Römisch-germanische Begegnung in der späten Republik und frühen Kaiserzeit 3598778457, 9783598778452

Essays from four decades on the German policy of the Romans are assembled here to give a general picture of the encounte

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German Pages 474 Year 2011

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Römisch-germanische Begegnung in der späten Republik und frühen Kaiserzeit
 3598778457, 9783598778452

Table of contents :
Frontmatter......Page 1
Inhalt......Page 5
Einleitung......Page 7
1. Ethnologische Begriffsbildung in der Antike......Page 23
2. Rom und die Barbaren des Nordens......Page 46
3. Kimberntradition und Kimbernmythos......Page 67
4. Wegeverhältnisse und römische Okkupation Germaniens......Page 118
5. Zur Geschichte der Rheingrenze zwischen Caesar und Drusus......Page 151
6. Drusus' Umkehr an der Elbe......Page 175
7. Zur Geschichte und Überlieferung der Okkupation Germaniens unter Augustus......Page 195
8. Neue Gedanken zur Arminius-Geschichte......Page 220
9. Der römische Verzicht auf die Okkupation Germaniens......Page 246
10. Römische Geostrategie im Germanien der Okkupationszeit......Page 269
11. Tacitus und der Bataveraufstand......Page 322
12. Der Suebenbegriff bei Tacitus......Page 362
13. Hausen und Häuser der Nordbarbaren in den Augen der mediterranen Kulturwelt......Page 404
14. Die Schlacht im Teutoburger Wald: Geschichte, Tradition, Mythos......Page 433
Register......Page 461

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Dieter Timpe Römisch-germanische Begegnung in der späten Republik und frühen Kaiserzeit

Beiträge zur Altertumskunde Herausgegeben von Michael Erler, Dorothee Gall, Ernst Heitsch, Ludwig Koenen, Reinhold Merkelbach, Clemens Zintzen Band 233

Κ · G · Saur München · Leipzig

Römisch-germanische Begegnung in der späten Republik und frühen Kaiserzeit Voraussetzungen — Konfrontationen — Wirkungen Gesammelte Studien Von Dieter Timpe

Κ · G · Saur München · Leipzig 2006

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2006 by Κ. G. Säur Verlag GmbH, München und Leipzig Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten. All Rights Strictly Reserved. Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlags ist unzulässig. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, 99947 Bad Langensalza ISBN 13:978-3-598-77845-2 ISBN 10:3-598-77845-7

Inhalt Einleitung

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Begreifen des Fremden und Begegnung mit dem Norden 1. Ethnologische Begriffsbildung in der Antike 2. Rom und die Barbaren des Nordens 3. Kimberntradition und Kimbernmythos

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Bedingungen des Handelns und Wege der Okkupationsgeschichte 4. Wegeverhältnisse und römische Okkupation Germaniens 114 5. Zur Geschichte der Rheingrenze zwischen Caesar und Drusus 147 6. Drusus' Umkehr an der Elbe 171 7. Zur Geschichte und Überlieferung der Okkupation Germaniens unter Augustus 191 8. Neue Gedanken zur Arminius-Geschichte 216 9. Der römische Verzicht auf die Okkupation Germaniens 242 10. Römische Geostrategie im Germanien der Okkupationszeit 265 11. Tacitus und der Bataveraufstand 318 Historische Erfahrung und literarische Tradition 12. Der Suebenbegriff bei Tacitus 13. Hausen und Häuser der Nordbarbaren in den Augen der mediterranen Kulturwelt 14. Die Schlacht im Teutoburger Wald: Geschichte, Tradition, Mythos

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Register

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Einleitung Eine unübersehbare wissenschaftliche Literatur handelt auf allen Höhenlagen und in den verschiedensten Interessensrichtungen von Akteuren, Vorgängen und Zuständen aus dem Bereich des germanischen Altertums. Sie sammelt und kombiniert Nachrichten über germanische Stämme als ethnisch-soziale Einheiten oder als geschichtliche Handlungsträger, sie beschreibt und ordnet die archäologisch fassbare Hinterlassenschaft, um Lebensformen und statistische Verhältnisse, kulturelle Prozesse und geschichtlich deutbare Veränderungen daraus zu erschliessen, oder sie sucht aus sprachlich-literarischen Zeugnissen religiös-kulturelle Anschauungen und indigene Überlieferungen heidnischer und christlicher Zeit zu erhellen. Dennoch ist eine Geschichte der Germanen in genauem Sinne des Wortes bisher nicht geschrieben, und dies nicht nur, weil es an zusammenhängenden Informationen darüber fehlt, sondern vor allem, weil ihr Gegenstand und ihr thematischer Zusammenhang aus vielen und komplizierten Gründen tiefsitzenden Missverständnissen ausgesetzt sind und auch da, wo diese als solche erkannt wurden, schwer zu bestimmen bleiben. Die Populationen Mittel- und Nordeuropas, das nördliche Barbaricum der mediterranen Kulturwelt, sprechen vor der Völkerwanderungszeit fast gar nicht, danach nur wenig mit eigener Zunge. Wir kennen sie zunächst nur aus den einseitigen Zeugnissen und Urteilen, den disparaten Erlebnissen und Erfahrungen römischer Gegner, Partner und Beobachter und dann aus dem immer breiter und aussagekräftiger werdenden Strom materieller Relikte und Befunde. Wo Germanen später selber in gedanklicher Reflexion oder politischem Handeln eigenes Wollen und Verständnis ihrer geschichtlichen Lage zu erkennen geben, sind sie darin - neben ihrem Stammesbewusssein - mehr als durch alles andere vom schicksalhaften Verhältnis zur imperialen Kultur und Staatlichkeit geleitet und ohne dieses gar nicht denkbar. Eine ferne Nachwelt, die sich - vornehmlich dank und seit der humanistischen Rezeption der antiken Literatur - als Erbin der alten Germania betrachtete und sich trotz aller Umbrüche und Schwierigkeiten ihrer räumlichen, ethnischen und sprachlichen Kontinuität mit ihr zu

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Einleitung

vergewisssern suchte, deutete dann die literarisch vermittelte germanische Antike als Grundlage der eigenen geschichtlichen Formation, als Frühstufe einer bei allem Wandel doch auch von Dauer geprägten geschichtlichen Entwicklung. Die archäologische Erforschung der stummen materiellen Zeugnisse und Relikte fügte ihre Ergebnisse ganz überwiegend diesem Verständnis ein. - Die Medien, durch die Germanisches als geschichtlicher Gegenstand erfasst wird, sind also auf der einen Seite die römische Sicht der nordbarbarischen Aussenwelt mit den begrifflichen Instrumenten der antiken Ethnologie und auf der anderen die Kategorien moderner ethnischer Identitätsvorstellungen. Man kann den antiken Germanenbegriff kaum beurteilen, ohne dabei seine neuzeitlichen Derivate und Interpretationen kritisch zu bedenken, und gewiss den modernen nicht verstehen ohne seine antiken Voraussetzungen. Die Etymologie des Germanennamens ist umstritten, aber führt wahrscheinlich auf die aus eigensprachlicher Wurzel zu erklärende Selbstbezeichnung eines kleineren germanischen Ethnos1. Die verallgemeinernde Benennung aller rechtsrheinischen Stämme als Germanen geht zweifellos erst auf Caesar zurück; der Germanenname in dieser weiteren Bedeutung ist also insoweit - und ganz unabhängig von seiner Etymologie und ursprünglichen Bedeutung - auch und überwiegend eine Fremdbezeichnung (und dies sicherlich geblieben). Vor allem stellt er aber damit das Ergebnis einer terminologischen Klassifizierung dar, wie sie dem antiken ethnologischen Ordnungsdenken entsprach, das neu erkannte Stammespopulationen einem weiteren Sammel- oder Oberbegriff (wie Kelten, Skythen, Thraker, Libyer usw.) unterzuordnen suchte. Eine solche klassifikatorische Operation konnte gute Gründe (empirisch festgestellte gemeinsame Charakteristika) oder schlechte (etwa: spekulative Verallgemeinerung oder Zuschreibung aus tendenziöser Absicht) haben, sie konnte durch Exklusion von aussen oder Zusammengehörigkeitsbewusstsein von innen begünstigt werden, jedenfalls verbanden sich in ihr notwendigerweise dezisionistisches Urteil mit ethnographischer Empirie. Erkennbare Gemeinsamkeiten in Herkunft, körperlichem Habitus und Institutionen, Lebensform und Existenzgrundlage, Sprache und Bewusstsein, Kultur 1

G.Neumann, RGA 11,1998, 259ff. s.v. Germanen, Germania, Germ. Altertumskunde § 10 (Studienausgabe S.79ff.).

Einleitung

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und Religion galten der antiken Ethnographie als inhaltliche Kriterien solcher Begriffsbildung, ohne dass doch eines davon (etwa Abstammung oder Sprache) als zwingend notwendig und entscheidend hätte gelten oder systembedingte Priorität hätte beanspruchen können. Der römische Germanenbegriff registriert also nicht nur schlichtweg die ethnographische Erfahrung; er fasst nicht lediglich die wachsende Anschauung des Nordens terminologisch zusammen, schon deshalb nicht, weil über die Extension und Grenzen der damit umschriebenen Gruppe von gentes nach Norden und Osten - zumindest anfangs - nur unsichere Vermutungen bestehen konnten; er beruht deshalb aber auch nicht auf willkürlicher Erfindung2, wenngleich seine Entstehung und Entwicklung nicht ganz sicher zu erklären sind. Diese Begriffsbildung erklärte die mittel- und nordeuropäischen Stammesgruppen trotz ihrer bekannten internen Unterschiede und trotz ihrer unbestimmten Grenzen zu einer relativen ethnischen Einheit analog (und zwischen) den Kelten und sarmatischen Skythen, sie sprach ihnen damit einen gewissen Grad kollektiver Individualität mit unverwechselbaren Zügen zu. Als ein solches Gross-Ethnos konnten 'die Germanen' nun mit den Maßstäben der antiken Zonen- und Kulturentwicklungstheorie beurteilt und mit den ethnographischen Methoden der Sammlung, Analyse und Vergleichung von Namen, Sprache, Habitus, mores oder or/go-Überlieferungen untersucht werden; die caesarischen Exkurse und die taciteische Germania bezeugen dieses Verfahren. Der damit gewonnene Erkenntnisstand erlaubte aber auch, ältere ethnische Phänomene mitteleuropäischer Herkunft (wie das Auftreten der Kimbern) nachträglich als 'germanisch' zu klassifizieren und andererseits der aktuellen politischen und militärischen Erfahrung in diesem Raum mit einem gewissen, aus den inhaltlichen Merkmalen des Germanenbegriffes abgeleiteten Vorverständnis zu begegnen. Diese konzeptionelle Grundlage setzen alle jene Urteile der römischen Kaiserzeit voraus, die 'den Germanen' typische Eigenschaften und charakteristische Verhaltensweisen, eine generelle geschichtli-

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So am schroffsten A.A.Lund, Die ersten Germanen. 1998 (dazu z.B. H.Ament, Germania 78, 2000, 530f.); vgl. G.Dobesch, Die Ausbreitung des Germanennamens, in: Pro Arte Antiqua (Fschr. H.Kenner). 1983, 77ff.; D.Timpe, RGA 11 (wie Anm.l), 182ff. (Studienausgabe S.2ff.); W.Pohl, Die Germanen (Enzyklopädie deutscher Gesch. 57). 2000, 5Iff.

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Einleitung

che Rolle und namentlich potentielle Gefährlichkeit als römischen Antagonisten zuschreiben. Caesar und Tacitus galten aber nun seit dem europäischen Humanismus nicht als Vertreter ethnographischer Theorien, sondern als Entdecker und Schilderer ethnischer Tatsachen und Übermittler echter Namen. Der durch ihre Autorität gedeckte Germanenbegriff wurde darum nicht in Frage gestellt, vielmehr als zweifellos sachgerecht anerkannt, und konnte so zur wichtigsten Voraussetzung des modernen werden. Er lag der (nur von Skandinaviern nicht geteilten) Überzeugung eines wirkungsmächtigen ethnischen Zusammenhanges der Germania und bewusstseinsprägender Zusammengehörigkeit ihrer Bevölkerung zugrunde; er stützte nicht zuletzt die Vorstellung einer bleibenden, geschichtlich konstitutiven romanisch-germanischen Polarität und regte die Konzeption analoger ethnischer Grosseinheiten an (vor allem die der - in der Antike nicht als solcher bezeugten - Slawen). Diese Anschauungen wurden duch die romantische Individualitätsidee vertieft, die auch ethnischen Kollektiven, Völkern und Stämmen, einen sich vornehmlich in ihrer Sprache, aber auch in kulturellen Gestaltungen oder geschichtlichem Verhalten äussernden geistigen Wesenskern, eine lebendig wandelbare, aber doch konstante charakterliche Prägung ('Volksgeist') zuschrieb. Die historische, philologische, volkskundliche und archäologische Forschung des 19. und frühen 20. Jh. bewegte sich in dem durch solche Anschauungen umgrenzten hermeneutischen Horizont oder liess wenigstens ihre Ergebnisse unter derartigen Gesichtspunkten ordnen und vergleichen. Jene wissenschaftlichen Disziplinen fragten deshalb gleichermassen nach Ursprung und Herkunft, Einheit und Entfaltung, Identität und Bewusstheit der ethnischen Individualität der Germanen. Die Neigung, Lebensäusserungen in Sprache, Sitte, Recht, Religion oder materieller Kultur als Ausdrucksphänomene eines ethnischen Organismus anzusehen und aus Sachgütern, Sprachzeugnissen oder auch spätbezeugten Sitten und Rechtsbräuchen auf ethnische Identität und das Bewusstsein davon zu schliessen, liegt der ethnischen Deutung archäologischer Fundkomplexe und germanischer Sprachgemeinschaften zugrunde. Die nachgewiesene oder angenommene Bevölkerungskonstanz in Mitteleuropa hat in Verbindung mit der postulierten Übereinstimmung von Sprachgemeinschaft, Sachkultur und Trägerschaft geschichtlicher Identität zu der ahistorischen Vorstellung einer in Bronzezeit und

Einleitung

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Neolithikum zurückreichenden germanischen Kontinuität und der Konsequenz aggressiver politischer Ansprüche auf Menschen oder Territorien gefuhrt. Doch ist solchen Folgerungen schliesslich auch von den Einzelwissenschaften aus der Boden entzogen worden. Beim Fehlen einer normierten Gemeinsprache (wie den modernen, nationalstaatlichen Hochsprachen) muss das Gebiet der germanischen Sprachgemeinschaften ursprünglich als Dialektkontinuum mit nicht bestimmbaren, aber vermutlich fliessenden Übergängen nach Westen und Süden, zum keltischen oder vielleicht einem eigenständigen Zwischenbereich, und nach Osten, zum baltischen Sprachgebiet hin aufgefasst werden, in dem jedoch gegenseitige Verstehbarkeit aller Sprachgenossen nicht vorauszusetzen ist. Ab- und Zuwanderungen können ausserdem Binnensprachgrenzen erzeugt, aber auch die Ausbildung sekundärer Kontinua nach sich gezogen, Überschichtungen und Assimilationsvorgänge können sprachliche Veränderungen ausgelöst oder auch schichtenspezifische überregionale Sprachräume ermöglicht haben3. Die Angehörigen all dieser Sprachgemeinschaften 'Germanen', ihre Sprachen 'germanisch' zu nennen und diese als Dialekte oder Ausgliederungen einer germanischen Grundsprache aufzufassen, ist eine sprachwissenschaftliche Konvention, die sachlich zwar nicht unbegründet ist, sich aber eines der historischen Überlieferung entnommenen Namens bedient und so ihren Konstruktionscharakter verdeckt. Über die Ausdehnung, zeitliche Entwicklung und innere Gliederung dieses Sprachraumes besteht wenig Klarheit; dass im norddeutschen Flachland, in Dänemark und Südskandinavien germanisch zu nennende Dialekte gesprochen wurden, ist aber wegen der in historischer Zeit hier nachweisbaren sprachlichen Verhältnisse und der bis dahin reichenden Bevölkerungskontinuität nicht zweifelhaft. Ein alle ihre Angehörigen verbindendes Identitätsbewusstsein oder gar der Charakter eines 'Volkes' kann den Stämmen und Stammesgruppen dieses Raumes deshalb freilich nicht zugesprochen werden. Das Ensemble der erhaltenen oder rekonstruierbaren materiellen Hinterlassenschaft durch sie erschlossener illiterater 'Kulturen', dasjenige Segment der vergangenen menschlichen Lebenswirklichkeit also, dem die prähistorische Archäologie Aussagen abzugewinnen sucht, hat vergleichbare methodische Überlegungen und Aporien her3

E.Seebold, RGA 11 (wie Anm.l), 259ff„ §§ 14-16 (Studienausgabe S.95ff.).

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Einleitung

ausgefordert. Denn auch die Gestaltung von Gebrauchsgut, auch Funeralbräuche, Siedlungsreste oder andere Relikte verweisen auf Lebensbedingungen und in begrenztem Maße auf Wesensart und Intentionen ihrer Urheber, verraten vielleicht einen unverwechselbaren Stil und können womöglich als Ausdruck eines kollektiven Bewusstseins gedeutet werden, besonders dann, wenn solche Objektivationen gemeinsame Züge aufweisen und sie sich darin markant von benachbarten anderen abheben. Dieser Sachverhalt, der in gewissem Grade unbestreitbar und als Arbeitshypothese auch unverzichtbar ist, liegt dem bekannten Kossinna'sehen Dogma der ethnischen Deutbarkeit klar umgrenzter archäologischer Fundkomplexe ('Kulturen') zugrunde. Berechtigtem Widerspruch begegnen dabei der substantialistische Kulturbegriff, die Gleichsetzung von Fundgruppen mit Sprachgemeinschaften und beider mit - günstigenfalls historisch bezeugten - ethnischen Einheiten, der Schluss von Bevölkerungskonstanz oder Einheitlichkeit eines Fundspektrums auf gleichbleibende ethnische Identität sowie nicht zuletzt die Verkennung von Wandlungen einer zivilisatorischen Fazies, die nicht durch ethnische Veränderungen verursacht sind 4 . Diese methodischen Probleme verdeutlicht in besonderem Maße die folgenreiche Interpretation der Brandgräbergruppen der eisenzeitlichen Jastorf-Kultur5 im Unterelberaum und benachbarten Gebieten Schleswig-Holsteins, Niedersachsens, Mecklenburgs und der Mark Brandenburg. Diese 'Fundprovinz' ist als Kernraum der Germanen und Ausgangsbereich der germanischen Ethnogenese gedeutet worden, weil in ihrem Gebiet zweifellos germanische Dialekte gesprochen wurden, die Besiedlung hier kontinuierlich in die Zeit der römischen Okkupation hineinreicht und deshalb mit den historisch bezeugten Namen germanischer (genauer gesagt: suebischer) Stämme dieser Region verknüpft werden kann. Durch die weitgehende Deckung von 4

E.Wahle, Zur ethnischen Deutung frühgeschichtlicher Kulturprovinzen. 1941; H.J.Eggers, Einf. in die Vorgeschichte. 1959; G.Smolla, G.Kossinna nach 50 Jahren. Kein Nachruf, Acta Praehist. et Arch. 16/17,1984/85, 9ff.; R.Hachmann (Hsg.), Studien z. KulturbegrifF i. d. Vor- u. Frühgeschichtsforschung. 1987; R.Müller, RGA 11 (wie Anm.l), 309ff., § 20 (Studienausgabe S.129ff.). 5

Zum Begriff s. W.Künnemann, Jastorf - Geschichte und Inhalt eines archäologischen Kulturbegriffs, Die Kunde N.F. 46,1995, 6Iff.; R.Müller, RGA 16,2000, 43ff. s.v. Jastorf-Kultur.

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Sprache, Sachgutbestand und historisch dokumentierter Ethnität schien die Jastorf-Kultur die Möglichkeit der ethnischen Deutung eines archäologischen Fundkomplexes zu bewähren. Aber erhebliche interne Differenzierung dieses Formenkreises und schwer deutbare Übergangszonen an seinen Rändern, vor allem die Erkenntnis, dass der Charakter der Jastorf-Kultur durch kulturelle, nicht ethnogonische Prozesse bestimmt wurde (nämlich durch die eigenständige Entwicklung der hier autochthonen Bevölkerung in den Jahrhunderten v.Chr. oder - gerade umgekehrt - deren Beeinflussung durch die Latene-Zivilisation), sprechen auch hier gegen die ethnische Deutung dieser archäologisch definierten Region. Damit verbindet sich das Sonderproblem der Geltung des Germanen- (und des Sueben-)«a/wem·: Die Stämme des unteren und mittleren Elbegebietes sind zwar - neben vielen anderen! - den Germanen im Sinne des römischen Begriffs zuzurechnen, aber sie selbst verstanden sich als solche sicherlich nicht. Weder der (römische) Germanenname, noch die Zugehörigkeit zur germanischen Sprachenfamilie, noch die Sachkultur von Populationen, die zu den römischerseits 'germanisch' genannten Stämmen gehörten, erweisen ihre Angehörigen als Träger einer (womöglich gar in prähistorische Zeiten zurückreichenden) ethnischen Identität6. Mit Recht ist deshalb die vorgängige ethnische (auf natürlichen Kriterien und Zusammengehörigkeitsbewusstsein beruhende) Einheit der als Germanen bezeichneten mittel- und nordeuropäischen Stämme bestritten worden, jene axiomatische Annahme, die auf die erwähnte antike Vorstellung zurückgeht, dass die Völkerwelt durch Grossgruppen strukturiert werde, zu denen im alten Norden die Skythen, Kelten und, analog zu ihnen, dann auch die Germanen gerechnet wurden. Im Germanennamen ist jedoch eher eine summarische Ordnungskategorie, ein Sammelname aus der Perspektive der hochkulturellen Welt zu sehen als eine naturhaft vorgegebene, reale und konstante, ihrer selbst bewusste ethnische Übereinheit. Wenn ethnische Organisation verstanden werden darf als institutionell verfestigte, ständige Interaktion

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Jahrb.f.internat.Germanistik 7,1975. 13,1981 (thematische Aufsatzsammlungen zu diesem Problem); R.Wenskus, Über die Möglichkeit eines allgemeinen interdisziplinären Germanenbegriffs, in: H.Beck (Hsg.), Germanenprobleme in heut. Sicht. 1986 (RGA, Erg.bd.l), Iff.; D.Timpe, RGA 11 (wie Anm.l) 182ff. (Studienausgabe S.2ff.); W.Pohl, Die Germanen (wie Anm.2), 45ff.

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einer sich exklusive Identität und Eigennamen zuschreibenden, in einem bestimmbaren Raum konstant existierenden Menschengruppe, dann ging sie im nördlichen Barbaricum über die Ebene der Stämme nicht hinaus. Das schliesst physische, sprachliche und kulturelle Verwandtschaft zwischen diesen Populationen, übergreifende Lebensformen und gleichartige Bedürfnisbefriedigung nicht aus, aber erlaubt nicht, von einem einheitlichen Ethnos ('Volk') der Germanen zu sprechen. Die Frage ist nur, wodurch sich die weitreichende Akzeptanz der römischen Namengebung erklärt, wenn sie nicht als willkürlich anzusehen ist. In Caesars Begriffsbildung mag zunächst politische Tendenz eine Rolle gespielt haben, ihre Durchsetzung im römischen Bereich muss aber auch als Wirkung eines im Gange befindlichen Integrationsprozesses betrachtet werden, der diejenigen peripheren Stämme und Stammesgruppen erfasste, die zu der höher zivilisierten Nachbargesellschaft in eine symbiotische Beziehung traten. Was diese instabilen ethnischen Kleingruppen veränderte und der Aussenwelt auffällig werden Hess: soziale Differenzierung, überregionale wirtschaftliche Beziehungen oder - vor allem - Mobilisierung (Wanderung, weitreichende militärische Aktivitäten und Bündnisse, Aufspaltungen, Integration von Nachbarn), war direkt oder indirekt die Folge solcher friedlichen oder unfriedlichen, spontanen oder regelhaften Kontakte. Und was in römischen Augen die Kelten, später dann in keltischen und römischen Augen die Germanen als relativ einheitliche Grösse ethnographisch zu klassifizieren erlaubte, waren die - trotz grosser Differenzen und einem weiter nach aussen weisenden Gefälle - doch typischen sozialen, kulturellen und mentalen Erscheinungsformen in der barbarischen Peripherie, die sich aus dem ungleichen, aber wechselseitigen Verhältnis einer Randsphäre zur zivilisierteren Binnenwelt der Beobachter ergaben. In der typisierenden Perspektive historischer Komparatistik steht dieses Phänomen auch nicht allein; es kann strukturell zum Beispiel mit der Beziehung der mesopotamischen Zivilisation zu ihrem aramäischen oder der chinesischen zu ihrem mongolischen Barbaricum verglichen werden. Damit wird eine Konzeption von germanischer Geschichte möglich, die frei ist von einem inadaequaten volksgeschichtlichen Vorverständnis, ohne sich doch auf die Addition stammesgeschichtlicher Nachrichten und kulturgeschichtlicher Daten zu beschränken. Den the-

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matischen Zusammenhang germanischer Geschichte konstituiert nicht das geschichtliche Leben eines germanischen Volkssubjekts, sondern die wechselvolle, symbiotische Beziehung zwischen mittel- und nordeuropäischen Stämmen und zunächst der keltischen Gesellschaft, dann dem römischen Imperium. - Germanische Geschichte beginnt damit, dass die Ausstrahlung der Latene-Kultur vor dem weiten keltischen Bogen in Mitteleuropa ein Vorfeld entstehen Hess, das durch - räumlich und sozial unterschiedliche - kulturelle und materielle Beeinflussung der barbarischen Nachbarn und umgekehrt durch deren friedliche oder räuberische Partizipation an den begehrten Zivilisationsgütern gekennzeichnet war. Handel, Raubkrieg oder Solddienst, diplomatische Geschenke und Subsidienzahlungen Hessen Sachgüterimporte und Kulturtechniken in die Peripherie einströmen, die dort die wirtschaftliche und soziale Differenzierung forderten. Die Anzapfung der barbarischen Randzone als Reservoir für Sklaven und Hilfstruppen, die Indienstnahme von Söldnerführer-Häuptlingen und die damit verbundene Interessenverflechtung intensivierten und verstetigten die Beziehungen, wenn auch nach Fom und Umfang ganz verschieden. Die dadurch zunehmende Dynamisierung der Stammeswelt und die sprunghaft gesteigerten Machtchancen ihrer duces verstärkten die allgemeine Militanz und Mobilität innerhalb der germanischen Peripherie und stimulierten Massenauszüge, Wanderlawinen und Landnahmeunternehmungen. Aber gleichzeitig drang das aggressiv expandierende römische Imperium in die keltische Sphäre ein und verleibte sie sich schliesslich fast völlig ein. Die römische Hegemonial- und Eroberungspolitik löste dadurch seit dem Ende des 2. Jh.s v.Chr. auch die Konfrontationen mit germanischen Verbündeten gallischer Gegner oder germanischen Gegnern gallischer Verbündeter aus. Caesar unterband schliesslich im Interesse der provinzialen Befriedung seiner gallischen Eroberung die Verflechtungen zwischen der keltischen Welt und ihrem germanischen Vorfeld und begründete vor neuen und festeren, obwohl zunächst noch unsicheren römischen Grenzen eine grundsätzlich vergleichbare, wenn auch anders organisierte germanische Kontaktzone des Imperiums. Es ist deshalb ein bedenkenswerter Vorschlag, Kelten und Germanen nicht als parallele und synchrone, stabile ethnische Grössen aufzufassen, sondern die Germanen als Erben und Nachfolger der

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Einleitung