuschend. Die Führung des RLM bzw. der Luftwaffe war nun gezwungen, andere, kostengünstigere und einfachere Methoden zur erfolgreichen Bekämpfung der alliierten Luftflotte zu finden. Nach einer Analyse der Probleme im Einsatz und in der Produktion neuerer Flugzeuge befahl am 5. September 1944 Oberstleutnant Siegfried Knemeyer, Chef der Amtsgruppe Flugzeugentwicklung im RLM, die blitzschnelle Untersuchung der Möglichkeit, einen „Kleinstjäger“ aus Holz und Stahl mit einem Strahltriebwerk zu entwickeln. Als Triebwerk sah man den BMW 003-Motor vor, der zu jenem Zeitpunkt – nach jahrelanger Entwicklungszeit – serienreif zur Verfügung stand. Das Flugzeug sollte eine Höchstgeschwindigkeit von 750 km/h erreichen, während man aber seiner geringen Größe wegen nur eine Flugdauer von 20 Minuten erwarten konnte. Es sollte eine maximal 600 m lange Startbahn benötigen, da die alliierten Bombardierungen die Rollflächen der Flugplätze immer stärker beeinträchtigen. Wenige Tage später wurde eine Ausschreibung für ein Flugzeug mit diesen Eigenschaften an die führenden Flugzeughersteller erteilt.3 Die Idee hinter dem leichten Düsenjäger-Projekt war sehr einfach: Es sollte in großer Anzahl kostengünstig hergestellt werden können, ein oder zwei große feindliche Maschinen abschießen und nach einigen Missionen – falls es 2

Ralf Schabel: Die Illusion der Wunderwaffen. Die Rolle der Düsenflugzeuge und Flugabwehrraketen in der Rüstungspolitik des Dritten Reiches, München 1994, S. 248; über die schlechten Kampfleistungen der Me 262: Alfred Price: The Last Year of the Luftwaffe, May 1944 to May 1945, London 1991, S. 176–177; Jeffrey Ethell/Alfred Price: World War II Fighting Jets, Annapolis 1996, S. 23–50. 3 Deutsches Museum (DM), FA001/827, Giese: Abschrift von FS Nr. 22181 vom 7. September 1944; Ralf Schabel: Die Illusion der Wunderwaffen. Die Rolle der Düsenflugzeuge und Flugabwehrraketen in der Rüstungspolitik des Dritten Reiches, München 1994, S. 248–249; National Air & Space Museum (NASM), 8131/303, Knemeyer: The Development of the 8–162, 12. July 1945.

Der Volksjäger

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diese überlebte – ausrangiert werden können. In wirtschaftlicher Perspektive war der „Kleinstjäger“ zwar ein sinnvolles Konzept, doch die Entscheidungsträger ignorierten größtenteils seine taktischen Beschränkungen, vor allem seine kurze Flugdauer und die Unfähigkeit der Luftwaffe, die für die geplante Anzahl der Flugzeuge benötigten Piloten zu trainieren. Fünf Firmen antworteten auf die Ausschreibung und reichten dem RLM vorläufige Entwürfe ein. Die Heinkel AG, die bereits im Sommer 1944 Pläne für leichte Jäger entworfen hatte, und Blohm & Voss konnten nach wenigen Tagen mit einem konkreten Angebot aufwarten. Vor allem Heinkel nahm das Projekt energisch in Angriff. Bereits vor dem Krieg war dieser Pionier des Schnellflugs vom RLM aus dem Bereich der Entwicklung von Schnellflugzeugen verdrängt worden und hatte während des Krieges fast nur Bomber produziert. Nach Beendigung der Bomberproduktion im Sommer 1944 und der darauffolgenden Konzentration aller Ressourcen auf die Jägerproduktion stand Heinkel praktisch ohne Auftrag da. Nun aber bestand die Aussicht, einen Jäger eines anderen Konstrukteurs in Lizenz zu produzieren, wie dies in der deutschen Luftrüstung in der Ära Speer üblich war. Mit dem Bau des neuen Jägers konnte die Firma nicht nur wieder ein eigenes Schnellflugzeug entwickeln, sondern sie konnte auch ihr strategisches Ziel ansteuern, nämlich die Stellung des größten Flugzeugherstellers einzunehmen.4 Heinkels Chefkonstrukteur, Siegfried Günther, hatte während des Sommers 1944 einige leichte Düsenjäger projektiert, und bereits am 10. Juli konnte Ernst Heinkel einen Entwurf für einen solchen Kleinjäger mit dem Titel P 1073 vorlegen.5 RLM-Amtsgruppenleiter Knemeyer gab kurz darauf die Genehmigung, das P 1073-Konzept weiter zu überprüfen.6 Der von Heinkel im September dem RLM vorgelegte Entwurf war eine vereinfachte Version der P 1073. Um die Entwicklungszeit zu verkürzen und die Produktion zu vereinfachen, wurde das Flugzeug teilweise aus Holz konstruiert, und es wurden Teile aus bereits existierenden Flugzeugen für seine Konstruktion verwendet. Nach Heinkels Einschätzung konnte eine vereinfachte P 1073-Maschine mit nur der Hälfte der Rohstoffe, die für die Herstellung der Me 262 benötigt wurden, produziert werden.7 Am 22. September 1944 stimmte Göring Heinkels Entwurf zu. Einen Tag später gab auch Hitler seine Zustimmung, obwohl die beiden Luftwaffengeneräle Kreipe und Galland dem Konzept mit Skepsis begegneten.8 Hitler be4

Lutz Budraß: Der Schritt über die Schwelle. Ernst Heinkel, das Werk Oranienburg und der Einstieg in die Beschäftigung von KZ-Häftlingen, in: Klaus Neitmann (Hg.): Zwangsarbeit in Berlin und Brandenburg während des Zweiten Weltkriegs, Potsdam 2001, S. 129–162, hier S. 133. 5 Richard J. Smith/Eddie J. Creek: Jet Planes of the Third Reich, Boylston 1982, S. 239. 6 DM, FA001/827, Aktennotiz: Besuch bei Oberstlt. Knemeyer am 12. Juli 1944. 7 NASM, 2055/638, Günther, Geschichte und Erfahrung der 162, 6. Juli 1945, S. 1. 8 Ralf Schabel: Die Illusion der Wunderwaffen. Die Rolle der Düsenflugzeuge und Flugabwehrraketen in der Rüstungspolitik des Dritten Reiches, München 1994, S. 249–250.

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tonte die Dringlichkeit des Projektes und bezeichnete es als Gewaltaktion, an der mehrere Betriebe und Dienststellen der Rüstungsindustrie sowie der Staat und die Partei beteiligt waren. Gleichzeitig befahl er eine monatliche Lieferung von 1 000 Flugzeugen und übertrug Philipp Kessler, Generaldirektor der Bergmann-Elektrizitätsgesellschaft und Vorsitzender des Rüstungsbeirates, die Führung des Projektes. Er gab auch sein Einverständnis, das Risiko eines kurzfristig konzipierten Programms, bei dem die Serienproduktion eines Flugzeuges ohne vorherige Probeflüge aufgetragen wird, hinzunehmen.9 Hitler bestätigte in den folgenden Monaten wiederholt die hohe Dringlichkeitsstufe des Projektes und betonte immer wieder Kesslers Position und Status. Die überlieferten Quellen geben jedoch ein anderes Bild ab: De facto wirkte Karl Frydag, Vorsitzender des Hauptausschusses Flugzeuge im RLM, als Leiter des „Kleinstjäger“-Programms. Frydags Position war dafür perfekt, da er zusätzlich Vorsitzender des Hauptausschusses Entwicklung war, was dazu führte, dass sowohl Entwicklung als auch Produktion in seinem Verantwortungsbereich lagen.

Entwicklung Der Zeitplan des Projektes war sehr eng, da die deutsche Führung den Beginn der Serienfertigung des Flugzeuges für den 1. Januar 1945 vorsah. Gemäß Plan sollte daher am 1. Oktober ein Versuchsmuster vorgestellt werden und der Erstflug spätestens am 10. Dezember stattfinden.10 Die Debatte um den neuen Jäger lief jedoch während dieser Zeit weiter. Der General der Jagdflieger, Adolf Galland, sowie weitere Luftwaffengenerale und Willi Messerschmitt stemmten sich vehement gegen die Idee, einen weiteren Strahljäger neben der Me 262 zu produzieren. Sie behaupteten, die Me 262 sei der beste Jäger und forderten daher, alle Kräfte ausschließlich darauf zu konzentrieren. Messerschmitt und andere wiesen zudem auf den Widerspruch hin, der zwischen dem Hochleistungscharakter des neuen Flugzeuges einerseits und der Unmöglichkeit bestand, die dafür benötigte hohe Anzahl Flugzeugführer in kürzester Zeit auszubilden.11 Der Widerstand blieb jedoch erfolglos und die Entwicklung des Programms lief ungehindert weiter. 9

US National Archives (NARA), RG243/6/Box224, Besprechung beim Führer am 21–23. September 1944, S. 1. 10 NASM, 2055/638, Günther, Geschichte und Erfahrung der 162, 6. Juli 1945, S. 1; Ralf Schabel: Die Illusion der Wunderwaffen. Die Rolle der Düsenflugzeuge und Flugabwehrraketen in der Rüstungspolitik des Dritten Reiches, München 1994, S. 248. 11 DM, FA001/827, Messerschmitt an Heinkel: Stellungnahme zum Projekt „Volksjäger“, 23. Oktober 1944, S. 1: Ralf Schabel: Die Illusion der Wunderwaffen. Die Rolle der Düsenflugzeuge und Flugabwehrraketen in der Rüstungspolitik des Dritten Reiches, München 1994, S. 249.

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Zu jenem Zeitpunkt tauchte der Name Volksjäger in Regierungskreisen vermehrt auf. Dieser Spitzname entstammte einer Idee des Generaloberst Alfred Keller, Chef des Nationalsozialistischen Fliegerkorps (NSFK), der im Sommer 1944 vorgeschlagen hatte, einen kleinen Düsenjäger zu entwickeln und ihn mit rasch ausgebildeten Piloten zu bemannen.12 Es gibt kein Indiz dafür, dass Kellers Plan etwas mit dem Kleinstjäger-Programm des RLM im September zu tun hatte. Der Begriff Volksjäger wird auch nicht in der Korrespondenz der Firmen bzw. des RLM und der Luftwaffe erwähnt. Aber er wurde bisweilen mit der Heinkel He 162 in Verbindung gebracht. Zudem wurde in der Endphase des Krieges das Präfix „Volk“ zahlreichen militärischen Geräten und Formationen – meist rudimentärer Natur – vorangestellt, wie etwa Volkssturm, Volksgewehr oder Volksgrenadier. Erinnert man sich daran, dass Hitler am 25.September 1944 den Aufbau des Volkssturms angekündigt hatte, so erstaunt es nicht, dass Volksjäger – ganz im Sinne der Propaganda – als bevorzugter Name gewählt wurde. Am 3. Oktober schlug Karl Otto Saur, Vorsitzender des Rüstungsstabes und praktisch Deutschlands oberster Rüstungsmanager, Göring vor, Mitglieder der Hitlerjugend als Piloten für den Volksjäger kurzfristig auszubilden.13 Dieser Plan wurde zwar nie ernsthaft in Erwägung gezogen, aber er spiegelte dennoch den „populären“ Charakter des Volksjägers wider und zeigt auf, wie er in bestimmten Kreisen angesehen wurde. Der Hauptteil der Entwicklungsarbeit wurde in Heinkels Betriebskomplex in Wien-Heidfeld durchgeführt und verlief zügig. Die erste He 162 flog am 6. Dezember – also vier Tage vor dem geplanten Termin – vom Flughafen Wien-Schwechat ab. Der Pilot stürzte aber während des zweiten Fluges tödlich ab. Ursache des Absturzes war die fehlerhafte Konstruktion der Holzteile, deren Leimung zu schwach für die Flugdynamik eines solchen Hochleistungsflugzeuges war. Dies war jedoch nur der Anfang der Probleme. Die nächste Mustermaschine wies schlechte Flugeigenschaften auf. Weitere Mustermaschinen stürzten in den nächsten Wochen aus verschiedenen Gründen ab. Um die Flugeigenschaften zu verbessern, wurden aerodynamische Flächen und Windkanalmodelle nochmals intensiv in den Forschungsanlagen der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt (DVL) und der Hamburgischen Schiffbau-Versuchsanstalt erprobt.14 Daraufhin wurden die Flügel neu konstruiert, und in der Folge weiterer Erprobungen kam es zu einer Reihe zusätzlicher Änderungen. Wegen dieser und anderer Schwierigkeiten kamen die ersten Maschinen erst Anfang April 1945 – in geringer Anzahl – zum Fronteinsatz beim Jagdgeschwader 1. Nur wenige Einsätze wurden in den letzten 12

Richard J. Smith/Eddie J. Creek: Jet Planes of the Third Reich, Boylston 1982, S. 239. 13 Bundesarchiv-Berlin (BA-B), R3/1749, Auszug aus dem Protokoll einer Sitzung des Rüstungsstabs vom 3. Oktober 1944. 14 NARA, RG72/116/Box17, Narrative Report No. 286–45, 4 .October 1945, S. 3.

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Die 23ste He 162 wurde von US Truppen auf dem Flugplatz München-Riem am Ende des Krieges gefunden (NARA, RG72/116/Box2).

Kriegstagen mit der He 162 geflogen. Es ist jedoch interessant zu bemerken, dass zwar einige Luftwaffengeneräle – darunter auch der General der Jagdflieger Gordon Gollob – gegen das Projekt waren, die Piloten der Luftwaffe das Flugzeug im Allgemeinen aber positiv bewerteten.15 Abgesehen von der normalen Jägerversion wurden weitere Versionen der He 162 geplant. Die wichtigsten waren zwei Trainerversionen: ein Holzsegelflugzeug in der Form des Jägers für die Grundausbildung und einen Doppelsitzer mit Triebwerk für die Weiterbildung der Fortgeschrittenen. Die Erfahrungen mit der Me 262 hatten gezeigt, wie schwierig es war, Piloten von konventionellen Flugzeugen auf Strahltriebwerksjäger umzuschulen. Deswegen forderte General Galland, dass 3% der He 162-Produktion den Trainern vorzubehalten seien.16 Wie in der deutschen Luftfahrtindustrie üblich, wurden Weiterentwicklungen der He 162 mit anderen Motoren und aerodynamischen Flächen schon vor dem Erstflug des Prototyps geplant, wobei keines dieser Versuchsmuster vor Kriegsende tatsächlich geflogen wurde. In Hinblick auf den Fronteinsatz war die He 162 bedeutungslos, aber im Vergleich zu anderen Flugzeugen wurde sie erstaunlich schnell und erfolg15

Jeffrey Ethell/Alfred Price: World War II Fighting Jets, Annapolis 1996, S. 162. DM, FA001/832, Francke: 162. Besprechung bei General Fliegerausbildung am 30. Oktober 1944.

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reich entwickelt und kam nur sieben Monate nach ihrer Konzeption zum Fronteinsatz. Selbst unter Kriegsbedingungen dauerte es normalerweise zwei bis vier Jahre, um einen Jäger zu entwickeln, zu produzieren und schließlich zum Fronteinsatz zu bringen. Eine Erklärung für die schnelle Entwicklung der He 162 ist die Tatsache, dass im September 1944 die deutsche Strahltriebwerkstechnologie nach zahlreichen Anlaufschwierigkeiten endlich serienproduktionsreif wurde und zumindest in diesem Bereich relativ wenige Probleme auftraten.

Produktionsplan Die He 162 war ein komplexes Rüstungsprojekt, das die Zusammenarbeit mehrerer Firmen und Dienststellen forderte. Schon vor Ende September 1944 hatte das RLM, die verschiedenen Hauptausschüsse unter dem Rüstungsstab und die beteiligten Firmen die Großserienfertigungspläne für die He 162 in Heinkels Konstruktionsbüro in Wien diskutiert. Vertreter der Firmen Junkers und Focke-Wulf wurden speziell zu dieser Besprechung eingeladen, da ihre Firmen Erfahrungen mit der Herstellung von Flugzeugen in Mischbauweise gesammelt hatten.17 Um brachliegende Kapazitäten von Heinkel und Junkers – die einstmals wichtigsten Bomberproduzenten – zu nutzen, wurden diese mit der Zellenfertigung und der Endmontage beauftragt.18 Mindestens dreizehn Fabriken beider Firmen waren am Ende des Krieges an der He 162-Produktion beteiligt. Ab August 1945 sollte auch die Firma WNF in Österreich Zellen produzieren.19 BMW sollte die 003E-1 Motoren an die Endmontage-Fabriken abliefern. Diese Version des Motors wurde insbesondere für die He 162 entwickelt, da man ihn im Gegensatz zu den anderen Flugzeugen auf dem Rücken des Flugzeuges anbrachte.20 Am 15. November legte Heinkel einen detaillierten Produktionsplan vor, einschließlich einer Liste der Rohstoffe und Arbeitskräfte, die für die Fertigung der Muster- und der Serienmaschinen benötigt wurden.21 Im Produktionsplan war ein breit angelegtes Netz von Fabriken und Zulieferern vorgesehen, das umfangreiche Baumaßnahmen der Organisation Todt forderte.22

17

NASM, 2709/145, 162 Fertigung Besprechung am 27. September 1945 in WienFichtegasse. 18 NARA, RG243/32/Box2, USSBS: Karl Frydag and Dr. Ernst Heinkel, Jet-Fighter He 162, n.d, S. 3. 19 Ebd., S. 5. 20 NARA, RG72/116/Box2, Technical Report No. 101-45. Bavarian Motor Works (BMW) – A Production Survey, June 1945, S. 10. 21 NASM, 2668/611, EHAG: Anlaufbericht, 15. November 1944. 22 DM, FA001/832, Protokoll über die Besprechung am 15. November 1944 mit Generalkommissar Kessler im Ausbildungswesen.

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Eine Zeichnung der Firma Junkers, die die Bauart der He 162 zeigt (DM, FA001/833)

Die Bauart des Flugzeuges diktierte eine ungewöhnliche Organisation der Produktion. Wie bereits erwähnt, wurden, um Gewicht und Kosten zu reduzieren, Flächen und Teile der Zelle aus Holz konstruiert. Der Produktionsauftrag der Holzteile wurde anfänglich an die Organisation May unter SS-Hauptsturmführer Kurt May erteilt. May und die SS wurden wegen ihrer Erfahrungen in der Holzindustrie beigezogen. May hatte zuvor die Möbelfirma Nobel für die SS geleitet, in der auch Holzteile für die Luftfahrtindustrie produziert wurden.23 Die Organisation May umfasste anfänglich drei, später sechs regionale Baukreise, die Holzteile für die Zellenfabriken in ihren Regionen abliefern sollten. Die Firmen in jedem Baukreis wurden weiter in sechs Sektoren unterteilt. Jeder Sektor produzierte einen oder mehrere Teile. Im Januar geriet May unter Korruptionsverdacht und wurde von Kessler zum Leiter eines Baukreises degradiert. Nun wurden die Baukreise direkt den Betriebsdirektoren ihrer zugehörenden Regionen unterstellt. Diese Organisation ähnelte dem Produktionsplan der Ta 154 Moskito – ein Mehrzweckflugzeug gemischter Bauart der Firma Focke-Wulf, das ab Anfang 1944 in Serie hergestellt werden sollte. Mehrere kleine Holzproduzenten wurden in drei Fertigungsringen organisiert und sollten Holzteile an die 23

Michael Thad Allen: The Business of Genocide. The SS, Slave Labor, and the Concentration Camps, London 2002, S. 242–244.

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drei Endmontage-Fabriken abliefern. Damit war jeder Ring ein autonomes Produktionszentrum innerhalb des Programms. Die Herstellung der He 162 richtete sich nach diesem Model aus, um die Fertigung unter jedem Umstand abzusichern. Musterbau und frühe Zellenfertigung fanden in Wien statt. Im Sommer 1944 hatte Heinkel einige Werkstätten in die unterirdische Grotte in Hinterbrühl bei Wien verlagert. Von Anfang an war dieses Werk als eine KZ-Fabrik gebaut worden, und die ersten Häftlinge aus dem KZ Mauthausen trafen dort gegen Ende September 1944 ein. Damit wurden dort die Mustermaschinen und die ersten Serienmaschinen gebaut. Dieses Werk mit dem Tarnnamen „Languste“ war eine typische Flugzeugfabrik der späten Kriegsphase. 1) Sie wurde untertage verlagert, um sie vor Entdeckung und Luftangriffen zu schützen. Göring hatte die Verlagerung von wichtigen Betrieben der Luftfahrtindustrie bereits im Januar 1944 befohlen24, wonach einen Monat später eine allgemeine Verlagerung der Luftfahrtindustrie nach der alliierten „Big Week“-Angriffswelle auf Zellen- und Motorenfabriken folgte. Ende 1944 stand der deutschen Luftfahrtindustrie 2,5 Mio. m2 unterirdische Fertigungsfläche zur Verfügung.25 Während der Verlagerung war die Luftfahrtindustrie innerhalb eines Jahres von 27 auf 729 Zellenfabriken und die Flugmotorenindustrie von 51 auf 249 Fabriken gewachsen.26 2) Die Produktion wurde in einer modernen Fließstraße organisiert. Im Gegensatz zur Automobilindustrie wurden vor dem Zweiten Weltkrieg Flugzeuge taktweise produziert. Taktfertigung forderte viel Zeit und hochqualifizierte Arbeiter, da auf jedem Takt mehrere Fertigungsaufgaben durchgeführt werden mussten. Die Umstellung der Flugzeugproduktion auf Fließbänder erfolgte jedoch erst spät ab 1941 und war gegen Ende 1943 immer noch im Gang.27 Fließbandfertigung benötigte mehr Arbeitskräfte, war aber effizienter und forderte weniger berufliche Ausbildung. Um Zeit und Aufwand zu sparen, wurde in „Languste“ und einigen anderen Fabriken jedoch kein mechanisches Fließband eingerichtet. Stattdessen wurden Karren verwendet, um Komponenten entlang der Fließstraße zu bewegen. 3) Die Unterteilung in mehrere, kürzere Arbeitsgänge entlang der Fließstraße dequalifizierte die Fertigungsarbeit und ermöglichte den vermehrten Einsatz ausländischer Arbeitskräfte bzw. Zwangsarbeiter und die Einsparung deutscher Fachkräfte.

24

NARA, T83/6/3747360, Der Reichsminister der Luftfahrt: Bombensichere Fertigungsräume, 26. Januar 1944. 25 Alan S. Milward: War, Economy and Society, 1939–1945, Berkeley 1979, S. 127. 26 USSBS, Aircraft Division, S. 24–25. 27 NARA, RG243/6/Box233, Erla files: 7c, Assembly Diagrams on Wings and Fuselages; Box 235, SA F4: Besichtigungsauswertung in Bezug auf die geplante Neukonstruktion der Takt- und Fließstraßen für die FW 190, 8. Oktober 1943.

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Plan des Werks „Languste“ (DM, FA001/833).

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Diese Struktur wiederholte sich in den meisten Fertigungsstätten der He 162 und ihrer Triebwerke, obwohl mehrere verlagerte Fabriken nicht untertage verbracht worden waren. Angesichts der Dringlichkeit der Situation erstaunt es, dass – gleich dem früheren Chaos der RLM-Verwaltung im Bereich der Luftfahrtgerätbeschaffung – Heinkel vom RLM, parallel zur Produktion der He 162, zusätzlich mit der Entwicklung und Produktion eines noch kleineren Jägers beauftragt wurde. Die Entwicklung des Raketenflugzeuges P 1077, das auch „Julia“ genannt wurde, hatte im Sommer 1944 begonnen, als man versucht hatte, einen Ersatz für den problematischen Me 163-Raketenjäger zu finden. Später bildete sich die Idee, einen sehr einfachen Abfangjäger zu entwickeln, den Piloten nach nur vier Wochen Schulung fliegen könnten.28 Am 8. September 1944 wurde Heinkel vom RLM beauftragt, 20 Julia-Mustermaschinen anzufertigen. Wenige Tage später legte die Firma einen Entwurf für die monatliche Herstellung von 300 Julia-Maschinen vor. Teile der Holzindustrie, die Holzteile für die He 162 herstellen sollten, wurden nun der Julia-Produktion zugewiesen.29 Dies führte dazu, dass Heinkels Konstruktionsbüro in Wien in den nächsten Monaten kostbare Zeit und Kapazität an diesem aussichtslosen Projekt verschwendete, während das RLM sich immer noch nicht für die Weiterführung dieses Projektes entscheiden konnte. Ende 1944 wurde Heinkel schließlich angewiesen, die Arbeit am Julia-Projekt einzustellen, doch einige Monate später – am 5. März 1945 – befahl Karl Frydag der Firma, das Projekt wieder aufzunehmen und in vollem Schwung wieder daran zu arbeiten.30 Es war jedoch zu spät, da am 31. März der Befehl kam, Wien wegen des Vormarsches der Roten Armee zu räumen. Die Rationalität hinter der Entscheidung, Zeit und Ressourcen an ein solch nutzloses Programm zu verschwenden, gerade zum Zeitpunkt, da ein besseres Flugzeug vor der Serienfertigung stand, bleibt unklar und erinnert an die Phase, als die Fachleute im RLM unter Ernst Udet Deutschlands Flugzeugproduktion ins Chaos gebracht hatten.

Produktionsablauf Mit dem Vorrichtungsbau für die Serienmaschinen war, um Zeit zu sparen, bereits vor dem Erstflug begonnen worden. Bis Mitte November wurden bereits 1 315 Arbeiter – davon 835 Häftlinge – in den drei Hauptfertigungsstellen („Languste“, Wien-Heidfeld und „Julius“ – eine Junkers KZ-Fabrik

28

DM, LRD/2442, Vier-Wochen Schulung der Geräteführer, o. D. NASM, 3391/16, Technische Direktion: Bericht über die wichtigsten Entwicklungsfragen in Wien (Stand Jahresende 1944), 29. Dezember 1944, S. 4. 30 NASM, 3391/16, Technische Direktion: Julia, Besprechung am 5. März 1945. 29

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bei Schönebeck) eingesetzt.31 Weitere Endmontage-Vorrichtungen wurden in den folgenden Monaten in Heinkels Hauptwerk Marienehe bei Rostock und im Junkerswerk Bernburg gebaut. Heinkels KZ-Fabrik in Barth und Junkers unterirdischer Betrieb „Ludwig II“ bei Staßfurt wurden beauftragt, Komponenten für die He 162 zu produzieren. Ab Januar 1945 wurden weitere Fabriken beauftragt, Teile und Komponenten für das He 162-Programm zu fertigen. Diese Verlagerung diente als zusätzliche Absicherung der Produktion gegen Luftangriffe. Unter den neuen Fabriken waren die Zellenfertigungsstätten im KZ „Berta“ bei Düsseldorf, die Waldwerke „Robert“ und „Karl“ sowie kleinere Werkstätten auf den Flugplätzen Perchim, Neubrandenburg und Neustadt-Glewe.32 BMW stellte die 003-Motoren in einigen verlagerten Betrieben her, aber die Hauptfertigungsstätten waren die Springen und Staßfurt.33 Als der Erstflug des Prototyps stattfand, war die Industrie schon bereit, die He 162 serienweise zu produzieren. Allerdings erforderten die Neukonstruktion der Flügel sowie weitere Konstruktionsänderungen laufend neue Vorrichtungen und somit den Umbau der fertigen Maschinen. Einsatzbereite Flugzeuge konnten somit nicht sofort abgeliefert werden, da sie nach den alten Plänen angefertigt worden waren. Die Endmontage-Fabriken mussten diese Maschinen an eine Reihe von Werkstätten abliefern, in denen die letzten Änderungen vorgenommen wurden. Dafür mussten wiederum weitere Firmen und Arbeitskräfte eingesetzt werden. Sogar die Werkstätten der Lufthansa in Oranienburg wurden beauftragt, Maschinen aus der Junkers-Produktion nach den neuen Plänen zu modifizieren.34 Weitere Produktionsschwierigkeiten tauchten bei der Anfertigung der Holzteile auf. Wie bereits zuvor bei der Ta 154 Moskito erwies sich auch jetzt die Qualität und Stärke der Holzteile als unzureichend für einen Hochleistungsjäger. Zahllose Teile waren schrottreif, und etliche Produzenten mussten von der Produzentenliste gestrichen werden, nachdem wiederholt schwere Defekte in ihren Produkten gefunden worden waren. Trotz vieler Anstrengungen und der Improvisation verschiedener Dienststellen trug die immer schlechter werdende Verkehrslage im Reich erheblich zur Verlangsamung der Produktion der He 162 bei. Wie die gesamte Luftfahrtindustrie nach der „Big Week“-Angriffswelle im Februar 1944 wurde das He 162-Produktionsnetzwerk weitgehend verlegt. Die Verlagerung sollte die Fertigung wichtigerer Produkte gegen Luftangriffe schützen und erwies sich als erfolgreiche Maßnahme, die erheblich zur Produktionssteigerung der 31

NASM, 2668/611, EHAG: Anlaufbericht, 15. November 1944, Anlage 10, 12. NASM, 2668/611, 5. und 6. Bericht über den Fertigungsstand des Baumusters 100 in Rostock, 5. Februar 1945. 33 NARA, RG72/116/Box2, Technical Report No. 101-45. Bavarian Motor Works (BMW) – A Production Survey, June 1945, S. 50. 34 NASM, 2668/611, Technische Direktion: 162. Wochenbericht vom 29. Januar bis 4. Februar 1945. 32

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Rumpfe, die bis zum Kriegsende in Bernburg auf Motoren und Holzteile warteten (NARA, RG72/116/Box2).

Luftfahrtindustrie im Jahr 1944 beitrug. Die Verlagerung hing jedoch vollkommen von einem funktionierenden Verkehrsnetz ab. Als die He 162 und ihr Produktionsplan konzipiert wurden, ging man von der Voraussetzung aus, dass das Verkehrsnetz innerhalb des Reiches weiterhin funktionieren würde. Diese Fehleinschätzung zeigt auf, dass die ansonsten fähigen Organisatoren und Fachleute der deutschen Führung die alliierte Luftstreitmacht gewaltig unterschätzten. Sie hätten es eigentlich besser wissen müssen, da die Luftwaffe der westlichen Alliierten während der Invasionsschlacht in der Normandie den Verkehr in Frankreich praktisch zum Stillstand gebracht hatte. Ab Ende September 1944 begann die alliierte Luftmacht das deutsche Verkehrsnetz systematisch anzugreifen. Die Flugzeugproduktion wurde davon sofort in Mitleidenschaft gezogen. Im Januar 1945 wurden allein auf die Bahnanlagen 30 000 Tonnen Sprengstoff abgeworfen.35 Im Februar, im Verlaufe des Unternehmens „Clarion“, griffen rund 9 000 alliierte Flugzeuge innerhalb von 24 Stunden ausschließlich Transportziele an.36 Die He 162Serienfertigung, die in einem breit verlagerten Netzwerk von Fabriken begonnen hatte, konnte nur mit großen Schwierigkeiten und Verzögerungen fortgeführt werden. 35

Alan J. Levine: The Strategic Bombing of Germany, 1940–1945, Westport 1992, S. 163–169. 36 Wesley Frank Craven/James Lea Cate (Hg.): The Army Air Forces in World War II, Bd. III, Washington 1983, S. 734–735.

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Die vielen Verkehrsstörungen führten zu Engpässen in der Lieferung von unentbehrlichen Teilen und Komponenten. Wegen des Lieferverzugs der 003-Motoren im Januar 1945 versuchte man in kürzester Zeit eine Version des Flugzeugs mit einem Jumo 004-Motor zu entwickeln. Der Hauptgrund der Störung in der Lieferung des Triebwerkes war die Tatsache, dass die Fahrt der Güterzüge, welche die Motorteile von den Zulieferern aus der Landesmitte Deutschlands in den Raum München transportierten, durchschnittlich 14 Tage dauerte. Gegen Ende Januar 1945 musste das Rüstungsministerium – trotz der akuten Treibstoffknappheit – LKWs für diese Transporte bereitstellen, um diese Engpässe zu umgehen.37 Trotz dieser prekären Erschwernisse blieb Heinkels Projektleitung optimistisch und rechnete Anfang Februar mit einer monatlichen Fertigung von 800 Flugzeugen bei Heinkel, 500 bei Junkers und 200 bei WNF.38 Diese Pläne hatten freilich nichts mit der Realität des Krieges zu tun. Jedes am Projekt beteiligte Unternehmen hatte seine besonderen Probleme erlebt, abgesehen von den vielen anderen Schwierigkeiten, von welchen die gesamte Luftfahrtindustrie betroffen war. Die geplante Ablieferung der ersten Serienmaschine aus Heinkels Werk Wien-Heidfeld an die Luftwaffe am 20. März 1945 schlug fehl, vor allem weil die Umrüstung der ersten Serienmaschine nicht rechtzeitig abgeschlossen werden konnte. Ein Grund dafür war die Tatsache, dass trotz der hohen Prioritätsstufe der Jägerproduktion die meisten Mitarbeiter der Umrüstungsfirma am Sonntag nicht arbeiteten.39 Hinzu kamen weitere Organisationsprobleme: So verlor Heinkel Anfang März 500 Kriegsgefangene, die im Werk Wien-Heidfeld gearbeitet hatten, da die ortsansässige Wehrmachtstelle sie ohne Rücksicht auf die Wichtigkeit ihrer Kriegsarbeit für Aufräumungsarbeiten nach Bombenschäden in Wien herangezogen hatte.40 Die vielen Produktionsschwierigkeiten führten dazu, dass die He 162-Produktion nie richtig in Schwung kam. Bis Kriegsende wurden nur 124 bis 140 He 162 angefertigt, und von diesen erreichten nur rund 60 Maschinen die Front.41

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Constanze Werner: Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit bei BMW, München 2006, S. 165. 38 NASM, 2668/611, Nachbau-Besprechung am 2. Februar 1945 in HWO Baumuster 162. 39 NASM, 3391/16, Francke: 162 Schleuse Halle 47, 26. Februar 1945. 40 NASM, 3391/16, Technische Direktion: 162. Wochenbericht vom 26. Februar bis 4. März 1945. 41 Ralf Schabel: Die Illusion der Wunderwaffen. Die Rolle der Düsenflugzeuge und Flugabwehrraketen in der Rüstungspolitik des Dritten Reiches, München 1994, S. 284.

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Zwangsarbeit und die He 162-Produktion Bereits in der ersten Phase des He 162-Projekts basierten der Musterbau und die Großserienfertigung in erheblichem Umfang auf Zwangsarbeit. Damit fügt sich auch dieses Projekt in die dominante Entwicklung der Fertigungsverhältnisse der deutschen Luftfahrtindustrie während des Krieges ein. Constanze Werner resümiert: „In der Flugzeugindustrie wurde wie in keiner anderen Branche daher auch Zwangsarbeit und KZ-Häftlingseinsatz so massiv, so frühzeitig und so skrupellos eingesetzt.“42

Schon gegen Ende 1941 versuchten das RLM sowie einige Firmen, den sich verschärfenden Mangel an deutschen Arbeitskräften vermehrt durch den Einsatz von Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen auszugleichen. Die guten Beziehungen zwischen dem Staatsekretär des RLM, Erhard Milch, und dem Leiter der SS, Heinrich Himmler, spielten hierbei eine wichtige Rolle. Der Reichsführer SS war gerne bereit, Häftlinge aus dem SS-Lagersystem abzuziehen und der Luftfahrtindustrie zur Verfügung zu stellen.43 Heinkel spielte bei der Einführung der Zwangsarbeit in der Luftfahrtindustrie eine zentrale Rolle. Seine Firma war eines der ersten deutschen Großunternehmen, das bereit war, KZ-Häftlinge in der Produktion komplizierter Waffensysteme einzusetzen. Heinkel beschäftigte 1942 eine große Zahl von Häftlingen aus Sachsenhausen in seiner Bomberfabrik in Oranienburg-Germendorf. Gleichzeitig arbeiteten auch Tausende von Juden in seinen Fabriken in Polen. In einem Brief an Milch erklärte Ernst Heinkel die Überlegung, die hinter der Verlagerung einiger wichtiger Produktionsprogramme nach dem Osten stand: „Neue Arbeitskräfte sind im Generalgouvernement leichter zu beschaffen als an jedem anderen Ort im Altreich. Außer Polen können vor allem gute Arbeitskräfte aus der reichlich vorhandenen jüdischen Bevölkerung gewonnen werden. Unser Werk Mielec hat mit jüdischen Arbeitern sehr gute Erfahrungen gemacht und beabsichtigt deren wesentliche Verstärkung.”44

Auch im Flugmotorensektor wurde Zwangsarbeit zum Standard. Milch hatte die Idee, Häftlinge in der BMW Flugmotorenfabrik in Allach bei München einzusetzen, bereits im August 1941 geäußert.45 Am 17. September 1942 be42

Constanze Werner: Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit bei BMW, München 2006, S. 146. 43 Lutz Budraß: Flugzeugindustrie und Luftrüstung in Deutschland 1918–1945, Düsseldorf 1998, S. 775; Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (Hg.): Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/1942, Hamburg 1999, S. 133, 175, 325. 44 DM, FA001/260, Heinkel an Milch: Verlagerung, 18. Juni 1942, S. 6. 45 Rainer Fröbe: KZ-Häftlinge als Reserve qualifizierter Arbeitskraft. Eine späte Entdeckung der deutschen Industrie und ihre Folgen, in: Ulrich Herbert/Karin Orth/ Christoph Dieckmann (Hg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager – Entwicklung und Struktur, Band II, Göttingen 1998, S. 644.

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richtete Milch, die SS sei bereit, weitere 50 000 KZ Häftlinge zur Beschäftigung in den sogenannten KZ-Fabriken (oder KZ-Betrieben) herauszugeben. Die KZ-Fabriken waren existierende Betriebe, die auch die Funktion eines KZs übernehmen und dementsprechend umgebaut werden sollten. Die ersten nach diesem Plan modellierten Werke waren Heinkels Werk OranienburgGermendorf und der BMW Betrieb in Allach.46 In den drauffolgenden Jahren setzten immer mehr Unternehmen der Luftfahrtindustrie Zwangsarbeiter ein, und einige dieser Fabriken wurden schließlich als KZ-Fabriken umgebaut. Neben anderen Fabriken wurden Zwangsarbeitslager gebaut, um die Zwangsarbeiter in der Nähe ihres Arbeitsplatzes unterzubringen. Bis Dezember 1942 erreichte die Zahl der Häftlinge in Heinkels Oranienburg-Komplex 1 900 – d. h. 15,2% der gesamten Arbeiterschaft. Im Juni 1944 arbeiteten in Oranienburg 6 966 Häftlinge, was 48,2% der gesamten Arbeiterschaft entsprach.47 Ernst Heinkel formulierte die Standardisierung der Zwangsarbeit in seiner Firma, sowie in der gesamten Luftfahrtindustrie, als er in einer Denkschrift über den neuen He 219 Nachtjäger im Juni 1944 nüchtern schrieb: „Auch die Frage, wie für eine solche Steigerung [der He 219-Produktion, DU] die vermehrten Arbeitskräfte gestellt werden sollen, ist bereits gelöst, da uns die Zuweisung weiterer KZ-Häftlinge zugesagt ist.“48

Auch die anderen Hauptpartner des He 162-Programms integrierten Fremdbzw. Zwangsarbeiter in ihre Produktion. So berichtete Milch im Oktober 1943, dass allerlei Fremde 85% der produktiven Arbeiterschaft der BMW bildeten. In Junkers Bernburger Fabrik – wo später die He 162 hergestellt wurde – würden Ju 52 Transportmaschinen von einer Belegschaft von sechs deutschen Vorarbeitern und circa 2 000 Fremdarbeitern angefertigt werden.49 Bis Anfang 1944 produzierten mehrere Tausend Zwangsarbeiter einige der modernsten Luftwaffensysteme Deutschlands. Während der Verlagerung 1944 erreichte die Beschäftigung von Zwangsarbeitern in der Luftfahrtindustrie beim Bau und Umbau neuerer Betriebe sowie an den Fließstraßen ihren Höhepunkt. Im Frühling und Sommer 1944 lieferte die SS auf Forderung des Jägerstabs – jener Organisation, die nach der „Big Week“ rasch aufgestellt wurde, um die Produktion von Jägern umzuorganisieren, zu verlagern und zu steigern – circa 100 000 Juden aus verschiedenen KZs (bei den meisten

46

DM, FA001/261, Aktennotiz über Besprechung bei Fl. Oberstabing. Alpers, RLM, am 17. September 1942, S. 1. 47 Lutz Budraß: Flugzeugindustrie und Luftrüstung in Deutschland 1918–1945, Düsseldorf 1998, S. 778. 48 DM, LRD/2441, E. Heinkel: Denkschrift zu dem Baumuster He 219, 15. Juni 1944, S. 3–4. 49 NARA, M888/8/590, Stenographische Niederschrift der Besprechung beim Reichsmarschall, Donnerstag, dem 28. Oktober 1943, S. 7.

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KZ-Häftlinge arbeiten bei Messerschmitt in Regensburg, 1943–44 (NARA, RG243/238/ Box7).

handelte es sich um ungarische Juden, die von Auschwitz ausselektiert wurden) an den Baustellen und Fabriken des Stabes ab.50 Die Neuorganisation des Produktionsprozesses innerhalb der Betriebe während des Krieges ermöglichte die Beschäftigung von Arbeitern mit geringer oder gar keiner technischer Ausbildung. Als Extrem ist hier der Einsatz jüdisch-ungarischer Hausfrauen und Mädchen an der Fertigung der Strahltriebwerke – dem vielleicht innovativsten Produkt der deutschen Luftfahrtindustrie – zu nennen.51 Zwangsarbeit war also ein entscheidender Faktor, der das „Produktionswunder“ des Jahres 1944 ermöglichte. Es ist wichtig festzuhalten, dass Zwangsarbeit hauptsächlich von den Fachleuten der Luftfahrtindustrie initiiert wurde und nicht nur von der SS. So hat 50

NARA, M888/6/662-663, Stenographischer Bericht über die Jägerstab Besprechung am Freitag 17. März 1944, S. 35–36; Thomas Irmer: Zwangsarbeit von jüdischen KZHäftlingen für die Rüstungsproduktion in der Region Berlin-Brandenburg während der Schlussphase des Zweiten Weltkrieges – die Außenlager Glüwen und Schwarzheide des KZ Sachsenhausen, in: Winfried Meyer (Hg.); Zwangsarbeit während der NSZeit in Berlin und Brandenburg, Potsdam/Berlin-Brandenburg 2001, S. 170. 51 Siehe z. B.: Yad Vashem Archive (YVA), O.3/3676, Testimony by Rachel Zolf.

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z. B. Carl Francke, Heinkels technischer Leiter, mehrmals vorgeschlagen, weitere Zwangsarbeiter in der He 162-Produktion zu beschäftigen, oder die Kapazität durch neue KZ-Fabriken zu vergrößern.52 Wie die frühen Produktionspläne der He 162 deutlich belegen, wurde dieses Projekt von Anfang an auf Zwangsarbeit ausgerichtet. Im November 1944 betrug der Anteil von Häftlingen am Musterbau 69%, doch für die Serienfertigung wurde mit einem Anteil von 87% gerechnet. Insgesamt 72% der Arbeiterschaft, die bis Mitte November den Betrieben für die Endmontage der He 162 zugeteilt wurden, speisten sich aus dem Häftlingsreservoir der SS.53 In den nächsten Monaten wurden weitere, mehrere Tausend Häftlinge den verschiedenen Fabriken, die an der He 162-Produktion beteiligt waren, zugewiesen. In „Languste“ erreichte die Zahl der Häftlinge 1 700 von insgesamt 2 000 Arbeitern, die in dieser unterirdischen Anlage arbeiteten.54 Die Häftlinge wurden im KZ „Lisa“ neben dem Werk untergebracht, und von SS Leuten bewacht. Sie arbeiteten in drei Schichten zu acht Stunden, sieben Tage pro Woche.55 Auch die meisten Arbeiter in Heinkels Werk in Wien-Schwechat waren Häftlinge. Sie wurden im KZ Wien-Schwechat – einem Außenlager von Mauthausen – untergebracht, wo 2 568 Häftlinge hinter Stacheldraht hausten. Die Häftlinge hatten dort bereits früher an der Produktion des He 219-Nachtjägers gearbeitet.56 Häftlinge wurden auch vermehrt bei der Herstellung der BMW 003 Motoren – ebenfalls eines der modernsten Produkte der deutschen Rüstungsindustrie – eingesetzt. Amerikanische Nachrichtenoffiziere fanden nach dem Krieg heraus, dass 55% der ca. 6 000 Mann starken Belegschaft im unterirdischen BMW Werk Springen KZ-Häftlinge gewesen waren.57 Diese Tendenz spitzte sich mit dem Plan zu, die He 162 und ihren Motor im KZ-Werk Dora-Mittelbau (Mittelwerk) zu produzieren. Dieser Plan wurde schon im Oktober 1944 zwischen Heinkels Projektleitung und der Mittelwerk-Spitze diskutiert.58 Am 19. Oktober legte Mittelwerk-Direktor Alwin Sawatzkis Kessler einen Entwurf für einen Produktionsplan vor. Es wurde beabsichtigt, monatlich 1 000 Zellen und 2 000 BMW 003-Motoren in einem neuen, 25 000 m2 großen, unterirdischen Raum mit dem Tarnnamen „Schild52

Z. B.: NASM, 3391/16, Technische Direktion: 162 Holzfertigung, 22. November 1944. 53 NASM, 2668/611, EHAG: Anlaufbericht, 15. November 1944, Anlage 10, 12. 54 Lutz Budraß: Der Schritt über die Schwelle. Ernst Heinkel, das Werk Oranienburg und der Einstieg in die Beschäftigung von KZ-Häftlingen, in: Klaus Neitmann (Hg.): Zwangsarbeit in Berlin und Brandenburg während des Zweiten Weltkriegs, Potsdam 2001, S. 129–162, hier S. 159. 55 Alfred Hiller: Heinkel He 162 „Volksjäger“. Entwicklung, Produktion, Einsatz, Wien 1984, S. 88. 56 www.keom.de/denkmal. 57 NARA, RG72/116/Box2, Technical Report No. 101–45. Bavarian Motor Works (BMW) – A Production Survey, June 1945, S. 50. 58 DM, FA001/832, Francke: 162 Wochenbericht, 12. November 1944.

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Der Volksjäger

kröte“ herzustellen. Von den benötigten 8 000 Arbeitern sollten 7 000 Häftlinge sein. Am 8. November stimmte Kessler dem Plan zu und beauftragte die Firma Mittelwerk mit der Realisierung des Plans.59 Damit hoffte man, zumindest einen Teil der He 162-Produktion in bombensicheren Räumen zu zentralisieren. Mit der großen Zahl von Zwangsarbeitern, die seit 1943 an der Produktion weiterer innovativer Waffensysteme – insbesondere des Marschflugkörpers V-1 und der ballistischen Rakete V-2 – beteiligt waren, passte Dora-Mittelbau perfekt zum Produktionsmodell der He 162. Das Ende des Krieges verhinderte die Realisierung dieses Planes.

Fazit Die He 162 war ein wichtiges Rüstungsprojekt der späten Kriegsphase. Obwohl dieser Jäger militärisch vollkommen bedeutungslos war, gab es für dieses Projekt solide wirtschaftliche Gründe. In einer Zeit, wo teuere und komplizierte Waffensysteme nicht mehr effizient hergestellt werden konnten, war es sinnvoll, Kosten und Rohstoffverbrauch zu reduzieren. Die He 162 erfüllte diese Kriterien, da sowohl ihre Herstellung als auch ihr Einsatz kostengünstiger als bei anderen Flugzeugprojekten waren (Tabelle I).

Kosten pro Stück Treibstoff-Kosten (RM pro Km) Kosten für 10 Flüge Kosten für 10 Flugstunden

Ta 152

Me 262

He 162

144 000 RM 0.52 144 000 RM 147 000 RM

150 000 RM 2.3 159 000 RM 168 000 RM

75 000 RM 0.96 80 000 RM 83 000 RM

Tabelle 1.60

Dieser Vergleich zeigt eindeutig, wie kosteneffektiv Heinkels kleiner Jäger war. Außerdem benötigte die Herstellung einer He 162 nur 1 500 Arbeitstunden61, während die Herstellung einer Me 262 zu Beginn des Jahres 1945 circa 9 000 Arbeitstunden erforderte.62 Die taktischen Begrenzungen der He 162, insbesondere ihre kurze Flugdauer, reduzierten zwar ihren militärischen Wert. Da die Flugdauer der meisten späteren Einsätze der Luftwaffe bei der

59

Michael Feodrowitz: Heinkel-Werke im Untergrund. Ein Bericht über die Produktionsstandorte der He 162 „Volksjäger“, in: Jet & Prop, 1 (2006), S. 22–23; DM, FA001/832, Francke: 162, 8. November 1944. 60 NASM, 3429/672, JFM: Aufwand – Wirkung – Lebensdauer, o. D. 61 NARA, RG243/32/Box2, USSBS: Interview no. 10, Dr. Karl Frydag and Mr. Heinkel, 19. May 1945, S. 7. 62 NASM, 2497/714, Messerschmitt AG: Baustunden-Aufwand Me 262, 25. Januar 1945.

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Daniel Uziel

Verteidigung des immer kleiner gewordenen Reiches ohnehin kürzer wurde, fiel dieser Mangel wohl nicht besonders ins Gewicht. Konzipiert und konstruiert von kompetenten Fachleuten des RLM und der Luftfahrtindustrie, kam das He 162-Entwicklungsprogramm relativ schnell und erfolgreich voran. Teilweise entsprach die Logik des Herstellungsplanes den Kontextbedingungen der deutschen Luftfahrtindustrie. Gewisse Maßnahmen – insbesondere die Verlagerung – waren jedoch ab Ende 1944 nicht mehr effektiv. Die Fließbandfertigung und der damit verbundene umfangreiche Einsatz von Häftlingen waren dagegen immer noch relevante Lösungen für die Probleme der Serienfertigung in einer Phase, in der insbesondere ein Mangel an Arbeitskräften bestand.63 Die erfolgreiche Produktion in den einzelnen Fabriken war freilich zwecklos, da man die Endprodukte nicht an die Endmontagestellen transportieren konnte. Abgesehen davon hatte Deutschland zu diesem Zeitpunkt schon längst den Luftkrieg verloren, und daran konnten diese Flugzeuge – auch wenn sie zum Masseneinsatz gekommen wären – nichts mehr ändern.

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Daniel Uziel: Between Industrial Revolution and Slavery. Mass Production in the German Aviation Industry in World War II, in: History & Technology 22 (2006), S. 277–300.

Lutz Budraß

Kommentar Das BMW Buch von Horst Mönnich ist in jüngerer Zeit zu Recht kritisiert worden:1 Ich will Mönnich dennoch kurz aufrufen, da er eine Geschichte parat hat, mit der sich die in ihrem methodischen Zugang erfreulich breit gestreuten Vorträge des heutigen Morgen zusammenziehen lassen. Sie beginnt am 28. April 1945 in München, als Wilhelm Dorls, Chef des Allacher Werks, den Auftrag bekam, sich sofort nach Ebensee in die sogenannte Alpenfestung zu begeben. Dorls zögerte, wurde aber dann von einem SS-Führer überzeugt, der ihm rät: „Wenn sie nicht sterben wollen, fahren Sie.“ Und es gelang Dorls tatsächlich, sich nach Ebensee durchzuschlagen. „Eine Technikergruppe von Junkers war schon da – wir begrüßten uns wie Verschwörer –, SS-Leute liefen herum, schneidig, schneidig, Ordonnanzen […] Oberführer Purucker kam. ‚Kommen wir gleich zum Thema …‘ Das Thema: wie kann man in der Alpenfestung – ich hatte noch keine gesehen – ein Flugmotorenwerk aufbauen? Ich sagte daraufhin, denn er blickte mich an: ‚Herr Purucker, aus Butter können Sie keine Motoren machen!‘ Ich sagte: ‚Hier können Sie Kühe melken, die haben Sie hier. Und KZ-Häftlinge, die arbeiten würden, vermutlich auch. Nur: Flugmotoren bekommen Sie nicht. Flugmotoren, das ist Hohe Schule des Maschinenbaus – mit Schneid ist da nichts getan.‘“

Nun kommt die berühmte peinliche Stille, in der offenbar kurze Zeit nicht klar ist, wie jener Oberführer reagieren wird. Dorls fügt an: „Die Lage rettete eine Flasche Sekt, die ich noch im Rucksack hatte… Purucker trank mit.“2 Diese Geschichte ist eine Variante dessen, was Till Lorenzen als hegemoniale Erzählung der Rolle der Rüstungsindustrie im nationalsozialistischen Deutschland dargelegt hat: Die Unternehmen stehen einer Staatsmacht gegenüber, die unendlich große Sanktionsmacht besitzt und sie völlig willkürlich einsetzt: Es ist – bis der Sektkorken knallt – nicht klar, ob der Oberführer nicht eher Lust hat, seine Pistole aus dem Halfter zu ziehen. Gleichzeitig enthält diese Geschichte aber auch die alternative Erklärung, die Lorenzen für das Handeln der Rüstungsunternehmen anbietet: schneidig, aber dumm. Wer einen Krieg führen will, dafür Flugmotoren braucht, aber noch nicht einmal eine blasse Vorstellung hat, was so ein Flugmotor ist, ist darauf angewiesen, sich mit denen zu arrangieren, die diese Flugmotoren produzieren. Mit bloßer Sanktionsmacht – mit patriotischem Appell schon gar – bekommt man keine Flugmotoren. Rüstungsproduktion, das zeigt Lorenzen deutlich, ist auf unternehmerische Autonomie angewiesen, und sie wurde den Unternehmern im Nationalsozialismus auch gewährt. 1

Vor allem von Constanze Werner: Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit bei BMW, München 2006, S. 6, bes. FN 16. 2 Horst Mönnich: BMW. Eine deutsche Geschichte, München/Zürich 1991, S. 435–437.

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Es gibt gute Gründe, diese These aufzunehmen. Nur wird die Erklärung dann umso dringender, warum das Mitmachen auch die Bereitschaft umfasste, „die Arisierung von Unternehmen zu betreiben und nicht zuletzt auch die Bereitschaft, Zwangsarbeiter einzusetzen und deren unmenschliche Behandlung zumindest zu tolerieren“. Lorenzen formuliert, Hille und Popp „machten […] sich mitschuldig am menschenverachtenden Ausbeutungssystem unter den Nationalsozialisten.“ Aus unserer Perspektive ist das klar und bedarf keiner näheren Untersuchung. Das historische Problem ist aber: Warum haben sie es nicht gemerkt? Warum ist Popp und Hille und Dorls und all den anderen dieser Schritt so leicht gefallen? Es gab – ich lasse mich da gerne eines besseren belehren – bei den allermeisten nicht die Spur eines Unrechtsbewusstseins, und wir müssen uns wohl damit abfinden, dass dieser Mangel noch nicht einmal vorgetäuscht ist. Ich halte allerdings die These für abwegig, die deutschen Unternehmen seien in Entscheidungsroutinen, wie es genannt worden ist, allmählich in die Zwangsarbeiterbeschäftigung hineingeglitten. Das war kein Routinehandeln, auch nicht aus der Perspektive des Jahres 1939.3 Wachsende Handlungsspielräume heißt doch übersetzt, dass es den Nationalsozialisten ab einem bestimmten Punkt möglich war, sich in ihrer Dummheit ganz aus der Wirtschaftlenkung zurückzuziehen – nicht anders ist doch die Idee der unternehmerischen Selbstverwaltung zu verstehen – weil das System – unter selbstverständlichem Einschluss seiner moralischen Verwerflichkeit – fast ohne die Sanktionsmechanismen funktionierte, die von außen – aus dem politischen Raum, wenn man so will – an die verschworene Gemeinschaft der selbständigen Unternehmer herangetragen wurde. Es geht daher umso mehr um die Anreize, die die Unternehmer in das Zwangsarbeiterregime einsteigen ließen. Scherner und Streb halten einige Beispiele bereit: Der Investitionsboom ausgedrückt in der wachsenden Kapitalintensität, die economies of learning als eine spezifische Form der Erfahrung, welche Produktivitätsreserven der Übergang zur Massenproduktion barg, der Wandel der industriellen Struktur, hin zu einer Aufwertung der Vorproduzenten – nichts anderes verbirgt sich hinter der Vergrößerung der Vorleistungsintensität. Weiter, die Möglichkeit, in diesem selbstverwalteten System ein für allemal Konkurrenten zu beseitigen: Ich bin bei einer Prämisse von Streb/Scherner skeptisch, der These nämlich, wenn die Wissensübertragung zwischen den Werken eines Unternehmens nicht funktionierte, funktionierte sie in der gesamten Rüstungswirtschaft nicht. Die Bereitstellung von Fertigungstechniken bedeutete auch immer, Einblick in die Produktion eines Konkurrenten nehmen zu können, einmal ganz abgesehen davon, dass mit 3

Vgl. dazu Werner Plumpe: Unternehmen im Nationalsozialismus. Eine Zwischenbilanz, in: Ders., u. a. (Hg.): Wirtschaftsordnung, Staat und Unternehmen. Neuere Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus. Festschrift für Dietmar Petzina zum 65. Geburtstag, Essen 2003, S. 243–266.

Kommentar

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der Wissensvermittlung eine Kontrolle über den betroffenen Betrieb möglich war. Ein Ringführer konnte einen vermeintlich unrationell arbeitenden Konkurrenten ganz einfach schließen, ein in der deutschen Unternehmensgeschichte unerhörter Vorgang. Helmut Maiers Forschungen über die sogenannte Mittelinstanz zeigen im Übrigen eindeutig, dass es einen erheblichen Wissensumschlag in den Ausschüssen und Ringen bzw. den Entwicklungsgruppen gab.4 Es war mithin nicht das, was wir im landläufigen Sinn als Profitabilität bezeichnen könnten, was die Unternehmer trieb, sondern die Teilhabe an den materiellen und immateriellen Ressourcen, die im Rüstungsprozess frei wurden: Investitionen, eine strukturelle Bereinigung der Branche, Wissen. Eine letzte Ressource, wahrscheinlich die wichtigste, wird von Daniel Uziel herausgestellt. Es waren die Unternehmen im 162-Programm, die im September 1944 mehr KZ-Häftlinge forderten, und auch Wilhelm Dorls ging davon aus, dass dieser Anreiz selbst Ende April 1945 noch nicht versiegt war, während alles andere schon fehlte. Der Nationalsozialismus produzierte nur Zerstörung und Opfer, die aber massenhaft. Und es war offenbar ein entscheidender Schritt zur Stabilisierung der Rüstungswirtschaft und der zentrale Anreiz für das Mitmachen der Unternehmer – bis hin zur Groteske des Flugmotorenwerks in den Alpen 1945 –, die Opfer als Ressource einzusetzen. Nicht weil die Unternehmen sonst am Arbeitskräftemangel zugrunde gegangen wären, sondern weil die Beschäftigung von ausländischen Arbeitern und KZ-Häftlingen offensichtlich das Wissen vermittelte, das Scherner/Streb ansprechen, nämlich wie man eine aus zahlreichen Nationen zusammengesetzte, unter Zwang nach Deutschland verbrachte Arbeiterschaft dazu bringt, Güter aus der Hohen Schule des Maschinenbaus zu produzieren. Vor allem dann, wenn mit ihnen überhaupt erst jene Produktionsverfahren eingeführt und die Expansionsvorhaben vorangetrieben werden konnten, die in der deutschen Wirtschaft im Schwange waren, nachdem man die Brücken zur Weltwirtschaft abgebrochen hatte. Es ist auch eine Erkenntnis von Scherner/Streb, dass die Arbeitsproduktivität in keinem der angesprochenen Fälle sank, obwohl 1942/43 eine Umschichtung der Belegschaften stattfand, die alles andere hätte erwarten lassen. Wie ist also das Flugzeug Heinkel He 162 in diesem Zusammenhang zu deuten? Heinkel selbst hat es sinngemäß so ausgedrückt, dass er noch einmal zeigen wollte, wozu sein Unternehmen in der Lage war. Das kann man ihm abnehmen. Der Volksjäger – bar jeden Sinns für die Kriegführung und im Übrigen auch für die sogenannte Wunderwaffenpropaganda – führte all das zusammen, was in der Rüstungswirtschaft zu lernen war: eine extrem dezentralisierte Einzelteilfertigung mit einer überaus rationell organisierten Mon4

Helmut Maier: Forschung als Waffe. Rüstungsforschung in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und das Kaiser-Wilhelm-Institut für Metallforschung 1900–1945/48, Göttingen 2007, bes. S. 1105.

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tage, die in allen Stufen, bis hin zu den Konstruktionsbüros, auf Häftlingsarbeit basierte – und zwar so weit, dass dieses Element sogar zu einer Anpassung der Fertigungsmethoden an die Häftlingsarbeit – nicht umgekehrt – geführt hatte. So deute ich die von Daniel Uziel hervorgehobene Idee, Karren statt Fließbänder einzusetzen. Das Flugzeug He 162 war insofern Endprodukt dieses Lernprozesses, der die deutsche Rüstungswirtschaft prägte und in der einen oder anderen Weise in jedem der drei Vorträge angesprochen wird. Zwangsarbeit war sein konstitutives Merkmal und deshalb muss die unternehmerische Autonomie immer in diesem Licht gesehen werden. Die Unternehmer veränderten sich stärker, als es ihnen aus der Rückschau – aber auch erst dann – lieb war. Sie glaubten 1945 allen Ernstes, ungeschoren davon zu kommen, und mit ihrem in der Kriegswirtschaft gewachsenen Wissensfundus auf dem Weltmarkt reüssieren zu können. Eine Werbeanzeige von BMW, im April 1944 in einer Exportzeitschrift der deutschen Industrie erschienen, zeigt nicht den BMW 801 oder ein anderes „Kriegsprodukt“ von BMW, sondern ein Aquarell des Kraftrads, mit dem Ernst Henne 1937 den Geschwindigkeitsweltrekord für Motorräder aufstellte. Der Text der Anzeige schließt mit der Versicherung: „Unsere Arbeit ruht nicht. Die im Krieg gesammelten Erfahrungen werden ausgewertet und später Europa zugute kommen.“ Richtig, diese Prophezeiung ist aus Versatzstücken der nationalsozialistischen Propaganda aus der Spätphase des Krieges zusammengesetzt. Es ist dennoch verblüffend, wie sehr sich darin der Wunsch ausdrückt, die Uhren zurückzudrehen. Es ist aber noch verblüffender, dass die Prophezeiung dieser Anzeige geradezu buchstabengetreu eingetroffen ist. Es hat zwei Generationen von Unternehmern – und Historikern – gebraucht, um festzustellen, dass die „im Krieg gesammelten Erfahrungen“ selbst Teil des Verbrechens waren, in das die Nationalsozialisten die deutschen Unternehmer hineingezogen hatten.

Thomas Irmer

Zwangsarbeit für die deutsche Elektroindustrie im besetzten Polen Die „Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft“ (AEG) und das Kabelwerk Krakau 1941–1944 Zu den Betrieben, die nach der Besetzung Polens 1939 von der Wehrmacht beschlagnahmt wurden, zählte auch das Kabelwerk Krakau der polnischen Aktiengesellschaft „Frabryka Kabli spólka akcyjna“. Als die in KrakauPłaszów gelegene Fabrik 1941 an den Berliner Elektrokonzern „Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft“ (AEG) verpachtet wurde, arbeiteten dort über 1 000 polnische männliche und weibliche Arbeiter und Angestellte. Zwischen 1942 und 1944 mussten außerdem zwischen 200 und 300 polnische Jüdinnen und Juden aus dem Ghetto Krakau bzw. dem Zwangsarbeitslager und KZ Krakau-Płaszów im Kabelwerk arbeiten. Wie verliefen Übernahme und Weiterbetrieb des Kabelwerks Krakau durch die AEG? Unterschied sich das Vorgehen dieses namhaften Unternehmens der deutschen Elektroindustrie, deren Geschichte in der NS-Zeit im besetzten Osteuropa bisher wenig erforscht ist, von dem anderer Unternehmen? Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die AEG mit der Übernahme des Kabelwerks in Krakau eine Kapazitätserweiterung für Rüstungsaufträge verband. Auch im Hinblick auf die Arbeitseinsatzpolitik ging sie ähnlich wie andere deutsche Industrieunternehmen im Generalgouvernement vor. Dabei nahm die AEG keine Vorreiter-Rolle ein, sondern versuchte, sich ihre Vorteile innerhalb des von der nationalsozialistischen Besatzungspolitik vorgegebenen Rahmens zu sichern. Nach einem kurzen Überblick über den Forschungsstand und die Geschichte der AEG steht zunächst der Verlauf der Übernahme des Kabelwerks durch die AEG im Vordergrund. Dann wird der Arbeitseinsatz von nichtjüdischen Polen und ab 1942 polnischen Juden näher untersucht.

Zum Forschungsstand Seit Anfang der 1990er Jahre hat die historische Forschung vermehrt Beiträge vorgelegt, die sich auch mit dem Vorgehen der AEG vergleichbarer deutscher Industrieunternehmen im Generalgouvernement befassen. Dazu zählen Arbeiten zum Werk Rzeszów von Daimler-Benz1, zum Flugzeugwerk Mielec 1

Vgl. Barbara Hopmann u. a.: Zwangsarbeit bei Daimler-Benz, Stuttgart 1994; Neil Gregor: Stern und Hakenkreuz. Daimler-Benz im Dritten Reich, Berlin 1997, S. 298f.

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Thomas Irmer

der Ernst Heinkel AG2 und zum Zwangsarbeitseinsatz von Juden für den Leipziger Munitionshersteller Hugo Schneider AG (HASAG) im Distrikt Radom.3 Einen kaum bekannten Aspekt des Einsatzes polnischer Juden für die Pulverfabrik Pionki bei Radom – die Verlagerung einer Gruppe jüdischer Zwangsarbeiter ins Reichsgebiet – hat der Verfasser an anderer Stelle dargestellt.4 Hervorzuheben ist auch eine Arbeit über eine Hilfsaktion von Berthold Beitz, der als leitender Angestellter der Karpathen-Öl AG im Distrikt Galizien Juden rettete.5 In der öffentlichen Wahrnehmung wird mit der Rolle deutscher Unternehmen im Generalgouvernement aber vor allem eine andere Rettungsaktion in Verbindung gebracht: Durch den Spielfilm „Schindler’s List“ (USA 1993) des amerikanischen Regisseurs Steven Spielberg wurde der Einsatz jüdischer Zwangsarbeiter aus dem KZ Krakau-Płaszów in der „Deutsche Emailwarenfabrik“ des Geschäftsmannes Oskar Schindler (1908–1974) Teil eines „globalen kulturellen Gedächtnisses“ – als ein besonderes Beispiel der Rettung von fast 1 200 Jüdinnen und Juden. Über das Kabelwerk Krakau ist hingegen kaum etwas bekannt. In den jüngeren Erträgen der Holocaust-Forschung zur Geschichte des Generalgouvernements wurden das Kabelwerk Krakau und der dortige Zwangsarbeitseinsatz polnischer Juden bislang noch nicht näher untersucht.6 2 Vgl. Lutz Budraß: Flugzeugrüstung und Luftrüstung in Deutschland 1918–1945, Düsseldorf 1998, S. 782–786; Ders.: „Arbeitskräfte können aus der reichlich vorhandenen jüdischen Bevölkerung gewonnen werden.“ Das Heinkel-Werk in Budzyn 1942– 1944, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (JWG) 1 (2004), S. 41–64 sowie Mario Wenzel: Ausbeutung und Vernichtung. Zwangsarbeitslager für Juden im Distrikt Krakau 1942–1944, in: Dachauer Hefte 23 (2007), S. 189–207. 3 Vgl. Felicja Karay: Death comes in yellow. Skarzysko-Kamienna Slave Labor Camp, Amsterdam 1996. 4 Vgl. Thomas Irmer: „Zwangsarbeit im Beutelager – Das KZ Außenlager Glöwen“, in: Stadt Havelberg (Hg.): Havelberg. Kleine Stadt mit großer Vergangenheit, Halle 1998, S. 169–180. 5 Vgl. Thomas Sandkühler: „Endlösung“ in Galizien. Der Judenmord in Ostpolen und die Rettungsaktionen von Berthold Beitz 1941–1944, Bonn 1996 sowie Rainer Karlsch: Ein vergessenes Großunternehmen: Die Geschichte der Karpaten Öl AG, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (JWG) 1 (2004), S. 96–138. 6 Vgl. Dieter Pohl: Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien 1941–1944. Organisation und Durchführung eines staatlichen Massenverbrechens, München 1996; Bogdan Musial: Deutsche Zivilverwaltung und Judenverfolgung im Generalgouvernement. Eine Fallstudie zum Distrikt Lublin 1939–1944, Wiesbaden 1999; Robert Seidel: Deutsche Besatzungspolitik in Polen. Der Distrikt Radom 1939–1945, Paderborn 2006; Jacek Andrzej Mlynarczyk: Judenmord in Zentralpolen. Der Distrikt Radom im Generalgouvernement 1939–1945, Darmstadt 2007; Andrea Löw: „Wir wissen immer noch nicht, was wir machen sollen.“ Juden in Krakau unter deutscher Besatzung bis zur Errichtung des Ghettos, in: Andrea Löw/Kerstin Robusch/Stefanie Walter (Hg.): Deutsche – Juden – Polen. Geschichte einer wechselvollen Beziehung im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York 2004; S. 119–136; Dieter Pohl: Die großen Zwangsarbeitslager der SS- und Polizeiführer für Juden im Generalgouvernement 1942–1945, in:

Zwangsarbeit für die deutsche Elektroindustrie

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Zur Geschichte der Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft (AEG) Die Geschichte des am 18. April 1883 gegründeten Elektro-Unternehmens ist untrennbar mit dem Namen Rathenau verbunden; angefangen von dem Unternehmensgründer Emil Rathenau (1838–1915) bis hin zu dessen Sohn Walther (geb. 1867), der zeitweise Präsident der AEG war und als Außenminister der Weimarer Republik von rechtsradikalen Freikorps-Soldaten am 24. Juni 1922 ermordet wurde. Der Hauptsitz der AEG befand sich in Berlin, das bis 1945 das Zentrum der deutschen Elektroindustrie war. Im Unterschied zu Siemens, dem anderen deutschen großen Elektrokonzern, waren die Werke der AEG jedoch nicht an einem Standort konzentriert, sondern lagen dezentral in verschiedenen Berliner Bezirken: so in den Bezirken Mitte, Wedding, Moabit, Treptow oder Köpenick, wo sich der aus mehreren Fabriken bestehende größte Werkskomplex der AEG befand. Das bedeutendste dortige Einzelwerk war das Kabelwerk Oberspree (KWO), das auch im Zusammenhang mit der Übernahme des Kabelwerks Krakau eine wichtige Rolle einnehmen sollte. Nach dem Ersten Weltkrieg geriet die AEG in eine tiefe Krise, weil sie u. a. ihre Auslandsmärkte verloren hatte. Im Zusammenhang mit der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre gingen die öffentlichen Aufträge um fast 50% zurück. Hatte die Gesamtbelegschaft der AEG zu Beginn des Geschäftsjahres 1931/32 noch 41 500 Menschen umfasst, so waren es Anfang 1933 unter 27 000. Wenige Wochen nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten kam das Unternehmen unter politischen Druck, weil es aufgrund seiner deutsch-jüdischen Gründer als „jüdisches Unternehmen“ bezeichnet wurde. Tatsächlich stand der AEG bereits seit Anfang der 1930er Jahre mit Hermann Bücher, einem ehemaligen Hauptgeschäftsführer des Reichsverbandes der deutschen Industrie, ein nichtjüdischer Vorsitzender vor. Bis 1938 wurden fast alle der mehr als 300 jüdischen Mitarbeiter der AEG zwangspensioniert, ins Ausland versetzt oder entlassen.7 Mit Kriegsbeginn begann auch die AEG zunehmend ausländische Arbeitskräfte, die sogenannten Fremdarbeiterinnen und Fremdarbeiter, in ihren Werken in Berlin einzusetzen. Eine der ersten Gruppen, die ab 1940/41 in den Berliner Werken der AEG Zwangsarbeit leisten musste, bestand jedoch aus deutschen Jüdinnen und Juden im Rahmen des „Geschlossenen ArbeitsUlrich Herbert/Karin Orth/Christoph Dieckmann (Hg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, Bd. I/II, Göttingen 1998, S. 415–438; Christopher R. Browning: Judenmord. NS-Politik, Zwangsarbeit und das Verhalten der Täter, Frankfurt a. M. 2000. 7 Vgl. Thomas Irmer: „Es wird der Zeitpunkt kommen, wo das alles zurückgezahlt werden muss“. Die AEG und der Antisemitismus, in: Christof Biggeleben/Beate Schreiber/Kilian J. L. Steiner (Hg.): „Arisierung“ in Berlin, Berlin 2007, S. 121–149.

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Thomas Irmer

Kabelwerk Oberspree der AEG in Berlin-Oberschöneweide, 1930er Jahre (Quelle: Deutsches Technikmuseum Berlin)

einsatzes“.8 Darüber hinaus expandierte die AEG seit September 1939 wie andere deutsche Unternehmen in das besetzte Osteuropa. Nach dem deutschen Einmarsch in Polen zählte dazu die Übernahme des Kabelwerks Krakau, des größten Kabelwerks in Polen.

Das Kabelwerk Krakau und die Übernahme durch die AEG Das von der Aktiengesellschaft „Fabryka Kabli S.A.“ betriebene Kabelwerk Krakau lag etwa sechs Kilometer südöstlich der Innenstadt von Krakau unweit des 1941 für den Zivilverkehr gesperrten und von der Wehrmacht genutzten Bahnhofs Krakau-Płaszów. Auf dem knapp 120 000 qm großen Fabrikgelände befanden sich 28 größtenteils um 1928 errichtete Werksanlagen, darunter drei größere Fabrikationshallen sowie Werkstätten, Verwaltungsgebäude und Magazinbaracken. Zum Fertigungsbereich zählten eine Fabrik für Installations- und Isoliermaterial, eine Lackdrahtfabrik, eine Telefonkabelund eine Bleikabelfabrik sowie ein Metall- und ein Walzwerk.9

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Vgl. Thomas Irmer: „…eine Art Sklavenhandel“ – Zwangsarbeit bei AEG/Telefunken in Berlin und Wedding, in: Arbeitskreis Berliner Regionalmuseen (Hg.): Zwangsarbeit in Berlin 1938–1945, Berlin 2003, S. 154–166. 9 Vgl. Situationsplan Kabelwerk Krakau AG v. 16. 12. 1940, Ms 1:1000 sowie Bl. 162, Anlage 1 zum Pachtvertrag, Verzeichnis der Grundstücke, in: Deutsches Technikmuseum Berlin (DTMB) I.2.060 A 00580, Bl. 172. Außerdem verfügte die Fabryka Kabli

Zwangsarbeit für die deutsche Elektroindustrie

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Nach der Beschlagnahme durch die Wehrmacht unterstellte die Rüstungsinspektion Krakau das Kabelwerk der „Verwertungsgesellschaft für Montanindustrie GmbH“ (im Folgenden: Montan), die seit 1934 für das Heereswaffenamt als Verpächterin heereseigener Betriebe fungierte und 1940 im Generalgouvernement 20 polnische Betriebe als Treuhänder übernahm. Die Durchführung der Treuhandschaft übertrug sie 1942 der von ihr in Krakau gegründeten „Treuhandverwaltung für Montanindustrie GmbH“. Ziel der Montan war es, mit deutschen Privatunternehmen zunächst Betriebsführungsund dann Pachtverträge abzuschließen. Später war auch vorgesehen, aus Effizienzgründen möglichst alle beschlagnahmten polnischen Betriebe an deutsche Unternehmen zu verkaufen.10 Auch die AEG plante offenbar zeitweise, das Kabelwerk Krakau zu erwerben. Jedenfalls behauptete das ein Mitarbeiter der AEG 1941 bei Verhandlungen mit den deutschen Finanzbehörden in Krakau. Jedoch sollte sich zeigen, dass das Kabelwerk Krakau gerade auch in eigentumsrechtlicher Hinsicht einen besonderen Fall darstellte: Es wurde von einer privaten Aktiengesellschaft betrieben, deren einziger Aktionär eine tschechische Bank aus dem Protektorat Böhmen und Mähren war. 1940 beauftragte die Montan zunächst die „Reichswerke Hermann Göring“ und die AEG gemeinsam mit der kommissarischen Betriebsführung des Kabelwerks. Während ein Vertreter der Reichswerke zunächst die kaufmännische Geschäftsführung übernahm, entsandte die AEG einen Oberingenieur aus dem Berliner KWO als technischen Betriebsleiter.11 Aber schon Ende des Jahres war klar, dass die AEG mit der alleinigen Betriebsführung des Kabelwerks beauftragt werden würde. So bereitete der Leiter der Juristischen Abteilung der AEG im November 1940 einen Vertrag vor, der eine entsprechende Regelung vorsah. Für ihre Leistungen sollte die AEG 50% des Reingewinns erhalten. Gemäß den Vorgaben der Montan verpflichtete sich die AEG, mit dem Werk vorzugsweise mittelbare oder unmittelbare Aufträge der Wehrmacht zu erfüllen. Mit Zustimmung der Montan sollte sie aber auch Aufträge Dritter übernehmen können, „wenn das Werk durch die Wehrmachts-Aufträge nicht voll ausgenutzt ist“.12 Damit war die Kernaufgabe formuliert, die den Betrieb des Werkes durch die AEG in der Folgezeit bestimmen sollte: Die AEG sicherte sich eine Option, Aufträge Dritter zu übernehmen, hauptsächlich sollte aber für die Zwecke der Wehrmacht produziert werden. Der Betriebsführungsvertrag kam jedoch nicht zur Anwendung. Stattdessen verhandelten Vertreter der AEG mit der Montan über den Abschluss eines fünfjährigen Pachtvertrages, der die Verpachtung der Werksanlagen an S.A. noch über eine Tochtergesellschaft mit einer noch nicht fertig gestellten Fabrikanlage in Dwikozy, die aber nicht in die Übernahme durch die AEG einbezogen wurde. 10 Vgl. Barbara Hopmann: Von der Montan zur Industrieverwaltungsgesellschaft (IVG) 1916–1951, Stuttgart 1996, S. 21f. und S. 59f. 11 Vgl. Fragebogen, Betr.: Ansuchen um Erteilung einer Gewerbeberechtigung, in: Landesarchiv Berlin (LAB) A Rep. 227-06, Nr. 4. 12 Vgl. 1. Entwurf v. 25. 11. 1940, in: DTMB I.2.060 A 00580, Bl. 221.

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die AEG vorsah. Bei den in Berlin und Krakau geführten Vertragsverhandlungen, die von Seiten der Montan durch deren damaligen stellvertretenden Geschäftsführer Kurt Adenauer, einem Neffen von Konrad Adenauer, geführt wurden, drängte die AEG auf für sie günstigere Konditionen wie die Verlängerung der Vertragslaufzeit von 5 auf 10 Jahre.13 Wenige Tage nach dem Vertragsabschluss am 21. Juni 1941 kam es auf Veranlassung der Montan zu einer Besprechung in der Hauptverwaltung der „Mährischen Bank“ im tschechischen Brünn. Die Mährische Bank, über die in der historischen Forschung nur wenig bekannt ist, war Inhaberin aller Aktien der polnischen Fabrika Kably S.A.. Nach ihrer Gründung als eine regionale Agrarbank im Jahr 1908 hatte sie sich auch dem Industriegeschäft zugewandt.14 Bei den Übernahme-Verhandlungen zwischen der AEG und der Montan war sie nicht beteiligt worden. Dass einer tschechischen Regionalbank, deren Vorstand größtenteils mit Tschechen besetzt war, 1941 überhaupt eine solche Bedeutung zugemessen wurde, lag möglicherweise in dem Einfluss begründet, den die Großbanken Deutsche Bank und der österreichische Creditanstalt Bankverein (CABV) in der Mährischen Bank ausübten. Ihr Vize-Präsident war der Österreicher Rudolf Pfeiffer, ein ehemaliges Vorstandsmitglied der CABV, der maßgeblich an den Verhandlungen mit der AEG und der Montan über das Kabelwerk Krakau beteiligt war. Gerald Feldman hat Pfeiffer als den „leading Party man“ im CABV für die Zeit von 1938 bis 1939 bezeichnet. Das NSDAP-Mitglied hatte während des „Anschlusses“ Österreichs die Versuche angeführt, die größte österreichische Bank von innen unter nationalsozialistische Kontrolle zu bringen. Pfeiffer war auf Drängen der NSDAP in den Vorstand der CABV berufen, jedoch auf Betreiben des Deutsche Bank-Vorstandsmitglieds Hermann Josef Abs wieder herausgedrängt und mit dem Posten bei der Mährischen Bank abgefunden worden.15 In Krakau nahm der CABV außerdem eine wichtige Rolle als Geschäftsbank ein, da er neben der Dresdner Bank und der Commerzbank die einzige Großbank war, die dort tätig sein durfte.16 Seit 1941 führte der CABV auch das wichtigste Geschäftskonto des Kabelwerks Krakau.17 13

Vgl. Aktenvermerk v. 21. 7. 1941, Betr.: Besprechung mit der Verwertungsgesellschaft für Montanindustrie, G.m.b.H., Betr.: Kabelwerk Krakau AG, Krakau, in: DTMB I.2.060 A 00580, Bl. 157–158. 14 Vgl. Karl Bosl: Die Erste Tschechoslowakische Republik als multinationaler Parteienstaat, München 1979, S. 350; Jiří Novotný/Jiří Šouša: Die Krise des tschechischen Bankensystems in den 1920er Jahren, in: Geld und Kapital. Jahrbuch der Gesellschaft für mitteleuropäische Banken- und Sparkassengeschichte Bd. 3, Stuttgart 2000, Bl. 143–171. 15 Vgl. Gerald D. Feldman: The Creditanstalt-Wiener Bankverein in the National Socialist Period, 1938–1945, S. 31ff., in: http://www.histcom.at/zwischenberichte/CA_ Part_I.pdf. 16 Vgl. Ingo Loose: Kredite für NS-Verbrechen. Die deutschen Kreditinstitute in Polen und die Ausraubung der polnischen und jüdischen Bevölkerung 1939–1945, München 2007, S. 296. 17 Vgl. Böhme an Dihle v. 23. 12. 1941, in: LAB A Rep. 227-06, Nr. 11.

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An dem Treffen in Brünn nahm neben Vertretern der Mährischen Bank und der AEG auch Ministerialdirigent Max Zeidelhack vom Oberkommando des Heeres (OKH) teil, der bis 1943 der erste Geschäftsführer der Montan in Berlin und Krakau war. Die Vertreter der Mährischen Bank forderten, ebenfalls einen Pachtvertrag abzuschließen und an den Erträgen des Werkes beteiligt zu werden. Zeidelhack, mit Mitgliedsnummer 17 ein sehr frühes und überzeugtes NSDAP-Mitglied18, wies diese Ansprüche brüsk zurück. Das Kabelwerk falle für die Wehrmacht unter den Begriff der „Beute“. Und die Wirtschaft habe heute andere Aufgaben zu erfüllen, als Geld zu verdienen, um Dividenden auszuschütten. Auch die jetzigen Betreiber des Kabelwerks müssten alles tun, um den ihr von der Wehrmacht gestellten Aufgaben nachzukommen. AEG-Vorstandsmitglied Klemm beschrieb die Rolle seines Unternehmens als die eines reinen Sachwalters für einen möglichst reibungslosen Betriebsablauf, der aber durch Transport- und Arbeitseinsatzprobleme behindert werde und für den man auf die Unterstützung der Wehrmacht angewiesen sei. Am Ende der Veranstaltung sprachen sich alle Teilnehmer dafür aus, nach einem Weg für eine Beteiligung der Mährischen Bank zu suchen.19 Dabei handelte es sich aber um unverbindliche Absichtserklärungen. Die AEG pochte vor allem auf ihre vertragliche Bindung mit der Montan. Und obwohl Pfeiffer und andere Vertreter der Mährischen Bank weiterhin Ansprüche geltend machten, gelang es ihnen erst ein Jahr später, eine direkte Beteiligung durchzusetzen, als die Montan im August 1943 angekündigte, sich aus der Treuhandschaft für das Kabelwerk zurückzuziehen.20 Dieser Rückzug stand vermutlich in einem Zusammenhang mit neuen Bestrebungen des Rüstungsministeriums nach der Amtsübernahme von Speer, die von der Montan verwalteten Werke an Privatunternehmen zu verkaufen. Im Frühjahr 1943 hatte Speer den die Privatisierungen ablehnenden Geschäftsführer Zeidelhack entlassen.21 Konkrete Schritte für eine Beteiligung an dem Kabelwerk Krakau setzten jedoch erst Ende 1943 ein, nachdem Bank-Vize Pfeiffer im September 1943 mit dem AEG-Vorsitzenden Hermann Bücher gesprochen hatte. Nach längeren Verhandlungen wurde zwischen der von der Mährischen Bank kontrollierten alten Betreibergesellschaft Fabryka Kabli SA und der AEG schließlich 18

Vgl. Barbara Hopmann: Von der Montan zur Industrieverwaltungsgesellschaft (IVG) 1916–1951, Stuttgart 1996, S. 42f. 19 Vgl. Aktenvermerk über die Besprechung in der Hauptverwaltung der Mährischen Bank, Brünn am 25. 6. 1941, Betr.: Kabelwerk Krakau, in: DTMB I.2.060 A 00580, Bl. 127–130. Zu Zeidelhack vgl. Barbara Hopmann: Von der Montan zur Industrieverwaltungsgesellschaft (IVG) 1916–1951, Stuttgart 1996, S. 42ff. 20 Vgl. Aktenvermerk über die Besprechung AEG-Montan am 19. 1. 1943 sowie Aktenvermerk über die Besprechung am 19. 8. 1943, beide in: DTMB I.2.060 A 00581, Bl. 187 bzw. Bl. 144. 21 Vgl. Barbara Hopmann: Von der Montan zur Industrieverwaltungsgesellschaft (IVG) 1916–1951, Stuttgart 1996, S. 131f.

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am 13. April 1944 im Krakauer „Grand Hotel“ ein neuer Pachtvertrag abgeschlossen, der eine Laufzeit bis zum 31. Dezember 1949 vorsah.22 Von dem Pachtverhältnis mit der Montan unterschied er sich vor allem dadurch, dass der Pachtzins nun nicht mehr nur auf der Grundlage des Werts des Grundstücks und der Werksanlagen, sondern auch anhand des Umsatzes berechnet wurde. Die Mährische Bank erhielt außerdem einen finanziellen Ausgleich für die von der AEG übernommenen Warenbestände. Für die AEG brachte der Eintritt der Mährischen Bank den Vorteil, dass der „Kabelwerk Krakau Betriebsgesellschaft mit beschränkter Haftung“ (KWK) ein günstiger Kredit in Höhe von 2 Millionen Zl. eingeräumt wurde.23 Im Mittelpunkt dieser Kooperation stand also allein das kaufmännische Geschäft, während bei der Verbindung mit der Montan die Abwicklung von Wehrmachtsaufträgen im Vordergrund gestanden hatte. Dieser Unterschied erklärt vermutlich auch das Zögern der AEG gegenüber Verhandlungen mit der Mährischen Bank.

Die Gründung der „KWK“ Organisatorisch wurde das Kabelwerk nicht von der AEG, sondern von der von ihr im September 1941 gegründeten „Kabelwerk Krakau Betriebsgesellschaft mit beschränkter Haftung“ (KWK) betrieben.24 Mit diesem Modell wurden Haftung sowie Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten von außen reduziert bzw. ausgeschlossen. In der Satzung der Gesellschaft wurde ein Stammkapital von 100 000 Zl. festgesetzt, das je zur Hälfte von der AEG und dem Berliner Kaufmann Ulrich Dihle stammte. Dihle handelte aber nur stellvertretend für die AEG, die seinen Anteil übernommen hatte und sich dies von ihm auch schriftlich bestätigen ließ.25 Er zählte zu der kleinen deutschen Führungsgruppe, die 1941 die Leitung des Kabelwerks übernahm. Der damals 38-Jährige wurde kaufmännischer Vorstand des Kabelwerks Krakau. Nach dem Besuch eines humanistischen Gymnasiums in Berlin hatte der Sohn eines Professors eine kaufmännische Laufbahn eingeschlagen, die ihn über die Ludwig Loewe AG und eine Signalapparatefabrik zur AEG führte, in die er 1927 eintrat. Zuletzt hatte Dihle im KWO gearbeitet, genau wie der neue Betriebsleiter und technische Vorstand der KWK, der 1941 43-jährige Oberingenieur Ewald Böhme. Böhme hatte bereits 1939/40 kommissarisch die Betriebsführung des Kabelwerks Krakau übernommen. Auch für ihn 22

Vgl. Abschrift Pachtvertrag JB-Vertragsarchiv Nr. 424, in: DTMB I.2.060 A 00581, Bl. 67–72. 23 Vgl. Aktenvermerk v. 14. 4. 1944 über die Besprechungen in Krakau am 13./14. April 1944, in: DTMB I.2.060 A 00581. Bl. 58. 24 Vgl. Abschrift Gründungsprotokoll Deutsches Gericht Krakau v. 26. 9. 1941, in: DTMB, A 00580, Bl. 120. 25 Vgl. Dihle an AEG-Finanzverwaltung-Ausland v. 30. 9. 1941, Betr.: KWK-Betriebsgesellschaft m.b.H., in: DTMB I.2.060 A 00043, Bl. 276.

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bedeutete die neue Leitungsposition einen Karrieresprung.26 Im Dezember 1942 wurde Böhme außerdem auf Vorschlag des Rüstungsministeriums zum Bezirks-Beauftragten des Hauptrings elektrotechnische Erzeugnisse des Generalgouvernements ernannt.27 Seit 1940 unternahm Böhme mehrere Reisen in die besetzten Ostgebiete, wo er Gutachten über polnische Metallbetriebe erstellte.28 Böhme und Dihle unterhielten auch Kontakte zu der deutschen Besatzungsverwaltung und zu anderen Unternehmern in Krakau, darunter auch zu Oskar Schindler.29

Zur wirtschaftlichen Entwicklung des Kabelwerk Krakau Der Zugriff der AEG auf das größte polnische Kabelwerk stellte keine durch Kriegseinwirkung bedingte Fertigungsverlagerung dar, wie sie zahlreiche Unternehmen insbesondere seit 1943 durchführten.30 Stattdessen ging es zunächst darum, sich eine weitere Produktionskapazität für Rüstungsaufträge zu sichern. Im Kabelwerk Krakau wurde in erster Linie für den Bedarf der Wehrmacht und des Generalgouvernements produziert. Dazu zählte vor allem die Herstellung von Feldkabeln für die Wehrmacht und von Telefonkabeln für die „Deutsche Post Ost“.31 Außerdem fungierte das Kabelwerk als „verlängerte Werkbank“ des Berliner KWO. Aufträge, die am Standort in Berlin-Schöneweide wegen Überlastung nicht mehr bearbeitet werden konnten, wurden nach Krakau-Płaszów abgegeben.32 Aus dem KWO wurden deshalb Rohstoffe wie Blei, Kupfer, Eisen oder Kautschuk nach Krakau transportiert. Der Transport gestaltete sich jedoch aufgrund einer kriegsbedingten Waggonsperre zunächst sehr schwierig. 1941 wurde er zum Teil per Schiff durchgeführt, was zu großen Verzögerungen führte.33 Das Kabelwerk Krakau war auch einer der größten Lieferanten für Aufträge des AEG Verkaufsbüros in Krakau, das Erzeugnisse aus den Berliner 26

Vgl. Fragebogen, Betr.: Ansuchen um Erteilung einer Gewerbeberechtigung, in: LAB A Rep. 227-06, Nr. 4, o. Pag. 27 Vgl. Böhme an AEG-Büro Warschau v. 10. 12. 1942, in: LAB A Rep. 227-06, Nr. 10, o. Pag. 28 Vgl. Böhme an Firma Mansfeld AG für Bergbau und Hüttenbetrieb, Hettstedt/ Südharz v. 25. 1. 1943, in: LAB A Rep 227-06, Nr. 10, o. Pag. 29 Vgl. Böhme/Dihle an Schindler v. 27. 04. 1944, in: LAB, A Rep 227-06, Nr. 9, o. Pag. 30 Für den Siemens-Konzern gibt Wilfried Feldenkirchen allein die Zahl von etwa 400 „Kriegsverlagerungswerkstätten“ 1944/45 an, vgl. Wilfried Feldenkirchen: Siemens 1918–1945, München 1995, S. 200f. 31 Vgl. Dihle an Böhme v. 8. 7. 1941, Betr.: Preisangebot und Fertigung von schweren Feldkabeln, in: LAB A Rep. 227-06, Nr. 11, o. Pag. 32 Vgl. Dihle an Fudickar/AEG FKU Abt. W. v. 19. 6. 1941, in: LAB A Rep. 227-06, Nr. 11, o. Pag. 33 Vgl. Dihle an Major von Hauenschild, Rüstungskommando v. 12. 5. 1941, Betr.: IBBesprechung am 13. 05. 1941, in: LAB A Rep 227-6, Nr. 9, o. Pag.

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AEG-Werken wie z. B. Schalt- und Lichtanlagen an die Wehrmacht, die Ostbahn und die SS verkaufte.34 In begrenztem Umfang führte die AEG auch Investitionen in neue Maschinen und in die Modernisierung einzelner Anlagen des Kabelwerks durch: Zwischen September 1939 und Mai 1942 investierte die AEG mehr als 1,161 Millionen RM in Maschinen und andere technische Einrichtungen sowie in den Um- und Ausbau der Fabrikgebäude. 1941 wurden fast 50% der Investitionen für neue Maschinen aufgewendet. Darunter befanden sich drei Feldkabelmaschinen, die für die Herstellung von durch das OKH verlangtem schwerem Feldkabel dienen sollten, sowie zusätzliche Geräte für die Herstellung von Papierisolation für Telefonkabel, die die Deutsche Post Ost verlangte.35 Mitte August 1943 plante die AEG eine Erweiterung der Fabrikation für Lackdrähte und schwere Feldkabel für 1,3 Millionen Zl.36 Die Investitionen sollten sich bald auszahlen: So lag der Gewinn des Kabelwerks im Jahr 1943 um mehr als das 13-Fache höher als 1940. Nach der Übernahme des Kabelwerks durch die AEG war für 1940 ein Bilanzgewinn von etwas mehr als einer halben Millionen Zl. ausgewiesen worden37, 1943 betrug er hingegen knapp 6,9 Millionen Zl. Etwa 5,3 Millionen waren durch das Warengeschäft erwirtschaftet worden. Der Gewinn des Jahres 1943 wurde in Rückstellungen, Wertberichtigungen und eine besondere Lagerreserve verbucht.38 Der geschäftliche Erfolg fußte freilich auch auf dem Einsatz der polnischen Arbeiterinnen und Arbeiter und polnisch-jüdischen Arbeitskräfte.

Zum Einsatz polnischer Arbeitskräfte im Kabelwerk Krakau 1941 arbeiteten im Kabelwerk Krakau etwa 1 200 Zivilarbeiter und 200 Angestellte.39 Der polnische Leiter des Metallwerkes war 1940 verschleppt worden. Seine Verhaftung war, so Betriebsleiter Böhme drei Jahre später gegenüber dem Arbeitsamt Krakau, „aus uns unbekannten Gründen“ erfolgt. Aus seinem Schreiben geht auch hervor, dass die deutsche Betriebsleitung offenbar keine besonderen Aktivitäten entwickelte, um sich für den Verschleppten

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Vgl. AEG Krakau, Aufstellung der Lieferantenrechungen, in: DTMB I.2.060 A, Nr. 00356, Bl. 66. 35 Vgl. Anlage I des Bericht Nr. VI/9406 der Deutschen Revisions- und Treuhand-AG Berlin über die bei der Kabelwerk Krakau AG, Krakau vorgenommenen Sonderprüfung, in: LAB A Rep. 227-06, Nr. 5, Bl. 5. 36 Vgl. Aktenvermerk v. 26. 8. 1943 über die Besprechung in der Zentralverwaltung der AEG am 19. 8. 1943, in: DTMB I.2.060 A 00581, Bl. 144 –148. 37 Vgl. Abschluss-Bilanz per 31. 12. 1940, in: DTMB I.2.060 A 00580, Bl. 160. 38 Vgl. Notiz v. 3. 8. 1944, Betr.: Fz Ausland Nr. 12000/400 – Kabelwerk Krakau, Ergebnis des Geschäftsjahres 1943, in: DTMB I.2.060 A 00043, Bl. 40. 39 Vgl. Fragebogen, Betr.: Ansuchen um Erteilung einer Gewerbeberechtigung, in: LAB A Rep. 227-06, Nr. 4, o. Pag.

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einzusetzen. „Über seinen Aufenthalt“, so Böhme weiter, „konnte bisher nichts in Erfahrung gebracht werden. Da immerhin mehr als 3 Jahre verstrichen sind, glauben wir nicht, dass derselbe nochmals für uns zur Verfügung stehen wird“.40 Aus Sicht der deutschen Betriebsleitung wurde vor allem die schlechte Verkehrs- und die Versorgungslage zum zentralen Problem des Arbeitseinsatzes polnischer Arbeitskräfte im Kabelwerk. Wie Betriebsleiter Böhme der Rüstungsinspektion Krakau im April 1943 mitteilte, sei eine Anhebung der wöchentlichen Arbeitszeit von 48 auf 54 Stunden aufgrund der „Fahrplanpolitik der Ostbahn bzw. der städtischen Verkehrsmittel“ nicht möglich. Erschwerend komme hinzu, „dass die polnische Gefolgschaft durch die bisher schlechte Verpflegung sehr geschwächt ist und größtenteils erhebliche Anmarschwege zu überwinden hat.“41 Bereits 1941 hatte der kaufmännische Vorstand Ulrich Dihle gegenüber der Rüstungsinspektion Krakau geklagt, dass sich „die Ernährungsschwierigkeiten der polnischen Gefolgschaft […] weiterhin nachteilig bemerkbar [machen]. Es wäre daher erwünscht, wenn die Konsumzuteilung etwas reichlicher bemessen würde“.42 Die katastrophale Ernährungslage im Generalgouvernement, die durch die deutsche Besatzungspolitik verursacht worden war43, wurde auch im Kabelwerk Krakau zu einem zentralen Problem des Arbeitseinsatzes polnischer (wie jüdischer) Arbeitskräfte. Deutlich wurde dies, als die schlechte Versorgungslage zu hohen Fehlzeiten unter den polnischen Arbeitskräften des Kabelwerks führte, die mehr Zeit zur Organisation von Lebensmitteln aufwenden mussten. In der Folgezeit setzte die deutsche Betriebsleitung selbst Zuteilungen von Lebensmittelzulagen zunehmend als Anreiz- und Druckmittel insbesondere gegen Fehlzeiten ein. Im Frühjahr 1942 eskalierte die Situation: Als im April über 20% der polnischen Arbeitskräfte stunden- oder tageweise fehlten, forderte die Betriebsleitung vom Arbeitsamt Krakau, einzelne polnische Arbeitskräfte zur Abschreckung exemplarisch in ein Arbeitslager zu überstellen. So wandte sich die Betriebsleitung Mitte Mai an das Arbeitsamt Krakau mit zwei Listen von 141 polnischen Arbeitskräften, die unentschuldigt der Arbeit ferngeblieben seien. „Wir bitten Sie“, so hieß es in dem Schreiben, „aus dieser oder aus den Ihnen bereits in den Vormonaten übersandten Listen mehrere Gefolgschaftsmitglieder auszuwählen und einem Arbeitslager zuzuteilen, damit wir endlich in der Lage sind, unserer Gefolg40

Vgl. Böhme an Regierungsrat Dr. Gust, Arbeitsamt Krakau v. 26. 8. 1943, in: LAB, A Rep. 227-06, Nr. 10, o. Pag. 41 Vgl. Böhme an Oberstleutnant Matthes Rüstungsinspektion Krakau v. 13. 4. 1943, Betr.: Tarifordnungen für die private Wirtschaft und das Handwerk im Distrikt Krakau, in: LAB A Rep. 227-06, Nr. 10, o. Pag. 42 Vgl. Dihle an Major von Hauenschild, Rüstungskommando v. 12. 5. 1941, Betr.: IBBesprechung am 13. 05. 1941, in: LAB A Rep 227-6, Nr. 9, o. Pag. 43 Vgl. Christian Gerlach: Krieg, Ernährung Massenmord. Forschungen zur deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1998, S. 172f.

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schaft die ihr seit längerer Zeit durch behördliche Anordnung in Aussicht gestellte Verschickung in Arbeitslager durch praktische Beispiele vor Augen zu führen“.44 Zu welchen Konsequenzen diese Meldung möglicherweise führte, verdeutlicht ein Hinweis von Oskar Schindler, der von sieben Arbeitern aus dem Kabelwerk Krakau berichtet, die von der SS zur Abschreckung in Płaszów gehängt wurden. Diese Mordaktion der SS rief, so Schindler, „lt. Direktor Dihle vom Kabelwerk eine fühlbare Produktionssteigerung“ hervor.45 Der Zeitpunkt dieser Hinrichtung ist allerdings bislang ebenso unklar wie die Rolle der deutschen Betriebsleitung. Ende 1942/Anfang 1943 schwenkte die Betriebsleitung offenbar um und senkte die Fehlzeiten durch Lebensmittelzuteilungen zeitweise auf nur noch 2%. Doch dabei blieb es nicht: Im August 1943 kündigte sie fehlenden Gefolgschaftsmitgliedern die Kürzung der Branntwein- und Lebensmittelzuteilungen an, „um sie zu einer künftig besseren Einhaltung ihrer Pflichten anzumahnen… .“ Im einzelnen war die völlige Streichung der Branntweinzulage sowie eine gestaffelte Kürzung der Lebensmittelzulage vorgesehen: für ein bis fünf Tage unentschuldigtes Fehlen wurde sie um 10%, für sechs bis zehn Tage um 30%, für elf bis 15 Tage um 50% und für mehr als 15 Tage um 100% gekürzt.46 Mit diesen abgestuften Sanktionen stand die Betriebsführung des KWK nicht allein. Die Leitung des Daimler-Benz-Werks in Rzeszów hatte bereits im März 1943 ein „zentral gelenktes, ausgeklügeltes Strafsystem“ eingeführt, das auf dem Entzug von Wodka- und Zigaretten-Zuteilungen basierte und durch deutsche Mitarbeiter vollzogene Misshandlungen ersetzen sollte.47 Im Sommer 1942 rückten Juden als ein zusätzliches Arbeitkräftepotential in das Blickfeld der Betriebsführung des Kabelwerks, die gegenüber der sich vor ihrer Haustür abspielenden Verfolgung der Krakauer Juden offenbar eine Zuschauer-Rolle eingenommen hatte. Noch Anfang Juni 1942 hatte sich eine Verwaltungsabteilung des Kabelwerks an das städtische Wohnungsamt mit der Bitte gewandt, ein Wohnhaus im ehemaligen Ghetto zur Unterbringung von Gefolgschaftsmitgliedern zur Verfügung zu stellen. „Im Zusammenhang mit der Durchführung der Evakuierung des jüdischen Wohnviertels nehmen wir an, dass nach erfolgter Aussiedlungsaktion dieses Wohnviertel wieder normalen Wohnzwecken zugeführt wird“, hieß es in dem Schreiben. 44

Vgl. KWK an Arbeitsamt Krakau v. 19. 5. 1942, Betr.: Säumige Gefolgschaftsmitglieder, mit 2 Anlagen „Liste der im Monat April 1942 arbeitssäumigen Gefolgschaftsmitglieder“ (je für Krakau-Land und Krakau-Stadt), in: LAB A Rep. 227-06, Nr. 15, o. Pag. 45 Vgl. Erika Rosenberg (Hg.): Ich, Oskar Schindler. Die persönlichen Aufzeichnungen. Briefe und Dokumente, München 2000, S. 104. 46 Vgl. Werkmitteilung SEK v. 29. 7. 1943, Betr.: Anruf des Herrn Böhme sowie Rundschreiben Nr. 47/43 v. 21. 8. 1943, beide in: LAB A Rep. 227-06, Nr. 15, o. Pag. 47 Vgl. Barbara Hopmann u. a.: Zwangsarbeit bei Daimler-Benz, Stuttgart 1994, S. 254.

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„Da wir uns bereits seit langem bei ihrer Dienststelle um die Zuteilung eines ganzen Wohnhauses für unsere Gefolgschaftsmitglieder bemüht haben, jedoch infolge der herrschenden Wohnungsknappheit unseren diesbezüglichen Anträgen nicht entsprochen werden konnte, bitten wir Sie nunmehr nach Auflassung des jüdischen Wohnviertels um Zuteilung eines Wohnhauses für unsere Gefolgschaft.“48

Zum Einsatz von Jüdinnen und Juden aus dem Ghetto Krakau Im selben Monat begannen im Kabelwerk auch Vorbereitungen für einen Einsatz jüdischer Zwangsarbeiter, der seit Juni 1942 offiziell in Rüstungsbetrieben erfolgen konnte. Das Kabelwerk nahm keine Vorreiter-Rolle ein, wie etwa das Luftrüstungsunternehmen von Ernst Heinkel. Raul Hilberg hat darauf hingewiesen, dass der erste Einsatz von Juden aus dem Krakauer Ghetto in einem industriellen Rüstungsbetrieb bereits im April 1942 im Werk Mielec der Ernst Heinkel AG erfolgte.49 Am 16. Juni 1942 fand eine Besprechung zwischen dem Kabelwerk-Betriebsleiter Ewald Böhme, dem Leiter des Krakauer Arbeitsamtes und einem Vertreter des Rüstungskommandos Krakau statt, auf der erstmals über Grundzüge eines Arbeitseinsatzes von Juden aus dem Ghetto Płaszów im Kabelwerk Krakau gesprochen wurde.50 Die Vereinbarungen, die Böhme bei dieser und weiteren, später auch mit der SS geführten Besprechungen über die Bedingungen des Zwangseinsatzes abschloss, ähnelten denen, die die Leitung des Daimler-Benz-Werk Rzeszów getroffen hatte.51 Ausgangspunkt bildeten offenbar die Erlasse und Verordnungen über den Arbeitseinsatz von Juden im Generalgouvernement.52 Anfang Juli 1940 hatte die Arbeitsverwaltung der Regierung des Generalgouvernements u. a. festgelegt, dass Juden nur 80% des Lohnes polnischer nichtjüdischer Arbeitskräfte erhalten sollten. In der Folgezeit waren die Arbeitsbedingungen für Juden weiter eingeschränkt worden: Seit Anfang 1942 durften geltende Arbeitszeitregelungen oder besondere (Schutz-)Regelungen für die Arbeit von Frauen und Jugendlichen auf Juden keine Anwendung mehr finden. Für Juden galt kein Kündigungsschutz, sie hatten keinerlei Recht auf Zuschläge, Gratifikationen oder Fortzahlung eines Arbeitsentgeltes im Urlaub und keine zusätzliche, betrieblich 48

Vgl. KWK an Städt. Wohnungsamt Krakau v. 6. 06. 1942, in: LAB A Rep. 227-06, Nr. 14, o. Pag. 49 Vgl. Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt a. M. 1994, Bd. 2/3, S. 550. 50 Vgl. Aktenvermerk Nr. 70/42 v. 19. 6. 1942, Betr.: Einstellung von Juden, in: LAB A Rep. 227-06, Nr. 14, o. Pag. 51 Vgl. Barbara Hopmann u. a.: Zwangsarbeit bei Daimler-Benz, Stuttgart 1994, S. 358. 52 Vgl. Diemut Majer: „Fremdvölkische“ im Dritten Reich. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Rechtssetzung und Rechtspraxis in Verwaltung und Justiz unter besonderer Berücksichtigung der eingegliederten Ostgebiete und des Generalgouvernements (=Schriften des Bundesarchiv, Bd. 28), Boppard 1993, Bl. 549ff.

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vereinbarte Altersversorgung.53 Für den Einsatz im Kabelwerk wurde im Sommer 1942 festgelegt, dass die jüdischen Arbeitskräfte wie die polnischen Arbeiter und Arbeiterinnen eine vom Werk gereichte Werkssuppe erhielten. Juden sollten im Kabelwerk wie in anderen Fällen nur in geschlossenen Abteilungen, getrennt von den anderen Beschäftigten eingesetzt werden. Allein für eine Anlernzeit von zwei bis drei Wochen sollten sie auch mit polnischen Arbeitskräften zusammenarbeiten dürfen. Weitere Bedingungen wurden während einer Besprechung ausgehandelt, die eine Woche später, am 23. Juni 1942, zwischen dem Werksleiter Böhme und dem Leiter der Arbeitsvermittlung für Juden im Arbeitsamt Krakau stattfand. Dort wurde u. a. vereinbart, dass der Einsatz von Juden ausschließlich gruppenweise erfolgen sollte. Es würden zunächst keine männlichen Juden zur Verfügung gestellt werden können. In Gruppen sollten die jüdischen Arbeitskräfte täglich zwischen dem Ghetto und der Fabrik hin- und her transportiert werden. Dies sollte anfangs durch den Werkschutz, „später durch hierfür zu verpflichtende Juden“ durchgeführt werden. Im Kabelwerk sollten die jüdischen Arbeitskräfte geschlossen in fünf verschiedenen Abteilungen, darunter in der Garnspinnerei, der Installationsmaterialabteilung und in der Feldkabelprüferei, eingesetzt werden. Die Arbeit sollte nach dem für Juden geltenden 80% Tarif erfolgen, der 1940 von der Arbeitsverwaltung erlassen worden war. Außerdem sollte eine Sozialversicherung „nach den Gesetzen für polnische Gefolgschaftsmitglieder erhoben und abgeführt“ werden. Werksleiter Böhme handelte auch aus, dass er selbst über Ausnahmen von einer grundsätzlich nicht vorgesehenen Sonderzuteilung von Konsumwaren an jüdische Zwangsarbeiter entscheiden konnte.54 Ende August 1942 kündigte er jedoch an, dass „Juden bis auf weiteres keine Sonderzuteilungen erhalten. Dies erstreckt sich auf alle Stoffe, die über den Werkskonsum zur Verteilung gelangen.“55 Nach dem vermutlich Anfang Juli 1942 beginnenden Einsatz der jüdischen Frauen wurden wenig später auch jüdische Männer eingesetzt, als eine Gruppe von 96 männlichen Juden aus Wieliczka vom Rüstungskommando Krakau am 30. August 1942 in das „Judenarbeitslager“ (Julag I) Płaszów transportiert worden war, das zu diesem Zeitpunkt Eigentum der „Generaldirektion Ostbahn“ war. Dort hatten verschiedene, für die Ostbahn tätige deutsche Firmen wie die Siemens Bau Union jüdische Arbeitskräfte untergebracht, die beim Bau der Ostbahn eingesetzt wurden. Mit dem Beginn des Einsatzes der männlichen Juden verhandelte Böhme erneut über die Arbeitsbedingungen der jüdischen Arbeitskräfte im Kabelwerk. Diesmal aber mit der SS, die von der Arbeitsverwaltung die Kontrolle über das 53

Vgl. Heinz Melies: Das Arbeitsrecht des Generalgouvernement, Krakau 1943, S. 38. Vgl. Aktenvermerk Nr. 70/42 v. 19. 6. 1942, Betr.: Einstellung von Juden und Aktenvermerk Nr. 72/42 v. 24. 6. 1942, Betr.: Judeneinsatz, beide in: LAB A Rep. 227-06, Nr. 14, o. Pag; KWK-Kostenstellenplan v. 1. 8. 1942, in: LAB A Rep. 227-06, Nr. 4, o. Pag. 55 Vgl. Rundschreiben Nr. 50/42 v. 31. 8. 1942, in: LAB A Rep. 227-06, Nr. 14. o. Pag. 54

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Julag Płaszów wie über alle anderen Einsätze mit jüdischen Arbeitskräften übernommen hatte. Die Verhandlungen am 31. August und Anfang September 1942, die Böhme mit dem Stabsführer des Höheren SS- und Polizeiführers in Krakau, SS-Sturmbannführer Fellenz, und dem Lagerführer der drei Krakauer „Judenarbeitslager“ in Płaszów, Prokocim und Bieszanow, SS-Oberscharführer Franz-Josef Müller führte, umfassten auch eine Besichtigung des Julag Płaszów. Böhme vereinbarte, dass die jüdischen Arbeitskräfte des Kabelwerks jedoch nicht in Płaszów, sondern „in kasernierter Form“ im Ghetto Krakau untergebracht werden sollten, wohin sie am 4. September 1942 „mit allem Hab und Gut“ übersiedeln sollten. Für die Unterbringung sollte die jüdische Ghettoverwaltung Strohsäcke und Holzbetten zur Verfügung stellen.56 Für den Einsatz im Kabelwerk sollte für die jüdischen Arbeitskräfte 80% der für Polen festgesetzten Akkord- und Stundenlohnsätze berechnet werden, abzüglich „der Soziallasten, Steuern usw.“ Außerdem sollte das KWK als „Betreuungskosten“ pauschal für 200 Juden 1 700 RM im Monat an die NSDAP Krakau für eine „soziale Verwaltung“ des Lagers entrichten. Nach der Räumung des „Ghetto A“ während der von der SS durchgeführten zweiten „Aktion“ am 27. und 28. Oktober 1942 wurden auch alle jüdischen Arbeitskräfte des Kabelwerks in das neu errichtete Zwangsarbeitslager Płaszów überstellt. Von dort sollten sie das Krankenhaus im verbliebenen Ghettoteil passieren können, um sich medizinisch behandeln zu lassen. Bei der endgültigen Räumung des Ghettos Krakau am 13. März 1943 brachte die Betriebsleitung die jüdischen Arbeitskräfte in Baracken auf dem Gelände des Kabelwerks unter. Ähnlich wie Oskar Schindler im Fall seiner Emailwarenfabrik richtete das Kabelwerk Krakau ein eigenes Firmenlager ein. Dort und während des Arbeitseinsatzes wurden die Juden von ukrainischen Wachleuten bewacht. In dem Firmenlager befanden sich nach Angaben von Überlebenden vermutlich etwa 150 Frauen und 150 Männer.57 Die AEG räumte nach 1945 eine Zahl von etwa 200 jüdischen Arbeitskräften ein.58 56

Vgl. Aktenvermerk Nr. 108/42 v. 2. 9. 42, Betr.: Judeneinsatz, in: LAB A Rep. 227-06, Nr. 14; vgl. auch Glówna Komisja Badania Zbrodni Hitlerowskich w. Polsce: Obozy hitlerowskie na ziemrach polkich 1939–1945, Warszawa 1979, S. 391 sowie Aleksander Biberstein: Zagłada Żydów w Krakowie, Kraków 2001, S. 101. 57 Vgl. Leontyna Davies: Questionnaire transcript and photo album, in: USHMM Archives, RG 02.070, Bl. 5–6; Tadeusz Pankiewicz: Die Apotheke im Krakauer Ghetto, München 1995, S. 197. Mietek Pemper: Der rettende Weg. Schindlers Liste – Die wahre Geschichte, Hamburg 2005, S. 104.; Ella Wittmann: Aus meiner Konzentrationslager-Zeit, Ms. o. D., 3 Bl., in: BArch FBS 141 6244. Der Bericht von Ella Wittmann wurde 1988 in Ost-Berlin in einer Ausgabe der Zeitschrift „Sinn und Form“ 6 (1988) veröffentlicht. 58 Vgl. Stein an Katzenstein v. 21. 4. 1960, Re: AEG u. Telefunken, in: Yad Vashem Archive Nr. 400/1, Korrespondenz Telefunken (Akte Dr. Stein). In der Reichsbetriebskartei wurde das Kabelwerk Krakau mit 1 609 Arbeitskräften verzeichnet, das in etwa der Summe aus der Anzahl der polnischen Arbeitskräfte von 1941 sowie 200 jüdischen Zwangsarbeitern entspräche. Vgl. BArch, R3/2006, Nr. 0/1401/0004, Kabelwerk Krakau.

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Zwangsarbeit von Juden im Kabelwerk Krakau Nach Angaben der 1942 21-jährigen polnischen Jüdin Leontyna Opoczynska, die seit November 1942 in der Spinnerei der Drahtfabrik des Kabelwerks Zwangsarbeit leistete, mussten die jüdischen Arbeitskräfte sieben Tage pro Woche in zwölfstündigen Tag- und Nacht-Wechselschichten arbeiten. Anfang September 1942 wurden sie in drei Schichten eingesetzt. Arbeitsfreie Tage waren zunächst nicht vorgesehen. Ende August 1943 kündigte die Betriebsleitung an, dass „darauf hinzuwirken [sei], dass die jüdischen Arbeiter an jedem 3. Sonntag dienstfrei haben. Auf Wochentage fallende Feiertage werden, sofern es die Werksbelange erfordern, wie Werkstage gerechnet.“59 Während des Arbeitseinsatzes wurden sie von deutschen Meistern angeleitet und arbeiteten mit polnischen Arbeiterinnen und Arbeitern zusammen, die ihnen nach Angaben von Opoczynska auch Lebensmittel zusteckten. Die Ernährung soll aus Ersatzkaffee am Morgen, Brot am Abend sowie Brot und einer Suppe bei Schichtwechsel bestanden haben.60 Die Mehrzahl der jüdischen Arbeitskräfte war vermutlich polnischer Herkunft. Unter ihnen befand sich aber auch die deutsche Jüdin Ella Wittmann aus Leipzig, die bereits am 28. Oktober 1938 mit den ersten Transporten polnischer und deutscher Juden nach Polen transportiert worden war.61 Sie wurde nach eigenen Angaben im Frühjahr 1944 dem Kommando Kabelwerk zugeteilt und im Kabelwerk als Schreibkraft zu qualifizierter Arbeit eingesetzt. „Hier“, so Wittmann im Vergleich zu den Bedingungen in Płaszów, „hatte ich für ein paar Monate Ruhe. Die Direktoren gehörten nicht zur SS und […] ich [hatte] hier als Deutsche eine kleine Bevorzugung“.62 Der Arbeitseinsatz und die Unterbringung auf dem Fabrikgelände bewahrten die jüdischen Arbeitskräfte zunächst vor der Deportation, schützten sie aber nicht vor Verfolgung. So berichtet Leontyna Opoczynska, dass sie nach einem Nervenzusammenbruch nur durch die Solidarität der Anderen nicht als arbeitsunfähig aussortiert worden sei. Sie war zusammengebrochen als sie von der Ermordung ihres Bruders und eines Cousins bei der Räumung des Ghettos erfahren hatte. „I was not taken away and shot“, so Leontyna Opoczynska, „because my fellow workers put part of their output down on me“.63 59

Vgl. Rundschreiben Nr. 10/43 v. 8. 2. 1943, Betr.: Judeneinsatz an Sonn- und Feiertagen, in: LAB A Rep. 227-06, Nr. 14, o. Pag. 60 Vgl. Leontyna Davies: Questionnaire transcript and photo album, in: USHMM Archives, RG 02.070, Bl. 5–6. 61 Vgl. Ella Wittmann: Aus meiner Konzentrationslager-Zeit, Ms. o. D., 3 Bl., in: BArch FBS 141 6244. Zu den „Polen-Transporten“ vom 28. 10. 1938 vgl. Alfred Gottwaldt/Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941–1945, Wiesbaden 2005, S. 26f. 62 Vgl. Ella Wittmann: Aus meiner Konzentrationslager-Zeit, Ms. o. D., 3 Bl., in: BArch FBS 141 6244. 63 Vgl. Leontyna Davies: Questionnaire transcript and photo album, in: USHMM Archives, RG 02.070, Bl. 5–6.

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Anders als im Fall des Geschäftsmanns Oskar Schindler kam für die Leitung des Kabelwerks eine Verlegung jüdischer Arbeitskräfte offenbar nicht in Betracht. Im „Mutterbetrieb“ KWO in Berlin-Köpenick, der ein nahe liegendes Ziel einer solchen Verlagerung hätte sein können, wurde im selben Zeitraum der Einsatz von KZ-Häftlingen vorbereitet, der dort im Oktober 1944 begann.64 Die jüdischen Zwangsarbeiter blieben stattdessen im Kabelwerk Krakau bis zu dessen Räumung im September 1944, anschließend wurden sie alle in das KZ Płaszów überstellt. Ella Wittmann wurde dort zum Bau von Baracken eingeteilt. Später wurde sie nach Auschwitz deportiert und im Frauenlager in Birkenau inhaftiert. Bei der Räumung von Auschwitz wurde sie zum KZ Ravensbrück transportiert. Nach der Befreiung kehrte sie nach Leipzig zurück, wo sie 1963 in den Vorstand der dortigen Jüdischen Gemeinde gewählt wurde.65 Auch Leontyna Opoczynska kam zunächst nach Płaszów und im November 1944 nach Auschwitz. Bei der Räumung des Vernichtungslagers wurde sie von der SS zum KZ Sachsenhausen, dann weiter nach Buchenwald und schließlich in das KZ Bergen-Belsen transportiert, wo sie von britischen Soldaten im April 1945 befreit wurde.66

Die Räumung des Kabelwerks Krakau Am 5. August 1944 erteilte die Rüstungsinspektion Krakau dem Kabelwerk Krakau einen Räumungsbefehl. In der Folgezeit wurden die Fabrikationsstätten im Kabelwerk Krakau bis auf die Drahtfabrik, in der die jüdischen Arbeitskräfte eingesetzt worden waren, stillgelegt. Eine Lackdrahtfabrik wurde in den Sudetengau verlagert. Eine Verlegung von weiteren Maschinen wurde von den Rüstungsbehörden abgelehnt, außerdem sprachen sich Vertreter der Mährischen Bank dafür aus, dass diejenigen Maschinen, die durch einen Abtransport so beschädigt werden könnten, dass eine Wiederaufstellung unwirtschaftlich werden würde, im Kabelwerk verbleiben sollten. Seit Mitte Oktober 1944 sollte das KWK praktisch alle Materialien, die es nicht unbedingt selbst benötigte, zum Kabelwerk Oberspree in Berlin abgeben. Halbfabrikate und Rohstoffe wie Kabelpapier, Kupferdrähte, Lacke, Kunstseide, Bandeisen, Holz und Eisenabfälle wurden in ein Rohstofflager der AEG in Fürstenberg/Oder östlich von Berlin transportiert und an das 64

Vgl. Thomas Irmer: „Hennigsdorf (AEG)“, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 3: Sachsenhausen, Buchenwald, München 2006, S. 202–205. 65 Vgl. Ella Wittmann: Aus meiner Konzentrationslager-Zeit, Ms. o. D., 3 Bl., in: BArch FBS 141 6244; vgl. Robert Allen Willingham: Jews in Leipzig: Nationality and Community in the 20th century, Austin 2005, S. 233. 66 Vgl. Leontyna Davies: Questionnaire transcript and photo album, in: USHMM Archives, RG 02.070, Bl. 5–6.

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Berliner KWO verkauft.67 Dazu zählten auch Lebensmittel wie Gemüse, das für die Werksverpflegung auf Feldern bei Krakau angebaut worden war.68 Auf einer Besprechung am 13. September 1944 in der Berliner AEG-Zentrale am Friedrich-Karl-Ufer war festgelegt worden, dass die aus Krakau ins Reichsgebiet verlagerten Rohstoffe und Fabrikate „schnellstens einer definitiven Verwendung zuzuführen“ seien. Verwendbare Materialien sollte das KWO der KWK abkaufen. Die Lebensmittel aus Krakau sollten gegen Kostenerstattung den Gefolgschaftsverpflegungen der Berliner AEG-Fabriken zur Verfügung gestellt werden. Außerdem sollte gegenüber der Mährischen Bank eine „Anpassung der bestehenden vertraglichen Abmachungen“ verhandelt werden, die aufgrund der veränderten Verhältnisse erforderlich sei. Noch bis Anfang März 1945 wurde mit der Mährischen Bank über die Höhe der Pachtzinsen verhandelt, die nach Auffassung der AEG vermindert werden müssten, da ein Teil der Maschinen nicht mehr nutzbar sei. Außerdem sollte geprüft werden, ob die durch die Reduzierung des Betriebes entstandenen Unkosten und der Verlust, der durch Verlagerung und Verkauf der Erzeugnisse und Rohstoffe entstanden sei, als Kriegssachschäden gegenüber dem Reich geltend gemacht werden könnten.69 Am 17. Januar 1945 verließen die letzten deutschen Mitarbeiter der KWK Krakau, nachdem die Rüstungsinspektion einen letzten Räumungsbefehl erteilt hatte. Die verbleibenden Werksanlagen wurden dem Vize-Direktor der polnischen „Fabryka Kabli S.A.“ übergeben.70

Nach 1945 Wie Leontyna Opoczynska und Ella Wittmann überlebte vermutlich die Mehrzahl der ehemaligen jüdischen Arbeitskräfte des Kabelwerks Krakau die Deportationen. 175 von ihnen erhielten in den 1960er Jahren eine Einmalzahlung von 500 $ aus einem Abkommen, das die „Conference on Jewish Material Claims against Germany“ (Claims Conference) mit der damaligen AEG-Firmenleitung abschloss. Ein maßgeblicher Verhandlungsführer auf Seiten der AEG war 1941 als Firmenjurist an der Übernahme des Kabelwerks 67

Vgl. Versandscheine und Aufstellungen über Räumungsgüter in: LAB A. Rep 227-06, Nr. 8 + 12, o. Pag. 68 Vgl. Aktenvermerk KWK v. 13. 10. 1944, in: LAB A Rep. 227-06, Nr. 8, o. Pag. 69 Vgl. Aktenvermerk v. 13. 9. 1944, Betr.: Besprechung im FKU am 13. 9. 1944 wegen Räumung Kabelwerk Krakau, in: DTMB I.2.060 A 00581, Bl. 34–36. 70 Vgl. Entwurf Schreiben Kabelwerk Krakau Betriebsgesellschaft m.b.H. an Mährische Bank v. März 1945, Betr.: Kabelwerk Krakau Betriebsgesellschaft m.b.H., Pachtzinszahlung, Protokoll über die Sitzung des Aufsichtsrates der Kabelfabrik A.G. in Krakau v. 8. 9. 1944; Aktenvermerk KWK Nr. 130/44 v. 17. 11. 1944 über Besprechung in Krakau am 17. 11. 1944, Betr.: Preisfragen und Kriegsschäden, alle in DTMB I.2.060 A, Nr. 00581.

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Krakau beteiligt gewesen. Auf dem Firmengelände des Kabelwerks wurde nach 1945 eine Gedenktafel errichtet, mit der an 23 Arbeiter des Kabelwerks erinnert wird, die während der deutschen Besatzung wegen Konspiration ermordet wurden. Außerdem weist die Tafel auf die Existenz des Barackenlagers von Płaszów auf dem Firmengelände hin.

Schluss Der Fall des Kabelwerks Krakau ist ein typisches Beispiel für das Vorgehen deutscher Unternehmen im besetzten Polen. Auch der Elektrokonzern AEG sah in dessen Übernahme in erster Linie eine Option für die Erweiterung von Produktionskapazitäten für Rüstungszwecke. Die Übernahme des zunächst beschlagnahmten Krakauer Kabelwerks unterschied sich jedoch von anderen Beispielen dadurch, dass der Eigentümer der Kabelwerks-Aktien, die Mährische Bank, in den Weiterbetrieb miteinbezogen und somit auch zu einem Nutznießer wurde. Die AEG hatte allerdings eine Kooperation mit der Wehrmacht favorisiert, weil diese ihr eine bessere Ertragslage versprach. Die ertragsreiche Rüstungsproduktion basierte auf dem Arbeitseinsatz von Polinnen und Polen und von polnischen Jüdinnen und Juden, bei deren Einsatz sich die deutsche Betriebsleitung ähnlich wie andere Unternehmen verhielt. Ein entscheidender Ansatzpunkt ihres Handlungsspielraums waren Lebensmittelzulagen, die auch in diesem Fall zu einem zentralen Element der innerbetrieblichen Steuerung des Arbeitseinsatzes wurden. Die Betriebsleitung setzte alle Mittel ein, um die Produktion am Laufen zu halten bzw. zu steigern. In letzter Konsequenz konnte dies offenbar auch bedeuten, Arbeitskräfte an Gestapo und SS auszuliefern. Der Einsatz im Kabelwerk schützte die etwa 200 bis 300 im Werk eingesetzten polnischen Juden und Jüdinnen vor den Mordaktionen der SS. Aber er bot ihnen anders als im Fall der Emailwarenfabrik von Oskar Schindler keine Rettung. Dazu hätte die AEG von dem bis zum Schluss verfolgten Kurs abweichen müssen, allein ihren wirtschaftlichen Vorteil auf der Grundlage und durch die Ausnutzung von Vereinbarungen, Bestimmungen und Anordnungen des nationalsozialistischen Besatzungsregimes zu suchen.

Stefan A. Oyen, Manfred Overesch

„Starter für den Krieg“ Bosch Hildesheim im Dritten Reich Einleitung Der 1937 in Planung gesetzte grundständige Aufbau des Bosch-Tochterunternehmens ELFI – ab 1942 Trillke-Werke GmbH – im südniedersächsischen Hildesheim kann als exemplarisch gelten für die Ausgründung eines Rüstungsunternehmens im Nationalsozialismus. Die vom Oberkommando des Heeres (OKH) bzw. seinen ausführenden Institutionen initiierte Werksgründung diente mit der Erledigung von Aufträgen der Wehrmacht Kriegszielen. Unterhalb dieses Primats nationalsozialistischer Autarkie- bzw. Aufrüstungspolitik für die Zielsetzung des Unternehmens zeigt sich aber auch ein gestalterischer Freiraum, der von den handelnden Akteuren aktiv wahrgenommen wurde. Die hierin benannte Leitfrage nach den Möglichkeiten und Grenzen unternehmerischer Freiheit unter nationalsozialistischer Kriegswirtschaftspolitik wird der folgenden Darstellung von (Standort-)Planung, Werksgründung und -ausbau zugrunde gelegt. So ist insbesondere zu fragen, inwieweit das Mutterunternehmen Bosch mit der aufoktroyierten Gründung des Zweigwerks auch mittel- wie langfristig ureigene Unternehmensziele verband und ob bzw. wie diese auch gegenüber den zuwiderlaufenden wehrwirtschaftlichen Interessen behauptet werden konnten.1 Im Sinne des Leitthemas der Tagung konzentriert sich die Betrachtung dann auf die Frage nach der Bedeutung des Produktionsfaktors Arbeitskraft für den Ausbau der Trillke-Werke. Seit Beginn der Produktion herrschte trotz steigender Aufträge ein Arbeitskräftemangel, sodass bald Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen eingesetzt wurden. Unternehmerische Freiheit konkretisiert sich hier insbesondere über die Frage danach, ob bei Bosch-Hildesheim die sogenannten „Fremdarbeiter“ besser behandelt wurden als in anderen Zweigwerken oder vergleichbaren Unternehmen. Herangezogen werden hier die Bosch-Produktion in Kleinmachnow bei Berlin2 sowie der Hildesheimer Standort der Vereinigten Deutschen Metallwerke (VDM).3 1 Vgl. Christoph Buchheim: Unternehmen in Deutschland und NS-Regime 1933–1945. Versuch einer Synthese, in: Historische Zeitschrift 282 (2006), S. 351–390. 2 Vgl. Angela Martin: „Ich sah den Namen Bosch“. Polnische Frauen als KZ-Häftlinge in der Dreilinden Maschinenbau GmbH, Berlin 2002. 3 Vgl. Markus Rohloff: Zwangsarbeit in Hildesheim. Der Arbeitseinsatz für die Rüstungswirtschaft des Dritten Reiches, in Hildesheimer Jahrbuch für Stadt und Stift Hildesheim 70/71 (1998/1999), S. 163–189; Hildesheimer Geschichtswerkstatt (Hg.):

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Zum Verständnis der Situation vor Ort in Hildesheim ist der Rückgriff auf die Verhältnisse im Mutterkonzern, der Robert Bosch GmbH Stuttgart unabdingbar und führt gerade im Bezug auf die Frage der Zwangsarbeit in eine kritische Lektüre der bereits vorliegenden Literatur.4 Weiter hat die Unternehmensgeschichte die Bedeutung der kommunalen Verwaltung für die Produktion vor Ort bisher nur randständig behandelt.5 Am Beispiel der Stadt Hildesheim lassen sich Ansätze einer kommunalen Wirtschaftsförderung und deren Bedeutung für den Unternehmensstandort ausweisen. Die Auseinandersetzungen zwischen Bosch und dem OKH sowie der Reichsstelle für Raumordnung (RfR) verweisen auf die bisher im Zusammenhang noch nicht dargestellten Grundbedingungen der industriellen Erschließung des bis dahin landwirtschaftlich geprägten Wirtschaftsraumes Südostniedersachsen.6 Am Beginn der Darstellung steht ein Kurzporträt des Trillke-Werkes (Kap. 2) sowie zielführende Anmerkungen zur Situation im Bosch-Konzern (3). Dem folgt der Prozess der Standortwahl (4), die Darstellung des Ausbaus der Produktion bei Trillke (5) und der Bedingungen in Bezug auf den Einsatz von Arbeitskräften (6) und darin insbesondere von Zwangsarbeitern (7). Das Fazit wertet die bisher gewonnenen Arbeitsergebnisse hinsichtlich der beiden hier gewählten leitenden Fragestellungen aus (8). Die Monographie Manfred Overesch, im wertenden Teil durchaus mit Differenzen zu der hier vorgelegten Analyse, erschien 2008.7 Die darauf aufbauende vergleichende Studie von Stefan Oyen befindet sich noch in der Erarbeitung.

Bosch-Hildesheim: Die Trillke-Werke (ELFI) Das Unternehmen wurde nach knapp einjähriger Vorlaufzeit Ende 1937 in Hildesheim als Rüstungsbetrieb gegründet und von Bosch im Auftrag und auf Rechnung des OKH betrieben.8 Das so benannte Ausweich-Werk für die Bosch-Produktion in Stuttgart-Feuerbach stellte verschiedene elektrotechni„Schläge, fast nichts zu essen und schwere Arbeit“. Italienische Zwangsarbeiter in Hildesheim 1943–1945, Hildesheim 2000. 4 Vgl. Joachim Scholtyseck: Robert Bosch und der liberale Widerstand gegen Hitler 1933 bis 1945, München 1999. 5 Vgl. zur kommunalen Perspektive Sabine Mecking/Andreas Wirsching (Hg.): Stadtverwaltung im Nationalsozialismus. Systemstabilisierende Dimensionen kommunaler Herrschaft, Paderborn u. a. 2005. 6 Vgl. zur Thematik der Raumordnung Rolf Messerschmidt: Nationalsozialistische Raumforschung und Raumordnung aus der Perspektive der „Stunde Null“, in: Michael Prinz/Rainer Zitelmann (Hg.): Nationalsozialismus und Modernisierung, Darmstadt, 2. Aufl. 1994, S. 117–138. 7 Manfred Overesch: Bosch in Hildesheim 1937–1945. Freies Unternehmertum und nationalsozialistische Rüstungspolitik, Göttingen 2008. 8 Bosch-Archiv Stuttgart G 30/1, Gesellschaftsvertrag Montan/Bosch v. 18. 12. 1937.

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sche Aggregate für Heereskraftfahrzeuge aller Art her. Hierzu zählten neben Lichtmaschinen insbesondere auch Starterelemente: Ritzelanlasser für PKW und LKW sowie mit steigendem Anteil Schwungkraftanlasser und Magnetzünder für Panzer und schwere Artilleriezugmaschinen. In der ersten Ausbaustufe sollten bis 1941 monatlich 7 300 Aggregate produziert werden.9 Im September 1942 stiegt das Soll auf 18 500 und ein halbes Jahr später auf 30 045 Bauteile je Monat. Dem stand im ersten vollen Produktionsjahr 1941/42 eine Jahresleistung von zunächst lediglich 32 553 Einheiten gegenüber, die jedoch bis 1943/44 auf das mehr als achtfache gesteigert werden konnte. In den letzten zwei Quartalen war dann das Soll nahezu erreicht. Grundlage dieser Erfolgsgeschichte war zum einen die passgenau zum ursprünglich von Hitler vorgesehenen ersten Kriegsjahr eingerichtete Produktion, zum anderen der dann ebenfalls anlaufende massierte Einsatz von zuletzt 2 115 Zwangsarbeitern, die etwa zwei Drittel der Arbeitskräfte im reinen Produktionsbereich stellten.10 Mit der Verlagerung der betreffenden Stuttgarter Produktionsteile im September 1943 war Hildesheim der einzige Standort, an dem noch Startereinheiten für deutsche Panzer hergestellt wurden. Das in eine bewaldete Hügellandschaft gebaute Werksgelände blieb bis zum Kriegsende unversehrt. Bosch richtete hier seine zuvor in Berlin ansässige Tochter Blaupunkt ein, die Hildesheims Entwicklung zum bundesrepublikanischen Industriestandort und zur Großstadt begründet. Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung im Jahr 1977, Hildesheim hatte knapp über 100 000 Einwohner, waren bei Blaupunkt sowie bei der ebenfalls noch ansässigen Boschproduktion zusammen 18 700 Arbeiter und Angestellte beschäftigt.11

Die Robert Bosch GmbH Stuttgart Über die Unternehmensgeschichte der Robert Bosch GmbH Stuttgart liegen bisher noch keine wissenschaftlichen Veröffentlichungen vor.12 Hingegen sind die Biographie Robert Boschs (1861–1942), der die Geschicke des 1886 gegründeten Unternehmens bis zu seinem Tode maßgeblich lenkte, bzw. der Boschkreis um Nachfolger Hans Walz, bereits Gegenstand eingehender Be-

9

Vgl. zu den Produktionszahlen Bosch-Archiv Hildesheim Nr. 1630/011ff., Geschäftsberichte. 10 Vgl. zur Entwicklung der „Fremdarbeiter“ bei Trillke ebd., Geschäftsberichte sowie I 1, Denkschriften. 11 Vgl. zur Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg Manfred Overesch: Hildesheim 1945–2000, Hildesheim u. a. 2006, S. 157–178. 12 Im Wesentlichen Jubiläumsschriften, s. insbes. 50 Jahre Bosch 1886–1936, Stuttgart 1936, Hans Konradin Herdt: Bosch. 1886–1986. Porträt eines Unternehmens, Stuttgart 1986.

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trachtung gewesen.13 Das Besondere einer Unternehmensgeschichte im Nationalsozialismus ist hier darin erfasst, dass die Konzernführung in Kreise des liberalen Widerstands eingebunden war, diese schon bei der Machtübernahme bestehende antinationalsozialistische Haltung jedoch keinerlei Widerhall fand in den unternehmerischen Aktivitäten. Der tief greifenden Analyse politischer Haltungen und Aktivitäten eine ebenso fundierte Unternehmensgeschichte bis in die Konkretion betriebswirtschaftlicher Zahlen und lokaler Ereignisse zur Seite zu stellen, wäre angesichts der Bedeutung des Konzerns wie der mit diesem verbundenen gemeinnützigen Robert Bosch Stiftung wünschenswert.14 Neben der erst langsam in Gang kommenden Öffnung des Unternehmensarchivs ist auch grundsätzlich auf Quellenprobleme zu verweisen. So verbrannten etwa bei dem Großfeuer in Stuttgart 1944 wertvolle Firmenakten gerade auch zu den Tochterunternehmen und Zweigwerken. Weiter ist, das zeigt der Abgleich zu andernorts edierten Quellen, zumindest in Hildesheim offenbar auch belastendes Material vernichtet worden.15 Zudem lassen sich aufgrund der betriebswirtschaftlichen Organisation des Unternehmens als GmbH eindeutige Aussagen, wie sie sich aus der Korrespondenz mit außerhalb des Betriebs stehenden Aufsichtsratsmitgliedern erschließen, nicht treffen.16 Bosch ist mit der Produktion von elektrischem Zubehör für Kraftfahrzeuge groß geworden (s. Abb. 1). Zentral für die Entwicklung war die frühe Verbindung zu Daimler-Benz. Robert Bosch hatte bis 1937 einen Sitz im Vorstand des Reichsverbandes der Deutschen Automobilindustrie. Noch 1964 bei weiter voranschreitender Diversifizierung17 lag der Anteil dieses Segments bei 75% des Gesamtumsatzes des Konzerns.18 Die marktbeherrschende Stellung in Deutschland ohne nennenswerte Konkurrenz insbesondere bei Lichtmaschinen, Anlassern, Zündkerzen sowie Einspritzpumpen (1930 zwischen 80 und 90% Marktanteil) gründete auf entsprechenden Patenten und 13

Theodor Heuss: Robert Bosch. Leben und Leistung, Stuttgart 1996 (Erstausgabe 1946), Scholtyseck: Bosch (Anm. 4). 14 Vgl. zu dieser Forderung Toni Pierenkemper: Was kann eine moderne Unternehmensgeschichtsschreibung leisten? Und was sollte sie tunlichst vermeiden, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 44 (1999), S. 15–31. 15 Vgl. etwa die Fundstücke bei Eugen Eberle/Tilman Fichter: Kampf um Bosch, Göttingen 1974. 16 Vgl. zur gewinnbringenden Nutzung dieser Quellen z. B. Peter Hayes: Die Degussa im Dritten Reich. Von der Zusammenarbeit zur Mittäterschaft, München 2004; Constanze Werner: Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit bei BMW, München 2006; dieser Umstand gilt auch für den Zeitraum 1917–1937, in dem Bosch zwar als AG geführt wurde, Anteile jedoch von Robert Bosch nur an dessen leitende Mitarbeiter ausgegeben wurden. 17 Zu nennen wären z. B. eine Beteiligung an der Fernseh-AG (1929), der Erwerb von Junkers-Gasgeräte (1933) sowie Blaupunkt-Radiotechnik (1933) mit späterem Firmensitz in Hildesheim. 18 Vgl. Walter Kaiser: Bosch und das Kraftfahrzeug. Rückblick 1950–2003, Stuttgart/ Leipzig 2004, S. 39.

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einem jahrzehntelangen Entwicklungsvorsprung.19 Sie zog die mittelbare Einbeziehung in die Aufrüstungsprogramme für Wehrmacht-Kfz, Panzer und auch Flugzeugmotoren nach sich. Gemessen an den Produktionsbedingungen wie auch dem Grad der Internationalisierung ist Bosch hingegen der elektrotechnischen Branche und deren feinmechanischen Segmenten zuzurechnen.20 Bosch war, wenn auch mit deutlichem Abstand nach Siemens und der AEG, das drittgrößte Unternehmen der Branche.21 Vor 1914 lag der auf dem internationalen Markt erwirtschaftete Teil des Umsatzes bei 88,7%, 1932 immer noch bei 55,7% (s. Abb. 2).22 Hier lässt sich eine „ökonomische Resistenz“ des Unternehmens einerseits konkretisieren, andererseits aber auch die hohe Abhängigkeit von (Rüstungs-) Aufträgen bei der staatlich verantworteten Einschränkung des für die Firma wichtigen Auslandsmarktes.23 Bosch war im eigentlichen Sinne kein Rüstungsunternehmen, aber über die Zulieferung an sämtliche Auto- und Flugmotorenwerke fester, und das heißt auch unverzichtbarer Bestandteil des Rüstungskomplexes.24 Entsprechend trat zunächst 1934 das Reichsluftfahrtministerium und dann 1937 das OKH direkt an Bosch heran. Daraus entstanden die Dreilinden Maschinenbau GmbH in Kleinmachnow bei Berlin, die Komponenten für Flugzeugmotoren herstellte, und die Trillke-Werke für Autoelektrik in Hildesheim. Robert Bosch sah in dieser „Erstellung von Ausweichfabriken“ eine ihm abgenötigte, mit hohen Kosten verbundene „Sonderaufgabe“.25 Dieses negative Urteil erklärt sich aber schon betriebswirtschaftlich daraus, dass Bosch im Stuttgarter Raum noch Kapazitäten und Potential insbesondere hinsichtlich qualifizierter Arbeitskräfte hatte, während hohe Neuinvestitionen bzw. Anlaufkosten nicht überein gingen mit einer Unternehmenskultur, die auf ein solides, langsames Wachstum aus eigenen Kräften baute. Entsprechend äußerte sich Hans Walz schon 1936 und noch einmal 1943 öffentlich: „Ohne Aufrüstung und ohne Krieg hätten wir uns nach allem Ermessen bis jetzt zwar etwas weniger stürmisch, dagegen aber besser und gesünder entwickelt.“26 Gleichwohl 19

Vgl. ebd., S. 11, s. a. das Dossier der alliierten Entflechtungskommission zu Bosch, Auszüge bei Eberle/Fichter: Kampf um Bosch (Anm. 15), S. 80f. 20 Vgl. Peter Czaja: Die Berliner Elektroindustrie in der Weimarer Zeit, Berlin 1969; Wilfried Feldenkirchen: Siemens. 1918–1945, München/Zürich 1995. 21 Sofern man wie Feldenkirchen: Siemens (Anm. 20), S. 102, die Dritt- und Viertplatzierten Telefunken und Osram ihren Anteilen nach Siemens und AEG zurechnet. 22 Vgl. Kaiser: Bosch (Anm. 18), S. 33; der Anteil am Auslandsumsatz 1938 i. H. von ebenfalls 88% im Dossier der Entflechtungskommission (Anm. 13) war offenbar ein Fehler. 23 Vgl. Scholtyseck: Bosch (Anm. 4), S. 131f. 24 Über die Entwicklung des Anteils der Rüstungsproduktion am Gesamtumsatz liegen (noch) keine Daten vor. 25 Heuss: Bosch (Anm. 13), S. 597, ein Schreiben Boschs vom 24. 4. 1936 wiedergebend. 26 Hans Walz, Rede vor deutschen Journalisten am 17. 7. 1943, in Scholtyseck: Bosch (Anm. 4), S. 365; vgl. 100 Jahre Bosch (Anm. 12).

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hat man auch in Kleinmachnow und Hildesheim mit dem einsetzenden Krieg zur rasanten Aufwärtsentwicklung des Konzerns beigetragen.

Bosch-Hildesheim: Gründung und Ausbau der Trillke-Werke Bei der Standortwahl des neuen Ausweichwerkes war dem Unternehmen in gegebenen Grenzen ein Mitspracherecht eingeräumt. Die Verhandlungen vor Ort mit Vertretern des OKH und der Reichsstelle für Raumordnung (RfR), wichtig hier Kerrls Staatssekretär Hermann Muhs27, wurden übernommen von Max Clostermeyer. Er firmierte später auch als Kaufmännischer Werksleiter der Trillke-Werke und war SS-Offizier. Die strikte Vorgabe lautete, das Werk „im Raum östlich der Weser und nördlich der Linie Kassel-Leipzig“ aufzubauen, wobei dezentralisierend Großstädte gemieden werden sollten (vgl. Abb. 3).28 Diese Vorgabe ist wesentlich durch kriegstaktische, luftschutztechnische Argumente begründet und skizziert in erster Linie die damals angenommene Reichweite englischer bzw. französischer Bomber, dann aber auch die Ausrichtung nationalsozialistischer Blut- und Boden-Politik in den Osten. Robert Bosch war damit nicht einverstanden: „Bei Wahl des Standortes kamen leider die für unsere Fertigungsart geeignetsten Gebiete aus wehrgeographischen und raumpolitischen Gründen nicht in Frage, also etwa Württemberg, Franken, Schwarzwald, Sachsen, Thüringen, Berlin, Göttingen.“29

Hier vermutete Bosch ein Potential oder einen bereits vorhandenen Stamm an qualifizierten bzw. qualifizierbaren Facharbeitern. Anders hingegen im industriell bisher völlig unterentwickelten Zielraum, also etwa im zunächst in Aussicht genommenen südhannöverschen Duderstadt: „Für die rasche Umschulung dürften die im Kreis Duderstadt verfügbaren Bauarbeiter ungeeignet sein, da Maurer und Zimmerleute in cm und m denken und arbeiten, während unsere Leute in hundertstel und tausendstel mm denken und arbeiten müssen.“30 Gleichwohl wurde dieser Raum, wesentlich das Gebiet der Rüstungsinspektion XI Hannover-Magdeburg, von der RfR und den zuständigen Ämtern der Wehrmacht massiv industriell aufgebaut, was früh schon in einen strukturellen, generellen Arbeitskräftemangel führte, denn jenseits der wenigen Agglomerationen gab es hier nichts.31 27

Gebürtiger Niedersachse aus der Göttinger Umgebung, auch Regierungspräsident in Hildesheim. 28 Bosch-Archiv Hildesheim I 1, Protokoll der Konferenz von Bosch, OKH und RfR in Berlin am 28. 7. 1937. 29 Ebd., Denkschrift der Geschäftsleitung der ELFI v. 9. 6. 1941. 30 Ebd., Protokoll der Konferenz der Standortfindungskommission vom 25.–27. 5. 1937, 26. 5. 1937. 31 Vgl. die Abb. bei Bernhard R. Kroener: Die Personellen Ressourcen des Dritten Reiches 1939–1942: Menschenbewirtschaftung, in: Das Deutsche Reich und der Zweite

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Dabei beschränkte sich der Bau großindustrieller Projekte auf ein Dreieck, das mit den Eckpunkten Fallersleben/Wolfsburg (VW), Salzgitter (HermannGöring-Werke) und Hildesheim, etwa mittig liegend Braunschweig, markiert ist. Diese räumliche Verdichtung lässt sich aus der rohstoffabhängigen Lage der HGW-Werke einerseits und den verkehrstechnischen Infrastrukturmaßnahmen (Ausbau des Mittellandkanals, Autobahnbau mit den Achsen KölnKönigsberg und Hamburg-Frankfurt) erklären. Aus dem Blick unserer Gegenwart kann eigentlich nur geschlossen werden, dass das Industriedreieck wie die gesamte Entwicklung des südost-niedersächsischen Raumes ein Ergebnis nationalsozialistischer Raumplanung und also ein Signum der „Modernität“ dieser Raumordnung ist. Dafür führt aber die Geschichte des VWWerkes keinerlei Belege an, sondern bezeichnet die Auswahl des Geländes ursächlich als zufällig mit positiven Nebenfolgen hinsichtlich der Verkehrsanbindung, während die Lage der HGW auf die Entscheidung keinen Einfluss gehabt habe.32 Dies scheint aus den eben geschilderten Bedingungen wenig überzeugend. Allerdings lassen sich auch bei Bosch keine Belege dafür finden, dass bei der Standortwahl die Verkehrsanbindung oder die Nähe zum künftigen Abnehmer VW Priorität gehabt hätten. Demgegenüber fallen in den Ausführungen Clostermeyers zum jeweiligen Verfahrensstand zwei Punkte ins Auge: Erstens kamen nur Mittelstädte in Frage, die quantitativ und qualitativ Potential an Arbeitskräften aufboten: Hildesheim hatte mittelständische Betriebe und eine lange Handwerkstradition, weiter aber auch Kulturleben, ein Theater, gute Schulen, ein durchaus an württembergische Verhältnisse erinnerndes Stadtbild, dann die Nähe zur Großstadt Hannover – Clostermeyer wollte qualifizierbare Arbeitskräfte und ein attraktives Lebensumfeld, um Facharbeiter und Ingenieure von außerhalb anzuziehen. Zweitens bewarb sich die Stadt offensiv und machte Angebote: ein im Schatten des Waldes gelegenes, also vor Luftangriffen geschütztes Gelände, erschlossen und ausbaufähig, die Erweiterung der Zufahrtswege, ein Wohnungsbauprogramm, um die zunächst aus Stuttgart abgeordneten Arbeitskräfte auch unterbringen zu können, sogar eine Buslinie, um diese aus der Stadt zum etwas abseitig, auf einem Hügel gelegenen Werksgelände und wieder zurück zu befördern. In Kleinmachnow hatte Bosch noch selbst für die damit verbundenen Kosten aufkommen müssen und insbesondere eine große Wohnsiedlung für die Werksangehörigen errichtet.33 Für die 60 000-Einwohner-Stadt bedeuteten diese Verpflichtungen unter den Bedingungen der damaligen Einnahmestrukturen der Kommune eine Weltkrieg, Bd. 5/1. Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen. 1939–41, Stuttgart 1988, S. 740–818, S. 768, 784f. 32 Vgl. Hans Mommsen/Manfred Grieger: Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf 1996, S. 156f. 33 Vgl. Martin: Dreilinden (Anm. 2), S. 227ff.

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große Anstrengung. Die rechnete sich aber: Die beschauliche, etwas zurückgebliebene, noch aus dem Geist seiner ottonischen Kirchbauten und mittelalterlichen Fachwerkgässchen lebende Beamten- und Handwerkerstadt wandelte sich durch den Impuls von Bosch zu einem modernen Industriestandort.

Produktion bei Bosch-Hildesheim Das hundertprozentige Bosch-Tochterunternehmen in Hildesheim wurde am 18. Dezember 1937 unter der Bezeichnung Elektro- und Feinmechanische Industrie GmbH (ELFI) gegründet34, 1942 dann unbenannt in Trillke-Werke GmbH.35 Es sollte Magnetzünder, Lichtmaschinen, Anlasser, Schaltkästen und Entstörungsgeschirre für leichte und schwere Pkw, leichte und schwere Lkw sowie Sonder-Kfz für den Heeresbedarf im Gesamtumfang von 7 300 Einheiten monatlich produzieren. Hinter dem Begriff „Sonder-Kfz“ verbargen sich wesentlich Panzer und Artillerie-Zugmaschinen.36 Die anfallenden Investitionen für den Bau der Fabrikhallen und die Ausstattung mit Werkzeugmaschinen – die Rede war zunächst von 10 Mill. RM, es wurden im ersten Ausbauschritt 25 Mill. RM – übernahm das OKH vollständig. Es wurde damit in Gestalt seiner Beteiligungsgesellschaft, der Montan-Industrie GmbH, Eigentümerin der Werksanlagen. Soweit Bosch selbst für die Erstausstattung sorgte, wurde dafür ein Gewinnaufschlag von 15% inklusive Umsatzsteuer vereinbart. Die Montan überließ nun die Produktionsstätte den Trillke-Werken auf Pacht, die in Höhe von 40% des dort erwirtschafteten Gewinns fällig werden sollte. Kündbar war die Vereinbarung, die Bosch ein Vorkaufsrecht sicherte, erstmalig zum 31. März 1953. Die ausgehandelten Bedingungen waren für Bosch also mehr als großzügig und in jedem Fall besser als in Kleinmachnow, wobei zu betonen bleibt, dass in solchen Fällen der Staat zumeist die Hauptlast der Grundausstattung der neuen Unternehmen trug.37 Ob sie für Bosch auch als lohnend bezeichnet werden können, ist eine zweite Frage. Der Abgleich von Anlaufkosten und Erträgen zeigt, dass die Gewinnschwelle gegen Ende des dritten Geschäftsjahrs 1942/43 erreicht gewesen sein dürfte (vgl. Abb. 4). Die Anlaufkosten (Fertigungsmehraufwand, kalkulatorische Abschreibungen und Gewinn) verweisen darauf, dass das gleiche Produkt in Hildesheim teurer produziert wurde als bei den effektiver arbeitenden Stuttgartern. Abzurechnen war aber 34

Bosch-Archiv Stuttgart G 30/1, Gesellschaftsvertrag Montan/Bosch v. 18. 12. 1937. Ursächlich für die Umbenennung waren neben namensrechtlichen Problemen auch Tarngründe, die Trillke ist ein Bach unweit des Firmengeländes. 36 Bosch-Archiv Hildesheim II 9, OKH an Bosch v. 4. 2. 1938/31. 12. 1938. 37 Vgl. Neil Gregor: Stern und Hakenkreuz, Berlin 1997, S. 99 zur Gründung der DB Motoren GmbH Genshagen; s. a. Werner: BMW (Anm. 16), S. 34 zur Kapitalausstattung der BMW Flugmotorenbau GmbH. 35

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zu den Stuttgarter Stückkosten, auf die 1942/43 ein Gewinnsatz von 7,5% erhoben werden konnte.38 Dass in Hildesheim teurer produziert wurde, galt auch noch in den Nachkriegsjahren.39 Demgegenüber dürfte man in Stuttgart mit der rasanten Entwicklung des Umsatzes bei Vertragsabschluss kaum gerechnet haben. Bereits im Februar 1941 wurde der Auftrag in Vorbereitung des Russlandfeldzugs fast verdoppelt auf 13 950 Einheiten monatlich.40 Dieses Soll wurde aber erst im zweiten Quartal 1943 erreicht (vgl. Abb. 5), als es bereits durch neue Anforderungen überholt war. Für die Situation bei Trillke war hier auch ausschlaggebend, dass im Rahmen der Dezentralisierung gefährdeter kriegswichtiger Betriebe im September 1943 die Produktion von Anlassern und Zündmechanismen für schwere Lkw und Panzer ganz von Stuttgart nach Hildesheim ausgelagert wurde. Der zuständige Beamte beim OKH hatte bereits zum Jahreswechsel 1942/43 vorgeschlagen, „nach Möglichkeit von den Typen den Gesamtbedarf bei einer Fertigungsstätte herstellen zu lassen. […] Die Firma Elfi sollte bei der Aufteilung für die Aggregate eingesetzt werden, die in Panzer und Zugkraftwagen eingebaut werden.“41 Ab Ende 1943 fuhr kein neuer deutscher Panzer mehr ohne die Starterelemente aus Hildesheim. Entsprechend verdoppelte sich auch der Auftragsbestand von monatlich 20 494 Einheiten Ende des Geschäftsjahres 1942/43 auf 46 477 Einheiten zum Ende des darauf folgenden Jahres.42 Aus diesem Zeitraum datieren auch die ersten Bemühungen der Konzernzentrale, das vertraglich gesicherte Vorkaufsrecht vorzeitig einzulösen.43 Es liegt nahe, diesen Schritt zur Kriegswende 1943 als Beleg zu sehen für eine Unternehmenspolitik, die bereits wieder auf Friedenszeiten fokussiert war. Die in Hildesheim hergestellten Erzeugnisse hatten auch einen potentiell großen privaten Markt. Aber Vorsicht ist geboten: Bosch war keinesfalls bereit, den Preis zu zahlen, den das OKH „beim Kauf einer so gut eingerichteten Fabrik“ verlangte.44 Erst 1952, nach Abschluss des Entflechtungsverfahrens45, aber auch zu einem Zeitpunkt, als Bosch bereits wieder das Umsatzvolumen der letzten Kriegsjahre erreichte hatte, kaufte man Werksanlage und 38

Vgl. zu den Abrechnungsverfahren zwischen Bosch und Trillke die Verfahrensanweisungen in Bosch-Archiv Stuttgart Nr. 1630/017 v. 20. 8. 1938 u. 27. 1. 1939, die Order der Rohstoffe/Halbwaren lief über Stuttgart und zunächst wohl auch die Endauslieferung; zum Gewinnsatz ebd., 012, Geschäftsbericht 1942/43. 39 Vgl. ebd., Vermerk v. 6. 8. 1945: „Tril hat größere Unkosten als Bosch. Deshalb sind für Tril-Ez höhere Preise gerechtfertigt als für die gleichen von Bosch hergestellten Ez [Erzeugnisse].“ 40 Ebd., OKH an Bosch v. 20. 2. 1941. 41 Bosch-Archiv Hildesheim V 9, Röver v. 31. 12. 1942. 42 Ebd., Nr. 1630/012, 017, Geschäftsberichte 1942/43 u. 1943/44. 43 Bosch-Archiv Stuttgart Nr. 1630/017, Trillke an Montan v. 4. 10. 1943. 44 Ebd., Bericht v. 12. 7. 1944 über die Verhandlungen betreffs Erwerb von Trillke. 45 Vgl. den kurzen Überblick bei Herdt: Bosch (Anm. 12), S. 95f.

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Maschinen vom Rechtsnachfolger der Montan und gliederte Trillke als Zweigwerk in den Konzern ein.46

Produktionsfaktor Arbeitskraft Der Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften war ausschlaggebend bei allen Grundsatzentscheidungen, die das Bosch-Tochterunternehmen in Hildesheim betrafen. Daraus lässt sich die Positionierung Boschs im Verfahren der Standortwahl wie dann die Wahl des Standortes Hildesheim „als günstigster Kompromiss“47 primär erklären. Dieser Bedarf wird auch ausschlaggebend gewesen sein für die Weiterführung des ehemaligen Rüstungsunternehmens als Bosch-Zweigwerk in der Bundesrepublik. Verständlich wird dies aus den Produktionsbedingungen der elektrotechnischen Industrie. Dort lag der Anteil der Löhne und Gehälter am Bruttoproduktionswert bei elektrischen Maschinen, Apparaten und Zubehör, wie sie von Bosch hergestellt wurden, 1938 immer noch bei 34,3%.48 Robert Bosch hatte schon vor der Weltwirtschaftskrise fordistische Methoden in den Betriebsablauf integriert.49 Es gab sowohl in Stuttgart als auch in Hildesheim teilweise Bandstraßen, teils auch selbst hergestellte Single Purpose-Maschinen und Rationalisierungsprogramme etwa im Rahmen von Normungen und Einzelteilreduzierungen.50 Aber die Produkte waren zu klein und zu kleinteilig. Es war „eine Höchstleistung im kleinsten Raum und mit dem kleinsten Gewicht“ zu erzielen.51 Rationalisierungsmaßnahmen stießen also an die Grenzen des damals technisch Möglichen. 1936 lag in den Stuttgarter Werken der Anteil an gelernten und angelernten Arbeiter/Innen immer noch bei 78% der gesamten Arbeiterschaft.52 Für die Produktion in Hildesheim war dann schon die Ausgangslage denkbar schlecht, was Anlass zu beständiger Klage gab: „Die Fachkräfte, welche wir im hiesigen Bezirk erhalten konnten, verdienen diese Bezeichnung nur zum gewissen Teil. Es fehlt ihnen die hochwertige Ausbildung, die wir für unsere Fertigung benötigen. Es fehlt ihnen ferner auch die Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt, die wir vom schwäbischen Facharbeiter gewöhnt sind und die unerlässliche Voraussetzung für eine einwandfreie Fertigung unserer Erzeugnisse ist.“53

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Bosch-Archiv Stuttgart Nr. 1630/017, Vermerk v. 22. 4. 1952 sowie Auszug aus dem Handelsregister Amtsgericht Hildesheim v. 30. 4. 1952. 47 Ebd., Denkschrift der Geschäftsleitung der ELFI v. 9. 6. 1941 (vgl. Anm. 23). 48 Vgl. die Angaben bei Feldenkirchen: Siemens (Anm. 20), S. 139. 49 Vgl. Heuss: Bosch (Anm. 13), S. 373ff. 50 Vgl. Conrad Matschoss/VDI (Hg.): Robert Bosch und sein Werk, Berlin 1931; Zeitzeugenaussagen K. Joseph Fricke/Hist. AK Bosch-Hildesheim, Februar 2004. 51 50 Jahre Bosch (Anm. 12), S. 198ff. (Stoffentwicklung). 52 Ebd., S. 264. 53 Vgl. Bosch-Archiv Stuttgart, Nr. 1630/011, Geschäftsbericht 1940/41.

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Die Abordnung von ca. 100 Boschmitarbeitern für den Betriebsaufbau konnte diese Lücke nicht füllen, ebenso wenig wie die bereits 1938 und somit zwei Jahre vor Produktionsbeginn aufgenommene Lehrlingsausbildung. Wie konnte unter diesen Bedingungen, die sich im Verlauf des Krieges durch Einberufungen noch verschlechterten, überhaupt eine Produktion verhältnismäßig erfolgreich ablaufen? Hervorzuheben ist hier zunächst die vom OKH im Oktober 1938 initiierte Typenbereinigung, die vor dem Hintergrund des Schell-Programms zu verstehen ist.54 Diese Typenreduzierung bei der Autoelektrik war von Robert Bosch als einem Zulieferer sämtlicher Automobilproduktionen schon aus der Erfahrung des Ersten Weltkriegs seit Jahren angeregt worden55, musste aber von oben – auf der Grundlage des bei Bosch entwickelten sogenannten Rehm-Programms56 – durchgesetzt werden und führte zu einer Verschlankung der Produktion. Wichtig war auch die bereits im Januar 1940 vom Gewerbeaufsichtsamt genehmigte Aufstockung der Arbeitszeit von 48 auf 60 Stunden.57 Im Oktober 1941, Operation Barbarossa lief, arbeiteten die Hilfsarbeiter in Hildesheim im Zwei-Schicht-Betrieb rund um die Uhr an fünfeinhalb Tagen in der Woche. Die qualifizierten Arbeiter – Maschinenführer, Einsteller etc. – waren zeitlich geringer belastet in unterschiedlichen Schichtmodellen tätig. Gewährleistet waren damit, so die Werksleitung 1942, die optimale Auslastung der Maschinen und die Abstimmung der Arbeitsschritte untereinander, um Engpässe zu überwinden. Der Arbeitsplan der wenigen qualifizierten Fachkräfte war also hoch verdichtet und nicht nur auf eine Maschine beschränkt, während der Angelernte auch Facharbeiter-, der Ungelernte auch Angelerntentätigkeiten ausübte.58 Der Zeitzeuge berichtet, er sei bereits als Lehrling auch als Maschineneinsteller tätig gewesen, eine Aufgabe, die sonst nur erfahrenen Facharbeitern zukam.59 Insoweit ist die Quote von 76% gelernter (davon 20% Facharbeiter) und angelernter Fachkräfte bei Trillke im Jahre 194360 kaum vergleichbar 54

Bosch-Archiv Hildesheim I 2, OKH an Bosch v. 17. 10. 1938; vgl. Stern: DaimlerBenz (Anm. 38), S. 75ff.: Oberst v. Schell war ab November 1938 als Generalbevollmächtigter für das Kraftfahrwesen mit weit reichenden Verfügungskompetenzen gegenüber der Industrie ausgestattet. 55 Vgl. Heuss: Bosch (Anm. 13), S. 383. 56 Bosch-Archiv Hildesheim I 2, Bosch an OKH v. 29. 11. 1938, das Programm des Bosch-Konstruktionsingenieurs Rehm lag also bereits in der Schublade. 57 Ebd. I 7, ELFI an Gewerbeaufsichtsamt Hildesheim v. 4. 1. 1940, 3. 10. 1940, 20. 6. 1942. 58 Vgl. zu den modernisierenden Folgen die Anmerkungen bei Werner Abelshauser: Modernisierung oder institutionelle Revolution? Koordinaten einer Ortsbestimmung des „Dritten Reiches“ in der Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Ders./JanOtmar Hesse/Werner Plumpe (Hg.): Wirtschaftsordnung, Staat und Unternehmen. Neuere Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, Essen 2003, S. 9–39, S. 31ff. 59 Privat-Archiv Overesch: Zeitzeugenbericht K. Joseph Fricke/Hist. AK, Januar 2007. 60 Bosch-Archiv Stuttgart Nr. 1630/017, Geschäftsbericht 1943/44.

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mit dem für 1936 bei Bosch ermittelten Anteil von 78%. Schwierig ist ebenso ein Vergleich mit den in den BMW Werken Allach oder Eisenach durchweg höheren Quoten an Facharbeitern. Unterschiede ließen sich etwa durch regionale Lagen, eine Bevorzugung der direkt für das Reichsluftfahrtministerium produzierenden Betriebe oder durch eine betriebsspezifische Definition von Facharbeit erklären.61 Jedenfalls verdiente ein Facharbeiter bei Trillke, dessen Aufgaben keinesfalls weniger anspruchsvoll waren, 1942 mit ca. 1,20 RM Stundenlohn nur so viel wie ein angelernter Arbeiter bei BMW.62 Dieser Satz entsprach im Stücklohn bereits weitgehend der dann am 1. Januar 1944 verordneten verbindlichen Einführung des Lohngruppenkatalogs Eisen und Metall. Hinsichtlich der Produktivität des Werkes ist hier noch einmal festzustellen, dass Bosch und die Werksleitung von Trillke unter den von außen aufoktroyierten Bedingungen planvoll agierten.63 Das Problem lag auch über die Kriegsjahre hinweg primär in einem strukturellen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften64 und erst nachrangig in einer Minderleistung ausländischer Arbeitskräfte. Wurden gleichwohl ab dem Jahr, in dem Zivil- und Zwangsarbeiter in der Produktion überwogen, erhöhte Prüffehler und Ausschusszahlen auf den „hohen Ausländeranteil bei unserer besonders gelagerten schwierigen Fertigung“ zurückgeführt65, setzt das die Lage in ein falsches Licht. Insbesondere auch die russischen Zivilarbeiter sind in den Erinnerungen ihrer deutschen Kollegen als fähig und arbeitswillig beschrieben.66 Disziplinprobleme, etwa gehäufte Fehlzeiten, traten eher bei den deutschen Arbeitern vor allem im Rahmen der Erhöhung der Arbeitszeiten auf.67 Die von Werkleitung und DAF initiierten Unterhaltungsfeiern und Auszeichnungen vermochten hieran wenig zu ändern, sodass Clostermeyer mehrfach Exempel statuierte und deutsche Arbeiterinnen und Arbeiter wegen unentschuldigten Fernbleibens von der Arbeit der Gestapo meldete. Überweisungen ins Ar61

Vgl. Werner, BMW (Anm. 16), S. 217, Tab. 9: Der Anteil der Zwangsarbeiter an den Facharbeitern stieg dort von 16,9% in 1942 auf 27,9% in 1943, nach Werner durch Weiterqualifizierungen. 62 Vgl. ebd., S. 198; BMW zahlte übertariflich. 63 Anders als bei der BMW Flugmotorenfertigung, die ohne hinreichende Erfahrung hochgefahren wurde und von Eingriffen des Luftfahrtministeriums, aber auch durch Management- und Planungsfehler belastet war, vgl. Werner: BMW (Anm. 16). 64 Abelshauser: Modernisierung (Anm. 61), S. 32 spricht hingegen von einer Überzahl an Facharbeitern und einem Mangel an Unqualifizierten im Dritten Reich. 65 Bosch-Archiv Stuttgart Nr. 1630/012, Geschäftsbericht 1942/43, vgl. 1943/44. 66 Zeitzeugenbericht Fricke/Hist. AK Bosch-Hildesheim (Anm. 62), Februar 2004, dieser für die Deutschen überraschende Umstand wurde ebenso wie der „kräftige, gut gewachsene Körperbau“ darauf zurückgeführt, dass es sich hier nicht um Russen, sondern um (als rassisch höher eingestufte) Ukrainer gehandelt haben müsse – was schon deshalb nicht stimmt, weil im Werk lediglich 13 v.a. ukrainische Frauen über die Jahre beschäftigt waren. 67 Vgl. Bosch-Archiv Hildesheim I 7, u. a. Stimmungsbericht des Ing.-Meisters Hartmann v. 17. 4. 1943.

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beitserziehungslager und mehrmonatige Gefängnisstrafen waren die Folge.68 Darüber hinausgehend gab es bei Trillke verschiedene Widerstandsgruppen unter den Arbeitern.69

Zwangsarbeit bei Bosch-Hildesheim Die Entwicklung hin zur Beschäftigung von Zivil- bzw. Zwangsarbeitern bei Trillke lässt sich aus einer 1941 angefertigten Grafik der Werksleitung nachzeichnen.70 Die Produktion lief im Mai 1940 und also schon in Kriegszeiten an. Im Aufbaujahr 1939 bewarben sich im Durchschnitt monatlich 85 Interessierte, eingestellt werden konnten jedoch mangels Eignung lediglich 25. Weiter kamen, neben den von Stuttgart abgeordneten Kräften und 18 ersten Lehrlingen, 54 Facharbeiter im Rahmen der sogenannten SaarländerAktion im September aus dem Grenzgebiet zu Frankreich nach Hildesheim, die bis zu ihrer Rückkehr 1940, so Clostermeyer, „mit zu den leistungsfähigsten unserer Gefolgschaft zählten“.71 Der Ende 1939 erreichte Stamm an Arbeitskräften lag damit bei knapp 350, vorgesehen waren aber für die erste Ausbaustufe 1940 mindestens 1 500 Arbeitskräfte. Bis April 1941 konnten dann nur noch monatlich etwa 20 deutsche Arbeiter eingestellt werden, Rüstungsurlauber und solche, die vom Landesarbeitsamt aus geschlossenen, weil nicht kriegswichtigen Betrieben des Gaues Hannover weitervermittelt wurden. 99 volksdeutsche Umsiedler, ihrer landwirtschaftlichen Herkunft nach wenig geeignet, traten noch Ende 1940 in den Betrieb ein. Damit waren die Ressourcen, auf die Trillke in der Region zurückgreifen konnte, dann auch fürs Erste erschöpft. Schon um überhaupt auf einen hinreichenden Arbeiterbestand zu kommen, dann aber auch noch auf einen hinreichend qualifizierten, musste also der Blick über die Grenzen des Deutschen Reiches hinausgehen. Unter dem 10. Januar 1939 findet sich hier eine Änderung des Bebauungsplanes des Werkes.72 Demnach sollten auf einer Fläche, die zunächst als Parkplatz vorgesehen war, drei Wohn-, eine Wasch- und eine Aufenthaltsbaracke für tschechische Fremdarbeiter aus dem sogenannten Protektorat errichtet 68

Zwei Vorgänge, die per Aushang im Werk bekannt gegeben wurden, bei Bosch-Betriebsrat Eugen Eberle in Ders./Fichter: Kampf um Bosch (Anm. 15), S. 160f.: Einer der Angezeigten, Otto Hake, soll im KZ umgekommen sein (s. folgende Anm.); die Aushänge sind im Bosch-Archiv Hildesheim nicht mehr vorhanden. 69 Vgl. VVN/BdA Kreisvereinigung Hildesheim: Hildesheim und seine Antifaschisten – Hans Teich, Hildesheim 1979; der aus Schwaben stammende Anton Hummler wurde 1944 in Brandenburg hingerichtet, vgl. auch die Broschüre einer Arbeitsgruppe von Bosch-Arbeitern: „Halt dei Gosch, du schaffscht beim Bosch“, Stuttgart 1986. 70 Bosch-Archiv Hildesheim I 1, Denkschrift der Geschäftsleitung der ELFI v. 9. 6. 1941, Anlage 1, Arbeiter-Entwicklung bei ELFI 1938/39 – April 1941. 71 Bosch-Archiv Stuttgart, Nr. 1630/011, Geschäftsbericht 1940/41. 72 Bosch-Archiv Hildesheim I 7, Änderung des Bebauungsplans, Antrag v. 10. 1. 1939.

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werden. Diese Baracken bildeten den Kern des späteren Lagers für die westlichen Zivilarbeiter. Tschechen konnten jedoch nicht angeworben werden. Ebenso blieb eine nicht näher bestimmbare „Sonderaktion OKH“, vielleicht polnische Kriegsgefangene oder Auskämmaktionen, im März 1940 für das Werk folgenlos. Ab Juni 1940 forderte man dann über das Landesarbeitsamt zivile Facharbeiter an: zunächst 100 Holländer, dann 56 flämische, 25 französische und noch einmal 80 belgisch-flämische Facharbeiter, weiter auch über eine Sonderaktion des Rüstungskommandos Hannover 75 Fach- und 25 Umschüler aus den Niederlanden. Die Ergebnisse dieser ersten Anträge waren katastrophal, drei Franzosen fanden den Weg nach Hildesheim. Erfolgreich waren die Anträge bei Ungelernten (14 von 15 beantragten Italienern) und bei Kriegsgefangenen (43 angefordert, 70 erhalten). Im April 1941 lag das Gesamt an Arbeitern bei 850. Ob diese von Clostermeyer so bezeichneten Anforderungen aus eigener Initiative geschahen, wird sich wohl nicht mehr klären lassen. Der Konzernführer Hans Walz berichtete, als diese Frage für ihn justiziabel wurde, von den Verhandlungen zwischen Bosch und dem Arbeitsamt Stuttgart wie folgt: „Es hieß da: Wir können Ihnen auf Ihre Anforderung höchstens so und so viel Deutsche geben, dagegen können wir Ihnen aus einem Transport, der nächstens eintrifft, so und so viele ausländische Arbeitskräfte zuweisen. Bitte stellen Sie einen entsprechenden Antrag.“73

Warum bekam Trillke keine Arbeiter? Zum einen kamen mit diesen ersten, wohl eher noch als zwanglos zu bezeichnenden Anwerbeaktionen zu wenig und wiederum darin zu wenig der von Bosch angefragten Facharbeiter. Zum anderen wurden die vom Reicharbeitsministerium (RAM) als kriegswichtig anerkannten Betriebe, von denen es in der Rüstungsinspektion XI mit HGW Salzgitter und VW große Abnehmer gab, primär bedient.74 Im Gegenzug verbot das RAM im September 1940 den Trillke-Werken Anwerbungen außerhalb des Gaues Hannover bzw. in den neu eingegliederten Reichsgebieten.75 Es blieb die Unterstützung des Rüstungskommandos, da Trillke für den Heeresbedarf produzierte. Unter den über diesen Weg eingeworbenen Kräften, i. d. R. Kriegsgefangene, war aber nur ein Anteil von höchstens 5%

73

Vernehmung von Walz in Nürnberg am 29. 12. 1946, in Scholtyseck: Bosch (Anm. 4), S. 376. 74 Vgl. Gerd Wysocki: Arbeit für den Krieg. Herrschaftsmechanismen in der Rüstungsindustrie des „Dritten Reiches“. Arbeitseinsatz, Sozialpolitik und staatspolizeiliche Repression bei den Reichswerken „Hermann Göring“ im Salzgitter-Gebiet 1937/38 bis 1945, Braunschweig 1992, S. 83ff.; Mommsen/Grieger: VW (Anm. 32), S. 156ff.; vgl. auch Werner: BMW (Anm. 16), S. 280ff. zur Situation der Zulieferer. 75 Scholtyseck: Bosch (Anm. 4), S. 370f. nennt Belege dafür, dass dies auch für BoschStuttgart galt, demgegenüber gestellt wird das pauschale Zitat des Verbindungsmanns bei der SS, Gottlob Berger, die Firma sei so wichtig gewesen, dass man ihr alles getan hat, was sie zufrieden stellte“, in ebd., S. 376; vgl. auch Martin: Dreilinden (Anm. 2), S. 271.

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an Facharbeitern.76 Entsprechend fasste Clostermeyer die Lage zum Abschluss des Geschäftsjahres 1940/41 zusammen: „Trotz ungezählter Vorstellungen bei den für den Arbeitseinsatz zuständigen Behörden und Wehrmachtsdienststellen, wie Arbeitsamt Hildesheim, Landesarbeitsamt Hannover, Reichsarbeitsministerium, Kommando des Rüstungsbereichs Hannover, Rüstungs-Inspektion Hannover, Oberkommando des Heeres und Reichsministerium für Bewaffnung und Munition, erreichten wir im Berichtsjahr nur einen Zuwachs von rund 150 Arbeitern. Dieser Zuwachs umfasst zum kleineren Teil aus den Ostgebieten ausgesiedelte Volksdeutsche, zum größeren aber Rüstungs-Urlauber, franz. Kriegsgefangene und sonstige Ausländer, die wir in absehbarere Zeit wieder verlieren werden. Es handelt sich also bedauerlicherweise in der Hauptsache nicht um einen bleibenden Zuwachs an Arbeitskräften, den wir, auf lange Sicht gesehen, dringend notwendig hätten.“77

Dass hier „auf lange Sicht“ geplant wurde, muss nicht von vorneherein als Gegensatz zwischen den Unternehmensinteressen Boschs und den Kriegsbedürfnissen des OKH verstanden werden. Dort ging man von einem weiteren Blitzerfolg in Russland aus. Entsprechend empfahl der bei der Montan zuständige Ministerialdirektor Röver, Clostermeyer möge sich doch „schon heute“ bei den „im Hildesheimer Bezirk vorhandenen Munitionsfabriken“ umhören, da deren Produktion nach dem Krieg „sehr erheblich abgedrosselt“ werde. Er, Röver, werde das OKH bitten, dass „damit bei einem eventuellen Abstoppen der Munitionsfertigung zuerst im Hildesheimer Bezirk begonnen wird“ – so geschrieben am 20. November 1941, als sich die deutsche Offensive vor Moskau bereits im russischen Winter festgefahren hatte.78 Ist nicht im Gegenteil mit einer längeren Kriegsdauer von einer Interessenkohärenz zwischen Bosch/Trillke und nationalsozialistischer Kriegspolitik auszugehen? Der Krieg schaffte das notwendige Auftragsvolumen, welches Bosch brauchte, um die Umsätze hochzutreiben und so die in den Aufbaufabriken getätigten Investitionen wieder hereinzuholen sowie die Gewinnzone zu erreichen. Geriet man, wie Scholtyseck ausführt, „ungewollt […] auf eine abschüssige Bahn“?79 Beim Bosch-Tochterunternehmen Dreilinden beantragte man bzw. ließ sich zuweisen alle Arbeitskräfte, die irgendwie erreichbar waren: westliche Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, Ostarbeiter, russische Kriegsgefangene, dann auch KZ-Häftlinge.80 Bei Trillke in Hildesheim war dieser Kreis beschränkt. Nicht zum Einsatz kamen aus unbekannten Gründen insbesondere russische Kriegsgefangene, die ihres eigentlich nicht arbeitsfähigen Zustands wegen ungern genommen wurden, von den großen Aufbauwerken im Gebiet der Rüstungsinspektion

76

BA Freiburg RW 20 11/20, Geschichte der RüIn XI, 1. 9. 1939–30. 9. 1940, S. 74. Bosch-Archiv Stuttgart Nr. 1630/012, Geschäftsbericht 1941/42. 78 BA Berlin R 121/2852, Schreiben der Montan/Röver an Clostermeyer v. 20. 11. 1941. 79 Scholtyseck: Bosch (Anm. 4), S. 374. 80 Vgl. Martin: Dreilinden (Anm. 2), S. 263ff. 77

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wie VW und HGW aber nachgefragt waren.81 Nicht vorhanden waren in der Hildesheimer Umgebung Konzentrationslager. Darüber hinaus lässt sich festhalten, dass die westlichen Kriegsgefangenen, vielleicht mit Ausnahme der Italiener, 1944 in den Status von (westlichen) Zivilarbeitern übergeleitet wurden.82 Den wachsenden Anteil ausländischer Zwangsarbeiter an der Arbeiterschaft der Trillke-Werke gibt Abb. 6 wieder. Nicht erkennbar ist, dass diese Gruppe zum Ende des dritten Geschäftsjahres im unmittelbaren Fertigungsbereich bereits dominierte. Clostermeyer rechnete wie folgt: „Gemessen an unserer gesamten Gefolgschaft (ohne Einberufene) betrug der Anteil der Ausländer 41,5%, während er im reinen Fertigungsbetrieb 57% ausmachte und bei einzelnen Werkstätten sogar bis zu 67% anstieg.“83 Ohne Fremdarbeiter, so lautet der Schluss mit Blick auf Umsatzentwicklung und Produktionszahlen, hätte sich das Werk für Bosch nicht rentiert. Abb. 7 entschlüsselt die Gesamtzahlen der im Zeitraum von 1941 bis 1945 beschäftigten Ausländer nach nationaler Herkunft.84 Das Kontingent an ca. 70 belgischen und französischen Kriegsgefangenen veränderte sich nach 1940 nicht mehr.85 Sie gingen 1944 mit Ausnahme von vier belgischen Soldaten in der Summe der Zivilarbeiter dieser Herkunft auf.86 Diese kamen wohl in kleineren Schüben im Rahmen von Anwerbeaktionen/Rekrutierungen (1942/43: 156 Franzosen und 43 Belgier, 1943/44: 252/47) bzw. geschlossen aus Stuttgart im Rahmen der Verlagerung der dortigen Fertigung nach Hildesheim ab Oktober 1943. Bei den Italienern handelt es sich fast ausschließlich um die sogenannten „Badoglios“, also Kriegsgefangene, die ab Oktober 1943 eintrafen. Auch die Ankunft der Ungarn Anfang Mai 1944 ist aus der Kriegssituation, der Besetzung Ungarns im März des Jahres, leicht erklärbar. Polen kamen ab Mitte des Jahres 1941.87 Das der Anzahl nach größte Kontingent stellten die sogenannten „Ostarbeiter“, fast ausschließlich russische, nur 13 ukrainische Zivilarbeiter darunter. Eine erste größere Gruppe von 135 81

So der Tätigkeitsbericht der Prüfungskommission des WK XI für die Zeit vom 1. bis 30. 11. 1941, in BA-MA Freiburg RW 20-11/14, S. 6; vgl. Mommsen/Grieger: VW (Anm. 32), S. 547; Wysocki: Salzgitter-HGW (Anm. 79), S. 132. 82 Vgl. Bosch-Archiv Stuttgart Nr. 1630/017, Geschäftsbericht 1943/44. 83 Ebd., Nr. 1630/012, Geschäftsbericht 1942/43 (Hervorhebung im Original). 84 Ebd., Beschäftigte Nichtdeutsche: Es handelt sich um eine Liste mit Namen, Zuund Abgang sowie Qualifikation, die aus den danach entsorgten Karteikarten zusammengestellt wurde. 85 Diese wie die folgenden einzelnen Angaben lassen sich erschließen aus den Geschäftsberichten bzw. Meldungen (an die Staatspolizei oder wegen Bedarf an Dolmetschern) in ebd., Nr. 1630/011, 012, 017. 86 Vgl. HStA Hannover Foto 3 Nr. 1490 (Kopie Service des Victimes de la Guerre, Brüssel: Camps douteaux, MF 6/8, Reg. Bez. Hildesheim I), Bericht der Hildesheimer Polizei v. 14. 7. 1948. 87 In Stuttgart wurden polnische Staatsangehörige bereits ab 1939 eingesetzt, vgl. Scholtyseck: Bosch (Anm. 4), S. 373.

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Personen traf im April 1942 ein. Diese Aufnahmen verweisen in ihren Schüben auf die bei Herbert dargestellten Rekrutierungsversuche bzw. Auskämmaktionen.88 Ebenfalls dieser Tabelle zu entnehmen ist, dass unter den westlichen Zivilarbeitern der Anteil der Männer deutlich überwog, bei den Polen war das Verhältnis ausgeglichen, während unter den russischen Arbeitern der Anteil an Frauen bei 70% lag. Der relativ hohe Anteil von 30% Frauen unter den Fremdarbeitern erklärt sich aus den zumeist kleinen bzw. kleinteiligen Formaten der Erzeugnisse, die etwa in der Montage für Frauenhände als besonders geeignet erscheinen mochten. Außerdem waren Frauen in der Entlohnung billiger. Der Anteil aller beschäftigten Frauen an der Belegschaft von 35% im Jahr 1943 lag aber immer noch niedriger als die Quote in StuttgartFeuerbach von 40,7% im Jahre 193089 oder bei in der Produktion ähnlichen Sparten von Siemens 1944.90 Bei einer politisch allerdings nicht gewollten stärkeren Beschäftigung deutscher Frauen hätte auf die Verpflichtung dieser zumeist noch sehr jungen Zwangsarbeiterinnen verzichtet werden können. Als Ungelernte schlecht entlohnt, hielt es z. B. die freiwillig angeworbenen (und entsprechend besser entlohnten) 50 kroatischen Frauen kein halbes Jahr in Hildesheim.91 In der der Tabelle zugrunde liegenden Namensliste finden sich weiter Hinweise darauf, dass nicht nur französische, belgische und holländische, sondern vereinzelt auch russische Zivilarbeiter als Angelernte und Facharbeiter bzw. sogar Ingenieure zum Einsatz kamen. Diese Männer wurden zum einen als Fachkräfte eingestellt, zum anderen ist aber auch produktionsbegleitend oder im Rahmen von gesonderten Kursen die ausländische Gefolgschaft umgeschult bzw. weiterqualifiziert worden.

Lebensbedingungen der Zwangsarbeiter bei Trillke Die Zivilarbeiter aus Frankreich, Belgien und Holland waren auch bei Bosch den deutschen Beschäftigten weitestgehend gleichgestellt. Dies galt etwa für Entlohnung, Versorgung über Lebensmittelkarten und Freizügigkeit.92 Ausgeschlossen waren sie von den freiwilligen betrieblichen Sozialleistungen, der 88

Vgl. Ulrich Herbert: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Neuaufl. Bonn 1999, insb. S. 153ff. 89 Vgl. Matschoss/VDI: Bosch (Anm. 52), S. 95, S. 102. 90 Vgl. Feldenkirchen: Siemens (Anm. 20), S. 650 (Tab. 7), geplant war auch bei Trillke ein Anteil von 40–50%, sehr viel niedriger die Quoten etwa bei Daimler Benz, vgl. Hans Pohl/Stephanie Habeth/Beate Brüninghaus: Die Daimler-Benz AG in den Jahren 1933 bis 1945, Stuttgart 1986, S. 136f. 91 Nachdem Trillke eine Aufstockung ihrer Arbeitszeit vom Gewerbeaufsichtsamt nicht erlaubt wurde, so in Bosch-Archiv Hildesheim I 7, GAA an Bosch v. 11. 11. 1941. 92 Zeitzeugenbericht Fricke/Hist. AK (Anm. 62), Januar 2006.

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sogenannten Bosch-Hilfe, in die auch Trillke einzahlte. Waren die zuerst eintreffenden Arbeiter noch in Privatquartieren untergebracht, so wurde dann auf dem Werksgelände zunächst ein Lager aus 28 Holzbaracken errichtet. Innerhalb dieses Bereichs waren die Baracken für die 70 Kriegsgefangenen noch einmal abgezäunt. In einem 1949 für den Service de Victimes de la Guerre (Brüssel) verfassten Bericht des ehemaligen Oberlagerführers und Gemeindebeauftragten Burgdorf heißt es, die sozialen Konditionen seien exemplarisch gewesen: Zum Lager gehörten ein Kindergarten und eine Schule, kulturell sei durch Theater, Konzerte und französische Zeitungen Abwechslung geboten worden; der vom Unternehmen gestellte Werkschutz bestand aus drei Personen und habe eher die Rolle der Polizei übernommen und insoweit nur in allgemeine Ordnungsangelegenheiten eingegriffen.93 Der für Dreilinden aufgeführte Zeitzeugenbericht, der etwa von angelegten Kleingärten spricht, könnte sich auch auf die Unterkünfte der westlichen Zivilarbeiter beziehen.94 In diesen Kontext ließe sich dann auch die von Bosch-Arbeitsdirektor Debatin nach dem Krieg formulierte, allerdings auf die Ostarbeiter gemünzte Stellungnahme einordnen, es habe vielfach „Säuglingsheime, […] Nähstuben, Aufenthaltsräume mit Filmvorführungen“ u. ä. gegeben.95 Zumindest in Bezug auf das Trillke-Werk heißt es abschließend im Bericht: „Das Lager Trillke Werke war unter den Ausländern des Kreises als mustergültig bekannt, sodass immer wieder festgestellt wurde, dass Ausländer anderer Läger sich um Arbeit und Unterbringung im Ausländer Lager Trillke Werke bemühten.“96 Eine ähnlich positive Aussage findet sich auch in dem Bericht von Fritz Täuber, dem deutschen Vertrauensmann der französischen Kriegsgefangenen des Stalag XI b Fallingbostel. Dieser bereiste vom 14. bis 16. März 1942 mit dem „Camion Pétain“ die Außenkommandos in der Region Hannover/Hildesheim. Sind dort über andere Kriegsgefangenenkommandos auch Beschwerden von schlechter Postzustellung bis zu brutalen Aufsehern verzeichnet, heißt es zum „Kommando 1351 – Elfiwerke-Neuhof, 70 prisonniers, usine de magnétos: Logement excellent, tout est en ordre dans le commando. Désireraient un prêtre [Priester]“.97 93

HStA Hannover Foto 3 Nr. 1490 (MF 6/8), Bericht der Hildesheimer Polizei v. 14. 7. 1948, verfasst auf der Grundlage des Berichts von Burgdorf. 94 Vgl. Martin: Dreilinden (Anm. 2), S. 275. 95 Otto Debatin: Verschiedene Gesichtspunkte über die Behandlung und den Einsatz ausländischer Arbeitskräfte im Lichtwerk, zit. nach Scholtyseck: Bosch (Anm. 4), S. 379, solche Einrichtungen gab es aber bei VW auch für die „Ostarbeiter’, vgl. Mommsen/Grieger: VW (Anm. 32), S. 566ff. 96 Archiv ISD Bad Arolsen Sachdokumenten-Ordner „Einsatz fremdvölkischer Arbeitskräfte“ 73, S. 310, Stadt Hildesheim an ISD Bad Arolsen, datiert 28. 2. 1949 (ein weiterer Bericht Burgdorfs, diesmal für den ISD, kürzer als der für den Service in Brüssel, aber inhaltlich gleich lautend). 97 IFZ München ED 187, Sammlung Fritz Täuber Stalag XI B (Kopie im Zentralnachweis zur Geschichte v. Widerstand u. Verfolgung in Niedersachsen), Rapport de

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Aufschlussreich ist ein Vergleich mit dem zweiten großen Lager in Hildesheim, in dem westliche, hier belgische, Zivilarbeiter der Vereinigten Deutschen Metallwerke (VDM) untergebracht waren. Der Service des Victimes de la Guerre nahm 1949 die Lage vor Ort selbst noch einmal in Augenschein und verlangte dezidiert Auskünfte über verschiedene Vorfälle, die sich bei VDM ereignet hatten.98 Mehreren Zivilarbeitern war vom Werk der Lohn nicht ausgezahlt worden. Weiter wurde eine Zeugenaussage des deutschen Arbeiters Louis Hanne zu Protokoll genommen, der bestätigt hatte, „que les Belges ont été maltraités dans l’usine VDM où lui même était employé comme mouleur [Gießer]“. Derartige Vorwürfe wurden gegenüber dem ebenfalls inspizierten Trillke-Werk, offenbar vom Service auch vergleichend herangezogen, seitens der belgischen Behörden damals nicht erhoben. Lässt sich aus diesen Quellen auf eine relative Besserstellung der westlichen Zivilarbeiter bei Trillke schließen, so wird dies noch der Bestätigung durch Zeitzeugenaussagen ehemaliger Zwangsarbeiter bedürfen. Die Ursache dieser Besserstellung kann zum einen darin liegen, dass die Lager bei VDM nicht vom Werk selbst, sondern zum Teil von der Hildesheimer DAF im Auftrag betrieben wurden: Die katastrophalen Zustände dort hatten 1943 zum Einschreiten des Gewerbeaufsichtsamtes geführt.99 Zum anderen waren die Arbeitsbedingungen in vielen Bereichen des Gießereibetriebs VDM offenbar ungleich härter als bei Trillke.100 Gegenüber den vielen kleineren Betrieben wie Zuckerfabriken oder Munitionsanlagen, in denen Franzosen als Kriegsgefangene in kleinen Gruppen zum Einsatz kamen, dürften deren Einsatzbedingungen schon aufgrund der Betriebsgröße bei Trillke in der Regel besser gewesen sein. Über die Lebensbedingungen der russischen Zivilarbeiter bei Trillke ist noch wenig bekannt. Sie waren, wie auch der oben zitierte Burgdorf vermerkte, in jedem Fall ungleich härter. Die Unterkunft lag etwa einen Kilometer vom Werk entfernt und bestand aus zwei größeren Steinbaracken. Hinzu kamen Baracken für Wirtschaft, Waschen und Aborte. Organisiert wurde vom Werk wohl auch ein Kleidertausch, bei dem die deutschen Arbeiter neue Arbeitssachen und Schuhe erhielten und ihre alten Kleider an die russischen Zivilarbeiter weitergaben. Im Werk ist aufgrund des hohen Krankenstandes v.a. der Ostarbeiter ab 1943 ein Krankenrevier mit einem russischen Arzt und russischen Krankenschwestern eingerichtet worden.101 l’homme de confiance sur la quatrième tournée en camion Pétain les 14, 15 et 16 Mars 1942. 98 HStA Hannover Foto 3 Nr. 1501 (MF 8/8), Enquêtes sur les camps VDM et Trillkewerken à Hildesheim v. 29. 6. 1949. 99 Hann. 140 Hildesheim Acc. 47/63 Nr. 413, Gewerbeaufsichtsamt Hildesheim, DAF-Gemeinschaftslager Hildesheim Lademühle, GAA an DAF v. 4. 9. 1943. 100 Vgl. Rohloff: Zwangsarbeit in Hildesheim (Anm. 3), S. 163–189. 101 Vgl. Bosch-Archiv Stuttgart Nr. 1630/017, Geschäftsbericht 1943/44, Zeitzeugenbericht Fricke/Hist. AK (Anm. 62), Februar 2004.

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Das Gewerbeaufsichtsamt interessierte sich bei einer Besichtigung im März 1944 insbesondere für die hygienischen Bedingungen in den Wohnlagern, die aber als sauber und ordentlich beschrieben wurden.102 Dass die dann nach der Ernährungslage befragten Polen sich angeblich überhaupt nicht, die Russen sich nur wegen des unzureichenden warmen Essens beschwert hätten, verharmlost die Situation. Schon die deutschen Arbeiter wurden durch die Kantinenverpflegung nicht satt und waren wie auch die westlichen Zivilarbeiter auf Zusatzversorgung von zu Hause angewiesen.103 Die Sätze der nicht über Lebensmittelkarten verpflegten polnischen und russischen Zwangsarbeiter lagen noch einmal deutlich darunter.104 Nun bat Trillke darum, „gegebenenfalls durch Hergabe von Langarbeiterzulage für die russ. Frauen eine Speiseverbesserung herbeizuführen“.105 Oberlagerführer Burgdorf schlug weiter vor, wöchentlich Joghurt-Milch anliefern zu lassen, „damit dem Übelstand abgeholfen wird, dass die Russen in ihrer Freizeit nach Hildesheim gehen und dort von Geschäft zu Geschäft laufen und täglich hunderte Flaschen von Joghurt-Milch einkaufen und ins Lager mitbringen. Durch direkte Belieferung mit Joghurt-Milch würde einerseits jeder Schwarzhandel im Lager unterbunden und andererseits die für unseren Betrieb notwendige Arbeitsleistung durch den täglichen Marsch vom Hildesheimer Wald nach Hildesheim und zurück [ca. je 7,5 km] nicht in Mitleidenschaft gezogen.“106 Das Gewerbeaufsichtsamt wurde aber darauf hingewiesen, „dass wir außerordentlich froh sind, dass die Russen überhaupt Joghurt-Milch kaufen können, und dass sie dadurch Gelegenheit haben ihre Ernährungslage selbst zu verbessern“.107 Den Erinnerungen der deutschen Trillke-Arbeiter folgend wurden die polnischen Zivilarbeiter am schlechtesten behandelt.108 Die Männer waren stets zu härteren und niederen Arbeiten eingeteilt. Besonders tat sich hier der Werkstattmeister Robert „Robby“ Müller hervor, von Statur ein Hüne, von 1942 bis Januar 1944 als Gestapo-Mann auch Aufseher in dem für Hildesheim zuständigen Arbeitserziehungslager Lahde/Weser.109 Müller beaufsichtigte polnische Zivilarbeiter u. a. bei der Anlage des Gleisanschlusses und der Ausbesserung der Zufahrtsstraße zum Werk, sodass alle deutschen Beschäf-

102

Hann. 140 Hildesheim, Acc. 47/63, Nr. 508, Gewerbeaufsichtsamt Hildesheim, Trillke-Werke, Trillke an GAA v. 23. 5. 1944. 103 Zeitzeugenbericht Fricke/Hist. AK (Anm. 62), Januar 2007. 104 Vgl. grds. Spoerer: Zwangsarbeit (Anm. 77), S. 122f., für Trillke noch keine Angaben. 105 Hann. 140 Hildesheim Acc. 47/63 Nr. 508, Gewerbeaufsichtsamt Hildesheim, Trillke-Werke, Trillke an GAA v. 23. 5. 1944. 106 Ebd. 107 Ebd. 108 Zeitzeugenaussagen Fricke/Hist. AK (Anm. 62), Februar 2004 u. Januar 2007. 109 BA Koblenz Z 42 VI 1458, Akte R. Müller; vgl. Rohloff: Zwangsarbeit in Hildesheim (Anm. 3), S. 176f.

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tigten sehen konnte, wie er die Männer mit Schlägen traktierte. Unmittelbar nach Einmarsch der US-amerikanischen Truppen in Hildesheim sollen diese polnischen Arbeiter Müller auf die Motorhaube eines Wagens gebunden und mit ihm umhergefahren sein, bevor man ihn zu lynchen versuchte, was aber eine eintreffende Militärstreife verhindert haben soll. Hierüber geben die Firmenakten ebenso wenig Auskunft wie über jene „Frauen und Kinder aus Polen, nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes 1944 ins ‚Reich‘ verschleppt“, die bei Trillke im Arbeitseinsatz waren.110 Anders als in Kleinmachnow, wo bei Dreilinden 800 Polinnen aus dem Konzentrationslager Ravensbrück arbeiteten111, gab es bei Trillke aber kein KZ-Außenkommando.112 Angenommen werden muss weiter, dass Zwangsarbeiter ab 1943 daran beteiligten waren, Luftschutzstollen in den Berghang im hinteren Teil des Werksgeländes zu treiben. Von der Justizvollzugsanstalt Celle ist eine Außenwerkstätte im Juli 1943 eingerichtet worden. Hier wird berichtet: „Auch innerhalb der Trillke-Werke wurden politische Häftlinge beschäftigt. 1943 mußten 25 Zuchthausinsassen härteste Arbeiten verrichten. Mitten im Saal des Werkzeugbaus stand ein Drahtkäfig, der die Häftlinge von den übrigen Arbeitern trennte. Ihnen war streng untersagt, miteinander zu sprechen. In diesem Raum war sogar, hinter Brettern, ein Abort-Kübel installiert.“113

Es bleibt Aufgabe, das hier Zusammengetragene den Zeitzeugenberichten noch lebender ehemaliger Zwangsarbeiter bei Bosch-Hildesheim gegenüberzustellen. Auch sind hier aus der Archivöffnung in Bad Arolsen noch weitere Aktenfunde zu erwarten. Bei derzeitigem Forschungsstand lässt sich für Bosch-Hildesheim nur die Aussage Scholtysecks von der „schrecklichen Normalität“114 der Arbeitsverhältnisse der Zwangsarbeiter fortschreiben, die bei Bosch im Ergebnis nicht anders aussah als etwa zuletzt von Werner für BMW ausgewiesen. Weiter gilt es, im vergleichenden Blick auf die Bedingungen ähnlich großer Betriebe zu differenzierenden Aussagen zu kommen. Eine hier bei Bosch angenommene relative Besserstellung westlicher Zivilarbeiter aus dem Vergleich zum VDM-Zweigwerk in Hildesheim verlangt nach Erklärungen, die wiederum zurückweisen etwa auf unterschiedliche Firmentraditionen, (branchenabhängige) Arbeitsbedingungen, regionale Lagen oder lokale und persönliche Hintergründe.

110

Vgl. Hildesheim und seine Antifaschisten sowie „Halt dei Gosch“ (Anm. 73). Vgl. Martin: Dreilinden (Anm. 2), S. 281, mit vielen Zeitzeuginnenaussagen dieser Frauen, die v.a. aus Warschau kamen. 112 Ein KZ-Außenkommando des Lagers Bergen-Belsen mit 500 jüdischen Häftlingen kam im Frühjahr 1945 im Zuge der Aufräumarbeiten am zerstörten Bahnhof zum Einsatz, vgl. Rohloff: Zwangsarbeit in Hildesheim (Anm. 107), S. 177ff. 113 Zit. nach ebd., S. 23. 114 Scholtyseck: Bosch (Anm. 4), S. 355ff. 111

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Fazit Beleuchten wir zunächst den Korridor des unternehmerischen Gestaltungsspielraums in Bezug auf Planung und Aufbau der Bosch-Tochter TrillkeWerke in Hildesheim zwischen 1937 und 1945. Robert Bosch selbst stand nach eigenem Bekunden der noch vor dem Krieg umgesetzten Ausgründung der beiden Ausweichwerke in Berlin/Kleinmachnow und Hildesheim ablehnend gegenüber.115 Diese Haltung erklärt sich aber nicht aus mangelndem Profitinteresse, denn auch und gerade bei Bosch war man in Folge des wegfallenden Auslandsgeschäfts auf die inländische, von den Kriegsvorbereitungen beförderte staatliche Nachfrage angewiesen. Allerdings sah man vor der eigenen Haustür, im Stuttgarter Raum, noch auf lange Zeit hinreichend freie Kapazitäten, während umgekehrt aus den Bedingungen dieses Segments der elektrotechnischen feinmechanischen Industrie Produktionsstandorte in der Nähe der Absatzmärkte nicht als prioritär erschienen. Dennoch dürfte man bei Bosch die Aufforderung des OKH, bei Berlin ein Werk für die Produktion von Teilkomponenten für den Flugzeugbau zu errichten, als Chance begriffen haben: ein neuer, prosperierender Markt, die Beteiligung an staatlichen Rüstungsaufträgen, neue Produktlinien und schließlich, dies wurde vom Firmengründer betont, ein großes Potential an hinreichend qualifizierten bzw. qualifizierbaren Facharbeitern, die man auch von der AEG und Siemens abwerben wollte. In Berlin war Bosch bereits über Blaupunkt engagiert, dort suchte man ebenso wie Daimler-Benz die Nähe zu den entscheidenden Regierungsbehörden. So fällt auf, dass Bosch bei Dreilinden in sehr viel größerem Maße eigene Finanzmittel eingebracht hat als in Hildesheim, so z. B. für den Ausbau der Infrastruktur und den Aufbau einer eigenen Arbeitersiedlung.116 Die von Bosch in Friedenszeiten bewusst gesuchte Konkurrenzsituation führt dann aber auch dazu, dass das noch im Aufbau befindliche Werk unter Kriegsbedingungen auf Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge zugriff, um den Bedarf an Arbeitskräften zu sichern. Anders die Ausgangslage in Hildesheim: Zwar mag für den aus heutiger Sicht urteilende Betrachter der Konnex zwischen dem VW-Werk Wolfsburg/ Fallersleben und dem Kfz-Zulieferer Bosch-Hildesheim auf der Hand liegen und aus dieser Verbindung erklärt sich dann auch die Expansion von BoschBlaupunkt als Produzent der Autoradios für den Volkswagen seit den Jahren des Wirtschaftswunders. Aber in den Unterlagen Clostermeyers zur Standortwahl im Jahr 1937 finden sich zunächst keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die geringe Entfernung zum Volkswagenwerk überhaupt ein Argument für die Wahl Hildesheims bildete. 115

Heuss: Bosch (Anm. 13), S. 597, ein Schreiben Boschs vom 24. 4. 1936 wiedergebend. 116 Vgl. Martin: Dreilinden (Anm. 2), S. 227ff.

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Entscheidend blieb die Frage, wo in der norddeutschen Tiefebene jenseits der wenigen großen Agglomerationen eine elektrotechnische feinmechanische Industrie aus dem Nichts aufgebaut werden konnte. Damit verband sich nun notwendig ein langfristiges Engagement von Bosch am neuen Standort des Ausweichwerkes II. Jedoch war nicht abzusehen, ob das zu errichtende Werk auch ohne Heeresaufträge profitabel, d. h. auf dem hohen Stuttgarter Standard, würde produzieren können. Es galt also, den allerdings nur noch geringen gestalterischen Spielraum auszunutzen. Einerseits wurden die Kosten für den materiellen Werksaufbau, hier insbesondere für die immobilen Werte, ganz auf das OKH und in Bezug auf die Infrastruktur auch auf die Hildesheimer Kommune abgewälzt117, andererseits setzte Bosch aber auch noch in Kriegszeiten die Errichtung der Anlagen im Friedensstandard durch. Beweglich blieb der Konzern auch hinsichtlich der zentralen Frage der Rekrutierung der Arbeitskräfte. Hildesheim wurde als Standort eben auch deswegen Priorität eingeräumt, weil er den aus Stuttgart einzuwerbenden Fachkräften Lebensqualität bot. Weiter sollte aber auch, darauf weisen insbesondere die Äußerungen Clostermeyers hin, der größte Teil der neu anzulernenden Kräfte nicht in der Region, sondern darüber hinausgehend reichsweit aus der Industriearbeiterschaft gewonnen werden, einer Gruppierung also, die ebenfalls nicht ortsgebunden war. Im Krieg garantierten die festgesetzten Quoten bei exponentiell steigenden Umsätzen, dass Bosch-Hildesheim die eingesetzten Kosten wieder hereinholen und Gewinne einfahren konnte. Während in Kleinmachnow, nun in der sowjetischen Besatzungszone gelegen, Bosch das in der Hand des Konzerns liegende Anlagevermögen komplett abschreiben musste, hatte man in Hildesheim, nach Abschluss des für Bosch positiv verlaufenen Entflechtungsverfahrens, die freie Wahl. Dort sah der Konzern jetzt aber mit der wieder in Fahrt kommenden Produktion in Wolfsburg eine langfristige Perspektive. Außerdem gab es nun unter den Vertriebenen und SBZ-Flüchtlingen ein großes Potential geeigneter Fachkräfte. Die Gewinnung hinreichend qualifizierter bzw. qualifizierbarer Arbeitskräfte war für Bosch in Hildesheim von 1937 an das eigentliche Kernproblem, daran änderten auch die angestoßenen Rationalisierungsmaßnahmen in der Produktion grundsätzlich nichts. Daraus resultierte die Beschäftigung von Zwangsarbeitern und daran schließt sich unmittelbar die Frage an, wie die Behandlung dieser Beschäftigten zu bewerten ist. Zunächst ist festzustellen, dass bei Bosch die Arbeitskraft zwar einen zentralen Kostenfaktor darstellte, man mit diesem aber nicht kalkulierte, das heißt insbesondere, die im Lohn billigeren Zwangsarbeiter wurden nicht einge117

Ähnlich agierten auch andere Konzerne, vgl. die Verweise bei Buchheim: Unternehmen (Anm. 1), S. 364; Paul Erker: Industrieeliten in der NS-Zeit. Anpassungsbereitschaft und Eigeninteresse von Unternehmen in der Rüstungs- und Kriegswirtschaft 1936–1945, Passau 1993, S. 49f.

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stellt, um die Produktionskosten zu senken und also höhere Gewinne einzufahren. Clostermeyer plante langfristig mit der grundständigen Ausbildung neuer, kurz- und mittelfristig mit der reichsweiten Rekrutierung bereits vorqualifizierter Arbeitskräfte. Beides war teuer, aber unter den spezifischen Produktionsbedingungen der Branche notwendig. Mit dem Ende des freien Arbeitsmarktes und der Einberufung der ausgebildeten Lehrlinge zerschlug sich dieses Konzept, man war nun, um die Produktion zum Laufen zu bringen und dann rentabel arbeiten zu können, auf Zwangsarbeiter angewiesen.118 Insoweit war Bosch, wie Scholtyseck urteilt, „ungewollt“ in diese Situation hineingeraten.119 Dass man dann aber, wie Walz später suggerierte, passiv blieb und bloß annahm, was an Zwangsarbeitern eben zugewiesen wurde, ist unwahrscheinlich.120 Im Bereich des Rüstungskommandos Hannover bzw. im Bezirk des Gauarbeitsamtes Südhannover-Braunschweig konkurrierte Trillke mit weit größeren Werken um die wenigen Qualifizierten unter den Kriegsgefangenen bzw. den nach dort verschleppten Zwangsarbeitern. Es bleibt schwer vorstellbar, warum sich Clostermeyer nur im Geschäftsjahr 1940/41 und nicht auch in den Folgejahren aktiv für eine Zuweisung besonders qualifizierter Kräfte eingesetzt haben sollte. Ob die auf diese Weise eingeworbenen oder auch zugewiesenen Zwangsarbeiter bei Trillke besser behandelt wurden als in anderen vergleichbaren Unternehmen, ist eine interessante Frage auch deshalb, weil der Konzern selbst für sich in Anspruch nahm, den Bedürfnissen seiner Beschäftigten in besonderem Maße entgegenzukommen.121 Das Wohlergehen der Arbeiterschaft war integraler Bestandteil einer familiär verstandenen Unternehmenskultur, die geprägt war von hohen sozialen Standards und etwa in Bezug auf die in Stuttgart erstmals eingeführte Lehrlingsausbildung in eigener Lehrwerkstatt auch wegweisend für die Industrie in Deutschland. Hinzu kommt, dass der Vater dieser Familie, Robert Bosch, seinen Biographen als besonderes Beispiel eines liberalen, international ausgerichteten Unternehmers gilt, dem gerade auch die mit dem Komplex der Zwangsarbeit verbundene rassistische Ideologie des NS-Regimes zuwider war.122 Es bleibt festzuhalten, dass auch bei Trillke in Hildesheim der sogenannte Boschgeist einer familiären Unternehmenskultur beschworen wurde und Ausdruck fand in vielen verschiedenen Aktionen der Werksleitung. Diese zielten jedoch nur auf die deutsche Belegschaft. Es finden sich keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass auch Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter davon 118

Vgl. Spoerer: Zwangsarbeit (Anm. 77), S. 263. Vgl. Scholtyseck: Bosch (Anm. 4), S. 374. 120 Zit. nach ebd., S. 376. 121 Vgl. hier insbs. den Tonfall der vom Konzern selbst herausgegebenen Jubiläumsschriften in Anm. 12. 122 In diesem Sinne sowohl das Urteil von Heuss: Bosch (Anm. 13) als auch von Scholtyseck: Bosch (Anm. 4); zum Konnex von Zwangsarbeit und Rassismus vgl. Herbert: Fremdarbeiter (Anm. 94). 119

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131

profitierten. Die auch von Boschangehörigen aufgeführten besonderen sozialen Leistungen, also etwa die Beschäftigung eines russischen Betriebsarztes, die Ausstattung der Unterkünfte oder die Durchführung von Unterhaltungsabenden auch für die Ostarbeiter, bilden, so zeigte der Blick auf Unternehmen ähnlicher Größenordnungen (HGW, VW), lediglich den eben gesetzten sozialen Mindeststandard ab. Dieser kann gerade im Blick auf die sogenannten „Ostarbeiter“ auch nur als menschenunwürdig beurteilt werden. Darüber hinaus tat man bei Bosch in Hildesheim nichts. Dass auch diese Leistungen noch an verschiedenen Stellen besonders gewürdigt werden, erklärt sich u. a. auch daraus, dass es in Hildesheim Betriebe wie die VDM gab, die selbst die rudimentären Vorschriften des Gewerbeaufsichtsamtes noch missachteten. Systematische Gewaltanwendungen insbesondere auch gegen Zwangsarbeiter gab es bei Trillke, soweit sich dies bisher feststellen ließ, offenbar nicht. Aber die Werksleitung statuierte gelegentlich Exempel gegenüber einzelnen Beschäftigten, die das Ziel hatten, die Arbeitsmoral aufrechtzuerhalten. Auch die Gewaltexzesse des Werksmeisters Robert Müller, die er in aller Öffentlichkeit vollzog, wurden mindestens geduldet. Letztlich gibt es auch Anhaltspunkte dafür, dass eine rudimentäre Fürsorge nur auf den Teil der Zwangsarbeiter beschränkt war, die in der Produktion beschäftigt waren. Die lediglich zu Hilfsarbeiten eingesetzten Polen konnten jederzeit ersetzt werden. Daran zeigt sich umgekehrt auch, dass die sogenannten Fremdarbeiter für die Trillke-Werke nicht lediglich eine beliebig verschiebbare Verfügungsmasse darstellten. Die Aufnahme in die Produktion setzte eine längere Einarbeitungszeit voraus, die bei geeigneten Voraussetzungen in eine regelrechte Weiterqualifizierung führen konnte. Andernfalls hätte bei akutem Mangel an deutscher Belegschaft (sowie westlichen Zivilarbeitern) die erfolgreiche Geschäftsentwicklung nicht umgesetzt werden können. Die osteuropäischen Zwangsarbeiter, die in eine solche Position gelangten, profitierten davon, durchaus auch im Blick auf ihr späteres Berufsleben, vor allem aber, weil sie somit nur schwer und unter weiterem Kostenund vor allem Zeitaufwand ersetzt werden konnten. Auf der anderen Seite wird man die hier von der Werksleitung ergriffenen Maßnahmen nicht als soziale Errungenschaften beschönigen müssen, sondern kann sie aus betriebswirtschaftlichem Kalkül hinreichend erklären.

132 Abb. 1:

Stefan A. Oyen, Manfred Overesch Umsatzentwicklung bei Bosch 1926–1944/51 (Mill. RM)

Jahr

Siemens

1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944

623 668 735 820 799 631 410 330 411 552 663 784 964 1181 1125 1461 1591 1692 1812

1951

SSW

AEG

Bosch

450 460 533 571 536 375 341 202 262 374 441 504 606 731 701 852 898 911 890

360 420 510 580 520 370 220 180 234 273 316 379 487 604 621 780 896 914 1090

45,7 67,5 78,1 80,5 64,1 53,8 46,9 57,7 91,8 105,4 128 150,1 174,9 210,8 218,3 275,8 318,5 357,2 353,9

DaimlerBenz 68,0 121,4 130,8 130,4 99,0 69,0 65,0 100,9 146,8 226,1 295,1 399,1 462,0 527,6 540,0 645,9 839,2 942,0 953,9

BMW

27,2 40,0 36,5 27,5 19,7 42,0 81,2 127,9 124,9 143,7 179,6 275,8 287,8 385,1 569,6 653,3 750,0

385,0 (DM)

Quellen: Feldenkirchen: Siemens (Anm. 20), S. 102, 662 f. – Siemens, SSW, AEG; Kaiser: Bosch (Anm. 18), S. 33; Stern: Daimler-Benz (Anm. 38), S. 58, 124; Werner: BMW (Anm. 16), S. 15, 61.

133

„Starter für den Krieg“

Abb. 2: Anteil des Auslandsumsatzes am Gesamtumsatz des Boschkonzerns 1913/14– 1937/38 (Prozent) Jahr 1913 1924 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937/38

Siemens 35 22 27 25 25 29 32,6 42,4 45 41 25 21,2 13,1 9,7 11,2

SSW 36,2 33,7 37,7 36,6 33,2 36 43,7 47,7 53,7 42 30,4 23,3 22,6 22,3 22,6

AEG

38 45 49 37,8 24,4 20,9 ca. 20 ca. 20 ca. 20

Bosch 88,7 34,6 31,6 41,1 34,1 40,6 43,5 46,5 48,6 55,7 34,8 22 16,5 15,9 17,4

DaimlerBenz

BMW

0,9 9,5 11,3

3,75

Quellen: Feldenkirchen: Siemens (Anm. 20), S. 662 – Siemens, SSW, AEG; Kaiser: Bosch (Anm. 18), S. 33; Stern: Daimler-Benz (Anm. 38), errechnet aus S. 124/S. 74; Werner: BMW (Anm. 16), errechnet aus S. 27/30 (nur Umsatz BMW AG ohne BMW Flugmotorenbau GmbH).

Abb. 3:

Lage des Trillke-Werkes Hildesheim im norddeutschen Raum

Eigene Karte, Grundlage: Grenzland der Mitte. Wirtschaft und Verkehr in Niedersachsen, Hannover 1987, S. 47.

134 Abb. 4: Firma /Jahr 1939 1940 1941 1942 1943 1944

Stefan A. Oyen, Manfred Overesch Umsatz/Anlaufkosten Trillke-Werke 1939/40–1944 (Mill. RM) Trillke

Trillke Anlaufkosten

0,2 0,6 3,2 8,3 21,1

0,8 2,6 3,3 2,3 1,9

Trillke DB inkl. An- Sindellaufkosten fingen 1,0 3,2 6,5 10,6 23,0

0,4 7,3 18,7 24,1 38,5 47,8

DB Mannheim 35,6 64,5 76,9 50,2 54,5 39,9

DB Marienfelde 90 35,9 39,4 44,0 61,3 53,5 55,4

Quellen: Bosch-Archiv Stuttgart Nr. 1620/012, 017, Geschäftsberichte 1942/43 u. 1943/44; Pohl: Daimler-Benz (Anm. 96), S. 126, 136: Mannheim, LKW, 3 732 Beschäftige in 1943, Sindelfingen KFZ-Karosserie- u. Flugzeugzellenteile, 6 877/1943, Marienfelde Flugmotoren, neu angelaufen, 2 780/1943.

135

„Starter für den Krieg“ Abb. 5:

Fertigungszahlen Trillke-Werke Hildesheim 1940–9/1943–1944

a) Monatsproduktion im Durchschnitt in den Quartalen Erzeug./ Quartal 1940/41 1941/42 2/1942 3/1942 4/1942 1/1943 2/1943 3/1943

Lichtmaschinen

Magnetzünder

Ritzelanlasser

29 682 1 215 1 002 850 1 450 2 728 4 015

2 998 1 880 3 376 5 032 5 953 7 143 9 125

Lichtmaschinen

Magnetzünder

Ritzelanlasser

2 500 11 503 39 842 31 036

350 8 188 13 557 20 223

26 11 984 48 726 48 800

202 958 2 354 2 312 4 085 4 578 5 739 4 505

Schwungkraftanl. 0 2 494 519 588 771 1 000 1 204

Einheiten ges./Mon. 233 2 640 5 943 7 209 10 555 12 752 16 610 18 849

b) Jahresproduktion Erzeug./ Jahr 1940/41 1941/42 1942/43 4/1943–9/1943 1943/44

Schwungkraftanl.

Ges./Jahr

0 878 6 941 6 613

2 876 32 553 109 066 106 672 268 866

Quelle: Bosch-Archiv Stuttgart Nr. 1630/012, Denkschrift September 1943, 1944.

136 Abb. 6: Jahr

3/1940 9/1940 3/1941 9/1941 3/1942 9/1942 3/1943 9/1943 3/1944 3/1945

Stefan A. Oyen, Manfred Overesch Beschäftigte Arbeiter und Arbeiterinnen bei den Trillke-Werken 1940–1945* Gesamt

380 388 595 800 1 096 1 342 1 759 1 992 2 761 3 563

davon

davon

Deutsche

Nichtdeutsche

380 388 512 664 657 725 915 897 1 215 1 448

0 0 83 136 439 617 844 1 095 1 546 **2 115

Männer

Frauen

312 304 494 624 767 819 1 133 1 195 1 764 1 750

68 84 101 176 329 523 626 797 997 1 813

davon Nichtdt. 0 0 0 56 197 376 440 518 699 ?

Quellen: Bosch-Archiv Stuttgart Nr. 1630/012, Denkschrift September 1943, statistisches Material; ebd. 012, 017, 023, Geschäftsberichte 1942/43-1944/45; *ohne Angestellte und Lehrlinge; **Anzahl Nichtdeutsche im GB 1944/45 nicht mehr ausgewiesen, der Fremdarbeiterkartei Trillke entnommen.

137

„Starter für den Krieg“

Abb. 7: Anzahl u. Herkunft der bei den Trillke-Werken zwischen 1941 und 1945 beschäftigten Nichtdeutschen ArbeiterInnen/ Nationalität Niederlande Belgien Frankreich Italien Polen Russland Ungarn Kroatien Verschiedene* Gesamt

Gesamt

davon Männer

122 275 440 279 406 991 141 55 69 2 779

117 209 402 270 379 305 140 5 57 1 884

Frauen 5 66 38 9 27 686 1 50 12 895

am 7./8. 4. 1945 noch im Werk 68 111 326 234 394 874 70 4 34 2 115

Quelle: Bosch-Archiv Stuttgart Nr. 1630/012: Liste Fremdarbeiterkartei Trillke-Werke; *Bulgarien, Griechenland, Lettland, Tschechoslowakei, Rumänien, Schweiz, Litauen (hier die 34, die bei Besetzung Hildesheims durch die US-Armee noch im Werk waren, zuvor in der Statistik aber nicht aufgeführt sind), Spanien (10 – Arbeitseinsatz), Indien (kurzzeitig: brit. Kriegsgefangene), Staatenlose.

Paul Erker

Kommentar Den Beiträgen zur Elektroindustrie liegen drei unterschiedliche Herangehensweisen zugrunde: erstens eine von der Konzernebene AEG/Telefunken ausgehende Betrachtung, zweitens mit Bosch/Hildesheim eine spezifische Werksgeschichte und drittens (etwas zugespitzt) für Siemens die Frage nach den Motiven für einen Zwangsarbeitereinsatz an einer einzelnen Fertigungsstelle.1 Der Untersuchungsgegenstand wird also von der Konzernebene auf die Werksund Produktionsebene transformiert. Das Problem ist aber, dass wir es bei diesen verschiedenen Ebenen mit drei verschiedenen Unternehmen zu tun haben. Wünschenswert wäre aber, diese Ebenen für ein Unternehmen bzw. für jedes dieser Unternehmen zu untersuchen und dabei die je unterschiedlichen Entscheidungs- und Aushandlungsprozesse zu rekonstruieren. Das ist zuvorderst ein Quellenproblem. Bevor ich einige wichtige Punkte kommentierend herausgreife, sei eine Vorbemerkung gestattet. Alle Beiträge sind insofern zentral und wichtig, als sie eine Branche ins Blickfeld rücken, an der die in den letzten beiden Jahrzehnten recht intensiv betriebene Unternehmensgeschichtsschreibung fast gänzlich vorbeigegangen ist. Es gibt für die deutsche Elektroindustrie bisher keine ernstzunehmende Studie zu der Entwicklung in der NS-Zeit. Eine ganze Branche ist während der Entschädigungsdebatte und den sich daran anschließenden historischen Aufarbeitungsbemühungen gleichsam abgetaucht und hat den Sturm und die Turbulenzen der historischen Untersuchungen und der sich daran anschließenden bzw. damit verbundenen wissenschaftlichen Debatten einfach ausgesessen. Wir wissen so gut wie nichts über Siemens in der NS-Zeit, so gut wie nichts über Osram, nichts über Telefunken, nichts über die AEG und nichts über Bosch.2 Dies wirft die Frage auf, wie das zu erklären ist. Ein Grund liegt meines Erachtens darin, dass es, zugespitzt formuliert, eine doppelte Strategie der betroffenen Unternehmen gab. Man hat zum Teil im eigenen Haus verfasste Studien, jedenfalls recht unkritische Unternehmensgeschichten erstellt und 1

Der Kommentar bezieht den Vortrag „Die Entstehung der ‚Fertigungsstelle Ravensbrück‘ – Motive und Ziele des ‚Haus Siemens‘ für den Einstieg in den Häftlingseinsatz“ von Rolf Schmolling (Berlin), der auf dem diesem Band zugrunde liegenden Symposium gehalten wurde, mit ein. Obwohl sich der Artikel nicht realisieren ließ, haben sich die Herausgeber im Einvernehmen mit Rolf Schmolling dafür entschieden, den Kommentar einschließlich seiner Bezüge zur Thematik des KZ-Zwangsarbeitseinsatzes im Siemens-Konzern zu übernehmen, da auf diesem Feld besonders augenfällige Forschungslücken bestehen. 2 Ein weiteres großes Unternehmen wäre z. B. Schaub-Lorenz, die seit den 30er Jahren dem amerikanischen multinationalen Konzern ITT gehörten – eine überaus spannende Geschichte, die aber bisher auch noch nicht untersucht worden ist.

140

Paul Erker

gleichzeitig jeglichen Akten- und Archivzugang für Dritte verweigert, und das gilt bis heute.3 Die Begründung für diese restriktive Politik lautete: „Wir haben nicht viel“; oder: „Das ist noch nicht verzeichnet.“ Das gilt vor allen Dingen für Siemens und Bosch, aber auch für Osram und Telefunken, weil deren Bestände als Teilkonzerne von Siemens mittlerweile auch überwiegend im Siemens-Archiv liegen. In Bezug auf das Unternehmen AEG ist der Fall anders gelagert, da der Großteil der Akten im Krieg vernichtet wurde; hier ist der Zugang zu den im Deutschen Technikmuseum Berlin liegenden Archivalien kein Problem. Wir haben es also mit einer Mentalität und einem Verhalten gegenüber der eigenen Vergangenheit in den Häusern Siemens und Bosch zu tun, mit dem wir in den übrigen Unternehmen vor 10 bis 15 Jahren konfrontiert waren.4 Um das Argument auszuhebeln, es gäbe keine Unterlagen, muss man daher mit Mühe und Aufwand Parallelüberlieferungen in anderen Aktenbeständen zu Tage fördern; das zeigen gerade die Beiträge dieser Sektion, die sich diesen Mühen unterworfen haben. Der Artikel von Oyen stützt sich auf Materialien des offensichtlich erhaltenen Werksarchivs. Es sind also kaum Akten des Stuttgarter Zentralarchivs von Bosch verwendet worden. Für das Fallbeispiel der „Fertigungsstelle Ravensbrück“ des Siemens Konzerns sind es Kopien von Siemens-Akten aus dem Institut für Stadt- und Regionalgeschichte der Universität Bremen. Erstaunlicherweise ist ein Aktenbestand von keinem der Autoren benutzt worden, der frei zugänglich und der noch längst nicht hinreichend ausgewertet worden ist: die OMGUS-Reports der amerikanischen Militärregierung, die allein zu Siemens und AEG zehn Aktenordner umfassen. Auch zu Bosch dürfte es einen entsprechenden OMGUS-Report geben. An diese Vorbemerkung schließen sich zwei Kommentare zur Einordnung der Beiträge in den Kontext der bisherigen Forschung an: Der erste bezieht sich auf den Beitrag von Oyen zu Bosch-Hildesheim: Die Trillke-Werke waren ein 1937 auf Anordnung des Staates bzw. des Oberkommandos des Heeres errichtetes Tochterwerk für die Rüstungsproduktion. Insofern unterlag es spezifischen Bedingungen bezüglich der Leitung des Werks, den Produktionsverhältnissen und der Belegschaftsrekrutierung. Joachim Scholtyseck spricht in seiner Studie zu Bosch von „typischen Merkmalen einer nationalsozialisti3

Zu Siemens vgl. die vom Konzernarchivar erstellte Studie: Winfried Feldenkirchen: Siemens 1918–1945, München 1999. Zu Bosch vgl. die von Joachim Scholtyseck erarbeitete Monographie: Robert Bosch und der liberale Widerstand gegen Hitler 1933–1945, München 2002. Scholtyseck läuft inzwischen mit seinem Auftragsprojekt zur Geschichte der Familie Quandt in der NS-Zeit Gefahr, nachgerade zum Exponenten einer neuen „Persilschein-Historiographie“ in der Unternehmensgeschichte zu werden. Vgl. dazu auch Anne Kunz: Kritik an Familie Quandt, in: Süddeutsche Zeitung vom 18. 2. 2008. 4 Vgl. dazu jüngst Heinz-Roger Dohms: Das Schweigen deutscher Firmen zur NSVergangenheit, in: Financial Times Deutschland vom 22. 11. 2007.

Kommentar

141

schen Neugründung“, in dem von einem Boschgeist nichts zu spüren gewesen sei. Immerhin haben in den Hildesheimer Werken 4 000 Menschen gearbeitet, davon die Hälfte Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter. Der Tenor Scholtysecks lautet, dass dieser Standort und darüber hinaus die gesamte Rüstungsfertigung dem Kernunternehmen Bosch aufgezwungen worden wäre. Oyen widerspricht dieser These explizit und deutlich. Er zeigt in seinem Artikel, dass die Trillke-Werke ein ganz normales Rüstungsunternehmen waren, sowohl was die Fertigungsbedingungen als auch die Situation und die Lage der Zwangsarbeiter angeht. Eine Reihe von Fragen bleibt dabei offen, etwa nach Art und Ausmaß der betrieblichen Weiterbildung und Qualifizierung – darüber würde man gerne mehr erfahren. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die Disziplinprobleme und die häufigen Fehlzeiten der deutschen Kollegen. Hier zeigt sich, dass die Zwangsarbeitergeschichte als Teil der Belegschaftsgeschichte immer wieder zurückverweist auf die Lage und Situation der deutschen Beschäftigten in den Unternehmen und dazu auffordert, auch diese wieder verstärkt ins Blickfeld zu nehmen und zu untersuchen. Wir wissen inzwischen mehr über Zwangsarbeiter in deutschen Werken in der NS-Zeit als über die deutschen Arbeiter am selben Ort zur selben Zeit. Aus der Fülle der jüngeren Unternehmensstudien ist bekannt, dass die Produktionsbedingungen und Arbeitsverhältnisse vor Ort sehr unterschiedlich sein konnten. Umso wünschenswerter wären vermehrt Untersuchungen einzelner Werke von Bosch in vergleichender Perspektive. Trotz dieser strukturellen Einschränkung in seiner analytischen Reichweite ist der Artikel von Oyen wichtig, denn er räumt mit dem von Scholtyseck in die Welt gesetzten Mythos der spezifischen Bedingungen und Verhaltensweisen des Bosch-Managements auf, die zum liberalen Widerstand hochstilisiert werden. Oyen bricht den von Scholtyseck konstruierten, engen Zusammenhang von Widerstandsgeschichte und Unternehmensgeschichte des BoschKonzerns auf, der uns ein völlig falsches Bild der Unternehmensentwicklung in der NS- und Kriegszeit liefert. Bosch war keineswegs der Sonderfall eines widerständigen Unternehmens. Vielmehr war Bosch ein Unternehmen wie jedes andere auch. Es war in seiner Weise in die Rüstungs- und Kriegswirtschaft involviert und hat das Zwangsarbeitersystem aktiv mitbetrieben. Scholtyseck spricht dagegen von einem „Mitmachen“ und „So tun als ob“. Man machte mit in der Rüstungswirtschaft, um zu vertuschen, dass man eigentlich politischen Widerstand leistete. Das halte ich für eine recht absurde Argumentation. Wir finden bei Bosch, das zeigt gerade auch das Beispiel der Trillke-Werke, die üblichen Zustände in den Zwangsarbeiterlagern, die desolat waren. Auch in Hildesheim übten die Werkschutzleute und Werkarbeitsbeauftragten eine Schreckensherrschaft in Produktion und Werksalltag aus. Die Zwangsarbeiter wurden von den betrieblichen Sozialleistungen ausgeschlossen, und es gab eben auch den Einsatz von KZ-Häftlingen. Bei Scholtyseck findet man dagegen die „klassischen“ Exkulpationsformeln, die uns aus der Unternehmensgeschichte

142

Paul Erker

alter Provenienz vertraut sind: Da ist von „Ohnmacht“5 und von engen Grenzen eingeschränkter Entscheidungsbefugnisse die Rede, und vor allem taucht der beliebte Topos von der angeblich drohenden Gefahr der Verstaatlichung auf. Nirgends jedoch werden die tatsächlichen unternehmenspolitischen Entscheidungsprozesse rekonstruiert und analysiert. Immer dann, wenn es gleichsam für Bosch heikel wird, fehlen plötzlich die Quellen; diese Lücke wird durch abenteuerliche Spekulationen zu schließen versucht. Mit Recht hat hierzu Jürgen Zarusky formuliert: „Derlei zusammenphantasierte Hilfskonstruktionen durchziehen das ganze Buch, an dessen nur über viele weitschweifige Umwege erreichbaren Ende Scholtyseck die rätselhafte Feststellung trifft: ‚Wenn die Quellen versiegen, ist der Historiker auf die intellektuellen Fähigkeiten des Lesers angewiesen.‘ Vielleicht aber handelt es sich hierbei ja um einen Druckfehler. Sinn machen würde jedenfalls sehr viel eher folgende Version: ,Wenn die intellektuellen Fähigkeiten des Historikers versiegen, ist der Leser auf die Quellen angewiesen.‘“6

Auch im Falle der Siemens-Fertigungsstätte Ravensbrück liegt zunächst eine eher schönfärberische, steinbruchartige und deskriptive Perspektive sowie dem eigenen Selbstbild verpflichtete Publikation vor: das Buch von Wilfried Feldenkirchen, dem Haushistoriker und Archivleiter des Siemenskonzerns. Der Tenor dieses Buchs geht ebenfalls in die Richtung ständiger Zwangslagen, denen die Siemens AG ausgesetzt gewesen sei, verbunden mit einer ausschließlichen Orientierung an wirtschaftlich-technischen Effizienzgesichtspunkten. Aber nirgends finden wir eine detaillierte Schilderung und Analyse der Entscheidungsprozesse, geschweige denn der Arbeitsprozesse vor Ort. Es wird nur behauptet, dass Siemens keine Initiative bei den Zuweisungen von Arbeitskräften entwickelt habe, und vor allem wird explizit eine Exkulpation einzelner Personen betrieben: des Vorstands und des Managements in den Werken. Immer dann, wenn es konkret um Verantwortung auch im Managerbereich geht, flüchtet sich Feldenkirchens Studie in allgemeine Bemerkungen. Zudem taucht ein beliebter Topos auf, der als Argument sehr stark gemacht wird: der Topos der relativen Besserstellung. In der Tat berichten ehemalige Zwangsarbeiter immer wieder, dass es ihnen in diesem oder jenem Werk besser gegangen sei als in anderen Werken. Man sollte diesen Aussagen der Betroffenen einmal systematischer nachgehen, denn tatsächlich haben ja, soweit ich das beurteilen würde, viele Zwangsarbeiter keine „Karriere“ durch verschiedene Unternehmen gemacht, sondern oft auch eine Odyssee durch die Werke eines Unternehmens erfahren. Insofern würde das Argument, man sei in unterschiedlichen Werken besser oder schlechter gestellt gewesen, am Ende wieder auf das Unternehmen zurückfallen. Feldenkirchens Fazit, so-

5

Joachim Scholtyseck: Robert Bosch und der liberale Widerstand gegen Hitler 1933–1945, München 2002, S. 388. 6 Jürgen Zarusky: Rezension des Bosch-Buches von Joachim Scholtyseck, in: Süddeutsche Zeitung vom 10. 7. 2000.

Kommentar

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weit sich in seinem voluminösen Buch zur Siemensgeschichte überhaupt Bemerkungen zum Zwangsarbeitereinsatz finden, gipfelt in der Aussage, dass „die vor allem in der DDR-Literatur lange vertretene These von der offen verbrecherischen Verschleppungskonzeption der führenden deutschen Monopole nicht gestützt werden kann“.7 Die Industrie habe es eindeutig vorgezogen, für die Ausführung ihrer Aufträge deutsche Arbeitskräfte zu bekommen bzw. die eingearbeiteten Arbeitskräfte zu behalten. Wohlgemerkt: Feldenkirchens Buch wurde 1998 und nicht 1958 publiziert. Es fällt in Forschungsstand und Methodik weit hinter den Stand der jüngeren Unternehmensgeschichtsschreibung zurück. Dagegen lassen sich am exemplarischen Fall von Ravensbrück Aushandlungsprozesse zwischen Siemens und den NS-Rüstungsinstanzen und die erheblichen Entscheidungsfreiheiten der Unternehmensleitung beim Aufbau der Rüstungsfertigungskapazitäten aufzeigen. Diese Aushandlungsprozesse betrafen das Investitionsrisiko, das der Staat tragen sollte, und es wurden denn auch extrem günstige Bedingungen zugunsten des Unternehmens fixiert. Diesbezügliche Diskussionen und entsprechende Ergebnisse kennen wir auch von BMW und vor allem von den IG Farben. Aber auch der KZHäftlingseinsatz war Gegenstand dieser Aushandlungsprozesse, und hier gehörte Siemens (neben BMW) mit zu den Vorreitern der Praktizierung eines „Produktionssystems“, das auf dem massenhaften Häftlingseinsatz basierte. Die Anteilseignerfamilie, und damit auch der Aufsichtsratsvorsitzende Hermann von Siemens, war hierbei direkt und aktiv involviert. Auch das kennen wir aus anderen Unternehmen, bislang aber eben nicht für Siemens. Das Fallbeispiel der Fertigungsstelle Ravensbrück verweist auf die Notwendigkeit einer Entmythologisierung der Siemensgeschichte in der NS-Zeit, aber es ist einstweilen noch ein recht kleines Puzzleteil. Das Gesamtbild, für das der uneingeschränkte Zugang zu den Unternehmensakten unabdingbar ist, ist noch nicht erkennbar, und es ist zu befürchten, dass es auf absehbare Zeit nicht zu dem wünschenswerten Gesamtbild kommen wird. Ein Desiderat, das gerade am Beispiel von Bosch, Siemens und AEG augenfällig wird, ist die noch völlig offene Frage, wie die Unternehmen der Elektroindustrie in den besetzten Ländern agierten: in Frankreich, Holland, Italien und vor allem auch in Osteuropa. Ein zweites Desiderat bezieht sich auf den Vergleich von Siemens und AEG. Dieser Vergleich wäre auch deshalb besonders vielversprechend, weil alles daraufhin deutet, dass Siemens im Wettbewerb der Branche zunehmend in die Defensive geraten war und die AEG gemeinsam mit Telefunken drauf und dran war, seit 1941 Siemens technologisch und in der Innovationsdynamik zu überholen. Der Krieg hat dieser Verschiebung der brancheninternen Gewichte ein abruptes Ende gesetzt. Über die in der NS-Zeit und Kriegszeit weiterlaufenden langfristigen Wett-

7

Winfried Feldenkirchen: Siemens 1918–1945, München 1999, S. 168.

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Paul Erker

bewerbs- und Innovationsprozesse liegen gerade auch für die Elektroindustrie kaum Ergebnisse vor. Alles in allem machen Beiträge zur Elektroindustrie deutlich, dass sich die Unternehmensgeschichte in Deutschland mit einer Lage konfrontiert sieht, die sie eigentlich schon überwunden zu haben glaubte. Nach wie vor erweist sich die Konfrontation von Unternehmen mit ihrer eigenen Geschichte, insbesondere in der NS-Zeit, als konflikt- und problembeladen. Nicht selten ist den Unternehmen gar nicht bewusst, dass sie, wie etwa der ContinentalKonzern, im Rahmen von Akquisitionen nicht nur neue Unternehmensteile dazukaufen, sondern auch deren Geschichte im Nationalsozialismus mit dazu erwerben. Im Ergebnis sehen sich die Unternehmenshistoriker nach wie vor mit erheblichen Problemen des Quellenzugangs und des historischen Problembewusstseins konfrontiert. Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass nach dem Boom der „Entschädigungsforschungen“ ein ebenso flächendeckendes wie nachhaltiges Umdenken in den Unternehmen eingesetzt hat, und dass die Archive nun generell für die wissenschaftliche Forschung offen sind. Viele Unternehmen haben nach wie vor ein ganz spezifisches Bild von sich selbst, das häufig mit der tatsächlichen Entwicklung in der NS-Zeit nicht oder nur partiell übereinstimmt. Neben Bosch und Siemens ließe sich eine Reihe weiterer renommierter Unternehmen anführen: etwa Henkel, Oetker oder Boehringer/Ingelheim, wie überhaupt fast die gesamte deutsche Pharmaindustrie. Es gäbe und gibt noch viel zu tun, aber bei der Elektroindustrie sollte man endlich einmal anfangen.

Constanze Werner

Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit bei BMW Die Ergebnisse meiner Untersuchung zur Zwangsarbeit bei BMW im Kontext der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft liegen in Form einer umfangreichen Monografie vor, die als Band 1 der gemeinsamen Reihe „Perspektiven“ der BMW Group und der MTU Aero Engines GmbH erschienen ist.1 Sie sollen an dieser Stelle nicht noch einmal ausführlich wiederholt werden. Vielmehr wird im Folgenden erstens kurz auf die Quellenlage eingegangen, zweitens wird der Untersuchungsansatz vorgestellt, und drittens schließlich werden einige zentrale Ergebnisse der Studie präsentiert. 1. Für BMW liegt eine recht zersplitterte Quellenüberlieferung vor. Es gibt keinen geschlossenen Bestand im Archiv des Unternehmens selbst. Deswegen waren umfangreiche Recherchen in staatlichen und kommunalen Archiven des In- und Auslandes erforderlich. Als eine der wichtigsten Quellenüberlieferungen lässt sich dabei der Bestand Deutsche Bank/von Stauß und Rummel im Bundesarchiv qualifizieren. Der Vorsitz im Aufsichtsrat von BMW wurde jeweils von einem Vorstandsmitglied der Deutschen Bank ausgeübt, wodurch sich im Bundesarchiv eine relativ geschlossene Überlieferung zu Fragen des Gesamtkonzerns ergibt. Ergänzend wurden Zeitzeugeninterviews in Polen, Tschechien und der Ukraine geführt. Der Schwerpunkt wurde deswegen auf die östlichen Länder gelegt, da Transkripte von Gesprächen mit ehemaligen westlichen Zwangsarbeitern bereits existierten und zudem auch eine reichhaltige Erinnerungsliteratur ehemaliger französischer Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge vorhanden ist.2 2. Der Ansatz der Studie ist multiperspektivisch und multidimensional, wobei sich fünf Ebenen hervorheben lassen: Erstens galt es, die Aushandlungsprozesse zwischen Unternehmen und Staat und den Prozess der wachsenden Deformierung des Unternehmens bzw. des Firmenmanagements zu untersuchen. Dabei wurde, zweitens, die Zwangsarbeitergeschichte als integraler Teil der Unternehmensgeschichte betrachtet und der Zwangsarbeitereinsatz als Teil des Fertigungsprozesses begriffen und analysiert. Der Zwangsarbeit und Unternehmensentwicklung integrierende Zugriff wurde auf alle drei Werkgruppen – München, Eisenach und Berlin – gleichermaßen ausgedehnt. Drittens ging es um die Untersuchung der Corporate Governance-

1

Constanze Werner: Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit bei BMW, München 2005 (447 S.). 2 Zur Technik der Interviews sei kurz angeführt, dass ich narrative Interviews durchgeführt habe, die häufig zwei bis drei Stunden dauerten. Ich habe ohne Fragen begonnen, um den Fluss der Erinnerung zu erhalten, und erst zum Schluss konkrete Nachfragen gestellt.

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Constanze Werner

Strukturen, also um das Kräfteverhältnis zwischen Vorstand und Aufsichtsrat und zwischen Unternehmen und Staat. Die vierte Ebene ist die Ebene der Arbeitswelt mit den beiden Leitfragen: Wie verlief der Einsatz der ZwangsarbeiterInnen im Kontext und Verlauf des Rüstungsproduktionsprozesses? Wie waren die Arbeits- und Lebensbedingungen der ZwangsarbeiterInnen in den drei Werkgruppen und an den Verlagerungsstandorten im zeitlichen Verlauf? Als fünfte Ebene wurden die Hauptkonkurrenten von BMW – Daimler-Benz und Junkers – vergleichend in die Analyse einbezogen.3 3. Als Hauptergebnisse der Studie lassen sich hervorheben: BMW war zweifellos einer der Vorreiter des Zwangs- und des KZ-Arbeitereinsatzes.4 Die frühen Überlegungen des Vorstandsvorsitzenden Franz Josef Popp zur Konzeption Allachs als KZ-Werk belegen dies unter anderem. Zwangsarbeit hatte dabei viele Gesichter, hinsichtlich der zeitlichen Abfolge, der örtlichen Praktizierung, der nationalen Unterschiede und eben auch der Frage, zu welcher Zwangsarbeitergruppe man gehörte. Anfänglich gab es durchaus rationale Ansätze des BMW Managements, etwa das innerbetriebliche Qualifikationssystem: Man richtete Lehrwerkstätten für Zwangsarbeiter ein und hatte auch ein in Ansätzen ausgeklügeltes System von Werkslagern. Aber all dies endete als Folge einer wachsenden Radikalisierung in zunehmender Diskriminierung und Ausbeutung. Das BMW Management hatte in vielen Bereichen direkte wie indirekte Verantwortung und Mitschuld für die Verbrechen des NS-Regimes. Die BMW Manager verfügten zweifellos über Möglichkeiten zur Verbesserung der Ernährungs- und Unterkunftsverhältnisse der Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge in den Lagern. Und wenn interveniert wurde, war das auch erfolgreich. Meist wurde aber eben nicht interveniert. Es gelang den Werksleitungen nicht, die Machtübergriffe der SS in die Unternehmenssphäre hinein zu verhindern. Dies zeigen der lange Arm des Leiters des KZ Außenlagers in das Werk Allach hinein oder auch die Erschießungen durch SS-Leute in der Werksgruppe Eisenach. Am deutlichsten zeigt sich die Verstrickung des BMW Managements in die nationalsozialistische Vernichtungspolitik bei den Bunkerbau- und Untertageverlagerungsmaßnahmen: beim Bunkerbau in Allach, bei den Doggerwerken, in Markirch oder auch beim Untertageausbau in Bad Salzungen und Staßfurt. Hier trug das Management eine direkte Mitschuld am Tod hunderter KZ-Häftlinge und Kriegsgefangener. Die Bedingungen und die Ausmaße der Übergriffe an den Arbeitsplätzen in den Werken und den Verlagerungsstandorten hingen dabei in hohem Maße von einzelnen Personen ab: von den Werksleitern, von den Abteilungsingenieuren, Meistern und eben auch von der Frage, wie sich der jeweilige Werkschutz vor Ort zusammensetzte.

3

Vgl. dazu Constanze Werner: Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit bei BMW, München 2005, S. 9–13. 4 Vgl. ebd., S. 373ff.

Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit bei BMW

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Ohnehin ist die maßgebliche Rolle des Werkschutzes bei der Etablierung und Praktizierung eines innerbetrieblichen Unterdrückungssystems meines Erachtens nach bisher zu wenig beachtet worden. Im Falle von BMW zeigt sich deutlich, dass nicht so sehr die Meister KZ-Häftlinge oder Zwangsarbeiter misshandelten, sondern vor allem der Werkschutz. Dazu kam, dass die gering ausgebildete Unternehmenskultur und die schwachen Corporate Governance-Strukturen zu fehlender Solidarität und Verbundenheit innerhalb des Managements führten. Stattdessen entwickelten sich erstens ständig von neuem persönliche Spannungen und Intrigen innerhalb des Vorstands. Zweitens waren die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen in heftige Interessenskonflikte verstrickt. Drittens stand der Aufsichtsrat nicht hinter dem Vorstand. Im permanenten Aushandlungsprozess mit dem Reichsluftfahrtministerium hatte BMW deshalb schlechte Karten. Diese problematischen Strukturen und personellen Konflikte erleichterten den Deformierungsprozess des Managements, der sowohl zu riskantem Finanzgebaren führte als auch zu dem Wahnsinn der Untertageverlagerungen. Letzterer kostete vielen Zwangsarbeitern das Leben, und er schadete auch den Maschinen. Letztendlich führte die Deformierung des Managements zu der Skrupellosigkeit des Zwangsarbeitereinsatzes. Dabei ist meines Erachtens sehr klar geworden, dass das BMW Management nicht über das Kriegsende hinaus plante, sondern einfach situationsbedingt handelte. Die Entwicklung von BMW ist in vieler Hinsicht repräsentativ für die Verstrickung der Flugzeugund Luftrüstungsindustrie in das nationalsozialistische Unrechtsregime insgesamt. Die frühe, freiwillige und enge Kooperation von BMW mit dem NSRegime führte das Unternehmen geradezu zwangsläufig in eine ökonomische Sackgasse. Das Flugmotorenunternehmen BMW war daher, anders als die damaligen bzw. späteren Konkurrenten Volkswagen und Daimler-Benz, dazu gezwungen, sich nach 1945 als Automobilunternehmen quasi neu zu erfinden.

Elsbeth Bösl, Nicole Kramer, Stephanie Linsinger

Die vielen Gesichter der Zwangsarbeit Merkmale des „Ausländereinsatzes“ im Landkreis München Der Ukrainer Grigoriy war 14 Jahre alt, als er in den Landkreis München kam. Er hatte beide Eltern verloren und in einem Waisenhaus in Kiew gelebt. Im April 1942 lösten deutsche Besatzer das gesamte Waisenhaus auf und transportierten die Kinder nach Deutschland. Die Papiere der unter 16-jährigen Kinder wurden gefälscht, damit auch sie zur Zwangsarbeit eingesetzt werden konnten. Grigoriy gelangte nach Neuried, im Südwesten Münchens, wo er bis Kriegsende auf einem Bauernhof lebte und arbeitete. Mit ihm waren ein französischer Kriegsgefangener und eine Polin auf dem Hof eingesetzt.1 Grigoriys Schicksal ist eines von vielen, das im Zuge der Recherchen über den „Ausländereinsatz“ im Landkreis München zu Tage trat. So wie er waren rund 13 500 ausländische Frauen, Männer und Kinder während des Zweiten Weltkriegs in den Landkreisgemeinden als Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter eingesetzt. Ihr Schicksal blieb lange unbeachtet. Einer Initiative des Kreistagsmitglieds Wolf-Dietrich Großer ist es zu verdanken, dass 2005 eine Studie erschien, die die Situation ausländischer Zwangsarbeiter im Landkreis München untersuchte. Das Landratsamt München vergab im Jahr 2003 einen Forschungsauftrag an den Lehrstuhlinhaber für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität, Professor Dr. Hans Günter Hockerts. Die Ergebnisse wurden in dem Buch „Die vielen Gesichter der Zwangsarbeit. ‚Ausländereinsatz‘ im Landkreis München 1939–1945“2 veröffentlicht. Im Folgenden sollen das methodische Vorgehen und einige Ergebnisse der Recherchen vorgestellt werden.

Vorgehensweise und Quellenlage Untersuchungsraum der Studie ist der Landkreis München in seiner heutigen Ausdehnung: 29 Gemeinden, die sich wie ein Gürtel um München schließen. Erstmals wurden alle zugänglichen Gemeinde- und Stadtarchive des Landkreises besucht und gezielt nach Dokumenten zum „Ausländereinsatz“ durchforstet. Die Suche brachte sehr unterschiedliche Bestände hervor: In einigen Gemeinden gaben Meldelisten und Meldekarten Auskunft über Alter, Nationalität und Aufenthaltsdauer von ausländischen Zwangsarbeitern im 1

Brief von Grigoriy N., Ukraine 2003. Elsbeth Bösl/Nicole Kramer/Stephanie Linsinger: Die vielen Gesichter der Zwangsarbeit. „Ausländereinsatz“ im Landkreis München 1939–1945, München 2005. 2

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Landkreis. Doch nur vereinzelt fanden sich weitere einschlägige Materialien wie Erlasse von Bürgermeistern, Versicherungsnachweise oder Briefwechsel zwischen Arbeitgebern und Gemeinde. Neben den Gemeindearchiven wurde Material aus Staats- und Bundesarchiven ausgewertet. Problematisch war dabei, dass eine geschlossene Überlieferung des Arbeitsamts München fehlt. Rückschlüsse konnten nur aus Gegenüberlieferungen anderer Arbeitsämter gezogen werden. Auch der Aktenbestand des Landratsamts München im Staatsarchiv München weist Lücken auf. Gänzlich fehlt die Überlieferung der Stapoleitstelle München. Dafür waren die Akten der Sonder- und Amtsgerichte in München und des Oberlandesgerichts sehr aufschlussreich, etwa im Hinblick auf den „verbotenen Umgang“ zwischen Deutschen und Ausländern oder Streitfälle zwischen Arbeitgebern und Zwangsarbeitern. Wichtige Quellen aus Bundes- und Staatsarchiven waren Polizeiberichte an das Bayerische Innenministerium sowie Tagebücher und Berichte des Rüstungskommandos im Wehrkreis VII, zu dem der Landkreis München gehörte. Im Bayerischen Wirtschaftsarchiv waren die Lageberichte der IHK für München und Oberbayern relevant. Für besondere personenbezogene Fragestellungen half auch das Archiv des Erzbistums München und Freising weiter. Aus Matrikeln der Pfarrgemeinden gingen Geburten und Sterbefälle von Ausländern im Landkreis hervor. Auch sind dort die Seelsorge- und Einmarschberichte der Pfarrgemeinden überliefert. Als Ergänzung zu den genannten Quellen umfassten die Recherchen auch Zeitzeugengespräche in den Gemeinden sowie Briefwechsel mit ehemaligen Zwangsarbeitern aus Osteuropa. Insgesamt neun deutsche Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus dem Landkreis wurden befragt. 15 ehemalige ausländische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus der Ukraine, Russland, Lettland und Tschechien gaben schriftlich Auskunft über ihre Erlebnisse und Erfahrungen. Den Kontakt zu den ehemaligen Zwangsarbeitern hatten die Partnerorganisationen der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ hergestellt. Anhand dieser Materialien untersuchte die Studie den Einsatz ziviler und kriegsgefangener ausländischer Arbeitskräfte. Auf die Zwangsarbeit, die deutsche KZ-Häftlinge, Strafgefangene und Juden im Landkreis München leisten mussten, ging sie nicht ein. Ziel war es, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der ausländischen Zwangsarbeiter darzustellen und die Spezifika des „Ausländereinsatzes“ in einem ländlich geprägten Raum mit Nähe zur Großstadt München herauszuarbeiten. Besonderes Interesse galt den Beziehungen zwischen deutscher Bevölkerung und ausländischen Zwangsarbeitern. Welchen Platz nahmen Zwangsarbeiter in der Kriegsgesellschaft ein? Inwieweit überlagerte traditionelles Verhalten im ländlichen Milieu die rassenideologischen Vorgaben des NS-Regimes? Wie gestalteten sich die Arbeitsbeziehungen? Wie stark drifteten nationalsozialistisches Regelwerk und Praxis des „Ausländereinsatzes“ im Landkreis auseinander – und welche Auswirkungen hatte dies für die Situation der ausländischen Zwangsarbeiter?

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Der „Ausländereinsatz“ im Landkreis München in Zahlen Der „Ausländereinsatz“ war ein Massenphänomen – reichsweit und im Landkreis München. Allein im Landkreis lebten und arbeiteten im Verlauf des Krieges etwa 13 500 ausländische Zwangsarbeiter, darunter etwa 11 200 Zivilisten. Die ausländischen Arbeitskräfte machten damit 22% der Beschäftigten aus. In der Landwirtschaft des Reichsgebiets erreichte der Ausländeranteil unter den Beschäftigten 1944 sogar 46,4%.3 Ein Blick auf die Arbeitgeber des Landkreises zeigt, dass auch hier die weitaus meisten Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft oder im landwirtschaftlichen Nebengewerbe eingesetzt waren. Zu den Nationalitäten der im Landkreis München eingesetzten Zwangsarbeiter ergibt sich folgendes Bild: Franzosen machten die größte Gruppe unter den zivilen Arbeitskräften aus. Es folgten Italiener, Kroaten, Serben und Polen. Auffällig ist der im Vergleich mit Zahlen aus ganz Oberbayern und Schwaben geringe Anteil von sowjetischen Arbeitern. Unter ihnen allerdings war der Anteil von Ukrainern sehr hoch.4 Vergleicht man die Anteile der einzelnen Zivilarbeiterkontingente an der Gesamtzahl mit den Verhältnissen im Reich, wird deutlich, dass im oberbayerischen Raum erheblich mehr Italiener, Franzosen, Serben, Kroaten und Polen eingesetzt waren als im Reichsdurchschnitt, dagegen signifikant weniger Belgier, Niederländer oder Arbeiter aus dem Protektorat Böhmen und Mähren und aus der Slowakei. In Bezug auf die im Landkreis eingesetzten Kriegsgefangenen liegt nur eine Momentaufnahme, keine Gesamtzahl vor. 1944 waren rund 2 300 Kriegsgefangene eingesetzt, unter ihnen machten ebenfalls die Franzosen mit etwa 41% die größte Nationalitätengruppe aus. Auch sowjetische und serbische Kriegsgefangene waren in großer Zahl im Landkreis.5 Der Frauenanteil unter den ausländischen Zwangsarbeitern lag insgesamt unter dem Reichsdurchschnitt von einem Drittel. Was Ulrich Herbert reichsweit beobachtet hat, trifft auch für den Landkreis München zu: Der Frauenanteil war höher, je niedriger eine im Reich eingesetzte Ausländergruppe in 3

Ulrich Herbert: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des ‚Ausländereinsatzes‘ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Bonn 3. Aufl. 1999, S. 270. 4 Die Zahlen ergeben sich aus einer Auszählung der UNRRA-Listen der Gemeinden. Vgl. Aufenthalt v. Ausländern in den Gemeinden, StAM LRA München 176853; 177082; 177128/A; 177136; 177329; 177140; 177336; 177492; 177756; 177957; 177975; 177987; 177989; 178001; 178057; 178060; 178071; 178138; 178138; 178156; 178281/A; 178192; 178124; 178229; 176851; Aufenthalt v. Ausländern in den Gemeinden (Sammelakt), StAM LRA Wolfratshausen 144853. Die aufgeführten Armenier werden zu den sowjetischen Arbeitern hinzugerechnet. 5 Wehrwirtschaftsbetriebe im Schutzgebiet München, o. D., BArch RW 17/55; Landesschützenbatallion 435/Stab, 20. 9. 1944: Verzeichnis der Kriegsgefangenenarbeitskommandos im Landkreis München Land, ebd.; Landesschützenbatallion 435/Stab, 23. 9. 1944, Verzeichnis der Kriegsgefangenenarbeitskommandos im Landkreis Wolfratshausen, ebd.

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der NS-Rassenideologie angesiedelt war. Auch im Landkreis war gerade bei den sowjetischen Arbeitskräften der Frauenanteil mit etwa 54% besonders hoch.6 In den „Ostarbeitertransporten“ nach Oberbayern befanden sich mitunter sogar bis zu 80% Frauen.7 Aufschlussreich ist auch die Untersuchung der Geburtsjahrgänge der im Landkreis München eingesetzten Arbeitskräfte. Über Altersunterschiede der Kriegsgefangenen verschiedener Nationalitäten können keine Aussagen getroffen werden. Bei den Zivilarbeitern ist dies jedoch anhand von Meldeunterlagen möglich. Durchschnittlich am jüngsten waren die zivilen Arbeitskräfte aus Polen und der Sowjetunion, die Geburtsjahrgänge 1920 bis 1929 waren überdurchschnittlich vertreten. Ein Schicksal wie das des erst 14jährigen Grigoriy war also in der Gruppe der „Ostarbeiter“ kein Einzelfall. Arbeitskräfte aus dem Protektorat Böhmen und Mähren waren ebenfalls meist jung, auch bei ihnen waren die Geburtsjahrgänge 1920 bis 1924 sehr stark vertreten. Bei Kroaten, Slowenen, Serben, Bulgaren und Rumänen lassen sich keine so deutlichen Überhänge feststellen, dennoch war auch unter ihnen die Zahl der nach dem Ersten Weltkrieg Geborenen recht hoch. Dies galt in etwas geringerem Maße auch für Franzosen, Belgier und Niederländer. Hiervon hob sich die Altersstruktur der Italiener ab. Der Anteil der vor 1900 geborenen Italiener war vergleichsweise hoch, er lag beispielsweise in der Gemeinde Unterföhring bei etwa einem Drittel. Insgesamt zeichnet sich also ab, dass westeuropäische und italienische Arbeitskräfte durchschnittlich älter waren als jene aus dem südosteuropäischen Raum. Diese wiederum waren durchschnittlich älter als Arbeitskräfte aus dem Protektorat Böhmen und Mähren, Polen und der Sowjetunion.8

Beziehungen zwischen deutscher Bevölkerung und ausländischen Zwangsarbeitern Die Bedingungen, unter denen die Zwangsarbeiter ihren Arbeitseinsatz im Landkreis München erlebten, unterschieden sich z. T. erheblich. Behandlung 6

Die Zahlen ergeben sich aus einem Sample von Meldedaten: Arbeiterkartei MUNA, GA Hohenbrunn; Verzeichnis der bei der polizeilichen Meldestelle Unterföhring gemeldeten Ausländer und Staatenlosen, GA Unterföhring; Verzeichnis der bei der polizeilichen Meldestelle Ismaning gemeldeten Ausländer und Staatenlosen, o. J., GA Ismaning A 161/5. 7 Werbekommission Graf von Spreti an Gendarmerieposten Uman, 13. Mai 1942, StAM Arbeitsämter 762. 8 Die Alterstruktur ergibt sich aus einer Auswertung einer Auswahl von Meldelisten. Das Sample umfasst 1 837 Personen und damit etwa 16% der insgesamt gemeldeten Ausländer im Landkreis München. Arbeiterkartei MUNA, GA Hohenbrunn; Verzeichnis der bei der polizeilichen Meldestelle Unterföhring gemeldeten Ausländer und Staatenlosen, GA Unterföhring; Verzeichnis der bei der polizeilichen Meldestelle Ismaning gemeldeten Ausländer und Staatenlosen, o. J., GA Ismaning A 161/5.

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und Lebenswirklichkeit hingen von vielerlei Faktoren ab, etwa der eigenen Nationalität und Einordnung in die nationalsozialistische Rassenhierarchie, dem Wirtschaftszweig, in dem ein Arbeiter oder eine Arbeiterin eingesetzt wurde, und schließlich ganz konkret vom Arbeitsplatz und von der politischen Einstellung des Umfelds, des Arbeitgebers und der Kollegen. Im Folgenden wird näher auf die Bandbreite von Interaktionen, Kontakten und Beziehungen zwischen deutscher Bevölkerung und ausländischen Zwangsarbeitern im Landkreis eingegangen. Die Anwesenheit ausländischer Zwangsarbeiter im Landkreis München war für die deutsche Bevölkerung nicht zu übersehen: In nahezu jedem Betrieb arbeiteten Ausländer, in nahezu jeder Gemeinde befand sich ein Kriegsgefangenen- oder Zivilarbeiterlager, meist sogar an ganz zentraler Stelle: z. B. in der Turnhalle neben der Kirche in Taufkirchen, im Schloss in Planegg, in einem Gasthaus in der Nähe des Maibaums in Garching oder am unmittelbaren Ortsrand von Höhenkirchen. Tschechische Arbeiterinnen, die in der Waldgastwirtschaft in Buchenhain schliefen, durchquerten jeden Tag Baierbrunn auf ihrem Weg zur Firma Richtberg. Französische Kriegsgefangene lieferten für die Firma Feldhäuser in Gräfelfing Kohlen in die Häuser der Ortsbewohner aus. Die Beispiele zeigen: Ausländer waren integraler Bestandteil der Kriegsgesellschaft. Gleichzeitig gehörten sie aber per Definition nicht zur „Volksgemeinschaft“ und unterstanden diskriminierenden Sonderrechten. Kriegsgefangene, die Feinde des kriegsführenden Reiches waren, und „Fremdvölkische“, die als minderwertig galten und ausgegrenzt werden sollten, wurden zum notwendigen Teil der Kriegswirtschaft und Kriegsgesellschaft. Wie entwickelte sich innerhalb dieses Spannungsfelds die Beziehung zwischen Deutschen und Ausländern und in welchem Maße durchdrangen die rassenideologischen Vorgaben der NS-Führung den Alltag der Zwangsarbeiter?

Beziehungen am Arbeitsplatz Der wichtigste und größte Bereich der Begegnung zwischen Deutschen und Ausländern war der Arbeitsplatz. Vor allem das Verhältnis zum Arbeitgeber, aber auch die Beziehung zu den deutschen Kollegen, bestimmten in hohem Maße die Lebens- und Arbeitsbedingungen eines ausländischen Zwangsarbeiters. Wie den Zwangsarbeitern am Arbeitsplatz zu begegnen sei, war reglementiert. Die NS-Führung befand sich hier jedoch in einem Dilemma. Einerseits sollte die Behandlung der Arbeitskräfte geeignet sein, ihre Leistungsfähigkeit zu erhalten. Andererseits sollte es aus rassenpolitischen und sicherheitspolitischen Erwägungen zu keiner Annäherung zwischen deutscher Belegschaft und ausländischen Arbeitern kommen. Ein Vertreter des Rassenpolitischen Amts München beschrieb den Umgang mit Ausländern am Arbeitsplatz so:

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„Wenn wir den ausländischen Arbeiter gleichgültig, verächtlich, misstrauisch, widerwillig oder feindselig betrachten und behandeln, so wird auch seine Einstellung uns Deutschen gegenüber genau so sein und damit sein Arbeitswille und seine Arbeitsleistung entsprechend sinken und die deutsche Kriegsproduktion beschädigt werden. Andererseits ist aber auch jede bedauernde Haltung gegenüber dem Ausländer, eine unbegrenzte Hochachtung vor ihm und seinem Heimatland, die in Schmeicheleien und Gefälligkeiten einen beschämenden und lächerlichen Ausdruck findet, fehl am Platze.“9

Eine ganze Reihe von Vorgaben regelte daher das Zusammenleben und -arbeiten von Deutschen und Ausländern. Am härtesten betroffen waren die besonders diskriminierten Gruppen der „Ostarbeiter“ und Polen. Zahlreiche Vorschriften schränkten ihr Leben massiv ein. Am augenscheinlichsten verdeutlicht dies die Kennzeichnungspflicht der Kleidung mit „Volkstumsabzeichen“. Polen mussten deutlich sichtbar ein „P“, Ostarbeiter ein „OST“ tragen. Die Kennzeichnungspflicht wurde nicht nur als herabwürdigend empfunden, sondern schränkte den Handlungs- und Bewegungsspielraum der Betroffenen stark ein. Auch machten die Kennzeichen die Überwachung im Betrieb und in der Öffentlichkeit erst möglich. „Ostarbeiter“ durften etwa keine öffentlichen Verkehrsmittel nutzen; untergebracht waren sie separat, in sogenannten „Ostarbeiterlagern“, die meist unter strikter Bewachung standen. Am Arbeitsplatz selbst war jeglicher vertrauliche Kontakt zwischen Deutschen und „Ostarbeitern“ verboten. Bei Nichteinhaltung dieser Regel oder bei anderen Vergehen war Bestrafung gängige Praxis. Sie reichte vom Entzug von Lebensmitteln oder Zigaretten über die Benachteiligung bei der Kleidervergabe bis hin zu Ausgangsentzug und Prügelstrafe. Neben den eigenen Sanktionsmöglichkeiten hatten Arbeitgeber auch die Möglichkeit, ihre Zwangsarbeiter anzuzeigen. Für den Landkreis München sind zahlreiche Beispiele des schikanösen Verhaltens der Arbeitgeber überliefert, vor allem in größeren Industriebetrieben. Auch solche Großbetriebe gab es im ländlich geprägten Landkreis: Die Gesellschaft für Linde’s Eismaschinen in Höllriegelskreuth, Häusler Flugmotorenbau in Baierbrunn, die Sauerkrautfabrik Durach in Ismaning oder die Bayerische Hallenbau in Unterföhring waren beispielsweise wichtige Unternehmen der Kriegswirtschaft. Eine „Ostarbeiterin“ der Firma Durach, die sich für eine Nachtschicht krank gemeldet hatte, wurde vom Betriebsleiter mit Schlägen wieder an den Arbeitsplatz getrieben.10 Eine Führungsperson der Firma Häusler schreckte nicht davor zurück, Erschießungen der sowjetischen Arbeiter zu veranlassen, als diese im November 1942 mit Arbeits- und Essensverweigerung gegen die schlechten Lebensbedingungen protestierten.11 9

Redemanuskript eines Vertreters des Rassenpolitischen Amtes München, o. D., StAM NSDAP 136. 10 Aussage v. Rosa O., 25. März 1948, StAM Spk K 320; Aussage v. Martha S., 29. April 1947, ebd.; Protokoll der öffentlichen Sitzung der Spruchkammer X München, 27. Februar 1948, StAM NSDAP 1809. 11 Zeitzeugengespräch mit H. F., Baierbrunn, 26. August 2003; Pachtvertrag zwischen der Firma Häusler und der Gemeinde Baierbrunn v. 22. September 1943, Bürgermeister Oberrieder und Vertreter der Firma Häusler, GA Baierbrunn Ausländer 1915–1950;

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Ein weiteres Beispiel für einen großen Industriebetrieb war die Heeresmunitionsanstalt am Ortsrand von Hohenbrunn (MUNA). Dort wurde Munition hergestellt. Die Belegschaft setzte sich aus Deutschen und Ausländern zusammen. Die etwa 700 ausländischen Arbeitskräfte kamen aus Frankreich, Polen, Italien, der Schweiz, Griechenland und den Niederlanden; ein Drittel der ausländischen Arbeitskräfte kam aus dem Protektorat Böhmen und Mähren, die größte Gruppe stellten mit 42% die „Ostarbeiter“ aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion dar. Besonders die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Polen und „Ostarbeiter“ waren in der MUNA verheerend. Die Zuteilung von Lebensmitteln und Kleidung richtete sich strikt nach den offiziellen Vorgaben und war damit sehr dürftig. Die Unterbringung erfolgte in bewachten Massenlagern. Kontakt zu deutschen Kollegen oder zur Bevölkerung gab es kaum. Eine Besonderheit der MUNA war, dass der Betrieb ganz gezielt für ausländische Familien genutzt wurde. Und selbst Familienangehörige waren in unterschiedlichen Lagern untergebracht und durften untereinander keinen Kontakt haben. Wie das Leben einer ausländischen Familie in einem anonymen Lager und einem industriellen Großbetrieb aussah, zeigt ein Brief, den die ehemalige Zwangsarbeiterin Anna aus der Ukraine geschrieben hat. Sie kam 1943 als Neunjährige mit ihrer Mutter und ihren fünf Geschwistern in die MUNA. „Die Wohnbaracken waren auf einem Feld. Wir haben die Häuser vom Ort gesehen. Ich war damals sehr klein. Von meiner Familie war dabei meine Mutter, Olena (geb. 1904), mein Bruder Timofeij (geb. 1932), meine Schwester Olga (geb. 1928), meine Schwester Nadjeschda (geb. 1935), meine kleinen Brüder Iwan (geb. 1940) und Wassily (geb. 1942). Meine Mutter und die Schwester Olga haben in der Munitionsfabrik gearbeitet. Sie mussten Hülsen durchspülen und säubern. Mein Bruder Timofeij musste im Werk Eisen heiß machen und dann bearbeiten. Wir haben in Baracken gewohnt mit hölzernen Stockbetten. Meine Mutter und meine Schwester waren in einer Baracke mit anderen Frauen. Bruder Timofeij in einer mit anderen Männern. Ich und meine Schwester Nadjeschda waren in einer anderen Baracke mit Kindern. Ich kann mich nur erinnern, dass auf dem hölzernen Bett Heu lag, auf dem ich geschlafen habe. Die kleinen Brüder Wassily und Iwan waren wieder in einer extra Baracke für Kleinkinder. Die Baracken waren mit einem Stacheldraht umzäunt und waren überwacht. Zu Essen haben wir zu wenig bekommen, und das Essen war nicht gut. Wir hatten Hunger. Ich hatte immer Schmerzen in den Knien. Wir waren ohne Kräfte und sind oft hingefallen. Es war verboten, sich mit Erwachsenen zu treffen. Ich durfte meine Mutter, meinen älteren Bruder und meine Schwester nicht sehen.“12

Nach Kriegsende kehrte die Familie von Anna in die Ukraine zurück. Jedoch ohne die beiden jüngsten Brüder Wassily und Iwan, sie waren in Hohenbrunn gestorben. In noch extremerem Maße waren ausländische Häftlinge, die in Außenlagern des Konzentrationslagers Dachau eingesetzt waren, von der deutschen Monatsberichte des Regierungspräsidenten v. Oberbayern, Dezember 1942, BHStA MA 106671. 12 Brief v. Anna S., Ukraine, 2003.

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Bevölkerung abgeschottet. Im Landkreis München befand sich das Außenlager Ottobrunn. Es wurde im Mai 1944 eröffnet und gehörte zu den größeren Außenkommandos. Zwischen 350 und 600 Häftlinge aus Deutschland, Polen, Italien, der Ukraine, Spanien, Norwegen und den Niederlanden verrichteten Erdarbeiten zum Aufbau der Luftfahrtforschungsanstalt München (LFM). Der Erinnerungsbericht des Italieners Luigi Tosi, der 1944 als Häftling ins Außenlager Ottobrunn kam, gibt Einblick in den Alltag dieses KZAußenlagers. Die Häftlinge waren nach Nationalitäten getrennt in Baracken untergebracht. Sie arbeiteten zwischen neun und elf Stunden täglich. Nach Bombenangriffen wurden sie auch für Aufräumarbeiten eingesetzt. Nachts schliefen sie in den Baracken in Stockbetten aus Holzbrettern, die mit Stroh und einer Decke ausgestattet waren. Die Bewachung war streng. Luigi Tosi erinnert sich an Prügelstrafen durch die SS-Wachmannschaften. Wachtürme und ein Stacheldraht sicherten das Gelände ab. Zur Bevölkerung Ottobrunns bestanden überhaupt keine direkten Kontakte, denn diese wurden von den Wachmannschaften völlig unterbunden. Einige Ottobrunner Bürger, die den abgemagerten Menschen Brot zustecken wollten, legten dieses auf die Straße. Die Häftlinge hoben es dann auf, wenn sie von auswärtigen Arbeitsstätten ins Lager zurückkehrten.13 Während die Zwangsarbeiter in großen Industriebetrieben und KZ-Außenlagern meist kaum Kontakte zur deutschen Bevölkerung, zu Arbeitgebern und deutschen Kollegen oder sogar zu den Zwangsarbeitern anderer Nationalitäten hatten, kam es im Rahmen des Arbeitseinsatzes in kleineren Betrieben oder bei Familien zu größerer Annäherung zwischen Ausländern und Deutschen. Für die Organisatoren des NS-Ausländereinsatzes stellte der Einzeleinsatz eine rassenpolitische Gefahr dar. Darauf verzichten konnten sie aufgrund des akuten Arbeitskräftemangels und vor allem der Bedeutung der Landwirtschaft für die Ernährungssituation jedoch nicht. Die Zwangsarbeiter im landwirtschaftlichen Einzeleinsatz stellten im Landkreis München eine nicht nur zahlenmäßig bedeutende Gruppe. Zu ihnen gehörte auch der eingangs erwähnte Grigoriy aus der Ukraine, der auf einem Bauernhof in Neuried eingesetzt war. Er hatte, wie er sich heute erinnert, auf dem Hof ein eigenes Zimmer, durfte mit der Familie am Tisch sitzen und bekam das gleiche Essen wie die Familienmitglieder.14 Mehrere Beispiele für diese Art von Integration der Zwangsarbeiter in die Hofgemeinschaft existieren für den Landkreis München. Teilweise nahmen die ausländischen Arbeitskräfte sogar eine Position ein, die der von Gesindekräften oder Familienmitgliedern ähnelte.

13

Luigi Tosi: Diario, in: Maurizio Zangarini, (Hg.): Due veronesi nei Lager nazisti. Il diario di Giuseppe Marchi e Luigi Tosi. Mit Beiträgen v. Roberto Bonente/Giuseppe Corrà/Maurizio Zangarini, Verona 2001, S. 59–67. Jürgen Bauer/Martin Wolf/Birgit Schrötter: Vergessen? Verdrängt? Verarbeitet? Hg. v. Stefan Plöchinger, München 1996, S. 111f. 14 Brief von Grigoriy N., Ukraine 2003.

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Relativ häufig lässt sich ein guter Kontakt der Ausländer zu den Kindern ihrer Arbeitgeber beobachten. Beim Abendessen saß der kleine Enkelsohn eines Baierbrunner Bauern auf dem Schoß des französischen Kriegsgefangenen. Die auf dem Fischer-Hof in Putzbrunn eingesetzte Ukrainerin Galina beschäftigte sich viel mit den vier Kindern ihrer Arbeitgeberin, so dass sie „wie eine Schwester“ für diese war.15 Auch im Hinblick auf die Ernährung war der Unterschied im Vergleich etwa zum Einsatz in Industriebetrieben eklatant: Die Zwangsarbeiter erhielten in den landwirtschaftlichen Familienbetrieben von ihren Arbeitgebern in der Regel mehr Lebensmittel als ihnen aufgrund der offiziellen Rationen zustand. Dass sie außerdem mitunter mit der Familie am Tisch aßen, widersprach den Richtlinien zum Einzeleinsatz, wie sie ein Merkblatt zur „Aufklärung der deutschen Bevölkerung“ wiedergibt: „Die Polen gehören nicht zur deutschen Volksgemeinschaft. Wer sie wie Deutsche behandelt oder gar noch besser, der stellt seine eigenen Volksgenossen auf eine Stufe mit Fremdrassigen. […] Lasst Polen nicht mit an Eurem Tisch essen! Sie gehören nicht zur Hofgemeinschaft, noch viel weniger zur Familie. Ihr sollt ihnen zwar genügend zu Essen geben, sie sollen aber getrennt von Euch essen.“16

Auch die Mobilität der in der Landwirtschaft eingesetzten Zwangsarbeiter war nicht immer so eingeschränkt, wie es die Arbeitseinsatzbehörden vorgaben. Viele Ausländer pflegten Kontakte untereinander und z. T. auch zur einheimischen Bevölkerung. Grigoriy berichtete, dass er am Wochenende ab und zu allein nach München in den Zoo oder auf einen Jahrmarkt fahren durfte – also am öffentlichen Leben teilnahm.17 Wer ausländische Arbeitskräfte gut behandelte, in die Haus- oder Hofgemeinschaft aufnahm oder freundschaftliche Beziehungen pflegte, tat dies aus individuellen Beweggründen privater, humanitärer, religiöser oder politischer Natur. Verbindungen, die aus solchen Motiven entstanden waren, überdauerten teilweise auch das Kriegsende. In manchen Fällen fanden später sogar gegenseitige Besuche statt.18 Eine gute Versorgung der Zwangsarbeiter hatte jedoch nicht überwiegend menschliche Gründe, sondern war häufig zweckorientiert und geschah aus wirtschaftlichen Überlegungen heraus. So kam es beispielsweise zwischen ausländischen und deutschen Arbeitskräften in Betrieben in Einzelfällen zu Solidarisierungen, wenn es galt, gemeinsame Ziele – etwa bei der Akkord15

Zeitzeugengespräch mit Sofie Spenger, Garching, 12. Oktober 2003; Zeitzeugengespräch mit H.F., Baierbrunn, 26. August 2003; Roswitha Grosse: Immer wenn Galina Heimweh hatte, in: Neueste Nachrichten der Süddeutschen Zeitung, Ausgabe Landkreis München, 11. Juni 2001; Chef der Sicherheitspolizei und des SD: Amt III: Meldungen aus dem Reich, Nr. 325, 12. Oktober 1942, BArch R 58 176, merkte kritisch an, dass Kriegsgefangene an Familienunterhaltungen teilhatten. 16 Merkblatt zur Aufklärung der deutschen Bevölkerung, STAM Arbeitsämter 880. 17 Brief von Grigoriy N., Ukraine 2003. 18 Z. B. Besuch des ehemaligen französischen Kriegsgefangenen Simon bei der Familie seines Arbeitgebers 1978, Zeitzeugengespräch mit Elfriede Frühbeis, Deisenhofen, August 2003.

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arbeit – zu erreichen. Dann teilten die deutschen Kollegen ihre Essensration mit den Ausländern oder unterstützten sie auf andere Weise.19 Ein Beispiel aus der Forstwirtschaft zeigt, dass sich ein Arbeitgeber, der Forstmeister Josef Sterr, vehement für bessere Ausstattung der bei ihm eingesetzten Kriegsgefangenen mit Arbeitskleidung sowie für eine bessere Versorgung mit Lebensmitteln einsetzte. Doch auch sein Verhalten war eher der Sorge um die Arbeitsleistung als um das Wohl der Menschen geschuldet. In seinem Antrag auf bessere Ausstattung für die Arbeiter schlug er vor, Schuhe bevorzugt an diejenigen auszuteilen, die gute Leistung erbrachten und zeigten, dass sie sich „um den Erhalt ihrer Gesundheit und Arbeitsfähigkeit“ bemühten.20 Zahlreiche und vielfältige Beispiele aus dem Landkreis München zeigen, dass sich der „Ausländereinsatz“ in der Praxis verselbstständigte und die rassenideologisch motivierten Vorgaben an Grenzen stießen. Vor allem in landwirtschaftlichen Privatbetrieben fand eine weitaus größere Annäherung zwischen den ausländischen Arbeitskräften und den deutschen Arbeitgebern statt, als das vom Regime vorhergesehen und erwünscht war. Damit stützt auch die Untersuchung über den „Ausländereinsatz“ im Landkreis München die These, dass ausländische Zwangsarbeiter oftmals dort, wo ein persönliches Verhältnis zum Arbeitgeber bestand, eine bessere Behandlung als in anonymen Lagern oder Industriebetrieben erfuhren.

Beziehung zur Dorfgemeinschaft Von Interesse war im Hinblick auf das ländlich geprägte Untersuchungsgebiet auch die Stellung der ausländischen Zwangsarbeiter innerhalb des sozialen Gefüges der Dorfgemeinschaft. Ihre Präsenz selbst war in den allermeisten Fällen unübersehbar, in den Familien und Betrieben nahmen sie teilweise – je nach dem Verhältnis zum Arbeitgeber – eine wichtige Rolle ein. Doch waren sie auch im Gemeinwesen mehr als nur „vorhanden“ – erhielten sie einen Platz in der Gemeinschaft? Was die offiziellen Vorgaben anbelangte, zielte die Politik der Nationalsozialisten darauf ab, die Zwangsarbeiter aus dem gesellschaftlichen Leben auszuschließen. Dazu gehörte zum einen die getrennte und überwachte Unterbringung. Doch während dies bei den „Ostarbeiterlagern“ weitgehend durchgesetzt wurde, lockerte sich etwa die Bewachung der französischen Kriegsgefangenen in den Ortsgemeinden zusehends, so dass sich die Franzosen relativ frei im Ort bewegen konnten und sich ihre Chancen auf Teilhabe 19

Chef der Sicherheitspolizei und des SD: Amt III: Meldungen aus dem Reich, Nr. 334, 12. November 1942, BArch R 58 177; Präsident des Landesarbeitsamts Bayern, Oberregierungsrat Hertel, an Reichsarbeitsminister, 21. März 1942, StAM Arbeitsämter 762. 20 Forstamt Sauerlach, Forstmeister Sterr an Kreisbauernschaft, Abt. A in München, 11. Juni 1943, StAM Forstämter 8306.

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in der Gemeinde erhöhten. Dennoch waren auch sie von bestimmten Bereichen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen. So wurde etwa ihr Besuch von Gasthäusern reglementiert. Sie durften diese nur zu bestimmten Zeiten aufsuchen oder nur bestimmte Räume benutzen, damit es nicht zu Kontakten mit der deutschen Bevölkerung kam. Ähnliches galt für die anderen Volksgruppen: Tische wurden mit Schildern „Nur für Polen“ versehen. In der Gemeinde Haar durften Polen laut Verordnung des Bürgermeisters nur in einem bestimmten Gasthaus verkehren.21 Ob und in welchem Maße Reglementierungen gegenüber Zwangsarbeitern in den Ortsgemeinden Durchsetzung fanden, hing in hohem Maße von den Lokalgrößen – Bürgermeister, Ortsbauernführer und lokale Gendarmerie – ab. Zwei Extreme lassen sich in den Gemeinden nachweisen. So ließ etwa der Unterhachinger Bürgermeister Josef Prenn den Zwangsarbeitern viel Freiheit und sah häufig von Bestrafungen ab.22 Dagegen setzte sich der Bürgermeister in Planegg energisch für die Umsetzung der offiziellen Richtlinien ein und ermahnte einzelne Familien, Gastwirte und Arbeitgeber schriftlich, mehr Abstand zu den Zwangsarbeitern zu halten.23 Verbindendes Element zwischen den ausländischen Arbeitern und der deutschen, dörflichen Bevölkerung konnte der Glaube sein. Die konfessionelle Zugehörigkeit überlagerte im Denken der Einheimischen oftmals die rassenideologischen Vorgaben. Vor allem die Verbindung zwischen Geistlichen und Laien der katholischen Kirche und den Zwangsarbeitern, insbesondere den katholischen Polen, wurde von den Parteidienststellen zunehmend als Problem empfunden. Priester mancher Landkreispfarreien hielten Messen speziell für Polen ab. Im Landkreis München fanden im Rahmen der von der NS-Führung tolerierten Seelsorge in Unterföhring und in Arget nachweislich ein Mal im Monat spezielle Messen für Polen statt. Auch Taufen und Beerdigungen sowie christliche Feiertage wurden zum Teil gemeinsam in den Gemeinden begangen. Obwohl es ihnen untersagt war, besuchten polnische Arbeitskräfte darüber hinaus allgemeine Gottesdienste und traten dabei mit Deutschen in Kontakt.24 Beerdigungen von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen fanden im Beisein der Ortspfarrer auf den Gemeindefriedhöfen 21

Richtlinien für den Gasthausbesuch polnischer Arbeitskräfte, GA Haar A 161/2. Bestätigung v. Anton L., 3. Oktober 1948, StAM Spk K 1350. Auf einer Lagerführertagung 1944 war das Verhalten Bürgermeister Prenns gegenüber Ausländern thematisiert worden und hatte Entrüstung hervorgerufen. 23 Bürgermeister v. Planegg an Emeran B., 10. April 1940, GA Planegg 1197; Bürgermeister v. Planegg an den Leiter der Arbeitsamtsnebenstelle München-Pasing, 22. November 1944, GA Planegg 3073. 24 Katholisches Pfarramt Unterföhring, Seelsorgsbericht 1944, 30. Januar 1945, AEM Ordinariat Seelsorgsberichte Nr. 50 Dekanat München Nordost, Unterföhring; Katholisches Pfarramt Arget, Seelsorgsbericht 1944, 20. Februar 1945, AEM Ordinariat Seelsorgsberichte Nr. 130 Dekanat München Land, Arget; Katholisches Pfarramt Haar, Seelsorgsbericht 1944, 11. Januar 1945, AEM Ordinariat Seelsorgsberichte Nr. 41 Dekanat München Nordost, St. Konrad, Haar. 22

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statt. An der Beisetzung eines tschechischen Kindes in Baierbrunn nahmen auch Personen aus dem Dorf Anteil.25 Der gemeinsame Glaube konnte die deutsche Bevölkerung und die katholischen Ausländer verbinden. Der Kampf des Nationalsozialismus gegen die katholische Kirche scheint diese Einheit noch verstärkt zu haben. So hielten bäuerliche Arbeitgeber wie Ausländer entgegen dem Verbot der NS-Führung an den christlichen Feiertagen fest. Eine ehemalige Zwangsarbeiterin aus der Ukraine berichtete, dass sie an hohen Feiertagen sogar kleine Geschenke von ihrem Arbeitgeber erhielt.26 So konnte die Zugehörigkeit zur katholischen Glaubensgemeinschaft die Stellung von Zwangsarbeitern verbessern, vor allem die ansonsten stark diskriminierte Gruppe der Polen hatte auf diese Weise vielfach Kontakt zu den Einheimischen.27

Liebesbeziehungen Regelwerk und Organisatoren des „Ausländereinsatzes“ taten alles, um den Kontakt zwischen Deutschen und Zwangsarbeitern so gering wie möglich zu halten. Dennoch entstanden aus den Begegnungen, die zwischen Deutschen und Zwangsarbeitern am Arbeitsplatz oder in der Dorfgemeinschaft stattfanden, vereinzelt auch Liebesbeziehungen. Diese waren aus rassenideologischen Gründen höchst unerwünscht. Die Beziehungen fielen unter den Tatbestand des „verbotenen Umgangs“ und standen unter hoher Strafe. Wenn Beziehungen – entweder durch gezielte Denunziation oder durch Klatsch und Tratsch im Dorf – aufflogen, wurden sie aktenkundig. So lassen sich anhand der Akten des Sondergerichts München zahlreiche Verfahren verfolgen. Die dokumentierten Fälle betrafen überwiegend deutsche Frauen und französische Kriegsgefangene. Überliefert ist die Geschichte von Anna, die bei der Feldarbeit auf dem landwirtschaftlichen Betrieb ihrer Eltern in Brunnthal den französischen Kriegsgefangenen Louis kennenlernte. Die Liebesbeziehung zwischen den beiden blieb lange unentdeckt, doch 1944 wurde Anna schwanger und musste sich vor dem Sondergericht verantworten. Sie erhielt eine Gefängnisstrafe von einem Jahr und drei Monaten. Louis erhielt als Kriegs25

Vgl. z. B. Matrikelbuch: Feldkirchen St. Jakobus Bd. 2, Taufen 1927–1950 und Matrikelbuch: Pullach Heilig Geist Bd. 3, Sterbefälle 1912–1984; Seelsorgsbericht 1944 der Pfarrei Sauerlach, 30. Januar 1945, EMA, Nr. 139 Dekanat München Land: Sauerlach; Zeitzeugengespräch mit H.F., Baierbrunn, 26. August 2003. 26 Monatsberichte des Regierungspräsidenten v. Oberbayern, Juni 1942, BHStA MA 106671; Theresia Bauer: Nationalsozialistische Agrarpolitik und bäuerliches Verhalten im Zweiten Weltkrieg. Eine Regionalstudie zur ländlichen Gesellschaft in Bayern, Frankfurt a. M. 1996, S. 170f; Brief v. Olga K., 7. November 2003, Ukraine. 27 Auf diese Thematik geht ein weiterer Aufsatz dieses Bandes ein, vgl.: John J. Delaney: Rassistische gegen traditionelle Werte. Priester, Bauern und polnische Zwangsarbeiter im ländlichen Bayern, S. 217–238.

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gefangener einen Prozess vor dem Militärgericht und wurde zu einer Haftstrafe von vier Jahren verurteilt.28 Sexuelle Beziehungen ausländischer Frauen mit deutschen Männern aus dem Landkreis München sind in den zugänglichen Gerichtsakten nicht vertreten, es gab sie jedoch, wie Eintragungen unehelicher Geburten in den Pfarrmatrikeln und UNRRA-Listen zeigen.29 Beziehungen sowjetischer und polnischer Arbeitskräfte zu Deutschen fielen in den Zuständigkeitsbereich der Gestapo. Den ausländischen Zwangsarbeitern drohte die Einweisung ins Konzentrationslager oder die Hinrichtung. Eine Gerichtsverhandlung, die ihren Niederschlag in den Akten gefunden hätte, fand also nicht statt. Die Überlieferung der Gestapodienststelle in München ist verloren. Einzelne Nachweise über entsprechende uneheliche Geburten beweisen jedoch, dass es im Landkreis trotz des erheblichen Risikos auch Liebesbeziehungen von Zwangsarbeitern dieser Ausländergruppen mit Deutschen gab.30 Propaganda, Belehrungen und Strafen verhinderten offenbar nicht, dass Liebesverhältnisse zwischen Deutschen und Ausländern entstanden. Bis kurz vor Kriegsende beklagte der Sicherheitsdienst die Beziehungen zwischen Deutschen und Ausländern. Angesichts der Charakteristika des „Ausländereinsatzes“ – Unentbehrlichkeit der Ausländer als Arbeitskräfte, die große Zahl und der enge Kontakt zu deutschen „Volksgenossen“ vor allem am Arbeitsplatz – schien dies unausweichlich zu sein. Die Beobachtungen aus dem Landkreis München machen deutlich, dass die Regulierungen und Vorschriften der Nationalsozialisten, auch unter Androhung der härtesten Strafe, in so privaten Bereichen wie der Beziehung zwischen Mann und Frau oder auch der Stellung in der Familie keine vollständige Durchsetzung fanden. In vielen Bereichen scheiterte die Gratwande-

28

Urteil des Sondergerichts gegen Anna K., 5. Januar 1945, StAM Staatsanwaltschaften 13856; Louis D. und Anna K. an Ministerpräsidenten des Staates Bayern, 4. Oktober 1945, StAM Staatsanwaltschaften 13856. 29 Als Beispiele: Geburt der Christine W., 6. April 1942, Landkreis München, Gemeinde Gräfelfing, Aufenthalt v. Ausländern in der Gemeinde, Kat. II., Form. 6, Polen, 15. August 1948, LRA München 178057; Geburt der Gertraud D., 1. Juli 1941, Landkreis München, Gemeinde Kirchheim und Poing, Aufenthalt v. Ausländern in der Gemeinde, Kath. Pfarramt Kirchheim, Kat. II, Form. 6, Polen, 3. März 1948, LRA München 178057; Geburt der Pierette A., 1. Juni 1945, Landkreis München, Gemeinde Planegg, Aufenthalt v. Ausländern in der Gemeinde, Kat. II, Form. 6, Franzosen, 14. August 1946, LRA München 177329; Geburt des Ludwig D., 20. Oktober 1941, Landkreis München, Gemeinde Unterhaching, Aufenthalt v. Ausländern in der Gemeinde, Kat. II, Form. 6, Franzosen, 6. August 1946, LRA München 177329; Geburt des Engelbert G., 25. Juli 1945, Landkreis München, Gemeinde Oberschleißheim, Aufenthalt v. Ausländern in der Gemeinde, Kat. II, Form. 6, Bulgaren, LRA München 177082. 30 Vgl. ebd.

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rung zwischen Rassenideologie und Nützlichkeitskalkül. So war etwa der Einzeleinsatz wirtschaftlich unabdingbar, machte aber auch die Überwachung bis in den letzten Hof unmöglich. Und tradierte dörfliche Verhaltensmuster, die auf die Zwangsarbeiter übertragen wurden, oder der gemeinsam praktizierte Glaube haben rassenideologische Vorschriften überlagert. Dennoch dürfen diese Beispiele der Annäherung nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch im landwirtschaftlich geprägten Landkreis München Unterdrückung, Ausbeutung und Not der Zwangsarbeiter überwogen. Besonders deutlich wurde dies dann, wenn in einem Lebensbereich beispielsweise durch Krankheit oder Schwangerschaft eine zusätzliche Belastung auftrat, oder wenn Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ins Räderwerk der NS-Justiz gerieten.

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Rassistische gegen traditionelle Werte Priester, Bauern und polnische Zwangsarbeiter im ländlichen Bayern Anstoß für die vorliegende Studie war die Beschäftigung mit einer Abweichung von der Norm: der Weigerung bayerischer katholischer Bauern, sich durch die NS-Propaganda vorschreiben zu lassen, wie sie mit polnischen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen umgehen sollten, die während des Zweiten Weltkriegs nach Bayern gebracht wurden, um den Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft auszugleichen. Die Anregung zur Beschäftigung mit dieser Normabweichung stammt von dem britischen Historiker Ian Kershaw, der in einer Untersuchung über Einstellungen und Meinungskonflikte im Nationalsozialismus eher beiläufig darauf hingewiesen hat, dass kleinere Bauern Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter menschlich behandelt hätten. Diese Randbemerkung weckte mein Interesse an dem Thema.1 Ursprünglich gingen die meisten Forscher davon aus, dass die NS-Propaganda sowohl Einstellungen als auch Verhalten der Deutschen sehr effektiv verändert habe. Zu anderen Ergebnissen kamen neben Kershaw vor allem zwei Forscher: William Sheridan Allen und Edward N. Peterson.2 Ausgehend von diesen Grundlagenstudien widmete ich mich der Frage, welche Faktoren zu einer gewissen Immunität der bayerischen Bauern gegenüber der NS-Propaganda beigetragen haben. Meine Untersuchungen wiederum verweisen auf die Besonderheiten des bäuerlich-katholischen Milieus in Bayern. Anders als die katholische Kirche, die nach 1933 nicht durch widerständiges Verhalten aufgefallen ist, verweigerten sich Teile der katholischen Landbevölkerung den nationalsozialistischen Veränderungen, darunter auch den Behandlungsvorschriften für ausländische Zwangsarbeiter. Historiker wie Günter Lewy, Hans Michael Müller und andere sind der Überzeugung, dass die katholische Kirche als Institution den Nationalsozialismus nur dort bekämpft hat, wo es um die Autorität der Kirche und das eigene Überleben ging. Sie habe institutionelle Eigeninteressen über die moralische Verpflichtung gegenüber den eigenen Glaubens-

1

Ian Kershaw: Popular Opinion and Political Dissent in the Third Reich, Bavaria 1933–1945, Oxford 1983, S. 287–288. 2 William Sheridan Allen: Kristallnacht: Value Hierarchies vs. Propaganda, in: Lyman H. Legters (Hg.): Western Society after the Holocaust. Boulder/Colorado 1983, S. 69–82, 98–106. Edward N. Peterson: The Limits of Hitler’s Power, Princeton 1969. Hinzu kam später noch David Welch: The Third Reich: Politics and Propaganda, London 1993.

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grundsätzen gestellt.3 Später ergänzten Donald J. Dietrich und andere, dass das Verhalten der Kirchenoberen sich häufig von dem der Priester und Laien in den Gemeinden unterschied.4 Für Letzteres lassen sich viele Beispiele und Belege katholischer Verweigerung gegenüber den NS-Praktiken anführen. Woher rühren diese unterschiedlichen Verhaltensweisen? Lewy und andere führten soziale und kulturelle Aspekte an, um die Haltung der Kirchenoberen zu erklären: Die meisten der Bischöfe kamen aus der Oberschicht, waren politisch konservativ eingestellt – und nationalistisch. Im Gegensatz dazu waren die meisten der ländlichen Katholiken in Bayern Bauern mit kleinen Höfen, entstammten also unteren sozialen Schichten, sie waren lokal verwurzelt und nicht in erster Linie nationalistisch eingestellt. Ihr Charakter wurde geprägt durch das ländliche Leben. Der Zusammenhalt einer eng miteinander verwobenen Gemeinschaft begründete einen stark ausgeprägten Gemeinsinn. Ein Bauer, der sich von seinen Nachbarn absonderte oder entfremdete, zum Beispiel durch eine Verletzung der geltenden Regeln, gefährdete seine Existenz, zumindest aber seine Zugehörigkeit zu den ihn umgebenden gesellschaftlichen Milieus. Dieser soziale Druck erzeugte einen starken inneren Zusammenhalt. Hinzu kommt die kulturelle Entwicklung des Katholizismus – in einer besonders tiefgreifenden Art und Weise – als eines spezifischen Charakteristikums der bayerischen Landbevölkerung. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang das Zusammenspiel von formeller katholischer Lehre, die beinahe ausschließliche Vorherrschaft der Dorfkirche als kultureller Institution in kleineren Gemeinden und die Art und Weise, wie ethische und religiöse Orientierung bei bestimmten Themen untermauert und bekräftigt wurde. Dieses Zusammenspiel galt leider nicht für alle Lebensbereiche und Personengruppen. Zum Beispiel bezog es sich nicht auf Juden oder Sozialdemokraten. Dort aber, wo es zur Anwendung kam, wie im Falle der polnischen Katholiken, war es sehr wirksam, bzw. wurde es – wie später zu sehen sein wird – unter der Führung einzelner Priester wirksam gemacht. Meine zentrale These ist, dass Teile der katholischen Bevölkerung in den ländlichen Gegenden Bayerns eine „Sub-Culture“ entwickelt haben. Die Mitglieder dieser Untergruppe bezeichne ich im Folgenden als „Sub-Community“. Es soll nicht darum gehen zu zeigen, dass sich alle bayerischen 3

Guenter Lewy: The Catholic Church and Nazi Germany, New York 1964; Hans Michael Müller (Hg.): Katholische Kirche und Nationalsozialismus: Dokumente, München 1963. 4 Donald J. Dietrich: Catholic Citizens in the Third Reich: Psycho-Social Principles and Reasoning, New Brunswick 1988; ders.: Catholic Resistance in the Third Reich, in: Holocaust and Genocide Studies 3, 2 (1988), S. 171–186; ders.: Human Rights and the Catholic Tradition, New Brunswick 2007; siehe auch Walter Rinderle/Bernard Nordling: The Nazi Impact on a German Village, Lexington/Kentucky 1993, S. 116–181 und schließlich Kevin P. Spicer: Resisting the Third Reich: The Catholic Clergy in Hitler’s Berlin, Dekalb/Illinois 2004.

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Bauern gleichermaßen gegenüber den polnischen Landarbeitern positiv verhielten, weil das nachweislich nicht der Fall war. In protestantisch geprägten Regionen Bayerns zum Beispiel zeigen die überlieferten Quellen keine vergleichbare Ablehnung oder Nicht-Anpassung gegenüber der Rassenpolitik der Nationalsozialisten. Darüber hinaus muss darauf hingewiesen werden, dass es durchaus auch katholisch-ländliche Gegenden gab, wo die Sub-Culture, bzw. die Sub-Community nicht im eben skizzierten Umfang funktionierte. In einigen Regionen, in denen der Bayerische Bauernbund die Bayerische Volkspartei (BVP) verdrängt hatte, kam es später zu deutlich größeren Wahlerfolgen der NSDAP.5 Es stellt sich also die Frage, wer zur Sub-Community gehörte und wer nicht.6 Auch wenn dieses analytische Konstrukt, das die Zugehörigkeit zur Sub-Community definiert, noch einer Präzisierung bedarf, ist es als ein erstes Hilfsmittel für einen Zugriff auf die genannte Problematik geeignet. Diese Gruppe mag nicht quantifizierbar sein, dennoch ist sie keine zu vernachlässigende Größe und in ihrer qualitativen Bedeutung entscheidend. Bewohner kleinerer Dörfer und vieler allein liegender Höfe in der Umgebung waren Teil dieser Sub-Community – im Gegensatz zu Einwohnern kleinerer Städte und ihrer Einzugsgebiete. Ein Grund liegt in den unterschiedlich wirkenden sozialen Mechanismen. Zugezogene aus anderen Regionen hingegen gehörten im Allgemeinen nicht dazu – mit Ausnahme derer, die in einheimische Familien einheirateten. Praktizierende Katholiken gehörten dazu. Dies waren Dorfbewohner, die regelmäßig in die Kirche gingen, religiöse Feiertage einhielten, gelegentlich an Wallfahrten teilnahmen und die ihre Häuser und Höfe mit religiösen Kunstgegenständen schmückten, um nur einige der Unterscheidungsmerkmale zu nennen. Nicht-Katholiken und solche, die es nur auf dem Papier waren, zählten nicht dazu. Personen, die während der Weimarer Republik die BVP gewählt hatten, gehörten dazu. Diese politische Gruppierung, die stärkste im ganzen Land, hatte ihren größten und loyalsten Rückhalt in ländlichen Gebieten. Ihre Aufgabe sah die BVP vor allem darin, katholische Interessen zu wahren und die Rechte der Kirche zu schützen sowie eine Aufweichung der föderalen Eigenstaatlichkeit Bayerns zu vermeiden. 5 Ian Farr: Peasant Protest in the Empire – The Bavarian Example, in: Robert G. Moeller (Hg.): Peasants and Lords in Modern Germany, Boston 1986, S. 110–139; ders.: Populism in the Countryside: The Peasant Leagues in Bavaria in the 1980s, in: R. J. Evans (Hg.): Society and Politics in Wilhelmine Germany, London 1978, S. 136–159. Siehe auch Kim R. Holmes: The NSDAP and the Crisis of Agrarian Conservatism in Lower Bavaria: National Socialism and the Peasants’ Road to Modernity, New York 1991. 6 Lesern, die sich über dieses Thema näher informieren möchten, sei die Lektüre der entsprechenden Kapitel in meiner Dissertation empfohlen, zu finden in der Bayerischen Staatsbibliothek: John J. Delaney: Rural Catholics, Polish Workers, and Nazi Racial Policy in Bavaria, 1933–1945, Ann Arbor 1995.

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Die Gläubigen, Gemeinde-Priester, Mitglieder religiöser Gemeinschaften sowie möglicherweise Nonnen, die zumindest zeitweise in Dörfern als Krankenschwestern oder Erzieherinnen arbeiteten, gehörten dazu. Höherrangige Vertreter der Kirche waren nicht Teil der Sub-Community. Ihre Loyalität setzte andere Schwerpunkte. Kleine Bauern, Landarbeiter mit festem Wohnsitz (im Gegensatz zu umherziehenden Wanderarbeitern), Wirtsleute und einige Handwerker wie z. B. Schmiede gehörten dazu. Problematisch ist im Fall der Bauern die nicht trennscharfe Definition der bäuerlichen Betriebsgröße. Mittelständische Berufe wie Veterinäre, Ärzte, Viehhändler, Landmaschinenhändler, Saatgut- und Dünger-Händler und vergleichbare Berufsgruppen gehörten nicht dazu. Ebenso wenig Verwaltungsbeamte und -angestellte, Polizisten und Lehrer. Im Endeffekt ist die Messgröße für die Zugehörigkeit zur Sub-Culture recht einfach zu benennen: Diejenigen, die Polen in bayerischen Dörfern mit katholischer Bevölkerung anständig behandelten, gehörten zur Sub-Community. In bayerischen katholischen Dörfern waren die, die dazu gehörten, in der überwiegenden Mehrheit. Zwar ist die Kategorie „Sub-Community“ nur ein analytisches Konstrukt, denn kein Mitglied dieser Gruppe trug ein Abzeichen oder hatte einen Mitgliedsausweis, um seine Zugehörigkeit zu dokumentieren, aber die nähere Betrachtung mithilfe dieses Konstrukts hilft uns, Einstellungen und Verhaltensweisen eines bestimmten Personenkreises nachzuvollziehen. In jedem Fall ist es wichtig zu bedenken, dass die Zugehörigkeit zur Sub-Community auf einzelne Personen in bestimmten Orten unter besonderen Rahmenbedingungen beschränkt war. Viele dieser Rahmenbedingungen sind subjektiv. Per Definition schlossen diese Bedingungen „NichtBayern“ aus, die keine prägenden Erfahrungen in der Sub-Community gemacht haben, ebenso „Nicht-Dorfbewohner“, die nicht im Ort gelebt hatten oder dort ständig lebten und sich im Milieu des bäuerlichen Zusammenhalts bewährt hatten. Ausgeschlossen waren auch „Nicht-Katholiken“, für die ihre religiöse Zugehörigkeit nicht identitätsstiftend war. Im Folgenden möchte ich einige Bedingungen beschreiben, unter denen die Sub-Culture wuchs und blühte. Eine deutliche Einflussgröße war der bayerische Partikularismus, der mit dem Aufkommen einer modernen Staatlichkeit zu einer markanten Größe wurde.7 Natürlich gab es auch in Bayern Befürworter einer Vereinigung mit dem Deutschen Reich. Und es gab auch bayerische SPD-Mitglieder, die mit der katholischen Kirche gebrochen hatten oder bayerische Liberale, die den Kulturkampf befürworteten. Allerdings waren diese in katholisch-ländlichen Gebieten deutlich in der Minderheit. Gerade hier fand die Sub-Culture ihre signifikantesten Ausprägungen. Entscheidende Faktoren für die Vorherrschaft der Sub-Culture vor allem in den Gegenden Altbayerns waren ein politisch gelebter Katholizismus und eine grundsätzliche Ablehnung des Nationalsozialismus. Leider verbietet es 7

Ebd., S. 17–59.

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der begrenzte Rahmen dieses Essays, an dieser Stelle detaillierter auf die besonderen Formen des bäuerlich-katholischen Widerstands einzugehen. Die geografischen und ökonomischen Unterschiede im ländlichen Bayern, die religiöse Strukturierung Bayerns und die damit verbundenen diversen Reaktionen auf den Nationalsozialismus vor und nach der „Machtergreifung“ Hitlers habe ich in einer früheren Veröffentlichung detailliert beschrieben.8 In weiteren Publikationen finden sich darüber hinaus aufschlussreiche Beschreibungen der öffentlichen Bekenntnisformen im religiösen Vereinsleben (durch Wallfahrten u.ä.). Hierzu gehört auch die Privatsphäre der Höfe, wo sich Religiosität und Volksfrömmigkeit oft in einer üppigen, auch nach außen gewandten Dekoration mit christlichen Motiven und Devotionalien niederschlug. Die oben von mir aufgeführten Hintergrundinformationen beruhen zu einem Großteil auf den Forschungen von Kershaw and Robert Gellately.9 Durch ihre bahnbrechenden Studien wurden Quellen erschlossen, die auch für meine Fragestellung von großer Bedeutung sind wie etwa das amtliche Berichtswesen und vollständige Gestapo-Akten. Derartige Monografien sind von enormem Wert für die Forschung. Jedoch bewegten sich Kershaw und Gellately in einem eigenen Forschungskontext und achteten daher weniger auf ergänzende Quellen wie etwa die Berichte des Sicherheitsdienstes (im Falle von Kershaw) oder vollständige Gestapo Akten (im Falle von Gellately). Kershaw war in erster Linie an der Erforschung der öffentlichen Meinung interessiert und beleuchtete das Verhalten gegenüber den polnischen Arbeitern nur unter diesem Blickwinkel. Gellately hingegen wollte herausfinden, wie die Gestapo funktioniert hat – mit besonderem Fokus auf die Funktion der Denunziation. Daher untersuchte er die Fälle, in die Polen verwickelt waren mehr mit Blick auf die Vorgehensweise und Methoden der Gestapo. Mich hingegen interessieren insbesondere die bayerisch-polnischen Beziehungen an sich, und ich habe entsprechende Quellen und Teile von Gestapo-Akten dahingehend ausgewertet. Gellatelys Arbeiten waren von großem Nutzen für meine Untersuchungen. Auch wenn sie mein Thema nur am Rande streiften, gibt es zum Teil unvermeidliche Überschneidungen. Darüber hinaus war die Pionierarbeit des deutschen Historikers Anton Grossmann sehr wertvoll für mich. Er sammelte Material zur Erfahrungswelt der Zwangsarbeiter – unter ihnen auch Polen – in der bayerischen Industrie und der Landwirtschaft.10 Seine hervorragende Sozialgeschichte der Zwangsarbeit 8 Ebd., S. 60–128. Siehe dazu auch Ian Kershaw: Popular Opinion and Political Dissent in the Third Reich, Bavaria 1933–1945, Oxford 1983, S. 1–29. 9 Robert Gellately: The Gestapo and German Society: Enforcing Racial Policy 1933–1945, New York 1991, paperback with corrections. 10 Anton J. Grossmann: Fremd- und Zwangsarbeiter in Bayern 1939–1945, in: Klaus J. Bade (Hg.): Auswanderer – Wanderarbeiter – Gastarbeiter: Bevölkerung, Arbeitsmark und Wanderung in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Bd. 2., Ostfildern 1984, S. 584–619; ders.: Fremd- und Zwangsarbeiter in Bayern 1939–1945, in: Viertel-

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verfolgt einen vorwiegend sozioökonomischen Ansatz. Meine Forschungsperspektive ist hingegen deutlich sozial- und mentalitätsgeschichtlich motiviert. Daher ergänzen sich unsere Arbeiten. Meine Beiträge stützen sich zum Großteil auf Akten der Gestapo und auf Überwachungsberichte des Sicherheitsdienstes (SD), zu einem geringeren Teil auch auf Dokumente der NSDAP sowie auf die zahlreichen Monatsberichte aus der Verwaltung (Staatsministerium des Innern, Ministerpräsident, Landräte, Agrarexperten und Gendarmerie).11 Meine Forschungsarbeiten machen deutlich, dass die auffällige Widerständigkeit in ländlich-bäuerlichen Gemeinschaften im Wesentlichen auf überlieferten katholischen Werten beruhte, die in dieser Sub-Culture und Sub-Community gelebt wurden und die in einer tiefen historischen Tradition wurzelten. Gestützt und gefördert wurde diese widerständige Kraft der Werte durch eine stark wirksame klerikale Führung, die im ländlichen Milieu aufgrund lokal verwurzelter und einflussreicher Pfarrer bis in das Jahr 1945 lebendig und wirkungsstark blieb.12 Die Wirkungskraft und Kontinuität des überlieferten Wertesystems wurde auch durch signifikante Negativstrukturen für das Regime und die Nazis vor Ort im ländlichen katholischen Bayern gewährleistet. So hatte die NSDAP in Gebieten, in denen die Sub-Communities über eine hohe Akzeptanz und solide Strukturen verfügten, mit erheblichen Nachteilen durch eine relativ schwache Organisation zu kämpfen. Beispielsweise bot die große Zahl kleinerer und mittlerer Bauernhöfe in Familienbesitz kaum Ansatzpunkte zur Denunziation, wenn es um die verbotene Integration in die Familie durch Tisch- und Hausgemeinschaften ging. Die Bauern konnten relativ frei schalten und walten und ihre Zwangsarbeiter so behandeln, wie sie es für richtig hielten. Für die Repräsentanten der Sub-Culture zählten in erster Linie die traditionellen katholischen Werte und die Ansicht der Dorfpfarrer, die keinen Zweifel daran ließen, dass Polen vor allen Dingen katholische jahrshefte für Zeitgeschichte 34, 4 (1986), S. 481–521; ders.: Polen und Sowjetrussen als Arbeiter in Bayern 1939–1945, in: Archiv für Sozialgeschichte 24 (1984), S. 355–397. Hier wie in früheren Studien wertete ich Quellen aus, die auch Grossmann in München, Landshut und Würzburg benutzt hat. Ergänzend zu den Arbeiten Grossmanns und des Autors, allerdings mit Fokus auf das angrenzende Württemberg, ist die kürzlich erschienene und beeindruckende Studie von Jill Stephenson zu nennen: Hitler’s Homefront. Während Grossmann einen sozioökonomischen und der Autor einen sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Ansatz vertreten, beleuchtet Stephenson das deutsch-polnische Verhältnis in ländlichen Gebieten unter dem Gender-Aspekt. Jill Stephenson: Hitler’s Home Front: Württemberg under the Nazis, London/New York 2006, S. 263–290. 11 Wertvolle Anregungen verdanke ich in diesem Zusammenhang Donald J. Dietrichs kritischen Anmerkungen zum Problem der Auswertung von SD Berichten. Siehe Donald J. Dietrich: Catholic Citizens in the Third Reich: Psycho-Social Principles and Reasoning, New Brunswick 1988, S. 263. 12 John J. Delaney: Racial Values vs. Religious Values: Clerical Opposition to Nazi Anti-Polish Racial Policy, in: Church History: Studies in Christianity and Culture 70, 2 (June 2001), S. 271–294.

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Glaubensbrüder waren und keine slawischen „Untermenschen“, wie von der NS-Propaganda suggeriert.13 Dazu kam, dass es in der bayerischen Landwirtschaft durchaus üblich war, Saisonarbeiter einzusetzen. Diese schon in früheren Zeiten des Arbeitskräftemangels erprobten und bewährten Methoden des Wirtschaftens waren der Landbevölkerung näher als das rassistische Regelwerk der Nationalsozialisten. Für die traditionsbewussten Bauern war dieser umfangreiche und bürokratische Katalog aus Verordnungen und Richtlinien ungeeignet, um die bedrohlichen Folgen des Arbeitskräftemangels in einem für sie positiven Sinne zu regulieren. Zusammenfassend ist festzuhalten: Viele traditionell denkende, auf Unabhängigkeit bedachte und in ihrer Mentalität durchaus auch sture Bauern bildeten in ländlichen Gemeinschaften eine spezielle Sub-Culture, die den vom NS-Regime verordneten Hass gegenüber katholischen Polen ablehnte. Ihre Sympathie und Wertschätzung für tüchtige polnische Arbeitskräfte und katholische Glaubensbrüder immunisierte sie gegen die nationalsozialistische Rassenideologie – zur heftigen Empörung der fanatischen Nazi-Eiferer. Nach dem Einmarsch der Deutschen in Polen brachten die NS-Behörden zahlreiche Polen in das Deutsche Reich, die dort für die deutsche Kriegsindustrie arbeiten mussten. In Bayern waren es bis 1944 über siebzigtausend polnische Männer und Frauen. Die meisten von ihnen wurden von den deutschen Behörden in die Landwirtschaft geschickt, andere mussten in kleineren Betrieben oder Unternehmen arbeiten. Das Nazi-Regime führte eine Apartheid-Politik ein, die den sozialen Kontakt zwischen Mitgliedern der sogenannten Herrenrasse und den „rassisch Minderwertigen” verbot. Aber viele traditionell Konservative und unabhängige Bauern weigerten sich, diese politischen Vorgaben umzusetzen. Was spricht für diesen Befund? Im Folgenden wird gezeigt, wie die kultur-konservativen katholischen Bauern die polnischen Zwangsarbeiter im täglichen Leben behandelten. Der sehr persönliche Umgang der einzelnen Bauern steht in ganz starkem Kontrast zu dem im Allgemeinen sehr unpersönlichen und oft auch brutalen Umgang mit den polnischen Arbeitern in Handel und Industrie.14 Auf kleinen Bauernhöfen und in den bäuerlichen Häusern waren die Hauptfaktoren, die für eine gesetzeswidrige Beziehung zu den Zwangsarbeitern verantwortlich waren, die weiterhin wirksame Kraft traditioneller Grundwerte, die Entscheidungsfreiheit, die Verfolgung persönlicher Interes13

Ein anschauliches Beispiel dafür, wie eine bayerische Familie auf das beeindruckende Bekenntnis einer polnischen Arbeiterin zu ihrem katholischen Glauben, zu ihren Gebeten und ihrer religiösen Identität reagiert, bietet Maria Kaminskas Erinnerung „Ich betete oft in der Kapelle” in Thomas Muggenthalers Buch, das Berichte von und Gespräche mit überlebenden Zwangsarbeitern sammelt: Thomas Muggenthaler: „Wir hatten keine Jugend“. Zwangsarbeiter erinnern sich an ihre Zeit in Bayern, Viechtach 2003, S. 112–116. 14 Hier sei verwiesen auf die eindrücklichen Erinnerungen von Henyka Doctorow „In Selb wurde ich völlig grau!”, ebd., S. 23–27.

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sen, der tägliche Kontakt sowie auch intime Beziehungen. Mit der Schwerpunktsetzung auf diese Faktoren untersuche ich die sozialen Beziehungen, die durch die Integration von Polen in die bäuerlichen Familien und das Familienleben gekennzeichnet waren. Meine Untersuchungen beziehen sich auf eine Reihe unerlaubter sozialer Beziehungen, von der Einnahme gemeinsamer Mahlzeiten, der Teilnahme von Polen an Familienfesten, die Verfolgung intensiver Freundschaften, über die Pflege von Polen im Krankheitsfall oder das Einstehen für Polen bis hin zu Einzelfällen, in denen Polen in die bayerischen Familien integriert wurden. Zunächst einmal war die bäuerliche Bevölkerung gut gerüstet, sich – theoretisch und vielfach auch praktisch – gegen die rassistischen Abwertungen der Polen als Untermenschen zur Wehr zu setzen, weil die Polen ja katholische Glaubensbrüder waren. Strukturell wurde das ländliche Leben in Bayern stärker durch die traditionellen Haushalte katholischer Bauern regiert als durch die Nationalsozialisten. Darüber hinaus waren die polnischen Landarbeiter an die meist von Knechten, Milchmädchen oder Bauernsöhnen verrichteten Arbeiten bereits gewöhnt.15 Insofern deckten sich ihr Eintreffen und ihr Einsatz mit dem vorherrschenden Bedarf und den Arbeitsbedingungen auf dem bayerischen Land. Diese Rahmenbedingungen erwiesen sich als problematisch für die Nationalsozialisten und ihre Rassenpolitik. Der Landrat von Mühldorf formulierte seine diesbezüglichen Bedenken bereits in den frühen 1940er Jahren. Die freiwillige und anständige Behandlung von Polen in katholischen Dörfern nannte er „ausgesprochen unbefriedigend”.16 Verantwortlich für diesen Umstand war u. a. die Tatsache, dass die polnischen Zwangsarbeiter in einzelnen Haushalten untergebracht wurden. Im Unterschied dazu wies der Landrat auf striktere Regelungen in anderen Bereichen hin, die deswegen auch zu bevorzugen seien: „Der Einsatz der Polen ist in Norddeutschland auf den großen Gütern richtig und ohne weiteres durchführbar, weil dort der Sachsengänger seit vielen Jahrzehnten eingespielt ist. Bei unseren Kleinbetrieben und dem Einzelhofsystem sind jedoch die Erfahrungen alles andere als ermutigend.”17

15 Es gibt zum Beispiel die folgende Beobachtung in einem SD-Bericht, die beschreibt, dass die bäuerlichen Einstellungen und Verhaltensweisen darin wurzelten, in den Polen Glaubensbrüder und geschätzte Arbeiter zu sehen: „Die Bauern schätzen die Polen als überwiegend brauchbare Arbeiter und sind namentlich von ihrer tiefen und demonstrativ gezeigten Frömmigkeit stark beeindruckt. Ganz allgemein, kommt die Bevölkerung den Polen viel freundlicher und großzügiger entgegen, als es der Wunsch der Partei- und Staatsstellen ist.“ Staatsarchiv Würzburg (im Folgenden zitiert als StAW): Sicherheitsdienst (im Folgenden zitiert als SD) 25, Abschnitt Würzburg, 3. Mai 1940, 3. 16 Staatsarchiv München (im Folgenden zitiert als StAM): Landratsamt (im Folgenden zitiert als LRA) 135113, Monatsbericht des Landrats, April-Mai-Juni 1940, II/1. 17 Ebd.

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Eine der Hauptüberlegungen war der Tatsache geschuldet, dass die Bauern im Wesentlichen Herren ihrer Häuser und Höfe geblieben waren. Im ländlichen Bayern führte die organisatorische Schwäche der Partei dazu, dass sie viele Bauernhöfe politisch-ideologisch nicht wirklich erreichte. Mit der Ausübung ihrer angestammten Rechte und nach ihren Präferenzen handelnd blieben die zu großen Teilen unabhängigen Bauern stur ihrem bevorzugten Lebensstil verhaftet. Harmonie oder zumindest ein friedliches Zusammenleben war ihnen lieber als Missstimmung auf dem Hof. Neben diesen moralischen Gründen waren es ganz praktische, egoistische Erwägungen, aus denen heraus sie eine Verhaftung der Arbeiter vermeiden wollten. Denn es war ungewiss, ob sie für die Inhaftierten direkt einen gleichwertigen Ersatz bekommen würden. Die konfessionellen Einflüsse, die Macht der Tradition, praktische Erwägungen und das Festhalten der Bauern an ihrer Entscheidungsfreiheit waren die Gründe dafür, dass viele Polen genauso wie andere Lohnarbeiter oder mitarbeitende Familienmitglieder behandelt wurden. Damit wird nachvollziehbar, warum die Polen, die die Arbeit der deutschen Landarbeiter übernahmen, im Allgemeinen so behandelt wurden wie ihre Vorgänger. Zum Beispiel wurde der Aufruf, Polen von den gemeinsamen Mahlzeiten auszuschließen, weitestgehend ignoriert.18 Ein früherer polnischer Zwangsarbeiter erinnert sich mit erkennbarer Dankbarkeit daran, wie der Bauer, für den er arbeitete, dieses Verhalten erklärte: „Die, die auf meinem Hof arbeiten, essen auch mit mir an einem Tisch.“19 Die Tischgemeinschaft, also gemeinsame Mahlzeiten, herrschten während der Kriegsjahre vor.20 Vor allem Kleinbauern, so berichtet der Sicherheitsdienst, waren nicht geneigt, ihre Tischgewohnheiten zu ändern – auch dann nicht, wenn ein Fremder hinzu kam. Das zubereitete Essen wurde in einer einzigen Schüssel serviert. Aus dieser Schüssel, die in der Mitte des Tisches stand, nahm jeder seine Portion.21 Die Solidarität unter den Bauern verhinderte, dass 18

„Viele Gefangene, auch Polen, werden als zur Familie gehörend angesehen und auch entsprechend behandelt.” StAW: SD 13, Außenstelle Bad Kissingen, 1941. 19 Interview des Autors mit dem früheren Kriegsgefangenen Dembetski, August 1991. Der folgende SD-Eintrag, der in einem Stuttgarter Büro gemacht wurde, lautet ähnlich: „[Die Kriegsgefangenen] dürfen mit dem Bauern am gleichen Tisch sitzen, bekommen ebenfalls ihren Most, trinken oft sogar mit dem Bauern aus einem Krug. Wird auf dem Bauernhof ein Familienfest gefeiert, z. B. Taufe, Konfirmation oder Hochzeit, so nimmt meistens der Kriegsgefangene daran teil und wird dabei als gleichwertig angesehen. ‚Wer bei uns schafft, der soll es auch gut haben, der soll bei uns am gleichen Tisch sitzen und unsere Feste mitfeiern,‘ das ist eine weitverbreitete Ansicht.” Meldungen aus dem Reich, SD-Berichte zu Inlandsfragen, (Blaue Serie) 15. November 1943, 15:6015. 20 Dies galt ebenso für französische Kriegsgefangene, die auf kleineren Höfen arbeiteten. StAW: SD 13, Außenstelle Bad Kissingen, 1941. 21 „Es werde sich beispielweise in vielen Fällen weder durch Aufklärung noch durch Erziehung abstellen lassen, daß der Bauer mit der ausländischen Arbeitskraft zusammen an einem Tisch sitze. Gerade bei kleinbäuerlichen Verhältnissen sei es nun einmal so, daß […] jeder der auf dem Hof arbeite, greife zu, wobei vielfach noch aus derselben Schüssel gegessen werde.” Meldungen aus dem Reich, Nr. 339, 30. November 1942, 12:4518.

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diese tägliche Praxis ans Licht kam. Aber gelegentlich landeten Verstöße gegen die Rassenpolitik doch auf den Schreibtischen der Verantwortlichen.22 Evakuierte Städter zum Beispiel schwärzten Bauern an, weil sie das Gefühl hatten, dass die Fremdarbeiter besser als sie selbst behandelt wurden.23 Solche Fälle von gemeinsamen Mahlzeiten gingen häufig einher mit der ebenfalls verbotenen Hausgemeinschaft. Das heißt: Einzelne deutsche Familien und polnische Arbeiter lebten gemeinsam in einem Haus oder sogar in einem Zimmer. Das folgende Beispiel zeigt die menschliche Wärme und Zuneigung zwischen einem polnischen Arbeiter und einem bayerischen Bauern. Die beiden wurden in Miltenberg angezeigt. Einer Sägemühle in Miltenberg waren zehn neue polnische Zwangsarbeiter zugeteilt worden. Diese hatten vorher eine Saison lang in der Nähe von Kirchzell gelebt und gearbeitet. Wie ein städtischer Polizeibeamter Ende Januar 1943 berichtet, wurden diese Polen in der Mühle mehrfach von den Bauern aus Kirchzell besucht.24 So sah es der Schutzpolizist unter anderem als verdammungswürdig und daher kriminell an, dass „der Bauer Mehl den Polen in einer Weise begrüßt, wie ein Vater seinen Sohn nicht inniger begrüßen kann.“25 Hinzu kam, dass der Bauer in den Ferien Kuchen und Plätzchen vorbeibrachte. Der Schutzpolizist fand es verurteilenswert, dass ein deutscher Bauer einem „Polacken“ Äpfel und Kuchen brachte, während die deutschen Kinder leer ausgingen. Eine Durchsuchung des Polen ergab, dass er im Besitz von Fotografien des Bauernhofes sowie einiger Äpfel war, die ihm am selbigen Tag gebracht worden waren. Es darf vermutet werden, dass derselbe Bauer dem Parteiführer vor Ort keine Äpfel und Kuchen brachte. Der Mühlenbesitzer enthüllte dem Schutzpolizisten weiterhin, dass der Pole angeblich die gleichen Kleider getragen habe wie sein Bauer.26 Jeder nahm einfach die Hose oder das Hemd des anderen, je nachdem welches gerade gewaschen war. Dieser eher an eine Kommune erinnernde Lebensstil war der Mentalität der Nationalsozialisten völlig fremd. 22

StAW: SD 43, Verhalten des Bürgermeister Ludwig Büttner in Wülfershausen, Oktober 1943. 23 StAM: LRA 135119, Beschwerde gegen den Bauern Michael Feckl in Pointvogl, 1. Oktober 1943. 24 „…daß verschiedene Bauern schon wiederholt hier in [dem] Betrieb gewesen wären und diese ihre Polen besucht haben.” Siehe StAW: Gestapo 7251; Schutzpolizei Miltenberg, Nr. 75, 20. Januar 1943. Versuche, wieder in den landwirtschaftlichen Bereich und das Leben auf dem Bauernhof zurückzukommen, waren nicht selten. Sogar nur kurzzeitig als Erntehelfer eingesetzte Fremdarbeiter flohen später aus ihren Baracken und verließen ihre Einsatzorte in der Industrie. Siehe zum Beispiel den Fall von mindestens sechs Ostarbeiterinnen, die wieder zu ihrem Bauern zurückkehrten. StAM: LRA 106695, 10. Dezember 1943, 8. 25 StAW: Gestapo 7251; Schutzpolizei Miltenberg, Nr. 75, 20. Januar 1943. 26 „ …[der Pole] habe so lang er bei seinem Bauer gewesen sei mit dem Bauer die gleichen Kleider getragen, es wäre alles gleich gewesen, soll der Pole erklärt haben, ob der Bauer sein Hemd und Hose angezogen habe oder umgekehrt.”, ebd.

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Nach Anweisungen der Gestapo befahl der Schutzpolizist dem Bauern eine Erklärung zu unterzeichen, in der er versichert, den Kontakt zu dem polnischen Arbeiter abzubrechen. Andernfalls würde er in ein Konzentrationslager eingeliefert. Der Name des Bauern Mehl taucht in den Akten der Würzburger Gestapo nicht mehr auf. Man kann mit Sicherheit annehmen, dass die angedrohten Repressalien in diesem Fall, wo NS-Propaganda und Rassenpolitik versagt hatten, Erfolg zeigten und zumindest zu einer Verhaltensänderung geführt hatten. Andere Beispiele aus den Akten der Würzburger Gestapo zeigen Fälle, in denen es nicht gelang, die traditionellen Werte zu verändern. Aus Mühlhausen in Unterfranken sind zwei Vorgänge bekannt, wonach Deutsche und Polen im selben Raum schliefen. Nach offizieller NS-Lesart war diese Praxis streng verboten und eines Deutschen nicht würdig.27 Was jedoch am meisten überrascht, ist die Tatsache, dass diese Fälle so selten ans Tageslicht des dörflichen Lebens kamen, obwohl sich hier doch Neuigkeiten schnell verbreiteten und Geheimnisse selten gewahrt werden konnten. Vermutlich verhinderte der besondere Zusammenhalt innerhalb bäuerlicher Gemeinschaften Akte der Denunziation. Der enge Kontakt führte leicht zu Freundschaften und zu Geschenken, mit denen dieser Freundschaft Ausdruck verliehen wurde. Wohltätigkeit in Form von Präsenten und Carepaketen hatte Geldstrafen und ernstzunehmende Drohungen zur Folge. Im protestantischen Ebersbrunn in der Nähe von Kitzingen lenkte der Ortsgruppenleiter die Aufmerksamkeit der Gestapo auf einen jungen Polen, der sich mit einem katholischen Priester und dessen Cousin aus einem katholischen Nachbardorf angefreundet hatte.28 Zusammen versorgten sie den polnischen Landarbeiter mit einem religiösen Kalender und Kleidung sowie einem warmen Wintermantel.29 Was den Ebersbrunner NS-Funktionär vermutlich am meisten erzürnte, war der Kommentar des Priesters, der dem Ortsgruppenführer durch einen evangelischen Bauern zugetragen wurde: dass nämlich der junge Pole die Beschäftigung beim protestantischen Bauern aufgeben und auf einem katholischen Hof arbeiten solle. Der Cousin des Priesters, der die Kleidung besorgt hatte, war übrigens der Ortspolizist des Nachbardorfs.30 Man kann mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass in seinem Verantwortungsbereich Einiges möglich war und viel geduldet wurde, bis die Gestapo seinen Aktivitäten ein Ende machte. Bei den Ermittlungen in Fällen, in denen Pakete an Polen geschickt wurden, interessierte sich die Polizei besonders für die vermeintliche „Beraubung“ der notleidenden deutschen Bevölkerung. Jeder Apfel, jeder Brotlaib, jede Wurst, die verschickt wurde, sei einem Angehörigen der deutschen 27 28 29 30

StAW: Gestapo 873. StAW: Gestapo 9035; NSDAP Ebersbrunn, 14. Januar 1941. Ebd.: Georg Appold’s Aussage gegenüber der Gestapo vom 9. April 1941. Ebd.: Band-Nr. 1259/41 – II E – Lb., 18. April 1941.

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„Volksgemeinschaft“ vorenthalten worden. Und wie Salz, das in offene Wunden gerieben wurde, waren die Empfänger dieser Raritäten auch noch polnische „Untermenschen”. Viele Polen waren jedoch angesichts ihrer besorgniserregenden Lebenssituation auf die Unterstützung durch derartige Pakete angewiesen. Staatliche Behörden verschoben Fremdarbeiter von der Landarbeit in die Industriebetriebe und wieder zurück, je nach saisonalem Bedarf. Polen, die das unglückliche Los gezogen hatten, in den Bergwerken an der Ruhr und in industriellen Großbetrieben arbeiten zu müssen, wussten nur zu gut, was Not und Hunger waren. Je öfter die Gestapo von derartigen Fällen erfuhr, desto stärker wurde diese Entwicklung bekämpft. Dabei ging es nicht nur um Einzelfälle. Immer wieder kam es vor, dass ganze Gruppen von „Fremdarbeitern“ mit Carepaketen versorgt wurden, gefüllt mit Nahrungsmitteln und garniert mit einer Packung Tabak. Typisch ist ein Fall, den die Duisburger Zweigstelle der Düsseldorfer Gestapo aufnahm. Ende 1942 wurde eine Gruppe polnischer Zwangsarbeiter von Bayern zur Industriearbeit ins Ruhrgebiet verlegt.31 Bis dahin waren sie als Landarbeiter im Landkreis Alzenau beschäftigt gewesen. Die Beweismittelaufnahme der Duisburger Gestapo führt elf Zustellbescheinigungen und einen Brief auf. Die Ermittlungen führten über einen deutschen Landarbeiter, der die Pakete verschickt hatte, zu einem Bauern, der gegenüber der Polizei sofort geständig war. Er habe so handeln müssen, weil ihm sein ehemaliger, langjähriger polnischer Arbeiter oft geschrieben habe, dass er in Duisburg Hunger leide. Michael Hellerthal zögerte keine Sekunde und sandte aus freien Stücken mehrmals gut gefüllte Nahrungsmittelpakete an den bedürftigen Polen nach Duisburg.32 Dem Regime zufolge waren solche milden Gaben nichts anderes als kriminelle Handlungen. Am 29. Mai unterzeichnete Michael Hellenthal aus Hörstein eine Warnung, die in sehr deutlichen Worten klar machte, dass ihn eine Wiederholung ähnlicher Handlungen ins Konzentrationslager bringen würde. In seltenen Fällen kam es außerdem vor, dass Einzelne oder sogar eine ganze Dorfgemeinschaft ihre Sympathie oder Solidarität mit Polen, die von den Nationalsozialisten misshandelt oder verfolgt wurden, ganz offen bekundeten. In Pusselsheim wurden ein Bauer und seine Ehefrau bei der Gestapo wegen beleidigender Äußerungen gegenüber einem NS-Funktionär angezeigt. Der Konflikt begann mit der Beleidigung des jungen Polen durch den NSFunktionär. Der junge Mann verstand Deutsch allerdings sehr gut.33 Den 31

StAW: Gestapo 941; Gestapo Außendienststelle Duisburg, 11. Februar 1943. Ebd.: Bericht des Gendarmerieposten Dettingen, 29. April 1943. 33 „Der Pole, der gut deutsch versteht und der auch den Ausdruck seines Dienstherrn wohl verstanden hat, grinste seinem Herren Beifall.” StAW: Gestapo 463; GP Obereuerheim, Nr. 483, 5. Dezember 1941. 32

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Akten der Gestapo ist zu entnehmen, dass der Pole kommen und gehen konnte, wie es ihm beliebte und sogar ein Fahrrad zur freien Verfügung hatte. Er wurde im Grunde behandelt, wie ein adoptierter Sohn der kinderlosen Familie Hartmann.34 Als letztes Beispiel möchte ich den Fall eines Polen schildern, der in Münchstockheim, Landkreis Gerolzhofen, von zwei SA Männern schwer misshandelt wurde. Die Angreifer kamen nicht aus dem Dorf, waren dort aber bekannt und unbeliebt. Ausgelöst durch die Misshandlung kam es zu einem regelrechten Kampf zwischen den Dorfbewohnern und den örtlichen Verantwortlichen auf der einen Seite und der SA auf der anderen. Die Verletzungen, die der Pole durch die Übergriffe der SA erlitten hatte, waren derart schwer, dass lange Zeit unklar war, ob das Opfer überleben würde.35 Der Polizist, der zu dem Fall gerufen wurde, zog die SA-Männer zur Verantwortung, indem er ihnen sogar die Arztrechnung für die Behandlung des Verletzten zustellen ließ. Die SA-Truppen revanchierten sich mit politischen Angriffen und denunzierten das gesamte Dorf und den Bürgermeister als Zentrum der katholischen Opposition.36 Tage nach der Schlägerei tauchte ein handgeschriebenes Plakat im Dorf auf, das die aggressive Gewalt, die der Pole erlitten hatte, verurteilte und die Feigheit der beiden SA-Männer in klaren Worten geißelte: „Achtung! Sonderausgabe! Achtung! Zwei tapferen Söhnen unseres Dorfes, den beiden SA Männern Hans Niedermeier und Valentin Sendner wird die Idioten-Medaille für herausragende Tapferkeit und Verdienste gegenüber wehrlosen Polen verliehen. Kein anderer Bürger hat bislang diese stolze Auszeichnung erhalten. Die Front wäre der beste Ort für diese Art von Bestien. Wir verneigen uns vor diesem Erfolg.“ [nicht unterschrieben]37

Einige Tage später wurde ein zweiter scharfer Tadel öffentlich plakatiert. Er verdammte die Tat ebenso wie der erste, gab aber diesmal vor, aus Sicht der SA-Männer zu sprechen, die sich beim Dorf für die Ehre bedanken. Unterschrieben mit „die Mistgabelhelden“.38 Die Gestapo wurde gerufen, um zu ermitteln, wer für die Plakataushänge verantwortlich war, konnte aber den Fall nicht lösen. Entweder wusste niemand, wer sich für den Polen einsetzte und die SA-Männer veralberte. Wahrscheinlicher ist aber, dass diejenigen, die es wussten, nicht mit der Gestapo kooperierten. Die Reaktionen auf die Misshandlung des Polen und die damit verbundenen Ereignisse waren wie ein Urteilsspruch der dörflichen Moral und zeigen das geringe Ansehen, das die SA tatsächlich in den Augen der Dorfbewohner

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„Hartmann und seine Ehefrau, die keine Kinder haben, lassen sich von dem Polen mit Mutter und Vater anreden.”, ebd. 35 StAW: Gestapo 4285; GP Gerolzhofen, Nr. 3645, 21. Dezember 1941. 36 Ebd.: SA Sturm 9/11, 8. November 1941. 37 StAW: Gestapo 4285. 38 Ebd.

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genoss.39 Das Beispiel zeigt auch, dass die still im Privaten gelebte Anständigkeit nicht ganz aus dem öffentlichen Raum verschwunden war.40 Gerade dort, wo Nationalsozialisten die offizielle Lebenssphäre dominierten, wog die Privatsphäre nach wie vor schwer. Dazu trugen die besonderen Anforderungen des kleinbäuerlichen Lebens bei, die den Rückzug ins private Leben erleichterten. Im Gegensatz dazu behielt die Rassenpolitik der Nationalsozialisten in Handel und Industrie die Oberhand. Unternehmer in diesen Bereichen konnten auf die Unterstützung der Gestapo schon bei kleinen Verstößen rechnen. Der traurige Fall des Stefan Ignaczak ist ein Beispiel dafür.41 Ein schlechtes Verhältnis zu seinem ersten Arbeitgeber und seine beharrlichen Versetzungsgesuche verhinderten einen Wechsel zu einem anderen Einsatzort, ließen ihn dafür aber bei der Gestapo aktenkundig werden. Bei seiner zweiten Arbeitsstelle in einer Baumschule nahm er einem deutschen Arbeiter die Schaufel weg, da dieser weiter arbeitete, obwohl der Feierabend schon begonnen hatte. Der deutsche Arbeiter meldete dies seinem Chef, der den Polen im April 1940 bei der Gestapo anzeigte. Die Gestapo in Würzburg schlug vor, Stefan in Schutzhaft zu nehmen, nannte ihn stur und arbeitsunwillig, er verdiene einige Jahre Haft in einem Konzentrationslager. Aus Berlin schickte SD Chef Reinhard Heydrich den Schutzhaftbefehl, der Stefan der Arbeitsverweigerung, der Störung des Arbeitsfriedens und der Sabotage des wirtschaftlichen Aufbaus in Kriegszeiten bezichtigte. Ein medizinisches Gutachten des staatlichen Gesundheitsamtes bescheinigt ihm, gesund genug für die Überstellung in ein Lager zu sein. Stefan Ignaczak wurde am 11. Mai 1940 in das Konzentrationslager Dachau überstellt. Den Vorschriften entsprechend musste die Gestapo in Würzburg alle drei Monate den Fall wieder begutachten. Stefans Strafe wurde, wie in vielen anderen Fällen auch, kommentarlos verlängert, sobald das Begutachtungsdatum anstand. Aus nicht näher erklärten Gründen wurde er am 15. Dezember 1940 nach Auschwitz verlegt. Am 11. Januar 1941 schickte der dortige Lagerkommandant Höß ein Telex nach Würzburg, wonach Stefan Ignaczak am dritten Tag des neuen Jahres an einem Herzanfall gestorben sei. Der 38-jährige Pole hatte Auschwitz nur ganze 19 Tage überlebt. Industrieunternehmen waren überdies stark auf die Gestapo angewiesen, um die Fremdarbeiter unter Kontrolle zu halten und sie an der Verletzung ihrer sogenannten Arbeitsverträge zu hindern. Bei „Fremdarbeitern“, die aus Firmen flohen, aus den Ferien nicht zurückkehrten, Regeln der Rassentren39

Ebd.: SA Standarte 11, 9. Januar 1942. Zu diesem speziellen Fall siehe auch Anton Grossmann: Polen und Sowjetrussen als Arbeiter in Bayern 1939–1945, in: Archiv für Sozialgeschichte 24 (1984), S. 355–397; hier S. 376. 41 National Archives and Records Administration/Berlin Document Center/Gestapo Records on Foreigners (im Folgenden zitiert als NARA/BDC), Gestapo Würzburg, Rolle G007, Rahmen 1533–1644. 40

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nung verletzten, zu häufig fehlten, als unproduktiv oder faul galten, nicht bereit waren, sich unterzuordnen oder der Sabotage verdächtigt wurden, kam es in der Regel zur Anzeige bei der Gestapo. In den Würzburger Gestapo-Akten finden sich die Briefköpfe vieler unterfränkischer Firmen – großer wie mittlerer. Im Juli 1943 zum Beispiel beschwerte sich die Würzburger Stahl- und Metallbau-Firma Georg Glos, dass der tschechische Fremdarbeiter George Hurt nicht rechtzeitig aus den Ferien zurückgekehrt sei. Auf das Schreiben des Briefes wurde einige Mühe verwandt. Der Brief enthält Hurts persönliche Daten, einschließlich seiner Adresse in Pilsen und bittet um umgehende Maßnahmen der Gestapo zur Rückführung Hurts an seinen Arbeitsplatz und schließt mit dem sogenannten Deutschen Gruß. Nach seiner Festnahme verbrachte Hurt sechs Wochen in einem Arbeitserziehungslager.42 Diese Lager waren für sogenannte Arbeitsscheue und Drückeberger gedacht. Die Insassen arbeiteten zehn bis zwölf Stunden pro Tag, sieben Tage die Woche, die Disziplinierungsmaßnahmen waren dort besonders hart. Für Polen beinhaltete die Disziplinierung in einem Arbeitserziehungslager auch körperliche Züchtigung.43 Am häufigsten begegnet man im Archiv dem Briefkopf der Firma Georg Schäfer & Co., Schweinfurts großem Hersteller von Kugellagern und 1943 ein bevorzugtes Ziel der alliierten Luftangriffe. Die Arbeitsbedingungen bei der Firma Schäfer scheinen besonders hart und zunehmend gefährlich gewesen zu sein. Der Fall des Ukrainers Johann Jozkow steht stellvertretend für ein Dutzend anderer und zeigt, mit welcher Penetranz das Unternehmen um die Rückführung geflohener Arbeitskräfte bemüht war. Jozkows Gefangennahme führte diesen allerdings in ein Konzentrationslager. Die Firma hatte ihn im August 1942 als abgängig gemeldet. Man hatte ihn an seiner zuletzt gültigen Adresse aufgesucht, ihn aber dort nicht angetroffen. Drei Monate später meldet die Firma, dass Johanns Frau eine Postkarte aus der Regensburger Gegend erhalten hat – vermutlich von ihrem Mann. Das Arbeitsamt benachrichtigte daraufhin die Gestapo, und Johann wurde schließlich in Regensburg gefasst. Die Gestapo in Regensburg zögerte nicht lange und ordnete Schutzhaft und Internierung in einem Konzentrationslager an. Auch wenn die Akte keine näheren Informationen über den weiteren Weg des neunzehn Jahre alten Johann Jozkow enthält, legt die Erfahrung nahe, dass hiermit sein weiteres Schicksal besiegelt war. Möglicherweise geben die kürzlich geöffneten Archive in Bad Arolsen mehr Aufschluss über das letzte dunkle Kapitel seines jungen Lebens.44 42

NARA/BDC, Gestapo Würzburg, Rolle G007, Rahmen 0796. Ein ähnlicher Fall ist der eines tschechischen Arbeiters bei Kugelfischer Georg Schäfer & Co. Rolle G007, Rahmen 2581–2618. 43 Ulrich Herbert: Enforced Foreign Labor in Germany under the Third Reich, Cambridge 1997 (Dietz, 1986), S. 120–124. 44

NARA/BDC, Gestapo Würzburg, Rolle G007, Rahmen 2947–3000.

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Andere Firmen lieferten noch mehr als nur Namenslisten: Briefe an die „Fremdarbeiter“, die flüchtig waren, wurden an die Gestapo weitergeleitet. Auf diese Weise trugen Unternehmen wissentlich und willentlich zur Verfolgung von Männern und Frauen bei, die sich der Versklavung durch das nationalsozialistische Arbeitseinsatzprogramm entziehen wollten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Unternehmer in Handel und Industrie eine recht entpersonalisierte Sicht gegenüber ihren ausländischen Arbeitskräften einnahmen. Ihr Managementansatz sah in den namenlosen, gesichtslosen und wehrlosen Polen nicht mehr als einen Produktionsfaktor. Weder kannten sie die Arbeiter, noch interessierten sie sich für deren Schicksal. Der Terror der Gestapo wurde routinemäßig eingesetzt, um die Polen unter Kontrolle zu halten und die Produktivität der Firma zu steigern. Die Gestapo überstellte Tausende von ihnen in die Konzentrationslager Dachau und Flossenbürg.45 Auf dem Land hingegen war die Rassenpolitik der Nazis abhängig von den bayerischen Bauern, die großteils Herren von Haus und Hof blieben. Der Versuch der Nationalsozialisten, einer konservativ eingestellten und standfesten Landbevölkerung den Vollzug eines radikalen sozialen Systems oktroyieren zu wollen, erwies sich als sehr unrealistisch. Anforderungen, die an die katholische Bevölkerung auf dem Land gestellt wurden und Versuchen, ihnen Pflichten aufzudrängen, wurde meist nicht nachgegeben oder sie wurden einfach ignoriert. Die Bauern zogen es vor, nach ihren eigenen Maßstäben zu wirtschaften. Denn die stimmten mit der kulturellen Identität und der traditionellen Arbeits- und Lebensweise überein. Viele Bayern und Polen aßen aus einer gemeinsamen Schüssel, saßen nebeneinander während der Mahlzeiten an einem Tisch, verbrachten ihre Freizeit zusammen, schliefen unter demselben Dach und teilten zumindest in einem dokumentierten Fall sogar die Kleidung. Ihr Zusammenleben war durch sehr enge zwischenmenschliche Beziehungen gekennzeichnet. Nüchtern betrachtet unterschied sich das, was sich in Bayern auf dem Land während des Krieges abspielte, nicht sehr von früheren Zeiten. Falls solche Entwicklungen und Umstände in einer heutigen Gesellschaft angetroffen würden, wäre die Schlussfolgerung, dass sie nicht außergewöhnlich waren. Der Unterschied hierbei ist, dass die Nazis und ihre Rassenpolitik große Ambitionen auf einem Gebiet hatten, das sie nicht vollständig kontrollierten. In der Konsequenz konnte ihre Politik in vielen Fällen nicht wirklich Fuß fassen. Das Fazit lautet: Dieser Aspekt der nationalsozialistischen Rassenpolitik war ein Fehlschlag in einem Teil des traditionellen, ländlichen Bayerns. 45

Allein 1942 schickten die Gestapoaußenstelle Regensburg 507 Polen, die Gestapo Nürnberg-Fürth 935 Polen und die Gestapo Würzburg 141 Polen in das KZ-Flossenbürg. Siehe Toni Siegert: Das Konzentrationslager Flossenbürg: Gegründet für sogenannte Asoziale und Kriminelle, in: Martin Broszat/Elke Fröhlich (Hg.): Bayern in der NS-Zeit II. Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt, Teil A, München 1979, 462, n78.

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„Ein so naher Feind“ Französische Zwangsarbeiter und ihre deutschen Kollegen in den Industriebetrieben des Dritten Reiches Die deutsche Geschichtsschreibung über die Zwangsarbeit hat sich bisher kaum mit der Frage des täglichen Umgangs französischer Zivilarbeiter, die zum größten Teil zwangsverpflichtet waren, mit ihren deutschen Kollegen in den Kriegsfabriken des Dritten Reiches beschäftigt. Während Ulrich Herbert die Westarbeiter für die Deutschen teils als „Lohndrücker“ und „Leistungstreiber“1 darstellte, stilisierten die DDR-Historiker den gemeinsamen Kampf zwischen deutschen antifaschistischen Widerstandskämpfern und Zwangsarbeitern zum Postulat und verherrlichten in der Partei-Presse solch seltene Fälle.2 Für Mark Spoerer betreffen jedoch „sehr viele Berichte über solidarisches Verhalten deutsche Kollegen und Vorgesetzte.“3 Helga Bories-Sawala zufolge bezog sich diese Solidarität nur auf die Beziehungen mit Nazigegnern.4 Die SD-Berichte reichen nicht aus, um diese Frage zu beantworten, und man sollte dafür nicht nur Gestapo-Akten, sondern Erinnerungen ehemaliger Zivilarbeiter heranziehen. War die Kluft zwischen den Nationalitäten entscheidend, oder ist zuletzt eine Art von Sympathie entstanden, die durch die gemeinsame Arbeit hervorgebracht wurde? Wurde dadurch die Vorstellung der Franzosen von den Deutschen so beeinflusst, dass sie sich unterschied von dem Bild, das sie von den deutschen Besatzungssoldaten aus Frankreich mitbrachten?

Misstrauen und Prüfungszeiten: politische Feindschaft oder Verachtung von Seiten der Arbeiterschaft? Wenn sie in den Industriewerken ankamen, hatten die Franzosen manchmal den Eindruck, Eindringlinge zu sein, denen mit Misstrauen begegnet wurden. Die Furcht der deutschen Arbeiter, durch sie ersetzt zu werden, erklärt zum Teil dieses Verhalten. Alexandre Billaud erinnert sich an böse, hasserfüllte

1

Ulrich Herbert: Fremdarbeiter, Bonn 1985, S. 211. Hermann Müller (Veteran): „Gemeinsam kämpfen wir mit Gérard Jacques gegen den Faschismus“, in: Der Scheinwerfer Carlzeiss Jena – Organ der Industriekreisleitung der SED des VEB Carlzeiss Jena, Mai 1985. 3 Mark Spoerer: Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, Stuttgart/München 2001, S. 193. 4 Helga Bories-Sawala: Franzosen im „Reicheinsatz“, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1996, S. 502–508. 2

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Blicke.5 Nach der Ansicht von André Michel, der bei der Auto-Union in Chemnitz arbeiten musste, schadete die Propaganda, die sie als Freiwillige hinstellte, freundschaftlichen Beziehungen.6 Die gleiche Erklärung wird von Barbara Hopmann vorgebracht, um zu beweisen, warum Fremdarbeiter in den Daimler-Benz-Werken mit Misstrauen und Abneigung empfangen wurden.7 Aufseiten der Franzosen herrschte das gleiche Misstrauen, das nach der Meinung von Georges Caussé durch die Furcht begründet war, dass sich unter den Kollegen ein „Nazi“ als Denunziant erweisen könnte. Pierre Auvergne vertrat die gleiche argwöhnische Einstellung seinem Kollegen Waleski gegenüber: „Waleski ist Sudetendeutscher […]. Mehrere Male wurde mir gesagt, ich solle den anderen Deutschen nicht trauen, die sich als Freunde ‚anbiedern‘ wollen. Sie könnten Gestapoagenten sein […]. Er sagte mir ohne Umschweife: ‚Pierre, dieses Jahr geht der Krieg zu Ende!‘ Ist das eine Falle?“8

Die Ungeschicklichkeit der Franzosen, die Facharbeitern zugewiesen wurden, und ihre Unkenntnis der deutschen Sprache schadeten oftmals den Arbeitsbeziehungen wie zwischen Paul Cèze und dem „langen Müller“. „Selbst wenn er immer lauter schrie, wie könnte er von einem Gehilfen verstanden werden, der von dem Beruf nichts weiß und kein einziges Wort seiner so ausdrucksreichen Sprache begreift? Welch ein Wutausbruch, wenn er von mir einen Schraubenzieher verlangte und ich ihm einen Hammer gab! Oftmals habe ich gefürchtet, dass er mir den Schädel einschlagen würde. Aus Vorsicht hielt ich ihm dann immer das weniger mörderische Werkzeug hin.“9

Hinzu kam die Furcht, abgelöst zu werden, die Verachtung einem Hilfsarbeiter gegenüber, der von Industriearbeit nichts verstand, und die Zornreaktionen gegenüber einem Franzosen, der ihm seine kostbare Zeit stahl. In der Nähstube, in der sie die einzige Französin war, wurde Regina Wallet wenig beachtet, was sich weniger durch ihre Nationalität als durch ihre Unerfahrenheit erklärt. „Ich trete in eine Werkstube ein, in der zahlreiche junge Mädchen schnattern. Man gibt mir einen Hocker und legt mir einen schweren Tuchmantel auf den Schoß […]. Es wird getuschelt, als ob ich es wirklich verstehen könnte […]. Ungeschickt stecke ich

5

Alexandre Billaud: Les malheurs de Centio, Steenvorde 1988, S. 310. André Michel: Mes Moires II – En liberté dans cette cage, en cage dans ces libertés, Gentilly 1995, S. 37. 7 „Die Einstellung eines großen Teiles der Daimler-Benz Arbeitskräfte gegenüber den ab 1941 immer zahlreicher in den Werken […] eingesetzten Ausländern war zunächst von Misstrauen und Abneigung geprägt. Viele Deutsche glaubten, die Ausländer seien freiwillig auf der Suche nach Arbeit ins Deutsche Reich gekommen und nähmen jetzt ihre Arbeitsplätze ein, damit sie selbst an die Front geschickt werden könnten.“, Barbara Hopmann u. a.: Zwangsarbeit bei Daimler-Benz, Stuttgart 1994, S. 276. 8 Pierre Auvergne: Travail forcé chez Hermann Goering, Maschinenschrift, 1995, mitgeteilt von Wacheul, S. 88. 9 Paul Cèze: Chronique des années noires, Digne-les-Bains 1994, S. 27. 6

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unter den spöttischen Blicken der anderen die Nadeln. Die Leiterin ist entsetzt. Sie begreift, dass ich noch nie in meinem Leben in einer Werkstube gewesen bin.“10

Wenn deutsche Arbeiter nach der Meinung des Sicherheitsdienstes die Sonderrationen von Lebensmitteln für Ausländer kritisierten11, kann man sich die Frage stellen, inwiefern die Polizei diese Meldungen nicht besonders beachtete, damit diese Extra-Rationen nur auf Reichsdeutsche begrenzt würden. Die schlechten Nachrichten von der Front führten oftmals zur Verbitterung der deutschen Arbeiter, so dass die Ausländer als ideale Sündenböcke dastanden. „Durch Hitze und Kälte bekam ich Risse an Beinen und an Füßen […]. Eines morgens […] traf ich auf einen Deutschen, dem alle misstrauten, denn er war Mitglied der Nazipartei. Er sagte mir: ‚Du frierst! Was sollen denn unsere Soldaten in Russland sagen?‘ Ich glaubte schon […], dass er mich schlagen würde, er schrie.“12

Fremdenhass war vor allem bei Jugendlichen anzutreffen, die durch die Nazipropaganda stärker beeinflusst worden waren. Hadrien Bousquet brandmarkt das Verhalten der 16-jährigen Lehrlinge bei Daimler-Benz, die sich vorzugsweise mit Russen anlegten und deren Fanatismus selbst die deutschen Arbeiter beunruhigte.13 Im Eisenacher BMW Werk hätten die jungen Mädchen Ausländern gegenüber nur „höhnische Verhaltensweisen, von spöttischen Bemerkungen begleitet“14 an den Tag gelegt. Diese Aussage wird jedoch von Jean Couasse oder Octave Fort widerlegt, die sich an freundliche Gespräche, ja sogar an Flirtversuche erinnern. Der Priester Henri Perrin meint, dass er in Leipzig in drei Monaten kein einziges Wort gegen Frankreich gehört und im Gegenteil Sympathie- und Achtungsbeweise erhalten habe. Dieser „gute Empfang“ schloss jedoch keine Vorurteile gegen einen faulen, gefräßigen und trinkfreudigen Nachbarn aus, der nebenbei auch noch ein Schürzenjäger war.15 Die zur Schau getragene Zurückhaltung erklärt sich vielleicht durch den in den Fabriken üblichen Brauch, Neuankömmlinge zunächst auf die Probe zu stellen. Die harten Bedingungen der Arbeit und des schwierigen Zusammenlebens in den Industriebetrieben zwang die zuletzt Angekommenen ihre Integrationsfähigkeit zu beweisen. Diese Eingliederung wurde zwischen 1942 und 1945 durch den gewaltigen Zustrom an Ausländern und den gleichzeitigen Verlust von innerem Zusammenhalt der deutschen Arbeiterschaft erschwert. In bestimmten Industriewerken wie beispielsweise bei Volkswagen gehörten neben den Werkmeistern die französischen Kriegsgefangenen zum bewährten Arbeiterstamm, während der Anteil der Deutschen in Aufsehen 10

Régina Wallet: J’aimais un prisonnier, Paris 1953, S. 43. SD Meldung aus dem Reich Nr. 358 vom 11/2/1943, BA, 58R180. 12 Jean Febvet: S.T.O en camp disciplinaire Mes mémoires 1939–1945, Paris 1988, S. 38. 13 Hadrien Bousquet: Hors des barbelés, Paris 1945, S. 58. 14 Charles-Henri-Guy Bazin: «Déporté du travail» à la BMW Eisenach 1943–1945, Cubnezais 1986, S. 81. 15 Henri Perrin: Journal d’un prêtre ouvrier en Allemagne, Paris 1945, S. 92. 11

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erregender Weise sank: von 75,5% am 31. Dezember 1941 auf 39% im folgenden Jahr und auf weniger als 15% am 10. April 1945.16 Bei Daimler-Benz war dieser Rückgang weniger auffällig, da die Deutschen, die 1941 drei Viertel der Arbeiterschaft bildeten, 1944 und 1945 noch die Hälfte darstellten.17 In diesem „Konzern“ konnten die deutschen Arbeiter Macht ausüben, die sie anderswo nicht mehr hatten. Diese Machtausübung entsprach zwar nicht den nationalsozialistischen Werten von „Selbstbewusstsein“, wurde aber dennoch mittels Bewährungsproben ausgeübt. Yves Berthos Begegnung mit Hans drückt dieses symbolische Spiel aus: „Ein großer Kerl im schwarzen Monteuranzug, mit einem energischen, lachenden Gesicht […] fing an, mit seinem Schatten an der Wand zu boxen […]. Er wandte sich plötzlich in Boxstellung zu Pierre und brüllte: – ‚Kannst du boxen? Komm doch mal her!‘ Pierre sah sofort den Fuß, die Prothese. Die Stimme des anderen blieb herzlich, als er antwortete: – Russland, Dezember 41! als ob er einen Weinjahrgang angesagt hätte. ‚Ich heiße Hans.‘“18

Diese Herausforderungen wurden von den Zwangsarbeitern mit akademischem Hintergrund oftmals anders interpretiert. So nahm Alexandre Billaud ein ähnliches Verhalten nicht als einen Integrationsversuch auf. Er beschreibt es vielmehr als einen Beweis von Feindseligkeit: „Einige Arbeiter lungern um uns herum […]. Einer von ihnen wendet sich an Antoine. Er zeigt seine Muskeln, streckt den Zeigefinder auf seine Brust und auf die von Antoine. Er tut, als ob er sich schlagen würde […]. Der Kumpel fühlt sich in seiner Haut nicht sicher […]. Der Deutsche ist schwer enttäuscht und gibt auf.“19

Der Wille, seine Kraft zu messen, fand seine volle Ausprägung bei der Arbeit. Auf diese Weise entstand nach und nach ein heimliches Einverständnis zwischen Franzosen und Deutschen, die die weniger Widerstandsfähigen oder die, die sich nicht schnell genug an den Arbeitsrhythmus gewöhnten, als Zielscheibe wählten. „Ich habe kostbare Minuten verloren […]. Ich muss das Werkzeug wechseln […]. Während dieser Minute schmilzt die Röhre im Ofen und klebt an der Sohle […]. Der Vorarbeiter und die Kumpels amüsieren sich. Letzten Endes macht es einen Heidenspaß, einen Anfänger zu sehen, der sich abmüht, eine Arbeit zu verrichten, die nicht die seine ist!“20

Wetten führten oftmals zu einer Steigerung der Ausdauer, und stärkten den Zusammenhalt zwischen den Arbeitern, indem eine Hierarchie aufgebaut wurde, die auf traditionellen Werten wie Kraft oder Geschicklichkeit beruhte. In Paul Fourtiers Industriewerk nahm ein junger Russe unter den Augen 16

Hans Mommsen: Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf 1996, S. 1027. 17 Barbara Hopmann u. a.: Zwangsarbeit bei Daimler-Benz, Stuttgart 1994, S. 98–99. 18 Yves Bertho: Ingrid, Paris 1976, S. 105–106. 19 Alexandre Billaud: Les malheurs de Centio, Steenvorde 1988, S. 301. 20 Jean-Louis Quereillahc: J’étais STO, Paris 1958, S. 70.

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der Deutschen im Labor die Herausforderung eines polnischen Chemikers an, sechs Gläser 95%igen Alkohols hintereinander zu trinken.21 Die NS-Weltanschauung stellte daneben eine rassische Hierarchie auf. Franzosen waren als Westarbeiter ziemlich hoch angesehen. Unter ihnen befanden sich zahlreiche Facharbeiter.22 Der Weltruf von Paris und die Hochachtung der ehemaligen Frontkämpfer von 1914 bis 1918 vor den französischen Soldaten erlaubten es den Zwangsarbeitern außerdem des Öfteren, feindseligen Äußerungen zu entgehen. Verallgemeinerungen über die Deutschen kamen selten vor und widersprachen einander in den Berichten der Zwangsarbeiter, als wären sie nach und nach von der Nichtigkeit eines Gesamturteils überzeugt gewesen. Eugène Lemarchand vertrat die Meinung, dass die Franzosen die deutschen Arbeiter willkürlich herausforderten, indem sie diese offensichtlich im Treppenhaus anrempelten.23 Laut Wolfgang Kaschuba war dies ein Mittel, um Konkurrenz und Konflikte innerhalb der Gruppe zu schlichten.24 Manchmal werden die Beziehungen zu den Deutschen als freundlicher bezeichnet, als zu anderen Nationalitäten. In den Arbeitsbeziehungen dieses Turms von Babel erscheint die Nationalität nicht immer als ein diskriminierender Faktor. Jean-Louis Quereillahc zeigt diesbezüglich ein Beispiel auf. Er erzählt von seiner Auseinandersetzung mit einem alten österreichischen Kommunisten namens Fuchs. Sein Freund Pradel mischte sich in den Streit ein und tadelte Quereillahc heftig. Er erklärte ihm, dass der deutsche Arbeiter Grund hatte, ihn zurechtzuweisen, denn er hatte seine Arbeit nicht einwandfrei ausgeführt. „Fuchs hat eines jener schrecklichen Schimpfwörter ausgestoßen, die aus seinem Repertoire in österreichischem Dialekt stammen […]. Er droht mir mit vorgestreckter Faust, spuckt in meine Richtung […]. Ich lasse mich nicht mehr einschüchtern und hebe meine Zangen […] – ‚Lass sein‘, sagt mir Pradel […]. ‚Es ist deine Schuld […]. Du lässt die Rohblocks quer hineinrollen und wenn sie unten im Ofen ankommen, sieht sich Fuchs gezwungen, mit seiner ganzen Zange hineinzulangen, um sie herauszuholen. Er muss zweimal so viel arbeiten […]. Arbeite, wie es sich gehört, und niemand wird dich anschreien.‘“25

Dem gekränkten Berichterstatter erklärt der Freund die oft harten Verhaltensregeln, die ausschließlich aus den Anforderungen einer korrekt ausgeführten Arbeit resultieren:

21

Paul Fourtier-Berger: Nuits bavaroises ou les désarrois d’un STO, Reims 1999, S. 167. 22 „Dabei befanden sich diejenigen Ausländer, die […] über eine hohe berufliche Qualifikation verfügten, in der Regel in einer besseren Ausgangsposition“, Barbara Hopmann u. a.: Zwangsarbeit bei Daimler-Benz, Stuttgart 1994, S. 276. 23 Eugène Lemarchand: «Souvenirs de guerre d’un STO, mai 1943 – août 1945», Provence-Maine, t 12, 48. Heft, 1983, S. 435. 24 Wolfgang Kaschuba: «Culture populaire et culture ouvrière», in: Alf Lüdtke (Hg.): Histoire du quotidien, Paris 1994, S. 196. 25 Jean-Louis Quereillahc: J’étais STO, Paris 1958, S. 98.

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„Worauf es bei dieser rohen Arbeit ankommt, ist nicht mehr als nötig schwitzen zu müssen… Wenn man mehr ins Schwitzen kommt, so rührt es daher, dass der Kumpel eine Dummheit begangen hat, die den normalen Ablauf des Rollbandes stört […], dann Gnade ihm Gott! Das ist die Regel hier! Sie gilt für die Deutschen, die Tschechen, die Franzosen oder die ‚internati‘ (oder) für die Russen! Man hat sich nicht um ‚Nazis‘ oder ‚Nicht-Nazis‘ zu kümmern. Hier […] befiehlt allein die Arbeit.“26

Die Zwangsarbeiter mit akademischem Hintergrund entdeckten auf diese Weise mit Staunen im Kriegsdeutschland, „welche Bindungen sich zwischen den Menschen in einer Arbeitergruppe bilden konnten“.27

Integration und Ausschließung: die Komplexität des Zusammenhalts in der Arbeiterschaft Scherze bei der Arbeit spielten eine wichtige Rolle in der Entstehung dieses Gemeinschaftsgefühls. Studenten hatten oftmals Schwierigkeiten, sich diesen Formen von sozialer Integration im Spiel zu unterziehen, besonders wenn sie ein körperliches Risiko beinhalteten. Die Witze bezogen sich oft auf die Arbeitswerkzeuge.28 Im Metallwerk Neumeyer in München vergnügten sich die Franzosen regelmäßig damit, den Ukrainerinnen Stahlkugeln zuzuwerfen. Dieses Spiel hatte ein schlimmes Ende für Marcel Jeanvoine, der verhaftet wurde, weil er nach einer solchen „Schlacht“ einige Kugeln in eine Patronenhülse eingedrückt hatte.29 Spiele verbanden auch Franzosen und Deutsche, wie in Watenstedt, wo Pierre Auvergne am Bart des alten Czech zog und Wetten auf die Schönheit von Meister Brills Tochter einging.30 Die weniger strengen Werkmeister nahmen daran teil, wie Meister Störer, der einem in der Toilette eingeschlafenen Italiener eine Dusche verabreichte.31 In Berlin schätzte Maurice Georges die Fröhlichkeit des Poliers: „Zum Beispiel befestigt er einen Pflasterstein an François’ Spitzhacke […]. Ein anderes Mal bestreicht er den Stiel seiner Schaufel mit Schmieröl oder steckt ihm junge vor kurzem entdeckte Mäuse in die Tasche […]. Er passt auch den Briefträger ab (und) er26

Ebd., S. 106. Paul Fourtier-Berger: Nuits bavaroises ou les désarrois d’un STO, Reims 1999, S. 55. 28 Charles-Henri-Guy Bazin: «Déporté du travail» à la BMW Eisenach 1943–1945, Cubnezais 1986, S. 107. 29 Anklageschrift des Staatsanwalts des Münchener OLGs gegen Marcel Jeanvoine vom 14. 2. 1945, Sta Mü, OLGM 768-44. 30 Pierre Auvergne: Travail forcé chez Hermann Goering, Maschinenschrift, 1995, mitgeteilt von Wacheul, S. 80–81. 31 „Ein Werkmeister versteht es sich zu vergnügen, er lacht sich halb tot […]. Ströter kommt und ruft Michaux herbei. In der einen Hand hält er einen großen Eimer voll Wasser: ‚Cantini ist auf der Toilette eingeschlafen. Ich gehe mit einem Eimer Wasser hin. Wenn ich dir das Zeichen gebe, machst du das Licht aus!‘“, Ebd., S. 96. 27

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Patronenhülse mit den von Marcel Jeanvoine hineingepressten Stahlkügelchen, Juni 1944 (Quelle: Staatsarchiv München, OLG 768-44)

klärt laut, dass er uns [die Briefe] erst geben würde, wenn wir genug gearbeitet hätten. Er teilt sie jedoch sofort aus, wobei er jedem einen fast herzlichen Puff in den Rücken austeilt.“32

Die harten Arbeitsregeln erschwerten die Unterscheidung zwischen demütigenden Scherzen und anderen Formen von Schikanen, die einen Ausschluss aus der Gruppe bezweckten. Das Profil der Arbeiter, die zum Opfer dieser Schikanen wurden, hing von den Machtverhältnissen in jeder Werkstatt ab. Wenn die italienischen Militärinternierten ideale Opfer darstellen, was durch das Ressentiment gegen ihren Verrat33 noch verstärkt wurde, waren die Deutschen in den Fabriken, in denen sie in der Minderheit waren, manchmal ebenfalls Schikanen ausgesetzt, wie zum Beispiel in dem Wartungsdienst der Öfen vom Kalkwerk. „Kolle […] war […] ein schwächlicher Zwerg mit Schmutz in den Augenwinkeln, ein ehemaliger Ulan, der im Ersten Weltkrieg verletzt worden war […]. Der alte Deutsche war zum Prügelknaben der Gruppe geworden. Lemaire zwang ihn kleine mit Zucker bestreute Steine zu essen… Mériadec bat ihn, ein Kohlebecken zum Glühen zu bringen.“34

32

George: Le temps des armes sans armes, Berlin 1990, S. 80. „Komm her Badoglio ! […] Fünfzehn Minuten, um diese beiden abzubauen […]. Willys Fuß war auf dem Käppi, seine schrille Stimme pfiff: ‚Badoglio Verräter !‘“, Yves Bertho: Ingrid, Paris 1976, S. 113–114. 34 Louis Le Bonniec: Dans le vent de l’est, Rennes 1954, S. 101. 33

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Der schwache Widerstand der Arbeiter, die von der Gruppe gequält wurden, begünstigte diese Schikane. Junge Arbeiter vom STO („Service du Travail Obligatoire“) zogen den Spott ihrer Landsleute von der „Relève“ (Ablösung) auf sich, während diese die Deutschen achteten.35 Die Deutschen schikanierten die Ausländer selten, um ihnen zu zeigen, dass sie hier nicht zu Hause waren. Demütigungen wie die erzwungene Wiederholung der genauen Bezeichnung eines Werkzeugs auf Deutsch mit der richtigen Aussprache waren aber nicht unbedingt Ausdruck einer ausländerfeindlichen Motivation.36 In einem Brief an seine Frau vom 9. Juli 1944 beschwerte sich André Courraud über diese täglichen Demütigungen: „Niemand wird jemals die Bedeutung dieser Einzelheiten, dieser Demütigungen […] verstehen, die man wortlos ertragen muss. Monate und Jahre vermehren sich in mir Wut und Verachtung, die menschenunwürdig sind. Oft bedauere ich es, an jenen Tagen Deutsch zu sprechen, wo die Worte, die ich ausstoße, zu viel Lärm machen […]. Es sind nicht die materiellen Leiden, die am meisten zählen und am meisten schmerzen.“37

Zwiespältige soziale Beziehungen: Einvernehmen und Zwietracht bei der Arbeit Franzosen knüpften manchmal bevorzugt Bande mit Deutschen wie zum Beispiel Henri Court, der mit Paul die Liebe zur Dichtung teilte.38 Die Kenntnis der arabischen Sprache und die Erfahrungen eines Lebens in den Kolonien waren die Keimzellen für die ungewöhnliche Freundschaft, die Gabriel Vasseux mit „Vater Fritzel“ verband: „Wir tauschen nur wenige Worte aus: ‚Morgen‘, ‚Guten Appetit‘, ‚Gute Nacht‘, dann eine Woche nach seiner Ankunft fange ich an, auf Arabisch zu fluchen […], und zu meinem Erstaunen lacht Vater Fritzel und antwortet mir auf Arabisch […]. Ich erfahre, dass er früher Waffenschmuggler im Marokkokrieg gewesen ist.“39

Sympathie konnte spontan entstehen. Georges Moullet-Echarlod gesteht, dass er gern mit dem Arbeiter Albert zusammenblieb, an den er sich nach drei Stunden gewöhnt hatte. Er hatte „ein nettes Gesicht“ und ein sonniges Gemüt.40 Jean Dupin verbrachte eine „angenehme Zeit“ im Frühling bei der 35

„Meine Kameraden machten sich noch über die Blasen an meinen Händen lustig […], nachdem sie offen über mich gelacht hatten, als ich versucht hatte, […] auf der Arbeit mein letztes Hemd mit steifem Kragen und einer engen Krawatte zu tragen“, Charles-Henri-Guy Bazin: «Déporté du travail» à la BMW Eisenach 1943–1945, Cubnezais 1986, S. 68–69. 36 Ebd., S. 77. 37 Postkarte von André Courraud an seine Frau vom 9. 7. 1944, von Frau Darracq geliehen. 38 Henri Court: Le petit carnet, Paris 1998, S. 25. 39 Antwort von Gabriel Vasseux auf unseren Fragebogen vom 28. August 1998, S. 9. 40 Georges Moullet-Echarlod: La faim au ventre – STO, Paris 1978, S. 66.

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Arbeit auf dem Dach gemeinsam mit Evald, einem deutschen Arbeiter, der nicht fleißiger war als er selbst.41 Ebenso berichtete Maurice Georges über die ausgezeichneten Beziehungen, die er mit einem „alten“ Zimmermann, einem Frontkämpfer von 1914 bis 1918, unterhielt. Dieser brachte ihm Äpfel mit und hatte Spaß, mit den Franzosen zu „kauderwelschen“.42 Die Arbeiterpriester zeigten sich für solche freundschaftlichen Beziehungen empfänglich, wie zum Beispiel Victor Dillard, der nicht umhin kann, diese Solidarität mit fast theologischen Worten zu analysieren: „Ich machte mir früher Gedanken über die Art und Weise, wie diese unwahrscheinlichen internationalen Industriewerke wohl funktionieren konnten […]. An Ort und Stelle habe ich verstanden, dass das Band zwischen allen diesen Menschen nicht die Bestimmung ihrer Arbeit (worüber sie natürlich verschiedener Meinung waren) sein konnte, aber das einfache gemeinsame Einssein mit der Materie, etwas wie ein lebendiger Arbeitskörper […]. Über den Widersprüchen der Weltanschauung und der sprachlichen Missverständnisse gibt es eine wesentliche Arbeitssolidarität […]. Die Arbeiterinternationale ist nicht allein ein marxistisches Elaborat, es ist auch greifbare Realität.“43

Die Hypothese eines kollektiven Einvernehmens berücksichtigt jedoch nicht die Unbeständigkeit dieser Arbeitsverhältnisse, die durch eine ungeschickte Bewegung oder eine Verzögerung im Arbeitsrhythmus gefährdet werden konnten. Die Kriegsumstände schafften zudem zusätzliche Zwänge, denn die Furcht vor der Abschiebung in die AEL begünstigte nicht nur ein erhöhtes Arbeitstempo sondern auch die Denunziation der sich einer Zuwiderhandlung schuldig gemachten Kameraden, um sich selbst zu schützen. Die Beispiele von Zusammenstößen zwischen Franzosen und Deutschen sind jedoch selten, sowohl in Zeugenaussagen als auch in den Archiven der Justiz oder der Polizei. Auseinandersetzungen zwischen Kollegen waren nicht immer unmittelbar mit ausländerfeindlichem Verhalten verbunden, sondern ergaben sich auch aus Arbeitskonflikten. Jean Febvet, der einem Deutschen dabei half, ein Dach zu reparieren, wurde von seinem Kollegen beschimpft, weil er so tat, als ob er nichts verstände. Die Beleidigungen nahmen noch mehr zu, als der Franzose ihn im Stich ließ.44 Ein anderer beispielhafter Fall zeigt, wie der Elektriker Pierre Auvergne sich mit seinem deutschen Kollegen in Watenstedt stritt: „Schimurah fügt hinzu: ,Du bist Gruppenführer, du sollst persönlich die beiden Brückenkräne kontrollieren.‘ Diese Worte scheinen meinem deutschen Kollegen über41

Jean Dupin: Nous avions 20 ans – Des monts du Lyonnais aux usines de l’Allemagne nazie en passant par les Chantiers de Jeunesse, Saint-Laurent-de-Chamousset 1994, S. 37–38. 42 „Wochenlang habe ich einem alten braven Zimmermann geholfen […], einem ehemaligen Frontkämpfer von 1914 bis 1918 […], der ohne Zweifel an ‚Krieg als großes Malheur‘ glaubte […]. Ich hatte das Glück gehabt, den beschädigten Stiel seines Hammers reparieren zu können. Er zeigte sich dankbar. Er schenkte mir seine Freundschaft und brachte mir Äpfel.“, George: Le temps des armes sans armes, Berlin 1990, S. 191–192. 43 Victor Dillard: Suprêmes témoignages, Paris 1945, S. 43. 44 Jean Febvet: S.T.O en camp disciplinaire Mes mémoires 1939–1945, Paris 1988, S. 65.

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haupt nicht zu gefallen […]. Auf den ersten Blick sehe ich, dass er seine Einstellungen nicht sorgfältig durchgeführt hat […]. Er nimmt es schlecht auf: Er: Ich bin Deutscher, und du, was bist du? Ich: Franzose. Er: Wenn ich dem Gruppenführer etwas zu sagen habe, so sage ich es ihm selbst. Wenn er mir etwas zu sagen hat, so wird er es selber tun. Ich hoffe, du hast verstanden […]. Wie ich meine Arbeit mache, ist nicht deine Sache.“45

Diese feindselige Einstellung kam von der Unzufriedenheit, einer professionellen Minderwertigkeit ausgesetzt zu werden und aus der sich daraus ergebenen Eifersucht. Dieses demütigende Gefühl wurde umso stärker von Deutschen empfunden, wenn ein französischer Kollege zum Gruppenführer ernannt wurde und ihnen für ihre Arbeitsweise Vorhaltungen machte. Wenn der Streitfall, über den Louis Le Bonniec berichtet, zu Verwünschungen über die Nationalität führte, so war der Grund dafür, dass ein Arbeiter die „Vaterschaft“ für eine Arbeit beanspruchte, die nicht die seine war: „Dieser arme Kerl (Barré) hatte sich mit einem Nazi überworfen, der den mit großer Mühe beladenen Förderwagen an sich reißen wollte. Der Deutsche sagte zu ihm ‚Piérou‘ […], was in Schlesien eine für Franzosen beleidigende Bezeichnung ist. Barré erwiderte […] mit ‚Deutscher Mistkerl‘ […]. Der Beleidigte wurde rot vor Wut und zeigte ihm eine drohende Faust […]. Der Hitler-Anhänger fand sich unter einem Haufen Steine wieder, mit zerschlagenem Kinn […]. Am selben Abend wurde der Angreifer in das Breslauer Hauptgefängnis eingewiesen.“46

Die Justizarchive47 weisen nur zwei Fälle von Zusammenstößen am Arbeitsplatz nach. Roger P., geboren 1922, der als Zwangsarbeiter in dem chemischen Betrieb von Wolfratshausen mit der Aufsicht von Säurepumpen beauftragt worden war, war im Februar 1943 dreimal hintereinander zu fünf Mark Strafe verurteilt worden, weil er bei der Arbeit eingeschlafen war. Sein Meister hatte daher seinen Kollegen den Befehl erteilt, ihn – notfalls mit Wasser – zu wecken, wenn er wieder einschlafen würde. Überzeugt, dass sein Kollege Koch ihn in der Nacht vom 24. auf den 25. Februar mit Wasser bespritzt habe, hatte er diesen bedroht, ihn mit einer Eisenstange zu schlagen. Am nächsten Tag machte er seine Drohung wahr und schlug ihn dreimal.48 Der andere Streit fand im Februar 1942 zwischen einem freiwilligen französischen Arbeiter, geboren 1914, und einem deutschen Kollegen statt, der verärgert war, dass er Bretter benutzen musste, worauf der Franzose seine Bedürfnisse verrichtet hatte, da er sich weigerte, auf die Werkstoilette zu gehen, die seiner Meinung nach zu weit entfernt lag.49 45

Pierre Auvergne: Travail forcé chez Hermann Goering, Maschinenschrift, 1995, mitgeteilt von Wacheul, S. 72. 46 Louis Le Bonniec: Dans le vent de l’est, Rennes 1954, S. 73–74. 47 Ungefähr 120 Prozessakten wegen politischer Motive. Neben den Akten des OLG in München haben wir auch vor allem in den Akten des Staatsanwalts des VGH recherchiert, die in den Archines Nationales aufbewahrt sind. 48 Urteil des Münchener SGs vom 25. 5. 1943 gegen Roger P., Sta M, SG M 12008. 49 Urteil des Balingener AGs von März 1942 zu vier Wochen Gefängnis, AN 40AJ1542.

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Diese Beispiele, bei denen allein die Franzosen für den Streit verantwortlich waren, unterstreichen die Verbitterung der Zwangsarbeiter über ihre Verbannung oder ein unwürdiges Verhalten am Arbeitsplatz. In den Unterlagen der Würzburger Gestapo findet man unter 419 Akten nur ein einziges Beispiel eines Streits in einem Industriewerk. Der Zwangsarbeiter Roger C. wird im Oktober 1944 von der Gestapo verhaftet, weil er einen jungen deutschen Lehrling (Jahrgang 1927) geohrfeigt hatte, der ihm gegenüber frech gewesen war. Die Polizei interessierte sich nicht für den Grund des Streits, sie begnügte sich damit, den Franzosen übers Wochenende einzusperren.50 Im Archiv der Düsseldorfer Gestapo liegen Unterlagen, denen zufolge ein ehemaliger Kriegsgefangener von einem deutschen Kollegen angezeigt wurde, weil er erklärt hatte, dass die Nazis verschwinden sollten und dass er noch nie einem anständigen Deutschen begegnet sei. Der Gerichtsverteidiger des Franzosen belegte, dass die Anzeige in Wirklichkeit eine Folge der Einführung des Akkordlohns war, die zu Arbeitskonflikten geführt hatte. „Ich bin seit dem 1. August 1941 als Tischler bei Rosen beschäftigt […]. Ich habe mich immer mit dem Werkmeister gut verstanden, der sich weder über meine Arbeitsleitung noch über meine politische Haltung zu beschweren hatte […]. In der ersten Zeit wurden wir stundenweise bezahlt, aber die Einführung des Akkordlohns führte zu Streitigkeiten, die damit zusammenhingen, dass jeder von uns das beste Holz haben wollte, um schneller fertig zu werden […]. Jeder glaubte sich berechtigt, das beste Holz zu nehmen, während ich als Franzose nur schadhafte Holzstücke erhielt, die für mich mehr Arbeit bedeuteten […]. Zuerst habe ich nichts gesagt, aber dann habe ich den Werkmeister um Hilfe gebeten. Dieser ordnete an, dass ich wie die anderen behandelt werden sollte […]. Dies hat das Verhalten desjenigen nicht verändert, der eine Beschwerde gegen mich erstattet hat. Er wurde dagegen mir gegenüber immer gehässiger, und wir hatten miteinander viele mündliche Auseinandersetzungen […]. Meine Kameraden haben mir außerdem 35 Gramm Tabak und zwanzig Zigaretten gestohlen. Ich habe es dem Werkmeister gemeldet und ihn gebeten, nichts zu unternehmen.“51

Die Auseinandersetzungen konnten auch mit der Notwendigkeit zusammenhängen, sich physisch zu behaupten, den „Lebensraum“ und seinen „Besitz“ in den Fabriken zu verteidigen. Körperliche Auseinandersetzungen um den Besitz eines Werkzeugs waren nicht selten, und die Arbeiter waren mit einer gewissen Gewaltanwendung in der Fabrik einverstanden, um Arbeitskonflikte zu schlichten.52 Gewaltanwendungen kamen öfter zwischen ausländischen Arbeitern als zwischen Deutschen und Ausländern vor, wohl wegen der Risiken, die eine Belästigung von Reichsdeutschen nach sich ziehen konnte. Es kam vor, dass deutsche Arbeiter in die Streitigkeiten zwischen ausländischen Arbeitern eingriffen. Ihr Alter und eine lange Betriebszugehörigkeit verstärkten ihre Glaubwürdigkeit als Konfliktschlichter. Der Zwischenfall, wodurch Fernand Viannenc mit einem Holländer in Streit geriet, wurde durch den 50

Sta Wu, GW 18900. Aussage von Roger M., einem ehemaligen Kriegsgefangenen, 1914 geboren, von der Gestapo am 14. 4. 1944 entlassen, Sta Dü, RW58-59892. 52 Jean-Louis Quereillahc: J’étais STO, Paris 1958, S. 71–72. 51

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„alten Franz“ beendet, der die Verantwortung eines Poliers auf sich nahm, indem er dem Franzosen befahl, sich in der Baracke auszuruhen.53

Zusammenhalt und Solidarität durch Arbeit? Die Strategie der Autonomie stützt sich bei den Arbeitern auf eine gewisse Solidarität untereinander gegenüber dem Führungspersonal, da es im Interesse der Gruppe lag, den Werkmeistern die täglichen Verstöße zu verheimlichen. In dem Eisenacher BMW Werk wurde Charles-Henri-Guy Bazin durch seine deutschen Kollegen über die Polizeikontrollen auf dem Laufenden gehalten.54 Maurice Georges fand die Deutschen in positivem Sinne „regungslos“, die die Veranstaltung eines Spiels mit Wurfpfeilen in der Werkstatt nicht angezeigt hatten.55 Diese Solidarität wurde von Henri Perrin bestätigt: „Untereinander ist eine wahre Kameradschaft von kleinen Gefälligkeiten. Man zwinkert einander zu, zeigt Sympathie, wenn die Blicke sich kreuzen. Man warnt einander, wenn eine Gefahr, ein Irrtum vorhanden ist oder wenn der Ingenieur kommt.“56 Für den Priester erhöht die Härte des Überwachungsapparats die innere Solidarität der Gruppe: „Nur die Überwachung wird einem wirklich beschwerlich. Man hat dauernd jemand am Hals. Wenn es nicht der Vorarbeiter oder der Meister ist, so ist es der Ingenieur oder der Kontrolloffizier. Selbst die deutschen Arbeiter beschweren sich darüber, und dies erklärt zum Teil, warum sie so wenig Begeisterung zeigen.“57

Die Solidarität zielte auch darauf hin, „Freiräume“ zu schaffen und zu sichern, die Erholungspausen erlaubten.58 Auch Victor Dillard erwähnt diesen Widerstand der Zwangsarbeiter gegenüber dem Führungspersonal. Er betont allerdings, dass der Widerstand einen „nationalen Anstrich“ bekam, indem das Feinbild der Leitung des Industriewerks häufig mit den „Deutschen“ gleichgesetzt wurde: „Der Feind, das war alles, was mit dem Führungspersonal des Industriewerks zusammenhing, bis einschließlich des Werkmeisters […]. Wenn der französische Arbeiter ‚sie‘ sagte, meinte er nicht nur die Arbeitgeber. Er verstand darunter ‚die Deutschen‘, die durch alle diejenigen, die an der Autorität Anteil hatten, verkörpert waren. Der Klassenkampf hat sich dort in einen nationalen Kampf verwandelt.“59 53

Fernand André Jules Viannenc: Le Danube était gris, Nouméa 1981, S. 29. Charles-Henri-Guy Bazin: «Déporté du travail» à la BMW Eisenach 1943–1945, Cubnezais 1986, S. 104. 55 George : Le temps des armes sans armes, Berlin 1990, S. 133. 56 Henri Perrin: Journal d’un prêtre ouvrier en Allemagne, Paris 1945, S. 29. 57 Ebd., S. 64. 58 „Das Wort ‚Werkschutz‘ war vor kurzem bekannt geworden […]. Willy, der Deutsche von Maurice, hatte es ihnen an diesem Morgen mitgeteilt und sie vor den Kontrollgängen gewarnt, die er durchführte.“, Georges Moullet-Echarlod: La faim au ventre – STO, Paris 1978, S. 74. 59 Victor Dillard: Suprêmes témoignages, Paris 1945, S. 13–14. 54

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Der Zusammenhalt zwischen Kollegen blieb jedoch nicht immer ohne Brüche. Zwei Beispiele zeigen, wie sich diese Solidarität auch ins Gegenteil wandeln konnte. In einer Düsseldorfer Fabrik misshandelte ein Schichtführer einen jungen Franzosen, der die Ostarbeiterinnen dazu angehalten hatte, das Arbeitstempo nicht zu beschleunigen. Eine deutsche Arbeiterin, geboren 1899, hätte den Franzosen ermuntert, zurückzuschlagen und dem Schichtführer mit einer Eisenstange auf den Kopf zu schlagen. Sie wurde von einer Landsmännin angezeigt. Bezüglich der Misshandlungen, denen die Ausländer ausgesetzt waren, waren die Arbeiter manchmal unterschiedlicher Meinung. Das zweite Beispiel betrifft zwei Französinnen, die im November 1943 wegen Arbeitsverweigerung verhaftet wurden. Sie führten das Verhalten des Verantwortlichen des Industriewerks Kraus in Schweinfurt, der sich ihnen gegenüber „wie ein Schwein“ benahm, als Grund auf.60 Die Polizei fragte sechs Angestellte des Industriewerks. Der 16-jährige Arnold drückte vor allem seine Eifersucht auf die beiden Französinnen aus, „die sich nicht beschweren sollten, denn im Vergleich mit uns Deutschen hätten sie die angenehmsten Aufgaben zu verrichten.“ Die 19-jährige L. zeigte sich vielleicht aus Angst genauso vorsichtig: „Gewiss rügt er die Arbeiterinnen, aber wie jeder Direktor, und es ist erträglich. Wenn es nicht der Fall wäre, wäre ich sicher schon von hier weggegangen“. Zwei andere Arbeiter bestätigten, dass der Direktor zwar jähzornig sei, aber nichts sage, wenn die Arbeit ordentlich durchgeführt würde, was bei den beiden Französinnen nicht der Fall sei. Sie seien unzuverlässig, kämen zu spät zur Arbeit und beschwerten sich unter Beschimpfungen, wenn ihnen nicht die besten Arbeiten zugeteilt wurden.61 Die Solidarität zwischen Arbeitern hing also eng von den örtlichen Verhältnissen ab. Dort, wo die Franzosen gut integriert waren, kam die Solidarität gegen die Werkmeister voll und ganz zur Entfaltung. Wenn dagegen die Arbeiter es sich mit ihren Kollegen verdorben hatten, gab es diese Solidarität nicht mehr, und es kam dann möglicherweise zu umgekehrten Reaktionen. Altersunterschiede konnten darüber hinaus das Wesen der Beziehungen beeinflussen. Deutsche hatten teilweise ein fast väterliches Verhalten gegenüber Franzosen, die so alt waren wie ihre eigenen Kinder oder Enkel. „Weidemann, dem ich mich anvertraut […], scheint mir sofort ein guter Großvater zu sein, und ich glaube schon, dass ich für ihn etwa der Enkel sei, den er bedauert, nicht gehabt zu haben.“62

Umgekehrt wurden manchmal sehr junge deutsche Waisen von Franzosen „adoptiert“, die dann für sie die Rolle von „großen Brüdern“ spielten, wie zum Beispiel im Luftwaffenhorst von Neukuhren: 60

Staatsarchiv Würzburg, GW 18968. Aussagen der Arbeiter des Industriewerks Kraus in Schweinfurt vom 24. 11. 1943, Sta Wü, GW18968. 62 Jean Edmond: La vie en Allemagne nazie 1943–1945 – c’est là que j’étais, Bericht der IHTP [ARC 067], S. 31. 61

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„Der kaum sechzehn Jahre alte Hans Müller, der in der zu großen Luftwaffenuniform schwimmt […], ist ein armer, sehr netter Junge. Sein Vater ist an der Front gefallen […]. Seine Mutter verschwand mit seinen beiden Schwestern in dem Luftangriff auf Königsberg […]. Wir haben ihn adoptiert. Er ist unser kleiner Bruder. Unser Schützling.“63

Dass die guten Arbeitsbeziehungen den strikten Rahmen von Arbeitsbeziehungen sprengten, beunruhigte den nationalsozialistischen Staat, der zwischen dem Vorhaben „Kraft durch Freude“ zu gewähren und der Angst vor einer internationalen Solidarität hin- und hergerissen war, wie der SD-Bericht vom 1. April 1943 zeigt: „Eine brauchbare Zusammenarbeit auf kameradschaftlicher Basis habe sich zwischen den deutschen und französischen Arbeitern ergeben. In [dieser] Tatsache läge auch der Grund der teilweise zu starken Annährung und der damit verbundenen volkstumsmäßigen Gefahren.“64

Beide folgenden Fotografien, die in dem Münchener Betrieb Neumeyer und in einer Seebecker Industrieanlage aufgenommen wurden, verdeutlichen sehr gut die „Gefahren“, die für den NS-Staat in dieser Verbrüderung bestanden. Diese „Gefahren“ werden vor allem durch die Unmöglichkeit deutlich, die Angestellten nach ihrer Nationalität zu unterscheiden.

Eine Verbrüderung auf der Basis des Austausches? Der Austausch von Gefälligkeiten, ein wiederholter Vorgang innerhalb der Arbeiterschaft, erlaubte es den Zwangsarbeitern nach der Meinung des Priesters Henri Perrin, die kameradschaftlichen Beziehungen zu den deutschen Kollegen zu verstärken: „Ansonsten waren die Beziehungen zwischen deutschen und französischen Arbeitern nicht schlecht. Ich habe gesehen, wie ausgezeichnete ‚Teams‘ funktionierten, die auf einer wirklichen Kameradschaft beruhten. Ein Deutscher, der in der Transportabteilung ein Querulant war, brachte jede Woche seinem französischen Partner Weißbrot und Kuchen. Andere wiederum haben zu Weihnachten einen unserer Landsleute ‚beschenkt‘, der mit ihnen zusammenarbeitete.“65

Auch wenn Albert, ohne eine Gegenleistung zu verlangen, Georges MoulletEcharlod66 ein Frühstück schenkte, unterstreicht jedoch Marcel Blanchard, der in Schwerte von den großzügigen Gaben eines deutschen Reichsbahnarbeiters profitierte, dass solche Gesten selten waren und unbeobachtet bleiben sollten: 63

Albert Kindig: L’Odyssée d’un STO à travers l’Europe – Ceux de Neukuhren, Paris 1991, S. 129. 64 Stimmung und Haltung der im Reich eingesetzten französischen Zivilarbeiter, SD Bericht Nr. 368 vom 1/4/1943, BA 58R182. 65 Victor Dillard: Suprêmes témoignages, Paris 1945, S. 13. 66 Georges Moullet-Echarlod: La faim au ventre – STO, Paris 1978, S. 67–68.

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Deutsche Arbeiterinnen und ihre ausländischen Kollegen und Kolleginnen im Werk Metall Neumeyer in München, ca. Winter 1943/1944 (Quelle: Paul Fourtier-Berger: Nuits bavaroises ou les désarrois d’un STO, Reims 1999, S. 354)

Deutsche und französische Werftarbeiter bei Seebeck, 1943. (Quelle: Manfred Ernst: Zwangsarbeiter in Wesermünde während des Dritten Reiches, Bremerhaven 1987, S. 48)

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„Ich habe mit einem alten Deutschen, einem Frontkämpfer von 1914 bis 1918, gearbeitet. Sein Sohn hatte das gleiche Alter wie ich, am 19. Mai 1921 geboren, in Stalingrad gefallen. Er hatte selber wenig zu essen, er brachte mir von Zeit zu Zeit ein Frühstück mit, wobei er darauf achtete, dass er nicht gesehen wurde.“67

Diese Großzügigkeit war auch mit außergewöhnlichen Umständen verbunden. Fernand Viannenc erinnert sich, dass der Arbeiter Franz, mit dem er Zigaretten gegen Lebensmittelmarken tauschte, diese ihm zu Weihnachten schenkte.68 Meistens aber nahm der Tausch die Form von Gabe gegen Gabe an, wie es die „Versöhnung“ zwischen Fuchs und Jean-Louis Quereillahc zeigt: „Guten Appetit […]. Es ist Fuchs, der mir dieses wünscht […]. Er ist völlig entspannt, der alte Fuchs. Er ist mir nicht mehr böse. Er bietet mir sogar einen Schluck aus seiner Bierflasche an […]. Ich trinke einen tüchtigen Schluck, um es ihm nicht abzulehnen […]. Er lacht herzlich, als er sieht, dass ich aus der Flasche trinke, ohne sie anzusetzen […]. Viel trinken, viel essen, viel schuften […]. Immer derselbe derbe Witz […]. Ich gebe ihm eine Zigarette. Er zieht ein saures Gesicht, weil er den französischen Tabak nicht allzu sehr mag (er findet ihn zu stark), aber er raucht ihn trotzdem.“69

Joseph Gélin und Gabriel Vasseux bestätigen, dass dieser Gabenaustausch die Solidarität zwischen Franzosen und Deutschen verstärkte: Die einen hatten Hunger, während die anderen unter der Tabakrationierung litten. „Ich habe ihnen Zigaretten gegeben, was der Sache auf einen Schlag ein Ende macht. Die Folge war unerwartet: am nächsten Morgen bringt der alte Österle ein Fläschchen Schnaps, um nicht nachzustehen.70 Vater Fritzel und ich werden Freunde. Er bringt mir Frühstücksbrote, ich Tabak für seine Pfeife. Er raucht viel, um sein Herz zu stärken […]. So behauptet er.“71

Die Beschreibung einer Kameradschaft unter Arbeitern ist keine Rekonstruktion, man findet während des Krieges Beweise davon. So lobte Georges P. vor der Dienststelle Frénay das vorbildliche Verhalten der Deutschen der „Deutschen Hollerith-Firma“72. Dieses System des Austausches konnte sich auch auf Hilfeleistungen beziehen. Unterstützung war umso wichtiger, als die Arbeitsbedingungen hart und die Strafen sehr streng waren. Das Versagen des Einzelnen bedeutete ein Risiko für die Gruppe. Persönliche Hilfe erlaubte es, den Zusammenhalt der Arbeiter zu garantieren, und man hatte dabei die Gewähr, dass man selbst bei Ermüdung unterstützt wurde. 67

Marcel Blanchard, «Schwerte 1942–1945», Revue d’histoire des chemins de fer hors série n°7, 2002, S. 102. 68 Fernand André Jules Viannenc: Le Danube était gris, Nouméa 1981, S. 34. 69 Jean-Louis Quereillahc: J’étais STO, Paris 1958, S. 100. 70 Joseph Gélin: Nuremberg 1943–1945, l’expérience d’un prêtre-ouvrier, Petit-Clamart 1946, S. 38. 71 Antwort von Gabriel Vasseux auf unseren Fragebogen vom 28. August 1998, S. 9. 72 „Wir konnten mit den deutschen Arbeitern nur zufrieden sein […], die zum größten Teil Nazigegner waren. Dank ihrer Hilfe erreichten wir bedeutende Verbesserungen unserer Lage.“ Befragung von Georges P, BAMC – Caen, Gau Berlin.

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Kontakte zur Außenwelt? Wenn die Franzosen auch oft mit ihren deutschen Kollegen gute Beziehungen unterhielten, so kam es dennoch selten vor, dass sich diese außerhalb des Arbeitsplatzes fortsetzten. Der Arbeiter Jean G., der in den Berliner Talbotwerken beschäftigt war, sprach im Jahr 1944 von „einfachen Arbeitsbeziehungen mit den deutschen Kollegen“73, und Pierre Saka, der bei Siemens arbeitete, bestätigte, dass er von dem Privatleben seiner deutschen Kollegen fast nichts wusste.74 Wenn engere Beziehungen bestanden, traf die Schande, freundliche Beziehungen mit dem Feind geknüpft zu haben, sowohl die Deutschen als auch die Zwangsarbeiter: „Diese nationale deutschfeindliche Einstellung war vorherrschend, und die besonderen kameradschaftlichen Beziehungen blieben diskret verborgen, als ob man sich ihrer schämte. Der Hauptton der Gespräche war einförmig deutschfeindlich ohne Ausnahme, und die Kontakte mit dem ‚Feind‘ waren vor allem selbstsüchtige Schwarzmarktbeziehungen.“75

Und doch waren solche Freundschaften, die über die symbolische Grenze des Werktors hinausreichten, häufiger, als man glauben könnte. Diese Freundschaften wurden durch die Ablehnung des Naziregimes, aber auch durch die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche begünstigt. So knüpfte Georges Moullet-Echarlod freundschaftliche Bande mit Franz, dem Küster der Kirche, der ihm Lebensmittel schenkte.76 Man findet solche Gesten öfter in Österreich oder in Süddeutschland. André Delapierre wurde zu Weihnachten in die Wohnung seines Schichtführers in Linz eingeladen.77 In derselben Stadt war Fernand Viannenc der Meinung, dass seine Beziehungen zu den Österreichern durch deren Abneigung gegen die „Preußen“ erleichtert wurden, die unter den Werkmeistern zahlreich waren.78 Nach Charles Joyon waren die Österreicher franzosenfreundlich, gut zu den Fremden und, in ihrer Mehrzahl, gegen die Nazis.79 Ähnlich wie in Linz drückte sich unter den bayerischen Arbeitskollegen eine gewisse Opposition gegen den „preußischen Staat“ aus. Zum Beispiel lernte Louis Bouchardeau von einem Zeichner bei BMW den alten Spruch: „Du bist verrückt mein Kind. Du musst nach Berlin.

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Befragung von Jean G., beschäftigt bei Talbot in Berlin, durch die Dienststelle Frénay, BAMC – Caen, Gau Berlin. 74 Gespräch mit Pierre Saka vom 18. November 2004. 75 Victor Dillard: Suprêmes témoignages, Paris 1945, S. 14. 76 „Franz war Küster in der Kirche von Querum […]. Er gab ihm mehrere Male über 10 Kilo Lebensmittel […]. ‚Wieviel Geld Franz?‘ – ‚Nein, meine Stube ist das Haus Gottes […].‘ Ergriffen, hatte André ihm nur die Hand drücken können, Georges Moullet-Echarlod: La faim au ventre – STO, Paris 1978, S. 174–175. 77 André Delapierre : Ceux du DAF – Souvenirs d’un travailleur forcé en Allemagne, Livry-Gargan 1973, S. 61. 78 Fernand André Jules Viannenc: Le Danube était gris, Nouméa 1981, S. 53. 79 Charles Joyon: Qu’as-tu fait de ta jeunesse ?, Paris 1957, S. 57–58.

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Wo die Verrückten sind, so gehörst du hin.“80 Absolventen der École Polytechnique, die bei Messerschmidt in Augsburg beschäftigt waren, machten die gleiche Erfahrung, indem ihre Kollegen sich über den Hitler-Gruß lustig machten. In Nürnberg wurde Joseph Gélin in das Haus eines Kollegen81, der ein überzeugter Nazigegner war, eingeladen. Selbst im Norden, wie in Hamburg, berichteten manche, wie André C, von einer gewissen Sympathie für die Ausländer und vor allem für Franzosen.82 In Berlin war Jean Robert gleichfalls mehrere Male Gast bei einem Deutschen, dessen Sohn kurz vorher an der Ostfront gefallen war.83 Diese Beziehungen wurden manchmal in der Form eines Austauschs fortgesetzt. Der Deutsche schlug dem Franzosen vor, ihm für eine Mahlzeit oder für Geld zu helfen. Louis Marx jätete beispielsweise sonntags den Weinberg des Wiener Arbeiters Karl Kogler, der ihm dafür ein Essen und 10 RM gab.84 Jean Edmond erwies seinem Personalchef und einer Kollegin kleine Dienste und wurde jedes Mal belohnt, indem er zu Familienmahlzeiten eingeladen wurde.85 Während die Qualität der deutsch-französischen Beziehungen in den Fabriken stark von den Arbeitsvorgängen abhing, waren die Franzosen erstaunt, eine deutsche Zivilbevölkerung zu entdecken, die sich von ihren bisherigen Vorstellungen sehr unterschied. Sie unterstrichen deren Ähnlichkeit mit ihren eigenen Angehörigen, insbesondere im Leid. Wenn auch die Zwangsarbeiter ihr aufgezwungenes Exil voller Verbitterung erlebt haben, so haben sie es doch genutzt, um ihr Bild von der deutschen Zivilbevölkerung dauerhaft zu korrigieren. Der tägliche Umgang hatte es ihnen lange vor den fünfziger Jahren erlaubt, wenn auch nicht zu einer Versöhnung, so doch zu einer nuancierten Betrachtung der Menschen über deren Nationalität hinaus zu gelangen.

Zusammenfassung Dank unterschiedlicher Quellen, vor allem der publizierten Erinnerungen ehemaliger Zwangsarbeiter, ist es möglich, die komplexen Beziehungen zwi-

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Louis Bouchardeau: Chronique de l’Alarm-Club, AN 72AJ2001, S. 89. Joseph Gélin: Nuremberg 1943–1945, l’expérience d’un prêtre-ouvrier, Petit-Clamart 1946, S. 40. 82 „Hamburg weist auf die alten Zeiten hin […]. Für uns Franzosen ist etwas von dieser Vergangenheit geblieben, eine spontane Sympathie, die sich durch tausende Beispielen ausdrückt […]. Hamburg wurde einst ein Widerstandsnest gegen die Nazis.“, Brief von André C an seiner Frau vom 28. 6. 1944, von Frau Darracq geliehen. 83 Antwort von Jean Robert auf unseren Fragebogen vom 2. 3. 1998. 84 Louis Marx: STO Souvenirs d’un temps oublié, Tours, vervielfältigtes Manuskript, vom Autor zugesandt, 1984, S. 18. 85 Jean Edmond: La vie en Allemagne nazie 1943–1945 – c’est là que j’étais, Bericht der IHTP [ARC 067], S. 37. 81

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schen den französischen und deutschen Arbeitern zu analysieren. Obwohl der Kontext des Krieges eine wichtige Rolle spielte – zum einen bei der Ankunft der französischen Arbeiter, da nun ihre deutschen Kollegen befürchten mussten, an die Front geschickt zu werden, zum anderen durch den Verlauf des Krieges, wie beispielsweise die Landung der Alliierten in der Normandie – war es nicht der Krieg an sich, der die Grundlagen der Beziehungen definierte, sondern das tägliche Verhalten am Arbeitsplatz. Das Misstrauen, das manche Deutschen den Franzosen entgegenbrachten, kann daher auch als Geringschätzung der Arbeiter denen gegenüber, die noch nie in einer Fabrik tätig gewesen waren, interpretiert werden. Auch wenn die Beziehungen ambivalent waren, wie z. B. die Integration bzw. die Ausschließung einer Arbeitsgruppe, so zeugen sie doch von der guten oder auch weniger guten Eintracht, die der Arbeitsrhythmus, die gegenseitige Unterstützung und das heimliche Einverständnis gegenüber den Meistern mit sich brachten. Die gemeinsamen Scherze, vor allem über das Werkzeug, der Austausch von Nahrungsmitteln bzw. von Dienstleistungen und der Respekt unter Arbeitskollegen führte zu einer gewissen – wenn auch begrenzten – Art von Solidarität am Arbeitsplatz, deren politische Folgen der Gestapo Sorgen bereitete. Auch wenn die französischen Arbeiter oftmals die besten Beziehungen mit Kollegen unterhielten, die ihren Verdruss gegenüber dem Krieg äußerten oder politisch eher links orientiert waren, so spielten diese politischen Sympathiebezeichnungen eher eine untergeordnet Rolle.

Marc Buggeln

„Menschenhandel“ als Vorwurf im Nationalsozialismus Der Streit um den Gewinn aus den militärischen Großbaustellen am Kriegsende (1944/45) Im September 1944 kritisierte der Direktor Schulz, Angehöriger eines großen Bauunternehmens, in einem Schreiben den Einsatz von zivilen Zwangsarbeitern mit folgenden Worten: „Es haben sich […] sehr viele Firmen […] in den Jahren 1942–1943 auf den reinsten Menschenhandel verlegt und sich eine große Zahl ausländischer Arbeitskräfte verschafft, zu denen die vorhandenen deutschen Führungskräfte, das Gerät und das ingenieurmäßige Leistungsvermögen des Betriebes in gar keinem Verhältnis stehen. Derartig aufgeblähten Firmen darf kein Vorschub geleistet werden.“1

Wie sich an dieser Aussage erkennen lässt, wird hier keineswegs die Zwangsarbeit an sich kritisiert, Schulz bemängelte nur bestimmte Ausprägungen. Überraschend ist dabei vor allem, dass er sich in der letzten Kriegsphase, in der die deutsche Kriegswirtschaft fast vollständig auf den Einsatz von Zwangsarbeitern angewiesen war, vom Vorwurf des Menschenhandels ökonomische Vorteile erhoffte. Seine Aussage gehörte zu einem Konflikt aus dem letzten Kriegsjahr innerhalb der deutschen Bauwirtschaft. Letztlich ging es bei dem Streit um die Frage, ob in der Gewinnverteilung zwischen den großen Bauindustriefirmen und ihren Subunternehmern die zivilen Zwangsarbeiter in die Berechnung miteinbezogen werden sollten und wenn ja, in welcher Form. Um den Gewinn bei den militärischen Großbaustellen entbrannte dabei ein Konflikt, in dem sowohl die Großunternehmen wie auch die Subunternehmer mit harten Bandagen kämpften. Beide Gruppen bemühten sich dabei, die Unterstützung von politischer Seite und insbesondere der letztlich entscheidenden OT zu gewinnen. Dabei ging es unter anderem auch darum, die eigenen Forderungen in die Sprache des Nationalsozialismus zu überführen und im politischen Raum anschlussfähig zu machen. Wie zu zeigen sein wird, hatte diese Übersetzung in diesem Fall für die getroffenen Entscheidungen Bedeutung, und der Vorwurf des Menschenhandels spielte dabei eine wichtige Rolle. Des Weiteren wird zu zeigen sein, dass es den Firmen auch in den letzten Monaten des Krieges keineswegs nur um Bestandssicherung, sondern sehr wohl auch um ihre Gewinne ging, die auch durch die Ausbeutung der Arbeitskraft von zivilen Zwangsarbeitern und KZ-Häftlinge zustande kamen. 1

Schreiben von Direktor Schulz, welches einem Schreiben von Malsy an Jecht vom 16. September 1944 beigelegt ist, in: Bundesarchiv Berlin (BAB), R 13 VIII, Nr. 245.

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Dies ist in der bisherigen Unternehmens- und Zwangsarbeitergeschichtsschreibung häufig anders diskutiert worden.2 Jüngst hat jedoch Christoph Buchheim darauf hingewiesen, dass dem Profitstreben der Unternehmen als einem der zentralen Unternehmensziele mehr Beachtung geschenkt werden sollte, wobei er insbesondere die Bedeutung langfristiger Gewinnerwartungen hervorgehoben hat.3 Am Schluss des Aufsatzes soll deshalb auch der Frage nach der Bedeutung der kurz- und den langfristigen Gewinnerwartungen der Bauindustrie bei ihrem Handeln nachgegangen werden.

Forschungsstand und Konfliktkonstellation in der deutschen Bauindustrie Während der Einsatz von Zwangsarbeitern in der deutschen Großindustrie vergleichsweise gut untersucht ist, sind konkrete Studien zu Baueinsätzen von Zwangsarbeitern nur in geringer Zahl vorhanden. Dies hat zweifelsohne mit der schlechteren Quellenlage zu tun. Nur wenige große Baufirmen verfügen über Archive, und deren Bestand besteht für die Zeit des Zweiten Weltkrieges anscheinend oft nur aus Vorstands- und Aufsichtsratsprotokollen sowie den Nachrichtenblättern der Firmen.4 Hinzu kommt, dass der archivarische Bestand über die Organisation Todt (OT), als zentraler staatlicher Bauträger für viele Einsätze mit Zwangsarbeitern, nicht sehr umfangreich ist5 und bisher keine kritische Gesamtstudie zur OT vorliegt.6 Das Potential der 2

Vgl. Mark Spoerer: Profitierten Unternehmen von KZ-Arbeit? Eine kritische Analyse der Literatur, in: Historische Zeitschrift 268 (1999), S. 61–95, hier S. 72–73; Paul Erker: Industrieeliten in der NS-Zeit. Anpassungsbereitschaft und Eigeninteresse von Unternehmen in der Rüstungs- und Kriegswirtschaft, Passau 1994, S. 67–72; Rainer Fröbe: Der Arbeitseinsatz der KZ-Häftlinge aus der Perspektive der Industrie 1943–1945, in: Ulrich Herbert (Hg.): Europa und der „Reichseinsatz“. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938–1945, Essen 1991, S. 351–383, hier S. 369–372. 3 Vgl. Christoph Buchheim: Unternehmen in Deutschland und NS-Regime 1933–1945. Versuch einer Synthese, in: Historische Zeitschrift 282 (2006), S. 351–390. 4 Vgl. z. B. die Quellenangaben bei Manfred Pohl: Philipp Holzmann. Geschichte eines Bauunternehmens 1849–1999, München 1999 oder Bernhard Stier/Martin Krauß: Drei Wurzeln – ein Unternehmen. 125 Jahre Bilfinger Berger AG, Heidelberg 2005. Vgl. dazu auch die Rezensionen des Archivars der Bilfinger Berger AG, Martin Krauß, zu den Werken Pohls über die Bauwirtschaft, in: Archiv und Wirtschaft 32 (1999) 1 und 33 (2000) 2. 5 Vgl. BAB, R 50 I. 6 Das Werk von Franz W. Seidler ist apologetisch und für Fragen der Zwangsarbeit bei der OT gänzlich unbrauchbar. Dass es dem Autor nicht um die Aufklärung des Massenmordes auf OT-Baustellen, auf denen für KZ-Häftlinge im Vergleich zu anderen Arbeitsplätzen oft die schlimmsten Bedingungen herrschten, sondern um eine Reinwaschung der OT geht, wird schon in den einleitenden Sätzen zum Kapitel „Zwangsarbeiter, Häftlinge, Kriegsgefangene“ deutlich. Es heißt dort: „Für viele Zwangsarbeiter bot die OT die wohl beste Möglichkeit, Krieg, Verfolgung und Aus-

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Quellen ist jedoch deutlich größer, als bisher von der Forschung angenommen. Mein Aufsatz beruht dabei vor allem auf dem bisher wenig genutzten Aktenbestand der Wirtschaftsgruppe Bauindustrie.7 Die in den Quellen deutlich werdenden Interessensgegensätze bzw. Interessensdivergenzen spielten sich auf den ersten Blick vor allem zwischen der Wirtschaftsgruppe Bauindustrie und der OT ab. Deswegen wirkt der Konflikt zunächst wie ein Interessensgegensatz zwischen einer Organisation der Privatwirtschaft und einer staatlichen Stelle. Der zweite Blick offenbart, dass die Sache komplizierter ist: Viele der kleineren und mittleren Industriefirmen der Baubranche stellten sich relativ schnell hinter die Politik der OT. Die Wirtschaftsgruppe Bauindustrie vertrat hingegen vor allem die Interessen der großen Bauunternehmen, die in vielen Punkten gegen die Politik der OT und der mittelständischen Betriebe opponierten. Der Interessensgegensatz zwischen Großindustrie und den kleineren Betrieben und damit auch zwischen der Wirtschaftsgruppe und der OT spitzte sich im letzten Kriegsjahr auf den militärischen Großbaustellen massiv zu. Mit dem Machtantritt Speers waren Verantwortliche der Großkonzerne als Hauptausschuss- und Ringleiter an zentrale Stellen der staatlichen Rüstungswirtschaft aufgerückt. Sie setzten in den meisten Fällen ein Preissystem durch, das den Großkonzernen gegenüber mittelständischen Betrieben Vorteile brachte. Zudem schlossen sie die militärischen Stellen zunehmend von der Preisgestaltung aus.8 Dies blieb in den meisten Sparten bis Kriegsende der Fall. Auch in der Bauindustrie setzte sich diese Machtkonstellation 1943 durch. Mit Carl Stobbe-Dethleffsen wurde ein Vertreter der großen Baufirmen Leiter des Hauptamtes Bau im Speerministerium.9 Flankiert wurde er vom Leiter der Wirtschaftsgruppe Bau, Bruno Gärtner, der auch den Hauptausschuss Bau im Rüstungsministerium leitete. Gärtner war ebenfalls ein direkter Vertreter der großen Baufirmen.10 Gemeinsam konnten die beiden

rottung durch die Deutschen zu überleben.“ Vgl. Franz W. Seidler: Die Organisation Todt. Bauen für Staat und Wehrmacht, 2. Auflage, Bonn 1998, S. 140. 7 BAB, R 13 VIII. Der Bestand lag bei der Einsicht im Zwischenarchiv des Bundesarchivs in Dahlwitz-Hoppegarten. 8 Vgl. Dietrich Eichholtz: Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft, Bd. II, Berlin (Ost) 1985, S. 41–117 und 512–569. 9 Carl Stobbe-Dethleffsen war persönlich haftender Gesellschafter der Firma Wiemer & Trachte (Dortmund). 10 Bruno Gärtner (*1895) war von 1934 bis 1945 Vorstandsmitglied und Direktor bei der großen Bauindustriefirma Wayss & Freytag AG (Frankfurt a. M.). Nach dem Krieg konnte er seine Karriere ohne Unterbrechung fortsetzen und amtierte von 1945 bis 1962 weiter als Vorstandsmitglied und nun auch als persönlich haftender Gesellschafter der gleichen Firma. Vgl. Rainer Eckert: Die Leiter und Geschäftsführer der Reichsgruppe Industrie, ihrer Haupt- und Wirtschaftsgruppen, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (1980) 1, S. 177–197, hier S. 199.

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wichtige Entscheidungen in der Bauwirtschaft durchsetzen, wobei sie von Speer meistens unterstützt wurden. Im Gegensatz zu allen anderen Wirtschaftssparten veränderte sich diese Konstellation jedoch im Jahr 1944 zuungunsten der Großindustrie.11 Mit der OT rückte im Mai 1944 eine Organisation an die Spitze der staatlichen Bauverwaltung, die sich selbst als militärische Organisation verstand und die bei ihren Ambitionen teilweise von der mittelständischen Industrie unterstützt wurde. Die Veränderung der Konstellation erfolgte durch den direkten Zugang des Leiters der OT, Franz Xaver Dorsch, zu Hitler. Zudem wurde er durch Göring unterstützt, der Speers Macht beschneiden wollte. Möglich wurde diese Machtveränderung auch dadurch, dass Speer im Frühjahr 1944 in der Kur in Hohenlychen weilte und nicht selbst bei Hitler vorsprechen konnte.12 Zuvor hatte Dorsch im Januar 1944 den ersten Machtkampf gegen Speer und Stobbe-Dethleffsen verloren. Er musste daraufhin drei Forderungen Speers unterzeichnen.13 Der Konflikt gärte jedoch weiter und Dorsch nutzte Speers Krankheit zu seinen Gunsten. Er erreichte im April 1944, dass ihm von Hitler der Bau von sechs bombensicheren Fabriken zur Herstellung von Jagdflugzeugen („Jägerfabriken“) zugeteilt wurde.14 Im Folgenden gelang es Dorsch, trotz heftiger Attacken Speers, weitere Erfolge zu erzielen. Letztlich sah sich Speer gezwungen, die OT mit dem Amt Bau zusammenzulegen und Dorsch am 1. Mai als dessen Leiter einzusetzen. Stobbe-Dethleffsen musste als Chef des Amtes Bau zurücktreten.15 Diese Veränderung löste 11

Vgl. zum Konflikt jetzt auch Christiane Botzet: Ministeramt, Sondergewalten und Privatwirtschaft. Der Generalbevollmächtigte für die Regelung der Bauwirtschaft, in: Rüdiger Hachtmann/Winfried Süß (Hg.): Hitlers Kommissare. Sondergewalten in der nationalsozialistischen Diktatur, Göttingen 2006, S. 115–137, hier S. 133–135. 12 Vgl. Rolf-Dieter Müller: Albert Speer und die Rüstungspolitik im totalen Krieg, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 5/2, hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Stuttgart 1999, S. 273–773, hier S. 378–386 und 451–455; Dietrich Eichholtz: Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft, Bd. III, Berlin 1996, S. 29–32. 13 Vgl. Schreiben Speer an Dorsch vom 27. 1. sowie dessen Antwort vom 31. 1. 1944, in: BAB, R3/1630. 14 Die entscheidende Sitzung fand am 17. April 1944 zwischen Hitler, Göring und Dorsch statt. Vgl. das Protokoll von Dorsch von der Sitzung, in: BAB, R 3/1509, Bl. 33–39. Am 21. April erging dann der Führerbefehl zu den sechs bombensicheren Jägerfabriken, abgedruckt in: „Führer-Erlasse“ 1939–1945. Edition sämtlicher überlieferter, nicht im Reichsgesetzblatt abgedruckter, von Hitler während des Zweiten Weltkrieges schriftlich erteilter Direktiven aus den Bereichen Staat, Partei, Wirtschaft, Besatzungspolitik und Militärverwaltung, zusammengestellt und eingeleitet von Martin Moll, Stuttgart 1997, S. 409–410. 15 Vgl. Brief Speer an Stobbe-Dethleffsen vom 29. 4. 1944, in: BAB, R3/1637, Bl. 12ff. Hier irrt der ansonsten in der Konfliktbeurteilung des letzten Kriegsjahres weitgehend treffende Dietrich Eichholtz. Speer schloss zwar, wie Eichholtz schreibt, einen Kompromiss mit Dorsch, aber dieser war keineswegs bereits die Überwindung seiner Führungsschwäche mit einer Bündelung aller Kompetenzen unter Speers Führung. Zwar war Dorsch Speer formell weiterhin unterstellt, aber im Folgenden regierte Speer in Dorschs Amtsbereich wenig hinein und griff z. B. bei der Mehrheit der Konflikte zwi-

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in der Wirtschaftsgruppe Bau heftige Aktivitäten und Streitigkeiten aus. Zuerst verlor Gärtner seine Stelle als Hauptausschussleiter, da der Ausschuss aufgelöst wurde und dessen Aufgaben weitgehend an die OT übergingen.16 Dann wurde er als Leiter der Wirtschaftsgruppe heftig attackiert. Ihm wurde vorgeworfen, zu frontal auf Konfrontation mit der OT gegangen zu sein und das Vertrauen von Minister Speer verloren zu haben. Insbesondere Vertreter der rheinischen Großbauindustrie verlangten Gärtners Absetzung und einen Verständigungskurs mit der OT.17 Nachdem Speer jedoch sein Vertrauen in die Leitung der Wirtschaftsgruppe bekundet hatte, und Gärtner versprach eine Verständigung mit der OT zu versuchen, ohne jedoch die Interessen der Wirtschaftsgruppe zu vergessen, gelang es Gärtner die Mehrheit der Großindustriellen hinter sich zu sammeln.18 Daraufhin traf sich Gärtner mehrfach mit Vertretern der OT, doch die Differenzen ließen sich kaum ausräumen und führten zu weiteren, heftigen Konflikten zwischen der Wirtschaftsgruppe und der OT.19 Einer der heftigsten Streite drehte sich um die Frage der Abrechnung der militärischen Großbauprojekte, die unter Leitung der OT standen, aber bei denen der Hauptteil der Planungs- und Konstruktionsarbeit von Großbaufirmen durchgeführt wurde. Diese führten auch die Arbeiten auf der Baustelle mit Hilfe von Subunternehmen durch. Die OT favorisierte bei der Abrechnung ein Verfahren, dass die Bauarbeiter aller Firmen beim Einsatz zählte und den Großteil der Gelder anhand der Menge der eingesetzten Bauarbeiter berechnete.20 Die schen der OT und der Wigru nicht ein. Vgl. Dietrich Eichholtz: Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939–1945, Bd. 3: 1943–1945, Berlin 1996, S. 32. Etwas treffender in der Beurteilung des Konfliktes ist: Gregor Janssen: Das Ministerium Speer. Deutschlands Rüstung im Krieg, Berlin 1968, S. 158–163. 16 Vgl. Brief Speer an Gärtner vom 28. 6. 1944, in: BAB, R 3/1579, Bl. 3–5. 17 Vgl. Präsidiumssitzung der Wirtschaftsgruppe Bau am 6. 9. 1944, in: BAB, R 13 VIII/39. 18 Vgl. Präsidiumssitzung der Wirtschaftsgruppe Bau am 12. 10. 1944, in: R 13 VIII/39. Dies brachte die Kritik jedoch nur kurzfristig zum verstummen, und im Januar 1945 äußerten mehrere Großindustrielle auf einer OT-Tagung erneut massive Kritik an Gärtner. Vgl. Ebd. 19 Der Hauptkontrahent Gärtners war dabei Diplom Ingenieur Malsy, der für die bauwirtschaftlichen Fragen in der OT zuständig war und dessen Ernennung Gärtner schon im Juli 1944 bei Speer zu verhindern versucht hatte. In diesem Fall hatte Speer Gärtners Vorstoß aber zurückgewiesen, vgl. Schreiben Speer an Gärtner vom 28. 7. 1944, in: BAB, R 3/1579, Bl. 7–8. 20 Zur Frage der verschiedenen Abrechnungsmodalitäten in der Bauwirtschaft insgesamt vgl. Jochen Streb: Das Scheitern der staatlichen Preisregulierung in der nationalsozialistischen Bauwirtschaft, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1 (2003), S. 27–48. Eine zentrale Frage für den Verdienst war es, in welcher Höhe es den Firmen gelang, dem Staat höhere Kosten vorzurechnen, als sie tatsächlich anfielen. Cornelia RauhKühne vertritt hier die Auffassung, dass es dem nationalsozialistischen Staat in hohem Maße gelang, die Kosten durch sein Preisregulierungssystem umfassend zu überwachen. Jochen Streb vertritt hingegen die Auffassung, dass der Staat über zu wenig Kontrolleure verfügte, um die Preise wirklich gut zu überwachen und die Unterneh-

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Differenz zwischen der Anrechnung von deutschen Bauarbeitern und zivilen Zwangsarbeitern war dabei in den Planungen der OT gering. Dies wurde von der Wirtschaftsgruppe Bauindustrie massiv kritisiert. Es wäre jedoch falsch zu vermuten, dass hinter diesem Einwurf eine generelle Kritik der Wirtschaftsgruppe und der Großbauindustrie am Einsatz von Zwangsarbeitern und deren rassistischer Behandlung stand. Ganz im Gegenteil waren die Großbaufirmen auch durchgängig Firmen mit großen Zahlen an Zwangsarbeitern.21 Zudem waren auch in der Wirtschaftsgruppe Rassismus und Forderungen zum scharfen Antreiben von Zwangsarbeitern verbreitet.22 Zudem kam es zwischen der OT und der Wirtschaftsgruppe über fast alle Vertragsarten zu Streit. Deswegen richtete die Wirtschaftsgruppe schon im Juli 1944 eine Arbeitsgruppe ein, welche die Vertragsangelegenheiten mit der OT beständig prüfen sollte. Leiter der Arbeitsgruppe war Diplom-Ingenieur Jecht, ein Vorstandsmitglied von Dyckerhoff & Widmann.23 Besonders bedeutsam für die Wirtschaftsgruppe und auch für das Thema Zwangsarbeit war der bereits erwähnte Streit um die Einsatzbeteiligungsverträge bei den militärischen Großbauten.

men den Staat im erheblichen Maße über ihre Kosten täuschen konnten. Meine Untersuchungen unterstützen bisher eher die Auffassung von Streb. Vgl. Jochen Streb: Das Scheitern der staatlichen Preisregulierung in der nationalsozialistischen Bauwirtschaft, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1 (2003), S. 27–48; Cornelia Rauh-Kühne: Hitlers Hehler? Unternehmerprofite und Zwangsarbeiterlöhne, in: Historische Zeitschrift 275 (2002), S. 3–55. 21 Als Beispiel sei hier nur genannt, dass bei Holzmann schon 1941 43% der Belegschaft Ausländer waren und dieser Anteil weiter gestiegen sein dürfte, vgl. Manfred Pohl: Philipp Holzmann. Geschichte eines Bauunternehmens 1849–1999, München 1999, S. 264. 22 So beschwerte sich z. B. Dr. Reuss von der Wirtschaftsgruppe über Zusatzverpflegung, die italienischen Militärinternierten gewährt werden sollte mit den Worten: „Jedenfalls ist es doch völlig ausgeschlossen, daß die Faulheit und oft zu beobachtende Renitenz dieser Leute, die es offenbar für notwendig halten, greifbar zu beweisen, daß sie als Arbeiter ebenso wenig taugen wie als Soldaten, noch dadurch zu belohnen, daß schlechthin und ohne jeden Vorbehalt auch noch eine Zusatzverpflegung gewährt wird.“ Schreiben Reuss an die RGI vom 7. 8. 1944, in: BAB Berlin, R 13 VIII/156. In einem weiteren Schreiben von Reuss heißt es: „die sogenannten Achsenfreunde aus Italien scheinen ja ganz besonders darauf aus zu sein, den Beweis dafür zu liefern, daß sie als Arbeiter ebenso faul, degeneriert und unbrauchbar sind wie als Soldaten; nun, ihr Heimatland ist ja auch das Land der ‚Feigen‘.“ Schreiben Reuss an die Bezirksgruppe Hessen vom 14. 3. 1945, in: ebd./157. In einem Schreiben der Wirtschaftsgruppe an die Firma Holzmann heißt es: „Wir teilen durchaus Ihre Auffassung, dass die russischen Kriegsgefangenen etwas herzhafter angefasst werden können und müssen als deutsche Gefolgschaftsmitglieder, glauben aber, dass im vorliegenden Fall der Schachtmeister Schwenke weit über das Maß hinausgegangen ist.“ Ebd., Nr. 161. Schwenke hatte einem Arbeiter einen Schädelbasisbruch zugefügt, musste in letzter Instanz aber nur 50 Reichsmark Strafe zahlen. 23 Vgl. ebd., Nr. 237.

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Der Einsatzbeteiligungsvertrag für „Weingut I“ Der entscheidende Probefall für den OT-Einsatzbeteiligungsvertrag sollte die Baustelle „Weingut I“ in Mühldorf werden. Hierbei handelte es sich um eine der sechs von Hitler gewünschten bombensicheren Jägerfabriken, die den Aufstieg der OT eingeleitet hatten. Die vier Jägerstabfabriken in Kaufering und Mühldorf sind durch die Dissertation von Edith Raim bekanntlich gut untersucht, allerdings werden die Einsatzbeteiligungsverträge hier nur am Rande erwähnt.24 Bei dem Bau der vier Jägerfabriken führte die OT die Bauhoheit und vergab die Bauausführung an eine große Baufirma als Hauptunternehmer. Dieses Hauptunternehmen war an den Planungen beteiligt, sorgte für die Bereitstellung des Großteils des Maschinenparks und trug nach eigenen Worten die Hauptlast des „unternehmerischen Risikos“. Für all diese Leistungen wurde normalerweise zu dieser Zeit ein Leistungsvertrag zwischen der OT und dem Hauptunternehmer geschlossen. In Mühldorf kam dieser Vertrag jedoch wegen beständiger Streitigkeiten nicht zustande und die Verrechnung erfolgte bis Kriegsende unter Vorbehalt, weil die endgültige Regelung durch den Vertrag erfolgen sollte. Der Hauptunternehmer beschäftigte dann mehrere Subunternehmer, die einzelne Aufgaben auf der Baustelle ausführten. Dabei konnte sich der Hauptunternehmer seine Subunternehmer aber nur bedingt selbst auswählen. Vielmehr gab der Hauptunternehmer seinen Arbeitskräftebedarf zumeist an die OT weiter, die dann entweder KZ-Häftlinge oder aber Baufirmen, deren Großteil der Belegschaft aus ausländischen Zwangsarbeitern bestand, zur Baustelle berief. Im Falle der KZ-Häftlinge war es so, dass die OT diese von der SS beschaffte. Die OT rechnete die Verleihgebühr der KZ-Häftlinge auch direkt mit den Firmen ab und gab das Geld dann an die SS weiter, die es ihrerseits an den Reichsfiskus überwies.25 Im Falle der Subunternehmer mit zivilen Zwangsarbeitern bestand die OT darauf, diese durch einen Einsatzbeteiligungsvertrag an den Gewinnen der Baustelle zu beteiligen. Ein solcher Vertrag war auch durchaus üblich, aber durch die Oberhoheit der OT hatten sich die Machtgewichte verschoben, und die Subunternehmer bemühten sich, dies zu ihren Gunsten zu nutzen. 24

Edith Raim: Die Dachauer KZ-Außenkommandos Kaufering und Mühldorf. Rüstungsbauten und Zwangsarbeit im letzten Kriegsjahr 1944/45, Landsberg 1992; dies.: Die Organisation Todt und „Vernichtung durch Arbeit“ in Kaufering und Mühldorf, in: 1999, 9 (1994) 2, S. 68–78; Gabriele Hammermann: Die Dachauer Außenlager um Mühldorf, in: Dachauer Hefte 15 (1999), S. 77–98. 25 Vgl. Edith Raim: Die Dachauer KZ-Außenkommandos Kaufering und Mühldorf. Rüstungsbauten und Zwangsarbeit im letzten Kriegsjahr 1944/45, Landsberg 1992, S. 110. Beim Bau von „Weingut I“ starben etwa 4 000 KZ-Häftlinge, die in mehreren Außenlagern des KZ Dachau in der Umgebung von Mühldorf untergebracht waren. Noch dramatischer war die Situation auf den anfangs drei Jägerfabrikbaustellen in der Umgebung von Kaufering. Dort starb von etwa 30 000 eingesetzten KZ-Häftlingen bis Kriegsende fast die Hälfte. Vgl. ebd., S. 240–245.

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In Mühldorf konnte letztlich aber kein endgültiger Einsatzbeteiligungsvertrag unterschrieben werden, weil der Hauptunternehmer keine finale Regelung vor der Unterschrift der OT unter den Leistungsvertrag vornehmen wollte. Trotzdem gab es während der Verhandlungen des Einsatzbeteiligungsvertrages erhebliche Auseinandersetzungen, die für das Verhältnis zwischen den verschiedenen Baufirmen sowie der OT erhellend sind. Im Falle des Bauprojekts in Mühldorf war der Einfluss der OT besonders hoch einzuschätzen, weil die OT in Bayern über einen besonderen Zugang zur politischen Macht verfügte. Als der Bau in Mühldorf im Mai 1944 begann, stand dieser noch unter Hoheit des OT-Sonderstabes „Annemone“. Dieser wurde jedoch im Juni oder Juli Teil der OT-Einsatzgruppe VI. Leiter der Einsatzgruppe VI wurde Professor Hermann Giesler, den Hitler 1938 zum Generalbaurat für die „Hauptstadt der Bewegung“ München ernannt hatte.26 Gieslers Position war vor Ort praktisch unangreifbar, weil sein Bruder Paul Gauleiter von Oberbayern, bayrischer Ministerpräsident und Innenminister sowie kommissarischer Leiter der Geschäfte des bayrischen Kultus-, Finanz- und Wirtschaftsministeriums war.27 Der Streit um den Einsatzbeteiligungsvertrag begann bereits kurz nach der Einrichtung der Baustelle. Anfang Juli 1944 schrieb Franz Wendt an die Firma Polensky & Zöllner, dass er es nicht richtig fände, dass sie als Hauptunternehmer von ihm die Arbeitspapiere seiner Männer verlangt hätten. Auch könne er die in der Besprechung am 29. Juni von der Firma und der Wirtschaftsgruppe Bau vertretenen Ansichten nicht teilen. Deswegen sei er jetzt mit seinen Leuten der Betriebsarbeitsgemeinschaft „Sachsen“ beigetreten und sei dort mit 118 Mann das zweitgrößte Unternehmen.28 In einem Schreiben derselben Firma zwei Wochen später kam die Konfliktkonstellation deutlich zum Ausdruck: „Ihre beiden Schreiben vom 14. und 20. 7. 1944 haben mir erneut die Ansicht bestätigt, dass die Vertreter der Wirtschaftsgruppe Bauindustrie weniger die Interessen der mittleren und kleineren Wibaufirmen, als vielmehr vornehmlich das Interesse der Firma Polensky & Zöllner vertreten. Im Gegensatz dazu hat Herr Müller von der Bezirksarbeitsgemeinschaft Sachsen in dankenswerter Weise auch die den Innungsfirmen gleichgerichteten Interessen der mittleren und kleineren Wibaufirmen unbeabsichtigt mit wahrgenommen, und die Herren Daub und Richter der OTZ- [OT-Zentrale, M.B.] Vertragsabteilung haben für die berechtigten Forderungen des Herrn Müller auch vollstes Verständnis gezeigt.“29

26

Vgl. zu Hermann Giesler: Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a. M. 2003, S. 184. 27 Vgl. ebd. sowie Edith Raim: Die Dachauer KZ-Außenkommandos Kaufering und Mühldorf. Rüstungsbauten und Zwangsarbeit im letzten Kriegsjahr 1944/45, Landsberg 1992, S. 58. 28 Schreiben der Fa. Franz Wendt an Polensky & Zöllner vom 6. 7. 1944, in: BAB, R 13 VIII/245, Bl. 86–87. 29 Schreiben der Fa. Franz Wendt an die Wirtschaftsgruppe Bau vom 24. 7. 1944, in: ebd., Bl. 80.

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Das Verbot der Wirtschaftsgruppe der Bezirksarbeitsgemeinschaft beizutreten, hielt Wendt dabei für völlig an der Realität vorbeigehend, und er war nicht bereit, sich von der Wirtschaftsgruppe den Eintritt verbieten zu lassen. Die Ausgangslage des Konfliktes war also, dass selbst die mittleren Bauindustriebetriebe sich nicht mehr von der Wirtschaftsgruppe vertreten fühlten und sich mit dem Bauhandwerk, in diesem Fall der Bezirksarbeitsgemeinschaft, zusammentaten. Die OT-Zentrale hielt die Forderungen des Handwerks und der mittelständischen Firmen zu diesem Zeitpunkt für berechtigt. Auf der anderen Seite stand die Hauptunternehmerfirma Polensky & Zöllner, die mit ihren Anliegen von der Wirtschaftsgruppe Bauindustrie unterstützt wurde. Worum ging es nun konkret? Die Wirtschaftsgruppe sah für die Beteiligungsverträge vor allem zwei Hauptmöglichkeiten: 1. Eine Beteiligung der eingesetzten Firmen am Bruttogewinn oder 2. ein garantiertes Entgelt pro eingesetzten Arbeiter. Die Wirtschaftsgruppe betonte, dass das erste Verfahren zwar aufwändiger und verwaltungsintensiver wäre, aber der große Vorteil sei, dass alle Unternehmen an einem möglichst hohen Gewinn interessiert blieben. Deswegen empfahl die Wirtschaftsgruppe ihren Firmen generell Verfahren I zu wählen.30 Polensky & Zöllner hatten dieses Verfahren jedoch schon im Juli als zu aufwändig abgelehnt und sich für das Verfahren II entschieden.31 Die Wirtschaftsgruppe hatte sich auf Wunsch der Firma darauf eingelassen. Hierfür hatten Polensky & Zöllner gemeinsam mit der OT eine neue Fassung des von der OT-Gruppe West genutzten Einsatzbeteiligungsvertrages entwickelt, der zu dem Zeitpunkt Entwurf IV der OT genannt wurde. Sowohl für die Wirtschaftsgruppe wie für die OT galt die Prüfung der Auswirkungen des Vertrages bei „Weingut I“ als Prüfung für die Tauglichkeit des Verfahrens.32 Zuvor war es Ende Juli zu einem Treffen der streitenden Parteien in Berlin gekommen. Dort trafen sich Verantwortliche der OT, der Wirtschaftsgruppe Bau, des Reichsinnungsverbandes und von Polensky & Zöllner. Dort legte die Firma einen eigenen Vertragsvorschlag vor. Dieser wurde aber vom Reichsinnungsverband und der OT abgelehnt. Die OT betonte abschließend, dass sie mit aller Macht den zu dem Zeitpunkt aktuellen Entwurf III durchsetzen würde.33

30

Aktenvermerk Haufe vom 28. 8. 1944 über eine Besprechung mit Jecht, in: ebd. Nr. 244,. 31 Vgl. Schreiben von Polensky & Zöllner an die Wirtschaftsgruppe Bau vom 11. 7. 1944, in: ebd. 32 Vgl. Besprechung betr. Einsatzbeteiligungsvertrag am 25. 8. 1944 zwischen Haufe (Wirtschaftsgruppe Bau) sowie Malsy und Daub (beide OT) am 25. 8. 1944, in: Nr. 244. 33 Niederschrift von Dr. Riedel (Wirtschaftsgruppe Bau) über die Sitzung am 31. 7. 1944 im Holzmann-Gebäude in Berlin-Charlottenburg, in: ebd.

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Die politische Drohung und die Umstellung der Argumentation Die OT konnte sich damit jedoch nur im Fall „Weingut I“ durchsetzen. Für diese Baustelle wurde der Vertrag als Testfall für gültig erklärt. Für alle anderen Großbaustellen verhandelte die Wirtschaftsgruppe weiter und die OT nahm in Entwurf IV einige Kritikpunkte der Wirtschaftsgruppe auf. Die Wirtschaftsgruppe betonte jedoch, dass auch der Entwurf IV ihrer Meinung nach nicht tauglich sei, weil er für alle Betriebe gelte. Ihrer Meinung nach sollte der Vertrag aber erst für Firmen mit fünf oder zehn Mitarbeitern genutzt werden, wodurch die Großbetriebe die Gewinnbeteiligung der Kleinstbetriebe verringern wollten. Dies war eine der Fragen, die für beide Formen der Abrechnung galten und die heiß umkämpft waren. Auch hier hatte die Wirtschaftsgruppe bereits erste Versuche gemacht, die von ihr geforderte Regel durchzusetzen. In einer Besprechung Ende Juli in Mühldorf hatte Dr. Riedel von der Wirtschaftsgruppe betont, dass der Einsatzbeteiligungsvertrag seiner Meinung nach nur für Firmen ab zehn Mitarbeitern gelten könne. Dies erboste die Vertreter des Reichsinnungsverbandes in hohem Maße. Sie betonten, dass dann 85% ihrer Betriebe geschlossen werden müssten.34 Dr. Riedel blieb jedoch bei seiner Meinung. Dies führte zu erregten Protesten, und Dr. Riedel wurde angedroht, „die Angelegenheit politisch untersuchen zu lassen“.35 Der Wirtschaftsgruppe wurde Riedels Verhalten daraufhin zu gefährlich und sie betonte, dass es sich bei Dr. Riedels Ansichten um seine Privatmeinung handele.36 Dies stimmte zwar keineswegs, aber die Distanzierung schien in diesem Fall geboten. Fortan reduzierte die Wirtschaftsgruppe ihre Forderung in der Öffentlichkeit auf eine Mindestgröße von fünf Mann für die Aufnahme einer Firma in den Einsatzbeteiligungsvertrag. Zum anderen wurde der Wirtschaftsgruppe klar, dass es einer politischen Argumentation bedurfte, um den Angriffen begegnen zu können. Der Reichsinnungsverband argumentierte politisch mit „einseitigen Monopolprofiten“ und dem Aussterben des Handwerks zugunsten „seelenloser Großbetriebe“. Diese Argumentation wurde von der OT gestützt und hatte auch in Teilen der NSDAP, die Chance Gehör zu finden. Dementsprechend musste sich die Wirtschaftsgruppe nun überlegen, wie sie ihr Anliegen auch politisch begründen und rechtfertigen konnte. Die Wirtschaftsgruppe entschied sich für die Argumentationslinie, die Gefahr von Menschenhandel und vor allem Rentnertum herauf zu beschwören. Das Argument war folgendes: Wenn alle Firmen unabhängig von ihrer Größe und 34

Im Reichsinnungsverband waren die Firmen des Bauhandwerks zusammengeschlossen. Von diesen Firmen verfügten nur wenige über mehr als zehn Firmenmitglieder. 35 Aktenvermerk Dr. Rauscher an Dr. Riedel vom 4. 8. 1944, in: ebd. 36 Vgl. ebd.

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von der Dauer der Beschäftigung der bei ihnen Angestellten, eine Gewinnbeteiligung und einen Zuschuss für die Verwaltung bekommen würden, dann würden die Firmen, die einfach kurzfristig zivile Zwangsarbeiter auf die Baustellen bringen würden, genauso entlohnt wie Firmen, die deutsche Arbeiter beschäftigten oder die ihre zivilen Zwangsarbeiter ausgebildet und langfristig zu Stammarbeitern gemacht hätten. Es würden sich dadurch Rentiers unter den Firmenbesitzern herausbilden, die nur noch vom Gewinn aus dem Menschenhandel leben würden. Man könnte sagen, dass einzelnen kleinen Baufirmen damit – in der Nazi-Propagandasprache ausgedrückt – vorgeworfen wurde, sich vom „schaffenden“ in „raffendes“ Kapital zu verwandeln. Eine Anklage, die beim Begriff des „Rentnertums“ mitschwang. Die Argumentation war für die größeren Betriebe auch deshalb sinnvoll, weil sie im Gegensatz zu den meisten kleinen Firmen nach wie vor über einen hohen Anteil deutscher Stammarbeiter verfügten. Eine ähnliche Redeweise hatte es zu Beginn der Zwangsarbeiterrekrutierung, als man noch hoffte, dass die Arbeitskräfte des besetzten Europas freiwillig kommen würden, auch innerhalb der NSDAP und der SS gegeben. So verkündete der thüringische Gauleiter Sauckel kurz nach seiner Einsetzung als Generalbevollmächtigter des Arbeitseinsatzes: „Jüdische Methoden der Menschenfängerei, wie sie aus dem kapitalistischen Zeitalter gerade in den demokratischen Staaten üblich gewesen sind, sind des nationalsozialistischen Großdeutschen Reiches unwürdig.“37

Die Verbindung des Vorwurfs der „Menschenfängerei“ mit antisemitischen und antidemokratischen Stereotypen ist offensichtlich und zeigt, dass der Vorwurf insbesondere beim völkischen Flügel der NSDAP verbreitet war. Nachdem sich jedoch gezeigt hatte, dass die erwarteten Arbeiter keineswegs freiwillig kamen, sondern die deutschen Stellen immer umfangreichere Zwangsmethoden anwenden mussten, verschwand diese Diktion 1943 weitgehend aus den offiziellen deutschen Verlautbarungen.38 Umso überraschender ist es, dass die Wirtschaftsgruppe Bau 1944 diesen Vorwurf wiederbelebte und ihn für ihre Anliegen zu nutzen versuchte. Es sollte sich aber zeigen, dass diese Argumentation tatsächlich deutlich mehr Chancen auf Gehör, auch innerhalb der OT, hatte, als vorherige Argumente über zu geringe Gewinne für den Hauptunternehmer. Bessere Argumente waren für die Wirtschaftsgruppe nun auch dringend erforderlich, da sich ähn37

Anordnung Nr. 4 des Generalbeauftragten für den Arbeitseinsatz vom 7. 5. 1942, in: Staatsarchiv Nürnberg, PS-3352, abgedruckt in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg, 14. 11. 1945 –1. 10. 1946, 42 Bände, Nürnberg 1947ff., hier: Bd. 32, S. 202ff. 38 Vgl. Walter Naasner: Neue Machtzentren in der deutschen Kriegswirtschaft 1942–1945. Die Wirtschaftsorganisation der SS, das Amt des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz und das Reichsministerium für Bewaffnung und Munition/ Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Boppard am Rhein 1994, S. 117.

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liche Konflikte an weiteren Großbaustellen anbahnten. Da die OT anscheinend gewillt war, ihren Entwurf IV als Standardentwurf für alle Einsatzbeteiligungsverträge durchzusetzen und die Wirtschaftsgruppe geringe Chancen sah, die OT davon abzubringen, legte sie ihr Hauptaugenmerk nun darauf, den Vertrag zugunsten der Hauptfirmen zu verändern.

Der Streit auf den U-Bootbunker-Großbaustellen in Bremen Parallel trafen im August bei der Wirtschaftsgruppe Fragen der bauausführenden Firmen der Großprojekte „Valentin“ in Bremen-Farge und „Biber“ in Bedburg/Erft ein. In Bremen-Farge errichtete die OT einen U-Bootbunker, der 426 Meter lang und 97 Meter breit war. Als Hauptunternehmer agierten zwei Arbeitsgemeinschaften, die Arge Nord und die Arge Süd, die von Großunternehmen, u. a. Wayss & Freytag, Hochtief und Tesch, geleitet wurden.39 Auf der Baustelle arbeiteten 1944 täglich etwa 10 000 Menschen, darunter waren etwa 6 000 zivile ausländische Zwangsarbeiter, 2 000 KZ-Häftlinge, 1 000 sowjetische Kriegsgefangene und einige hundert Häftlinge eines Arbeitserziehungslagers. Oft wurden in den Schreiben zwischen den Baufirmen und der Wirtschaftsgruppe zugleich noch Fragen hinsichtlich des U-Boot-Bunkers „Hornisse“ in Bremen-Gröpelingen mitverhandelt, bei dem es sich um den Bau eines kleineren U-Boot-Bunkers auf dem Werksgelände der AG Weser handelte.40 Dieser Bau wurde von der Arge Bremen unter Oberhoheit der OT ausgeführt. In Bedburg sollte dagegen eine Jägerfabrik entstehen, die mit jener in Mühldorf fast baugleich war. Sie war in der Planung 400m lang, 85m breit und 32m hoch. Die Gesamtleitung lag auch hier in den Händen der OT, und die Bauausführung wurde auch von einer Arbeitsgemeinschaft größerer Firmen, u. a. Heinrich Butzer, Wayss & Freytag und Dyckerhoff & Widmann, übernommen.41 In beiden Fällen taten sich die kleinen Industrie- und Handwerksfirmen zu Interessensgemeinschaften zusammen, um mit den Hauptfirmen bzw. Argen zu verhandeln. Jeweils spielte die Deutsche Bau AG aus Düsseldorf eine wichtige Rolle innerhalb der Interessensgemeinschaften und legte im Namen 39

Vgl. Barbara Johr/Hartmut Roder: Der Bunker. Ein Beispiel nationalsozialistischen Wahns. Bremen-Farge 1943–1945, Bremen 1989; Rainer Christochowitz: Die U-BootBunkerwerft „Valentin“. Der U-Boot-Sektionsbau, die Betonbautechnik und der menschenunwürdige Einsatz von 1943 bis 1945, Bremen 2000; Marc Buggeln: Der Bunker Valentin. Zur Geschichte des Baus und des Lagersystems, in: http://www2. bildung.bremen.de/sfb/behoerde/deputation/depu/l140_a.pdf. 40 Vgl. Eike Hemmer/Robert Milbradt: Bunker „Hornisse“. KZ-Häftlinge in Bremen und die U-Boot-Werft der „AG Weser“ 1944/45, Bremen 2005. 41 Vgl. Uwe Depcik: Die Organisation Todt. Bunkerbau in Bedburg, in: historicum. net, URL: http://www.historicum.net/no_cache/persistent/artikel/4390 (letzte Aktualisierung: 18. 10. 2006).

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der Interessensgemeinschaften Gegenvorschläge zu den Einsatzbeteiligungsvertragsentwürfen der Hauptfirmen vor. In Bremen hatte die Firma Hermann Möller (Hamburg) Anfang August 1944 für die Argen „Richtlinien für die Abrechnung beteiligter oder angegliederter Firmen an Arbeitsgemeinschaften betr. Bauvorhaben Valentin und Hornisse“ erstellt. Die Richtlinien sahen zwei Möglichkeiten der Beteiligung vor: „1. Zurverfügungstellung der gestellten Arbeitskräfte unter Vergütung eines Zuschlages auf den Lohn oder 2. Beteiligung am Gewinn der Arbeitsgemeinschaft.“42 Für Fall 1 schlug Möller vor, die kompletten Arbeitspapiere aller Arbeiter in die Hände der Arbeitsgemeinschaft zu geben. Sie sollten für die komplette Dauer des Einsatzes an die Arge abgestellt werden. Erst nach dem Ende der Arbeit würden sie an ihren ursprünglichen Arbeitgeber zurückgegeben. Die Arbeiter könnten nur mit Zustimmung des ursprünglichen Arbeitgebers gekündigt oder entlassen werden. Allerdings könnte die Arge ungeeignetes Personal mit der Bitte um Ersatzstellung zurückgeben. Die abgebenden Betriebe würden dafür zur Abgeltung ihrer Geschäftskosten und zur Beteiligung an den Gewinnen auf den gezahlten Bruttolohn ohne Lohnnebenkosten bei „deutschen Gefolgschaftsmitglieder“ 20% und bei „Ausländern“ 10% Zuschlag bekommen. Auch im Fall 2 sollten nach Möllers Vorstellungen die Arbeitspapiere an die Argen abgegeben werden. Die Beteiligung am Gewinn sollte durch die Anrechnung aller Stammarbeiter und Betriebsentsandten einer Firma erfolgen. Ausländische Arbeitskräfte, also zivile Zwangsarbeiter, sollten ebenfalls zur Anrechnung kommen, aber nur wenn „diese Arbeitskräfte in ihrem Beruf beschäftigt und von der Arge-Leitung als vollwertige Kräfte anerkannt werden. Hilfskräfte bleiben in jedem Fall außer Ansatz, somit auch die während des Bauverlaufs der Arge zugewiesenen Hilfskräfte.“43 Zentral für die Abrechnung sollten die Anzahl und Einsatzdauer der abgegebenen Kräfte sein, die wiederum mit der jeweiligen Lohnhöhe der verschiedenen Berufsgruppen verrechnet werden sollte. Gegen diese Richtlinien erstellte die Deutsche Bau AG parallel einen alternativen Vertragsentwurf. Dort hieß es in §6: „Zur Erhaltung des Arbeitsfriedens auf der Baustelle ist es notwendig, dass Gehälter und Löhne nach den bei der OT geltenden Grundsätzen festgesetzt werden. […] Kommt eine Einigung nicht zustande, so entscheidet die Einsatzgruppe ‚Hansa‘ der OT.“44

Die Papiere der Arbeitskräfte sollten in den Händen der Interessensgemeinschaft verbleiben. Umsetzungen dieser Kräfte wären ebenfalls nur durch die Interessensgemeinschaft vorzunehmen. Zur Ermittlung der Beteiligung am 42

Vgl. Richtlinien vom 10. 8. 1944, in: BAB, R 13 VIII/244. Ebd., S. 3. 44 Vertragsentwurf der Deutsche Bau AG für einen Vertrag zwischen der Arge Nord und Arge Süd einerseits und der Interessensgemeinschaft Farge andererseits vom 8. 8. 1944, in: ebd. 43

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Gewinn wurde ein Punktesystem für alle Arbeitskräfte vorgeschlagen. Nach diesem erhielten die Firmen für: Deutsche Poliere und Schachtmeister Ausländische Poliere Deutsche Vorarbeiter Ausländische Vorarbeiter Deutsche Facharbeiter Ausländische Facharbeiter Deutsche Bauhilfsarbeiter Ausländische Bauhilfsarbeiter Italienische Militärinternierte

6 4 5 3 4 2 2 1 0,5

Punkte Punkte Punkte Punkte Punkte Punkte Punkte Punkt Punkte

Nur für die italienischen Militärinternierten sollte es eine zeitliche Mindestbetriebszugehörigkeit von 6 Monaten geben, um in die Berechnung einfließen zu können. Ausgeschlossen von der Anrechnung wurden sonst nur Arbeitskräfte, die der Baustelle unmittelbar zugewiesen wurden und die vorher keiner Firma angehört hatten. Durch diesen Schlüssel sollte der gesamte Gewinn verteilt werden mit Ausnahme von vorher abzuziehenden 1,5% für allgemeine Geschäftskosten und 2% für Gewinn, die nur der Arge zugute kommen sollten aufgrund von Verwaltungs-, Post- und Reisekosten. Die Differenzen zwischen den großen Firmen der Arge und den kleineren Firmen der Interessensgemeinschaft kamen durch diese Vertragsvorschläge zu Tage. Beide Parteien wollten die Arbeitspapiere in ihre Hände bekommen, um die zentrale Macht über die Arbeiter und den Großteil der statistischen Auswertungsunterlagen zu haben. Die Arge wollte alle ausländischen Hilfsarbeiter aus der Anrechnung des Gewinnes heraushalten, während die Interessensgemeinschaft diese ohne Einschränkung mit in die Berechnung einbeziehen wollte. Demzufolge hätten vier ausländische Hilfskräfte zur selben Gewinnbeteiligung geführt, wie ein deutscher Facharbeiter. Die Interessensunterschiede liegen darin begründet, dass die Hauptfirmen vergleichsweise viele deutsche Fachkräfte beschäftigten, die den Bau planten und die Aufsicht auf der Baustelle stellten. Dahingegen beschäftigten viele der kleinen Firmen nur ein bis drei deutsche Arbeiter und eine deutlich größere Zahl von ausländischen Hilfsarbeitern. Die Arge setzte darum alle Hebel in Bewegung, um die Gewinnbeteiligung der kleinen Firmen anhand ihrer ausländischen zivilen Zwangsarbeiter zu verhindern. In einem Brief der Arge Nord an das Arbeitsamt Bremen wird detailliert über die Zusammensetzung der Firmen berichtet: „Zur Verstärkung unserer Stammgefolgschaft wurden uns bisher insgesamt 32 Fremdfirmen zugewiesen, mit den verschiedensten Belegschaftsstärken zwischen 1 und 350 Mann je Firma. […] Eine Firma, die uns 30 Mann einbrachte, besaß nur zwei eigene Stammkräfte. […] Eine zweite Firma dieses Einsatzes brachte ausschließlich Polen, Ostarbeiter und Ostfrauen ein, die nachweislich erst 2–3 Monate bei dieser Firma beschäftigt waren. […] Im Frühjahr dieses Jahres wurden dann durch den Hauptausschuß

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Bau weitere Firmeneinheiten nach hier umgesetzt. Auch hierbei handelte es sich durchweg um ausländische Arbeitskräfte und nur zu einem ganz geringen Teil um deutsche Facharbeiter. […] Anschließend an diese Aktion wurde im Mai ds. Jrs. von der OT eine große Anzahl Firmeneinsätze nach hier überführt. […] Die weitaus größte Zahl, d. h. rund 98% der Belegschaft besteht auch hier aus ausländischen Arbeitskräften.“45

Nach dieser Tirade über die Zusammensetzung der Arbeitskräfte der kleinen Firmen, beklagte sich die Arge anschließend über die Ansprüche der Firmen: „Schon diese Firmen stellten Ansprüche auf eine laufende Vergütung für die abgestellten Arbeitskräfte, und wir mußten uns nach langen Verhandlungen, wobei wir mehrfach versucht haben die Arbeitsämter, den Baubevollmächtigten usw. einzuschalten, bereit erklären, auf die Bruttolohnsumme laufend 5%, soweit wir selbst entlöhnen, und 30%, soweit die Entlöhnung durch die Stammfirmen durchgeführt werden, zu zahlen.“46

Die Arge beschwerte sich weiter darüber, dass der Großteil der Firmen die Arbeitspapiere in den eigenen Händen behalten und zur Lohnabrechnung zumeist einen der wenigen Poliere von der Arbeit auf der Baustelle abgezogen habe. Zudem hätten Stichproben ergeben, dass beständig zu viele Stunden aufgeschrieben würden, ohne dass die Arge viel dagegen unternehmen könnte. Darum bat die Arge Nord das Arbeitsamt nun um „energischen Durchgriff“. Parallel wandte sich eine der Arge-Firmen, die Gottlieb Tesch GmbH (Berlin), an die Wirtschaftsgruppe Bau, um sich über die Forderungen der Interessensgemeinschaft zu beschweren. Auch Tesch wies darauf hin, dass der Großteil der Belegschaftsmitglieder Ausländer seien, die erst seit sehr kurzer Zeit Mitglieder der Firmen der Interessensgemeinschaft waren. Der Brief endete: „Auch erscheint der Vertragsentwurf […] untragbar, da die Interessensgemeinschaft den vollen kalkulierten Gewinn und im Verhältnis zur Leistung zu hohe Geschäftskosten beansprucht, ohne sich irgendwie am Risiko zu beteiligen. Es kann nach unserer Meinung nur ein fester Zuschlag für Geschäftskosten und Gewinn von etwa 10–12% auf die Lohnsumme […] als angemessen betrachtet werden.“47

Die Wirtschaftsgruppe stimmte diesen Vorbehalten rundum zu. Sie teilte der Firma aber mit, dass sie zurzeit mit der OT über einen Vertrag verhandele, der dann reichsverbindlich erklärt werden sollte.48 In ähnlicher Form verlief auch die Kommunikation der Wirtschaftsgruppe mit der Firma Butzer bezüglich des Baues in Bedburg.49 In den ersten beiden September-Wochen scheint es parallel zu intensiven Verhandlungen zwischen der OT und der Wirtschaftsgruppe um den Einsatzbeteiligungsvertrag gekommen zu sein. Spätestens am 12. September lag dann ein neuer Vertragsentwurf der OT vor. In den im Streit in Bremen-Farge zentralen Problemen obsiegten bei der Frage der Arbeitspapiere die kleinen Firmen. 45

Brief der Arge Nord an das Arbeitsamt Bremen vom 17. 8. 1944, in: ebd. Ebd. 47 Schreiben der Firma Tesch an die Wirtschaftsgruppe Bau vom 1. 9. 1944, in: ebd., 244. 48 Schreiben der WG Bau an Firma Tesch vom 4. 9. 1944, in: ebd. 49 Schreiben der Firma Heinrich Butzer an Haufe (Wirtschaftsgruppe Bau) vom 5. 9. 1944, in: ebd. 46

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Ihnen wurde zugestanden, die Papiere ihrer Arbeiter zu behalten. Im zweiten Punkt jedoch setzte sich die Wirtschaftsgruppe durch. Der Vertrag sah ein gleiches Kopfgeld für alle abgegebenen Arbeiter vor, aber nur für solche, die schon vor dem 1. Januar 1941 zu den Firmen gehörten. Gegen diese Regelung protestierte die Deutsche Bau AG daraufhin sofort energisch. Sie forderte eine Punktwertung für die abgegebenen Arbeiter und wünschte, dass alle Arbeiter ab einer Betriebszugehörigkeit von einem Jahr mitgerechnet werden sollten, damit möglichst viele zivile Zwangsarbeiter zugunsten der kleinen Firmen in die Gewinnrechnung einfließen konnten. Die Deutsche Bau AG ging also schon von ihrer vorherigen Maximalforderung der Zählung aller Arbeiter ab und versuchte nun die Frist zu verkürzen. Der Diskussionsstrategie der Wirtschaftsgruppe, die Ansammlung von Zwangsarbeitern als „Rentnertum“ zu bezeichnen, setzte die Deutsche Bau AG nun eine neue Strategie gegenüber: „Wir möchten auf die Gefahr aufmerksam machen, dass der Arbeitsmarkt in zwei Teile zerfällt. Es besteht die Möglichkeit, dass nur noch ein kleiner Teil der Arbeiter firmengebunden bleibt, während der Rest zur formlosen Masse wird, die in immer andere Hände gerät.“50

Die Gefahr, dass aus ausländischen Zwangsarbeitern eine formlose Masse würde, hatte im Nationalsozialismus aber nur begrenzte Sprengkraft. Der Vorwurf des „Rentnertums“ durch die Wirtschaftsgruppe hatte insgesamt stärkere Zugkraft in der politischen Arena.

Die Unterschiede bei der Gewinnverteilung Fest steht, dass die OT am 15. Oktober 1944 den aus den Verhandlungen hervorgehenden OT-Einsatzbeteiligungsvertrag für alle kriegswichtigen Bauten – und das waren zu dieser Zeit eigentlich alle Bauten – für verbindlich erklärte. Zuvor soll nun aber auf das zentrale Beispielprojekt Weingut I zurückgekommen werden. Kurz nachdem der neue Einsatzbeteiligungsvertrag gültig wurde, war es der Firma Polensky & Zöllner endlich gelungen, Zahlen für den dort gültigen Vertrag für den Monat September vorzulegen. Die Firma kam dabei zu dem Ergebnis: „Bezüglich der Beteiligung am Gewinn aus den Leistungen nach Festpreisen vom 1. 8. 1944 ab, haben sich unsere von vorneherein geäußerten Bedenken bestätigt. Unter den auf der Baustelle Weingut I vorliegenden Verhältnissen zeitigen die entgegen unseren ebenfalls in unserem Schreiben vom 1. 8. 1944 gemachten Vorschlägen in Aussicht genommenen Formeln eine Beteiligungshöhe für die Einsatzbeteiligten, die im Verhältnis der Leistungen der Einsatzbeteiligten zu denen des Unternehmens und des diesem verbleibenden Restes des Gewinnes als unangemessen und ungerecht bezeichnet werden muss.“51 50

Schreiben der Deutsche Bau AG an den Paritätischen Ausschuss der Bauwirtschaft, z.H. Dr. Haufe (gleichzeitig Wirtschaftsgruppe Bau) vom 12. 9. 1944, in: ebd. 51 Schreiben Polensky & Zöllner an die WG Bau vom 11. 11. 1944, in: ebd., 246.

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In konkreten Zahlen ausgedrückt war es so, dass der kalkulierte Gesamtgewinn der Baustelle für den September 1944 126 408 Reichsmark betrug. Davon erhielten die Einsatzbeteiligten 41 278 RM, also etwa 30% des Gewinnes. Als üblich galt in der Branche eine Gewinnbeteiligung von 10–12%. Mit dem Anfang August durchgesetzten Vertrag hatte die OT also handfeste Vorteile für das Handwerk und die mittelständischen Firmen erwirkt. Für den neuen Vertrag vom 15. Oktober gab die Wirtschaftsgruppe für ihre Mitglieder ein Erläuterungsschreiben heraus. Darin betonte die Wirtschaftsgruppe, dass in der Rubrik sonstige Lohnempfänger nur Arbeiter, die seit dem 1. Januar 1941 bei einer Firma waren, als Teil des Vertrages gelten würden.52 Die Wirtschaftsgruppe hatte sich also in diesem Fall bei der OT durchgesetzt; die Einwände der kleinen Firmen wurden nicht berücksichtigt. Zudem wies die Wirtschaftsgruppe daraufhin, dass der Einsatzbeteiligungsvertrag erst ab fünf firmeneigenen Arbeitern gelte. Mit den Firmen mit weniger Arbeitern müssten zwar auch Regelungen getroffen werden, aber diese seien nicht Teil des Vertrages und somit in der Verhandlungsposition schlechter gestellt. Der Wirtschaftsgruppe war es also auch noch gelungen, diesen Passus in den Vertrag zu bekommen. Auf den beiden U-Boot-Bunkerbaustellen in Bremen diskutierte man im Dezember 1944 über die Auswirkungen des Vertrages. Die drei Argen stimmten dort überein, dass für eine Firma mit zehn Stammarbeitern und hundert zivilen Zwangsarbeitern nur für die zehn Stammkräfte ein Zuschlag von 12% für Geschäftskosten und Gewinn zu zahlen sei. Dies galt nach ihrer Meinung auch für einen Fall der auf der Baustelle „Hornisse“ vorgekommen sei. Dort waren bei einem Unternehmer alle deutschen Kräfte von der OT abgezogen und zu einer anderen Baustelle versetzt worden. Er verfügte in Bremen daraufhin nur noch über zivile Zwangsarbeiter für die er nach Auslegung der Argen keinen Zuschlag bekommen würde. Der OT-Verantwortliche wehrte sich aber anfangs gegen diese Auffassung: „Herr Oberbaurat Bischoff war sich in dieser Frage nicht klar. Er hielt zunächst die von uns vertretene Ansicht für unbillige Härte für den Einsatzbeteiligten. Er vertrat den Standpunkt, dass mindestens der Zuschlag von 12,0 v.H. auf alle Arbeitskräfte des Einsatzbeteiligten zu vergüten wären. Diese Auslegung ist aber u. Z. bei dem Aufbau der Formel V, nicht angängig. Wir führten Herrn Oberbaurat Bischoff weiter aus, dass die ihm als Härte erscheinenden Auswirkungen beabsichtigt wären, um dem unerwünschten Zustand des ‚Menschenhandels‘ Einhalt zu gebieten. Herr Oberbaurat Bischoff näherte sich am Ende der Besprechung unserer Ansicht, ohne allerdings wohl voll überzeugt zu sein.“53

52

Schriftwechsel zwischen Buffe und Haufe (Wirtschaftsgruppe Bau) mit der Erläuterung vom Januar 1945, in: ebd., 245. Zur Frage für welche Kategorien das Datum gilt, siehe auch das Schreiben von Haufe an die Arge Nord vom 19. 1. 1945, in: ebd. 53 Besprechungsprotokoll der Arge Bremen vom 16. 12. 1944 über die Besprechung am 15. 12. 1944, in: ebd., 246.

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Auch hier war also die These von der Gefahr eines einsetzenden Menschenhandels überzeugungskräftig. Kurz nach Neujahr erläuterten zwei der leitenden Firmen der Arge Bremen, Dyckerhoff & Widmann sowie Hermann Möller, noch mal ihren Standpunkt. Sie blieben bei ihrer Auffassung, dass Zugewiesene nicht mit Zuschlägen zu vergüten seien, und hielten dies „im Interesse einer Unterbindung des ‚Menschenhandels‘“54 auch für sinnvoll. Allerdings gestanden sie nun ein, dass dies auch zu großen Härten führen könnte, insbesondere in jenem Fall, wo einem Einsatzbeteiligten alle deutschen Kräfte abgezogen wurden: „Auf der anderen Seite ist aber nicht zu verkennen, daß der Unterschied zwischen einem Unternehmer gleicher Art, der mit einem sehr geringen Anteil an Stammkräften für einfache Arbeiten, z. B. Kieslöschen, eingesetzt ist und seinen vollen Zuschlag erhält, und diesem Unternehmer, der das Pech hatte als Einsatzbeteiligter hierher zu kommen, ein schwer vertretbarer ist.“

Die Firmen rechneten mit großer Verärgerung beim betreffenden Unternehmer und fragten deswegen bei der Wirtschaftsgruppe an, ob nicht eine gesonderte Lösung möglich wäre. Des Weiteren führten die Firmen aus, dass der OT-Einsatzbeteiligungsvertragsrichtlinie ein Mittellohn von einer Reichsmark zugrunde läge, während auf der Baustelle der Mittellohn real 1,15 RM betrüge. Da die Einsatzbeteiligten auf die eine Reichsmark ihre Zuschläge erhielten, wären sie auch hier benachteiligt. Dies hinterließ sogar bei den Großfirmen den Eindruck, die kleinen Firmen zu stark zu übervorteilen: „Es erscheint uns fraglich, ob tatsächlich beabsichtigt war, die Vergütung der einsatzbeteiligten Firmen so stark zu drücken.“55

Zu vermuten ist auch, dass die Großfirmen fürchteten, die kleinen Firmen verlören an Motivation, ihre Arbeiter anzutreiben, wenn ihnen keine oder nur eine extrem geringe Gewinnbeteiligung gewährt würde.

Nationalsozialistisch Sprechen56 oder: Wie der Vorwurf des Menschenhandels den Gewinn der Großindustrie mehrte Der Unterschied zwischen dem Schreiben der Großfirmen in Bremen und dem der Firma Polensky & Zöllner, das nicht einmal zwei Monate zuvor verfasst wurde, ist gewaltig. Während Polensky & Zöllner entsetzt waren, dass nach ihren Vertragsbedingungen die einsatzbeteiligten Firmen etwa 30% des Gewinns erhielten, waren die Firmen der Argen schon fast besorgt, dass der 54

Schreiben der Arge Bremen an die beteiligten Firmen und die Wirtschaftsgruppe Bau vom 9. 1. 1945, in: ebd., 245. 55 Ebd. 56 Der Terminus ist angelehnt an „Speaking Bolshevik“. Vgl. Stephen Kotkin: Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilisation, Berkeley 1997. Ich danke Michael Thad Allen für den Hinweis auf das Buch.

„Menschenhandel“ als Vorwurf im Nationalsozialismus

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Anteil zu weit unter 12% fallen und es zu Konflikten mit besonders benachteiligten Firmen kommen könnte. Wie lässt sich dieser dramatische Unterschied zwischen dem Vertrag vom 1. August im Fall „Weingut I“, der auf dem OT-Entwurf III beruhte, und dem nur zehn Wochen später geltenden OTVertrag erklären? Insgesamt dürfte ein Bündel von Faktoren zu diesem Wandel beigetragen haben. So dürfte die zunehmende Festigung der Position Speers nach seiner Rückkehr aus dem Sanatorium für die Wirtschaftsgruppe sicherlich ein Vorteil gegenüber der OT gewesen sein. Zudem dürfte der OT mittlerweile stärker aufgefallen sein, wie weitgehend sie bei der Fertigstellung der Jägerfabriken, bei denen die OT Hitler sehr enge Zeitpläne präsentiert hatte, auf die Hilfe der Großfirmen angewiesen war. Mit dem Heraufbeschwören der Gefahr des Gewinnes durch Menschenhandel und der Verwandlung von Unternehmern in Rentiers, gelang es der Wirtschaftsgruppe eine erfolgreiche Argumentation zu finden, die auf vielen Ebenen Gehör fand und der die gegnerische Gruppe argumentativ wenig entgegenzusetzen hatte. Dadurch gelang es der Wirtschaftsgruppe innerhalb von wenigen Monaten die Positionierung der OT zugunsten der kleinen und mittleren Firmen an entscheidenden Punkten aufzuheben und ihr genehme Vertragsklauseln durchzusetzen. Mit ihren vorherigen Beschwerden über zu geringe Gewinne konnten sie sich nicht erfolgreich durchsetzen. Für den Erfolg der Geschichte war es in diesem Fall auch vergleichsweise egal, ob sich die Erzähler selbst an die Moral ihrer Geschichte hielten. Denn dies war in diesem Fall definitiv nicht zutreffend: Die Firmen, die in Bremen die Vertragsregeln als Verhinderung des Menschenhandels priesen, setzten im gleichen Atemzug KZ-Häftlinge auf ihren Baustellen ein und beteiligten sich willig am Menschenhandel der SS. Die Debatte über den Profit von Unternehmen bei der Zwangsarbeit hat in den Forschungsarbeiten der letzten Zeit zunehmend zu dem Tenor geführt, dass die Unternehmen nicht in Form niedriger Löhne von den Zwangsarbeitern profitierten, da diese in der Relation zur Arbeitsleistung nur in wenigen Fällen deutlich niedriger lagen als bei deutschen Arbeitern. Der Hauptprofit lag vor allem darin, dass sie durch die Zwangsarbeiter überhaupt noch Arbeiten ausführen konnten, zumal Produktion unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft fast immer profitabel war.57 Dem ist anhand des gezeigten Beispieles weitestgehend zuzustimmen. Mark Spoerer hat weiter die These aufgestellt, dass gegen Kriegsende „das primäre strategische Ziel der Unternehmen nicht mehr konventionelle Gewinnerzielung im engen finanzwirtschaftlichen Sinne war, sondern die Rettung des Sach- und Humankapitalbe-

57

Mark Spoerer: Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, Stuttgart 2001, S. 188; Cornelia Rauh-Kühne: Hitlers Hehler? Unternehmerprofite und Zwangsarbeiterlöhne, in: Historische Zeitschrift 275 (2002), S. 3–55.

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stands über Kriegsende hinaus.“58 Er begründet dies mit den offensichtlichen Folgen der Inflation. Die Frage nach dem primären Ziel ist für die Bauunternehmen schwer zu beantworten. Insgesamt dürfte bei den Baufirmen das Anlagevermögen eine geringere Bedeutung als bei den Firmen der Rüstungsindustrie gehabt haben. Zudem bestand für die Bauindustrie auch nur bedingt die Möglichkeit, ihre Maschinen durch die Untertageverlagerung zu sichern, da sie auf den Großbaustellen gebraucht wurden. Darüber hinaus zeigen die Verhandlungen um den Einsatzbeteiligungsvertrag aber, dass in der Bauwirtschaft bis Kriegsende zwischen den verschiedenen Baufirmen um die Aufteilung des Gewinnes verhandelt wurde. Das Geld hatte trotz der Inflation noch soviel Wert, dass es den Unternehmen wichtig war, darum mit harten Bandagen zu kämpfen. Allerdings könnte neben dem kurzfristigen auch ein langfristiges Profitinteresse für die Heftigkeit der Kämpfe bedeutsam gewesen sein: die Vorstellung, dass die festgelegten Verteilungssätze nach dem Krieg als Ausgangspunkt für neue Verhandlungen über Bauprojekte dienen könnten. Zumal der Umfang der Projekte, aufgrund des Ausmaßes der Zerstörung der deutschen Städte, als gewaltig einzuschätzen war.

58

Mark Spoerer: Profitierten Unternehmen von KZ-Arbeit? Eine kritische Analyse der Literatur, in: Historische Zeitschrift 268 (1999), S. 61–95, hier S. 73.

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Zwangsarbeit im besetzten Europa Die Organisation Todt in Frankreich und Italien, 1940–1945 Einleitung Während der „Ausländereinsatz“ in der deutschen Kriegswirtschaft seit Ulrich Herberts bahnbrechender Studie von 19851 und insbesondere seit Beginn der Entschädigungsdebatte für zentrale Bereiche untersucht worden ist2, steht die Erforschung der Zwangsarbeit für das nationalsozialistische Deutschland im besetzten Europa noch am Anfang. Das gilt für die deutsche ebenso wie für die internationale Forschung.3 Auch in den während des Zweiten Weltkriegs von der Wehrmacht besetzten Ländern erwies sich bis in die jüngste Vergangenheit hinein das Interesse an diesem Kapitel ihrer Geschichte als gering; Frankreich und Italien, um die es im Folgenden gehen wird, bilden hier keine Ausnahme.4 1

Ulrich Herbert: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Bonn ²1999 (Erstausgabe 1985). 2 Zum Forschungsstand s. Hans-Christoph Seidel/Klaus Tenfelde: Einführung, in: Dies. (Hg.): Zwangsarbeit im Europa des 20. Jahrhunderts. Bewältigung und vergleichende Aspekte, Essen 2007, S. 7–18, hier S. 7–9; Laura J. Hilton/John J. Delaney: Forced Foreign Labourers, POW‘s and Jewish Slave Workers in the Third Reich. Regional Studies and New Directions, in: German History 23 (2005), S. 83–95; Ralph Klein: Neue Literatur zur Zwangsarbeit während der NS-Zeit, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 40 (2004), S. 56–90; zur Literatur von 1985 bis 1998: Ulrich Herbert: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Bonn ²1999, S. 416–433. 3 Jüngst erschienen sind: Hans-Christoph Seidel/Klaus Tenfelde (Hg.): Zwangsarbeit im Bergwerk. Der Arbeitseinsatz im Kohlenbergbau des Deutschen Reiches und der besetzten Gebiete im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Bd. 1: Forschungen, Essen 2005, darin v.a. die Beiträge von Nathalie Piquet zu Belgien und Nordfrankreich und von Tanja Penter zum Donezbecken; Tanja Penter: Zwangsarbeit – Arbeit für den Feind. Der Donbass unter deutscher Okkupation (1941–1943), in: Geschichte und Gesellschaft 31 (2005), S. 68–100; Sabine Rutar: Arbeit und Überleben in Serbien. Das Kupferbergwerk Bor im Zweiten Weltkrieg, in: ebd., S. 101–134; Karel C. Berkhoff: Harvest of Dispair. Life and Death in Ukraine under Nazi Rule, Cambridge/Mass. u. a. 2004; Dieter Ziegler (Hg.): Zwangsarbeit im Nationalsozialsozialismus in den besetzten Gebieten, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1 (2004). Für die bis 2000 erschienene Literatur s. Mark Spoerer: Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939–1945, Stuttgart/München 2001, S. 308–313. 4 Unter den französischen Publikationen sind v. a. zwei Tagungsbände hervorzuheben, bei denen der Schwerpunkt jedoch auf dem Arbeitseinsatz in Deutschland bzw. der Arbeit in französischen Betrieben allgemein liegt: Bernard Garnier/Jean Quellien (Hg.): La main d’œuvre française exploitée par le IIIe Reich. Actes du colloque international, Caen,

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Bei der Erforschung der Zwangsarbeit außerhalb des Reichsgebiets kommt den Baumaßnahmen der europaweit tätigen Organisation Todt ein besonderer Stellenwert zu. Die Organisation Todt war eine „der bedeutendsten Sonderorganisationen des Hitler-Staates“5 und dessen zentrales Instrument zur Durchführung kriegswichtiger Bauprojekte. 1938 von Fritz Todt als Leitstelle für den Westwallbau geschaffen, verlagerte sie nach Kriegsbeginn ihre Aktivitäten in die besetzten Länder, wo sie vor allem Großaufträge für die Wehrmacht ausführte. Sie konnte ihre Zuständigkeit für Baumaßnahmen in den besetzten Gebieten wie auch im Reich sukzessive erweitern und war durch ihre Arbeiten im Bereich der militärischen, zivilen und industriellen Infrastruktur eine wesentliche Stütze der deutschen Kriegführung. Für die Organisation Todt – kurz: OT – arbeiteten in ganz Europa Tausende deutscher und ausländischer Baufirmen und mehr als 1,5 Millionen Menschen, zumeist Arbeitskräfte aus den besetzten Gebieten, vor allem freiwillige oder zwangsverpflichtete Zivilarbeiter, aber auch Kriegsgefangene und (KZ-) Häftlinge. Die Geschichte der OT ist damit mehr als nur die einer Bauorganisation. Sie ist verflochten mit zahlreichen Grundfragen der nationalsozialistischen Herrschaft und der deutschen Besatzung in Europa: der Frage nach dem Verhältnis zwischen staatlich-militärischer Administration und Privatwirtschaft, wirtschaftlicher und personeller Ausbeutung der besetzten Gebiete, Arbeitsbeziehungen und Rolle von Zwangsarbeit, Kollaboration und Widerstand einheimischer Behörden, Firmen und Individuen und den vielfältigen Grauzonen dazwischen. Die OT wurde bisher vornehmlich unter militärgeschichtlichen Gesichtspunkten untersucht6; die folgenden Ausführungen werden sich dagegen auf die sozialgeschichtliche Dimension und dabei speziell auf die Frage des „Arbeitseinsatzes“ konzentrieren.7 Untersucht wird dies vergleichend für Frankreich und Italien, zwei Fälle, die große strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen, vor allem im Hinblick auf das Kollaborationsparadigma und die Struktur der deutschen Besatzungsverwaltungen8, zugleich aber auch signifikante Unterschiede zeigen. Zu nennen sind hier Italiens besonderer Status als „besetzter 13–15 décembre 2001, Caen 2003; Christian Chevandier/Jean-Claude Daumas (Hg.): Le Travail dans les entreprises sous l‘Occupation, Besançon 2007; zu Italien vgl. die Regionalstudie von Roberto Spazzali: Sotto la Todt. Affari, Servizio obbligatorio del lavoro, deportazioni nella zona d’operazioni “Litorale adriatico”, 1943–1945, Gorizia ²1998. 5 Martin Broszat: Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, München 141995, S. 332. 6 Vgl. insbesondere die Überblicksdarstellung von Franz W. Seidler: Die Organisation Todt. Bauen für Staat und Wehrmacht, 1938–1945, Bonn ²1998. 7 Der vorliegende Beitrag steht in Zusammenhang mit meinem Promotionsvorhaben über „Die Organisation Todt in Frankreich und Italien, 1940–1945“, das die Geschichte der OT in besatzungs- und organisationsgeschichtlicher, unternehmensgeschichtlicher und sozialgeschichtlicher Perspektive beleuchtet. 8 Lutz Klinkhammer: Grundlinien nationalsozialistischer Besatzungspolitik in Frankreich, Jugoslawien und Italien, in: Christof Dipper/Rainer Hudemann/Jens Petersen

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Verbündeter“ (Klinkhammer), die unterschiedliche militärische Situation (in Italien Kämpfe und Frontsituation seit Beginn der Besatzung, in Frankreich erst ganz am Ende der Besatzung) und die unterschiedliche Arbeitsmarktstruktur (mit struktureller Arbeitslosigkeit in Italien, dagegen seit 1941 Arbeitskräftemangel in Frankreich). In Frankreich wie in Italien reichte die Freiwilligenwerbung schon bald nicht mehr aus, um den steigenden Arbeitskräftebedarf der OT zu decken. Als Folge wurden zur Rekrutierung zunehmend direkte und indirekte Lenkungs- und Druckmittel angewandt, die von der Reglementierung des Arbeitsmarktes über Dienstverpflichtungen bis hin zur Mobilisierung ganzer Dörfer unter vorgehaltener Waffe reichten. Gleichzeitig kam es zu einer Militarisierung der Arbeitsverhältnisse und einer verschärften Repression gegen Arbeiter und „Arbeitsverweigerer“ sowie einem Rückgriff auf Häftlingsarbeit. Inwieweit beruhten die Baumaßnahmen der OT in Frankreich und Italien demnach auf ‚Zwangsarbeit‘? Anhand dieser Leitfrage soll untersucht werden, welche Gemeinsamkeiten und welche Besonderheiten sich für den Arbeitseinsatz bei der Organisation Todt in Frankreich und Italien ausmachen lassen und worauf diese zurückzuführen sind. Nicht im Zentrum der Untersuchung stehen, aber mitgedacht werden sollen zwei weitere wichtige Fragen: Stellte der Bereich der OT einen speziellen Fall dar oder kann er vielmehr als paradigmatisch für die deutsche Arbeitseinsatzpolitik und -praxis in den besetzen Gebieten gelten? Wie unterschied sich der Arbeitseinsatz in den besetzten Gebieten vom „Ausländereinsatz“ im Reich? Diese drei Fragestellungen entsprechen drei unterschiedlichen Vergleichsrichtungen: zwischen Frankreich und Italien, innerhalb eines jeden Landes, zwischen den besetzten Gebieten und dem Deutschen Reich. Konzeptuell gehe ich von einem Verständnis von Zwangsarbeit aus, das sich auf die von Spoerer und Fleischhacker – zunächst einmal für Zwangsarbeit im „Dritten Reich“ – vorgeschlagene Definition gründet. Konstituierend für Zwangsarbeit unter nationalsozialistischer Herrschaft ist demnach zum einen die rechtliche Unauflöslichkeit des Arbeitsverhältnisses auf absehbare Zeit (d. h. das Verwehren der Option „exit“ in der Terminologie Albert Hirschmans), zum anderen die fehlende oder nur eingeschränkt vorhandene Möglichkeit, zugestandene Rechte einzuklagen, Ansprüche geltend zu machen und ganz allgemein die Arbeits- und Lebensbedingungen auf formellem oder informellem Wege positiv zu beeinflussen (Fehlen von „voice“ im Sinne Hirschmans).9 (Hg.): Faschismus und Faschismen im Vergleich. Wolfgang Schieder zum 60. Geburtstag, Köln 1998, S. 183–213. 9 Mark Spoerer/Jochen Fleischhacker: Forced Laborers in Nazi Germany: Categories, Numbers, and Survivors, in: Journal of Interdisciplinary History 33 (2002), 2, S. 169–204, hier S. 173f., sowie Mark Spoerer: Recent Findings on Forced Labor under the Nazi Regime and an Agenda for Future Research, in: Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento/Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in

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Aus dieser Definition folgt, dass Zwangsarbeit sowohl ein juristisches Phänomen als auch eine soziale Praxis ist. Zudem hat die Forschung zum „Ausländereinsatz“ im Reich deutlich gemacht, dass zwischen zentralen Vorschriften und lokaler Umsetzung nicht selten eine bedeutende Diskrepanz bestand, sich von der Erlasslage nicht einfach auf die soziale Realität schließen lässt und diese nach Ort, Branche, Betriebsgröße und in Abhängigkeit von lokalen Entscheidungsträgern beträchtlich variieren konnte. Hieraus ergibt sich zweierlei: Wer von Zwangsarbeit sprechen will, muss, wie von Ulrich Herbert vorgeführt, Politik und Praxis des Arbeitseinsatzes erforschen. Zu diesem Zweck gilt es, zweitens, sowohl Makro- als auch Mikroebene zu untersuchen und die Betrachtung „von oben“ mit lokalen Fallstudien zu verbinden. Diese Ansprüche werden sich im Folgenden schon aus Platzgründen und aufgrund der vergleichenden Anlage, aber auch angesichts des Forschungsstandes nur bedingt erfüllen lassen. Grundsätzlich wird hier der makrologischen Perspektive der Vorzug gegeben und die Arbeitseinsatzpolitik in den Mittelpunkt gestellt. Gleichwohl soll den angestellten Überlegungen durch wiederholten Rekurs auf Praxis und soziale Realität des Arbeitseinsatzes Rechnung getragen werden. Zunächst werden Art und Umfang der Tätigkeit der Organisation Todt in Frankreich und Italien skizziert. In einem zweiten Schritt wird die Arbeitseinsatzpolitik der OT untersucht, die in Frankreich wie auch in Italien Elemente der Lockung und des Zwangs miteinander kombinierte. Daran schließt sich eine vergleichende Betrachtung der Radikalisierung des Arbeitseinsatzes an, wie sie für Italien vor allem in den Frontgebieten und für Frankreich in der letzten Kriegsphase zu beobachten ist. Abschließend wird mit der Entwicklung von Löhnen und Lohnpolitik ein Aspekt der Arbeitsbedingungen eingehender untersucht, der sowohl für die Arbeitskräftelenkung durch die Besatzungsbehörden als auch für die Lebensumstände der Arbeiter von besonderer Bedeutung war.

1. Die Organisation Todt in Frankreich und Italien 1.1 Vom Westwallbau zur europaweit agierenden Großorganisation 1938 von Hitler persönlich mit dem Westwallbau beauftragt, schuf Fritz Todt nach dem Vorbild der beim Autobahnbau erprobten Organisationsstruktur im Rahmen der Behörde des „Generalinspektors für das deutsche Straßenwesen“ eine Leit- und Kontrollinstanz, die bald „Organisation Todt“ genannt wurde. Sie diente dazu, die Arbeit tausender privater Baufirmen und hunTrient 28 (2002), S. 373–388, hier S. 375–380, in begrifflicher Anlehnung an Albert O. Hirschman: Exit, Voice, and Loyalty: Responses to Decline in Firms, Organizations, and States, Cambridge/Mass. 1970.

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derttausender zum großen Teil dienstverpflichteter Arbeitskräfte unter staatlicher Kontrolle zu koordinieren. So entstand eine Mischung aus Verwaltung und privatwirtschaftlichem Management10, die bei Kriegsbeginn paramilitärischer Disziplin unterworfen wurde und sich organisatorisch verselbständigte. Als Todt am 8. Februar 1942 ums Leben kam, folgte ihm Albert Speer in allen Ämtern nach und trat damit auch an die Spitze der OT. Deren Leitung lag jedoch faktisch von 1940/41 bis Kriegsende in den Händen des Chefs der OT-Zentrale, Xaver Dorsch, eines Vertrauten Todts.11 Auf die Vorgeschichte kann hier nicht näher eingegangen werden. Hervorzuheben ist jedoch, dass zwischen dem Westwallbau12 und dem späteren Einsatz der OT in den besetzten Gebieten strukturell vielfältige Kontinuitätslinien bestanden. Die 1938/39 erprobten Organisations- und Handlungsschemata bildeten den Erfahrungshorizont der verantwortlichen OT-Führer, Ingenieure und Unternehmer, die anschließend in den besetzten Gebieten operierten. Kontinuitäten lassen sich auf vier Ebenen ausmachen und betreffen (1) die Organisationsprinzipien und die Formen der Zusammenarbeit der OT mit den deutschen Baufirmen; (2) den Arbeitseinsatz, der sich durch eine NS-„typische Kombination aus Zwangs- und Lockmitteln“ auszeichnete13; (3) die Bauunternehmen, die sich an das Arbeiten mit Massen von zwangsverpflichteten, in Behelfsunterkünften untergebrachten Arbeitskräften, militärische Organisation, Disziplinierung und Repression gewöhnten14; (4) schließlich, außerhalb des hier zu behandelnden Themas, den Masseneinsatz Dienstpflichtiger und Zwangsarbeiter in Deutschland, insofern die Bevölkerung an der Westgrenze des Reiches mit auswärtigen Arbeitern in Baracken-

10

Martin Broszat: Der Staat Hitlers, München 141995, S. 331. Vgl. Franz W. Seidler: Die Organisation Todt. Bauen für Staat und Wehrmacht, 1938–1945, Bonn ²1998; Ders.: Fritz Todt. Baumeister des Dritten Reiches, München 1986; Hedwig Singer: Entwicklung und Einsatz der Organisation Todt (OT). Einführung und Dokumente (= Quellen zur Geschichte der Organisation Todt, Bd. 1/2, Osnabrück 1998), S. 1–363. 12 Vgl. Dieter Robert Bettinger/Martin Büren: Der Westwall. Die Geschichte der deutschen Westbefestigungen im Dritten Reich. 2 Bde, Osnabrück 1990. 13 Timothy W. Mason: Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft. Dokumente und Materialien zur deutschen Arbeiterpolitik 1936–1939, Opladen 1975, S. 667. 14 Zu Repression und Disziplinierung am Westwall, insbesondere zum Lager Hinzert vgl. Volker Schneider: Waffen-SS. SS-Sonderlager „Hinzert“. Das Konzentrationslager im „Gau Moselland“, 1939–1945. Untersuchungen zu einem Haftstättensystem der Organisation Todt, der Inspektion der Konzentrationslager und des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes der SS, Nonnweiler-Otzenhausen 1998; Albert Pütz: Das SSSonderlager/KZ Hinzert 1940–1945. Das Anklage-Verfahren gegen Paul Sporrenberg. Eine juristische Dokumentation, Frankfurt a. M. 1998; Gabriele Lotfi: SS-Sonderlager im nationalsozialistischen Terrorsystem. Die Entstehung von Hinzert, Stutthof und Soldau, in: Norbert Frei/Sybille Steinbacher/Bernd C. Wagner (Hg.): Ausbeutung, Vernichtung, Öffentlichkeit. Neue Studien zur nationalsozialistischen Lagerpolitik, München 2000, S. 209–229. 11

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lagern konfrontiert und die Westwalllager später größtenteils zur Unterbringung ausländischer Zwangsarbeiter wiederverwendet wurden. Die Organisation Todt hatte den Status einer Reichsbehörde im Rang eines Ministeriums inne, kraft dessen sie das Verordnungsrecht besaß. Sie galt in den besetzten Gebieten seit Sommer 1940 als „Wehrmachtsgefolge“, ohne jedoch unter militärischem Oberkommando zu stehen. Die Umsetzung der Projekte ruhte auf zwei Pfeilern: der Kooperation mit der privaten Bauwirtschaft und dem Masseneinsatz von Arbeitskräften aus den besetzten Ländern. Die OT baute nicht selbst, sie plante, koordinierte, beschaffte Baumaterial und die benötigten Massen zusätzlicher Arbeitskräfte, kontrollierte und überwachte. Die konkrete Ausführung der Arbeiten übertrug sie an die großen Bauunternehmen, zunächst und vor allem (aber nicht ausschließlich) an deutsche Firmen, die ihrerseits Verträge mit Subunternehmern abschlossen. Bei diesen handelte es sich, mit Ausnahme von Osteuropa, überwiegend um einheimische Firmen.15 Während des Krieges führte die OT überall im deutsch besetzten Europa für kriegswichtig befundene Bauvorhaben durch. Diese lassen sich in vier Kategorien unterteilen: (1) rein militärische Bauten für die drei Wehrmachtsteile (Befestigungsanlagen, Bunker, Häfen, Flugplätze u. a.); (2) kriegwirtschaftliche Projekte, die im Zusammenhang mit der ökonomischen Ausbeutung der besetzten Länder standen (Erschließung von Rohstofflagern, Verlagerung von Industrien); (3) allgemeine Infrastrukturarbeiten (Straßen, Brücken, Eisenbahnlinien, Kanäle); (4) Instandsetzungsarbeiten an Verkehrswegen sowie an militärischen und wirtschaftlichen Anlagen nach Fliegerangriffen. Wichtigster Auftraggeber der Organisation Todt war die Wehrmacht, nach der auch ihre geographische Gliederung ausgerichtet war. Entsprechend gliederte sich die OT seit Frühjahr 1942 in sogenannte Einsatzgruppen (EG), deren Einsatzgebiete sich jeweils mit denen der Heeresgruppen deckten.16 Im Bereich der Heeresgruppe West existierte die „OT-Einsatzgruppe West“, die für sämtliche Arbeiten der OT in Frankreich, Belgien und den Niederlanden zuständig war.17 Die „OT-Einsatzgruppe Italien“ wurde – als letzte aller im besetzten Gebiet operierenden Einsatzgruppen – im Sommer 1943 eingerich-

15

Handbook of the Organisation Todt, ed. by the Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force, Counter-Intelligence Sub-Division MIRS/MR-OT/5/45m, London 1945 (Reprint Osnabrück 1992); Franz W. Seidler: Die Organisation Todt. Bauen für Staat und Wehrmacht, 1938–1945, Bonn ²1998; Hedwig Singer: Entwicklung und Einsatz der Organisation Todt (OT). Einführung und Dokumente (= Quellen zur Geschichte der Organisation Todt, Bd. 1/2), Osnabrück 1998. 16 Erster Erlass zur Neugliederung der OT vom 16. 4. 1942, gez. Albert Speer, abgedr. in ebd., S. 155–157. 17 Die EG-West war bereits im Herbst 1941 geschaffen worden, also noch bevor die Gliederung in Einsatzgruppen von Speer im Frühjahr 1942 auf die gesamte OT ausgedehnt wurde. Vgl. dazu Rémy Desquesnes: Atlantikwall et Südwall. Les défenses allemandes sur le littoral français, 1941–1944, Bd. 1, Diss., Caen 1987, S. 159.

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tet. Nach Informationen des britischen Geheimdienstes beschäftigte die OT zum Zeitpunkt ihrer größten Ausdehnung zwischen Mai 1942 und Mai 1943 etwa eineinhalb Millionen Deutsche und Nichtdeutsche und profitierte indirekt von der Arbeit von mehr als zwei Millionen Menschen.18 1.2 Die Organisation Todt in Frankreich Die Tätigkeit der Organisation Todt in Frankreich erstreckte sich vom Beginn der deutschen Westoffensive im Mai 1940 bis zum Rückzug der Wehrmacht vom französischen Territorium im September 1944. Als die deutsche Offensive am 10. Mai 1940 begann, folgten den vorrückenden Wehrmachtseinheiten unmittelbar Arbeitertrupps der OT nach dem Vorbild der im September 1939 in Polen eingesetzten Brücken- und Straßenbau-Trupps.19 Von den großen Bauunternehmen aus Firmen- und Verwaltungspersonal der Westwallbauleitungen gebildet, sollten sie vor allem zerstörte Verkehrswege reparieren, um die Pioniereinheiten des Heeres zu entlasten, einen raschen Vormarsch zu ermöglichen und die Nachschubwege zu sichern.20 Nach dem Waffenstillstand gingen die Instandsetzungsarbeiten weiter, hinzu kamen erste Wehrmachtsaufträge. Zunehmend wurden dabei auch nichtdeutsche Arbeitskräfte eingesetzt: Kriegsgefangene21, französische Zivilarbeiter und Ausländer aus Drittstaaten. Organisationsgeschichtlich lässt sich die Tätigkeit der OT im besetzten Frankreich in vier Phasen gliedern. 1. Die Anfangsphase 1940. Die ersten Wehrmachtsaufträge betrafen insbesondere die Vorbereitung der geplanten Landung in Großbritannien (Unternehmen Seelöwe), etwa den Ausbau der Häfen und die Errichtung von Artilleriebatterien im Departement Pas-de-Calais. Die Zahl der Arbeitskräfte blieb 1940 aber noch vergleichsweise gering. 2. Der Beginn des Baus der U-Boot-Stützpunkte, 1941. Es folgte eine Phase der organisatorischen Festigung und Expansion, in der die U-Boot-Bunkerbauten im Vordergrund standen. Hinzu kamen in geringerem Maße Arbeiten an Luftfahrtanlagen im Auftrag der Luftwaffe. Die Kriegsmarine verlegte während des Krieges die Operationsbasis der U-Boot-Flotte zu großen Teilen

18

Handbook of the Organisation Todt, ed. by the Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force, Counter-Intelligence Sub-Division MIRS/MR-OT/5/45m, London 1945 (Reprint Osnabrück 1992), S. 3. 19 Rudolf Dittrich: Vom Werden, Wesen und Wirken der Organisation Todt. Ausarbeitung für die Historical Division/US Army in Europe, in: Hedwig Singer: Entwicklung und Einsatz der Organisation Todt (OT). Einführung und Dokumente, Osnabrück 1998, S. 365–436., hier S. 380f. 20 Walter Kumpf: Die Organisation Todt im Krieg, in: Bilanz des zweiten Weltkrieges. Erkenntnisse und Verpflichtungen für die Zukunft, Oldenburg/Hamburg 1953, S. 288–292, hier S. 290. 21 Lediglich im Sommer und Frühherbst 1940, bis der Transfer der Kriegsgefangenen zum Arbeitseinsatz ins Reich abgeschlossen war.

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in die französischen Atlantikhäfen. Nachdem das Unternehmen Seelöwe im Herbst 1940 hatte aufgegeben werden müssen (es wurde zunächst verschoben auf das Frühjahr 1941), wurde die OT mit dem Bau von fünf U-Boot-Stützpunkten an der Atlantikküste beauftragt. Die Arbeiten begannen Anfang 1941 zunächst in Brest, Lorient und St-Nazaire (bei Nantes), bald darauf auch in La Pallice (bei La Rochelle) und Bordeaux. Für diese Arbeiten richtete die OT den „Einsatz Westküste“ mit Sitz in Lorient ein. Die Zahl der bei der OT in Frankreich eingesetzten einheimischen Arbeitskräfte stieg bis Mai 1941 auf ca. 60 00022, die teilweise bereits unter Anwendung zumindest indirekter Zwangsmaßnahmen rekrutiert worden waren. Ende 1942 kam nach der Besetzung der Südzone der U-Boot-Stützpunkt Marseille an der Mittelmeerküste hinzu. 3. Der Bau des Atlantikwalls 1942 bis Mai 1944. Veranlasst durch die Rückschläge der deutschen Kriegsführung und den Kriegseintritt der USA befahl Hitler um die Jahreswende 1941/42 zum Schutz der Atlantikküste des deutsch besetzten Europas den Bau einer gigantischen Verteidigungslinie, die von der norwegischen Eismeerküste bis nach Aquitanien reichen sollte – den „Atlantikwall“. Nach der deutschen Besetzung der „Zone libre“ wurde von Februar 1943 an auch die französische Mittelmeerküste als „Südwall“ mit in die Verteidigungslinie einbezogen.23 Der „Atlantikwall“ war vom Frühjahr 1942 an nicht nur das zentrale Bauprojekt der OT in Frankreich, sondern auch mit Abstand das größte Bauvorhaben der französischen Volkswirtschaft.24 Die französische Bauindustrie arbeitete seit 1942 überwiegend und 1944 nahezu exklusiv für die Besatzungsmacht25, was in steigendem Maße bedeutete: für die OT. Vor allem in den Küstendepartements wurde die OT damit zu einem wesentlichen Wirtschaftsfaktor, zu berücksichtigen sind neben den direkt beschäftigten Firmen auch die vielen Zulieferbetriebe und zahlreiche indirekte Beschäftigungsverhältnisse. Die Zahl der französischen Zivilarbeiter überstieg 150 000 im Dezember 1942, erreichte knapp 200 000 im Frühjahr 1943 (vornehmlich ein Effekt der Dienstpflicht), fiel im Sommer auf 150 000 aufgrund der massiven Requirierung von OT-Arbeitern nach Deutschland und 22

Abschlussbericht der Hauptabteilung Arbeit des MBF, [Herbst 1944], in: Archives nationales Paris (AN), AJ40, 846, Akte 1. Die Zahl umfasst höchstwahrscheinlich nicht das deutsche OT- und Firmenpersonal. 23 Zum Atlantikwall vgl. Rémy Desquesnes: Atlantikwall et Südwall. Les défenses allemandes sur le littoral français, 1941–1944, Diss., Caen 1987; Franz W. Seidler: Die Organisation Todt. Bauen für Staat und Wehrmacht, 1938–1945, Bonn ²1998, S. 38–48; Paul Gamelin: Le Mur de l’Atlantique. Les blockhaus de l’illusoire, Paris 1974; Colin Partridge: Hitler’s Atlantic Wall, Guernsey 1976; Alain Chazette/Alain Destouches/ Bernard Paich: Atlantikwall. Le mur de l’Atlantique en France, 1940–1944, Bayeux 1995. 24 Alan S. Milward: The New Order and the French Economy, Oxford 1970, S. 278. 25 Vgl. die Zahlen bei Dominique Barjot: L’industrie française des travaux publics (1940–1945), in: Histoire, Économie et Société 11 (1992), S. 415–436, hier S. 420, und Renaud de Rochebrune/Jean-Claude Hazera: Les patrons sous l’Occupation, Paris 1995, S. 160.

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sank in der Folgezeit kontinuierlich.26 Gleichzeitig nahm die Zahl der ausländischen Arbeiter aus Drittstaaten, teils in Frankreich selbst, teils in ihren Heimatländern (zwangs-)rekrutiert, beständig zu. Am Vorabend der Landung in der Normandie arbeiteten knapp 300 000 Personen für die OT in Frankreich, darunter 15 000 Deutsche, 85 000 Franzosen aus dem Mutterland, 25 000 Angehörige der französischen Kolonialvölker und 165 000 Ausländer aus Drittstaaten, insbesondere sogenannte „Rotspanier“ (republikanische Flüchtlinge), aber auch Polen, Tschechen, Italiener, Niederländer, Belgier und etwa 15 000 „Ostarbeiter“.27 Zwangsarbeit für die OT leisten mussten auch französische und ausländische Juden. Geographisch konzentrierte sich die Tätigkeit der OT vornehmlich, aber nicht ausschließlich auf die Küstengebiete. Neben dem Bau des Atlantikwalls liefen die Arbeiten an den U-Boot-Stützpunkten und den Luftwaffenbauten weiter. Als wichtige Tätigkeiten der OT sind für die Jahre 1943/44 außerdem zu nennen: (1) die Erschließung und Erweiterung von Rohstofflagern, insbesondere der Bauxitlagerstätten im Département Var (Oberbauleitung Brignoles mit ca. 15 000 Arbeitskräften); (2) die Errichtung von Abschussrampen für die „V-Waffen“ an der Kanalküste28; (3) im Frühjahr und Sommer 1944 der Ausbau unterirdischer Höhlen zur Verlagerung von Produktionsstätten (v. a. Flugzugbau und Flugzeugreparatur) im Rahmen des Programms „Libelle“29; (4) schließlich zunehmend Instandsetzungsarbeiten. 4. Die Monate nach der Landung der Alliierten, Juni bis September 1944. Die militärische Entwicklung führte nach der Landung der Alliierten zu einem Wechsel der Aufgaben und einer völligen Reorganisation der Organisation Todt in Frankreich. Die Arbeit am Atlantikwall wurde eingestellt, ebenso Teile des Höhlenbauprogramms. Stattdessen übernahm die OT die Leitung sämtlicher Instandsetzungsarbeiten an den Verkehrswegen sowie der militärischen und wirtschaftlichen Infrastruktur. Im Sommer 1944 wurden für diese Arbeiten 220 000 bis 250 000 Personen mobilisiert. Ein Großteil von ihnen wurde aus der näheren Umgebung der Einsatzstellen unter Einschaltung der Militärkommandantur sowie der Präfekten und der Bürger-

26

Rémy Desquesnes: Atlantikwall et Südwall. Les défenses allemandes sur le littoral français, 1941–1944, Bd. 1, Diss., Caen 1987, S. 165; Franz W. Seidler: Die Organisation Todt. Bauen für Staat und Wehrmacht, 1938–1945, Bonn ²1998, S. 43. 27 Handbook of the Organisation Todt, ed. by the Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force, Counter-Intelligence Sub-Division MIRS/MR-OT/5/45m, London 1945 (Reprint Osnabrück 1992), S. 464f. 28 Vgl. Roland Hautefeuille: Constructions spéciales. Histoire de la construction par l’Organisation Todt dans le Pas-de-Calais et le Cotentin des neufs grands sites protégés pour le tir des V1, V2, V3 et la production d’oxygène liquide, Paris 1985; Norbert Dufour/Christian Doré: L’Enfer des V1 en Seine-Maritime durant la Seconde Guerre mondiale, Luneray 1993. 29 AN, AJ40, 850, Akten 1–5.

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meister zwangsverpflichtet.30 Einen zweiten Schwerpunkt in dieser letzten Phase bildete im August/September der Bau einer „Auffangstellung“ in Ostfrankreich, zu dem etwa 100 000 Arbeitskräfte herangezogen werden sollten.31 Der OT-Einsatz in dieser letzten Phase ist nahezu terra incognita, jedoch als Untersuchungsgegenstand von besonderem Interesse, da Radikalisierung und Brutalisierung der Rekrutierungs- und Einsatzpraxis hier ihren Höhepunkt erreichten. Es stellt sich die Frage, inwiefern es in dieser letzten Kriegsphase zu einer Annäherung der Praxis in West- und Osteuropa kam. Zudem ergeben sich aufschlussreiche Vergleichspunkte zu Italien, das von Beginn der deutschen Besatzung an Kriegsschauplatz war. 1.3 Die OT in Italien Bereits vor der Besatzung durch die Wehrmacht am 8. September 1943 hatten Einheiten der Organisation Todt in Italien operiert, zunächst in enger Anbindung an die stationierten deutschen Heeres- und Marineverbände.32 Ein selbständiger „Einsatz Italien“ der OT wurde am 1. Juni 1943 gegründet33 und noch im Spätsommer in den Status einer „Einsatzgruppe“ erhoben.34 Zur Ausführung der wachsenden Bauaufträge wurde im Herbst 1943 unter anderem Verwaltungs- und Firmenpersonal von der Einsatzgruppe RusslandSüd nach Italien verlegt. Aktivitäten und Projekte. Die OT führte auch in Italien sowohl militärische Vorhaben als auch Infrastrukturarbeiten und kriegswirtschaftliche Projekte durch. Letztere umfassten ähnlich wie in Frankreich die Verlagerung von Rüstungsbetrieben (in die Gegend von Bozen und Meran) und den Ausbau von Bauxitförderstätten (im Veneto).35 Von zentraler Bedeutung für die Aufrechterhaltung der deutschen Herrschaft im besetzten Italien war außerdem die beständige Instandsetzung der Verkehrswege, die von der den Luftraum beherrschenden alliierten Luftwaffe in Frontnähe, aber auch bis weit 30

Rechenschaftsbericht von Arbeitsamtsdirektor Sasse, 7. 10. 1944, in: AN, AJ40, 849, Akte 1. 31 S. hierzu Teil 3. 32 Hedwig Singer: Entwicklung und Einsatz der Organisation Todt (OT). Einführung und Dokumente, Osnabrück 1998, S. 45. 33 Mitteilungsblatt der OT-Zentrale, Nr. 21, 20. 7. 1943. 34 Das genaue Datum ist nicht bekannt. Die Gründung der EG erfolgte laut Seidler im August 1943, nach Singer im „August/September“ 1943. Vgl. Franz W. Seidler: Die Organisation Todt. Bauen für Staat und Wehrmacht, 1938–1945, Bonn ²1998, S. 109 und Hedwig Singer: Entwicklung und Einsatz der Organisation Todt (OT). Einführung und Dokumente, Osnabrück 1998, S. 45. 35 Klaus Böhm: Die Organisation Todt im Einsatz 1939–1945. Dargestellt nach Kriegsschauplätzen auf Grund der Feldpostnummern, Osnabrück 1987, S. 679; Xaver Dorsch: Die Organisation Todt. Ausarbeitung für die Historical Division/US Army in Europe, abgedr. in: Hedwig Singer: Entwicklung und Einsatz der Organisation Todt (OT). Einführung und Dokumente, Osnabrück 1998, S. 507f.

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ins Hinterland hinein regelmäßig zerstört wurden. Nach Bauvolumen und Zahl der eingesetzten Arbeitskräfte am umfangreichsten waren aber auch in Italien die militärischen Arbeiten für Heer, Kriegsmarine und Luftwaffe, allen voran der Stellungsbau sowohl entlang der Küsten als auch in Ost-WestRichtung quer durch das Landesinnere. So wurde die OT sowohl mit der Fortsetzung der südfranzösischen Küstenbefestigungen über Genua und La Spezia bis Livorno beauftragt (Ausbau der Häfen, Befestigung der Marinestützpunkte, Küstenverteidigung), als auch mit entsprechenden Arbeiten entlang der Adria zwischen Ravenna und Ancona. Hinzu kamen im Sommer 1944 umfangreiche Maßnahmen zur Befestigung der Adriaküste zwischen Venedig und Fiume im Bereich der Operationszone „Adriatisches Küstenland“, die als besonders gefährdete Zone im Hinblick auf eine befürchtete alliierte Landung hinter der Frontlinie angesehen wurde.36 Im Rahmen der Stellungsbauarbeiten für das Heer sind drei Verteidigungslinien von besonderer Bedeutung: (1) die Cassino-Linie zwischen Rom und Neapel; (2) die von Juni 1944 an an der Apenninfront errichtete „Grüne Linie“ (kurzzeitig auch „Gotenstellung“ genannt), die über 320 km von Viareggio am Tyrrhenischen Meer durch den toskanisch-emilianischen Apennin bis nach Pesaro an der Adria reichte; (3) die Voralpenlinie (oder „Blaue Linie“), deren Bau die OT im September 1944 übernahm. Organisationsgeschichtliche Entwicklung und geographische Schwerpunkte. Die organisationsgeschichtliche Entwicklung des OT-Einsatzes in Italien ist komplex, da die militärischen Ereignisse an der Italienfront andauernde Verlegungen, Aufgabenwechsel und Umstrukturierungen nach sich zogen; dies soll aber hier nicht im Einzelnen betrachtet werden.37 Es seien lediglich drei Charakteristika herausgestellt. Erstens gab es in Italien mit Ausnahme 36

Zu den Arbeiten in der Operationszone Adriatisches Küstenland vgl. ausführlich Roberto Spazzali: Sotto la Todt. Affari, Servizio obbligatorio del lavoro, deportazioni nella zona d’operazioni “Litorale adriatico”, 1943–1945, Gorizia ²1998. 37 Ich unterteile die Tätigkeit der Organisation Todt in sechs Phasen: (1) eine Frühphase, die der Schaffung einer selbständigen Einsatzgruppe Italien im August 1943 vorgelagert ist, (2) eine Aufbauphase, die von der Gründung der Einheitsgruppe im Sommer 1943 bis zur Verlegung des Einsatzes Kertsch aus Südrussland nach Italien im November 1943 reicht, gefolgt von (3) einer Phase der militärischen und organisatorischen Stabilität bis Ende April 1944. Die anschließende (4) Phase der territorialen Konzentration, von Mai bis Anfang September 1944, war gekennzeichnet durch die Verlegung von OTEinheiten aus den geräumten Gebieten Süd- und Mittelitaliens und den Beginn umfangreicher Befestigungsbauten im Norden des Landes. Damit überschneidet sich teilweise die von Juli bis Dezember 1944 reichende (5) Reorganisationsphase, in der als Reaktion auf die militärische Entwicklung zunächst der Einsatz Alpen aus der Einsatzgruppe Italien herausgelöst und zusammen mit österreichisch-reichsdeutschen Gebieten zur eigenen Einsatzgruppe erhoben wurde, anschließend in leicht erweiterter Form wieder mit der Einsatzgruppe Italien zusammengefasst wurde. Die so geschaffene Einsatzgruppe Alpen und Italien behielt während der die letzten Kriegsmonate umfassenden (6) Schlussphase bis Ende April 1945 eine weitgehend konstante organisatorische Struktur.

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der Zeit von November 1943 bis Mai 1944 kaum Phasen organisatorischer Stabilität – ganz im Gegensatz zu Frankreich, wo Struktur und Gliederung der OT von 1941 bis zum Frühjahr 1944 weitgehend stabil blieben und es erst nach der Landung der Alliierten zu einer „Phase der Bewegung“ kam. Der Einsatz unterlag damit in weitaus höherem Maße dem Signum von Kurzfristigkeit und Improvisation. Zweitens haben wir es in Italien mit zwei hinsichtlich der Rahmenbedingungen sehr unterschiedlichen Typen von OTEinsätzen zu tun: solchen in Frontnähe und solchen, die fernab der Front tätig waren. Zumindest Teile der OT-Einheiten agierten von Beginn an in der Nähe der Kampfhandlungen und unter dem unmittelbaren Eindruck des Feindes – und damit unter Umständen, die in Frankreich erst nach der Landung der Alliierten im Juni 1944 anzutreffen waren. Drittens verlagerte sich der Schwerpunkt der Arbeiten bis Kriegsende infolge des alliierten Vormarsches immer weiter nach Norden. Geographisch lassen sich vier Zentren der OT-Aktivität in Italien ausmachen. (1) Einen Schwerpunkt bildete bis Ende April 1944 die weitere Umgebung von Rom mit Latium, Südtoskana und Südwestumbrien, in der der Einsatz „Seefalke“ (oder Einsatz „Süd“) operierte. (2) Vor allem in den Monaten von Juni bis September 1944 konzentrierten sich außerdem bedeutende Aktivitäten der OT im toskanisch-emilianischen Apennin und in den an diesen anschließenden nördlichen Marken, wo die Befestigungsanlagen der „Grünen Linie“ errichtet wurden (3) Eine hohe Konzentration von OT-Einheiten ist ferner für den gesamten Besatzungszeitraum und verstärkt ab Sommer 1944 in den nordöstlichen Alpenrandgebieten in den Operationszonen „Adriatisches Küstenland“ und „Alpenvorland“ festzustellen. (4) Schließlich war die OT von Anfang bis Ende ihrer Präsenz in Italien mit hohem Aufwand an Personal und Material entlang der ligurischen Küste tätig, wo Küstenbefestigung, der Bau von Marineanlagen im Kriegshafen La Spezia und in Genua und Infrastruktur- und Instandsetzungsarbeiten im industriellen Ballungsraum um Genua zusammenkamen. Anfang Juni 1944 standen im Bereich der OT-Einsatzgruppe Italien etwa 80 000 Arbeitskräfte im Einsatz, abgesehen von einigen tausend Mann deutschen Leitungspersonals überwiegend Italiener.38 Der Zenith war damit allerdings noch nicht erreicht, denn die großen Stellungsbaumaßnahmen in Mittel- und Norditalien liefen zu diesem Zeitpunkt erst an. Bis zum Herbst 1944 stieg die Zahl der Arbeitskräfte auf 120 000–130 000.39 Anfang 1945 beschäf38

Handbook of the Organisation Todt, ed. by the Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force, Counter-Intelligence Sub-Division MIRS/MR-OT/5/45m, London 1945 (Reprint Osnabrück 1992), S. 464f. 39 Roberto Spazzali: Sotto la Todt. Affari, Servizio obbligatorio del lavoro, deportazioni nella zona d’operazioni “Litorale adriatico”, 1943–1945, Gorizia ²1998, S. 63; Xaver Dorsch: Die Organisation Todt. Ausarbeitung für die Historical Division/US Army in Europe, abgedr. in: Hedwig Singer: Entwicklung und Einsatz der Organisation Todt (OT). Einführung und Dokumente, Osnabrück 1998, S. 508.

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tigten OT und Wehrmacht bei Befestigungsarbeiten in Norditalien schließlich 240 000 Menschen.40 Im oberitalienischen Raum blieb ihre Zahl bis in die letzten Kriegstage außerordentlich hoch. Einem Bericht vom 30. März 1945 zufolge waren zu diesem Zeitpunkt noch 160 000 Arbeitskräfte im Stellungsbau und 45 000 an den Verkehrswegen eingesetzt, wobei jedoch unklar ist, wie viele von diesen auf die OT entfallen.41

2. Arbeitseinsatzpolitik zwischen Lockung und Zwang Die Rekrutierungs- und Arbeiterpolitik der Organisation Todt weist für Frankreich und Italien große Ähnlichkeiten auf, jedoch verlief sie in Italien phasenverschoben und kondensierter. 2.1 Wer „machte“ die Arbeitseinsatzpolitik der OT? Weder bei der Rekrutierung noch im Bereich der Lohngestaltung und Sozialleistungen konnte die Organisation Todt einfach schalten und walten, wie es ihr beliebte. In juristisch-formaler Hinsicht war sie gebunden an die legislativen Vorgaben, die die deutschen Besatzungsverwaltungen – die Arbeitsverwaltung beim Militärbefehlshaber in Frankreich (MBF) bzw. beim Bevollmächtigten General der deutschen Wehrmacht in Italien – in ihren Verordnungen machten, sowie an den jeweiligen Rahmen der nationalen Institutionen und Gesetzgebungen. In politischer Hinsicht war sie gebunden an die in der Arbeitseinsatz-, Lohn- und Sozialpolitik von der Besatzungsmacht insgesamt verfolgten Ziele und die mit ihnen korrespondierenden Leitlinien, wie sie vom Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz (GBA), Fritz Sauckel, bzw. dessen Vertretern in Frankreich und Italien und der Militärverwaltung – in kooperativer oder in konfliktueller Form – festgelegt wurden. Weder die gesetzlichen noch die politischen Vorgaben waren indes de facto kategorisch, unveränderlich und unbeeinflussbar. Dies gilt auch für eine dritte Sorte von Vorgaben: die der OT-Zentrale aus Berlin. Diese betrafen im Übrigen vor allem die Arbeitsbedingungen der deutschen Arbeitskräfte (sowie die der ausländischen OT-Frontarbeiter) und hatten ansonsten meist nur den Charakter von Richtlinien, die den Einsatzgruppen im besetzten Gebiet breite Spielräume ließen.

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Lagebericht des Militärverwaltungsstabs beim Bevollmächtigten General der deutschen Wehrmacht in Italien für die Zeit vom 16. 12. 1944–15. 1. 1945, 4. 2. 1945, Anlage 1, in: Archivio Centrale dello Stato (ACS), Roma, Uffici di polizia e comandi militari tedeschi in Italia, busta 1, fascicolo 1, sottofascicolo 21. 41 Bericht über Dienstreise des MV-Abt.Chefs Dr. Jani zum Bev. Gen. d. Dt. Wehrm. in Italien, 30. 3. 1945, abgedr. in: Enzo Collotti: L’amministrazione tedesca dell’Italia occupata 1943–1945. Studio e documenti, Milano 1963, S. 586.

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Das Verhältnis zwischen OT, Militärverwaltung und GBA-Behörde war nicht prinzipiell und notwendigerweise konfliktuell, auch wenn sich immer wieder Interessengegensätze auftaten. Die Bedeutung der Bautätigkeit der OT und ihrer arbeits- und lohnpolitischen Interessen wurde von Militärverwaltung wie auch von Sauckel-Stab anerkannt. Als Sauckel Ende Oktober 1942 Julius Ritter zu seinem Beauftragten für Frankreich ernannte, präzisierte der Berufungserlass, dass Ritters Zuständigkeit sich auf die „Maßnahmen des Arbeitseinsatzes einschließlich der Organisation Todt in Frankreich“ erstreckten.42 Priorität hatte für Sauckel und seinen Apparat in der Praxis allerdings in Frankreich wie in Italien die Beschaffung von Arbeitskräften für die deutsche Kriegswirtschaft.43 Dieser Logik war insbesondere auch die Lohnpolitik der Arbeitsabteilung der Militärverwaltung unterworfen, wie noch zu sehen sein wird. Die Arbeits- und Sozialpolitik der OT wurde in ihren Leitlinien durch Befehle und Erlasse der Abteilung Arbeit beim MBF bzw. beim „Bevollmächtigten General“ in Italien umgesetzt. Präzisiert und ausgestaltet wurden diese anschließend durch den OT-Einsatzgruppenstab (dort: Hauptabteilung Arbeitseinsatz und Sozialfragen) in Rundschreiben an die Einsätze und Oberbauleitungen (OBLn). Bei der praktischen Durchsetzung war die OT erneut auf die Kooperation der Militärverwaltung, aber auch auf die Kooperation der einheimischen Behörden angewiesen. Festzuhalten ist: Die Arbeits- und Sozialpolitik der OT ist nicht nur eine Arbeits- und Sozialpolitik durch die OT, sondern in großem Maße auch eine Arbeits- und Sozialpolitik durch die Militärverwaltung für die OT. Beide sind vielfach nicht voneinander zu trennen – aufgrund der Quellenlage, aber auch in der Sache. Wenn im Folgenden von der Arbeitseinsatzpolitik der OT die Rede ist, so ist beides damit gemeint. Um den ständig steigenden Bedarf an Arbeitskräften auf den OT-Baustellen zu befriedigen, verbanden die deutschen Arbeitseinsatzverwaltungen und die Stellen der Organisation Todt in Frankreich und Italien Elemente der Lockung mit Elementen des Zwangs, wobei sich das Schwergewicht im Kriegsverlauf immer weiter in Richtung Zwang verschob. Es zeigen sich große Parallelen zwischen den beiden Ländern, die freilich phasenverschoben auftraten. Mit ihrer Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche fügte sich die Politik der OT in die allgemeine Entwicklung der deutschen Arbeitseinsatzpolitik in Frankreich und Italien ein, so waren die angewandten Methoden in hohem Maße iden-

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GBA an Vizepräs. Julius Ritter beim MBF vom 29. 10. 1942 betr. „Bestellung zum Beauftragten in Frankreich, Bl. 12 (Abschrift), Anlage zum Schr. des GBA an den MBF vom 29. 10. 1942 betr. „Bestellung des Vizepräsidenten Julius Ritter zum Beauftragten für die Durchführung der Maßnahmen des Arbeitseinsatzes in Frankreich“, in: AN, AJ40, 846, Akte 3. 43 Bernd Zielinski: Staatskollaboration. Vichy und der Arbeitskräfteeinsatz im Dritten Reich, Münster 1995; Lutz Klinkhammer: Zwischen Bündnis und Besatzung. Das nationalsozialistische Deutschland und die Republik von Salò 1943–1945, Tübingen 1993, S. 128–133, 194.

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tisch mit den Rekrutierungsmethoden für den „Reichseinsatz“. Gleichwohl lassen sich verschiedene Besonderheiten ausmachen. 2.2 Zuckerbrot… Die Organisation Todt hatte Arbeitern in Frankreich und Italien – zumindest zeitweise – drei Dinge zu bieten: einen Ausweg aus der Arbeitslosigkeit, vergleichsweise hohe Löhne und Schutz vor einer Zwangsverpflichtung nach Deutschland sowie, im Falle Italiens, einer Einberufung zur Armee. 1. Die OT bot einen Ausweg aus Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung. In Frankreich, wo die Arbeitslosigkeit nach dem militärischen Zusammenbruch sprunghaft angestiegen war, galt dies vornehmlich für die Anfangsphase der Besatzung; in Italien, wo mit regionalen Unterschieden während des gesamten Krieges Arbeitslosigkeit herrschte, galt dies hingegen noch darüber hinaus bis zum Ende der deutschen Besatzung. Zunächst wurde die Arbeitskräfterekrutierung von den Kollaborationsregierungen und einheimischen Verwaltungen durchaus begrüßt, da diese an der Reduzierung der Arbeitslosigkeit ebenso interessiert waren wie die Besatzungsbehörden, nicht zuletzt aus Furcht vor sozialen Unruhen.44 Dies änderte sich jedoch in dem Maße, in dem Vichy und die Repubblica Sociale Italiana (RSI) ihre jeweils eigenen arbeitspolitischen Ziele umzusetzen versuchten. Aus einer Interessenkongruenz wurde so ein Interessengegensatz. Hinzu kam im französischen Fall, dass die Arbeitskräfteknappheit bald in einen Arbeitskräftemangel überging45, im italienischen Fall das Bestreben der Mussolini-Regierung, eine neue italienische Armee aufzustellen, woraus sich eine Konkurrenz zwischen OT, Sauckel-Behörden und italienischer Armee um die infrage kommenden Geburtsjahrgänge ergab.46 2. Die OT und die für sie arbeitenden Firmen boten zumindest in der Anfangsphase der Besatzungen Löhne, die deutlich über den lokalen und branchenüblichen Durchschnittsverdiensten lagen. Neben den höheren Stunden44

Podestà (= Bürgermeister) von Genua an Capo della Provincia (= Präfekten) vom 21. 11. 1943, in: Archivio di Stato (AS) Genova, Prefettura, Gab., RSI, busta 18, fascicolo 1; Korv.Kapität und Arsenalkommandant La Spezia an Kampfkommandanten, Abschnittskommandanten, Wehrmachtsstandortoffizier und Präfekten La Spezia vom 16. 9. 1943 betr. Meldung Arbeitsamt La Spezia, in: AS La Spezia, Prefettura, b. 50, f. “Mobilitazione totalitaria del lavoro e della mano d’opera”. Zu Frankreich vgl. Bernd Zielinski: Staatskollaboration. Vichy und der Arbeitskräfteeinsatz im Dritten Reich, Münster 1995, S. 55 ; Vincent Viet: La politique de la main-d’œuvre de Vichy, in: Olivier Dard/Jean-Claude Daumas/François Marcot (Hg.): L’Occupation, l’Etat français et les entreprises, Paris 2000, S. 103–119, hier S. 104f. 45 Vgl. die Zahlen bei Hans Umbreit: Der Militärbefehlshaber in Frankreich 1940–1944, Boppard 1968, S. 321, und Alfred Sauvy: La vie économique des Français de 1939 à 1945, Paris 1978, S. 173f. 46 Lutz Klinkhammer: Zwischen Bündnis und Besatzung. Das nationalsozialistische Deutschland und die Republik von Salò 1943–1945, Tübingen 1993, S. 355–391.

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löhnen schlugen hierbei Prämien, Sondervergünstigungen und insbesondere die im Vergleich zum französischen Sektor wesentlich längeren Arbeitszeiten auf den OT-Baustellen zu Buche.47 Dies rief schon bald Unmut bei lokalen Verwaltungen und einheimischen Unternehmen hervor, die an den staatlichen Lohnstop gebunden waren und denen folglich die Arbeitskräfte davonliefen.48 3. Schließlich bot die Arbeit bei der OT Schutz gegenüber einer Zwangsverpflichtung zum Arbeitseinsatz nach Deutschland. Diese erfolgte in Frankreich auf der Grundlage des Gesetzes vom 4. September 1942 und seit Februar 1943 des Service du Travail obligatoire (STO), in Italien auf dem Wege der zivilen oder militärischen Einziehung zum Servizio Obbligatorio del Lavoro. Die Arbeitsaufnahme auf einer Baustelle der OT erwies sich jedoch als ein zweischneidiges Schwert, da die Arbeiter dort zwar vor Deportation geschützt, aber auch dem direkten Zugriff der Besatzungsmacht ausgesetzt waren, sollte dieser Schutz annulliert werden. Dies geschah im Juni 1943 in großem Stil in Frankreich, als etwa 36 000 Arbeiter für den „Ruhreinsatz“ der OT nach Deutschland verpflichtet wurden (geplant waren 50 000, die jedoch infolge der zahlreichen Fluchten nicht aufgebracht werden konnten). Diese Maßnahme hatte nachhaltig negative Folgen für die OT in Frankreich, da sie zu einer Massenflucht einheimischer Zivilarbeiter von den Baustellen führte und die Anwerberbezahlen einbrachen.49 Entgegenwirken sollte dieser Entwicklung die Erklärung der OT-Baustellen zu „Sperr-Betrieben“ (oder „SBetrieben“) im Oktober 1943, die für Frankreich ebenso wie für Italien galt. Damit waren Zivilarbeiter formell vor weiterem Arbeitskräfteabzug nach Deutschland geschützt, was gezielt von der OT-Propaganda bei der Werbung eingesetzt wurde. Dem Rückgang der Zahl der französischen Zivilarbeiter begegnete die OT außerdem mit einem verstärkten Rückgriff auf Internierte und ausländische Zwangsarbeiter aus Drittstaaten. In Italien wurden Arbeiter, die bei der OT beschäftigt waren, außerdem von der Wehrpflicht freigestellt. Um einer Einberufung zur italienischen Armee 47

Da die Baumaßnahmen der OT aus dem von französischer bzw. italienischer Regierung aufzubringenden Besatzungshaushalt finanziert wurden, standen dieser Praxis im Prinzip keine finanziellen Hindernisse im Weg. 48 Für Frankreich geht dies aus den Präfektenberichten der Küstendepartements von 1940/41 hervor (Synthèses des rapports de préfets, in: AN, F1a, 3705); speziell zum Finistère vgl. Christian Bougeard: Les chantiers allemands du Mur de l’Atlantique, in: Bernard Garnier/Jean Quellien (Hg.): La main d’œuvre française exploitée par le IIIe Reich. Actes du colloque international, Caen, 13–15 décembre 2001, Caen 2003, S. 185–218, hier S. 189. Ebenso in Triest: Notiziari della GNR, Relazione, Trieste, 18. 2. 1944, Anhang zu Tagesmeldungen vom 1. 3. 1944, in: Istituto Storico della Resistenza in Toscana (ISTR), Firenze, Fondo L. Micheletti, Serie GNR. 49 „Die Arbeiterlage bei der EG West“, Anlage zum Schr. der OT-EG West an den OB West vom 4. 10. 1943, gez. Oberbaudirektor Weis, Bl. 4–9, in: AN, AJ40, 848, Akte 3. Ganz ähnlich auch die Darstellung Arbeitsamtsdirektor Sasses von der Militärverwaltung in seinem Rechenschaftsbericht vom 7. 10. 1944, in: ebd., 849, Akte 1.

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zuvorzukommen, wählten daher manche junge Italiener der wehrpflichtigen Jahrgänge den Weg zur OT. Mehr als das: Im März 1944 beschwerte sich das italienische Wehrkreisamt von Bologna, die OT habe junge Männer als Arbeiter eingestellt, die bereits ihren Einberufungsbescheid zur Armee erhalten hätten.50 Eine wichtige Rolle spielte dabei ohne Zweifel die Angst der Wehrpflichtigen, an die Ostfront geschickt zu werden. Die Arbeit bei der OT gestattete ihnen hingegen, in Italien zu bleiben. Es handelt sich hier um eine hochinteressante Konstellation, die in Frankreich nicht existierte. Insbesondere in der jeweils ersten Phase der Besatzung fand die OT aus diesen Gründen „Freiwillige“, die freilich, dies sei unterstrichen, in der Mehrzahl der Fälle aus ökonomischen Zwängen heraus handelten. Es zeigte sich aber in beiden Ländern schon bald, dass die Freiwilligenwerbung zur Deckung des Bedarfs in dem Maße nicht mehr genügte, in dem die Bauaufgaben der OT expandierten und die Praxis der hohen Löhne ein Ende fand. Daher wurden zunehmend auch Zwangsmaßnahmen ergriffen, obgleich die OT parallel dazu bis zuletzt versuchte, Freiwillige zu werben. 2.3 … und Peitsche Die Zwangselemente lassen sich in zwei Kategorien einteilen: Maßnahmen, die der Arbeitskräftebeschaffung dienten, und solche, die darauf abzielten, die beschäftigten Arbeitskräfte auf den Baustellen zu halten und die Arbeitsleistung zu steigern. (1) Die erste Kategorie beinhaltet zunächst einmal indirekte Zwangsmaßnahmen wie die Anweisung der Militärverwaltung an die Präfekten, einheimische Baustellen zu schließen, die Zuweisung der dadurch arbeitslos gewordenen Bauarbeiter zur OT und die Drohung, ihnen im Weigerungsfall die Arbeitslosenunterstützung und/oder die Lebensmittelkarten zu entziehen. Solche Maßnahmen sind als Druckmittel bereits für die jeweilige Frühphase der Besatzung noch vor der Einführung der Dienstpflicht belegt – an der französischen Atlantikküste seit Januar 194151, in Italien in ähnlicher Form seit Ende 1943.52 Das gelegentlich vor allem für Frankreich noch immer ge50

Notiziari della GNR, Tagesmeldung 7. 3. 1944, Bologna, in: ISRT, Fondo L. Micheletti. 51 Jean-Marie d’Hoop: La main-d’œuvre française au service de l’Allemagne, in: Revue d’Histoire de la Deuxième Guerre mondiale 21 (1971), S. 73–88, hier S. 75f.; Rémy Desquesnes: Atlantikwall et Südwall. Les défenses allemandes sur le littoral français, 1941–1944, Bd. 1, Diss., Caen 1987, S. 542; Bernd Zielinski: Staatskollaboration. Vichy und der Arbeitskräfteeinsatz im Dritten Reich (=Theorie und Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, 11), Münster 1995, S. 68–71. 52 Rundschr. Nr. 16/S.L.P. – PO-D-G-2-51291 des Ministero dell’Economia Corporativa, Servizio per il Lavoro e la Previdenza, vom 27. 12. 1943 betr. “Indennità di disoccupazione”, in: AS La Spezia, Prefettura, b. 88, f. “Paghe indennità ed altri assegni di lavoro”; OT-Einsatz Seefalke, Aufzeichnung über Volkszählung, Rom, 8. 1. 1944, in: Bundesarchiv Berlin (BA), R 50 I, 189, Bl. 70–72.

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zeichnete Bild einer ersten Phase der Freiwilligkeit, gefolgt von einer Phase des Zwanges, ist demnach zu relativieren. Festzuhalten ist ferner, dass derlei indirekte Zwangsmaßnahmen in Frankreich zuerst für die Baustellen der OT angewandt wurden, noch bevor sie als Druckmittel auch bei der Werbung für den „Reichseinsatz“ verwendet wurden. Die Rekrutierung für die OT-Baustellen an der Westküste bildete demnach den Auftakt einer zunehmend auf Zwang basierenden deutschen Arbeitseinsatzpolitik in Frankreich. Die Zwangsmaßnahmen umfassen außerdem verschiedene Formen der individuellen oder jahrgangsweise praktizierten Requisition oder Dienstverpflichtung. Als gesetzliche Grundlagen dienten in Frankreich das am 4. September 1942 von der Vichy-Regierung erlassene Gesetz über die „Verwendung und Lenkung der Arbeitskraft“, das eine individuelle Dienstverpflichtung ermöglichte, sowie der wenige Monate später eingeführte STO, ein jahrgangsweise abzuleistender, zweijähriger Arbeitsdienst. In Italien kam zu Formen der zivilen Dienstverpflichtung, die regional teilweise unterschiedlich ausfielen, die Einziehung von Arbeitskräften auf dem Wege der Wehrpflicht hinzu. Wenn die Besatzungsmacht die Kollaborationsregierungen zur Einführung der Dienstpflicht drängte, so geschah dies in beiden Ländern in erster Linie mit Blick auf die Rekrutierung von Arbeitskräften fürs Reich. Gleichwohl war dies keinesfalls ihr alleiniger Zweck, wie in der Literatur oft suggeriert wird. Vielmehr ist zu betonen: Die Dienstverpflichtung war auch ein Instrument der Arbeitseinsatzlenkung im besetzten Gebiet selbst, vor allem in Frankreich. Sie diente auch dazu, deutschen Stellen und hier allen voran der OT sowie französischen Industriebetrieben, die für deutsche Zwecke produzierten, die benötigten Arbeitskräfte zu sichern. Rüstungsarbeiter wurden oft ganz einfach auf ihren Betrieb dienstverpflichtet. Hinzu kam für die Zwecke von Wehrmacht und OT in Frankreich die Zwangsverpflichtung unter – missbräuchlicher – Anwendung des Artikels 52 der Haager Landkriegsordnung (HLKO).53 Dies geschah vor allem in der ersten Phase der Besatzung, dann wieder verstärkt ab Herbst 1943 und massiv nach der Landung der Alliierten. Da Italien nach offiziellem deutschem Standpunkt nicht als besetzt galt, konnte die HLKO hier nicht angewandt werden. Für das italienische Operationsgebiet hatte das OKW jedoch im Herbst 1943 eine Verpflichtung der Zivilbevölkerung zur Arbeitsleistung für die Truppe oktroyiert.54 53

In der HLKO heißt es: „Naturalleistungen und Dienstleistungen können von Gemeinden oder Einwohnern nur für die Bedürfnisse des Besetzungsheers gefordert werden. Sie müssen im Verhältnisse zu den Hilfsquellen des Landes stehen und solcher Art sein, dass sie nicht für die Bevölkerung die Verpflichtung enthalten, an Kriegsunternehmungen gegen ihr Vaterland teilzunehmen.“ (RGBl Nr. 2, Verkündung Nr. 3705 vom 25. 01. 1910, S. 107ff.; Hervorhebungen: F.L.) Diese Bedingungen waren beim Einsatz auf den OT-Baustellen an der Atlantikküste nicht erfüllt. 54 Generalkommando LI.Geb.A.K., Der kommandierende General, 17. 10. 1943: Arbeitsleistung der Zivilbevölkerung (Abschrift von Abschrift), in: Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg (BA-MA), RW 35, 1158.

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Sie konnte vom Oberbefehlshaber angeordnet werden und wurde im (immer weiter nordwärts wandernden) Frontgebiet auch zur Aushebung von Arbeitskräften für die OT benutzt. Schließlich kam es auch zur Anwendung purer Gewalt und zu regelrechten Menschenjagden – in Italien seit Beginn der Besatzung im Frontgebiet, in Frankreich in der letzten Phase der Besatzung. (2) Die zunehmenden Zwänge bei der Rekrutierung gingen einher mit Maßnahmen, die darauf abzielten, die Abwanderung von den Baustellen zu verhindern und die Arbeitsproduktivität zu steigern. Im November 1942 – also kurz nach Einführung der Dienstpflicht – untersagte der Militärbefehlshaber in Frankreich (MBF) den Arbeitern auf sämtlichen deutschen Küstenbaustellen per Verordnung, ihren Arbeitsvertrag aufzulösen und den Arbeitsplatz zu wechseln.55 Auch wer „freiwillig“ gekommen war, hörte damit Ende 1942 auf, ein „freier“ Arbeiter zu sein, denn die Option „exit“ bestand – zumindest auf legalem Wege – nicht mehr. Gleichzeitig versuchte die OT-Einsatzgruppe West, die Fluchten einzudämmen, indem sie die Mobilität der Arbeiter begrenzte und immer schärfere repressive Maßnahmen ergriff. Arbeitskräfte, die nicht lokal rekrutiert worden waren und somit nicht zuhause wohnen konnten, wurden nach Möglichkeit in bewachten und von Stacheldraht umgebenen Lagern untergebracht.56 Die Arbeiter wurden unter Kriegsrecht gestellt und waren auf den Baustellen von bewaffneten Angehörigen des OT-Schutzkommandos bzw. OT-Schutzkorps umgeben. Die Militarisierung der Arbeitsbeziehungen ging einher mit einer Kriminalisierung von Verstößen gegen die Arbeitsdisziplin. Die OT war jedoch trotz all dieser Maßnahmen mangels Wachpersonal nicht in der Lage, die Fluchten wirksam einzudämmen. Sie verlegte sich auf abschreckende, exemplarische Bestrafungen von „Arbeitsverweigerern“, die von Ordnungsstrafen bis hin zu kriegsgerichtlichen Verurteilungen reichten.57 In diesem Zusammenhang schuf sie bis zum Frühjahr 1944 ein Netz von Straflagern (je eines pro Oberbauleitung), deren Insassen – diesmal als Zwangsarbeiter stricto sensu – für besonders schwere Arbeiten auf den OT-Baustellen eingesetzt wurden.58 Dessen 55 Erlass des MBF Wi VII 710 b/42 vom 5. 11. 1942, zit. in: AN, AJ40, 850, Akte 10: Erlass des MBF Wi VII 710 b/43 über „Strafmaßnahmen gegen unberechtigte Abwanderungen bei den Baustellen der Küstenbefestigungen“ vom 3. 2. 1943, gez. Kohl, Bl. 5–7. 56 „Rapport sur la vie au Camp de CAUDAN (Morbihan) et à Lorient (S.O.T.)“, 9. 5. 1943, in: AN, 2AG 543; Christian Bougeard: Les chantiers allemands du Mur de l’Atlantique, in: Bernard Garnier/Jean Quellien (Hg.): La main d’œuvre française exploitée par le IIIe Reich. Actes du colloque international, Caen, 13–15 décembre 2001, Caen 2003, S. 185–218, hier S. 189. 57 Erlass des MBF Wi VII 710 b/43 über „Strafmaßnahmen gegen unberechtigte Abwanderungen bei den Baustellen der Küstenbefestigungen“ vom 3. 2. 1943, gez. Kohl, in: AN, AJ40, 850, Akte 10, Bl. 5–7. 58 Verschiedene Erlasse der Hauptabt. Arbeit des MBF, 1943–44, in : AN, AJ40, 850, Akte 10. Die hier dargelegte Entwicklung lässt sich so für Frankreich nachvollziehen. Für Italien, wo die Quellenlage deutlich schlechter ist, muss dies noch überprüft werden. Die Überlieferung in Lokalstudien deutet aber in eine ähnliche Richtung.

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ungeachtet blieb die Arbeitsflucht sowohl in Frankreich als auch in Italien bis zum Ende der Besatzung ein Massenphänomen und war aus Sicht von OTVerantwortlichen und Militärverwaltung das größte Problem des Arbeitseinsatzes bei der OT. Es ist somit eine fortschreitende Radikalisierung des Arbeitseinsatzes zu beobachten. In den Jahren 1943/44 in Frankreich kann man kaum mehr von freien Arbeitern auf OT-Baustellen sprechen, auch wenn Zivilarbeiter weiterhin bezahlt wurden und sozialversichert waren und somit die Fassade eines „normalen“ Arbeitsverhältnisses gewahrt blieb. Einen weiteren Aspekt dieser Radikalisierung stellt speziell in Frankreich der zunehmende Rückgriff auf Internierte, Häftlinge verschiedenster Kategorien und Zwangsarbeiter aus Drittstaaten dar („Rotspanier“, französische internés administratifs, deportierte Polen und Ostarbeiter, „wehrunwürdige“ Deutsche, deutsche und französische Strafgefangene, italienische Militärinternierte, französische und ausländische Juden, Marokkaner und Algerier, Indochinesen u. a.). Die Ausländer aus Drittstaaten waren zum großen Teil bereits vor Kriegsausbruch nach Frankreich gekommen, zumeist als Flüchtlinge, und wurden nun vom VichyRegime zum „Schutz der nationalen Arbeitskraft“ – die Militärverwaltung drohte, andernfalls eine entsprechende Zahl Franzosen zwangsweise zu verpflichten – der OT zur Verfügung gestellt. Andere wurden während der Besatzungszeit eigens für die Arbeit bei der OT nach Frankreich deportiert, etwa sowjetische Kriegsgefangene oder die KZ-Häftlinge der SS-Baubrigaden I und V.59 Dagegen spielten in Italien diese Kategorien von Zwangsarbeitern quantitativ gegenüber den einheimischen Arbeitskräften nur eine geringe Rolle. Dies lässt sich sowohl auf ein geringeres „Angebot“ an Internierten in Italien, wo keine Massen ausländischer Flüchtlinge vorhanden waren, als auch auf eine geringere Priorität der Baumaßnahmen auf dem italienischen Kriegsschauplatz zurückführen, der zufolge dorthin nur wenige Ausländer aus Drittstaaten zum „Arbeitseinsatz“ gebracht wurden. Allerdings kamen auch bei der Einsatzgruppe Italien einheimische Strafgefangene zum Einsatz60; belegt sind außerdem „russische Hilfswillige“ beim OT-Einsatz Seefalke61, der im Herbst 1943 von der OT-Einsatzgruppe Russland Süd nach Italien verlegt worden war. 59

Karola Fings: Krieg, Gesellschaft und KZ. Himmlers SS-Baubrigaden, Paderborn u. a. 2005, S. 197–214, 220–228. Die Baubrigade I wurde im Rahmen der OBL Normandie bzw. St-Malo auf der besetzten britische Kanalinsel Alderney eingesetzt, die Baubrigade V in Nordfrankreich zum Bau von Abschussrampen für die V-Waffen. 60 EG Italien, Einsatz Seefalke, OBL Alarich (XV), Meldung über den Bau- und Arbeiterstand der Abschnittsbauleitungen I bis IV vom 12. 2. 1944, Anlage zum Schr. der OBL Alarich an OT-Verbindungsführer Oberst Zinth beim OB Südwest vom 14. 2. 1944, betr. Meldung über Bau- und Arbeiterstand, in: BA, R 50 I, 190, Bl. 115f.; außerdem BA, R 50 I, 157, passim. 61 Kriegstagebuch der Oberbauleitung Alarich (XV) seit Bestehen bis zum 25. 2. 1944, OT-EG Italien, Einsatz Seefalke, OBL Alarich, Frascati, 26. 2. 1944, in: BA, R 50 I, 190, Bl. 27–39.

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3. Die Radikalisierung im Frontgebiet bzw. in der letzten Kriegsphase Dass die Wehrmacht im italienischen Frontgebiet teilweise mit Waffengewalt auf „Arbeitskräftejagd“ ging, ist bekannt. Solche „Greifaktionen“ dienten insbesondere der Deckung des unmittelbaren Arbeiterbedarfs der Truppe im Operationsgebiet.62 Darüber hinaus verschleppte die Wehrmacht bei ihrem Rückzug aus Süd- und Mittelitalien Teile der männlichen Zivilbevölkerung nach Norden, soweit sie ihrer habhaft werden konnte und Transportraum zur Verfügung stand. Sofern sie sich nicht vorher absetzen konnten, wurden die verschleppten Personen teilweise als Zwangsarbeiter ins Reich gebracht, teilweise aber auch bei der Organisation Todt eingesetzt, so etwa die arbeitsfähigen Männer, die im Sommer 1944 aus der Toskana und dem toskanischemilianischen Apennin bei der „Herausziehung der Bevölkerung aus den Frontgebieten“ oder im Rahmen sogenannter „Bandenaktionen“ und „Auskämmungen“ verschleppt wurden.63 Weniger bekannt ist hingegen, dass sich ähnliche Entwicklungen auch in Frankreich nach der Landung der Alliierten feststellen lassen, als das Land erneut zum Kriegsschauplatz wurde. Bereits seit Herbst 1943 ist für Frankreich eine Radikalisierung der Rekrutierungs- und Arbeitseinsatzpraxis der OT zu beobachten. Diese zeichnete sich vor allem durch die zunehmende Anwendung von Waffengewalt aus, etwa bei Razzien, die der Ermittlung mutmaßlicher „Arbeitsverweigerer“ oder ganz einfach der Arbeitskräfte„Gewinnung“ dienten und an denen immer häufiger auch Einheiten des OTSchutzkorps beteiligt waren. Der entscheidende Schritt zu einer generalisierten Anwendung direkter Waffengewalt vollzog sich jedoch erst im Sommer 1944 nach der Landung der Alliierten, nach der Arbeitskräfterequirierungen allerorten durch Einsatz von Feldgendarmerie, OT-Schutzkorps und Truppeneinheiten durchgesetzt wurden. Den Kulminationspunkt der Gewalt und damit den Endpunkt der Radikalisierung bildete der im August 1944 begonnene Bau der „Auffangstellung“ in Ostfrankreich, die von der Kanalküste über Amiens, Lâon, Reims, Châlons-sur-Marne, St-Diziers, Chaumont, Langres

62

Lutz Klinkhammer: Zwischen Bündnis und Besatzung. Das nationalsozialistische Deutschland und die Republik von Salò 1943–1945, Tübingen 1993, S. 178–187. 63 Befehlshaber der Sicherheitspolizei u. des SD (BdS), Außenkommando Bologna: Bericht vom 14. 9. 1944 betr. „Arbeitseinsatz“, in: ACS, Uffici di polizia e comandi militari tedeschi, b. 5, f. 6, sf. 1; BdS Italien, Vermerk vom 30. 5. 1944 betr. „Auswertung der Banden-Aktion (General von Kamptz) für den Arbeitseinsatz“, gez. SSObersturmführer Reyscher, in: ebd., sf. 9; Bev. General, Chef der Militärverw., Rundschr. Nr. 246 vom 15. 6. 1944 betr. „Bandenaktionen“, in: ebd.; Befehl des Oberbefehlshabers Südwest, Ia T Nr. 0627/44 g. Kdos., vom 23. 6. 1944, gez. Beelitz, Oberst l.G. (Abschr. von 4. Abschr. von 6. Ausfertigung), in: ebd.

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und Dôle bis zur Schweizer Grenze in der Nähe des Genfer Sees reichen sollte (auch Somme-Marne-Sâone-Stellung genannt).64 Der Arbeitskräftebedarf für die Auffangstellung war auf 100 000 Mann veranschlagt worden. Von diesen sollte die Organisation Todt 20 000 von den stillgelegten Baustellen im Westen selbst mitbringen, die übrigen 80 000 sollten aus der lokalen Bevölkerung ausgehoben werden. Die für die Arbeitskräftegewinnung geltende Marschroute gab OT-Einsatzgruppenleiter Weis in einem Rundschreiben an die OT-Stellen vom 12. August vor: „Die Beschaffung der Arbeitskräfte in diesem Raum muss sich weitgehendst auf die Heranziehung der örtlich vorhandenen Einwohner beziehen. In Deutschland ist es den beteiligten Gauleitern gelungen, in kürzester Zeit 200 000 Arbeitskräfte für derartige Arbeiten an der Ostgrenze des Reiches aufzubringen. Diese waren in der Lage, in 14 Tagen 4 ½ Mill. cbm Erde zu bewegen. Der Ausbau der Stellung muss auch in Frankreich in ähnlicher Form durchgeführt werden. Die Gruppe Arbeitseinsatz beim Mil.Bef. ist unterrichtet, dass er mit drakonischen Maßnahmen dafür zu sorgen hat, dass die einheimische Bevölkerung zu den Arbeiten herangezogen wird. Ich werde weiterhin verlangen, dass der Oberbauleiter das Recht bekommt, ganze Gemeinden – ohne Rücksicht auf jetzige Tätigkeit für den Stellungsbau herangezogen [sic]. Nur auf diese Weise wird es gelingen, die Stellung in kürzester Zeit zu bauen.“65

Das Rundschreiben belegt, dass die Initiative zur Brutalisierung der Arbeitskräfteaushebung beim Stellungsbau keineswegs von der Militärverwaltung ausging. Diese ließ sich indes nicht lange bitten. Hinsichtlich der Notwendigkeit, nunmehr bei der Requirierung bisher gehegte Skrupel fallenzulassen, scheint zwischen Oberbefehlshaber West, Militärverwaltung und OT Einvernehmen geherrscht zu haben. Weis’ Forderung nach „drakonischen“ Maßnahmen durch die Militärverwaltung wurde ebenso entsprochen wie der nach weitgehenden Vollmachten für die Oberbauleiter der OT, wie Berichte und Aktenvermerke belegen. Nach einem Bericht des Befehlshabers Nordost erhielt der Arbeitseinsatzleiter der OBL Soissons am 20. August von General Kitzinger die Vollmacht, „die benötigten Arbeitskräfte aus den an den Baustellen liegenden Gemeinden selbst ausheben zu können.“ In dem Bericht erfahren wir weiter: „Requiriert werden auch Frauen. Nur Ärzte und wichtige Versorgungsbetriebe werden geschont. Sofort nach Einsatz der Kräfte ist Meldung über die genaue Zahl der FK zu geben. Gearbeitet wird nur am Tag. (…) Leute erhalten 50,-- Ffrs. pro Tag Gefahrenzulage (wegen Fliegerbeschuss). Im Übrigen wird entsprechend den arbeitsrechtlichen Anordnungen bezahlt.“66

64

Vermerk vom 9. 8. 1944 über Besprechung am 7. 8. 1944 mit EG West der OT, Oberfrontführer Leuthardt, gez. Sasse, az.: A7 – Sa/Fä, „Geheim!“, in: AN, AJ40, 850, Akte 9. 65 Rundschr. der OT-EG West vom 12. 8. 1944 vom 12. 8. 1944, gez. Weis, betr. „Organisation der Einsatzgruppe West“, in: AN, AJ 40 850, Akte 8. 66 Bef. Nordost, Abt. Arbeit IV/1a – 5349, Bazailles b. Sedan, an MBF, Hauptabt. Arbeit, Ref. A7, Nancy, vom 25. 8. 1944 betr. „Schildbau. (Stellungsbau)“, in: AN, AJ40, 850, Akte 9.

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Neu war nicht nur, dass die OT die Organisation der Zwangsmaßnahmen jetzt selbst in der Hand hatte. Die hier beschriebene Vorgehensweise bedeutet zudem im Rahmen der Radikalisierung der Rekrutierungspraxis einen qualitativen Sprung: Die kollektive Zwangsverpflichtung mehr oder weniger ganzer Ortschaften war ebenso ein Novum wie der Zwangseinsatz von Frauen. Requiriert wurde ohne Zweifel unter Berufung auf die Haager Landkriegsordnung (jedoch unter Missbrauch derselben, handelte es sich doch um Maßnahmen, die unmittelbar der Kriegführung dienten). Daher wurden die zwangsverpflichteten Personen auch nach den gültigen Tarifen entlohnt. Die Entlohnung und noch mehr die Zahlung einer „Gefahrenzulage“ stehen in einem zynisch anmutenden Kontrast dazu, dass hier ganze Dörfer gewissermaßen hinter vorgehaltenen Gewehrläufen und unter Fliegerbeschuss zum Schanzen gezwungen wurden. Die Gefahrenzulage macht aber deutlich, dass selbst in dieser letzten Phase, in der die Arbeitskräfte unter Anwendung nackter Gewalt ausgehoben wurden, OT und Militärverwaltung bemüht waren, zumindest den Schein der Legalität zu wahren. Dies mag ebenso der Bestätigung des eigenen Selbstverständnisses gedient haben wie dem Auftreten gegenüber den lokalen französischen Behörden. Ob diese sich ohne eine pseudolegale Grundlage anders verhalten hätten oder hätten anders verhalten können, ist eine andere Frage. Festzuhalten ist in jedem Fall, dass das Bewusstsein für die Norm nicht verloren ging und der Anspruch und/oder das Bedürfnis bestand, sich bei aller Härte, Rücksichtslosigkeit und Gewaltanwendung im Rahmen des Kriegsrechtes oder zumindest einer der Härte der Kriegssituation für angemessenen gehaltenen Legitimität zu bewegen. Die OT-Oberbauleitungen zeigten sich mit den Ergebnissen der Arbeitskräfterequirierungen durchweg zufrieden. In einer Besprechung bei der Einsatzgruppenleitung am 28. August bestätigten die versammelten Oberbauleiter übereinstimmend, „dass die Bereitstellung der Arbeitskräfte für die durchzuführenden Verteidigungsbauten ohne wesentliche Schwierigkeiten erfolgte. Die Feldkommandanturen haben Unterstützung geleistet, teilweise wurden auch Truppen eingesetzt, um die Bevölkerung zwangsweise an die Arbeitsplätze zu bringen.“67 Der bei der Hauptabteilung Arbeit des MBF für den OT-Einsatz zuständige Arbeitsamtsdirektor Sasse vermerkte nach einer Unterredung mit Weis: „Aus den Berichten der Oberbauleiter war zu entnehmen, dass mit den zur Verfügung stehenden Arbeitskräften im Allgemeinen ausgekommen wird. Wo Arbeitskräfte gebraucht werden, wird von Feldgendarmerie und Truppen die geforderte Hilfe geleistet. Es wird darum gebeten, auf die Feldkommandanturen einzuwirken, bei der Bereitstellung von Arbeitskräften auch künftig mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln

67

Vermerk vom 30. 8. 1944 über Besprechungen über Arbeitseinsatz bei Verteidigungsbauten, Luftkriegseinsatz und Höhlenbauvorhaben mit Oberbaudir. Weis, in: AN, AJ40 850, Akte 9.

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ggf. unter Gewaltanwendung gegen arbeitsunwillige Kräfte vorzugehen. [Hervorhebung F.L.]“68

Hieraus ist erneut ersichtlich, dass die OT – mindestens auf der Ebene der Einsatzgruppenleitung und der Oberbauleitungen – diese Rekrutierungspraxis keineswegs passiv tolerierte, geschweige denn missbilligte, sondern im Gegenteil die Militärverwaltung weiter zur Anwendung „aller zur Verfügung stehenden Mittel“ drängte. Festzuhalten bleibt, dass in Italien und Frankreich ein deutlicher qualitativer Unterschied zwischen dem Arbeitseinsatz bei der OT im Frontgebiet und dem fernab von den Kriegsschauplätzen bestand. Dies lässt die Vermutung zu, dass der Arbeitseinsatz im besetzten Westen nicht nur deshalb gemäßigter und gewaltärmer ablief, weil es der Westen war, sondern zumindest teilweise auch deshalb, weil dort während der überwiegenden Zeit der Besatzung nicht gekämpft wurde und somit ein Gewalt und Radikalisierung befördernder Faktor weitgehend entfiel. Man mag von da aus konterfaktisch weiterfragen, wie sich der Arbeitseinsatz bei der OT (und in Erweiterung: die deutsche Besatzungspolitik) bei längerer Kriegsdauer im noch besetzt gehaltenen Frankreich entwickelt hätte, wäre es der Wehrmacht gelungen, den alliierten Vormarsch etwa an der Auffangstellung zum Stehen zu bringen, und ob sich die Praxis möglicherweise der in den besetzten Ostgebieten weiter angenähert hätte. Und dennoch: Frankreich war weder Polen noch Serbien noch die Ukraine. Das Gefühl, einer Rechtsgrundlage zu bedürfen, um Zwangsaktionen zu rechtfertigen, verschwand bei der Militärverwaltung bis zum Schluss nicht. Die Bezahlung der mit Gewalt zu den Baustellen gebrachten Personen nach geltendem Tarif zuzüglich Gefahrenzulage manifestiert die Absicht, gewisse Normen von „Recht und Ordnung“, wie sie auch im Reich bestanden, nicht ganz zu verlassen. Ein solcher Anspruch bestand in den besetzten Gebieten der Sowjetunion zu keiner Zeit. Insofern bleibt trotz der Eskalation von Zwang und Gewalt in den letzten Besatzungsmonaten ein qualitativer Unterschied der Requirierungspraxis im Osten und Westen bestehen, auch wenn dieser in Einzelfällen brüchig werden mochte. Ähnlich wie von Gaël Eismann für den Bereich der Repressionspolitik dargelegt69, lässt sich also auch für die Praxis des Arbeitseineinsatzes feststellen: In der Endphase des Krieges mögen die Grenzen zwischen der Besatzungspraxis in Ost und West permeabel geworden sein, aber sie verschwanden nicht. In der Frage des Gebrauchs und der Eskalation von Gewalt ähnelte der OT-Einsatz in Italien dem in Frankreich deutlich mehr als dem in den besetzten Ostgebieten (dessen Erforschung allerdings noch weitgehend aussteht70). 68

Ebd. Gaël Eismann: La politique répressive du Militärbefehlshaber in Frankreich, un cas singulier en Europe occupée (1940–1944)?, in: Histoire et Sociétés Nr. 17 (2006), S. 44–55. 70 Teilweise geschlossen wird diese Forschungslücke durch das Dissertationsprojekt von Christiane Botzet (Univ. Freiburg i.Br.). 69

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Jeweils parallel zu setzen sind dabei die Situationen in Frontnähe einerseits und andererseits die Einsätze fernab vom Kampfgeschehen. Ist die Trennlinie zwischen beiden Formen in Italien eine primär geographische (zwischen Norditalien und Süd-/Mittelitalien), so haben wir es in Frankreich mit einer primär zeitlichen Zäsur zu tun – einmal vor und einmal nach der Alliierten Landung.

4. Löhne Vergleicht man die Entwicklung der Lohnpolitik der OT in Frankreich und Italien gegenüber den zivilen Arbeitskräften, zeigen sich erneut große Parallelen. Dabei sind drei Punkte herauszustellen. Erstens waren die Löhne ein wesentliches – und in der ersten Phase der Besatzung das wichtigste – Instrument der Arbeitskräftelenkung durch die Besatzungsbehörden, zugunsten der OT ebenso wie zugunsten anderer Institutionen und Wirtschaftsbereiche. Dennoch muss, zweitens, das in der Literatur für Frankreich wie für Italien bisweilen gezeichnete Bild von einer generellen Hochlohnpolitik der Organisation Todt teilweise korrigiert werden. Drittens ist zwischen der Lohnpolitik, wie sie sich in Erlassen der Arbeitsabteilung der Militärverwaltungen und den Rundschreiben der OT-Einsatzgruppen manifestiert, und der Lohnpraxis der Bauleitungen und der deutschen und einheimischen Bauunternehmen zu unterscheiden, die nicht selten von den Vorgaben abwich. Trotz des von Vichy-Regierung und MBF gleich zu Beginn der Besatzung dekretierten Lohnstops und des im August 1940 vom MBF für deutsche Stellen festgesetzten Prinzips der „ortsüblichen Löhnen“71 zahlten die deutschen Stellen in Frankreich 1940/41 deutlich und nicht selten ein Vielfaches mehr als vergleichbare französische Unternehmen, um einheimische Arbeitskräfte anzuwerben. Die OT und die für sie arbeitenden Firmen bildeten dabei keine Ausnahme.72 Wurde diese Hochlohnpraxis von der Einsatzgruppenleitung anfangs zumindest als Notwendigkeit toleriert, so ergriff sie gleichwohl von Sommer 1941 an Maßnahmen, um die Löhne zu stabilisieren oder gar zu sen71

Lageberichte des MBF, Chef des Verwaltungsstabes, für September und Oktober 1940, in: AN, AJ40, 444, Akte 2. 72 Christian Bougeard: Les chantiers allemands du Mur de l’Atlantique, in: Bernard Garnier/Jean Quellien (Hg.): La main d’œuvre française exploitée par le IIIe Reich. Actes du colloque international, Caen, 13–15 décembre 2001, Caen 2003, S. 185–218, hier S. 189; Jacqueline Sainclivier: Le poids de la guerre sur l’emploi et la vie des ouvriers en Bretagne (1938–1947), in: Denis Peschanski/Jean-Louis Robert (Hg.) : Les ouvriers en France pendant la Seconde Guerre mondiale, Paris 1992, S. 81–88, hier S. 87; Rémy Desquesnes: Atlantikwall et Südwall. Les défenses allemandes sur le littoral français, 1941–1944, Bd. 1, Diss., Caen 1987, S. 163f., 168. In den Lohn- und Sozialversicherungsbestimmungen des MBF und der OT wurden Franzosen und in Frankreich angeworbene Ausländer, sofern es sich um freie Zivilarbeiter handelte, grundsätzlich gleich behandelt.

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ken. Im Departement Finistère wurde die Bezahlung auf den OT-Baustellen im Juli 1941 nach unten korrigiert, was einen Teil der abgeworbenen Landarbeiter dazu veranlasste, an ihre vormaligen Arbeitsplätze zurückzukehren.73 Im Dezember 1941 bestimmte die EG West für die Oberbauleitung Normandie in St-Malo Höchstgrenzen für die Stundenlöhne, legte die zulässigen Entschädigungen und Zulagen fest und präzisierte: „Sämtliche bisher gewährten Vergütungen, soweit sie dieser Anordnung nicht entsprechen, sind auf die jetzt genannten Sätze zurückzuführen.“74 Im Februar 1942 setzte der MBF für jede Oberbauleitung an der Atlantikküste maximale Stundenlöhne fest, die, wenn nicht auf eine Senkung, so doch mindestens auf eine Stabilisierung des Lohnniveaus von 1941 abzielten.75 Schließlich wurden im September und Dezember 1942 einheitliche Höchststundenlöhne für sämtliche deutsche Baustellen im französischen Küstengebiet (OT und Wehrmacht) dekretiert76, die für zahlreiche Oberbauleitungen der OT eine Senkung im Vergleich zur Regelung vom Februar desselben Jahres bedeuteten. Mehr als das: Sie lagen auch unter den für zahlreiche Departements geltenden französischen Höchstsätzen im Bereich der Baubranche, insbesondere unter denen der Pariser Region. Gewiss wurde der Verlust im Bereich des Stundenlohnes kompensiert und teilweise überkompensiert durch verschiedene Zulagen, Prämien und Entschädigungen und vor allem durch die überlangen Arbeitszeiten bei der OT, die oftmals 60 und bisweilen 72 Stunden pro Woche erreichten. Gleichwohl beobachteten die französischen Präfekten global eine Lohnsenkung auf den OT-Baustellen zu Beginn des Jahres 1943.77 Diese erfolgte bezeichnenderweise zur selben Zeit, in der die Rekrutierung durch Dienstverpflichtung sich generalisierte, französische Baustellen systematisch stillgelegt wurden und den Arbeitern auf den deutschen Baustellen ein Arbeitsplatzwechsel untersagt und damit die Exit-Option genommen wurde. Dienstverpflichtete

73

Christian Bougeard: Les chantiers allemands du Mur de l’Atlantique, in: Bernard Garnier/Jean Quellien (Hg.): La main d’œuvre française exploitée par le IIIe Reich. Actes du colloque international, Caen, 13–15 décembre 2001, Caen 2003, S. 185–218, hier S. 189. 74 OT-EG West, Frontführung – Gefolgschaftsstelle, an OBL Normandie vom 10. 12. 1941 betr. „Arbeitsbedingungen für Bauarbeiter in St. Malo“, in: BA, R 50 I 202, Bl. 2–3. 75 Anordnung des MBF Wi VII/775/42 vom 27. 2. 1942 „über Arbeitsbedingungen der Org. Todt, Einsatz Westküste“, gez. Eckelmann, in: AN, AJ40, 851, Akte 5. 76 BA-MA, RH 36, 348: Anordnung des MBF Wi VII/775/42 „über die Arbeitsbedingungen auf Baustellen der Organisation Todt und der Wehrmacht im Küstengebiet“, 2. 9. 1942; Anordnung des MBF Wi VII 770 XI d/42 „über die Arbeitsbedingungen auf Baustellen der Wehrmacht und der Organisation Todt im Küstengebiet“ vom 3. 12. 1942. 77 Ministère de l’Intérieur, Synthèse des rapports des préfets de la zone occupée pour le mois de janvier 1943, abrufbar auf der Internetseite des IHTP (www.ihtp.cnrs.fr/ prefets).

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wurden überdies deutlich schlechter bezahlt als Arbeiter, die sich „freiwillig“ gemeldet hatten.78 Es handelt sich hier um den entscheidenden Übergang von einem Regime freier Arbeit zu einem Regime unfreier Arbeit. Die Kombination aus geringerem Stundenlohn und verlängerter Arbeitszeit bedeutete zudem eine stärkere Ausbeutung der Arbeiter bei der OT – sowohl im Vergleich zur vorhergehenden Phase als auch im Vergleich zum französischen Sektor. In ähnlicher Weise relativiert werden muss das von Lutz Klinkhammer gezeichnete Bild von der Lohnpolitik der OT in Italien. Gestützt auf einen Bericht vom November 194379 – also aus der Frühphase der deutschen Besatzung – hält Klinkhammer über die Entlohnung bei der OT in Mittelitalien fest, sie sei im Verhältnis zur landesüblichen „so erheblich erhöht [worden], dass die OT noch am wenigsten Schwierigkeiten hatte, Arbeiter zu bekommen.“80 Diese Feststellung kann jedoch geographisch und vor allem zeitlich nicht verallgemeinert werden. Vielmehr geht aus den Lageberichten der Militärkommandanturen (MK) Bologna und Genua hervor, dass die Löhne bei der OT seit dem Jahreswechsel 1943/1944 hinter den Löhnen der italienschen Betriebe zurückblieben, da die Löhne im Dezember als Reaktion auf die beschleunigte Inflation überall in Italien erhöht worden waren. Hatten in den Provinzen La Spezia und Genua noch im Herbst 1943 lokale Wirtschaftsvertreter geklagt, die italienische Wirtschaft könne mit den überhöhten Löhnen auf deutschen Baustellen nicht mithalten und diese brächten das lokale Lohngefüge ins Wanken, hatte sich die Situation binnen weniger Monate gewandelt. So hielt die MK Bologna Ende 1943 eine 20%-ige Lohnerhöhung bei OT und Wehrmacht für erforderlich, damit diese fortan mit den Löhnen in der Landwirtschaft konkurrieren könnten.81 In Genua lagen die italienischen Löhne der Militärkommandantur zufolge sogar 30–50% über den für die OT festgelegten Tarifen.82 Die Lohnrichtlinien für OT und Wehrmacht blieben jedoch unverändert83, so dass es immer schwieriger wurde, auf der Grundlage von Freiwilligenwerbung die von der OT benötigten Arbeitskräfte zu beschaffen. Mehr als das: In Bologna verließen nach Angaben örtlicher OT-

78

Zur Lohnpolitik der OT in Frankreich vgl. Fabian Lemmes : Les conditions de travail dans les entreprises françaises du bâtiment et des travaux publics enrôlées dans l’Organisation Todt, in: Christian Chevandier/Jean-Claude Daumas (Hg.): Le Travail dans les entreprises sous l‘Occupation, Besançon 2007, S. 211–227. 79 ACS, Uffici tedeschi, b. 5, f. 6, sf. 1, Bericht III D 5-1211, gez. SS-Hauptsturmführer Beuer, o. D. [Anfang November 1943]. 80 Lutz Klinkhammer: Zwischen Bündnis und Besatzung. Das nationalsozialistische Deutschland und die Republik von Salò 1943–1945, Tübingen 1993, S. 208. 81 Lagebericht der MK 1012 Bologna vom 18. 12. 1943, in: BA-MA, RH 36, 482, Bl. 200. 82 Lagebericht der MK 1007 Genua von Januar 1944, in: BA-MA, RH 36, 474. 83 Im Juli 1944 lag in Bologna die Vergütung in der italienischen Wirtschaft im Schnitt noch immer bei 20–30% über den Sätzen der Wehrmacht (Lagebericht der MK 1012 Bologna vom 13. 7. 1944, in: BA-MA, RH 36, 481, Bl. 32).

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Dienststellen in den ersten Wochen des Jahres 1944 die Arbeiter „trotz Androhung höchster Strafmaßnahmen“ die Baustellen.84 Wie in Frankreich fiel auch in Italien das Stagnieren der Löhne bei der OT zeitlich zusammen mit der Einführung der Dienstpflicht. Es stand nun also ein anderes Instrument der Arbeitseinsatzsteuerung zur Verfügung, das hohe Löhne als Steuerungsmittel entbehrlich zu machen schien. Von Januar 1944 an rekrutierte die OT in Bologna auf der Grundlage des neuen Arbeitsdienstgesetzes85, jedoch mit sehr bescheidenem Erfolg, denn wie überall in Italien leistete nur eine Minderheit der Dienstverpflichtung Folge. Als die Front näher rückte und zehntausende Arbeitskräfte für den Bau der Grünstellung im toskanisch-emilianischen Apennin und den nördlichen Marken benötigt wurden, hob man diese – wie bereits zuvor in den Operationsgebieten Süditaliens – in der näheren Umgebung zunehmend auch mit Waffengewalt aus, sei es durch deutsche Einheiten oder durch bewaffnete Verbände der RSI.86 Mangels expliziter Dokumente können wir über die jeweiligen Gründe des Lohnstops, der für die Arbeitskräfterekrutierung kontraproduktiv sein musste, nur spekulieren. Angesichts der gigantischen Summen, die die französische und italienische Regierung als Besatzungskosten zu zahlen hatte, ist schwer vorstellbar, dass finanzielle Engpässe für den vergleichsweise früh eingeleiteten Lohnstop verantwortlich waren. Zwei andere Motive erscheinen als gewichtiger: die Begrenzung der Inflation und die parallel laufende Rekrutierung von Arbeitskräften fürs Reich. Zeigte sich der MBF angesichts einer Inflation besorgt, die in seinen Augen die Verlagerung von Produktionsaufträgen nach Frankreich erschwerte, so erschien das Problem in Italien als noch gravierender, denn dort ließ die galoppierende Inflation eine völlige wirtschaftliche Desorganisation befürchten, die sämtliche wirtschaftlichen Besatzungsziele gefährdete. Zumindest für Frankreich noch wichtiger dürfte allerdings gewesen sein, dass die Arbeitsverwaltung des MBF größten Wert darauf legte, dass ein Gefälle zwischen deutschen und französischen Löhnen gewahrt blieb, um einen Anreiz für eine Arbeitsaufnahme in Deutschland zu schaffen.87 Angesichts des totalen Lohnstops im Reich setzte dies ein Einfrieren 84

Lagebericht der MK 1012 Bologna vom 14. 2. 1944, in: BA-MA, RH 36, 482, Bl. 129. 85 Lagebericht der MK 1012 Bologna vom 14. 1. 1944, in: ebd., Bl. 161. 86 Der Vorarbeiter Egidio Venturl kam auf diese Weise gleich zweimal zur OT: zunächst Anfang 1944 als Beschäftigter einer italienischen Baufirma, die ihre Tätigkeit jedoch im Juni einstellte; einen Monat später dann erneut, diesmal als mit Waffengewalt rekrutierter Zwangsarbeiter; vgl. Tiberi Silvano: 1944. La guerra nel Montefeltro. Alta e media valle del Foglia, Sassocorvaro 1995, S. 14 u. 20. 87 Erlass des MBF Wi VII/775/41 vom 3. 5. 1941 über „Arbeitsbedingungen für die bei deutschen Dienststellen beschäftigten zivilen Hilfskräfte aus den besetzten Gebieten Frankreichs (Neufassung)“, gez. Dr. Schmid, in: AN, AJ40 850, Akte 5; vgl. außerdem Arne Radtke: La politique salariale de Vichy, in: Denis Peschanski/Jean-Louis Robert (Hg.): Les ouvriers en France pendant la Seconde Guerre mondiale, Paris 1992, S. 265–275, hier S. 267, sowie Sébastien Durand: Politiques de rémunération dans les

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der Löhne und Gehälter in den besetzten Ländern voraus, einschließlich der bei deutschen Dienststellen gezahlten. Die Löhne auf den Baustellen der OT durften daher nur ein intermediäres Niveau zwischen denen des französischen Sektors und dem Lohnniveau im Reich einnehmen.88 Ganz in diesem Sinne bezeichnete auch Sauckels Italien-Beauftragter Kretschmann in einem Papier von Ende 1943 als seine vordringlichsten Aufgaben die „Anpassung an das europäische Lohnniveau und Berücksichtigung eines entsprechenden Lohngefälles zum Reich“ sowie das Bremsen der Lohn-Preis-Spirale und eine Verhinderung der Inflation.89 Zu solchen pragmatischen Erwägungen kam schließlich ein ideologisches Motiv: Der deutsche Arbeiter sollte gemäß der ihm zugedachten Rolle als Vorarbeiter Europas nach Sauckels Weisungen „bei seiner Entlohnung immer an erster Stelle stehen und ein gesundes Lohngefälle zugunsten des Großdeutschen Reiches gewahrt bleiben“.90 Es sei angefügt, dass trotz allem die Entlohnung für die Rekrutierung von Arbeitskräften und das Bemühen, einmal rekrutierte Arbeitskräfte zu halten, bis zum jeweiligen Ende der Besatzung eine Rolle spielte, auch wenn sie nicht mehr das zentrale Instrument der Arbeitskräftelenkung darstellte. Die deutschen Stellen und die deutschen und einheimischen Firmen, die für sie arbeiteten, konkurrierten miteinander um Arbeitskräfte, was dazu führte, dass Bestimmungen vielfach missachtet und durch verschiedenste Maßnahmen umgangen wurden, um durch höhere Vergütungen Arbeitskräfte anzulocken. Es gab aber auch Fälle, in denen Arbeitern Leistungen, die ihnen nach geltenden Bestimmungen zustanden bzw. bei der Anwerbung zugesagt worden waren, nicht gewährt wurden und OT-Firmen über Wochen keine Löhne auszahlten. Was in finanzieller Hinsicht beim einzelnen Arbeiter ankam, konnte also auch innerhalb der Kategorie der einheimischen Zivilarbeiter höchst unterschiedlich aussehen. In keinem Fall hielten die gezahlten Löhne jedoch Schritt mit der in Frankreich rasch und in Italien sprunghaft ansteigenden Inflation, weshalb sich die materielle Situation der Arbeitskräfte bei der OT wie die der französischen und italienischen Zivilbevölkerung insgesamt zunehmend verschlechterte.

entreprises de la Gironde occupée. Contraines allemandes, stratégies patronales, in: Christian Chevandier/Jean-Claude Daumas (Hg.): Le Travail dans les entreprises sous l’Occupation, Besançon 2007, S. 211–227. 88 Rémy Desquesnes: Atlantikwall et Südwall. Les défenses allemandes sur le littoral français, 1941–1944, Bd. 1, Diss., Caen 1987, S. 168, Anm. 71. 89 Niederschrift Kretschmanns, „Lohn- und Preisgestaltung in Italien, Nur für den Dienstgebrauch, Vertraulich!“, Dezember 1943 (Abschrift), in: ACS, Uffici di polizia e comandi militari tedeschi, b. 5, f. 6, sf. 2. 90 GBA an MBF vom 25. 10. 1942 betr. „Beauftragte des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“, in: AN, AJ 40, 846, Akte 3.

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Schlussbetrachtung 1. Vergleicht man den Arbeitseinsatz bei der Organisation Todt in Frankreich und Italien, so überwiegen insgesamt die Gemeinsamkeiten gegenüber den Unterschieden. Die Prinzipen der Arbeitseinsatzpolitik und das Repertoire der eingesetzten Mittel waren weitgehend identisch, die auftretenden Probleme und die Lösungsversuche ähnlich und sogar die Abfolge der ergriffenen Maßnahmen in Grundzügen gleich. Dabei verlief die Entwicklung allerdings nicht synchron, sondern infolge der wesentlich späteren Besetzung Italiens zeitversetzt bzw. phasenverschoben. Für die zahlreichen Ähnlichkeiten lassen sich vier Gründe anführen. Zunächst haben wir es nicht mit zwei voneinander völlig unabhängigen Fällen zu tun; vielmehr hingen die OT-Einsatzgruppen in Frankreich und Italien und auch die übrigen für Fragen des Arbeitseinsatzes relevanten deutschen Institutionen (Beauftragter des GBA, Speer-Behörde, Militärverwaltung, Oberbefehlshaber des Heeres) jeweils von gemeinsamen Zentralen in Berlin ab, die über grundsätzliche Marschrouten bei der wirtschaftlichen und personellen Ausbeutung der besetzten Länder befanden. Diese verlief im gesamten besetzten Westeuropa nach ähnlichen Schemata – und Italien gehörte in dieser Hinsicht ohne Zweifel zum Typ „West“ der Besatzungsherrschaften, wie das hier untersuchte Beispiel des Arbeitseinsatzes bei der OT bestätigt. Zum zweiten hatte die spätere Gründung der Einsatzgruppe Italien zur Folge, dass die OT dort auf bereits erprobte Muster und Erfahrungen der Einsatzgruppe West zurückgreifen konnte. Ferner lief der OT-Einsatz in den beiden Ländern innerhalb ähnlicher Herrschafts- und Verwaltungsstrukturen ab (Koexistenz von Militärverwaltung und Kollaborationsregierung samt einheimischer Administration, mittels derer die Besatzungsziele umgesetzt wurden). Schließlich schuf die Tatsache der Besatzung selbst bisweilen ähnliche Situationen und Logiken in gleichen Phasen. Dies gilt insbesondere für den jeweiligen Beginn der Okkupation. So bewirkte die Besetzung des Landes in beiden Fällen zunächst wirtschaftlichen Stillstand und einen starken Anstieg der Arbeitslosigkeit, an deren Beseitigung sowohl deutsche als auch einheimische Behörden interessiert waren. Dies erleichterte in der ersten Phase die Anwerbung von Arbeitskräften auf mehr oder weniger freiwilliger Basis. Die sich im diachronen Vergleich zeigende Parallelität vieler Entwicklungen in Frankreich und Italien unterstreicht den Nutzen, den die vergleichende Okkupationsforschung aus einem Denken in Phasenmodellen ziehen kann.91 91

Vgl. das von Klinkhammer vorgeschlagene Phasenmodell, das zwischen einer Phase der Eroberung und Errichtung der nationalsozialistischen Herrschaft, einer Phase der Machtetablierung und einer Phase der Radikalisierung unterscheidet; vgl. Lutz Klinkhammer: Grundlinien nationalsozialistischer Besatzungspolitik in Frankreich, Jugoslawien und Italien, in: Christof Dipper/Rainer Hudemann/Jens Petersen (Hg.): Faschismus und Faschismen im Vergleich. Wolfgang Schieder zum 60. Geburtstag, Köln 1998, S. 184.

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Die Unterschiede, die sich für den Arbeitseinsatz bei der OT zwischen Frankreich und Italien ausmachen lassen, sind vor allem zurückführen auf (1) die Kriegsereignisse und die unterschiedliche militärische Situation, (2) den Mangel an deutschem Leitungs- und Überwachungspersonal bei der OT sowie die insgesamt dünnere Personaldecke der Besatzungsbehörden in Italien, (3) den höheren Grad der administrativen Durchdringung Frankreichs seitens der einheimischen Verwaltung, (4) die in Italien weiter fortgeschrittenen gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen, die zum einen mit den Kriegsereignissen zusammenhingen, zum anderen damit, dass (5) die Okkupation Italiens insgesamt in eine spätere Kriegsphase fiel, was wiederum (6) den allgemeinen Erwartungshorizont im Hinblick auf Art und Zeitpunkt des Kriegsendes beeinflusste und damit die Kollaborationsbereitschaft lokaler Verwaltungen und Überlebensstrategien der Zivilbevölkerung. Während in Frankreich die territoriale und organisatorische Struktur der OT über Jahre hinweg stabil blieb, zogen die Kriegsereignisse in Italien permanente Verlegungen der OT-Einheiten nach sich. Entsprechend waren Arbeitskräfterekrutierung und -einsatz in Italien wesentlich stärker von Kurzfristigkeit und Improvisation bestimmt. Militärische Stabilität, ein höheres Maß an administrativer Durchdringung und Erfassung der Bevölkerung, die meist reibungslose Kollaboration der einheimischen Behörden und mehr deutsches Verwaltungspersonal ermöglichten in Frankreich eine ungleich effektivere Anwendung der Dienstpflicht, eine wesentlich stärkere Zentralisierung des Arbeitseinsatzes und damit auch eine stärker überregionale Rekrutierung von Arbeitern für die OT. In Italien wirkten dagegen der eher kurzfristige und mobilere Charakter der OT-Einsätze, mangelnder Transportraum, zerstörte Verkehrsverbindungen und Knappheit an deutschem Aufsichtspersonal dahingehend zusammen, dass Arbeitskräfte zum einen in höherem Maße aus der näheren Umgebung der Baustellen rekrutiert wurden und zum anderen häufiger als in Frankreich im eigenen Haus wohnen blieben und umgekehrt seltener in Lagern untergebracht waren. Die raumzeitliche Nähe zum Kampfgeschehen erweist sich schließlich in beiden Ländern als ein wichtiger kausaler Faktor für die Radikalisierung des Arbeitseinsatzes und die Anwendung von Gewalt. Die unterschiedliche Entwicklung der Kriegsereignisse in beiden Ländern führte jedoch dazu, dass eine mit den italienischen Frontgebieten vergleichbare Radikalität in Frankreich erst im Umfeld der alliierten Landung in der Normandie erreicht wurde. Anhand der OT lassen sich beispielhaft die großen Linien der deutschen Arbeitseinsatzpolitik und -praxis in den besetzten Ländern nachvollziehen. Im Grundsätzlichen können daher viele Ergebnisse auch für andere im besetzten Gebiet agierende deutsche Institutionen, allen voran die Wehrmacht, Geltung beanspruchen. Im Detail gilt es jedoch zu differenzieren, da innerhalb der besetzten Länder OT, Wehrmachtsstellen, Rüstungskommandos, Sperrbetriebe und Sauckel-Behörde miteinander um Arbeitskräfte konkur-

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rierten. Verallgemeinernde Aussagen zu Politik und Praxis der Besatzungsmacht sind daher immer mit Vorsicht zu betrachten und zu treffen. Dies gilt indes auch für verallgemeinernde Aussagen zur OT in einem bestimmten Land, denn auch hier deckte sich die Linie der Einsatzgruppenleitung durchaus nicht immer exakt mit den Interessen und der Praxis der Bauleitungen und OT-Firmen. 2. Die Untersuchung hat gezeigt, dass der Begriff der Freiwilligkeit für Frankreich wie für Italien stark relativiert werden muss, und zwar bereits für die jeweilige Anfangszeit der Besatzung, da vielfach zumindest indirekte Zwänge ausgeübt wurden und in jedem Fall die Alternativen stark eingeschränkt waren. Ein Extrembeispiel für eine solche „Freiwilligkeit“ im Rahmen begrenzter Optionen stellen die vom Vichy-Regime internierten Ausländer dar, die sich entschlossen, für die Organisation Todt zu arbeiten. Für die Jahre 1943 bis 1944 kann von „freier“ Arbeit auf den OT-Baustellen in Frankreich nicht mehr gesprochen werden. Auch die einheimischen Zivilarbeiter waren nun zumindest „gebunden“, da ihnen der legale Rückzug aus dem Beschäftigungsverhältnis verwehrt war und sie überdies meist auf dem Wege einer Qualifikation und körperliche Eignung zunehmend missachtenden Dienstverpflichtung oder unter regelrechter Gewaltanwendung rekrutiert wurden. Für die diskriminierten Gruppen ausländischer Arbeitskräfte in Frankreich gilt dies ohnehin. Auf Italien trifft es mindestens für die Zivilarbeiter in der Operationszone Adriatisches Küstenland sowie im Bereich der Grünstellung im toskanisch-emilianischen Apennin seit Frühsommer 1944 zu (vermutlich geographisch auch darüber hinaus, doch wäre dies noch zu belegen). Zum Fehlen einer legalen Rückzugsmöglichkeit kamen weitere Zwangselemente, die die Arbeits- und Lebensbedingungen betrafen, etwa die Einschränkung von Freizügigkeit und Mobilität, die Überwachung von Lagern und Baustellen und drakonische Strafen. Waren die einheimischen zivilen Arbeitskräfte der OT in der jeweils zweiten Hälfte der Besatzung folglich „Zwangsarbeiter“? Mindestens für die in Lagern untergebrachten französischen Zivilarbeiter ist diese Frage zu bejahen. Lagerunterbringung zeichnet sich als wesentliches Kriterium für die Beurteilung des Zwangscharakters der Arbeitsverhältnisse ab und, damit zusammenhängend, auch als ein wesentlicher Bestimmungsfaktor für die Lebensbedingungen der OT-Arbeiter. Dass es privat untergebrachten Personen im Allgemeinen besser ging als solchen, die in Lagern lebten und auf Lagerverpflegung angewiesen waren, ist von den Westarbeitern im Reich her bekannt. Die Diskrepanz fiel in den besetzten Gebieten aber noch deutlicher aus, da Privatunterbringung dort normalerweise bedeutete, dass die Betroffenen aus der unmittelbaren Umgebung stammten und einfach weiter im eigenen Haus wohnten, täglich von der Baustelle nach Hause zurückkehrten und somit in ihrem heimischen sozialen Netz verblieben. Lagerunterbringung bedeutete hingegen in aller Regel nicht nur schärfere Überwachung und schlechtere Ernährung, sondern auch Dislozierung, in Frankreich bisweilen über

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Hunderte von Kilometern, und damit ein Herausreißen aus familiären und lokalen Solidaritätsstrukturen, was insbesondere die Formen des täglichen „Organisierens“ erschwerte. In diesen Fällen kann man von einem Arbeitseinsatz „fern der Heimat“ (Spoerer) sprechen, selbst wenn er im eigenen Land stattfand. Dabei waren die Arbeits- und Lebensbedingungen der dienstverpflichteten Franzosen auf den Baustellen und in den Lagern der OT in Frankreich nicht unbedingt besser als diejenigen ihrer Landsleute, die auf der Grundlage derselben Gesetzgebung zum Einsatz in Deutschland verpflichtet worden waren. Manche Präfektenberichte sowie zeitgenössische und retrospektive Schilderungen von Betroffenen über die Situation in den Lagern und auf den Baustellen des Atlantikwalls deuten eher auf das Gegenteil hin.92 Andererseits profitierten die einheimischen OT-Arbeiter in Frankreich und Italien davon, sich in einer tendenziell nicht feindlich gesinnten Umgebung zu bewegen und grundsätzlich mit der Solidarität lokaler Behörden und der umgebenden Bevölkerung rechnen zu können. Infolgedessen verfügten sie im Vergleich zu ihren in Deutschland eingesetzten Landsleuten über größere und effektivere Möglichkeiten, ihre Situation positiv zu beeinflussen, vor allem auf informellem Weg. Nicht zuletzt war es im eigenen Land um ein Vielfaches leichter, zu fliehen und unterzutauchen. Trotz solcher Handlungsspielräume sind die in Lagern lebenden französischen Zivilarbeiter während der Jahre 1943 und 1944 als Zwangsarbeiter zu bezeichnen. Zwar verfügten sie über voice, jedoch nur eingeschränkt und in deutlich geringerem Maße als die übrige Zivilbevölkerung. Dasselbe ist für die in Lagern untergebrachten Zivilarbeiter in Italien zu vermuten, doch lässt sich diese Frage noch nicht abschließend beantworten. Aufgrund der bisherigen Ergebnisse kann man aber bereits festhalten: Wenn Franz Seidler in seiner Gesamtdarstellung der Geschichte der OT lapidar von „angeworbenen italienischen Arbeitskräften“ in Italien spricht93 und damit impliziert, es habe sich um gewöhnliche Lohnarbeit gehandelt, ist dies eine in allgemeiner Form unhaltbare Aussage. Dislozierung und Lagerunterbringung sind indes keine notwendigen Bedingungen für das Vorhandensein von Zwangsarbeit in den besetzten Ge92

Berichte in AN, 2AG 543; Präfekt des Departements Calvados, Rapport d’information N° 13 du 1er janvier au 28 février 1943, 4 mars 1943, in: AN, F1c III 1144; Aussage André Delapierres, zit. bei Jean-Pierre Vittori: Eux, les S.T.O. Paris 1982, S. 91; vgl. auch Christian Bougeard: Les chantiers allemands du Mur de l’Atlantique, in: Bernard Garnier/Jean Quellien (Hg.): La main d’œuvre française exploitée par le IIIe Reich. Actes du colloque international, Caen, 13–15 décembre 2001, Caen 2003, S. 185–218, hier S. 189. 93 Franz W. Seidler: Die Organisation Todt. Bauen für Staat und Wehrmacht, 1938–1945, Bonn ²1998, S. 112. Fast genauso liest es sich bei Hedwig Singer: Entwicklung und Einsatz der Organisation Todt (OT). Einführung und Dokumente, Osnabrück 1998, S. 49.

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bieten. Auch wer unter vorgehaltener Waffe aus seinem Dorf zur Baustelle geführt wurde und für die OT schanzen musste, leistete Zwangsarbeit, selbst wenn er oder sie abends nach Hause zurückkehrte und zuhause schlief. Diese meist kurzfristigen und punktuellen Einsätze unter Gewaltanwendung, wie sie vor allem in Frontnähe und in Frankreich im Sommer 1944 vorkamen, sind typologisch zu unterscheiden von den in der Regel längerfristigen Einsätzen, bei denen keine direkte physische Gewalt angedroht oder ausgeübt wurde. Hier mochten die einheimischen Arbeitskräfte, die in der Nähe der Baustellen zuhause wohnten, zwar keine legale exit-Option haben, verfügten jedoch über voice. Abschließend darf bei alldem nicht vergessen werden, dass eine Arbeitsaufnahme bei der OT für die Menschen im besetzten Frankreich und Italien auch eine Option war. Zu bestimmten Zeitpunkten und im Rahmen begrenzter Alternativen konnte sie eine strategische Wahl darstellen, um das Überleben zu sichern oder eine andere, als ungünstiger erachtete Alternative wie den Arbeitseinsatz im Reich oder die Einberufung zur italienischen Armee abzuwenden. Das Phänomen ‚Arbeiten für die OT‘ allein aus der Perspektive eines von oben ausgeübten Zwangs zu beschreiben und zu erklären, greift daher zu kurz; es muss ergänzt werden durch eine Untersuchung individueller Handlungsspielräume und (Überlebens-)Strategien der Menschen in den besetzten Ländern. Hier gibt es Bedarf und Raum für weitere Forschungen.

Sergey A. Kizima

Forced Labour of Jews in the Territory of the Generalbezirk Weißruthenien Abstract My research tried to answer many questions to create an overall picture of forced labour of Jews in the territory of the Generalbezirk Weißruthenien. The paper started with a short history of Jews in Byelorussian territory to provide context for future discussion of their fate during Nazi occupation. The other questions are about reasons and methods of use of the Jewish workforce inside and outside ghettoes, conditions of work and remuneration for it and attitudes to workers on the part of German administration. The presence of Jews, one of the oldest nations in the world, in Byelorussian territory was first mentioned in official records in the XIV Century. One century previously the Grand Duchy of Lithuania, of which these lands formed part, had been created. After the partitions of Poland in 1772, 1793 and 1795 the local Jews became citizens of the Russian Empire and from 1791 became the subject of restrictions, well-known in the literature as the “Pale of Settlement”. Due to this Pale of Settlement all Jews of Russian Empire were concentrated mainly in the newly acquired territories1, which American Jewish Committee in 1916 described as an “enlarged ghetto”.2 This description acquired a new, ominous significance due to the events of 1940–1943. During Czarist times, Jews were concentrated in small and large urban areas in Byelorussian territory, where they often outnumbered the Byelorussians. This situation was a permanent source of anti-Semitic resentment on the part of Byelorussians, who lived mostly in villages and could not find work in cities due to competition from Jews. This concentration also resulted in the domination by Jews of the trade and financial spheres. They were also widely involved in military service – in an attempt to assimilate them.3 A Jewish woman, Gesja Gel’fman participated in plot against Alexander I that resulted in rise of anti-Semitism and numerous pogroms after death of the Czar. After Russian Revolution, that could be more accurately called the “revolution of national minorities” Jews enjoyed the unusual experience of being over-represented in the governing elite. For example, in Byelorussia, where Jews at the end of 1920’s accounted for 8.5% of population, compared with 83.7% for Byelorussians, one in four members of local Communist party was 1

H. Haumann: A History of East European Jews, Budapest 2001. American Jewish Committee (Ed): The Jews of the Eastern War Zone, New York 1916. 3 S. Asinovskij/E. Ioffe: Evrei Po Stranicam Istorii, Minsk 1997, p. 151–201. 2

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a Jew. In the governing bodies of Communist Party the proportions were as follows: Jews – 46.2%; Byelorussians – 22.4%; Russians – 14.5%; Poles – 12.1%; other nationalities – 4.8%.4 In 1930’s number of Jews in leading positions dropped but they still outnumbered the Byelorussians. Yiddish become one of four official languages of Byelorussia, a plan was adopted and implemented to grant Jews land. At the same time many Jews were disqualified from voting due to their professions (merchants, artisans, coachmen and others). However this restriction was not aimed specifically against Jews, only against professionals in these spheres regardless of their nationality. The same repression was also directed against all branches of the Christian Church and Muslims. During the Nazi occupation of Byelorussian territory almost one resident in three died (about 3 millions); one in every four of these victims was a Jew. Nazis widely used forced labour of Jews, who were taken according to their skills. Jews leapt at this opportunity as a chance to get food and save their lives. When on 22 July 1941 the Nazis attacked the Soviet Union, the Jews were mostly not aware of the specific dangers of the occupation for them.5 Soviet propaganda kept silent about extermination of Jews in Europe by the new ally of the USSR – Nazi Germany. This is why many Jews did not even try to escape. Some of them had also the impression from the experience of German occupation during World War I that they would be able to survive again as they had managed quite well at that time. The Nazis incited Byelorussians to conduct pogroms, but this strategy which worked well in Lithuania, Poland, the Ukraine and many other European countries did not work with the Byelorussians.6 Their anti-Semitism was expressed in saying openly that they were unhappy with their proximity to Jews, but not in a readiness to kill them. For example, Minsk Fascists ordered some Byelorussians to bury Jews alive in a pit. The Byelorussians refused and the Fascists killed 45 Jews and 25 Byelorussians on the spot.7 And such examples were numerous. Many Jews participated in the resistance movement, about 5,000 of them were members of the Underground, and 6,000 became partisans.8 Nazi propa4

I. Pushkin: Nacijanalnue Menshasti BSSR u Gramadska-Palituchnum Zhutti. 1920-ja godu, in: Belarusu u XX Stagoddzi, Vup. 2, Minsk 2003, p. 258–264. 5 L. Smilovitckij: Golosa, in: Belarus’ u Vuprabavannjah Vjalikaj Ajchinnaj Vainu: Masavue Zabojstva Nacistau. Materialu Mizhnarodnoj Navukovo-Praktuchnoj Kanferencii 2 Lipenja 2004 g, Minsk 2005, p. 226–264, p. 259. 6 K. Kozak: Germanskij Okkupacionnuj Rezhim v Belarusi i Evrejskoe Naselenie, in: Aktualnue Voprosu Izuchenija Holokosta na Territorii Belarusi v Godu NemeckoFascistskoj Okkupacii. Sbornik Nauchnuh Rabot, Minsk 2006, p. 23–59, p. 30. 7 R. Platonov: Belorussia: Izvestnoe i Neizvestnoe, Minsk 2001, p. 63. 8 R. Chernoglazova: Unichtozhenie Evreev Belarusi v Godu Nemecko-Fascistskoj Okkupacii 1941–1944, in: Tragedija Evreev Belarusi v 1941–1944 gg. Ed. by R. Chernoglazova & H. Heer, Minsk 1997, p. 15.

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Map of the Generalbezirk Weißruthenien

ganda claimed that the entire partisan movement was “Jewish”.9 But in fact the Byelorussian partisan movement involved more than 200,000 people and many partisan groups did not accept Jews when these offered their services to fight the Nazis. Nevertheless Jews took 92 commanding positions in partisan movement in Byelorussian territory.10 There was also the unique phenomenon of “family partisan detachments” consisting entirely of Jews and their families.11 The Generalbezirk Weißruthenien accounted only about 1/3 of the present Byelorussian territory with a population about 3.1 million people, divided among 10 districts. During first months of occupation the local population was disorientated12 and waited for first moves of occupiers to understand how to conduct themselves. Brutal repression against Jews was an important factor in the overall impression that led to mass resistance to the new order. Forced labour of Jews was used in many ways in the Generalbezirk Weißruthenien. It is useful to divide the practice of forced labour between that inside ghettoes and Concentration Camps and that outside them. Outside Jews worked mainly in factories, workshops, in the private households 9

K. Kozak: Germanskij Okkupacionnuj Rezhim v Belarusi i Evrejskoe Naselenie, in: Aktualnue Voprosu Izuchenija Holokosta na Territorii Belarusi v Godu NemeckoFascistskoj Okkupacii. Sbornik Nauchnuh Rabot, Minsk 2006, p. 23–59, p. 35. 10 I. Gerasimova: Evrei – Rukovoditeli Partizanskih Formirovanij, in: Vstali Mu Plechom k Plechu, Minsk 2005, p. 151–152. 11 R. Chernoglazova: Judenfrei! Svobodno ot Evreev. Istorija Minskogo Ghetto v Dokumentah, Minsk, 1999, p. 257. 12 B. Kjari: Ustnue Svidetel’stva Vtoroj Mirovoj Vojnu, in: Sociologicheskij Zhurnal 1996, Vol. 3/4, p. 247–257.

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of the local population and carried out unskilled labour for municipal needs. Inside they worked in the administration of ghettoes, were used as members of the local police force, worked in hospitals and orphanages and performed all the necessary work in the territory. In big cities where ghettoes were established, special departments for Jews were created. For example, in Minsk a Department of the Jewish Affairs was established in the town hall. This Department worked closely with field commandant‘s office. Up to autumn 1942 there was no systematic regime for management of the ghettoes. The Decree of 27 August issued by the Ostland Reichskommissar changed this. Security questions were assigned to the SS and Police, administrative questions to the city’s Commissars. The administrations of Byelorussian cities had responsibility of effective use of Jewish workforce that was treated as “requisitioned property”.13 The main reason why German administration widely used labour of Jews was a consequence of the Pale of Settlement described earlier. Jews often outnumbered Byelorussians in towns of all sizes in Byelorussian territory and had a near monopoly of many professions, especially in the skilled trades. Bricklayers, machinists, roofers, tanners, woodworkers, blacksmiths, wrights – all were badly needed for economic needs of the occupied territories but for historical reasons most of these tradesmen were Jews. German administrators did not care very much about historical reasons and just noted that “here Jews account for an extremely high proportion of artisans, which in this district, because of absence of other resources, are essential”.14 This situation saved the lives of many Jews and gave an opportunity for some of them to escape from ghettoes. Jews with essential skills were even sent to different villages and cities to work as specialists.15 When small ghettoes were liquidated some of specialists who lived there were kept alive so that they could be sent to work in bigger ghettoes. On the other hand, the Jewish intellectual elite (professors, teachers, lawyers) was annihilated in the first months of occupation.16 The only exception was made for medical specialists, who continued their work to prevent the breakout of epidemics etc.17 But in course of 13

G. Knat’ko: Minskoe Ghetto (Ijul’ 1941–Oktjabr’ 1943), in: Staronki Vaennaj Gistorui Belarusi, Vup. 2, Minsk 1998, p. 171–189; K. Kozak: Minskoe Ghetto: Puti k Vechnosti i Spaseniju, in: Zhiva … Da, ja Zhiva. Minskoe Ghetto v Vospomonanijah Maji Krapinoj i Fridu Reizman: Materialu i Dokumentu, Minsk 2005, p. 20–21. 14 Iz Otcheta Operativnoj Gruppu 4 “A” Policii Bezopasnosti i SD za Period s 16 Oktjabrja 1941 g. po 31 Janvarja 1942 g, in: Nurnbergskij Process. Sbornik Materialov. T. 1, Moscow 1954, p. 849. 15 Pravedniki Narodov Mira, Minsk 2004, p. 84. 16 K. Kozak: Germanskij Okkupacionnuj Rezhim v Belarusi i Evrejskoe Naselenie, in: Aktualnue Voprosu Izuchenija Holokosta na Territorii Belarusi v Godu NemeckoFascistskoj Okkupacii. Sbornik Nauchnuh Rabot, Minsk 2006, p. 23–59, p. 30. 17 K. Kozak: Minskoe Ghetto: Puti k Vechnosti i Spaseniju, in: Zhiva … Da, ja Zhiva. Minskoe Ghetto v Vospomonanijah Maji Krapinoj i Fridu Reizman: Materialu i Dokumentu, Minsk 2005, p. 43/44.

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time they were also sent to ghettoes, where some of them continued to work in their specialist areas.18 As in other countries, first of all Jews were counted and required to wear an identifying sign on their clothing – a yellow strip. When concentrated in ghettoes they were issued with an additional white strip with number of the house in which they lived. In small cities and villages with small numbers of Jews, they were usually completely exterminated, only in some places with high concentration of Jews were they taken to bigger cities to specially created ghettoes. In every big ghetto “…a Judenrat [Jewish Council] and a Jewish police force were established. In each house, someone was responsible for discipline… Every person aged between twelve and sixty was made to do forced labour.19 In small ghettoes functions of the Judenrat were performed by the “Starosta” [the Elder].20 The Jewish Councils had no real powers, they were used by German administrations to rob Jews more sufficiently, members and heads of the Jewish Councils were often killed by Nazis and replaced by new ones. Many members of Jewish Councils had contacts with partisans and helped to flee Jews from the ghettoes. The only privilege of members of the Local Police in the ghettoes, recruited from Jews, was to die last. Even so, some of them co-operated German administration intensely in the hope of saving their lives. The responsibilities of the Local Police were as follows: to guard the entrances to ghettoes against unauthorised movements; collection of material for Reich requirements; the organization of round-ups for work; assistance to occupiers in carrying out round-ups and pogroms. The other opportunities for work in ghettoes included orphanages, in old people’s homes, canteens for old and poor people and hospitals. These establishments were created by the Jewish Councils and actually functioned at times. Thus orphans collected in an orphanage at the Minsk ghetto were all killed in April 1943. German administrators often protected Jewish specialists needed for economy of their region from extermination by Einsatzgruppen, SD, Waffen-SS (Division of the SS – often drawn from the national minorities of the USSR like Lithuanians, Latvians, Ukrainians etc.), Gestapo, local police and detachments of Wehrmacht who often killed all the Jews that they came across. For example, the Gebietskommissar of Sluck personally expelled German police18 G. Knat’ko: Minskoe Ghetto (Ijul’ 1941–Oktjabr’ 1943), in: Staronki Vaennaj Gistorui Belarusi, Vup. 2, Minsk 1998, p. 171–189, p. 178. 19 L. Smilovitskij: Katastrofia Evreev v Belorusii 1941–1944, Tel Aviv 2000; L. Smilovitckij: Golosa, in: Belarus’ u Vuprabavannjah Vjalikaj Ajchinnaj Vainu: Masavue Zabojstva Nacistau. Materialu Mizhnarodnoj Navukovo-Praktuchnoj Kanferencii 2 Lipenja 2004 g, Minsk 2005, p. 226–264. 20 K. Kozak: Germanskij Okkupacionnuj Rezhim v Belarusi i Evrejskoe Naselenie, in: Aktualnue Voprosu Izuchenija Holokosta na Territorii Belarusi v Godu NemeckoFascistskoj Okkupacii. Sbornik Nauchnuh Rabot, Minsk 2006, p. 23–59, p. 32.

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men and Lithuanian “partisans” from city’s factories during the mass executions of Jews in Sluck, and complained that even so many Jewish specialists were still exterminated and operation of factories was made more complicated.21 There is documentary evidence of members of German Administration not allowing their Jewish workers to return from the factories where they worked to the ghetto, because they knew about planned pogroms there.22 “Economic reasons” were stated as one of main reasons for stopping extermination of Jews “on a mass scale” in first year of occupation.23 While administrators tried to save specialists for economic needs, members of extermination units ignored such considerations and tried to kill all Jews indiscriminately. During first pogrom in Minsk ghetto the killers spared the lives of Jews who had work certificates, yet during second pogrom they killed every Jew they came across. Nevertheless Jewish specialists had chances to stay alive for long time, especially if they worked in enterprises with military connections. For example, after one of the biggest pogroms of 28–31 July 1942 in the Minsk ghetto only the lives of specialists required for military needs were spared – 2,600 Jews who had come to ghetto from abroad and 6,000 local Jews.24 Sometimes Nazis picked out Jewish workers who went to enterprises under escort when searching for people who had infringed the prohibition to leave ghetto and killed them on the spot.25 Many mothers took their children to factories to prevent them being liquidated in their absence. When Jews return in ghetto after work they were searched to restrict opportunities to take food inside the ghetto. Despite the misery and deaths from starvation the authorities collected additional taxes from the Jews in the ghettoes.26 Some specialists mention important role of Commissar General for White Ruthenia Wilhelm Kube in slowing pace of Jewish extermination. He especially favoured Jews, deported from Western Europe, because some of them had fought in the First World War on the German side. He made several 21 Unichtozhenie Evreev SSSR v Godu Nemeckoj Okkupacii (1941–1944), in: Sbornik Dokumentov I Materialov Yad Va-shem: Nacionalnuj Institut Pamjati Zhertv Nacisma i Geroev Soprotivlenija, Ierusalim 1991, p. 145–147. 22 L. Smilovitckij: Golosa, in: Belarus’ u Vuprabavannjah Vjalikaj Ajchinnaj Vainu: Masavue Zabojstva Nacistau. Materialu Mizhnarodnoj Navukovo-Praktuchnoj Kanferencii 2 Lipenja 2004 g, Minsk 2005, p. 226–264, p. 239. 23 Iz Informacii Komissara Kriminal’noj Policii Burkhardta o Polozhenii Evreev na Okkupirovannoj Territorii, in: Nacionalnuj Arhiv Respubliki Belarus’, f. 4683, op. 3, d. 975, l. 223. 24 K. Kozak: Minskoe Ghetto: Puti k Vechnosti i Spaseniju, in: Zhiva … Da, ja Zhiva. Minskoe Ghetto v Vospomonanijah Maji Krapinoj i Fridu Reizman: Materialu i Dokumentu, Minsk 2005, p. 31. 25 L. Smilovitckij: Golosa, in: Belarus’ u Vuprabavannjah Vjalikaj Ajchinnaj Vainu: Masavue Zabojstva Nacistau. Materialu Mizhnarodnoj Navukovo-Praktuchnoj Kanferencii 2 Lipenja 2004 g, Minsk 2005, p. 226–264, p. 239. 26 K. Kozak: Germanskij Okkupacionnuj Rezhim v Belarusi i Evrejskoe Naselenie, in: Aktualnue Voprosu Izuchenija Holokosta na Territorii Belarusi v Godu NemeckoFascistskoj Okkupacii. Sbornik Nauchnuh Rabot, Minsk 2006, p. 23–59, p. 32.

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complaints against extermination campaigns against Jews from abroad by SS troops and even prevented one of these campaigns when 5, 000 Jews were about to be exterminated. As a result he had permanent clashes with SS leaders both in his territory and in Berlin. When Kube was killed by partisans in September 1943, Himmler said that his death “was good news for German Fatherland” because of his position on the Jewish question.27 At the same time it is clear that his position was similar to position of many German administrators in the occupied territories, who could not fulfil their obligations without using Jewish labour. Many exterminations of Jews who were not required for the work force in the Generalbezirk Weißruthenien were conducted with the active involvement of Kube. Thus on 31 July 1942 he reported on the liquidation in Belorussia of about 55,000 Jews in the previous ten weeks. In the district near Minsk the Jews had been, according to him, completely liquidated with the exception of Jews whose lives had been spared for the required work force.28 We can find a similar attitude to Jews in other cases. Thus, Reich Commissar for the Ostland Hinrich Lohse submitted to the Reichsminister for the Occupied Eastern Territories, Alfred Rosenberg, a request to spare the lives of some Jews for economic reasons as a workforce for militarily important enterprises in November 1941. When it became clear that the war contrary to expectations would be drawn out, the request was granted. The situation was similar in Lithuania and Latvia where the leaders of the Einsatzgruppe A wrote “after first mass executions in Latvia and Lithuania it became clear that it is not possible (at least right now) to carry out complete extermination of the Jews. Because many trades in Lithuania and Latvia are to a great degree in Jewish hands and some trades … are exclusively Jewish, it is not possible to dispense with their services in restoring especially important enterprises….”29

The Governor-General of the General Government of Poland Hans Frank, like Wilhelm Kube, had problems with SS, which wanted to kill all Polish Jews immediately, whereas he preferred to exploit the Jews as a useful workforce.30 He even lost his positions of authority outside the General Government because of his permanent clashes with the SS, partly in relation to this point. In cases when Nazis had no other choice but to use Jews as the only skilled specialists, they forced them to teach their skills to members of local population or prisoners of war and when Jews had successfully passed on their skills, they were killed or sent to concentration camps. Thus, it can be seen that the situation of a number of Jews whose lives were spared in different occupied territories depended on many factors: num27

I. Vaic: Katastrofa Evreistva Sovetskogo Soyuza, Tel’-Aviv 2000, p. 90. J. C. Zimmerman: Holocaust Denial: Demographics, Testimonies and Ideologies, New York 2000. 29 I. Vaic: Katastrofa Evreistva Sovetskogo Soyuza, Tel‘-Aviv 2000, p. 71. 30 R. Hilberg: The Destruction of the European Jews, Chicago 1985, p. 529. 28

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bers of Jews present; availability of a non-Jewish workforce, especially skilled workers; the influence of civil administrators and their readiness to take on the SS to maintain the required Jewish workforce. In the Generalbezirk Weißruthenien the proportion of Jews was very high; Jews were especially necessary and often had irreplaceable skills; Commissar General Wilhelm Kube was very influential in Berlin – the combination of these three factors meant that the Jews were used in the workforce longer than in other occupied territories. It is important to also mention that the SS had a special interest in extermination of all Jews in Generalbezirk Weißruthenien because it was there that the Nazis experienced the fiercest resistance from partisans in all the occupied countries. Jews were officially claimed to be the reason for this – and after death of Kube, the SS soon completed the liquidation of the Minsk ghetto. A Byelorussian specialist in Holocaust history Kuz’ma Kozak divided the use of Jewish workforce from the ghettoes into three stages. In the first stage Jews were used for restoring the cities and their economic potential. During second stage authorities allowed the opening of Jewish workshops and service enterprises. The main impact was in the use of the Jewish workforce at state enterprises. During the third stage the decision was taken in principle to cease the use of the Jewish workforce and proceed with their total extermination – for example, from April 1943 authorities started a campaign to dismiss all Jews from workplaces, from August 1943 it was forbidden to use the labour of Jews in enterprises and military structures.31 Instead of Jews, prisoners of war and local people were used who had obtained the required skills during the previous phases.32 Part of Jewish workforce was concentrated in “Rabochih Lagerjah SS” to perform necessary work there.33 Several thousand Jews were able to create new non-Jewish documents and worked as normal local people but the Jewish origin many of them was revealed.34 Some of Jews who were able to maintain their new identities were even sent to Germany as Byelorussians or Russians for forced labour.35

31

K. Kozak: Minskoe Ghetto: Puti k Vechnosti i Spaseniju, in: Zhiva … Da, ja Zhiva. Minskoe Ghetto v Vospomonanijah Maji Krapinoj i Fridu Reizman: Materialu i Dokumentu, Minsk 2005, p. 43. 32 G. Knat’ko: Minskoe Ghetto (Ijul’ 1941–Oktjabr’ 1943), in: Staronki Vaennaj Gistorui Belarusi, Vup. 2, Minsk 1998, p. 171–189, p. 181. 33 E. Ioffe: Evrei – Buvshie Voennoplennue i Uzniki Ghetto – Rukovoditeli Podpol’ja Partizanskogo Dvizhenija v Belarusi v Godu Velikoj Otechestvennoj Vojnu, in: Narodu SSSR v Godu Velikoj Otechestvennoj Vojnu 1941–1945 gg. Materialu XI Mezhdunarodnoj Nauchno-Prakticheskoj Konferencii, Minsk 2006, p. 81–109, p. 107. 34 L. Hasenevich: The Interview, 2006. 35 Pravedniki Narodov Mira, Minsk 2004, p. 47, 56, 86, 115, 142, 144.

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The Jewish workforce was used not only at state enterprises, but was also leased out to private ones. The employer went to local labour exchange and got the required number of Jews. He paid according to invoices sent to him by city’s Commissar.36 It was possible also to hire Jews to work in private households. The Jewish workforce was used by German administration out of ghettoes not only for skilled work. Jews were employed in heavy unskilled labour at main railway stations37, cleared roads and gathered fire wood38, were employed as servants in houses39, private teachers, cleaners at administration and enterprises, labourers on farms40, helped at reconstruction of destroyed buildings.41 Jews who worked for municipal needs in the streets and in enterprises got lower rations than workers of other nationalities and sometimes simply nothing.42 In the “Trastjanec” concentration camp (first created as a labour camp, not only Jews were imprisoned there, but also prisoners of war and members of partisan groups) authorities selected from every new party of prisoners of the electricians, mechanics, tailors and other specialists. They worked in specially created workshops in the camp grounds. The other prisoners were often exterminated on the same day.43 The German Administration imposed numerous restrictions on Jews who worked outside ghettoes. Usually workers of other nationalities who worked along with Jews were forbidden to communicate with them in any way.44 In Minsk area Jews were forbidden to walk on pavements and use street cars, attend schools, use electricity, radio or leave the ghetto without permission.45 36 G. Knat’ko: Minskoe Ghetto (Ijul’ 1941–Oktjabr’ 1943), in: Staronki Vaennaj Gistorui Belarusi, Vup. 2, Minsk 1998, p. 171–189, p. 180. 37 A. Kanapackaja: The Interview, 2006; L. Smilovitckij: Golosa, in: Belarus’ u Vuprabavannjah Vjalikaj Ajchinnaj Vainu: Masavue Zabojstva Nacistau. Materialu Mizhnarodnoj Navukovo-Praktuchnoj Kanferencii 2 Lipenja 2004 g, Minsk 2005, p. 226–264, p. 254. 38 G. Vinnica: Holocaust v Orshanskom Rajone Vitebskoj Oblasti, in: Narodu SSSR v Godu Velikoj Otechestvennoj Vojnu 1941–1945 gg. Materialu XI Mezhdunarodnoj Nauchno-Prakticheskoj Konferencii, Minsk 2006, p. 229–235, p. 233. 39 R. Gal’perina: Kak Eto Bulo…Vuzhivanie, Zhizn’, Nadezhda, Vup. 3, Minsk 2006, p. 68. 40 Pravedniki Narodov Mira, Minsk 2004, p. 95, 130. 41 G. Knat’ko: Minskoe Ghetto (Ijul’ 1941–Oktjabr’ 1943), in: Staronki Vaennaj Gistorui Belarusi, Vup. 2, Minsk 1998, p. 171–189, p. 176. 42 Ibid., p. 176/177. 43 N. Stel’mah: Mashina smerci – Trastjanec, in: Narodu SSSR v Godu Velikoj Otechestvennoj Vojnu 1941–1945 gg. Materialu XI Mezhdunarodnoj Nauchno-Prakticheskoj Konferencii, Minsk 2006, p. 159–166, p. 161. 44 Rasporjazhenije Komissara Minskogo Okruga o Zaprete Kontaktov s Evrejami (1942), in: Nacionalnuj Arhiv Respubliki Belarus’, f. 393, op. 1, d. 138, l. 7. 45 G. Knat’ko: Minskoe Ghetto (Ijul’ 1941–Oktjabr’ 1943), in: Staronki Vaennaj Gistorui Belarusi, Vup. 2, Minsk 1998, p. 171–189, p. 173.

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At the same time there were rare cases where workers were issued a new pair of shoes because this was required for their responsibilities.46 In total between 600,000 and 900,000 Jews were killed in the occupied territory of the BSSR (according to different estimates), of them up to 90,000 Jews from other European countries, mostly from Germany, Austria, the Netherlands, Hungary, France, Poland, and Czechoslovakia. They also were used for forced labour as specialists, and we have mentioned their use for heavy unskilled labour.47 As foreigners they had much lower chances of survival and many of them simply lost the will to live. They were typically from middle class families, had no experience of physical work and were afraid to infringe any of the rules that Nazis created especially to expedite their demise. Most of them were killed immediately on arrival in Byelorussian territory. At the same time surviving Jewish specialists from abroad were highly valued by the German administrators responsible for economic development. They mentioned that they worked much better than local Jews because of their hope of returning home after the victory in the war to the Reich.48 The order for the liquidation of all ghettoes in the territory of Ostland was issued by the Reichsführer-SS H. Himmler on 21 June 1943 and was accomplished by Nazis efficiently within a period of a few months. Any Jews who survived this liquidation (for whatever reason) ended up in concentration camps for extermination.

Conclusion Forced labour of Jews in the territory of Generalbezirk Weißruthenien was used by German administration as the only way to keep the economy running under occupation. Due to a unique historical situation, Jews had a virtual monopoly of many skilled trades and Nazis have no choice but to use the labour of many Jewish specialists before it was possible to train replacements from among the local non-Jewish population and prisoners of war. When these preparations were more or less completed, the Jewish specialists who were still alive were finally doomed. Forced labour of Jews in unskilled labour was mainly a way of making money for economic needs and of restoring the destroyed city’s infrastructure. 46

K. Kozak: Minskoe Ghetto: Puti k Vechnosti i Spaseniju, in: Zhiva … Da, ja Zhiva. Minskoe Ghetto v Vospomonanijah Maji Krapinoj i Fridu Reizman: Materialu i Dokumentu, Minsk 2005, p. 47. 47 G. Vinnica: Holocaust v Orshanskom Rajone Vitebskoj Oblasti, in: Narodu SSSR v Godu Velikoj Otechestvennoj Vojnu 1941–1945 gg. Materialu XI Mezhdunarodnoj Nauchno-Prakticheskoj Konferencii, Minsk 2006, p. 229–235, p. 232. 48 K. Kozak: Germanskij Okkupacionnuj Rezhim v Belarusi i Evrejskoe Naselenie, in: Aktualnue Voprosu Izuchenija Holokosta na Territorii Belarusi v Godu NemeckoFascistskoj Okkupacii. Sbornik Nauchnuh Rabot, Minsk 2006, p. 23–59, p. 49.

Jürgen Zarusky

Comment First of all, I would like to note that as contributions to this panel have already clearly highlighted, how many different aspects the problem of forced labour in the Third Reich had and what a great variety of themes are linked to it. The papers presented here have confronted us with a very great variety of themes. Geographically the span of problems dealt with in this section of our conference extends from France to Byelorussia (Belarus), thematically from the Holocaust to the common Catholic identity of forced labourers and their exploiters. Sometimes it may seem difficult to accommodate all these themes in one common scheme. But of course the guiding principle here is Nazi racism that attributed slave labourers of different countries and provenance their respective places in the racist societal pyramid of the Nazi Reich. The second main influence is the progress of the war. Finally, as the Nazi ideology was contradictory in itself, it never ceased to produce contradictions, and I would say, the focus on contradictions is the common denominator of the three papers presented here this morning: contradictions between racial “values” on the one side and rural traditions as well as industrial workers’ customs and ethics of industrial production on the other, further contradictions between the anti-Semitic programme of murder and the use of Jewish workforce for military needs in the occupied territories of the East. Of course there were great differences between the conditions in the relatively peaceful rural areas in Upper Bavaria and in German industrial towns, frequently shaken by allied bombings, not to speak of in Byelorussia, which the Nazi regime turned into the most frightful of its numerous “killing fields”. Those who have had the opportunity to see the film of the great Russian director Elem Klimov “Come and See” which is based on the recollections of the Byelorussian writer Ales Adamovich, will be especially aware of that. The first two papers, concentrating on working conditions and workers relations inside the Reich naturally share more common ground, while the third one opens up a different perspective. So in my summing up I shall at first concentrate on the first two papers, then deal with the third and finally try to make some remarks aiming at a synthesis. Professor Delaney and Monsieur Arnaud gave us interesting inside views of the relations between forced labourers and German peasants and workers. In both cases we learned that the moral cosmos, in which the encounters took place, was not completely occupied by National Socialist norms. Their papers confirm and illustrate a phenomenon already described in Ulrich Herbert’s classic study “Fremdarbeiter”: Although the basic setting was created according to political decisions and developments, traditional customs and

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specific ethics of work often were more important for the everyday relationship between foreigners and domestic population at the workplace level.1 Of course a certain cultural closeness had a bearing here, too. The French industrial workers and even the intellectuals had much in common with their German counterparts as well as the Polish farm labourers with their Bavarian employers. In both cases, Catholic religion could build a bridge. This applies especially for the southern Bavarian rural region, although attending divine services was forbidden for Poles from March, 1940.2 Regardless whether this regulation was obeyed to or not at the countryside, traditional Catholicism provides enough opportunities to publicly practise one’s faith. So presumably table prayers certainly were of importance in the common mealtime practices of Bavarian farmers and their foreign workers. M. Arnaud also mentioned the bridge-building function that Catholicism could have among industrial workers. But probably more important was the common integration into the production process, which almost inevitably created human ties on the basis of peasant or workers professionalism that certainly played no small role in the relations between forced labourers and domestic employers or workers. As Patrice Arnaud has carefully examined, this was not always completely understood by French intellectuals who made their first encounter with industrial work in the framework of the Service du Travail Obligatoire. Not every joke or prank was meant to humiliate the French, but could as well be one of the traditional means to establish contact between colleagues. In the case of the Frenchmen and of Polish workers in Catholic rural regions, the concepts of nationality and race seem to have lost a lot of the significance ascribed to them by Nazi ideology, at least in certain social micro-cosmoses. One has to bear this in mind to better understand the recollections and self-interpretations of former forced labourers, many of whom – at least for certain periods of time – did not look beyond the borders of these micro-cosmoses. But in fact these micro-cosmoses formed part of a greater framework which was shaped by Nazi ideology and the conditions of war. Both were at least of latent importance or could become important for the every day relations between forced labourers and domestic population. This applies especially to the Poles who were regarded as “racially dangerous”. Sexual relationships between Poles and Germans, especially Polish men and German women, officially constituted a crime deserving the severest punishment. So for instance only between 1941 and 1943 in the regions of Lower Bavaria and

1

Ulrich Herbert: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Bonn 21986, p. 211ff. 2 Diemut Majer: „Fremdvölkische“ im Dritten Reich. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Rechtsetzung und Rechtspraxis in Verwaltung und Justiz unter besonderer Berücksichtigung der eingegliederten Ostgebiete und des Generalgouvernements, Boppard am Rhein 1981, p. 310.

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Upper Palatinate 22 Poles were publicly executed for sexual intercourse with German women,3 an average rate of nearly one execution per month. Denunciations must have been made, and presumably in many cases the informers came from the same social micro-cosmos as the victims. The limits of fraternization and the basically asymmetric distribution of power become visible here. The ignoring of racist values in everyday contact with forced labourers could not change the legal – and in the Third Reich that meant racial – status of the later. In case of conflict, the Germans could draw on racial values while the forced labourers were without legal protection.4 When it comes to question of status, which cannot be ignored in such an extremely hierarchical system as the Nazi Führer dictatorship it would also be of interest to learn more about the gender aspect of relations between employers and foreign workers on the small Bavarian farms, with regard to the imbalance of traditional gender relations and the absence of many men due to military service. And this brings me to my next point. We know that the progress of the Second World War directly influenced the relationship between forced labourers and the Germans, at least when it came to decisive turning points. To illustrate this, I would like to relate a little anecdote here. In the early 1990’s I encountered a former forced labourer from the Netherlands, who had been arrested as a student because of resistance activities and had been brought to Germany, Thuringia I believe, to work. He told me that at that time he considered it his daily duty to humiliate a German without running the risk of unpleasant consequences. He gave me an example: Once, in the second half of the war, at the workshop he and his German foreman listened to the radio news. Fighting somewhere in Ukraine or Eastern Poland was mentioned. The German foreman did not know the name of the place mentioned in the news or where it was located and asked the Dutch student about it, who replied: “Oh, don’t you worry, that’s far away, just exactly half way between here and Moscow.” This was, of course, not the comforting message the German foreman would have liked to hear. What I wanted to point out to, is, that the invisible balance of power between forced labourers and Germans changed with the development of the war. In the years 1943, 1944 and, of course in the first months of 1945 forced labourers could increasingly feel like prospective victors, and justifiably so. This had considerable influence on the relations between foreign workers and their employers or German colleagues.

3

Thomas Muggenthaler: Verbrechen Liebe. Vom Schicksal polnischer Männer und deutscher Frauen im Dritten Reich – Manuskript der Sendung von Radio Bayern 2, Samstag, 01. November 2003, 12.05 Uhr; Archive of the author. 4 Diemut Majer: „Fremdvölkische“ im Dritten Reich. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Rechtsetzung und Rechtspraxis in Verwaltung und Justiz unter besonderer Berücksichtigung der eingegliederten Ostgebiete und des Generalgouvernements, Boppard am Rhein 1981.

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For the Jews in the “Generalkommissariat Weißruthenien” of course, the progress of the war was simply a matter of life or death. But, as Professor Kizima has pointed out, for most of them, the victory of the Red Army came too late. As elsewhere, for instance in Poland, representatives of the Jewish community in Byelorussia chose the strategy to prove the usefulness and value of Jewish workforce as a means for survival. Perhaps it is not quite correct, to say “they choose”, because they simply had no other choice. That even their only choice on the long run was not very helpful in the struggle for survival was not clear from the beginning. It could seem that work for German authorities, especially for those of military significance, would provide protection. But when the Germans began to kill even skilled workers, it became clear that the final goal or their policy was not exploitation but annihilation of the Jews. The destruction of Jewish workforce posed no great problems for the invaders, because they could draw on the domestic Belorussian and Polish population.5 And one has to bear in mind, that only a part of the Jewish population was able to work – according to the numbers Christian Gerlach gives in his study “Kalkulierte Morde” generally less than 50 percent.6 Consequently the Ghettos were liquidated in parts, with those capable to work put in separate Ghettos and allowed to survive a little longer than the children or the old, weak or sick. But the remaining workers had to cope with growing weakness because of the very meagre food rations, which lay below the already meagre allotment of food for Byelorussians and Poles. On the workplaces Jews had to take their miserable meals separated from the non-Jewish domestic workers – a characteristic difference to what many Polish workers experienced on Bavarian farmyards. The Jews were doomed, they had nothing to bargain with the Germans, not even their skills and their labour, because they were more or less smoothly replaceable by slave labour. Consequently the Ghetto meant death, “das Ghetto war der Tod”, as Abrascha Arluk, a survivor from Lida in the Baranovichi district put it, when I had the opportunity to talk to him in 2006. After having survived by chance a shooting in which his whole family was killed, he left the Ghetto and joined a Soviet partisan unit, which was the only alternative to death at German hands.7 In conclusion I would like to underline that it seems important to me not to isolate everyday relations between forced labourers and Germans from the political framework created by Nazi ideology and the progress of the war. Reflecting the papers of this section I would propose a three circle model

5

Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 1999, p. 658–668. 6 Ibid., p. 663 et seq. 7 Marina Maisel: Geretteter Retter. Der Zeitzeuge Abrascha Arluk erzählte, wie er in Weißrußland in einer Partisaneneinheit die Schoah überlebte, in: Jüdische Allgemeine No. 06/06, 9 February 2006, p. 18.

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with the social micro-cosmos at its centre; here traditional values or racist values could prevail. The next surrounding sphere is that of the status of the respective groups as defined by Nazi ideology, and the last is their position, self-confidence and prestige in respect to the progress of the war. I think that only a combination of these factors allows understanding, why the history of forced labourers in such extremely different situations as we have heard of can be understood as one.

Joachim R. Rumpf

Die Entschädigungsansprüche deutscher Zwangsarbeiter vor Gericht Zu spät erhoben – die Abweisung der Klagen wegen Verjährung der Ansprüche Einleitung Der folgende Beitrag befasst sich mit den Entschädigungsklagen deutscher Zwangsarbeiter gegen Unternehmen und Privatpersonen. Die Ansprüche von Zwangsarbeitern ausländischer Nationalität gegen die Bundesrepublik Deutschland wurden im 1953 abgeschlossenen Londoner Schuldenabkommen (LondSchAbk) einem Moratorium unterworfen. Die Verhandlung dieser Ansprüche sollte später im Rahmen einer endgültigen Regelung erfolgen. Im Laufe der 50er Jahre bildete sich die Rechtsansicht heraus, dass auch die Ansprüche von Zwangsarbeitern ausländischer Nationalität gegen private Unternehmen wie Privatpersonen unter das LondSchAbk und somit das Moratorium fielen.1 Somit waren alle ihre Ansprüche für unbestimmte Zeit aufgeschoben. Bei den deutschen Zwangsarbeitern verlief die Entwicklung anders. Mit dem Erlass des Bundesergänzungsgesetz (BErgG) 19532 und dessen Novellierung durch das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) 19563 sollten die von den Alliierten erlassenen Entschädigungsgesetze der Länder durch eine bundesweite Regelung komplettiert werden. Damit sollte die Entschädigung der Opfer zum Abschluss gebracht werden. Neben einer Entschädigung nach dem BEG (oder nach anderen Wiedergutmachungsgesetzen) waren gemäß § 8 BEG alle Ansprüche gegen die Bundesrepublik und die Länder ausgeschlossen.4 Nach dem BEG gilt das sogenannte „Territorialprinzip“, das weitgehend zu einer Beschränkung der Entschädigung auf deutsche NS1

Joachim Rumpf: Die Entschädigungsansprüche ausländischer Zwangsarbeiter vor Gericht: Wie die deutsche Industrie mit Art. 5 Abs. 2 Londoner Schuldenabkommen die Klagen ausländischer Zwangsarbeiter/innen abwehrte, in: Helmut Kramer/Karsten Uhl/Jens-Christian Wagner (Hg.): Zwangsarbeit im Nationalsozialismus und die Rolle der Justiz. Täterschaft, Nachkriegsprozesse und die Auseinandersetzung um Entschädigungsleistungen, Nordhausen 2007, S. 86–102. 2 Bundesgesetzblatt (BGBl.) 1953 I, 1387. 3 BGBl. 1956 I, 559. 4 Hendrik George van Dam/Heinz Loos (Hg.): Bundesentschädigungsgesetz, Berlin und Frankfurt a. M., Franz Vahlen GmbH, 1957, § 8 Ziff. 1.

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Opfer führte. Die Zwangsarbeiter gelten dem Gesetz nach nicht als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung und konnten nur dann eine Entschädigung beanspruchen, wenn sie einen der zur Entschädigung berechtigenden Verfolgungsgründe des § 1 BEG geltend machen konnten.5 Im Rahmen der Gesetzgebungsverfahren zum BErgG und BEG kämpfte die Industrie dafür, dass auch Ansprüche ehemaliger Zwangsarbeiter gegen Unternehmen und Privatpersonen ausgeschlossen würden. Ihre Entschädigungsansprüche sollten allein durch den Staat geregelt (und auch bezahlt) werden.6 Ein entschädigungsloser Ausschluss der Ansprüche hätte jedoch gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 Grundgesetz verstoßen.7 Die Bundesrepublik wollte und konnte zudem eine Entschädigung aller Zwangsarbeiter wegen der für die Industrie geleisteten Arbeit nicht finanzieren. Daher drang die Industrie mit ihren Forderungen nicht durch. Nach § 8 Abs. 2 BEG konnten somit weiterhin Ansprüche gegen Unternehmen und Privatpersonen geltend gemacht werden. Die folgende tabellarische Übersicht verdeutlicht (in vereinfachter Darstellung) nochmals die einzelnen Fallgruppen, wobei dieser Beitrag nur die rechts unten beschriebenen Ansprüche beschreibt. Ansprüche von Zwangsarbeitern ausländischer Nationalität gegen die Moratorium aller Reparationsansprüche Bundesnach Art. 5 Londoner Schuldenabkomrepublik men (LondSchAbk): aus dem 2. WeltDeutschkrieg herrührende Forderungen gegen land das Reich und im Auftrage des Reichs handelnde Stellen oder Personen werden bis zu der endgültigen Regelung der Reparationsfrage zurückgestellt. gegen Es gelten die allgemeinen deutschen GePrivatsetze. Der Bundesgerichtshof entscheipersonen det 1961, dass die deutschen Unternehund Unter- men bei der Beschäftigung von Zwangsnehmen arbeitern „im Auftrage des Reichs handelnde Stellen oder Personen“ im Sinne von Art. 5 LondSchAbk waren. Die Entschädigungsansprüche ausländischer Zwangsarbeiter unterfallen demnach ebenfalls dem Moratorium der Reparationsforderungen. 5

Ansprüche deutscher Zwangsarbeiter Entschädigung nur nach dem BEG und subsidiär nach den Wiedergutmachungsgesetzen (z. B. alliierte Rückerstattungsgesetze und das Bundesrückerstattungsgesetz, BRüG). Nach § 8 Abs. 2 BEG bleiben zivilrechtliche Ansprüche unberührt und können somit geltend gemacht werden.

Cornelius Pawlita: Geschichte der Entschädigung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Helmut Kramer/Karsten Uhl/Jens-Christian Wagner (Hg.): Zwangsarbeit im Nationalsozialismus und die Rolle der Justiz. Täterschaft, Nachkriegsprozesse und die Auseinandersetzung um Entschädigungsleistungen, Nordhausen 2007, S. 73. 6 Stellvertretend für zahlreiche Quellen: Brief des Bundesverbandes der Deutschen Industrie an das Staatssekretariat des Bundeskanzleramtes vom 7. April 1953, in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, B 81/337 und Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland vom 11. März 1955, S. 1: „Gepreßter Gehilfe des Unrechtsstaates?“. 7 Brief BMW intern (Rauschenbach an Kattenstroth) vom 21. Oktober 1955, in: Bundesarchiv, B 102/60762.

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Die Klage des J.W. T gegen die Rheinische Hoch- und Tiefbau AG 1946 erhob der ehemalige Zwangsarbeiter J.W. T. Klage gegen die Rheinische Hoch- und Tiefbau AG, Mannheim, (nachfolgend die „Rheinische“) vor dem örtlichen Arbeitsgericht (ArbG).8 J.W. T. war ursprünglich in Polen wohnhaft und jüdischen Glaubens und wurde im Herbst 1942 im Bezirk Krakau der Rheinischen als Elektriker zugewiesen und zur Arbeit verpflichtet. Die Rheinische war zu dieser Zeit Subunternehmerin der Siemens-Bau-Union und führte Arbeiten im Zuge des Ostbahn-Programms der Reichsbahn aus. J.W. T. bekam für seine Arbeit von der Rheinischen zunächst einen Stundenlohn von 60 Pfennig ausbezahlt. Am 14. Dezember 1942 erließ der SS- und Polizeiführer im Distrikt Krakau eine Verfügung, der zufolge alle jüdischen Arbeitskräfte im Distrikt, die vom Reich, seinen Staatsbetrieben und von Unternehmen mit kriegswichtigen Aufträgen beschäftigt wurden, in das geschlossene Judenarbeitslager Płaszów zu überführen waren. Auch wurde angeordnet, dass von nun an den Arbeitskräften selbst kein Lohn mehr zu zahlen war. Stattdessen musste je Arbeiter ein Tagessatz an den SS- und Polizeiführer entrichtet werden. Von da an erhielt J.W. T. von der Rheinischen kein Geld mehr für seine Tätigkeit, die bis zum 15. August 1943 andauerte. Mit seiner Klage 1946 forderte der mittlerweile staatenlose J.W. T. den ihm vorenthaltenen Lohn. Er begründete dies damit, dass die Verfügung vom 14. Dezember 1942 rechtswidrig und deshalb unwirksam gewesen sei. Das zwischen ihm und der Rheinischen im Herbst 1942 begründete Arbeitsverhältnis sei deshalb nicht am 14. Dezember 1942 beendet worden. Durch die Zahlung eines Tagessatzes an den SS- und Polizeiführer habe die Rheinische ihre Verpflichtung zur Lohnzahlung nicht wirksam erfüllt. Die Rheinische berief sich hingegen auf die Verfügung des SS- und Polizeiführers. Die Verfügung habe das Arbeitsverhältnis wirksam beendet. Stattdessen sei eine Art Leih- oder „Sammel-Arbeitsverhältnis“ zwischen ihr und der SS zustande gekommen. Das Verfahren ging für den Kläger in allen Instanzen verloren. Das ArbG Mannheim schloss sich der Argumentation der Rheinischen an und wies die Klage ab. Auf Berufung von J.W. T. befasste sich auch das Landesarbeitsgericht (LAG) Mannheim mit dem Fall, kam aber zum gleichen Ergebnis: kein Arbeitsvertrag, kein Lohn.9

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J.W. T. gegen Rheinische Hoch- und Tiefbau AG, Arbeitsgericht (ArbG) Mannheim, Az. Ca 24/47; die Akten sind nicht überliefert, lediglich das Urteil 2. Instanz. 9 LAG Mannheim, Urteil vom 26. Juni 1947, Az. Sa 7/47, in: Institut für Zeitgeschichte (IfZ), München, ED 422, Bd. 14; siehe auch Süddeutsche Juristenzeitung 1947, S. 516f.

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Die Klage einer Zwangsarbeiterin gegen die Siemens & Halske AG Der Sachverhalt Mit ähnlicher Begründung wurde auch die am 7. Dezember 1949 beim ArbG Berlin eingereichte Klage einer Zwangsarbeiterin deutscher Nationalität, vermutlich gegen die Siemens & Halske AG (nachfolgend „S & H“)10, abgewiesen. Die Klägerin war wegen „Judenbegünstigung“ verhaftet und in das KZ Ravensbrück verbracht worden. Von Ende Februar 1943 bis Anfang April 1945 musste sie für die S & H Sklavenarbeit leisten. Die Klägerin verlor den Prozess in 1. Instanz. Die Rechtsargumente von Klägerin, S & H und vom ArbG Groß-Berlin glichen dabei weitgehend denen der Klage von J.W. T. gegen die Rheinische. S & H machte aber auch geltend, dass die Ansprüche der Klägerin auf Arbeitslohn bereits verjährt seien, denn Lohnansprüche würden nach dem für die Metallindustrie geltenden Tarifvertrag binnen drei Monaten verjähren. Das Konzept der Verjährung von Ansprüchen Alle zivilrechtlichen Ansprüche unterliegen der Verjährung. Die Verjährung soll nach einer gewissen Zeit Rechtsfrieden einkehren lassen, indem weit zurückliegende Sachverhalte nicht zeitlich unbegrenzt aufgeklärt werden müssen. Abhängig vom Anspruch sah das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) unterschiedliche Verjährungsfristen vor. Im Prozess kann sich die beklagte Partei auf die Verjährung berufen. Tut sie dies, muss das Gericht bei verjährtem Anspruch die Klage abweisen. Die Verjährungsfrist kann aber auch unterbrochen werden, so zum Beispiel durch Erhebung einer Klage gemäß § 209 BGB alte Fassung (a. F.). Das Urteil des ArbG Berlin Das Gericht prüfte den Fall und kam zu dem Ergebnis, dass ein Lohnanspruch nicht bestünde, weil die Klägerin mit S & H keinen wirksamen Arbeitsvertrag gehabt habe. Hilfsweise argumentierte das Gericht, die Lohnansprüche seien bereits verjährt. Die Arbeitsgerichtsbarkeit in Deutschland

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Das Urteil liegt nur anonymisiert vor. Die Klägerin hatte jedoch behauptet, in einer „im Konzentrationslager Ravensbrück unterhaltenen Werkstatt gearbeitet“ zu haben. Nur die Fa. Siemens & Halske AG unterhielt in unmittelbarer Nachbarschaft des KZ eine Werkstätte, in der Frauen zur Arbeit gezwungen wurden. Auch weitere Umstände deuten auf S & H hin, sodass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass S & H im Verfahren die beklagte Partei war.

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wurde durch die Alliierten 1946 als erste der Gerichtsbarkeiten wieder eröffnet. Hiermit sei der Stillstand der Rechtspflege auf dem Gebiet des Arbeitsrechts beendet worden, und die Verjährungsfrist für Lohnansprüche hätte zu laufen begonnen. Die Verjährungsfrist für Lohnansprüche betrug gemäß § 196 BGB a. F. zwei Jahre, sodass etwaige Lohnansprüche am 31. Dezember 1948 verjährten. Die Klägerin hatte ihre Klage aber erst am 7. Dezember 1949 bei Gericht eingereicht.11 Das Armenrechtsgesuch der Klägerin Die Klägerin wollte das Urteil anfechten und beantragte das „Armenrecht“ (heute Prozesskostenhilfe) für die Berufungsinstanz. Für die Entscheidung über das Armenrechtsgesuch prüfte das Gericht kursorisch die Erfolgsaussichten einer Berufung. Das LAG Berlin-Charlottenburg lehnte den Antrag der Klägerin mangels Erfolgsaussicht ab. Weil es an einem Arbeitsvertrag fehle, gebe es auch keinen Anspruch auf Lohn. Ansprüche wegen ungerechtfertigter Bereicherung verneinte das Gericht, da zwischen S & H und der Lagerverwaltung ein wirksamer Vertrag über die Beschäftigung der Häftlinge bestanden habe. S & H sei deshalb nicht um die Arbeit der Klägerin ungerechtfertigt bereichert gewesen.12

Die Lehren aus den Urteilen der Arbeitsgerichte Die Urteile in den Fällen J.W. T. gegen die Rheinische und einer Klägerin gegen S & H hatten über den Fall hinaus Präzedenzwirkung. Allen Urteilen gemeinsam war, dass die Gerichte das Vorliegen eines Arbeitsvertrages und damit eines Anspruchs ehemaliger Zwangsarbeiter auf Arbeitslohn negierten. Mit dieser Frage verknüpft ist auch die Eröffnung des Rechtswegs zu den Arbeitsgerichten. In Deutschland gibt es fünf unterschiedliche Gerichtsbarkeiten, die zur Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten berufen sind, so zum Beispiel die Arbeitsgerichtsbarkeit oder die Zivilgerichtsbarkeit. Wann ein Fall der einen oder der anderen Gerichtsbarkeit unterliegt, entscheidet das Gesetz, im Falle der Arbeitsgerichte das Arbeitsgerichtsgesetz von 1926. Ob danach Zwangsarbeiter unter die gesetzliche Definition des „Arbeitnehmers“ fielen und daher die Arbeitsgerichte zuständig waren, war nach der damaligen Rechtsprechung zweifelhaft. Einer hauptsächlich von der Rechtsprechung vertretenen Ansicht zufolge war diese Frage vom Vorliegen eines wirksamen Arbeitsver11

ArbG Berlin, Urteil vom 4. August 1950, Az. 10 Arb. 1645/49, in: IfZ, ED 422, Bd. 14 und in: Bayer AG, Unternehmensgeschichte/Archiv (BAL), Leverkusen, 358/1. 12 LAG Berlin-Charlottenburg, Beschluss vom 20. September 1950, Az. 3 LAG 605/50, in: IfZ, ED 422, Bd. 14 und in: BAL 358/1.

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trags abhängig. Insbesondere das ArbG Groß-Berlin hatte in seinem Urteil an der eigenen Zuständigkeit gezweifelt und diese mangels Arbeitsvertrages abgelehnt. Bereits damals konnten aus den beiden Verfahren folgende Schlüsse gezogen werden: 1) Die deutschen Arbeitsgerichte lehnten einen Anspruch auf Arbeitslohn aus einem Arbeitsvertrag ab, da kein wirksamer Arbeitsvertrag zwischen dem Zwangsarbeiter und dem ihn beschäftigenden Arbeitgeber bestanden habe. 2) Die Verjährung von Lohnansprüchen betrug zwei Jahre und begann in der Regel 1946 zu laufen. Etwaige Ansprüche wären somit zum 31. Dezember 1948 verjährt. 3) Die Zuständigkeit der Arbeitsgerichte war nach der Rechtsprechung zumindest zweifelhaft. Angesichts dieser Entscheidungen der deutschen Arbeitsgerichte war es wenig überraschend, dass spätere Kläger hieraus ihre Lehren zogen. Die nächsten Klagen wurden folglich zu den Zivilgerichten erhoben.

Die Klage des M.L. C gegen die Bauunternehmung Emil Ludwig KG Erste Klagen in den 50er Jahren Bei den ersten Klagen vor den Zivilgerichten handelte es sich um die Verfahren Norbert Wollheim gegen die I.G. Farbenindustrie AG in Liquidation (nachfolgend I. G. i. L., 1950–1958)13, Rudolf Wachsmann gegen die I. G. i. L. (1953–1954)14 und das Verfahren E. S. gegen die Friedrich Krupp AG (1954–1959).15 Alle drei Klagen wurden durch Vergleich beigelegt. In diesen Verfahren kam es somit zu keiner verbindlichen Entscheidung über die Entschädigungsansprüche ehemaliger Zwangsarbeiter und ihre Verjährung. Wachsmann und E. S. waren zudem beide ausländischer Nationalität.

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Norbert Wollheim gegen I.G. Farbenindustrie AG i. L., LG Frankfurt a. M., Az. 2/3 O 406/51, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Wiesbaden, Abteilung 460 Nr. 1424, Band I–VI und Institut für Zeitgeschichte (IfZ), München, ED 422, Bd. 1–17. Vgl. auch Wolfgang Benz: Der Wollheim-Prozess. Zwangsarbeit für IG Farben in Auschwitz, in: Ludolf Herbst/Constantin Goschler (Hg.): Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland, München 1989, S. 303–326 und Joachim Rumpf: Der Fall Wollheim gegen die I.G. Farbenindustrie in Liquidation, Dissertation, Hannover 2008. 14 Rudolf Wachsmann gegen I.G. Farbenindustrie AG i. L., Amerikanisches Gericht der Alliierten Hohen Kommission Gebiet IV, Mannheim, Civil Action No. c.53-A IV-966 (M), am vollständigsten überliefert in: BAL 358/1 und BAL 358/2. 15 E. S. gegen Friedrich Krupp AG, LG Essen, Az. 6 O 24/54, in IfZ, ED 422, Bd. 11 und vermutlich im derzeit noch unzugänglichen Historischen Archiv Krupp.

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Die Klageerhebung des M.L. C. Mitte des Jahres 1954 erhob der ehemalige Zwangsarbeiter und deutsche Staatsbürger M.L. C. gegen die Bauunternehmung Emil Ludwig KG, vermutlich zum Landgericht (LG) München I, Klage auf Schadensersatz. Die Klage wurde der Beklagten am 22. Juni 1954 zugestellt. Sie stützte sich hauptsächlich auf Ansprüche wegen unerlaubter Handlung gemäß den §§ 823ff. BGB. Außer dem Verfahrenszug ist nur ein Ausschnitt des letztinstanzlichen Urteils bekannt. Die Ansprüche wegen unerlaubter Handlung §§ 823ff. BGB Die Haftung wegen unerlaubter Handlungen basiert im Wesentlichen auf drei Grundtatbeständen:16 Gemäß § 823 Abs. 1 BGB ist zum Schadensersatz verpflichtet, „wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt“. Nach § 823 Abs. 2 BGB haftet, wer „gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt“. § 826 BGB schließlich verpflichtet denjenigen zum Schadensersatz, der „in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise einem anderen vorsätzlich Schaden zufügt“. Von entscheidender Bedeutung war jedoch, dass bei einem Schadensersatzanspruch nach den §§ 823ff. BGB § 847 BGB a. F. dem Anspruchsteller Schmerzensgeld gewährte. Dass Unternehmen sich durch die Beschäftigung von Zwangsarbeitern im Einzelfall nach einer oder mehrerer dieser Normen schadenersatzpflichtig gemacht haben, wird in diesem Beitrag unterstellt. Nach § 847 BGB konnten Zwangsarbeiter außer Schadensersatz ggf. Schmerzensgeld verlangen. Schmerzensgeldansprüche waren nach dem Gesetz zur Währungsreform als einzige Ansprüche nicht im Verhältnis 10:1 von RM in DM umzustellen. Die Schmerzensgeldansprüche waren daher die zentralen Entschädigungsansprüche ehemaliger Zwangsarbeiter und bildeten auch wertmäßig den substantiellen Anteil der Entschädigungsforderungen. Ansprüche wegen unerlaubter Handlung verjährten jedoch gemäß § 852 Abs. 1 BGB a. F. binnen drei Jahren. Die Frist lief „von dem Zeitpunkt an, in welchem der Verletzte von dem Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen Kenntnis erlangt, (…).“ Bei Zwangsarbeit ist anzunehmen, dass der einzelne Zwangsarbeiter sofort von seinem Schaden Kenntnis hatte. Entscheidend war somit die Frage, wann der jeweilige Zwangsarbeiter von der Person des Ersatzpflichtigen Kenntnis erlangte. Dies richtete sich nach den Umständen des Einzelfalls, die vom Gericht festgestellt werden mussten. Die Verjährungsfrist lief folglich unterschiedlich, abhängig vom jeweiligen Kenntniszeitpunkt. 16

Siehe Karl Larenz: Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. 2, besonderer Teil Halbbd. 2, München 13. Aufl. 1994, § 75 I.

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Das Berufungsverfahren beim Oberlandesgericht München Der Ausgang der Klage des M. L. C. in 1. Instanz ist unbekannt. Die Klage ging jedoch in Berufung zum Oberlandesgericht (OLG) München (Az. 7 U 505/55), welches am 29. August 1956 sein Urteil fällte und die Klage wegen Verjährung der Ansprüche aus unerlaubter Handlung als unbegründet abwies. Das Revisionsurteil des BGH 1957 Der Kläger legte Revision zum Bundesgerichtshof ein. Der zuständige VI. Senat fällte am 10. Dezember 1957 sein Urteil. Er bestätigte die Entscheidung der Vorinstanz und führte aus: „Wie das Berufungsgericht feststellt, waren dem Kläger die Schäden und die Ersatzpflichten seit langem, spätestens seit dem Jahr 1949, bekannt. Da die Klage erst am 22. Juni 1954 zugestellt worden ist, hat das Berufungsgericht etwaige Ansprüche des Klägers aus unerlaubter Handlung als verjährt angesehen. […] Die Verjährungsfrist des § 852 BGB beginnt in dem Zeitpunkt, in dem der Verletzte von dem Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen Kenntnis erlangt. […] Bei dieser Sachlage hat das Berufungsgericht mit Recht angenommen, daß die Verjährungsfrist spätestens im Jahre 1949 zu laufen begann.“17

Der Kommentar Hendrik George van Dams Seit dem Vergleich im Wollheim-Fall häuften sich die Anfragen von Anwälten und Opfern beim Zentralrat der Juden in Deutschland. Sie wollten wissen, ob ehemalige Zwangsarbeiter noch Ansprüche gegen andere Industrieunternehmen geltend machen könnten. Hendrik George van Dam, Vorsitzender des Zentralrats und Jurist, hatte das Urteil entdeckt und kommentierte es in der Wiedergutmachungs-Beilage der Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland vom Januar 1958. Er erläuterte, dass das Urteil nur für die deutschen Anspruchsteller Geltung beanspruche, da für ausländische Anspruchsteller spezielle Gesetze zur Verjährung ihrer Ansprüche galten. Für die deutschen Anspruchsteller bedeute das Urteil aber, dass sie „einen Ausnahmefall“ nachweisen müssten, wenn sie ihre Ansprüche noch erfolgreich geltend machen wollten. Im entschiedenen Fall habe dem BGH zufolge eine solche Ausnahme nicht vorgelegen. Die Konsequenzen des BGH-Urteils und der Zwischenstand im Jahr 1958 Der BGH hielt es auf Basis des vom Berufungsgericht festgestellten Sachverhalts für richtig, dass der Kläger spätestens 1949 Kenntnis von der Person des Ersatzpflichtigen gehabt habe. Damit habe die Verjährungsfrist zu laufen be17

Wiedergutmachungs-Beilage der »Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland« vom 31. Januar 1958, S. 6.

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gonnen und im Jahre 1952 geendet. Als der Kläger am 22. Juni 1954 die Klage erhoben hat, war die Verjährungsfrist bereits abgelaufen. Betrachtet man die Rechtsfindung der Gerichte zur Verjährung von Ansprüchen auf Lohn und wegen unerlaubter Handlung, so konnte man im Jahr 1958 i. d. R. davon ausgehen, dass sie verjährt waren. Die Rechtsverfolgung dieser Ansprüche war für deutsche Kläger ab Mitte der 50er Jahre somit praktisch aussichtslos. Insbesondere die für die Zwangsarbeiter zentralen Schmerzensgeldforderungen waren hiervon betroffen. Wegen des BGH-Urteils in Sachen M.L. C. muss festgestellt werden, dass die später entschiedene Klage des Dr. Edmund Bartl gegen die Ernst Heinkel AG (nachfolgend EHAG) in Bezug auf Ansprüche ehemaliger Zwangsarbeiter deutscher Nationalität aus unerlaubter Handlung keinen Präzedenzcharakter hat. Die Bedeutung des Falls Bartl wird durch das Urteil des BGH vom 10. Dezember 1957 etwas relativiert.

Die Klagen gegen die Ernst Heinkel AG Vor allem die Klage Norbert Wollheims gegen die I. G. i. L. erregte weltweit Aufsehen. Über die ab Dezember 1952 durchgeführte Zeugenvernehmung wurde vorerst nur in der Frankfurter Presse berichtet. Im Februar 1953 reisten aber einige Zeugen aus England an, die bereits von zentraler Bedeutung im I.G. Farben-Prozess waren. Dies generierte Aufmerksamkeit in England. Dass Wollheim mittlerweile in New York, USA, wohnhaft war und gegen die I. G. i. L. klagte, einen Konzern, der bereits durch den sogenannten I.G. Farben-Prozess18 in Nürnberg als Sklavenhalter von Auschwitz Berühmtheit erlangt hatte, trug ein Weiteres zur medialen Berichterstattung bei. Da der Konzern unter alliierter Kontrolle stand und zerschlagen wurde, war die Klage, welche die Entflechtung blockierte, auch für den Kapitalmarkt und die Politik wichtig. Wegen des Mustercharakters des Prozesses verfolgten zahlreiche Zwangsarbeiter im In- und Ausland den Ausgang des Verfahrens, um vielleicht eigene Ansprüche geltend zu machen. Das erstinstanzliche Urteil des LG Frankfurt/Main, das Norbert Wollheim einen Schadensersatzanspruch in Höhe von 10 000 DM zusprach, überzeugte aber nur wenige Leidensgenossen, selbst Klage zu erheben. Zum einen waren die ehemaligen Zwangsarbeiter (zu Recht) skeptisch, ob sie gegen die ihnen finanziell überlegenen Unternehmen bestehen könnten. Auch war das Vertrauen in die deutschen Gerichte gering. Folglich warteten die meisten das Ende des Verfahrens ab. Mit dem Wollheim-Vergleich, der im Februar 1957 bekannt gegeben wurde, kam es aber zu einer Reihe von Klageerhebungen.

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Nürnberger Prozess VI: United States of America vs. Carl Krauch, et al. (Case 6).

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Ernst Heinkel AG Prof. Dr. Ernst Heinkel (24. Januar 1888–30. Januar 1958) gründete, nachdem er zuvor bei verschiedenen Flugzeugbauern tätig war, 1922 in RostockWarnemünde sein eigenes Flugzeugwerk, die Ernst-Heinkel-Flugzeugwerke. Aufgrund der zahlreichen Innovationen Heinkels, wuchs seine Firma schnell, und er produzierte z. B. mit der Heinkel HE 70 das schnellste Passagierflugzeug seiner Zeit. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten entwickelte Heinkel auch militärische Flugzeuge. Im Zuge des Aufschwungs der Rüstungsindustrie nahm zwangsläufig auch die Zahl der Produktionsstätten zu. Die EHAG eröffnete ein neues Werk in Rostock-Marienehe. 1939 erwarb er ein arisiertes Metallwerk in Jenbach, Tirol. Bis spätestens 1943 wurde ein Zweigwerk in Püttnitz, ca. 30–40 km entfernt von Rostock eröffnet. Das Werk wurde Ende 1943 nach Barth (Vorpommern) verlegt. Die Produktion von Einzelteilen des Volksjägers wurde während des Kriegs nach Schwarzenforst bei Rostock ausgelagert. Weitere Produktionsstätten wurden in Wien-Haidfeld und in WienSchwechat errichtet. In Stuttgart-Zuffenhausen und Berlin-Waltersdorf hatte die EHAG Motorenwerke. Die EHAG beschäftigte im Dritten Reich Fremd- und Zwangsarbeiter. Es kam jede Ausprägung der Zwangsarbeit vor, vom bezahlten Fremdarbeiter, der angeworben oder in das Reich verschleppt worden war, bis hin zum Sklavenarbeiter aus dem KZ. Die Belegschaft der EHAG erreichte 1945 ca. 50 000 Arbeitnehmer (einschließlich Zwangs- und Fremdarbeiter), von denen deutlich mehr als 5 000 KZ-Häftlingsarbeiter waren. Vor allem in Oranienburg und Wien-Mödling wurde die Vernichtung durch Arbeit praktiziert.19 In Oranienburg/Leegebruch befand sich ein Werk der EHAG, welches rechtlich vorerst eine selbständige Tochtergesellschaft war. Aus dem KZ Sachsenhausen wurden ab August 1942 KZ-Häftlinge in ein KZ-Zweiglager verbracht, welches als sogenanntes Heinkel-Lager bezeichnet wurde. Die KZ-Häftlinge wurden im Werk Oranienburg auf Anforderung der HeinkelWerke zur Arbeit eingesetzt. Ursprünglich beschäftigte das Werk in großem Umfang Fremdarbeiter, Ost-, wie auch Westarbeiter. Die Fluktuation der Belegschaft war jedoch so hoch, dass sie den Betriebsablauf erheblich beeinträchtigte. Das Werk nahm deshalb von sich aus Kontakt zu einem SS-Obersturmbannführer Maurer auf, und man bat um die Zuteilung von KZ-Häftlingen, welche auch erfolgte. Ab August 1942 wurden zunächst in einer Werkshalle ca. 300 KZ-Häftlinge zum Einsatz gebracht. Nachdem man mit dem Häftlingseinsatz sehr zufrieden war, wurde der Häftlingseinsatz ausgeweitet. Im April 1943 waren bereits 4 000 Häftlinge im Einsatz. Die Arbeits19

Nesport an Generalankläger beim Kassationshof im Staatsministerium für Sonderaufgaben vom 26. Oktober 1948; H.G. Seewald an Generalankläger beim Kassationshof im Staatsministerium für Sonderaufgaben vom 22. September 1948, jew. in: Deutsches Museum Archiv, München [DMA], FA 001/530.

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zeit betrug 54 Stunden/Woche zuzüglich fünf Stunden Sonntagsarbeit. Die Häftlinge waren in den Umkleideräumen des Werks untergebracht, wo sie in vierstöckigen, ganz nah aneinander gestellten Betten schlafen mussten. Die Bewachung und Verpflegung der Häftlinge übernahm die SS, die HeinkelWerke mussten nur den Arbeitseinsatz organisieren.20 Im Heinkel-Lager musste auch Dr. Bartl Zwangsarbeit leisten. Die Nachkriegszeit bis zur ersten Entschädigungsforderung gegen die EHAG Mit dem Kriegsende wurde die EHAG von den Alliierten beschlagnahmt und von Treuhändern verwaltet. Die in der SBZ gelegenen Werke wurden von den sowjetischen Besatzungsbehörden in staatliches Eigentum überführt. Die EHAG verlor auch das Werk in Österreich durch Enteignung oder Restitution. Ernst Heinkel war nach dem Krieg in einem Spruchkammerverfahren entnazifiziert worden. Im Rahmen des Verfahrens wurden zahlreiche Zeugen, unter anderem auch der ehemalige KZ-Häftlingsarbeiter Dr. Bartl vernommen, der gegen Heinkel aussagte. 1950 wurde im Werk Stuttgart-Zuffenhausen der Betrieb neu aufgenommen. Die EHAG hatte nach eigenen Angaben über 95% des Betriebsvermögens verloren.21 Sie produzierte unter anderem den Heinkel Motorroller, welcher sich in den 50er Jahren zu einem Verkaufsschlager entwickelte. 1954 beschäftigte die EHAG wieder ca. 1 000 Mitarbeiter.22 Der Wollheim-Prozess machte auch Prof. Heinkel auf die Problematik der Zwangsarbeiterentschädigung aufmerksam. So fiel ihm im März 1955 die Kurzmeldung Nr. 5340 der Informationsbriefe auf, die sein Unternehmen bezog. Diese lautete: „Erhalten Zwangsarbeiter Ansprüche auf Schadensersatz und Schmerzensgeld?“. Die Meldung berichtete den Verfahrensstand des Wollheim-Prozesses und wies darauf hin, dass die am 15. März 1955 zu erwartende Entscheidung für alle 700 Unternehmen der deutschen Industrie wichtig sei, welche Zwangsarbeiter beschäftigt hatten. Heinkel leitete die Meldung an seinen Justiziar, Herrn Baade, weiter und bat von ihm über den Ausgang des Verfahrens informiert zu werden23, was Baade auch tat. Knapp eineinhalb Jahre später traf tatsächlich die erste Entschädigungsforderung ein. Mit Schreiben vom 23. Oktober 1956 wandte sich die Berliner Kanzlei von Notar Georg Thierkopf und Rechtsanwalt Dr. Kurt Besecke für ihren Mandanten L. S. an die EHAG. Beim Mandanten handelte es sich um 20

Aktennotiz T Nr. 10/43 (Dir. Rudolph) vom 16. April 1943 über Besichtigung des Häftlings-Einsatzes bei den Heinkel-Werken, Oranienburg, am 12. 4. 43, in: Johannes Erichsen/Bernhard M. Hoppe (Hg.): Peenemünde. Mythos und Geschichte der Rakete 1923–1989. Katalog des Museums Peenemünde, Berlin 2004, S. 221. 21 Schriftsatz (Kuttner) an LG Stuttgart vom 17. Juli 1959, Az. 12 OH 45/58, in: DMA, FA 001/543. 22 Brief EHAG (Baade) an V. W. vom 26. Juli 1954, in: DMA, FA 001/542. 23 Vermerk Heinkel vom 22. März 1955, in: DMA, FA 001/541.

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einen ehemaligen polnischen, nun staatenlosen Mann jüdischen Glaubens, der von Februar bis April 1945 als Monteur bei Heinkel eingesetzt worden war. Die Anwälte forderten in seinem Namen eine angemessene Lohnzahlung. Sie verwiesen auf den Wollheim-Prozess als Vorbild, wo die I. G. i. L. zu einer Entschädigung verurteilt worden sei und fragten, ob die EHAG zu einer außergerichtlichen Regelung bereit wäre.24 Die EHAG wies die Forderungen zurück und nach weiterer Korrespondenz ruhte die Angelegenheit vorerst. Die Forderungen des H. R. Im November 1957 wandte sich der ehemalige KZ-Häftling H. R. an Prof. Heinkel. Er war in Wien-Schwechat, Wien-Floridsdorf und Wien-Mödling eingesetzt worden. In Mödling war er Betriebskapo und -schreiber gewesen und hatte als Funktionshäftling das Kommando über mehrere Arbeitskommandos innegehabt.25 H. R. war nun ehrenamtlich für die Deutsche Liga für Menschenrechte e. V., Arbeitsbereich Land Niedersachsen, tätig. H. R. behauptete, dass ihn im Rahmen seiner Tätigkeit ehemalige KZ-Häftlinge kontaktiert und aufgefordert hätten, Ansprüche gegen die EHAG geltend zu machen, wie es bereits Wollheim gegen die I. G. i. L. getan habe. Bevor er anwaltliche Unterstützung suche, fordere er im Namen der ehemaligen Häftlingsarbeiter eine Entschädigung von 500 DM je Arbeitsmonat. Wie bereits bei der Anfrage des L. S. beschied die EHAG die Forderung abschlägig.26 H. R. meldete sich erneut im Januar 1958. Nach langer Bedenkzeit habe er sich entschlossen seine Forderung auf 200 DM/Monat zu ermäßigen. Er bot an, bei Zahlung durch die EHAG den Kreis derjenigen, die eine Entschädigung forderten, möglichst klein zu halten. Pausenlos meldeten sich ehemalige Häftlinge, die ihn drängten, eine Klage einzureichen. Wenn die EHAG die Ansprüche weiter ablehne, so drohe eine Lawine an Entschädigungsforderungen und sollten die Häftlinge am Ende gewinnen, müsse das Werk die Prozesskosten tragen.27 Die Beantwortung des Schreibens verzögerte sich bis Ende März 1958, es blieb aber bei der Ablehnung der Forderung. H. R. reichte mit einem selbst verfassten Schriftsatz vom 25. April 1958 eine Klage und ein Armenrechtsgesuch zum LG Stuttgart ein. Er forderte insgesamt 14 400 DM Arbeitslohn und Schmerzensgeld für zwei Jahre geleisteter Zwangsarbeit. Seine Forderung basiere auf einer Pauschalentschädigung von 600 DM/ Monat geleisteter Arbeit. Weil er vorrangig Schmerzensgeld fordere, werde die Entschädigung trotz Währungsreform nicht im Verhältnis 10:1 umgestellt. 24 25 26 27

Brief Kanzlei Thierkopf/Besecke vom 23. Oktober 1956, in: DMA, FA 001/543. Brief H. R. an Prof. Heinkel vom 14. November 1957, in: DMA, FA 001/541. Brief EHAG (Baade) an H. R. vom 26. November 1957, in: DMA, FA 001/541. Brief H. R. an Prof. Heinkel vom 7. Januar 1958, in: DMA, FA 001/541.

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In seinem Schriftsatz bezeichnete sich H. R. als ehemaligen jüdischen Häftling, der in Oranienburg, Wien-Schwechat, -Floridsdorf und -Mödling arbeiten musste. Er machte geltend, misshandelt worden zu sein und darüber gegebenenfalls Beweis erbringen zu können. In rechtlicher Hinsicht verwies er auf das Wollheim-Urteil 1. Instanz und den Vergleich und gab an, auch für die Verantwortung maßgeblicher Herren von Heinkel Beweis erbringen zu können. Das Armenrechtsgesuch des H. R. Das LG Stuttgart verfügte zunächst eine Anhörung der EHAG bis zum 15. Juni 1958.28 Die Rechtsabteilung der EHAG bat um Zurückweisung des Armenrechtsgesuchs, da die Klage keine Erfolgsaussichten habe. Sie brachte vor, dass alle Akten der Werke Oranienburg und Österreich bei Kriegsende vernichtet worden seien, deshalb habe man keine Möglichkeit die Behauptungen von H. R. nachzuprüfen. Die von H. R. benannten Zeugen seiner Tätigkeit seien nicht mehr bei der EHAG beschäftigt. Aufgrund der Diskrepanz zwischen der ersten Korrespondenz und dem in der Klageschrift beschriebenen Sachverhalt, bestünden Zweifel an der Richtigkeit seiner Darstellung. Die EHAG gestand zu, KZ-Häftlinge beschäftigt zu haben, dennoch seien etwaige Forderungen rechtlich unbegründet.29 Die EHAG berief sich auf die Verjährung der Ansprüche. Nachdem, wie bereits oben geschildert, die Ansprüche aus unerlaubter Handlung nach dem Urteil des BGH in Sachen M.L. C. bereits verjährt sein durften, stellt sich die Frage, welche Ansprüche H. R. noch geltend machte. Das BGB kennt zahlreiche weitere Anspruchsgrundlagen, zu denen es auch noch kein höchstrichterliches Urteil des BGH gegeben hatte. Zum Beispiel gibt es die Ansprüche wegen ungerechtfertigter Bereicherung nach den §§ 812ff. BGB. Diese Vorschriften verpflichten denjenigen, der etwas ohne rechtlichen Grund von einem anderen erlangt hat, zur Herausgabe. Im Fall der Zwangsarbeiter haben die sie beschäftigenden Personen und Unternehmen die Arbeit der Zwangsarbeiter ohne rechtlichen Grund erlangt. Herauszugeben war folglich der Wert dieser geleisteten Arbeit in Form des ersparten Arbeitslohnes. Diese Ansprüche verjährten nach § 195 BGB a. F. grundsätzlich erst nach 30 Jahren. Die Verjährung in 30 Jahren war der gesetzliche Regelfall. Es entsprach Anfang der 50er Jahre der absolut herrschenden und unbestrittenen Meinung, dass diese 30-jährige Frist auf die Ansprüche wegen ungerechtfertigter Bereicherung anwendbar war.

28

Richterliche Weisung LG Stuttgart an EHAG vom 23. Mai 1958, Az. 12 OH 19/58, in: DMA, FA 001/541. 29 Schriftsatz EHAG an LG Stuttgart vom 9. Juni 1958, Az. 12 OH 19/58, in: DMA, FA 001/541.

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Neben diesen Ansprüchen gab es z. B. noch die § 618 Abs. 3 BGB, § 852 Abs. 2 BGB. Im Folgenden werden jedoch nur isoliert die Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung betrachtet, da vor allem in dieser Hinsicht der Fall Bartl deutsche Rechtsgeschichte schrieb. Mit Beschluss vom 4. September 1958 wies die 12. Zivilkammer des LG Stuttgart das Armenrechtsgesuch von H. R. mangels hinreichender Erfolgsaussichten zurück. Das Gericht führte aus: „Etwaige Lohnansprüche, Ansprüche aus unerlaubter Handlung und ungerechtfertigter Bereicherung sind verjährt. Die Verjährung der Lohnansprüche trat gemäss § 196 Abs. 1 Nr. 9 BGB in 2 Jahren ein. Diese Verjährungsfrist gilt auch für die angebliche Forderung des Ast. aus ungerechtfertigter Bereicherung, auf Grund der geleisteten Arbeiten des Ast. Der Wortlaut des § 196 Abs. 1 Nr. 9 BGB setzt keinen Vertrag voraus und umfasst auch Ansprüche nach § 812 BGB RGRK. § 196 – RGZ 86, 97. […] Die Verjährung der Ansprüche des Ast. gegen die AG. war nach der Württemberg-Badischen Gesetzgebung längere Zeit gehemmt, zuletzt durch das Gesetz vom 5. 2. 1948 Reg.Bl.Württ.Baden 1948, S. 26, bis zum 31. 12. 1948. Die Verjährungsfristen begannen daher am 1. 1. 1949 zu laufen. Spätestens am 31. 12. 1951 war die Verjährung der Ansprüche des Ast. beendet. Da die Ag. die Verjährungseinrede ausdrücklich erhoben hat, war das Armenrechtsgesuch des Ast. mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg als unbegründet zurückzuweisen.“30

Das Gericht sah alle Ansprüche, auch die Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung, als verjährt an. Es wendete auf die Ansprüche § 196 Abs. 1 Nr. 9 BGB a. F. an, wonach die Ansprüche der gewerblichen Arbeiter (z. B. Fabrikarbeiter) „wegen des Lohnes und anderer an Stelle oder als Teil des Lohnes vereinbarter Leistungen“ in zwei Jahren verjährten. Bei dieser Vorschrift handelte es sich um die Ausnahme zur Regelverjährung nach § 195 BGB. Das Gericht berief sich auf ein Urteil des Reichsgerichts, publiziert in der amtlichen Sammlung der Entscheidungen des Reichsgerichts für Zivilsachen (RGZ) Band 86, Seite 97. Sodann berechnete es auf Basis der in Baden-Württemberg geltenden Gesetze zur Verjährung von Ansprüchen nach dem Krieg die Frist von zwei Jahren ab dem 1. Januar 1949. H. R. erhob mit Schriftsatz vom 22. Januar 1959 Beschwerde gegen den Beschluss des LG Stuttgart. Er argumentierte, dass das Vermögen von Prof. Heinkel bis 1954 beschlagnahmt gewesen sei, sodass keine Möglichkeit bestanden habe, gegen ihn Klage zu erheben. Für die Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung gebe es auch gar keine Verjährungsfrist.31 Das OLG Stuttgart verfügte eine Anhörung H. Rs darüber, warum er seine Forderungen nicht früher erhoben habe und wann genau er vom Wollheim-Prozess erfahren habe.32

30

LG Stuttgart, Beschluss vom 4. September 1958, Az. 12 OH 19/58, in: DMA, FA 001/541. 31 Schriftsatz H. R. an OLG Stuttgart vom 22. Januar 1959, Az. 12 OH 19/58, in: DMA, FA 001/541. 32 OLG Stuttgart, Beschluss vom 7. April 1959, Az. 3 W 7/59, in: FA 001/541.

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Auf Ersuchen des Gerichts wurde H. R. von einem Richter des Amtsgerichts Hannover am 11. Mai 1959 vernommen. H. R. sagte aus, dass er erst von Dr. Bartl aus Augsburg im Dezember 1957 erfahren habe, dass die EHAG weiter existierte. Bartl habe sich bei ihm gemeldet, weil er in einigen Zeitschriften Aufrufe an ehemalige Häftlinge der Firma Heinkel veröffentlicht habe. Seit 1951 habe er Strafanzeige gegen verschiedene ehemalige Arbeitnehmer der Heinkel-Werke gestellt. Auch im Zuge der Strafverfahren sei ihm nichts über die Existenz der EHAG bekannt geworden. Vom WollheimVerfahren habe ihm ebenfalls erst Bartl berichtet. Bereits 1951 sei er zu den Rechtsanwälten Eissner und Petzeld, beide in Hannover, gegangen, und er habe sie jeweils dazu befragt, was man unternehmen könne. Beiden Anwälten sei die EHAG aber unbekannt gewesen.33 Da er über kein Geld verfüge, sei er weder Mitglied eines Verfolgtenverbandes, noch habe er eine Tageszeitung beziehen können. Zeitungen habe er folglich nur gelegentlich lesen können. Aus all diesen Gründen komme eine Verjährung seiner Ansprüche nicht in Frage. Am 19. Mai 1959 erließ der 3. Zivilsenat des OLG Stuttgart seinen Beschluss, gab der Beschwerde statt und gewährte dem Antragsteller H. R. das Armenrecht. Das Gericht hielt es nicht für ausgeschlossen, dass bei Zutreffen der Schilderungen H. R.s in seinem Fall eine Ausnahme gegeben sein könnte und die Verjährung bis Ende 1957 nicht zu laufen begonnen habe. Auch hielt es der Senat nicht für ausgeschlossen, dass H. R. Ansprüche aus § 852 Abs. 2 BGB a. F. haben könnte. Das Gericht erklärte, dass die Schilderungen H. R.s „zum Teil noch recht lückenhaft und fragwürdig“34 seien. Um die schwierige Rechtssache zu klären, bedürfe es jedoch eines Anwalts, der H. R. unterstütze, dessen Vortrag ordne und Beweise vorbringe. Die Klage des H. R. und der Vergleich mit der EHAG Die EHAG reagierte sofort und engagierte ihrerseits nun einen eigenen Rechtsanwalt, Dr. Dr. Kuttner, um auf die Klage entsprechend reagieren zu können. Da die Firmenakten mit Kriegsende größtenteils verloren gegangen waren und die EHAG somit über wenige eigene Unterlagen aus dem Krieg verfügte, kontaktierte sie ehemalige Mitarbeiter, um diese näher zur Beschäftigung von KZ-Häftlingen bei Heinkel zu befragen.35 Weiter wurden die Entnazifizierungsakten des Spruchkammerverfahrens gegen Prof. Heinkel ausgewertet und dem Anwalt zur Verfügung gestellt.36 33

Niederschrift Beweisaufnahme AG Hannover vom 11. Mai 1959, Az. 87 AR 654/59, in: DMA, FA 001/541. 34 OLG Stuttgart, Beschluss vom 19. Mai 1959, Az. 3 W 7/59, in: DMA, FA 001/541. 35 Vermerke (Baade) über Gespräch mit Dipl.-Ing. Eberhard v. Faber und über Telefonat mit Obering. Tetzlaff jew. vom 13. Juli 1959, und Vermerk (Baade) über Gespräch mit Dipl.-Ing. Eberhard v. Faber vom 10. September 1959, jew. in: DMA, FA 001/541. 36 Brief EHAG an Kuttner vom 30. September 1959, in: DMA, FA 001/541.

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H. R. suchte sich einen Anwalt, den RA Dr. Hellmuth Jaeger aus Stuttgart, der bereit war, ihn vor Gericht zu vertreten. Jaeger verfasste die Klageschrift vom 19. August 1959 und erhob Klage zum LG Stuttgart. Im Namen des Klägers forderte er 14 400 DM nebst 4% Verzugszinsen seit dem 1. Januar 1958. Zur Verjährung wurden weiterhin die von H. R. bereits vorgetragenen Argumente angeführt.37 Ende September 1959 kam H. R. aber überraschend zur EHAG nach Stuttgart-Zuffenhausen und erklärte, zu einem Vergleich bereit zu sein. Er forderte mindestens 8 000 DM Entschädigung. Im Gegenzug würde er Stillschweigen bewahren. Recht unverhohlen ließ er den Justiziar Baade wissen, dass er sich mit seinen Ansprüchen auf eine ihm günstige Aussage des ehemaligen Lagerführers stützen könne. Er sei in einem Strafprozess gegen diesen Hauptbelastungszeuge, habe diesen also in der Hand. Außerdem sei auch der ehemalige Betriebsassistent des Werks in Mödling bereit auszusagen, dass Häftlinge im Untertagewerk geschlagen wurden. Baade zog Bilanz des Gesprächs und sprach sich intern gegen außergerichtliche Verhandlungen mit H. R. aus38, worauf die EHAG den Vergleichsvorschlag zunächst zurückwies.39 Bis Anfang Oktober fand jedoch ein Meinungswandel statt, und man schloss einen Vergleich nicht mehr aus.40 Dennoch kam es noch zu einem Schriftsatz der EHAG. Rechtsanwalt Kuttner bestritt insbesondere einen Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung und bezog sich ausdrücklich auf die Argumentation des LG Stuttgart in dessen Beschluss über das Armenrechtsgesuch. Nach der jüngsten Rechtsprechung des BGH unterfielen alle Ansprüche zu wiederkehrenden Leistungen wenn nicht § 196, so auf jeden Fall § 197 BGB a. F., der eine vierjährige Verjährungsfrist vorsehe. Die Ansprüche des H. R. – sei es zur Zeit seiner Beschäftigung als Zwangsarbeiter, sei es nun aus ungerechtfertigter Bereicherung – wären solche wiederkehrenden Leistungen. In der auf den 25. November 1959 anberaumten mündlichen Verhandlung behauptete H. R., dass er persönlich von Prof. Heinkel misshandelt worden sei und dass er diesen Sachverhalt beweisen werde. Das Gericht fragte die Parteien, ob sie zu einem Vergleich bereit wären. Die EHAG offerierte 2 000 DM bei Kostenteilung, während H. R. mindestens 5 000 DM forderte. In der Verhandlung kam es zu keiner Einigung.41

37

Klageschrift (Jaeger) vom 19. August 1959, in: DMA, FA 001/541. Vermerk (Baade) über Vergleichsgespräch H. R. vom 25. September 1959, in: DMA, FA 001/541. 39 Brief EHAG an H. R. vom 30. September 1959, in: DMA, FA 001/541. 40 Schriftsatz H. R. (Jaeger) vom 9. Oktober 1959, Az. 12 O 220/59, in: DMA, FA 001/541. 41 Niederschrift Öffentliche Sitzung vom 25. November 1959, Az. 12 O 220/59, in: DMA, FA 001/541. 38

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Am 4. Dezember 1959 schrieb H. R. der EHAG einen Brief, in dem er erklärte, das Vergleichsangebot von 2 000 DM annehmen zu wollen.42 Die EHAG teilte ihrem Anwalt mit, dass man aus den mit ihm bereits diskutierten (jedoch nicht überlieferten) Gründen bereit sei, den Fall H. R. zu vergleichen. Man bestehe aber auf einem gerichtlichen Vergleich.43 In einem schnell anberaumten Termin am 18. Dezember 1959 wurde der Vergleich gerichtlich protokolliert.44 Der Prozess war damit beendet. Die Bewertung des Falls Die Erfahrungen der anderen durch Vergleich beendeten Verfahren von Wollheim, Wachsmann und E. S. zeigen, dass die Industrieunternehmen vor allem dann einen Vergleich schlossen, wenn sie ihre Erfolgsaussichten als kritisch einschätzten und mit einem Verlust des Prozesses rechneten. Im Fall Wollheim z. B. gab das Gericht einen deutlichen Hinweis, dass die Klage begründete Aussichten auf Erfolg habe. Das OLG Stuttgart hatte in seinem Beschluss zum Armenrechtsgesuch die Behauptungen des H. R. zwar als lückenhaft eingestuft. Bei entsprechender Beweisführung hat es aber durchaus Erfolgsaussichten gesehen, weshalb das Armenrecht gewährt wurde. H. R. hatte zudem besondere Umstände geltend gemacht, warum die Verjährungsfristen in seinem Fall nicht früher zu laufen begonnen hätten. Diese besonderen Umstände waren eher ungewöhnlich und nicht in jedem Fall zu erwarten. H. R. hatte der EHAG schließlich mit klaren und drastischen Zeugenaussagen zu seinen Gunsten gedroht. U. a. hatte er in der mündlichen Verhandlung auch angekündigt beweisen zu wollen, dass der mittlerweile verstorbene Prof. Heinkel ihn misshandelt habe. Somit könnten auch die Sorge um den Ruf der Firma und das Ansehen des Firmengründers bei entsprechender Berichterstattung ein Grund für den Vergleich gewesen sein. Dr. Edmund Bartl Dr. Edmund Bartl war Jurist und arbeitete als Leiter der Rechts- und Steuerabteilung von 1937 bis 1940 bei der Firma Mannesmann Röhrenwerke AG in Komotau. Am 7. September 1940 wurde Bartl von der Gestapo wegen Heimtücke verhaftet, nachdem ihn einer seiner Untergebenen denunziert hatte. Bartl wurde von Mannesmann fristlos entlassen. Das Sondergericht Leitmeritz sprach ihn am 7. Februar 1941 nach § 2 des Heimtückegesetzes (Verächtlichmachung der Reichsregierung) schuldig und verurteilte ihn zu 42

Brief H. R. an EHAG vom 4. Dezember 1959, in: DMA, FA 001/541. Brief EHAG an Kuttner vom 9. Dezember 1959, in: DMA, FA 001/541. 44 Niederschrift Öffentliche Sitzung vom 18. Dezember 1959, Az. 12 O 220/59, in: DMA, FA 001/541. 43

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zwei Jahren Gefängnis. Bartl blieb in den Anstalten Bautzen und Plauen bis zum 8. Oktober 1942 inhaftiert. Kurz vor seiner Entlassung nahm ihn die Gestapo Reichenberg in sogenannte Schutzhaft, und Bartl wurde am 13. März 1943 ins KZ Sachsenhausen transportiert. Am 29. März 1943 wurde Bartl ins Zweiglager der EHAG nach Oranienburg gebracht, wo er bis zum 31. März 1945 Arbeit leisten musste. U. a. musste er deswegen in der Rohrschmiede arbeiten, weil er seinen Personalunterlagen zufolge bei den „Röhrenwerken“ gearbeitet hatte.45 Bartl wandte sich erstmals mit Brief vom 6. Januar 1958 an Prof. Heinkel persönlich. Bartl war Jurist, er benannte bereits in seinem Schreiben die Anspruchsgrundlagen und forderte 14 400 Deutsche Mark Entschädigung bei einer pauschalen Entschädigungssumme von 600 Deutsche Mark je Arbeitsmonat.46 Bartls Brief datiert somit früher als der Schriftsatz von H. R., mit dem Letzterer die gleiche Summe forderte. Es steht zu vermuten, dass H. R. inspiriert von Bartls Plänen und Informationen rascher handelte, seine Forderungen zuerst brieflich geltend machte und später dann an Bartls Forderungen ausrichtete. Letztlich führte das dazu, dass H. R. seine Ansprüche vor Bartl gerichtlich durchsetzte. Die Klage gegen die EHAG Nachdem die EHAG eine Entschädigung ablehnte, erhob Bartl, ebenfalls vertreten durch Rechtsanwalt Jaeger, mit Schriftsatz vom 28. Dezember 1959 seine Klage gegen die EHAG. Zeitgleich mit der Klage Bartls wurden weitere vier Klagen bzw. Armenrechtsgesuche ehemaliger Zwangsarbeiter gegen die EHAG eingereicht.47 Bartls Klage könnte somit eine Reaktion auf die erfolgreichen Bemühungen des H. R. gewesen sein. Aufgrund des zeitlichen Ablaufs drängt sich die Vermutung auf, dass Bartl H. R. mit Informationen unterstützte, um ihn als Testkläger den Vortritt zu lassen. Auf jeden Fall war Bartls Klage kein Einzelfall, sondern zusammen mit den vier weiteren Verfahren nur Teil einer Gruppe von Forderungsstellern. Mit der Klage Bartls begann der juristische Schlagabtausch, der sich über acht Jahre und drei Instanzen bis zum endgültigen Revisionsurteil des BGH im Jahr 1967 hinziehen sollte. Dabei bestimmte Bartl maßgeblich die Prozessführung, wie sich anhand der im Vergleich zum Verfahren H. R. vorge45

Ausführlich zum Fall Bartl siehe auch Thomas Irmer: „Stets erfolgreich abgewehrt“? Die deutsche Industrie und die Auseinandersetzung um Entschädigung von NSZwangsarbeit nach 1945. Das Beispiel der Klage des ehemaligen KZ-Häftlings Edmund Bartl, in: Helmut Kramer/Karsten Uhl/Jens-Christian Wagner (Hg.): Zwangsarbeit im Nationalsozialismus und die Rolle der Justiz. Täterschaft, Nachkriegsprozesse und die Auseinandersetzung um Entschädigungsleistungen, Nordhausen 2007, S. 119–131. 46 Brief Bartl an EHAG und Heinkel vom 6. Januar 1958, in: DMA, FA 001/530. 47 Eine Liste aller Verfahren mit weiteren Details ist unter http://www.joachimrumpf. de/urteilsliste.htm zu finden.

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brachten Argumente und der Diktion der Schriftsätze ablesen lässt. Das Verfahren H. R. hatte Rechtsanwalt Jaeger allein, bzw. mit Unterstützung seines Kanzleikollegen, Rechtsanwalt Schwab, geführt. Die 1. Instanz vor dem LG Stuttgart Zur Verjährung seiner Ansprüche argumentierte Bartl dabei wie folgt: „Das Rechtsverhältnis, aus dem geklagt wird, ist dem humanen Recht schlechthin unbekannt. Es handelt sich um eine Art Menschenmiete. Das Reichsarbeitsgericht hat in der Entscheidung Band 15) Seite 156 zur Frage der Verjährung auseinandergesetzt, dass für alle Vergütungen ausserhalb eines echten Dienstverhältnisses die 30-jährige Verjährung gilt. Im übrigen hat der Kl. Ende 1957 erst erfahren, dass die Heinkel GmbH, um die es sich in Oranienburg handelte, eine Tochtergesellschaft der HeinkelAG. in Zuffenhausen war. Die Heinkel-AG. würde somit allein noch nicht haften. Ende 1957 brachte er erst heraus, dass die Heinkel-GmbH mit sämtlichen Aktiva und Passiva von der Heinkel AG., der Bekl., übernommen worden ist, sodass diese aus Rechtsnachfolge haftet.“48

Bartl vertiefte die Rechtsausführungen zur Verjährung weiter. Die Berufung auf die Einrede der Verjährung sei sittenwidrig und Verstoße gegen den Grundsatz gegen Treu und Glauben. § 196 BGB a. F. suche Geschäfte des täglichen Lebens zu erfassen, über die in der Regel keine Dokumente aufbewahrt würden, sodass nach längerer Zeit mit Beweisschwierigkeiten zu rechnen sei. Im Falle seiner Zwangsarbeit träfen diese Kriterien aber nicht zu, weshalb die Vorschrift nicht einschlägig sei.49 Die EHAG auf der anderen Seite versuchte nachzuweisen, dass Bartl bereits vor dem Jahr 1957 ohne weiteres hätte herausfinden können, dass die EHAG existierte. Gegen das Argument, dass vorerst die Firma Heinkel-Werke GmbH Oranienburg ersatzpflichtig gewesen sei, wurde eingewandt, dass bereits am 1. April 1943 die GmbH in die neu gegründete EHAG eingebracht worden war. Etwaige Ansprüche seien ab April 1943 sofort gegen die EHAG entstanden, sodass ab diesem Zeitpunkt die Frage der Rechtsnachfolge irrelevant gewesen sei. Zu den Ansprüchen aus § 812ff. BGB, wandte die EHAG ein, dass sie zu keiner Zeit durch die Leistung des Klägers bereichert gewesen sei.50 In einem späteren Schriftsatz wies der Anwalt der EHAG auf ein neues Urteil des BGH hin. In dem in der Monatszeitschrift für Deutsches Recht 1960, S. 285 publizierten Urteil des BGH vom 7. Dezember 1959 stehe, dass die Verjährung gemäß § 196 BGB auch bei Ansprüchen aus ungerechtfertigter Bereicherung Anwendung finde, weil der Paragraph keinen Rechtsgrund voraussetze. Es komme nach § 196 BGB a. F. nur auf den Gegenstand des 48

Klageschrift Bartl (Jaeger) vom 28. Dezember 1959, in: DMA, FA 001/530. Schriftsatz Bartl (Jaeger) vom 12. Mai 1960, Az. 12 O 334/59, in: DMA, FA 001/530. 50 Schriftsatz EHAG (Kuttner) vom 25. Februar 1960, Az. 12 O 334/59, in: DMA, FA 001/530. 49

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Anspruchs an, der entweder einem Geschäft des täglichen Lebens oder einem Vergütungsanspruch für geleistete Dienste entsprechen müsse.51 Mit Beschluss vom 7. Juli 1960 unterbreitete das Gericht beiden Parteien einen Vergleichsvorschlag, den es ausführlich begründete. Es differenzierte dabei zwischen den verschiedenen Anspruchsgrundlagen und kam zu dem Ergebnis, dass über § 852 Abs. 2 BGB die Vorschriften zur ungerechtfertigten Bereicherung anwendbar und auch einschlägig seien. Nach dem Gesetz zur Währungsreform müsse ein Anspruch Bartls jedoch im Verhältnis 10:1 umgestellt werden. Auf Basis dieser Einschätzung machte das Gericht im Fall Bartl den Vorschlag 2 500 DM an den Kläger zu zahlen und den Prozess dadurch zu vergleichen.52 Bartl, der 14 400 DM gefordert hatte, hielt den gerichtlichen Vorschlag für zu wenig. Er machte einen Gegenvorschlag in Höhe von 7 200 DM zuzüglich eines Betrags von 720 DM für die Prozesskosten.53 Der Gegenvorschlag wurde wiederum von der EHAG als zu teuer angesehen und deshalb zurückgewiesen.54 Da außer dem Verfahren Bartl weitere Parallelprozesse anhängig waren, musste die EHAG damit rechnen auch in den anderen Verfahren ähnlich hohe Beträge zahlen zu müssen, wenn man Bartl einen Vergleich zubilligte. Der Prozess wurde also fortgeführt. Nachdem weitere Schriftsätze gewechselt und Beweise vorgebracht wurden, fällte das LG Stuttgart schließlich am 31. Juli 1962 ein sogenanntes Zwischenurteil über den Grund nach § 304 ZPO. Das heißt, dass das Gericht sich allein zu der Frage äußerte, ob Bartl überhaupt Ansprüche auf Entschädigung habe oder nicht. Ausdrücklich klammerte das Gericht hiermit die Frage aus, wie viel Geld Bartl würde beanspruchen können. Das Gericht hielt sich in seiner Entscheidung an seine bereits beim Vergleichsvorschlag geäußerte Rechtsmeinung. Es sah alle Ansprüche als verjährt an, insbesondere etwaige Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung. Ohne nähere Begründung behauptete das Gericht, dass § 196 Abs. 1 Nr. 9 BGB anwendbar sei, egal ob die Ansprüche auf ungerechtfertigter Bereicherung oder auf Vertrag beruhten. Nur über § 852 Abs. 2 BGB kam das Gericht zu einem Anspruch Bartls.55 Die 2. Instanz vor dem OLG Stuttgart Der Rechtsanwalt der EHAG empfahl gegen das erstinstanzliche Urteil in Berufung zu gehen, u. a. weil er erwartete, dass auch Bartl Berufung einlegen 51

Schriftsatz EHAG (Kuttner) vom 22. April 1960, Az. 12 O 334/59, in: DMA, FA 001/530. 52 LG Stuttgart, Beschluss vom 7. Juli 1960, Az. 12 O 334/59, in: DMA, FA 001/530. 53 Schriftsatz Bartl (Jaeger) vom 12. Oktober 1960, Az. 12 O 334/59, eine Stellungnahme Bartls übersendend, in: DMA, FA 001/530. 54 Schriftsatz EHAG (Kuttner) vom 2. November 1960, Az. 12 O 334/59, in: DMA, FA 001/530. 55 LG Stuttgart, Urteil vom 31. Juli 1962, Az. 12 O 334/59, in: DMA, FA 001/531.

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werde.56 So geschah es am 22. Januar 1963.57 Die 2. Instanz war davon geprägt, dass Bartl versuchte, die vom LG Stuttgart festgestellte Verjährung der anderen Ansprüche zu entkräften, während die EHAG bestrebt war, auch die bejahte Anspruchsgrundlage § 852 Abs. 2 BGB zu kippen. Die Argumentation wurde spezialisierter und von den Parteien durch den Verweis auf zahlreiche Präzedenzentscheidungen höchster Gerichte angereichert. Das OLG Stuttgart hatte ursprünglich eine mündliche Verhandlung für Oktober 1963 anberaumt, die jedoch mehrfach verlegt wurde und erst am 21. Februar 1964 stattfand. In der Verhandlung ließ der Vorsitzende Richter erkennen, dass er die Situation für die EHAG ungünstig ansah.58 Insgesamt ergibt sich der Eindruck, dass der Vorsitzende Sympathien für den Juristenkollegen Bartl hatte. Am 11. März 1964 erging das Urteil. Das Gericht hob die Entscheidung des LG Stuttgart auf. Anders als dieses sah das OLG nicht nur die Ansprüche aus unerlaubter Handlung als gegeben an, sondern sprach Bartl sogar ein Schmerzensgeld aus unerlaubter Handlung zu, weil Bartl vor 1957 die Identität der Anspruchsgegnerin, der EHAG nicht gekannt habe und nicht unbillig entsprechende Ermittlungsmaßnahmen unterlassen hatte. Die deutsche Großindustrie greift ein Wenige Tage nach der Urteilsverkündung fand sich auf Anregung der Justiziarin Dr. Stahmer-Knoll von der Friedrich Krupp GmbH ein Kreis deutscher Großunternehmen zusammen. Die Unternehmen wurden von der Rechtsabteilung des BDI (Dr. Eberstein und Dr. Froehlich) koordiniert. Sie befürchteten, dass die EHAG den Prozess endgültig verlieren könnte. Dann gäbe es ein Präzedenzurteil zu Gunsten eines ehemaligen Zwangsarbeiters. Für die ganze deutsche Industrie könnte dies erhebliche Entschädigungsforderungen zur Folge haben. Am Kreis beteiligt waren auch die AEG AG (von le Coq), die Continental Gummi-Werke AG (Dr. Lohauß), die Bayer AG (Dr. Silcher), die Rheinmetall AG (Dr. Cornelius), die Rheinstahl Hanomag AG (Rechtsanwalt Muth), die Salzgitter AG (Dr. Weimar) und die Siemens-Schuckertwerke AG (Dr. Roediger). Die Unternehmen leisteten maßgebliche Unterstützung, berieten bei der Wahl des Revisionsanwalts, trafen sich zu Besprechungen über die Strategie und Rechtsargumente59 und betrieben Lobbyarbeit beim für die Entschädigung zuständigen Bundesministerium für Finanzen. 56

Brief Kuttner an EHAG vom 29. Dezember 1962, in: DMA, FA 001/531. Berufungsschrift Bartl (Jaeger) vom 22. Januar 1963; Berufungsschrift EHAG (Kuttner) vom 22. Januar 1963, jew. in: DMA, FA 001/531. 58 Brief Kuttner an EHAG vom 22. Februar 1964, in: DMA, FA 001/531. 59 Thomas Irmer: „Stets erfolgreich abgewehrt“? Die deutsche Industrie und die Auseinandersetzung um Entschädigung von NS-Zwangsarbeit nach 1945. Das Beispiel der Klage des ehemaligen KZ-Häftlings Edmund Bartl, in: Helmut Kramer/Karsten Uhl/ 57

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Die erste Revision und die Neuverhandlung am OLG Stuttgart Aufgrund eines Fehlers bei der Besetzung des Gerichts wurde das Urteil des OLG Stuttgart, wie damals zahlreiche weitere Urteile der Zeit, mit Urteil vom 4. Dezember 1964 aufgehoben und zur Neuverhandlung zurückverwiesen.60 Im Rahmen der Umbesetzung des OLG Stuttgart blieb jedoch der Berichterstatter, d. h. der für den Fall verantwortliche Richter des Senats gleich. Der Berichterstatter ist i. d. R. der für die Entscheidung maßgebliche Richter. Von seinem Entscheidungsvorschlag wird in der Praxis selten abgewichen. Bevor es jedoch zu einer erneuten Entscheidung kommen konnte, verkündete die EHAG mit Schriftsatz vom 3. Februar 1965 der Bundesrepublik Deutschland den Streit. Sie machte geltend, bei Verlust des Prozesses gegen die Bundesrepublik einen Regressanspruch zu haben, da sie als Rechtsnachfolgerin des Reichs für den Einsatz von KZ-Häftlingen die Hauptverantwortung und -haftung trage.61 Mit der gleichen Argumentation hatte die beklagte I. G. i. L. im WollheimProzess der Bundesrepublik den Streit verkündet. Damals hatte sich der zuständige Ministerialbeamte Féaux de la Croix aus rechtlichen und politischen Gründen gegen einen Beitritt zum Rechtsstreit ausgesprochen.62 Diesmal jedoch war er bereit, sich für einen Beitritt der Bundesrepublik stark zu machen, da dies bei der Entscheidungsfindung (zu Gunsten der EHAG) helfen könne.63 Féaux de la Croix hatte bereits seit Anfang der 50er Jahre als der zuständige Ministerialbeamte die Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiter begleitet und seitdem zwei juristische Fachartikel veröffentlicht, die teilweise eindeutig gegen die Ansprüche ehemaliger Zwangsarbeiter gerichtet waren.64 Die deutsche Industrie wiederum arbeitete unter der Führung des BDI bereits seit geraumer Zeit darauf hin, die Ansprüche ehemaliger Zwangsarbeiter endgültig auszuschließen. In erster Linie ging es dabei um die Ansprüche ausländischer Kläger. Zum Beispiel fand am 9. Dezember 1964 eine Besprechung von Vertretern der deutschen Industrie in einem kleinen Kreis statt. Es

Jens-Christian Wagner (Hg.): Zwangsarbeit im Nationalsozialismus und die Rolle der Justiz. Täterschaft, Nachkriegsprozesse und die Auseinandersetzung um Entschädigungsleistungen, Nordhausen 2007, S. 119–131, hier S. 126. 60 BGH, Urteil vom 4. Dezember 1964, Az. VI ZR 113/64, in: DMA, FA 001/533. 61 Schriftsatz EHAG (Kuttner) vom 3. Februar 1965, Az. 10 U 8/65, in: DMA, FA 001/533. 62 Schnellbrief BMF (Féaux de la Croix) an BMI, BMJ, BMWi vom 12. März 1955, Az. VB/6-ZP 29/55, in: Bundesarchiv, Koblenz, B 106/12704. 63 Vermerk BDI Rechtsabteilung vom 8. Januar 1965, in: DMA, FA 001/533. 64 Féaux de la Croix: Betrachtungen zum Londoner Schuldenabkommen, in: Georg Schreiber/Hermann Mosler (Hg.): Völkerrechtliche und Staatsrechtliche Abhandlungen: Carl Bilfinger zum 75. Geburtstag am 21. Januar 1954 gewidmet von Mitgliedern und Freunden des Instituts, Köln 1954, S. 27–70, hier S. 70 Fn. 113; Féaux de la Croix: Neue Juristische Wochenschrift 1960, S. 2268f.

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wurde diskutiert, ein professorales Rechtsgutachten zu den Ansprüchen ehemaliger Zwangsarbeiter einzuholen.65 Die Rechtsabteilung des BDI und die Industrievertreter unterstützten die Idee, und im Dezember 1964 war es Féaux de la Croix, der den Kontakt zum Völkerrechtler Prof. Paul Guggenheim aufnahm. Guggenheim war gegebenenfalls bereit, diese Rechtsfrage zusammen mit seinem Kollegen Prof. Pierre Dominincé zu bearbeiten. Näheres wollte Féaux de la Croix mit ihm am 6. Februar 1965 besprechen.66 Bei einer Besprechung am 7. Januar 1965 machte Froehlich deutlich, dass ein Gutachten nur dann in Auftrag gegeben werden solle, wenn Guggenheim bereit wäre, sich bejahend zu der Rechtsfrage zu äußern, „ob nicht sämtliche Ansprüche ausländischer Zwangsarbeiter als Reparationsansprüche anzusehen sind“.67 Féaux de la Croix stimmte dem zu. Das Gutachten sollte dann als Aufsatz oder Broschüre verwertet werden, und der BDI war bereit, dafür zwischen 10 und 30 000 DM zu bezahlen. Guggenheim lehnte es jedoch ab, die vom BDI gewünschte Rechtsansicht zu vertreten.68 Die Bemühungen machen aber deutlich, wie eng Industrie und Féaux de la Croix am gleichen Strang zogen, gegen die Ansprüche der Zwangsarbeiter. Es ist somit nicht überraschend, wenn Féaux de la Croix’ Entscheidung zum Beitritt im Fall Bartl der Unterstützung der Industrie diente. In dem vom OLG Stuttgart kurzfristig auf den 12. Februar 1965 anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung trat neben den Anwälten der Parteien auch der Anwalt der Bundesrepublik auf, Rechtsanwalt Dr. Weller aus Stuttgart, und unterstützte die Rechtsauffassung der EHAG. Das Gericht erhob nochmals Beweis durch die Vernehmung von Zeugen, erließ aber am 19. Mai 1965 ein Urteil, das das erste Urteil von 1964 bestätigte und in der Begründung marginal ergänzte.69 Die zweite Revision beim BGH Wie beim ersten OLG-Urteil ging die EHAG in Revision.70 Der Ministerialbeamte Dr. Finger (BMF) sicherte zu, dass das BMF für die Bundesrepublik als Nebenintervenientin in dem Rechtsstreit jede Unterstützung gewähren werde.71 Revisionsanwalt Bartls war zunächst Dr. Jurt Werthauer, der jedoch im Sommer 1965 verstarb. Das Verfahren ruhte deshalb, bis Dr. Eduard Kersten 65

Vermerk BDI Rechtsabteilung vom 8. Januar 1965, in: DMA, FA 001/533. Brief Féaux de la Croix an Fröhlich (BDI) vom 7. Dezember 1964, in: DMA, FA 001/533. 67 Vermerk BDI Rechtsabteilung (Fröhlich) vom 8. Januar 1965, in: DMA, FA 001/533. 68 Abschrift Brief Guggenheim an Féaux de la Croix vom 19. Februar 1965, in: DMA, FA 001/533. 69 OLG Stuttgart, Urteil vom 19. Mai 1965, Az. 10 U 8/65, in: DMA, FA 001/534. 70 Revisionsschrift EHAG (Keil) vom 21. Juni 1965, in: DMA, FA 001/534. 71 Brief BDI (Froehlich) an EHAG (Bauder) vom 8. Juli 1965, in: DMA, FA 001/534. 66

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Ende Oktober 1965 das Mandat übernahm.72 Auf Antrag des Anwalts der EHAG wurde die Revisionsbegründungsfrist bis zum 23. Februar 1966 verlängert.73 Nach der mündlichen Verhandlung vom 22. Juni 1967 fällte der VII. Senat des Bundesgerichtshofs, besetzt mit den Richtern Glanzmann (Vizepräsident des BGH), Heimann-Trosien, Meyer, Vogt und Finke, sein Urteil. Die Entscheidung des OLG Stuttgart vom 19. Mai 1965 wurde aufgehoben. Auch das Urteil des LG Stuttgart wurde aufgehoben, soweit es Bartl einen Anspruch zuerkannt hatte. Bartls Klage wurde insgesamt abgewiesen. Der BGH sah alle Ansprüche Bartls, auch jene aus ungerechtfertigter Bereicherung, als nach § 196 Abs. 1 Nr. 9 BGB verjährt an. Die Vorschrift setze kein Vertragsverhältnis voraus, wie sich aus der Entscheidung RGZ 86, 96 ergebe. Sie gelte für „alle Vergütungsansprüche, die aus der tatsächlichen Leistung von Arbeit hergeleitet werden. Entscheidend sind insoweit allein die tatsächlichen Verhältnisse und die Interessenlage, die sich nicht dadurch ändern, daß die Forderung aus einem faktischen Arbeitsverhältnis, aus Geschäftsführung ohne Auftrag, ungerechtfertigte Bereicherung oder einem enteignungsgleichen Eingriff, wie ihn der Kläger hier behauptet, hergeleitet wird.“74

Das Urteil ist in seiner rechtlichen Begründung anfechtbar, insbesondere als es die Ausnahme des § 196 praktisch zur Regel machte. Insoweit soll an dieser Stelle auf die vorbildliche Urteilskritik von Hans Hattenhauer verwiesen werden.75 Wie ungerecht selbst die Industrie das zu ihren Gunsten gefällte Urteil empfand, mag vielleicht das Folgende zeigen. Bei der ersten Besprechung der die EHAG unterstützenden Industrieunternehmen am 23. April 1964 hatte man vereinbart, sich gegenseitig Hilfe bei den Prozesskosten zu leisten. 1965 kam die EHAG darauf zurück und bat um feste Zusagen eines finanziellen Beitrags. Diese wurden auch gemacht. Die EHAG offenbarte dabei den anderen Industriefirmen, dass sie in den bisher gewonnenen Prozessen ihre Prozesskosten von den klagenden Zwangsarbeitern i. d. R. nicht einforderte. „Obwohl wir diese Prozesse sozusagen gewonnen haben, nehmen wir doch davon Abstand, unsere Kosten jeweils bei den Klägern bzw. deren Erben geltend zu machen, da uns dies aus naheliegenden Erwägungen nicht angemessen erschien.“76 Nach dem Gewinn

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Brief Kuttner an EHAG vom 15. September 1965; Schriftsatz Bartl (Kersten) vom 25. Oktober 1965, Az. VI ZR 118/65, in: DMA, FA 001/534. 73 Brief Keil an Kuttner vom 27. Dezember 1965, in: DMA, FA 001/534. 74 BGH, Urteil vom 22. Juni 1967, Az. VII ZR 118/65, in: DMA, FA 001/535. 75 Hans Hattenhauser: Die Kritik des Zivilurteils: Eine Anleitung für Studenten, Frankfurt a. M. 1970, S. 164ff. 76 Brief EHAG an BDI Rechtsabteilung (Froehlich) vom 22. Februar 1965, in: DMA, FA 001/533.

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des Verfahrens im Fall Bartl bat die EHAG um die Einlösung der jeweiligen Zusagen: „Wie Sie wissen, haben wir bisher auch dort, wo – wie im Falle der ausländischen Kläger, wenn auch nur vorläufig, – die Prozesse zu unseren Gunsten ausgingen, davon abgesehen, die Kosten bei den unterlegenen Klägern geltend zu machen. Auch im Falle Dr. Bartl erwägen wir dies aus den Ihnen bekannten Gründen, und wir befinden uns damit übrigens in Übereinstimmung mit Herrn Dr. Finger (Bundesfinanzministerium), der uns kürzlich wissen ließ, daß er persönlich jedenfalls unsere Erwägungen begrüßt und im Ministerium ebenfalls dafür eintreten wolle, daß auch die der Bundesrepublik Deutschland als Streitverkündeter entstandenen Kostenansprüche gegen Dr. Bartl nicht weiter verfolgt werden.“

Ende Mai 1968 konnte der BDI vermelden, dass alle Firmen ihren Beitrag leisten würden. Die Bayer AG habe bereits die Mitarbeit der Anwälte Dix und Lingenberg von insgesamt 15 000 DM bezahlt, weshalb von ihr kein weiterer Beitrag erfolge.77 Jeweils 4 000 DM leisteten die AEG-Telefunken AG, die Dynamit Nobel AG, die Fried. Krupp GmbH, die RheinmetallBerlin AG, die Salzgitter AG und die Siemens AG. Die Continental Gummiwerke zahlten 2 000 DM.78 Der Epilog zur Klage Bartls Edmund Bartl versuchte erfolglos das Urteil des BGH vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzufechten. Auch ein Wiederaufnahmeantrag beim OLG Stuttgart im Jahr 1969 wurde abgelehnt.79 Bartl hatte damit seinen Prozess endgültig verloren.

Die weitere Entschädigung der Zwangsarbeiter Mit Bartls Niederlage erloschen die Hoffnungen deutscher Zwangsarbeiter auf eine Entschädigung, und es folgten keine neuen Prozesse. Erst der Zweiplus-Vier-Vertrag von 1990, der die deutsche Einheit ermöglichte, brachte eine Änderung der Rechtslage. Der Vertrag wurde von einzelnen Fachleuten als die von Art. 5 Abs. 2 LondSchAbk geforderte endgültige Regelung interpretiert, mit der auch das Moratorium der Ansprüche nichtdeutscher Zwangsarbeiter endete. Insbesondere in den USA erhobene Entschädigungsklagen 77

Brief BDI Rechtsabteilung (Froehlich/Eberstein) vom 29. Mai 1968, in: DMA, FA 001/536. 78 Brief EHAG (Bauder) an Salzgitter AG (Weimar) und Brief EHAG an Continental-Gummiwerke (Lohauß), jew. vom 23. Juli 1968; Brief EHAG an Dynamit Nobel AG (Gierlichs); Brief EHAG an AEG-Telefunken (von le Coq); Brief EHAG an Siemens AG (Roediger); Brief EHAG an Rheinmetall Berlin AG (Cornelius); Brief EHAG an Fried. Krupp GmbH (Stahmer/Schürmann) jew. vom 17. Juli 1968, jew. in: DMA, FA 001/536. 79 OLG Stuttgart, Urteil vom 5. November 1969, 13 U 35/69, in: DMA, FA 001/536.

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führten schließlich zur Gründung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, die eine kollektive Entschädigung der Zwangsarbeiter leisten sollte.80

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Anja Hense: Entstehung und Konzeption der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ für die Opfer von Zwangsarbeit und Arisierung, in: Helmut Kramer/ Karsten Uhl/Jens-Christian Wagner (Hg.): Zwangsarbeit im Nationalsozialismus und die Rolle der Justiz. Täterschaft, Nachkriegsprozesse und die Auseinandersetzung um Entschädigungsleistungen, Nordhausen 2007, S. 103–118.

Cord Pagenstecher

Orte des Gedenkens Die nationalsozialistische Zwangsarbeit im deutschen Geschichtsbild Das kollektive Geschichtsbild vom Nationalsozialismus ist auch 60 Jahre nach dem Ende des NS-Regimes noch in laufender Veränderung begriffen. In Bezug auf die Verbrechen der Wehrmacht folgte die öffentliche Diskussion der historischen Forschung mit erheblichem Abstand; im Hinblick auf die Zwangsarbeit brachte dagegen erst die Entschädigungsdebatte die Lokal- und Unternehmensgeschichte auf Trab – von einigen Pionieren der Forschung einmal abgesehen. Die nationalsozialistische Zwangsarbeit kann heute insgesamt als recht gut erforscht gelten. Welchen Stellenwert hat sie aber in der bundesdeutschen Erinnerungskultur? Um diese Frage zu beantworten, behandelt dieser Beitrag nicht den akademischen Forschungsstand, sondern beleuchtet Wege der außerwissenschaftlichen Geschichtsvermittlung, speziell durch Denkmäler und Museen.1 Er beschränkt sich also auf einen Ausschnitt aus der vielschichtigen Erinnerungskultur, die von der Familienerzählung nach dem verbreiteten Muster „Opa war kein Nazi“ über das Schulbuch und den Gedenktag bis zum Kinofilm reicht. In diesen verschiedenen Bereichen ist die NS-Zwangsarbeit unterschiedlich stark repräsentiert: In „Schindlers Liste“, dem weltweit wohl einflussreichsten Spielfilm über die NS-Zeit, nimmt sie eine wichtige, zwischen Ausbeutung und Rettung angesiedelte Rolle ein. In den deutschen Familien wurden dagegen primär eigene Wohltaten – „Ich war immer gut zu meiner Russin“ – oder negative Erfahrungen mit den 1945 befreiten Zwangsarbeitern überliefert.2 Der Beitrag konzentriert sich auf Erinnerungsorte im engeren, also räumlichen, nicht metaphorischen Sinn.3 Erinnerungstafeln, Denkmäler und Ge1

Für ihre Anmerkungen danke ich Gisela Wenzel von der Berliner Geschichtswerkstatt. 2 Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschugnall: „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a. M. 2002, zu Filmen S. 105ff.; Ulrich Herbert: Apartheid nebenan. Erinnerungen an die Fremdarbeiter im Ruhrgebiet, in: Lutz Niethammer (Hg.): Lebensgeschichte und Sozialerfahrung im Ruhrgebiet, Bd. 1 „Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll“ – Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet, Berlin/Bonn 1983, S. 233–266; Fred Dorn/Klaus Heuer (Hg.): „Ich war immer gut zu meiner Russin“: Struktur und Praxis des Zwangsarbeitssystems am Beispiel der Region Südhessen, Pfaffenweiler 1991; Gottfried Kößler (Hg.): „Entscheidungen“. Vorschläge und Materialien zur pädagogischen Arbeit mit dem Film „Schindlers Liste“, Pädagogische Materialien Nr. 1, Frankfurt a. M. 1994. 3 Dazu Etienne François/Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, Band 1–3, München 2001; Rezension Christoph Cornelißen in: sehepunkte 3 (2003), http://www.

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denkstätten konkretisieren die Erinnerung an einem historischen Ort, signalisieren Überlebenden und Nachkommen eine Anerkennung ihrer Leiden und bieten eine Möglichkeit zur individuellen oder gemeinsamen Trauer. Solche konkreten Orte sind für die didaktische Vermittlung von Geschichte unverzichtbar, zumal in absehbarer Zukunft keine Zeitzeugen mehr zur Verfügung stehen werden. In ihrer häufig in Bronze gegossenen Materialität tragen sie aber auch die Fiktion der unveränderbaren Dauerhaftigkeit von Erinnerung in sich. Gleichzeitig veranschaulicht ihre Lage, Gestaltung, Nutzung und Überformung, wie sich die Gesellschaft der Täter und ihrer Nachkommen an die Geschichte des Nationalsozialismus in verschiedenen Epochen erinnert, sie deutet oder verschweigt. Unter allgemeinen Aspekten sind Denkmäler wie die Berliner Neue Wache oder das Holocaust-Mahnmal, aber auch die Gestaltung von KZ-Gedenkstätten nicht nur politisch viel diskutiert, sondern auch wissenschaftlich analysiert worden.4 Ferner liegen detaillierte Dokumentationen von Denkmälern und Gedenkorten zum Nationalsozialismus vor, teils gedruckt, teils als Webseiten.5 Hier geht es nun um den Stellenwert der Zwangsarbeit in dieser vielgestaltigen Erinnerungslandschaft, nach der intensiven moralischen, politischen und wissenschaftlichen Debatte um die Entschädigung von Zwangsarbeitern, die in den Jahren vor und nach der Wende zum 21. Jahrhundert auf lokaler und internationaler, staatlicher und zivilgesellschaftlicher Ebene die Zwangsarbeit zu einem zentralen Thema der Erinnerungskultur gemacht hat. Gerade in diesen letzten zehn Jahren ist in Deutschland eine Vielzahl lokaler und

sehepunkte.historicum.net/2003/02/3406472222.html, Abruf 27. 11. 2007; Constance Carcenac-Lecomte: Auf den Spuren des kollektiven Gedächtnis. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den „Lieux des mémoires“ und den „Deutschen Erinnerungsorten“, in: Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderungsgesellschaft. Migration zwischen historischer Rekonstruktion und Erinnerungspolitik, hg. v. Jan Motte, Rainer Ohliger, Essen 2004, S. 121–130. 4 Vgl. etwa Insa Eschebach: Öffentliches Gedenken. Deutsche Erinnerungskulturen seit der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 2005; mehrere Dokumentationen zur Debatte um das Holocaust-Mahnmal, zusammenfassend rezensiert von Jan-Holger Kirsch, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/REZENSIO/buecher/1999/kija0899. htm, Abruf 07. 12. 2007; Günter Morsch: Perspektiven und Entscheidungslagen, Chancen und Risiken der Entwicklung der deutschen NS-Gedenkstätten in Zeiten des Wandels, in: Stiftung Topographie des Terrors (Hg.): GedenkstättenRundbrief 128, Dezember 2005, S. 3–14; Alexandra Klei: Gestalt der Erinnerung. Gedenkstätten an Orten ehemaliger Außenlager des KZ Ravensbrück, Berlin 2006 u.v.a. 5 Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation, Band II: Bundesländer Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen, Bonn 2000; Stefanie Endlich: Wege zur Erinnerung. Gedenkstätten und -orte für die Opfer des Nationalsozialismus in Berlin und Brandenburg, Berlin 2007; Gedenkstätten für NS-Opfer, http://www.gedenkstaetten-uebersicht.de; NS-Gedenkstätten und Dokumentationszentren in der Bundesrepublik Deutschland, http://www.ns-gedenkstaetten.de/portal/ index.php.

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regionaler Orte und Formen der Erinnerung an die NS-Zwangsarbeit entstanden: Gedenktafeln, zeitweise oder kontinuierlich betreute Gedenkstätten, aber auch virtuelle und mobile Orte wie Internet-Seiten und Wanderausstellungen. Aus dieser unüberschaubaren Fülle werden einige exemplarische Erinnerungsorte ausgewählt, insbesondere solche, die sich den „zivilen“ Zwangsarbeitern widmen. Aus pragmatischen Gründen liegt dabei ein Schwerpunkt auf dem Berliner Raum. Allein in Berlin gab es im Jahr 2002 nach der detaillierten Übersicht von Martin Schönfeld 33 Orte des öffentlichen Zwangsarbeitergedenkens.6 Die überblicksartige Auswahl mit Stand Ende 2007 ist zunächst nach den behandelten Opfergruppen, dann nach der Größe und Art des jeweiligen Erinnerungszeichens gegliedert. Eine Analyse der ästhetischen Gestaltungsmuster, der inhaltlichen Schwerpunkte oder der lokalen Diskurse kann hier nicht geleistet werden. Nicht berücksichtigt werden auch aktive Erinnerungspraxen wie das von Marina Schubarth gegründete Berliner „Dokumentartheater“ oder die Chanson-Festivals in Basdorf bei Berlin, die an den französischen Sänger und ehemaligen BMW Zwangsarbeiter George Brassens erinnern.7 Auch die Zeitzeugenbegegnungen und Spendensammlungen des Vereins Kontakte e. V. prägen die kollektive und mediale Erinnerung an die Zwangsarbeit wohl ebenso stark wie Gedenktafeln oder Ausstellungen.8

Erinnerungsorte mit spezifischen Opfergruppen Die Zwangsarbeit spielt in allen großen KZ-Gedenkstätten Deutschlands eine wichtige Rolle, freilich nur die Sklavenarbeit der KZ-Häftlinge. Zwar befanden sich unter den Häftlingen zahlreiche vormals „zivile“ Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, die als Opfergruppe aber neben den politischen Häftlingen im Gedenken weniger Beachtung finden. Denn in beiden deutschen Staaten waren es die deutschen politischen Häftlinge, die Gedenkstätten zunächst einforderten und sie dann auch inhaltlich beeinflussen konnten. 6

Martin Schönfeld: Von der Abwesenheit der Opfer zu einer späten Erinnerung. Denkmale für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Berlin, in: Zwangsarbeit in Berlin 1938–1945, hg. v. Arbeitskreis Berliner Regionalmuseen, Berlin 2003, S. 281–309, hier S. 281. Von den insgesamt 650 NS-Gedenktafeln in Berlin betrafen allerdings nur 15 die Zwangsarbeit. 7 http://dokumentartheater.de, v.a. die Inszenierungen „Ost-Arbeiter“ und „Tänzerin hinter Stacheldraht“, http://brassens.basdorf.ratau.de, Abruf 27. 11. 2007. Vgl. die detaillierte Übersicht kommunaler Erinnerungsprojekte in „Zwangsarbeit im Ruhrgebiet – Formen der Erinnerung und Aufarbeitung“. Kurzdarstellung einer Befragung der Stadtarchive im Ruhrgebiet im Mai 2003, durchgeführt vom Forum Geschichtskultur an Ruhr und Emscher e. V., http://www.geschichtskultur-ruhr.de/links/Zwangsarbeit. pdf, Abruf 07. 12. 2007. 8 Vgl. „Ich werde es nie vergessen“. Briefe sowjetischer Kriegsgefangener 2004–2006, hg. v. Kontakte-Kontakty e. V., Berlin 2007.

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KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Appellplatz und Barackenfundamente, 2005 (Foto: Cord Pagenstecher, Archiv Berliner Geschichtswerkstatt, zwa.foto 147–42)

Im Zentrum der KZ-Gedenkstätten stehen die Stammlager, insbesondere der Appellplatz, die Mordstätten und die Strafbunker. Die Unterkunftsbaracken sind meistens verschwunden und können nur grundrisshaft angedeutet werden. Die Arbeitsorte befinden sich am Rand oder außerhalb der Gedenkstätten. In Ravensbrück etwa ist die am äußersten Ende des Areals gelegene SS-Textilfabrik nicht immer geöffnet, während der Standort des Siemenswerks gar nicht zu besuchen ist. Die Ausstellungen zeigen vorrangig die Zwangsarbeit für die SS im Stammlager und damit vor allem die schikanierenden und auf Vernichtung zielenden Arten der Zwangsarbeit. In der Ravensbrücker Ausstellung dominiert ein Großfoto, das Häftlingsfrauen beim Sandschaufeln für die SS zeigt. Der auf Effektivität und Gewinnsteigerung für die profitierenden Privatunternehmen zielende Aspekt der Zwangsarbeit wird dagegen weniger deutlich. Nur eine unscheinbare Vitrine thematisiert die Siemenswerke – was freilich auch an der restriktiven Archivpraxis des Unternehmens Siemens liegt. Die Erinnerung an die Hunderte von KZ-Außenlagern bei Privatfirmen blieb bislang meist lokalen Initiativen überlassen, auch wenn diese in den neu gestalteten Ausstellungen, etwa in Neuengamme, mittlerweile ausführlicher behandelt werden. Die relativ neuen Gedenkstätten für Kriegsgefangene befinden sich ebenfalls am Standort der meist im ländlichen Raum gelegenen Stammlager, nicht

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bei den auch industriell-städtischen Arbeitskommandos. Anders als bei den KZ-Gedenkstätten sind hier teilweise umfangreiche Barackenensembles erhalten, etwa im hessischen Trutzhain oder in Sandbostel bei Bremen. Inhaltliche Schwerpunkte bilden einerseits das anonyme Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen, andererseits die Erinnerungen westlicher Kriegsgefangener, besonders der Offiziere, von denen Bilder und Erinnerungen überliefert sind, die aber im Gegensatz zu den Mannschaften keine Zwangsarbeit leisten mussten. Für viele Kriegsgefangenenlager wie das Stalag III D in Berlin gibt es weder Erinnerungszeichen noch Forschungen. Unterbelichtet bleibt meist auch die Gruppe der italienischen Militärinternierten. Die Zwangsarbeit der jüdischen Deutschen im „geschlossenen Arbeitseinsatz“ wird in einigen kommunalen und jüdischen Museen und in der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz als Vorgeschichte der Shoah thematisiert oder zumindest gestreift. Die Erinnerung an die zivilen Zwangsarbeiter ist in den letzten Jahren vor allem von Stadtarchiven, Geschichtswerkstätten und Initiativen geweckt worden. Viele dieser häufig ehrenamtlich betriebenen Projekte begannen mit Spurensuchen, nicht selten gegen den Widerstand lokaler Eliten. Durch persönliche Begegnungen mit Zeitzeugen – vor allem nach der Grenzöffnung in Osteuropa – gewannen die Initiativen dann nicht nur vertiefte historische Erkenntnisse, sondern auch einen Motivationsschub und eine erhöhte Legitimation in der öffentlichen Debatte. Schon 1989 zeigte eine an der Herforder Volkshochschule gegründete Geschichtswerkstatt die Ausstellung „Zwangsarbeit in Herford 1939–1945 – Spurensuche im Raum Herford“. In Bochum war die Städtepartnerschaft mit Donezk Ausgangspunkt für regelmäßige Besuchsprogramme. Auch Köln, München, Marl, Lüdenscheid, Stadtallendorf und andere Orte engagierten sich in ähnlicher Weise. Befördert durch die Entschädigungsdebatte, wurden ab 1998 in sehr vielen Orten Gedenkzeichen oder kommunal finanzierte Begegnungs- und Entschädigungsprogramme für ehemalige Zwangsarbeiter eingerichtet.9 Ausgangspunkt des Engagements war häufig die Wiederentdeckung eines KZ-Außenlagers oder einer Haftstätte, ehe sich der Blick auf die Allgegen9

Anja Kräutler: „Dieselbe Stadt – und doch eine ganz andere“ – Kommunale und bürgerschaftliche Besuchsprogramme für Zwangsarbeiter und andere Opfer nationalsozialistischen Unrechts, Berlin 2006; Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.): Rückkehr nach Berlin. Eine Dokumentation des Besuchs von 19 ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern aus Lodz im Mai 2000, Berlin 2000; Karola Fings: Begegnungen am Tatort. Besuchsprogramme mit ehemaligen ZwangsarbeiterInnen, Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen. Ein Leitfaden, Düsseldorf 1998. Die große Vielfalt dieser Initiativen wurde nicht zuletzt sichtbar auf der Tagung „Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Bildungsarbeit am Übergang der Zeitgeschichte zur Geschichte“ am 30. 08.–01. 09. 2007, vgl. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1740.

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wart und die Schicksale ziviler Zwangsarbeiter weitete. Dabei traten die großen Unterschiede der Lebensbedingungen innerhalb der verschiedenen Gruppen von Zwangsarbeitern immer stärker hervor, eine Vielfalt, die in ein und demselben Lagerkomplex gleichzeitig oder in verschiedenen Kriegsphasen zuweilen höchst unterschiedliche Leidenserfahrungen bedeutete.

Gedenktafeln und Denkmäler Die bei weitem häufigste Erinnerungsform an Zwangsarbeiter sind Gedenktafeln und künstlerisch gestaltete Denkmäler. Sie lassen sich unterteilen in Grabsteine und Friedhofsanlagen, die schon seit den 1950er Jahren entstanden, Gedenktafeln an Außenlager-Standorten, die ab den 1980er Jahren infolge lokaler Spurensuchen angebracht, und Gedenktafeln für zivile Zwangsarbeiter, die in den letzten zehn Jahren infolge von Zeitzeugenbegegnungen initiiert wurden. Dabei dominieren zahlenmäßig die häufig schon kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gestalteten Grabanlagen; die materialisierte Erinnerung an die Zwangsarbeit ist vor allem ein – häufig anonymisiertes und verallgemeinertes – Totengedenken.10 In Berlin wurden in den letzten Jahren neue Gedenksteine aufgestellt: In Lichtenrade recherchierte eine Initiative der Geschichtswerkstatt die Namen der dort begrabenen und zuvor als Kriegsopfer anonymisierten Ausländer. Auf dem Parkfriedhof Marzahn, einem der wichtigsten Zwangsarbeiter-Friedhöfe Berlins, ist neben dem bereits 1951 errichteten Gedenkstein für die „Opfer der Vereinten Nationen“ im Jahr 2004 eine Gedenkstele und auf Initiative eines polnischen Überlebenden eine namentliche Gräberanlage eingerichtet worden.11 Seit den 1980er Jahren wächst die Zahl der Gedenktafeln an früheren Lagerstandorten, von denen hier nur einige Berliner Beispiele genannt werden sollen: Zur Erinnerung an das KZ-Außenlager Berlin-Lichterfelde erstritt eine Initiative 1984 eine provisorische Erinnerungstafel und im Jahr 2000 ein größeres Denkmal.12 Am Standort des letzten baulich erhaltenen Berliner

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Regina Scheer: Der Umgang mit den Denkmälern. Eine Recherche in Brandenburg, hg. von der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung, Potsdam 2003; Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V./Landesverband Hessen: Materialien zur Friedenserziehung. Projektmöglichkeiten auf Kriegsgräberstätten, Berlin 2007. 11 Martin Schönfeld: Von der Abwesenheit der Opfer zu einer späten Erinnerung. Denkmale für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Berlin, in: Zwangsarbeit in Berlin 1938–1945, hg. v. Arbeitskreis Berliner Regionalmuseen, Berlin 2003, S. 281–309, hier S. 284, 293f.; Wolfgang Rex: Umgekommen in der Grenzstraße 16. In Wedding und Marzahn werden Gedenksteine für 20 junge Frauen enthüllt, in: Neues Deutschland, 04. 09. 2004. 12 http://committed.to/kzlichterfelde, Abruf 27. 11. 2007; Martin Schönfeld: Von der Abwesenheit der Opfer zu einer späten Erinnerung. Denkmale für Zwangsarbeiterin-

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Gedenktafel für das ehemalige Zwangsarbeiterlager Berlin-Schöneweide und Verkaufsschild des Eigentümers, 2003 (Foto: Cord Pagenstecher, Archiv Berliner Geschichtswerkstatt, zwa.foto 128-027)

Zwangsarbeiterlagers in Schöneweide realisierten verschiedene Initiativen um die Berliner Geschichtswerkstatt 1995 eine erste temporäre Ausstellung und im Januar 2001 dann eine provisorische Gedenktafel, die im Juli 2001 durch eine offizielle Tafel des Bezirks ersetzt wurde.13 Einige evangelische Kirchengemeinden erinnern seit 2002 mit einem Gedenkstein auf einem Neuköllner Friedhof an das Ostarbeiterlager, das sie dort gemeinsam betrieben hatten.14 In Kleinmachnow bei Berlin machten sich Heimatverein und Gemeinde die zunächst von außen herangetragene Erinnerung an das dortige Außenlager der Firma Bosch allmählich zu eigen.15 nen und Zwangsarbeiter in Berlin, in: Zwangsarbeit in Berlin 1938–1945, hg. v. Arbeitskreis Berliner Regionalmuseen, Berlin 2003, S. 281–309, hier S. 286. 13 „NS-Lager entdeckt“. Zwangsarbeiterlager Schöneweide wird historischer Lernort, hg. v. Förderverein für ein Dokumentations- und Begegnungszentrum zur NSZwangsarbeit in Berlin-Schöneweide e. V., Berlin 2006; das Dokumentationszentrum NS Zwangsarbeit Berlin-Schöneweide. Zur Konzeption. Eine Veröffentlichung der Stiftung Topographie des Terrors, hg. v. Andreas Nachama/Christine Glauning/Katharina Sophie Rürup, Berlin 2006. 14 http://www.ekbo.de/ag_zwangsarbeit/ag_zwangsarbeit_index.php, Abruf 27. 11. 2007. 15 Vgl. Ewa Czerwiakowski/Angela Martin: Muster des Erinnerns. Polnische Frauen als KZ-Häftlinge in einer Tarnfabrik von Bosch, Berlin 2005.

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Zwangsarbeiter-Denkmal an der Einfahrt einer Laubenkolonie auf dem ehemaligen Lagergelände in Berlin-Adlershof, 2005 (Foto: Cord Pagenstecher, Archiv Berliner Geschichtswerkstatt, zwa.foto 143-52)

Viele Denkmäler entstanden aus lokalen Initiativen, die der Geschichte „vor der Haustür“ nachgingen: An der Sophie-Scholl-Schule in BerlinSchöneberg, einst ein Zwangsarbeiterlager, bearbeitet eine Gruppe um den Lehrer Bodo Förster seit Jahren mit immer neuen Schülerprojekten das Thema; der von den Zwangsarbeitern für die Reichspost gebaute Hochbunker wurde entsprechend markiert und mit Hörinstallationen und Ausstellungen bespielt.16 Die auf dem Gelände eines großen Reichsbahnlagers gelegene Kleingartenkolonie am Adlergestell errichtete 2003 ein aus Überresten eines Splitterschutzgrabens zusammengestelltes Denkmal. An früheren Firmenstandorten existieren nur wenige Erinnerungszeichen: Vergleichweise früh, 1978, wurde auf dem Betriebsgelände des Funkwerks Köpenick in der Ost-Berliner Wendenschloßstraße eine Gedenktafel ange-

16

Bodo Förster/Martin Guse: „Ich war in Eurem Alter, als sie mich abholten!“ Zur Zwangsarbeit der ukrainischen Familie Derewjanko in Berlin-Schöneberg und Steyerberg/Liebenau von 1943 bis 1945, Liebenau/Berlin 2001. Im Oberstufenzentrum Holztechnik, einer auf dem Gelände eines Zwangsarbeiterlagers eingerichteten Schule in Berlin-Altglienicke, errichteten die Schüler im Sommer 2002 eine als „Denkzeichen Zwangsarbeit“ bezeichnete gebäudeartige Erinnerungs-Installation.

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bracht.17 Siemens widmete der Zwangsarbeit 1997 ein – inhaltlich problematisches – Wandbild.18 Im Wedding wurde 1995 an einem ehemaligen Fabrikgebäude eine Gedenktafel für polnische Zwangsarbeiter bei der AEG enthüllt. Nicht selten sind Ergänzungen und Umwidmungen: Das schon 1972 eingeweihte heroische Denkmal des polnischen Soldaten und deutschen Antifaschisten im Volkspark Friedrichshain wurde 1995 durch eine Informationsund Gedenktafel zu polnischen Zwangsarbeitern ergänzt und kommentiert. Für die polnischen Überlebenden ist dies ein ebenso wichtiger Gedenkort, wie es das sowjetische Ehrenmal in Berlin-Treptow heute für frühere Ostarbeiter ist. Von einer Gedenktafel-Inflation kann gleichwohl nicht die Rede sein: Nur an fünf von über 20 Standorten von KZ-Außenlagern in Berlin lassen sich Erinnerungszeichen finden. An viele wichtige Lager wie etwa das FrauenArbeitserziehungslager Fehrbellin erinnert vor Ort nichts.19 Andere Formen der Ehrung sind selten: Dass in Hürth bei Köln 2001 eine Straße nach einem dort getöteten polnischen Zwangsarbeiter benannt wurde, ist eine große Ausnahme.20 Auch in den Herkunftsländern sind Erinnerungszeichen entstanden, vor allem an den Bahnhöfen, von denen die Sammeltransporte ihren Ausgang nahmen. So gibt es seit 1999 am Abfahrtsbahnhof Łódź-Kaliska eine Gedenktafel für die ins Reich verschleppten Polen. Diese Zeichen nehmen sich freilich bescheiden aus neben den monumentalen Denkmälern für Aufständische und Kämpfer, die die für das nationale Gedächtnis offenbar nötigen Helden eher bereitstellen können.

Zeitweise und dauerhaft geöffnete Einrichtungen Neben diesen Gedenktafeln sind größere und informativere Einrichtungen aufgebaut worden, die oft aber nicht kontinuierlich betreut werden. Am westlichen Stadtrand Berlins befindet sich der Geschichtspark Falkensee. Informationstafeln, Gebäudefundamente und eine erhaltene Baracke informieren über das dortige Sachsenhausener Außenlager. Das Parkareal ist rund 17

Martin Schönfeld: Von der Abwesenheit der Opfer zu einer späten Erinnerung. Denkmale für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Berlin, in: Zwangsarbeit in Berlin 1938–1945, hg. v. Arbeitskreis Berliner Regionalmuseen, Berlin 2003, S. 281–309, hier S. 290f. 18 Ebd., S. 301, Stefanie Endlich: Der Riß in der Geschichte. Anmerkungen zur Berliner Siemens-Gedenktafel, in: Dachauer Hefte 16 (2000), S. 210ff. 19 Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.): Arbeitserziehungslager Fehrbellin. Zwangsarbeiterinnen im Straflager der Gestapo, Potsdam 2004. 20 Anja Kräutler: „Dieselbe Stadt – und doch eine ganz andere“ – Kommunale und bürgerschaftliche Besuchsprogramme für Zwangsarbeiter und andere Opfer nationalsozialistischen Unrechts, Berlin 2006, S. 64f.

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Ein ehemaliger Militärinternierter vor der aus einem Schülerprojekt entstandenen Informationstafel in Treuenbrietzen/Brandenburg, 2006 (Foto: Cord Pagenstecher, Archiv Berliner Geschichtswerkstatt, zwa.foto 152-22)

um die Uhr offen zugänglich, aber personell nicht betreut. In den historischen Gebäuden von Speers „Arbeiterstadt Große Halle“, heute Teil des Evangelischen Waldkrankenhauses Spandau, finden sich ein Denkmal und eine Ausstellung zur Zwangsarbeit. Auch andernorts existieren Ausstellungen oder Lernpfade an historischen Lager- und Firmenstandorten, die von ehrenamtlichen Initiativen angeregt, eingerichtet und gepflegt werden. Eindrucksvoll ist etwa die Ausstellung in einer ehemaligen Zwangsarbeiterbaracke in Hamburg-Fuhlsbüttel, die von der Willi-Bredel-Gesellschaft betreut wird. Sie ist aber nur einen Sonntag im Monat geöffnet.21 Die meisten Initiativen veranstalten Bildungs- und Begegnungsprogramme und haben Publikationen oder im Selbstverlag erschienene Broschüren herausgebracht, die selten den Weg in überregionale Bibliotheken finden. Nur an wenigen Orten ist es gelungen, Gedenkstätten im Sinne von öffentlich zugänglichen, mit Ausstellungen sachkundig erklärten und dauerhaften Erinnerungsorten zu etablieren. Auch sie sind personell und materiell schlecht 21

http://www.bredelgesellschaft.de/schoeps/baracke.htm, Abruf 27. 11. 2007. Zum alternativen Wohnprojekt in einem ehemaligen Zwangsarbeiterlager in Bochum-Gerthe vgl. http://fluxgarden.fl.funpic.de/Wpg04/page_01.htm, Abruf 07. 12. 2007.

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Ehemalige Zwangsarbeiterbaracke in Hamburg-Fuhlsbüttel, 2005 (Foto: Cord Pagenstecher, Archiv Berliner Geschichtswerkstatt, zwa.foto 147-05)

ausgestattet; ehrenamtliche Helfer, ABM-Kräfte oder teilzeitabgeordnete Lehrer halten den Betrieb im Gang. Schon seit der DDR-Zeit besteht die Mahn- und Gedenkstätte Wernigerode. Hier ist ein eindrucksvolles Barackenensemble eines Außenlagers von Buchenwald erhalten. Die Dauerausstellung ist aber trotz einer grundlegenden Überarbeitung nach der Wende nicht mehr zeitgemäß. Das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin-Schöneweide wurde 2006 auf dem Gelände eines ehemaligen Italienerlagers und zeitweiligen KZ-Außenlagers eingerichtet, dessen 13 Baracken die gesamte DDR-Zeit hindurch von kleinen Betrieben und einem Impfstoff-Institut genutzt wurden. Nach der „Entdeckung“ dieses vergessenen Lagers im Jahr 1993 brauchte es acht Jahre kontinuierlichen zivilgesellschaftlichen Engagements bis zur offiziellen Aufstellung einer Gedenktafel. Nach weiteren fünf Jahren, einem Wechsel des Kultursenators und dem moralischen Anstoß durch die Entschädigungsdebatte konnte dann 2006 ein dauerhaft geöffneter und betreuter Erinnerungsort realisiert werden. Zwei Einrichtungen sind bei ehemaligen Unternehmenszentralen angesiedelt: In Leipzig entstand 2001 auf dem ehemaligen Betriebsgelände der Hugo Schneider AG (HASAG), einer der schlimmsten KZ-Firmen des „Dritten Reiches“, eine Gedenkstätte zur Zwangsarbeit. Im Pförtnerhaus des heute

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hier angesiedelten Umweltforschungszentrums ist eine kleine Ausstellung zu sehen, deren Fortbestand allerdings permanent gefährdet ist. Als stabile Einrichtung institutionalisiert ist dagegen das Dokumentations- und Informationszentrum Stadtallendorf in Hessen, ehemals Verwaltungssitz der Dynamit-Nobel AG. Im Seitentrakt des heutigen Polizeigebäudes werden außer einer Ausstellung auch Schülerprojekte zur Zwangsarbeit in der Region veranstaltet. Diese Orte konzentrieren sich nicht ausschließlich auf ein einzelnes Lager, sondern versuchen, vom historischen Ort ausgehend, die vielfältige Präsenz der Zwangsarbeit in der Stadtgeschichte aufzuzeigen. Ein Sonderfall sind die Gedenkstätten in Salzgitter-Drütte und Wolfsburg. Diese in einem arbeitenden Industriebetrieb eingerichteten Gedenkstätten können nur nach Anmeldung besucht werden. In Salzgitter befindet sich die Ausstellung des Arbeitskreises Stadtgeschichte in einem ehemaligen Unterkunftsraum unter der werkseigenen Hochstraße. Die Ausstellung in sechs begehbaren Stahlkuben in der Größe der ehemaligen Pritschenbetten konzentriert sich auf das örtliche KZ-Außenlager, eines der größten in Norddeutschland. In Wolfsburg eröffnete der VW-Konzern 1999 in einem ehemaligen Luftschutzbunker eine Erinnerungsstätte an die Zwangsarbeiter im Volkswagenwerk. So sinnvoll die durch die Unterstützung des Betriebsrats und die Werkszugehörigkeit erleichterte pädagogische Einbindung von Lehrlingen und Gewerkschaftsseminaren ist, so versteckt präsentiert sich dieser Gedenkort für Außenstehende: Auf den umfangreichen Internetseiten von VW muss man sich durch die Menüpunkte „Konzern“ – „Nachhaltigkeit und Verantwortung“ – „Gesellschaft“ – „Historische Verantwortung“ klicken, um unter der Überschrift „Identität sichern – Orientierung schaffen“ eine Erwähnung der Erinnerungsstätte zu finden, freilich ohne weitere Informationen.22 Ein Besuch ist nur nach telefonischer Anmeldung möglich; wegen möglicher Werksspionage muss jeder Besucher seinen Fotoapparat beim Pförtner abgeben. Nicht leicht zugänglich sind auch Lagerstandorte, die heute von der Bundeswehr genutzt werden. Auf einem Truppenübungsplatz in der Nähe von Bremen entwickelt ein Verein gleichwohl kontinuierlich die „Erinnerungslandschaft“ Farge rund um den von Häftlingen des KZ Neuengamme errichteten U-Boot-Bunker „Valentin“.23 Schließlich bestehen einige etablierte Gedenkstätten in ehemaligen Haftstätten. Im früheren Polizeigefängnis von Dortmund wird der Themenkomplex Zwangsarbeit im Rahmen einer Ausstellung zu „Widerstand und Verfolgung“ erwähnt. In vorbildlicher Weise behandelte das Dokumentationszentrum „Köln im Nationalsozialismus“ im ehemaligen Kölner Gestapogefängnis die 22 http://www.volkswagenag.com/vwag/vwcorp/content/de/sustainability_ and _ responsibility/Gesellschaft/Historische_Verantwortung.html, Abruf 27. 11. 2007. 23 Auch Standorte der KZ-Außenlager von Landsberg-Kaufering werden heute teilweise militärisch genutzt.

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Webseite zur Topographie der Zwangsarbeit in Hamburg, http://www.zwangsarbeitin-hamburg.de, Abruf 31. August 2009 (Screenshot)

NS-Zwangsarbeit mit einer 2003 entstandenen Sonderausstellung, einem deutsch-niederländischen Schülerprojekt und einer umfangreichen Webseite mit Lagerdatenbank. Hier werden verschiedene Zwangsarbeitergruppen im gesamten Stadtbereich thematisiert.24

Webseiten Auch in Münster, Hagen, Hamburg, Frankfurt, Berlin-Kreuzberg und Braunschweig sind umfangreiche Webseiten mit – oft durch anklickbare Karten visualisierten – Datenbanken erstellt worden, die die Topographie der Zwangsarbeit in der Region veranschaulichen.25 Zu jedem Lagerstandort, manchmal auch zu Firmen und Verfolgungsorten, sind detaillierte Informationen, teilweise auch Fotos, Dokumente oder Zeitzeugenaussagen aufrufbar und erlauben eine individuelle Spurensuche vor Ort. Überregional angelegt ist dagegen die Online-Datenbank „Deutschland – ein Denkmal“ des Hagener Karl-Ernst-Osthaus-Museums.26 Sie beschränkt sich bislang aber auf Stand24

http://www.museenkoeln.de/ausstellungen/nsd_0305_zwangsarbeit/topographie. html, http://www.nsdok.de/homepage/db_lager. 25 http://www.muenster.de/stadt/zwangsarbeit/gesamtkarte.html, http://www1. historisches-centrum.de/zwangsarbeit/index1.html, http://www.ffmhist.de/ffm33-45/ portal01/portal01.php?, http://www.zwangsarbeit-in-hamburg.de, http://www.kreuz bergmuseum.de/mu_unter/zwangsarbeit, http://www.braunschweig.de/kultur/museen/ gedenkstaettenkonzept_vernetztes.html, Abruf 27. 11. 2007. 26 http://www.keom.de/denkmal, Abruf 27. 11. 2007.

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orte von KZ-Außenlagern, Ghettos, Haftstätten und Arbeitserziehungslagern – zivile und Kriegsgefangenenlager sucht man hier vergebens. Auf den Download von Unterrichtsmaterialien konzentriert sich die Internetseite „Zwangsarbeit und ‚Arbeitszucht‘ am Beispiel Augustaschacht“ aus Osnabrück-Ohrbeck.27 Zahlreiche Archivdokumente zur NS-Zwangsarbeit präsentiert das Digitale Archiv Marburg, ein Projekt der Arbeitsstelle Archivpädagogik am Hessischen Staatsarchiv Marburg.28 Sie ist ein Beispiel, wie die Suche nach Nachweisen für die Entschädigung nicht nur in den Archiven, sondern auch in vielen, üblicherweise nicht mit Geschichte befassten Dienststellen und Institutionen die NS-Zwangsarbeit ins Bewusstsein gebracht hat. Auf den Internetseiten der verantwortlichen Unternehmen finden sich dagegen noch immer kaum Hinweise auf diesen Teil der jeweiligen Firmengeschichte. Die Elektromotorenfirma Ziehl-Abegg schildert den Zweiten Weltkrieg so: „Am 1. Juni 1939 verstarb Emil Ziehl, einen Tag vorher übertrug er seinem ältesten Sohn Günther die Generalvollmacht für die Ziehl-Abegg Elektrizitäts-Gesellschaft. Bei Kriegsende (1945) hatte das Unternehmen ca. 3 000 Mitarbeiter.“29

Auch größere Unternehmen, die sich im letzten Jahrzehnt – meist auf öffentlichen Druck hin – kritisch mit ihrer Geschichte auseinander gesetzt hatten, verschweigen die Zwangsarbeit heute in ihren umfangreichen Internet-Auftritten. Bei der MAN heißt es: „1939–1945 (II. Weltkrieg) Verlust aller Auslandsniederlassungen, schwere Kriegsschäden, Kontrolle der Alliierten über die GHH-Unternehmen“.30 Auf der Webseite der Daimler AG findet sich kein Hinweis auf Zwangsarbeit. Volkswagen erwähnt die Zwangsarbeit und die Entschädigungsleistungen der Firma als Teil der sogenannten „Nachhaltigkeitskommunikation des Volkswagen Konzerns“.31 ThyssenKrupp schreibt lapidar: „Die steigende Zahl von Einberufungen führt zu einem gravierenden Mangel an Arbeitskräften. Das Problem sucht Krupp – wie andere deutsche Firmen auch – mit der Beschäftigung ausländischer

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http://www.lvosl.de/unterrichtsmaterialien/zwangsarbeit. Vgl. a. den Überblick http://www.stiftung-evz.de/fonds_erinnerung_und_zukunft/zwangsarbeiter_und_andere_ns_opfer/datenbank_unterrichtsmaterialien, Abruf 09. 12. 2007. 28 http://www.digam.net/index.php?exp=63&h%5B0%5D=zwangsarbeit, Abruf 09. 12. 2007. 29 http://www.ziehl-abegg.com/de/company-profile.html?dtl=1, Abruf 22. 03. 2007. Unterlagen zum Zwangsarbeiter-Einsatz bei Ziehl-Abegg finden sich im Bundesarchiv Dahlwitz-Hoppegarten, ZR 592, A. 5. 30 http://www.man.eu/MAN/de/Unternehmen/Die_MAN_Gruppe/Firmenhistorie/ MAN-Chronik, Abruf 27. 11. 2007. GHH= Gutehoffnungs-Hütte. 31 http://www.volkswagenag.com/vwag/vwcorp/content/de/the_group/ his tory/ 1937–1945.html, http://www.volkswagenag.com/vwag/vwcorp/content/de/sustain abilty_and_responsibilty/Service/GRI_Index/Gesellschaftliche_Leistungsindikatoren. html, Abruf 27. 11. 2007.

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Arbeitskräfte, insbesondere durch Fremdarbeiter und Kriegsgefangene, zu bewältigen.“32 Die Reihe ließe sich fortsetzen; die NS-Zwangsarbeit hat in die historische Selbstdarstellung der Unternehmen offenbar kaum Eingang gefunden. Die von manchen Unternehmen finanzierten, teils als gründliche Untersuchung gelobten, teils als Auftragsforschung mit exklusivem Archivzugang kritisierten Studien zur Firmengeschichte im Zweiten Weltkrieg haben über die akademische Welt hinaus offenbar wenig Wirkung entfaltet.33

Wanderausstellungen Neben den bisher genannten, ortsgebundenen Erinnerungsformen wurden in den letzten Jahren von Stadtarchiven oder Museen einige Wanderausstellungen als regionale Kooperationsprojekte auf den Weg gebracht. Eine solche Ausstellung erarbeitete etwa das Historische Centrum Hagen im Jahr 2002 zusammen mit verschiedenen nordrhein-westfälischen Städten und Kreisen. Nach einem Dutzend Stationen in Nordrhein-Westfalen ging sie in Italien auf Tour.34 Ähnliche, von Publikationen und zahlreichen Veranstaltungen begleitete Projekte wurden in Münster und in Sachsen von Archiven sowie in Berlin von Bezirksmuseen erarbeitet.35 Häufig steuerte jeder Ausstellungsort spezifische lokale Ergänzungen zu der übergreifenden Wanderausstellung bei; so verbindet sich das wissenschaftliche Niveau einer zentralen Einrichtung mit der lokalen Einbettung. Auch in den Herkunftsländern der Zwangsarbeiter gibt es inzwischen eine Reihe von Wanderausstellungen, etwa von den nationalen Zwangsarbeiterstiftungen in Polen, Tschechien und Russland oder von regionalen Geschichtsinstituten in Italien. Aufgrund der national divergierenden Erinnerungskulturen zeigen sich dabei sehr unterschiedliche Sichtweisen auf das europäische Phänomen der Zwangsarbeit. Schon in den frühen 1990er Jahren erarbeitete der tschechische Betroffenenverband eine Ausstellung: Überlebende des „Totaleinsatzes“ gestalteten 32

Historie, Chroniken: 1941 Erwerb der Aktienmehrheit an der Deutschen Schiffund Maschinenbau AG Bremen „Deschimag“, http://www.thyssenkrupp.com/de/ konzern/geschichte_chronik_k1941.html, Abruf 27. 11. 2007. 33 Otto Köhler: Historikergott Hippokrates, in: Junge Welt, 21. 11. 2007, zur älteren Debatte im Times Literary Supplement. 34 Historisches Zentrum Hagen (Hg.): Zwangsarbeit in Rheinland und Westfalen 1939–1945, http://www.nrw-zwangsarbeit.de/start.html, Abruf 27. 11. 2007. 35 Arbeitskreis Berliner Regionalmuseen (Hg.): Zwangsarbeit in Berlin 1938–1945, Berlin 2003; Zwangsarbeit in Münster und Umgebung, 1939–1945, http://www. muenster.de/stadt/zwangsarbeit, Abruf 27. 11. 2007; Gerald Kolditz/Jörg Ludwig: Fremd- und Zwangsarbeit in Sachsen 1939–1945. Beiträge eines Kolloquiums in Chemnitz am 16. 04. 2002 und Begleitband einer Gemeinschaftsausstellung der Sächsischen Staatsarchive, Halle 2002.

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Schautafeln mit ihren privaten Dokumenten und Erinnerungsfotos. 1995 meldeten sich die ehemaligen Zwangsarbeiter mit dieser Ausstellung in Berlin und München erstmals selbst zu Wort.36 Gestützt auf diese Materialien und eigene umfangreiche Archivrecherchen, erarbeitete der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds, die für die Entschädigungszahlungen zuständige Partnerorganisation der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, 2005 die Ausstellung „Im Totaleinsatz“, die 2008/2009 in deutscher Fassung im Dokumentationszentrum Berlin-Schöneweide gezeigt wurde.37 Im polnischen Łódź suchte eine Gruppe früherer AEG-Zwangsarbeiter mit einer selbst gestalteten kleinen Ausstellung Eingang in die lokale Erinnerungskultur zu finden. Das von ihnen gegründete Begegnungszentrum in Łódź kämpft allerdings mit finanziellen Problemen. Die von der Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung erarbeitete Ausstellung „Erinnerung bewahren“ wurde 2005 dagegen in einem sehr repräsentativen Rahmen im Warschauer Königsschloss eröffnet. Sie wandert seither durch zahlreiche polnische Städte. Von Mai 2007 bis Januar 2008 war sie in einer grundlegend überarbeiteten deutschen Version in Berlin-Schöneweide zu sehen; weitere Ausstellungsmöglichkeiten in Deutschland werden gesucht.38 Auch die Partnerorganisationen in Moskau und Minsk erstellten zum 60. Jahrestag des Kriegsendes mit Unterstützung der deutschen Stiftung Ausstellungen zur Zwangsarbeit, die bislang aber noch nicht in Deutschland zu sehen waren. Ohne deutsche Unterstützung haben die Institute zur Geschichte der Resistenza in mehreren italienischen Regionen Ausstellungen über Italienische Militärinternierte erarbeitet.39 Geplant ist von deutscher Seite jedoch eine große Wanderausstellung, die 2010 zunächst in Berlin, dann auch in anderen Ländern gezeigt werden soll. Für dieses von einem deutschen Team der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora erarbeitete Vorhaben und für ein paralleles Forschungsprojekt über die Entschädigungszahlungen stellte die Stiftung „Erinnerung, Ver36

Vgl. Karl-Heinz Baum/Kathrin Krabbe: „Wir biedern uns nicht mit Fremdvölkischen an“. Eine Ausstellung in Berlin dokumentiert das Leiden tschechischer Zwangsarbeiter in Nazi-Deutschland, in: Frankfurter Rundschau, 21. 08. 1995. 37 http://www.cron.cz/tnas/tnas.html, Abruf 27. 11. 2007. 2004 erarbeitete der aus dem Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds entstandene Verein Živá pamě/Lebendige Erinnerung die Ausstellung Bestimmungsort: Saarland. Tschechische Zwangsarbeiter erinnern sich, http://www.zivapamet.cz/de/download, Abruf 27. 11. 2007. 38 Erinnerung bewahren. Sklaven- und Zwangsarbeiter des Dritten Reiches aus Polen 1939–1945. Zachowac pamiec. Praca przymusowa i niewolnicza obywateli polskich na rzecz Trzeciej Rzeszy w latach 1939–1945. Zweisprachiger Ausstellungskatalog, hg. v. d. Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung und dem Dokumentationszentrum NSZwangsarbeit Berlin-Schöneweide, Warschau/Berlin 2007. 39 Vgl. z. B. http://www.schiavidihitler.it, Abruf 27. 11. 2007. Paolo Battaglia/Claudio Silingardi: Gli internati militari italiani nella seconda guerra mondiale. La provincia di Modena, Modena 2003. Auch über „Zwangsarbeit und der ‚Unabhängige Staat Kroatien‘ 1941–1945“ gibt es seit 2006 eine Wanderausstellung von Christian Schölzel u. a.

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antwortung und Zukunft“ im Sommer 2007 die beträchtliche Summe von mehreren Millionen Euro bereit.40

Kein zentraler Ort Ein zentrales Denkmal oder Museum der Zwangsarbeit existiert bislang nicht. In Berlins Zentrum sind zwischen Reichstag und Potsdamer Platz eine Reihe zentraler Denkmäler für NS-Opfer entstanden oder geplant, nämlich für Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle und Euthanasie-Opfer, nicht aber für Zwangsarbeiter – wenngleich viele Menschen aus den übrigen Gruppen ebenfalls Zwangsarbeit leisten mussten. Auch ein eigenes Museum der Zwangsarbeit ist nicht vorhanden. Das 2006 in den Baracken eines fast komplett erhaltenen Zwangsarbeiterlagers gegründete Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin-Schöneweide könnte angesichts seines außergewöhnlichen Ensembles und seiner Lage mitten in der ehemaligen Reichs- und heutigen Bundeshauptstadt überregionale Ausstrahlung gewinnen – wenn es entsprechend ausgestattet würde. Statt eines weder vorhandenen noch sinnvollen Zentralarchivs bietet das Bundesarchiv mit Unterstützung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ eine zentrale Online-Plattform für Quellennachweise zur NSZwangsarbeit an.41 Der von seiner Bedeutung her einem Zentralarchiv gleichkommende Internationale Suchdienst des Roten Kreuzes in Bad Arolsen wurde 2008 für die Forschung geöffnet; die Erschließungs- und Nutzungsperspektiven dieses auch als „das andere Mahnmal“ bezeichneten Archivs sind aber noch unklar.42 Gewissermaßen zuständig für die zentrale Darstellung der nationalen Geschichte ist freilich das Deutsche Historische Museum in Berlin. Seine lang erwartete und im Sommer 2006 eröffnete Dauerausstellung erwähnt die Zwangsarbeit als Teil der großen nationalgeschichtlichen Erzählung, bleibt dabei aber sehr knapp und inhaltlich zum Teil fragwürdig. In den „Meilensteinen“, den jeder Epoche vorangestellten Einführungstexten, wird die Zwangsarbeit ebenso wenig angesprochen, wie sie als Schwerpunktthema in den Bildungsprogrammen zum Nationalsozialismus oder zur Migrationsgeschichte angeboten wird. In der Ausstellung widmen sich nur wenige Quadratmeter diesem Thema, aufgeteilt in die beiden Gruppen der „Zwangs- und 40

Pressemitteilung Dokumentation der NS-Zwangsarbeit als Erinnerungsaufgabe, 03. 07. 2007. 41 http://www.zwangsarbeit.eu, Abruf 27. 11. 2007. 42 Vgl. Cord Pagenstecher: Vor der Öffnung: Der Internationale Suchdienst in Arolsen, in: Cord Pagenstecher/Bernhard Bremberger/Gisela Wenzel (Hg.): Zwangsarbeit in Berlin, Archivrecherchen, Nachweissuche und Entschädigung, Berlin 2008, FrankUwe Betz: Das andere Mahnmal, in: Die Zeit Nr. 21/2005, S. 94, auch http://www.zeit. de/2005/21/ITS_neu, Abruf 17. 07. 2007.

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Cord Pagenstecher Ausstellungsbereich „Fremdarbeiter“ im Deutschen Historischen Museum, 2007 (Foto: Cord Pagenstecher, Archiv Berliner Geschichtswerkstatt, zwa.foto 158-03)

Ostarbeiter“ einerseits und der „Fremdarbeiter“ andererseits. Die Widersprüchlichkeit dieser Unterscheidung fällt besonders bei der wechselnden Eingruppierung von Polen auf. Den westeuropäischen Arbeitskräften unterstellt der mit einem großen Anwerbeplakat illustrierte Leittext allzu pauschal Freiwilligkeit: „Höhere Löhne waren in den ersten Kriegsjahren für Hunderttausende überwiegend männlicher Westeuropäer Anreiz für einen Arbeitsplatzwechsel nach Deutschland.“ Einige Bildunterschriften differenzieren dies dann zwar; bei vielen Fotografien fehlt aber jegliche Beschreibung. So hängen Bilder des Propagandafotografen Gerhard Gronefeld unkommentiert neben solchen des tschechischen Zwangsarbeiters Zdenek Tmej. Italienische Militärinternierte werden überhaupt nicht erwähnt. Kaum thematisiert werden auch die Unternehmen, immerhin zentrale Erfahrungsorte und wichtige Akteure im System der Zwangsarbeit: Von Siemens werden zwei Dokumente gezeigt, aber in der Bildunterschrift nicht erwähnt. Exemplarisch genannt wird nur die relativ kleine Dichtungs-Firma Hugo Reinz. Diese unzureichende Darstellung wird seit Januar 2009 ergänzt durch eine PC-Station mit Ausschnitten aus Interviews mit ehemaligen Zwangsarbeitern. Fast 600 Audio- und Video-Interviews werden im digitalen Interview-Archiv „Zwangsarbeit 1939–1945. Erin-

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nerungen und Geschichte“ digital erschlossen und online für Bildung und Wissenschaft bereitgestellt.43

Perspektiven Resümierend lässt sich festhalten, dass kein zentraler Erinnerungsort für die ehemaligen Zwangsarbeiter existiert – das ist zu konstatieren, angesichts der Lebendigkeit der lokalen Erinnerung aber nicht zu bedauern. In den etablierten Museen und Gedenkstätten zur Erinnerung an den Nationalsozialismus wird die Zwangsarbeit zwar angesprochen, aber nie zentral thematisiert. Auf lokaler und regionaler Ebene ist gleichwohl eine lebendige Erinnerungskultur gewachsen, zivilgesellschaftlich initiiert durch Geschichtswerkstätten, engagierte Lehrer oder Archivare. Die Debatte um die Entschädigung, die Suche nach Nachweisen für und die Begegnung mit ehemaligen Zwangsarbeitern waren dabei wichtige Impulse. Für eine Verstetigung dieser projektorientierten Erinnerungsarbeit wäre eine Vernetzung der lokalen Initiativen nützlich. Dafür hat sich die von Bernhard Bremberger 2001 eingerichtete Mailingliste NS-Zwangsarbeit sehr bewährt.44 Einige größere Gedenkstätten unterstützen die kleinen Initiativen bei der Vermittlung von Zeitzeugen und der Entwicklung von pädagogischen Konzepten, manchmal freilich eher halbherzig. Besonders dringlich ist die Archivierung der vielerorts gesammelten Zeitzeugenberichte und anderer Materialien. Neben ihren eigenen Großprojekten sollte die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ gerade hier ihren Förderauftrag nicht aus dem Auge verlieren. Die deutsche Gedenkstättenlandschaft ist äußerst vielfältig und lebendig. Die manchmal zufällig „von unten“ entstandenen Erinnerungsorte können jedoch nicht immer ein historisch kontextualisiertes Gesamtbild des Nationalsozialismus zeichnen.45 Die vermehrte Darstellung der Zwangsarbeit hat nun zu einem umfassenderen Bild beigetragen, da sie die außerdeutschen Opfer des Nationalsozialismus in den Blick nimmt, tiefe Einblicke in den Alltag der Kriegsgesellschaft, auch der Deutschen, erlaubt und durch Zeitzeugenbegegnungen und Entschädigungsdebatten biografische Kontinuitäten über 1945 hinaus bewusst gemacht hat. Der biografische Ansatz gilt bislang allerdings nur für die Opferseite, während die öffentliche Darstellung der Täter entweder stark abstrahiert wird („die Wirtschaft“, „die SS“) oder sich auf 43

http://www.zwangsarbeit-archiv.de, Abruf 03. 04. 2009. http://zwangsarbeit-forschung.de/MailingListe/mailingliste.html, Abruf 27. 11. 2007. 45 Ulrich Herbert: Gut gemeint genügt nicht, in: FAZ, 04. 03. 2005; Götz Aly: Gut dotierte Verwahrlosung. Das Elend der Berliner Gedenkstätten, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 49, 01. 03. 2005; kritisch dazu Dietfrid Krause-Vilmar: Missverstandene Gedenkstätten, http://www.gegen-vergessen.de/demokratie/krause_vilmar062005.html, Abruf 27. 11. 2007. 44

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Einzelpersonen wie Flick oder Speer verengt.46 In den geschichtspolitischen Debatten um den Bombenkrieg wurden die ausländischen Opfer kaum erwähnt. Nötig wäre ferner eine stärkere Kontextualisierung der Zwangsarbeit in die deutsche Migrations- und Wirtschaftsgeschichte. Schließlich wirft die Zwangsarbeit die Frage nach den von der „Gefälligkeitsdiktatur“ profitierenden Deutschen auf; erinnert sei nur an den sozialen Aufstieg vieler Deutscher als Lagerführer oder Vorarbeiter. Wieweit die Zwangsarbeit nachhaltig im Geschichtsbild der Deutschen verankert worden ist, lässt sich derzeit wohl noch nicht abschätzen.

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Die Auseinandersetzung mit Unternehmern wie Ernst Heinkel oder der Familie Quandt löst immer noch Kontroversen aus, etwa rund um die Expertenkommission „Technik und Verantwortung“ in Rostock 2004/2005.

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Hüterin der Erinnerung an die Zwangsarbeit in Deutschland Die „Fédération Nationale des Déportés du Travail“1 seit 1945 Dem Verband und seinem Vorstand, in Freundschaft und zum Dank für ihre Unterstützung

Sehr früh schon, am 15. Oktober 1945, gründeten die französischen Opfer des „Service du Travail Obligatoire (STO)“ (Pflichtarbeitsdienst) die „Fédération Nationale des Déportés du Travail (FNDT)“ (Verband der Zwangsund Arbeitsdeportierten). Es ist ihnen bis in die heutige Zeit stets gelungen, in einem einzigen mächtigen Verband vereint zu bleiben und der Öffentlichkeit ein Bild der Brüderlichkeit zu bieten, denn die FNDT präsentiert sich als apolitische, laizistische, religions- und klassenübergreifende Organisation. Sozialisten, und später Christen und Kommunisten, gehörten immer zu ihren aktivsten und treuesten Mitgliedern. In den ersten Jahren zählte der Verband, weitgehend das Werk sehr junger ehemaliger Zwangsarbeiter2, stolz 400 000 Mitglieder und versicherte, die viertgrößte Vereinigung Frankreichs zu sein.3 Es liegen weiterhin nicht genügend Daten vor, um die tatsächlichen Zahlen und die chronologische Entwicklung der Beitritte zu rekonstruieren, doch soll der Verband 1967 250 000 Mitglieder gezählt4 und, ihrem Anwalt zufolge, 1978, auf 80 regionale Vereinigungen verteilt, 125 000 Mitglieder aufge-

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1982 in Fédération Nationale des Victimes et Rescapés des Camps Nazis du Travail Forcé umgetauft. 2 Libres, Sprachorgan des „Mouvement National des Prisonniers de Guerre et Déportés“ (MNPGD), 30. September 1945: Der Gewerkschaftsführer Robert Bothereau beschreibt den zukünftigen Gründungskongress der FNDT wie folgt: „Es wird zwangsläufig ein Kongress junger Männer sein, denn die Wahl der Rekrutierer fiel in erster Linie auf die Jungen. Zweifellos werden die meisten Versammlungen wie diesen Kongress nicht gewöhnt sein.“ Jedenfalls erwies sich das Ergebnis ihrer Arbeit als sehr langlebig und robust. 3 Le DT magazine, Sprachorgan der FNDT, 1. Ausgabe, Januar 1946. „Als vierte Organisation Frankreichs gemessen an der Zahl der Mitglieder und eine der ersten gemessen an unserer Tatkraft, brauchen wir unsere desinteressierten Freunde um nichts zu beneiden und unsere erklärten oder versteckten Feinde nicht zu fürchten.“, so der Nationalsekretär Hubert Deville-Cavellin. 4 Der offiziellen Begrüßungsmitteilung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) bei einer Gedenkfahrt der FNDT nach Großbeeren zufolge. Archiv der FNDT, Akte „Pèlerinage Brandenburg 1967“.

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nommen haben.5 Was sein offizielles Organ, Le DT, anbelangt, das sich 1992 gezwungen sah, sich in Le Proscrit umzubenennen, so erinnert es in seiner Schlagzeile stolz daran, dass es über „die höchste Auflage aller Zeitungen ziviler Opfer“ verfügt. Diese Masse und diese Einhelligkeit haben jedenfalls immer für eine unleugbare Repräsentativität des Verbandes gesorgt. Im Gegensatz zu den Überlebenden der Todeslager mit ihrer Galaxie von Vereinigungen und Freundeskreisen, die zu zahlreich und politisch geteilt waren, verfügte die FNDT de facto über das Monopol bezüglich der offiziellen Vertretung der ehemaligen Zivilarbeiter, die ins nationalsozialistische Deutschland geschickt worden waren. Sie konnte den individuellen und gemeinsamen Äußerungen ihrer treuesten Mitglieder ihren Stempel aufdrücken und eine fast hegemoniale Rolle spielen, in einer Zeit in der die sozialen Träger einer Erinnerung an dieses noch nicht anerkannte Kapitel der Geschichte noch selten waren.6 Das Fehlen der berühmtesten ehemaligen französischen STO-Arbeiter – wie z. B. des Sängers Georges Brassens, des nonkonformistischen Schriftstellers François Cavana, des Journalisten, Abgeordneten und Ministers Arthur Conte oder des Humoristen Raymond Devos – in ihren Reihen, hat ihr letztendlich nicht allzu sehr geschadet. Und was die „Freundeskreise“, die ehemalige Zwangsarbeiter eines selben Lagers oder einer selben Region zusammenfassten, betrifft, so stellten sie niemals eine ernstzunehmende Konkurrenz dar, und der Verband hat, der Einigkeit halber und um eine wirksamere Verteidigung der Ehre und der materiellen Interessen der ehemaligen STO-Arbeiter zu gewährleisten, stets ihre Ausweitung verhindert.7 Europaweit ist die Ex-FNDT die letzte noch existierende und noch aktive große Organisation ehemaliger Zwangsarbeiter. Der ehemalige belgische Verband und der etwas später gegründete holländische Verband haben sich 2003 aufgelöst. Der polnische Verband ist praktisch der einzige sonst noch überlebende, ist jedoch etwas jünger und weniger bedeutend als der französische Verband, der ebenfalls eine führende historische Rolle in der „Confédération Européenne des Travailleurs Déportés“ (Europäischer Dachverband deportierter Zwangsarbeiter) spielt. Ein anderer wichtiger Trumpf der FNDT ist die bemerkenswerte Stabilität der Führungsgruppe: nicht mehr als sechs nationale Vorsitzende in sechzig Jahren8; darunter der Journalist Jean-Louis Forest, unangefochtener Ver5

Archiv der FNDT, Akte „Prozess FNDT-UNADIF“, Bericht von Me Le Prado für den Berufungsprozess, 1977 o. 1978. 6 Der Soziologe Maurice Halbwachs erklärte, dass sich die Erinnerung an einen historischen Zeitabschnitt ohne eine soziale Struktur, einen Träger, nicht aufrecht erhalten könne. 7 Gespräch mit Herrn Jean Chaize, 6. August 2006. 8 Dies waren Georges Beauchamp (1945–1946), israelischer Herkunft, ehemaliger Saboteur des STO im Widerstand, der jedoch selbst nicht zur Zwangsarbeit nach Deutschland geschickt wurde, Maurice Ecabert (1947–1951), Jean-Louis Forest

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bandsführer während eines halben Jahrhunderts, von 1951 bis 2001; aufopferungsvoll und energisch, ausgezeichneter Schriftsteller und Redner, wusste er die Basis aus der Unter- und Mittelschicht und die aus bürgerlichen oder intellektuellen Kreisen stammenden Mitglieder oder führenden Vertreter zu vereinen. Zu nennen wären auch Männer wie der stellvertretende Vorsitzende Roland Ferrier (1951–2000) oder der Generalsekretär Serge Renault (1965–1997)9, die dem Verband lange Zeit treu dienten. Auf DepartementEbene haben nicht selten diese Männer auch jahrzehntelang, wenn nicht sogar ein Leben lang, eine Vereinigung geleitet. Die Liste der Gedenkstätten wurde ebenfalls schon sehr früh, in der Zeit zwischen Kriegsende und dem Ende der 50er Jahre, festgelegt und nicht mehr geändert: Es handelt sich in erster Linie um drei Grabstätten, die jeweils den Leichnam eines „unbekannten deportierten Zwangsarbeiters“ beherbergen. Der Bedeutendste wurde aus der französischen Besatzungszone in Deutschland zurückgeführt und am 22. Juni 1947 auf dem Pariser Friedhof PèreLachaise beigesetzt. Das zweite Grab befindet sich in Lyon auf dem Friedhof La Guillotière. Das dritte liegt in Dortmund, am Mahnmal von Bittermark, das zu französischem Gebiet erklärt wurde. In der ehemaligen DDR wurden zwei Stätten des Martyriums ziviler Zwangsarbeiter in Brandenburg10 und in Großbeeren11 sehr früh ausgemacht und sind bis in die heutige Zeit Orte des Gedenkens. Unverändert blieben auch der offizielle Diskurs bezüglich des zwischen 1942 und 1945 unter dem Dritten Reich erlebten Schicksals und die unantastbare Forderung, dass dieses als „déportation du travail“ (Zwangsdeportation) anerkannt werde. Gleich geblieben ist auch die apologetische Haltung, mit der die Ehre der Zwangsarbeiter verteidigt wird und der im Allgemeinen feindlich gesinnten Öffentlichkeit verdeutlicht werden soll, warum es den Opfern unmöglich war, sich der durch Sauckel und das Vichy-Regime organisierten Zwangsrekrutierung von Arbeitskräften zu entziehen. Der Verband hat seine Argumente und Zahlen seit Jahrzehnten, eigentlich seit der Rückkehr aus Deutschland, nicht mehr überarbeitet. So beruft er sich seit 1946 stets auf die „60 000 in Deutschland getöteten Kameraden, von denen 15 000 wegen Widerstandsaktivitäten erschossen, enthauptet oder gehängt wurden“, obwohl alle Untersuchung in jüngster Zeit belegten, dass die Sterblichkeit nur halb so hoch war und eher vergleichsweise harmlose Protesthandlungen (1951–2001), Roland Ferrier (2001), nach dessen plötzlichem Tod Jean-Louis Forest die Führung vorübergehend wieder übernehmen musste, Robert Piat (2002–2006), Jean Chaize (seit Juni 2006). 9 Serge Renault leitete ebenfalls die Vereinigung des Departements der Côte-d’Or (Dijon) von 1947 bis zu seinem Tode am 14. April 1997. 10 Elf französische Eisenbahnarbeiter wurden hier 1944 durch die Nazis enthauptet. 11 Es handelt sich hier um ein Massengrab, in dem Hunderte ziviler Zwangsarbeiter aus ganz Europa ruhen, die in einem nationalsozialistischen Arbeitserziehungslager ermordet wurden.

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oder Widerworte als aktive oder organisierte Widerstandstätigkeit Gegenstand der Repression waren.12 Die Argumentation bezüglich der Bezeichnung „déporté du travail“ (Arbeitsdeportierter) stützt sich heute wie damals auf den ursprünglichen, wörtlichen Sinn des Wortes „déporter“ im Französischen und erinnert weiterhin unermüdlich an eine Tatsache, nämlich dass das Wort „déportation“ mit großer Einstimmigkeit von der Résistance, dem Général de Gaulle, in den offiziellen Verordnungen der provisorischen Regierung von 1945 und nicht zuletzt bei den Nürnberger Prozessen, bei denen Gauleiter Sauckel zum Tode verurteilt wurde, verwendet wurde. Als die Überlebenden der Konzentrationslager den Einwand erhoben, dass dieses Wort nun im Sprachgebrauch einen neuen, sehr spezifischen Sinn erhalten habe und seine Verwendung zu Missverständnissen, zu einer Verwechslung eines einfachen Zwangsaufenthalts jenseits des Rheins mit der Reise ohne Wiederkehr in die Todeslager führen könne, bezichtigten die ehemaligen Zwangsarbeiter sie – manchmal etwas ungeschickt –, die große Familie der Heimgekehrten spalten zu wollen. Zuweilen setzten sie die Ablehnung dieser Bezeichnung mit einer Negation des Verbrechens an sich gleich. Ebenso bemerkenswerter Stabilität erfreut sich die (lange) Liste der Tabuthemen. Kein Wort über die Formen der teilweise Zustimmung zum Aufbruch nach Deutschland, über das Sexualleben im Reich, große Zurückhaltung, wenn es darum geht, über Gehälter zu sprechen (da die Tatsache, bezahlt worden zu sein, oftmals ungerechterweise von Gegnern aufgegriffen wird, um ihre Opferstellung in Frage zu stellen oder zu minimieren), und schließlich die Unfähigkeit, Interesse für andere Formen der Zwangsarbeit in Europa und der Welt zu zeigen. Die ehemaligen „politischen“ Deportierten und selbst die ehemaligen Kriegsgefangenen haben sich mit diesem Thema auseinandergesetzt, doch scheint es im Verband niemals zur Diskussion gekommen zu sein, ob eine Verurteilung der sowjetischen Arbeitslager angemessen oder sogar notwendig sei. Diese Art von Problemen scheint außerhalb seines Blickfeldes geblieben zu sein. Der Verband begnügte sich im Allgemeinen damit, vage und banale Aufrufe zum Frieden und zur Einhaltung der Menschenrechte zu formulieren. Und so wurde ihm oftmals vorgeworfen, sich einzig auf streng korporative Anliegen und Aktivitäten zu beschränken.13 Seine Geschichte erscheint somit glatt und reibungslos. Doch sollte dies nicht die Existenz innerer Krisen oder die Dominanz der Linken über den 12

Patrice Arnaud: „Les logiques d’opposition des travailleurs civils en Allemagne pendant la Seconde Guerre mondiale: une résistance civile ?“, in: La main-d’œuvre française exploitée par le IIIe Reich, actes du colloque de Caen, Centre de Recherche d’Histoire quantitative, Caen 2001, von B. Garnier, J. Quellien und F. Passera gesammelte Texte, S. 147–166. 13 Michel Gratier de Saint-Louis kritisiert in „Histoire d’un retour: les STO du Rhône“, Lendemains 2001, Nr. 101–102, S. 66, den „strengen Korporatismus der Vereinigung“, der gleich in der Nachkriegszeit zu spüren gewesen sei.

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Verband oder einige Vereinigungen auf Departementebene verdecken. Desgleichen sollte die Beständigkeit des Diskurses nicht darüber hinwegtäuschen, dass es einige – recht bedeutsame – Veränderungen oder einige Ablehnungen gegeben hat. So wollen wir zuerst einmal die seltenen Zeiten innerer Krisen untersuchen, um uns dann dem vergeblichen lebenslangen Kampf, hauptsächlich gegen die Überlebenden der Konzentrationslager, um die offizielle Anerkennung des Status als „Déportés du Travail“ (Arbeitsdeportierte) zuzuwenden. Die eigentlich apolitische FNDT erscheint im Laufe der Auseinandersetzungen eher als parteiübergreifende Realität. Dieser Ende der 40er Jahre begonnene Streit ermöglicht es uns, die große Vielfalt der politischen und gewerkschaftlichen Förderer, die immer gleichbleibende und bevorzugte Unterstützung der kommunistischen Partei und selbst der Kirche genauer zu betrachten. In einem dritten Schritt werden wir gemeinsam sehen, wie die Beziehungen zu den beiden deutschen Staaten es dem Verband ermöglichten, die in Frankreich erlittenen moralischen Enttäuschungen zu kompensieren.

Einige seltene, doch bedeutsame Krisen Als erste Krise kann der 1946 stattfindende Bruch mit dem offiziellen Konsens der Nachkriegszeit betrachtet werden. Einem durch die Behörden geförderten Irenismus, der den Verband dazu gedrängt hatte, selbst die „angeblichen Freiwilligen“, die sich für die Arbeit in Deutschland gemeldet hatten, so der Ausdruck des Ministeriums, in seine Reihen aufzunehmen.14 Im August 1946 waren in Compiègne die Kriegsveteranen, die ehemaligen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter sowie die Überlebenden der Konzentrationslager zu größeren gemeinsamen Feierlichkeiten zusammengekommen. Dies sollte die letzte Demonstration von Einheit und Brüderlichkeit der verschiedenen Familien der Heimgekehrten, Veteranen und Kriegsopfer sein. Gleich darauf begann in der Presse eine Kampagne, die dazu tendierte, die Zwangsarbeiter mit Freiwilligen gleichzustellen oder ihnen zumindest ihre angenommene 14

Siehe die Memoiren von Henry Frenay: La nuit finira. Robert Laffont, 1973. Sowie Annette Wieviorka: Déportation et génocide, Paris/Hachette/Pluriel 1995, S. 212f., über den „Irenismus“ des Ministeriums von Frenay, der darauf bedacht war, die nationale Gemeinschaft nicht weiter zur spalten, indem zwischen den verschiedenen Kategorien heimgekehrter Zwangsarbeiter unterschieden werde. Oder auch Pieter Lagrou: Mémoires patriotiques et occupation nazie. Déportés, requis et déportés en Europe occidentale 1945–1965, Bruxelles 2003, S. 157f. Dies ist die Zeit, in der das Ministerium ein berühmtes Plakat „Ils sont unis, ne les divisez pas“ (Sie sind geeint, spaltet sie nicht), verbreitet, das den erschöpften Überlebenden eines Todeslagers in gestreifter Häftlingskleidung, der beim Laufen von einem Zwangsarbeiter im Blaumann und einem Kriegsgefangenen gestützt wird, zeigt. Die FNDT hat bis in die heutige Zeit niemals aufgehört, ihre Gegner an die starke Symbolik dieses Plakats zu erinnern und das Ende der einstigen Einheit zu betrauern.

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Passivität, ihre Zustimmung zu ihrer eigenen Verbringung nach Deutschland, ihren mangelnden Widerstand vorzuwerfen. Als Antwort darauf, verstießen zahlreiche Vereinigungen ehemalige Freiwillige und fingen an, eine strengere Bestrafung der Verräter zu verlangen.15 Von diesem Tag an sollte der Verband sich stets (und berechtigterweise) an den radikalen Unterschied zwischen den Opfern der Zwangsarbeit einerseits und den Freiwilligen andererseits erinnern, für die, verachtet und verstoßen, kein Platz in seinen Reihen war. Darüber hinaus hielt sich der Verband an einen Vichy-feindlichen Diskurs. Wachsam verurteilte er jeden Versuch der Rehabilitierung des Ml Pétain und seines Regimes.16 Die ehemaligen Leiter der „Chantiers de la Jeunesse“ (Jugendorganisation des Vichy-Regimes mit Zwangsmitgliedschaft) wurden beispielsweise wegen der ambivalenten Rolle, die sie in Frankreich und in Deutschland gespielt haben mochten, mit Misstrauen beäugt.17 So wie er prompt vergaß, dass er einige Monate lang Freiwillige in seine Reihen aufgenommen hatte, verbarg der Verband zum Teil seine teilweise vichyistische Herkunft. In der Tat ist seine Gründung auf den Zusammenschluss der vichyistischen Hilfsstrukturen mit der Untergrundbewegung „Mouvement National des Prisonniers de Guerre et Déporté (MNPGD)“ zurückzuführen.18 Unter dem Vichy-Regime war es bereits Aufgabe der Centres d’Entraide, den Zwangsarbeitern in der Ferne und den in Frankreich verbliebenen Familien Hilfe zukommen zu lassen. Diese Strukturen waren gewiss oftmals schon von der Résistance, insbesondere von Vichy-treuen Widerständlern aus dem Commissariat aux Résistants, dessen Leiter und wohl bedeutendster Vertreter François Mitterand war, infiltriert und unterwandert worden. Eines der letzten Gesetze, das durch das Vichy-Regime erlassen wurde, segnete am 5. Juli die Gründung der „Fédération des Centres d’Entraide des travailleurs civils en Allemagne et de leurs familles“ ab. Am 12. September, gleich nach der Befreiung, wurde dann einfach die gleiche Vereinigung neu aus der Taufe gehoben, indem lediglich der Name abgeändert 15

Pieter Lagrou: Mémoires patriotiques et occupation nazie. Déportés, requis et déportés en Europe occidentale 1945–1965, Bruxelles 2003, S. 177. Siehe z. B. auch Le DT magazine, Sprachorgan der FNDT, Ausgabe 6, Juni 1946. Der Kongress des Departements Var verlangt sogar „angesichts der Tatsache, dass der Pflichtarbeitsdienst nach dem massiven Aufbruch freiwilliger Arbeitskräfte eingeführt wurde, eine exemplarische Bestrafung der Freiwilligen, die nach Deutschland gingen, um die nationalsozialistische Kriegsmaschine zu speisen und diese dazu zu verpflichten, in Frankreich oder den Kolonien einen Pflichtarbeitsdienst abzuleisten, wie er den Arbeitsdeportierten in Deutschland auferlegt wurde.“ 16 Archiv der FNDT, Akte „Affaire Pétain“, 1964. Das Comité Fédéral protestiert gegen Gerüchte, die besagen, dass die Asche Pétains nach Douaumont verbracht werden soll, und erinnert daran, dass der „Held von Verdun“ auch die „Deportation“ hunderttausender Zwangsarbeiter zu verantworten hat. 17 Gespräch mit Jean Chaize, nationaler Vorsitzender, 6. August 2006. 18 Mouvement National des Prisonniers de Guerre et Déportés, am 12. März 1944 aus dem Zusammenschluss dreier früherer Untergrundbewegungen entstanden.

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wurde: der Bezug auf die „travailleurs civils“ (Zivilarbeiter) wurde durch „travailleurs déportés“ (deportierte Arbeiter) ersetzt. Ein ehemaliger Kriegsgefangener, Guy de Tassigny, übernahm das Generalsekretariat. Zur gleichen Zeit jedoch gründete der Widerstandskämpfer Georges Beauchamp († 2004) eine konkurrierende Organisation: die mit dem MNPGD und Henri Frenay, Begründer der Bewegung Combat und Minister der Kriegsgefangenen, Deportierten und Flüchtlingen verbundene FNDT. Der MNPGD hatte die Wahl, eine einzige große, alle Kategorien exilierter Franzosen umfassende Vereinigung zu gründen – was für die ehemaligen STO-Arbeiter von Vorteil gewesen wäre und ihnen geholfen hätte, sich in der nationalen Gemeinschaft und im kollektiven Gedächtnis einen Platz zu verschaffen – oder mehrere, für jede Opfergruppe spezifische Vereinigungen zu bilden. Die zweite Lösung setzte sich schließlich durch. Es brauchte eine gewisse Zeit, den Zusammenschluss des MNPGD mit den Centres d’Entraide vorzubereiten. Auf beiden Seiten mangelte es nicht an Misstrauen. Die Centres warfen dem MNPGD vor, zu viel Politik zu betreiben (damals der konservative und antikommunistische Vorwurf schlechthin); der MNPGD verdächtigte die Centres weiterhin von Vichy geprägt zu sein. Der Zusammenschluss wurde jedoch im November 1944 durch Abstimmung beschlossen und trat in Kraft. Dies war im Interesse aller Beteiligten. So konnte es sich insbesondere der MNPGD von Georges Beauchamp nicht leisten, auf sozialem Gebiet von ehemaligen vichyistischen Organisationen, die bereits einen gewissen Vorsprung und starke Trümpfe aufweisen konnten, in den Hintergrund gedrängt zu werden: Diese verfügten bereits über Erfahrung, Geld, Gebäude, Büros und Zeitungen.19 Im Frühjahr 1945 beteiligte das Ministerium Frenay den Verband intensiv an der Organisation der Rückführung und subventionierte ihn großzügig.20 Der Sozialist Georges Beauchamp, Gründer und erster Vorsitzender des Verbandes, war ein persönlicher Freund Mitterrands. 1947 wurde er ebenfalls mit dem Kabinettsvorsitz im Ministerium der „Anciens Combattants“ betraut, dem ersten Portefeuille dieses vor einer ereignisreichen Karriere stehenden Mannes. François Mitterrand, ehemaliger entflohener Kriegsgefangener und bedeutendster Mitvorsitzender des im Untergrund agierenden MNPGD, hatte den Verband mit aus der Taufe gehoben, wohl hoffend, die ehemaligen Kriegsgefangenen und STO-Arbeiter als Wahlklientel gewinnen zu können. Einer der Gründer, der Nationalsekretär Hubert Deville-Cavelin, wurde 1947 19

Zur Entstehungsgeschichte des Verbandes: Nationalarchiv, Paris, privater Besitz von Jacques Bénet (Mitvorsitzender des MNPGD und Historiker), 72 AJ 2174, 2175 und 2177. Sowie François Cochet: Les exclus de la victoire. Histoire des prisonniers de guerre, STO et déportés, SPM 1992. 20 Annette Wieviorka: Déportation et génocide, Paris/Hachette/Pluriel 1995, S. 41: 1945 zahlte das Ministerium der Vereinigung ehemaliger Kriegsgefangener 117 Millionen, der FNDT 34 Millionen und den ehemaligen Häftlingen der Konzentrationslager 37 Millionen Francs.

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sogar zu seinem Parlamentsattaché, bevor er sich aus der Politik und dem Verband zurückzog, um zum Gaullismus zurückzukehren, der ihm sehr am Herzen lag.21 Sehr früh schon drängte Beauchamp den noch sehr jungen Verband mit seinen Mitteln einige aussichtslose Unternehmungen, wie die sozialistische und Mitterand-treue Tageszeitung Soir-Express (1946), zu unterstützen, die schnell scheiterte und sich als finanzielles Fiasko erwies; im Vorstand hatte allein der zukünftige Gewerkschaftsführer André Bergeron die Initiative missbilligt.22 Später drängte Beauchamp ebenfalls darauf, die ersten Projekte des französischen Fernsehens, dessen Entwicklung vom Informationsminister François Mitterrand (1950) gewünscht wurde, zu fördern.23 Die jungen Mitglieder des noch jungen Verbandes ließen sich davon überzeugen, dass dies ihren Einfluss in der Öffentlichkeit erhöhen und ihnen dabei helfen könnte, ihre Ehre und ihre Interessen vor der öffentlichen Meinung zu verteidigen.24 Abgesehen davon waren zahlreiche Vorstandsmitglieder lange Zeit, wenn nicht sogar ein Leben lang, Mitglieder der sozialistischen Partei, darunter Jean-Louis Forest selbst, der sogar zweimal, 1967 und 1968, für die Deputation kandidierte, Roland Ferrier, langjähriger zweiter Vorsitzender und sein direkter Nachfolger, André Estrade, Vorsitzender der Vereinigung des Departements Haute-Garonne, oder auch Michel Boyer in Nîmes im Departement Gard. Als die Leitung der sozialistischen Fraktion am 24. Februar 1953 zusammentrat, um dem Verband offiziell ihre Unterstützung bezüglich der Anerkennung des Deportiertenstatus zuzusichern, stellte der Abgeordnete Darou offen fest, dass „diese Organisation mit ihren 850 000 Mitgliedern (sic), sich landesweit in der Hand der sozialistischen Partei befindet“.25 Lyon und die Vereinigung des Departement Rhône, die eine wichtige Rolle in der Geschichte des Verbandes gespielt haben (von hier stammt ihr zweiter Vorsitzender Maurice Ecabert), hingegen, hatten eher einen Mitte-Rechts-Vorstand – da Lyon seit über einem Jahrhundert eine Hochburg der Mitte war. Keine andere Vereinigung jedoch bereitete mehr Sorgen als die des Departements Seine, die von ihrer Entstehung bis zu ihrer Auflösung im Jahre 2006 von ein und demselben Mann geleitet wurde, dem kommunistischen Aktivisten André Laigneau (1918–2006). Laigneau, ehemaliger Arbeiter bei Citroën, 21

Patrice Arnaud: „Rémunérer le travail forcé: réalités salariales et enjeux mémoriels“, in: Hervé Joly (Hg.): ,Travailler dans les entreprises sous l’Occupation, von Christian Chevandier und Jean-Claude Daumas zusammengestellte Texte, Presses Universitaires de Franche-Comté 2007, S. 342. 22 Le DT magazine, Ausgabe 12, Dezember 1946. 23 Gespräch mit Michel Boyer, 30. Januar 2007. Brief von Michel Boyer, 4. Februar 2007. 24 Gespräch mit Michel Boyer, 30. Januar 2007. Brief von Michel Boyer, 4. Februar 2007. 25 Archiv des Parti Socialiste (SFIO): Protokolle der Versammlungen des Vorstands und der Parlamentsfraktion, Office Universitaire de Recherches Socialistes (OURS). Ich danke Anne-Laure Ollivier, die diesen Text entdeckt hat und ihn mir als Kopie zukommen ließ.

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wurde direkt nach seiner Rückkehr aus Deutschland zugleich Funktionär in der Partei und in der Vereinigung des Departements Seine. Er war sehr engagiert, begab sich mehrmals zur Vervollkommnung seiner politischen Ausbildung in die UDSSR und spielte ab den 50er Jahren eine Schlüsselrolle beim Aufbau der Beziehungen zwischen der FNDT und der DDR.26 Laigneau brachte die Pariser Vereinigung dazu, im aufkommenden Kalten Krieg aktiv Stellung zu beziehen. Sie spielte sich in der breit angelegten Nachkriegskampagne für den „Frieden“, d. h. zu jener Zeit vor allem gegen Amerika, in den Vordergrund. Die den Themen der kommunistischen Propaganda stark verhafteten Pariser Aktivisten konnten sich auf ihre Legitimität als ehemalige Kriegsopfer berufen, um die Amnestie für ehemalige Kollaborateure zu verurteilen und die Konfiszierung deren Eigentums zugunsten der Opfer zu fordern. Aber auch, um zur Unterschrift des berühmten Stockholmer Appells zu drängen, der ein allgemeines Verbot von Atomwaffen forderte, oder um eine harte Kampagne gegen eine „deutsche Wiederaufrüstung“ und die „Wiederauferstehung des germanischen Militarismus“ zu führen, die den Frieden gefährden und somit auch wieder französische Arbeiter der Gefahr aussetzen könnten, nach Deutschland deportiert zu werden. Sie denunzierten auch die (sehr) hohen Ausgaben, die durch den Kalten Krieg und die Kolonialkriege verursacht wurden und wohl dazu geführt hatten, dass die Schadensersatzzahlungen und Renten so gering ausgefallen waren.27 1954 drängten sie den Verband ebenfalls mit Erfolg dazu, die Europäische Verteidigungsgemeinschaft zu verurteilen.28 Selbst die Gründung des europäischen Binnenmarktes wurde kritisiert. Dieser berge das Risiko, dass europäische Arbeitskräfte erneut zum Profit der Großindustriellen der Ruhr nach Deutschland deportiert würden. Die Pariser Vereinigung zählte 1950 wohl 50 000 Mitglieder.29 Es handelte sich hier jedenfalls zweifellos um die umtriebigste und größte Regionalvereinigung. Die Tatsache, dass sie ihren Sitz in der Hauptstadt hatte, rückte sie zwangsweise ins Blickfeld der Öffentlichkeit, der Presse und der Politiker. Dies verstärkte den falschen Eindruck, dass sich der gesamte Verband in der Hand der Kommunisten befände. Eine interne Reaktion war unvermeidbar: Sie führte die FNDT 1950 an den Rand der Spaltung, als die Frage erörtert wurde, eine zweite Vereinigung in Paris zu gründen, um Laigneau und seine 26

Gespräch mit André Laigneau, 4. Juli 2006. André Laigneau verstarb am 9. Juli. Archiv des Pariser Verbands, das im Sitz der ehemaligen FNDT aufbewahrt wird (verschiedene Plakate, Fotos, Zeitungsausschnitte). 28 Le DT, Mai–Juni 1954, Ausgabe 94, Nationalkongress der FNDT in Dijon. 29 Detaillierte Liste auf der Rückseite eines im Archiv der FNDT aufbewahrten Plakats von 1950, in der die lokalen Verbände von Paris und Umgebung bezirks- und städteweise unter Angabe der genauen Mitgliedszahlen aufgeführt sind. Laut dieser anonymen Handschrift soll Paris intra-muros damals 21 851 und das Departement Seine insgesamt 47 270 Mitglieder, insgesamt also „rund 50 000“ Mitglieder, gezählt haben. 27

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Parteifreunde zu schwächen. Das Risiko einer lokalen, aber auch nationalen Teilung war real, denn einige Vereinigungen, wie die der Seine-Inférieure, wären den Laigneau-treuen Parisern gefolgt.30 Es brauchte eine ganze Nacht, um den Bruch beim Kongress in Royat zu verhindern – seither darf es satzungsgemäß nicht mehr als eine Vereinigung pro Departement geben.31 Lange Zeit wurde Laigneau jedoch nicht in die Führungsorgane des Verbandes gewählt oder befand sich nur am Listenende, da man nicht völlig auf die Vereinigung der Seine verzichten konnte.32 Als die heftigste Phase beendet war, ermöglichte es eine progressive Normalisierung den Pariser Vertretern, die ihnen zustehende Stellung in der Führungsriege einzunehmen. André Laigneau sollte in den 70er Jahren zum stellvertretenden Vorsitzenden des Verbandes werden und wurde 2001 von J.L. Forest sogar als dessen möglicher Nachfolger angesehen.33 Zu einer weiteren vergessenen Krise führte der Verzicht auf die Erstattung der bei der Rückkehr nach Frankreich an der Grenze hinterlegten Reichsmark. Es gab 1946, und auch lange Zeit später, keine Versammlung, auf der dieses Thema nicht erörtert worden wäre. Als Zeichen guten patriotischen Willens verzichtete der Verband im November 1946 darauf, die Erstattung und Rückgabe dieser Gelder zu fordern. Dies führte zu einem hohen Verlust an Mitgliedern, insbesondere aus der Arbeiterklasse und den unteren Gesellschaftsschichten.34 Und dies wiederum trug zur Verschärfung eines sowohl von Patrice 30

Gespräche mit Jean Chaize, 6. August 2006, Lucien Cathala (Verantwortlicher des Verbandes des Tarn-et-Garonne, in Montauban), 22. August 2006, und Jean-Louis Forest, September 2006. 31 Arnaud Schlippi: „La Fédération Nationale des Rescapés et Victimes des Camps Nazis du Travail Forcé: histoire et combats“, in: La main-d’œuvre française exploitée par le IIIe Reich, actes du colloque de Caen, Centre de Recherche d’Histoire quantitative, Caen 2001, S. 603–616. 32 Gespräch mit André Laigneau, 4. Juli 2006. So zum Beispiel beim Kongress von Dijon, im Jahre 1954, bei dem einige Delegierte hinter den Kulissen die „zielgerichtete Orientierung“ der Vereinigung der Seine kritisierten: Hier wurde Laigneau nicht in das Comité Fédéral, der höchsten Führungsinstanz des Verbandes, gewählt (keiner seiner Freunde, wie z. B. H. Deville-Cavelin, wurde in Kommissionen oder Komitees zurückgewählt); er wurde lediglich, mit dem schlechtesten Wahlergebnis, in die Commission de Contrôle financier (Kommission zur Finanzkontrolle) gewählt. Mit 189 Stimmen belegte er den letzten Platz, der nächste Kandidat erhielt 243 Stimmen und der Führende wurde von 301 von 474 Stimmberechtigen gewählt. Diese geringe Gunst hatte nur den Zweck, einen völligen Ausschluss von Laigneau und den Parisern aus allen Führungsinstanzen zu vermeiden. Von den insgesamt 469 Delegierten, waren 39 aus der Seine, 25 aus dem verbündeten Departement Seine-et-Oise und 9 aus der Seine-etMarne: nicht genug, um entscheidungsfähig zu sein, aber zu zahlreich, um vernachlässigt werden zu können. Dies änderte nichts daran, dass alle Beschlüsse, abgesehen von zwei vereinzelten Stimmen, einstimmig verabschiedet wurden, um ein äußeres Bild der Einheit zu wahren. Le DT, Sprachorgan der Vereinigung, Ausgabe 94, Mai–Juni 1954. 33 Gespräch mit Jean-Louis Forest, September 2006. 34 Patrice Arnaud: „Rémunérer le travail forcé: réalités salariales et enjeux mémoriels“ in Travailler dans les entreprises sous l’Occupation, von Christian Chevandier und

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Arnaud als auch von Pieter Lagrou festgestellten Widerspruchs bei: Obwohl die Mehrheit der Opfer Arbeiter waren, wurde der Verband in erster Linie von Studenten und jungen Leuten aus der Mittelschicht und dem Bürgertum geleitet. Diese waren eher auf die Verteidigung der Ehre der ehemaligen Zivilarbeiter bedacht und beschäftigten sich weniger mit den materiellen Bedürfnissen der unteren Schichten.35 Ob nun bewusst oder unbewusst, der typische STO-Arbeiter war der Student, der im Sommer 1943 eingezogen wurde. Dies ist der Grund, warum die Forderung der Anerkennung als „déporté du travail“ ebenfalls eine funktionelle Notwendigkeit war. Als Eckpfeiler der gemeinsamen Identität, stellte sie eine vereinende gemeinsame Sache dar, die eine sozial sehr heterogene Gruppe von Menschen (mehrheitlich aus Arbeitern bestehend, doch vorwiegend von Vertretern der mittleren Schichten geführt) zusammenschweißte, deren in Deutschland erlebte Erfahrungen zu unterschiedlich waren. In den 50er Jahren unternahmen einige wenige Mitglieder des Verbandes, sowie zumindest eine lokale Vereinigung, der des Departements Haute-Savoie, den Versuch, einen Kompromiss mit den ehemaligen KZ-Häftlingen zu finden: Der Verband sollte freiwillig auf die Anerkennung der Bezeichnung „déporté“ verzichten, und die ehemaligen Deportierten im Gegenzug sollten anerkennen, dass die breite Masse der STO-Arbeiter sich in Deutschland würdevoll verhalten habe. Dass diese vereinzelten Bemühungen zum Scheitern verurteilt waren, ist nicht weiter überraschend.36

Der Kampf um die Anerkennung des Deportiertenstatus Nach 1945 galt es sich zwischen zwei Haltungen zu entscheiden: der Logik der Zelebration, die den Kämpfer, den Veteranen in den Mittelpunkt stellte, Jean-Claude Daumas zusammengestellte Texte, Besançon 2007, S. 342. Einige Mitlieder weigerten sich, das Handtuch zu werfen. So ruft ein Plakat die ehemaligen Pariser Zwangsarbeiter am 21. Juni 1953 zu einer Versammlung „für euren Status, das Erarbeitete und die Mark, zur Verteidigung eurer Ehre und des Friedens“ in der Salle Wagram auf. 35 Pieter Lagrou: Mémoires patriotiques et occupation nazie. Déportés, requis et déportés en Europe occidentale 1945–1965, Bruxelles 2003, chaptitres IX and X: „Le déficit patriotique“ et „Déportation, ou la défense des requis“. 36 Nationalarchiv, 72 AJ 2168, Archiv des Réseau du Souvenir. 1956 erklärte die Vereinigung der Haute-Savoie (einer Region, in der der Maquis stark war) sich bereit, auf die Bezeichnung zu verzichten, während die ehemaligen Deportierten der Region den Opferstatus und die Ehrenhaftigkeit ihres Verhaltens ihrer Mitglieder in Deutschland anerkannten. Zur selben Zeit, 1956–1957, versuchte der Anwalt André Fallotin, Vorsitzender der Vereinigung des Puy-de-Dôme (Clermont-Ferrand), einen Kompromiss mit der UNADIF auszuhandeln. Eine undichte Stelle verleitete einige Ex-Häftlinge dazu, etwas voreilig das, was sie als eine Kapitulation der FNDT, die endlich Reue zeige, betrachteten, zu feiern. André Fallotin, der im Verband isoliert dastand, wurde beim nächsten Kongress geschlagen und trat vom Vorsitz der Vereinigung des Puy-deDôme zurück.

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und der Logik des Mitgefühls für die Opfer. Das befreite Frankreich konnte jedoch keine Opfer mehr brauchen – wie übrigens die meisten ehemals besetzten Länder. Die Franzosen hatten bereits genug vom doloristischen Diskurs der Vichy-Regierung und ihrem morbiden Gerede von Leid und Sühne. Um Frankreich eine gute Stellung in der neuen Weltordnung der Nachkriegszeit zu sichern, brauchte de Gaulle Kämpfer und Helden und keine Opfer. Die Mehrzahl der ehemaligen STO-Arbeiter hatte jedoch niemals einen Schuss abgegeben. Der erste Erfolg, den der Verband 1945 verzeichnen konnte, war sogar die Durchsetzung einer Wehdienstbefreiung für seine jungen Mitglieder. Was auch sehr menschlich und verständlich war, nach den Jahren des Exils, das diese fern von Familie und Heimat verbracht hatten (im Übrigen fehlten Frankreich die materiellen und finanziellen Mittel, um mehrere Jahrgänge junger Rekruten auf einmal in die Armee aufzunehmen). Dies trug jedoch dazu bei, den Eindruck zu verstärken, dass die Zivilarbeiter, die nach Deutschland geschickt worden waren, ihren Beitrag zum Kampf und zum Opfer nicht geleistet hatten.37 Sie konnten somit nicht zum Gegenstand der Bewunderung werden, und selbst das Aufkommen von Mitgefühl war nicht unbedingt selbstverständlich, da viele STO-Arbeiter in Deutschland nicht „genug“ gelitten hatten und nicht als reine Opfer betrachtet werden konnten. Das Problem jedoch war, dass der Verband sich bei seiner Bildung die Verbände der Veteranen aus den beiden Weltkriegen zum Vorbild genommen hat. Der offizielle Diskurs der Nachkriegszeit hatte ihn auch dazu ermutigt. Darauf bedacht, die nationale Einheit zu wahren, hob die provisorische Regierung selbst immer wieder die Rolle der „inneren deutschen Front“ hervor und lobte den stillen Widerstand, den die Masse der Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen geleistet hätte. Die FNDT unterwarf sich unablässig patriotischen Ritualen. Jeder größeren Pariser Versammlung folgte zwangsläufig eine Zeremonie am Arc de Triomphe, bei der Blumen am Grab des unbekannten Soldaten niedergelegt wurden.38 Darauf zurückzuführen ist auch die 37

Michel Gratier de Saint-Louis: „Histoire d’un retour: les STO du Rhône“, Lendemains 2001, Ausgabe 101–102, S. 66. 38 Archiv der FNDT: ein großer schwarzer, aus den Archiven des Pariser Verbandes stammender Kasten birgt eine Vielzahl von Bildern dieser Zeremonien, insbesondere aus den 40er und 50er Jahren. Der gleiche Kasten liefert ebenfalls Fotos zu den Zeremonien am Mont-Valérien, im ehemaligen Geisellager von Châteaubriant oder im Märtyrerdorf Oradour-sur-Glane, aus denen jedoch nicht ersichtlich wird, ob die ehemaligen STO-Arbeiter daran teilgenommen haben. Das Ritual ist bis in die heutige Zeit immer gleich geblieben. Im März 1968 zum Beispiel, ziehen die ehemaligen STOArbeiter nach der traditionellen Versammlung in der Salle Wagram hinter ihren 145 Fahnenträgern zum Grab des Unbekannten. Bei den letzten großen Feierlichkeiten von 2005 und 2007 vor dem Denkmal des unbekannten Zwangsarbeiters auf dem PèreLachaise, mit französischer Fahne, Marseillaise und Reden, konnten wir selbst den Mimetismus zwischen den Praktiken des Verbandes und denen der Kriegsveteranen feststellen.

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Überinterpretation der Taten einer kleinen Minderheit von Exilarbeitern, die sich der Résistance, insbesondere auch dem bewaffneten Widerstand angeschlossen hatte. So erinnerte der Verband immer wieder an die Franzosen, die Heldenmut gezeigt und während des slowakischen Aufstands im August 1944 an der Seite der slowakischen Partisanen gekämpft hatten. Hier handelte es sich aber um eine, im Übrigen gespaltene Gruppe von weniger als 200 Personen, von denen nur 60 STO-Arbeiter waren, und einige sogar als Freiwillige nach Deutschland gekommen waren.39 Der Verband konnte sich jedoch auch darauf berufen, dass eine Vielzahl von Zwangsarbeitern aus Deutschland geflüchtet war. Zum Teil gingen diese in Frankreich in die Résistance. Auch befanden sich in den Departementvereinigungen oftmals sowohl Exilarbeiter als auch Arbeitsdienstverweigerer, die es geschafft hatten, sich dem Abtransport zu entziehen, indem sie in den Untergrund abtauchten. Im Namen einiger Vereinigungen findet diese Mitgliedergruppe ausdrückliche Erwähnung. Nicht selten wurden auch ehemalige Widerstandskämpfer an die Spitze der Departementvereinigungen gesetzt. Während der Gründungsjahre waren die Kriegsveteranen von 1939–1940, die aus Deutschland geflüchteten STO-Arbeiter, die Arbeitsdienstverweigerer und die Widerstandskämpfer auf nationaler Ebene in der Führungsriege in beachtlichem Ausmaß vertreten.40 Einige von ihnen hatten wegen Ungehorsams oder eines Fluchtversuchs Arbeitserziehungslager (AEL) durchlaufen müssen, so auch der zukünftige nationale Vorsitzende Robert Piat, der in Amersfoort interniert war. Roland Ferrier war Arbeitsdienstverweigerer und Angehöriger des Maquis. Seine rechte Hand, Roger Chanterel, war aus Deutschland geflohen, um sich der Résistance und dem Maquis anzuschließen, sowie Florent Ghio, Maurice de Jurquet oder Pierre Holvoet (letztere zwei waren Überlebende der Konzentrationslager) und viele mehr. Zu den Heimaturlaubern, die nicht zum Dienst zurückkehrten, einer weiteren Quelle von Widerstandskämpfern, gehörte Michel Boyer, zukünftiger Verantwortlicher der Vereinigung des Departement Gard, der sich später als Verbindungsagent in den Dienst des FFI (Widerstandsorganisation „Forces françaises de l’intérieur“) der Region von Nîmes stellte. In Paris hatte Hubert Deville-Cavellin, zukünftiger Träger der 39

Elise Colette: Les combattants français en Slovaquie, Magisterarbeit, Université de Paris-I 1998. 40 Pieter Lagrou: Mémoires patriotiques et occupation nazie. Déportés, requis et déportés en Europe occidentale 1945–1965, Bruxelles 2003, S. 179–180. Sowie Gespräch mit Michel Boyer, 30. Januar 2007. Der Kongress von Nîmes (1953) erlaubte selbst die Aufnahme von Arbeitsdienstverweigerern in den Verband, die nie einen Fuß nach Deutschland gesetzt hatten. Verschiedene Departement-Vereinigungen erwähnen in ihrem Namen, dass sie sowohl Arbeitsdienstverweigerer als auch ehemalige deportierte Arbeiter zu ihren Mitgliedern zählen. So lautete der vollständige Name der Vereinigung der Seine: „Association des Déportés du Travail et des Réfractaires“ (Verband der Arbeitsdeportierten und Arbeitsdienstverweigerer).

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französischen Verdienstmedaille der „Reconnaissance française“, die Résistance bereits vor seinem Exil unterstützt und sich gleich nach seiner Rückkehr, 1943, mit dem MNPGD in Verbindung gesetzt. Andere schließlich, die ihre Heimat erst nach Kriegsende wiedersehen sollten, haben im Exil an der Seite der lokalen Untergrundkämpfer aktiv Widerstand geleistet, wie z. B. François Céré in Norwegen.41 Es fiel auch nicht schwer zu beweisen, dass nicht wenige ehemalige Zwangsarbeiter entflohene Kriegsgefangenen unterstützt oder Risiken auf sich genommen hatten, um Deportierten in den Konzentrationslagern zu helfen. Die Erinnerung daran, dieses Hervorheben, von Anfang an, der patriotischen und menschlichen Verdienste zahlreicher ehemaliger Opfer der Zwangsarbeit konnte jedoch in den Augen der Öffentlichkeit nie ganz den Eindruck verdrängen, dass die Zwangsarbeiter in erster Linie Nicht-Verweigerer, wenn nicht sogar verkappte Kollaborateure waren. Jedenfalls hielt die französische Öffentlichkeit jene, die nach Deutschland aufgebrochen waren, immer eines Versagens für schuldig. In jüngerer Zeit jedoch, als das öffentliche Empfinden sich zugunsten der Opfer wandelte und diese wieder in den Vordergrund rückte, betonte der Verband wieder stärker das Opfertum der STO-Arbeiter. Seine Gegner beschuldigten ihn damals, und dies gewiss nicht mit Zurückhaltung, eine Symbolik zu verwenden, die eine größere Ähnlichkeit des Schicksals der STOArbeiter mit dem der KZ-Insassen suggeriere. So behaupteten einige ehemalige Deportierte, dass die Erwähnung von Stacheldraht oder Zügen Parallelen mit den Todeslagern vermuten ließ.42 Sicher jedoch ist, dass im Diskurs der FNDT in den 60er und 70er Jahren immer häufiger von den „camps nazis de travail forcé“ (nationalsozialistische Zwangsarbeitslager) oder „du travail forcé“ (Lager der Zwangsarbeit) die Rede war. Es handelt sich hier um irreführende Ausdrücke, denn der undifferenzierte Gebrauch der Partikel „du“ oder „de“ ist nicht ganz belanglos. Die erste Formulierung ließ die Öffentlichkeit glauben, dass es sich um Arbeitslager handelte (da de ein Genitivobjekt einleitet), die zweite gab zu verstehen, dass es sich einfach um Lager handelte, die ausländische Arbeitskräfte beherbergten, die unter Zwang nach Deutschland gebracht worden waren (der Verband wählte diese zweite Formulierung mit du für ihren neuen Namen). Nur die zweite Interpretation entspricht der historischen Wahrheit, doch kann man verstehen, dass die Gefahr von Missverständnissen besteht. Darüber hinaus, waren diese Lager, obwohl sie von der Deutschen Arbeitsfront verwaltet wurden, zwar deutsche Lager, aber keine nationalsozialistischen Lager, so der Vorwurf einiger Überlebender der Konzentrationslager. Sie waren nicht Teil der totalitären und repressiven Institutionen des Dritten Reichs. Der Begriff „rescapé“ (Überlebender) ist ebenfalls nicht ganz unproblematisch. Es war nichts Außergewöhnliches, dass ein französischer Zivilarbeiter heil und gesund oder zumindest lebendig in die 41 42

Le DT, Ausgabe 27, 1946. Gespräch mit Lucien Cathala in Montauban, 22. August 2006.

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Heimat zurückkehrte: Sie waren nicht das Ziel von Massenmordaktionen, und selbst wenn Tausende französischer Zwangsarbeiter durch das Naziregime ermordet oder verhaftet wurden, so wurde nur eine kleine Minderheit zum Tode verurteilt, in Arbeitserziehungslager geschickt oder in Todeslager gesperrt. Es ist eine unumstößliche Tatsache, dass das Schicksal der STO-Arbeiter gemeint war, wenn in der Besatzungszeit von „déportation“ die Rede war. Keine andere Bezeichnung war so verbreitet wie diese. Die BBC sowie die Untergrundpresse, de Gaulle wie auch Giraud, der Conseil National de la Résistance (nationaler Widerstandsrat) sowie die Akteure der Nürnberger Prozesse, einige Bischöfe sowie die Kommunisten oder der jüdische Widerstand, bis hin zu einer Vielzahl von Ministern des Vichy-Regimes, privat oder während ihres Prozesses, alle waren sie sich einig im Gebrauch des Wortes „déportation“, wenn es darum ging, die Zwangsverbringung der Arbeiter anzuprangern oder zu beklagen. Erst nach der Befreiung hielten es die Behörden für nötig, den präziseren Ausdruck „déportés du travail“ zu prägen, um diese von den politischen oder jüdischen Deportierten zu unterscheiden, deren Rückkehr ebenfalls erwartet wurde. Als sich die FNDT Ende 1945 ihren Namen gab, nahm niemand Anstoß daran. Es ist also sehr ungerecht zu behaupten, die ehemaligen STO-Arbeiter hätten sich selbst zu Deportierten „erklärt“, wie es einige Überlebende der Todeslager immer noch tun. 1946 nahm diese Polemik jedoch bereits ihren Anfang, um in den Folgejahren weiter anzuschwellen und nie ein Ende zu finden. Der Name des Verbandes wurde zum Gegenstand heftiger Kritik von Seiten einiger ehemaliger KZ-Häftlinge. Die FNDT brauchte schnell Verbündete. Die allmächtige „Confédération Générale du Travail (CGT)“ (Allgemeiner Gewerkschaftsbund), die der kommunistischen Partei nahestand, konnte nur gute Beziehungen mit dem Verband aufbauen. Der zukünftige Gründer des gegnerischen Gewerkschaftsbundes „Force Ouvrière (FO)“, Robert Bothereau, hatte sogar selbst an der Gründungsversammlung der FNDT teilgenommen. Später stand die FO 25 Jahre lang unter dem Vorsitz von André Bergeron, einem ehemaligen STOArbeiter des Jahrgangs 1922, Mitglied des Verbandes und während der Gründungsjahre sogar einige Zeit Mitglied der Führungsriege. Und welche Rolle spielte die kommunistische Partei in der ganzen Sache? Eines ist sicher: Zum Zeitpunkt ihrer Gründung wollte die FNDT unabhängig von der allmächtigen „Parti communiste français (PCF)“ (Kommunistische Partei Frankreichs) bleiben – was nicht selbstverständlich war, da die Mehrheit ihrer Mitglieder zu dieser Zeit Arbeiter waren.43 Doch Mitterrand, Beauchamp und viele andere zeigten der Partei gegenüber ein Misstrauen, das stark genug war, um eine Satellisierung und die Entwicklung des Verbandes zu einer Massenorganisation des PCF, einem Treibriemen der Partei, zu verhindern. Dies schloss jedoch ein taktisches Bündnis nicht aus. 1945 neigten 43

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zahlreiche Kommunisten dazu, die ungerechterweise als Feiglinge und Verräter angesehenen Exilarbeiter zu verachten. Sehr schnell jedoch kam es zu einem Treffen von André Laigneau und dem obersten Vorsitzenden der Partei Maurice Thorez. Letzterer versprach ihm eine immerwährende Unterstützung der Forderungen der ehemaligen STO-Arbeiter.44 Dieses Versprechen wurde gehalten, sei es bei Abstimmungen im Parlament, Regierungsgesprächen oder Feierlichkeiten. Selbst heute stehen die kommunistischen Parlamentarier und Gemeinderäte in bemerkenswerter Einigkeit noch geschlossen hinter den ehemaligen STO-Arbeitern, und es ist immer ein Vertreter der Partei bei den wichtigen Feierlichkeiten des Verbandes anwesend. Die Partei konnte es sich allerdings auch nicht leisten, sich von Arbeitern zu trennen, die doch einen nicht zu verachtenden Teil ihrer Volksbasis ausmachten. Darüber hinaus hat der Verband, so laizistisch er auch sein mag, ebenfalls die Unterstützung eines Großteils der Kirche erhalten. Man muss bis zum legendären Kapitel in der Geschichte der französischen Zwangsarbeit zurückgehen, das das Epos der Untergrundbewegung „Action Catholique“ in Deutschland darstellt. Unter dem durch die Mehrheit der Bischöfe ausgeübten moralischen Druck, aus Solidarität für ihre Kameraden im Exil oder auch um zu vermeiden, dass andere an ihrer Stelle deportiert wurden, hatten sich viele „Jocisten“ (Mitglieder der Jeunesse Ouvrière Chrétienne, dt. Christliche Arbeiterjugend) ihrer Zwangsrekrutierung nicht widersetzt oder entzogen. Ihr Leben in Deutschland jedoch beschrieben sie wie eine moderne Version der Kirche der Katakomben. Die Selbstlosigkeit, und oft auch die Opferbereitschaft entschlossener Aktivisten der Jeunesse Ouvrière Chrétienne (JOC) und der Jeunesse Etudiante Chrétienne (JEC), zum Arbeitsdienst gezwungener Seminaristen sowie die heimliche Anwesenheit Geistlicher in den Reihen der Arbeiter (sozusagen die ersten Arbeiterpriester), die aus missionarischem Antrieb und aus Solidarität gekommen waren, ermöglichten den Aufbau eines aktiven katholischen Netzwerks, das sich durch die Zwangsarbeiterlager in ganz Deutschland zog. Insgeheim konnten Messen und Beichten abgehalten werden und eine missionarische Bewegung sich entwickeln.45 Die Gestapo war jedoch wachsam, und so wurden Hunderte verhaftet und starben 44

Gespräch mit André Laigneau, 4. Juli 2006. Im Senat stellte sich am 24. November 1955 der christliche Widerstandskämpfer Edmond Michelet, Dachau-Überlebender, die Frage, warum die Kommunisten so eifrige Verfechter der Sache seien, „sie, die die deportierten Zwangsarbeiter zum Zeitpunkt der Befreiung als weniger als nichts angesehen hatten.“ 45 Charles Klein: Le Diocèse des barbelés, 1940–1947, Vorwort von J. Rodhain, Paris 1967; Markus Eikel: Die religiöse Betreuung der Französischen Zivilarbeiter in Deutschland, in: Revue d’Allemagne, XXIII, Okt.–Dez. 1991, S. 467–485; Charles Molette: „En haine de l’Evangile“. Victimes du décret de persécution nazie du 3 décembre 1943 contre l’apostolat catholique français à l’œuvre parmi les travailleurs requis en Allemagne 1943–1945, Fayard 1993. Eine kritische Sichtweise der Legende ist zu finden in: Pieter Lagrou: Mémoires patriotiques et occupation nazie. Déportés, requis et déportés en Europe occidentale 1945–1965, Bruxelles 2003, S. 142–146.

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Dutzende in den Konzentrationslagern. Später traten einige Priester und mehrere Bischöfe dem Verband bei.46 1946 führte Mgr Rodhain, nationaler Seelsorger der Gefangenen und „Deportierten“ während des Krieges, diese anlässlich einer Dankeswallfahrt, die bereits kurz vor der Befreiung geplant worden war, nach Lourdes.47 1977 entschloss sich der Verband nach einunddreißigjähriger Unterbrechung zu einer Wiederbelebung dieser Wallfahrt, einer diesmal eigenständigen Unternehmung, die der Unterstützung der Wallfahrt der ehemaligen Kriegsgefangenen nicht mehr bedurfte.48 Ziel war es, die Ehemaligen eines selben Lagers oder einer selben Region nach manchmal Jahrzehnten der Trennung wieder zusammenzuführen. Pilger aus Polen und anderen Ländern wurden ebenfalls eingeladen. Darüber hinaus hatte diese Wallfahrt für die FNDT die Funktion, Stärke zu demonstrieren. Und schließlich ging es auch darum, bei dieser Gelegenheit neue Mitglieder unter den ehemaligen Zivilarbeitern, die dem Verband bisher gleichgültig oder feindselig gegenüberstanden, zu gewinnen.49 Von diesem Tag an fand die Wallfahrt alle drei Jahre erfolgreich statt. Am 4. Oktober 1987 wurde der „Jocist“ Marcel Call als erster „Märtyrer des STO“ selig gesprochen. Aus diesem Anlass wurde eine Delegation der FNDT, in der sich auch der Kommunist André Laigneau befand, vom Papst Johan46 47

Gespräch mit Jean-Louis Forest, 2. Dezember 2004. Das Wallfahrtsvorhaben wird bereits in einem Rundschreiben Mgr Rodhains vom 18. Mai 1944 erwähnt. Dieses Schreiben wird von Charles Molette: „En haine de l’Evangile“. Victimes du décret de persécution nazie du 3 décembre 1943 contre l’apostolat catholique français à l’œuvre parmi les travailleurs requis en Allemagne 1943–1945, Fayard 1993, S. 271 zitiert. Siehe auch Pieter Lagrou: Mémoires patriotiques et occupation nazie. Déportés, requis et déportés en Europe occidentale 1945–1965, Bruxelles 2003, S. 180. 48 Archiv der FNDT, Akte „Lourdes, 1977“. Als Inspirationsquelle und Modell diente eindeutig die 4. Wallfahrt der Kriegsveteranen und -gefangenen nach Lourdes (17.–20. Juni 1975), der sich ehemalige „Arbeitsdeportierte“ angeschlossen hatten. Das Wallfahrtsprogramm der FNDT von 1977 selbst ist eine konforme Kopie des Programms der ACPG zwei Jahre zuvor. In einem Rundschreiben der Organisatoren vom 1. Oktober 1976 steht: „wir haben schon viel zu lange gezögert, zu zeigen, dass wir in der Lage sind, eine solche Wallfahrt ohne fremde Hilfe zu organisieren. […] Dies ist vielleicht die Gelegenheit, auf die zahlreiche ehemalige DT, die der FNDT und ihren Vereinigungen auf Departement-Ebene aus diversen Gründen reserviert, wenn nicht sogar feindlich gegenüberstehen, gewartet haben, um zurückzukehren.“ 49 Archiv der FNDT, Akte „Lourdes 1977“. Die Wallfahrt fand vom 17. bis 20. Juni 1977 statt. Entsprechend ihrer in der Satzung festgeschriebenen religiösen Neutralität organisiert die Vereinigung nicht selbst die Wallfahrt, sondern überträgt diese Aufgabe einem eigens dazu gegründeten Komitee. Einer der Mitglieder dieses Komitees, Léon Barral, schreibt im August 1976 in einem Bericht: „[…] diese Wallfahrt müsste uns einen starken Zulauf bescheren, dies wäre eine Möglichkeit, jene Kameraden zu erreichen, die uns ignorieren.“ In einem Rundschreiben des 1. September 1976 an die Departement-Vereinigungen umreißt Serge Renault eines der Schlüsselziele: „Diese nationale Zusammenkunft, die ein absoluter Erfolg werden muss, wird uns in dem Kampf, den wir führen, um unsere Forderungen zu verwirklichen, helfen.“ Zur Eröffnung der Wallfahrt wurden zahlreiche Journalisten und Offizielle eingeladen, unter anderem auch, jedoch vergebens, die Vorsitzenden beider Parlamentskammern.

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nes Paul II. empfangen, der selbst während des Krieges in einer Fabrik der Firma Solvay gearbeitet hatte, um der Rekrutierung zur Zwangsarbeit im Deutschen Reich zu entgehen. Der Heilige Vater sprach bei dieser Gelegenheit den Wunsch aus, dass es „nie wieder Deportationen in die Zwangsarbeit“ geben solle.50 Natürlich kommt es bisweilen vor, dass sich Mitglieder des Verbandes beschweren, der Proscrit räume der Wallfahrt nach Lourdes zuviel Platz ein: Im Allgemeinen wird ihnen geantwortet, dass es sich hier nicht allein um eine Wallfahrt der Katholiken oder der Kirche, sondern des gesamten Verbandes handle.51 Die FNDT setzte zur Durchsetzung ihrer Ziele auch auf Lobbying (und war bei weitem nicht die Einzige, die dies tat). Ihre Gegner haben ihr oftmals vorgeworfen, sich den Kampf der Politiker um die Wählergunst zunutze zu machen: Die Masse der 600 000 wahlberechtigten ehemaligen STO-Arbeiter konnte in der Tat einen gewissen Druck auf das Votum der Abgeordneten ausüben, während nur eine Handvoll ehemaliger deportierter KZ-Häftlinge übrig geblieben war. Aber warum hätte der Verband auf eine seiner wenigen einsetzbaren Waffen verzichten sollen? De facto rief der Verband jedenfalls seine Vertreter und Mitglieder vor jeder wichtigen Wahl dazu auf, den Abgeordneten oder Kandidaten zu schreiben, um diese aufzufordern zur Statusfrage Stellung zu beziehen und ihre Entscheidung im Moment der Stimmabgabe nicht zu vergessen. Es gab jedoch nie eine spezifische und erkennbare „STO-Wahl“, und kein Politiker konnte jemals behaupten, eine Wahl wegen des Verbandes gewonnen oder verloren zu haben.52 Hätte der Streit um den Status ohne die Ausdauer oder die Beharrlichkeit der Verbandsstruktur so lange gewährt? Sehr früh schon wurden kritische Stimmen laut, die den Verband beschuldigten, den ehemaligen STO-Arbeitern eingeredet zu haben, dass ihre Ehre nur von einem einzigen Wort abhinge. Will man diesen Gegnern Glauben schenken, so wären viele ehemalige Opfer, hätte man sie einzeln befragt, einverstanden gewesen, auf die Bezeichnung „déportés“ zu verzichten und der Streit wäre schnell verebbt, wäre da nicht diese sehr mächtige Struktur gewesen, die sie beeinflusste und eigensinnig auf der Statusfrage herumritt.53 Es bleibt jedem überlassen, darüber zu urteilen. 50

Arnaud Schlippi: „La Fédération Nationale des Rescapés et Victimes des Camps Nazis du Travail Forcé: histoire et combats“, in: La main-d’œuvre française exploitée par le IIIe Reich, actes du colloque de Caen, Centre de Recherche d’Histoire quantitative, Caen 2001. Eine Botschaft des Papstes wurde den Ehemaligen auch bei ihrer Wallfahrt nach Lourdes vom 10.–12. Juni 1980 vorgelesen. Archiv der FNDT, Akte „Lourdes 1980“. 51 Gespräche mit Jean-Louis Forest, 2. Dezember 2004, Jean Chaize, 6. August 2006, Lucien Cathala, 22. August 2006. 52 So enthält z. B. das Archiv der FNDT, Akte „Législatives 1973“, Briefe an die Abgeordneten und Kandidaten der Pariser Region und deren Antwortschreiben. 53 Archiv der FNDT, Akte „Journal Officiel“. Der Parlamentarier Le Basser erklärte am 15. Juni 1950 vor dem Senat: „Befragt man [die ehemaligen STO-Arbeiter] einzeln, so geben sie zu, dass ihnen das Wort ‚déporté‘ nicht behagt. Hat man es jedoch mit

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Anfänglich war es der Kontext des Kalten Krieges und später, nach 1970, die Anwesenheit an der Spitze des PCF von Georges Marchais (1920–1998), einem ehemaligen Zivilarbeiter, der beschuldigt wurde, freiwillig nach Deutschland gegangen zu sein, die den unbegründeten Eindruck erneut nährten, der Verband befände sich in der Hand der Kommunisten. Dies ermutigte die gaullistische Partei „Rassemblement du peuple français (RPF)“ unter der IV. Republik sowie die zur mächtigen „Union nationale des Associations de Déportés, Internés et Familles de Disparus (UNADIF)“ zusammengeschlossenen Vereine antikommunistischer ehemaliger Deportierter zu vehementen Attacken, die nicht frei von politischen Hintergedanken waren. Der Konflikt spitzte sich um die Bezeichnung „déporté du travail“ zu. Ein bemerkenswertes Paradox stellt die Tatsache dar, dass die breite Masse der Franzosen heute noch den Pflichtarbeitsdienst spontan mit der Persönlichkeit Georges Marchais assoziiert, einem Mann, von dem niemand sicher sagen kann, ob er freiwillig oder unter Zwang gegangen ist54, der niemals auch nur das kleinste Dokument ausfüllen wollte, um als ehemaliger STO-Arbeiter anerkannt zu werden55, der nie Mitglied des Verbandes wurde und dennoch vielleicht ungewollt für das Scheitern der Anerkennung des Deportiertenstatus verantwortlich war.56 Der Antikommunismus ist gewiss nicht die einzige Erklärung für die feindselige Haltung der Gaullisten. Diese konnten nie vergessen, dass sie nur eine Handvoll mutiger und isolierter Menschen waren, die in den düsteren Stunden von 1940 dazu bereit waren, zu einem hohen Preis einen scheinbar hoffnungslosen Kampf fortzusetzen. Dieser „gaullistische Elitismus“ (Pieter Lagrou) steht in starkem Gegensatz zum kommunistischen Bestreben, den Großteil eines Volkes, das einhellig Widerstand geleistet und/oder Opfer des Hitlerschen Faschismus gewesen sein soll, unter der Ägide des PCF zu vereinen. Dieser gaullistische Elitismus führte zu einer gewissen Verachtung der einer kollektiven Organisation zu tun, so werden die Forderungen auf sehr entschiedene, wenn nicht sogar exzessive Weise vertreten.“ Am 24. November 1955 äußerte der berühmte Widerstandskämpfer Léo Hamon ebenfalls vor dem Senat folgende kritischen Worte: „Jene, die Hunderttausenden ehrlichen Menschen eingeredet haben, dass ihre Ehre durch die Anfechtung des Deportiertenstatus in Frage gestellt werde, tragen eine schwere Verantwortung.“ Léo Hamon, linker Gaullist, der eine Schlüsselrolle bei der Sabotage des STO während der Besatzungszeit spielte, hatte am 23. Februar 1944 im Sitz des Generalkommissariats für den Pflichtarbeitsdienst 200 000 Karteikarten potentieller STO-Rekruten verbrannt. 54 Thomas Hoffnung: Georges Marchais. L’inconnu du PCF, Paris 2001. Er stellt überzeugend dar, dass nichts beweist, dass Marchais im Dezember 1942 freiwillig seiner Einberufung folgte, er jedoch zumindest in einem Punkt gelogen hat, nämlich dass er im Juni 1943 nicht aus dem Heimaturlaub zurückkehrte und zum Verweigerer wurde: es gibt keine Spur seines Aufenthalts in Frankreich aus der Zeit vor April–Mai 1945, ein Zeitpunkt, zu dem er, wie Hunderttausende andere Arbeiter wieder heimgekehrt sein muss. 55 Gespräch mit André Laigneau, 4. Juli 2006. 56 Gespräch mit Jean-Louis Forest, Juni 2005.

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breiten Masse der Zivilarbeiter: In ihren Augen hatten die STO-Arbeiter sich nicht ausreichend gegen ihre Verbringung nach Deutschland zur Wehr gesetzt, sie hatten nicht genug gelitten, ihr real Erlebtes war zu glanzlos. Bestenfalls konnten sich die Gaullisten den sozialen und finanziellen Ansprüchen der ehemaligen STO-Arbeiter, ihrer Forderung von Ausgleichszahlungen nicht widersetzen, es stand jedoch außer Frage, dass sie irgendeinen ruhmreichen Status mit ihnen teilten. Die Abgeordnete Irène de Lipkowski (1898–1989), überzeugte Links-Gaullistin und Dorn im Auge der FNDT, Witwe eines Märtyrers der Todeslager und Mutter zweier in der Schlacht gefallener Soldaten, war die Galionsfigur der FNDT-feindlichen Bewegung. 1949 zögerte sie nicht, vor der Nationalversammlung im Namen der RPF-Fraktion die Auflösung jeder Vereinigung zu fordern, die die Bezeichnung „Déportés“ im Namen trug oder diesen Status für ihre Mitglieder beanspruchte, wenn diese der Kategorie der Märtyrer der Todeslager nicht angehörten.57 Hierbei ist anzumerken, dass es damals nur um die politischen Opfer der Nazi-Lager ging und nie um die jüdischen Opfer, obgleich ihre fast völlige Exterminierung den Gegnern der Statusanerkennung, die immer bereit waren, die abgrundtiefe Differenz der Todeszahlen der politischen Deportierten und der deportierten Zwangsarbeiter hervorzuheben, ein schwerwiegendes Argument geliefert hätte. Lange Zeit waren die gaullistischen Parteien, wenn nicht einhellig, so doch mehrheitlich gegen die Anerkennung des Deportiertenstatus. Ein Wandel trat in den 60er und vor allem in den 70er Jahren ein, als einige Dutzend gaullistischer Abgeordneter, darunter auch einige ehemalige Zwangsarbeiter, sich bereiterklärten, die Forderung der STO-Arbeiter zu unterstützen.58 Auf Verbandsebene, so meint der belgische Historiker Pieter Lagrou, haben die antikommunistischen Deportierten die Statusfrage instrumentalisiert, um ihre kommunistischen Rivalen der Fédération Nationale des Déportés et Internés Résistants et Patriotes (FNDIRP) dazu zu zwingen, klar Stellung zu beziehen und so eine Spaltung der Partei herbeizuführen59 – eine Vermutung, die Annette Wieviorka jedoch nicht teilt.60 Es ist jedenfalls eine Tatsache, dass die 57

Archiv der FNDT, Akte „Journal Officiel“, die alle Parlamentsdebatten zum Status enthält. Eine Debatte, die in den Annalen festgehalten wurde, ist jene, bei der sich in den 50er Jahren Frau de Lipkowski und J.L. Forest in der Sorbonne gegenüberstanden. Erstere erinnerte daran, dass über 90% der jüdischen Deportierten und mehr als die Hälfte der politischen Deportierten ihr Leben gelassen hatten, jedoch nur 10% der „Arbeitsdeportierten“ gestorben waren. „Que voulez-vous! Nous essaierons de faire mieux la prochaine fois (…)“ (Nun gut, beim nächsten Mal versuchen wir, es besser zu machen […]), antwortete J.L. Forest. Gespräch mit Jean-Louis Forest, 2. Dezember 2004. 58 Archiv der FNDT, Akte „Interventions au Parlement 1971–1977“. Gaullistische Abgeordnete mit STO-Vergangenheit: Jean Favre, Abgeordneter-Bürgermeister von Langres, Roger Corrèze, Abgeordneter-Bürgermeister von Sallebris, Arthur Conte, Leiter des ORTF unter Georges Pompidou, usw. 59 Pieter Lagrou: Mémoires patriotiques et occupation nazie. Déportés, requis et déportés en Europe occidentale 1945–1965, Bruxelles 2003, S. 228. 60 Gespräch mit Annette Wieviorka, 2. Februar 2007.

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FNDIRP, die sich in den 60er Jahren für eine Ablehnung des Status ausgesprochen hatte, sich, als die Bevormundung durch die Partei schwächer wurde, nicht mehr den Rechtsschritten gegen die FNDT anschloss, was übrigens auch keine PCF-nahe Organisation jüdischer Überlebender tat. Die IV. Republik war die Ära der Parlamentsschlacht. Mehrfach wurde in der Nationalversammlung für die Anerkennung des Deportiertenstatus gestimmt und jedes Mal durch den Senat abgelehnt.61 Es mag unglaublich erscheinen, dass das Parlament im Herbst 1956 die Statusfrage so lange diskutierte, ohne eine Entscheidung fällen zu können, während die Suezexpedition, die Invasion Ungarns und der Höhepunkt des Algerienkrieges ihre volle Aufmerksamkeit forderten. Die Unfähigkeit der IV. Republik, eine Lösung in dieser Frage zu finden, erinnerte an zahlreiche andere Fehlleistungen der Regierung. Im Januar 1957 wies das Parlament die Untersuchung dieser Frage ab, und dies zu einem Zeitpunkt, an dem sich die Vereinigungen der STOArbeiter und der Deportierten fast geeinigt hatten. Im Mai 1958 brach die Regierung dann zusammen und die V. Republik setzte die Statusfrage nicht mehr auf die Tagesordnung. Dies war nun die Ära der Gerichtsschlacht. Trotz einiger günstiger Gerichtsurteile auf lokaler oder nationaler Ebene, kam es 1992 zur endgültigen Niederlage des Verbandes vor dem französischen Kassationsgericht.62 Ab 1982 bereits musste er seinen Namen, nach einem abschlägigen Urteil von 1979, in „Fédération des Victimes et Rescapés des Camps Nazis du Travail Forcé“ (Verband der Opfer und Überlenden der nationalsozialistischen Zwangsarbeitslager) abändern. Dies war eine bittere Niederlage. Sie stand in starkem Gegensatz zu der Leichtigkeit, mit der die belgischen ehemaligen Zwangsarbeiter bereits 1951 die offizielle Bezeichnung „travailleurs déportés“ ohne jede Anfechtung durch französischsprachige Überlebende der Konzentrationslager durchsetzten, die im Königreich als „politische Internierte“ bezeichnet wurden. In Frankreich sorgten die ehemaligen KZ-Insassen dafür, dass jede Spur des strittigen Namens, der zum Eckpfeiler der Identität der ehemaligen STO-Arbeiter geworden war, verschwand. Eine 61

Archiv der FNDT. Die Nationalversammlung entschied 1950, 1954, 1956 für die Anerkennung des Status, der jedoch jedes Mal durch den Senat abgelehnt wurde. Diese konservative Kammer war der FNDT, die zu Unrecht beschuldigt wurde, in der Hand des PCF zu sein, wohl weniger freundlich gesinnt und hatte wahrscheinlich weniger Angst vor den Stimmen der ehemaligen STO-Arbeiter, da sie über eine indirekte Wahl gewählt wurde. Mit jeder Abstimmung in der Nationalversammlung sank die Anzahl der Stimmen für die Anerkennung des Status. 62 1989–1990 erklärten drei Berufungsgerichtsurteile (Limoges, Toulouse) die Bezeichnung „Déporté du Travail“ für zulässig. Diese wurden jedoch 1992 durch das Kassationsgericht endgültig annulliert. Archiv der FNDT, Akten „Procès FNDTUNADIF“ und „Procès en Cassation 1992“. Zu den einzelnen Folgen des Feuilletons: Annette Wieviorka: „La bataille du statut“, in: La main-d’œuvre française exploitée par le IIIe Reich, actes du colloque de Caen, Centre de Recherche d’Histoire quantitative, Caen 2001, S. 617–624.

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Reihe kostspieliger lokaler Prozesse zwang die Mehrzahl der Vereinigungen auf Departement-Ebene dazu, jeglichen Bezug auf ihre „Deportation“ aus ihrem Namen und ihren Feierlichkeiten zu verbannen. Selbst Briefköpfe, die Schilder an den Eingangstüren der Büros und der Name der Lokalzeitungen mussten geändert werden.63 Die Aufschriften mussten von den Fahnen verschwinden; oftmals wurden sie, als Zeichen der Trauer oder des Protests, mit einem Stück schwarzen oder blauweißroten Stoffs abgedeckt.64 Einzig die Aufschrift auf dem Pariser Denkmal des Unbekannten Deportierten Zwangsarbeiters blieb von der Säuberung verschont, da die Mehrheit der Deportierten dessen Antastung als Frevel ansahen. Und nur einigen wenigen Vereinigungen, so z. B. der des Departement Aube oder der Seine-Maritime, gelang es, oftmals dank der persönlichen guten Beziehungen ihrer lokalen Vorsitzenden zu ehemaligen politischen Deportierten, ihren offiziellen Bezug auf die „Arbeitsdeportation“ zu wahren.65 Inzwischen sah der Verband, und dies schon seit den 80er Jahren, die Zahl seiner Mitstreiter und auch seine eigenen Kräfte schwinden. Der Tod der Mehrzahl der ehemaligen Kriegsgefangenen führte zu einer Entfremdung des Schwesterverbands, der von nun an durch Veteranen der Kolonialkriege verwaltet wurde. Das Fortschreiten der Zeit hatte natürlicherweise das Verschwinden einer zuerst langsam und später exponentiell steigenden Zahl von Mitgliedern und einen Verlust an Tatkraft zur Folge. Viele Pariser verließen nach ihrer Pensionierung die Hauptstadt in Richtung Provinz, was zu einem Ausbluten ihrer mächtigen Vereinigung und 2006 schließlich zu ihrer Auflösung führte. Auch zahlreiche andere Vereinigungen auf Departement-Ebene entschieden sich für die Selbstauflösung. In den 70er Jahren wandelte sich die traditionelle Unterstützung der STOArbeiter durch die „Parti Socialiste“ progressiv in eine gewisse neutrale und abwartende Haltung. Dies war hauptsächlich dem ehemaligen Deportierten André Boulloche, Abgeordneter-Bürgermeister von Montbéliard und früherer Minister, zuzuschreiben, dem es gelang den einflussreichen Bürgermeister von Marseille, Gaston Deferre, Vorsitzender der sozialistischen Fraktion in der Nationalversammlung, für sich zu gewinnen.66 1972 scheiterte die FNDT bei 63

Jean-Pierre Harbulot: Le Service du Travail Obligatoire. La région de Nancy face aux exigences allemandes, Nancy 2003, S. 624–651. 64 Archiv der FNDT, Akte „Voyage souvenir Berlin 1992. Dortmund 1996“. 65 Gespräch mit Guy Bellet, Vorsitzender der Vereinigung der Zwangs- und Arbeitsdeportierten der Seine-Maritime, 12. September 2006. Gespräch mit Robert Piat, ehemaliger nationaler Vorsitzender und Vorstand der Vereinigung der Zwangs- und Arbeitsdeportierten des Departement Aube, in Troyes, September 2006. 66 Archiv der FNDT, Akte „Interventions au Parlement 1971–1977“. Am 17. Dezember 1976 schreibt der General-Vizesekretär André Laigneau dem Generalsekretär Serge Renault, dass „sich unsere Beziehungen zu dieser Partei [die sozialistische Partei] nicht verbessern, sondern eher dazu neigen, sich zu verschlechtern.“ Am 2. Februar 1977 schrieb André Laigneau Herrn Mille, Vorsitzende der Vereinigung von Besançon: „Die Schwierigkeiten, die bei den PS-Gruppierungen angetroffen wurden

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dem Versuch, die Anerkennung des Deportiertenstatus als Forderung in das gemeinsame Programm der Linken aufnehmen zu lassen, auch wenn eine Zusatzklausel des Textes die Aufhebung aller Rechtsausschlüsse, eine der alten Forderungen des Verbandes, enthielt.67 1981 weckte die Wahl François Mitterrands zum Präsidenten der Republik neue Hoffnungen, die jedoch schnell von bitterer Enttäuschung und einem Gefühl des Verrats abgelöst wurden.68 Der ehemalige Beschützer unternahm nichts, um dem Verband dabei zu helfen, Genugtuung zu erhalten und empfing kein einziges Mal Jean-Louis Forest in seiner vierzehnjährigen Amtszeit.69 Nicht wenige ehemalige STO-Arbeiter hatten das Gefühl, dass Mitterand sich ihrer als Trittbrett bedient hatte, das nun schon lange nicht mehr gebraucht wurde, um persönliche Ziele zu erreichen. Obwohl er nie recht die Spezifizität der Deportation der politischen Gefangenen oder gar der Juden erfasst hat, muss man ihm zugestehen, dass der Präsident es sich wohl nicht erlauben konnte, seine Autorität für eine verlorene Sache einzusetzen, die wahrscheinlich nicht die Zustimmung der Mehrheit der politischen Klasse oder der öffentlichen Meinung gefunden hätte, während die ehemaligen KZ-Häftlinge immer wachsam blieben.

Der deutsche Ausgleich für die französischen Enttäuschungen So endete der Krieg um den Status mit einer Niederlage und, wie einige meinten, mit einer immensen Verschwendung von Geldern und Energie, die die FNDT zu sehr von ihren sozialen Aufgaben und der Gedenkarbeit abgelenkt „sind hauptsächlich auf die Feindseligkeit des Abgeordneten deines Departements André Boulloches gegenüber unserer Kriegsopferkategorie zurückzuführen, die einen entscheidenden Einfluss innerhalb dieser Gruppierungen hat.“ Am 12. Januar 1977 erläutert A. Laigneau Herrn Schamacker aus Marseille „ […] die Schwierigkeiten, auf die wir aufgrund des Widerstands Gaston Defferres und Boulloches bei der sozialistischen Fraktion bezüglich unseres Status stoßen. […] Unser Freund G. Beauchamps, mit dem ich mich diesbezüglich unterhalten habe, deutete an, dass die Situation sich positiv entwickeln könnte, wenn die Vereinigung der Bouches-du-Rhône wirksame Schritte bei Gaston Deferre unternehmen würde, dessen Haltung innerhalb der Partei, deren Vorsitzender er ist, ausschlaggebend ist. […] und jedes Mal, wenn dies möglich ist, müssen unsere Mitglieder persönlich eingreifen. […] Man darf nicht aus den Augen verlieren, dass die Einstellung dieser Partei für den Ausgang unseres Kampfes um Ehre und Anerkennung ausschlaggebend ist.“ [Unterschrift]. Siehe auch Nationalarchiv, 72 AJ 2062, Dokumente von André Boulloche, Drohbrief von Gaston Deferre an Claude Estier, 12. März 1980. 67 Archiv der FNDT, Akte „Législatives 1973“. 68 Bereits am 20. Oktober 1976, schrieb André Laigneau an Serge Renault: „Was [die Haltung] François Mitterrands anbelangt, so ist sie, gelinde gesagt, unklar.“ Siehe auch Serge Barcellini: „Les requis du STO devant la (les) mémoire(s)“, in: La main-d’œuvre française exploitée par le IIIe Reich, actes du colloque de Caen, Centre de Recherche d’Histoire quantitative, Caen 2001, S. 583–601. Sowie das Gespräch mit Jean Chaize, 6. August 2006, und mit Jean-Louis Forest, Juni 2005. 69 Gespräch mit Jean-Louis Forest, Juni 2005.

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hätten.70 Ihre Geschichte kann jedoch nicht auf die der Statusfrage reduziert werden. Ebenso wenig wie ihr Beitrag zur historischen Wahrheit als terminologisches Problem abgetan werden kann. Es wäre ungerecht, die beachtlichen sozialen Realisierungen der FNDT zu vergessen. Gleich nach der Heimkehr und in der unmittelbaren Nachkriegszeit, nutzte sie die vom Vichy-Regime hinterlassenen Bestände, um umfangreiche Schuh- und Kleidungsverteilungen zu organisieren. Als diese Bestände erschöpft waren, wandten sich zahlreiche Mitglieder vom Verband ab, der ihnen keine greifbaren materiellen Vorteile mehr brachte; das gleiche Phänomen wiederholte sich, als der erste Enthusiasmus verebbte oder als der Status von 1951 erreicht worden war. Des Weiteren hat der Verband, genau wie die ehemaligen Kriegsgefangenen, bereits 1945 eifriges Bestreben an den Tag gelegt, seinen Beitrag zum Wiederaufbau Frankreichs zu leisten. Indem er die Wiedererrichtung einiger Dörfer finanziell unterstützte, Erholungsheime für Tausende ehemaliger kranker oder konvaleszierender Zwangsarbeiter bewirtschaftete, Familien half, indem er in den 50er und 60er Jahren Feste für deren Kinder organisierte71, indem er jahrzehntelang für gegenseitige soziale Hilfe und Solidarität sorgte72, für das Recht der Opfer kämpfte, mit 60 Jahren in Rente gehen zu dürfen, oder sich, diesmal jedoch erfolglos, für die Schaffung einer offiziellen Kommission einsetzte, die die genauen pathologischen Folgen der „Arbeitsdeportation“ untersuchen sollte.73 Der Verband unterstützte ebenfalls aktiv historische Studien zum Schicksal der ehemaligen Zwangsarbeiter. Er half zahlreichen Journalisten, Studenten und Historikern, Zeitzeugen zu treffen oder Dokumente zu finden.74 Das erste französische Werk, das die Geschichte des Pflichtarbeitsdienstes umfassend beschrieb, wurde 1971 von Jacques Evrard, Mitglied der FNDT, Literaturprofessor und selbst ehemaliges Opfer der Zwangsarbeit, veröffentlicht; 70

Annette Wieviorka: „La bataille du statut“, in: La main-d’œuvre française exploitée par le IIIe Reich, actes du colloque de Caen, Centre de Recherche d’Histoire quantitative, Caen 2001, S. 617–624. 71 Archiv der FNDT, Karton mit Fotos der Pariser Vereinigung und zahlreiche Artikel in Le DT magazine, Le DT und Le Proscrit, Sprachorgane der FNDT. 72 Am 30. November 1967 wies André Laigneau den Schatzmeister Plumecocq an, in diesem Jahr 209 Hilfspakete an kranke Mitglieder zu verteilen. Archiv der FNDT. 73 Archiv der FNDT, Akten „Documentations diverses“, „Questions orales et écrites“ und „Interventions au Parlement 1971–1979“. Diese Forderungen tauchen jahrzehntelang leitmotivartig in Le DT und Le Proscrit auf. 74 Zu diesen gehörten u. a. der Journalist Jean-Pierre Vittori (Eux, les STO, Paris 1982), die deutsche Historikerin Helga Bories-Sawala, die den Aufenthalt der Zivilarbeiter in Bremen untersuchte (Franzosen im Reicheinsatz. Deportation, Zwangsarbeit, Alltag. Erfahrungen und Erinnerungen von Kriegsgefangenen und Zivilarbeitern, 3 Bände, Frankfurt a. M. 1996), Patrice Arnaud, Autor der ersten globalen Promotionsarbeit in französischer Sprache zum Alltag der Zivilarbeiter in ganz Deutschland (Les travailleurs civils français en Allemagne pendant la Seconde guerre mondiale 1940–1945: travail, vie quotidienne, accommodement, résistance et répression, Doktorarbeit (2006), Paris-I, 5 Bände) – sowie der Autor dieser Zeilen selbst.

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der Verband unterstütze tatkräftig die Lancierung seines Buchs.75 In jüngster Zeit haben einige aktive Mitglieder damit begonnen, Schulen und Gymnasien zu besuchen, um vor der jungen Generation Zeugnis abzulegen.76 Von Anfang an haben die Vereinigungen Gedenktafeln oder -stelen anbringen und errichten lassen, um die Öffentlichkeit über die Gedenkstätten der Verbrechen der Zwangsrekrutierung für den STO zu informieren.77 Eine im Jahr 2000 vom Verband erstellte Internetseite wird täglich tausendfach besucht.78 Das in letzter Zeit wiederauflebende Interesse französischer Historiker an dem Thema Zwangsarbeit hat es den Mitgliedern der ehemaligen FNDT ermöglicht, an mehreren Symposien teilzunehmen und die Beziehungen zu einer neuen Generation von Forschern auszubauen. Diese Form der späten Anerkennung kann die Verbitterung darüber, von der Öffentlichkeit vergessen worden und bei dem Versuch, öffentlich anerkannt zu werden oder schmerzliche Missverständnisse aus der Welt zu räumen, gescheitert zu sein, teilweise kompensieren. Der Verband beschränkt sich des Weiteren immer mehr auf das Gedenken an die in Deutschland gestorbenen Kameraden. Obwohl über 90 oder 95% der Zivilarbeiter überlebt haben, ist die Gedenkarbeit der FNDT in erster Linie den Toten gewidmet. Dieser Kult um die toten Kameraden ist es auch, der den Verband dazu antreibt, den Kampf um den Deportiertenstatus und die Anerkennung fortzuführen. Und ihre Anzahl rechtfertigt die materiellen und symbolischen Forderungen. Das Fundament des Gedenkens des Verbandes sind die Grabstätten der drei unbekannten Arbeitsdeportierten – in Lyon, Paris (Père-Lachaise) und Dortmund. Sehr früh schon hat sich der Verband der Versuchung der Rache, des Grolls oder der Germanophobie verschlossen79 75

Nationalarchiv, F 22 ohne Bezeichnung, aus dem Besitz von Jean Isméolari, Akte 67: Briefwechsel mit Jacques Evrard aus der Vorbereitungsphase dessen Buches La déportation des travailleurs français dans le IIIe Reich, Paris 1971. Jacques Evrard widmete seinem Pionierwerk sieben Jahre verbissener und einsamer Arbeit, ohne dass ihm seine Universität hierfür jeglichen Urlaub oder moralische bzw. finanzielle Unterstützung gewährt hätte, und ohne Zugang zu öffentlichen Archiven. Siehe auch, bezüglich der Lancierung und der Nutzung des Buches durch den Verband: Archiv der FNDT, Akte „Evrard 1972“ und „Interventions au Parlement“. Zum Beispiel den Brief von André Laigneau an Serge Renault vom 13. Juli 1972: „Zum Buch Evrards und seinem Verkauf: bestellt wurden 401 Bücher, 233 an Mitglieder verkauft, 103 anderweitig, etwa 50 verschenkt, so zum Beispiel an den Präfekten von Paris und die Bürgermeister von Saint-Denis, Montreuil, Paris XVIIe“. 76 Gespräch mit Guy Bellet, Fécamp, September 2006. 77 Serge Barcellini, „Les requis du STO devant la (les) mémoires“, in: La main-d’œuvre française exploitée par le IIIe Reich, actes du colloque de Caen, Centre de Recherche d’Histoire quantitative, Caen 2001, S. 583–601. Umfassende Rezension in Annette Wieviorka/Serge Barcellini: „Passant, souviens-toi“. Les lieux du souvenir de la Seconde Guerre mondiale en France, Paris 1995. 78 www.requis-déportés-sto.com (offizielle Homepage der FNVRCNTF). 79 Als er damals die Potsdamer Konferenz kommentierte, urteilte der Vorsitzende und Gründer der FNDT, Georges Beaucham, sehr streng über das deutsche Volk als Gan-

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und niemals aufgehört, das Band zu den Stätten des Martyriums – alle in der Bundesrepublik und der ehemaligen DDR gelegen – zu verstärken. Seit 1958 finden jeden Karfreitag Gedenkfahrten zum Mahnmal von Bittermark statt, die jedes Mal freiwillig von der Stadt Dortmund unterstützt werden.80 Noch stärker jedoch sind die Beziehungen, die der Verband zum einstigen ostdeutschen Staat aufgebaut hatte. Wer sich in das Hauptquartier des Verbandes in der Rue Saint-Marc in Paris begibt, erblickt sofort in allen Räumen Regale, die fast vom Boden bis zur Decke mit Geschenken aus Städten der ehemaligen DDR gefüllt sind. Insbesondere 1963, zwei Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer, verspürte die DDR das Bedürfnis, ihre Isolation zu verlassen. Dank der DeutschFranzösischen Gesellschaft der DDR (Deufra / Association AllemagneFrance) und wichtiger historischer Persönlichkeiten der antifaschistischen Bewegung, die in Frankreich gekämpft hatten, wie z. B. der charismatischen Franz Dahlem81 und Gerhard Leo82, oder auch Männern wie Dietmar zes, doch bleibt dies eine Ausnahme sowohl, was seine Äußerungen betrifft, als auch in der gesamten Geschichte des Verbandes: „Die deportierten Arbeiter haben das zivile Deutschland kennengelernt, ein Land der Alten, Frauen und Kinder, das ein gutes, empfindsames Deutschland hätte sein sollen. Sie trafen jedoch auf Hass, Prahlerei und Verdorbenheit. Sie könnten Verteidiger des deutschen Volkes sein, sie könnten für die Unterscheidung zwischen dem verantwortlichen und verbrecherischen Dritten Reich und einem Deutschland, das selbst Opfer war, eintreten. Dies ist jedoch nicht ihre Meinung. Es gibt, so sagen sie, tatsächlich zwei Deutschlands: ein kriminelles Deutschland und ein Deutschland der Mittäter, jedoch gibt es kein gutes Deutschland.“ (Libres, Sprachorgan des MNPGD, 26. Juli 1945). 80 Archiv der FNDT, „Pèlerinage“. Siehe auch Elisabeth Tillmann: Zum „Reichseinsatz“ nach Dortmund / Destination Dortmund au service du IIIe Reich 1943–1945, Dortmund 1995. Menschen aus 17 Nationen wurden an Karfreitag 1945 in Dortmund von der Gestapo ermordet. An der Dortmunder Gedenkstätte erinnert eine zweisprachige Tafel daran, dass „dieses Mahnmal unter Beteiligung des Französischen Verbandes der Zwangs- und Arbeitsdeportierten [avec la participation de la Fédération Nationale des Déportés du Travail de France] von der Stadt Dortmund zum Gedenken an ihre Kameraden, Opfer ihres Patriotismus, errichtet wurde.“ 81 Franz Dahlem (1892–1981), Vorsitzender der Deutsch-Französischen Gesellschaft, wurde in Deutsch-Lothrigen geboren. Als Mitglied der kommunistischen Partei und Abgeordneter suchte er 1933 in Frankreich Zuflucht. Er beteiligte sich am spanischen Freiheitskampf, wurde 1940 in Frankreich interniert und durch Vichy ausgeliefert. Er überlebte die Todeslager, wurde Minister der DDR-Regierung und vertrat hierbei eine liberale Linie. Nach der Niederschlagung des Ostberliner Aufstandes (17. Juni 1953), den er sich zu verleumden weigerte, wurde er aus dem ZK und der SED ausgeschlossen. Nach seiner Rehabilitation im Jahre 1955 wurde er 1968 zum stellvertretenden Minister für das Hochschulwesen ernannt und scheint als möglicher Präsident der DDR gegolten zu haben. 82 Gerhard Leo (1923 geboren), dessen Vater als Anwalt vor 1933 gegen Goebbels prozessiert hatte, war Widerstandskämpfer im französischen Maquis. Jean-Louis Forest lernte ihn als Journalisten in Paris kennen und erinnert sich an ihn als einen außergewöhnlichen und sehr aktiven Mann, der bei der Annäherung zwischen Ostdeutschland und Frankreich eine Schlüsselrolle gespielt hat. Siehe sein Buch Un Allemand dans la Résistance. Un train pour Toulouse, Paris 1999, Vorwort von Gilles Perrault.

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Heyne83, konnte der ostdeutsche Staat seine Beziehungen zur FNDT als strategisches Werkzeug nutzen, um sein Image in Frankreich aufzuwerten, und letztendlich die diplomatische Anerkennung zu erreichen – ein Vorhaben, das die Wiederaufnahme der Gedenkfahrten nach Großbeeren und Brandenburg im Jahre 1965 um einiges erleichterte. Die ehemaligen Zwangsarbeiter waren von den üblichen umfangreichen Formalitäten befreit und konnten unter Vorlage eines einfachen Personalausweises in die DDR einreisen; ein Großteil der Reise- und Aufenthaltskosten wurde von der DeutschFranzösischen Gesellschaft übernommen. Sie wurden mit allen Ehren und offiziellem Pomp empfangen; die DDR-Zeitungen veröffentlichten lange Artikel über ihren Aufenthalt und ihre Feierlichkeiten. Im Gegenzug schwärmten die Franzosen bei ihrer Rückkehr in der Verbandszeitung und bei Konferenzen oder Treffen der lokalen Vereinigungen in den höchsten Tönen von ihrer Gedenkfahrt, dem freundschaftlichen Empfang, den sie erfahren hatten oder dem angenehmen Leben in der DDR.84 Dies ist auch der Grund, warum die immense Publicity, die dieser Gedenkfahrt zuteil wurde, sie, trotz der verhältnismäßig geringen Zahl ehemaliger STO-Arbeiter, die daran teilnahmen (im Durchschnitt etwa hundert Personen), landesweit zu einem Vereinigungsfaktor für die gedenkenden Zwangsarbeiter werden ließ. Es kam auch vor, dass andere ehemalige Zivilarbeiter, allein oder in kleinen Gruppen, in die beiden deutschen Staaten zurückkehrten, um die Orte, an denen sie gezwungen worden waren zu leben, zu arbeiten und oftmals zu leiden, wiederzusehen.85 83

Der Schriftsteller Dietmar Heyne, seit 1954 Mitglied der SED, tritt 1963 der Deutsch-Französischen Gesellschaft bei und wird zu ihrem Sekretär. 1973 wurde sie, nach der gegenseitigen Anerkennung der beiden deutschen Staaten, in „Association RDA-France“ umgetauft. 84 Archiv der FNDT, „Pèlerinage Brandenburg 1967“ und „Voyages d’Etudes RDA années 1970“. Am 22. September 1967, schreibt André Laigneau nach seiner Rückkehr von der dritten Gedenkfahrt in die DDR Dietmar Heyne diese Zeilen: „Für einige war die DDR eine Entdeckung und das Bild, mit dem sie zurückkehrten, war ein ganz anderes als das, das sie sich vor der Wallfahrt gemacht hatten. Andere, die bereits zum zweiten oder dritten Mal ihr Land besuchten, hat diese Reise in ihrer Überzeugung bestärkt, dass der Weg, den die DDR eingeschlagen hat, tatsächlich der des sozialen Fortschritts, der Demokratie und des Friedens ist. […] Das im Hotel Deutschland unter der Mitwirkung des Vorstandes Ihrer Gesellschaft [Deutsch-Französische] organisierte Forum hat, obwohl es für meinen Geschmack zu kurz war, dazu beigetragen, einige politische, soziale und wirtschaftliche Aspekte Ihres Landes zu beleuchten. Dies war eine ausgezeichnete Erfahrung, die nächstes Jahr wiederholt werden sollte. […] Seien Sie versichert, geschätzter Freund, dass diese 3. Gedenkfahrt in den kommenden Wochen und Monaten Gegenstand zahlreicher Kommentare in ganz Frankreich sein wird. […] Es liegt klar auf der Hand, dass dies nur dazu beitragen kann, der Allgemeinheit das wahre Gesicht Ihres Landes zu offenbaren und einer Normalisierung der Beziehungen zwischen Frankreich und der DDR dienlich sein kann, die, dies ist der Wunsch unseres Verbandes, in einer Annerkennung ihres Landes Gestalt annehmen sollte.“ [Unterschrift]. 85 Einige Beispiele nennt Jean-Pierre Harbulot: Le Service du Travail Obligatoire. La région de Nancy face aux exigences allemandes, Nancy 2003, S. 650.

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Einige Mitglieder des Verbandes setzten sich ganz offen für die Anerkennung der DDR durch Frankreich ein.86 So verglich Le DT eines Tages die große Bedeutung der diplomatischen Anerkennung der DDR mit der, die die Anerkennung des Deportiertenstatus für die FNDT habe.87 Im Hintergrund war der Einfluss des Kalten Krieges immer wieder zu spüren. André Laigneau vermied es zum Beispiel lange, nach Dortmund zu fahren.88 Lange Zeit auch, zumindest bis zum Beginn der 70er Jahre oder sogar noch nach dem Wideraufflammen des Kalten Krieges im Jahre 1979 kam es immer wieder dazu, dass die Vertreter der DDR in ihren Reden Westdeutschland, das als Nachfolger des Dritten Reiches angeprangert und für die internationalen Spannungen verantwortlich gemacht wurde, angriffen und im Gegensatz dazu die in der DDR herrschende wahre „Sozialdemokratie“ als einzigen Weg, ein Wiederaufleben des Nationalsozialismus zu verhindern, anpriesen.89 Den Verband erfüllte es aber auch mit Stolz, zu einer Annäherung beider deutscher Staaten beigetragen zu haben. 1967 kam die erste offizielle Delegation der DDR, der es erlaubt war, nach Frankreich zu reisen, nach Angers, um dem XXII. Nationalkongress des Verbandes beizuwohnen. Eine westdeutsche Delegation war ebenfalls anwesend. Die Organisatoren mussten einen regelrechten Eiertanz aufführen, um jegliche Konflikte zu vermeiden, doch verlief letztendlich alles ohne Zwischenfälle.90 Nach 1970 hatte die Gedenkfahrt jedes zweite Jahr Ostdeutschland und in den übrigen Jahren Westdeutschland zum Ziel. In den Jahren, in denen keine gemeinsame Gedenkfahrt in die DDR stattfand, wurde eine Delegation von 10 bis 12 Personen aus dem Vorstand der FNDT zu einer Studienreise in die DDR eingeladen, bei der den Teilnehmern alles Erdenkliche gezeigt wurde, nur nicht die Realität – es kam natürlich nicht in Frage heikle Themen wie das sich verschärfende, von der Regierung verschuldete wirtschaftliche Desaster, die Mauer oder die Stasi zu besprechen.91 Die Gedenkfahrten haben, trotz der politischen Veränderungen, bis in die heutige Zeit überlebt und auch heute werden die Gedenkenden noch mit offenen Armen empfangen. 86

Gespräch mit Jean Chaize, 15. Januar 2007. Am 20. September 1966 schrieb A. Laigneau an D. Heyne: „Viele von ihnen [aus der DDR zurückgekehrte Teilnehmer der Gedenkfahrt] werden, davon bin ich überzeugt, zu ausgezeichneten Vorantreibern der Anerkennung ihres Landes werden.“ Archiv der FNDT, „Pèlerinage Brandenburg 1967“. 87 Archiv der FNDT, Presseausschnitte 1972, in der Akte „Voyages d’Etudes RDA années 1970“. 88 Gespräch mit Jean Chaize, 15. Januar 2007. 89 Archiv der FNDT, „Voyages d’Etudes RDA années 1970“. 90 Archiv der FNDT, „Pèlerinage Brandenburg 1967“, Dokumente zum Empfang der DDR-Delegation, die sich aus Dietmar Heyne, Gerhardt Leo, Frau Franz Dahlem und einem Elektriker zusammensetzte. Die FNDT schrieb dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten und dem Ministerium der Kriegsveteranen und Kriegsopfer sowie den Vertretern der ehemaligen STO-Arbeiter im Parlament, um sicherzustellen, dass die Delegierten ein Visum erhielten. Briefe von Serge Renault an André Laigneau, 7. April 1967. Gespräch mit Jean-Louis Forest, Februar 2007. 91 Archiv der FNDT, „Voyages d’Etudes RDA années 1970“.

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Wenn sie ihren Platz im nationalen Gedächtnis auch noch nicht so recht gefunden haben (weder als reine Helden, Verräter oder Opfer), so können die ehemaligen Zwangarbeiter doch, dank ihrer deutschen und internationalen Beziehungen, stolz darauf sein, als Vorreiter an der europäischen Versöhnung mitgewirkt zu haben. Darüber hinaus hat sich die deutsche Geschichtsschreibung, sowohl im Osten als auch im Westen, schon sehr früh für das Problem der Zwangsarbeit interessiert, und dies weit mehr als es in Frankreich der Fall war. Robert Piat, nationaler Vorsitzender von 2001 bis 2006 und guter Germanist, unterhält, abgesehen von den Kontakten zu Studenten und Historikern, die das Thema Zwangsarbeit untersuchen, Beziehungen zu 26 deutschen Städten und Universitäten.92 Des Weiteren wurde das Bewusstsein des internationalen Ausmaßes der Zwangsarbeit unter dem Nationalsozialismus seit dem Ende der 80er Jahre durch das Auftauchen neuer Schwesterverbände, zuerst in den Niederlanden, dann in Polen und nach der Auflösung des kommunistischen Blocks auch im Osten verstärkt. Beziehungen wurden geknüpft, gegenseitige Einladungen zu Kongressen oder zur Wallfahrt nach Lourdes wahrgenommen. Dies ermöglichte auch eine Wiederbelebung der ehemaligen, 1945 gegründeten Confédération Internationale des „Travailleurs Déportés“ (Internationaler Dachverband der Arbeitsdeportierten), deren erster Vorsitzender Georges Beauchamp93, gefolgt von Jean-Louis Forest, gewesen war.94 Auch heute noch werden, nach der Selbstauflösung fast aller anderen Verbände, persönliche und informelle Beziehungen unterhalten. Eine gewisse Verbitterung bleibt jedoch, so zum Beispiel als Deutschland – im Gegensatz zu Österreich – den ehemaligen STO-Arbeitern vor kurzem jegliche Schadensersatzzahlung unter dem Vorwand verweigerte, dass sie von ihrem eigenen Staat ins Dritte Reich geschickt worden seien und nicht mehr zu erleiden hatten als die deutsche Zivilbevölkerung, die den gleichen kriegsbedingten Lebensbedingungen ausgesetzt war. Ehemalige Opfer, die nur einige Monate in Österreich geblieben waren, bevor sie die Flucht ergriffen, wurden entschädigt, während andere, die mehr als zwei Jahre auf der falschen Seite der Donau gelitten hatten, nichts erhielten.95 Dies ist umso paradoxer, wenn man 92

Gespräch mit Robert Piat, September 2006. Bei einem Kongress auf Departementebene im Jahre 1995 stellte Robert Piat sehr richtig fest: „Die Deutschen beschäftigen sich derzeit sehr mit unserem Schicksal und führen tiefgehende Archivuntersuchungen durch […]. Wir genießen in Deutschland mehr Ansehen und Achtung als in Frankreich!“ Archiv der FNDT, Akte „Berlin Dortmund 1992“. 93 Die erste internationale Konferenz der Arbeitsdeportierten fand vom 12. bis 16. Februar 1946 statt. Beim nationalen Kongress von Dijon im Jahre 1954 behauptete Georges Beauchamp, wohl mit einiger Übertreibung, der europäische Dachverband zähle 3 500 000 Mitglieder. Er erinnerte zudem seine Zuhörerschaft daran, dass er bei deren Prozessen persönlich gegen Pétain, Laval und Sauckel ausgesagt hatte. 94 Am 28. März 1997 zum Beispiel hielt J.L. Forest vor dem Mahnmal von Bittermark in Dortmund eine Rede im Namen des Internationalen Dachverbands, der „Belgier, Holländer, Polen, Tschechen und Franzosen“ umfasste. „Die Nacht der Lager hat uns zu Brüdern gemacht“. 95 Gespräch mit Lucien Cathala, 22. August 2006.

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bedenkt, dass Österreich zu jener Zeit als unabhängiger Staat nicht mehr existierte. Mit der Ablehnung der Schadensersatzleistungen wie mit der streitigen Statusfrage, büßen die ehemaligen französischen Zwangsarbeiter heute noch gegen ihren Willen für die traurige Tatsache, als einzige in Europa aufgrund der Gesetze ihres eigenen Staates in das deutsche Reich geschickt worden zu sein. Ist die Geschichte des Verbandes die eines Scheiterns, wie einige Verbandsgenossen und Vorstandsmitglieder es denken? Gewiss ist es ihm nicht gelungen den ersehnten Deportiertenstatus zu erhalten, die Mauer der allgemeinen Gleichgültigkeit, des Schweigens, der Unwissenheit oder der Verachtung einzureißen, die die Bevölkerung und einige ehemalige Deportierte ihnen als Kriegsopfer und Opfer des Vichy-Regimes entgegensetzen.96 Zu bewundern ist jedoch die Ausdauer der ehemaligen Zivilarbeiter im Kampf für ihre Rechte, ihr Wille bis zum Ende geeint zu bleiben („wir werden gemeinsam alt werden“97). Ein aktuelles Projekt sieht vor, den Verband nach dem Tode der letzten Überlebenden durch einen Verein zu ersetzen, der von ihren Kindern geführt werden soll, damit die Erinnerung an die Zwangsarbeit nicht mit ihnen stirbt.98 Keine Niederlage, kein Fehler kann verhindern, dass ihre Geschichte menschlich gesehen eine sehr starke Erfahrung war und eine wirkliche Brüderlichkeit sie einte. Post-Skriptum (2009): Gegen Ende 2008 gelang es Jean Chaize, der seit 2006 Präsident des Verbandes ist, mit der französischen Regierung und den ehemaligen politischen Deportierten einen endgültigen Kompromiss zu schließen. Den Zwangsarbeitern wurde ein festgelegter Titel zugewiesen: „Victimes du travail forcé en Allemagne nazie“ („Opfer der Zwangsarbeit im NaziDeutschland“). Die noch lebenden ehemaligen Zwangsarbeiter haben schließlich auch ihren offiziellen Ausweis erhalten. Dessen Ausgabe war bereits 1951 beschlossen worden, zur Umsetzung war es jedoch bisher aufgrund der Auseinandersetzung um die offizielle Bezeichnung nicht gekommen. Jean Chaize, der als Zwangsarbeiter in Stettin gewesen war, gehörte 1945 zu den Gründervätern der Fédération, wurde aber erst 1992 in das „Comité fédéral“ gewählt. Während der vergangenen 60 Jahre hielt er sich bei den Diskussionen zurück und konnte seine Mitstreiter schließlich zu dem Kompromiss bewegen. Trotz der Niederlage bezüglich des offiziellen Titels, konnten die seit Kriegsende anhaltenden Auseinandersetzungen so endlich beendet werden und die Fédération kam aus der „Sackgasse“ heraus. 96

Trotz ihrer großen Anzahl haben die ehemaligen Zwangsarbeiter wie in einem Ghetto gelebt, so J.L. Forest – Gespräch, 2. Dezember 2004. Dieser „Ghettokomplex“ hilft ihnen dabei, ihr ganzes Leben Angriffen und Verachtung vereint zu widerstehen. 97 Le Proscrit, Juni–Oktober 2005. 98 Im Juni 2007 nahm das Projekt als Association pour la mémoire de la Déportation du Travail (Verein des Gedenkens an die Arbeitsdeportation) Gestalt an, die insbesondere nach dem Tode der letzten Überlebenden die offizielle Internetseite pflegen und die Ehre und das Andenken der Opfer der Zwangsrekrutierung aufrechterhalten soll. Am 3. Oktober 2007 wurde er offiziell gegründet.

Constantin Goschler

Kommentar Neben die umfassende Erforschung der nationalsozialistischen Zwangsarbeit selbst ist in den letzten Jahren zunehmend die Beschäftigung mit ihrer Nachgeschichte nach 1945 getreten. Zu dieser Auseinandersetzung mit der „zweiten Geschichte“ der NS-Zwangsarbeit gehören auch die Beiträge von Joachim Rumpf, Cord Pagenstecher und Raphael Spina, welche ihren Gegenstand jeweils unter einem unterschiedlichen geographischen, zeitlichen und thematischen Fokus betrachten: Während sich die ersten beiden Artikel auf die Bundesrepublik beziehen, eröffnet der dritte Beitrag eine Vergleichsperspektive auf Frankreich. In der Reihenfolge der Beiträge liegt der inhaltliche Schwerpunkt erstens auf dem Problem der Entschädigung, zweitens der Erinnerung sowie drittens der Anerkennung. Gemeinsam ist allen drei Beiträgen, dass sie mit der Darstellung ihres jeweiligen Untersuchungsgegenstandes auch eine normative Tendenz verbinden, das heißt, eine Aussage darüber, wie die von ihnen gezeichneten Verhältnisse eigentlich sein sollten: Joachim Rumpf kritisiert die Anwendung des Verjährungsprinzips auf die Lohnforderungen der deutschen Zwangsarbeiter. Cord Pagenstecher erhebt implizit die Forderung, dass die Zwangsarbeit ein zentrales Element der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus sein sollte. Und Raphael Spina unterstützt schließlich den Kampf französischer Zwangsarbeiter um die Anerkennung ihres Opferstatus emphatisch als ein Beispiel universalistischer Brüderlichkeit. Die folgenden knappen Bemerkungen dienen daher dem Zweck, einige Grundlinien dieser Beiträge nochmals hervorzuheben und ihr weiteres Fragenpotential zu erörtern sowie schließlich auch deren normativen Grundlagen stärker zu explizieren und auf diese Weise zur Diskussion zu stellen. Joachim Rumpf arbeitet in seinem Beitrag die juristische Logik der Abweisung der Klagen ehemaliger Zwangsarbeiter deutscher Nationalität präzise heraus. Im Mittelpunkt steht dabei die Durchsetzung des Verjährungsprinzips auf deren Lohnforderungen. Hieran lassen sich wenigstens dreierlei Bemerkungen anschließen. Erstens: Rumpf konzentriert sich in seiner Darstellung auf die kleine Minderheit unter den Zwangsarbeitern, die in den 1950er Jahren überhaupt in der Lage war, individuelle zivilrechtliche Ansprüche vor deutschen Gerichten vorzutragen, nämlich die deutschen KZ-Zwangsarbeiter. Hier handelt es sich in doppelter Hinsicht um einen Ausnahmefall. Denn erstens waren bekanntlich die meisten Zwangsarbeiter Ausländer und zweitens bildeten KZ-Häftlinge quantitativ nur eine relativ kleine Gruppe im Millionenheer der Zwangsarbeiter der deutschen Kriegswirtschaft. Während die Ansprüche der ausländischen Zwangsarbeiter aber wegen der Blockadewirkung des Londoner Schuldenabkommens gewissermaßen zu früh gestellt

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wurden – solange der Friedensvertragsvorbehalt noch griff –, wurden die zivilrechtlichen Ansprüche der deutschen Zwangsarbeiter in der Regel als verspätet abgelehnt, da hier die Verjährungsfristen eine zentrale Rolle spielten. Anders als die ausländischen Zwangsarbeiter besaßen die deutschen Zwangsarbeiter zudem auch auf Freiheitsentzug und Gesundheitsschäden gegründete Ansprüche nach dem Bundesentschädigungsgesetz. Mit verschiedenen Einschränkungen galt dies auch für diejenigen ausländischen Zwangsarbeiter, die nach Kriegsende zu Displaced Persons wurden. Der Versuch deutscher Unternehmen, 1955 im Zuge einer Novellierung des BEG die darüber hinausgehenden zivilrechtlichen Ansprüche auf Lohn und Schadensersatz auszuschließen, scheiterte trotz der Unterstützung des Bundesfinanzministeriums für diesen Versuch, eine Art von gesetzlicher Generalabsolution für die von solchen Forderungen betroffenen Unternehmen zu erlangen. Hier ließe sich noch intensiver erörtern, wie sich in den geschilderten Fällen das Verhältnis von zivilrechtlichen Klagen zu öffentlich-rechtlichen Wiedergutmachungsansprüchen verhielt. Und wie trugen die geschilderten zivilrechtlichen Prozesse zur öffentlichen Wahrnehmung von Zwangsarbeit bei? Wurden die ehemaligen Zwangsarbeiter durch die jeweilige Form der juristischen Auseinandersetzung als NS-Verfolgte oder sozusagen als Arbeiter zweiter Klasse wahrgenommen? Es geht also darum präziser zu bestimmen, in welchem Ausmaß die juristischen Konsequenzen der nationalsozialistischen Zwangsarbeit als Folge von Terror oder eines Tarifkonflikts bewertet wurden. Auf diese Weise wird die rechtliche Auseinandersetzung um die Folgen der Zwangsarbeit zugleich zu einem privilegierten Zugang in die Geschichte der veränderlichen Interpretationen des Nationalsozialismus seit 1945. Eine zweite Beobachtung schließt daran an, dass Rumpf die Anwendung der Verjährung auf Lohnforderungen vor allem innerhalb der juristischen Binnenlogik kritisiert. Demgegenüber wäre hier zusätzlich auch nach den politischen Dimensionen dieser juristischen Praxis angesichts der Lohnforderungen der Zwangsarbeiter zu fragen. Wie waren also die politischen Rahmenbedingungen dieser Verfahren beschaffen? Welche Akteure übten hier Einfluss aus? Joachim Rumpf liefert hier mit dem Hinweis auf das Bundesfinanzministerium ein wichtiges Beispiel. Welche Rolle spielte die deutsche beziehungsweise auch die internationale Öffentlichkeit? Welche Veränderungen lassen sich dabei beobachten und welche Ursachen lassen sich dafür benennen? Kurz gesagt, war die Begründung der Ablehnung von Lohnforderungen der Zwangsarbeiter unter Berufung auf die Verjährung ihrer Ansprüche also ein politisches oder ein juristisches Argument – beziehungsweise ein politisches, das sich lediglich juristisch gebärdete? Drittens wirft die Argumentation Joachim Rumpfs aber auch das grundsätzliche Problem des Sinns und Unsinns der Verjährung im Zusammenhang historischen Unrechts auf. In den letzten beiden Jahrzehnten ließ sich in dieser Hinsicht ein erstaunlicher Wandel feststellen. Seit den 1990er Jahren stieg weltweit die Akzeptanz für die Forderung, dass historisches Unrecht auch

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nach Jahrzehnten oder sogar nach Jahrhunderten entschädigt werden sollte. Im engen Zusammenhang mit Entschädigungsklagen für Zwangsarbeit stehen so aktuelle Reparationsforderungen, die etwa auf die langfristigen Folgen der Sklaverei im Kontext der kolonialistischen Expansion Europas zielen. Rumpf schließt mit seiner Argumentation an diese Entwicklung an beziehungsweise setzt deren Ergebnisse gewissermaßen voraus. Dagegen müssten diese alles andere als selbstverständlichen Veränderungen überhaupt erst erklärt werden. Die Auseinandersetzung um die Entschädigung der Zwangsarbeiter könnte eine besonders geeignete Sonde zur Erklärung dieses Wandels moralischer und juristischer Selbstverständlichkeiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sein. Cord Pagenstecher stellt in seinem Beitrag dagegen die vielfältigen Versuche dar, die Zwangsarbeit in Deutschland zu einem Teil der historischen Erinnerung an den Nationalsozialismus zu gestalten. Auffällig ist der große Anteil zivilgesellschaftlicher und lokaler Initiativen. Dem steht, wie er mit Bezug auf die Arbeit der sogenannten Sabrow-Kommission erwähnt, jüngst die Forderung nach stärkerer Professionalisierung und damit einhergehend auch nach Bündelung und Zentralisierung der Gedenkstättenlandschaft entgegen. Dieser Forderung stimmt er im Prinzip zu, formuliert aber gleichzeitig eine Reihe von Ansprüchen, die bei einer derartigen Neugestaltung der Erinnerungslandschaft erfüllt sein müssten. Im Anschluss an diese Überlegungen Cord Pagenstechers ergeben sich gleichfalls einige Fragen: Erstens stellt sich angesichts der zahlreichen Orte und Aktionen, mit deren Hilfe die Zwangsarbeit mittlerweile in die bundesdeutsche Erinnerungslandschaft eingeschrieben wurde, die Frage nach der Aneignung: Von wem und auf welche Weise werden all diese Ausstellungen, Denkmäler, Internetseiten und so weiter rezipiert? Was lässt sich gegebenenfalls über die Folgen der Aneignung solcher Erinnerungsorte sagen? Kurz: Für wen sind diese Erinnerungsorte eigentlich da, und welchen Zweck erfüllen sie in der Praxis der Erinnerungskultur? Zweitens, wie verhalten sich solche Erinnerungsorte zur Forderung nach materieller Entschädigung von Zwangsarbeitern? Inwieweit dienen diese also der Unterstützung von Entschädigungsforderungen? Und inwieweit können solche Erinnerungsorte ein Element der Anerkennung beinhalten, welche eine materielle Entschädigung ergänzen kann? Umgekehrt lässt sich auch fragen, inwieweit sich die Memorialisierung auch als Gegenstrategie zur Monetarisierung der Zwangsarbeiterentschädigung verstehen lässt. Kurz: Wie unterscheiden sich im Spannungsfeld von Erinnerung und Entschädigung die Erwartungen innerhalb der deutschen Gesellschaft beziehungsweise den professionellen entrepreneurs of memory einerseits und den ehemaligen Zwangsarbeitern andererseits? Dies ist nicht zuletzt deshalb von Bedeutung, weil die Bedürfnisse beider Seiten sowohl im Hinblick auf die erinnerungskulturellen als auch auf die materiellen Aspekte oftmals divergieren. So scheint sich gegenwärtig in der Frage der Zwangsarbeiterentschädigung eine Tendenz anzu-

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deuten, wonach den materiellen Klagen der Zwangsarbeiter von den Beklagten mehr und mehr symbolische Gesten entgegengesetzt werden, da diese ein geringeres Potential im Hinblick auf mögliche juristische Folgewirkungen besitzen. Das jüngste Beispiel dafür liefern die aktuellen Auseinandersetzungen um die Entschädigungsansprüche der Italienischen Militärinternierten: Die italienische Regierung stellt sich so den jüngsten juristischen Erfolgen dieser Gruppe vor italienischen Zivilgerichten, welche den Grundsatz der Staatenimmunität eingedenk der faschistischen Politik auf dem Balkan, in Libyen und Äthiopien in einer potentiell auch für italienische Interessen nachteiligen Weise in Frage stellen, mit der alternativen Forderung nach Errichtung einer Gedenkstätte oder einem Museum der Erinnerung entgegen.1 Schließlich lässt sich im Anschluss an Cord Pagenstecher auch fragen, wo sich der gegenwärtige Platz der Zwangsarbeiter in der deutschen Erinnerungslandschaft befindet. Wie verändert sich dieser im Zusammenhang der gegenwärtigen Neukartierung der deutschen Erinnerungslandschaft an den Zweiten Weltkrieg? Droht hier etwa eine neue Opferkonkurrenz zwischen Zwangsarbeitern der deutschen Kriegswirtschaft und deutschen Zwangsarbeitern nach 1945? Kurz: Welche Rolle spielt es für die Erinnerungskultur, dass Zwangsarbeit zunehmend nicht mehr allein als spezifisch nationalsozialistisches Phänomen, sondern als universales Phänomen von Hitler über Stalin bis Mao und so weiter begriffen wird? Hier wäre auch eine vergleichende Perspektive auf die ambivalenten Folgen der Universalisierung der Holocaust-Erinnerung in den letzten Jahren interessant. Die Auseinandersetzung in Deutschland um die Zwangsarbeit war zumindest in den ersten Jahren vor allem auf die KZ-Zwangsarbeiter konzentriert, und damit standen sowohl die jüdischen Entschädigungsansprüche als auch die jüdische Erinnerung im Vordergrund. Demgegenüber spielten diese in Frankreich im Zusammenhang der Diskussion der Zwangsarbeit keine Rolle. Dort besaßen auch – anders als in der deutschen Gesellschaft – organisatorische Zusammenschlüsse ehemaliger Zwangsarbeiter große Bedeutung. Raphael Spina beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Bedeutung der Fédération Nationale des Déportés du Travail und ihren seit 1945 andauernden Versuchen, in der französischen kollektiven Erinnerung gleichberechtigt mit den Helden des Widerstands und den Opfern des NS-Terrors anerkannt zu werden. Hierbei ging es nicht zuletzt darum, sich von dem dieser Gruppe latent anhängenden Makel des Kollaborationsverdachts zu befreien, während zugleich verschiedene Gruppen von Betroffenen des Zweiten Weltkrieges und der NS-Verfolgung um die knappe Ressource Anerkennung konkurrierten. Die Zwangsarbeiter dienten, so lässt sich vermuten, gewissermaßen als ein Sündenbock für das Problem der Kollaboration, welches die französische Gesellschaft insgesamt betraf und nach 1945 in verschiedenen Formen der 1

“Italiens Außenminister Fratini. ‚Wir brauchen eine symbolische Geste‘“, in: Süddeutsche Zeitung vom 19. 6. 2008.

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Auseinandersetzung thematisiert wurde.2 Inwieweit wurde hier also versucht, ein gesamtgesellschaftliches Problem auf eine spezielle Gruppe abzuwälzen und damit zu externalisieren? Und in welcher Weise war die FNDP in den Wandel der französischen Sicht auf den Zweiten Weltkrieg und das Problem der Kollaboration eingebunden, das in der Auseinandersetzung um die Bewertung Vichy-Frankreichs kulminierte? Dies steht auch im Zusammenhang mit der allmählichen Wandlung von der die „Kämpfer“ privilegierenden Heldenerinnerung der Nachkriegszeit zu der opferzentrierten Erinnerung, die seit den 1970er Jahren mit der Ablösung universalistischer Narrative einsetzte.3 Auch hier stellt sich die Frage nach den Wechselwirkungen dieses die gesamte westliche Welt erfassenden Prozesses mit dem jahrzehntelangen Kampf der FNDP um Gleichstellung mit anderen französischen Verfolgtengruppen. Raphael Spinas Ausführungen legen nahe, dass die FNDP sich nicht so sehr vom Universalismus der Heldenerinnerung auf den Partikularismus der Opfererinnerung zubewegte, sondern eher den Universalismus der Völkerverständigung als eine Perspektive erkannte, welcher ihr die ersehnte Anerkennung einbringen würde. Dies führt zu einer zweiten Überlegung: Inwieweit führte, zumindest bis 1989/90, gerade die selbstgewählte Rolle als Motor der Völkerverständigung und der Überwindung der Folgen des Zweiten Weltkrieges dazu, dass die FNDP zu einem Akteur des Kalten Krieges wurde? Es scheint so, dass hier eine Art von Gabentausch stattfand: Einerseits genoss die FNDP vor allem die Anerkennung, die ihr und ihren Mitgliedern von Seiten der DDR zuteil wurde, von der sie gewissermaßen ehrenhalber in das antifaschistische Heldenkollektiv aufgenommen wurde. Andererseits nutzte die DDR die internationale Anerkennung, welche ihr durch die Kontakte mit der FNDP zuteil wurde. Dies verhalf ihr nicht zuletzt auch dazu, der Kritik angesichts der beharrlichen Ablehnung der Wiedergutmachungsforderungen jüdischer NSVerfolgter aus dem Ausland an die DDR etwas entgegensetzen zu können. Es stellt sich so die Frage, inwieweit die eigene Völkerverständigungsrhetorik sowie das Bedürfnis nach Anerkennung die FNDP im Umgang mit dem SED-Staat gegen eine kritische Wahrnehmung des DDR-Antifaschismus immunisierten. Freilich wären sie damit im Zweifelsfall in guter Gesellschaft gewesen, traf dies doch gelegentlich auch auf die Repräsentanten internationaler jüdischer Organisationen zu.4 2

Siehe hierzu vor allem Henry Rousso: Vichy, un passé qui ne passe pas, Paris 1994; Le syndrome de Vichy. 1944 à nos jours, 2. überarbeitete Aufl. 1990; La hantisse du passé, Paris 1998. 3 Pieter Lagrou: The legacy of Nazi occupation. Patriotic memory and national recovery in Western Europe, Cambridge 2000. 4 Gemeint ist der Präsident des jüdischen Weltkongresses Edgar Bronfmann, der sich im Oktober 1988 von Erich Honecker mit dem „Großen Stern der Völkerfreundschaft“ dekorieren ließ. Siehe Angelika Timm: Hammer, Zirkel, Davidstern: Das gestörte Verhältnis der DDR zu Zionismus und Staat Israel, Bonn 1997, S. 301.

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Ein letzter Punkt betrifft schließlich eine Vergleichsperspektive mit dem auf die Erinnerungskultur in der Bundesrepublik zielenden Beitrag Cord Pagenstechers: Auch bei Raphael Spina geht es zuletzt um die Frage der Zukunft der Erinnerung, die eng mit dem Übergang von der Erlebnisgeneration zur Generation der Nachgeborenen verbunden ist. Die FNDP reagiert auf diesen Vorgang, so Spina, mit Überlegungen, die Kinder der französischen Zwangsarbeiter zu den Trägern einer Nachfolgeorganisation und damit zugleich auch der Erinnerung zu machen. Damit werden Formen der transgenerationellen Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus kopiert, welche ihr Vorbild in der Konstruktion der „second generation“ des Holocaust als einer neuen mittelbaren Opfergruppe besitzt. Daran lassen sich abschließend einige Nachfragen knüpfen, um auch die mögliche Problematik einer solchen Entwicklung zu thematisieren. Denn Forderungen nach Bewahrung der Erinnerung konkurrieren gelegentlich mit kritischen Einwänden gegen eine übermächtige Erinnerungskultur. Letztere zielen vor allem auf die potentielle oder tatsächliche identitätspolitische Funktionalisierung des intergenerationell institutionalisierten Opferstatus, als dessen Instrument sich in den letzten Jahren nicht zuletzt der explodierende Traumadiskurs erwiesen hat.5 Alle drei Beiträge schlagen sich in dieser Auseinandersetzung auf die Seite derer, welche dafür plädieren, die Geschichte der Zwangsarbeit – und damit des Nationalsozialismus – im juristischen Sinne, im Sinne der Erinnerung, aber auch im Sinne der Anerkennung des Leidens offen zu halten. Das ist – um zu der eingangs festgestellten normativen Dimension dieser Auseinandersetzung zurückzukehren – eine legitime Position. Legitimerweise lässt sich aber auch nach den Konsequenzen einer solchen Position fragen. Gewiss steht es niemandem zu, die Ansprüche und die Erinnerung der Überlebenden selbst in irgendeiner Weise zu beschneiden. Das Dilemma stellt sich jedoch mit dem schon angesprochen Übergang von der Generation der Überlebenden zur Generation der Nachlebenden. Die transgenerationelle Verlängerung der Forderung nach Entschädigung, Erinnerung und Anerkennung in die Zukunft enthält gewiss prinzipiell ein aufklärerisches Potential, doch zeigen sich dabei auch Ambivalenzen. Was als Überwindung historischer Konflikte gemeint sein kann, führt am Ende schlimmstenfalls dazu, diese in die Zukunft 5

Siehe zu dieser Debatte Ian Buruma: Olympiade des Leidens. Globalisierung der Vergangenheitspolitik: Die Minderheiten der Welt fordern die Anerkennung ihrer historischen Unterdrückung, in: FAZ vom 6. 1. 1999; ders.: The Joys and Perils of Victimhood, in: New York Review of Books vom 8. 4. 1999; Daniel Levy/Natan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt a. M. 2001; John Torpey: „Making Whole What Has Been Smashed“: Reflections on Reparations, in: The Journal of Modern History 73 (2001), S. 333–358; Elazar Barkan: Völker klagen an. Eine neue internationale Moral, Düsseldorf 2002; Constantin Goschler: Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, 2. durchgesehene Aufl., Göttingen 2008, S. 488–494.

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hineinzutragen, und Ähnliches gilt für die identitätspolitische Aufladung solcher Forderungen. Damit soll die Berechtigung der hier implizit oder explizit vertretenen normativen Grundannahmen nicht bestritten werden – ohnehin fällt dies aus dem Kompetenzbereich des Historikers hinaus. Vielmehr gilt es, die Selbstverständlichkeit solcher Grundannahmen kritisch zu beleuchten, um so den möglichen Umschlag eines gut gemeinten aufklärerischen Willens in eine schlechte geschichtspolitische Praxis zu erschweren.