Rosenzweig als Leser: Kontextuelle Kommentare Zum »Stern Der Erlösung« [Reprint 2013 ed.] 348465144X, 9783484651449

Der Stern der Erlösung (1921) von Franz Rosenzweig (1886-1929) gehört zu den großen systematischen Werken der Philosophi

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Rosenzweig als Leser: Kontextuelle Kommentare Zum »Stern Der Erlösung« [Reprint 2013 ed.]
 348465144X, 9783484651449

Table of contents :
Einleitung
The Shaping of Rosenzweig’s Identity According to the Gritli Letters
Franz Rosenzweig: Deuter von Krieg, Politik und philosophisch-theologischer Entwicklung. Haupttendenzen im Zweistromland
Zur Entstehungsgeschichte des Stern der Erlösung
Hans Ehrenbergs Einfluß auf die Entstehung des Stern der Erlösung
Der Stern der Erlösung als Kommentar: Rudolf Ehrenberg und Franz Rosenzweig
Rosenstock und Rosenzweig über Sprache. Die Angewandte Seelenkunde im Stern der Erlösung
Franz Rosenzweig. Die Herausforderung zu einer neuen Zukunft
Auf der Spur Augustins. Confessiones und De civitate Dei als Quellen des Stern der Erlösung
Die Philosophie Immanuel Kants im Stern der Erlösung. Ein Kommentar
Auf Schellings Spuren im Stern der Erlösung
Nietzsche im Stern der Erlösung
Hermann Cohen im Stern der Erlösung
Zur Phänomenologie der jüdischen Liturgie in Rosenzweigs Stern der Erlösung. Ein Versuch über das Schweigen mit Husserl
Leben im Angesicht des Todes. Zum Verständnis des Todes im Stern der Erlösung
»Gesetz« in The Star of Redemption
Schöpfung der Welt und Grammatik der Sprache. Zum Verhältnis von philosophischem Gedanken und biblischem Text im Stern der Erlösung
Die Offenbarung Gottes und des Menschen aus den Quellen des Judentums. Eine Studie zu Rosenzweigs Stern der Erlösung
Das Hohelied – ein weltliches Liebeslied als Kembuch der Offenbarung? Zur Bedeutung der Auslegungsgeschichte von Schir haSchirim im Stern der Erlösung
Tracing Rosenzweig’s Literary Sources – Psalm 115
A Reading of Psalm 90 in Light of Franz Rosenzweig’s Notion of Time
›Transition‹, ›Threshold‹ and ›Gate‹ in Star of Redemption
Selbständige Anlehnung. Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung als Kommentar ohne Text
Übersetzung als Kommentar
Gesamtkunstwerk und Weltendrama. Die Opemästhetik Richard Wagners als Vorbild für die Komposition des Stern der Erlösung
Autoren des Bandes
Indices
Sachregister
Personen- und Werkregister
Stellenregister zu den Schriften Franz Rosenzweigs und zu religiösen Werken
Ortsregister
Danksagung

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Conditio Judaica

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Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Hans Otto Horch in Verbindung mit Alfred Bodenheimer, Mark H. Gelber und Jakob Hessing

Rosenzweig als Leser Kontextuelle Kommentare zum »Stern der Erlösung«

Herausgegeben von Martin Brasser

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2004

Publiziert mit Unterstützung des Forschungsfonds der Universität Luzern und des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-65144-X

ISSN 0941-5866

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2004 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Einband: Nädele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren

Inhalt

Martin Brasser Einleitung

1

Rivka Horwitz The Shaping of Rosenzweig's Identity According to the Gritli Letters

11

Clemens Thoma Franz Rosenzweig: Deuter von Krieg, Politik und philosophisch-theologischer Entwicklung. Haupttendenzen im Zweistromland

43

Reinhold Mayer Zur Entstehungsgeschichte des Stern der Erlösung

53

Wolfdietrich Schmied-Kowarzik Hans Ehrenbergs Einfluß auf die Entstehung des Stern der Erlösung

71

Heinz-Jürgen Görtz Der Stern der Erlösung als Kommentar: Rudolf Ehrenberg und Franz Rosenzweig

119

Martin Brasser Rosenstock und Rosenzweig über Sprache. Die Angewandte Seelenkunde im Stern der Erlösung

173

Bernhard Casper Franz Rosenzweig. Die Herausforderung zu einer neuen Zukunft

209

Francesco Paolo Ciglia Auf der Spur Augustins. Confessiones und De civitate Dei als Quellen des Stern der Erlösung

223

VI

Inhalt

Jörg Disse Die Philosophie Immanuel Kants im Stern der Erlösung. Ein Kommentar

245

Myriam Bienenstock Auf Schellings Spuren im Stern der Erlösung

273

Cordula Hufnagel Nietzsche im Stern der Erlösung

291

Pierfrancesco Fiorato / Hartwig Wiedebach Hermann Cohen im Stern der Erlösung

305

Almut Sh. Bruckstein Zur Phänomenologie der jüdischen Liturgie in Rosenzweigs Stern der Erlösung. Ein Versuch über das Schweigen mit Husserl

357

Inken Rühle Leben im Angesicht des Todes. Zum Verständnis des Todes im Stern der Erlösung

369

Robert Gibbs »Gesetz« in The Star of Redemption

395

Hans-Christoph Askani Schöpfung der Welt und Grammatik der Sprache. Zum Verhältnis von philosophischem Gedanken und biblischem Text im Stern der Erlösung

411

Yehoyada Amir Die Offenbarung Gottes und des Menschen aus den Quellen des Judentums. Eine Studie zu Rosenzweigs Stern der Erlösung

429

Inken Rühle Das Hohelied - ein weltliches Liebeslied als Kernbuch der Offenbarung? Zur Bedeutung der Auslegungsgeschichte von Schir haSchirim im Stern der Erlösung

453

Norbert M. Samuelson Tracing Rosenzweig's Literary Sources - Psalm 115

481

Joseph Turner A Reading of Psalm 90 in Light of Franz Rosenzweig's Notion of Time ... 499

Inhalt

VII

Ephraim Meir >TransitionThreshold< and >Gate< m Star of Redemption

509

Gesine Palmer Selbständige Anlehnung. Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung als Kommentar ohne Text

521

Alexander P. J. van Ligten Übersetzung als Kommentar

535

Christoph Nöthlings Gesamtkunstwerk und Weltendrama. Die Opernästhetik Richard Wagners als Vorbild für die Komposition des Stern der Erlösung

545

Autoren des Bandes

585

Indices Sachregister Personen- und Werkregister Stellenregister zu den Schriften Franz Rosenzweigs und zu religiösen Werken Ortsregister

591 591 599

Danksagung

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Das kluge Kind »Kannst du einen Stern anrühren«, fragt man es. »Ja«, sagt es, neigt sich und berührt die Erde. (Hugo von Hofmannsthal)

Martin Brasser

Einleitung

Der »Stern der Erlösung« ist nicht vom Himmel gefallen. Es gibt eine Geschichte seiner Entstehung. Je nach Interessenlage beginnt sie am Abend des 21. August 1918 oder am 25. Dezember 1886 oder aber noch früher, mit der Abfassung der Bücher der Bibel - allen voran des Hohen Liedes der Liebe und bestimmter Texte der Philosophie. Am Abend des 21. August 1918 kommen Franz Rosenzweig die Gedanken »gleich in breiter Mannigfaltigkeit«.1 Die Niederschrift des Sterns der Erlösung1 beginnt. Ordnung kommt in diese Mannigfaltigkeit durch »eine eigene Methode« (GB 127; Brief vom 23. August 1918). Mit ihrer Hilfe gelingt Rosenzweig die Einbindung der Gedanken in die Strukturlogik des Stern. Sie leitet die Praxis der Verschriftlichung der andrängenden Gedanken. Die Komposition des Stern ist »plötzlich dagewesen und seitdem sitze ich unter einer Dusche von Gedanken«. 3 Jetzt müssen sie in die Form eines Textes gebracht werden. Die Systematik der Abfolge der einzelnen Gedankenschritte im Gesamtaufbau des Textes sieht Rosenzweig vor sich im Bild eines Sterns. Sie steht ihm einmal klarer, einmal verworrener,4 in den zentralen Zuordnungen jedoch immer unverändert vor Augen. 5 Die Einfalle drängen mit unterschiedlicher Intensität 1

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Franz Rosenzweig: Die »Gritli«-Briefe. Briefe an Margrit Rosenstock-Huessy. Hg. von Inken Rühle und Reinhold Mayer. Mit einem Vorwort von Rafael Rosenzweig. Tübingen: Bilam-Verlag 2002, Brief vom 22. August 1918, S. 124. - Im folgenden zitiert mit der Sigle GB und zugehöriger Seitenzahl. Vgl. auch die elektronische (und leicht umfangreichere) Version dieser Briefe von Michael Gormann-Thelen unter: http://home.debitel.net/user/gormann-thelen/fund.htm. Im folgenden wird »Stern der Erlösung« mit »Stern« abgekürzt. Franz Rosenzweig: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften. Bd 1 : Briefe und Tagebücher. Hg. von Rachel Rosenzweig und Edith Rosenzweig-Scheinmann. Den Haag: Nijhoff 1979 Bd 1: Briefe und Tagebücher. Hg. von Rachel Rosenzweig und Edith Rosenzweig-Scheinmann. 2Bde, Den Haag: Nijhoff 1979, Brief an Rudi Ehrenberg vom 4. September 1918 S. 603. - Im folgenden zitiert mit der Sigle BT und zugehöriger Seitenzahl. Vgl. z. B. GB 159, Brief vom 4. Oktober 1918: »Also ich sah den Stern und merkwürdigerweise drehte er sich um sich selbst und darin war alles was ich noch zu schreiben habe, zu sehn.« Vgl. die verschiedenen Gliederungsentwürfe für den Stern in GB 138f. und BT 604 bzw. 608. Im Lauf des weiteren Schreibprozesses sind dann neben leichten terminologischen Änderungen nur die drei Übergangskapitel »Übergang«, »Schwelle« und »Tor« neu hinzu gekommen.

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Martin Brasser

aus ihm hervor - stets aber »kommt alles ganz ungesucht. Fast alles wenigstens« (GB 167, Brief vom 10. Oktober 1018). Rosenzweig schreibt in einer Art Einkapselung gegenüber seiner unmittelbaren Umwelt, die vom deutschösterreichischen Zusammenbruch beherrscht ist, so als tauchte er für die Momente des Schreibens in eine andere Welt ein, zu der es von der aktuell ihn umgebenden keinen direkten Zugriff gibt6 - und doch schreibt er, als spräche er das zu Schreibende zu einem unmittelbar gegenwärtigen Gesprächspartner. Er antwortet schreibend auf eine Stimme. Und diese »Stimme reißt scheinbar nicht ab« (GB 176, Brief vom 1. November 1918). In seinem »schreibenden Gespräch« fühlt sich Rosenzweig gelegentlich beschwingt »wie in einem leichten Champagnerrausch« (GB 227; Brief vom 1. Januar 1919). Doch wie jeder Rausch ist auch dieser nicht ohne Katerstimmung zu haben.7 Im Auf und Ab wechselnder Gemütslagen entsteht Seite für Seite des Stern. Rosenzweig bahnt sich nicht erst im Akt des Schreibens selbst seinen Weg durch die Gedankenfülle. Er beginnt gleich mit der Einleitung (vgl. GB 137, Brief vom 31. August 1918). Sie ist Ende August fertig - zumindest in ihrem ersten Entwurf. Er schreibt ihn von der mazedonischen Front auf dem Dub bei Prilep auf Postkarten8 und schickt diese an seine Mutter in Kassel, die sie sammeln und schließlich zur maschinenschriftlichen Abschrift weiterleiten soll.9 Schon vier Wochen nach dem Beginn des Schreibens befindet sich Rosenzweig auf dem Rückzug hinter die Frontlinie nach Üsküb, Ende des Monats im Lazarett in Belgrad und Ende Oktober, sechs Wochen nach Beginn der Niederschrift, ist er mit seiner Truppe wieder in der Heimatkaserne in Freiburg i. Br. Dort bezieht er am 2. November 1918 ein Privatzimmer am Münsterplatz, in dem er einen Monat bleibt. Anfang Dezember fährt er mit einem kleinen Umweg über Bad Säckingen nach Kassel ins Elternhaus. Er verbringt in Kassel volle zwei Monate und schreibt auch dort am Stern weiter. Erst am 30. Januar 1919 kommt er wieder zurück nach Freiburg, wo er mit anhaltender Intensität am Text des Stern arbeitet. Das Schlußkapitel des Stern »Tor« verfaßt er am Schreibtisch von Margrit Rosenstock-Huessy in deren Elternhaus in Bad Säckingen. Am 16. Februar 1919 schreibt er ihr: »Und ich habe Tor fertig.« (GB 239) Die kreative Phase der Entstehung des Textes, die Abfassung seiner ersten Version, ist damit zu Ende. Die folgende Zeit bis zum Erscheinen des Buches zwei Jahre später im Februar 192110 ist zunächst der Überarbeitung des Manu6 7

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Vgl. z. B. BT 633, Brief an Mawrik Kahn vom 5. Januar 1919. Vgl. z. B. GB 154, Brief vom 30. September 1918: »Was ich geschrieben habe, gefällt mir nicht, und das Weiterschreiben womit ich vorgestern so sachte wieder anfing, geschieht ohne rechte Zuversicht.« Eine dieser Feldpostkarten ist einsehbar unter: http://divinity.library.vanderbilt.edu/ rosenzw/postcard.html. Vgl. BT 615, Brief vom 29. Oktober 1918. Vgl. GB 724, Brief vom 04. Februar 1921. Die Erstausgabe erschien bei Kaufmann in Frankfurt, weitere Ausgaben in Berlin (1930), in Heidelberg (1954), Den Haag (1976) und wieder Frankfurt (1988). Die vorläufig letzte Station der Publikations-

Einleitung

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skripts und schließlich verlagstechnischen und verlegerischen Fragen gewidmet. Das Jahr 1919 über ist Rosenzweig intensiv mit der Arbeit am Text des Stern beschäftigt, übrigens seit dem Frühjahr zeitgleich mit der Korrekturarbeit an seiner Dissertation Hegel und der Staat, die er in erweiterter Form ebenfalls zum Druck vorbereitet. Die Überarbeitung der ersten Niederschrift des Stern hatte Rosenzweig bereits Ende Oktober fest in seinen Arbeitsrhythmus mit eingeplant. Sie zieht sich bis in den Sommer 1919 hinein. Ende Juni 1919 etwa will er »an III 2 zu korrigieren anfangen« (GB 344, Brief vom 24.Juni 1919). Sein Diener Mündel wird sein Sekretär. Er sollte bis dahin mit der maschinenschriftlichen Abschrift von »Tor« und damit mit der Abschrift sämtlicher handschriftlichen Vorlagen zu Ende gekommen sein - insgesamt ca. 750 Seiten. 11 Mitte 1919 liegt schließlich das vollständige Typoskript des Stern vor. Was jetzt noch zur Endgestalt des Textes fehlt, sind die weiteren Korrekturarbeiten, die Rosenzweig selber vornimmt. Diese Korrekturen, die Rosenzweig auch als »Änderungen« (GB 364, Brief vom 24. Juli 1919) bezeichnet, sind am 1. August 1919 abgeschlossen. Rosenzweig schreibt an diesem Tag: »III 3 und Tor sind durchkorrigiert.« (GB 371) Rosenzweig und Mündel machen, soweit man dies dem Briefwechsel Rosenzweigs entnehmen kann, den Eindruck eines eingespielten Teams. Anfang Oktober 1918, wenige Wochen nach Beginn der Niederschrift, schreibt Rosenzweig, während er in Freiburg auf die Entlassung aus dem Militärdienst wartet, - meist in den frühen Morgenstunden 12 - am Text des Stern, zu diesem Zeitpunkt an dessen zweitem Teil. Unmittelbar nach der ersten handschriftlichen Niederschrift der Gedanken hatte er die Reinschrift des Textes noch selber besorgt. Jetzt, in Freiburg, kümmert er sich intensiv um die Umsetzung seines Plans, der ihn von der zeitraubenden Abschrift des Rohtextes frei machen soll. Seine handschriftliche Textversion will Rosenzweig Mündel in die Schreibmaschine diktieren. Da Mündel aber offensichtlich wenig Mühe mit dem Lesen von Rosenzweigs Handschrift hat, einigen sie sich schnell darauf, daß Mündel die Handschrift direkt typographiert. Um bei der Entzifferung schwer lesbarer Worte doch mithelfen zu können, sitzt Rosenzweig, wenn er in Freiburg ist, abends oft mit Mündel zusammen - Mündel tippt aus der Handschrift, und Rosenzweig korrigiert die Typoskripte: Zunächst wollen wir es so versuchen, daß er [sc. Mündel, M. B.] das Unreine abschreibt und ich bin dabei und springe bei unleserlichen Stellen helfend ein; geht das, so ist es mir natürlich am liebsten so, ich könnte dann gleichzeitig etwas für mich tun, etwa korrigieren. (GB 172f.; Brief vom 28. Oktoberl918)

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geschichte ist die Freischaltung der elektronischen Version auf dem Dokumentenserver der Universitätsbibliothek Freiburg i. Br. am 21. Januar 2002, erreichbar unter: http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/310/. Vgl. die Rechnung in GB 376, Brief vom 5. August 1919. Vgl. z. B. GB 163, Brief vom 6. Oktober 1918 oder BT 615, Brief an die Mutter vom 29. Oktober 1918.

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Martin Brasser

Wie weit Rosenzweig bei dieser Phase des Wiederlesens nochmals in die Textgestalt eingegriffen hat, wissen wir nicht. Es liegt zwar nahe zu vermuten, daß in dieser Phase der Textentstehung noch etliche Ergänzungen, Abänderungen und Neugestaltungen vorgenommen worden sind. Die Tatsache, daß Rosenzweig in den zeitgleich geschriebenen Gritli-Briefen viel von der Niederschrift, aber wenig über Korrekturen und Umgestaltungen spricht, hinterläßt hingegen eher den Eindruck einer druckreifen Erstformulierung. 13 Aber schon von der Einleitung wissen wir, daß Rosenzweig sie am Weihnachtstag 1918 noch einmal einer grundlegenden Überarbeitung unterzogen hat: [...] ich habe die neuen Anfangsseiten zur Einl. I fertig geschrieben; es sind wohl 6 Seiten Maschinenschrift und glaube ich gerade richtig, präludierend, aufregend und nichts vorwegnehmend. Sie handeln von der Todesangst und nebenher auch vom Selbstmord; ob sich die bisherige Einl. dann glatt anschließt, kann ich nicht wissen, weil ich sie ja nicht hier habe. (GB 203f.; Brief vom 24. Dezember 1918)

Hier wäre auch der redaktionelle Ort, an dem Rosenzweig all die eigenen Notizen und Entwürfe aus den Studienjahren zuvor in den Text hätte einfließen lassen können, die ihm in den ersten Wochen des Schreibens an der Front und während des Rückzugs noch nicht, zurück in Freiburg und dann in Kassel aber wieder zur Verfugung gestanden hatten. Er selbst spricht jedenfalls in der Phase, in der die Arbeit an den Typoskripten zum Abschluß gelangt, vom Text des Stern »in sämtlichen Exemplaren nebst allen Entwürfen und Notizen« (GB 360, Brief vom 2. Juli 1919) - so, als gäbe es nicht nur eine einzige Textschicht. Von einer größeren Einarbeitung, die Rosenzweig erst Mitte August 1919, also lange nach Fertigstellung von »Tor«, vornimmt, wissen wir hingegen mit Sicherheit. Rosenzweig fügte drei Einschübe in den ersten Teil des Stern ein: »die asiatischen Einlagen in I« (GB 383, Briefe vom 13. und 14. August 1919). Rosenzweig hatte Mitte Juli begonnen, sich gezielt mit diesem Thema zu befassen. Am 24. Juli 1919 schreibt er: »ich lese für Indien und China« (GB 364). Seiner alten Gewohnheit folgend, dürfte er sich beim Lesen »Entwürfe und Notizen« gemacht haben. Diese Aufzeichnungen übernimmt er dann nicht mechanisch in den Stern. Vielmehr trägt er sie wie alle Gedanken, aus denen der Text des Stern herauswächst, solange in sich aus, bis sie von selber »austreiben«: Ich spüre fast körperlich die Gedanken in mir wachsen und sich verzweigen, und spüre wie immer wieder aus den gleichen Wurzeln die Säfte in neue Zweige steigen. Das ist ein Gefühl, um das es sich schon allein lohnte zu leben. (GB 144, Brief vom 4. September 1918)

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Aus einem Abgleich der im Nachlaß von Nahum Glatzer befindlichen Handschriften mit den Typoskripten des Stern (eine Bestandesliste ist einsehbar unter http:// divinity.library.vanderbilt.edu/glatzer/rosedocsrev.html) müßte man auf diese Fragen schon erste Antworten geben können, die dann zumindest für das dort vorliegende Textmaterial Aussagen erlauben würden.

Einleitung

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Die Entstehung des Textes des Stern gehorcht also einerseits der Logik einer genialisch-eruptiven Kreativität und andererseits der Logik der akribischen und wiederholten Überarbeitung durch kritische Selbstlektüre. Aus ihrem Wechselspiel entsteht der Text des Stern. Die Abfassung der ersten handschriftlichen Textform dauert vom 21. August 1918 bis zum 16. Februar 1919. Die Abschrift der Handschrift ins Typoskript dauert von Ende Oktober 1918 bis zum Juni 1919. In diese Zeit fällt auch Rosenzweigs eigene Überarbeitung des Typoskripts. Der Text des Stern liegt frühestens Mitte August 1919 in seiner druckreifen Form vor. In den Monaten der Typoskriptkorrektur sehen wir Rosenzweig als Leser deijenigen Gedanken, die zuvor aus ihm herausgesprudelt sind und die er in das Gefäß von Sätzen und Aussagen zu einem stringenten System zusammenfügen mußte. Er selbst schätzt diese Arbeit nicht: Ich denke ja an keine Leser; noch nicht einmal an mich selbst als Leser. Es ist mir nur lästig, das Geschriebene zum Abschreiben noch einmal lesen zu müssen, während ich das sonst gem tat. (GB 171, Brief vom 19. Oktober 1918)

Diesen Lese- und Überarbeitungsvorgang würden wir heute besser verstehen können, wenn er besser dokumentiert wäre: mit »allen Entwürfen und Notizen«, die Rosenzweig in der Zeit der Abfassung eventuell bei sich hatte, vor allem aber mit »sämtlichen Exemplaren« (GB 360), d. h. mit den Handschriften Rosenzweigs und den Typoskripten Mündels und den wahrscheinlich darin enthaltenen Anmerkungen der Leserinnen und Leser aus Rosenzweigs Freundeskreis. Dabei ist der mit der Auswertung verschiedener »Exemplare«, »Entwürfe« und »Notizen« verbundene Auftrag an die philologisch interessierte Nachwelt Rosenzweigs nur eine von mehreren Konsequenzen, die man aus der beschriebenen komplexen Situation der Textentstehung ziehen muß. In ihr liegt noch eine zweite Konsequenz: der Text ist das Ergebnis des geistigen Austausche und der Zwiesprache mit Menschen und Texten, die für Rosenzweigs Denkweg insgesamt bestimmend waren. Sie sitzen gewissermaßen überall mit dabei und fuhren Rede und Gegenrede, wo immer der Text gerade niedergeschrieben oder wiedergelesen wird - auf dem Lazarettposten an der Front, auf der Soldatenstube, in der Bahnhofshalle, im Abteil des fahrenden Zuges, im Pensionszimmer, im Freiburger Wirtshaus »Geist«, im Esszimmer des Hauses Terrasse 1 in Kassel oder am Schreibtisch von Margrit Rosenstock-Huessy. Diese Menschen und Texte bilden zusammen gewissermaßen »die Stimme«, auf die Rosenzweig bei der Niederschrift und beim Korrigieren des Textes des Stern antwortet. Seine ihm im Denken nahe stehenden Freunde bezieht Rosenzweig bewußt in die Textentstehung mit ein. Der wechselseitige Ideenaustausch bis hin zur Unentscheidbarkeit der genauen Urheberschaft gehörte schon immer zu den Merkmalen der Lebens- und zum Teil auch Liebesgemeinschaft zwischen Franz Rosenzweig, Hans und Rudi Ehrenberg, Eugen und Margrit RosenstockHuessy. Zu einem etwas weiteren Kreis gehörte für Rosenzweig auch Gertrud

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Oppenheim 1 4 und etliche andere, von denen wir in den Briefen und Aufzeichnungen Rosenzweigs mehr oder weniger deutliche Spuren finden. Alle haben ihre j e eigene und besondere Nähe zum Inhalt des Stern, zu dessen Argumentation und zu dessen mehr oder weniger ausdrücklicher Selbstpositionierung. Mit einzelnen steht Rosenzweig während der Monate, in denen er kreativ und redaktionell den Text des Stern erarbeitet, in persönlichem Austausch. Oft geht Rosenzweig zum Beispiel von der Niederschrift des Stern unmittelbar zur Abfassung eines Briefes an Margrit Rosenstock-Huessy über (und umgekehrt). Er resümiert hier, was er dort gefunden hat, und reflektiert dort, was er hier lebendig spürt: »ich [...] lege mein Notizbuch offen neben den Briefblock« (GB 128, Brief vom 24. August 1918). Diese Briefe sind meist zugleich auch Briefe an den mitlesenden Eugen Rosenstock und enthalten in ihrer Antwort Impulse, die thematisch weit in die Themen des Stern hineinreichen. Rudi Ehrenberg erhält wie die Rosenstocks 1 5 Teile des Typoskripts zum Gegenlesen zugesandt. 16 Bei den persönlichen Begegnungen während des Jahres der Arbeit am Stern mit Rudi Ehrenberg dürfte es kaum zu vermeiden gewesen sein, daß sich beide über den Inhalt des Stern ausgetauscht haben. Hans Ehrenberg schließlich liest Rosenzweig am Weihnachtstag 1918 aus seinen eigenen Entwürfen vor, Rosenzweig ihm wiederum »die neuen Anfangsseiten der Einl. I« (GB 205, Brief vom 25. Dezember 1918), 17 »wo dann Hans selber auch die Verwandtschaft merkte.« Dies sind wichtige, wenngleich längst nicht alle Einflüsse, die auf Rosenzweig einwirken, als er sich in der Phase der redaktionellen Überarbeitung oder auch schon in deqenigen der kreativen Erstniederschrift des Stern befindet. Zum Einfluß durch persönlichen Austausch kommt der Einfluß durch Lektüre hinzu. Einen Text seines Lehrers Hermann Cohen will Rosenzweig noch im Februar 1919 lesen und »dann dabei [...] sehen, was ich noch vergessen habe und sonst ändern muß« (GB 207, Brief vom 29. Dezember 1918). Nimmt man Rosenzweigs eigenes Wort von »allen Entwürfen und Notizen« ernst, dann weitet sich der Horizont der »Stimme«, die Rosenzweig beim Abfassen des Stern zu hören vermeint, auch über den Kreis dieser »direkten« Beeinflussung hinaus auf alles aus, was sich Rosenzweig in seinen langen und intensiven Lektüren notiert und entworfen hat. In dieser Stimme, die ihn zum Schreiben anhält, sprechen dann auch all die großen Texte der Philosophiegeschichte mit, mit denen Rosenzweig sich in seinen Studienjahren zum Teil sehr intensiv beschäftigt hat. Programmatisch bringt Rosenzweig seine Bezugnahme auf die philosophische Tradition im Stern auf den Punkt: »Nur Nietzsche (und Kant) lasse ich am Leben!« (BT 599, Brief an Gertrud Oppenheim vom 27. August 1918). Bei genauer Lektüre des Stern kann man Näheres und 14 15 16 17

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

z. B. BT 628, Brief vom 4. Mai 1919. z. B. GB 178, Brief vom 1. November 1918. GB 218, Brief vom 11. Januar 1919; auch GB 274, Brief vom 6. Juni 1919. auch BT 606, Brief an Hans Ehrenberg vom 8. September 1918.

Einleitung

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Genaueres darüber in Erfahrung bringen, wie die Quellen, die Rosenzweig »am Leben läßt«, überleben und wie und woran diejenigen sterben, die den Stern nicht überleben. In der Stimme, die zu Rosenzweig spricht, sind schließlich auch religiöse Texte zu vernehmen, also Texte der Bibel, die Rosenzweig trotz assimilierten Elternhauses schon als kleiner Junge im Unterricht bei Izchak Prager in Kassel in sich aufgenommen hat, und Texte der jüdischen Gebetswelt, die Rosenzweig noch während der Abfassung des Stern im Januar 1919 liest: »ich lese [...] in dem Gebetbuch das ich aus Warschau mitbrachte.« (GB 218, Brief vom 11. Januar 1919) Summarisch hält Rosenzweig schon nach wenigen Wochen des Schreibens am Stern fest: »Es steckt eigentlich alles darin, was in mir steckt, also natürlich auch alle Einflüsse auf mich.« (BT 604, Brief an Rudi Ehrenberg vom 4. September 1918) Diese Einflüsse werden ihm zum Teil schon am Tag seiner Geburt, am 25. Dezember 1886, mit in die Wiege gelegt. Dabei streiten sich in Rosenzweig wie in vielen Juden des Deutschen Reiches die deutsche mit der jüdischen Seele praktisch zeitlebens. Der Stern ist die zentrale Etappe, in der sich für Rosenzweig die Vorzeichen ändern und die ihn immer mehr ins Judentum fuhrt. Die »eigene Methode« (GB 127, Brief vom 23. August 1918), der Rosenzweig bei der Abfassung des Stern folgt, leitet die Umsetzung der Einflüsse dieser vielfältigen und unterschiedlichen Quellen in den Text des Stern. Bei der Rezeption dieser Quellen ist Rosenzweig ein intensiver, genauer, thematisch sehr vielseitiger und kritischer Leser. Das Material verdichtet und transformiert er zum Text des Stern, wobei »es [...] ganz bestimmte Gesetze [gibt], nach denen sich die Dinge zum >Stern< ordnen. Also die verschiedenen Meta...iken wollen jede ein Kapitel für sich; die Ich-Du und Er-sie-es-Gedanken des Rudibriefs wachsen sich zu einer kompletten Sprachlehre aus, u. s. w.« (GB 127, Brief vom 23. August 1918) Die folgenden Aufsätze fuhren die Reihe der Beispiele, die Rosenzweig hier beginnt, weiter und entziffern sozusagen das, was hinter dem »u. s. w.« von Rosenzweig selber nur angedeutet wird und doch zentral ist fur die Entstehung des Textes des Stern. Die den Stern leitende »eigene Methode« besteht darin, zu älteren Texten und Positionen kommentierend Stellung zu nehmen - explizit oder eher untergründig oder gar »in Chiffem« (GB 161, Brief vom 5. Oktober 1918). Der Text des Stern ist so gesehen ein »Kommentar unter Weglassung des Texts« (BT 1196, Brief an Richard Koch vom 2. September 1928) - und der Text, zu dem der Stern der Kommentar ist, ist das Gemenge aller Einflüsse, die Rosenzweig zum Stern verarbeitet. An der zitierten Briefstelle bezieht sich Rosenzweig selber nur auf die liturgischen Abschnitte der Bibel als den Text, den ein ursprünglich geplantes Buch hätte kommentieren sollen. Aus dem schon Ende 1916 »in den Kartenbriefen mit Notizen« (BT 1196) entworfenen Plan zu diesem Buch wurde dann der Stern, der all die Quellen kommentiert, die den Leser Rosenzweig bestimmen und prägen. Die Diskussionen im Freundeskreis, die Erfahrungen in der jüdischen Lebenswelt und die schriftliche philosophische und

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religiöse Tradition - all diese vielen Texte machen zusammen den »Text« aus, den der Stern kommentiert und der bei dessen Niederschrift so gegenwärtig ist wie es ein Text bei seinem Kommentar nur sein kann. Welche »Texte« sind das genau? Wie liest sie Rosenzweig? Wie ist der daraus entstandene Kommentar zu lesen? Auf diese Fragen geben die folgenden Beiträge Antworten. Rivka Horwitz setzt Rosenzweigs Aussagen zum Shabbat im Stern in Bezug zu seinem Leben vor und nach der Niederschrift. Sie begreift Rosenzweigs jüdische Identität als den »Text«, zu dem die Aussagen im Stern der Kommentar sind. Zu dieser Identität gehört auch das Interesse des Historikers Rosenzweig an politisch-strategischen Überlegungen, die Clemens Thoma in seinem Beitrag anhand der zahlreichen einschlägigen Schriften und Notizen Rosenzweigs aus den Jahren vor 1919 beleuchtet. Ein zentraler Baustein für den Umgang mit den verschiedenen Textstadien ist eine präzise Chronologie der Niederschrift des Stern. Reinhold Mayer leistet diese Arbeit in seinem Beitrag zu diesem Sammelband. Worin die geistige Verwandtschaft zwischen Hans Ehrenberg und Franz Rosenzweig genau besteht und wie Rosenzweig sie sich für die gemeinsame antiidealistische Sache im Stern spezifisch zurecht legt, zeigt Wolfdietrich SchmiedKowarzik in seinem Beitrag auf - aber auch, wo diese Verwandtschaft nicht mehr greift, nämlich beim Verständnis dessen, wie Judentum und Christentum einander zuzuordnen seien. Heinz-Jürgen Görtz geht in seinem Beitrag mit zum Teil noch unveröffentlichtem Material den Anstößen nach, die Rosenzweig von Rudi Ehrenberg erhalten hat und die sich zentral um Einsichten in »das Leben« und »die Tatsächlichkeit« drehen. In meinem eigenen Beitrag versuche ich zu zeigen, wie Rosenzweig das letzte Dokument aus dem Religionsdiskurs mit Eugen Rosenstock - den sog. »Sprachbrief« - im Stern thematisch auf die Spitze einer Metaphysik führt, die im Paradox enden muss und soll. Bernhard Casper betont den Wechsel in der philosophischen Perspektive, der durch den Stern grundsätzlich eingeleitet worden ist: vom »Sein« zum »Ereignis«. Damit sind die Untersuchungen zum Einfluß einzelner Philosophen positioniert, die sich an diesen Beitrag anschließen: Francesco Paolo Ciglia verfolgt die transformierte Präsenz Augustine im Stern, Jörg Disse diejenige Kants, Myriam Bienenstock diejenige Schellings, Cordula Hufnagel diejenige Nietzsches und Pierfranceso Fiorato und Hartwig Wiedebach diejenige Hermann Cohens. Dabei fuhrt die Rekonstruktion von konkreten Textbezügen immer wieder vor erhellende Einsichten in die philosophische Positionierung des Stern. Man wird dabei »Philosophie« nicht gegen »Religion« oder gar »biblisches Denken« ausspielen können. Sonst hätte Almuth Sh. Bruckstein kaum unter Rückgriff auf Husserls Phänomenologieverständnis so texterschliessend über das liturgische Thema des Schweigens schreiben können oder Inken Rühle die Hintergründe von Rosenzweigs Verständnis des Todes beleuchten. Dasselbe gilt für den Beitrag von Robert Gibbs zum Verständnis von »Gesetz« im Stern. Hans-Christoph Askani verfolgt die Bezugnahme auf die biblischen Texte zur

Einleitung

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Schöpfung, an die Rosenzweig im Stern anknüpft, und Yehoyada Amir diejenige Bibellektüre, die dem Verständnis von »Offenbarung« im Stern zugrunde liegt. Inken Rühle zeigt in ihrem zweiten Beitrag zu diesem Band, wie Rosenzweig im Stern das Hohelied der Liebe liest. Wie Rosenzweig dem Psalm 115 eine zentrale Scharnierfunktion beim Aufbau des Stern hat zukommen lassen, zeigt Norbert M. Samuelson. Yossi Turner rekonstruiert die Aufnahme und Verarbeitung von Psalm 90 und Ephraim Meir schließlich benennt die vielen, vor allem biblischen Bezugspunkte in den drei Übergangskapiteln des Stern. All diese Beiträge beruhen auf der methodologischen Annahme, daß der Stern ein Kommentar sei. Gesine Palmer zieht in ihrem Beitrag die Konsequenzen, die aus dieser Art der Lektüre des Stern folgen. Alexander P. J. van Ligten zeigt mit vielen Beispielen die Probleme auf, vor denen er als Übersetzer des Stern ins Niederländische stand, sofern zur Methode des Kommentierens auch das Spiel mit den Anspielungen gehört. Schließlich kommt eine letzte Facette am Text zur Sprache, den der Stern kommentiert: Rosenzweigs zeitgenössische Kultur. Christoph Nöthlings entdeckt die musikdramatischen Kompositionsprinzipien aus Wagners Ring im Stern und gewinnt dadurch überraschende Durchblicke durch dessen Argumentationsstruktur. Jeder dieser Aufsätze hatte zur Aufgabe, mindestens eine Linie zwischen einem zentralen Gedanken im Stern und seinen Quellen in Rosenzweigs eigener Lesebiographie aufzuspüren, sie zu beschreiben und für die Deutung der entsprechenden Passage aus dem Stern fruchtbar zu machen. Jeder Beitrag, der diese Aufgabe einlöst, ist ein in diesem Sinn »kontextueller Kommentar«. Kenner der Materie werden zwar schnell den einen oder anderen Text oder Autor vermissen, der auch noch auf Rosenzweigs Denken Einfluß ausgeübt hat, hier aber nicht behandelt worden ist. Das heißt aber nur, daß die hier begonnene Arbeit noch nicht zu Ende ist. Man müßte sie außerdem noch um ihr logisches Gegenstück - die Wirkungsgeschichte - ergänzen. Alle hier ausgewählten Quellen haben dies gemeinsam, daß sich von ihnen nachweisen läßt, daß Rosenzweig sich mit ihnen ausdrücklich und nachweisbar befaßt hat, bevor er den Text des Stern für druckreif befand. 18 Wichtig war nicht die Vollständigkeit der Quellen, sondern die Bereitstellung von Erklärungshilfen für den Text des Stern, für seine argumentative Logik und seinen strukturellen Aufbau. Wie dabei auf den Text des Stern und auf Rosenzweigs Transformation der Quellen im einzelnen zugegangen wird, ist von Beitrag zu Beitrag sehr unterschiedlich. Die verschiedenen Zugänge und die sie begründenden Hermeneutiken lassen sich in der Durchführung nicht vereinheitlichen, aber sie haben ein gemeinsames Ziel: den Leser des Stern dem Leser Franz Rosenzweig bei dessen kreativer Lektüre über die Schultern schauen zu lassen. 18

Besonderer Dank gilt an dieser Stelle Rafael Rosenzweig. Er hat den Autorinnen und Autoren die Liste der Bücher aus der Bibliothek seines Vaters zur Verfügung gestellt, die den Zollpapieren beigelegt wurde, als die Bibliothek 1939 nach Palästina verschifft werden sollte.

Rivka Horwitz

The Shaping of Rosenzweig's Identity According to the Gritli Letters

I. Introduction1 Franz Rosenzweig's letters to Gritli and Eugen Rosenstock profoundly modify our knowledge of the philosopher's life and of how The Star of Redemption was written. 2 This newly available material greatly enlarges the number of primary documents we possess on Rosenzweig and opens new horizons of understanding. The thousands of pages that make up the Gritli and Eugen letters are intimately connected with the writing of the Star and belong together. Rosenzweig wrote Gritli the long letter he called the Gritlianum, which opened the road to writing the Star and he dedicated the second chapter of Book II, which deals with revelation and love, to her. Often he thought he owed the whole book to her: »All the writing of it [the Star] is a writing to you.« 3 And elsewhere, »[...] basically it is all one long letter to you« (GB 182). After Rosenzweig's death, Eugen and Gritli Rosenstock's letters to Rosenzweig remained in the possession of Rosenzweig's wife, Edith. Although she had decided to destroy them, she did give her permission to the publication of his 1916 correspondence with Eugen Rosenstock, which appeared in the book Judaism Despite Christianity (Alabama 1969) and before they were in the edition of Franz Rosenzweigs Briefe which she edited and published 1935. However she did not consent to the publication of her husband's 1917-1929 letters to Eugen and Gritli Rosenstock. These letters, the bulk of which had been addressed to Gritli, were in the possession of Eugen and Gritli Rosenstock. Eugen preserved the correspondence after the death of his wife and considered them a most valuable treasure. Edith Rosenzweig died in 1979. In 1986, the intensity of the friendship between Franz Rosenzweig and Gritli was brought to wider public attention at the Rosenzweig conference in Kassel, organized by Wolfdietrich Schmied1

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Responsible for the translation is RH. With the translation Petra Kamezky has helped me a great deal. Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990 (Bibliothek Suhrkamp; 973); English translation: The Star of Redemption. Translated from the Second Edition of 1930 by William Hallo. New York: Holt, Rinehart and Winston 1971. - From now on quoted as SE in both languages. Franz Rosenzweig: Die »Gritli«-Briefe. Briefe an Margrit Rosenstock-Huessy. Hg. von Inken Rühle und Reinhold Mayer. Mit einem Vorwort von Rafael Rosenzweig. Tübingen: Bilam-Verlag 2002, p. 179. - From now on quoted as GB.

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Kowarzik4. Both heirs, Rafael Rosenzweig and Hans Rosenstock-Huessy, were present. Rafael Rosenzweig spoke on »Deutscher und Jude. Franz Rosenzweigs Weg zum Jüdischen Volk,« Hans Rosenstock-Huessy spoke on »Franz - Margrit - Eugen« and Harold Stahmer on »The Letters of Franz Rosenzweig to Margrit Rosenstock-Huessy: >FranzGritliEugen< and The Star of Redemption«. To our knowledge, the letters make up more than 1.200 pages. In 2002 the first edition of the letters appeared, edited and published by Inken Rühle and Reinhold Mayer.5 Now a fuller Internet-Version exists; it was prepared by Michael Gorman-Thelen.6 In order not to overburden the reader, Rühle and Mayer abridged the volume of letters and brought it down to 831 pages, including footnotes. This edition makes the major contents of the correspondence available to the reader. We have access today to published editions of the majority of the correspondence from Rosenzweig to Eugen and Gritli Rosenstock. The letters span the years from 1917 to 1922 primarily. Hans Rosenstock-Huessy wrote: »In 1925, a break occurs and there are no further letters to Margrit.«7 According to Nahum Glatzer, who was a disciple of Rosenzweig and present at his sick bed in 1925, Edith had insisted that Franz should choose once and for all between Gritli and herself. After much hesitation and self-examination, he chose Edith and it would seem that as though his relations with Gritli stopped. My personal knowledge of the letters goes back to a time forty years ago: In May of 1961, my husband and I visited Eugen Rosenstock for a few days. At the time his wife Gritli was no longer alive. Rosenstock made an everlasting impression on us, especially on my late husband, as a man of enormous stature and personality. A great empathy developed during the visit. Rosenstock told us about his wife's extraordinary relationship with Rosenzweig and showed us the basket filled with the letters of this correspondence, then standing in the living room. He said they were love letters, written with glowing passion. He then asked me if I might wish to work on them. I could not accept his offer. Indeed, I was astounded and, shortly afterwards, discussed the event with Nahum Glatzer. Glatzer had known Gritli. She impressed him as being a very appealing woman. But like other Jewish scholars, Glatzer kept a distance from Jews who had converted to Christianity and Eugen Rosenstock was a convert to the Christian faith, a meshumad.8 There is a tradition of keeping away from converts. Alexander Altmann, and Gershom Scholem, for example, avoided 4

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The articles are printed in: Der Philosoph Franz Rosenzweig (1886-1929). Internationaler Kongreß - Kassel 1986. Hg. von Wolfdietrich Schmied-Kowarzik. Bd 1: Die Herausforderung jüdischen Lernens; Bd 2: Das neue Denken und seine Dimensionen. Freiburg, München: Alber 1988, Bd 1, p. 65-78, 105-140. See note 2. Michael Gormann-Thelen: Eugen Rosenstock-Huessy Fund. Sommer 2002, (http:// home.debitel.net/user/gormann-thelen/fund.htm), January 9, 2003. Article by H. Huessy mentioned above, p. 106. See below.

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Rosenstock. Altmann wrote about him but refused to visit him. Ernst Simon was friendly with him in Germany, but later in Israel advised me to avoid him. Only the philosopher Hugo Bergman had a different opinion: he corresponded with Rosenstock and with his friend Georg Müller, and asked me to write an article on Eugen Rosenstock for the Encyclopedia Judaica, which I did. 9 In his book, Franz Rosenzweig. His Life and Thought, Glatzer presented Eugen Rosenstock in an improper way. 10 He purposely devoted very little room to him only a few pages - whereas in reality, Rosenstock had been a major figure in Rosenzweig's life. Glatzer admitted to me that he had done this on purpose. Franz Rosenzweig's correspondence with Eugen Rosenstock and his wife Gritli, disclose a profound erotic involvement and a deep relationship. Gritli was his inspiration. His love for her enabled him to free himself and to thrive and write with such intensity. For years Franz Rosenzweig had a close and loving relationship with Gritli. She was an intimate friend, it was both an intellectual friendship as well as a relationship of lovers. Although they had met previously, the love between Franz and Gritli began on February 24 th , 1918, when both of them were staying at Rosenzweig's parents' beautiful home in Kassel (GB 49). At the same time, Rosenzweig continued to be a very close friend of her husband Eugen, a fellow philosopher. Eugen and his wife lived a life of free love. Eugen knew of Gritli's friendships with other men and tolerated them. But with Rosenzweig it was different. Eugen Rosenstock, Gritli, his wife, and Franz Rosenzweig formed a love triangle. 11 Generally whenever Rosenstock gave his consent to Gritli, or even encouraged her to see Rosenzweig, Gritli and Rosenzweig would meet or correspond and, whenever he forbade them to do so, they would stop. The latter did occur on a few occasions, during weeks of crisis. 12 Though there was one occasion when Rosenzweig and Gritli met secretly in an Hotel in Frankfurt for the 26 th and 27 th of October 1918. The receipts of the two bills were in the Gritli Briefe. 13 Franz Rosenzweig wrote passionate love letters to Gritli, without ever forgetting that Gritli was the wife of his friend and that they would never marry. The correspondence between Rosenzweig and Gritli started in 1917. In 1920, Rosenzweig married Edith, a Jewess from Berlin, and although Rosenzweig's relationship with Gritli continued, one can see it narrowing somewhat. Like Rosenzweig, Edith herself came from an assimilated background, and after she had returned to the faith in 1914, she tried to study and to live in as 9 10

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Encylopedia Judaica. Jerusalem: Keter House 1971, vol. 14., col. 290-292. Nahum N. Glatzer: Franz Rosenzweig: His Life and Thought. New York: Schocken Books 1953 [ 2 1961], For example, letter of February 12, 1920 (»unser Lebens-Kommunismus«, GB 552) and letters of the end of November, 1919 (GB 483^185), c. f. GB 498. For example, letter of June 26, 1918 (GB 113f.) and letter of November 11,1919. GB 172-173; and ft. 1.

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religiously observant a way as the circumstances of her surroundings would permit. In 1922 Rosenzweig became paralyzed and writing became very difficult for him. In 1924, in a letter to Eugen Rosenstock, he recounts that presumably on account of his illness, Gritli lost interest in him and exclaimed that »she could no more«! 14 She refused to open his letters or to read Rosenzweig's translation of the Sixty Poems and Hymns of Yehuda H alevi}5 although she had read some of the poems at an earlier point. Thus, much of the correspondence relates to a specific period in Rosenzweig's life: Rosenzweig, who had remained a Jew, wanted to build up his Jewish life while, on the other hand, he did not want to separate himself from his Christian friends. Therefore, his friends may have hoped that Rosenzweig would eventually leave Judaism, convert and join them in their Christian faith. But, as time went on, their hope faded. His relationship with Gritli, however, never lost its dominating significance for Rosenzweig, although new friendships emerged such as his relationships with Rabbi Nobel, Ernst Simon and Martin Buber. Most of Rosenzweig's letters that we know of are addressed to Gritli. Other letters were sent only to Eugen Rosenstock. The latter are often more philosophical in their contents. A few letters were sent to both Gritli and Eugen. Gritli copied some of the letters that Rosenzweig had addressed only to her for her husband. Still others Rosenstock read when he was together with her, and yet others he read for the first time after her death. Whenever Franz Rosenzweig and Gritli met, Rosenzweig would sometimes read parts of the Star to her. He was interested in her comments and reactions to his writing. He even went to Säckingen in the south of Germany at the border to Switzerland to write the end of the Star on her desk. Eugen and Franz were opponents on many subjects but at the same time they dearly loved each other. Eugen was Franz's closest friend and Franz learned a great deal from Eugen. Rosenzweig begged Eugen not to leave him. Indeed, Rosenstock was an extraordinary person. The letters shed light on Rosenzweig's relation to two cousins, Hans and Rudolf Ehrenberg, as well. The former converted to Christianity and the latter was born a Christian of Jewish parents. Rosenzweig was close to both of them and shared various aspects of his existential philosophy with them. In the context of this essay, however, I will not deal with these relationships, but concentrate on the correspondence between Franz Rosenzweig and Margrit (Gritli) and Eugen Rosenstock. My presentation is an attempt to understand those parts of the correspondence that concern Judaism and Jewish subjects: how do the letters support our understanding of Rosenzweig's deep Jewish yearning, of his desire to remain a Jew? Yet why did he, a Jew on his way towards a full Jewish life, develop an 14 15

Letter of February 12, 1924 (GB 801). Ibid.

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intimate relationship with a married Christian woman? A woman who was the wife of his friend? Didn't he have any pangs of conscience? On December 25, 1919, Rosenzweig wrote two letters, one to Gritli, and another to Gritli and Eugen together. In the second letter he says (GB 506508): »[...] I no longer have a path to orthodoxy. That one Gritli barred for me. That's simply true.« (GB 507) And later: »My love burdens my conscience, but I can not repent. I know I am rebelling against God and still, I cannot stop believing in him.« (GB 508) And later: »Every hour, God's wrath and God's love are woven into my life. But this no longer fits into orthodox concepts.« (GB 508) And later: »Every hour, I am open for punishment and reward.« (GB 508) And: »But tell me: what path is it, when one can neither be orthodox nor oppose Orthodoxy. [...] What will become of me? Who am I?« (GB 508) Rosenzweig lived in contradictions: he was burdened by the fact that his love for Gritli was against the Torah, which he esteemed, and yet he could not perceive his love for her as a sin. August 23, 1920,16 Franz Rosenzweig writes about a walk with Rabbi Nobel in the beautifully scenic areas around Frankfurt. It was before the High Holidays and Rabbi Nobel, who was the Orthodox rabbi of the great community of Frankfurt, and who had become Rosenzweig's intimate teacher, asked his disciple to officiate as a preacher at a branch community for the Holidays. Rosenzweig wrote Gritli: »How can I to do it! My feet stand in the community, but my heart -« 1 7 His heart was with Gritli. How could he preach? Or did he perhaps think that he was not yet ready religiously for such an undertaking? Rosenzweig, as we know from another letter,18 was yearning to worship God with both his drives - the drive to the good and the drive to evil - his heart was divided and he could not reach the unity he so desired.

II. Franz Rosenzweig's Jewish Roots I would like to examine a letter Rosenzweig wrote to the historian Friedrich Meinecke, on August 30, 1920. This letter is an extraordinary introduction to the understanding of Rosenzweig's struggle. In 1920, Rosenzweig refused to take up a position at the University of Berlin, and the letter reveals that the Judaism Rosenzweig acquired as an adult was actually the outcome of an immense breakdown resulting from his pursuit of contradictory directions. He writes: In 1913 something happened to me for which collapse is the only fitting name. I suddenly found myself on a heap of wreckage, or rather I realized that the road I was then pursuing was defined by me by my talent, and my talent only! I began to realize how senseless such a subjection to the rule of one's talents is. I felt horrified by myself. Amidst the shreds of talent, I began to search for my self, amidst the manifold 16 17 18

August 23, 1920, GB 647. To Margrit Rosenstock August 23,1920, GB 647. Letter of September 4, 1917.

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Rivka Horwitz for the one. Then I descended into the vaults of my being. I approached the ancient treasure chest whose existence I have never wholly forgotten [...]. My hands dug in and turned over layer after layer, they dug out whatever they could. Then I climbed back to the upper story, they did not fade in the sheer daylight. 19

Rosenzweig left university life for the sake of his work for the Jewish people. To better understand this extraordinary letter, we have to go back to Rosenzweig's early childhood in order to examine his Jewish background. Rosenzweig spent his early life in Kassel, in the city's small community of mostly assimilated Jews, and at a public school. He was the only child of well-to-do parents. His father was a successful businessman and his mother interested in cultural events. Outside his parents' home, Rosenzweig grew up under the influence of Adam Rosenzweig (1826-1908), his great-uncle. With him he shared his deeper spiritual interests. Without him, Rosenzweig would have grown up in an emptied Jewish world. Thus, some of the Jewish sources mentioned in the Star go back to the education he received as a child from his great-uncle, Adam Rosenzweig. Great-uncle Adam, a bachelor, an xylographer by trade with a hunchback and a wide knowledge of German literature, lived in Rosenzweig's home. Franz spent many hours with him, and with him learned more about Judaism than from his parents. Adam Rosenzweig was a traditional, learned Jew, who attended synagogue not infrequently. True, Franz Rosenzweig's father was a philanthropist who helped innumerable charitable organizations, supported the synagogue and even sometimes went to the synagogue on the High Holidays as well. But Rosenzweig describes Uncle Adam's passionate heart that would overflow with Judaism every once in a while. Through this, Rosenzweig experienced true pathos of the like he would never see again in his life. Although small, this experience was great enough to develop into a shelter against the mighty influences of a world that denies these treasures or at least their legitimacy.20 Growing up, Franz expressed open opposition to the life in his parents' home. For example, he objected to his parents' custom of putting up a Christmas tree in their home, like other assimilated Jews; he signed a letter of protest: »The prophet from Kassel« (BT 3). He felt the opposition between the influence of his great-uncle and the education he received from his parents. He wrote: »Parents only beat up, grandparents are monuments.«21 In numerous letters he relates how he received his Judaism from this great-uncle. After his father died in 1918, Rosenzweig wrote to Gritli on April 16, 1918:

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Franz Rosenzweig: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften. Vol. 1: Briefe und Tagebücher. Hg. von Rachel Rosenzweig und Edith Rosenzweig-Scheinmann. 2 Bde, Den Haag: Nijhoff 1979 [= BT], p. 678-682; in English in; Glatzer, Franz Rosenzweig (note 10), p. 95. From a letter to Helene Sommer of January 16, 1918, BT 506. May 24, 1917, GB 9.

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Especially my inner sore point, the break in the chain of my tradition, meaning that I received my Judaism from the hands of my great-uncle, and in fact, (as Eugen writes) had to »leave father and mother«, especially this wound started to heal. (GB 74) Only after the death of his father did Rosenzweig view matters less radically, especially as his father had generously donated money for the foundation of the Academy of Science of Judaism, to revive Jewish education in Germany. Rosenzweig had initiated and planned this project, and Hermann Cohen wished to bring it into existence. Rosenzweig appreciated his father's support deeply, and the relationship between father and son improved greatly, but this took place only a short time before Rosenzweig's father died. In an autobiographical letter dated September 1, 1919, Rosenzweig explains to Eugen: [...] God was not »dead« with Father. But in the marriage, which he entered and out of which I came, he [God] was no longer present; for sure, he was in him and even in her in some way - but in the house he was no longer. And thus, indeed, I might have died for him. And then occurred to me the first, and yet still decisive, nevertheless basic [...] miracle that I still saw Uncle Adam and through him learned something, that - did not leave a deeper impression on me than my father or my mother, but a deeper impression than their marriage, than the »house« in which I lived. From then on, the house lost its credibility for me. In his passion, I felt something that - was not more real than Father's »for all times-childlike« vigor and Mother's vitality, but more real than the house's demon. I felt a stream still running into him, but breaking off then not finding access into our house. And therefore, my roots turned to him until they reached the earth still filled with the moisture of this living water [...]. (GB 419) This is an allusion to Ezekiel 36,25: And I will sprinkle clean water upon you, and ye shall be clean; from all your uncleanness, and from all your idols will I cleanse you. And two sentences further: This is a special trait in my life, which I cannot allow to be erased by comparison, even if should be a difference that separates me from you. Because this is the way I am spiritually created. And creation, which made everything created the way it is, separates. Only revelation, which always somehow is a second experience, (because always, something preliminary, a creation, proceeds it somehow prophetically), only revelation then connects. Only of this speaks your letter. Something else: Really, I did not brush prayer aside, back then. (GB 419f.) According to this letter, Rosenzweig had become familiar with Jewish prayers as an adolescent. He had learned the prayers when visiting the synagogue, but had later forgotten them. In some way then, the event of July 7, 1913 can be understood as a reminiscent process in the Platonic sense. Gertrud Oppenheim, his favorite cousin, once remarked (BT 5) that Franz, at the age of fourteen, was the only religious person in the Rosenzweig family who fasted on the Day of Atonement. When Franz learned of her comment, he was annoyed and thought that she was mocking him. But she defended herself, say-

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ing, that she had only meant to say that she did not understand what fasting was and what the meaning was of his visit to the synagogue. She wrote that Franz was a unique phenomenon in preserving these customs in his parents' home. Franz explained to her that, on the Day of Atonement, he was drawn to the synagogue and to the Jewish community even if he did not know some of the people there and even if he did not like some others. Franz Rosenzweig took private Hebrew lessons at the age of eleven (BT 2). In a letter to Richard Koch, dated September 2, 1928, Rosenzweig wrote: With tradition I had different experiences. The tiny thread which was still leading on to me (The Day of Atonement, the Seder night and Bar Mitzvah) (about the existence of the Friday evening, I only learned as a student), has become the thread upon which everything could be hung upon. (BT 1197)

His fasting on the Day of Atonement in 1912 is documented. 1912 was one year before the crisis in Leipzig on July 7, 1913. He related that, when in 1918 he was having his portrait painted by Ludwig Jonas, he had to sit motionless for long hours and that, during the session, he read the whole book of Psalms in Hebrew. This was part of his project to read the whole Bible in Hebrew.22 Behind the scenes it was Uncle Adam who supported Franz Rosenzweig's Judaism, a question many hardly take notice of. Before Rosenzweig went to elementary school, the old man told his nephew that he should always remember that he was a Jew (BT 2). Following a more traditional direction, Rosenzweig started to study medicine. Medicine was one profession traditional Jews chose in order to stay faithful to Jewish life. Religious Jews avoided the humanities, because these subjects did not allow them to take up a profession that would enable them to support a family. The chance for a Jew to find a teaching position, i. e. a professorship at a university, was extraordinary small. For years it had been expected and accepted for a Jew to convert to Christianity23 before receiving a teaching position at a German university. As mentioned above, Uncle Adam died in 1908. Around that time, a change occurred in Rosenzweig's life and in his studies. Now he turned from medicine to philosophy and history, concentrating on Hegel. He became part of a circle of assimilated Jews and Christians - Hans Ehrenberg, Rudolf Ehrenberg, Eugen Rosenstock and many others. The change may have occurred earlier, as he mentions the year 1905 as the beginning of the friendship with Hans Ehrenberg. The two Ehrenbergs were his cousins, and Eugen Rosenstock was the son of family friends. Now, Franz Rosenzweig distanced himself from Judaism. He justified the conversion of Hans Ehrenberg in 1909 and, referring to Hans' pragmatic conversion in two letters to his parents, he wrote: »I really see nothing shameful in the whole matter.«24 22

Letter of April 4, 1918, GB 69; see also p. 698. Rivka Horwitz: Warum ließ Rosenzweig sich nicht taufen? In: Der Philosoph Franz Rosenzweig (note 4), vol. 1, p. 79-96. 24 B T 94> jjj English: Glatzer, Franz Rosenzweig (note 10), p. 19. 23

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He wrote in the first letter: Of course it would have been best if Uncle and Aunt had had their children baptized or circumcised at birth, but it is better to repair the omission belatedly than not at all. Can the empty notation in the registration office »Religion Jewish« satisfy a religious need? (BT 19)

In the second letter he added: »I myself counseled Hans strongly in this direction, and would do it again.« (BT 19) One can assume that during this period, 1909-13, Rosenzweig considered conversion for himself, as without it he could not expect a teaching position. Therefore, he went to Leipzig in 1913 for half a year to discuss the Christian religion with Eugen Rosenstock. Rosenstock was the only one of the circle with whom he could find counsel, as he held strong Christian religious convictions: Rosenstock's conversion had not simply been a matter of social convenience. Rosenstock spoke of Christianity with great conviction. Rosenzweig, attracted by Hegel and German Idealism, wrote his dissertation on Hegel. While Rosenzweig drew on the Enlightenment, Rosenstock drew on the anti-Enlightenment movement and its representatives, such as J. H. Hamann. Here Rosenzweig had become completely assimilated to the German intellectual world; in February 1921 he thought that, in 1913 he was not yet ripe to write the Star as he was still a Marcionist.25 This statement of Rosenzweig is very important, as he rarely describes the nature of his early opposition to Judaism and to the God of creation. The Marcionists were gnostics of the second century who rejected the Bible and the New Testament. Rosenstock, a Jew from Berlin, had converted at the age of eighteen. Now, in Leipzig, on July 7, 1913, he was opening ways back to belief in God for Rosenzweig. In a letter dated August 13, 1917, Rosenzweig described to Eugen what had then happened between them and the way it had affected him: [..] only to have the Christian sans phrase, »plainly spoken«, kneeling quietly on his knees in your dome, in the utmost inner corner - well, you told your secret and, exactly by doing so, you thrust me down from my tribunal bench [that] I had usurped, in order to climb up yourself and to examine me then, razing me to the ground, tearing down the excuses (alibi) which I had skillfully built up for myself, until, finally, I confessed before myself and found myself forced to pass the excuses (alibi) over to the matters themselves (ibi). (GB 21)

Rosenzweig was immensely shaken in body and soul, and he relates that he even considered suicide: [...] otherwise, I was simply shut up, and much too close to the complete vis-a-visdu rien, »confronting nothingness«, with which I returned to my room after the night and took my Browning 6.35 out of my desk. I do not know whether it was then cowardice or hope that prevented me from using it, and I will never know down here, where »rejoicing« comes only »with trembling«,26 25 26

See: GB 736, letter of February 20, 1921. To Eugen Rosenstock August 13, 1917, GB 22.

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20 And later:

I presumed that, in that night, you noticed my broken conditions; I had no strength left to conceal it. (GB 22)

Rosenzweig's suicidal mind reveals itself when he touches this subject in several of his writings, including the first page of the Star. There is no clear reason to explain why he kept a gun in his drawer in Leipzig.27 Rosenstock had expected that a renewed or revived belief in God would lead to Rosenzweig's conversion - something Rosenzweig had also promised at one time. However, it was Judaism Rosenzweig rediscovered during his intense search for religious meaning - he told Meinecke he had found his old treasure. His breakdown resulted in his existential transformation. Rosenzweig speaks of the immediacy and intimacy of the relationship between God and his people. He says that, in returning to God, he was already at home, with his people, in whom the ancient belief had not faded. The turning point, under the influence of Rosenstock, was his re-discovery of the idea of revelation, which was so offensive to rational enlightenment. This we see in his extraordinary article »Atheistic Theology«, written in 1914. A few months after the crisis, he attended the synagogue of Kassel on Rosh Hashana and he went to the synagogue of Rabbi Petuchowski in Berlin on the Day of Atonement, Yom Kippur. He saw the Jewish community praying together and he felt as one of them. Then he wrote the monumental words: »I shall remain a Jew.« (BT 133) He changed his life and resumed his Jewish studies. Once, he went to a lecture of Hermann Cohen. Cohen had a strong Jewish background both from his father, the Hazan or Cantor of Coswig, and from his studies at the Rabbinical Seminary of Breslau. Later Cohen studied philosophy and became a Neo-Kantian professor of philosophy in Marburg. In 1912, at the age of seventy, Cohen came to Berlin as teacher at the Lehranstalt. He too was also a returnee to the faith in a way. A close relationship developed between Hermann Cohen and Rosenzweig. Rosenstock, on the other hand, was still urging Rosenzweig to convert. Rosenzweig, however, distanced himself from Rosenstock, debating with his shadow. Later Rosenzweig admitted to Gritli that he actually owed his remaining a Jew to Eugen and that admitting it stung his pride: How much easier my life would be if I did not have to believe him [Rosenstock]. He is the turning point in my life and, for this, the chain dragging along with me. It is no accident that, on feeling the need to open up myself to Cohen, I had to speak about my relationship to Eugen, and otherwise, about nothing. He [Eugen] turned out to be

my destiny (Schicksal) [...].28 27

28

Rosenzweig speaks of suicide in his diary from June 24th, 1906, BT 49. His mother too had suicidal tendencies, see for example, April 6, 1918, GB 68. Rosenzweig in letter September 4, 1917, GB 29-30, considers suicide as a pagan tendency in contrast to the revealed religions of revelation. However, he seems to have forgotten the biblical story of Ahithophel, in the Bible 2 Sam. 17, 23. To Margrit Rosenstock, June 24, 1918. GB 111.

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Eugen was obstinate in his opposition to Judaism. For him, Judaism was a dead, obsolete religion, one he had left with the encouragement of his mother and uncle; how could Rosenzweig perceive it as a source of life? The homes of these two close friends had been quite different, and so had been their respective experiences as young people with regard to Judaism. As Rosenzweig wrote Gritli in an important letter on April 24, 1919: I always regarded the small remainders which my own education still offered me, more important than anything which I had acquired later with my own effort. With one exception however, that of Cohen. There was for a second time a childlike receptivity in my life; a source of tradition was opened up to me. What I experienced through him, is now rooted within myself as strongly and so self-understood (or almost as much), as those which I was still lucky to experience like a gift when I was a child. From this inherited possessions, not out of the acquired property the main parts of the Star have been worked out. (GB 280)

In his emotions and thoughts the experience of the two old sages whom he loved and admired dearly, Uncle Adam and Hermann Cohen, almost merge. The teachings of his beloved great-uncle Adam became meaningful again. Sometimes he thought that one could return to the times before Emancipation, and that the distance of the Jews from their sources was a temporal matter; he believed that in hundred years Jews would once again live in the frame of Halakha (GB 723). The understanding of Geschichte in contrast to history was another theme that Eugen Rosenstock and Franz Rosenzweig discussed. In a letter to Eugen, dated May 24, 1917, he wrote: »How do we experience Geschichte?« (GB 9) He answered: in the home and in the family. The tension between parents and children will be solved only in the Messianic End, and Rosenzweig alludes to Malachi 3,24: »He shall reconcile parents with children and children with their parents.« Rosenzweig wrote: »In the grandfather the grandchild finds its foundation.« (BT 30) He quotes Halevi, saying that the Divine Matter sometimes skipped one generation, as was the case with Abraham who had grown up in protest to his father, Terah. Rosenzweig's master, Yehuda Halevi, wrote: Many people do not resemble their fathers, but take after their grandfathers. There cannot be any doubt that this nature was hidden in the father, although it did not become visible outwardly, until it reappeared in Abraham.29

In the Star, Rosenzweig returned to the theme of the grandfather-grandchild relationship, when he describes the last hours of Shabbat. He wrote: The songs of the »third meal«, at which old men and children gather around the long table in the light of the waning day, reel with the transport of certainty that the Messiah will come and will come soon. (SE 313/348)

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TheKuzari 1,95 (end).

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Then, describing Havdala at the end of the Shabbat, he continues: [...] the smallest circuit set for man, the workday week, begins again. A child holds the candle that an old man has lit while, with closed eyes, he drinks a cup of wine, waking from the dream of perfection spun by the festival of the seventh day. (SE 313/348) The importance of grandparents in maintaining Jewish life lies in their inspiring of sensitive grandchildren at times and in places where Judaism had almost been forgotten. German Jewry was heading quickly towards to self-annihilation. To counter assimilation, one could draw on the light of the Jewish past through one's grandparents or through a learned Eastern European Jew visiting the community, or through visits to learned old Jews, as Gershom Scholem did. This phenomenon was described by Isaac Breuer in his novel Ein Kampf um Gottì0, where the grandmother and an Eastern European milkman inspire the young boy while his father is occupied with his business affairs. At a time when Judaism was losing so many to assimilation, youngsters who appreciated their pasts had to rely sometimes on whatever bonds they could find. They tried to and did recapture the past and the spirituality of earlier times. In a letter to Gritli, dated February 6, 1919, Rosenzweig discussed the religious decline of Jews in Western Europe and their assimilation: Although Eugen is not right [in saying] that one cannot become a Jew »without Jewish parents«; if one ever sees the visible Judaism anywhere, one also sees the invisible Judaism in his parents, the one which is only artificially suppressed. Though nevertheless, the case of the elder Rosenstocks (in this as in other cases) is infinitely more extreme than it is in the case of my parents, because both have a conscious attachment. But after all, I leap across this back to the previous generation. Consider what I wrote about the forefather and the grandchild; actually I excluded the father in my writings. (GB 230) After Rosenzweig returned to Judaism, the subject of conversion appears in numerous letters. In one he wrote on May 1, 1918: Where a Jewish family-life still exists, the baptizing of a child is certainly an absolute cut. The common expression for being baptized [le-hishtamed], meaning literally: to destroy one's self, to exterminate oneself - spells this out; and it is not Tuerei »to make a to do« 31 when in former times the rites of mourning were exercised for such child as if it had died. In former times, and with orthodox people to this day. But how can this have been of significance in the home of Eugen's parents with its absolute indifference, this indeed became credible to me after numerous repetitions, but never will I understand it. Rosenstock's father, actually, can have taken offence only at the protest of his son against his [own] indifference. Hence, only the personal [affair], I hold the opinion that if ever I had to write a Jewish (»Kleinen Katechis30

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Isaac Breuer: Ein Kampf um Gott. Roman. Frankfurt a. M.: Sänger & Friedberg 1920, p. 51-78. Breuer's work has an interesting resemblance to that of Rosenzweig. Actually in comparison with the similar term in the letter to Meinecke: Hegelei, »a gambling with action« would be an even better translation. I learned this from Petra Kamezky.

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mus«) small catechism (reference to Luther's Small Catechism) I would declare with it: »Admittedly, blood alone does not do it.« With the Ehrenberg's [conversion] it did not disturb the family relation. [...] And with a merely pragmatic conversion, Rosenzweig's father would have come to terms, not easily though because still, it would still have been a pudendum - »a shameful act«, but eventually, after all. But the personal protest that he felt in it was on account of his domineering nature. (GB 88) Then, turning to his own family, Rosenzweig wrote: I can speak about it very coolly. I myself did not have any homely feelings for the house of my parents, either, and specifically my Jewishness was constantly perceived as protest. As the house is destroyed now, I am as free [in my expressions] as if I were already in my own house, and whatever I do now, will no longer appear as protesting against my house, i. e. meaningless in the Jewish sense, but as simple and positive. I do not wish to have been an idle witness to two generations crashing [successively] into nothingness, the end of which I am watching with my eyes, indeed, with Mother. I must start from the beginning. But, now I am entitled to it. (GB 88f.) Rosenzweig wrote his »It's Time« from the Balkans in 1917 as an open letter to Hermann Cohen. It was meant to be a plan for the revival of Jewish education in Germany. Furthermore, to Rosenzweig the spiritual life at the universities of Germany of that time did not appear to be attractive. We read in his letters that German universities are boring. True, by this time, a Jew could now receive a university position without conversion, and many a Jew would be glad to receive one. Rosenzweig, however, did not follow that path. He dared to turn down a much-desired university position, and to speak freely with his professor of his fate as a Jew and that, because of it, he considered university of secondary importance. The letters provide further material on Rosenzweig's visits to Meinecke. On June 6th, 1919 he recounts a conversation with Meinecke. He wrote: This morning I visited Meinecke; after discussing my Hegelei, »gambling with Hegel«, he also asked me about my plans; I told him, as Taeubler32 didn't say, and from whom I have now studied how to say things in the language of professors: [that] for many years now, going back before the War, the Jewish problem has seized me and that I must stay committed to it [.. .].33 It had not been clear to Meinecke that Rosenzweig was in search of a new path in Judaism after his breakdown. Both Professor Meinecke and Rosenzweig knew that it was no longer legally required in the Weimar Republic to convert in order to receive an academic position. Hence, Meinecke did not understand Rosenzweig's refusal to accept a position. He thought that he had made a fair offer and yet Rosenzweig felt that he had to refuse it. This is more than a return to his ancestors' religion; it is a protest against Jewish assimilation in Germany. How rarely a dialogue like this one can have occurred is evident.

32 33

Eugen Taeubler, 1879-1953, historian and active in the foundation of the academy. To Margrit Rosenstock, June 6, 1919, GB 319.

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Rosenzweig did not know in what ways he would materialize his plans. Rosenzweig told Meinecke: [...] whatever shaping this would take on the outside, this I would not know yet, this I was still seeking. (GB 319) He [Meinecke] said, this was a great pity (we were in the street), because there is no solution to it except a solution of the kind that in fact means one does not try to solve it, but merges into the universal culture (culture in general); again I: that I am conscious of its insolubility and that it could be in individual cases and in my case maybe, an unsuccessful sacrifice, but still, I would want [to do it] despite everything else and for all that. Now he, Meinecke: it would again be a pity as at this time, as all of us would have to withdraw into life's innermost cell, [he thought of philosophy etc.]. Again I: this innermost cell, for me nevertheless, this was particularly my Judaism and, philosophy and history should only be the household utensils in this innermost cell, and nothing more. Then he spoke in a much more pessimistic manner on the decline of the world. (GB 319)

Since Rosenzweig had hoped that Jews could continue to live in Germany, he sought to revive Jewish education, first by founding a Jewish Academy of Science and then by founding the Lehrhaus in Frankfurt/Main. But politically he was no optimist, and seeing the current anti-Semitism, said that he would stay in Germany until the »Christians« expelled him. 34 As we have seen, Rosenzweig, an existentialist thinker, distinguishes sharply between two motifs, what one is and what which one has acquired, or »Being and having« - to use the terminology of Gabriel Marcel. Rosenzweig includes in what he is, what he inherited, what he calls his treasure - his old venerated tradition. On the other side, he puts his many acquisitions: what he had learned at the universities and the many ideas he had received from his friends, these are his acquisitions, utensils or his means. They are used to explain his treasure and thus are of secondary importance in comparison to his very being. When Hans challenged Rosenzweig, saying that the Star is »almost« a Christian book, Rosenzweig answered: »Certainly I stole from all of you. But the power to do it, I did not receive from you.« (GB 351)

III. Jewish Learning After finishing the Star, Rosenzweig was thirsting for Jewish learning. As we understand from reading the Star, Rosenzweig had an extended knowledge of Jewish sources. During the year prior to Rosenzweig's death, when he was already very ill, Glatzer established an index of the Jewish sources quoted in the Star at Rosenzweig's request. The first which Annemarie Mayer prepared 34

Letter of March 10, 1920, GB 56. He refers to anti-Semite outbreaks in Munich and Baden-Baden. See also letter of July 5, 1920 (GB 620), where he relates that he met Bruno Strauss, »who spoke of something I sometimes do not want to admit, namely that it is the end of German Jewry. It is part of the German decline altogether.«

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should be mentioned.35 It lists 328 items - sources from the Bible, Midrash, and the Talmud. We also find about 50 items from the New Testament. The list did not include quotations from medieval Jewish philosophers such as Maimonides and Yehuda Halevi, or Biblical interpreters such as Rashi and Nahmanides. In a large number of places in the letters he quotes Kabbala and feels positively about its theories. Once he even thought that the Jewish Star was a kabbalistic symbol. He also discusses modern Jewish novels and stories by Arnold Zweig, Max Brod, Marin Buber and many others. In 1919 Rosenzweig became very interested in studying Talmud. He studied it first with Leo Rosenzweig in Berlin and then with Joseph Prager in Kassel. Once Prager and Rosenzweig were studying Hayim Tschernowitz's Kizzur Ha-Talmud, an anthology of the Talmud.36 The introduction to the book explains the meaning of tradition. It moved Rosenzweig so much that he translated it on November 9, 1919 for Gritli. It reads: In two ways was the Torah acquired by Israel; as Scripture and as tradition. If there were no tradition then the Scripture would be as if it were nothing. The Scripture came only for the sake of the tradition, and that which will not be handed down, is, even if it is written, as if it was not written. Where no tradition was added, the written Torah has no connection with life and is nothing but letters fluttering in the air. The carrier of the tradition, the Sages of the generations and ages, who turn forward the wheel of (Volksleben) national life, they are the ones who breathed the breath of life into the letters of the Torah [...]. (GB 471)

I think that Tschernowitz expresses here an opinion very close to that of Rosenzweig - no wonder he wished that Tschernowitz would be the translator of the Star into Hebrew. Learning Talmud, however, became too time consuming for Prager, who was a busy neurologist. He therefore introduced Rosenzweig to Rabbi Nobel, the Orthodox rabbi of Frankfurt. Rabbi Nobel had an open heart for returnees. There were times when Rabbi Nobel taught Rosenzweig Talmud every day. Rabbi Nobel invited him for Shabbat and Holiday meals, and helped him to start observing the Commandments. Unfortunately, Rabbi Nobel died in 1922, at the age of fifty. Later Rosenzweig received the rabbinical title »Morenu«, which Rabbi Nobel wanted to prepare him for, from Rabbi Leo Baeck. Someone like Rosenzweig could build his Jewish thinking on a relatively small treasure. Dr. Joseph Prager, the son of Rabbi Yitzhak Prager the rabbi of Kassel, told me that Rosenzweig knew many parts of the Bible, the Saying of the Fathers, and prayers in German by heart. Joseph Prager and Rosenzweig 35

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In the edition of Der Stern der Erlösung of 1993 (note 2), one finds in the end a list of quotation of ancient Hebrew and New Testament quotations in the Star (see SE 4 7 5 497). The work appeared in 1919; Tschernowitz was an able Talmud scholar, his pen name was then Rav Zair.

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had known each other during their school days, and they had learned Judaism together in their high school religion classes as part of the official curriculum. 37 These lessons later became the foundation for the essay: »Zeit ist's«. Some quotations from Midrash and the Talmud became important as cornerstones of Rosenzweig's thought. His other teachers too - Uncle Adam and Hermann Cohen - provided a good focus to Rosenzweig's Jewish learning. In 1918, when Rosenzweig was in mourning for his father, he sometimes went to the synagogue to say Kaddish. In one letter of April 26, 1918 he translates the Kaddish prayer for Gritli and adds comments. He explained to her that Kaddish can only be said in the community and it should be answered by Amen, that Kaddish can be said only after a father, and finally he adds in great detail that Kaddish is not a prayer over the dead but a prayer for the world and for the Kingdom (GB 84). When Rosenzweig was called to the Torah, he explained in his letters to Gritli the meaning of the portion that was read in his presence. At a later time in his life he did many more translations both of Yehuda Halevi, the great poet whom he admired and of more prayers. He translated the latter in order to help returnees to pray and discussed some of the translations later with Gershom Scholem, who was also interested in religious translations. In a letter written on September 1, 1919 (GB 419) he relates the epitaph he had put on his father's grave to Gritli. Soon after his father's death, 38 Rosenzweig had expressed his great admiration for him, who, he thought, was worthy of the world to come for the many activities he had carried out for the public good and the help he had given his city in many ways. Because the text of the epitaph in his letter to Gritli was not sufficiently clear to me, I went to the Jewish cemetery of Kassel to see the grave of Georg Rosenzweig, (his grave is close to my grandfather's). I saw that the epitaph was taken from the Sayings of the Fathers 3,13. »Rabbi Hanina ben Dosa used to say, >He in whom the spirit of his fellow creatures takes delight, in him the Spirit of the All-present takes delight.«< This becomes clearer when one sees the eulogies the many organizations of Kassel that mourned for him. 39 Georg Rosenzweig was a man of charity and action who was appreciated in his town. We find interpretations of the Torah or the Psalms in the letters. Sometimes Rosenzweig uses quotations from the Psalms to express his feelings of loneliness, of being a sinner or his belief in providence or in wonders. In 1918 he related that a year earlier he had been more Orthodox, but he does not give any explanation for this (GB 135). Gritli, herself a believing Christian, met Rosenzweig as a Jew and as an active returnee to the faith, shar37

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BT 2, an interesting description of the problems of a Jewish boy in the German Gymnasium, the fact he had to go to school on the Sabbath and the enormous distance between the few Jews in his school and the gentile teachers and classmates can also be found in a lively way in Breuer's Ein Kampf um Gott (note 30), p. 79-113. April 4, 1918, GB 73. They are in the Rosenzweig Archive of the Leo Baeck Institute in New York.

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ing his Judaism with her, while also discussing her interests in Protestantism and Catholicism. In Hermann Badt's memoirs,40 we learn of Rosenzweig's deep personal interest in prayer. After Franz Rosenzweig's death, Badt remembered their visit to Poland together in 1918 when both had been soldiers. One Sunday they stopped at a Hasidic Klois (house of prayers). Rosenzweig wanted to say the mourner's Kaddish at Mincha and Maariv, the afternoon and evening prayers. But they did not notice that it was still light and they had to wait a long hour from one prayer to the other, between the afternoon prayer and the evening prayer. In the meanwhile, other Jews were gathering in minyans for the Minha prayer - this occurred many times because it was a heavily populated Jewish area. Badt had little taste for it and wanted to leave, saying that there was a limit to his capacity of absorption, but Rosenzweig insisted on staying. Badt commented that there was something stupefying in the monotonous repetition of the prayers but Rosenzweig strongly disagreed. He spoke with great excitement about the meaning of the prayers, saying that through communal prayer in a Minyan a fire is kindled. He spoke of a divine spark in the concentration and the emptying. On the other hand, however, Rosenzweig had no sympathy for the mystical experiences of the Christian type, which he mentions in the Star (SE 209ff./231f.) and in his letters. He rejects, for example, the experiences of Hans Ehrenberg.41 On August 19, 1919 Rosenzweig wrote Gritli a very sharp letter regarding Christianity, saying: »I do not read the New Testament, but the one time - 1 9 1 6 - 1 read it completely, I recall with physical nausea.« 42 Rosenzweig abhorred, as he puts it, the figure of Christ, but very much liked his Christian friends. How close he was to his Jewish friends, such as Rosenzweig »Ost« (as Leo Rosenweig was called) with whom he learned Talmud or Bruno Strauss from Berlin with whom he had once studied Bible, or his new friend Eduard Strauss from Frankfurt, does not come through in the letter. Just as many rabbis did, Rosenzweig frequently adapted biblical or midrashic sayings to describe contemporary circumstances. Many examples could be given. I will mention just a few. In 1918 Germany lost the war, and Rosenzweig, a German nationalist, saw the destruction of Germany with sorrow, which he then expressed in verses from the Book of Lamentations and Isaiah. Similarily, he hopes for a better future for Germany, using verses of consolation taken from the Bible, such as »Again shall you plant vineyards on the hills of Samaria.«43 When Rosenzweig spoke of Germany's need to find a political compromise with its enemies, he used the words of Rabbi Yohanan ben Zakkai (GB 170). Many 40

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Hermann Badt: Erinnerungen. In: Franz Rosenzweig. Ein Buch des Gedenkens. Hg. von Herrmann Meyer. Berlin: Aldus-Druck 1930 (Publikation der Soncino-Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches; 11), p. 47—48. GB 98, also against Christian Myticism: »Mystische Schwätzer hats genug gegeben.« (GB 630) Letter of August, 19 1919, GB 390. Jerm. 31,5, November 8, 1918, GB 180.

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letters show us his political commitment to Germany. I found letters of a more pro-Zionist character in the Nijhoff edition. 44 Rosenzweig was stationed in Freiburg during the German defeat, from 1918 to 1919, and was writing the Star (GB 169). Sometimes he would go back to his former camp nearby. He had been released from the army but would take on a guard duty so that he could receive food rations as a soldier. He wrote on October 19, 1918 (GB 171): »The Star is now my immediate task: I carry it now daily through the sea of the German lamentation holding it high so it will not get wet.« (GB 420) On January 9, 1919 he discussed the difference between the Jewish and Christian meaning of revelation with Eugen Rosenstock. Rosenstock considered the Protestant and Jewish meanings of revelation one and the same, but Rosenzweig disagreed. In contrast, he claimed that Protestants speak of revelation in connection with one favorite prophetic figure, Jeremiah. Jews, however, »learn that the spirit of God rests on the prophet only for the sake the Jewish people. As it says in Rashi on Deut. 2,17.« Rosenzweig saw a sociological difference between the character of the Jew and the Christian, which one can also see in the Star. From this quotation it can be seen that he studied Rashi seriously. In one of Rosenzweig's last letters to Eugen, written on February 12, 1924 (GB 802), when he was already sick, paralysed and embittered that Gritli had deserted him, he saw himself as another Job from whom everything had been taken away.

IV. Is the Star a Jewish book? In Rosenzweig's view, the Star is first and foremost a Jewish book and secondarily, it is in a sense his own theological autobiography. His deep Jewish roots are revealed in it, and it is surely his masterpiece and his credo. Once he explained it as follows: »It is noteworthy how personal everything becomes, everywhere there are my private affairs and nevertheless a system.« 45 Rosenzweig wanted to show the Jewish roots of the book since Rosenstock had overlooked them. In a letter dated October 5, 1918 he wrote: »How and where« do I put down whether I write [the Star] as a Jew or as a Christian? Though I am definitely sure about it I never put it down anywhere [...] I [...] do not write on the open ground of the common mind, but on the open ground of the course of my own life, which as is known (with the AOK 11 and with the F. A. shooting school Rembertow) begins: »I, Franz Rosenzweig of Jewish denomination 44

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See his letters to G. Oppenheim, BT 400-401; to Β. Jacob, May 10, 1927, BT 11401141. There is much literature on Rosenzweig's attitude to Zionism. See: Rivka Horwitz: Franz Rosenzweig and Gershom Scholem on Zionism and the Jewish people. In: Jewish History 6 (1992), p. 99-112. October 10, 1918, GB 167; April 4, 1918, GB 71; again November 9, 1918, GB 181182.

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was born at... the son o f . . . And so forth on ... at... (Chronology and Geography of the Diaspora). My writing as a Jew is the decisively unquestioned presupposition, just as unquestioned as my writing as Rosenzweig. And hence it derives that in this book, I, being quite untroubled, write by use of codes. (GB 161)

Here we have Rosenzweig's own interpretation of his secret codes. On this theme he adds: »The codes also retain allusions to Hermann Cohen. But is this the Hermann Cohen that the public knows? [Or] Is this my completely private beloved Cohen?« (GB 161) Probably the latter. In what way his beloved Cohen was his Jewish source is the most important task for the future study of the Star. How different those future studies of Rosenzweig will be from those of the past, such as those of E. Freund and M. Scwarcz, who compared him with Schelling! Rosenzweig does in fact follow Cohen's understanding of revelation and surprisingly thinks like him that it is a rational question.46 No less unexpected is his very critical attitude and distance towards the Protestant university. He wrote: »I try to maintain my attitude to the Protestant university, I hold fast to it only because I bought my scientific knowledge in that store, and in case of repair I have to return to them.« (GB 161) The tools and contents of his university education, where he had studied »critical learning«, he terms his »acquired property«. By this he meant Hegel, Greek philosophy and Idealism, what he called philosophy from »Ionia to Jena« and which claimed »the possibility of the Cognition of the All«. In its place he founded his new thinking on the possibility of experiencing revelation. The letters bring to light the many debates he held with his Christian friends and particularly with Eugen Rosenstock, his opponent and great inspiration. His Christian friends Eugen and Hans had wished to convert him too. They considered Christianity as the only true religion. Rosenzweig, in contrast, saw Judaism and Christianity as two revealed religions sharing in the idea of creation, revelation, and redemption. They differ though, in the interpretation of God, man, and world. In the end, Rosenzweig concludes that God is the truth beyond any religion. According to Rosenzweig's eschatology, the Law will disappear for Jews and only God will remain. For Christians, Christ will disappear and God will be all. This is a train of thought that Hans Ehrenberg shares with him to a certain extent, as Schmied-Kowarzik has shown. We do not find in Hans, however, a tolerance towards the present Jews. Even in 1933 he favored their conversion.47 Rosenzweig spoke of two paths, but his Christian friends did not feel the same towards Judaism. They did not recognize Judaism as a truth and were eager to be missionaries, which is very disturbing. Time and again, Rosen46 47

GB p. 71 April 4, 1918, and again Nov. 9 , 1918 GB, p.182. Hans Ehrenberg: 72 >Leitsätze zur Judenchristlichen Frage< (Juli/August 1933), reprinted in: Franz Rosenzweig und Hans Ehrenberg. Bericht einer Beziehung. Hg. von Werner Licharz und M. Keller. Frankfurt a. M.: Haag + Herchen 1986 (Arnoldshainer Texte; 42), p. 20Iff.

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zweig asked for tolerance and asserted his ideas. The thought of two true religions which could be accepted by tolerant thinkers, both Jewish and Christian, was not accepted to any extent by Eugen Rosenstock or Hans Ehrenberg. In contrast to them, I would like to cite the example of the important American theologian Paul van Buren, a righteous among the Gentiles and a great admirer of Rosenzweig. 48 In his work Discerning the Way, he rejects Christianity's injustice to the Jews in general and to the Holocaust in particular. He argues against Christianity's attitude to the Jewish people and the Christian denial of Israel's very identity. Whereas van Buren found five Jewish thinkers - Halevi, Maimonides, Hameiri, Jacob Emden and Rosenzweig - who recognized that Christians worship the God of Israel, he could not find even one corresponding voice from the Christian side throughout its long history. He objected to any missionary activity towards the Jews, and believed that trying to persuade them to convert was shameful. Van Buren used to come to the Shalom Hartman Institute in Jerusalem to discuss the drafts of new books he was writing with Jewish historians and to study the material together with them. But in Germany the atmosphere was very different and Eugen persisted in trying to convert Rosenzweig. On July 30, 1919, Rosenzweig wrote Gritli: »It is boiling within me, about this Christian pride, because it had monopolized >love>Hätt' ich ein Vierteljahr nur Ruh'« - vorläufig benutze ich eben die Tage und hoffe, daß sie sich zum Vierteljahr summieren werden. Der erste Teil hat 6 Wochen gebraucht; davon war 1 Woche Unterbrechung dank den Bulgaren ... (GB 158) Am Abend desselben Tages berichtet Rosenzweig: Heut war ich den ganzen Tag auf meinem Zimmer. Schön ist das eigentlich nicht; es arbeitet sich schlechter als im Felde; vielleicht ists auch nur das Ungewohnte. Schön ist nur das Bett und dann dass man einen Nachttisch mit Licht neben sich hat und nachts ruhig aufschreiben kann was einem einfällt wenn man mal wach wird, und dann wieder einschlafen. (GB 159) Im Laufe der Nacht beginnt Rosenzweig mit der Arbeit an der Einleitung zu Stern II, der seiner Ansicht nach leichter als das Vorangegangene wird: Dieses Buch II wird gar nicht schwer zu lesen. Ob es dennoch noch jemand versteht außer dir? Auf Buch III bin ich immer neugieriger; der Vorhang der noch davorhängt will sich nicht heben. (GB 159) 4. Oktober: Am nächsten Morgen:

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Diese Nacht »zwischen den Teilen« wieder im unmittelbaren Anblick des Ganzen hatte ich nötig gehabt. / Vielleicht rutsche ich auf der schiefen Ebene, auf die ich nun einmal geraten bin, für ein paar Tage bis Deutschland? (GB 160) Neben der Arbeit an Stern II geht das Abschreiben von Teil I weiter. 5. Oktober: »I 2 ist gestern fertig abgeschrieben. Ich traue meinem Urteil nach dem Abschreiben nie; es ist immer schlecht.« (GB 160) 6. Oktober: Angesichts der deprimierenden politischen Situation schreibt ein erkälteter Rosenzweig: Die Friedensaussichten drücken weiter auf mir, ganz anders wie letzten Dezember, wo schon das schwache Frühlingslüftchen mich so warm anblies. Wie anders war damals Deutschlands Lage und Aussicht. In einem Sommer ist das alles verspielt! [...] Ich fange morgens so früh wie möglich, wenn es eben dämmert, zu schreiben an, weil ich nachher, wenn Zeitungen da sind, mich nicht mehr recht konzentrieren kann. (GB 163) 7. Oktober: [...] ich habe den ganzen Tag an der Einleitung [II] geschrieben; sie ist jetzt in der Partie, wo ich selber neugierig bin, was herauskommt. Sie wird wohl besser als die erste, leidet aber natürlich auch an dem gleichen Fehler, dass sie vorwegnehmen muss, was erst nachher im Teil selbst ausgeführt wird. (GB 163) Rosenzweig, noch immer im Lazarett, berichtet von dort stattfindenden »Religionsgesprächefn] (kathol.-evangel.), ich bleibe stummer Zuhörer und stelle nur manchmal eine Zwischenfrage oder bestärke die schwache Partei, die gegen den Führer des Corpus Catholicorum behauptet, dass >hurra< nicht aus dem Lateinischen kommt und nicht >tötet ihn< heisst.« (GB 165) 9. Oktober: »gestern Abend habe ich meinem stark verschnupften Gehirn noch den Schluss der Einleitung abgezwungen und heute mit II 1 [...] angefangen.« (GB 165) 10. Oktober: Während des Schreibens an Stern II 1 wundert Rosenzweig sich darüber, »wie persönlich alles wird, es sind überall meine ganz privaten Angelegenheiten - und doch ein System.« (GB 167) 12. Oktober: Unzufrieden schreibt Rosenzweig: [...] es ist schwierig und unklar geworden [...] Ich glaube, Eugen wird es überhaupt viel zu theologisch sein. Der II. Teil wird nicht leichter zu lesen als der I. - Du wirst darauf angewiesen sein, dass ich dir Stellen daraus [...] vorlese. (GB 168f.) 19. Oktober: [...] die ganzen Tage schrieb ich nicht; immer sah es aus, als ob wir fort kämen und dann wurde doch nichts daraus; und übrigens sass ich von früh bis abends und gebar meinen tanzenden Φ. Morgen früh wird wohl II 1 fertig, es fehlt nur noch die grammatische Analyse von I M I . [...] Der Φ ist mir jetzt das Nächste, die nächste Aufgabe. Ich trage ihn jetzt täglich durch das Meer des deutschen Jammers und halte ihn so hoch dass er nicht nass wird. (GB 171)

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Angesichts des militärischen und politischen Zusammenbruchs arbeitet Rosenzweig wie in einem verzauberten Zustand, mit dem Gefühl des Furchtbaren, was geschieht, und doch über dieses Gefühl hinweg. Ich schreibe in die Jahrtausende hinein und krümme mich dabei unter den Geißelhieben des Jahrhunderts [...] Ich speziell merke ja jetzt, wo es zerbricht, erst ganz, dass es mir noch mehr bedeutet hat als ich mir zugab. Es war doch eben einfach die Welt, der man vertraute, weil sie da war. Die Rätselhaftigkeit von Gottes Willen spürt man erst ganz in der Niederlage; im Sieg redet man sich ein, so müsste es sein. Und das Sonderbarste ist, wie sich das alles sammelt in dem Schmerz um die Hohenzollern. Das wusste ich nicht, dass ich so gefiihlsmonarchisch bin. (GB 171f.) 28. Oktober: Nach Freiburg zurückgekehrt, wo er einst studierte, besucht Rosenzweig seinen »Sekretär« Mündel, der das Manuskript des Stern mit der Maschine abschreibt. Die Arbeit am Stern ist durch den Truppenrückzug vorübergehend unterbrochen worden. Doch Rosenzweigs zögerliches Weiterschreiben ist auch inhaltlich bedingt. So schreibt er Margrit Rosenstock, die er bald besuchen möchte, er habe an dem inzwischen begonnenen Buch Stern II 2 noch nicht wieder geschrieben, teils aus Abhaltung »und teils aus einer Art Schamgefühl; es wird ja das eigentlich indiskrete Kapitel, obwohl gar nicht Beichte [...].« (GB 173) 29. Oktober: [...] bei wem schreib ich wohl? bei Herrn Kinkel. [...] im übrigen sieht es hier mit den Aussichten für den Stern bös aus; der elende Garnisonsdienst mordet die Frühstunden; sowie ich eine Privatwohnung habe, werde ich mir durch Mittagschlafen und 4 Uhr früh Aufstehen einen künstlichen Morgen schaffen. Die Abende gehen auf das Diktieren bzw. Dabeisitzen. (GB 174) Am Abend zuvor ist Rosenzweig an einem Gasthaus vorbeigekommen, an dessen Eingang als Brauerei-Zeichen ein sechsstrahliger Stern prangte. Da musste ich wohl hereingehen, was ich ja auch vorher schon wollte. Es muss doch werden, trotz Garnisondienstes und allem. (GB 174) 30. Oktober: Rosenzweig über den Garnisonsdienst: [...] zum Davonlaufen. Das ist nichts für mich, im Krieg ist alles vernünftiger, und auch das Zusammensein mit den Leuten [...] Und 7 Stunden! Heut habe ich nach Mittag und - während der Instruktionsstunde (ganz wie ein Schuljunge) etwas gesternt, sonst wäre ich auch heute nicht dazu gekommen. Abends ging ich vor Mündel in die Universität, um J. Cohns von 6 - / 2 8 angekündigtes Seminar zu besuchen; ich war weniger auf ihn, und gar nicht auf »Logik u. Erkenntnistheorie«, gespannt als auf den Eindruck eines Kriegsstudentenpublikums. Aber auf dem Gang zum philos. Seminar war alles finster; das gedruckte Verzeichnis hatte offenbar gelogen. (GB 174f.) 1. November: Liebes Gritli, heut habe ich zum ersten Mal wieder einen ganzen Tag gehabt und gleich auch wieder den ganzen Tag geschrieben. Diese Stimme reisst eben scheinbar nicht ab, ganz einerlei welche andern Stimmen in der schrecklich polyphonen Symfonie des Lebens noch mittönen. (GB 176)

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2. November: [...] was ist das für ein Jahr des Todes - und doch nicht bloss des Todes, sondern auch dessen was stark ist wie der Tod.7 Meine Seele zieht ihre Kreise um dich und liebt dich. Dies Buch II 2 an dem ich jetzt schreibe gehört dir noch viel eigener als das Gritlianum, grade weil es nicht von vornherein für dich bestimmt war und es ja auch jetzt nicht ist. Es ist nicht »Dir« aber - dein. Dein - wie ich. Manchmal ist mir, als wäre ich ein Kind, das nicht schreiben kann und es doch gern möchte und du führtest mir die Feder. Tu's weiter, Geliebte. (GB 176) Rosenzweig wohnt mittlerweile außerhalb der Kaserne und denkt über sein zukünftiges Schreiben nach: III 1 und III 2 sehe ich ohne Erreg\mg entgegen; [...] erst vor III 3 verspüre ich wieder die Schauer, die man vor dem verschleierten Bild spürt; denn da muss ich ganz verstehen was ich eigentlich denn gemacht habe. (GB 177) 8. November: »Der Stern ist freilich jetzt in einem Teil wo alles Schreiben daran Schreiben an dich ist; du siehst mir immerfort über die Schulter.« (GB 178) Rosenzweig spürt, daß er wieder ganz konzentriert bei der Arbeit ist. Dennoch geht es langsamer als gedacht voran, da er nur begrenzt Zeit zur freien Verfugung hat. Vor dem Krieg ist er [der Stern] ja nun gerettet; nun muss ich hoffen, dass ich ihn auch durch die Revolution durchtrage, die ja unzweifelhaft in den nächsten Monaten kommt. Mir ist unheimlich; es wird mir gehen wie 1914, ich werde versuchen müssen, innerlich und äusserlich neutral zu bleiben, und es wird mir ebensowenig wie damals auf die Dauer gelingen; und dann wird mein Platz, aus dem gleichen Grund wie damals, nämlich weil es das Natürliche, Nächstliegende und Unvermeidliche ist, auf der reaktionären Seite sein, und doch nur, wie damals ja auch, mit halbem Herzen. Vorläufig aber sitze ich also wieder am Münsterplatz, im [Gasthof] »Geist«. (GB 179) Dort arbeitet Rosenzweig lieber als in seinem ungeheizten Zimmer. Er ist in Gedanken bereits bei der Einleitung zu Stern III angekommen: Ich möchte dir gern vom Stern erzählen, aber es geht nicht, es ist zu viel. Der Übergang von II zu III, [...] die Einleitung für Rudi, wird jetzt im einzelnen klarer. (GB 179) Am Abend sitzt Rosenzweig wieder mit Mündel über der Abschrift des Stern und erschrickt über die Schwierigkeiten von Teil II 1. Inzwischen ist in München und Berlin die Revolution ausgebrochen. Aber trotzdem gilt: Ich kann nicht verzweifeln: der Φ hat einen starken Auftrieb und hält mich über allen Wassern; es ist mir noch nie so mit etwas Geschriebenem gegangen. (GB 180) 9. November: Die politischen Unruhen haben auf Freiburg übergegriffen: Hier hat die Revolution mittags begonnen, noch in recht ruhigen Formen [...]. Ich habe nachmittags mich 3 Stunden auf mein Zimmer verkrochen, lamentiert und am Φ geschrieben, wahrscheinlich sehr massig, obwohl es ein Stück war auf das ich mich gefreut hatte. (GB 182) 7

Anspielung auf den Vers Hoheslied 8,6: »Denn stark wie der Tod ist die Liebe«, der in Stern II 2 von zentraler Bedeutung ist.

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Rosenzweig denkt an den Kaiser, besonders an dessen kümmerlichen Abgang. (Wilhelm II. zog sich am 10. November ins holländische Exil zurück und verzichtete auf den Thron.) 12. November: [...] mir ist übel vor diesem ganzen Betrieb, ich bin ein einziges Vive le roi; ich griisse die Offiziere, seit es verboten ist, mit wahrer Inbrunst. [...] auf was soll eine Revolution in Deutschland schliesslich hinauslaufen wenn nicht auf eine Judenhetze. (GB 185) Je düsterer die allgemeine Lage, desto mehr wendet Rosenzweig sich seiner Arbeit zu: Ich bleibe ganz gern noch ein paar Tage hier und mache wenigstens II 2 (morgen oder übermorgen) fertig und fange II 3 vielleicht noch an [...] Am Stern arbeite ich, solange ich arbeite in Vergessenheit des Draussen; aber zwischendurch denke ich kaum an ihn; sodass ich mich immer erst hineinfinden muss. Dies Buch wird aber doch ein dolles Stück; das vorige ist bösartig schwer, dieses ist eigentlich ganz leicht, aber trotzdem wäre es für die meisten siebenfach versiegelt, und alle Siegel lösten sich wohl nur dir. (GB 185) 13. November: »morgen werde ich wohl mit II 2 fertig« (GB 187). 14. November: Liebes Gritli, es ist drollig, mit was für einem vergesslichen Kopf ich den Φ schreibe; ich kenne eigentlich immer nur die Partie, die ich grade schreibe; und dennoch geht alles zusammen, und ohne klares Bewusstsein davon mache ich fortwährend die nötigen Vor- und Zurückweisungen. Das Buch schreibt sich eigentlich selbst; so rund war die erste Konzeption; [...] ich bin heut morgen so vergnügt, dass ich beinahe mit II 2 fertig bin, dass ich vor lauter Vergnügtsein - nicht fertig werde. Ich muss mich heut aus Brotmangel in der Kaserne melden und werde dann wohl in den nächsten Tagen Wachen u. dergl. Dienst machen müssen. [...] ich werde nie wieder etwas schreiben wie dieses Buch II 2 - Morgen früh werde ich wohl fertig. (GB 188f.) 15. November: Abschluß von Stern II 2. 16. November: »II 3 ist mir immer noch ziemlich dunkel. Aber II 2 ist schön geworden...« (GB 192). 17. November: Mit II 3 war es nur ein sachtes Anfangen heute, aber immer doch ein Anfangen; ich schreibe ja am ersten Tag immer nur wenig. Heut um 11 zogen Freiburger Truppen ein, mit Musik. Es war ganz furchtbar, nicht das einzelne, nicht das was man wirklich sah; aber es sprang einem so ins Gefühl, wie das hätte werden müssen und wie es nun geworden ist. Was man so sieht, ist immer noch viel umreissender als was man weiss. Ich verkroch mich in einen finstern Hausflur, vor dem ich grade stand, und habe geheult, bis sie vorüber waren. Dann frass ich im Automatenrestaurant vier Lebkuchen und dann war ich wieder einigermassen in Form, ging ins Hotel und schrieb den Anfang von II 3. (GB 192)

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20. November: Rosenzweig schreibt weiter »fast ohne Überblick und doch hängt jede Einzelstelle so fest im Ganzen, dass fast keine für sich völlig verständlich ist« (GB 196). 21. November: Am Abend hat Rosenzweig einen Bekannten gefragt, [...] was eigentlich das Hexagramm (Φ) bedeutet. Er meinte zwar erst, das müsste doch ich wissen, ich wäre doch der Kabbaiist (!) [...] Ich könnte ja jetzt hier auf der Bibliothek allerlei nachsehen, aber - ich habe einfach keine Zeit dazu [...] Ich schreibe so in dieser halben Besinnungslosigkeit weiter, so dass ich mich hinterher kaum entsinne, was ich geschrieben habe, und doch wächst immer alles ganz gut zusammen. Aber ich sehne mich jetzt mehr nach dir als bei II 2. Da war es eigentlich, als ob du immer dabei warst, wenn ich schrieb; das war immer sehr schön. (GB 197) Da es auf seinem Zimmer zu kalt ist, arbeitet Rosenzweig meist in einer badischen Wirtsstube, wo er von anderen Gästen verdächtigt wird, ein Buch über den Krieg zu schreiben. 24. November: Ich bin nun grad gut im Schreiben, jetzt beim 10 Maschinenseiten-Pensum angelangt. Aber nun bin ich auch wie ausgepumpt. Und das Komischste ist: ich weiss hinterher nicht mehr, worüber ich geschrieben habe; und was, natürlich erst recht nicht. Bei [dem Freiburger Philosophie-Profesor] Cohn gestern war es interessant [...] Er will nun (»auch«, denke ich natürlich) sein System schreiben und rechnet sich 5 Jahre dafür. Ich musste an mein - wahrscheinlich - 5 Monatskind denken. 27. November: Morgen also noch der Schluss [von II 3], übrigens wohl doch nicht der 73. Ps., sondern der 115. (Non nobis). Nämlich der 73. hatte mich wegen des Begriffs der Versuchung gereizt, aber der kommt nun überhaupt erst in Einl. III. Während der 115. alles enthält, was in II 3 vorkommt. Ausserdem spielt der 73. keine Rolle bei uns im Kult, der 115. dagegen an allen frohen Festen. [...] Im Januar werde ich ja nun wohl sicher fertig. Die Bücher des III. Teils werden jedes nur eine Woche dauern. Danach müsste ich meine Notizen mal durchsieben, ob ich alles verwendet habe. Und dann ist es fertig. (GB 200f.) Ende November schließt Rosenzweig Stern II 3 ab. Gleichzeitig denkt er darüber nach, ob er das Buch zu Lebzeiten überhaupt veröffentlichen soll, obwohl es ihn seine Karriere kosten würde. Er entscheidet sich zunächst gegen eine Veröffentlichung, da diese ihn zwar berühmt machen, aber vom Leben abschneiden würde. Anfang Dezember fährt Rosenzweig zu einem Kurzbesuch nach Säckingen am Rhein und verbringt einige Tage im Elternhaus von Margrit Rosenstock, der er wenig später auch selbst begegnet. Kurz vor Weihnachten reist er nach Kassel zu seiner Mutter. 24. Dezember: Ich habe die neuen Anfangsseiten zur Einl. I fertig geschrieben; es sind wohl 6 Seiten Maschinenschrift und glaube ich grade richtig, präludierend, aufregend und nichts vorwegnehmend. Sie handeln von der Todesangst und nebenher auch vom

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Selbstmord; ob sich die bisherige Einl. dann glatt anschliesst, kann ich nicht wissen, weil ich sie ja nicht hier habe. Dann werde ich morgen hoffentlich III 1 anfangen, das heisst die Überschrift und die ersten Sätze habe ich zur Sicherheit heute schon geschrieben. 25. Dezember (Rosenzweigs 32. Geburtstag): [...] ich bin eigentlich den ganzen Tag sehr vergnügt, so über einem dunkeln Grund und doch vergnügt. Schon das Geschenktkriegen en masse war ich ja seit 1915 nicht mehr gewöhnt und nun macht mir der Tisch mit den vielen Büchern deshalb solche Freude. [...] Statt am Stern zu schreiben habe ich heut früh bis 8 geschlafen. Dann war der erste richtige Schneetag draussen. Ich hätte heute auch nicht schreiben können. Ich weiss noch nicht wie ich es anfangen soll. Es kann sein, dass es eine richtige Unterbrechung giebt; etwas ballt es sich aber schon zusammen, sodass es vielleicht doch schon morgen früh weitergeht. (GB 205) 26. Dezember: [...] es ist doch nichts geworden mit der »Unterbrechung«, heute früh kamen die Massen schon wieder in Fluss. Danach las ich, seit wieviel Tagen zum ersten Mal, wieder Zeitungen und entsetzte mich. (GB 206) 27. Dezember: Ich bin schon wieder etwas im Tempo. Vielleicht wird das Ganze doch veröffentlichbar. (GB 206) 28. Dezember: Ich habe dafür fleissig an III 1 geschrieben, einen langen Auftakt; morgen kommt nun wieder der Stern hinein: seit heute steht die Disposition fest. (GB 206) 29. Dezember: [...] es wird ein schönes Stück, und während ich es schreibe, geht es mir genau wie ich es dir vorhersagte: ich begreife gar nicht, wie ich III 2 schreiben können werde. Umgekehrt wird es mir freilich bei III 2 nicht gehen. (GB 207) 30. Dezember: Rosenzweig plant nachmittags auf ein Klassentreffen zu gehen - das erste Mal seit 1913: So schreibe ich dir vormittags und lasse III 1; es geht jetzt unmittelbar in den Hauptteil, die Liturgie, hinein. [...] Vor dem Klassenzusammensein ist mir etwas bange. Gefallen sind von den Abiturienten von 1905 nur 4, also der vierte Teil. Nur einer stand mir nah. (GB 208) 1. Januar 1919: Rosenzweig berichtet, daß zum Schluß des alten Jahres ein Brief des Verlegers Meiner angekommen sei, der sich fur eine Veröffentlichung seiner Vorkriegs-Dissertation über Hegel und der Staat interessiert. 2. Januar: Rosenzweig muß sich um seine Mutter kümmern, die seit dem Tod ihres Ehemannes unter Depressionen leidet:

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Neben Anregungen seiner Freunde, mit denen er vor allem brieflich regelmäßig über Teile des Stern, die er ihnen hat zukommen lassen, diskutiert, geht Rosenzweig in diesen Tagen auch wieder bei seinem verstorbenen Lehrer Hermann Cohen in die Schule: Nachher werde ich Cohens System8 wieder weiter lesen und dabei gleich meins verbessern, vor allem sehen, was ich vergessen habe. Das giebt dann eine ganz lebendige Kritik; ich habe es neulich gemerkt, als ich etwas darin las. Mutter hat neulich die Stelle in II 2 von der Ehe (am Schluss) gelesen,9 und fand sie doktrinär! Es ist übrigens ja richtig, ich bin ja nicht verheiratet und so ist die Stelle auch. Aber doch nicht doktrinär. Sehnsucht ist doch nicht doktrinär! (GB 211) 5. Januar: Ich beginne jetzt erst, einigermassen klar zu übersehen, wie sich III im Ganzen ausmachen wird. III 1 wird doch ziemlich lang. Ich bin noch im liturgischen Teil [...] Gestern habe ich heftig gegen das Lesen beim Essen geschrieben und gegen die Junggesellen überhaupt. Auf III 2 bin ich nun doch sehr neugierig. (GB 213) Rosenzweig kündigt an, demnächst nach Berlin fahren zu wollen. Dort beginnen sich nämlich Pläne zur Schaffung einer jüdischen Akademie zu konkretisieren, deren Gründung Cohen als Reaktion auf Rosenzweigs Bildungs-Schrift »Zeit ists« 10 von 1917 gefordert hatte. Rosenzweig war zunächst als Leiter dieser Akademie im Gespräch. »Ist es nicht komisch, dass Hermann Cohens »letzter Wille< eigentlich mein erster ist?« (GB 214) 7. [?] Januar: Rosenzweig gesteht, daß sein Wunsch, den Stern zu drucken, stärker geworden sei. Über den Fortgang der Arbeit an Teil III heißt es: [...] die Liturgie ist fertig, [...] und nun gäb ich was drum, wenn ich nur wüsst, was ich eigentlich morgen noch schreiben werde. [...] Für wen aber ist es eigentlich geschrieben? ich möchte jemand wissen, der alle Anspielungen darin versteht. Cohen hätte sich glaube ich doch gefreut. [...] dazwischen kommt nun »Berlin«, wenn die Revolution Bradt am Leben lässt. Allerdings wird III 2 rascher gehn als III 1 weil die Disposition ja genau parallel wird und ich mir dadurch immer leicht ein bestimmtes Pensum für jeden Tag setzen kann. (GB 215) 8

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Hermann Cohen: Der Begriff der Religion im System der Philosophie. Glessen: Töpelmann 1915 (Philosophische Arbeiten; 10,1). »Ehe ist nicht Liebe. Ehe ist unendlich mehr als Liebe.« Franz Rosenzweig: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften. Bd 2: Der Stern der Erlösung. Den Haag: Nijhoff 1976, S. 228. »Zeit ists. Gedanken über das jüdische Bildungsproblem des Augenblicks.« Rosenzweig, Zweistromland (Anm. 3), S. 461-481.

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8. Januar: Es fällt Rosenzweig schwerer, den dritten Teil, dessen erstes Buch demnächst fertig wird, zu schreiben als den zweiten, »weil er wortfremd ist« (GB 216). Im Gespräch mit seinem Freund Joseph Prager merkt Rosenzweig, wieviel er vergessen hat »durch das halbe Jahr, wo ich jetzt nichts mehr lese. Ich muss, muss, muss und muss fertig werden [...] Ich fragte Prager auch nach dem Φ, er wusste aber natürlich auch nichts« (GB 216). 9. Januar: »III 1 ist fertig, ein bischen frag-mich-nur-nicht-wie.« (GB 216) Der dritte Teil, so furchtet Rosenzweig, halte »doch nicht das Niveau des zweiten, und das habe ich eigentlich gewusst, als ich den zweiten schrieb: daß ich etwas so Gutes nicht wieder machen würde« (GB 216). Über die weitere Arbeit schreibt Rosenzweig : Ich möchte ja gern, ehe ich nach Freiburg gehe III 2 fertig haben. Zwischen III 2 und III 3 ist mir eine Pause nur recht. III 3 wird ja kaum mehr sehr parallel werden, sondern eine Kombination über den beiden Parallelen III 1 und III 2 , ein Türsturz über den zwei Pfosten mit den Statuen der Kirche und Synagoge. Aus Berlin wird wohl augenblicklich doch nichts; und da wäre es möglich, allerdings nur bei einem ziemlich dollen Tempo, dass ich wirklich »bis zur Wahl« III 2 schriebe. Morgen früh fängts an. (GB 216)

10. Januar: Rosenzweig hat mit Stern III 2 angefangen: »[...] der übliche erste Tag, das Ankurbeln« (GB 217). Er war einige Stunden auf der Bibliothek, um ein Maimonides-Zitat, mit dem der Abschnitt beginnt, zu prüfen, fand es aber nicht. Angesicht der erwarteten Wahlen fragt Rosenzweig das Ehepaar Rosenstock, wie sie abstimmen werden. Sie sollen doch, um seinetwillen ihre Stimmen den Demokraten geben - »ihr habt doch nun beide ein Interesse daran, dass es keine Pogrome gibt« (GB 217). 11. Januar: Rosenzweig verdächtigt seine Mutter, Briefe von Margrit Rosenstock, die an ihn gerichtet sind, zu öffnen und bittet seine Partnerin, die Umschläge künftig zu siegeln. »[...] es macht mich auch unruhig beim Arbeiten, wenn ich meine Post nicht ruhig unten liegen lassen kann« (GB 218). Dann kommt er noch einmal auf den Stern : Ich bin so sehr jetzt wieder in den einzelnen Büchern, dass ich mich wirklich besinnen musste, was ich denn in Einl. III für die Zuchtlosigkeit des Glaubens plaidiert hatte. Ich bin eben jetzt bei der Kirchenzucht und kucke gar nicht über die Mauer. (GB 218)

12. Januar: Ich bin nicht recht zufrieden mit diesem Buch [III 2] oder vielmehr: ich bin gar nicht zufrieden. Ich weiss nicht, woher es kommt. Entweder ist es doch verboten, so von aussen über etwas zu schreiben - und nun gar darüber. Denn es ist ja von aussen [...] Es kann aber auch sein, dass es einen ganz andern Grund hat: ich bin vielleicht einfach »überschrieben«. Nach den ersten 3 oder 4 Wochen kam die Pause von Üsküb bis Belgrad und dann nach wieder drei Wochen die Pause Belgrad - Freiburg. Seitdem aber habe ich höchstens die paar Tage von Säckingen bis Kassel pausiert und selbst seitdem sind es nun schon 6 Wochen. [...] Im Ganzen hemmt mich wohl im

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Reinhold Mayer dritten Teil auch, dass ich ihn eigentlich nicht mehr schreiben muss, denn ich weiss ja schon alles was drin steht, wenigstens in den beiden ersten Büchern. Die beiden ersten Teile steckten im Rudibrief.11

13. Januar: Mit mir und dem Φ war allerlei seit gestern Abend. Da fing ich nämlich, im Esszimmer, mit Mutter an, den ersten Teil zu korrigieren, und verstand kein Wort, ich wohl aus Müdigkeit, Mutter sowieso, aber trotzdem war ich doch erschrocken, wie schwer er ist. Und so blass. Ich weiss nicht, ob es etwas am Stoff liegt. Aber jedenfalls - ich war bedrückt, und Mutter nährte die Stimmung kräftig. Natürlich dachte ich dann heut Morgen: nun grad nicht. Und es ging dann auch besonders gut, wenigstens verglichen mit den letzten Tagen. (GB 220) 14. Januar: Rosenzweig furchtet, daß Stern III 2 schlecht werde. Am liebsten führe er mit der Bahn nach Säckingen und von dort nach Freiburg. Wenn es nur an überschriebener Feder liegt, dann wird es ja danach wieder gehen. Und sonst? Ich spüre es wohl zum ersten Mal wirklich, wie ganz unmöglich es ist, Wesentliches von aussen sagen zu wollen. (GB 221) 15. Januar: [...] wo ich gestern stecken blieb und so unglücklich war, das war - an sich schon komisch ... - bei Staat und Kirche. Vor dem Schlafengehn fiel mir dann ein, dass ich ja die »stärksten von meinen Künsten« ganz vergessen hatte, da wandte ich sie an, nämlich ich sah mir - den Φ an! das hatte ich lange nicht mehr getan; und richtig da war plötzlich alles schon da, und heute habe ich also von Staat und Kirche und von Priester und Heiliger geschrieben, alles genau wie es im Φ zu sehen ist. Aber so down war ich gewesen, dass mir das nicht einfiel, wo es doch das Naheliegendste war: an den Φ zu denken, wenn man von ihm schreibt. [...] ich habe jetzt mit dem liturgischen Teil begonnen, der kürzer wird als im III 1, dafür der vorliturgische länger. (GB 222) Parallel zum Stern arbeitet Rosenzweig an einem Vortrag über »Geist und Epochen der jüdischen Geschichte«. 12 Die folgenden Tage sind aufreibend wegen ständiger Auseinandersetzungen mit der Mutter. Rosenzweig träumt in der »Hölle« in Kassel, wo er Stern III 2 nicht abschließen zu können meint, in Richtung Säckingen und Freiburg: »ich kann dir heut überhaupt nicht schreiben. Es geht nicht« (GB 224). 18. Januar: In einer kurzen Stille nach dem Sturm schreibt Rosenzweig: Heute musste ich lachen, dass ich gefürchtet hatte, mit III 2, wenn ichs drucken liesse, mir meine jüdische Karriere (a non Carrieremachendo) zu verderben, - es wird wirklich so ganz anders. [...] Spürst du es also auch, dass der Krieg schon so unendlich lange her ist. Obwohl ich durch den Stern noch in einem unmittelbaren Zusammenhang mit seinen für mich letzten Monaten August und September bin, ists mir, als war es Jahre. (GB 224f.) 11 12

GB 218f. Gemeint ist die »Urzelle«. Dazu Rosenzweig, Zweistromland (Anm. 3), S. 527-538.

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Nach einem Aufenthalt in Säckingen kehrt Rosenzweig am 30. Januar nach Freiburg zurück. Er ist voller Liebe und Dank, aber sehr müde. 31. Januar: Ich habe auch meine verschiedenen Töpfe auf den Herd gestellt; III 3 brozzelt schon leise, und bei Mündel war ich heute Nachmittag 4 Stunden (Ergebnis: Lektüre von 60 Manuskript = 30 Maschinenschriftseiten) [...] III 3 wird vielleicht doch gut, allerdings ganz anders als III 1 und 2, ja überhaupt anders als alles Vorhergehende. Aber es ist mehr eine Ahnung [...] Übrigens habe ich heute beim Lesen von II 3 gemerkt, dass mir das bei dieser Art Lesen genau so zuwider war wie I, so dass also I vielleicht doch besser ist als ich dachte. (GB 226) 1. Februar: III 3 kocht langsam weiter. Es wird ganz anders als das Vorhergehende. Ich schreibe wie in einem leichten Champagnerrausch und ziehe Fäde aus den früheren Teilen hervor. Es wird der eigentlich orchestrierte Schlussteil. »Tor« dann nur noch der Kehraus, in piano, kleines Orchester. Es wird die üöertheologische Theologie wie I I die untertheologische war. Eine »Mystik«, aber auf Grund all des Unmystischen was auf den 500 Seiten davor steht und dann ja auch wieder neutralisiert durch das antimystische »Tor«, das noch nachfolgt. Hoffentlich kriege ich es hier fertig. [...] Aber ich bin noch ganz leise und nur ahnend, wie es wird. (GB 227) 2. Februar: das Wasser kocht! es wird wohl so, wie mir vorschwebt.

(GB 227)

4. Februar: Mit III 3 bin ich jetzt wieder bei den grossen Rationen angelangt, heut 9 Seiten. Morgen komme ich wohl an den Mittelteil, die beiden Ausstrahlungen des Φ nach innen und nach aussen. (GB 228) 5. Februar: Am Φ schreibe ich mit einer Mischung aus Leichtsinn und »Furcht und Zittern«, und dem Gefühl sehr mangelhafter Vorbereitung. Ich weiss nicht - aber vielleicht wird es doch gut. (GB 229) 7. Februar: Ists nicht komisch, dass ich nicht bloss keinen Beruf habe, sondern noch nicht mal mein Fach angeben kann? es wurde mir gestern wieder so klar. »Philosoph« bin ich wahrhaftig auch nicht; das merke ich jedesmal wenn ich mit Professionels zusammen bin. Der Φ ist keine Philosophie [...] III 3 wird wohl so lang wie III 1. Ich bin jetzt in der Mitte und habe mit den tümern angefangen. Es ist anders geworden als III 1 und III 2. Vom Φ wird selbst in diesem Buch, das doch nach ihm heisst, nichts vorkommen, vielleicht. Sodass dann alles, was von ihm gesagt wird, in Übergang, Schwelle und Tor stünde und sonst nirgends. Wenn ich bis Mitte der nächsten Woche mit III 3 fertig werde, so fahre ich vielleicht wirklich noch ein paar Tage nach Säckingen und schreibe »Tor« an deinem Schreibtisch mit deinem Blick. (GB 231 f.)

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9. Februar: Rosenzweig sitzt in einem Wirtshaus neben Herrn Mündel. Im Φ bin ich jetzt bei den beiden tümern, mit dem Chr. fertig, morgen kommt das Jud. Es geht ihnen beiden schlecht, etwas wie den Oberländerschen Löwen, die sich gegenseitig auffrassen bis nur noch zwei Schwanzquasten auf dem Wüstensand lagen. Was dann danach kommt, ist mir wirklich noch etwas saharahaft. (GB 233f.) Im Blick auf das Ganze des Stern bemerkt Rosenzweig: »Es müsste kein Vergnügen sein, so etwas zu rezensieren. Denn >Religionsphilosophie< ist doch wahrhaftig es auch nicht.« (GB 234) 11. Februar: »Ich schreibe jetzt die Schlusspartien von III 3. Heut habe ich dem Judentum wieder Eiei gemacht, das war sehr schön.« (GB 234) 12. Februar: Rosenzweig hofft, am nächsten Tag mit Stern III 3 fertig zu werden, um anschließend nach Säckingen fahren zu können. 13. Februar: Ich bin mit III 3 heut früh fertig geworden, war zufrieden; dann beim Wiederlesen des Ganzen ganz unzufrieden; die zweite Hälfte steht mir noch heut Abend bevor, und ich habe nun Angst. (GB 237) 14. Februar: Rosenzweig ist in Säckingen, trotz Margrit Rosenstocks Abwesenheit. Er fragte die Mutter nach dem Schlüssel für ihr Zimmer. »Ich hätte auch hier unten glaube ich >Tor< nicht schreiben können, wenn oben der Schreibtisch gestanden hätte und wäre mir zu gewesen ...« (GB 238) 15. Februar: An Gritlis Schreibtisch arbeitet Rosenzweig am Schluß des Stern: es ist wieder Abend, [...] ich habe viel am Tor geschrieben, 8 Spalten, und bin herzlich unzufrieden damit, wie auch mit III 3 jetzt beim Wiederlesen; alle sind reizend zu mir, und du siehst schon an dem blödsinnigen Wort, das mir da eben aus der Feder kam, dass es mir gar nicht »reizend« zumute ist. Ich hätte nicht hierher gehn sollen. Ende November war es etwas andres, da war es Ouvertüre und dann fuhr ich zu dir, gleich darauf. Diesmal müsstest du überall sein und bist nicht da. (GB 238f.) 16. Februar: [...] ich habe Tor fertig. Ich hätte immer gedacht, dies Fertigwerden des Φ würde mir ein Telegramm an euch wert sein. Aber wie es dann heute kam, war es mir gar nicht zum Telegrafieren. Es gefiel mir nicht genug. Zwar habe ich dann noch allerlei gebessert und morgen vormittag wohl noch allerlei. Aber die richtige erlöste Fertigstimmung ist nicht da. Es kommt aber auch nicht etwa daher, dass ich nun traurig wäre, dass dieser Logierbesuch nun abreist; sondern es war eben wirklich bei diesem ganzen III. Teil schon nicht mehr das Rechte. Beim I. und II. Teil schrieb ich ja im Gefühl, für die Dauer zu schreiben; jetzt habe ich das Gefühl nicht mehr. Vielleicht irre ich mich ja. Aber ich habe ζ. B. keine Lust dir den Schluss abzuschreiben, obwohl es doch in den April dauern kann, bis ich Mündels Abschrift habe. (GB 239)

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17. Februar: [...] es ist ja doch einfach schön, ich habe es eben nochmal durchgelesen. Ich werde es jetzt von Mündel nur lesen lassen und dann mitnehmen und ihm erst schicken, wenn ichs dir vorgelesen habe. (GB 240)

Wolfdietrich

Schmied-Kowarzik

Hans Ehrenbergs Einfluß auf die Entstehung des Stern der Erlösung

Vorbemerkung Der Einfluß von Hans Ehrenberg auf Franz Rosenzweigs philosophisches Denken ist enorm und schlägt sich auch im Stern der Erlösung nieder, obwohl greifbare Zitatnachweise gar nicht so einfach zu erbringen sind. Nur einmal wird Hans Ehrenberg in der Einleitung zum ersten Teil des Stern genannt. Diese Einleitung hat Franz Rosenzweig ausdrücklich seinem Freund und Vetter Hans Ehrenberg gewidmet. 1 Aber dies ist nichts Außergewöhnliches, auch Hermann Cohen wird nur einmal erwähnt, während alle andern primären Gesprächspartner - wie Eugen Rosenstock2 und seine Frau Margrit (Gritli) Rosenstock-Huessy 3 sowie der Freund 1

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Franz Rosenzweig an Hans Ehrenberg 24. Juni 1919: »Im übrigen ists wie du sagst: ich hatte nur den ersten Teil für dich geschrieben (deshalb dir die Einleitung I ja auch >gewidmetkonstruierenEntfremdung< zwischen Franz Rosenzweig und Hans Ehrenberg, die Rosenzweig im nachhinein mehrfach unterschiedlich datiert und motiviert, manchmal nennt er 1910 nach Baden-Baden, dann wieder die Befreundung von Ehrenberg mit dem Schriftsteller Carlo Philips im Winter 1910/11, während er sich mehr seinem Vetter Rudi Ehrenberg anschließt, der sich 1913 als Mediziner und Biologe habilitierte, jedoch nebenher schriftstellerisch tätig ist - in jenen Jahren vor allem an dem christlich-religiösen Romanwerk Ehr. 10,25. Ein Schicksal in Predigten (1920)

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Siehe Brakelmann, Hans Ehrenberg (Anm. 14), Bd 1, S. 29ff. Siehe Tagebucheintrag vom 29. Juni 1914 (BT 166). Hans Ehrenberg: Die Geschichte des Menschen unserer Zeit. Heidelberg: AlphaOmega-Verlag 1911. Darauf weisen eine Reihe von Briefhinweise hin sowie das spätere Angebot von Friedrich Meinecke ihn dann nach dem Krieg in der völlig veränderten Gesetzesund Stimmungslage der Weimarer Republik in Berlin zu habilitieren. Vgl. Franz Rosenzweigs Absage an Friedrich Meinecke vom 30. August 1920 (BT 678ff.).

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schreibt, an dessen Entstehung Rosenzweig regen Anteil nimmt.23 Meist gibt Rosenzweig jedoch das Jahr 1913 für die >Entfremdung< an, da Hans Ehrenberg sich Ende Juli mit Else Zimmermann aus Heidelberg verheiratete, die Rosenzweig nie recht mochte.24 Während Ehrenberg in diesen Jahren in Heidelberg mit Ernst Bloch und Georg Lukács zusammenkommt,25 im Kreis um Max Weber sowie in der >russischen Kolonie< von Heidelberg verkehrt,26 hört Rosenzweig 1913 beim 25jährigen Dozenten Eugen Rosenstock in Leipzig rechtshistorische Vorlesungen. Er wohnt in dieser Zeit bei seinem Onkel Victor Ehrenberg, dem Vater von Rudi Ehrenberg. Hier kommt es am 7. Juli 1913 in einem >Nachtgespräch< mit Eugen Rosenstock und Rudi Ehrenberg fur Franz Rosenzweig zu einem dramatischen >BekehrungserlebnisEntfremdung< zu Hans Ehrenberg bewirkt, daß Rosenzweig seinen für ihn so einschneidenden Entschluß, Jude zu bleiben, mit Rudi Ehrenberg und seiner seit Kindesjahren vertrauten Cousine Gertrud Oppenheim, geb. Frank in Briefen besprechen kann, nicht aber mit Hans Ehrenberg, dem er genau zur gleichen Zeit über die erste Echnaton-Ausstellung in Berlin schreibt und mit dem er über dessen Broschüre Geschichte des Menschen unserer Zeit (1911) diskutiert. Trotzdem darf man sich die Entfremdung, die überhaupt nur von Franz Rosenzweig her so erlebt wurde, nicht zu tiefgehend vorstellen, durchgehend waren sie in gegenseitigem Kontakt. 29 Da die drei Vettern gegenseitig ihre Briefe austauschen, spricht Franz Rosenzweig später von ihrem »merkwürdigen dreieckigen Briefwechsel« im Winter 1913/14, durch den Hans Ehrenberg indirekt doch von den Entscheidungen Rosenzweigs erfährt. 30 Bei Kriegsausbruch 1914 wird Ehrenberg an die Westfront eingezogen, während Rosenzweig sich zunächst fur den Sanitätsdienst meldet. Da Hans Ehrenberg mit der Möglichkeit seines Todes rechnet, setzt er Franz Rosenzweig in einem Testament als Nachlaßverwalter seiner philosophischen Manuskripte ein, weil er weiß, wie nahe sie sich philosophisch stehen. 31 Nachdem sich Franz Rosenzweig Mitte Oktober 1913 entschieden hat, Jude zu bleiben, fuhrt ihn sein nächster Weg zu Hermann Cohen, dem großen alten Philosophen, der selber ein Jahr zuvor nach seiner Emeritierung in Marburg nach Berlin übersiedelt war, wo er sich nun fast ausschließlich der jüdischen Bildungsarbeit widmet und an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums lehrt. Im Wintersemester 1913/14 hält Hermann Cohen dort die Vorlesung »Der Begriff der Religion im System der Wissenschaften«, eine Vorstudie seines Buches gleichen Titels, das - von allen jüdischen Einsprengseln aus der Vorlesung gereinigt - 1915 erscheint. 32 Franz Rosenzweig ist von Hermann

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ich bin in langer und, wie ich meine, gründlicher Überlegung dazu gekommen, meinen Entschluß zurückzunehmen. Er schein mir nicht mehr notwendig und daher, in meinem Fall, nicht mehr möglich. Ich bleibe also Jude.« (BT 132f.) Noch vier Jahre später charakterisiert Franz Rosenzweig sein Freundschaftsverhältnis zu Hans Ehrenberg psychologisch sehr aufschlußreich in einem der ersten Briefe an Gritli Rosenstock-Huessy vom 6. Oktober 1917: »Mir selbst ist Hans jetzt als der Entfremdetste unter meinen Freunden der Respektierteste und mit Erwartung und Angst Umschnupperte.« (Nicht in GB) Franz Rosenzweig an Eugen Rosenstock, März 1914: »Mit Hans hatten Rudi und ich einen gleichschenklig = dreieckigen Briefwechsel von ziemlicher Merkwürdigkeit [...] es geht über fast 4 Monate, etwa jede Woche ein Schuß aus allen drei Geschützen.« (Nicht in GB) Siehe Brakelmann, Hans Ehrenberg (Anm. 14), Bd 1, S. 47. Der Schlußsatz wird dort zitiert: »Sollte ich Dir ein Jahr Deines Lebens rauben, so zürne mir nicht. Du bist der einzige, der es machen kann. Ich bin Dir sehr dankbar, für dieses - und vieles andere.« Hermann Cohen: Der Begriff der Religion im System der Philosophie. Glessen: Töpelmann 1915 (Philosophische Arbeiten; 10,1). Wieder in: ders., Werke. Hg. vom Hermann-Cohen-Archiv am Philosophischen Seminar der Universität Zürich unter der Leitung von Helmut Holzhey. Hildesheim, Zürich, New York: Olms 1996, Bd 10. Sie-

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Cohen fasziniert, der ihm von nun an zum jüdischen Lehrer und väterlichen Freund wird. 33 Dagegen hat er große Vorbehalte gegen Cohens neukantianischidealistisches System der Philosophie, das er aus Ehrenbergs Kritik daran kennt. 34 Zusammen mit einer kleinen Gruppe von Teilnehmern besucht Franz Rosenzweig auch Cohens Seminare an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums - schon bald wird er dort Wortführer der Diskussion. 35 Während Franz Rosenzweig im ersten Halbjahr 1914 in der Königlichen Bibliothek in Berlin die Arbeiten zu seinem Buch Hegel und der Staat ganz wesentlich vorantreibt und zwischendurch vier Wochen lang 36 auch intensive Schelling-Studien betreibt, für die er sich Ausarbeitungen von Hans Ehrenberg erbittet,37 dem er wiederum seine Hegel-Ausarbeiten zuschickt, da Ehrenberg auf sein Anraten hin eine Erstveröffentlichung der Jenenser Manuskripte von Hegel vorbereitet, 38 dringt Hermann Cohen in seinem Seminar zum Offenbarungsbegriff vor. Franz Rosenzweig ist von Hermann Cohens Bestimmung der Offenbarung begeistert. Aus den Tagebüchern ist zu entnehmen, daß Franz Rosenzweig dabei Cohen von der Spätphilosophie Schellings her versteht und

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he zu Franz Rosenzweigs kritische Einschätzung des Buches seine Tagebucheintragung vom 11. Dezember 1915 (BT 182). Franz Rosenzweig an Margrit (Gritli) Rosenstock-Huessy kurz nach dem Tod von Hermann Cohen, 18. April 1918: »Du fragst mich nach Cohen. Du weißt ja, daß ich ihn zuletzt ganz zu meiner >ersten Garnitur Menschen< rechnete. Also trotz der Distanz Alter und Ruhm einfach als einen geliebten Freund. Ich hing ihm am Hals. So ist mir sein Tod wie der Tod eines Freundes. Nämlich Verlust, recht eigentlich und wörtlich Verlust, Lücke im Leben.« (GB 77) Siehe dazu auch Franz Rosenzweigs Arbeiten zu Hermann Cohen nach dessen Tod, vor allem seine Einleitung zu Hermann Cohens jüdische Schriften, hg. von Bruno Strauß, 3. Bde, Berlin: C. A. Schwetschke 1924 (wieder in: Ζ 177-223). Franz Rosenzweig an Rudolf Ehrenberg, 8. Februar 1914: »Bei Cohen bin ich zum anerkannten Diskussionsführer avanciert.« (BT 149) Franz Rosenzweig an Hans Ehrenberg, 29. Mai 1917 (BT 411); Franz Rosenzweig an Margrit (Gritli) Rosenstock-Huessy, 25. Juni 1919 (GB 345). Franz Rosenzweig: Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Jg 1917, 5. Abhandlung (wieder in: Ζ 3-44). Franz Rosenzweig widmet dieses »Schellingianum« seinem Freund Hans Ehrenberg, obwohl dies im Druck nicht erscheinen kann. Siehe Franz Rosenzweig an Hans Ehrenberg 2. März 1917: »Die Widmung muß doch zu machen sein [...] Die Form dachte ich mir ganz simpel: Hans Ehrenberg gewidmet.« (BT 357) Hegels Erstes System. Nach den Handschriften der Kgl. Bibliothek in Berlin hg. von Hans Ehrenberg und Herbert Link. Eingeleitet von Hans Ehrenberg, Heidelberg: Winter 1915, S. VI: »Die erste Anregung zur Veröffentlichung der Jenenser Manuskripte erhielt ich von meinem Freunde Franz Rosenzweig, der nächstdem ein Buch über die Entwicklung der Hegeischen Staatsidee veröffentlichen wird und für diese Schrift zum erstenmal die unveröffentlichten Handschriften ergiebig ausgenutzt und mich auf deren Wichtigkeit aufmerksam gemacht hat. Die Einsicht in die Arbeiten meines Freundes brachte mich auf die Intention der Herausgabe, der Rosenzweig durch eine Untersuchung der Handschrift Hegels das chronologische Rückgrat gegeben hatte.«

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umgekehrt Schelling von Cohen her liest und beide gegen Hegel abgrenzt - die gedankliche Verwandtschaft zu Hans Ehrenberg ist deutlich. 39 Diese Bezüge zu Schelling und Cohen gehen dann später in das Offenbarungskapitel im zweiten Teil des Stern der Erlösung ein. 40 Während Rosenzweigs Briefwechsel mit Ehrenberg ab Kriegsbeginn stark abflaut41 - beide sind im Kriegsdienst an verschiedenen Fronten - , der erst nach einer Urlaubsbegegnung Mitte 1917 wieder stärker mit zunächst politischem Inhalt aufgenommen wird, beginnt ab Mitte 1916 der große, dramatische jüdisch-christliche Briefdialog Rosenzweigs mit Rosenstock, der bis Ende 1916 von Brief zu Brief sich steigert und dann - bis zu seinem Wiederaufflammen im Frühjahr und Sommer 1919 - mit anderen Themen freundschaftlich überspielt wird. 42 Die Argumente dieses Briefdialogs werden später in den dritten Teil des Stern eingehen. Den Abschluß ihrer Briefdiskussion bildet der berühmte »Sprachbrief« Eugen Rosenstocks, der großen Einfluß auf den ganzen Freundeskreis ausübt.43 Anfang 1917 schreibt Franz Rosenzweig seine programmatische Studie zur jüdischen Bildung Zeit ists, die er Hermann Cohen widmet, aus der ein Jahr später die von seinem Vater, Georg Rosenzweig, unterstützte Initiative zur Gründung 39

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Tagebuch, 23. Juni 1914: »Cohens Gleichung von Gott und >Welt< [...] beruht darauf, daß er das Ende auf Grund seiner jüdischen Beschränktheit antizipiert. Deshalb ist sie nicht einerlei mit Hegels Pantheismus, obwohl ihm aufs Haar gleichsehend [...]. Auch für Schelling ist das Werden der Welt Werden Gottes, aber Gott und Welt bleiben zweie [...]. Dies gleiche sucht nun auch Cohen zu formulieren, wenn er gleichzeitig die unbedingte Transzendenz Gottes (die Heiligkeit) und sein Einssein mit der (geistigen) Welt behauptet.« (BT 161 f.) Franz Rosenzweig an Margrit (Gritli) Rosenstock-Huessy, 29. August 1918: »[...] Die >Offenbarung< - dies ist eine ganz tiefe Einsicht von Cohen, die ich jetzt in meiner Weise umschreibe, Cohen schreibt: die Offenbarung ist die Schöpfung der Vernunft [...]« (GB 132); Brief vom 9. November 1918: »Die Cohensche Stelle aus dem Buch heißt: Gott >giebt< die Offenbarung wie er alles giebt, das Leben und das Brot und auch den Tot. Übrigens unterschreibe ich das >wie< in dem Satz nun doch nicht mehr. Leben und Brot giebt er, aber die Offenbarung >giebt< er nicht, sondern er giebt sich in der Offenbarung.« (GB 182, siehe auch Ζ 179). Siehe Franz Rosenzweig an Hans Ehrenberg, Oktober 1916 (BT 241ff). BT 191 ff. ; Judaism Despite Christianity. The >Letters on Christianity and Judaism< between Eugen Rosenstock-Huessy and Franz Rosenzweig. Ed. by Eugen Rosenstock-Huessy. Birmingham/Alabama: University of Alabama Press 1969. Vgl. auch Eugen Rosenstock-Huessy: Ja und Nein. Autobiographische Fragmente aus Anlaß des 80. Geburtstages des Autors im Auftrag der seinen Namen tragenden Gesellschaft hg. von Georg Müller. Heidelberg: Schneider 1968; Wolfdietrich SchmiedKowarzik: Franz Rosenzweig. Existentielles Denken und gelebte Bewährung. Freiburg, München: Alber 1991 (Alber-Reihe Philosophie), S. 125ff. Der »Sprachbrief« erscheint später erweitert: Eugen Rosenstock: Angewandte Seelenkunde. Eine programmatische Übersetzung. Darmstadt: Roetherverlag 1924. Vgl. Harold M. Stahmer: >Sprachbriefe< und >SprachdenkenIch schicke meine Frau nach Kassel; sie soll,lieber Franz' zu dir sagen statt aller meiner Briefe.«< (GB 108) Franz Rosenzweig an Margrit (Gritli) Rosenstock-Huessy, 2. Juli 1918: »Und antworten tue ich dir heute; vor einem Jahr führet ihr von Kassel ab [...] und [ich] zog die dünne Hülle des Sie über unserm Du weg.« (GB 114) Franz Rosenzweig an Margrit (Gritli) Rosenstock-Huessy, 24. Juni 1918: »Ja du bist die verbindende Ader - in dir müssen sich die stockenden Pulse [von Eugen Rosenstock und Franz Rosenzweig] mischen und erneuern - « Nicht in GB; Franz Rosenzweig an Margrit (Gritli) Rosenstock-Huessy, 25. Juni 1918: »Der Gespiele [Franz Rosenzweig] hat ihm [Eugen Rosenstock] nie vom Judentum >vorgeschwärmtSelbstbehauptung< dadurch herausgefordert werden.« (GB 112)

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Rudi Ehrenberg die später so genannte »Urzelle des Stern der Erlösung« (18. November 1917, Ζ 125ff.) entsteht. Um seine eigene philosophisch-theologische Position nochmals zu überdenken, wendet er sich erneut der fundamentalphilosophischen Schrift Die Parteiung der Philosophie von Hans Ehrenberg zu, die er im Dezember 1917 zum zweiten Mal mit Begeisterung verschlingt.49 So vorbereitet, bekommt Rosenzweig bei seinem nächsten Heimaturlaub im Januar/Februar 1918 bei einem Besuch bei Hermann Cohen dessen »Nachlaßwerk« zur Korrekturlesung anvertraut. In seinem letzten Brief an Cohen einen Monat vor dessen Tod berichtet er ihm, wieder an die Balkanfront zurückgekehrt, von seinen Leseerfahrungen. 50 Franz Rosenzweig erlebt in dieser Zeit kurz hintereinander gewaltige umstürzende Ereignisse: die im Februar beginnende und seine nächsten Jahre bestimmende Liebe zu Gritli Rosenstock-Huessy sowie kurz hintereinander den Tod seines Vaters Georg Rosenzweig (19. März 1918) und von Hermann Cohen (4. April 1918). In mehreren Briefen an Gritli und seine Freunde reflektiert er sein Verhältnis zu seinem Vater, mehr noch aber zu Hermann Cohen, dem väterlichen Lehrer.51 Seit Rosenzweig auf seinem Heimaturlaub im Juni/Juli 1917 auch Hans Ehrenberg wieder getroffen hat, erneuerte sich ihre Freundschaft und intensivierte sich ihr Briefwechsel, in dem nun auch jüdisch-christliche Glaubensfragen angesprochen werden. 52 Die eigentliche Annäherung bringt dann Ehrenbergs Kondolenzbrief (19. April 1918) zum Tode von Franz' Vater Georg Rosenzweig. Danach folgen Briefe der Aussprache, die zugleich dazu fuhren, daß Franz Rosenzweig erstmals Hans Ehrenberg nicht mehr nur als seinen philoso49

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Franz Rosenzweig an Eugen Rosenstock, 19. Dezember 1917: »Ferner zum zweiten Mal - Hansens Parteiung, ein imponierendes Buch.« (BT 494); Franz Rosenzweig an Hans Ehrenberg, 26. Dezember 1917: »Ich werde überhaupt Ehrenbergianer, oder vielmehr konstatiere erneut, daß ich es bin; ich lese die >Parteiung< unter fortwährendem Hurragebrüll.« (BT 499f.) Franz Rosenzweig an Hermann Cohen, 9. März 1918: »So schwierig können eben Ihre Begriffe gar nicht werden, daß nicht Ihr lebendig schlagendes Herz immer noch sein siegreiches [hebr. >ich kappe sieletzte Philosophie< vorausweisende Gedankenführung Hans Ehrenbergs habe ich an anderer Stelle bereits aufmerksam gemacht. Vgl. Schmied-Kowarzik, Franz Rosenzweig (Anm. 42), S. 99f.

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»Urzelle« des Stern.15 Natürlich wies Rosenzweig damals bereits und weist auch erneut im Stern darauf hin, daß ihm in diesem existentiellen Einstieg vor allem Kierkegaard und Nietzsche, teilweise auch der späte Schelling und Schopenhauer vorangegangen sind. Aber das Neue, das Rosenzweig nun in der Einleitung ankündigt und im dritten Buch »Der Mensch und sein Selbst oder Metaethik« des ersten Teils des Stern näher ausfuhrt, ist die mit Ehrenbergs Idealismuskritik umgewendete Infinitesimalmethode Cohens, mit der er vom Nichts des Wissens zum metaethischen Selbst vordringt. Die Philosophie hatte den Menschen, auch den Menschen als »Persönlichkeit«, in der Ethik zu fassen gemeint. Aber das war ein unmögliches Bestreben [...] Jenseits also des Kreises, den die Ethik beschrieb, mußte das von Nietzsche dem Denken erschlossene Neuland liegen. (SE 11) Hat sich erst einmal das existentielle Selbst als jenseits des All der philosophischen Erkenntnis erfaßt, so gerät auch die These von der Identität von Sein und Denken in aller Erkenntnis der Welt ins Wanken. Diese, um es ganz kraß zu formulieren, Nichtidentität von Sein und Denken muß am Sein und am Denken selber hervortreten [...], so müßte zunächst im Denken der Grund der Nichtidentität aufgedeckt werden. (SE 13) Dies nun war die Großtat von Ehrenbergs Parteiung der Philosophie mit ihrem bahnbrechenden Begriff der Metalogik, ihm folgt Rosenzweig im zweiten Buch »Die Welt und ihr Sinn oder Metalogik« des ersten Teils des Stern. So ist die Welt dem eigentlich Logischen, der Einheit, gegenüber ein Jenseits. Die Welt ist nicht alogisch; im Gegenteil, das Logische ist ein wesentlicher, ja recht eigentlich, wie wir sehen werden, ihr »wesentlicher« Bestandteil: sie ist nicht alogisch, aber - mit dem von Ehrenberg aufgebrachten Wort - metalogisch. (SE 15) Nun da aus »dem All« philosophischer Erkenntnis »die Einheit gewichen« war (SE 16), war auch Raum gegeben, daß Gottes Dasein jenseits des physischen Seins erfaßt werden konnte, wie dies Rosenzweig ganz im Sinne der Spätphilosophie Schellings im ersten Buch »Gott und sein Sein oder Metaphysik« des ersten Teil des Stern der Erlösung darlegt. So ist die Bahn frei für die philosophische Erstellung des göttlichen Daseins unabhängig von Gedachtwerden und Sein des Alls; Gott muß Dasein haben vor aller Identität von Sein und Denken. (SE 19)

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»Urzelle« (Z 125f.): »Ich habe inzwischen, jetzt schon vor einem Monat, etwas Wichtiges gewonnen [...]: meinen philosophischen Archimedespunkt, den lang gesuchten [...]. Nachdem sie [die Philosophie] also alles in sich aufgenommen und ihre Alleinexistenz proklamiert hat, entdeckt plötzlich der Mensch, daß er, der doch längst philosophisch verdaute, noch da ist [...]. Ich Staub und Asche, Ich bin noch da. Der Mensch schlechtweg [...] ist wirklich der Anfang.« Vgl. hierzu Franz Rosenzweig an Rudolf Ehrenberg, 4. September 1918 sowie an Hans Ehrenberg, 8. September 1918 (BT 603f., 605f.).

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Es kann hier nicht ausdiskutiert werden, ob Rosenzweig mit dieser Relativierung der bei Ehrenberg prinzipieller gemeinten Metalogik und mit seiner Analogisierung der drei Überschreitungen des Idealismus nicht allzu schnell den Boden streng argumentierender negativer Dialektik - im Sinne Ehrenbergs zu Gunsten eines erzählenden Übergangs verläßt. Hier kann nur festgehalten werden, daß Rosenzweig mit dem ersten Teil des Stern einen dreifachen, allerdings miteinander verknüpften Ausbruch aus der idealistischen Philosophie vorzulegen versucht, der zugleich auch die »immerwährenden Elemente« Gott, Welt, Mensch - freilegt, mit denen philosophisches Denken immer schon operiert und zu denen es von sich aus vorzustoßen vermag. Die Umwendung zu einem wirklichen Philosophieren in der Wirklichkeit - im Sinne Ehrenbergs - , zur positiven Philosophie - im Sinne Schellings - ist damit noch nicht vollzogen, denn dazu bedarf es einer »Umkehr« im Denken vom Begreifenwollen der Erkenntnis des All zum Erfahren des sich Offenbarenden. Von dieser Umkehr spricht Rosenzweig - hier ganz wieder im Einklang mit Schelling und Ehrenberg - im »Übergang« vom ersten zum zweiten Teil des Stern der Erlösung: Eine Wendung ist es, eine Umkehr [...] Denn das Offenbarwerden ist die Umkehr des Werdens [...] So verwandelt sich das reine Tatsächliche in den Ursprung der wirklichen Bewegung. (SE 97)

Diesem »Übergang« voraus gehen die drei Bücher des ersten Teils, in denen Rosenzweig je fur sich getrennt - da sie trotz der bestehenden Analogie nicht aufeinander rückfuhrbar sind - , jeweils aus dem Nichts des Wissens zu ihrer je eigenen Tatsächlichkeit vorzudringen versucht. Es sind dies: das über alles physische Sein hinausragende Dasein Gottes (in Anlehnung an Schelling), die jenseits aller logischen Erkenntnis gegebene Wirklichkeit (in Rückbezug auf Ehrenberg) und der hinter aller ethischen Bestimmung liegende Selbstbezug des Selbst (nach eigenen Vorgaben). Den Grundgedanken dazu, allerdings gleichsam von der anderen Seite des »Übergangs« her formuliert, daß nämlich Gott, Welt und Mensch drei völlig unterschiedliche Tatsächlichkeiten darstellen, die erst durch die Offenbarung zueinander in Beziehung gesetzt werden, hatte Rosenzweig bereits in der »Urzelle« des Stern, im Brief vom 18. November 1917 an Rudi Ehrenberg ausgesprochen (Z 125ff.). In den ersten drei Büchern des ersten Teils des Stern der Erlösung unternimmt es Rosenzweig mit der Infinitesimalmethode die Begriffe Gott, Welt und Mensch je für sich aus dem Nichts des Wissens zur Einsicht in ihre translogische Tatsächlichkeit zu erreichen.76 In allen drei Büchern bedient sich Rosenzweig der von Cohen übernommenen, aber idealismuskritisch umgewendeten Methode des Fortgangs des Denkens vom Nichts des Wissens zum Wissen des bestimmten Etwas. Wobei der Gleichklang oder die Analogie nur in der Form der Methode selbst liegt, nicht im In76

In der Gliederung der philosophischen Systematik folgt Rosenzweig dem Systemaufriß, den Ehrenberg seinen frühen Heidelberger Vorlesungen zugrunde gelegt hat und gerade nicht Cohens an Kant angelehnter Systemgliederung: Logik der reinen Erkenntnis, Ethik des reinen Willens, Ästhetik des reinen Gefiihls.

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halt, der gemäß des jeweils angezielten Metagegenstandes - Gott, Welt, Mensch - je ein völlig anderer ist. Gleich bleibt nur, daß sich das Denken dabei in drei miteinander verschlungenen Bewegungsmomenten vollzieht: der Bejahung des Nichtnichts, der Verneinung des Nichts und des aktiv verknüpfenden »Und«. »Das Ja ist der Anfang [...] Und zwar kann es nicht das Ja des Nichts sein.« (SE 28) Denn das Nichts ist ja »nur der virtuelle Ort fur den Anfang unseres Wissens [...], so muß es auf das Nichtnichts gehen« (SE 28f.). Das Denken ist hiermit von Anfang an auf das Unvordenkliche der Wirklichkeit bezogen darin schon liegt der von Rosenzweig mit Ehrenberg beschrittene Antiidealismus. Aber mit dieser, alles Denken tragenden Bejahung des Nichtnichts kann nichts Bestimmtes erkannt werden. Gleich ursprünglich wie die Bejahung des Nichtnichts bedarf daher das Denken der Verneinung des Nichts des Wissens. Vom Nein also muß die Bewegung kommen [...] Das Nein ist ursprüngliche Verneinung des Nichts [...]; das Nichts verneint sich selbst. In der Selbstverneinung erst bricht aus ihm das »Andre«, der »Gegner«, hervor. (SE 30f.)

Hegels Dialektik hat in genialer Weise diese negative Bewegung des Denkens herausgearbeitet, aber da sie eindimensional nur sich behauptet, gerät das Denken in einen absoluten Idealismus,77 für den das All der (negativen) Bestimmtheiten, die (positive) Wirklichkeit selbst darstellen soll. Allerdings steht auch eine sich nur auf die Bejahung berufende Seinsphilosophie ihrerseits in der Gefahr, die geglaubte Wirklichkeit für eine gewußte zu halten. Durchaus Schellings und Ehrenbergs Gedankenbahnen folgend, aber doch auch bewußter akzentuierend, betont Rosenzweig - sprachphilosophisch argumentierend daher die dritte, die beiden anderen verknüpfende Denkbewegung: Eigentlich aber ist mit dem Ja und dem Nein immer nur das einzelne Wort vorbereitet [...] Der Satz selber kommt erst zu-stande, ent-steht erst dadurch, daß das erörtende, fest-legende Nein, über das be-stätigende Ja Gewalt zu gewinnen versucht [...] Damit haben wir das dritte jener Urworte [...]: das Wort »und« [...] Es ist der Schlußstein des Kellergewölbes, über welchem das Gebäude des Logos, der Sprachvernunft, errichtet ist. (SE 35f.)

Die hier praktizierte Methode, die im ersten Buch am ausfuhrlichsten und prägnantesten expliziert wird, sei an dieser Stelle noch am zweiten Buch »Die Welt und ihr Sinn oder Metalogik« knapp umrissen, da so die Parallelen und Abweichungen zu Ehrenberg nochmals deutlich werden. Zunächst glauben wir alle, daß doch die uns umgebende Welt das Selbstverständlichste sei, das keiner näheren Begründung bedarf. Aber je mehr die Philosophie voraussetzungslos bei sich beginnend, nach dem, was die Welt sei, fragt, um so mehr redu77

»Die idealistischen Systeme von 1800 zeigen durchweg, am deutlichsten das Hegelsche, [...] einen Zug, den wir als Eindimensionalität bezeichnen müßten. Das Einzelne wird nicht unmittelbar aus dem Ganzen abgeleitet, sondern wird in seiner Stellung zwischen dem Nächsthöheren und dem Nächstniederen im System entwickelt [...].« (SE 56)

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ziert sich »die Selbst-Verständlichkeit der Welt gradezu auf Null [...]« (SE 44). Daher gilt es nochmals von vorne zu beginnen - nicht mit Cohen idealistisch erzeugend, sondern mit Ehrenberg metalogisch auf die Wirklichkeit bezogen: Von der Welt wissen wir nichts. Und auch hier ist das Nichts Nichts unsres Wissens und ein bestimmtes, einzelnes Nichts unsres Wissens. Auch hier ist es das Sprungbrett, von dem aus der Sprung ins Etwas des Wissens, ins »Positive« getan werden soll. Denn wir »glauben« an die Welt [...] Deshalb kann uns das Nichts [...] nur ein hypothetisches Nichts sein; nur ein Nichts des Wissens, von dem aus wir das Etwas des Wissens erschwingen, das den Inhalt jenes Glaubens umschreibt. (SE 45)

Schon in dieser Umschreibung werden die doppelt gerichteten Bewegungen und deren Verknüpfung sichtbar, mit der Rosenzweig - anknüpfend an Schelling und Ehrenberg und in scharfer Abgrenzung von Hegel und Cohen - vom Nichts zur angezielten Tatsächlichkeit voranschreitet. Demgegenüber unterscheidet Rosenzweig zwei beständig im Denken wirksame entgegengesetzte Bewegungen, die notwendig einer Verknüpfung bedürfen. »Aus dem Nichts quillt auch hier wieder, eben weil es nicht Nichts bleiben darf, die ursprüngliche Bejahung, das Ja des Nichtnichts.« (SE 45) Dieses ursprüngliche und unendliche Bejahen des Nichtnichts ist das, was oben mit »an die Welt >glauben«< umschrieben wurde. Alles Denken der Welt steht in diesem Bezug auf das Nichtnichts, auch wenn es von diesem nichts, noch nichts weiß. Aber mit diesem Bejahen des Nichtnichts kommt das Denken zu keinerlei bestimmten Wissen von der Welt. Eine zweite der ersten entgegengesetzte Bewegung treibt es hierin voran: die »Verneinung des Nichts des Wissens«, das Nein gegen sich selbst: »[...] jedes Neue ist eine neue Verneinung des Nichts [...]« (SE 48). Die Hegeische Dialektik kennt in der Eindimensionalität ihrer dialektischen Bewegung nur diese negativ vorantreibende Kraft des Denkens, worauf bereits Schelling in seiner Hegel-Kritik hingewiesen hatte. Nun schließen sich aber beide Bewegungen begegnungslos aus, haben keinerlei Bezug zueinander und bedürfen, wenn sie überhaupt aufeinander bezogen werden sollen, einer sie verknüpfenden dritten Bewegung des Denkens: »Über Ja und Nein schließt sich das Und.« (SE 50) Es bezeichnen nicht nur Gott, Welt und Mensch unterschiedliche Tatsächlichkeiten, sondern auch die dreifach verschlungene Bewegung des Denkens vom Nichts des Wissens zum Wissen um die Tatsächlichkeiten geht jeweils unterschiedliche Wege. So bezieht sich die Bejahung des Nichtnichts, hier wo die Welt in Frage steht, nicht etwa auf das Sein, sondern auf den »Logos der Welt«, während demgegenüber die Verneinung des Nichts auf die »Geburt des einzelnen Etwas« in seinem Bestimmtsein bezogen ist (SE 49). Aber erst das beides miteinander verknüpfende Und - das mehr ist als ein bloßes Nebeneinanderstellen - eröffnet den Blick auf das lebendig gestaltete Ganze der Welt: Das wirkliche Und der Welt ist nicht das Und von begeisteter Welt und weltheimischem Geist - das sind Extreme - , sondern viel unmittelbarer: vom Ding und seinem Begriff, vom Individuum und seinem Genus, vom Menschen und seiner Gemeinschaft. (SE 53)

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Die so aus dem Zusammenspiel aller drei Bewegungsmomente des Denkens erwachsende »metalogische Weltansicht« ermöglicht uns die Welt als ein gestaltetes Ganzes zu begreifen, in das sich alle unsere Einzelerkenntnisse einzeichnen lassen und in das wir selber - ganz wie es Ehrenberg in seiner Parteiung der Philosophie gefordert hatte 78 - als das Ganze der Welt bedenkende Glieder dieses Ganzen der Welt einbegriffen sind: »Erst die metalogische Weltansicht kann das Leben wieder in seine Rechte einsetzen.« (SE 50) Die metalogische Ansicht nun schafft [...] auch einen neuen Begriff und Typ des Philosophen [...] Ja der Philosoph ist der Träger der Einheit des metalogischen Weltsystems; es ermangelt ja der Einheit der Eindimensionalität [des Idealismus], er ist grundsätzlich vieldimensional; von jedem einzelnen Punkt her laufen Fäden und Beziehung zu jedem andern und zum Ganzen, und die Einheit dieser zahllosen Beziehungen [...] ist die persönliche, erlebte [...] Standpunkteinheit des Philosophen. (SE 57)

Trotz aller Ähnlichkeiten gibt es doch auch signifikante Abweichungen in der Kennzeichnung des Begriffs des Metalogischen durch Ehrenberg und Rosenzweig. Für Hans Ehrenberg geht es in der Parteiung der Philosophie darum, in einer kritischen Selbstreflexion des Denkens »wider Hegel und die Kantianer« zu zeigen, daß das Denken immer positiv auf Wirklichkeit bezogen ist, dies aber dort, wo es sich der Bestimmtheit seines Wissens vergewissernd auf sich selbst rückbezieht, aus den Augen verliert, wenn es sich nicht nochmals seinen bloßen Selbstbezug überwindend - zu einem Selbstverständnis seiner selbst als wirklichem Denken aus, in und fur die Wirklichkeit durchzuringen vermag. Dieses Anliegen lag bereits Schellings Selbstbegrenzung der »reinrationalen Philosophie« als negativer zugrunde, die dadurch den Weg eröffnet zu einer positiven Philosophie existentieller Positionsfindung in der geschichtlichen Wirklichkeit. 79 Diese selbst logisch argumentierende Befreiung des Denkens aus der Gefahr des Selbstmißverständnisses des Idealismus ist aber noch nicht, wie Ehrenberg ausdrücklich klarlegt, die Wirklichkeitsphilosophie selbst, sie gibt nur den Blick frei auf das »metalogische Land« einer Wirklichkeitsphilosophie, deren Sinnstiftung in Gott liegt (PP 100) und die Schelling »Philosophie der Offenbarung« nannte. Franz Rosenzweig setzt im Grunde Ehrenbergs Arbeit einer immanenten Idealismuskritik voraus, ohne sie argumentativ nochmals zu leisten. Was er mit dem ersten Teil des Stern und dessen Einleitung intendiert, ist der Aufweis, daß der Ausbruch aus dem Idealismus in drei Gestalten geschieht: der metaethischen Selbstgewahrwerden des existentiellen Selbst, die für ihn persönlich der Aus78

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Hans Ehrenberg: »Das Reich des Wirklichen ist größer als das des Möglichen. Wenn so die Wirklichkeitsimmanenz der Vernunft gleichsam über die Vernunftimmanenz der Wirklichkeit den Sieg davonträgt f...], so sehen wir überhaupt, wie die Philosophie dazu berufen ist, mit dem, was sie selber als Wirklichkeit ist, sich selber, dem Ganzen des Wissens und der Wirklichkeit, den Abschluß zu geben.« (PP 63) F. W. J. Schelling: Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen Philosophie. In: ders., Sämmtliche Werke (Anm. 68), Bd XI.

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gangspunkt war, der metalogischen Selbstbefreiung des wirklichen Denkens aus der idealistischen Logik, wie sie Ehrenberg vorgeführt hat, und die metaphysische Abhebung - wobei dieser Begriff hier einen ganz neuen Sinn erhält - des lebendigen Gottes von der Welt, wie sie Schelling seit seinen Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809)80 verfolgte. Damit werden nach Rosenzweigs Selbstverständnis nicht nur die drei Metagegenstände - Gott, Welt und Mensch - freigelegt, die das All des Wissens idealistischer Philosophie übersteigen, sondern auch die Ansatzpunkte gefunden, von denen her nach der Umkehr des Überganges das »neue Denken« positiver Philosophie im zweiten Teil des Stern der Erlösung beginnen kann. Mit dem zweiten Teil des Stern der Erlösung »Die Bahn oder die allzeiterneuerte Welt« überschreitet Rosenzweig die negativ auf sich selbst bezogene Selbstklärung der Philosophie und betritt religionsphilosophisches Neuland. Er wirft also nicht mehr nur einen Blick ins »metalogische Land« der Wirklichkeit, sondern begibt sich im Medium positiver Philosophie im Sinne Schellings in dieses selbst. Diesen Rückbezug auf Schellings Weltalter-Entwürfe und Philosophie der Offenbarung hat Rosenzweig entschieden unterstrichen. In »Das neue Denken« (1925) benennt er die neue Methode ausdrücklich mit Schelling eine »erfahrende«, eine »erzählende«, eine »geschichtliche Philosophie. So wird die Methode des zweiten Bandes eine andre sein müssen, eben die unsres letzten Gleichnisses: eine Methode des Erzählens. Eine erzählende Philosophie hat Schelling in der Vorrede seines genialen Fragments »Die Weltalter« geweissagt. Der zweite Band versucht sie zu geben. 82

Gerade weil Rosenzweig weiß, daß er mit dem zweiten Teil in Neuland vordringt, in das sich seit Schelling niemand mehr vorgewagt hat, ist er enttäuscht, daß seine christlichen Freunde - vor allem Eugen Rosenstock und Rudi Ehrenberg - die Bedeutung des zweiten Teils nicht so recht erkennen, obwohl dieser doch das Zentrum seiner Offenbarungsphilosophie darstellt. Während Rosenzweig im zweiten Teil die gemeinsame Grundlage aller Offenbarungsphilosophie darzulegen versucht, sehen seine christlichen Freunde darin schon eine 80

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F. W. J. Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände [1809]. In: ders., Sämmtliche Werke (Anm. 68), Bd VII, S. 33Iff. F. W. J. Schelling: Die Weltalter [1813] . In: ders., Sämmtliche Werke (Anm. 68), Bd VIII, S. 195ff. und ders., Philosophie der Offenbarung. In: ebd., Bd XIII und XIV. Ζ 148. - Franz Rosenzweig an Margrit (Gritli) Rosenstock-Huessy, 23. August 1918 (einen Tag bevor er mit dem Schreiben am Stern beginnt): »Ich glaube doch, ich werde zu schreiben anfangen [...] Selbst wenn ich es zunächst nur bei dem Stoff bewenden lasse, den ich damals schon in dem Brief an Rudi dargestellt hatte. Denn was ich dort nur allgemein bezeichnet hatte >hier ist der Ort für die Schellingsche Theosophie< usw., das muß ich alles jetzt selbst ausführen, nach >meiner< Methode.« (GB 127) Vgl. auch Franz Rosenzweig an Hans Ehrenberg, 18. März 1921: »Ich lese den Philosophischen Empirismus von 1827 [von Schelling]. Er ist wohl schlechter als die Weltalter. Die sind ein großes Buch bis zu Ende. Wenn sie fertig geworden wären, so verdiente der Stern, außerhalb der Juden, nicht, daß ein Hahn nach ihm krähte [...].« (BT 701)

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unterschiedliche Sichtweise des Juden gegenüber den Christen, die Rosenzweig selber erst im dritten Teil ausdrücklich thematisiert. Nur von Gritli RosenstockHuessy fühlt sich Franz Rosenzweig in seinem Judesein angenommen und mit seinem Anliegen eines jüdisch-christlichen Dialogs ganz verstanden, ihr widmet Rosenzweig das zweite Buch »Offenbarung oder die allzeiterneuerte Geburt der Seele«, das Herzstück des zweiten Teils und damit des Gesamtwerks.83 Der einzige der Freunde, der einen ähnlichen Weg wie Rosenzweig zu gehen versucht, und zwar genau zur gleichen Zeit ist Hans Ehrenberg mit seinem Buch Die Heimkehr des Ketzers.84

C Die Spuren einer Auseinandersetzung im dritten Teil Noch in einem weiteren Kapitel lassen sich Spuren der unmittelbaren Diskussion mit Hans Ehrenberg erkennen, nämlich im mittleren Abschnitt der Einleitung zum dritten Teil »Über die Möglichkeit, das Reich zu erbeten - in tyrannos« und den dazugehörigen Büchern des dritten Teils. Hier ist es nicht mehr so sehr der Philosoph Hans Ehrenberg, auf den sich Franz Rosenzweig bezieht, sondern der Christ Hans Ehrenberg, den er erst seit ihrer Wiederbegegnung im Sommer 1917 schrittweise neu zu entdecken beginnt. Zwar sind bereits Ehrenbergs erste philosophische Vorlesungen ab 1910 religiös getönt, daher wurde er damals schon an der Universität als »Religionsphilosoph«85 wahrgenommen, aber nachdem sich Rosenzweig ab 1910 mehr seinem anderen Vetter, dem Biologen und christlichen Schriftsteller Rudi Ehrenberg, zugewandt und dann eine innige Freundschaft mit dem Rechtshistoriker und engagierten Christen Eugen Rosenstock geschlossen hat, erscheint ihm Hans Ehrenbergs Verständnis des Christentums als »philosophisch konstruiert«.86 Je mehr Rosenzweig ab Mitte 1917 das gelebte Christsein von Hans Ehrenberg entdeckt, um so mehr vermag er die empfundene »Entfremdung« abzubauen und sich Hans Ehrenberg wieder ganz als Freund zuzuwenden.87 Doch auch weiterhin steht er Ehrenbergs Verständnis des 83

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Franz Rosenzweig an Margrit (Gritli) Rosenstock-Huessy, 2. November 1918: »Dies Buch II 2 an dem ich jetzt schreib gehört dir noch viel eigener als das Gritlianum, grade weil es nicht von vornherein für dich bestimmt war und es ja auch jetzt nicht ist.« (GB 177) Franz Rosenzweig an Margrit (Gritli) Rosenstock-Huessy, 8. November 1918: »Der Stern ist freilich jetzt in einem Teil wo alles Schreiben daran Schreiben an dich ist; du siehst mir immerfort über die Schulter.« (GB 178) Hans Ehrenberg: Die Heimkehr des Ketzers. Eine Wegweisung. Würzburg: PatmosVerlag 1920 (Bücher vom Kreuzweg). Im folgenden zitiert mit der Sigle HK und zugehöriger Seitenzahl. Vgl. Brakelmann, Hans Ehrenberg (Anm. 14), Bd 1, S. 42ff. Ein Vorwurf, der ihm - mit antisemitischen Unterton - selber von seinen HistorikerKommilitonen 1910 in Baden-Baden gemacht worden war. Franz Rosenzweig an Margrit (Gritli) Rosenstock-Huessy, 23. Mai 1919: »Heidelberg hat sich so schön abgewickelt. Ich habe noch einmal so recht das große Glück empfunden das mir diese Wochen gebracht, wiedergebracht haben: Hans. Du hast es

Hans Ehrenbergs Einfluß auf die Entstehung des Stern der Erlösung

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Christentums mit Vorbehalten gegenüber.88 Dabei bedenkt Rosenzweig nicht, daß er ja selber mit seinem Stern der Erlösung ein sehr philosophisch ausgelegtes Bild des Judentums entworfen hat, das auch vielen seiner Glaubensbrüder sicherlich ebenfalls >konstruiert< vorkommen muß. Hinzukommt, daß Rosenzweig im dritten Teil des Stern dem Judentum ein Bild des Christentums entgegenstellt, mit dem keiner seiner Freunde ganz einverstanden ist.89 Hans Ehrenberg ist der einzige, der mit seinem Buch Die Heimkehr des Ketzers nicht nur religionsphilosophisch dem Stern der Erlösung etwas Ebenbürtiges zur Seite stellt, sondern auch der einzige der Freunde, der auf Rosenzweigs jüdische Herausforderung von christlicher Seite her zu antworten versucht. 90 Die anderen Freunde haben sich zwar auch mit dem Judesein Rosenzweigs auseinandersetzt, aber nicht christlich-theologisch. Rudi Ehrenberg, der in seiner christlichen Glaubenshaltung Franz Rosenzweig sehr nahe steht, geht theoretisch auf das Problem des Verhältnisses von Juden und Christen nicht ein, in seinem Predigtbuch Ebr. 10,2591 bleibt er in einer immanent reflektier-

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ja von Anfang an miterlebt, wie ich mich erst sträubte; es ist gut, daß du nun auch selber da warst und ihn jetzt gesehen hast. Wie hast du recht behalten. Du hast ihn besser erkannt als wir dummen Mannsleute. Seit 1911 hatten wir uns immer mehr entfremdet. Nun sind wir wieder zusammen, und können uns - jetzt erst - wirklich erzählen, wo wir während der Trennung waren.« (GB 305) Vgl. Franz Rosenzweig an Eugen Rosenstock, 21. Juni 1919 (GB 337). Franz Rosenzweig an Hans Ehrenberg, 21. April 1918: »Ebensowenig [...] kann ich [...] in deinem >ChristjudentumPhilosophie< aufs engste berührt, Religion erkennen. Ich kann mich nicht hineindenken, wie du darauf >leben und sterben< kannst.« (BT 543f.) Franz Rosenzweig an Margrit (Gritli) RosenstockHuessy, 26. April 1919: »[...] und denk: er [Hans] kommt mit dem Ilten Teil des $ nicht recht ins Klare (wie es Eugen vorausgesagt hatte). Mir geht's genau so mit dem Ketzerchristentum (ich bin auf Seite 40 von 140 Seiten); ich sehe sein Christentum, seine Art von Christentum nicht. Auch wenn er ganz autobiographisch wird wie in der Einleitung, die er in diesen Tagen dazu geschrieben hat. Ich sehe es nicht wie ich Eugens oder Rudis oder irgend eines vergangenen Christen Christentum >seheEntdeckungsreise< in ein >neues Denkern. In: Das jüdischchristliche Religionsgespräch. Hg. von Heinz Kremers und Julius H. Schoeps. Stuttgart, Bonn: Burg 1988 (Studien zur Geistesgeschichte; 9), S. 90-113; Friedrich Georg Friedmann: Franz Rosenzweigs Neues Denken. Sein Beitrag zum jüdisch-christlichen Dialog. In: Der Philosoph Franz Rosenzweig (Anm. 15), Bd 1, S. 399—411. Vgl. oben, Anm. 23.

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ten christlichen Alltagsbewältigung. Eugen Rosenstock tut sich sehr schwer überhaupt zu akzeptieren, daß sein Freund Franz Rosenzweig Jude bleibt, denn weltgeschichtlich ist das Judentum durch das Christentum überhöht worden und nur im Christentum liegt die Zukunft der Menschheit.92 Hans Ehrenberg dagegen ringt um einen philosophischen Begriff des Christentums, den er zunächst »Judenchristentum« und dann - auf Grund von kritischen Einsprüchen von Rosenzweig - »Ketzerchristentum« nennt,93 das eine christliche Antwort zum Verhältnis von Christen und Juden zu geben versucht. Es ist hier nicht der Ort, um auf Hans Ehrenbergs Die Heimkehr der Ketzer ausfuhrlicher einzugehen.94 Hier stehen uns noch spannende innerchristliche und christlichjüdische Diskussionen bevor, denn bisher haben die christlichen Kirchen Hans Ehrenberg noch gar nicht für sich entdeckt und daher auch noch nicht seine Gedanken in den christlich-jüdischen Dialog einbezogen. Ehrenberg arbeitete an der Heimkehr des Ketzers - zunächst unter anderen Titeln - von Frühjahr 1918 bis Herbst 1919 unmittelbar parallel zu Rosenzweigs Arbeit am Stern der Erlösung von Ende August 1918 bis Mitte Februar 1919 (überarbeitet und erweitert bis Ende August 1919). Nach der intensiven jüdischchristlichen Briefdiskussion zwischen Rosenzweig und Ehrenberg seit Mai 1918 beginnt Rosenzweig mit der Abfassung des Stern. Ende Oktober, kurz nach dem politischen Zusammenbruch der deutschen und österreichischen Monarchien und der Auflösung und Zurücknahme der Fronten kommt Rosenzweig nach einer »leichten Malaria tropica«95 wieder nach Deutschland und ist zunächst eine zeitlang in Freiburg stationiert. Hier beendet er den zweiten Teil des Stern und beginnt sich mit der Einleitung zum dritten Teil zu beschäftigen. Aber erst Ende Dezember in Kassel beginnt Rosenzweig mit der Niederschrift des dritten Teils »Die Gestalt oder die ewige Überwelt«. In dieser Zeit trifft er nun wieder mit Ehrenberg zusammen, und es kommt zu »wichtigen Gesprächen«, wobei sie sich ganz offensichtlich auf voraufgehende Briefe und Diskussionen zurückbeziehen. 92 93

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Eugen Rosenstock: Europa und die Christenheit. Kempten, München: Kösel 1919. Franz Rosenzweig an Hans Ehrenberg, 7. Juli 1919: »Ich wollte darin [in II] das Gemeinsame darstellen, und wenn es trotzdem jüdelt, so hatte ich eben die Unverschämtheit, das Christentum hier ein bißchen jüdisch korrigieren zu wollen. Dem jüdischen Begriff der Erlösung kommt ja auch wirklich euer Ketzerchristentum mehr entgegen als das petrinische und paulinische [...] Das ist einer der Gründe, weshalb du es 1918 und 1917 Judenchristentum nanntest, denke ich.« (BT 638) Vgl. Wolfram Liebster: Die Kirche als das Zwischenreich. Hans Ehrenbergs Beitrag zur Ekklesiologie im Dialog mit Franz Rosenzweig. Eine Studie zu Hans Ehrenbergs theologischem Erstlingswerk »Die Heimkehr des Ketzers« (1920). In: Berliner Theologische Zeitschrift 8 (1991), S. 76-93. Franz Rosenzweig an Margrit (Gritli) Rosenstock-Huessy, 5. Oktober 1918 (GB 160). So harmlos, wie Rosenzweig hier vorgibt, war seine Erkrankung schon damals nicht. An den verschleppten Folgen leidet er bereits ein Jahr später, weshalb er immer wieder stärkste Chininkuren verordnet bekommt. Auch die Anfang 1922 ausbrechende amyotrophe Lateralsklerose ist vermutlich eine Spätfolge seiner an der Front zugezogenen Malaria-Erkrankung.

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Seit Herbst 1918 wissen die beiden Freunde von ihren Arbeiten, schicken sich Teilstücke zu, lesen sich bei ihren Treffen in Kassel im Winter 1918 und in Heidelberg im Frühjahr 1919 gegenseitig Kapitel aus ihren Arbeiten vor, entdecken überrascht das Gemeinsame ihrer Gedanken, geben einander Anregungen und arbeiten diese auch in die jeweiligen Endfassungen ein. 96 Auch dieser Gedankenverbundenheit liegt zugleich eine gemeinsame Anknüpfung an Schelling zugrunde, und zwar diesmal eine religionsphilosophische Bezugnahme auf Schellings Ausführungen zur Geschichte des Christentums, derzufolge nach der Epoche der petrinischen Kirche des Katholizismus und der paulinischen Kirche des Protestantismus die noch ausständige johanneische Kirche der Versöhnung kommen werde. Die Diskussionen der Freunde und Vettern, Rosenzweig und Ehrenberg, darüber muß bis in ihre gemeinsame Studienzeit zurückreichen, denn wo immer sie in Briefen darauf zu sprechen kommen, beziehen sie sich auf vorausgehende Gespräche zurück.97 In der Einleitung zum dritten Teil »Über die Möglichkeit, das Reich zu erbeten - in tyrannos«, die insgesamt Rudi Ehrenberg gewidmet ist,98 kommt Rosenzweig in einem Einschub auf den Gedanken der johanneischen Kirche zu sprechen. Ausgangspunkt seiner Gedankenführung ist Goethes »heidnisches« Gebet an das eigene Schicksal: »Schaff, das Tagwerk meiner Hände, hohes Glück, daß ich's vollende.« (SE 306) Zugleich aber erinnert Rosenzweig daran, daß Goethe von sich behauptet habe, er »sei vielleicht in seiner Zeit noch der einzige Christ, so wie ihn Christus gewollt habe« (SE 308). Beides ist durchaus ernst zu nehmen: 96

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Franz Rosenzweig an Margrit (Gritli) Rosenstock-Huessy, 25. Dezember 1918: »Von Hans hörten wir gestern den zweiten und den Anfang des dritten Kapitels. Die Verwandtschaft mit dem was ich mache, war mir doch sehr deutlich [...] Ich las die neuen Anfangsseiten der Einl. I vor, wo dann Hans selber auch die Verwandtschaft merkte.« (GB 205) Siehe Franz Rosenzweig an Hans Ehrenberg, 11. Dezember 1913; Rosenzweig, Tagebucheintrag vom 14. Januar 1916; Franz Rosenzweig an Rudolf Ehrenberg, 28. Mai 1917 (BT 145, 183, 410). Franz Rosenzweig an Hans Ehrenberg, 9. Mai 1918: »Die auffallende Nähe unsrer ohne jede Berührung miteinander entstandenen Gedanken habe ich dir ja schon im Wagen von Jüterbog nach Altes Lager zugegeben.« (BT 554) Vgl. auch Franz Rosenzweig an Margrit (Gritli) Rosenstock-Huessy, 24. Dezember 1918 (GB 204); Franz Rosenzweig an Eugen Rosenstock, 29. Juni 1919: »In Wirklichkeit ist es ja aber nichts andres als die Ansicht von der kirchengeschichtlichen Endzeit, in der wir alle, insbesondere Hans und ich, ich dachte aber du auch, schon lange übereinkamen. Daß du dich selbst im Brief an Krebs auf die Johanneskirche beziehst, war mir einleuchtender als alle Worte davor und danach [...] [So] ist auch die >Johanneskircheabyssus< und tohuwabohu) die ύλη. Beides (das ist die Korrektur, die die Offenbarung an der Philosophie vornimmt) ist geschaffen, nicht ewig.« (Z 66, Hervorhebungen von Rosenzweig)

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eines Philosophierens im Lichte der biblischen Offenbarung ist Rosenzweig aber nachdrücklich an einer scharfen Trennung der zwei verschiedenen Deklinationen - der jüdischen und der christlichen - derselben biblischen Offenbarung interessiert. Hier kommt bereits die zweite hermeneutische Linie, die polemische Abweichung, ins Spiel. In den Paralipomena behält aber das Bemühen um Verständnis noch die Oberhand gegenüber der Notwendigkeit der Verteidigung, die im Brief von 1913 zum Ausdruck gekommen war. Eine leidenschaftliche Meditation über das Wesen des Christentums und des Judentums und über das gegenseitige Verhältnis durchzieht die Paralipomena. In diesem Kontext scheint die spezifische Beschäftigung mit den oben genannten Werken Augustins eine sehr wichtige und sogar entscheidende Rolle für die Entstehung der Rosenzweig'schen Auffassung vom Christentum und indirekt auch deqenigen von der Beziehung zwischen Judentum und Christentum gespielt zu haben. 10 Rosenzweigs Einstellung gegenüber Augustin, die wir eben dargestellt haben, kann indirekt von einer Textstelle der Paralipomena aus weiter verdeutlicht werden. Dort drückt der Denker ein scharfes und etwas paradoxes Selbstbewußtsein seiner Beziehung zu den Kirchenvätern aus. »Meine Analogien zu den Kirchenvätern«, schreibt Rosenzweig in einer auf den 19. November 1916 datierten Notiz, »sind wirklich auffallend. Zum Teil ists die Berührung der Probleme: Offenbarung und Heidentum und der Empirismus der Antwort. Die Abweichung ergibt sich hier hauptsächlich aus meinem Nachhegelianismus (während die Kirchenväter sogar noch vor der Scholastik standen). Ferner daß ich die Bibel ebenfalls entschlossen dogmatisch lese und die literaturgeschichtliche Erkenntnis in die dogmatische hineinarbeite, ihr also dadurch den kritischen Stachel ausziehe; dies ist mein nachrawtesches Prae vor jenen.« 11 In diesem Zitat ist etwas zu erkennen, das den hermeneutischen Linien der von uns schon schematisierten Rosenzweig'schen Einstellung zu Augustin ähnlich, wenn auch nicht eigentlich gleich ist. Darin gibt es noch einen zusätzlichen Aspekt, der vertiefenswert wäre, den wir jedoch hier nur andeuten können. Die Linie der Übereinstimmung wird im angeführten Text ganz klar gezogen. Rosenzweig spricht von »auffallenden Analogien« seines Denkansatzes mit demjenigen der Kirchenväter, indem er gleichzeitig die in diesem Ansatz eingeschlossenen Themenbereiche angibt. Er meint, mit den Kirchenvätern die philosophische Grundfrage »Offenbarung und Heidentum« gemeinsam zu haben und außerdem die »empiristische« Art und Weise der Antwort. Vergleichen wir unseren Text mit den Schlußseiten des neun Jahre später geschriebenen, »Das Neue Denken« betitelten Aufsatzes, wo Rosenzweig sein ganzes eigenes Philosophieren als 10

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Als Beispiel dieser zweiten hermeneutischen Linie möchten wir nur das folgende Zitat anfuhren: »Die Taufe (vgl. Augustin, Confessiones IX 13)«, schreibt Rosenzweig in einer auf den 2. Februar 1916 datierten Notiz, »macht das verflossene Leben ungeschehen und schafft (wie übrigens Augustins ganze Bekehrungsgeschichte zeigt) fur die Zeit von der Taufe an den Zustand unbedingter Verantwortlichkeit. Erst nach der Taufe gibt es eigentlich wirkliche Sünde. Im Judentum wird dieser Zustand prinzipiell durch die Geburt begründet und zwar faktisch [...] durch die m S Ö "Π.« (Ζ 64) Ζ 94, Hervorhebungen von Rosenzweig.

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»absoluten Empirismus« bezeichnet, so wird der besondere Sinn von »Empirismus«, von dem Rosenzweig in den Paralipomena spricht, schlagartig klar.12 Im Text vom 1916 beginnt sich also eine besondere Auffassung der Offenbarung abzuzeichnen, die später eine der wichtigsten Grundchiffren des »neuen Denkens« Rosenzweigs darstellen wird, das heißt die Auffassung der Offenbarung als Tatsache und Ereignis, die man als solche nur »empirisch« im Sinne der Spätphilosophie Schellings erfahren kann.13 Die zweite hermeneutische Linie der Einstellung Rosenzweigs zu den Kirchenvätern, das heißt die der polemischen Abweichung, wird vom Denker selber auf seine eigene geschichtliche - und deshalb nicht bloß chronologische - Position ihnen gegenüber bezogen. Diese Linie erweist sich deshalb als besonders komplex, weil sie sich in zwei verschiedene, einander entgegengesetzte Stränge teilt. Der erste Aspekt ist ganz allgemeiner Natur. Er hat nichts zu tun mit einer Aufwertung der jüdischen Seite der biblischen Offenbarung, wie es bei unserer vorherigen Schematisierung der Beziehung zwischen Rosenzweig und Augustin in den Paralipomena der Fall war. Der erste Aspekt ist das Faktum, daß Rosenzweig kritisch besser gerüstet ist als die Kirchenväter in ihrer vorhegelianischen und vorscholastischen Naivität. Die zweite Begründung für die Abweichung ist aber viel interessanter, wenn gleich auch etwas rätselhaft. Sie betrifft die Art und Weise, wie Rosenzweig die Bibel las. Auch hierin unterscheidet er sich von den Kirchenvätern. Unter dieser Rücksicht erscheint Rosenzweig naiver oder sogar »dogmatischer«, was er ganz bewußt und absichtlich sein wollte. Er selbst kann - paradoxerweise - von einer vorpatristischen und zugleich »nachrankeschen« literaturgeschichtlichen Naivität sprechen. Wir werden hier darauf verzichten müssen, den genauen Sinn der »Hineinarbeitung der literaturgeschichtlichen Erkenntnis in die dogmatische«, die Rosenzweig nach der zitierten Stelle beim Bibellesen programmatisch zu verfolgen meint, näher zu analysieren. Wir werden uns hier vielmehr auf die Vermutung beschränken, daß dieser Ausdruck für Rosenzweig eine eigenartig jüdische Methodologie des Bibellesens bezeichnet, die sich als solche von jeglicher christlichen Methodologie der Schriftauslegung unterscheidet. Eine Auseinandersetzung zwischen der jüdischen und der christlichen Methodologie der Schriftauslegung finden wir noch einmal an einer anderen, sehr wichtigen, diesmal direkt Augustin betreffenden Textstelle der Paralipomena, die wir schließlich ohne Kommentar zitieren möchten. »Hier [d. h. in den Confessiones XII, 24,33, wo Augustin eine philosophische Deutung der Schöpfungsgeschichte vorträgt]«, schreibt der Denker in einer auf den 7. Februar 1916 datierten Notiz, »steckt das ganze Verhältnis des Christentums zur Schrift. Die 12

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»Das Neue Denken«, zuerst erschienen in Der Morgen 1 (1925), H. 4, anschließend mehrmals wieder abgedruckt und schließlich in Bd 3 der Gesammelten Schriften aufgenommen, vgl. Ζ 139-161; zur Bezeichnung »absoluter Empirismus« s. Ζ 161. »Das Wesen der Offenbarung«, schreibt Rosenzweig noch in den Paralipomena, »ists, daß sie eine Tatsache ist. Die Kirche im Kampf um ihre Jüdischkeit gegen die Gnosis kämpft um ihre Tatsächlichkeit. « (Z 100)

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Schrift enthält die Wahrheit, aber der Mensch erkennt sie in Gott, nicht in der Schrift. Die Frage nach der wahren Meinung des Schriftwortes wird in suspenso gelassen, nicht wie bei uns ausgeschaltet (durch die Theorie vom mehrfachen Schriftsinn); d. h.: im Christentum ist der (eindeutige) Schriftsinn der historische Ursprung der Wahrheit, die aber unabhängig davon (in Gott) erkannt wird; bei uns ist die Schrift der dauernde Fundort der Wahrheit, die nur faktisch (nicht anerkanntermaßen) unabhängig davon gefunden wird.« 14 Der in den Paralipomena enthaltene Kommentar zu Augustinus entfaltet sich über mehrere Themenbereiche hinweg, denen hier nicht weiter nachgegangen werden kann. Wir möchten nur bemerken, daß die weitere philosophische Meditation Rosenzweigs die Ergebnisse dieses Kommentars zu Augustinus noch vertiefen und ausarbeiten wird. Sie verläuft aber immer entlang der beiden erwähnten hermeneutischen Linien. Einige von diesen Ergebnissen werden zusammen mit anderen nicht in den Paralipomena enthaltenen Überlegungen zu Augustinus schließlich in den Stern einfließen. Außer im Stern kommt aber der Name Augustins in den Schriften Rosenzweigs noch in einigen zwischen 1916 und 1929 geschriebenen Briefen (also teils vor und teils nach der Abfassung des Stern) und ganz flüchtig in kleineren, zwischen 1920 und 1926 abgefaßten Schriften vor. 15 Besonders wichtig erscheinen die in den Briefen enthaltenen Überlegungen zu Augustin, weil sie bedeutende Themenkreise (ζ. B. Kunst, Leib-Seele Beziehung, messianische Politik, Zeitlichkeit, Eschatologie) vorwegnehmen bzw. weiterdenken, die im Stern behandelt werden.

3. Die Präsenz Augustins im Stern der Erlösung Die Präsenz Augustins im Stern der Erlösung ist sehr unaufdringlich und meistens fast unsichtbar. Der Name des Kirchenvaters wird ausdrücklich nur neunmal, meistens ganz flüchtig und ohne wörtliches Zitieren aus den augustinischen Werken genannt. 16 An einigen weiteren Textstellen des Stern werden augustinische Worte zitiert oder paraphrasiert, ohne aber Augustin namentlich zu nennen. Man kann trotzdem sagen, daß das Denken des Kirchenvaters sehr 14 15

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Ζ 66, Hervorhebungen von Rosenzweig. Der Name oder die Werke Augustins werden in insgesamt einundzwanzig publizierten Briefen Rosenzweigs zitiert. Vierzehn von ihnen wurden in BT publiziert (vgl. die Nummern 196, 265, 266, 307, 319, 364, 426, 446, 1096, 1115, 1116, 1130, 1188, 1231). Die übrigen sind in GB 29, 35,126,223,353,372, 604 zu finden. Die kleineren Schriften, in denen man den Namen Augustins ebenfalls findet, sind folgende: »Volksschule und Reichsschule« (1916), »Jüdische Geschichte im Rahmen der Weltgeschichte« (1920), »Anleitung zum jüdischen Denken« (1921), »Apologetisches Denken« (1923), »Die Bibel auf Deutsch« (1926), »Die Schrift und Luther« (1926), jetzt alle in Ζ 371411, 539-552, 597-618, 677-686, 791-799, 749-772; der Name Augustins kommt dort auf den Seiten 401,548,611,678, 771, 794 vor. SE 104, 107, 163, 311, 316, 366 (zweimal), 368, 398.

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stark und tief und auf mehreren und verschiedene theoretischen Ebenen auf den Stern gewirkt hat. Die Präsenz Augustine ist in der Tat mehr oder weniger ausdrücklich in den entscheidendsten Knotenpunkten des Werks zu finden. Augustin wird zum ersten Mal in der sehr wichtigen »Einleitung« zum zweiten Teil des Werks genannt, wo sich Rosenzweig ein neues Verständnis des Wunders auszuarbeiten vornimmt.17 Diese neue Wunderauffassung versucht, die wichtige und schwierige Vermittlung zwischen dem im ersten Teil des Stern erforschten Universum des reinen Denkens und der im zweiten Teil des Werks untersuchten Welt der konkreten, menschlichen Erfahrung zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang scheint es uns sehr wichtig zu betonen, daß sich Rosenzweigs Wunderauffassung deijenigen von De civitate Dei Augustine in einem beträchtlichen Maß verdankt. Damit werden wir uns später noch ausführlicher beschäftigen. Die Präsenz Augustins kommt außerdem bei jedem von den drei Büchern des zweiten Teils des Stern zum Vorschein. An der Stelle, an der im Stern 11,1 eine neue, ganz philosophische Umdeutung des theologischen Gedankens der Schöpfung erarbeitet wird, und zwar insbesondere dann im Kontext der harten Polemik gegen die idealistische Vergötterung der Kunst, beruft sich Rosenzweig ganz sympathetisch auf die platonische, neuplatonische und augustinische Auffassung des natürlichen, lebendigen Schönen als Werk Gottes.18 Eine kurze, auf den 28. Januar 1916 datierte Notiz der Paralipomena über die augustinische, in Confessiones 111,2 dargestellte Theorie der Tragödie (Z 61) macht uns aber darauf aufmerksam, daß auch die Ästhetik, und dort besonders die Auffassung der Tragödie und des Tragischen, die Rosenzweig im ersten Teil des Stern erarbeitet,19 mindestens zum Teil von Augustin beeinflußt worden sein könnte. Denkt man an die große Bedeutung, das das Tragische fur die gesamte bereits im ersten Teil des Stern entwickelte philosophische Anthropologie hat (SE 80-89), so kann man auch einen gewissen Einfluß des Denkens Augustins auf diese Anthropologie insgesamt vermuten. Im reizvollen Liebeslied, das Stern 11,2 - das Buch, das der Offenbarung gewidmet ist - konstituiert, kann man eine allgemeine, tief augustinische Stimmung spüren. Die Art und Weise, wie Rosenzweig in diesem Buch die Liebesbeziehung darstellt, die zwischen dem liebenden Gott und der geliebten menschlichen Seele besteht, erinnert in der Tat stark an die Confessiones. Unter den verschiedenen Gestalten, die nach Rosenzweig die Beziehung zwischen Gott und der Seele annehmen kann, finden wir auch - sicher nicht zufällig - die des Be17 18

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SE 104, 107. SE 163. Rosenzweig konnte das Thema des Schönen als Werk Gottes an mehreren Textstellen in Confessiones und De civitate Dei finden. Man sehe in diesem Zusammenhang beispielsweise Confessiones II, 6, 12; IV, 10, 15; X, 27, 38; X, 34, 53; De civitateDeiV, 11; X, 14; XI, 4, 2; XV, 22; XXII, 19, 1. Im ersten Teil des Stern werden nur die Grundbegriffe der Ästhetik behandelt (SE 41, 65-66, 87-89), die dann im zweiten und dritten Teil des Werks weiterentwickelt werden (SE 161-166, 209-221,270-278, 393-397, 399^103,412^115).

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kenntnisses. »Bekenntnis« ist dabei von Rosenzweig genau gleich wie bei Augustinus sowohl als Sündenbekenntnis der Seele Gott gegenüber als auch als Bekenntnis des Glaubens der Seele an Gottes Liebe gemeint (SE 201-203). 20 An einem anderen Knotenpunkt, in Stern 11,3, und zwar dort, wo die von Gott geschenkte und von der Seele umsonst erhaltene Liebe aufgefordert wird, sich in die vom Menschen dem Menschen geschenkte Liebe zu verwandeln, beruft sich Rosenzweig fast wörtlich auf Augustin. Das Denken des Kirchenvaters scheint ihm in der Tat den Schlüssel bereitzustellen, der den entscheidenden Übergang vom Geliebtwerden zum Lieben, das heißt von der Gottesliebe zur Nächstenliebe ermöglicht. Die gesuchte Vermittlung zwischen beiden Weisen der Liebe ist nach Rosenzweig in einer den Confessiones entnommenen und an Gott gerichteten Anrufung enthalten, die Rosenzweig in leicht veränderter Form aus dem Original vermutlich auswendig zitiert. Jedenfalls nennt er den Namen Augustins nicht. Der Kirchenvater hatte in der Tat im X. Buch der Confessiones zu Gott um die Gabe des Gehorsams seinen Geboten gegenüber mit diesen Worten gebetet: »da quod iubes et iube quod vis«.21 Rosenzweig formuliert die Bitte als »fac quod jubes et jube quod vis« um, indem er meint, daß nur deijenige, der liebt, der Geliebten die Liebe befehlen darf. Die Nächstenliebe wird so nach Rosenzweig im Gefolge von Augustin zur Aus- und Nachwirkung der Gottesliebe. Nur deswegen kann sie ohne Moralismus befohlen werden. 22 Den Namen bzw. die Präsenz Augustins treffen wir wieder im dritten Teil des Stern an, in der »Einleitung« 23 und in jedem seiner drei Bücher. In Stern 111,1, das heißt dort, wo Rosenzweig seine eigene Deutung des Wesens des Judentums darstellt, zitiert er die kühne Auseinandersetzung zwischen Augustin und Cicero über den Staat, 24 um daraus Anregungen und Denkanstöße für 20

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Die Doppelbedeutung des Ausdrucks »confessio« geht schon auf die hebräische Bibel zurück. Confessiones X, 29,40; X, 31,45; X, 37, 60. »Indem die Liebe zum Menschen von Gott geboten wird«, schreibt Rosenzweig, »wird sie, weil Liebe nicht geboten werden kann außer von dem Liebenden selber, unmittelbar auf die Liebe zu Gott zurückgeführt. Die Liebe zu Gott soll sich äußern in der Liebe zum Nächsten. Deshalb kann die Nächstenliebe geboten werden und muß geboten werden [...] das inhaltlich klare und eindeutige Gebot der Nächstenliebe [...] [braucht] eine Voraussetzung jenseits der Freiheit: fac quod jubes et jube quod vis - dem daß Gott >befiehlt, was er wilk, muß, weil der Inhalt des Befehls hier der ist, zu lieben, das göttliche >schon Getansein< dessen, was er befiehlt, vorangehen. Die gottgeliebte Seele allein kann das Gebot der Nächstenliebe zur Erfüllung empfangen. Gott muß sich erst zum Menschen gekehrt haben, ehe der Mensch sich zu Gottes Willen bekehren kann.« (SE 239-240). Überlegungen über dasselbe Zitat Augustins kann man noch in einem auf den 19. Dezember 1926 datierten Brief Rosenzweigs an Robert Arnold Fritzsche und in einem auf den 26. Januar 1929 datierten Brief an die Mutter finden (BT 1114f. und 1206). SE 311 und 316. Beide Zitate sind für das weitere Verständnis der gesamten Rosenzweig'schen Deutung Augustins zentral. SE 365-369. Rosenzweig bezieht sich hier auf De civitate Dei XXII, 6, 2, wo Augustin De re publica 3, 23. 34 von M. T. Cicero zitiert und diskutiert. Über dasselbe

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die Ausarbeitung seiner Deutung zu gewinnen. Der Denker stimmt mit Augustin gegen Cicero darin überein, daß die zwei von Cicero vorgestellten Grundlagen des Staats salus (Heil) und fides (Glaube) - Selbsterhaltung und geistliches Wesen eines Volkes - in der civitas Dei nur eins sein können. Sie können daher auch nicht zueinander in Konflikt geraten, wie es bei der civitas terrena leicht geschehen kann. Augustin habe, so Rosenzweig, die echten Züge der civitas Dei, das heißt des Staats im Horizont der Offenbarung, ganz richtig verstanden. Dieses Verständnis gelte aber - zumindest in seiner ganzen Vollkommenheit - nur, so Rosenzweig, für das jüdische Volk, weil sein historisches Leben von Anfang an ganz identisch mit seinem Glauben sei. »Das jüdische Volk«, schreibt Rosenzweig, »ist für sich schon an dem Ziel, dem die Völker der Welt erst zuschreiten. Es besitzt die innere Eintracht von Glauben und Leben, die als Eintracht von fides und salus Augustin wohl der Kirche zuschreiben darf, die aber den Völkern in der Kirche noch ein bloßer Traum ist.« (SE 368) In das augustinische Verständnis der civitas Dei fugt so Rosenzweig einen besonderen Unterschied zwischen civitas Dei judaica

und civitas Dei Christiana ein. Die erste ist schon da

und soll den Weg zeigen. Die zweite ist nur erst eine werdende civitas, die im Laufe der Geschichte alle Völker allmählich einbegreifen soll. Wo Rosenzweig seine eigene Deutung des Wesens des Christentums darstellt - in SE 111,2 - , geht die Präsenz Augustins über die flüchtige Nennung seines Namens wohl weit hinaus. (SE 398) Etliche Anzeichen lassen in der Tat vermuten, daß Rosenzweig dem Kirchenvater wichtige Aspekte seiner Deutung des Christentums verdankt. Die Auffassung des Christentums als ewiger, aber durch die Zeit, durch die Geschichte führender Weg, also die Auffassung des Christentums als »der Zeit Herr« (SE 374-381) - im Unterschied zum Judentum als ewiges Leben - könnte sicher nicht nur, aber auch aus augustinischen Anregungen entsprungen sein. In einem für unser Thema sehr wichtigen, auf den 2. März 1917 datierten Brief an Hans Ehrenberg (BT 357-359) erweist sich Rosenzweig als tief beeindruckt von einer besonderen augustinischen Deutung einer Textstelle der johanneischen Apokalypse.25 In »gewaltigster Interpretation der Johannesapokalypse« (BT 358) hat Augustin nach Rosenzweig entgegen der spätjüdischen Apokalyptik und den Chiliasten den Anfang der Parusie zeitlich radikal vorverlegt. »Der Kreuzestod ist die Parusie«, schreibt Rosenzweig im zitierten Brief, »von da ab unmittelbar beginnt die Herrschaft Christi mit den Seinen, die Kirche, sie ist das tausendjährige Reich!!! So weit Augustin.«26 Diese Worte klären den tieferen Sinn der Auffassung des Chri-

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Thema siehe auch ein Stück des auf den 7. November 1916 datierten Briefs Rosenzweigs an Eugen Rosenstock in BT 282f., und noch zwei weitere Textstellen aus den Paralipomena (Z lOOf. und 114). De civitate Dei XX, 7-17, wo Augustin das Kapitel XX der Johannesapokalypse kommentiert. BT 358f., Hervorhebungen von Rosenzweig. »Tertullian [...]«, schreibt Rosenzweig in den Paralipomena, »ist noch Chiliast; erst Augustin hat durch seine Gleichung tausendjähriges Reich = sichtbare Kirche die Schweitzersche Linie kulminieren lassen. Daher kommt es, daß die katholische Kirche ganz uneschatologisch ist; die

Auf der Spur Augustins

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stentume als des Herrn der Zeit auf, wie wir sie im Stern finden können. »Das Christentum ist es«, schreibt Rosenzweig, »das also die Gegenwart zur Epoche gemacht hat. Vergangenheit ist nur noch die Zeit vor Christi Geburt. Alle folgende Zeit von Christi Erdenwandel an bis zu seiner Wiederkunft ist nun eine einzige große Gegenwart, jene Epoche, jener Stillstand, jene Stundung der Zeiten, jenes Zwischen, worüber die Zeit ihre Macht verloren hat. Die Zeit ist nun bloße Zeitlichkeit«.27 Es ist unmöglich, im Rahmen des vorliegenden Beitrags die Präsenz Augustins im Stern vollumfänglich zu untersuchen. Unser Ziel war hier nur, einen kurzen, allgemeinen Überblick dieser Präsenz zu skizzieren, um unsere Vertiefung der ersten zitierten Textstelle in einen angemessenen Kontext stellen zu können. Wir möchten schließlich noch betonen, daß sich schon aus diesem ersten Überblick die beiden oben festgestellten Linien der Rosenzweig'sehen Auseinandersetzung mit Augustin, die sympathetische Übereinstimmung und die polemische Abweichung, ganz klar abgezeichnet haben.

4. Rosenzweig und Augustin: Über das Wunder philosophieren Die ausdrücklich geführte Auseinandersetzung mit Augustin im Stern beginnt, wie wir schon gesehen haben, mit einer ganz besonderen Textstelle, in der eine erstaunliche, offensichtlich herausfordernde und sozusagen »postmoderne« Rehabilitierung des alten und scheinbar überholten theologischen Themas des Wunders vorangetrieben wird.28 Die Textstelle findet sich innerhalb der »Einleitung« zum zweiten Teil des Stern,29 zu dem Teil also, in dem der Denker

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Eschatologie ist seit Augustin die Domäne der Schismatiker, die eben diese Gleichung nicht gelten lassen wollen [...]. Augustin machte aus dem anbrechenden Futurum des tausendjährigen Reichs die klare Gegenwart der Kirche.« (Z 99f., Hervorhebung von Rosenzweig) SE 375. In Stern III, 3 spielt Rosenzweig endlich sehr polemisch auf ein berühmtes Wort Augustins an, ohne dessen Namen zu nennen: »Wir finden [...] nicht die Wahrheit in uns - zum letzten Mal sei die philosophische Lästerung hier abgewehrt nein, sondern uns in der Wahrheit.« (SE 436) Das Wort Augustins steht in De vera religione, XXXIX, 72. Über das Thema des Wunders im Denken Rosenzweigs sehe man: Norbert M. Samuelson: Halevi and Rosenzweig on Miracles. In: Approaches to Judaism in Medieval Times. Ed. by D. R. Blumenthal. Chicago: Scholars Press 1984, S. 157-173; Yehoyada Amir: Das Wunder als epistemologische Kategorie in Rosenzweigs Philosophie [Hebr.]. In: Da'at 31 (1993), S. 47-63; Paul Mendes-Flohr: II concetto del miracolo in Franz Rosenzweig. In: Filosofia della religione. Indagini storiche e riflessioni critiche. A cura di M. Micheletti e A. Savignano. Genova: Marietti 1993, S. 59-80. Zum Ganzen vergleiche P. Miccoli: La conversione al regno di Dio. Riflessioni sulla mistica ebraica di F. Rosenzweig e su quella di S. Agostino. In: Rivista di Filosofia neoscolastica 78 (1986), S. 72-96. SE 103-123. Diese »Einleitung« ist mit »Über die Möglichkeit, das Wunder zu erleben« betitelt.

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nach der im ersten Teil des Werkes entwickelten erbitterten und kritischen Konfrontation mit der philosophischen Überlieferung seine eigene theoretische Perspektive darzustellen beginnt. Unser Text steht deshalb an einer strategisch gesehen außerordentlich wichtigen und heiklen Position. Der erste Teil des Stern hatte die ganze »von Jonien bis Jena« (SE 3) reichende philosophische Überlieferung zunächst radikal und zerstörerisch angegriffen, um sie dann in ihrem echten Wahrheitsgehalt wieder einzuholen, 30 indem Rosenzweig sie auf das philosophisch neu ausgelegte Weltbild des Heidentums zurückfuhrt. Diesem Weltbild, das sich in die drei gegenseitig selbständigen, relationsfreien Gestalten des mythischen Gottes, der plastischen Welt und des tragischen Menschen gliederte, gelang es nach dem Denker nur, die dunklen, abstrakten, sozusagen »apriorischen« Fundamente der Welt zu erfassen, nicht aber deren vollständige und lebendige Wirklichkeit. Der zweite Teil des Stern sollte deshalb ein ganz neues Denkpanorama aufschließen: das Universum der wirklichen Welt, so wie sie sich der lebendigen, alltäglichen, menschlichen Erfahrung darstellt. Die wirkliche Welt kann aber nach Rosenzweig echt nur durch eine radikale Umdeutung und Verklärung des heidnischen Weltbildes im Lichte der biblischen Offenbarung erfaßt werden, das heißt mit der entscheidenden Hilfe der theologischen Begriffe Schöpfung, Offenbarung und Erlösung. Das neue Denken, das Rosenzweig errichten will, ergibt sich deshalb aus einem sehr engen Dialog und einer gleichmäßigen Zusammenarbeit zwischen Philosophie (das heißt, philosophisch neu ausgelegtem Heidentum) und Theologie (das heißt, ebenfalls philosophisch neu ausgelegter biblischer Offenbarung), ohne daß jene zur »Magd« der letzteren erniedrigt werde oder diese von ersterer überflüssig gemacht würde. Keine kann auf die je andere zurückgeführt oder gar mit ihr identifiziert werden. Die »Einleitung« zum zweiten Teil des Stern stellt sich vielmehr auf die kritische Grenzlinie oder die Brücke zwischen Heidentum und Offenbarung, wo sich beider Horizonte berühren, das heißt sich zugleich voneinander trennen und zueinander vermitteln. In diesem sehr besonderen Kontext beruft sich Rosenzweig ausdrücklich auf Augustin, der im Lauf weniger Seiten zweimal zitiert wird (SE 104, 107). Diese zweifache Berufung ist nur scheinbar ganz flüchtig. Sie geschieht, wie schon bemerkt, ohne jegliche Angabe von bestimmten Werken und trotzdem nicht zufallig oder ohne Bedeutung. Wenn wir den in den Paralipomena enthaltenen Hinweisen folgen und unsere Textstelle mit den von Rosenzweig am meisten gelesenen und kommentierten augustinischen Werken konfrontieren, so können wir sehen, daß auffallend enge Übereinstimmungen von Gedanken und sogar sprachlichen Wendungen zwischen unserem Text und vielen Stellen der Bücher Χ, XXI und XXII von De civitate Dei Augustine vorhanden sind.31 30

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So verstand Rosenzweig vier Jahre später den Inhalt des ersten Teils des Stern'. »Was hier steht, ist noch nichts andres als eine zugleich Adabsurdumführung und Rettung der alten Philosophie.« (»Das Neue Denken«, Ζ 142f.) Wir wollen damit natürlich nicht sagen, daß Augustin die einzige Quelle der Rosenzweig'sehen Auffassung des Wunders sei. Wir möchten hier nur die Auswirkung die-

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Die Rosenzweig'sehe Behandlung des Themas des Wunders beginnt mit einer synthetischen, aber außerordentlich kritischen Rekonstruktion der Grundetappen der Geschichte der theologischen und philosophischen Wunderauffassung im Rahmen der abendländischen Überlieferung. Die erste Etappe dieser Geschichte liegt in der Antike, wo das Wunder offensichtlich höchste Achtung genoß. Die Darstellung der antiken Wunderauffassung zielt allerdings nicht auf eine neutrale, bloß historische Rekonstruktion einer von mehreren Phasen in der Geschichte der Wunderauffassung. Denn diese erste ist zugleich auch eine ganz besondere und sogar von paradigmatischer Bedeutung. Ihre Polemik gegen die moderne, rationalistische Theologie strebt in der Tat eine völlige philosophische und theologische Rehabilitierung des Wunders an. Rosenzweigs Rekonstruktion stellt deshalb den eigenartigen Versuch dar, den ursprünglichen, echten Sinn des Wunders so zu vergegenwärtigen, daß sich daran verifizieren läßt, ob er sich ganz neu umdeuten und wiederverwerten läßt. Genau in diesem Kontext sind nun die beiden genannten ausdrücklichen Hinweise auf Augustin zu finden. Augustin wird hier vor allem nach der ersten hermeneutischen Linie interpretiert, die wir schon in den Paralipomeniι festgestellt haben. Der erste Hinweis eröffnet, der zweite beendet die Darstellung der antiken Wunderauffassung, so daß beide zusammen eine Figur ergeben, die die Bibelexegeten Inklusion nennen. Alles, was dazwischen gesagt wird, rückt auch ohne Nennung des Namens Augustins durch diesen wiederholten Anfangs- und Schlußhinweis in ein besonderes und bedeutsames Licht.

ser bestimmten Quelle auf diese Auffassung erforschen. N. M. Samuelson vertritt in seinem oben in Anm. 28 erwähnten Aufsatz die These, daß die Hauptquelle für das im Stern ausgearbeitete Verständnis des Wunders im wesentlichen Der Kusari von Jehuda Halevi sei (s. deutsche Ausgabe in der Übersetzung von D. Cassel, Berlin 1853, 5. Aufl., 1922, Reprint Zürich 1990). Der Einfluß der augustinischen und ganz allgemein der patristischen Wunderkonzeption sei, so Samuelson weiter, aufs Ganze gesehen relativ gering. Die in diesem Beitrag entwickelten Argumentationen hingegen möchten gerade diese zweite These in Frage stellen, ohne die erste zu bestreiten. Die überzeugenden hermeneutischen Grundlinien, die Samuelson in seiner Untersuchung diskutiert, scheinen insbesondere im Hinblick auf das Thema des Einflusses von Halevi auf Rosenzweig ihre Gültigkeit in der Tat aufrecht zu erhalten, auch wenn sie offensichtlich unabhängig von der These der Irrelevanz des augustinischen und patristischen Beitrags zur Wunderauffassung Rosenzweigs entwickelt werden. Zum Einfluß, den Der Kusari auf den Stern allgemein ausgeübt hat, s. a. die Arbeit von Irene Kajon: Profezia e filosofia nel Kusari e nella Stella della redenzione. L'influenza di Yehudah Ha-Levi su Franz Rosenzweig. Padova: Cedam 1996 (Archivio di filosofia Biblioteca; 13). Kurze Erwähnungen über die biblischen, rabbinischen und mittelalterlichen Quellen der Rosenzweig'sehen Meditation über das Wunder kann man im schon erwähnten Aufsatz von Mendes-Flohr, Il concetto del miracolo in Franz Rosenzweig (Anm. 28), bes. die Anm. 12, 84, 103 und 106, S. 62, 75, 78 und 79, finden.

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a) Das Wunder als Beweis des Glaubens Das komplexe Spiel der Rosenzweig'schen Rehabilitierung des Wunders durch eine Neu- und Umdeutung der ersten Etappe der Geschichte seiner theologischen und philosophischen Auffassung kann in vier hermeneutischen und spekulativen Zügen schematisiert werden, die wir jetzt kurz rekonstruieren möchten. Der erste Zug der Rede Rosenzweigs ist von einer starken, entschlossenen und bejahenden Betonung der großen Bedeutung geprägt, die die heidnische, jüdische und christliche Antike dem Wunder einträchtig beimaß. »Wenn Augustin oder sonst ein Kirchenvater«, schreibt Rosenzweig, »die Göttlichkeit und Wahrheit der geoffenbarten Religion gegen heidnische Angriffe und Zweifel zu verteidigen hatte, versäumte er schwerlich, auf die Wunder zu weisen«. »Sie waren«, setzt er fort, »obwohl sie nicht allein von der offenbarten Religion in Anspruch genommen wurden [...] das kräftigste Argument« (SE 104). Die Einstellung Augustine zum Wunder war sicher im Lauf seines Denkweges sehr unterschiedlich und nuancenreich.32 Aber Rosenzweig konnte beim späten Augustin, das heißt bei demjenigen von De civitate Dei, eine entschlossen positive Bewertung des Wunders finden. Es dient dort als Argument, um die geoffenbarte Wahrheit zu beweisen.33 Obwohl Rosenzweig das Wunder nicht eigentlich in genau demselben Sinn verwendet, wird er ihm dennoch eine sehr wichtige Rolle im Aufbau des Stern beimessen, wie wir bald, wenn auch nur kurz, sehen werden.

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Die Frage ist zu komplex, um hier rekonstruiert werden zu können. Wir verweisen nur auf wenige literaturkritische Texte, das heißt auf drei Studien von D. P. De Vooght: »La notion philosophique du miracle chez saint Augustin«, »Les miracles dans la vie de saint Augustin« und »La théologie du miracle selon saint Augustin«, in: Recherches de Théologie Ancienne et Médievale 10 (1938), S. 317-343 , 11 (1939), S. 5 - 1 6 und S. 197-222, sowie auf das Buch von F. Brazzale: La dottrina del miracolo in S. Agostino. Roma 1964, in dem man auch einen Überblick der kritischen Literatur über das Thema finden kann. Zum Wunder als Beweis der Wahrheit des Christentums und auch überhaupt der ganzen biblischen Offenbarung greift Augustin mindestens bei folgenden Textstellen zurück: De civitate Dev. X, 8; X, 9, 1; X, 12; X, 32, 2; XXII, 6, 1; XXII, 7; XXII, 8, 1 ; XXII, 9. Hier möchten wir nur eine von diesen Textstellen zitieren: »Possem quidem dicere [miracula] necessaria fuisse, priusquam crederei mundus, ad hoc ut crederei mundus... Nam facta esse multa miracula, quae attestarentur illi uni grandi salubrique miraculo, quo Christus in caelum cum carne in qua resurrexit ascendit, negare non possumus. In eisdem quippe veracissimis libris cuncta conscripta sunt, et quae facta sunt, et propter quod credendum facta sunt. Haec, ut fidem facerent, innotuerunt; haec per fidem, quam fecerunt, multo clarius innotescunt. Leguntur quippe in populis, ut credantur; nec in populis tamen nisi eredita legerentur.« (XXII, 8, 1)

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b) Das Wunder als Zeichen Die wissenschaftliche Revolution hat sich aber für Rosenzweig sicher nicht vergebens ereignet. Darum kann es nicht die endgültige Absicht der Darlegungen unseres Denkers sein, einen naiven, vormodernen und vorwissenschaftlichen Glauben ans Wunder bloß zu restaurieren.34 Der zweite Zug der spekulativen Strategie Rosenzweigs innerhalb seiner Deutung der antiken Wunderauffassung ist deshalb von einer entschlossenen Differenzierung zwischen der heidnischen magischen Auffassung des Wunders und jener geprägt, die im Horizont der Offenbarung Gültigkeit hat. Hier kann sich Rosenzweig die jüdischen und christlichen Argumentationen im antiken Streit gegen die Heiden um das Wunder aneignen, eines Streits also, den er in De civitate Dei besonders heftig bezeugt finden konnte.35 Erstens übertrifft das wahre, echte Wunder sowohl nach Rosenzweig als auch nach Augustin die heidnische Magie an Macht, weil jenes wunderbarer als diese ist. »Denn«, schreibt Rosenzweig, »mochten die heidnischen Magier ihre Stäbe auch in Schlangen verwandeln: der Stab Moses verschlang die Stäbe der Götzendiener. Die eigenen Wunder waren wunderbarer als die Wunder des Widersachers [...]. Je wunderbarer, umso wahrer.«36 Das authentische Wunder unterscheidet sich von der heidnischen Magie zweitens und vor allem durch seine innere Bedeutung.37 Das heidnische Wunder ist in der Tat nach Rosenzweig eigentlich ein »Zauber«, der »das eigene Machtgebot des Menschen« auszufuhren versucht. »Der Magier«, schreibt Rosenzweig, »richtet sich tätig eingreifend gegen den Weltlauf [...]. Er greift Gottes Vorsehung an und will ihr das von ihr Unvorhergesehene, Unvorhersehbare, das von seinem eigenen Wille 34

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Wir möchten hier in diesem Zusammenhang nur daran erinnern, daß Rosenzweig seine Universitätsausbildung mit dem Studium der Medizin begann, das er dann mit Erfolg bis zum Physikum fortsetzte. Man sehe darüber zum Beispiel, De civitate Dei: X, 8; X, 16, 2; XXI, 6, 1-2; XXII, 10; XXII, 11,3. SE 104. Ein Vergleich zwischen den von Moses und den von Pharaos Weisen vollgebrachten Wundern sind in De civitate Dei X, 8 und XXII, 10 zu finden. In X, 8 ist außerdem eine besondere Redewendung vorhanden, die vielleicht im letzten Satz des eben angeführten Zitats des Stern (»Je wunderbarer, umso wahrer«) leicht verändert widerhallt: »Illi [d. h.: magi Pharaonis] enim faciebant veneficiis et incantationibus magicis, quibus sunt mali angeli, hoc est daemones, dediti; Moyses autem tanto potentius, quanto iustius, nomine Dei, qui fecit caelum et terram, servientibus Angelis eos facile superávit.« (Hervorhebung von mir.) In De civitate Dei behauptet Augustin ganz ausdrücklich, daß sich das echte Wunder, trotz jeder scheinbaren Ähnlichkeit, von der Magie vor allem durch sein völlig verschiedenes Ziel differenziert. »Haec [das heißt: miracula deorum gentilium] ergo«, schreibt er, »atque huiusmodi nequaquam illis, quae in populo Dei facta legimus, virtute ac magnitudine conferenda sunt [...] quaedam vero etsi nonnullis piorum factis videantur opere coaequari, finis ipse, quo discernuntur, incomparabiliter haec nostra ostendit excellere.« (X, 16, 2; Hervorhebung von mir) Man sehe darüber noch De civitate Dei XXII, 10, wo man erklärt, daß das Ziel des echtes Wunders den Fortschritt des Glaubens (»ut fides [...] proficiat«) ist.

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Gewollte abtrotzen, ablisten, abzwingen.« (SE 105) Im Horizont der biblischen Offenbarung ist das Wunder hingegen etwas ganz anderes, weil es, wie Rosenzweig schreibt, »wesentlich >Zeichenirrationale< Gegenstände« (SE 21). Es wird zwar ein »Etwas des Wissens« »erschwungen«, es handelt sich jedoch um das lediglich - vernunftmäßig hergeleitete - Hypothetische, das erst noch umschlagen muß ins Anhypothetische des (übervernünftigen) Glaubens, d. h. das gewissermaßen durch einen reinen Glaubensakt erst noch glaubensmäßig angeeignet werden muß (was die Begriffe des Hypothetischen und des Anhypothetischen betrifft, vgl. zu dieser Stelle die Ausführungen von P. Fiorato/H. Wiedebach mit Bezug auf H. Cohen, in diesem Band S. 25f.). Dieses »Etwas des Wissens« ist damit zwar Inhalt des Glaubens, der über dieses Wissen hinausreichende Glaube (Glaubensakt) selbst aber ist entgegen Kant in keinerlei Weise Vernunft- oder wissensbestimmt. V o m Wortlaut her klingt in diesem Gedankengang auch die Terminologie von Rosenzweigs Freiburger Lehrer H. Rickert an, der in seiner Habilitationsschrift Der Gegenstand der Erkenntnis, Freiburg 1892 (Rosenzweigs Handbibliothek: Ausgabe von 1904) zwei Arten von wissendem Subjekt unterscheidet, eines, »das von seinen Objekten als rationalen weiß« (Beispiel: Erkenntnisse der Mathematik), und eines, »das um seine Objekte auch dann weiß, wenn ihre Inhalte irrational sind« (S. 29). Zum Gegensatz des Rationalen und des Irrationalen vgl. auch Hans Ehrenberg: Die Parteiung der Philosophie. Studien wider Hegel und die Kantianer. Leipzig: Meiner 1911, S. 52ff.

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immer wiederkehrt und morgen gilt, weils heute hat gegolten«. Die Erscheinung aber ist das Immerneue, - das Wunder in der Geisteswelt. 13 13

Z. 24: Rosenzweig unternimmt in diesem und im folgenden Absatz in gewisser Weise eine Umkehrung des Ansatzes Kants und des Idealismus. Diese Umkehrung geschieht aus der Perspektive einer wohl von Schelling oder Hegel her vollzogenen Ontologisierung des Gegensatzes von Denken und Anschauung in einen Gegensatz von Logos oder Begriff (als dem ontologisch Allgemeinen) und einzelnem Ding (als dem ontologisch Besonderen). - Die »logische Form« oder auch die »Form des Denkens«, wie Kant sie versteht, enthält unabhängig von allem Inhalt der Erkenntnis allein die reinen Verstandesbegriffe bzw. Regeln oder Gesetze a priori, denen gemäß der Verstand durch die Anschauung gegebene Inhalte miteinander verknüpft (Kant, Kritik der reinen Vernunft [Anm. 4], Β 79ff.). Was uns als Gegenstand erscheint, ist genauer besehen eine Zusammensetzung aus den Formen a priori des Denkens und den Formen a priori der Anschauung (Raum und Zeit) sowie der Materie, d. h. dem, was uns über die Empfindung erreicht. Die Formen des Denkens und der Anschauung ordnen das in sich selbst Unbestimmte der Empfindungen (ebd., Β 33ff.). Die Empfindungen aber sind etwas, zu dem wir uns vermittels unserer Sinnlichkeit rezeptiv verhalten. Unser Gemüt empfängt Empfindungen. Der Verstand hingegen ist ein Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen, zeichnet sich durch Spontaneität aus (ebd., Β 74f.). Anders gesagt: »Vermittels der Sinnlichkeit also werden die Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen·, durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe« (ebd., Β 33); »Wollen wir die Rezeptivität unseres Gemüts, Vorstellungen zu empfangen, sofern es auf irgendeine Weise affiziert wird, Sinnlichkeit nennen, so ist dagegen das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen, oder die Spontaneität des Erkenntnisses, der Verstand.« (ebd., Β 75). Der Verstand aber ist für Kant dasjenige Vermögen, durch das erst die Vielzahl der Eindrücke, die uns in der sinnlichen Anschauung gegeben sind, durch Begriffe miteinander zu einem Gegenstand verbunden werden bzw. verschiedene Begriffe untereinander verbunden werden (ebd., Β 129ff.). Erst der Verstand stiftet Einheit, insbesondere die Einheit der Anschauung, der Erscheinung (ebd., Β 143f.). Ohne ihn wären die durch die Sinnlichkeit gegebenen Erscheinungen nichts als eine »Rhapsodie der Wahrnehmungen« (ebd., Β 195). Die Vernunft schließlich ist bemüht, die große Vielheit der Einheiten (sprich: Erkenntnisse), die der Verstand in bezug auf einzelne Anschauungen herstellt, zu einer höchsten Einheit zusammenzuführen (ebd., Β 361ff). - Rosenzweig nun setzt sich von diesem Ansatz in dreierlei Sinn ab: 1) Die logischen Formen sind für ihn nicht nur die reinen Verstandesbegriffe in Absehung von allem Inhalt der Erkenntnis, sondern stehen für das Allgemeine überhaupt (SE 50, Ζ. 18), d. h. für Begriffe überhaupt, auch für die im Sinne Kants empirischen Begriffe. Es fragt sich, ob hier das erweiterte Verständnis der logischen Formen von E. Lask (Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre. Eine Studie über den Herrschaftsbereich der logischen Form. Tübingen: Mohr 1911, S. 58ff.) einen Einfluß auf Rosenzweig ausgeübt hat. Selbst wenn Rosenzweig dieses Buch nicht direkt gekannt haben sollte - es befindet sich nicht in seiner Handbibliothek - , war ihm Lasks Verständnis der logischen Form durch H. Ehrenbergs Lask-Darstellung in Parteiung der Philosophie (Anm. 12), S. 59ff. bekannt. 2) Diese logischen Formen sind entgegen Kant nicht das Spontane (SE 50, Ζ. 12-14) sondern das Gegebene (SE 50, Ζ. 9-11, 14-16), während das Besondere, also gewissermaßen die ungeordnete Materie, die bei Kant durch die Empfindungen gegeben ist, als das Aktive, das Spontane, das Lebendige zu verstehen ist,

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Die Erscheinung war die crux des Idealismus, und also der ganzen Philosophie von Parmenides bis Hegel, gewesen; er hatte sie nicht als »spontan« begreifen dürfen, weil er damit die Allherrschaft des Logos geleugnet hätte, und so war er ihr nie gerecht geworden und hatte die sprudelnde Fülle zum toten Chaos des Gegebenen umfalschen müssen. Die Einheit des denkbaren All ließ im Grunde keine andre Auffassung zu. Das All als ein eines und allgemeines kann nur zusammengehalten werden durch ein Denken, das aktive, spontane Kraft besitzt; indem so dem Denken die Lebendigkeit zugeschrieben wird, muß sie dem Leben wohl oder übel abgesprochen werden, - dem Leben die Lebendigkeit! Erst die metalogische Weltansicht kann das Leben wieder in seine Rechte einsetzen. Denn hier gilt das All nicht mehr als / das eine und allgemeine, sondern als »ein« All, und so kann der Logos als in ihm heimische Wahrheit es erfüllen, ohne daß er genötigt wäre, die Einheit erst zu bewirken; der innerweltliche Logos, selber Einheit durch seine wie immer geartete Beziehung auf eine wo immer heimische außerweltliche Einheit, braucht nun nicht mehr mit einer Aktivität belastet zu werden, die seinem weltlichen Wesen, seiner Vielfältigkeit und Anwendbarkeit, gradezu widerspricht; er bewirkt die Einheit der Welt nur von innen, gewissermaßen nicht als ihre äußere, sondern als ihre innere Form. Die äußere Einheit hat dies metalogische All schon von Haus aus, indem es nicht »das« - denkbare - , sondern »ein« - gedankenvolles - , nicht das geistgeschaffene, sondern ein begeistetes All ist. Der Logos ist nicht wie von Parmenides bis Hegel Weltschöpfer, sondern Weltgeist, besser vielleicht noch Weltseele. Der so wieder zur Weltseele gewordene Logos kann nun dem Wunder des lebendigen Weltleibs sein Recht widerfahren lassen. Der Weltleib braucht nicht mehr als eine unterschiedslose, chaotisch wogende Masse von »Gegebenheit« dazuliegen, bereit, von den logischen Formen ergriffen und geformt zu werden, sondern er wird zum lebendigen, stets erneuerten Schwall der Erscheinung, der über den still geöffneten Schoß der Weltseele niedergeht und sich mit ihr vereinigt zur gestalteten Welt.

das die logische Form empfängt (SE 50, Ζ. 11-14, 23f., 36f.). Schließlich ist die Einheit der Welt nicht auf den Logos (= das Denken, SE 46) zurückzuführen (SE 51, Ζ. 1-3), sondern der innerweltliche Logos kommt durch eine »außerweltliche Einheit« zustande (SE 51, Ζ. 5), die sich im zweiten Teil des ersten Buches als Gott erweisen wird. Nicht erst das Denken gestaltet die Welt aktiv zu einer Einheit, sondern sie ist »schon von Haus aus« »ein begeistetes All« (SE 51, Ζ. 10, 12), enthält eine Weltseele, d. h. besitzt eine »äußere Einheit« (Z. 10), gegenüber der die vom Logos kommende Einheit nur »von innen« bewirkt ist (Z. 8) und damit nicht mehr sein kann als die »relative Standpunkteinheit« des jeweiligen (denkenden) Philosophen (vgl. SE 57). Damit ist der Weltleib keine »chaotisch wogende Masse von G e g e benheit« (Z. 17f.; vgl. Kant: »Rhapsodie der Wahrnehmungen«), die von den logischen Formen des Denkens aktiv geformt wird, sondern ist aktives Prinzip, das sich mit der Weltseele, mit den passiv gegebenen und durch eine äußere Einheit bewirkten Formen - als »Gefäße« gedacht (SE 50; vgl. SE 153) - zur gestalteten Welt vereinigt (Z. 16ff.).

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SE 67: Vom Menschen - sollten wir auch von ihm nichts wissen? Das Wissen des Selbst von sich selber, das Selbstbewußtsein, steht in dem Rufe, das bestgesicherte alles Wissens zu sein. Und der gesunde Menschenverstand sträubt sich fast noch heftiger als das wissenschaftliche Bewußtsein, wenn ihm die wahrhaft und wörtlich selbst-verständliche Grundlage des Wissens unter den Füßen fortgezogen werden soll. Dennoch ist es geschehen, freilich erst spät. Es bleibt eine der erstaunlichsten Leistungen Kants, daß er dies Selbstverständlichste, das Ich, recht eigentlich zum Problem, zum Allerfragwürdigsten, gemacht hat. Vom erkennenden Ich lehrt er, daß es nur in der Beziehung auf das Erkennen, an seinen Früchten also, nicht »an sich selbst«, zu erkennen ist. 14 Und gar vom wollenden weiß er, daß die eigentliche Moralität, Verdienst und Schuld, der Handlungen, selbst unsrer eigenen, uns stets verborgen bleibt. Damit erstellt er eine negative Psychologie, die einem ganzen Jahrhundert, dem Jahrhundert einer Psychologie ohne Seele, zu denken gegeben hat. Wir brauchen kaum zu betonen, daß auch hier uns das Nichts nicht für ein Ergebnis, sondern für den Ausgangspunkt des 14

Z. 12: Das Ich ist bei Kant die transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins (Kant, Kritik der reinen Vernunft [Anm. 4], Β 132), auch »transzendentale Apperzeption« genannt (ebd., A 107; vgl. Komm. SE 152, Ζ. 26), d. h. der Einheitspunkt des Bewußtseins, der zugleich die Bedingung aller Einheit überhaupt ist (Kant, Kritik der reinen Vernunft [Anm. 4], A 401). Zum Problem wird dieses Ich bei Kant dadurch, daß es sich aller Erkenntnis entzieht. Erkenntnis ist nur da gegeben, wo Begriffe auf Anschauungen bezogen sind. Von diesem Ich aber gibt es keine Anschauung. Es ist ein reines »Ich denke«. Genauer gesagt: Das Ich ist ein Selbstbewußtsein, ist eine Vorstellung von mir selbst, diese Vorstellung aber ist eine intellektuelle Vorstellung, »ist ein Denken, nicht ein Anschauen« (ebd., Β 157). »Das Bewußtsein meiner selbst ist noch lange keine Erkenntnis meiner selbst« (ebd., Β 158). Es gibt zwar eine Erkenntnis meiner selbst, wie ich mir erscheine, weil es eine innere Anschauung meiner selbst gibt, durch die ich mir als empirisches Ich gegeben bin. Dieses empirische Ich aber ist streng zu unterscheiden vom reinen Ich, wie es an sich selbst ist (ebd., Β 158). In diesem Sinne wird das reine Ich zum Problem. - Rosenzweigs Aussage, das erkennende Ich sei nur in der Beziehung auf das Erkennen, an seinen Früchten und nicht an sich selbst zu erkennen, also das reine Ich sei nur an seinen Akten erkennbar, könnte folgende Aussage von Kant zugrundeliegen: Das Ich ist ein transzendentales Subjekt, »welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können« (ebd., Β 404). Allerdings meint Kant hiermit wohl nicht, daß wir unser Ich nur als empirisches Ich und damit als Erscheinung zu fassen vermögen statt »an sich selbst«. »An sich selbst« steht bei Kant im Gegensatz zu Gegebensein in der Erscheinung. Das Zitat aber besagt, daß selbst im Akt bloßen Sichdenkens als Ich dieses Ich nur als der den einzelnen Gedanken mitgegebene Ausgangspunkt dieser Gedanken, nicht aber in sich selbst vorgestellt werden kann, denn es handelt sich, so etwas weiter oben im Kanttext, um eine »an Inhalt gänzlich leere Vorstellung« (ebd., Β 404), d. h. wir bewegen uns mit diesem Zitat von vornherein ganz und gar im Bereich des Ansichseins. Rosenzweig wirft somit an dieser Stelle gewissermaßen die Ebenen Gedankensubjekt-Gedanke und Ansichsein-Erscheinung durcheinander.

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Denkens gilt. Es mußte wohl einmal das Absurde gedacht werden. Denn es ist der tiefe Sinn des vielmißbrauchten Credo quia absurdum, daß aller Glaube zu seiner Voraussetzung ein Absurdum des Wissens braucht. Damit also der Inhalt des Glaubens selbstverständlich werde, ist es nötig, daß das anscheinend Selbstverständliche vom Wissen zu einem Absurden gestempelt sei. 15 SE 70: Die Besonderheit nicht als Überraschung des Augenblicks und Augen-Blicks, sondern als daseiender Charakter findet ihre Stätte im persönlichen Ethos des Menschen - »nur allein der Mensch vermag das Unmögliche, er kann dem Augenblick Dauer verleihn«; er kann es, eben weil er selbst gerade das, was den Augenblick »in schwankender Erscheinung schweben« läßt, die Besonderheit, als sein dauerndes Wesen in sich trägt. Ihm allein wird die Besonderheit nicht zur teilhaften »Individualität«, sondern zur unbegrenzten Eigenheit des »Charakters«.16 SE 72: Kant, den wir ja eben zitierten, hat also mit unleugbar großartiger Intuition das Wesen der Freiheit sichergestellt. Auch die weitere Entwicklung wird uns hier immer wieder in seine Nähe fuhren, wenn auch immer wieder in die Nähe nur seiner Intuitionen. 17 Wir gehen jetzt zunächst wieder den Weg nach, der vom 15

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17

Z. 24: Rosenzweigs Glaubensverständnis gründet nicht nur in Tertullian, sondern auch in Kant (vgl. Komm. SE 45, Ζ. 12). Ζ. 19: Rosenzweig entwirft von hier an sein eigenes Verständnis von Charakter. Zu Kants Verständnis eines »intelligiblen« Charakters, auf das Rosenzweig sich gelegentlich auch bezieht, vgl. SE 11, Ζ. 14. Ζ. 24: Der Freiheitsbegriff Kants ist ein facettenreiches Gebilde. Der Aspekt, auf den Rosenzweig anspielt, wenn er bemerkt, Kant habe das Wesen der Freiheit sichergestellt, scheint in Verbindung mit dem eigenen Freiheitsverständnis zu stehen, das Rosenzweig zwei Absätze davor entfaltet. Dort heißt es, die menschliche Freiheit sei »unbedingte, unbe-dingte, Nichts und nur Nichts und keinerlei Ding voraussetzende Freiheit« (SE 71). In dieser Bestimmung von Freiheit klingt deutlich Kants Verständnis von Freiheit als >causa sui< an, wie sie in der »Kritik der reinen Vernunft« dargestellt wird. Freiheit ist demnach das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen (Kant, Kritik der reinen Vernunft [Anm. 4], Β 473, 476), ein Sichbestimmen, ohne darin von irgend etwas anderem bestimmt zu werden, völlige Unterschiedenheit von aller Kausalität der Natur, in der jede Ursache eine ihr vorhergehende Ursache voraussetzt, von der sie bestimmt ist. - Dies ist gerade derjenige Aspekt von Kants Freiheitsverständnis, von dem H. Cohen sich in der Ethik des reinen Willens (s. Anm. 2, S. 318f.) ausdrücklich distanziert! Rosenzweig hingegen sieht darin eine »Intuition« Kants, die ihn in dessen Nähe führt, weil es ein wesentliches Moment seines Verständnisses von Selbst zum Ausdruck bringt, das im dritten Buch im Zentrum steht. Lediglich von Intuitionen aber ist wohl in bezug auf Kant die Rede, weil Rosenzweig ihn meist nur partiell rezipiert. Auch Kants Freiheitsverständnis übernimmt er im Grunde allein in diesem Punkt und verwirft zugleich das

Die Philosophie Immanuel Kants im Stern der Erlösung

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freien Willen zur Eigenheit fuhrt und auf dem der Mensch, der als freier Wille und als Eigenheit noch eine bloße Abstraktion war, erst Selbst gewinnt. Denn was ist der freie Wille, solange er bloß Richtung, aber noch keinen Inhalt hat? Und was ist die Eigenheit, solange sie bloß - ist? Wir suchen den lebendigen Menschen, das Selbst. Das Selbst ist mehr als Wille, mehr als Sein. Wie wird es dieses Mehr, dies Und? Was geschieht dem menschlichen Willen, wenn er seiner inneren Richtung folgend den Weg zum menschlichen Sein einschlägt? SE 75f.: Das Selbst, in der Gleichung B=B symbolisiert, stellt sich also unmittelbar dem Gott gegenüber. Wir sehen, wie die völlige äußere Gegensätzlichkeit des Inhalts bei ebenso völliger Gleich-heit der Form wie in der fertigen Gleichung, so schon in der werdenden sichtbar war. Die fertige Gleichung bezeichnet die reine Insichgeschlossenheit bei ebenso reiner Endlichkeit. Als Selbst, wahrhaftig nicht als Persönlichkeit, ist der Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen. Adam ist wirklich, im Gegensatz zur Welt, genau »wie Gott«, nur lauter Endlichkeit, wo jener lauter Unendlichkeit ist, - die Schlange wendet sich mit gutem Grund an den Menschen allein in der ganzen Schöpfung. Zur Welt steht der Mensch als fertiges Selbst nicht mehr in dem komplizierten Verhältnis wie die Elemente vor ihrem Zusammentreten im Und, sondern ganz einfach als ein Gleiches, von dem jedoch Entgegengesetztes ausgesagt wird. Das Subjekt Β kann entweder A sein oder B. Im ersten Falle, B=A, ist es Welt, im zweiten, B=B, ist es Selbst. Der Mensch kann offenbar, so lehren uns die Gleichungen, beides sein; er ist nach Kants Wort »Bürger zweier Welten«.18

zweite, wesentliche Moment der Kantischen Freiheit, ihre unmittelbare Gleichsetzung mit dem sittlichen Willen (s. Z. 31), bzw. er lehnt die Allgemeinheit des Sittengesetzes als notwendigen Ausdruck dieser Freiheit ab (vgl. SE 11, Ζ. 2), d. h. er versteht Freiheit oder das Selbst als ein Moment jenseits aller Anteilhabe am »allgemeinen Menschentum« (SE 78, Ζ. If.). Rosenzweig formuliert diese Jenseitigkeit des Selbst gegenüber der ethischen Allgemeinheit auch wie folgt: »Das Selbst lebt in keiner ethischen Welt, es hat sein Ethos. Das Selbst ist meta-ethisch« (SE 79; vgl. SE 19). 18

Ζ. 34: Den Ausdruck »Bürger zweier Welten« als solchen hat Kant selbst nicht verwendet. Allerdings ist in den »Träumen eines Geistersehers« von der menschlichen Seele die Rede, die als »verknüpft mit zwei Welten zugleich« angesehen werden muß, mit einer »Körperwelt« und einer »Geisterwelt« (I. Kant: Träume eines Geistersehers. Gesammelte Schriften [Anm. 2], Bd 2 (1912), S. 36f.). Vor allem jedoch in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft ist von dem »Gebiete des Naturbegriffs« und dem »Gebiete des Freiheitsbegriffs« die Rede »gleich als ob es so viel verschiedene Welten wären« (I. Kant: Kritik der Urteilskraft. 2. Aufl., Berlin: Lagarde 1793, S. XX). Der Ausdruck »Bürger zweier Welten« findet sich allerdings in Schillers Schrift Über Anmut und Würde mit Bezug auf die Schönheit: »Die Schönheit ist daher als die Bürgerin zweier Welten anzusehen, deren einer sie durch Geburt, der andern durch Adoption angehört; sie empfängt ihre Existenz in der sinnlichen Natur und erlangt in der Vernunftwelt das Bürgerrecht« (Schiller, Sämtliche Werke [Anm. 5], Bd 5, S. 442). Für die Zurückfuhrung des Ausdrucks auf Kant

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Jörg Disse

Wobei freilich dieser an sich starke Ausdruck auch schon wieder die ganze Schwäche Kants verrät, über der sein Unvergängliches zunächst in Vergessenheit geriet: in der Gleichsetzung der beiden Sphären als »Welten«. Welt ist eben nur die eine. Die Sphäre des Selbst ist nicht Welt und wird es auch nicht dadurch, daß man sie so nennt. Damit die Sphäre des Selbst »Welt« wird, muß »diese Welt vergehn«. Der Vergleich, der das Selbst in eine Welt einordnet, verfuhrt schon bei Kant selbst und ganz offen bei seinen Nachfolgern zur Verwechslung dieser »Welt« des Selbst mit der vorhandenen Welt. Er täuscht hinweg über den Kampf des Unversöhnlichen, über die Härte des Raums und die Zähe der Zeit. Er verwischt das Selbst des Menschen, eben indem er es zu umreißen meint. Unsre Gleichung, welche die formale Verschiedenheit so stark betont - durch die Gleichsetzung zweier Ungleicher im einen, zweier Gleicher im andern Fall - , läuft diese Gefahr nicht; sie kann deshalb den inhaltlichen Parallelismus, daß in beiden Fällen Aussagen über ein Gleiches gemacht werden, wenn auch entgegengesetzte Aussagen, ruhig zur Anschauung bringen. SE 114: In diesem Verhältnis zur Schöpfung zeigt sich der Zusammenhang des Wissens mit dem Begriff der Vergangenheit. Die Wahrheit ist immer das, was war, - sei es als »a priori«19, als Piatons »in altheiliger Macht Ragendes«, sei es als Gegenstand der »Erfahrung«. 20

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20

selbst mag der Artikel »Freiheit« des zu Rosenzweigs Zeit gängigen Philosophielexikons Kirchner's Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe, neubearb. von C. Michaelis, ζ. B. Leipzig 51907, Pate gestanden haben, wo tatsächlich der Anschein entsteht, der Ausdruck stamme von Kant. Kants Bezeichnung der Sphären von Natur und Vernunft bzw. Freiheit als »Welten«, die Rosenzweig im weiteren bemängelt, verrät wohl deshalb die »Schwäche Kants«, weil fur ihn das »Wesen« der Welt der Logos ist, und der Logos sich durch Allgemeinheit auszeichnet (SE 46f.), und damit der Bereich des Selbst bzw. der Freiheit zu einem Bereich gemacht wird, der auch wieder seine allgemeinen Gesetze hat, bzw. die Freiheit auf den Vollzug dieser Gesetzlichkeit reduziert wird (vgl. Komm. SE 11, Z. 9). Z. 35: Bezieht sich wohl auf Kants »a priori« als dem, was der Erfahrung vorangehend, von ihr unabhängig die Erfahrung bestimmt. Z. 36f: Es ist wohl eher davon auszugehen, daß Rosenzweig mit dem »Gegenstand der >ErfahrungAutonomieMaxime< des eigenen Willens« »an das Prinzip einer allgemeinen Selbstgesetzgebung« (vgl. SE 158 + Komm. SE 11, Ζ. 9). Ζ. 9: Die Synthesis ist für Kant die Tätigkeit des Verbindens von Vorstellungen (Kant, Kritik der reinen Vernunft [Anm. 4], Β 103 ff.). Verbindung aber liegt nicht schon in dem in der Anschauung Gegebenen, sondern ist eine Tätigkeit des Verstandes. Der Verstand ist das aktive, spontane Prinzip, das das durch die Empfindung Gegebene, die »Materie aller Erscheinung« ordnet (ebd., Β 34). In diesem Sinne ist es das in sich selbst bestimmungslose, keinerlei Spontaneität fähige, d. h. »tote Material«. Z. 36: Die »transzendentale Idealität« des Raumes (Kant, Kritik der reinen Vernunft [Anm. 4], Β 44) besteht bei Kant darin, daß er weder ein empirischer Begriff ist, der der äußeren Erfahrung als solcher abgelesen wird noch eine Beschaffenheit des Dinges an sich, sondern eine Form der Anschauung, die vor aller Erfahrung die apriorischsubjektive Bedingung aller Erfahrung ist (ebd., Β 37ff.). D. h. Raum gibt es nur in bezug auf uns, auf menschliche Subjekte, für die der Raum die Form ist, in der uns äußere Erfahrungen gegeben sind. Die Aussage Rosenzweigs, die Wirklichkeit des Raumes sei nur wirklich in ihrem (der Welt) Verhältnis zu ihrem (der Welt) Gedachtwerden, würde von Kant her bedeuten, daß der Raum (weiter unten: »der Raum der Mathematiker«, Z. 37f.) nur für eine Welt wirklich ist, die als in der Anschauung gegeben zum Gegenstand des Denkens, d. h. des Verstandes als Vermögen der Verbindung von Vorstellungen gemacht wird.

Die Philosophie Immanuel Kants im Stern der Erlösung

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wie alles Logische nur als ihr Teil; der Raum, in dem die Welt wäre, also der Raum der Mathematiker, ist nicht geschaffen. Daher es kommt, daß wenn man, wie es Mathematik und Physik tun, die geschaffne Welt unter den Formen des Raums betrachtet, man sie notwendig / ihrer schlechthinnigen, über alle Möglichkeiten hinausgehobnen Tatsächlichkeit, die sie als Schöpfimg hat, entkleidet und sie zum Spielball der Möglichkeiten verrelativisiert.

Myriam Bienenstock

Auf Schellings Spuren im Stern

Auf die zentrale Rolle, welche Schellings Weltalter im Entstehungsprozeß des Sterns gespielt haben, hat Rosenzweig selbst bereits hingewiesen. Insbesondere die allerersten Sätze der Weltalter hat er für die Struktur des Sterns benutzt man denke etwa an die Stellen, in denen er darauf hinweist, daß diese Sätze der Dreiteilung (in Schöpfung - Offenbarung - Erlösung) des zweiten Teils des Sterns, des »Herz«-stücks des ganzen Buches, zugrunde liegen.1 Bekannt ist auch, wie er die Idee Schellings modifizieren wollte: in seinem neuen, dialogischen Denken würden »Schellings erstes und drittes Weltalter in dem zweiten aufgesogen; dies zweite wird dadurch allerdings zu nichts weiter als zur Geschichte der Offenbarung des ersten und dritten.«2 Es ist weder auf der Grundlage der Vergangenheit, noch auf deijenigen der Zukunft, sondern der Gegenwart der Offenbarung, daß Rosenzweig ebenso die Vergangenheit der Schöpfung, wie 1

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»Eine erzählende Philosophie hat Schelling in der Vorrede seines genialen Fragments >Die Weltalter< geweissagt. Der zweite Band versucht sie zu geben«. Franz Rosenzweig: Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum »Stern der Erlösung«, heute in: ders., Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften. Bd 3: Zweistromland. Kleine Schriften zu Glauben und Denken. Hg. von Reinhold Mayer und Annemarie Mayer. Den Haag: Nijhoff 1984, S. 139-162, hier S. 148. Vgl. auch den Brief vom 11. November 1916 an Eugen Rosenstock (Bd 1: Briefe und Tagebücher. Hg. von Rachel Rosenzweig und Edith Rosenzweig-Scheinmann. 2 Bde, 1979, S. 291): »Meine Unsicherheit über die Methode meines Denkens besteht darin: ich weiß nicht, wo das >Denken< anfangen (bzw. auch aufhören) muß und das >Erzählen< aufhören bzw. anfangen. Man müßte alles >erzählen< (vgl. Schelling in dem Reclambändchen Die Weltalter in der Einleitung über historische Philosophie).« Rosenzweig bezieht sich auf Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Die Weltalter. Hg. mit Einleitung und Anmerkungen von Ludwig Kuhlenbeck. Leipzig: Reclam 1912 (Reclams Universal-Bibliothek; 5581/5583). Vgl. die ersten Sätze der Einleitung, in dieser Ausgabe, S. 15: »Das Vergangene wird gewußt, das Gegenwärtige wird erkannt, das Zukünftige wird geahndet. / Das Gewußte wird erzählt, das Erkannte wird dargestellt, das Geahndete wird geweissagt.« Brief vom 11. November 1916 an Eugen Rosenstock, in: Rosenzweig, Briefe und Tagebücher (Anm. 1), S. 293. Vgl. auch »Das neue Denken«, in: ders., Zweistromland (Anm. 1), S. 148ff. - Schriften, Briefe und Tagebücher Franz Rosenzweigs werden im folgenden unter Verwendung der üblichen Siglen auf Grundlage der Gesammelten Schriften (in Anm. 1) nachgewiesen: Bd 1: Briefe und Tagebücher [= BT]; Bd 2: Der Stern der Erlösung. Hg. von Reinhold Mayer, 1976 [=SE]; Bd 3: Zweistromland [= Z],

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Myriam Bienenstock

die Zukunft der Erlösung verstehen will. Eine solche Modifikation, welche noch zu untersuchen ist, verringert nicht im mindesten die überragende Rolle, welche die Sätze Schellings für Rosenzweig gespielt haben. Vielmehr bestätigt, wie noch im zweiten Teil dieser Bemerkungen im Einzelnen gezeigt werden wird, die aufmerksame und detaillierte Lektüre des Sterns diese Rolle völlig. In seiner Auseinandersetzung mit Schelling privilegiert Rosenzweig aber auch das »Systemprogramm« - genauer, das sogenannte »älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus«, das von ihm herausgegeben und kommentiert wurde. 3 Die Diskussion um die Autorschaft dieses wichtigen Dokuments ist, wie bekannt, bis heute noch nicht abgeschlossen - einschlägige Plädoyers für Hegel, für Schelling, für Hölderlin oder sogar für eine Art von Gruppenarbeit wurden mit Nachdruck vorgetragen. 4 Entscheidend für mein Thema ist es aber, daß Rosenzweig selbst das Manuskript eindeutig Schelling zugeschrieben, und dem Dokument eine extrem große Bedeutung beigemessen hat: ihm zufolge war seine Entdeckung des Manuskriptes nicht zufällig, sondern schicksalhaft: es war ihm vorbestimmt. 5 Wenn man bedenkt, daß er diese Einschätzung in einem Brief an seine Mutter vom April 1918 abgibt, also genau in dem Jahr, während dessen er am Stern arbeitet, muß man zum Schluß kommen, daß der Edition dieses Textes in der Rosenzweig-Forschung eine weit größere Bedeutung zukommen sollte, als sie sie bisher erhalten hat. In den Ausführungen, welche seine Edition des Manuskripts begleiteten, schrieb er sogar, daß er eigentlich schon dort, im Systemprogramm, »den letzten Schelling« findet ... (Z 35). Es ist also zu Unrecht, daß dieses Manuskript und Rosenzweigs Edition davon beim Studium und bei der Interpretation des Sterns vergessen oder zumindest allgemein vernachlässigt werden. 6 Dieses Dokument sollte ins Zentrum der Forschung über Rosenzweigs Schelling-Rezeption gerückt werden: es gilt nicht nur den Text zu untersuchen, sondern gerade auch den bei dieser Gelegenheit verfaßten Beitrag, in dem Rosenzweig das Manuskript vorstellt; ebenso wie diejenigen anderen Texte Schellings und die einschlägigen Kommentare, die Rosenzweig zu jener Zeit gelesen und bearbeitet hat. 3

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5

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Vgl. Franz Rosenzweig: Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Ein handschriftlicher Fund. Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, 5. Abhandlung 1917, heute in: Ζ 3-44. Siehe ζ. B. die Diskussionen und Berichte in: Mythologie der Vernunft. Hegels ältestes Systemprogramm des deutschen IdealismusEntdeckungsreise< in ein >neues Denkener lebte in seinem System< [...]«. (Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus, 5ter Brief. In: ders., Sämmtliche Werke. Hg. von Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart: Cotta 1856-1861, Bd 1/1, S. 305).

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Myriam

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Diese Bemerkung ist wichtig, weil sie uns erlaubt, die Beschreibung viel besser zu verstehen, die Rosenzweig im Stern von der Entwicklung bietet, welche von den idealistischen Systemen von 1800, die durch ihre Eindimensionalität gezeichnet sind, zum »neuen Philosophiebegriff« fuhrt: zu demjenigen, nach welchem [...] die Philosophie nicht das objektiv denkbare All und das Denken dieser Objektivität zum Gegenstand hat, sondern »Weltanschauung« ist, der Gedanke, mit dem ein individueller Geist auf den Eindruck, den die Welt auf ihn macht, reagiert.12

Schelling bedeutet also für Rosenzweig sowohl den Beginn des Deutschen Idealismus, den Ausgangspunkt der ganzen Bewegung, wie auch den Wendepunkt, von dem aus sich das »neue Denken« mit dem Menschen im Mittelpunkt entfalten konnte. In diesem Sinne ist er es, mehr als Hegel, der auch die Vollendung des deutschen Idealismus repräsentiert.13 Diese Tradition des Denkens wurde im 20. Jahrhundert von bestimmten Schelling-Interpreten entwickelt - zweifellos ganz unabhängig von Rosenzweig. 14 Aber Rosenzweig selbst schlägt nicht diesen Weg ein. Im Stern spielt er vielmehr die Rolle von Schelling, Philosoph des Systems, herunter. Seine Ablehnung des Idealismus mit seinem »Grundgedanken«, der »Identität von Sein und Denken«, ist in erster Linie gegen Hegel gerichtet, wobei Schellings System, wie Fichtes, nur »der Anlage nach« Eindimensionalität zeigen würde (SE 57). Es wäre indessen daran zu erinnern, daß es trotzdem Schelling war und nicht Hegel - der dem Publikum um 1800 das »Identitätssystem« vorlegte. Der große Apostel des »Systems der Identität« ist damals nicht Hegel, sondern Schelling, wie zum Beispiel seine Darstellung meines Systems der Philosophie von 1801 zeigt: »Das höchste Gesetz für das Seyn der Vernunft«, schreibt er dort, »ist das Gesetz der Identität«, welches in Bezug auf alles Seyn durch A=A ausgedruckt wird«. 15 Dieses höchste Gesetz führt auch zur Folgerung, 12

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15

SE 116, vgl. auch 56f. In seinem Buch Vom Mythos zur Offenbarung (Anm. 6), geht M. Schwarcz davon aus, daß die Bedeutung, die Rosenzweig dem Begriff der Weltanschauung in seinem Stern beimißt, nicht mehr dieselbe ist, wie diejenige, die er ihm in seinen Ausführungen zum Systemprogramm verlieh. Für diese These gibt es aber m. E. nach keine Belege. Vgl. die Bemerkung von 1916, in den »Paralipomena«: nicht bei Hegel, sondern nur bei Schelling findet er dort den »Abschluß der Philosophie«. »Indem Schelling auf das Sein des Geistes reflektiert, erschwingt er einen Gottesbegriff jenseits des Geistes und macht so den Geist zum Zweiten, d. h. aber zum Prinzip (mehr ist nicht nötig) der Vielheit. Damit ist der Mensch in die Philosophie eingetreten und sie ist zu Ende.« (Z 99) Vgl. z. B. W. Schulz: Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings. Stuttgart: Kohlhammer 1955. - Natürlich wurde auch diese These stark kritisiert, von den Hegel-Spezialisten, wie übrigens auch von Fichte-Kennern, und von vielen anderen Forschern, die selbst das Projekt einer Eingliederung der drei Autoren Fichte, Schelling und Hegel - in dieselbe >Schule< oder >Strömung< für unangemessen halten. Vgl. hierzu meinen Artikel »Idéalisme allemand«, in: Dictionnaire du monde germanique. Hg. von M. Espagne und J. Le Rider. Paris 2003 [im Druck]. Schelling, Sämmtliche Werke (Anm. 11), Bd 1/4, S. 116.

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daß »alles, was ist, an sich Eines ist«,16 und daß es außerhalb der »absoluten Totalität« oder des »Universums« auch kein Ding geben kann, kein Einzelnes, das an sich sein würde. 17 Wenn Rosenzweig also ganz am Anfang des Sterns den Idealismus kritisiert, »mit seiner Verleugnung alles dessen, was das Einzelne vom All scheidet«, wenn er sagt, der Idealismus sei »das Handwerkszeug, mit dem sich die Philosophie den widerspenstigen Stoff so lange bearbeitet, bis er der Umnebelung mit dem Ein- und Allbegriff keinen Widerstand mehr entgegensetzt« (SE 4), so berührt er damit ebenso sehr Schelling - wenn nicht sogar noch stärker - , wie Hegel. Auch wenn er ausdrücklich den Namen »Hegel« zitiert, kritisiert er oft Thesen, die mit denjenigen, welche Hegel wirklich vertrat, nicht viel gemeinsam haben - manchmal sind es sogar Thesen, die viel eher von Schelling stammen. Im folgenden Satz: »Einmal in diesen Nebel alles eingesponnen, wäre freilich der Tod verschlungen, wenn auch nicht in den ewigen Sieg, so doch in die eine und allgemeine Nacht des Nichts« (SE 4) läßt sich ohne große Schwierigkeit ein Echo von Hegels berühmter Abrechnung mit Schellings Begriff der absoluten Identität in der Vorrede zur Phänomenologie von 1807 heraushören: Dort hatte Hegel Schelling kritisiert, fur den »im Absoluten, dem A = A, alles eins sei«; was er mit einem berühmt gebliebenen Wort ausdrückte, daß in dieser »Nacht [...], alle Kühe schwarz sind«.18 Rosenzweig scheint diese gegen Schelling gerichtete Kritik von Hegel aufzugreifen, um sie diesmal gegen Hegel selbst zu richten, der so für ihn zum Repräsentanten der Identitätsphilosophie wurde. Es war aber Schelling, und nicht etwa Hegel, gewesen, der diese Philosophie ganz am Anfang des 19. Jahrhunderts in Jena entwickelt hatte. Und es war wiederum Schelling, viel eher als Hegel, welcher der Kunst im Rahmen dieser Philosophie den obersten Platz einräumte. Wenn Rosenzweig im Stern dem Idealismus eine »Vergötterung der Kunst« zuschreibt (SE 163), dann ist wieder ganz gewiß Schelling - und nicht etwa Hegel - seine unmittelbare Inspirationsquelle. Zwar schreibt er einmal in seinen persönlichen Aufzeichnungen, daß [...] erst Hegel [...] den Begriff des Absoluten geschaffen [habe], der es erlaubte zu sagen, das Absolute »sei« Kunst, Religion oder Wissenschaft oder alle drei, - nämlich der Begriff des absoluten Geistes. Dagegen ist bei Schelling 1800 das Absolute durchaus nicht die Kunst, sondern die Kunst ist Dokument des Absoluten, Offenbarung, Beweis, was man will - aber nicht das Absolute selber. (BT 167)

Darin sehe ich aber ein weiteres Beispiel fur Rosenzweigs Haltung Hegel gegenüber, die ich soeben zu erklären versuchte. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, die der Kunst gewidmeten Seiten im Stern, besonders in dem Kapitel »Schöpfung« des zweiten Teils (SE 162-168), aufmerksam nachzulesen. Dort schreibt Rosenzweig z. B., daß die Kunst dem Idealismus »ein Letztes schien, 16 17 18

Ebd., S. 119. Ebd., S. 125f. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. In: ders., Werke in zwanzig Bänden. Frankfurt: Suhrkamp 1970, Bd. 2, S. 22.

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[...] Organon also, und - der Schritt lag nah und war schon bei Kant im Hinweis auf die »gemeinsame Wurzel« vorbereitet - sichtbare Erscheinung des Absolutem. Das Vertrauen, das der Idealismus dem Wort des Menschen, das er nicht als Antwort auf das Wort Gottes erkennen mochte, versagte, dies Vertrauen verschenkte er an ein Werk des Menschen« - das Kunstwerk (SE 163). Zu erinnern wäre hier an den Text des Ältesten Systemprogramms: Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischem Sinne genommen. Ich bin nun überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist, und daß Wahrheit und Güte, nur in der Schönheit verschwistert sind - der Philosoph muß eben so viel ästhetische Kraft besitzen, als der Dichter. Die Menschen ohne ästhetischen Sinn sind unsre Buchstabenphilosophen. Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie. (Z 6)

Es ist unter dem Einfluß des Programms, daß Rosenzweig sich von dem ursprünglichen und grundlegenden Bezug überzeugt hatte, der zur Jahrhundertwende zwischen Ästhetik und Idealismus hergestellt wurde - und der historisch übrigens ganz richtig sein dürfte. Diesen Bezug hatte er in seinem Kommentar zu seiner Edition des Programms gründlich untersucht. Er kannte die Thesen derjenigen (Haym oder Dilthey), die sich gerade auf die Feststellung eines Verhältnisses zwischen Kunst, Religion und Philosophie stützten, um einen anderen Autor als Schelling, ζ. Β. Hölderlin, zum Autor des Systemprogramms zu erklären.19 Gerade hier, mit Blick auf dieses Verhältnis, betonte er aber seine Option für Schellings Autorschaft. Denn es war Schelling, der im System des transzendentalen Idealismus (1800) nicht nur das »unbewußte Werden« des Kunstwerks stark betont, und die Kunst als »Produkt des Genies« beschrieben,20 sondern die Kunst auch als »allgemeines Organ der Philosophie« bezeichnet hatte. In seinem Kommentar zum Systemprogramm verarbeitet Rosenzweig auch Schellings »Allgemeine Übersicht der neuesten philosophischen Literatur«, welche - so schreibt er: [...] den Akt des Wollens die höchste Bedingung des Selbstbewußtseins nennt; seine Freiheit trägt das ganze System unserer Vorstellungen; er ist das einzige Unbegreifliche, Unauflösliche; seiner Natur nach Grundloseste, Unbeweisbarste; diese eine Handlung und nur sie ist »ihrer Natur nach synthetisch« - d. h., frei aus dem Nichts schaffend - [...] Dafür, daß in diesem Wollen praktische und theoretische Philosophie gemeinsam wurzeln, bezieht Schelling selbst sich auf Kants Autonomiebegriff. (Z 12)

In den Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre hatte Schelling in der Tat geschrieben, daß es »[n]ur die Freiheit unseres Wol19

20

Vgl. die letzten Seiten des Hyperion·. »[...] das erste Kind der göttlichen Schönheit ist die Kunst [...] Der Schönheit zweite Tochter ist Religion. Religion ist Liebe der Schönheit [...]«, die Rosenzweig in Ζ 39f. zitiert, und wo er auch erklärt, warum er die Prioritätenfrage dennoch im Sinne Schellings entscheidet. Vgl. ζ. B. SE 165 mit Schellings System des transzendentalen Idealismus (Anm. 11), BdI/3, S. 616.

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lens ist, was das ganze System unserer Vorstellungen trägt, und die Welt selbst besteht nur in dieser Expansion und Contraktion des Geistes«. Und in einer Fußnote hatte er sogar hinzugefügt, daß dies »ein Bild der steten Schöpfung [ist], das Lessing, in seiner Unterredung mit Jacobi, geliehen hat [,..]«.21 Diese Idee der Schöpfung, welche Schelling als Akt eines Selbstbewußtseins, das »frei aus dem Nichts« schaffen würde, glaubte Rosenzweig im Systemprogramm wiederfinden zu können, z. B. in den folgenden Zeilen: Die erste Idee ist natürlich die Vorstellung von mir selbst, als einem absolut freien Wesen. Mit dem freyen, selbstbewußten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt - aus dem Nichts hervor - die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus Nichts. (Z 5)

Die Art und Weise, in welcher Rosenzweig das Systemprogramm Schelling zuschreibt, läßt uns also besser verstehen, warum er im Stern schreibt, daß das Kunstwerk uns ein »Gleichnis der Schöpfung« bietet (SE 166). Für ihn bildet Schelling auch den Ursprung weiterer Ideen: auf diesen Autor wären gewiße Grundthemen der Frühromantik zurückzuführen, diejenige der »Poesie« und insbesondere diejenige der »Mythologie«. In seinem Kommentar zum Systemprogramm hatte er dies ausdrücklich behauptet: Sowohl den Begriff der Poesie wie den der Mythologie hat Schelling konzipiert, ehe er in persönliche oder literarische Berührung mit F. Schlegel und Novalis kam [...]. (Z 40)

Dabei wäre an das berühmte Ende des Systemprogramms zu erinnern: Zu gleicher Zeit hören wir so oft, der große Haufen müsse eine sinnliche Religion haben. Nicht nur der große Haufen, auch der Philosoph bedarf ihrer. Monotheismus der Vernunft und des Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst, dies ists, was wir bedürfen. Zuerst werde ich von einer Idee sprechen, die, soviel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist: Wir müssen eine neue Mythologie haben [...] Ein höherer Geist vom Himmel gesandt muß diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte, größte Werk der Menschheit sein. (Z 26f.)

Folgende Schlußfolgerung drängt sich auf: um Rosenzweigs Quellen für seine Ausführungen über den Mythos zu identifizieren - über den Mythos in seinem Verhältnis zur Kunst, aber auch zur Religion und zur Geschichte - ist es wirklich nicht nötig, woanders zu suchen, als in dem Systemprogramm, und in denjenigen Schriften, die Rosenzweig las, als er seinen Kommentar zu diesem Programm vorbereitete - in seiner Lektüre der frühen Texte Schellings und der zeitgenössischen Kommentatoren dieser Schriften wie Dilthey und Haym. Hier sind im Stern diejenigen Stellen näher anzusehen, in denen die Verbindung zwischen der Kunst und der Welt des Mythos oder der Mythologie herausgestellt wird (SE 36-42). Sätze wie »Alle Kunst steht noch heutigen Tags unter dem Gesetz der mythischen Welt [...] Der Geist des Mythos gründet das Reich des Schönen« (SE 41) sind direkt von Schellings Programm inspiriert, vielleicht auch von seiner Philosophie der Kunst - die Mythologie, schrieb Schel21

Schelling, Sämmtliche Werke (Anm. 11), Bd 1/1, S. 396.

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ling ζ. Β. im Jahre 1803, ist »die nothwendige Bedingung und der erste Stoff aller Kunst.«22 - und »eine geschlossene Götterwelt«.23 Ferner betont Rosenzweig in seiner Darstellung des Systemprogramms, dessen Autor »die Principien für eine Geschichte der Menschheit niederlegen« will, den letzten Punkt, nämlich das Verhältnis von Mythos und Geschichte, ebenso stark wie Schelling; eine Geschichte, welche aber »über den Staat hinaus« zur Stiftung einer »neuen Mythologie« gelangen wird. Wenn für Rosenzweig das Verhältnis des Mythos zum jüdischen Volk ein ganz anderes ist als dasjenige zum Christentum, so geht diese Auffassung wiederum auf Schelling zurück und dies fuhrt uns zu dem zweiten Text, der für Rosenzweigs Auseinandersetzung mit Schelling entscheidend ist und von dem wir nicht nur wissen, daß er ihn las, sondern auch daß er sich für ihn begeisterte: die Weltalter. *

*

*

Es ist bekannt, daß es Schelling nur gelang, Entwürfe seines geplanten Werkes vorzulegen, und daß Rosenzweig von diesen Skizzen nur diejenige Version gekannt hat, die er in der Reclam-Ausgabe von 1912 durch Zufall in einem Antiquariat gefunden hatte.24 Diese Fassung des Textes eignete sich ohne Zweifel am besten dazu, die anthropologisierende Lesart von Schelling zu rechtfertigen, also eine Lesart, welche die menschliche Erfahrung der Zeit besonders betonte und nicht so sehr das theologische Paradigma, das System der göttlichen Zeit. Es ist also nicht erstaunlich, festzustellen, daß Rosenzweig die Bedeutung des Textes im Sinne der existentiellen Sichtweise hervortreten läßt. Doch tut er dabei so, als ob diese Gewichtung von ihm selber stammen würde und nicht etwa von Schelling: In einem Brief vom 28. Mai 1917 an Rudolf Ehrenberg schreibt er in diesem Sinne, daß [...] wenn er [Schelling] in den Reclam-Weltaltern sagt, die künftige Philosophie werde »erzählend« sein, so stimmt das auch subjektiv (nicht bloß objektiv wie er es da meint): sie ruht unbedenklich auf der autobiographischen Konfession. (BT 410)

In Rosenzweigs Formulierung - »so stimmt das auch subjektiv« - ist das »auch« bedeutungsträchtig. Er war sich durchaus und sogar in erster Linie der theologischen - einige würden vielleicht sagen der theosophischen Dimension des Textes bewußt, weil es sich dabei um eine Geschichte von Gott handelte. Was ihn demgegenüber überhaupt nicht interessierte, war der Bezug des Textes zur Geschichte im eigentlichen Sinne und zur Geschichte der Philoso22 23

24

Ebd., Bd 1/5, S. 405. Ebd., S. 453. Diese Filiation erkannt und hervorgehoben zu haben, ist das Verdienst der Studie von M. Schwarcz (Anm. 6). Schelling, Die Weltalter (Anm. 1). Vgl. auch ders., Sämmtliche Werke (Anm. 11), 1/8, S. 194-344. - Rosenzweig konnte weder die Fassung des Jahres 1811, noch diejenige von 1813 gelesen haben, denn beide wurden erst 1946 von Manfred Schröter veröffentlicht.

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phie, die für Schelling doch ein sehr altes Anliegen war und keineswegs ein Beschäftigungsfeld, auf welches nur Hegel Vorrechte erhob, was z. B. folgende Tagebuchnotiz Schellings aus dem Jahre 1813 zeigt, worin er den Titel erläutert und rechtfertigt, den er seinem Werke geben möchte: Ich hab dies Buch Weltalter überschrieben. Auch System der Teile oder Zeiten der Offenbarung Gottes.[...] Vergangenheit, ein wunderbarer Begriff. [...] - Ich habe es Weltalter genannt, warum? Was Philosophie von jeher gesucht? Wissenschaft [also] Historie.25

Diesem Zitat muß natürlich unmittelbar hinzugefügt werden, daß diese Tagebuchnotiz, wie so viele andere Schelling-Manuskripte, am Anfang des 20. Jahrhunderts noch nicht zugänglich war und erst 1994, fast hundert Jahre später, veröffentlicht worden ist. Als Rosenzweig Schelling und Hegel las, galt es weithin als Hegels spezifisches Verdienst, eine Philosophie der Geschichte entwickelt zu haben. 26 Rosenzweig teilte diese gängige Vorstellung; und er wandte sich von allem ab, was aus Schellings Text nicht nur ein Dokument der Geschichtsphilosophie macht, sondern auch eine Antwort auf Hegel enthält von allen Passagen, die Schellings Hoffnung formulierten, [...] daß die Wissenschaft, da sie der Sache und der Wortbedeutung nach Historie ist, es auch der äußeren Form nach sein könnte, und der Philosoph, dem göttlichen Piaton gleich, der die ganze Reihe seiner Werke hindurch dialektisch ist, aber im Gipfel und letzten Verklärungspunkt aller historisch wird, zur Einfalt der Geschichte zurückkehren vermöchte. Unserem Zeitalter schien es vorbehalten, zu dieser Objektivität der Wissenschaft wenigstens den Weg zu öffnen [...].27

Hegel, der sich im Wesentlichen von Aristoteles inspirieren ließ, stellt Schelling die Platonische Anamnese gegenüber. Die Bezugnahme auf Piaton ist bei Schelling allgegenwärtig und sie läßt sich bereits ganz am Anfang, in den ersten Sätzen der Weltalter wiederfinden: »das Vergangene wird gewußt« ... Es ist diese Platonische Idee eines Bezugs des Wissens zur Vergangenheit, einer gewissermaßen zeitlosen Vergangenheit, die Rosenzweig aufgreift, wenn er im Stern (SE 114) - wiederum fast wörtlich Sätze Schellings übernehmend - schreibt, daß sich »in diesem Verhältnis zur Schöpfung der Zusammenhang des Wissens mit dem Begriff der Vergangenheit zeigt« - dann ruft er ebenfalls 25

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Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Philosophische Entwürfe und Tagebücher aus dem Berliner Nachlaß. Bd 1: 1809-1813 : Philosophie der Freiheit und der Weltalter. Hg. von Lothar Knatz u. a. Hamburg: Meiner 1994, Bd 1, S. 144f., Notiz vom 27. Dez. 1813. Georg Mehlis, dessen Werk über Schellings Geschichtsphilosophie in den Jahren 1799-1804 Rosenzweig gelesen hatte, bezog sich lediglich auf Schellings Schriften bis um das Jahr 1804 und wollte darin nur den Ausdruck einer >Romantik< sehen, für die Kunst, Religion und Geschichte untrennbar seien. Schelling, Die Weltalter (Anm. 1), S. 23; ders., Sämmtliche Werke (Anm. 11), 1/8, S. 205.

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Platon ins Gedächtnis, indem er nämlich ganz in dessen Sinne hinzufügt, daß »die Wahrheit immer das ist, was war«. Wenn er diese Idee übernimmt, dann tut er dies aber auch, um sie zu kritisieren. Er beklagt, daß [...] alle Begriffe, mit denen man die Wirklichkeit allgemein umfaßt, die Form der Vergangenheit anzunehmen suchen. Gleich der Begriff des >Grundes< und >Grund-begriffes< selbst, die >UrUrVorausDer Konflikt auf der Höhe< (118-148), sich wie eine Kritik der Weltalter Schellings aus dem Geiste des Sterns liest«.

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tersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809) behandelt haben. Einige Sätze des Sterns könnten als Bezüge auf diesen Text betrachtet werden, wie zum Beispiel gerade seine sehr kritischen Anspielungen am Anfang des Buches auf Schellings Konzeption des »Urgrundes« oder »dunklen Grundes«, aus dem sich Gott bildete - eine charakteristische These der Freiheitsschrift - , denn dort distanziert sich Rosenzweig von jeder Debatte um ein >Nichtsdunkler Grund«< (SE 28), dann bezieht er damit deutlich eine Gegenposition zu Schelling, der nämlich in den Weltaltem behauptet hatte, daß »überhaupt nur in der Verneinung der Anfang« läge.38 Rosenzweigs zentrale These, an die bereits ganz am Anfang dieses Aufsatzes erinnert wurde, ist eben, daß die Schöpfung nur von der Offenbarung her - daß also die Vergangenheit nur aus der Gegenwart - verstanden werden könne. 39 Es handelt sich für Rosenzweig also darum, die Idee der Schöpfung »im Lichte der Offenbarung«, also in der Gegenwart zu entfalten: »wir entwickeln den Schöpfungsgedanken im Lichte der Offenbarung« (SE 154).40 Was dies bedeutet, ist, daß der »Theosophie« 41 in der Meditation Rosenzweigs eine andere Bedeutung und ein ganz anderer Stellenwert eingeräumt werden muß, als sie ihn für Schelling besitzt. Sie verfügt im Stern letztendlich nur insofern über eine Position, als im Alten Testament von der Schöpfung her »erzählt« wird. Damit wird die Frage legitim, ob Rosenzweig bei seiner Lektü36

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SE 30, vgl. auch SE 124: »jene Akte [...] wachsen nicht dialektisch der zweite aus dem ersten hervor; das >Nein< ist nicht die >Antithesis< des Ja, sondern das Nein steht dem Nichts in gleicher Unmittelbarkeit gegenüber wie das ja ... Wie ungeheuer wichtig [...] der Gegensatz der hier angewandten Metaphysik zur dialektischen ist, wird...« Damit zielt Rosenzweig wohl eindeutig auf Hegel ab. Schelling, Die Weltalter (Anm. 1), S. 34f.; ders., Sämmtliche Werke (Anm. 11), Bd 1/8, S. 212. Ebd., S. 51 bzw. S. 224 in den Sämmtlichen Werken. Vgl. SE 425: »Was Gott als Herr des Todes sei, sein Wesen vor der Schöpfung, das entzieht sich jedem Gedanken. Die Offenbarung reicht bis zum Schöpfer. Ihr erstes Wort ist: >im Anfangs ihr zweites >schuf< ...« Wenn Stéphane Mosès in seinem Système et Révélation schreibt (La philosophie de Franz Rosenzweig. Paris: Seuil 1982, hier S. 38), daß die Idee der »Kontraktion« Gottes bei Rosenzweig die Schöpfung und sogar die Offenbarung bestimmt, geht er m. E. viel zu weit; Görtz hat sicher recht, daß hier voreilige Schlüsse gezogen werden; vgl. Görtz, Tod und Erfahrung (Anm. 32), S. 371 f. und die ganze Diskussion: S. 352-379. Vgl. dazu ausfuhrlich meinen Beitrag zur Rosenzweig-Konferenz in Tempe (2002), veröffentlicht in dem von L. Anchaert, M. Brasser und N. Samuelson herausgegebenen Tagungsband. Vgl. hiermit die Weise, wie Ehrenberg diese Ideen - zweifellos die Ideen des Sterns, wie Görtz zeigt - in seiner Disputation (Anm. 31), Bd. 2, S. 127ff. entwickelt. Der auf SE 1.1 bezogene Terminus »Theosophie« findet sich in seinem Brief vom 4. September 1918 an Rudolf Ehrenberg.

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re bis zu jenen Seiten der Weltalter vorgedrungen ist, in denen Schelling, »die Wichtigkeit des Alten Testaments für [die] Eruierung des Gottesbegriffs«42 hervorhebend, seine eigene Interpretation der ersten Sätze der »Genesis« bietet: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde«. Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. [...] Warum [...] steht hier: Elohim schuf (ibara); warum nicht gleich hier, wie im folgenden immer: Im Anfang sprach Elohim: es werden Himmel und Erde. Oder warum nicht: er machte, wie (v. 16) von den zwei großen Lichtern, Sonne und Mond, die er ja nicht mehr zu machen brauchte, wenn das Schöpfen v. 1 schon ein Machen war. Alle Auslegung ist trüglich, oder diese Hervorbringung im Anfang, die ein Schöpfen genannt wird, ist eine andere als die spätere, die ein Sprechen ist [...]. 43

Bei Rosenzweig heißt es dann: »Gott sprach. Das ist das zweite. Es ist nicht der Anfang [... ] Der Anfang ist: Gott schuf.« (SE 124f.) Um diese Zeilen schreiben zu können, brauchte Rosenzweig Schelling sicher nicht - es soll hiermit also nicht vorgeschlagen werden, daß Rosenzweig die zitierten Ausführungen Schellings gelesen hatte - wir haben es hier nicht mit demselben Sachverhalt wie bei der Rezeption der Kabbala zu tun. Dem sollte noch hinzugefugt werden, daß Rosenzweig, soweit ersichtlich, übrigens nirgendwo jenes besondere Interesse zu kommentieren scheint, das Schelling dem Alten Testament entgegenbrachte, und welches ihn vor seinen Zeitgenossen, wie z. B. Hegel, auszuzeichnen scheint. Wenn es aber wichtig ist, hervorzuheben, daß Rosenzweig - als er die ersten Sätze des Buches »Schöpfung« schreibt - auch an Schelling denkt, und an den besonderen Akzent, den dieser auf den Gegensatz von »Schaffen« und »Sprechen« legte, dann deshalb, weil er damit die Bedingungen der Möglichkeit der Sprache - des Sprechens einer Sprache - hervorheben möchte, die sich nicht auf den Mythos reduzieren lassen, wie dies bereits der folgende Absatz des Sterns, mit dem Hinweis auf den »mythischen Bezirk« eines »verborgenen Gottes«, zeigt. Dieses Problem der Bezüge des Mythos zur Sprache, das einen großen Teil des Sterns belebt, war eine der ständigen Grundfragen gewesen, die am Anfang des Deutschen Idealismus stand und die gerade Schelling beschäftigt hatte. - Auch deshalb darf, wie es schon betont wurde, das Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus nicht vergessen werden, das die Grundlage und Kontrastfolie für die Ausarbeitung von Rosenzweigs eigener Konzeption der Schöpfung bildet: eine »Schöpfung aus Nichts«, verstanden als ästhetische Schöpfung. Im Stern stellte Rosenzweig seine eigene Konzeption der Schöpfung diesen Modellen gegenüber, die ein Erbgut des Deutschen Idealismus - und besonders von Schelling - waren: dem Ich des Idealismus, als Schöpfer einer Welt (SE 152-155), aber auch dem Model des Kunstwerks (SE 164-168) - und der Idee einer Schöpfung »aus dem Begriff der absoluten Tat« (SE 126, 128). *

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*

Schelling, Die Weltalter (Anm. 1), S. 118-124; ders., Sämmtliche Werke (Anm. 11), Bd 1/8, S. 270-274. Vgl. ebd., S. 206ff. bzw. S. 331ff. in dem Sämmtlichen Werken.

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Einige Bemerkungen über Schellings Philosophie der Offenbarung mögen zum Beschluß dieser Ausführungen dienen. Die allerersten Leser und Interpreten Rosenzweigs bezogen sich wie selbstverständlich auf diesen Text und wollten manchmal sogar so weit gehen, darin - in diesem privilegierten Ausdruck der »positiven Philosophie« von Schelling - nicht nur die »Basis«, sondern sogar den »Nerv« des Denkens von Rosenzweig zu sehen: »daß das Denken die Existenz nicht einzubegreifen vermag und diese daher nur im Glauben erfahren werden kann«. 4 4 Diese These stützt sich auf einige Sätze Rosenzweigs aus der Einleitung zu seinem Stern, zum Beispiel wenn er schreibt, daß [...] Gott Dasein haben muß vor aller Identität von Sein und Denken; wenn hier Ableitung vorliegen soll, dann noch eher die des Seins vom Dasein, als die in den ontologischen Beweisen immer wieder versuchte Ableitung des Daseins vom Sein. Es ist die Schellingsche Spätphilosophie, in deren Bahn wir uns mit solchen Betrachtungen bewegen. (SE 19f.) Es ist aber Vorsicht geboten, in eine solche, recht allgemeine Bemerkung nicht zuviel hineinzulesen. Geht die Behauptung nicht zu weit, daß der erste Teil des Sterns Schellings »negativer Philosophie«, der zweite Teil dessen »positiver Philosophie« entspräche? 45 Es ist hier an die Weise zu erinnern, wie Schelling diese Gegenüberstellung auffaßt, zum Beispiel in seiner Philosophie der Offenbarung46 Er hob nämlich hervor, daß es sich dabei um zwei Formen der Philosophie handelt. Die »positive« und »negative« Philosophie waren für ihn zwei Formen der Philosophie und sogar zwei Teile der selben Philosophie, wobei die »negative Philosophie« einen logischen Begriff, rein im Denken darstellt, »ohne ihn in seiner eigenen Existenz nachweisen zu können« - eine Aufgabe, die der »positiven Philosophie« vorbehalten bleibt. Rosenzweig ist sehr weit davon entfernt, sich auf diese Weise auszudrücken, nicht nur im Hinblick auf die Philosophie selbst und auf die Einheit der Philosophie, sondern auch in Anbetracht der »Logik« und des Status dieser »Logik« - wie Ehrenberg spricht Rosenzweig eher von »Metalogik« (SE 15) - in ihrem Verhältnis zur Schöpfung und zur Offenbarung. Nachdenklich sollte es auch machen, daß sich Rosenzweig nirgendwo, weder im Stern noch, soweit ich sehe, in seinen anderen Schriften, ausdrücklich auf die Unterscheidung zwischen 44

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Vgl. insbes. Else Freund: Die Existenzphilosophie Franz Rosenzweigs. Ein Beitrag zur Analyse seines Werkes: >Der Stern der Erlösung^ Leipzig: Meiner 1933, S. 11, 59. Wie sie u.a. J.-F. Marquet - in seinem beeindruckenden Aufsatz »Unité et totalité chez F. Rosenzweig. Etude sur l'architecture de l'Etoile de la rédemption«, in: Archives de philosophie 61 (1998) S. 427-446, hier S. 430 - vorschlägt. Vgl. ζ. Β. Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Philosophie der Offenbarung. In: ders., Sämmtliche Werke (Anm. 11), Bd 1, S. 79. - Nach Schelling verhilft uns die »negative Philosophie« zu einemrichtigen>Begriff< von Gott als deqenige der seiend ist. Die »positive Philosophie« hat die Aufgabe zu zeigen, daß die Wirklichkeit diesem Begriff entspricht, daß der Lauf der Welt, wie ihn Offenbarung und Erfahrung manifestieren, diesem Begriff gemäß ist. Rosenzweig geht es dementsprechend darum zu sehen, wie die Geschichte der Offenbarung mit der logischen Struktur der Vorwelt übereinstimmt.

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»negativer« und »positiver Philosophie« bezieht. Sicher dürfte er diese Unterscheidung zwar gekannt haben, denn sie ist ja nicht nur in Schellings Philosophie der Offenbarung von zentraler Bedeutung, sondern auch in der ganzen Sekundärliteratur über Schelling47 omnipräsent, zu allererst auch in den einschlägigen Arbeiten von Hans Ehrenberg. Übrigens ist auch festzuhalten, daß die Unterscheidung von »negativer« und »positiver Philosophie« im Wesentlichen erst in denjenigen Schriften Schellings systematisch vollzogen wird, die ab 1827, also erheblich später als die Weltalter verfaßt wurden. Wenn ich mit den vielen anderen Lesern und Interpreten, die diese Meinung vertraten, darin recht habe, daß sich Rosenzweig beim Aufbau und der Struktur des Sterns von Schellings Weltaltern inspirieren ließ, dann sollte die Trennung der Schellingschen Spätphilosophie von »negativer« und »positiver Philosophie« zur Interpretation des Sterns nicht herangezogen werden, weil wir sonst der Gefahr einer anachronistischen Perspektive erlägen. Eindeutig ist es, daß es die ersten Sätze der Weltalter sind, welche diese zentrale Rolle spielen. Stéphane Mosès betont zu Recht: »die ganze Erkenntnistheorie Rosenzweigs [...] geht aus diesen beiden Sätzen Schellings hervor«.48 Die Lektüre des Sterns selbst scheint mir die überragende Rolle, welche diese Sätze Schellings gespielt haben, völlig zu bestätigen, denn Rosenzweig übernimmt sie mehrmals fast wörtlich, zum Beispiel im zweiten Teil des dritten Buches, welcher der »Erlösung« gewidmet ist. Er schreibt dort, daß [...] während nämlich das Vergangene, das schon Fertige daliegt von seinem Anfang bis zu seinem Ende und daher er-zählt werden kann [...] ist das Zukünftige als das was es ist, nämlich als Zukünftiges, nur zu fassen durch das Mittel der Vorwegnahme [...] Das Zukünftige will vorausgesagt werden. (SE 244)

Rosenzweig, sich eng an Schellings Formulierung anschmiegend, den Sinn des Satzes aber ändernd, fugt hinzu: »Die Zukunft wird erlebt nur in der Erwartung.« (SE 244, vgl. 252, 261, 278)

47

48

Siehe in diesem Zusammenhang übrigens auch die Einleitung von Kuhlenbeck zu seiner Reclam-Ausgabe der Weltalter (Anm. 1), z. B. S. 7 ff. Vgl. Mosès, Système et révélation (Anm. 38), S. 40. Allerdings müßte zwischen der Bedeutung, die den Weltaltern beigemessen wird, und der Rolle, welche die Philosophie der Offenbarung spielt, unterschieden werden, was Mosès sicher nicht hinreichend deutlich macht.

Cordula Hufnagel

Nietzsche im Stern der Erlösung

Nicht häufig, jedoch an jeweils markanter Stelle, wird Friedrich Nietzsche im Stern der Erlösung namentlich erwähnt: In den »Einleitungen«, die, wenn nicht Quintessenz, so doch richtunggebend für den jeweiligen Teil des Stern sind, den sie einführen. In meiner Erörterung versuche ich, anhand dieser textlichen Erwähnungen die Position Nietzsches im Stern und seinen Stellenwert in Rosenzweigs Denken herauszuarbeiten. Nietzsche ist das Gespenst des Stern der Erlösung. Ein Gespenst: beschworen, um ausgetrieben zu werden. Eine Gefahr: drohend und doch nicht greifbar. Ein Phantom: neu und doch ewiger Wiedergänger - und als solcher von Rosenzweig letztlich doppelt unterschätzt: dem Inhalt wie der Methode nach. Denn einerseits ist Nietzsche für Rosenzweig wichtig, steht im Stern für alles, das überwunden oder umgedreht werden soll - der Stern als Buch, geschrieben gegen den in Nietzsche korporierten Zeitgeist - , andererseits jedoch auch so unwichtig, daß eine intensivere Lektüre unterbleiben konnte - damit aber auch eine Auseinandersetzung mit den Inhalten von Nietzsches Denken, einer Philosophie, die von Rosenzweig nicht als solche erkannt und anerkannt wird. Denn, abgesehen von einer, allerdings entscheidenden Ausnahme greift Rosenzweig nur die allzeit gängigen Schlagworte auf, das Gott-ist-tot-Theorem, das Dionysische, die blonde Bestie, den Übermenschen - um ad Nietzsche zu konstatieren: »Beinahe gleichgültig ist es schon heute, was er erphilosophierte.«1 Gegen seine Texte stellt Rosenzweig die »Tragödie des Nietzscheschen Lebens« (SE 9) heraus, sie sei das entscheidend Neue für die Entwicklung des Denkens, sei eine der Voraussetzungen des »Neuen Denkens«. Ist das ein Widerspruch? Ist eine solche Trennung zulässig - wo es doch im Stern heißt: als »ganzer Mensch« sei Nietzsche seinen Weg gegangen, ohne Scheidung zwischen Leib und Seele, Körper und Geist, »Mensch und Denker eine Einheit bis ans Letzte« (SE 10), wo doch diese (antignostische, antichristliche) Ganzheit - Nietzsche selbst in Person, die doch auch Rosenzweig nur als Text bekannt ist - im Stern als Bedingung der »Neuen Philosophie« apostrophiert wird? Und ist nicht merkwürdig, daß Rosenzweig sich wohl mit den Inhalten der »alten«, 1

Franz Rosenzweig: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften. Den Haag: Nijhoff 1976-1984, Bd 2: Der Stern der Erlösung. Hg. von Reinhold Mayer, 1976, S. 10. Im Folgenden zitiert mit der Sigle SE mit zugehöriger Seitenzahl.

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nicht aber mit denen der »neuen« Philosophie und ihres ausgewiesensten Vertreters Nietzsche auseinandersetzt? Nein, denn nach ihren Inhalten betrachtet ist die »neue Philosophie« Nietzsches fur Rosenzweig weder besonders noch auch neu. Nietzsche erweist sich in ihr - und so ist es im Stern der Erlösung nur wenig notwendig, auf seine Schriften einzugehen - als ein ewiger Wiedergänger, als ein »Sünder« und als ein »Schwärmer«. Sünder und Schwärmer jedoch, das sind Gestalten der Menschheitsgeschichte, die es immer gab und immer geben wird. Exemplarisch fur diese Figurationen und in ihrem Hintergrund steht Nietzsche. Rosenzweig fuhrt ihn - in den Einleitungen zum ersten und zum dritten Teil des Sterns - jeweils als Personifikation des Typus ein, fuhrt diesen jedoch nicht an Nietzsche aus, sondern an den Gestalten des Helden und des Revolutionärs allgemeinmenschlichen Gestalten, die der Stern gegen »alte Philosophie« und Mystik zugleich zu beschwören und zu bannen sucht. Rosenzweig wollte kein Nietzsche-Buch schreiben, aber auf gespenstische Weise ist der Stern als solches lesbar, als der Versuch, von Nietzsche aus, mit und gegen ihn, über sein Denken hinauszugehen zu einer neuen Philosophie, die am Individuum festhält und trotzdem die Objektivität und Allgemeingültigkeit erreicht, die die »alte« Philosophie dem Nietzscheschen Verlorensein in der Subjektivität voraus hat. Rosenzweig hat Nietzsche 1906 gelesen, noch vor dem Wechsel des Studiums von Medizin zu Geschichte. 1906 ist bei Naumann in Leipzig die zehnbändige, von Elisabeth Förster-Nietzsche eingeleitete und mit einem Vorwort versehene Taschenausgabe Nietzsche 's Werke erschienen.2 In Kombination der Umzugsliste von Rafael Rosenzweig mit Franz Rosenzweigs Tagebüchern, wie sie 1979 bei Martinus Nijhoff erschienen sind, ist zu schließen, daß Rosenzweig 1906 die Bände 1, 2 und 7 dieser chronologisch geordneten Ausgabe gekauft hat, die neben dem jeweiligen Hauptinhalt eine Auswahl zeitlich zugehöriger Texte aus dem Nachlaß enthalten.3 Erworben hat Rosenzweig 'damit Die Geburt der Tragödie, Menschliches, Allzumenschliches und Also sprach Zarathustra. Später kam zu diesen drei Bänden nur noch ein Band hinzu, in der Umzugsliste mit »Werke 8, Naumann 1909« bibliographiert - wohl der achte Band der Taschenausgabe in zweiter Auflage, der die Schrift Jenseits von Gut und Böse: zur Geneaologie der Moral enthält.4 Auch zwei Schriften aus der Sekundärliteratur zu Nietzsche standen in Rosenzweigs Bibliothek, August Horneffers Nietzsche als Moralist und Schriftsteller von 1906 und Walter Loebs Aufsatz »Naturwissenschaftliche Elemente in Nietzsches Gedanken« von 1908.5 Dabei ist letzterer 2

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Friedrich Nietzsche: Werke. Taschenausgabe. Mit Vorwort und Einleitung von Elisabeth Förster-Nietzsche. 10 Bde, Leipzig: C. G. Naumann, 1906. Bd 1: Die Geburt der Tragödie. Aus dem Nachlaß 1869-1873; Bd 2: Unzeitgemäße Betrachtungen. Aus dem Nachlaß 1873-1875; Bd 7: Also sprach Zarathustra. Aus dem Nachlaß 1882-1885 (alle Bde Leipzig 1906). Nietzsche, Werke (Anm. 2), Bd 8: Jenseits von Gut und Böse: zur Genealogie der Moral; Aus dem Nachlaß 1885/86, 1. Aufl., Leipzig: C. G. Naumann, 1906. August Horneffer: Nietzsche als Moralist und Schriftsteller. Jena: Diederichs, 1906. Walter Loebs Aufsatz konnte ich bibliographisch nicht ermitteln.

Nietzsche im Stern der Erlösung

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jedoch kein Indiz für eine Beschäftigung mit Nietzsche, denn Rosenzweig war mit Walter Loeb befreundet, 6 schätzte ihn persönlich sehr, wirft ihm jedoch, wie den Naturwissenschaftlern überhaupt, »Fachborniertheit« vor 7 und bezeichnet sein Verhältnis zu ihm als »ganz ungeistig«. 8 August Horneffer dagegen wurde von Rosenzweig geschätzt, auch seiner »philologischen« Nietzsche-Kritik wegen. 9 Rosenzweig besuchte in diesen Jahren mehrere seiner Vorträge, erwähnt ihn sogar 1916 noch einmal, nun distanzierter, in einem Brief an Martin Buber. 10 Rosenzweig, so geht aus den äußerlichen Daten hervor, hatte kein sonderliches Interesse an Nietzsches Philosophie, an den Ergebnissen seines Denkens - weder hat er eine Gesamtausgabe der Werke erworben noch sich nach 1906 noch einmal intensiver mit ihm auseinandergesetzt. Und trotzdem und gerade deshalb - kann er 1918 (die Lektüre ist zwölf Jahre her) Gertrud Oppenheim im Blick auf den Stern der Erlösung verkünden: »Nur Nietzsche (und Kant) lasse ich am Leben!« 11 Aber was heißt »am Leben lassen«? Welche Rolle spielt Nietzsche im Stern der Erlösung und für dessen Entstehung? Welche Sätze Nietzsches, welche Eindrücke gaben den Ausschlag dafür, daß Nietzsche trotz der frühen und eher sporadischen Lektüre Referenzpunkt der neuen Philosophie wird? Diese Fragen forcieren die These, daß Rosenzweigs »Umkehr«, seine Rückwendung zum Judentum nicht nur ein Bruch ist, sondern auch konsequente Weiterentwicklung früher Einsichten. Daß der Stern der Erlösung-Bau nicht Verwerfung der Trümmer ist, sondern der Versuch, durch ihre Implantation und Umkehrung »Einheit« neu aufzubauen. So wird Nietzsche in den Stern einbezogen, so auch eigene Aufzeichnungen - aus den Jahren, in welchen sich Rosenzweig in zeitweiliger Identifikation mit einem der Grundgedanken Nietzsches als »Skeptiker« bekannte. Das Problem der Absenz objektiver Wahrheit, das Rosenzweig 1917 in der »Urzelle« durch seine Konzeption der Offenbarung durchschlagen wird, erscheint bereits 1906 in Rosenzweigs Aufzeichnungen als eines der Zentren, um das herum sich seine Gedanken bewegen. Im März 1906 notiert Rosenzweig: 6

7 8 9 10

11

Siehe dazu den Eintrag »Loeb, Walter« im Namensverzeichnis der Briefe und Tagebücher. Rosenzweig, Gesammelte Schriften (Anm. 1), Bd 1: Briefe und Tagebücher. Hg. von Rachel Rosenzweig und Edith Rosenzweig-Scheinmann. 2 Bde, 1979, S. 1292. Im Folgenden zitiert mit der Sigle BT und zugehöriger Seitenzahl. Vgl. Brief 287 an die Eltern vom 1. September 1916 (BT 210). Vgl. Brief 338 an Gertrud Oppenheim vom 9. Januar 1917 (BT 331). Vgl. Brief 47 an Hans Ehrenberg vom 17. März 1906 (BT 34). Vgl. BT 38f., S. 54 und S. 198. August ist der Bruder von Ernst Homeffer. Beide, vor allem jedoch Ernst, waren an der von Elisabeth Förster-Nietzsche und Rudolf Steiner besorgten Nietzsche-Ausgabe beteiligt. Beide waren Freimaurer, aktiv vor allem August, der später mehrere Bücher zur Freimaurerei veröffentlicht hat. Brief 560 an Gertrud Oppenheim vom 27. August 1918 (BT 599).

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Ich hatte lange keine Sehnsucht nach Plato. Auch heut war ich nur verwundert, als ich das Symposion in die Hand nahm. Wer im Studium der Philosophie objektive Belehrung sucht, muß entweder ein sehr naiver Mensch oder ein Mathematiker sein. [ . . . ] - Ich bin ja Skeptiker und αγεωμέτρητος, daher ist für mich Philosophie nur »nur« - Ausdruck einer Persönlichkeit. 12

Über die Wortwahl hinaus - Rosenzweig übernimmt in dieser Notiz die Denkposition Nietzsches. Nietzsche schreibt: [...] ich will nur den Punkt aus jedem System herausheben, der ein Stück Persönlichkeit ist und zu jenem Unwiderleglichen, Undiskutierbaren gehört, das die Geschichte aufzubewahren hat: [...] denn an Systemen, die widerlegt sind, kann uns eben nur noch das Persönliche interessieren, denn dies ist das ewig Unwiderlegbare.13

Die Notiz Rosenzweigs ist nach zwei Seiten hin wichtig: für seine Auffassung von Philosophie und für den Einfluß, den Nietzsche auf ihn hatte. Für die Frage nach der Philosophie indiziert sie, daß 1906 für Rosenzweig alle Philosophie nur subjektives Meinen ist. Daß dieses Subjektive aber zugleich das ist, was Philosophie erst bedeutsam macht, indem es sie über die allgemeingültige, immergleiche Logik hinaufhebt zu einer Geschichtlichkeit, in der sie über ihre Subjektivität hinaus Ausdruck, Formgebung, Festhalten des Augenblicks ist, das heißt des Stadiums, in das Geschichte als Weg, »Weltgeschichte« eingemündet ist. Noch spezifiziert Rosenzweig Philosophie nicht in eine »Philosophie des Alls« einerseits, eine des »Standpunkts« andererseits. Doch deutlich weist Philosophie als »Ausdruck einer Persönlichkeit« nicht nur auf diese erst im Stern der Erlösung ausformulierte Unterscheidung hin, sondern auch auf die von Rosenzweig intendierte »neue Philosophie«, die sich nur und erst aus der Fassung der Philosophie als einer der Persönlichkeit und des Standpunkts, aus Nietzsche heraus entwickeln konnte. Die Differenzierung in eine »Philosophie des Alls« und eine »Philosophie des Standpunkts« wird in der Einleitung zum ersten Teil des Stern der Erlösung unter dem Motto »in philosophos!« gedanklicher Ausgangspunkt des Werks - mit der Verschiebung, daß in dieser Trennung die traditionelle, »vornietzschesche« Philosophie pauschal als eine des Alls apostrophiert wird, als ein Denken, das, indem es sich an Logik und Mathematik orientiert, alles Persönliche und Subjektive ausschließen, ja abtöten muß. Philosophie als der Versuch, Welt auf Logik zu reduzieren, ist Rosenzweigs Ausgangspunkt in der sogenannten »Urzelle« des Stern der Erlösung, des Briefes an Rudolf Ehrenberg vom 18. November 1917.14 Gegen ein 12 13

14

Tagebuch vom 2. März 1906 (BT 30). Friedrich Nietzsche: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, »Vorwort« und »Späteres Vorwort« In: ders., Werke in drei Bänden. Hg. von Karl Schlechte. München: Hanser 1954-1956, Bd 3, S. 351 und S. 352. Philosophie als »Gehorsam gegen das Ideal«, gegen »Imperative«, »Ideen, als »Annahme allgemeingültiger Maximen«, die vom Menschen »Hingabe« einfordern, ein Aufgehen des Besonderen, der Subjektivität, im Allgemeinen, als absolut gesetzten. Vgl. »Urzelle« des Stern der Erlösung. Brief an Rudolf Ehrenberg vom 18. November 1917,

Nietzsche im Stern der Erlösung

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Denken, das vom Menschen Aufgabe seiner selbst, Aufgehen im Allgemeinen fordert, setzt Rosenzweig in der »Urzelle« wie dann im Stern der Erlösung die Offenbarung als »Brücke vom Subjektivsten zum Objektivsten« (SE 117), Brücke, die das Persönliche mit dem Allgemeinen verbindet, beides fur sich gelten läßt. Weder die »Philosophie des All« noch die »Standpunktphilosophie« sind für sich konsistent, sondern erst die Verbindung beider, die Rosenzweig das »neue Denken« nennen wird. Zunächst scheint es - im ersten Teil des Stern der Erlösung - als neige Rosenzweig gegen das traditionelle philosophische Denken zur Standpunktphilosophie und somit zu Nietzsche als einem ihrer subversivsten Vertreter. Jedoch, ein Denken als Ausdruck der Persönlichkeit ist, so der Vorwurf an Nietzsche, eine Philosophie, die keine mehr ist: Die Philosophie hat nicht das objektiv denkbare All und das Denken dieser Objektivität zum Gegenstand, sondern sie ist »Weltanschauung« [...]; die eindimensionale Form des Systems mag unter der Voraussetzung einer objektiven Welt und eines einen und allgemeinen Denkens die wissenschaftliche sein, - der schlechthinnigen Mehrheit der Weltanschauungen [...] entspricht nur eine vieldimensionale Form, und gehe sie bis an die äußerste Grenze eines Philosophierens in Aphorismen. Alle diese Eigentümlichkeiten des neuen Philosophiebegriffs, der doch mindestens das Verdienst hat, nach Hegel überhaupt noch ein Philosophieren möglich zu machen, sammeln sich nun in der einen, daß an Stelle des alten, berufsmäßig unpersönlichen Philosophentyps [...] ein höchst persönlicher, der des Weltanschauungs-, ja Standpunktsphilosophen tritt. Hier aber tritt das Bedenkliche der neuen Philosophie ins hellste Licht, und die Frage, die Nietzsche entgegengehalten wurde, muß allen ernst zu nehmenden philosophischen Bestrebungen entgegenspringen: ist das noch Wissenschaft? (SE 116f.) Die Radikalität, alle objektive Wahrheit zu leugnen, ist das Manko der neuen Philosophie vom Typus Nietzsches, durch das sie ungenügend wird und über sich hinaustreibt zu einer wahren neuen Philosophie, zu einem »Neuen Denken«, 15 das ein nicht mehr zu relativierendes Absolutes, das Objektivität erkennt und anerkennt, ohne dabei die Person auszulöschen. 16 Die Philosophie Nietzsches ist, indem sie nur aus der Subjektivität heraus gedacht ist, kein Denken, das über den historischen Augenblick hinaus ernst zu nehmen wäre, sie ist »Privatphilosophie«, gar, wie vor allem der dritte Teil des Stern der Erlösung zeigen wird, Privatmythologie.

15

16

in: Rosenzweig, Gesammelte Schriften (Anm. 1), Bd 3: Zweistromland. Kleine Schriften zu Glauben und Denken. Hg. von Reinhold Mayer und Annemarie Mayer, 1984, S. 125-138, bes. 133. Im Folgenden zitiert mit der Sigle Ζ und zugehöriger Seitenzahl. Franz Rosenzweig: Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum »Stern der Erlösung« (1925), in: Ζ 139-161. Das Hauptanliegen Rosenzweigs in Bezug auf die Philosophie. Noch 1927 schreibt er an Rudolf Stahl: »Daß die Philosophie, wenn sie wahr sein soll, vom wirklichen Standpunkt des Philosophierenden aus erphilosophiert werden muß, meine ich ja wirklich. Es gibt da keine andre Möglichkeit, objektiv zu sein, als daß man ehrlich von seiner Subjektivität ausgeht. [...] Die eigenen Augen sind gewiß nur die eigenen Augen; es wäre aber schildbürgerhaft, zu glauben, daß man sie sich rausreißen muß, um richtig zu sehen.« Brief 1156 an Rudolf Stahl vom 2. Juni 1927 (BT 1154)

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1906 aber war der Begriff der Offenbarung noch nicht konzipiert und der Einfluß Nietzsches so stark, daß Rosenzweig sich kritiklos mit der, wie er sie nannte, >skeptischen< Position des Nietzscheschen Denkens identifizierte: Philosophie als Ausdruck der Persönlichkeit - das ist direkte Übernahme der von Nietzsche im Vorwort zu Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen formulierten Gedanken - auch und gerade dadurch, daß Rosenzweig erst im Tagebuch vom November 1906 die Eintragung vom März als indirektes Nietzsche-Zitat ausweist: »>Das Persönliche ist das ewig Unwiderlegbare< Nietzsche.«17 Das »Persönliche« ist das Bleibende, das, was auch nach dem Untergang der Systeme noch da ist, das, was ihre Subsistenz ausmacht, das, wie es in der »Urzelle« heißt, »Ich, der ich doch Staub und Asche bin«, »Ich ganz gemeines Privatsubjekt, Ich Vor- und Zuname«. 18 Es ist der »metaethische« Einzelne, der nach der Überwindung des Idealismus, der idealistischen Unterordnung des Besonderen unter das Allgemeine, wieder sein Recht einklagt, es ist Nietzsche selbst, der »in der schlechthinnigen Einzelheit seines Eigenwesens« (SE 10) zur Hauptperson des ersten Teils des Stern der Erlösung wird. Um das wißbare All hatte sich bisher alles philosophische Interesse bewegt [...]. Nun trat dieser wißbaren Welt ein andres gegenüber, der lebendige Mensch, dem All das jeder Allheit spottende Eins, der »Einzige und sein Eigentum«. Nicht in dem so überschriebenen Buch, das eben doch nur Buch war, sondern in der Tragödie des Nietzscheschen Lebens wurde dann dies Neue unausreißbar in das Flußbett der Entwicklung des bewußten Geistes eingerammt. [...] die Philosophie war dem Philosophen die kühle Höhe, auf die er vor den Dünsten der Niederung entwichen war. Für Nietzsche gab es diese Scheidung zwischen Höhe und Niederung im eigenen Selbst nicht; ganz ging er seinen Weg, Seele und Geist, Mensch und Denker eine Einheit bis ans Letzte. (SE 9f.)

Die Konstituierung des metaethischen Selbst, die sich in Nietzsche repräsentiert, das Ich, die Persönlichkeit, der Einzelne, der sich gegen das Allgemeine absolut setzt - er ist die Voraussetzung dafür, daß Offenbarung als der Anruf, der immer nur einer des Einzelnen sein kann, überhaupt möglich und erfahrbar werden kann. Aber eben nur Voraussetzung - und, wie Rosenzweig schon 1906 erkennt, keine, in deren Richtung weitergedacht werden kann. Mit Nietzsche kann man nichts begründen [...] Nietzscheaner sein, sich auf N. »stützen«! - wer kann das! [...] er ist ein Gipfelkletterer und als solcher schon einsam. Ihm zu folgen - wer wagt es? wer ist eingebildet genug? 19

Nietzsche steht am Ende, auf dem Gipfel, auf dem Grat, von dem aus es kein Weiter gibt, es sei denn in einen der Abgründe, die beidseits gähnen. Und Nietzsche ist - das, zusammen mit seinem Wahnsinn macht für Rosenzweig die »Tragödie des Nietzscheschen Lebens« (SE 9) aus - , Nietzsche ist beide Abhänge hinabgeglitten: 17 18 19

Tagebuch vom 16. November 1906 (BT 64). Rosenzweig, Urzelle (Anm. 14), S. 127. Tagebuch vom 5. Februar 1906 (BT 22).

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Ein Bildtäfelchen ist auf dem Kamme errichtet; es schildert an Zarathustras Niederund Untergang, wie man ein alle alten Tafeln zerschlagender Immoralist und ein den Nächsten um des Übernächsten willen, seinen Freund um die neuen Freunde vergewaltigender Tyrann - Sünder und Schwärmer in einer Person - werden kann. (SE 319) Und doch - Nietzsche bleibt Voraussetzung des »Neuen Denkens«, und zu seinem »Gipfel« muß »jeder fortan um der Lebendigkeit des Lebens willen hinansteigen« (SE 318), um jenes Tors willen, das sich am Ende des Stern der Erlösung ins »Leben« öffnet. Nietzsche, das Phantom des Stern, stirbt niemals. Sein Kommen und Wiederkommen steht immer aus: 20 Wenn der Stern auch vor allem gegen jede Art von Mystik, gegen Auslöschung der Person in Hingabe an ein Absolutes, sei dieses nun theologisch oder philosophisch gefaßt, geschrieben worden ist, so doch ebenso gegen Sünder und Schwärmer - jene ewigmenschlichen Konfigurationen, die Rosenzweig mit seiner Wendung gegen Idealismus und Mystik heraufbeschworen und aus der Gruft befreit hat, in der sie ein humanistischer Prometheismus zu begraben gesucht hatte. Ungenügend und vergeblich, wie Rosenzweig erkennt, um im »Neuen Denken« des Stern den Spagat zu unternehmen, das Böse durch seine Beschwörung zu vertreiben, auszuschließen, zu exorzieren - es umzukehren, Sünder und Schwärmer in die Gestalt des Heiligen zu überfuhren. Was ist ein »Sünder«, was ein »Schwärmer«? 21 Zunächst zum Sünder. Um ihn und seine Stellung im Stern zu bestimmen, muß auf das »metaethische Selbst« zurückgegriffen werden, das über aller Ethik steht, kein Gesetz, kein Allgemeines anerkennt, dem es sich unterzuordnen hätte. Das Selbst ist unfähig, nach außen zu treten, sich - in der Rede - gegen ein Anderes zu öffnen, ohne sich dabei zu verlieren. Denn der Wille, der das Selbst treibt, ist der, in sich gegen jedes Außen zu beharren. Die einzig ihm mögliche Sprache, »Antwort«, sind Trotz und Schweigen. Das Beharren auf dem selbsteingenommenen Standpunkt ist zunächst das Heidnische, dann das Sündige am Typus des Standpunktphilosophen. Das Heidnische, denn der eigentliche Ort des Selbsts ist Rosenzweig das Heidentum der griechischen und römischen Antike. Seine paradigmatische Verkörperung ist im Stern der Heros der griechischen Tragödie.

20

21

Im Gegensatz zum Gespenst des Kommunismus, seinem »Ausstehen« als seiner (Noch-) NichtVerwirklichung bei Jacques Derrida (Marx' Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Deutsche Erstausg., Frankfurt a. M.: Fischer 1995 [Fischer; 12380: Zeitschriften], S. 159 ff.;frz.:Spectres de Marx. L'État de la dette, le travail du deuil et la nouvelle Internationale. Paris: Éd. Galilée 1993 [Collection La philosophie en effet]), ist das Gespenst, das für Rosenzweig in Nietzsche eine Wiederverkörperung findet, immer latent vorhanden: ein ewiger Wiedergänger, der auf den Augenblick seines Auftritts wartet - individuell wie welthistorisch. Vgl. zum Folgenden auch meinen Aufsatz >»Stinder und Schwärmer in einer Persone Nietzsche in der Philosophie Franz Rosenzweigs«, in: Jüdischer Nietzscheanismus. Hg. von Werner Stegmaier und Daniel Krochmalnik. Berlin, New York: de Gruyter 1997 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung; 36), S. 82-89.

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Denn das ist das Merkzeichen des Selbst, das Siegel seiner Größe wie auch das Mal seiner Schwäche: es schweigt. Der tragische Held hat nur eine Sprache, die ihm vollkommen entspricht: eben das Schweigen. [...] Das Selbst weiß ja nichts außer sich, es ist einsam schlechthin. Wie soll es diese seine Einsamkeit, dieses starre Trotzen in sich selbst, anders betätigen als eben indem es schweigt?« (SE 83f.) Mit dem Eintritt der Offenbarung in die Geschichte, das heißt, mit dem Auftreten des Christentums, 22 verfallt mit der mythischen Einheit auch die Gestalt des griechischen Heros. Das Selbst öffnet sich zur Seele, der Trotz verkehrt sich in Demut, und im direkten Anruf des »Du sollst lieben«, im Angesprochenwerden als »Du« tritt das Selbst aus der Einsamkeit des Monologs hinüber in die wirkliche, »redende« Sprache, in den Dialog. Nietzsche hat diesen Schritt nicht vollzogen - er ist ein Selbst unter den Bedingungen der Offenbarung geblieben, eine »tragische Individualität«,23 die trotzig sich in sich selbst verschließt, sich als autonom setzt und dabei der Illusion erliegt, Sinn und Ziel des Daseins selbstherrlich schaffen zu können. Diese willkürliche Negation erst macht das metaethische Selbst sündig, sie ist - Gegenteil von Demut - Trotz, und als solcher für Rosenzweig das »dunkel aufkochende Urböse im Menschen« (SE 190). Nietzsches Gottesleugnung ist nicht mehr die des philosophischen Atheismus, der Gott verneint, indem er ihn in die Welt hineinbindet, sondern ist personalisierte Begegnung: »Dem lebendigen Menschen erscheint der lebendige Gott.« (SE 21) Nietzsche ist nicht der Heide, dem der Unterschied zwischen Gott, Welt, Mensch in der Alleinheit verschwindet, sondern dezidierter Nichtchrist und der erste Philosoph, der Gott ernst nimmt, indem er ihn fluchend leugnet: Denn einen Fluch [...] bedeutet jener berühmte Satz: »wenn Gott wäre, wie hielte ich es aus, nicht Gott zu sein«. [...] Das trotzige Selbst schaut mit ingrimmigem Haß die alles Trotzes ledige göttliche Freiheit, die ihn, weil er sie fur Schrankenlosigkeit halten muß, zur Leugnung drängt, - denn wie hielte er es sonst aus, nicht Gott zu sein.«24 22

23

24

Das Judentum steht Rosenzweig über und außerhalb allen zeitlichen Geschehens, so daß in und mit ihm Offenbarung nicht weltwirksam werden kann. Vgl. Stern der Erlösung (vor allem SE 331-339) und die Briefe an Hans Ehrenberg vom 31. Oktober/1. Novemberl913 (BT 132ff.) und vom 21. April 1918 (BT 543f.). Rosenzweig hatte 1911 den Plan eines Buchs mit dem Titel »Der Held. Geschichte der tragischen Individualität in Deutschland seit Lessing«. Vgl. Brief an Gertrud Oppenheim vom 28. September 1911 (BT 119). SE 20f. Fraglich freilich, wenn auch hier nicht entscheidend, ist Rosenzweigs Behauptung von der personalisierten Gottesleugnung Nietzsches. Rosenzweig unterschlägt nicht nur Nietzsches Piaton- und Idealismuskritik - »Christentum ist Piatonismus fürs >VolkTeufelswerk< (vgl. SE 23If.). Der Held war ein Mensch, wenn auch nur in der Vor-Welt. Der Mystiker aber ist kein Mensch, kaum ein halber Mensch; er ist nur Gefäß seiner erlebten Verzückungen. (SE 232)

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Im Gegensatz zum heidnischen Selbst ist die gläubige Seele nicht stumm, aber was sie spricht, »ist nur Antwort, nicht Wort« (SE 232). Wie dem Heiden das Du, so fehlt ihr das sprechende Ich. »Mensch« jedoch, sichtbare Gestalt, die spricht und angesprochen werden kann, wird die Seele, wenn sie aus der Hingabe heraus den Rückweg zur Welt findet: Wenn aus der Antwort im Dialog selbst Wort wird, wenn die Geliebte des Hohen Liedes selbst Liebende wird, wenn die Offenbarung durch die Erlösung, wenn die Liebe Gottes durch die Liebe des Menschen zur Welt, zum Anderen ergänzt wird. »Liebe deinen Nächsten«, das ist Rosenzweig der Inbegriff aller jüdischen und christlichen Gebote. Nur seine Erfüllung kann vor dem Trotz des Sünders wie vor dem Hochmut des Mystikers bewahren. In ihr, der Rückwendung der Liebe von Gott auf die Welt, wird aus dem in sich geschlossenen »Helden«, der sich in den ichlosen »Mystiker« aufgelöst hatte, eine neue Gestalt, der »Heilige« oder »Knecht Gottes« (SE 233ff„ 236). Wenn nun Nietzsche eines für Rosenzweig nicht ist, so ein »Mystiker«. In der Einleitung zum zweiten Teil des Stern der Erlösung erscheint er nur, um als ihr philosophisch bisher stärkster Widerpart gegen die »Allphilosophie« einzusprechen, gegen ihre mystischen, Individuum und Ich auflösenden Tendenzen (vgl. SE 116ff.). Nietzsche ist ein »Selbst« geblieben, auf sich selbst bezogener »Sünder« - und doch nicht ganz, denn in Nietzsche gibt es den Widerspruch, daß er als Sünder über diesen hinaus geht. Die Dichter hatten immer schon vom Leben gehandelt und von der eigenen Seele. Aber die Philosophen nicht. Und die Heiligen hatten immer schon das Leben gelebt und der eigenen Seele. Aber wieder die Philosophen nicht. Hier aber kam einer, der von seinem Leben und seiner Seele wußte, wie ein Dichter, und ihrer Stimme gehorchte, wie ein Heiliger, und der dennoch Philosoph war. (SE 9)

»Dichter« und »Heiliger« zugleich - das ist in Rosenzweigs Konzeption eine Unmöglichkeit: Dem Künstler ist die Öffnung auf Gott in der Offenbarung verwehrt, er bleibt >ewiger Sünderganzer Mensch< war Nietzsche, wie der Heilige, ohne Scheidung in »Höhe und Niederung«, Ideal und Leben, »Seele und Geist, Mensch und Denker« (SE 10). Und wie der Heilige 25

Das ist Rosenzweigs Widerspruch gegen die christlich-mystische Interiorisation der Erlösung. »Offenbarung« erschöpft sich nicht darin, daß ein jeweils exklusives Verhältnis zwischen Gott und dem angerufenen Einzelnen hergestellt wird, sondern ist Offenbarung der Schöpfung und der Erlösung. Dabei ist Erlösung »immer wieder nichts andres [...] als Einsäen der Lebendigkeit ins Lebendige« (SE 410), Beseelung der Schöpfung. In der Nächstenliebe setzt sich das »Reich Gottes [...] durch in der Welt, indem es die Welt durchsetzt« (SE 266).

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schaute er ein Ideal und versuchte, dieses umzusetzen und der Welt einzuhämmern - den »Übermenschen«: Nietzsches subjektive, standpunktphilosophische Erfindung. Im Trotz seiner Absage an Gott war Nietzsche »Sünder«, in der Verfolgung eines absolut gesetzten Ziels war er »Schwärmer«, ein »Heiliger« konnte er nicht werden. Der »Schwärmer« steht in Rosenzweigs Konzeption zwischen Offenbarung und Erlösung. Sein Ort im Stern ist die Einleitung zum dritten Teil. Der Schwärmer hat - über die passive Hingabe des Mystikers hinaus - die Rückkehr zum Ich und zur Welt vollzogen, er hat die Liebe Gottes - das ist das Entscheidende - ergänzt durch die Liebe zum Leben und zur Kreatur, arbeitet damit aktiv daran, die Welt mit Liebe zu durchdringen, sie zu »erlösen«. Doch wie das Gebot der Liebe Gottes mißverstanden werden kann, so kann auch das Gebot »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« (Lev. 19,18), das jenes erste Liebesgebot ergänzt, falsch ausgelegt werden. In der Offenbarung des Wohin und Wozu, das die Erlösung ausmacht, liegt die Versuchung, das Reich Gottes vorzeitig und mit menschlichen, falschen Mitteln verwirklichen zu wollen. Dem Schwärmer verwandelt sich die absichts- und richtungslose Liebestat der Nächstenliebe in eine des Zwecks, die um des geschauten Fernziels willen nicht nur das Nächste übersieht, sondern es als lästiges Hindernis begreift, das dem Erreichen des Geschauten im Wege steht. Im Versuch, seine Vision zu verwirklichen, vergißt und negiert der Schwärmer das Nächste um des Übernächsten willen. Er verwandelt die Nächsten- in die Fernstenliebe und kann, wie Nietzsche im Zarathustra, dahin gelangen, allem und allen, die seinem Ziel entgegenstehen, die Existenzberechtigung überhaupt abzusprechen (vgl. SE 297ff). Gegen den Schwärmer und seinen Abkömmling, den Revolutionär, steht das Motto des dritten Teils des Stern der Erlösung: »in tyrannos!« (SE 295) Es ist Rosenzweigs Versuch der Eindämmung der messianistischen Tendenzen, das Himmelreich vor der Zeit zu verwirklichen, die in falscher Schlußfolgerung aus der im Stern zugelassenen Möglichkeit und Notwendigkeit der Vorwegnahme der Erlösung gezogen werden könnten. 26 Der Stern der Erlösung beschreibt vier große Möglichkeiten, wie »Erlösung«, wie das »Kommen des Himmelreichs« (SE 306) verzögert, ja aufgehalten werden kann: Sündertum, Mystik, Fortschrittsdenken, Schwärmerei. Nur zwei davon wertet Rosenzweig als ganz negativ: »Mystik« und »Fortschrittsdenken«. Jene, weil ihre Verhältnis zur Welt »grundunsittlich« (SE 232), dieses, weil im Gedanken einer unendlichen Reihe von Zeitaltern der »Gedanke der Zukunft in der Wurzel vergiftet ist« (SE 252). Dem Mystiker setzt Rosenzweig den Sünder entgegen, dem Fortschrittsdenker den Schwärmer und Revolutionär - Gestalten, die für die schließliche Erlösung notwendig sind - und nur dann und insofern böse und verderblich, wenn sie sich der Umkehr ver26

Die wahre Vorwegnahme< der Erlösung kann ich hier nicht klären (vgl. vor allem SE 26Iff.), angedeutet habe ist sie in den Ausführungen zum Heiligen und zur Nächstenliebe.

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schließen, auf ihrem Trotz und in ihrer subjektivistischen Vision beharren. So wie jeder Mensch einmal Sünder sein, der Immanenz und Zeitlichkeit verfallen sein muß, damit er den Ruf vernehmen kann ohne sich in mystisch-ichloser Hingabe aufzulösen, so muß auch jeder eine Vision von Zukunft haben und versuchen wollen, diese vor der Zeit zu verwirklichen. Es ist gradezu das Schiboleth, an dem man den Gläubigen des Reichs [...] von dem echten Fortschrittsanbeter unterscheiden kann: ob er sich gegen die Aussicht und Pflicht der Vorwegnahme des »Zieles« im nächsten Augenblick nicht zur Wehr setzt. Ohne diese Vorwegnahme und den inneren Zwang dazu, ohne das »Herbeiführenwollen des Messias vor seiner Zeit« und die Versuchung, das »Himmelreich zu vergewaltigen«, ist die Zukunft keine Zukunft, sondern nur eine in unendliche Länge hingezogene, nach vorwärts projizierte Vergangenheit. (SE 253f.) Sünder und Schwärmer sind im Stern, jeweils in den Einleitungen, 27 personifiziert in Nietzsche. Sünder und Schwärmer werden beschworen, um ausgetrieben zu werden. Ist Nietzsche eine der Erscheinungen des »Antichrist«? Vieles deutet darauf hin. Doch zur genaueren Analyse müßte nun auf Rosenzweigs Geschichtsbild zurückgegangen werden, auf seine Ablehnung des Pazifismus, seinen Gedanken von einer möglichen Positiviät des Krieges 28 - kurz: müßte auf Rosenzweigs apokalyptischen Grundansatz eingegangen werden, darauf, daß der »Fortschritt der Welt [...] eine fortschreitende Scheidung« ist, in der »jedem Schritt im Reiche des Guten wie ein Schatten ein Schritt im Reiche des Bösen zugeordnet ist«. 29 Was Rosenzweig am Ende des zweiten Bandes von Hegel und der Staat über Karl Marx schreibt, trifft auch Nietzsche und bestimmt seine Stellung im Stern der Erlösung: 27

28

29

Den Stellenwert der »Einleitungen« beschreibt Steven S. Schwarzchild: »The Introductions to each of the three parts of The Star, which present a historical summary of the main subject to be dealt with in each part, crystallize the most striking element in each part, and constitute the transition from one part to the next; Rosenzweig himself described them as possessing a style of their ownTheaterLehranstalt für die Wissenschaft des JudentumsIdealistIdealisten< hielt: daß dem Denken, wenn es auszog, um >rein zu erzeugen^ nicht das Sein entgegentrat, sondern Nichts.« 41

Der ganze Text wird unten in Kapitel 2: »Der neue Begriff des Nichts«, eingehend kommentiert.

Hermann Cohen im Stern der Erlösung

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Cohen erscheint hier ausdrücklich nicht als typischer Vertreter derjenigen »idealistischen Philosophie«, deren Grundzüge Rosenzweig später ausführlich beschreibt (SE 149ff.). Diese Auffassung (etwa auch in der Behauptung, fur Cohen sei der »Zauberkreis« des Idealismus »undicht« geworden 42 ), ist eine für den Stern zentrale Prämisse. Die Distanz vom »idealistischen« Ansatz wird dabei keineswegs erst für Cohens späte Religionsphilosophie, sondern als Kerngedanke schon der Logik der reinen Erkenntnis festgestellt. Auch auf Cohens unbewußten Hegelianismus - ein, wie erwähnt, spätestens durch Hans Ehrenberg vertrautes Thema - kommt Rosenzweig wiederholt zu sprechen. In seiner »Einleitung« zu Cohens Jüdischen Schriften von 1924 spricht er vom »unbewußte[n,] und deshalb im Gegensatz zu all den schwächlichen Erneuerungsversuchen, die in den letzten Jahrzehnten auftauchten, wirklich geniale[n] Hegelianismus dieses Neukantianers« (Z 182). Cohen habe »dem Kantianismus [...] die Wendung zum System [gegeben], zum System der Kultur, wie es wiederum zuletzt Hegel errichtet hatte«: So geht er, als einziger unter den Zunftgenossen in diesen Jahrzehnten, den Weg zum System. Er geht ihn in bewußter Ablehnung und unbewußter Nachfolge der großen Denker, die zu Anfang des Jahrhunderts Kants Denken und Goethes Leben zu der Kulturmacht des deutschen Idealismus verschmolzen hatten, insbesondere Hegels, an den seine Gedanken immer wieder anklingen. 43

Diese Frage nach der Bedeutung des Systems fuhrt uns zur zweiten Erwähnung Hermann Cohens im Stern. (B) In der Einleitung zum Zweiten Teil - »in theologos!« - beschreibt Rosenzweig das Wechselverhältnis zwischen Cohens Systemphilosophie und dessen »Theologie« des eigenen »Glaubens« fast wie ein heiteres Spiel: (SE 114) »Der entschlossenste Systematiker unter den Philosophen des letzten Menschenalters nährt mit einem ganzen System die Flamme einer Theologie seines Glaubens, recht wie ein verliebter Tor Sonne, Mond und alle Sterne zum Zeitvertreib dem Liebchen in die Luft sprengt.« Später, in der »Einleitung« zu Cohens Jüdische Schriften, wird im Unterschied zu diesem heiteren Ton eher von einer letztlich ungelösten Spannung zwischen Cohens System und seiner späten Religionsphilosophie die Rede sein. 44 Im Stern dagegen stehen die vorteilhaften Aspekte dieser »Zusammenarbeit« im Vordergrund. Lassen wir den ironischen Unterton Rosenzweigs einmal unbeachtet. Dann kann man für jene Passagen im Zweiten Teil, wo es darum gehen 42 43 44

Aus Rosenzweigs »Einleitung« in die Jüdischen Schriften Cohens (Z 209). Ζ 181. Vgl. dazu unsere Bemerkungen über Hans Ehrenberg in der Einleitung. Vgl. Ζ 209: »Wohl hatte er in die Ethik die Gottesidee eingebaut, wie sie innerhalb des idealistischen Horizonts sichtbar wird. Aber um seinen Glauben ganz auszusagen, bedurfte er eines andern methodischen Mittels [...], als es ihm die idealistischen Grundbegriffe boten. Und hier entdeckte er die >Korfelation