Konsum und Politik in der Weimarer Republik 9783666357152, 9783647357157, 9783525357156

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Konsum und Politik in der Weimarer Republik
 9783666357152, 9783647357157, 9783525357156

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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 5109160-9783525357156 — ISBN E-Book: 978-3-647-35715-7

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Helmut Berding, Dieter Gosewinkel, Jürgen Kocka, Paul Nolte, Hans-Peter Ullmann, Hans-Ulrich Wehler Band 196

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 5109160-9783525357156 — ISBN E-Book: 978-3-647-35715-7

Claudius Torp

Konsum und Politik in der Weimarer Republik

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 5109160-9783525357156 — ISBN E-Book: 978-3-647-35715-7

Mit 5 Abbildungen und 7 Tabellen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-35715-6 ISBN 978-3-647-35715-7 (E-Book) Gedruckt mit Hilfe der FAZIT-Stiftung sowie des Sonderforschungsbereiches 584 »Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte« der Universität Bielefeld. Umschlagabbildung: Käuferschlange vor Lebensmittelgeschäft »Butter-Handlung« der Gebrüder Groh, Hoflieferanten, im Jahre 1923 © Bundesarchiv Bild 146-1971-109-42 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen Druck und Bindung: w Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung: Perspektiven einer politischen Konsumgeschichte der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Konsum zwischen Erfahrung und Erwartung . . . . . . . . . . . . . . 1. Entwicklung der Realeinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Struktur des privaten Verbrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Erfahrung des Mangels – Erwartung des Wohlstands . . . . . . . .



27 27 38 65

II. Die Konsumvereine und der Kampf um den politischen Konsumenten 1. Das Projekt der Konsumvereinsbewegung . . . . . . . . . . . . . . 2. Das genossenschaftliche Konsumentenbewusstsein . . . . . . . . . 3. Die Frage der öffentlichen Vertretung der Verbraucherinteressen .

99 99 121 139

III. Konsumpolitik demokratisch: Die Rechte der Verbraucher . . . . . . 1. Die mittlere Linie zwischen Produktionspolitik und Verbraucherschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Weimars Versprechen – zur Konstruktion des Existenzminimums 3. Leistungen und Grenzen konsumpolitischer Intervention: Kommunale Daseinsvorsorge und Preispolitik . . . . . . . . . . . .

165 169 194 214

IV. Konsumpolitik paternalistisch: Die Pflichten der Verbraucher . . . . 245 1. Der Kampf gegen Alkohol und »Schlemmerei« . . . . . . . . . . . . 249 2. Phantasiekontrolle: Der schwierige Umgang mit der Massenkultur 269 3. Kredite und Geschenke: Herausforderung der bürgerlichen Kaufmoral . . . . . . . . . . . . 292 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 5

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Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen

Abb. 1: Arbeiter als Zielgruppe: Werbeschrift des Reichsverbandes deutscher Konsumvereine, 1926 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Abb. 2: Frauen als Zielgruppe: Titelblatt einer Genossenschaftszeitschrift, 1925 . . . . . . . . . 125 Abb. 3: Konsum als Verpflichtung: Reklame für die Zigarren der Genossenschaftsmarke . . . . . . 138 Abb. 4: Wohnungen für das Existenzminimum: Ausstellungsentwürfe 1929 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Abb. 5: Wunschziel Berlin: Werbung des Ausstellungs-, Messeund Fremdenverkehrsamtes der Stadt Berlin . . . . . . . . . . . . 275 Tab. 1: Die absolute Entwicklung des privaten Verbrauchs, 1875–1932 .

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Tab. 2: Anteile der Bedarfsgruppen am privaten Verbrauch, 1899–1933

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Tab. 3: Der private Verbrauch nach Einkommenshöhe und Berufsstellung, 1927/28 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Tab. 4: Partizipation an modernen Konsumformen nach Einkommenshöhe und Berufsstellung, 1927/28 . . . . . . .

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Tab. 5: Die Zusammensetzung des Vorläufigen Reichswirtschaftsrats . 158 Tab. 6: Kommunale Leistungsentwicklung in deutschen Großstädten bis zur Weltwirtschaftskrise, 1924–1930 . . . . . . . . . . . . . . 222 Tab. 7: Kreditvergabe im Einzelhandel 1930 . . . . . . . . . . . . . . . . 303

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Vorwort In den »Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik« erschien 1923 ein Beitrag über das »Existenzminimum des geistigen Arbeiters«. Ich habe über die Jahre, in denen das vorliegende Buch entstanden ist, einige Gelegenheit zu Selbststudien auf diesem Feld gehabt und bin auf einem zwischen asketeria und Cafeteria schwankenden Weg glücklich ins Ziel gelangt. Dank der großzügigen Förderung an der Universität Bielefeld durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, dem European University Institute in Florenz und nun der Universität Kassel hatte ich freilich den Vorteil, weit großzügiger mit mir selbst sein zu können, als es dem inflationsgeschädigten Akademiker der Weimarer Zeit möglich gewesen wäre. Ob das relative Wohlleben für den Fortgang der Arbeit förderlich war, soll hier unerörtert bleiben; festhalten möchte ich aber, was sich jenseits aller Überflüssigkeiten als unverzichtbar herausgestellt hat: Das soziale und intellektuelle Umfeld, das ich an den genannten Orten genießen durfte, war für das Zustandekommen dieser Studie eine konstante Notwendigkeit  – und ein Luxus zugleich. Mein Dank richtet sich vor allem an meinen Doktorvater Heinz-Gerhard Haupt. Er hat diese Arbeit, deren ursprüngliche Fassung im November 2009 an der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen wurde, ebenso engagiert wie kritisch begleitet und mir Unterstützung geboten, wo es nur ging. Er hat mich nicht nur für die Konsumgeschichte begeistert und mir gezeigt, wie man ein gutes Seminar unterrichtet; auch das nötige Verständnis für die Mühen der Ebene fand ich bei ihm. Aus dem großen Kreis der Bielefelder Kollegen möchte ich zunächst Thomas Welskopp danken für die intensive Auseinandersetzung mit meiner Arbeit, die in seinem Zweitgutachten dokumentiert ist. Willibald Steinmetz war als Sprecher des Sonderforschungsbereichs »Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte«, in dessen Rahmen diese Studie entstand, eine zuverlässige Quelle von Anregung und Kommentar. Auch der Diskussionslust und den Ermutigungen von Pascal Eitler, Sandra Maß, Vera Simon und zahlreichen anderen Mitstreitern habe ich viel zu verdanken. Von den ersten Ideen bis zum fertigen Manuskript hat das Buch enorm davon profitiert, dass ich Gelegenheit bekam, darüber mit einigen exzellenten Vertretern ihres Faches auf Tagungen, in Kolloquien oder ganz informell zu streiten. Für diese große Chance danke ich Hartmut Berghoff, Ute Frevert, Wolfgang Hardtwig, Harold James, Ina Merkel, Paul Nolte, Christoph Nonn, Frank Trentmann und schließlich Winfried Speitkamp, der mir zudem die Möglichkeit eröffnet hat, an der Universität Kassel in Lehre und Forschung neue Wege zu gehen. Ihre Neugier und ihr Urteil sind Musterbeispiele geisteswissenschaftlicher 9

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Kultur. Ein besonderer Dank geht an die Herausgeber der »Kritischen Studien«, die das Manuskript so aufmerksam gelesen und in die Reihe aufgenommen haben. Schon zuvor hat Hans-Ulrich Wehler die Studie mit bemerkenswertem Vertrauen und Einsatz gefördert. Wenn ich es einmal vergaß, konnte ich durch ihn lernen, warum es sich lohnt, Historiker zu sein. Der Bielefelder Sonderforschungsbereich und die FAZIT-Stiftung haben schließlich durch ihre Zuschüsse die Drucklegung ermöglicht. Daniel Sander war dann im Verlag der zuverlässige und unkom­plizierte Partner, den sich jeder Autor wünscht, und Iris Törmer hat mir bei der Korrektur des Manuskripts erneut sehr geholfen. Zwischen den Zeilen dieses Buches steckt der segensreiche Einfluss meiner Freunde, die mich immer wieder von der Einsamkeit des Schreibtischs erlöst haben. Aus Löhne, Bielefeld und Baltimore danke ich daher Mirko Bursian, Boris Ender, Niki Gkouti, Susan Kerfien, Jana Klemm, Dietmar Lohmann, David Marshall, Mircea Radu, Andreas Scheding, Eliot Tretter und Tanja Zimenkova. Niemandem hat diese Studie schließlich mehr zu verdanken als Cornelius Torp, mit dem mich im Wissenschaftsbetrieb – stets zu meinem Vorteil – alle verwechselt haben. Als Historiker, Ratgeber und vor allem als Bruder war er immer da, wenn ich ihn brauchte. Unschätzbar. Von ebenso großer Bedeutung war die umfassende und liebevolle Unterstützung durch meine Mutter und meinen Vater, der den Abschluss dieser Arbeit leider nicht mehr erleben konnte. Aus meinem persönlichen »Existenzminimum« ist die Klugheit und Liebe von Anna Spiegel schon lange nicht mehr wegzudenken. Ihr ist dieses Buch gewidmet. Berlin, im November 2010

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Claudius Torp

Einleitung: Perspektiven einer politischen Konsumgeschichte der Weimarer Republik »Der Käufer ist der König der Wirtschaftsordnung; aber er ist ein Faulenzerkönig, der weder herrscht noch regiert.«1 Charles Gide

Dieses Buch verfolgt zwei verschiedene, aufeinander bezogene Ziele. Es möchte zum einen das Schicksal der Weimarer Republik aus der Perspektive der Konsumgeschichte beleuchten; zum anderen will es zeigen, dass die Konsumgesellschaft nur durch ihre Einbettung in politische Zusammenhänge zu verstehen ist. Deshalb wird der Versuch unternommen, eine breit angelegte, systematische Untersuchung über das Verhältnis von Konsum und Politik zwischen 1918 und 1933 durchzuführen. Dass eine solche Analyse bislang nicht existiert, liegt vermutlich daran, dass unser Verständnis von »Konsum« sich noch immer vor allem mit Wohlstandsphänomenen – materiellem Überfluss und Wahlfreiheit – verbindet, während das Bild der Weimarer Republik in den meisten historischen Deutungen durch ihre Krisenhaftigkeit bestimmt ist. Denkbar weit entfernt erscheinen die durch wirtschaftliche Stagnation, Versorgungsnöte und politische Grabenkämpfe geprägten Weimarer Verhältnisse von der blühenden Konsumlandschaft und dem funktionierenden politischen System der Bundesrepublik. Der Begriff des Konsums, der zur Beschreibung dieser Wohlstandsgesellschaft verwendet wurde – auch wenn das wie in den sechziger und siebziger Jahren meist in kritischer Absicht geschah  –, konnte schwerlich dort als Werkzeug der Analyse genutzt werden, wo Mangel und Entbehrungen zur Lebenswirklichkeit gehörten.2 Es ist an der Zeit, sich endgültig von einem wohlstandsfixierten Konsumverständnis zu lösen und den hohen Abstraktionsgrad offenzulegen, der den Begriff des Konsums in der Moderne auszeichnet und ihn für den Blick in weitere historische Tiefenschichten erschließt. Eine analoge Überlegung, die Marx anhand des Arbeitsbegriffs in den »Grundrissen der Kritik der politischen Öko1 Zit. n. Katscher, Käufermoral, S. 235. 2 Vgl. nur die für die bundesrepublikanische Konsumgeschichte grundlegende Studie von Michael Wildt, der den »Beginn« der Konsumgesellschaft in den späten fünfziger Jahren ver­ ortete (Wildt, Beginn, S. 255–270).

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nomie« anstellt, verdeutlicht, warum dies möglich und sinnvoll ist: Erst die abstrakte Kategorie der Arbeit, verstanden als »reichtumschaffende Tätigkeit«, die von allen Bindungen an konkrete Beschäftigungen, Trägergruppen und so­ ziale Räume gelöst ist, ermöglichte es, eine »für alle Gesellschaftsformen gültige Beziehung« zu erforschen. Zugleich beruhte die begriffliche Abstraktion auf einem realgeschichtlichen Fundament, nämlich auf der durch die Industrialisierung entstandenen kapitalistischen Produktionsweise, in der die Menschen nicht mehr aus traditionalen oder rechtlichen Gründen an eine bestimmte Arbeit gebunden sind und es relativ leicht ist, von einer Arbeit zur anderen zu wechseln.3 Ähnliches gilt für den Begriff des Konsums, der in der Moderne eine zunehmend universelle Bedeutung annahm, der zufolge schließlich jeder Konsument sein und alles konsumiert werden konnte. Auch für diese semantische Ausweitung sind gesellschaftliche Bedingungen die Voraussetzung, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts und besonders in der wilhelminischen Zeit herausgebildet haben: Die Selbstversorgung ging zurück, je weiter sich Urbanisierung und Lohnarbeit ausbreiteten. Der Distributionssektor florierte, und neue Formen des Einzelhandels wie das Warenhaus und der Versandhandel entstanden. Die medialen Katalysatoren des Konsums, Presse und Werbung, vervielfältigten sich, und mit ihnen erweiterte sich der Horizont der Konsummöglichkeiten.4 An einem vorläufigen Höhepunkt dieser Prozesse legte im Jahr 1914 der Ökonom Karl Oldenberg eine Definition von »Konsumtion« vor, die nicht nur zeigt, wie weit die konsumgesellschaftliche Entwicklung bereits gediehen war, sondern die auch noch heute anschlussfähig ist: Oldenberg verstand Konsum schlicht als »Befriedigung eines Bedarfs«, wobei einerseits sowohl gegenständliche Waren als auch Dienstleistungen seine Objekte sind, andererseits der Bedarf stets ein »subjektiv empfundener« ist, der daher auch hochgradig veränderlich sein kann und auf den alle gesellschaftlichen Kräfte einwirken.5 Im Mittelpunkt dieses Konsumbegriffs stehen demnach die Konsumenten und ihre Bedürfniswelt, die von der basalen Ernährung bis zum neuesten obskuren Objekt der Begierde reicht und sich je nach sozialem und historischem Kontext unter­ scheidet. Für die vorliegende Untersuchung ist zum einen der Konsum in seiner ganzen Breite handlungsleitend. Wenn auch eine Auswahl der besonders relevan3 Marx, Grundrisse, S. 38 f.: Marx argumentiert hier für den privilegierten Erkenntnisstandpunkt der industrialisierten Welt: Die abstraktesten Kategorien entstünden »überhaupt nur bei der reichsten konkreten Entwicklung«, setzten also historische Differenzierungsprozesse voraus, beanspruchten aber »Gültigkeit – eben wegen ihrer Abstraktion – für alle Epochen«. Vgl. ebd., S. 34–42. 4 Zur Genese konsumgesellschaftlicher Strukturen bis 1914 vgl. Haupt, Konsum, S. 29–116; Kleinschmidt, Konsumgesellschaft; König, Geschichte; Tenfelde, Konsummuster; Teuteberg, Durchbruch; Spiekermann, Basis; König, Konsumkultur; Maase, Vergnügen; Reinhardt, Reklame. 5 Vgl. Oldenberg, Konsumtion, S. 103–164, Zitat: S. 105.

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ten Konsumbereiche und damit verbundenen politischen Phänomene vorzunehmen war, erstreckt sich die Studie doch von der Brotversorgung und den Wohnverhältnissen über den Gaststättenbesuch bis hin zum Ratenkauf und dem Konsum von Werbegeschenken. Nur indem ein weites Spektrum von Erscheinungsformen des Konsums berücksichtigt wird, lässt sich die spezifische Gestalt der Weimarer Konsumgesellschaft erkennen. In dieser bestand ein besonderes Konfliktpotential gerade darin, dass die konsumgesellschaftlichen Bedingungen fortbestanden – die Abhängigkeit von der Fremdversorgung ob durch Markt oder Staat, die privatwirtschaftlichen Kräfte in Handel und Produktion, die massenkulturellen Konsumverstärker – und sich zum Teil sogar rasant weiterentwickelten, dass jedoch die Teilhabe breiter Schichten am Konsum durch die Störungen im gesamtwirtschaftlichen Wachstum gebremst wurde. Hinzu kam ein starker politischer Regulierungswille, der mit dem Ziel auftrat, die Gesellschaft vor den Dysfunktionalitäten des Marktes zu schützen, die sich auf allen Ebenen des Konsums zu manifestieren schienen: in der prekären Grundversorgung ebenso wie im verführerischen Luxus. Auch dieser Zusammenhang, der zwischen sozial- und kulturpolitischen Initiativen in der Weimarer Republik bestand, lässt sich nur von einem Standpunkt aus verstehen, der den Konsum als Ganzes und nicht nur einen seiner Teilbereiche in den Blick nimmt. Zum anderen bildet der Konsument6 als öffentliche Figur einen konsumhistorisch motivierten Schwerpunkt der Untersuchung. Nicht um die Innenansicht des Konsumsubjekts soll es gehen, schon weil dessen Erfahrungen mit der materiellen Kultur aus zeitlicher Distanz weit schwerer zugänglich sind als etwa aus der Nähe der Sozialanthropologie.7 Vielmehr wird die Figur des Konsumenten vorwiegend anhand politischer Zuschreibungen thematisiert, die in öffentlichen, in der Zivilgesellschaft sowie in staatlichen Institutionen geführten Debatten getroffen wurden. Die große Bedeutung, die dem politischen Diskurs für die Formierung der Konsumentenidentität beigemessen wird, verdankt sich dem Reflexionsstand der internationalen Konsumhistoriographie. Diese hat vor allem auf der Grundlage der englischen und amerikanischen Konsumgeschichte seit der Mitte des 19.  Jahrhunderts gezeigt, dass es keineswegs die relativen Wohlstandsphasen waren, in denen die Figur des Konsumenten besondere diskursive Prominenz erlangte. Weniger kommerzielle Strategien als vielmehr politische Konfliktfelder waren der fruchtbare Boden für eine wachsende Bezugnahme auf die Interessen »der Konsumenten«. Ob es sich um lokale Notlagen wie die Wasserversorgung im viktorianischen London handelte oder 6 Die männliche Form entspricht dem zeitgenössischen Diskurs eher als die weibliche, auch wenn oft – aber keineswegs immer – die Rechte und Pflichten der Frauen implizit oder explizit thematisiert wurden. Wo eine deutlich geschlechtsspezifische Identitätsbildung eine Rolle spielte, wurde dies in der vorliegenden Untersuchung selbstverständlich berücksichtigt. 7 Vgl. etwa die Arbeiten von Douglas u. Isherwood, World, sowie Miller, Comfort, die für den Historiker zwar höchst anregend, jedoch methodisch nur schwer adaptierbar sind.

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um nationale Fragen, wie sie durch die britische Freihandelsbewegung oder durch die Anerkennung der Verbraucherrechte im Progressivism und im New Deal aufgeworfen wurden, im Zentrum standen stets die Grundbedürfnisse und nicht der Wahlkonsum.8 Auch im Deutschen Kaiserreich, wo vor allem die Konsumgenossenschaften und die parteipolitische Auseinandersetzung um die Teuerungs­wellen die Stimme der Verbraucher hörbar werden ließen, verhielt es sich nicht anders. Im Ersten Weltkrieg war dann mit der Einrichtung der Kriegsausschüsse für Konsumenteninteressen ein institutioneller Durchbruch zu verzeichnen, der erkennen ließ, dass gerade unter den Bedingungen der Rationierungs- und Mangelwirtschaft die Berücksichtigung der Verbraucher­interessen an Dringlichkeit gewann.9 Die politische Subjektivierung der Konsumenten  – also den Prozess, der diese zu Subjekt und Objekt politischen Handelns werden ließ – in der Weimarer Republik zu entschlüsseln ist ein vielschichtiges Unterfangen: Dieses muss ausgehen von den konsumgesellschaftlichen Bedingungen wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Art, muss danach fragen, wer überhaupt zur Gruppe der Verbraucherschaft gezählt wurde – eine Frage, die man im Rahmen der poli­ tischen Neuordnung zu Beginn der Republik intensiv diskutierte –, und muss vor allem die Zuweisung von Rechten und Pflichten an die Konsumenten unter die Lupe nehmen. Das Begriffspaar der Rechte und Pflichten ist für die Untersuchung in der Tat fundamental: Hier ist die Vorstellung einer historischen Genese verschiedener Formen von citizenship  – rechtlichen, politischen und sozialen Inhaltes – grundlegend, die der Soziologe Thomas H. Marshall formuliert hat. An ihr hat sich die Forschung mit Gewinn (und einiger Verspätung) abgearbeitet, um einen besseren Zugang zum wandelbaren Verhältnis von Staat und Gesellschaft zu gewinnen. Es galt dabei stets herauszufinden, welche Rechte und Pflichten dem Staatsbürger als Ergebnis eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses zuerkannt wurden; das betraf politische Mitbestimmungsrechte ebenso wie den Wohlfahrtsstaat. Auch in der Konsumgeschichte hat sich diese Fragestellung als produktiv erwiesen.10 Es wurde deutlich, dass Leitbilder des Konsumenten zu unterscheiden waren, die über das gesamte 20. Jahrhundert in Konkurrenz zueinander standen und die Rechte und Pflichten der Staatsbürger in ihrer Eigenschaft als Konsumenten verschieden verteilten: Der citizen consumer sollte sein Konsumverhalten an politisch-moralischen Zielen ausrichten; die sozialen Rechte einer demokratischen Gesellschaft wurden demnach von 8 Vgl. nur einige der wichtigsten Studien: Trentmann, Free Trade Nation; Hilton, Con­ sumerism; Cohen, Republic; Glickman, Living Wage. 9 Vgl. Prinz, Brot; Nonn, Verbraucherprotest; Davis, Home Fires. 10 Vgl. Marshall, Staatsbürgerrechte; ders., Wohlfahrtsstaat; Bulmer u. Rees, Citizenship. Zur konsumhistorischen Sicht vgl. Daunton u. Hilton, Politics; Trentmann, Bread; ders., Civil Society; ders., Genealogy; Kroen, Aufstieg. Auch unter Historikern der Weimarer Republik gewinnt das citizenship-Konzept an Beliebtheit: vgl. Eghigian, Pain, S. 16–34; Canning, ­Gender History.

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unten, vom ­a ktiven Konsumenten durchgesetzt. Hingegen war der purchaser as citizen auf private Nutzenmaximierung und Hedonismus geeicht, war ent­ politisiert, von kollektiven Berechtigungen wie Verpflichtungen weitgehend entbunden, dafür mit dem Recht auf individuelle Wahlfreiheit auf dem Markt ausgestattet.11 Diese Beobachtungen sind auch für eine Geschichte der Weimarer Republik von Interesse, selbst wenn die Idealtypen hier keine unmittelbare Verwendung finden. Konkrete Fragen, die einige zentrale Aspekte des citizenship-Konzepts aufnehmen, stehen im Vordergrund: Welche Rolle spielen die Verbraucher als politische Akteure  – sei es in der Zivilgesellschaft oder in den Institutionen des Staates –, oder erscheinen sie eher als Objekte staatlicher Regulierung? Wie ist das Verhältnis von Markt und Staat als Verteilungsmodell zu beurteilen: Wo wird individueller Wahlfreiheit, wo kollektiver Versorgungssicherheit der Vorzug gegeben? Wie wird die Höhe der legitimen materiellen Ansprüche der Bürger an den Staat bestimmt? Welche Verpflichtungen werden durch Verbot, Kontrolle oder Erziehung den Konsumenten auferlegt? Und allgemein: Welche Bereiche des Konsums gelten überhaupt als politisch sensibel?12 Aus der Summe dieser und ähnlicher Fragen ergibt sich für die Weimarer Republik – so eine der Hauptthesen dieses Buches – das Bild einer anspruchs­vollen sozialen und kulturellen Staatsbürgerschaft, die wesentlich auf die Sphäre des Konsums bezogen war und durch konsumpolitische Diskurse und Maßnahmen geformt wurde. Sozial und kulturell ist diese intensive Beziehung von Staat und Gesellschaft, weil die Rechte und Pflichten sich sowohl auf die Grundversorgung mit dem notwendigen Bedarf als auch auf den Umgang mit den Angeboten einer dynamischen Konsumkultur richteten. Da dem Subsistenzkonsum ebenso wie dem Dispositionskonsum hohe politische Relevanz zugesprochen wurde, lassen sich auch zwei konsumpolitische Stränge identifizieren: eine Politik der notwendigen Bedürfnisse und eine Politik der erweiterten Konsumwünsche und -erwartungen. Ihre Ursachen, Erscheinungsformen und Konsequenzen gilt es vor allem zu untersuchen. Viele der Maßnahmen zur Beeinflussung und Regulierung des privaten Konsums wurden in der Zwischenkriegszeit unter Berufung auf den Verbraucherschutz debattiert und nicht wenige davon auch durchgeführt. Als explizites Motiv seit den lebensmittelhygienischen Vorschriften des Nahrungsmittelgesetzes von 1879 bekannt, war der Verbraucherschutz zwar keineswegs durchgängig politisch prominent, bedeutete aber insgesamt eine eindeutige Stärkung der Rechte der Konsumenten.13 Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass 11 Die idealtypischen Begriffe stammen von Lizabeth Cohen, Republic, S.  8, 147. Inhaltlich wird das Modell des citizen consumer aber bereits um die Jahrhundertwende entworfen: besonders prominent vom britischen Ökonomen John A. Hobson. Vgl. ders., Evolution, S. 424–439; dazu: Trentmann, Civil Society, S. 312 f.; ders., Genealogy, S. 28 f. 12 Zu diesen Leitperspektiven vgl. vor allem: Hilton u. Daunton, Material Politics. 13 Vgl. Geyer, Gedanke; Hierholzer, Nahrung.

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die Weimarer Konsumpolitik, die den Verbraucherschutz vermehrt thematisierte, nicht nur demokratisch, sondern auch paternalistisch und in manchen Fällen sogar beides zugleich war. Wer die Interessen der Verbraucher zu schützen beabsichtigte, konnte auch ihre Bevormundung betreiben. In den Konsumvereinen zeigte sich das ebenso wie in den politischen Konflikten um die Alkoholgesetzgebung, das Wettbewerbsrecht und vieles andere. Dass die Gefahr des Paternalismus auch in demokratisch verfassten Gesellschaften besteht, hat Isaiah Berlin einmal durch die Unterscheidung zweier Fragen auf den Punkt gebracht: »By whom am I governed?« und »How much am I governed?«14 Während die Suche nach dem Demokratiedefizit der Weimarer Republik im Sinne einer Herrschaft der alten Eliten jahrzehntelang Gegenstand der Forschung gewesen ist, verweist die zweite Frage auf ein Problem, das noch weit weniger ausgeleuchtet ist: Der Weimarer Interventionsstaat ist zwar in der Geschichte der Sozialpolitik ein alter Bekannter, seine Leistungen und Grenzen gingen aber weit darüber hinaus und lassen sich auf dem Gebiet der Konsumpolitik vorzüglich beobachten. Dass der Staat für die Ausweitung demokratischer Rechte wie für die paternalistische Betonung von Pflichten eine wichtige Rolle spielte, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Politisierung des Konsums, welche die Voraussetzung dafür war, aus gesellschaftlichen Prozessen erwuchs. Mit den Mitteln einer traditionellen, auf institutionelle Entscheidungen konzentrierten Politikgeschichte lässt sich die politische Kommunikation, an der zahlreiche Akteure von Hausfrauen und Sittlichkeitsapostel bis zu den Experten aus Nationalökonomie und Statistik beteiligt waren, nicht erfassen. Diskurse, verstanden als »Aussagefelder, welche regulieren, was gedacht, gesagt und getan werden kann«,15 sind gerade für die Etablierung der Normen des legitimen Konsums zentral. Auch dass die Rede von der »verarmten Nation« in Weimar eine dominierende Nachkriegserzählung war, die das Weltbild der meisten Konsum­ politiker vorstrukturierte, ist nur aus den Diskursen zu erfahren.16 14 Berlin, Concepts, S. XLIII. 15 Stäheli, Soziologien, S. 73, Fn. 3. Zur »kommunikativen Wende« der neuen Politikgeschichte vgl. nur das Forschungsprogramm des Bielefelder SFB 584 »Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte«, in dem die vorliegende Arbeit entstanden ist: Frevert, Poli­tikgeschichte, S. 7–26; sowie: http://www.uni-bielefeld.de/geschichte/forschung/sfb584/ research_program/index.html (Zugriff: 5.8.2009). 16 Die semantische Untersuchung, die sich auf die Bedeutung von Schlüsselwörtern oder den Bedeutungswandel von Begriffen konzentriert, ist hingegen weniger wichtig. Im Einzelfall spielen Bedeutungskämpfe eine Rolle wie bei dem Konflikt um das »Existenzminimum«, insgesamt überwiegt jedoch die analytische Überlegung, dass nicht unbedingt von »Konsum« und »Konsumenten« die Rede sein muss, wenn Konsumpolitik betrieben wird und eine politische Subjektivierung der Konsumenten geschieht. So wurde auf dem Feld der Kulturpolitik seltener auf den Konsumbegriff zurückgegriffen, wobei gerade die Ausnahmen demonstrieren, dass der »Kulturkonsum« bereits im Horizont des Denk- und Sagbaren lag. Vgl. etwa folgende Aussagen auf der Gründungstagung des Sozialistischen Kulturbundes

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Ohne den Blick auf staatliche Institutionen lässt sich andererseits das Verhältnis von Konsum und Politik ebenso wenig behandeln. Als Fluchtpunkt konkurrierender Interessen und Überzeugungen sind Parlament und Regierung nach wie vor unverzichtbar. Ein überzeugenderes Kriterium für die Wirkmächtigkeit eines politischen Diskurses als die gesetzgeberische Entscheidung ist meines Wissens noch nicht gefunden. Dass zwischen demokratischer Mission und Paternalismus die Übergänge fließend sein konnten, wird sich mithin zeigen, wenn die Konsumpolitik als Wechselspiel zwischen staatlichen Maßnahmen und diskursiv vermittelten gesellschaftlichen Erwartungen verstanden wird. Durch die politische Kontextualisierung der krisengeschüttelten und doch auch dynamischen Konsumgesellschaft der Zwischenkriegszeit lassen sich die beiden wichtigsten historiographischen Perspektiven auf die Weimarer Republik aufgreifen und zueinander in Beziehung setzen. Die ältere der beiden, in der zunächst politikgeschichtlich, dann auch wirtschafts- und sozialgeschichtlich geforscht wurde, fragt nach den Gründen für das Scheitern der Republik. Die Liste der Belastungen, die in den zentralen Studien von Karl Dietrich Bracher, Heinrich August Winkler, Hans Mommsen, Knut Borchardt, Gerald D. Feldman und der an sie anschließenden Autoren herausgearbeitet und jüngst von Ursula Büttner in einer souveränen Gesamtdarstellung aktualisiert wurde, ist lang: Sie reicht von der Rolle der konservativen Eliten in Militär, Bürokratie und Wirtschaft und den weiteren antidemokratischen Traditionen über die Kompromissunfähigkeit von Parteien und Arbeiterbewegung bis zur Zermürbungslo­gik wiederkehrender politischer und ökonomischer Krisen und einer unter chronischer Wachstumsschwäche leidenden Volkswirtschaft.17 Ironischerweise hat sich die Perspek­tive des Scheiterns durch ihre eigenen empirischen Erfolge etwas ins Abseits manövriert. Sie geriet unter Notwendigkeitsverdacht, waren doch die Belastungen der Republik offenbar so mannigfaltig und schwer, dass ihr Untergang und der Aufstieg Hitlers un­ausweichlich schienen. Zwar lernte man durch den Einwand der Teleologie zu unterscheiden zwi­schen den Faktoren, die die Stabilität des Weimarer Systems untergruben, und denen, die zur »Machtergreifung« führten. Dennoch traf der Vorwurf zu, dass die Leistungen der Demokratie und die alternativen Entwickim Jahr 1926: »Wir glauben schon viel erreicht zu haben, wenn wir entsprechend der Kaufkraft der uns nahestehenden Arbeiterschaft die Preise für diese ›Kunstgenüsse‹ senken, und wenn wir Organisationen schaffen, denen es gelingt, durch Massenkonsum Theatervorstellungen, Konzerte, Bilder, zu einem für den Arbeiter erschwinglichen Preise zu ›er­stellen‹.« (Kestenberg, Aufgaben, S.  39); »Was den Kunstkonsum betrifft, so brauchen wir nur auf das hierfür beste und umfassende Beispiel hinzuweisen, auf die Volksbühne.« (Schulz, Auf­ gaben, S. 95) 17 Hier auch nur die wichtigsten Arbeiten dieser Forschungsperspektive aufzuführen würde den Rahmen sprengen. Vgl. daher als Überblick und Einstieg die neueren Gesamtdarstellungen: Büttner, Weimar; Kluge, Weimarer Republik; Gessner, Weimarer Republik; Wirsching, Weimarer Republik.

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lungsmöglichkeiten, die zwar nicht zur Geltung ge­kommen, aber gleichwohl bestanden hatten, aus dem Blick geraten waren. Allzu sehr stellte sich die Weimarer Republik als ein besonders abschüssiges Teilstück auf dem deutschen »Sonderweg« dar. Die andere Perspektive beschreibt Weimar als ein Experimentierfeld der Moderne und betont Sinnangebote, Ordnungsentwürfe und Visionen. Reformerische Ideen jeder Couleur vom Bauhaus bis zur Lebensreform, avantgardistische und massenkulturelle Erzeugnisse, Geschlechter- und Körperbilder – alles das trat durch die vor allem sozial- und kulturgeschichtlich informierte Fragerichtung deutlich in den Vordergrund und wies über das Schwellenjahr 1933 mitunter weit hinaus. Der Zwischenkriegszeit wurde damit die Offenheit eines »normalen« historischen Prozesses zurückgegeben; andererseits wurde die etablierte Krisenerzählung anders verortet, indem nämlich die bekannten Probleme nicht als Auswüchse einer deutschen »Krankheit«, sondern als charakteristische Symp­ tome der Moderne selbst verstanden wurden, deren rasanter Durchbruch gerade in Deutsch­land ihre krisenhafte Grundverfassung zutage treten ließ. Diese Vorstellung geht wesentlich auf Detlev Peukert zurück, der gezeigt hat, wie in der Weimarer Republik konfliktreich »nahezu alle Möglichkeiten der modernen Existenz durchgespielt« wurden:18 Generationskämpfe, Rationalisierung, Sozialdisziplinierung, Mobilisierungstendenzen in den Sozialmilieus, kulturelle Deutungskonflikte. In allen diesen Veränderungen lassen sich moderne Entwürfe des Sozialen ausmachen und nicht ausschließlich Vorahnungen auf den Nationalsozialismus. Denkt man die Perspektive des Experiments allerdings konsequent zu Ende, stellt sich die Frage, ob überhaupt noch sinnvollerweise von einem Scheitern gesprochen werden kann, wenn die Option Hitler nur eine der vielen Karten gewesen ist, die in Wei­mar gespielt wurden.19 Anders ausgedrückt: Die Schwäche dieses Ansatzes besteht darin, ange­sichts des durch ihn entfalteten Möglichkeitshorizonts zu erklären, warum bestimmte Optionen realisiert wurden und erfolgreich waren, andere aber nicht. Eine Balance zwischen beiden Sichtweisen ist anzustreben, welche die Frage nach dem Scheitern der Republik ebenso zu ihrem Recht kommen lässt wie das Interpretament »Weimar als Entwurf«. Das Feld der Konsumpolitik eignet sich dafür aus zwei Gründen in besonderer Weise: Erstens ist der Legitimitätsverlust demokratischer Prinzipien und Verfahren vor dem Hintergrund des Konsumniveaus sowie der staatlichen Maßnahmen, die zu seiner Regulierung getroffen wurden, zu verstehen. Dass diese Faktoren für die Akzeptanz eines politischen Systems essentiell sind, wussten nach den Erfahrungen 18 Peukert, Weimarer Republik, S. 266. Auch eine Zusammenstellung der an Peukert anschließenden Literatur ist kaum möglich. Einige der produktivsten neueren Beiträge dieser Richtung finden sich in den Sammelbänden von Wolfgang Hardtwig: Vgl. Hardtwig, Kultur­ geschichte; ders., Utopie; ders., Ordnungen. 19 Diese Überlegung geht auf Peter Fritzsche zurück: vgl. Fritzsche, Weimar, S. 629–656; zudem: Feldman, Weimar Republic, S. 1–26.

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des Ersten Welt­k rieges bereits die Zeitgenossen. Unbekannt war allerdings, in welchem Ausmaß und mit welchen Aussichten etwa die Preispolitik oder die öffent­liche Versorgungswirtschaft zu betreiben waren. Dem Historiker stellt sich die schwierige Aufgabe, eine konsumpolitische Erfolgsbilanz zu ziehen. Zweitens ist es viel­versprechend, die in der Weimarer Republik kursierenden Ordnungs­entwürfe auf jenen ambitionierten politischen Gestaltungswillen zu beziehen, der sich auf die Konsumsphäre richtete. In Erscheinung tritt die Vision einer ratio­nalen Konsumgesellschaft: einer Gesellschaft ohne bitterste Armut auf der einen und ohne unmoralische Verschwendung auf der anderen Seite. Diese erschaffen zu können war ein Projekt, das die politisch-weltanschau­ lichen Lager verband und in dem zivilgesellschaftliche und staatliche Initiativen zu­sammentrafen. Nun ist die Zeit zwischen den Kriegen in Deutschland bislang selten als Konsumgesellschaft interpretiert worden, weil das von schweren Krisen unterbrochene gesamtwirtschaftliche Wachstum der Weimarer Jahre nicht ausreichte, um breiten Bevölkerungsschichten jene Spielräume disponiblen Einkommens zu verschaffen, die aus heutiger Sicht dafür kennzeichnend sind. Gerade im Vergleich zur Bundesrepublik seit dem Ende der fünfziger Jahre erscheint die Weimarer Republik, gemessen an der Höhe des Realeinkommens, der Konsumgüterproduktion und der Struktur des privaten Verbrauchs, als eine reine Mangelgesellschaft.20 Zweifelhaft ist allerdings, ob diese quantitativen Kriterien heuristisch fruchtbar sind. Abgesehen davon, dass die Grenze für jene Einkommenshöhe und jene Reihe von Konsumgütern, die eine Gesellschaft zur Konsumgesellschaft machen soll, unbekannt und auch nicht begründbar sind, besteht grundsätzlich die Frage, ob sich Konsum auf Bedürfnisbefriedigung und Gütererwerb re­duzieren lässt. Ein komplexeres Verständnis dieses Phänomens, das auf die Spannung zwischen Konsumerfahrung und Konsumerwartung abzielt, soll im folgenden erläutert werden, um die konsumgesellschaftliche Verfasstheit der Zwischenkriegszeit zu verstehen. Diese war – so die These – in beson­derer Weise durch die Gleichzeitigkeit von Mangel und Wohlstandshoffnungen, durch das Aus­ einanderdriften von Konsumwirklichkeit und -möglichkeit gekennzeichnet.21 Um das zu erläutern ist ein Rückgriff auf die Geschichte der Konsumtheorie notwendig. Die wissenschaftliche Reflexion über den Zusammenhang von Konsum, Bedürfnissen und Wünschen reicht zurück bis zu den Grenznutzentheoretikern seit der Mitte des 19. Jahrhunderts – wenngleich die Fixierung der Wirtschaftswissenschaften auf die Produktionssphäre dem Konsum eher eine 20 Vgl. Reckendrees, Konsummuster; Wildt, Beginn, S.  20–27, 59–75; Mooser, Arbeiterleben, S. 73–87; ders., Auflösung, S. 287; König, Geschichte, S. 124 f. 21 Die spannungsreiche Koexistenz von Mangel und Wohlstand in der deutschen Geschichte des 20.  Jahrhunderts rückt erst in jüngster Zeit in den Blickpunkt der Forschung: vgl. ­Confino u. Koshar, Régimes; Betts u. Eghigian, Pain; Jarausch u. Geyer, Spiegel, S. 303–351; Torp u. Haupt, Einleitung.

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Nebenrolle zuwies.22 Vom statistisch erfassbaren Bedarf ließ sich auf mensch­ liche Bedürfnisse schließen, die als Motivgrundlage der Kaufentscheidungen galten, analytisch aber vernachlässigt wurden.23 Die empirische Lebenshaltungsforschung versuchte, durch Hierarchisierungen und Gesetzmäßigkeiten wie die des Statistikers Ernst Engel Ordnung ins Chaos der Verbrauchsgewohnheiten zu bringen.24 Die Konstruktion eines notwendigen Bedarfs dominierte das Bild, das die Lebenshaltungsforschung vom privaten Verbrauch entwarf. Demnach konsumierte der Mensch in erster Linie, um sich zu ernähren, zu wohnen und sich zu kleiden. Die materiellen Bedürfnisse galten als gegeben und wurden lange Zeit nicht Gegenstand weiterer soziologischer oder psycho­ logischer Erforschung. Die sogenannten Kulturbedürfnisse  – Bildung, Unterhaltung, Mobilität und anderes – fristeten hingegen ein randständiges Dasein und wurden bei der Analyse von Haushaltsbudgets oft in undifferenzierten Sammelkategorien verbucht.25 Die Blindstelle dieser Perspektive auf den Konsum, welche die Bedürfnisse zu seinem kausalen Ursprung erklärte, waren mithin die Bedürfnisse selbst, von deren Zustandekommen abstrahiert werden konnte, solange man auf der Ebene der ökonomischen Modelle blieb. Diese funktionierten auch ohne eine Reflexion ihrer Bedingungen und lieferten etwa mit der Berechnung von Grenznutzenkurven der Bedürfnissättigung sowie später von Einkommens- und Preis­ elastizitäten verschiedener Bedarfsgruppen brauchbare Erkenntnisse, die aber gleichsam »in der Luft hingen«. Darüber hinaus war die symbolische Dimension des Konsums in der Bedürfnisökonomie unterbelichtet. Ins soziologische Bewusstsein trat sie erst mit Thorstein Veblen und Georg Simmel, die um 1900 im Zuge des rasant wachsenden gesellschaftlichen Reichtums beiderseits des Atlantiks die Distinktion und Identität schaffende Funktion des Konsums von Luxus und Mode entschlüsselten.26 Der »symbolische Mehrwert« der Waren offenbarte sich zuerst im Konsum der Oberschichten, während analoge Beobachtungen über die Bedeutung des Außeralltäglichen im Budget von Arbeiter­ familien – etwa mit dem Blick auf die Ausgaben für Kaffee, Weißbrot oder den Kinobesuch – weitgehend fehlten.

22 Dass die wirtschaftstheoretische Beschäftigung mit dem Konsum aber eine längere, von Merkantilismus und Physiokratie geprägte Tradition aufweist, zeigt jetzt Schrage, Verfügbarkeit, S. 51–73. 23 Vgl. Hedtke, Konsum, S. 101–107; Pierenkemper, Haushalt, S. 5; Slater, Consumer Culture, S. 42–45; Fine, World, S. 125–132; Winch, Status, S. 17 f.; Schivelbusch, Naturgeschichte. Zur Theoretisierung des Konsums aus der Perspektive verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen siehe Miller, Acknowledging. Zur Wirtschafts- und Sozialtheorie des Konsums vgl. jetzt vor allem Schrage, Verfügbarkeit. 24 Das Engelsche Gesetz postuliert, dass der Anteil der Ernährungsausgaben mit steigendem Einkommen zurückgeht. 25 Vgl. Flemming u. Witt, Einkommen, S. XLII; Statist. Reichsamt, Lebenshaltung, Teil 1, S. 50. 26 Vgl. die Hauptwerke: Veblen, Theory; Simmel, Philosophie.

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Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts kam es zu Annäherungen zwischen der ökonomischen und der kulturalistischen Herangehensweise. Vor allem aus zwei theoretischen Blickwinkeln beschäftigte man sich mit der Bedingtheit und Formbarkeit der Bedürfnisse. Die marxistische Theorietradition27 macht darauf aufmerksam, dass Bedürfnisse dem Konsum nicht vorgelagert sind, sondern im Wirtschaftsprozess selbst durch gezielte Beeinflussung seitens der Konsumgüterindustrie und der Werbung hergestellt werden  – eine Annahme, welche die Marxisten übrigens mit der werbepsychologischen Literatur der zwanziger Jahre teilten.28 So offensichtlich zutreffend der Hinweis auf die immer subtileren Angebote der Warenästhetik ist, kann sich diese Vorstellung doch nur schwer des Vorwurfs erwehren, der Idee einer weitgehenden Manipulierbarkeit des Konsumenten anzuhängen. Warum manche Produkte trotz eines gewaltigen Werbefeldzuges am Markt scheitern, bleibt unerklärlich. Die Theoretiker der Postmoderne auf der anderen Seite,29 die den Bedürfnisbegriff vermeiden, da sie seinen essentialistischen Beigeschmack scheuen, postulieren eine Welt hinter den Bedürfnissen. Dort finde sich ein abstraktes Begehren, das auf etwas ziele, das nicht benennbar und daher offen für äußere Anregungen sei; so richteten sich die fundamentalen Wünsche des Menschen etwa nach Sicherheit und Anerkennung nicht auf konkrete Waren, sondern würden von Industrie und Werbung aufgegriffen und durch Angebote »interpretiert«. Da das Begehren aber prinzipiell unerfüllbar, die Wünsche und die Waren nie ganz synchronisierbar seien, kultiviere die Konsumgesellschaft Unzufriedenheit auf hohem Niveau und treibe ständig über sich hinaus.30 Was an dieser Vorstellung auffällt, ist zum einen, dass es sich um ein komplexeres Modell der Wechselwirkung von Wünschen und kapitalistischen Verwertungsinteressen handelt, aus der die konkreten Konsumbedürfnisse hervorgehen. Zum anderen wird aber das Problem der anthropologischen Gegebenheit der Bedürfnisse nur eine Stufe weiter nach hinten verlagert: auf die Ebene der tief in der menschlichen Psyche verankerten Wünsche, von denen zudem unklar ist, warum der Konsum in der Lage ist, sie wenigstens partiell zu befriedigen. Ungeachtet ihrer theoretischen Grenzen machen die marxistische und die postmoderne Perspektive auf die Historizität der Bedürfnisse aufmerksam.

27 Es geht hier nicht um eine ausgewogene Theoriediskussion der verschiedenen marxistischen Autoren, sondern um die Betonung einer Leitperspektive, die die Marxsche Idee des Warenfetischismus elaboriert und sich durch zahlreiche Werke zieht – darunter vor allem: Horkheimer u. Adorno, Dialektik; Marcuse, Mensch; Haug, Kritik; Bataille, Aufhebung, S. 9–31. 28 Vgl. Reinhardt, Reklame, S. 89–99. 29 Exemplarisch für diese Sichtweise: Baudrillard, Consumer Society, S. 74–78; ders., System, S. 205–215; Bolz, Manifest, S. 95–111; Bataille, Aufhebung, S. 9–31. Zum frühen, »marxistischen« Baudrillard vgl. auch Ritzer, Enchanting, S. 53–76. 30 Zu dieser Dynamik vgl. auch bereits Horkheimer u. Adorno, Dialektik, S. 142 f.

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J­ enseits der trivialen Tatsache, dass Menschen essen und trinken müssen, um zu existieren, gilt also, dass Bedürfnisse nicht ahistorisch gegeben und von vornherein auf bestimmte Konsumobjekte gerichtet sind, sondern dass sie äußeren Einflüssen unterliegen sowie von unbewussten Wünschen überformt sind. Zum einen ist die historisch einmalige Dynamik der Bedürfnisse in der Moderne das Ergebnis der durch die ständige Umwälzung von Moden und die Entfaltung der Produktpalette gekennzeichneten kapitalistischen Ökonomie. Zum anderen ist die Möglichkeitsbedingung dieser modernen Bedürfnisdynamik die ­irreduzible symbolische Dimension des Konsums, die es mit sich bringt, dass die mit immateriellen Wünschen angereicherten Bedürfnisse nicht endgültig zu befriedigen sind, sondern offen bleiben für neue Bewertungen, Versprechungen und Ideale. Die Angebote der Warenwelt sind gleichermaßen unverzichtbar und frustrierend: Sie dienen der Orientierung, der Aktivierung und Artikulation von Wünschen, helfen bei der Erforschung des eigenen Wertefeldes und sind zugleich vergegenständlichte und unvollkommene Ersatzbefriedigungen eines immateriellen und nicht stillbaren Begehrens.31 Aus diesem historisch-konstruktivistischen Konsumverständnis ist ein Element besonders hervorzuheben: Die Bedürfnisse und die Möglichkeiten ihrer Befriedigung sind Gegenstand eines nie abgeschlossenen Bewertungsprozesses, bei dem das Individuum auf diskursiv zirkulierende Normen und Deutungsmuster zurückgreift. Der erste Schritt in jeder Bewertung ist aber der Vergleich, und der Konsument ist in vielfacher Hinsicht ein homo comparans, da die von ihm verbrauchten Mengen und Qualitäten für sich genommen noch keinen Informationswert haben. Erst wenn verglichen wird, was von anderen oder anderswo konsumiert wird, was früher verbraucht wurde oder was möglicherweise in Zukunft konsumiert werden könnte, lässt sich eine Vorstellung davon gewinnen, ob das eigene Konsumniveau als zufriedenstellend oder defizitär zu bewerten ist. Die vergleichende Bewertung der eigenen Konsummöglichkeiten verläuft also in vier verschiedenen Bahnen: zeitlich, räumlich, sozial und symbolisch, d. h. mit Blick auf die Wertschätzung der zur Verfügung stehenden Waren und Dienstleistungen. Es gilt daher nicht nur, die Konsummuster der Zwischenkriegszeit zu beschreiben, sondern darüber hinaus jene Vergleichs­ perspektiven zu skizzieren, auf deren Grundlage sich die zeitgenössischen Bewertungsmöglichkeiten des Konsumniveaus entfalteten.

31 Vgl. Bolz, Manifest, S. 99. Bolz glaubt jedoch, dass Bedürfnisse in unserem heutigen »System des Konsumismus« keine Rolle mehr spielen, da der »postmaterialistische Kunde keine Güter, sondern Geschichten, Gefühle, Träume und Werte« (S.  109) kaufe. Mir scheint es hingegen angemessener, von einer Überformung der Bedürfnisse durch Wünsche zu sprechen. Zum dialektischen Aneignungsprozess, der sich beim Konsum von Waren und Werbung abspielt, vgl. die konsumsoziologischen Beiträge in Hellmann u. Schrage, Konsum. Hier wird das komplexe Verhältnis zwischen Produktion und Rezeption der Werbung betont, wobei der Konsument in seiner sinnproduktiven Fähigkeit als Co-Autor der Produkte auftritt (vor allem bei Hellmann, Werbung; Gries, Konsumenten).

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Aus dieser Analyse ist herauszukristallisieren, wie sich in der Zwischenkriegszeit die Spannung zwischen dem »Erfahrungsraum« und dem »Erwartungshorizont« der Konsumenten gestaltete – um die Koselleckschen Begriffe konsumtheoretisch zu wenden.32 Es wird sich zeigen, dass alle Vergleiche dazu beitrugen, die Konsumerwartung von der Konsumerfahrung, den erhofften vom tatsächlich realisierten Lebensstandard, zu entfernen. Zwar war die Verzeitlichung des Bedürfniskonzepts und die Verdiesseitigung von Wohlstands­ utopien nichts gänzlich Neues,33 ihre Breitenwirksamkeit und Dringlichkeit erreichte jedoch in den zwanziger Jahren eine neue Stufe, als erwartungsschürende Sekundärerfahrungen des sichtbaren Wohlstands anderer Schichten, Orte und Zeiten sowie virtueller Welten – in Reklame, Kino und Trivialliteratur – allgegenwärtig wurden. Demgegenüber blieb die Erfahrung am eigenen Leibe und aus erster Hand für den Großteil der Bevölkerung an den nur allzu vertrauten Bereich der Knappheit und des Mangels gebunden. Kurz: Für die Konsum­ gesellschaft der Zwischenkriegszeit ist die zunehmende Kluft von Mangelerfahrung und Wohlstandserwartung konstitutiv. Aus der Perspektive einer krisenhaften Genese der Konsumgesellschaft ist auch die Frage der Stabilität der Weimarer Republik neu zu beleuchten. Die Gleichzeitigkeit einer prekären Versorgungslage und der gestiegenen Erwartungen machte Weimar zu einem Fall von Relativer Deprivation.34 Angesichts der dramatischen Wirtschaftsentwicklung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts – von den Wohlstandsgewinnen der Vorkriegszeit zu den Hungererfahrungen in Krieg und Inflation, denen in der Stabilisierung eine kurze Rückkehr zur Prosperität folgte, bevor bald darauf der Weg in den Abgrund der Weltwirtschaftskrise führte  – traf der Verlust des bereits Erreichten immer wieder mit der Sehnsucht nach dem Wiederaufstieg zusammen. Darin bestand das konsum­ politische Grundproblem der Weimarer Republik. Es wurde zwar von den Zeitgenossen nicht mit hinreichender Deutlichkeit als solches erkannt und war daher auch nicht Gegenstand einer gezielten politischen Großstrategie; dennoch richtete sich eine bemerkenswerte Zahl von Akteuren, Debatten und Maßnahmen auf zumeist einzelne Aspekte dieses Problemzusammenhangs, so dass auf dem Weg einer ex post synthetisierenden Betrachtung die Leitlinien des Politikfeldes Konsum deutlich werden. Die Bedeutung von Erwartungen für historische Prozesse im allgemeinen und für die Geschichte der Weimarer Republik im besonderen ist in der Forschung bislang nicht hinreichend thematisiert worden. Erst in jüngster Zeit sind Untersuchungen entstanden, die einen immensen »Erwartungsüberschuss« als 32 Vgl. Koselleck, Erfahrungsraum. Koselleck versteht unter Erfahrung »gegenwärtige Vergangenheit, deren Ereignisse einverleibt worden sind und erinnert werden können«, während Erwartung »vergegenwärtigte Zukunft« ist und »auf das Noch-Nicht, auf das nicht Erfahrene, auf das nur Erschließbare« ziele. (Ebd., S. 354 f.) 33 Vgl. Szöllösi-Janze, Notdurft; Hölscher, Utopie, S. 768 ff.; Berghoff, Ziele, S. 58–70; sowie bereits Bloch, Prinzip, Bd. 2, Kap. 36. 34 Vgl. zu diesem Begriff Gurr, Rebellion, S. 31–66, 100–160.

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ein zentrales »Strukturproblem der Weimarer Republik« behandeln.35 So gelingt es beispielsweise durch die Analyse der vielfältigen Krisendiskurse dieser Zeit sowie der hoch gespannten Repräsentationsansprüche an das politische System, zu einer Sichtweise vorzudringen, die das Entwicklungspotential der Republik mit den Ursachen ihrer Instabilität zusammenführt. Es reicht nicht aus, für das Scheitern vermeintlich objektive Belastungen und Krisen verantwortlich zu machen; vielmehr ist es darüber hinaus notwendig, den durch den Wahrnehmungsprozess der historischen Akteure bedingten Konstruktionscharakter dieser Phänomene zu berücksichtigen. Zugleich existieren aber – es wäre fatal, das zu vergessen – soziale und wirtschaftliche Möglichkeitsbedingungen der Wahrnehmung, die im vorliegenden Fall die Konsumerfahrungen prägten, ohne die die Wohlstandserwartungen und die Krisendiagnosen nicht verstanden, ja, gar nicht erst gebildet hätten werden können. Der methodische Reiz einer politischen Konsumgeschichte der Weimarer Republik liegt darin, dass sie es ermöglicht, die Relationen zwischen Poli­tik, Wirtschaft und Kultur zu beleuchten – Wirklichkeitsbereichen, die in der historischen For­schung oft getrennt behandelt werden, was im Fall Weimar dazu geführt hat, dass das Bild einer merkwürdig ungleichgewichtigen, zerrissenen Gesellschaft entstanden ist, die durch wirtschaftliche und politische Defizite und Katastrophen einerseits und durch kulturelle Höchstleistungen andererseits geprägt ist. Der Konsum widersetzt sich einer sektoralen Betrachtung schon dadurch, dass er ein wirtschaftliches Phänomen darstellt, das nach kultu­rellen Leitbildern gerichtet ist und dem eine hohe politische Relevanz zugesprochen wurde. Eine Pluralität der Methoden und Quellen prägt daher auch die Vorgehensweise dieser Untersuchung. Im ersten Kapitel wird es darum gehen, die Spannung zwischen Konsumerfahrung und -erwartung zu demonstrieren: zunächst aus sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Perspektive, indem die Einkommensentwicklung sowie ausführlich, auf der Grundlage von Statistiken, das Konsumverhalten der verschiedenen städtischen Verbrauchergruppen analysiert wird (I. 1 u. I. 2). Anschließend sollen die Erfahrungsbestände von Mangel und Wohlstand in ihrer kulturellen Dimension beschrieben werden, weshalb es gilt, ein Panorama der alltagsprägenden Konsumpraktiken zu entwerfen. Das geschieht, 35 Föllmer u. a., Einleitung, S. 29. Vgl. zum Folgenden Mergel, Führer; Graf, Zukunft, S. 131– 133, 359–380; ders., Optimismus; Föllmer u. Graf, »Krise«. Auf das Problem einer »Vergrößerung der Kluft zwischen dem Alltag und dem Erwartungshorizont« verweist jetzt auch Gideon Reuveni in seinen Beiträgen über die Konsumkultur in der Presse (Reuveni, Lesen, S.  117; vgl. ders., Straßenhandel, S.  270 f.; ders., Reading, S.  14, 282); ebenso Heßler, Visionen, S. 460–467. Der kulturgeschichtliche Perspektivenwechsel war überfällig, bedenkt man, dass schon Ernst Bloch sich mit der Geschichtsmächtigkeit von Erwartungen beschäftigt hatte und damit die grassierende Utopieproduktion jener Zeit zugleich reflektierte und an ihr partizipierte. Für die geringe empirische Anschlussfähigkeit seiner Theorie des antizipierenden Bewusstseins wird nicht zuletzt die dunkel-spekulative Sprache Blochs verantwortlich sein. Zu Bloch vgl. Löwy, Erlösung.

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unter Verwendung der sozial- und kulturgeschichtlichen Forschung, auf der Basis einer Vielzahl zeitgenössischer Quellen, die von sozialreformerischen Untersuchungen der Haushaltsbudgets über Ego-Dokumente von Arbeiterinnen bis zu publizistischen und literarischen Reflexionen reichen (I. 3). Die Gefahr des Eklektizismus, die mit einem nicht klar definierten Quellenkorpus wie diesem verbunden ist, wird angesichts des dadurch gewonnenen Facettenreichtums, der für die eingenommene konsumhistorische Perspektive zentral ist, konsequent in Kauf genommen. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit den Chancen und Grenzen der Konsumvereinsbewegung. Ihre Vision einer organisierten Bedarfsdeckungswirtschaft formulierte eine Antwort auf die Herausforderung des Mangels, die unter den materiellen Bedingungen der Zeit bei vielen Gehör fand, deren Erfolg aber zugleich aus der Bewegung inhärenten Gründen beschränkt blieb. Das Modell einer alternativen Konsumgesellschaft gilt es in seinen intellektuellen Bezügen durch eine diskursgeschichtliche Herangehensweise aus dem umfangreichen Schrifttum der Genossenschaftsbewegung zu rekonstruieren, das in der Historiographie zur Weimarer Republik bislang kaum berücksichtigt worden ist (II. 1 u. II. 2). Dass dem Verbraucher gerade in den ersten Nachkriegsjahren vor allem dank der Agitation der Genossenschaftsspitzen eine aktive politische Rolle zugewiesen wurde, lässt sich anhand der Debatten um die Einrichtung von Verbraucherkammern sowie um die Besetzung des Vorläufigen Reichswirtschaftsrates verfolgen. Diese politischen Konflikte fanden ihren Niederschlag auf Reichsebene sowohl in der veröffentlichten Meinung als auch in den Beratungen von Parlament, Ministerien und Ausschüssen, die teils publiziert sind, teils im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde vorliegen (II. 3). Im Mittelpunkt der beiden folgenden Kapitel (III. u. IV.) steht der Konsument nicht mehr primär als politisches Subjekt, sondern als Objekt einer vor allem von staatlichen Institutionen getragenen Konsumpolitik, die in ihrer Gesamtheit auf den nur scheinbar paradoxen Begriff eines demokratischen Paternalismus gebracht werden soll. Zunächst geht es um die Rechte der Verbraucher, die als eine nicht ignorierbare politische Größe erschienen und die zu bestimmen und zu gewährleisten ein ganzes Arsenal von Maßnahmen ergriffen wurde. Da es eine eindeutige ministerielle Zuständigkeit für die heterogenen konsumpolitischen Themen nicht gab, vielmehr die verschiedenen, gerade erst eingerichteten Reichsressorts für Wirtschaft, Arbeit und Ernährung und Landwirtschaft auf diesem Politikfeld mit- und gegeneinander wirkten, war es notwendig, die im Bundesarchiv verfügbaren Akten der beteiligten Ministerien auf ihre konsumpolitische Aktivität hin zu überprüfen. Dass »Unsicherheit […] das Signum der Epoche« war, wie schon Peukert bemerkte,36 zeigte sich dabei deutlich, denn die verschiedenen Interventionen konvergierten in einem Politikziel: der Herstellung von Versorgungssicherheit. 36 Peukert, Weimarer Republik, S. 266.

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Zuerst wird auf dem Gebiet der Ernährungspolitik anhand des Konfliktes um die Aufhebung der Zwangswirtschaft untersucht, wie die konkurrierenden Prinzipien von Verbraucherschutz und Produktivismus die zentralen Konflikte und Kompromisse in der politischen Landschaft bis 1923 prägten (III. 1). Anschließend wird über die ganze Weimarer Republik hinweg die Karriere des Begriffs »Existenzminimum« verfolgt, der für die Formulierung legitimer materieller Ansprüche große Bedeutung gewann. Hierfür war es wichtig, die Tätigkeit reformerisch eingestellter Experten in so unterschiedlichen Bereichen wie der Sozialstatistik, der Wohlfahrtsbürokratie und der Architektur zu berücksichtigen  – allen voran die des Statistikers René Robert Kuczynski, dessen Nachlass in der Zentral- und Landesbibliothek Berlin lagert (III. 2). Mit dem Ausbau der kommunalen Versorgungsleistungen einerseits und dem fast kontinuierlichen Engagement der Reichsregierungen in der Preispolitik andererseits hatten in der Weimarer Republik zwei unterschiedliche versorgungspolitische Felder besonders Konjunktur. Sie sind in ihrem Umfang, ihren Hintergründen sowie den beabsichtigten und vor allem den unbeabsichtigten Konsequenzen zu erläutern, um die demokratische Politik der Grundsicherung, welche die sozialen Rechte der Verbraucher in den Mittelpunkt rückte, abschließend beurteilen zu können (III. 3). Das letzte Kapitel handelt von der paternalistischen Seite der Konsum­politik. Hier wird der Defensivkampf eines auf Rationalität angelegten bürgerlichen Konsummodells beschrieben, das sich durch alle Arten des konsumistischen Begehrens herausgefordert sah. Die Diskurse und Maßnahmen, die auf die Verpflichtung und Kontrolle der Verbraucher zielten, enstanden in der Mitte der Gesellschaft und waren nicht das Reservat staatlicher Akteure. Das zeigt bereits die aktive bürgerliche Antialkoholbewegung der Weimarer Zeit, die bislang ein Desiderat der Forschung bildete und hier in ihrem zunächst erfolgreichen agenda setting und schließlich ihrem Scheitern dargestellt wird (IV. 1). Eine Betrachtung der wichtigsten kulturpolitischen Interventionen der Weimarer Republik schließt sich an, wobei systematisch unterschieden wird zwischen den Eingriffen in Produktion, Distribution und Konsum von Kultur (IV. 2). Den Konflikten um zwei innovative Formen der Absatzsteigerung: die Konsum­ finanzierung durch Kredite und die Zugabe von Werbegeschenken, widmet sich der letzte Abschnitt. Die Debatte um die Moral des Kommerziellen ereignete sich in der Tagespresse, der Expertenöffentlichkeit und in Regierungs­k reisen und gestattet daher eine diskursive Verortung des konsumbezogenen Pater­ nalismus (IV. 3).

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I. Konsum zwischen Erfahrung und Erwartung »Die Deutschen lebten wie in einem Wartesaal; niemand wußte, was morgen geschehen werde. […] Die Geschäftsinhaber änderten täglich die Preisschilder: Die Mark fiel. Über den Kurfürstendamm streiften Rudel von Ausländern, sie kauften für ein Spottgeld die Reste einstiger Pracht auf. In den Armenvierteln wurden einige Bäcker­läden gestürmt. Alles sah nach Zusammenbruch aus, doch die Fabrikschlote qualmten, die Bankangestellten notierten gewissenhaft vielstellige Zahlen, die Huren legten Rouge auf […] Überall gab es Tanzdielen, wo sich abgemagerte Pärchen methodisch durchein­ anderschütteln ließen. Es donnerte der Jazz.« Ilja Ehrenburg, 19211

1. Entwicklung der Realeinkommen Welche Anhaltspunkte lassen sich aus einer Untersuchung des privaten Verbrauchs in der Zwischenkriegszeit für die These einer Diskrepanz zwischen Konsumerfahrung und Konsumerwartung gewinnen? Für die Beurteilung des Konsumniveaus ist zunächst ein Blick auf die Entwicklung der Realeinkommen notwendig, da deren Höhe für den Spielraum der Konsumgestaltung von entscheidender und wachsender Bedeutung war. Die deutsche Gesellschaft der Zwischenkriegszeit war im elementaren, Weberschen Sinn eine Klassengesellschaft, insofern die die Klassenlage ausmachende »typische Chance der Güterversorgung« durch die »Verfügungsgewalt […] über Güter und Leistungsqualifikationen und aus der gegebenen Art ihrer Verwertbarkeit für die Erzielung von Einkommen« auf den Märkten für Kapital und Arbeit bestimmt wurde.2 Der Historiker Erich Wiegand, der die relative Bedeutung von Erwerbseinkommen, staatlichen Leistungen und Eigenproduktion des Familienhaushalts auf der Basis von Wirtschaftsrechnungen vor dem Ersten Weltkrieg analysiert hat, stellte fest, dass die »Versorgungslagen ganz überwiegend durch marktgerichtete Leistungen bestimmt« wurden. Das galt, wenn einmal der schwer quantifizierbare Wiederanstieg der Selbstversorgung in den Inflationsjahren außer acht gelassen wird, auch für die Zwischenkriegszeit. Der großen Lebenshaltungs­ 1 Ehrenburg, Menschen, S. 7. 2 Weber, Wirtschaft, S. 177.

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untersuchung des Statistischen Reichsamts von 1927/28 zufolge flossen die Einnahmen der rund 2.000 untersuchten Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenhaushalte zu neunzig Prozent aus dem Arbeitseinkommen.3 Den Hintergrund für diese Abhängigkeit großer Bevölkerungsteile vom Marktgeschehen bildete der bereits vor dem Ersten Weltkrieg weitgehend abgeschlossene Prozess der Urbanisierung, der den Rückgang jener Gruppen mit sich brachte, für deren Subsistenz Selbstversorgung und Naturalentlohnung eine wichtige Rolle spielten. Im Jahr 1925 lebten rund 65 Prozent der Deutschen in Städten mit über 2.000 Einwohnern, während der Anteil der länd­lichen Gemeinden mit weniger als 2.000 Einwohnern noch 35 Prozent betrug. Die städtische Arbeitnehmerschaft, Trägerschicht der Konsumgesellschaft, war weiter gewachsen und hatte sich durch Prozesse ausdifferenziert, die für das 20. Jahrhundert insgesamt charakteristisch sind: Nicht aufgrund von Wanderungs­bewegungen, die in der Zwischenkriegszeit deutlich geringer als vor 1914 ausfielen, sondern durch erhöhte Pendlermobilität war der Anteil der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft weiter zurückgegangen: von 35 Prozent (1907) auf 29  Prozent (1933). Zugleich sank auch der Anteil der Arbeiterschaft, die aber noch immer die Hälfte der gesamten Erwerbstätigen stellte und eine nach wie vor wachsende Zahl von Industriearbeitern umfasste, während die zahlenmäßige Bedeutung der »Zwischenschichten« der Angestellten und Beamten von 10,3  Prozent im Jahr 1907 auf 17,3 Prozent im Jahr 1925 rapide wuchs; die absolute Zahl der Angestellten stieg im gleichen Zeitraum allein um 111 Prozent. Schließlich erhöhte sich auch der Anteil der Frauen an der Erwerbsbevölkerung um fünf Prozentpunkte auf 35 Prozent.4 Dass sich im Klassengefüge der deutschen Gesellschaft Verschiebungen ereignet hatten, wurde auch von aufmerksamen zeitgenössischen Sozialwissenschaftlern wie Emil Lederer und Theodor Geiger registriert, ohne dass der an Bedeutung gewinnende Arbeitnehmer- und Konsumentenstatus zur Grundlage der soziologischen Analyse gemacht worden wäre. Die Debatten um die Verbürgerlichung des Proletariats und die Proletarisierung des Mittelstands zeigen, wie einerseits die binäre klassengesellschaftliche Beschreibung weiterhin dominierte, andererseits aber an die Grenzen ihrer Realitätstauglichkeit stieß. Die Veränderungen, die durch die Suburbanisierung, die Entwicklung des Dienstleistungssektors, durch die Bürokratisierung der Arbeitsprozesse und die Emanzipation der Frauen in Gang gekommen waren, gingen nicht in den gewohnten marxistischen Kategorien auf. Lederer erkannte bereits, ohne das zu explizieren, in wessen Diensten die »neuen Massenschichten« der Angestellten standen: »Diese Zehntausende und Hunderttausende sitzen […] in Büros, stehen hinter Ladentischen oder sind ständig auf der Reise. Eine Riesenarmee, mit 3 Wiegand, Versorgungslagen, S. 50; Statist. Reichsamt, Lebenshaltung, Teil 1, S. 17, 29, 40. 4 Vgl. Statist. Hdb. v. Deutschland, S. 19, 31; Hentschel, Brüche, S. 52 f.; Reulecke, Aspekte, S. 93; Lenger u. Langewiesche, Mobilität, S. 109; v. Saldern, Häuserleben, S. 126 f.; Petzina u. a., Arbeitsbuch, S. 54–57.

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der Front gegen den Konsumenten gerichtet.«5 Vor allem aber waren die Angestellten, die nach Theodor Geigers Sozialstrukturanalyse zusammen mit den Beamten den »neuen Mittelstand« bildeten, ebenso wie die Arbeiter Konsumenten, und zwar im Sinne der Versorgungsabhängigkeit vom Einkommen aus nicht selbständiger Arbeit. Als ökonomische Interessenlage verstanden, war die Verbraucherschaft der Arbeiter, Angestellten und Beamten, deren Ziel, rein finanziell betrachtet, ein möglichst hoher Verdienst bei möglichst niedrigen Verbrauchsgüterpreisen sein musste, mit rund zwei Dritteln der Erwerbstätigen die größte Sozialformation der Weimarer Gesellschaft. Damit soll nicht suggeriert werden, dass die Konsumenten auch tatsächlich als einheitliche soziale Gruppe auftraten – im Gegenteil wird dieses Buch zeigen, wie um die Definition des Konsumenten gestritten wurde und wie die Heterogenität der Verbraucherschaft und ihre multiple Interessenstruktur die Artikulation eines gemeinsamen Konsumenteninteresses behinderten. Wenn hier dennoch zunächst die ökonomische Lage der Verbraucher skizziert werden soll – ohne dabei die bestehenden Differenzen zwischen den verschiedenen proletarischen und bürgerlichen Lebenslagen zu ignorieren –, geschieht das, um jene Gruppen zu fokussieren, die potentiell als Subjekte konsumpolitischer Initiativen wie als Objekte konsumpolitischer Steuerungsversuche auftreten konnten. Der gesamtwirtschaftliche Verlauf der Weimarer Republik, der üblicherweise in die drei Phasen von Inflation, Stabilisierung und Weltwirtschaftskrise auf­ geteilt wird, bestimmte auch die Entwicklung der Realeinkommen. Bevor diese skizziert wird, sollen die methodischen Schwierigkeiten bei ihrer Berechnung erwähnt werden. Da die Realeinkommen bekanntlich durch Deflationierung der Nominalverdienste mit dem Lebenshaltungskostenindex gewonnen werden, sind sie anfällig für Probleme bei der Erfassung des Preisniveaus wie für Veränderungen in der Konstruktion eines repräsentativen Warenkorbs. Erstere waren massiv in der Inflationszeit gegeben, letztere traten durch die sukzessive Reform der seit 1920 berechneten Reichsindexziffer auf, die zunächst auf einem eingeschränkten Bedarfsschema der Nachkriegszeit beruhte, wodurch sich die Frage nach der intertemporalen Vergleichbarkeit stellt.6 Darüber hinaus schlagen bei der Berechnung der disponiblen Einkommen statistische Verzerrungen zu Buche, die bei der Erstellung von Durchschnittswerten durch die Abstraktion von wichtigen Faktoren wie Familiengröße, Alter und Zeitpunkt der Lohn- oder Gehaltsauszahlung entstehen. Schließlich wären auch die erheblichen regionalen und branchenspezifischen Differenzen zu berücksichtigen, die eine Aussage über die Realeinkommensentwicklung fragwürdig machen.7 Eingedenk dieser 5 Lederer, Umschichtung, S. 178 f.; vgl. auch Lederer u. Marschak, Mittelstand, in: GdS, Bd. 9/I, S. 141; Geiger, Schichtung; ders., Kritik; Victor, Verbürgerlichung, S. 17–31; sowie Winkler, Schein, S. 166–173; Nolte, Ordnung, S. 77–107. 6 Vgl. zum Warenkorbproblem ausführlicher Kap. III. 2. 7 Vgl. Flemming u. Witt, Einkommen, S. XLI-XLIV; Holtfrerich, Inflation, S. 24–43, 224–228; Scholz, Lohn, S. 301–322; Mai, Mensch, S. 38 ff.

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Schwierigkeiten, welche die Genauigkeit quantitativer Angaben und die Aussagekraft aggregierter Daten beschränken und die in Zeiten instabiler Geldwertverhältnisse um so schwerer wiegen, lassen sich dennoch einige aussagekräftige Ergebnisse präsentieren. Zunächst zur Inflationszeit:8 Erstens unterlag die Reallohnentwicklung, die zwischen 1918 und 1923 den Verlauf einer Zick-Zack-Kurve nahm, heftigen, zum Teil auch starken monatlichen Schwankungen. Die Löhne stiegen zunächst bis Ende des Jahres 1919 an, brachen in den ersten Monaten des Jahres 1920 ein, erholten sich darauf wieder zwischen Mitte 1920 und Anfang 1922, brachen im Laufe dieses Jahres erneut zweimal ein und stürzten schließlich mit Beginn der Hyperinflation auf einen Stand, der in vielen Berufsgruppen noch unter dem des schlechtesten Kriegsjahres 1917 lag. Die Entwicklung der Angestellten- und Beamteneinkommen nahm einen ähnlichen, unregelmäßigen Verlauf. Die Unbeständigkeit der materiellen Existenzgrundlage hatte ihre paradoxe Konsequenz darin, dass – insbesondere im Jahr der Hyperinflation – von der Erwartungsunsicherheit Konsumanreize ausgingen. Da die Wertaufbewahrungsfunktion des Geldes beschädigt war, schien es vielen vernünftig, den erhaltenen Lohn möglichst schnell zu verausgaben, bevor steigende Preise das schmale Budget entwerten konnten. Daher sprach schon der Sozialwissenschaftler Franz Eulenburg, der 1924 eine bis heute gültige Analyse der sozialen Wirkungen der Inflation lieferte, von einer »größeren Kommerzialisierung des Lebens«.9 Zweitens erreichten die Realwochenlöhne und Gehälter der meisten Arbeitnehmer nicht das Vorkriegsniveau von 1913. Diese negative Bilanz ist gegenüber jener Interpretation der Inflation festzuhalten, die zu Recht deren positive konjunkturelle Impulse  – darunter vor allem eine geringe Arbeitslosigkeit  – und den »Inflationskonsens« von Unternehmern und Gewerkschaften hervorgehoben hat. Werner Abelshauser hat die These vertreten, »die Arbeiterschaft habe nach dem Ersten Weltkrieg ihre Verteilungsposition verbessert«.10 Nicht nur waren auf Grund der Verhandlungsmacht der Gewerkschaften die Reallöhne mehr gestiegen als die Produktivität, auch hatten die Arbeiter gegenüber der Beamtenschaft aufgeholt und konnten in manchen Branchen, wie das Beispiel der Hamburger Chemie- und der Tiefbauarbeiter zeigt, Realstundenlöhne erzielen, die regelmäßig den Stand von 1913 übertrafen. Carl-Ludwig Holtfrerich hat zudem argumentiert, dass bei Berücksichtigung der nach 1918 gesunkenen tariflichen Arbeitszeit die Lage der Arbeiterschaft bis 1922 positiver beurteilt werden muss als die Betrachtung der niedrigen Realwochenlöhne glauben macht. Wenn auf Wunsch der Gewerkschaften nach Einführung des 8-Stunden-Tages 8 Zum Folgenden vgl. Bry, Wages, S.  223–233, 453 f., Tab. A-45; Abelshauser, Verelendung; Holtfrerich, Inflation, S. 228–246; Niehuss, Arbeiterschaft, S. 119–127; Kunz, Civil Servants, S. 60–76; ders., Inflation; Feldman, Disorder, S. 609–627; Geyer, Welt, S. 142–166; zudem nach wie vor: Eulenburg, Wirkungen, S. 748–794. 9 Ebd., S. 792. 10 Abelshauser, Verelendung, S. 455.

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durchschnittlich zwanzig Prozent weniger gearbeitet wurde, war das eben eine bewusste Entscheidung für mehr Freizeit und weniger Konsum.11 Alles das ist richtig und ändert doch nichts an der Tatsache, dass die Konsummöglichkeiten der weit überwiegenden Mehrheit der Arbeitnehmer durch die anhaltend geringen Realeinkommen bis 1923 auf die notwendigsten Bedürfnisse beschränkt waren. Der Realwochenlohn der gelernten Arbeiter lag auch im Durchschnitt der vermeintlich »guten« Inflationsjahre 1919 bis 1922 bei nur 76 Prozent des Vorkriegsniveaus, im Jahr 1923 bei 62 Prozent.12 Noch ungünstiger scheint die Lage für die Angestellten gewesen zu sein, für die jedoch keine brauchbaren aggregierten Daten vorliegen: Ein verheirateter Bankangestellter mit zwei Kindern und im zehnten Berufsjahr erhielt im Durchschnitt der Jahre 1920 bis 1922 zwischen 66 und 70 Prozent seines Vorkriegsverdienstes. Am härtesten traf es aber die höheren und die mittleren Beamten, die in der Nachkriegszeit bis 1922 durchschnittlich lediglich 37 bzw. 50 Prozent ihres Einkommens von 1913 erreichten.13 Allein die schlecht qualifizierten Arbeitnehmer – die Ungelernten, Gehilfen und unteren Beamten – hatten deutlich geringere Einbußen zu beklagen. Wer die Lohntüte oder Gehaltsabrechnung mit einem Blick auf die Vorkriegszeit verglich, hatte allen Grund zur Unzufriedenheit. Drittens fand  – wie bereits angeklungen  – eine Nivellierung der Einkommenshierarchie statt. Nur in diesem eingeschränkten Sinne einer günstigeren Verteilungsposition und geringerer Einbußen kann die Arbeiterschaft als Gewinner der Inflationszeit bezeichnet werden: Ihr Einkommen lag zwischen 1918 und 1923 weniger weit vom Vorkriegsstand entfernt als das der Angestellten und Beamten. Am auffälligsten war aber, dass die Qualifikationsunterschiede innerhalb der einzelnen Berufsgruppen für die Einkommensdifferenzierung an Bedeutung verloren. Die Einbußen des qualifizierten Facharbeiters waren deutlich größer als die des Hilfsarbeiters, die des höheren Bankangestellten größer als die seines Gehilfen, der Frauenlohn holte gegenüber dem Männerlohn auf. Dass zudem im Bildungsbürgertum die oft beschriebene »Not der geistigen Arbeiter« wie ein Trauma wirkte, braucht hier nicht rekapituliert zu werden; es genügt darauf hinzuweisen, dass etablierte, nicht zuletzt durch demonstrativen 11 Vgl. Holtfrerich, Inflation, S.  241–245. Zur Richtungsentscheidung zwischen Zeit und Geld – sprich: Freizeit und Konsum – in der Zwischenkriegszeit aus einer international vergleichenden Perspektive vgl. Cross, Time. 12 Eigene Berechnung nach Bry, Wages, S.  453 f., Tab. A-45. Die Zahlen beziehen sich auf die Durchschnittswochenlöhne von Arbeitern in acht gewichteten Industriezweigen. Die Stundenlöhne erreichten zwischen 1919 und 1923 durchschnittlich immerhin 83 Prozent des Vorkriegsstandes. Auch Holtfrerich selbst konstatiert, dass »in den Jahren 1919–1922 im Durchschnitt die gelernten Eisenbahnarbeiter um ca. 25 Prozent, die Buchdrucker um ca. 35 Prozent, die Ruhrbergarbeiter trotz ihrer Schlüsselrolle für den wirtschaftlichen Wiederaufbau immerhin um ca. 20 Prozent unter ihrem Realeinkommensniveau von 1913« lagen. Holtfrerich, Inflation, S. 229–231. 13 Zu den Angestellten: eigene Berechnung nach Heiler, Verelendung, zit. bei Geyer, Welt, S. 149; zu den Beamten: eigene Berechnung nach Kunz, Civil Servants, S. 62, Tab. 16; Holtfrerich, Inflation, S. 232, Tab. 43.

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Konsum hergestellte Lebensstile im Jahr der Hyperinflation in wenigen Monaten zusammenbrachen. Der materielle Niedergang – durch die Vernichtung der Geldvermögen und die finanziellen Verluste in den freien Berufen, deren Verdienstmodus an langfristige Verträge und eine stabile Währung gebunden war  – ging einher mit der Entwertung der bürgerlichen Ideale von Sicherheit und Sparsamkeit. Wenn es etwas gab, was die beiden Gruppen der vom sozialen Abstieg bedrohten Bürgerlichen und der an Boden gewinnenden, schlecht qualifizierten Arbeitnehmer verband, dann war es die Erfahrung einer durch Einkommensverschiebungen in Bewegung geratenen Gesellschaft. Nach dem Auf und Ab und dem insgesamt niedrigen Niveau der Realeinkommen in der Inflationszeit folgte ein kräftiger Aufschwung zwischen 1924 und 1929. Dass diese Phase aus einer angebotsorientierten wirtschaftshistorischen Sicht als eine trügerische Stabilisierung beschrieben worden ist, da in ihr ein überhöhtes Lohnniveau die Investitionstätigkeit gehemmt hätte und die Strukturprobleme einer »kranken« Wirtschaft konserviert worden seien, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle.14 Für die Arbeitnehmerschaft aller Berufsgruppen bedeuteten diese Jahre eine konstante Verbesserung ihrer finanziellen Lage. Nach einem raschen Anstieg der Arbeiterreallöhne von einem niedrigen Stand im Jahr 1924 bremste zwar die kurze Rezession 1925/26 das Tempo der Steigerung vorübergehend ab, von 1927 bis 1929 wurden dann aber wieder satte Zugewinne verzeichnet. Alles in allem stiegen die effektiven Reallöhne, die in der Boomperiode um 1928 durch Zuschläge für Überstunden, Akkord, Sonntags- und Nachtarbeit deutlich über den tariflichen lagen, im Jahrfünft vor dem Beginn der Weltwirtschaftskrise um ein gutes Viertel und erreichten ein Niveau, das knapp zehn Prozent über demjenigen von 1913 lag. Damit holten sie nur noch leicht gegenüber den Angestellten auf, deren reales Nettoeinkommen im gleichen Zeitraum um 15 bis 20 Prozent stieg. Signalwirkung in dieser Prosperitätsphase hatte zudem das Beamtenbesoldungsgesetz vom Dezember 1927, das die Gehälter um durchschnittlich 16 bis 17 Prozent erhöhte, wobei besonders die Unterbeamten eine kräftige Steigerung ihrer Bezüge um ca. 25 Prozent erzielten.15 Die eindrucksvoll positive Bilanz der Wohlstandsgewinne in der Stabilisierungszeit ist durch die an Bedeutung gewinnende soziale Kluft der Arbeitslosigkeit zu differenzieren. Wer von ihr verschont blieb, konnte auf beachtliche Zugewinne zurückblicken; wer hingegen zur erheblich angewachsenen Gruppe der Arbeitslosen zählte, die in den Prosperitätsjahren durchschnittlich ein Zehntel der Erwerbstätigen ausmachten, lebte in Armut. Nicht nur dass Bedürftigkeits14 Vgl. nur Borchardt, Zwangslagen; James, Deutschland, S. 193 ff. 15 Zu den Arbeitern: Bry, Wages, S. 362, Tab. A-13; Balderston, Origins, S. 16, Tab. 2.4; ­Petzina u. a., Arbeitsbuch, S. 98; Preller, Sozialpolitik, S. 150–158. Zu den Angestellten: Menges u. Kolbeck, Löhne, S.  48, 53 (ca. 15 % Erhöhung bei Angestellten in der gewerblichen Wirtschaft, ca. 20 % bei Angestellten im öffentlichen Dienst); Victor, Verbürgerlichung. Zu den Beamten: Hülden, Entwicklung, S.  64; Völter, Beamtenbesoldung, S.  88; James, Deutschland, S. 218; Hattenhauer, Geschichte, S. 348; Lohmann, Entwicklung.

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prüfungen und Anwartszeiten die Zahl derer reduzierte, die überhaupt staat­ liche Unterstützung erhielten, auch gewährte die Höhe der Erwerbslosenfürsorge und der Arbeitslosenversicherung nur eine unzureichende Versorgung. Nach der 1927/28 durchgeführten Erhebung des Statistischen Reichsamtes erzielten Arbeitslose, selbst wenn die Hilfen von Wohlfahrtsamt, Gewerkschaft und Angehörigen hinzugerechnet wurden, nur zwei Drittel ihres früheren Einkommens.16 Der faktische oder als Drohung erlebte Ausschluss aus der entstehenden Konsumgesellschaft durch Arbeitslosigkeit markierte demnach die auffälligste soziale Differenzierung schon in den »guten« Jahre zwischen 1924 und 1929. Demgegenüber blieben die Einkommensunterschiede, die zwischen Arbeitern, Angestellten und Beamten sowie zwischen Arbeitnehmern unterschied­ licher Qualifikation und unterschiedlichen Geschlechts herrschten, relativ stabil. Die Nivellierung der Inflationszeit setzte sich nicht fort, wurde aber auch nicht zurückgedreht, so dass das Weimarer Sozialgefüge jener Jahre als eine im Vergleich zur Vorkriegszeit leicht gemäßigte, aber immer noch stark differenzierte Klassengesellschaft erscheint.17 Die Schätzungen zur Einkommensschichtung in Deutschland für das Jahr 1928 verdeutlichen dieses Bild. Die Arbeiter in Industrie, Handel und Verkehr verdienten ca. 11 Prozent mehr als 1913, erreichten aber nur siebzig Prozent des Verdienstes der Angestellten. Die Angestellten wiederum verdienten auch 1928 noch 14 Prozent weniger als 1913 und erzielten lediglich 64 Prozent des Beamteneinkommens, wenngleich es auch für sie seit 1924 aufwärts gegangen war. Die Beamten schließlich hatten ihren Vorkriegsverdienst 1928 fast wieder erreichen können (− 2 %) und dement­ sprechend den Abstand zu den Angestellten etwas vergrößert.18 Somit teilten alle Verbraucherschichten die Erfahrung wieder anwachsender finanzieller Spielräume, ohne dass dies zu einem neuartigen Wohlstandsniveau geführt hätte, wie es Ende der fünfziger Jahre der Fall sein sollte – allein die Arbeiter konnten ihre mäßigen Verdienste von 1913 leicht verbessern. Zugleich erhielt sich, einer gewissen Nivellierung zum Trotz, das Einkommensgefüge des Kaiserreichs. Spürbar verschlechtert hatte sich jedoch die relative Position der Angestellten – ein ökonomischer Befund, den einige zeitgenössische Beobachter als Proletarisierung des Mittelstands deuteten. Dieser Begriff führt jedoch angesichts der sich mit den steigenden Einkommen verbessernden Lebens­ verhältnisse auch der Angestellten und der weiterhin bestehenden so­zialen Un16 Statist. Reichsamt, Lebenshaltung, Teil I, S. 79; Preller, Sozialpolitik, S. 154–158; Führer, Unterstützung, S. 294 f.; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 255. Vgl. zur Höhe der Erwerbslosenunterstützung bis 1927 genauer Führer, Arbeitslosigkeit, S. 463–483. 17 Vgl. Preller, Sozialpolitik, S.  158; Bry, Wages, S.  83–86, 96–99; Wehler, Gesellschafts­ geschichte, Bd. 4, S. 284–289; Nolte, Ordnung, S. 77–82; Winkler, Weimar, S. 295 f.; ders., Schein, S. 166 f. 18 Eigene Berechnung nach Victor, Verbürgerlichung, S. 23, Tab. IV, der sich auf die Erhebungen der Berufsgenossenschaften, des Statistischen Reichsamts und des Instituts für Konjunkturforschung stützt; die von Victor genannten Einkommen wurden mit der Reichs­ indexziffer deflationiert.

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terschiede in die Irre. Aussagekräftiger ist die Diagnose, dass es, durch die innere Heterogenität der Arbeiter- und Angestelltenschicht bedingt, zu größeren Überschneidungen zwischen den beiden Gruppen kam: Die 2.500 RM, welche die gelernten Industriearbeiter im Jahr verdienen konnten, waren beispielsweise für die vielen weiblichen wie auch für diejenigen männlichen Angestellten, die mit einfachen Arbeiten betraut waren, außer Reichweite. Da das Anciennitätsprinzip in der Gehaltsskala der Angestellten dem proletarischen lebenszyklischen Einkommensverlauf mit seiner Bevorzugung junger Arbeitskräfte genau entgegengesetzt war, schnitten zudem die jüngeren Angestellten gegenüber ihren Altersgenossen aus der Arbeiterschaft vergleichsweise schlecht ab.19 Es hatte sich eine fluide Einkommenshierarchie herausgebildet, die sich jedoch durch die Weltwirtschaftskrise erneut verfestigen sollte. Noch weit uneinheitlicher als in den beiden vorangegangenen Konjunkturperioden der Nachkriegsinflation und der »goldenen Jahre« bis 1929 verlief die Entwicklung der Realeinkommen der Arbeiter, Angestellten und Beamten in der Großen Depression. Das lag primär daran, dass die Lasten der Notverordnungspolitik der Präsidialkabinette sowie vor allem der Arbeitslosigkeit, welche sich vom Problem einer signifikanten Minderheit zu einem Massenphänomen ausweitete, unterschiedlich verteilt waren. Nach amtlichen Angaben stieg die Arbeitslosenquote zwischen 1929 und 1932 von 8,5 auf dreißig Prozent; wenn seriöse Schätzungen über die Zahl der nicht gemeldeten, »unsichtbaren« Arbeitslosen berücksichtigt werden, waren in den ersten Monaten der Jahre 1932 und 1933 fast acht Millionen Menschen, also etwas mehr als vierzig Prozent der Erwerbstätigen, ohne Arbeit.20 Für die Arbeiter bedeutete diese Krise eine Pauperisierungserfahrung ersten Ranges, da sie als Hauptopfer der massenhaften Entlassungen  – sie stellten etwa neunzig Prozent der Arbeitslosen – den beinahe vollständigen Zusammenbruch ihrer materiellen Versorgung zu verkraften hatten. Der »typische« Arbeitslose: der junge Industriearbeiter erlebte zwischen dem letzten Quartal des Jahres 1929 und dem ersten Quartal des Jahres 1933 einen beispiellos rasanten Abstieg sowie eine Nivellierung der öffentlichen Versorgungsleistungen auf ein Niveau, das nicht einmal mehr die Befriedigung der notwendigsten Bedürfnisse gestattete.21 Wer 1929 arbeitslos wurde, erhielt von der versicherungsmäßigen Arbeitslosenunterstützung (ALU) in den untersten Lohnklassen im 19 Vgl. Victor, Verbürgerlichung, S. 26–30; Menges u. Kolbeck, Löhne, S. 51, Tab. 27; Sträter, Stellung, S. 39–46, 56–60; Winkler, Schein, S. 167; Nolte, Ordnung, S. 105; Mooser, Arbeiterleben, S. 96 ff.; Fischer, Angestellten, S. 16–40. 20 Petzina u. a., Arbeitsbuch, S. 119; Homburg, Arbeitslosen, S. 255, Tab. 1. 21 Die Arbeitslosigkeit traf die städtischen Industriereviere wie Berlin, Sachsen oder Rheinland-Westfalen wesentlich härter als die ländlichen oder sektoral durchmischten Gegenden wie Südwestdeutschland; jüngere Arbeiter und Männer waren stärker betroffen als die »günstigeren« älteren Kollegen und die Frauen. Vgl. hierzu und zum Folgenden Homburg, Arbeitslosen, S. 251–263, 277–280; Winkler, Weg, S. 19–41; Peukert, Generation, S. 173–179; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 317–323.

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günstigsten Fall achtzig Prozent seines bisherigen Verdienstes, in den höchsten Lohnklassen nur sechzig Prozent – inklusive möglicher Familienzuschläge. Wenn nach einem halben Jahr der Anspruch auf Unterstützung erschöpft und keine Stelle gefunden worden war, trat nach einer Bedürftigkeitsprüfung, die Besitz und Vermögen des Antragstellers sowie das gesamte Familieneinkommen anrechnete, die Krisenfürsorge ein: Für maximal 39 Wochen erhielt man dann in den unteren Lohnklassen bestenfalls die Sätze der ALU, in den höheren Lohnklassen wurden diese weiter reduziert. Nach dieser Zeit konnte – nach einer abermaligen Prüfung  – nur noch die kommunale Wohlfahrtshilfe be­ ansprucht werden, deren örtlich höchst unterschiedliche Unterstützung in Geld oder Sachleistungen bestand. Damit nicht genug, senkte die Notverordnung im Juni 1931 die Unterstützungssätze um zehn bis zwölf Prozent; die Papensche Notverordnung ließ sie ein Jahr darauf um weitere 23 Prozent sinken, während die Wohlfahrtssätze zugleich um durchschnittlich 15 Prozent gekürzt wurden. Einer Erhebung des Zentralverbands der christlichen Fabrik- und Tabakarbeiter zufolge lebten arbeitslose Bauarbeiter in Schlesien im Juni 1932 nach Abzug der Miete von 29 Pf. am Tag; das war nicht viel mehr, als ein Kilogramm Kartoffeln und 500 g Roggenbrot kosteten. Kurz: Für die Arbeitslosen führte die Karriere der Verelendung von den bescheidenen finanziellen Spielräumen der Prosperitätszeit binnen dreier Jahre zu einer Hungerexistenz.22 Damit verglichen sah der reale Einkommensverlust jener Arbeiter, die während der Krise noch in Lohn und Brot standen, moderat aus. Die Einbuße von durchschnittlich knapp 15 Prozent, die sie vor allem aufgrund von Kurz­arbeit, untertariflicher Bezahlung und durch den Wegfall von Zulagen erlitten, war oft jedoch faktisch höher, da bei einer derart hohen Arbeitslosenquote in einem Großteil der Haushalte die Einkommensbezieher mit ihrem Verdienst arbeitslose Familienmitglieder mitfinanzieren mussten. Den absoluten Rückgang der proletarischen Arbeitseinkommen von 1929 bis 1932, der die Verluste durch Arbeitslosigkeit einschließt, bezifferte der Ökonom und Gewerkschaftstheoretiker Wladimir Woytinsky in einer Studie für das Internationale Arbeitsamt mit 37,6 Prozent. Für den größten Teil  der Verbraucherschaft bedeutete das den Entzug der finanziellen Voraussetzung für die Teilnahme an der Konsum­ gesellschaft.23 22 Wie viele Arbeitslose den Abstieg durch das dreigliedrige Unterstützungssystem erlebten, verdeutlicht die Tatsache, dass im September 1930 noch die Hälfte der Arbeitslosen die Leistungen der ALU empfingen, während nur 18 Prozent die kommunale Wohlfahrtshilfe beanspruchten. Genau zwei Jahre später hatte sich das Verhältnis praktisch umgekehrt: 40 Prozent waren in der Fürsorge, während nur 12 Prozent von der Versicherung lebten. Vgl. Winkler, Weg, S. 26, Tab. 2. 23 Die aggregierten Realeinkommensverluste der Arbeiter werden leicht unterschiedlich geschätzt von Bry, Wages, S. 362, Tab. A-13 (14,5 %); Menges u. Kolbeck, Löhne, S. 31, Tab. 17 (15,7 %); Hachtmann, Industriearbeit, S. 159, Tab. 14 (13,4 %); Müller, Nivellierung, S. 140 (7 %). Vgl. auch die ILO-Studie: Woytinsky, Consequences, S. 331; sowie Balderston, ­Origins, S. 43–48.

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Bei weitem nicht so katastrophal stellte sich die Lage der Angestellten dar. Zwar stieg auch unter ihnen die Arbeitslosenquote deutlich an, erreichte mit 13,6 Prozent im Jahr 1932 jedoch nicht annähernd die desaströsen Werte der Industriearbeiterschaft. Zudem waren die Angestellten in den Reihen der Wohlfahrtserwerbslosen, also auf der untersten Stufe der Arbeitslosenhierarchie, unterrepräsentiert. Berücksichtigt man die Einbußen durch Arbeitslosigkeit und die häufiger werdende untertarifliche Bezahlung, betrug der Rückgang der Realeinkommen in der gesamten Angestelltenschaft Woytinsky zufolge durchschnittlich 14,7 Prozent. Die sich in regulären Beschäftigungsverhältnissen befindenden Angestellten schnitten weit besser ab: Ihr realer Durchschnittsverdienst stieg während der Krise sogar leicht an, da die Gehaltskürzungen durch die sinkenden Lebenshaltungskosten kompensiert wurden. Zum Teil war diese relativ positive Bilanz jedoch ein statistisches Produkt ohne lebensweltliche Bedeutung, stiegen doch die Durchschnittsverdienste der Beschäftigten auch deshalb, weil sich der Anteil der gering verdienenden jungen Angestellten auf Grund der in ihren Reihen höheren Arbeitslosigkeit reduzierte.24 Ähnlich zwiespältig  – wenn auch aus anderen Gründen  – ist das Bild bei den Beamten: Der Aufwärtstrend der vergangenen Jahre setzte sich nicht ungebremst fort, die ökonomische Position konnte aber im großen und ganzen verteidigt werden, und der Abstand zur Arbeiterschaft wuchs wieder. Von der Arbeitslosigkeit im Gegensatz zu Arbeitern und Angestellten nicht betroffen, blieben sie jedoch nicht von der Brüningschen Deflationspolitik verschont. Die verschiedenen Gehaltskürzungen durch die Notverordnungen der Jahre 1930/31 beliefen sich nominell auf etwas mehr als zwanzig Prozent des Verdienstes vom Oktober 1927, was angesichts der um annähernd den gleichen Betrag gefallenen Preise einen nur minimalen Verlust bedeutete.25 In der großen Krise Anfang der dreißiger Jahre war demnach für die finanziellen Konsummöglichkeiten der Verbraucher der Verlust des Arbeitsplatzes die weitaus schwerere Belastung als die Einkommenseinbußen der Vollbeschäftigten. Das machte die Arbeiter, die das Schicksal der Arbeitslosigkeit massenhaft erlebten, zu den großen Verlierern, während Angestellte und Beamte erheblich geringere Einschnitte zu verkraften hatten, ihre wirtschaftliche Lage oft sogar unverändert blieb. 24 Vgl. Preller, Sozialpolitik, S.  167; Prinz, Mittelstand, S.  56–65; Woytinsky, ­Consequences, S.  331; Müller, Nivellierung, S.  140; Petzina u. a., Arbeitsbuch, S.  100; Sträter, Stellung, S. 62. Die Steigerung des Realeinkommens der beschäftigten Angestellten um 13 Prozent (1929/1932), die Müller errechnet, hält Prinz aus dem genannten Grund für überzogen, kommt anhand eines anderen Datensamples aber auch auf einen leichten Anstieg von zwei Prozent. 25 Vgl. Völter, Beamtenbesoldung, S. 80, 89; Woytinsky, Consequences, S. 331; Müller, Nivellierung, S. 140. Siehe aber auch die Publikationen des Deutschen Beamtenbundes (Hülden, Entwicklung, S.  76, Tab. 1; Völter, Beamtenbesoldung, S.  88) sowie Kleineberg, Entwicklung, S. 84, die ein düstereres Bild zeichnen, jedoch Orts- und Familienzuschläge nicht hin­ reichend berücksichtigen.

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Ohne im Kurzschlussverfahren von sozioökonomischen Daten auf das subjektive Erleben höchst unterschiedlicher Verbrauchertypen schließen zu können, lässt sich fragen, welchen materiellen Erfahrungskern und welches Er­ wartungspotential die sozial differenzierte Einkommensentwicklung zwischen 1919 und 1932 transportierte. Einerseits blieb die klassengesellschaftliche Grundstruktur erhalten und mit ihr die Dreiteilung der Verbraucherschaft, bestehend aus einem großen proletarischen Lager, einer kleinen bürgerlichen Beamtenschicht und einer wachsenden mittleren Schicht von Angestellten mit ihrer finanziellen Ausstattung, die für ein wahrhaft bürgerliches Leben nicht ausreichte, jedoch genügend Spielraum bot, um sich von der proletarischen Konsumwelt abzuheben. In diesem Gerüst funktionierten die vertrauten Mechanismen der kulturellen Selbstbehauptung, der Nachahmung und Distinktion. Konstant blieben darüber hinaus für den größten Teil der Verbraucherschaft – die Arbeiter, aber auch die Angestellten und Beamten der unteren Gehalts- und Besoldungsstufen – die begrenzten Spielräume disponiblen Einkommens: Lediglich zwischen 1928 und 1930 lagen die Reallöhne der Arbeiterschaft über dem Vorkriegsniveau. Die Erfahrung des Mangels und der Notwendigkeit, mit einem knappen Budget zurecht­ kommen zu müssen, prägten den Alltag der Mehrheit der Bevölkerung. Andererseits war vieles in Bewegung. Im diachronen Verlauf betrachtet, teilten alle Verbraucherschichten zunächst in den Jahren der Inflation die Erfahrung von massiven Einschnitten und Erwartungsunsicherheit, wobei die schlimmsten Verluste das bürgerliche Lager der Beamten zu verkraften hatte. In der folgenden Prosperitätsperiode schien die Kontinuität der wilhelminischen Wohlstandsentwicklung zurückzukehren, gewannen doch alle Arbeitnehmer kräftig hinzu. Allein die Arbeiter übertrafen 1928/29 aber ihren Verdienst von 1913, während die Angestellten geringere Zugewinne und damit eine Verschlechterung ihrer Verteilungsposition verzeichneten. In der Depressionszeit schließlich erlebte der größte Teil der Arbeiterschaft einen ökonomischen Zusammenbruch durch Arbeitslosigkeit und Lohnverluste, während Angestellte und Beamte weniger verloren bzw. ihren finanziellen Besitzstand aufrechterhielten. Die Wellenbewegung von Krise, Aufschwung und Absturz im Laufe von nur vierzehn Jahren kontrastierte mit der Erinnerung an die stabilen Verhältnisse der Vorkriegszeit. Aber auch im synchronen Vergleich war die Einkommensentwicklung uneinheitlich: Jede der drei Verbrauchergruppen erlebte zu einem anderen Zeitpunkt eine Phase des relativen Abstiegs, der für die Beamten in der Inflation wie für die Arbeiter in der Weltwirtschaftskrise zudem ein absoluter Niedergang war. Es war diese Ungleichmäßigkeit der Einkommensentwicklung sowohl im zeitlichen Verlauf als auch in der sozialen Verteilungswirkung, an der sich zeitgenössische Deutungsmuster wie die »Not der geistigen Arbeiter«, die »Proletarisierung des Mittelstands« oder die »Verbürgerlichung des Proletariats« abarbeiteten. Nicht dass sich aus dem unübersichtlichen Auf und Ab der Einkommen die Erwartung einer bestimmten Entwicklungsrichtung ableiten ließ, 37

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aber dass in der finanziellen Versorgung und somit auch in den Konsummöglichkeiten rasch Änderungen eintreten konnten, dass Aufstieg oder Abstieg, Gewinn oder Verlust realistischerweise erwartbar waren, stellte ein entscheidendes Signal dar, das von der Einkommensentwicklung ausging.

2. Struktur des privaten Verbrauchs Bevor gezeigt wird, dass der Dynamik der Einkommensentwicklung ein Strukturwandel des privaten Verbrauchs korrespondierte, und untersucht wird, wie dieser im einzelnen beschaffen war, ist über das begriffliche Instrumentarium zu entscheiden, das zur Beschreibung der Konsumstruktur verwendet werden soll. Die Konsumstatistiken, auf die im folgenden zurückgegriffen wird, liefern mit den Bedarfsgruppen – Ernährung, Wohnung, Bekleidung etc. – bereits Kategorien, die jedoch ohne eine weitere Interpretation, die sie unter bestimmten Gesichtspunkten entweder zu Großgruppen zusammenfasst oder ihre Binnenstruktur nach übergreifenden Kriterien ausdifferenziert, analytisch uninteressant sind. Damit stellt sich die Frage nach der sinnvollsten Klassifizierung, die sich nur durch den Bezug auf das erkenntnisleitende Interesse beantworten lässt: Da hier der Spannung zwischen Mangelerfahrung und Wohlstandserwartung nachgegangen werden soll, bietet sich eine dichotomische Einteilung der Bedarfe in notwendige und nicht notwendige an. Zwar scheinen die gewaltigen historischen, kulturellen und sozialen Differenzen im Konsumverhalten die Klassifikation der Bedarfe nach dem Grad ihrer Notwendigkeit endgültig unterminiert zu haben. Im begrenzteren historischen und sozialen Rahmen der mittelfristigen Verbrauchsentwicklung seit dem späten Kaiserreich einerseits und dem Gefüge der Weimarer Konsumstile andererseits, ist die Frage aber sinnvoll, ob sich in den Konsummustern der verschiedenen Phasen und Schichten eine unterschiedliche »Distanz zur Not(-wendigkeit)«26 spiegelte. Die Beantwortung dieser Frage erfordert eine Vorgehensweise in zwei Schritten: Für den diachronen Vergleich des Weimarer Konsums mit dem des Kaiserreichs wird zunächst eine makroökonomische Perspektive bevorzugt, welche die absolute und relative Entwicklung der Bedarfsgruppen verfolgt. Der anschließende synchrone Vergleich sozial geschichteter Konsummuster in der Weimarer Republik basiert dagegen auf mikroökonomischen Untersuchungen, die nicht nur die Größenverhältnisse der Bedarfsgruppen berücksichtigen, sondern innerhalb dieser unterschiedliche Konsumstile aufzufinden suchen. Auf beiden Ebenen soll zwischen notwendigem oder Existenzbedarf einerseits und

26 Damit wird zugleich die Leitperspektive der Bourdieuschen Klassenanalyse in den »Feinen Unterschieden« aufgegriffen. Vgl. Bourdieu, Unterschiede, S. 290.

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Wahlbedarf andererseits unterschieden werden.27 Es muss daran erinnert werden, dass diese bipolare Unterscheidung eine heuristische ist, die den Zweck verfolgt, Entwicklungs- und Vergleichsaussagen zu ermöglichen, die jedoch nicht den Anspruch erhebt, die zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in einer bestimmten sozialen Lage existierende Dringlichkeitsstruktur des Konsums tatsächlich abzubilden, da diese wohl eher ein von »notwendig« bis »überflüssig« reichendes Kontinuum darstellt. Wie lässt sich zunächst auf der makroökonomischen Ebene die Unterscheidung von Existenz- und Wahlkonsum dennoch rechtfertigen und inhaltlich füllen? Welche Bedarfsgruppen können als notwendig gelten und warum? Die Klassifizierung ist wenig überraschend, da aus der Lebenshaltungsforschung bekannt: Nahrungs- und Genussmittel, Wohnung und Kleidung machen den Existenzbedarf aus, während Möbel und Hausrat, Gesundheits- und Körperpflege, Bildung und Erholung, Verkehr und häusliche Dienste den Wahlbedarf stellen.28 Interessant ist lediglich die Begründung dieser Einteilung. Oft wurde sie darauf zurückgeführt, dass dem Existenzbedarf körperliche, physiologische Bedürfnisse zugrunde lägen, sich im Wahlbedarf hingegen geistige oder kulturelle Bedürfnisse realisierten. Diese Unterscheidung ist aus verschiedenen Gründen obsolet: Nicht nur impliziert die Trennung von körperlichen und geistigen Bedürfnissen einen kartesischen Dualismus, von dem sich die analytische Philosophie des Geistes weitgehend verabschiedet hat.29 Auch ist die exklusive Markierung eines »Kulturbedarfs«, dessen Anteil ja in höheren Einkommensschichten steigt, abzulehnen, da sie den Kulturbegriff unzulässigerweise an gesellschaftliche Privilegien koppelt und die sozialanthropologischen und alltagsgeschichtlichen Studien zur Kultur der Unterschichten ignoriert.30 Insgesamt 27 Der von Helga Schmucker verwendete Begriff des Wahlbedarfs erscheint neutraler als der von Bourdieu bevorzugte Luxusbegriff, der dazu tendiert, normativ aufgeladen zu werden. Bourdieus Argument, der Luxusgeschmack sei ebenfalls sozialen Zwängen unter­ worfen und daher nicht absolut frei gewählt, ist zwar richtig, ändert aber nichts daran, dass der Luxuskonsum sich durch die Abwesenheit primärer, rein ökonomischer Restriktionen auszeichnet und insofern erst eine gewisse Wahlfreiheit gegeben sein muss, bevor andere Zwänge wirksam werden können. Vgl. Schmucker, Strukturwandlungen, S.  118 ff.; Bourdieu, Unterschiede, S. 290. 28 Ein terminologisches Problem bei der Trennung der Bedarfsgruppen in Existenz- und Wahlbedarf besteht allerdings darin, dass natürlich nicht jeder Nahrungsmittel-, Wohnungs- und Bekleidungskonsum existentiell notwendig ist. Innerhalb einer Bedarfsgruppe, die Ausgaben von höchst unterschiedlicher Dringlichkeit und für qualitativ verschiedene Produkte umfasst, bestehen zahlreiche Optionen, die von den sozialen Gruppen in unterschiedlichem Ausmaß ergriffen werden. Dies wird jedoch Gegenstand der später folgenden schichtspezifischen Analyse sein. Zudem gehören die Ausgaben für Heizung und Beleuchtung, die in dieser Verbrauchsstruktur unter der Kategorie Möbel und Hausrat gefasst sind, eigentlich zum Existenzbedarf, können hier aber nicht differenziert betrachtet werden. 29 Vgl. Bieri, Philosophie. 30 Vgl. Tanner, Fabrikmahlzeit, S. 155.

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ist von der Mehrdimensionalität des Nutzens auszugehen, der durch den Konsum eines Gutes gewonnen wird: Das Essen beispielsweise hat nicht nur eine Ernährungsfunktion, sondern weist zugleich ästhetische und soziale Aspekte auf. Seit den Arbeiten Kelvin Lancasters werden kulturelle Überformungen dieser Art auch von der ökonomischen Konsumtheorie ernst genommen und modelliert.31 Gleichwohl sprechen andere Gründe für die Trennung von Existenz- und Wahlbedarf. Ohne auf verfehlte Dichotomien wie die von Körper und Geist, Natur und Kultur rekurrieren zu müssen, ist es zutreffend, dass eine notwendige Voraussetzung für die Reproduktion der sozialen Existenz des Menschen die minimale Befriedigung der Nahrungs-, Wohnungs- und Kleidungs­bedürfnisse ist. Auf dem relativ geringen Einkommensniveau der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich die Tatsache, dass zuerst dieser lebensnotwendige Bedarf gedeckt werden muss, bevor an die Befriedigung anderer Bedürfnisse gegangen werden kann, dahingehend ausgewirkt, dass für ihn ein Großteil der Einkommen aufgewendet wurde. Der langfristige Strukturwandel des privaten Verbrauchs zeigt zudem, dass der Anteil des Existenzbedarfs  – vor dem Ersten Weltkrieg lag er über achtzig, heute bei etwa fünfzig Prozent32 – mit steigendem Volkseinkommen gesunken ist, was die Verbrauchsstruktur zu einem Indikator für den historisch variablen Grad an Notwendigkeit macht, der den Konsum beherrscht. Jedoch ist dies nur ein säkularer Trend, der unterschiedliche und sogar gegenläufige Entwicklungen des Nahrungs-, Wohnungs- und Bekleidungskonsums umfasste. Eine eindeutige funktionale Einkommensabhängigkeit lässt sich ausschließlich für den Ausgabenanteil der Ernährung demonstrieren, die deshalb als Kernbestandteil des Existenzbedarfs betrachtet werden kann. Es gilt mithin cum grano salis, was der preußische Statistiker Ernst Engel bereits im Jahr 1857 in dem nach ihm benannten Gesetz feststellte und seither in zahllosen Untersuchungen bestätigt worden ist, dass nämlich bei steigendem Einkommen der Anteil der Ernährungsausgaben zurückgeht.33 Ein weiteres Kriterium für die Trennung von Existenz- und Wahlbedarf wird durch die Berechnung von Elastizitätskoeffizienten gewonnen. Diese Maß­ zahlen geben an, wie der Verbrauch auf Einkommenssteigerungen reagiert: Die Veränderung des Ausgabenanteils einer Bedarfsgruppe ist unterproportional, wenn der Koeffizient einen Wert kleiner als 1 annimmt. Das bedeutet, dass in dieser Bedarfsgruppe ein relativer Sättigungspunkt erreicht ist, da eine  – gleichwohl mögliche – Verbrauchssteigerung in dieser Kategorie nicht der Höhe des Einkommenszuwachses entspricht. Das zusätzliche Geld wird also eher 31 Vgl. Lancaster, Approach; eine präzise Darstellung des Modells der Gütercharakteristika von Lancaster und eine Kritik daran bei Hedtke, Konsum, S. 193–200, 212–221. 32 Siehe unten (Tab. 2) sowie Schmidt, Perspektiven, S. 241, Tab. 1; Noll u. Weick, Strukturen, S. 412. 33 Zur Validität und Reichweite des Engelschen Gesetzes vgl. Schmucker, Bestimmung, S. 182– 211; Streissler, Theorie, S. 134–138; Streissler u. Streissler, Einleitung, S. 83.

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für andere, dringlicher erwünschte Güter und Dienstleistungen aufgewendet, die dementsprechend eine überproportionale Ausgabenentwicklung und Koeffizienten größer als 1 aufweisen. Die Vermutung, dass der notwendige Existenzbedarf eine geringere Elastizität hat als der Wahlbedarf, da seine Befriedigung unter den Bedingungen knapper finanzieller Ressourcen vorgezogen wurde, bestätigt sich besonders deutlich in dem hier interessierenden Zeitraum. Die Koeffizienten, die Reinhard Spree auf der Basis eines Vergleichs der Verbrauchsstruktur von 1907 und 1927/28 berechnet hat, unterscheiden sich in der erwarteten Weise. Für die notwendigen Bedarfskomponenten der Nahrungsmittel, Miete und Bekleidung liegen sie bei etwa 0,6 und zeigen also einen unterdurchschnittlichen Verbrauchsanstieg,34 während die Elastizitätswerte des Wahlbedarfs hoch sind, d. h. bei den Ausgaben für Möbel, Gesundheit und Körperpflege, Bildung und Erholung sowie Verkehr zwischen 1,8 und 3,6 liegen. Die einzige Ausnahme bildet die Bedarfsgruppe der häuslichen Dienste, deren negativer Wert sie als ein inferiores Gut ausweist, dessen Verbrauch, schon seit Jahrzehnten anteilsmäßig im Schwinden, nun auch absolut rückläufig war.35 Die Unterscheidung von Existenz- und Wahlbedarf lässt sich demnach sinnvoll zur Analyse der Verbrauchsstruktur einsetzen, da sie Rückschlüsse erlaubt über die relative Bedeutung von ökonomischem Zwang und Entscheidungsspielräumen der Konsumenten im historischen Prozess. Zunächst also zur makroökonomischen Verortung der Weimarer Verbrauchs­ struktur: Das aus der volkswirtschaftlichen Aufbringungsrechnung gewonnene Bild zeigt in der longue durée zunächst das vom langfristigen Wachstumstrend abweichende stagnierende Konsumniveau der Weimarer Republik.36 Die folgende Tabelle, die anhand von Stichjahren die absolute Entwicklung des pri­ vaten Verbrauchs und der verschiedenen Bedarfsgruppen darstellt, verdeutlicht die enttäuschende Bilanz, die sich am Ende der Republik auf dem Tiefpunkt der Weltwirtschaftskrise im Vergleich mit den vorangegangenen Wachstumsperioden des Kaiserreichs ergab. Während im Jahr 1932 der gesamte Verbrauch ebenso wie die Bevölkerungszahl auf einem Niveau lag, das bereits vor dem Krieg erreicht wurde, war das Konsumwachstum des Kaiserreichs beeindruckend, umso mehr weil es das starke Bevölkerungswachstum noch weit übertraf.

34 Der Genussmittelverbrauch weist sogar einen negativen Koeffizienten auf, was bedeutet, dass trotz gestiegenen Einkommens die Konsumenten den Verbrauch sogar einschränkten. Dies ist jedoch, wie später zu zeigen sein wird, in erster Linie das Produkt einer extremen Preissteigerung bei den Genussmitteln. 35 Vgl. Spree, Knappheit, S.  187; v. Knorring, Strukturwandlungen, S.  176–184; Schmucker, Strukturwandlungen, S. 132. 36 Zu der von Walther G. Hoffmann verwendeten Methode der makroökonomischen Schätzung des Konsums, die den folgenden Ausführungen zugrunde liegt, vgl. Schmucker, Strukturwandlungen, S.  106–111; Spree, Knappheit, S.  186 f., Fn.  28; Pierenkemper, Haushalt, S. 14–17.

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Tab. 1: Die absolute Entwicklung des privaten Verbrauchs in %, 1875–1932 1875– 1894

1894– 1913

1913– 1932

1913– 1925

1925– 1929

1929– 1932

Verbrauch insgesamt

+ 48

+ 54,4

−0,1

− 1,9

+ 12,5

− 9,5

Nahrungsmittel

+ 44,4

+ 50,1

+ 10,2

− 5,1

+ 16,7

− 0,6

Genussmittel

+ 17,7

+ 25,8

− 36

− 25,1

+ 19,7

− 28,7

Wohnung

+ 76,4

+ 80,7

+ 5,1

− 5,9

+9

+ 2,5

Möbel/Hausrat, Heizung/Beleuchtung

+ 94,3

+ 93,4

− 6,3

+ 27,9

+ 13,4

− 35,4

Bekleidung

+ 67,6

+ 39,6

− 15,1

− 2,2

− 8,2

− 5,4

Gesundheit u. Körperpflege

+ 88,8

+ 106,4

+ 58,5

+ 9,9

+ 35,1

+ 6,8

+ 3,4

+ 0,1

+ 1,7

− 21,8

häusliche Dienste

− 30

− 12

Bildung u. Erholung

+ 94

+ 131,1

+ 88,7

+ 101,5

+ 22,6

− 23,7

Verkehr

+ 152,6

+ 254

− 2,3

+ 29,7

+ 16

− 35,1

Bevölkerung

+ 20,7

+ 30,5

− 1,4

− 5,7

+ 2,5

+ 1,5

Quelle: Eigene Berechnung nach den bei Hoffmann u. a., Wachstum, angegebenen jährlichen Wertreihen für den absoluten privaten Verbrauch in Preisen von 1913 (S. 698 f., Tab. 190) und Bevölkerungszahlen für das Deutsche Reich (S. 173 f., Tab. 1).

Obwohl die Hochkonjunktur erst 1895 einsetzte, hatte der private Verbrauch, der seit 1880 nur einmal, 1909/10, um 1,4 Prozent zurückging, sämtlichen Bedarfsgruppen kräftige Zuwächse beschert. Unterdurchschnittlich gewachsen war der Existenzbedarf von Nahrungs- und Genussmitteln sowie seit 1894 der von Bekleidung, während die Kategorien des Wahlbedarfs, in denen sich vor allem die diversen »gehobenen« Bedürfnisse nach Repräsentation, Schönheit, Bildung, Unterhaltung und Mobilität realisierten, weit überdurchschnittlich zulegten. Ausnahmen bildeten lediglich die scharf ansteigenden Wohnungsausgaben sowie die bereits erwähnten, stagnierenden häuslichen Dienste. Eine sinnfällige Reflektion dieses langfristigen und stabilen Trends waren die optimistischen Prognosen, die der Nationalökonom Lujo Brentano 1908 in seinem »Versuch einer Theorie der Bedürfnisse« entfaltete. Die geläufige Dichotomie von notwendigen körperlichen und dynamischen geistigen Bedürfnissen aufgreifend, ging Brentano davon aus, dass, wie geschehen, bei anhaltendem Wirtschaftswachstum die »höheren« geistigen Bedürfnisse, darunter allen voran dasjenige nach Anerkennung, an Bedeutung gewinnen und zu weiterem zivilisatorischen Fortschritt führen würden. Daraus zog Brentano den Schluss, 42

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dass auch eine Politik der hohen Löhne und eine Stärkung der Massenkaufkraft nicht in einer malthusianischen Sackgasse enden, sondern der weiteren Steigerung des Lebensstandards zuträglich sein würden.37 Diese Wohlstandserwartung und ein so übersichtliches mind mapping ließen sich im Jahr 1932 angesichts der vollkommen disparaten Entwicklung der verschiedenen Verbrauchsgruppen kaum aufrechterhalten. Während beim Existenzbedarf besonders der Konsum an Nahrungsmitteln überdurchschnittlich gestiegen war, war der an Genussmitteln und Kleidung deutlich zurückgegangen; nicht weniger uneinheitlich zeigte sich die Entwicklung bei den Wahlausgaben, wo für Möbel, Hausrat und Verkehr weniger aufgewendet wurde, für Gesundheits- und Körperpflege, Bildung und Erholung hingegen weiterhin hohe Zuwächse verzeichnet wurden. Nachdem Krieg, Inflation, Aufschwung und Depression das im Kaiserreich wohl geordnete Spektrum der Wachstumssektoren beseitigt hatten, lagen die bis zum Ende der Weimarer Republik noch gestiegenen Konsumbedürfnisse an den entgegengesetzten Enden einer nach der Dringlichkeit ihrer Befriedigung gestaffelten Hierarchie der Bedürfnisse. Einerseits expandierte mit den erhöhten Ausgaben für Nahrungsmittel und Miete das »Reich des Notwendigen«, andererseits setzte sich das Wachstum einiger Wahlbedürfnisse fort, die, wie man heute sagen würde, im weitesten Sinne das körperliche self-fashioning sowie die Freizeitgestaltung betrafen. Ein Blick auf die genauere Entwicklung der Verbrauchsgestaltung zwischen 1913 und 1932 verrät, in welchen Zeitabschnitten sich das eigentümliche Wachstum der Extreme von Existenz- und Wahlbedarf vollzog und wie unterschiedlich sich der rasante Wandel der Einkommensspielräume auf die einzelnen Ausgabengruppen auswirkte. Im Jahr 1925 – dem ersten nach dem Krieg, für das wieder verlässliche Daten zu Verfügung stehen – lag der gesamte Konsum leicht unter dem Stand von 1913, was jedoch durch einen noch stärkeren Rückgang der Bevölkerung kompensiert wurde. Die folgende Blütezeit der Weimarer Wirtschaft bewirkte eine vorübergehende Rückkehr zu wilhelminischen Wachstumsraten, bevor der Verbrauch in der Großen Krise ebenso rasch einbrach, wie er zuvor gestiegen war. Von diesem Gesamttrend wichen einige Bedarfsgruppen in signifikanter Weise ab, was auf einen Wandel der Konsumpräferenzen in den verschiedenen Phasen der wechselvollen Weimarer Wirtschafts­ geschichte hindeutet. Über die Inflationsjahre bis 1924, die im Hoffmannschen Zahlenwerk statistisch nicht erfasst sind, lassen sich zwar kaum Aussagen machen, fest steht jedoch, dass es in dieser Zeit angesichts der bis 1925 verdoppelten Ausgaben im Bereich Bildung und Erholung zu einem erheblichen Anstieg des – im engeren Sinne – kulturellen Bedarfs gekommen sein muss. Das überdurchschnittliche Wachstum der Nahrungs- und Genussmittelausgaben zwischen 1925 und 1929, das für eine Boomphase durchaus untypisch ist, lässt dann erkennen, dass der Bedeutungsgewinn der Ernährung nicht erst ein Produkt der Weltwirtschaftskrise, sondern ein Erbe der durch Krieg und Inflation bewirk37 Vgl. Brentano, Versuch, S. 11–35, 63 f.; ders., Arbeitslohn, S. 13–15.

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ten Unterver­sorgung war, was seit 1925 zu einem nachholenden Konsum in diesem Bereich führte. Übertroffen wurden diese hohen Zugewinne nur noch vom Ausgabenanstieg für Bildung und Erholung sowie besonders für Gesundheitsund Körperpflege. Letztere Verbrauchsgruppe konnte erstaunlicherweise sogar in der Krise nach 1929 noch Zuwächse verbuchen, während die anderen Kategorien des Wahlbedarfs dramatisch verloren. Der Zusammenbruch betraf vor allem die Ausgaben für Möbel und Hausrat sowie für Verkehr, die bereits 1925 den Stand von 1913 deutlich übertroffen und danach weiter zugelegt hatten, dann aber unter das Vorkriegsniveau stürzten. Einen genaueren Überblick über die relative Bedeutung der verschiedenen Güter und Dienstleistungen vermittelt die folgende Tabelle Nr. 2, die verdeutlicht, wie stabil einerseits die Größenverhältnisse der Bedarfsstruktur auf lange Sicht sind, wie es andererseits in den »goldenen« Jahren der Weimarer Republik zu einer verspäteten Fortsetzung des langfristigen Wohlstandstrends kam, der unmittelbar darauf in der Weltwirtschaftskrise von einer Restrukturierung des Konsums im Zeichen des Mangels abgelöst wurde. Bei der Interpretation dieser Statistik ist aber zu berücksichtigen, dass von einer Veränderung der Anteile nicht voreilig auf einen entsprechenden Wandel der dahinter liegenden Bedürfnisse geschlossen werden kann. Es ist nämlich zugleich zu prüfen, ob nicht eine Veränderung des Preisniveaus, das bei der Berechnung der Verbrauchsstruktur zwar berücksichtigt, jedoch nicht expliziert wurde, eine entsprechende Umgestaltung des Konsums begünstigte. Zu diesem Zweck wird für den hier zur Debatte stehenden Zeitraum zusätzlich – in kursiver Schrift – die relative Entwicklung der Preise dargestellt, woran abzulesen ist, ob sich einzelne Verbrauchsgruppen zwischen 1909/13 und 1930/33 über- oder unterdurchschnittlich verteuert oder verbilligt haben. Einige theoretische Vorbemerkungen zum komplexen Verhältnis von Preis und Nachfrage sind der Analyse voranzuschicken.38 Selbstverständlich ist von einer Interaktion beider Größen auszugehen, die sich methodisch jedoch nicht für das gesamte Bedarfsspektrum einfangen lässt, weshalb im folgenden lediglich eine der beiden Wirkungsrichtungen, die Änderung der relativen Preise als dynamischer Faktor in den Verbrauchsänderungen, untersucht wird. Unberücksichtigt bleiben auch Substitutionseffekte – Verbrauchsverschiebungen hin zu relativ günstigen oder qualitativ besseren Produkten – innerhalb der einzelnen Bedarfsgruppen. Abgesehen von diesen Einschränkungen wird der hier angestrebte Versuch, bei der Beurteilung der Konsumstruktur die Wirkung der relativen Preisentwicklung zu berücksichtigen, von einer theoretischen Vorannahme beeinflusst. Es handelt sich dabei um das von der Grenznutzentheorie als Normalfall unterstellte Verhalten der individuellen Nachfragefunktion bei Preisvariationen. Das Modell besagt, dass unter partialanalytischen Prämissen, d. h. wenn nur ein Markt bei konstanten Bedingungen der anderen Märkte un38 Zum Folgenden vgl. Fehl u. Oberender, Grundlagen, S. 201–217; Schmucker, Strukturwandlungen, S. 136, 140; Streissler, Theorie, S. 45–50.

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Tab. 2: Anteile der Bedarfsgruppen am privaten Verbrauch in % (Fünfjahresdurchschnitte nach Preisen von 1913) und Preisstruktur des privaten Verbrauchs (kursiv, Indexwerte 1909/1913 = 100) 1899/1903

1904/1908

Preisniveau insgesamt

1909/1913

1925/1929

1930/1933

100

149,4

129,8

Nahrungsmittel

40,2

39,7

38,9 100

38 145,2

41,4 114,2

Genussmittel

15,8

14,9

12,9 100

9,7 210,9

8,6 203,2

Wohnung

14,2

14,9

15,8 100

15,1 113,5

16,4 130,2

6,4

6,6

7,5 100

10,4 151,7

8,2 133,6

14,3 100

13,1 167,9

11,7 130,1

Möbel u. Hausrat, Heizung u. Beleuchtung Bekleidung

14

14

Gesundheitsu. Körperpflege

2,8

3,2

3,4 100

4,1 133

5,4 126,6

häusliche Dienste

3,5

3,2

2,9 100

2,4 162,3

2 154,1

Bildung u. Erholung

1,1

1,2

1,3 100

2,9 146,4

2,7 135,1

Verkehr

1,9

2,4

3 100

4,1 119,9

3,6 114,4

Quelle: Eigene Berechnung nach v. Knorring, Strukturwandlungen, S. 173, Tab. 2; S. 188, Tab. 6.

tersucht wird, die nachgefragte Menge eines Gutes bei steigendem Preis sinkt, während bei sinkendem Preis die nachgefragte Menge steigt. Da diese Prämissen offensichtlich nicht bei einer Untersuchung der gesamten Bedarfsstruktur und zugleich stark variierenden Einkommen gegeben sind, es hier aber auch nicht um eine quantifizierende Erfassung der Preis-Nachfrage-Relation eines bestimmten Gutes geht, wird eine Umformulierung der normalen Nachfragefunktion vorgeschlagen, die ausdrückt, welche Veränderungen der Ausgabenanteile auf Preisvariationen als wahrscheinlich gelten können. Es wird mithin angenommen, dass bei einem überdurchschnittlichen Preisanstieg einer Be45

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darfsgruppe ein Rückgang ihres Anteils am gesamten Verbrauch zu erwarten ist, dass umgekehrt bei überdurchschnittlich sinkenden Preisen sich der Ausgabenanteil für diese Bedarfsgruppe erhöht. Wenn ein solcher Zusammenhang im Folgenden festgestellt werden kann – und aufgrund einer methodischen Skepsis gegenüber der quantitativen Exaktheit des statistischen Materials sollen nur die extremen Fälle einer über- oder unterdurchschnittlichen Preisentwicklung hier von Interesse sein –, wollen wir davon ausgehen, dass die Preisvariation einen starken Einfluss auf die Anteilsverschiebung hat. Natürlich sind auch andere Reaktionen der Nachfrage auf Preisänderungen möglich, die von der standardökonomischen Konsumtheorie als Abweichungen vom Normalfall, als sogenannte Effekte, modelliert werden. Der Snob-­Effekt beschreibt beispielsweise den Umstand, dass bei der Verbilligung eines vormals dem Luxusgütersegment zugehörigen Produkts die Nachfrage nicht in erwartetem Ausmaße steigt, weil sich zugleich die bisherigen Konsumenten, die »Snobs«, vom Massenkonsum frustriert, zurückziehen. Nach derselben Logik tritt beim Veblen-Effekt bei steigendem Preis von einem gewissen Punkt ab eine stärkere Nachfrage ein, weil der mit den kostspieligen Gütern verbundene Prestigegewinn Konsumenten anlockt. Der Verbrauch des Subsistenzgutes Brot verläuft hingegen Giffen-Effekt-förmig: Wenn der Preis in Wohlstandsperioden sinkt, sinkt auch die Nachfrage, weil vermehrt zu höher geschätzten Nahrungsmitteln übergegangen wird; wenn der Preis in Krisenzeiten steigt, kann dennoch auch der Verbrauch steigen, weil Brot eine bessere Kalorienversorgung zu leisten verspricht. So nützlich aber die Kenntnis der möglichen Effekte ist, wenn es darum geht, die Preisreagibilität einzelner Konsumgüter zu beurteilen, für die hier interessierende Nachfragereaktion einer ganzen Bedarfsgruppe spielen sie eine untergeordnete Rolle, da die sie antreibenden Distinktions- und Sub­ sistenzbedürfnisse durch Substitutionseffekte im Rahmen der jeweiligen Bedarfsgruppe wirksam werden.39 Zurück zur Strukturanalyse des privaten Konsums (Tab. 2): Zunächst fällt auf, dass sich eine zentrale Entwicklung der Vorkriegszeit in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre fortsetzte, indem sich der Anteil der Nahrungsmittelausgaben am privaten Verbrauch leicht, derjenige der Genussmittel stark reduzierte. Am anderen Ende der »Dringlichkeitsskala«, bei den Gütern und Dienstleistungen des Wahlbedarfs, stiegen die Ausgabenanteile für Gesundheits- und Körperpflege, Bildung und Erholung sowie für Verkehrsmittel ebenso kontinuierlich an. Zugleich setzte sich der Bedeutungsverfall der häuslichen Dienste, die mit dem Dienstpersonal eines der klassischen Distinktionsmerkmale der bürgerlichen Lebenswelt umfassten, ungebrochen fort. Abweichungen vom bisherigen Trend ereigneten sich lediglich bei den Mietausgaben, deren Anteil in den zwanziger Jahren sank, und bei dem von Jahr zu Jahr stark schwankenden Bekleidungsverbrauch, der, zuvor bereits stagnierend, nun leicht zurückging. Der 39 Vgl. Leibenstein, Veblen-Effekte, S. 245–250; Tanner, Fabrikmahlzeit, S. 161 f.

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deutlichste Anteilsgewinn gegenüber der Vorkriegszeit ist nach Prozentpunkten bei den Ausgaben für die Wohnungseinrichtung erkennbar. Der Blick auf die Entwicklung des Preisgefüges von der Vor- zur Nachkriegszeit zeigt, dass einige der Veränderungen in der Verbrauchsstruktur nicht ohne weiteres auf einen Wandel der Bedürfnisse zurückgeführt werden dürfen. Für den besonders auffälligen Rückgang des Anteils der Genussmittel und in geringerem Ausmaß auch der Bekleidung sind mit großer Wahrscheinlichkeit auch die überdurchschnittlich gestiegenen Preise in diesen Bedarfsgruppen verantwortlich. Was gerade bei der wichtigen, weil politisch oft brisanten Kategorie der Genussmittel durch eine isolierte Betrachtung der Verbrauchsanteile verschleiert wird, erhellt durch einen Vergleich der Tabellen 1 und 2: Von einem schwindenden Bedürfnis nach Genussmitteln kann zwischen 1925 und 1929 keine Rede sein, da ihr absoluter Verbrauch in dieser Zeit sogar kräftig anstieg und nur deshalb kein höherer Anteil erreicht wurde, weil einerseits der zuvor stattgefundene Einbruch durch Krieg und Inflation zu heftig, andererseits die Preisentwicklung nicht zuletzt durch die massiv erhöhten Verbrauchsteuern zu ungünstig war. Der anteilsmäßige Rückgang des Genussmittelkonsums scheint daher eher erzwungen als von den Verbrauchern erwünscht gewesen zu sein. Anders verhielt es sich bei den am deutlichsten im Anteil gestiegenen Ausgaben für Möbel und Hausrat sowie für Bildung und Erholung. Die Beschleunigung des Aufwärtstrends dieser Bedarfsgruppen in der Weimarer Republik wurde offenbar nicht durch eine Verbilligung der Güter begünstigt und reflektiert daher ein gestiegenes Interesse an diesen Konsumbereichen. Nachdem somit die Verbrauchsstruktur bis 1929 in vieler Hinsicht den Prosperitätsverlauf der Vorkriegszeit wieder aufgenommen hatte, vollzog sich in der Weltwirtschaftskrise eine bis dahin unbekannte Umgestaltung. Während der Genussmittelverbrauch schrumpfte, stieg der Nahrungsmittelkonsum zwar nicht absolut, aber doch anteilig drastisch an und erreichte im Jahr 1932 mit 42,7 Prozent eine Höhe, die zuletzt in den 1860er Jahren üblich gewesen war.40 In den meisten anderen Bereichen wurde gespart: bei den Möbeln, der Kleidung, der Bildung und Unterhaltung, bei den Verkehrsmitteln und den häus­ lichen Diensten. Bemerkenswerterweise expandierte jedoch absolut, wie bereits erwähnt, und auch anteilig der Konsum von Waren und Dienstleistungen zur Körper- und Gesundheitspflege. Bei der Preisentwicklung ist auch in der Krise festzustellen, dass sich auffällige Abweichungen vom Durchschnitt, nämlich bei den erheblich im Preis gefallenen Nahrungsmitteln und den nach wie vor überteuerten Genussmitteln, verstärkend auf die höheren bzw. geringeren Nachfrageanteile auswirkten. Differenzen zwischen anderen Bedarfsgruppen, deren Nachfrage sich bei durchschnittlicher Preisentwicklung uneinheitlich veränderte – für Möbel und Hausrat, Bildung und Erholung wurde weniger, für Gesundheits- und Körperpflege mehr ausgegeben – lassen sich dagegen nicht auf einen signifikanten Einfluss 40 v. Knorring, Strukturwandlungen, S. 173, Tab. 2.

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der relativen Preisentwicklung zurückführen, was wiederum auf einen Wandel der Bedürfnisse hindeutet. Einen kontraintuitiven, weil der normalen Nachfragereaktion auf Preisänderungen entgegengesetzten Verlauf nahmen die bislang noch nicht thematisierten Mietausgaben. War ihr Anteil seit der Jahrhundertwende beständig gewachsen, ging er in den zwanziger Jahren plötzlich zurück – und das bei einer aufgrund massiver staatlicher Subventionen weit unterdurchschnittlichen Preisentwicklung; darauf erhöhte sich der Anteil wieder in der Krise, wobei zugleich die Mieten als einziger Bedarfsposten im Preis stiegen. Der Grund dafür, dass in beiden Phasen nicht die übliche Reaktion – Nachfrageminderung auf Preiserhöhung und vice versa – stattfand, sondern sich die relative Preisentwicklung unmittelbar in den Anteilen niederschlug, liegt in der »Schwerfälligkeit« dieses Konsumgutes: Die Notwendigkeit eines aufwandreichen Umzuges behindert die flexible Anpassung des Konsums als Reaktion auf Mieterhöhungen oder -senkungen. Betrachten wir die Strukturveränderung des privaten Konsums in der Weimarer Republik, ergibt sich das Bild eines beschleunigten Wandels, der sich jedoch nicht linear vollzog, sondern einem rasanten Auf und Ab folgte. Binnen acht Jahren, zwischen 1925 und 1932, erlebte die deutsche Gesellschaft, analog zum Großtrend der Einkommensentwicklung und durch diesen ermöglicht, die Fortsetzung der durch die harten und turbulenten Jahre des Krieges und der Inflation unterbrochenen Wohlstandsentwicklung der Vorkriegszeit, an die sich eine radikale Umstrukturierung des Verbrauchs infolge des wirtschaftlichen Zusammenbruchs anschloss. Allen Schwankungen zum Trotz dominierte quantitativ der Existenzbedarf, der aber – wie an den Mietausgaben, dem Nahrungs- und Genussmittelverbrauch zu sehen ist – auch von Preisvariationen beeinflusst wurde, die nicht zuletzt durch staatliche Intervention hervorgerufen worden waren. Eine Veränderung der Präferenzen spiegelte sich vielmehr in der rasanten Entwicklung des Wahlbedarfs auf den Feldern Bildung und Erholung, Möbel und Hausrat sowie Gesundheits- und Körperpflege, die nicht von außergewöhnlichen Preisänderungen begleitet wurde. Der Befund des beschleunigten Wandels kann sich zudem auf eine statistische Größe stützen, mit der die Strukturänderungsgeschwindigkeit des privaten Verbrauchs gemessen wird: Addiert man die absoluten Anteilsdifferenzen, die sich in den einzelnen Bedarfsgruppen von Jahr zu Jahr ergeben, und fasst sie zu 5-Jahres-Zyklen zusammen, ermittelt man für die Weimarer Jahrfünfte 1925/29 sowie 1929/33 weitaus höhere Werte als für diejenigen der wilhelminischen Hochkonjunktur.41 Daraus ist zu folgern, dass sich die Konsumstruktur der Zwischenkriegszeit deutlich schneller veränderte als die des Kaiserreichs.

41 Die Werte für das Kaiserreich: 9,2 (1893/97), 11,6 (1897/1901), 7,4 (1901/05), 12,9 (1905/09), 13 (1909/13), sind durchgängig kleiner als die für die Weimarer Republik: 24,7 (1925/29), 22 (1929/33). Eigene Berechnung nach v. Knorring, Strukturwandlungen, S. 173, Tab. 2; zum Konzept der Strukturänderungsgeschwindigkeit vgl. auch ebd., S. 185.

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Alles das widerspricht in gewisser Hinsicht dem Bild der »relativen Stag­ nation«,42 das die wirtschaftsgeschichtliche Forschung von der Weimarer Republik gezeichnet hat. Diese Charakterisierung hat zwar ihre Berechtigung, solange man auf der Ebene volkswirtschaftlicher Gesamtbilanzen argumentiert und sich am (Miss-)Erfolg der Produktionsgüterindustrie orientiert; dabei droht jedoch die erhebliche Dynamik übersehen zu werden, die sich zwischen den Katastrophenjahren 1918, 1923 und 1932 und gerade im Konsumsektor entfaltete. Für den Erwartungshorizont der Zeitgenossen war aber die Erfahrung einer wirtschaftlichen Achterbahnfahrt, die in raschem Wechsel die Aussicht auf die Massenkonsumgesellschaft eröffnete und wieder verschwinden ließ, bedeutsamer als die negative Gesamtbilanz. Was sich aus der Vogelperspektive der makroökonomischen Verbrauchsentwicklung im zeitlichen Verlauf herausstellte, wird durch den Vergleich sozialer Schichten in der mikroökonomischen Haushaltsstatistik weiter verdeutlicht: Eine konsumgesellschaftliche Ungleichzeitigkeit zeigte sich darin, dass die anhaltend engen Gestaltungsspielräume und die Dominanz des Existenzbedarfs in den unteren und mittleren sozialen Lagen mit dem Durchbruch neuer Konsumgewohnheiten und latenten Bedürfnissen zusammentrafen, die eine Modernisierung des Konsums ankündigten. Wie die Einkommensentwicklung das Bild einer »Klassengesellschaft in Bewegung« (Winkler) vermittelte, in der sich soziale Positionsverschiebungen in verschiedenen Phasen der Weimarer Republik ereigneten, ohne dass sich das Grundmuster der ungleichen Einkommensverteilung zwischen Arbeitern, Angestellten und Beamten veränderte, zeigt die Analyse der Verbrauchsmuster eine durchlässig stratifizierte und schichtspezifisch durchbrochene Konsumgesellschaft, in der vor allem drei Faktoren über die Gestaltung des Verbrauchs entschieden: Einkommen, Berufszugehörigkeit und Familiengröße. Über die Gewichtung besonders der Faktoren Einkommen und Berufsstellung besteht in der historischen Forschung bislang kein Konsens; die wichtigen Interpretationsangebote zu dieser Frage von Sandra Coyner, Armin Triebel und Reinhard Spree setzen vielmehr unterschiedliche Akzente, sollen aber im folgenden zu einer synthetisierenden Beschreibung der Konsummuster zusammengeführt werden. Die Frage nach den Bestimmungsfaktoren ist für das hier angestrebte Verständnis einer zugleich im Durchbruch befindlichen wie gehemmten Massenkonsumgesellschaft in verschiedener Hinsicht relevant. Zum einen fragt sich, ob soziale Trägerschichten eines erweiterten Konsums identifiziert werden können, die für den Rest der Gesellschaf als role model fungierten. Zum anderen ist zu klären, ob eher eine durch die Konsumstile unterschiedlicher berufsständischer Schichten fragmentierte Verbraucherschaft existierte, die dazu tendierte, auf dem konsumgesellschaftlichen Status quo zu verharren, oder ob der Konsumstil in erster Linie vom verfügbaren Einkommen abhing und daher ein Zug zur Ausweitung des Konsums das System 42 Vgl. Petzina u. Abelshauser, Problem; Petzina, Wirtschaft, S. 5–22; Borchardt, Wachstum, S. 689–693, 703–706; Balderston, Economics, S. 61–76; James, Deutschland, S. 136–150.

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der ungleichen Ressourcenverteilung umspannte, so dass bei steigendem Einkommen man gleichsam automatisch seine Konsumgewohnheiten denen der höheren Lage anpasste. Sämtliche Analysen der Konsummuster der Zwischenkriegszeit basieren wesentlich auf der bereits erwähnten Erhebung der Haushaltsrechnungs­bücher von ungefähr 2.000 Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenhaushalten, die 1927/28 vom Statistischen Reichsamt durchgeführt wurde.43 Zu diesem Zeitpunkt war sie die methodisch fortschrittlichste Untersuchung dieser Art, wie bereits Maurice Halbwachs anerkannte, der sie schon 1933 zur Materialgrundlage seiner Studie »L’evolution des besoins dans les classes ouvrières« machte. Halbwachs, der als Schüler Durkheims von der konsumstilprägenden Wirkung schichtspezifischer Mentalitäten überzeugt war, etablierte damit ein erfolgreiches Interpretationsparadigma, das sich nicht nur im Werk Bourdieus wiederfindet, sondern dem auch Coyners und Triebels Untersuchungen verpflichtet sind.44 Ausgehend vom berufsständischen Strukturierungsprinzip der Weimarer Statistiker, hat Coyner eine entsprechende Dreiteilung der Verbraucherschaft nach Konsumstilen diagnostiziert, wobei zwischen den distinkten Lebensweisen der Arbeiter und der bürgerlichen Beamten, die beide auf ihre Art traditionale Konsumgewohnheiten pflegten, eine Mittelschicht von Angestellten existierte, die wegen ihrer Aufgeschlossenheit gegenüber neuartigen Formen des Konsums als Vorboten der modernen Massenkultur gelten sollten.45 Triebel hingegen favorisiert das Bild einer in zwei Klassen gespaltenen deutschen Konsumgesellschaft im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts: Dem restringierten Konsumstil einer darin erstaunlich homogenen Arbeiterschaft, die sich einerseits am Zweck der reproduktiven Lebenserhaltung ausrichtete, andererseits einen Hang zur Veraus­gabung und zum unmittelbaren Genuss offenbarte, stand die bürgerliche Lebenswelt der Beamten und immer mehr auch der Angestellten gegenüber, die 43 In die Datenbank »Haushaltsrechnungen« im Max-Planck-Institut für Bildungsforschung sind für die Weimarer Jahre zwei weitere zeitgenössische Untersuchungen aufgenommen worden, die jedoch weniger umfangreich sowie räumlich bzw. berufsgruppenspezifisch begrenzt waren. Vgl. Triebel, Klassen, Bd. 2, S. 5; ders., Konsum, S. 82. 44 Bereits in seiner Studie von 1933 revidierte Halbwachs allerdings partiell seine frühere Ansicht vom typisch statischen Arbeiterkonsum und diagnostizierte auch in den Verbrauchsmustern der deutschen Arbeiterschaft einen Wandel gegenüber der Vorkriegszeit. Dazu: Coffin, Standard, S. 17 f.; de Grazia, Empire, S. 122; vgl. allg. Halbwachs, Evolution, S. VI, 16–58; ders., Beitrag, S.  53; und in der Tradition Halbwachs’: Crozier, Monde, Kap.  7 u. 9; Bourdieu, Unterschiede, S. 277–354; Coyner, Class Patterns; dies., Class Consciousness; Triebel, Klassen; ders., Konsum; ders., Unterschiede; ders., Variations. 45 Jürgen Kocka entwarf 1977 das Gegenbild jener rückwärtsgewandten, im ständischen Denken verhafteten und politisch rechts orientierten deutschen Angestellten, die er im Vergleich zur vermeintlich moderneren Mittelschicht in den Vereinigten Staaten zu erkennen glaubte (vgl. Kocka, Angestellte, S. 306–309). Schon Coyners zwei Jahre zuvor erschienene Dissertation (Coyner, Class Patterns) zeigte, dass dies ein überzeichneter Gegensatz war, den auch die heutige Forschung nicht mehr unterstützt. Vgl. nur Wehler, Gesellschafts­ geschichte, Bd. 4, S. 303–306.

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zwar in mancher Hinsicht dort noch nicht angekommen waren, in ihren Aspirationen aber bereits zu ihr gehörten. Hier wurde einerseits eine größere Vielfalt von Konsummustern realisiert, da der Zwang der Existenzbedürfnisse in den höheren Einkommensschichten weniger spürbar war; es regierte andererseits das Prinzip der deferred gratification: der aufstiegs- oder sicherheitsorientierte Verzicht auf gegenwärtigen Genuss zugunsten zukünftiger Befriedigungsmöglichkeiten.46 Erst Reinhard Spree hat das Paradigma der stabilen Sozialmentalitäten in Zweifel gezogen und mit Hilfe eines clusteranalytischen Verfahrens zu zeigen versucht, dass beobachtbare Unterschiede in den Konsumpräferenzen nicht auf Berufsgruppen zurückzuführen und daher sozialpsychologisch bedingt, sondern primär durch die Höhe des verfügbaren Einkommens zu erklären sind. Damit ist Sprees Konzeption der Weimarer Verbraucherschaft, da diese nicht als durch unterschiedliche konsumstilrelevante Werthaltungen fraktioniert erscheint, prinzipiell für die Diffusion von Neuerungen und Leitbildern offen und auf Dynamik angelegt.47 Die Stärken und Schwächen dieser verschiedenen Interpretationen lassen sich am besten auf der Grundlage eines geeigneten statistischen Materials konkretisieren, das zu diesem Zweck der Reichs­ erhebung von 1927/28 entnommen wurde und in den beiden folgenden Tabellen Nr. 3 und 4 dargestellt wird.48 Bekanntlich existiert eine fundamentale Kritik an der vom Geist der Sozialreform durchdrungenen Lebenshaltungsforschung.49 Sie bezieht sich auf die Unmöglichkeit einer distanzierten Beobachtung, d. h. auf die Beeinflussung der Ergebnisse durch die sozialpädagogisch wirkende Rechnungsführung, des weiteren auf die Probleme der Durchschnittsbildung, die innerfamiliäre Geschlechts- und Altersdifferenzen verwischt, auf den sozialen bias zugunsten besserverdienender Familien, auf die Schwierigkeit, den Faktor der Selbstversorgung in der Untersuchung zu erfassen sowie auf die Unmöglichkeit, Qualitätsveränderungen der Konsumgüter zu berücksichtigen. Allein: Die Haushaltsrechnungen bilden aufgrund der Breite und Detailliertheit der Untersuchung einen unverzichtbaren Zugang zur Lebenswelt der Unter- und Mittelschichten. Die genannten Schwächen der Sozialstatistik bedingen aber einen besonderen Umgang mit dem Material: Die im folgenden präsentierten Ausgaben­ anteile und -mengen sollen nicht »für bare Münze« genommen werden – schon das Reichsamt bemerkte beispielsweise,50 dass die konsumierte Alkoholmenge 46 Vgl. Triebel, Konsum, S. 86–88, 93; ders., Klassen, Bd. 1, S. 391–414. 47 Vgl. Spree, Klassen- und Schichtbildung; ders., Knappheit; ders., Modernisierung. Spree hat selbst eine Kurskorrektur vollzogen und die Ergebnisse einer früheren Arbeit partiell revidiert: ders., Angestellte. 48 Über die sozial differentielle Verbrauchsgestaltung in anderen Phasen der Weimarer Republik kann im Folgenden keine Aussage gemacht werden, da eine an Umfang und Repräsentativität vergleichbare Untersuchung etwa für die Zeit der Inflation oder der Wirtschaftskrise nicht zur Verfügung steht. 49 Vgl. vor allem Tanner, Fabrikmahlzeit, S. 143–150. 50 Vgl. Statist. Reichsamt, Lebenshaltung, Teil 1, S. 24.

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größer war als von den Haushalten angegeben –, sondern es kann nur darum gehen, ungefähre Größenverhältnisse sichtbar zu machen und auf die hinter den Differenzmustern wirksamen Faktoren zu schließen. Das methodische Hauptproblem bei der Auffindung und Erklärung von Konsummustern besteht darin, dass bei der in der Realität gegebenen Kumulation verschiedener Dimensionen sozialer Ungleichheit nicht eindeutig auf die Determinanten der Verbrauchsgestaltung geschlossen werden kann: So verdienten die Arbeiter in ihrer Gesamtheit durchschnittlich weniger und hatten mehr Kinder als die Angestellten und Beamten.51 Welcher Einfluss auf den proletarischen Konsumstil daher den drei Faktoren Berufsstellung, Einkommen und Familiengröße zuzuschreiben ist, lässt sich auf dieser Ebene nicht beantworten. Um die Untersuchung auf die Frage zuzuspitzen, ob in der Weimarer Republik der Raum der Konsumstile eher dynamisch, weil durch den Faktor Einkommen bestimmt war; oder ob er eher als statisch und durch Sozialmentalitäten geteilt zu gelten hat, wird im folgenden (Tab. 3) die Ausgabenstruktur sowohl nach verschiedenen Einkommenslevels als auch auf jeder dieser Stufen nach Berufsgruppen unterschieden. Zeigen sich kontinuierliche Verschiebungen der Verbrauchsanteile von Einkommensstufe zu Einkommensstufe bei allen Berufsgruppen, deutet dies auf einen starken Einfluss des finanziellen Spielraums hin; existieren stabile Differenzmuster zwischen den Berufsgruppen auf allen Einkommenslevels, spricht das für die Prägung durch schichtspezifische Mentalitäten. Wenn daher im folgenden davon gesprochen wird, dass beispielsweise Arbeiter einen kleineren oder größeren Ausgabenanteil für Genussmittel verwendeten als etwa Angestellte, sind damit nicht die gesamten Berufsgruppen gemeint, sondern die Aussage bezieht sich auf den Vergleich innerhalb einer Einkommensklasse. Mit diesem Ansatz sind gleichwohl einige Defizite verbunden, die nicht verschwiegen werden sollen: Um den Vergleich zwischen den Berufsgruppen durchführen zu können, mussten Einkommensstufen gewählt werden, die zwar das finanzielle Spektrum der Arbeiterschaft fast vollständig abbilden, jedoch nur die schlecht bis durchschnittlich verdienenden Angestellten sowie die stark unterdurchschnittlich verdienenden Beamten umfassen. Eine Aussage über die Verbrauchsgestaltung der Angestellten- und Beamtenschaft insgesamt ist daher auf der Grundlage dieses Materials nicht möglich. Darüber hinaus wird in Tabelle 3 versucht, den Faktor der Familiengröße auszuschalten, indem die bereits vom Statistischen Reichsamt vorgenommene Umrechnung des Haushaltsverbrauchs auf eine Vollperson verwendet wird. Diese Methode, bei der der Verbrauch der weiblichen und minderjährigen Familienmitglieder zu dem eines erwachsenen Mannes in ein von Statistikern und Ernährungswissenschaftlern geschätztes Verhältnis gesetzt und darauf umgerechnet wird, ist zwar pro­ blematisch, aber letztlich alternativlos, wenn die Familiengröße konstant ge51 Zum generativen Verhalten vgl. Spree, Angestellte, S. 295, Tab. 2.

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halten werden soll, um den Einfluss der anderen Variablen testen zu können.52 Schließlich wird auch vom Faktor der Ortsgröße abgesehen, da eine weitere Binnendifferenzierung der einkommensgestaffelten Berufsgruppen die Zahl der enthaltenen Haushalte statistisch bedenklich verkleinert hätte. Was verrät die Statistik zunächst über den Existenzbedarf, also über die Anteile, die in den verschiedenen sozialen Lagen für Nahrungs- und Genussmittel, Miete und Bekleidung verwendet wurden? Was die communis opinio seit Halbwachs festgestellt hat, findet sich hier bestätigt: Arbeiter gaben auf allen Einkommensstufen einen größeren Anteil für Nahrungs- und Genussmittel und einen kleineren für die Wohnungsmiete aus als die ebenso viel verdienenden Beamten und Angestellten, die sich in ihrem Konsumverhalten in diesen Bereichen stark ähnelten, wobei die Angestellten an den Nahrungsmitteln noch etwas mehr sparten als die Beamten. Eine Ausnahme von der bürgerlichen Hochschätzung des Wohnungsaufwands bildeten nur die schlecht besoldeten Unterbeamten, die besonders geringe Mietausgaben tätigten.53 Im Bekleidungsverbrauch zeigten sich hingegen deutliche Ähnlichkeiten zwischen Arbeitern und Angestellten, die hierfür durchweg geringere Anteile als die Beamten ausgaben. Zweifellos lässt sich daher beim Vergleich des Existenzbedarfs von Arbeitern und Beamten ein proletarisches, Ernährung und Genuss bevorzugendes Muster von einem bürgerlichen unterscheiden, das stärker den repräsentationsfähigen Konsum von Wohnung und Kleidung betonte. Die Angestellten lebten in beiden Welten zugleich, erschienen sie doch in ihrer Präferenz für geringe Lebensmittel- und hohe Mietausgaben bürgerlich, in ihrer Geringschätzung des Bekleidungsaufwands proletarisch.54 Die These von der einkommensbedingten Umgestaltung des Verbrauchs, die sich durch alle Berufsgruppen hindurch zieht, bestätigt sich partiell: eindrucksvoll bei den Nahrungs- und Genussmitteln, aber weniger deutlich im Bekleidungskonsum und überhaupt nicht bei den Mietausgaben. In jeder Berufsgruppe reduziert sich der Anteil für Ernährung und Genuss von der untersten zur obersten Einkommensklasse kontinuierlich und um etwa ein Fünftel; der Ausgabenteil, der für die Bekleidung verwendet wird, scheint bei den Arbeitern und Angestellten aber zu stagnieren bzw. nur leicht zurückzugehen, 52 Zur Berechnungsmethode der Vollperson vgl. Statist. Reichsamt, Lebenshaltung, Teil  1, S. 11 f. Zur Kritik daran vgl. Triebel, Äquivalenzskalen, S. 98–113; Spiekermann, Haushaltsrechnungen, S. 76–78. Triebels Kritik an der spekulativen und normativen Basis dieser Methode ist zwar stichhaltig, seine induktiv gewonnenen Gewichtungen unterscheiden sich jedoch oft nicht von den in der Reichserhebung verwendeten Verhältniszahlen. 53 Die sozioprofessionelle Binnendifferenzierung insbesondere der Beamten- und Arbeiterschaft, die Triebel vornimmt, kann hier nicht weiter berücksichtigt werden. Auf den durchgängig restringierten Konsumstil der unteren Beamten, die die Polarität von bürgerlichem und proletarischem Konsum beständig durchbrachen, ist aber besonders hinzuweisen. Vgl. Triebel, Klassen, Bd. 1, S. 360, 405. 54 Vgl. Halbwachs, Evolution, S. 32; Coyner, Class Consciousness, S. 315–318; Triebel, Konsum, S. 87 f.; ders., Klassen, Bd. 1, S. 405; ebd., Bd. 2, Tab. 5.2.1 (4), 5.2.2 (10), 5.2.2 (20).

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Tab. 3: Der private Verbrauch nach Einkommenshöhe (Jahreseinkommen pro Vollperson in RM) und Berufsstellung (Arbeiter, Angestellte, Beamte), 1927/28 Teil I: Ausgewählte Verbrauchsanteile (in %) an den Gesamtausgaben pro Vollperson unter 1.000

1.000–1.200

Arb.

Ang.

Bea.

Arb.

Ang.

Bea.

Nahrungs- u. Genussmittel

45,3

40,8

42,6

41,8

39,2

39,5

Wohnungsmiete

11,6

13,7

10

11,2

12,9

12,9

Bekleidung

13,5

14,5

19,4

14

13,8

16,4

Wohnungseinrichtung

3,1

2,8

4,5

3,6

4,2

3,9

Gesundheits- u. Körperpflege

1,3

1,4

1,3

1,5

1,4

1,9

Bildung

2,1

3,2

4

2,1

2,9

3,9

Vergnügungen u. Erholung

1,5

1,9

1,4

2

2,4

1,7

Teil II: Verbrauchte Mengen begehrter Nahrungs- u. Genussmittel pro Vollperson Bier (l)

19,4

12,9

16,6

34,7

14,7

14,9

Wein (l)

1,3

2,9

0,4

1,5

1,6

0,9

Zigarren (St.)

28

22

30

42

39

44

Zigaretten (St.)

95

164

34

131

142

81

Südfrüchte (kg)

2,4

2,2

1,6

3,5

3

2,3

10,3

11,2

9,6

14,9

16,3

16,1

Schokolade u. Süßigkeiten (kg)

1

1

0,6

1,2

1,2

0,8

Bohnenkaffee (kg)

0,8

0,7

0,9

1,1

1,2

1,1

Butter (kg)

3,8

5,4

5,4

5,2

8,1

7,9

Rindfleisch (kg)

4,5

5,1

5,8

6,6

5,8

6,8

16,5

17,1

14,9

19,9

22,9

16,9

Frisches Kernobst (kg)

Weißbrot (kg)

Umfasst alle Arbeiterhaushalte mit mehr als 1.500 RM.* Quelle: Statist. Reichsamt, Lebenshaltung, Teil 1, S. 90–92, 138–142. a

* In der Reichserhebung wurde diese Kategorie nicht weiter differenziert, da ein höheres Einkommen bei Arbeitern nur sehr selten vorkam. Analoges gilt für Tab. 4.

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1.200–1.500

1.500–1.800a

Arb.

Ang.

Bea.

Arb.

Ang.

Bea.

Nahrungs- u. Genussmittel

40

36

37,6

36,9

33,5

34

Wohnungsmiete

10,6

13,1

13,1

9,7

11,9

12,7

Bekleidung

12,9

13

16,2

13,6

15,2

Wohnungseinrichtung

4,7

4

4,8

5,7

4,9

6,7

Gesundheits- u. Körperpflege

1,6

2

2

1,9

1,8

2,4

Bildung

2

3

3,3

2

3,4

3,7

Vergnügungen u. Erholung

2,3

2,8

2,7

3

3,4

3,5

Bier (l)

42,2

18,8

21,5

53,3

27,2

29,6

Wein (l)

3,2

1,5

2,1

8,1

3

4,1

Zigarren (St.) Zigaretten (St.) Südfrüchte (kg)

59

49

57

92

74

71

278

187

150

318

201

162

5

Frisches Kernobst (kg)

13

18,5

4,9 18

3,6 18

7,1

6,3

5,3

27,1

18,8

20,8

Schokolade u. Süßigkeiten (kg)

1,5

1,4

1,1

2

1,8

1,9

Bohnenkaffee (kg)

1,7

1,4

1,5

2,2

1,9

1,9

Butter (kg)

7,4

8,9

8,9

10,4

11,5

11,4

Rindfleisch (kg)

7

6,3

7,9

9,9

7,7

8,1

22,4

19,8

21,7

26,5

Weißbrot (kg)

25

24,6

55

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während er bei den Beamten stärker eingeschränkt wird. Die Entwicklung der Mietausgabenanteile nimmt einen ganz unterschiedlichen Verlauf bei den Arbeitern und Angestellten einerseits, die ein gestiegenes Einkommen nicht in entsprechend höhere Mieten umsetzten, und den Beamten andererseits, die den Anteil dafür erhöhten. Die Ähnlichkeit, mit der Arbeiter und Angestellte auf Einkommenssteigerungen reagierten, ohne dabei freilich bestehende Verbrauchsunterschiede zu eliminieren, legt es erneut nahe, die Angestellten nicht einfach dem von den Beamten verkörperten bürgerlichen Konsumstil zuzuschlagen, sondern sie als eine Zwischenschicht zu begreifen. Die zum Wahlbedarf gezählten Verbrauchsgruppen – Hausrat, Hygiene, Bildung und Vergnügen –, die hier ausgewählt wurden, weil in der makroökonomischen Analyse ihre besondere Dynamik aufgefallen war, lassen erkennen, dass die schichtspezifischen Differenzen jenseits des Existenzbedarfs etwas an Prägekraft verloren. Lediglich im Bereich der Bildung manifestiert sich eine stabile Hierarchie, welche die Beamten in puncto Bildungsbeflissenheit durchgängig vor den Angestellten, diese stets vor den Arbeitern rangieren ließ. Darüber hinaus ist zu erkennen, dass die Beamten durchschnittlich den höchsten Anteil für die Wohnungseinrichtung sowie für die Gesundheits- und Körperpflege verwendeten, während die Angestellten für Vergnügungen und Erholung vergleichsweise am meisten ausgaben. Jedoch ist ebenfalls festzustellen, dass in diesen Konsumbereichen die Verbrauchsgestaltung der Arbeiter derjenigen der Angestellten und Beamten öfter ähnelte, d. h. die Differenz der Ausgabenanteile geringer war, als dies zwischen den Angestellten und Beamten der Fall war. Ohne die durchschnittlich geringeren Anteile der Arbeiter für die Kategorien des Wahlbedarfs zu leugnen, relativiert das die Vorstellung einer klaren Trennung von bürgerlichem und proletarischem Konsumstil. Der Einfluss des Einkommens auf die Bedeutung des Wahlbedarfs ist hingegen markant. Die Ausgabenanteile für Hausrat und Hygiene, Vergnügungen und Erholung waren in den höheren Einkommensschichten drastisch angewachsen. Doch auch die Bildungsausgaben stagnierten lediglich pro Vollperson, da sie besonders von der Haushaltsgröße abhängig waren und diese bei steigendem Einkommen stark zunahm. Mit anderen Worten: Die mit wachsendem Wohlstand erheblich erhöhten Bildungsausgaben pro Haushalt55 gingen vor allem auf das Konto der größeren Kinderzahl. Steigendes Einkommen beseitigte zwar nicht die Differenz von ein bis zwei Prozentpunkten Mehrausgaben für den hier untersuchten Wahlbedarf, welche die Angestellten von den Arbeitern einerseits, die Beamten von den Angestellten andererseits trennte;56 doch nimmt sich das Wachstum des Wahlbedarfs von der untersten zur obersten Ein-

55 Vgl. Triebel, Klassen, Bd. 2, Tab. 5.2.3 (31); Statist. Reichsamt, Lebenshaltung, Teil 1, S. 14. 56 Nur die gut verdienenden Beamten (mit mehr als 1.500 RM Jahreseinkommen pro Vollperson) gaben 2,8 Prozent mehr für den hier untersuchten Wahlbedarf aus als die ebenso viel verdienenden Angestellten.

56

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kommensstufe, das in allen Berufsgruppen bei vier bis fünf Prozentpunkten lag, beeindruckender aus. Die Wirkung der beiden Faktoren Einkommen und Beruf ist daher beim Blick auf die Ausgabenverteilung nicht zu übersehen. Das Einkommen bietet die naheliegendste Erklärung dafür, dass sich durch alle Berufsgruppen hindurch die Bedarfsanteile bei steigendem Einkommen in ähnlicher Weise verschoben – eine deutliche Ausnahme bildet nur die Kategorie der Mietausgaben. Der Einfluss der Berufsstellung ist wiederum kaum von der Hand zu weisen angesichts der auf den verschiedenen Einkommensstufen wiederkehrenden Differenzmuster zwischen Arbeitern, Angestellten und Beamten, die sich besonders im Bereich des Existenzbedarfs, aber auch bei den Bildungsausgaben zeigen. Die deutsche Verbraucherschaft der Zwischenkriegszeit war also zugleich berufsspezifisch und einkommensbedingt differenziert, ohne jedoch in inkommensurable Konsumstile zerfallen und petrifiziert zu sein: Bei steigendem Einkommen offenbarten Arbeiterhaushalte die gleichen Präferenzen (mit der bereits erwähnten Ausnahme der Mieten) wie die Angestellten und Beamten. Nun hat Reinhard Spree argumentiert, dass eine Untersuchung, die den Konsum nach Berufsgruppen unterscheidet – so wie sie hier überblicksartig und von Triebel in größerer Detailliertheit durchgeführt wurde – ihre Ergebnisse präjudiziere, da vorhandene Binnendifferenzen im Konsum von Arbeitern, Ange­ stellten oder Beamten durch die Art der Gruppenbildung verschleiert würden. Spree hat daher mit dem Verfahren der Clusteranalyse alternative Konsumprofile auf der Grundlage der Reichserhebung von 1927 gebildet. Bei dieser Methode werden Haushalte nach induktiv gewonnenen Ähnlichkeiten der Konsummuster klassifiziert und zu Gruppen mit einer möglichst homogenen Verbrauchsgestaltung zusammengefasst.57 Das wichtigste Ergebnis dieser Analyse ist, dass in dem hier interessierenden unteren bis mittleren Einkommensbereich,58 in dem Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenhaushalte in hinreichender Zahl im Sample vorkommen, sich berufsstellungsmäßig durchmischte Gruppen mit ähnlichem Konsumverhalten bilden. Daher schließt Spree, dass »die Zurechnung von bestimmten Konsumpräferenzen zu bestimmten Berufsgruppen […] angesichts der erkennbaren Widersprüche sinnlos« ist.59 Auch wenn diese Schlussfolgerung überzogen erscheint, wie gezeigt wird, verweist die Untersuchung auf die soziale Fluidität der Weimarer Konsumgesellschaft. Am unteren Ende der nach Haushaltseinnahmen gestaffelten Cluster kristallisiert sich noch ein verhältnismäßig eindeutiges Arbeiterprofil heraus:60 Es zeigt, dass die weit überwiegende Mehrheit (76 %) der hier vertretenen Haushalte, die durch geringes Einkommen und Kinderreichtum sowie durch die 57 Spree benutzt ein hierarchisches Clusterverfahren unter Verwendung des Distanzmaßes von Ward. Zur Methode vgl. eingehender Spree, Knappheit, S. 201. 58 D. h. bis ca. 1.800 bzw. 5.100 RM Jahreseinnahmen pro Kopf bzw. Haushalt. 59 Spree, Knappheit, S. 216. 60 Vgl. zu den Clustern ebd., S. 211–216.

57

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Dominanz des Existenzbedarfs und besonders des Nahrungsmittelverbrauchs gekennzeichnet sind, proletarisch waren. Gleichwohl existiert auf dieser Stufe eine signifikante Minderheit von Angestellten (14 %) und Beamten (9 %), die eine ähnliche, durch Subsistenzerfordernisse geprägte Ausgabenverteilung vornahmen. Zwei darauffolgende Cluster mit höheren Jahreseinnahmen sind demgegenüber sozial heterogener, weisen aber ein unterschiedliches und aussagekräftiges »Mischungsverhältnis« der Berufsgruppen auf:61 Der eine Cluster besteht aus einer Mehrheit von 59 Prozent Arbeitern sowie 28 Prozent Angestellten, zu denen zehn Prozent Beamte hinzukommen, während im anderen Cluster Beamte (46 %) und Angestellte (33 %) den Anteil der Arbeiter (20 %) übertreffen. Interessanterweise wurde in dem von (großstädtischen) Arbeitern und Angestellten dominierten Cluster eine strikte Geburtenkontrolle ausgeübt, so dass die durchschnittlich geringe Kinderzahl dazu führte, dass das relativ niedrige Haushaltseinkommen sich in ein höheres Pro-Kopf-Einkommen verwandelte, als es dem mehrheitlich von Beamten und Angestellten gebildeten zweiten Cluster zur Verfügung stand. Trotz der geringeren Pro-Kopf-Einnahmen wurde aber in diesem Cluster ein deutlich geringerer Ausgabenanteil für Nahrungs- und Genussmittel, ein erheblich höherer für Wohnung und Bekleidung verwendet als in dem proletarisch geprägten Cluster, das sehr hohe Ernährungskosten aufwies.62 Zweierlei darf daraus geschlossen werden: Erstens ist der Einfluss der Berufsstellung keineswegs so zu vernachlässigen, wie Spree glauben machen will, zeigt doch das Beispiel, dass die Unterschiedlichkeit des proletarischen und des bürgerlichen Konsumstils im Bereich des Existenzbedarfs sogar den Einkommenseffekt konterkarieren konnte. Zweitens wird aber die Verbrauchsgestaltung durch das berufliche Milieu ebenso wenig determiniert wie durch das Einkommen, was Sprees sozial gemischte Cluster mit ähnlichem Konsumstil in überzeugender Weise demonstrieren. Wenn eine genauere Vorstellung von den in der Weimarer Republik teils nebeneinander existierenden, teils sich überschneidenden Konsumstilen gewonnen werden soll, genügt es freilich nicht, auf der Ebene der Bedarfsgruppenverteilung stehenzubleiben. Auch lassen sich die These Triebels von der traditionellen Genussorientierung der Arbeiterschaft und diejenige Coyners von der Vorreiterrolle der Angestellten bei der Partizipation an modernen Kon­ sumformen nur prüfen, wenn ein Blick auf den Konsum einzelner Güter und Dienstleistungen geworfen wird. Dies soll anhand der in den Tabellen 3 (Teil II) und 4 dargestellten Daten geschehen. Zur Erinnerung: Der Konsumstil der Arbeiterschaft war von Triebel im Anschluss an Bourdieu als Ausdruck eines »spontanen Materialismus«63 inter61 Es handelt sich hier um Sprees Cluster 5 und 3, die ein Jahreseinkommen von 4074 bzw. 4885 RM pro Haushalt hatten. Vgl. ebd., S. 212. 62 Vgl. ebd., S. 212–215. 63 Triebel, Konsum, S. 91; vgl. auch Bourdieu, Unterschiede, S. 296.

58

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pretiert worden. Zum einen meinte das einen Traditionalismus in den Verbrauchsgewohnheiten, der sich, im Gegensatz zum »legitimen Geschmack« der bürgerlichen Schichten, in der Orientierung an einem Substandard des Nahrungs- und Genussmittelverbrauchs spiegele. Des weiteren zeuge die Neigung zur unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung von einer Gegenwartsfixierung, die den Verzicht als konsumleitendes Prinzip ausschließe, so dass auch die Bereitschaft zum Sparen und zur Investition in Bildung unterdurchschnittlich gewesen sei.64 Schließlich lässt diese Beschreibung den proletarischen Konsumstil als statisch erscheinen, habe doch seine gegenwartsbezogene Genussorientierung eine Weiterentwicklung und Diversifizierung verhindert.65 Die relevanten Indikatoren aus der Reichserhebung von 1927/28 zeigen jedoch, dass der hier behauptete Gegensatz überzeichnet ist und der proletarische Lebensstil zugleich genussbetont und auf Verbesserung und Ausweitung ausgerichtet war. Im Bereich des Nahrungs- und Genussmittelkonsums war, wie eine entsprechende Aufstellung des Statistischen Reichsamtes erkennen ließ, die Liste der besonders begehrten Güter – also derjenigen mit hohen Ausgabensteigerungen von der untersten zur obersten Einkommensstufe – bei Arbeitern, Angestellten und Beamten fast identisch.66 In den unteren Einkommenslagen (bis 1.200 RM pro Vollperson) zeigten sich noch berufsgruppenspezifische Differenzen darin, dass Angestellte oder Beamte von vielen der prestigeträchtigen Waren wie Wein, Zigarren und Zigaretten, Rindfleisch, Butter und Weißbrot größere Quantitäten konsumierten als die Arbeiter. Diese überholten aber mit steigendem Wohlstand ihre »Einkommensgenossen« aus der Angestellten- und Beamtenschaft, so dass neben den Alkoholika und den Rauchwaren auch die vermeintlich bürgerlichen Lebensmittel: Südfrüchte und frisches Obst, Schokolade, Bohnenkaffee, Rindfleisch und Weißbrot, am meisten von den Arbeitern verbraucht wurden. Allein im Verbrauch von Butter, dem Triebel angesichts dieses breiten Spektrums begehrter Nahrungs- und Genussmittel eine zu große Bedeutung einräumt, übertrafen die Angestellten und Beamten die Arbeiter auch in den höheren Einkommenslagen. Von einem proletarischen Verharren auf einem Substandard der Lebensmittelversorgung kann daher keine Rede sein.67 64 Bourdieu betont, dass das Ausblenden der eigenen materiellen Zukunft durchaus nicht als Kurzsichtigkeit, sondern in den unteren Schichten vielmehr als realistische Erwartung geringer künftiger Befriedigungsmöglichkeiten zu verstehen ist. Vgl. Bourdieu, Unterschiede, S. 296 f. 65 Vgl. Triebel, Klassen, Bd. 1, S. 244, 261 f., 267, 279, 293, 395–404. 66 Das zeigt sich, wenn die zehn begehrtesten Nahrungs- und Genussmittel bei Arbeitern, Angestellten und Beamten verglichen werden: Statist. Reichsamt, Lebenshaltung, Teil 1, S. 25, 37, 49. 67 Damit ist freilich nicht gesagt, dass milieuspezifische Grenzen im Ernährungsverhalten ganz verschwanden; es ist vielmehr anzunehmen, dass sie sich bereits in der Zwischenkriegszeit auf die Ebene der »feinen Unterschiede«, der Geschmacks- und Qualitätsdifferenzen, verlagerten, die einer mit relativ groben Verbrauchsgruppen arbeitenden quantitativen Beobachtung aber nicht zugänglich sind.

59

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Tab. 4: Partizipation an modernen Konsumformen nach Einkommenshöhe (Jahreseinkommen pro Haushalt in RM) und Berufsstellung, 1927/28 unter 3.000

3.000–3.600

Arb.

Ang.

Bea.

Arb.

Ang.

Bea.

Theater u. Konzerte

4,35

5,01

3,65

5,62

7,98

7,72

Kino

2,64

3,70

2,41

4,06

4,26

2,95

Rundfunk

4,48

7,01

9,80

7,07

9,65

5,04

Reisen u. Ausflüge

20,55

34,38

28,37

31,03

45,90

42,52

Gaststättenbesuche

15,44

26,85

16,19

23,17

30,45

23,06

Eigenes Bad (in % der Haushalte)

3,8

5,6

14,3

4,8

6,9

11,8

Gas u. Strom (in % der Haushalte)

29,3

55,5

57,2

37,2

44,9

Zahl der Wohnräume (je Haush.)

2,9

2,9

3,3

3,0

3,1

3,6

Haushaltsgeräte (Ausgaben in RM)

15,39

13,27

22,07

21,04

23,16

28,67

Möbel (Ausgaben in RM)

9,20

21,76

22,69

23,72

38,60

22,51

Freizeit (Ausgaben in RM)

Häuslicher Komfort

53

a Umfasst alle Arbeiterhaushalte mit mehr als 4.300 RM. Quelle: Statist. Reichsamt, Lebenshaltung, Teil 1, S. 63–65, 87 f., 97, 132–135, 148 f.

Zugleich kann nicht übersehen werden, dass die herausragenden proletarischen Verbrauchssteigerungen in diesem Feld auf eine ausgeprägte Genuss­orientierung im proletarischen Lebensstil hindeuten. Andere Indikatoren zeigen jedoch, dass die anhaltend hohe Wertschätzung des guten Essens und Trinkens nicht das gesamte Verbrauchsmuster im Sinne einer Fixierung auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung prägte: Weder bei den Ausgaben für Vergnügungen und Erholung (Tab. 3, Teil I) noch bei denen für Besuche in der Gastwirtschaft (Tab. 4) lagen die Arbeiter vorn, sondern gaben durchgängig weniger aus als die Angestellten und erst in höheren Einkommenslagen mehr als die Beamten. Durchaus 60

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3.600–4.300

4.300–5.100a

Arb.

Ang.

Bea.

Arb.

Ang.

Bea.

Theater u. Konzerte

7,23

11,88

7,77

12,59

15,31

12,60

Kino

4,82

5,47

3,82

11,69

6,15

4,73

Rundfunk

6,07

17,57

12,80

19,24

19,82

18,13

Reisen u. Ausflüge

44,61

69,93

55,37

60,38

79,29

83,06

Gaststättenbesuche

38,72

46,28

25,81

46,56

58,56

41,56

Eigenes Bad (in % der Haushalte)

5,6

21,1

25

8,3

26,7

29,6

Gas u. Strom (in % der Haushalte)

42,1

59,4

70,8

48,8

75,5

82,4

Zahl der Wohnräume (je Haush.)

3,3

3,6

3,7

3,5

3,9

4,0

Haushaltsgeräte (Ausgaben in RM)

28,29

30,05

34,96

36,69

42,41

44,78

Möbel (Ausgaben in RM)

36,43

42,67

65,15

87,27

57,49

50,14

nicht unterrepräsentiert waren die Arbeiter wiederum in den Bereichen, die als Kennzeichen von Zukunftsplanung und Bereitschaft zum Verzicht gelten können. Der Anteil der Ersparnisse an den Gesamtausgaben stieg bei den Arbeitern mit wachsendem Einkommen schneller an als in den anderen Berufsgruppen, deren durchschnittliches Sparvolumen ab einem Jahreseinkommen von 3.600 RM sogar hinter dem der Arbeiter zurückblieb. Auch waren die Arbeiter in etwa dem gleichen Ausmaß wie die Angestellten bereit, für die Realisierung erweiterter Konsumwünsche Abzahlungskäufe zu nutzen, während die Beamten diese Konsumpraxis aufgrund ihrer höheren Arbeitsplatz- und Einkommenssicher61

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heit am intensivsten pflegten.68 Der unzweifelhafte Vorsprung der Angestellten und vor allem der Beamten im Bildungsaufwand, der vorn bereits konstatiert worden war, relativiert sich schließlich, wenn nur die Aus­gaben für Bücher, Zeitungen und Zeitschriften, nicht aber die in der Tat deutlich höheren Ausgaben für Schule und Ausbildung berücksichtigt werden: Der Ausgabenanteil für den Lesestoff schwankte bei den Arbeitern zwischen 1 und 1,3 Prozent, bei den Angestellten lag er meist bei 1,3 Prozent, bei den Beamten zwischen 1,2 und 1,4 Prozent der gesamten Haushaltsausgaben.69 In diesem Bereich der »Alltagsbildung« war also der Rückstand der Arbeiter recht klein. »Notwendigkeitsgeschmack«, Gegenwartsfixierung und mangelnde Dynamik können daher nicht als Charakteristika eines vermeintlich proletarischen Kon­sumstils gelten, da die »alte« Lust an den Genussmitteln und der »neue« Wunsch nach Erweiterung der Bedürfnisse keinen Widerspruch bildeten. Gab es aber mit den Angestellten eine Schicht, die stärker als die anderen Teile der Verbraucherschaft moderne Konsumpraktiken pflegte und jenen Hedonismus vorlebte, der sich erst in der Bundesrepublik als Leitbild voll durchsetzte? Spielten die Angestellten mithin jene Rolle als Vorreiter der modernen Gesellschaft, die Sandra Coyner ihnen zugewiesen hat und der gegenüber die Konsumpraxis der Arbeiter und Beamten traditional erscheinen mochte? Es sind vor allem zwei Merkmale im Konsumverhalten der Angestellten, auf die Coyner ihre These vom Modernitätsvorsprung gestützt hat: eine geringe Familienorientierung und eine hohe Präferenz für soziale Aktivitäten und Vergnügungen besonders im Bereich der Massenkultur.70 Die Tabelle 4, welche die Partizipation der Berufs- und Einkommensschichten an modernen Konsumformen illustriert, verdeutlicht einerseits das postulierte Verbrauchsmuster, verweist aber andererseits auf die Selektivität des Modernitätsbegriffs, der zugunsten der zutreffenderen Unterscheidung von öffentlicher Freizeitgestaltung und Häuslichkeit aufgegeben werden sollte. Ob es sich um Theater-, Konzert- oder Kinobesuche, um das Radiohören, um Reisen, Ausflüge oder Gaststättenbesuche handelte: Die Angestellten gaben auf beinahe jeder Einkommensstufe die höchsten Beträge für den Freizeitkonsum aus. Signifikante Ausnahmen bildeten lediglich die einkommensstarken Arbeiterfamilien, in denen öfter ins Kino gegangen wurde, sowie die schlecht verdienenden Unterbeamten, die im Durchschnitt erstaunlich viel für den Kauf und Betrieb eines Radios verwendeten. Somit partizipierten die Angestellten – bei gleichem Einkommen – in stärkerem Maße als die Arbeiter und 68 Zu den Ersparnissen vgl. Statist. Reichsamt, Lebenshaltung, Teil  1, S.  88, 134 f.; zu den Kredit­käufen: ebd., S.  97, 148 f. Lediglich wenn als Indikator für ein planendes Konsum­ verhalten die private Versicherungsbereitschaft herangezogen wird, bleiben die Arbeiter erkennbar hinter den Angestellten zurück. Vgl. Coyner, Class Consciousness, S. 322–325. 69 Die Zahlen gelten für das Spektrum von 2.500 bis 5.100 RM Jahreseinkommen pro Haushalt. Vgl. Statist. Reichsamt, Lebenshaltung, Teil 1, S. 88, 134 f. 70 Vgl. Coyner, Class Consciousness, S.  317–322; dies, Class Patterns, S.  291–307, 315–344, 396 f.

62

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Beamten an einer Freizeitöffentlichkeit, deren Wachstum in der Weimarer Republik nicht zuletzt auf den im Vergleich zur Vorkriegszeit geringeren Arbeitszeiten beruhte. Die Begeisterung der neuen Mittelschichten für Freizeitvergnügungen aller Art war schon der zeitgenössischen Kritik insbesondere Siegfried Kracauers nicht entgangen. Dieser hatte darin aber einen Eskapismus vermutet, der sich aus der vermeintlich typisch kleinbürgerlichen mentalen Zwickmühle frustrierter Aufstiegshoffnungen erklären ließ. Ob nun aber eskapistisch oder nicht: Die Massenkultur war nicht das exklusive Betätigungsfeld der »kleinen Ladenmädchen«, wie Kracauer die Angestellten ironisierend nannte.71 Sie waren vielmehr Vorreiterinnen, insofern ihnen die wohlhabenderen Arbeiter und Beamten bereitwillig nachfolgten: Deren Ausgabensteigerungen für den Freizeitkonsum waren im hier untersuchten Einkommensspektrum zumeist höher als die der Angestellten,72 deren Vorsprung in diesem Bereich daher mit wachsendem Einkommen schmolz. Der hohen Präsenz der Angestellten in der expandierenden Freizeitöffentlichkeit kontrastierte ihre Rückständigkeit in der konsumptiven Erschließung der Privatsphäre. Was den häuslichen Komfort betraf, führten in jeder Hinsicht und auf beinahe jeder Einkommensstufe die Beamten. Ihre Wohnungen waren öfter als die der Arbeiter und Angestellten mit einem eigenen Badezimmer ausgestattet, an Gas und Strom angeschlossen und verfügten über eine größere Wohnfläche. Auch verwendeten die Beamten in der Regel die höchsten Beträge für den Kauf von Haus- und Küchengeräten sowie Möbeln.73 Der Rückstand der Arbeiter in der Ausstattung mit solchen Annehmlichkeiten war noch größer als der der Angestellten und als es in der Tabelle den Anschein hat, da der Unterschied zwischen den kinderreichen Arbeiterfamilien und den oftmals eine strikte Geburtenkontrolle betreibenden Angestelltenhaushalten in dieser Statistik nicht berücksichtigt wurde – eine Vollpersonenberechnung wäre in diesen Konsumbereichen zu spekulativ. Jedenfalls wirkte sich die unterschiedliche Familiengröße – die an der Erhebung beteiligten Arbeiter hatten durchschnittlich 2,2 Kinder, die Angestellten nur 1,574 – dahingehend aus, dass der größere proletarische Haushalt die ohnehin mangelhafte Wohnqualität noch verschlechterte. Der geringere häusliche Komfort der Angestellten und besonders der Arbeiter deutete jedoch nicht auf ein generelles Desinteresse daran hin; vielmehr reagierten ihre Ausgaben hierfür bei wachsendem Einkommen elastischer als die der Beamten, ohne jedoch die Unterschiede auszugleichen. 71 Kracauer, Ladenmädchen; vgl. ders., Angestellten, S. 65–72, 91–101. 72 Lediglich bei den Theater- und Konzertbesuchen erreichten die Angestellten von der untersten zur obersten Einkommensklasse eine leicht höhere Steigerungsrate als die Arbeiter, und nur die Rundfunkausgaben erhöhten sie stärker als die Beamten. (Tab. 4) 73 Coyner vermutet, dass die bei den Angestellten übliche Kombination aus recht hohen Mietausgaben und schlechter Wohnausstattung und -qualität darauf zurückzuführen ist, dass sie zentral gelegene, alte Wohnungen bevorzugten, die einen leichten Zugang zu den Orten der Freizeitvergnügungen ermöglichten. Vgl. Coyner, Class Consciousness, S. 319. 74 Vgl. Statist. Reichsamt, Lebenshaltung, Teil 1, S. 14.

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Damit entsprach die Vorreiterrolle der Beamten im häuslichen Konsum in jeder Hinsicht derjenigen der Angestellten bei den Freizeitvergnügungen. Das war grosso modo auch Coyners Beobachtung der sozial differentiellen Verbrauchs­ gestaltung, jedoch ordnete sie diese Ergebnisse in ein modernisierungstheoretisch verengtes Deutungsmuster ein. Vom Standpunkt der Konsumhistoriographie spricht aber nichts dafür, ausschließlich der Partizipation an den neuen Formen der Massenkultur das Signum der Modernität zu verleihen, bilden doch offenbar die Wünsche nach einer komfortabel ausgestatteten Privatsphäre einerseits und nach außerhäuslichen Vergnügungen andererseits keinen sich ausschließenden Widerspruch. Die Wünsche nach Sicherheit und Abenteuer werden in der Moderne von unterschiedlichen Märkten bedient und existieren als Konsummotive nebeneinander.75 Dass die Angestelltenschaft trotzdem eine herausgehobene Position als Multiplikator eines konsumistischen Hedonismus innehatte, mag dennoch zutreffen, lag aber nicht an der exklusiven Modernität, sondern an der erhöhten Sichtbarkeit ihres Konsumstils, die sich der starken Beteiligung an öffentlichen Freizeitaktivitäten verdankte und die den Kern der Beobachtungen Kracauers ausmachte. Die soziale Triebkraft einer konsumgesellschaftlichen Ausweitung – das zeigen die Differenzmuster auf den Feldern der Freizeitgestaltung und des häuslichen Komforts  – war der »neue Mittelstand« der Angestellten und Beamten, genauer gesagt: »die mittleren und höheren Beamten, die Lehrer und die Angestellten«.76 Die angestoßene Dynamik machte jedoch nicht an der »Kragenlinie« halt, sondern wurde von der Arbeiterschaft unvermindert fortgesetzt, wenn auch ein Rückstand meist erhalten blieb. Bei einem wachsenden Spielraum des disponiblen Einkommens offenbarten die Arbeiter die gleichen Präferenzen wie die Angestellten und Beamten, wie sich an ihren extremen Verbrauchssteigerungen im gesamten Freizeitsektor, aber auch an dem kräftig zulegenden Konsum von Haushaltsgeräten und vor allem von Möbeln ablesen lässt. Dass der proletarische Lebensstil keineswegs »absichtsvoll beschränkt«77 war, zeigte auch eine Studie von Reinhard Spree über die »Modernisierung des Konsumverhaltens deutscher Mittel- und Unterschichten während der Zwischenkriegszeit«. Anhand der Bildungs- und Hygieneausgaben – Sprees Indikatoren für modernen Konsum – demonstriert er zunächst, welche geringen Geldmittel die unteren Einkommensklassen für den Wahlbedarf faktisch erübrigen konnten. Wenn aber darüber hinaus die Elastizitätswerte, also die Verbrauchsänderungen bei Einkommenssteigerungen, untersucht und als Zeichen latenter Präferenzen verstanden werden, wird deutlich, dass zum einen der Konsum in diesen Bereichen hochelastisch gewesen ist und dass zum anderen die Reak­ tionen der Arbeiter, Angestellten und Beamten sich sehr ähnelten. Wenn daher zwischen realisiertem Konsum und Aspirationen unterschieden wird, erkennt 75 Vgl. Bolz, Manifest, S. 99–105. 76 Triebel, Konsum, S. 91. 77 Ebd., S. 98.

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man hinter einem sozial differentiellen Verbrauchsmuster eine »zunehmende Konvergenz hinsichtlich der Präferenzstruktur«.78 Das bedeutet, dass sich der Erwartungshorizont im Bereich des Konsums nicht nur für die bürgerlichen Mittelschichten, sondern auch für die Arbeiterschaft geöffnet hatte.

3. Erfahrung des Mangels – Erwartung des Wohlstands Bislang sind auf der Grundlage quantitativer Untersuchungen zur Einkommens­ entwicklung und zur Verbrauchsgestaltung die zeitlichen Schwankungen und die sozialen Bruchlinien der Weimarer Konsumgesellschaft sichtbar geworden. Welche Erfahrungen die Konsumenten auf einer alltagsweltlichen Ebene machten, wie sie etwa – besonders in den Krisenzeiten und in den unteren Einkommensschichten – den geringen Spielraum für den erweiterten Bedarf nach Unterhaltung, Hygiene, Bildung und anderem mit der oft drückenden Notwendigkeit, sich zu ernähren, zu kleiden und zu wohnen, vereinbarten und welche Erwartungen aus dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Konsumniveaus erwuchsen: Alles das lässt sich jedoch nicht aus Zahlenmaterial ableiten, sondern erfordert eine qualitative Darstellung der Konsumpraxis und ihrer Wahrnehmung durch die Zeitgenossen. In groben Zügen lassen sich die Konsumerfahrungen und -erwartungen der Mehrheit der Weimarer Verbraucherschaft – praktisch der gesamten Arbeiterschaft und jener Angestellten und Beamten, die auch in stabilen Jahren mit einem bescheidenen Haushaltseinkommen ihr Auskommen bestreiten mussten – folgendermaßen beschreiben. Zunächst ist auf die überragende Bedeutung der verschiedenen Aspekte und Konsequenzen des Mangels für den Erfahrungsraum der Weimarer Konsumenten einzugehen. Alle zeitgenössischen Aussagen wie auch alltagsgeschichtliche Forschungen dokumentieren, kaum überraschend, dass in den Inflations­jahren bis 1924 und in der Krise seit dem Herbst 1929 die Probleme bei der Befriedigung des Existenzbedarfs sich verschärften, Not und Verzicht ein wieder­ kehrender Begleiter der unteren Einkommensschichten waren. Wie sahen aber die Erfahrungsbestände der Notökonomie im einzelnen aus? Hinsichtlich des Ernährungsniveaus79 war die Gründungszeit der Weimarer Republik durch erhebliche Versorgungslücken gekennzeichnet, die sich daraus ergaben, dass die einheimische Nahrungsmittelproduktion nicht hinreichte 78 Spree, Modernisierung, S. 408. 79 Vgl. hierzu die zeitgenössischen Beobachtungen: Skalweit, Kriegsernährungswirtschaft; v. Tyszka, Ernährung, S. 53–57; Kuczynski, Labor Conditions, S.  24–33; Kammermayer, Arbeiterlebensführung; Feierabend, Bedingungen, S. 80–125; Günther, Lebenshaltung; Fürth, Haushalt, S. 24–35; Meerwarth u. a., Einwirkung; sowie die historische Forschung: Hartewig, Jahrzehnt, S. 153–188; dies., Anarchie, S. 269; Hagemann, Frauenalltag; dies., Notjahre, S. 216 f., 225 f.; Niehuss, Lebensweise; Holtfrerich, Inflation, S. 253–260; Grüttner, Alkoholkonsum; Howard, Consequences; Roerkohl, Lebensmittelversorgung.

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und die notwendigen Einfuhren durch den Fortbestand der alliierten Blockade bis zum 12. Juli 1919 verhindert wurden. Mit dem Frieden kam daher nicht eine Erlösung von der chronischen Unterversorgung der Kriegszeit, sondern eine Verlängerung des schwierigen »Durchkommenmüssens« und der zwangsweise veränderten Ernährungsweise: Wie schon im Krieg wurde in der Nachkriegszeit weniger Fleisch, Wurst und Fett, dafür mehr pflanzliche Nahrung, vor allem Kartoffeln, gegessen. Die Ernährungsphysiologen waren sich darin einig, dass die anhaltend geringe Versorgung mit Eiweiß, Fett und Kohlehydraten eine Unterernährung darstellte; und selbst für einen Haushalt, der in der Vorkriegszeit zu den gut situierten Kreisen gezählt hatte und den die Lebenshaltungsstatistikerin Henriette Fürth 1922 einer monographischen Untersuchung unterzog, ließ sich feststellen, dass sich »der Verbrauch hochwertiger Nahrungsmittel […] stark, bei einzelnen in erschreckendem Maße, vermindert [hat]. An ihre Stelle sind Surrogate oder mindernährhaltige Nahrungsmittel, wie Kartoffeln usw., getreten«.80 Die Qualitätsverschlechterung des Essens durch zahllose Ersatzlebensmittel – am bekanntesten wohl das bis zur Gesundheitsgefährdung »gestreckte« K-Brot, Ersatzkaffee, Marmelade, Kohlrüben und Pferdefleisch – war wie die Versorgungsengpässe ein Erbe der Kriegszeit und bei den Verbrauchern besonders verhasst.81 Wie sich die Minimalversorgung und Monotonie der Ernährung in der Nachkriegszeit konkret darstellen konnte, verdeutlicht die Haushaltsrechnung einer dreiköpfigen Arbeiterfamilie aus Altona, die im Jahr 1920 sogar diverse Aus­gaben für den Wahlbedarf (Hausrat, Unterhaltung) erübrigte und daher nicht zu den völlig depravierten Haushalten zu zählen ist. Die Familie verzehrte eine geringe und weit schwankende Menge von Fleisch: zwischen 0,7 und 3,7 kg pro Monat, was im Jahresdurchschnitt nicht einmal ein Pfund Fleisch in der Woche auf den Tisch brachte. Kartoffeln wurden hingegen in einer heute schwer vorstellbaren Menge von durchschnittlich knapp 9 kg pro Woche verbraucht.82 Solche Angaben verweisen auf die Dualität von Alltags- und Sonntagsessen. Dem täglichen Einerlei der verschiedenen Eintopfvarianten mit kleinen Fett- oder Wurstbeilagen und dem »Butterbrot«, das tatsächlich meist mit Margarine bestrichen war, standen das sonntägliche Festessen mit Fleisch sowie Brötchen und Gebäck gegenüber. Auch in Notzeiten war für die Arbeiterfamilie das Essen nicht auf die physiologische Subsistenzfunktion reduziert, sondern sollte wenigstens partiell genussreich sein.83 Bedenkt man, welche zentrale Rolle dem Fleischkonsum als Wohlstandsindikator zukam, bedeutete dessen Minder80 Fürth, Haushalt, S.  34 f. Zur Unterversorgung im Krieg vgl. vor allem Daniel, Arbeiterfrauen, S. 205–232. 81 Vgl. Skalweit, Kriegsernährungswirtschaft, S.  50–61; Hartewig, Jahrzehnt, S.  171; Davis, Home Fires, S. 204–209. 82 Vgl. Feldman u. Niehuss, Haushaltsrechnungen, S. 267. Einen höheren Fleischkonsum diagnostiziert Karin Hartewig anhand einiger Haushaltsrechnungen von Bergarbeiterfamilien im Ruhrgebiet. (Vgl. Hartewig, Jahrzehnt, S. 178 f.) 83 Vgl. Lüdtke, Hunger; ders., Depression, S. 174 f.; Hagemann, Notjahre, S. 217.

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verbrauch gegenüber der Vorkriegszeit eine deutliche Beeinträchtigung des Lebensstandards: Im Reichsdurchschnitt lag der Pro-Kopf-Verbrauch an Fleisch bis 1925 stets unter dem Stand von 1912.84 Noch drastischer war der Einbruch des für das Genussleben besonders der Arbeiterschaft wichtigen Bierkonsums: Zwischen 1900 und 1925 ging er um 44 Prozent zurück. Die Milchversorgung wiederum war zeitweise so prekär, dass die kommunalen Verteilungsstellen lediglich an kleine Kinder, schwangere Frauen, Alte und Kranke geringe Mengen ausgaben. Das breit gefächerte Rationierungssystem verhinderte die anhaltende Mangelernährung nicht, die schließlich auch den Gesundheitszustand der deutschen Bevölkerung, besonders der Kinder, beeinträchtigte: Fälle von Rachitis, Tuberkulose und anderen partiell mangelbedingten Krankheiten waren weit verbreitet.85 Neben der Ernährung waren die Wohnverhältnisse das dringlichste soziale Problem der Nachkriegszeit.86 Trotz staatlich subventionierter Bauprogramme und Eingriffe in die Wohnraumverteilung verschärfte sich die Wohnungsnot durch die Rückkehr von Soldaten und Flüchtlingen, durch einen nachholenden Heiratsboom und die Verringerung der durchschnittlichen Familiengröße. Die private Bautätigkeit wurde durch die Inflation der Bau- und Renovierungskosten gehemmt, die aufgrund der gesetzlich festgelegten Mietpreisbindungen nicht an die Verbraucher weitergegeben werden konnten. Die Folge war, dass einerseits der Wohnraummangel die Zahl der Wohnungssuchenden vergrößerte und die Belegungsdichte der Wohnungen erhöhte, zumal Untervermietung ein gängiger Weg zur Aufbesserung des knappen Haushaltsbudgets war; andererseits verringerte sich mit den staatlich fixierten Höchstmieten für den Altwohnungsbestand die finanzielle Belastung der Familien durch Mietkosten radikal. Kurz: Es gab zu wenige, dafür aber günstige Wohnungen, die sich jedoch oft in einem katastrophalen Zustand befanden. Das galt zumindest für die alten Arbeiterquartiere, in denen während der Weimarer Republik die große Mehrheit der Arbeiterschaft weiterhin die schlechten Wohnverhältnisse des Kaiserreichs erlebte: Überfüllung, Baufälligkeit, unzureichende hygienische Bedingungen in dunklen und engen Räumen und Straßen. Selbst in einer recht gut gestellten sechsköpfigen Arbeiterfamilie wie der von Wilma M. in Hamburg 84 Feierabend, Bedingungen, S. 31, 120, nennt folgende Verbrauchsmengen (in kg) pro Kopf und Jahr: 47,1 (1912), 15,2 (1919), 18,8 (1920), 30,7 (1921), 29,9 (1922), 25,6 (1923), 39,3 (1924), 44,2 (1925). 85 Grüttner, Alkoholkonsum, S. 239; Osthus, Milchversorgung, S. 23–26; Fürth, Haushalt, S. 34; Müller, Fleisch- und Milchversorgung; Skalweit, Kriegsernährungswirtschaft, S. ­216–218; Niehuss, Lebensweise, S. 255–258; Hartewig, Anarchie, S. 249; Mai, Mensch, S. 50; Winkler, Schein, S. 91–98. 86 Vgl. hierzu und zum folgenden Absatz v. Saldern, Häuserleben, S.  119–191; dies., Herd, S.  46–57; Führer, Mieter, S.  132–155; ders., Managing, S.  326–336; Witt, Inflation; Bessel, Germany, S. 166–194; Silverman, Pledge, S. 117–122; Winkler, Schein, S. 76–81; Hartewig, Jahrzehnt, S. 121–152; Hagemann, Notjahre, S. 218 f.; Niehuss, Arbeiterschaft, S. 156–175; Geyer, Welt, S. 223–242; ders., Wohnungsnot, S. 133–136, 146.

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erinnerte man sich an die beengten Zustände – und abermals an die Unterscheidung von Alltag und Sonntag: »Die zwei Zimmer hatten jeweils ungefähr 14 qm, hinzu kamen noch Toilette und Küche. Der Handstein war in der Küche. Dort hat sich eben alles abgespielt, das Waschen und Baden von uns Kindern, der wöchent­liche Waschtag meiner Mutter […] Wir haben immer in der Küche gewohnt. Als wir kleiner waren, wurde das Wohnzimmer nur sonntags geheizt. Es war unsere ›gute Stube‹ mit bürgerlichem Plüsch in Grün.«87 Zugleich setzte mit den Neubausiedlungen eine klassenübergreifende »sozialräumliche Neusegmentierung«88 der Gesellschaft ein. Vorwiegend Angestellte und Beamte, jedoch auch Teile der gut verdienenden Facharbeiterschaft leisteten sich die nach den Idealen des Reformwohnungsbaus gestalteten teureren Unterkünfte und partizipierten damit an den Vorzügen – und am Disziplinierungsregime  – einer modernen, rationalisierten Wohnkultur. Die mit 55 bis 75 qm recht großen und hellen Wohnungen waren mit sanitären Anlagen, Strom und Heizung besser ausgestattet, lagen in einer aufgelockerten Blockbebauung, die von Grünflächen durchzogen und teilweise mit Gemeinschaftsanlagen wie Zentralwaschküchen und Kindergärten versehen war; sofern die Massenwohnungen das ursprünglich englische Konzept der Gartenstadt realisierten, kamen noch Kleingärten hinzu – eine besonders in der Inflation wertvolle Möglichkeit, durch Eigenanbau zur Subsistenzgrundlage beizutragen.89 Der finanziell besser situierte Teil der Verbraucherschaft wurde in den Neubausiedlungen zugleich zum Adressaten und zum Multiplikator eines, wenn auch »eigen-sinnig«90 anverwandelten Modernisierungsprogramms, das in der Elektrifizierung, Hygienisierung und Funktionalisierung der Wohnräume sowie in der Rationalisierung der Hauswirtschaft und einer ästhetischen Versachlichung bestand, das aber in den zwanziger Jahren für den größten Teil der (proleta­ rischen) Mieter unerreichbar blieb. Außer der Unterernährung und den überwiegend schlechten Wohnverhältnissen prägte die Unterversorgung mit Bedarfsgütern wie Brennmaterial, Kleidung und Wäsche, Seife und andere Waschmittel die Mangelerfahrung der Inflationszeit. Gerade die schlecht verdienenden Schichten zwang der Geldmangel dazu, die Anschaffung besonders von Hausrat und Bekleidung, auf die während des Krieges verzichtet worden war, noch weiter hinauszuschieben, so dass in der »Sozialen Praxis« im Jahr 1920 konstatiert wurde, dass »jenseits des gelernten Arbeiterstandes […] von einem geordneten Hausstand und einem nennenswerten Kleider- und Wäschevorrat nirgends mehr die Rede sein 87 Zit. bei Hagemann, Notjahre, S. 219, die das Interview durchführte. 88 v. Saldern, Häuserleben, S. 134. Vgl. dazu auch die anschauliche Schilderung einer Textilarbeiterin in: Deutscher Textilarbeiterverband, Arbeitstag, S. 124–126. 89 Vgl. Kanacher, Wohnstrukturen, S. 161; v. Saldern, Häuserleben, S. 133. 90 Zum Konzept des Eigen-Sinns vgl. allgemein Lüdtke, Eigen-Sinn, S. 136–151; zur Aneignung durch die Bewohner vgl. Herterich, Menschen, S. 90; v. Saldern, Häuserleben, S. ­178–188; zum Disziplinierungskonzept: dies., Kathedralen.

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kann«.91 Unter den Blicken der Wohlfahrtspfleger, die ihren Klienten mit einem bürgerlichen Respektabilitäsideal begegneten, konnte dann die abgetragene Kleidung oder ein ungepflegtes Äußeres entweder zum Anlass einer diskriminierenden Behandlung werden oder Mitleid erregen und eine Kleiderspende bewirken.92 Den mittelständischen Verbrauchern aus den Beamtenkreisen ging es objektiv besser, subjektiv jedoch ebenfalls schlecht: Zwar ermöglichten die größeren Kleider- und Einrichtungsvorräte einen leichteren Verzicht auf Neuanschaffungen und ließ sich an Unterhaltungs- und Bildungsausgaben mehr einsparen; dass aber der gewohnte bürgerliche Lebensstil aufgegeben, die geschätzten Statussymbole mitunter gar verkauft werden mussten, ließ sich kaum verschmerzen, wie die bekannten Klagen über die »Not der geistigen Arbeiter« zeigen.93 Die Erfahrung des Mangels war begleitet von einem Bruch mit den normalen Konsum- und Versorgungspraktiken der Vorkriegszeit. Zentral war die mit der Teuerung und dem instabilen Geldwert verbundene Krise des Geldes als »symbolisch generalisiertem Kommunikationsmedium« (Luhmann). Dessen Funk­ tionsverlust, der auf die Weimarer Gesellschaft eine zutiefst verunsichernde Wirkung hatte, wurde schon von den Zeitgenossen ausgiebig dokumentiert – am eindrücklichsten in der »Sittengeschichte der Inflation« von Hans Ostwald – und kann mittlerweile als hinreichend analysiert gelten.94 Mit dem Zusammenbruch des Geldes als Wertmaß, Tauschmittel und Wertspeicher geriet, kurz gesagt, einerseits die soziale Positionsbestimmung ins Wanken und war andererseits ein Verlust an Entscheidungsfreiheit und Sicherheit verbunden. Die unerbittliche Hetze im Jahr der Hyperinflation 1923 nach möglichst günstiger und schneller Umsetzung des rasant an Tauschwert verlierenden Einkommens in Gebrauchswerte bedeutete eine Verkürzung des Zeithorizonts und eine Ökonomisierung des Alltags, die sich ins kollektive Gedächtnis der Deutschen eingrub: Es kursierten bald zahllose Erinnerungsbruchstücke und Anekdoten, die von wahnwitzigen Preissteigerungen binnen Tagesfrist und den entsprechend frustrierenden Einkaufserfahrungen handelten.95 91 Wronsky, Armutserscheinungen, Sp.  1106. Die Sozialpädagogin Siddy Wronsky beklagte aus hygienischen Gründen besonders den Mangel an Betten und Bettwäsche. Verschärfend kam eine überdurchschnittliche Preissteigerung bei der Bekleidung hinzu (vgl. Kuczynski, Labor Conditions, S. 50 f.). 92 Vgl. Crew, Germans, S. 174. 93 Vgl. Niehuss, Lebensweise, S. 244–247; Weber, Not; Jarausch, Not, S. 5–16, 45–48; Widdig, Culture, S. 169–195; Reuveni, Reading, S. 39; Lenger, Sombart, S. 260–271; v. Kruedener, Entstehung, S. 234; Ostwald, Sittengeschichte, S. 90. 94 Vgl. ebd.; aus der Forschung vor allem: Feldman, Disorder; v. Kruedener, Entstehung; Geyer, Welt; Widdig, Culture. 95 Hartewig, Jahrzehnt, S. 184; Geyer, Welt, S. 249–251; Widdig, Culture, S. 79–100; Ostwald, Sittengeschichte, S.  61–77. Die einschlägigen literarisch-philosophischen Verarbeitungen des Inflationstraumas: Fallada, Wolf; Mann, Unordnung; Canetti, Masse, S. 214–220; Benjamin, Einbahnstraße.

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Die Krise des monetären Systems beförderte ein regime of consumption, das aus verschiedenen Formen öffentlicher Versorgung und privater Selbsthilfe bestand und die Erfahrung des massenhaften Notstandes der Jahre bis 1924 mitprägte. Das Dauerproblem zunächst der Lebensmittelrationierung, dann der Preiskontrollpolitik, auf die später zurückzukommen ist, war, dass die ihnen gestellten Aufgaben nicht bewältigt werden konnten: Stets erlebte das Publikum, dass die auf den Karten zugeteilten Rationen geringer waren, als es für die von der Reichsregierung angestrebte Mindestversorgung notwendig gewesen wäre, und dass die Preise höher waren, als es die von den Wucherämtern und Preisprüfungsstellen nur scheinbar garantierte Grenze der »Angemessenheit« hätte zulassen sollen. Auch die von den Kommunen betriebenen Volksküchen waren offenbar eher ein Stein des Anstoßes als eine willkommene Verpflegungseinrichtung; die Konsumenten goutierten die Massenspeisungen in der Regel nicht, was nicht zuletzt auf überhöhte Preise, aber auch auf die gebotene Qua­lität zurückzuführen war. In den Volksküchen von Duisburg und Mühlheim gab es beispielsweise im Januar 1924 von Montag bis Samstag nacheinander Reissuppe, Erbsensuppe, Gemüsesuppe, Linsensuppe, Graupensuppe, Bohnensuppe und sonntags Nudelsuppe mit 50 Gramm Fleisch.96 Die Dauerkrise der Allokationsmechanismen Markt und Staat zwischen 1914 und 1924 führte dazu, dass vormoderne und illegale Formen der Selbsthilfe zur Subsistenzsicherung in den Alltag der städtischen Konsumenten eindrangen. Teuerungsproteste, Hungerunruhen und Plünderungen waren im Krieg zunächst das Zeichen einer sich herausbildenden weiblichen Protestöffentlichkeit, wurden aber auch danach immer wieder zur direkten Aneignung von Lebensmitteln, zur Erzwingung von Preissenkungen und darüber hinaus zur Artikulation von Versorgungsnöten, Ansprüchen und populären Vorstellungen von Verteilungsgerechtigkeit eingesetzt. Bei diesen Protesten, die sich, oft spontan und gewaltsam, auf Märkten, vor Rathäusern und in den kleinen Einzelhandelsläden abspielten, standen auf Seiten der Konsumenten Hausfrauen und Arbeitslose, zunehmend aber auch Arbeiterinnen und Arbeiter, Jugendliche und Kinder den Händlern und Erzeugern einerseits, der Polizei und den kommunalen Beamten andererseits gegenüber.97 Als im Oktober 1923 die Brotkarte auf­gehoben wurde und massive Preissteigerungen zu befürchten waren, beschrieb Alfred Döblin, damals Arzt in Berlin, die typischen Konfliktlinien, die entlang der gestörten Produktions- und Verteilungswege aufbrechen konnten: »Die Menschen, völlig kopflos, dazu unfähig, ihr Geld wertbeständig anzu­legen, stürzten sich auf die Lebensmittelgeschäfte und dann über die Brot­läden. Es entwickelte sich ein Kampf zwischen einem tumultuösen Publikum und dem Bäcker, dann 96 Hartewig, Jahrzehnt, S.  188; vgl. auch Lüdtke, Depression, S.  166 f.; Allen, Metropole, S. ­78–80; Crew, Germans, S. 166–171. 97 Tenfelde, Riscoperta; Scholz, Jahrzehnt, S.  99–118; Lefèvre, Lebensmittelunruhen; Geyer, Teuerungsunruhen, S.  327–343; ders., Teuerungsprotest, S.  210 f.; Hartewig, Jahrzehnt, S. 218–244.

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dem Bäcker und dem Mehlhändler, zuletzt dem Mehlhändler und dem Landmann. Wer rasch war und genug Kinder hatte zum Ausschicken, hamsterte – bei Reich und Arm – Brot.«98 Überhaupt war das »Hamstern« eine beliebte Versorgungsstrategie, bedeutete es doch in der Praxis eine Güterumverteilung von den Produzenten zu den Konsumenten, die aufs Land zum Felddiebstahl fuhren oder in den Fabriken Materialien entwendeten, die sich auf dem Schwarzmarkt umsetzen ließen. Dass die Hauptsorge bei diesen Selbsthilfeaktionen tatsächlich der Subsistenz galt, zeigt sich auch in der Renaissance der Selbstversorgung, die am Obst- und Gemüseanbau und an der Kleinviehhaltung in den Hinterhöfen und den immer zahlreicher werdenden Schrebergärten zu erkennen ist.99 Als die »Basis der familiären Notökonomie«100 gelten, nicht nur in der Inflation, die Arbeiterfrauen. In doppelter Hinsicht war die Erfahrung des Mangels für sie noch gravierender als für die Männer. Zum einen hatten sich die Frauen wegen ihrer untergeordneten Stellung in der innerfamiliären Hierarchie, die dem Familienvater als »Haupternährer« das Recht auf Mehrkonsum zusprach, bei der Ernährung und Kleidung empfindlich einzuschränken. Wie Arbeiter­ erinnerungen zeigen, trat die Mutter gegenüber den Kindern als Verwalterin des Hungers auf, welche die Sparsamkeit zu rechtfertigen hatte und sich zugleich selbst aufopferte  – die Erinnerung an eine extreme Ungleichverteilung der Essensportionen gehört zum Kernbestand autobiographischer Erzählungen in der Arbeiterschaft. Zum anderen erforderte die alltägliche Ressourcenknappheit und mehr noch eine wirtschaftliche Notlage, dass die Frau nicht nur durch Mitverdienst, sondern vor allem durch hauswirtschaftliche Leistungen die Unsicherheiten der proletarischen Existenz abfing. Konsum unter Mangelbedingungen war für die Frauen daher stärker mit hauswirtschaftlicher EigenProduktion – im Kleingarten, durch Untervermietung und Näharbeiten – verbunden und generell in Überlebensstrategien wie dem möglichst günstigen Einkaufen und dem Teilen von Bedarfsgütern in der Nachbarschaft eingebettet und wurde dadurch einerseits als Belastung, andererseits als Herausforderung empfunden. Im Jahr 1930 schloss die bekannte Sozialreformerin Alice Salomon aus einer qualitativen Studie über 70 Berliner Familien, dass »entscheidend für die wirtschaftlichen Verhältnisse die wirtschaftliche Tüchtigkeit der Frau ist«. Das war wohl zutreffend und doch zugleich eine normative Verstärkung gerade der bürgerlichen Frauenbewegung, die durch hauswirtschaftliche Erziehung Sparsamkeit und Fleiß als Kardinaltugenden der Hausfrau zu befestigen trachtete, was wiederum der Frau als Konsumentin ein klares, sich den Versprechungen einer dynamischen Konsumgesellschaft verweigerndes Profil zuwies: 98 Döblin, Kerl, S. 217. 99 Vgl. Verk, Laubenleben, S. 38–49; Niehuss, Lebensweise, S. 251; Tenfelde, Provinz, S. 135 ff.; Hartewig, Jahrzehnt, S. 191–194, 230; Scholz, Jahrzehnt, S. 111 f.; Geyer, Welt, S. 184 ff.; Mai, Mensch, S. 51. 100 Hagemann, Notjahre, S. 239. Zu ihrer Genese in der Kriegszeit vgl. Daniel, Arbeiterfrauen, S. 215 ff.

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Rationale Verbrauchsgestaltung, Privatheit und Subsistenzorientierung sollten dieser Vorstellung nach die Rolle der Konsumentin bestimmen.101 Während in der unmittelbaren Nachkriegszeit 1918/19 und in der galoppierenden Inflation 1922/23 die gesamte Verbraucherschaft die Auswirkungen der Versorgungsengpässe und der Teuerung zu spüren bekam, kehrten Mangel und Entbehrungen in der Weltwirtschaftskrise für einen kleineren, nicht aber kleinen Teil der Konsumenten – diejenigen, die durch Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit betroffen waren – zurück. Die insgesamt positive Bilanz des 1932 gegenüber der Vorkriegszeit um zehn Prozent höheren Nahrungsmittelverbrauchs, der auch während der Krise in absoluten Zahlen kaum fiel, sollte nicht über die extrem ungleichen Konsumchancen in den letzten Jahren der Weimarer Republik und über die beispiellose Verelendung der Arbeitslosen hinwegtäuschen.102 Das massenhafte Abrutschen der Arbeitslosen aus der Arbeitslosenunterstützung und der Krisenfürsorge in die vollkommen überlastete Wohlfahrtshilfe der Kommunen sowie die Leistungskürzungen auf allen Ebenen ließen das Budget der betroffenen Familien auf ein Niveau sinken, das die marktvermittelte Haushaltsführung und Versorgung des vorangehenden Jahrfünfts nicht mehr gestattete. Einhellig konstatierten die Lebenshaltungsexperten zwischen 1931 und 1933 eine vollkommen unzureichende Ernährung der Erwerbslosen.103 Wie sehr der ökonomische Zwang in dieser Zeit auf eine Verschlechterung ihrer Ernährungsweise hinwirkte, zeigt der Vergleich mit dem Konsumverhalten der Arbeitslosen in der Zeit der relativen Prosperität. Aus der großen Erhebung des Statistischen Reichsamtes von 1927/28 lässt sich ablesen, dass nach dem Eintritt der Arbeitslosigkeit und einem damit verbundenen Einkommensrückgang von fast einem Drittel die Arbeiter dennoch bemüht waren, die Zusammensetzung ihrer Ernährung aufrechtzuerhalten: Der Verbrauch der von den Konsumenten und den meisten Ernährungsphysiologen hoch geschätzten anima­lischen Nahrungsmittel wurde weniger reduziert als der von Kartoffeln, Gemüse und Obst.104 101 Zitat: Salomon u. Baum, Familienleben, S.  149. Vgl. zeitgenössisch vor allem Deutscher Textilarbeiterverband, Arbeitstag, passim; Fischer u. Heimann, Kindheiten, S. 98; zudem Reagin, Comparing, S. 242–252; Hagemann, Notjahre, S. 229–240; Lipp, Mutter, S. 56–58; Beier, Leben, S. 250–258; Lüdtke, Depression, S. 175. Kritik an einer »Tüchtigkeit«, die ausschließlich auf den hauswirtschaftlichen Bereich bezogen war, kam von kommunistischer Seite: vgl. Fischer u. Heimann, Kindheiten, S. 119–123. Zur longue durée geschlechtsspezifischer Ungleichverteilung von Nahrungsmitteln und ihren kulturellen Implikationen vgl. Sandgruber, Geschlecht, S. 383–390. 102 Zur Gesamtbilanz Teuteberg, Verzehr, S. 346 f.; zu den verschiedenen Verbrauchseinschränkungen in der Krise vgl. vor allem Biehahn, Wandlungen, S. 397–408; Substitutions­effekte hin zu billigen und minderwertigen Nahrungsmitteln erläutert Achner, Verbrauchsverschiebungen, S. 268 f. 103 Vgl. v. Tyszka, Ernährung, S. 87–93; ders., Ernährungslage, S. 893 ff.; Lehmann, Ernährung (Teil I), S. 329; ders., Ernährung (Teil II), S. 69–72. 104 Vgl. Statist. Reichsamt, Lebenshaltung, Teil I, S. 77–80. In den gesundheitswissenschaft­ lichen Ernährungsnormen bahnte sich zwar ein Paradigmenwechsel hin zu einer vitaminreichen, vegetabilischen Ernährung an (vgl. Gläser, Ernährungs- und Lebensweise); diese

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In der Weltwirtschaftskrise war das Festhalten an der gewohnten, aber kost­ spieligeren Verpflegung nicht mehr möglich. Nach einer Berechnung Carl von Tyszkas konsumierten die Arbeitslosen im Winter 1932/33 nur noch etwa die Hälfte der Fleischration, aber fast die dreifache Menge an Kartoffeln, die sich die Erwerbslosen im Jahr 1927/28 leisteten. Den Verbrauch von Butter, Obst und Südfrüchten hatten sie in der Krise praktisch eingestellt, während erheblich mehr Brot und billiges Schmalz und Margarine gekauft wurden. Daraus resultierte insbesondere ein bedrohlicher Eiweiß- und Vitaminmangel. Es kam hinzu, dass durch den Zwang zur möglichst kostengünstigen Ernährung verstärkt qualitativ minderwertige Ware wie etwa das Fleisch von der Freibank oder Hammel- und Pferdefleisch konsumiert wurde. Die Schlussfolgerung von Tyszkas entsprach daher dem Wahrnehmungshorizont der Zeitgenossen: »Der Nahrung der Arbeitslosen fehlt eben jede Kraft, da sie viel zu wenig hochwertige animalische Produkte genießen. Der Hunger wird vor allem durch Kartoffeln und Brot mit billiger Margarine oder Marmelade gestillt.«105 Es erscheint wenig sinnvoll, den typischen Speisezettel einer Arbeitslosenfamilie zu konstruieren, wenn ein solcher schon aufgrund der erheblichen Differenzen in den regionalen Verzehrgewohnheiten106 und den individuellen Überlebensstrategien keine realhistorische Aussagekraft besitzt: Die kon­ kreten Beispiele, die in den Reisebeschreibungen des amerikanischen Journalisten Hubert Knickerbocker zu finden sind, unterscheiden sich von denjenigen in den gewerkschafts- oder parteipolitisch gebundenen Untersuchungen, deren Ernährungsbudgets wiederum von den in der gesundheitswissenschaftlichen Literatur genannten verschieden sind.107 Erst durch den Vergleich mit dem Versorgungsstandard eines nicht arbeitslosen Angestelltenhaushalts, der in der Untersuchung des Allgemeinen freien Angestelltenbundes (Afa)  von 1931 als noch zu niedrig beklagt wird, werden die gemeinsamen Merkmale in der Mangelernährung der Erwerbslosen deutlich. So kam der Afa, dessen Unter­suchungsabsicht eindeutig apologetischer Natur war, zu dem Ergebnis, der durchschnittliche Angestellte könne sich lediglich drei mal in der ­Woche eine richtige Fleischmahlzeit und nur ein Pfund Bohnenkaffee im Monat leisten; diese »Barometer der Wohlhabenheit«  – Fleisch- und Kaffee­konsum  – Vorstellung war aber weder kennzeichnend für den wissenschaftlichen Mainstream (vgl. Beythien, Volksernährung, S. 26, 33–35), noch bestimmte sie den Geschmack der großen Masse der Verbraucher. 105 v. Tyszka, Ernährung, S. 93. Vgl. zudem Weiland, Kinder, S. 15–19. 106 Vgl. dazu vor allem Spiekermann, Verzehrsunterschiede; Lesniczak, Landschaftsküchen, S. 75–97, 111–119. 107 Die Repräsentativität und Gültigkeit der Beispiele von Hellmuth Lehmann, auf die sich Heinrich August Winkler stützt, hat – mit guten Gründen – bereits Carl von Tyszka an­ gezweifelt. Vgl. Winkler, Weg, S. 35–37; v. Tyszka, Ernährung, S. 81–83. Zum Folgenden vgl. Knickerbocker, Deutschland, S. 13–16, 24–26, 39–42; v. Tyszka, Ernährung, S. 76–93; Fischer u. Heimann, Kindheiten, S. 93–106; Winkler, Weg, S. 35–38; Lüdtke, Depression, passim.

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stünden also bei ihm niedrig.108 Von einem solchen »Luxus« waren aber die Arbeitslosen, den erwähnten Untersuchungen nach zu urteilen, weit entfernt: Es reichte wohl in der Regel für einmal Fleisch pro Woche, oder kleine Mengen wurden auf mehrere Tage gestreckt, während Bohnenkaffee nur noch höchst selten auf den Tisch kam. Ebenso war der Konsum von Weißbrot, Kuchen und Butter, der für die Angestellten zur normalen Kost gehörte, den Arbeitslosen entweder nicht mehr möglich oder Teil eines raren außeralltäglichen Festessens.109 In der Großen Depression verschärfte sich für den minderbemittelten und besonders den arbeitslosen Teil  der Verbraucherschaft nicht nur die Mangel­ ernährung, sondern auch die Wohnungsnot. Die Deregulierung des staatlich kontrollierten Wohnungsmarktes unter Brüning ließ die Mietpreise und die Zahl der Exmittierungen steigen, die Neubautätigkeit aber – wegen des Wegfalls der Subventionen und der allgemeinen Investitionskrise  – drastisch zurück­ gehen. Die Folge war ein Mangel an günstigem Wohnraum, denn von den staatlichen Bauprogrammen der zwanziger Jahre hatten ja vor allem die kaufkräftigeren Mittelschichten profitiert. Die Mieten belasteten das schmale Budget der Arbeitslosenhaushalte übermäßig, so dass entweder noch mehr untervermietet und eine weitere Verschlechterung der Wohnsituation hingenommen werden musste oder der Weg in die Obdachlosigkeit blieb. Die immer zahlreicheren Arbeitslosen, die diesen Weg tatsächlich zu gehen gezwungen waren, hausten in den von den Wohlfahrtsämtern bereitgestellten Notunterkünften  – meist beengte Barrackenbauten oder Eisenbahnwaggons  –, lebten unter bedenklichen hygienischen Bedingungen in »wilden Siedlungen« und Schrebergärten an den Rändern der Großstädte oder gingen auf Wanderschaft. Nicht nur in dieser Hinsicht bewirkte die Arbeitslosigkeit, wie Eve Rosenhaft argumentiert hat, eine eigen­tümliche räumliche Mobilisierung der Menschen: Schon in der klassischen Studie von Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel über die »Arbeits­losen von Marienthal« hatte sich gezeigt, dass der dauerhafte Verlust der gewohnten Zeitdisziplin gerade die Langzeitarbeitslosen zum killing time – Kartenspielen, endlosen Spaziergängen und ähnlichem – auf die Straße trieb. Anders als in der österreichischen Provinz brachten aber in den größeren Städten Wanderungen durch Einkaufsstraßen, Warenhäuser und Vergnügungsparks eine beunruhigende Konfrontation mit einem Konsumniveau mit sich, das für die Arbeitslosen so nahe schien und doch so fern war.110 108 AfA-Bund, Angestellten, S. 19. Zum Folgenden vgl. ebd., S. 16–20. 109 Noch eklatanter war der Unterschied im Wahlbedarf, der den Arbeitslosen fast vollständig verloren ging, wohingegen die Angestellten wenn auch nicht üppige, so doch regel­mäßige Beträge beispielsweise für Theater- und Kinobesuche, Reisen und Ausflüge aufwendeten. Vgl. AfA-Bund, Angestellten, S. 28–31; v. Tyszka, Ernährung, S. 77. Allgemein zum Nahrungs- und Genussmittelrückgang in der Krise: Biehahn, Wandlungen, S. 407 f. 110 Vgl. die zeitgenössischen Berichte: Stenbock-Fermor, Deutschland, S.  141 f.; Staeven-Ordemann, Menschen, S. 90–94; Jahoda u. a., Arbeitslosen, S. 83–92. Zudem: Winkler, Weg,

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Die abermalige Krise der Konsumgesellschaft äußerte sich nicht nur im Hunger und Wohnungselend großer Teile der Verbraucherschaft; auch das Wiederaufleben der ungeliebten, doch hilfreichen Notstandsversorgung, welche die wichtigeren individuellen Überlebensstrategien ergänzte, brachte Erinnerungen an die Kriegs- und Inflationsjahre zurück. Schulspeisungen und Volks­küchen sowie die Sammlung und Verteilung von Lebensmitteln und Sachspenden wurden von den Städten und Kommunen, den Wohlfahrtsverbänden und mitunter auch in Eigenregie der sich selbst organisierenden Arbeitslosen eingerichtet. Der Umfang der kollektiven öffentlichen Verpflegung blieb allerdings begrenzt, wozu zweifellos die interne Kritik der Wohlfahrtsfunktionäre in den Verbänden beitrug, die befürchteten, die Massenspeisungen könnten eine Auflösung der Familien befördern; doch auch viele der in Not geratenen Verbraucher blieben zurückhaltend, vermutlich weil in den rigide geführten Eintopf­küchen ein Mehr an Versorgungssicherheit nur durch eine weitere Einschränkung der Entscheidungsfreiheit im Konsum erkauft werden konnte – ein schwieriger Tausch, zu dem offenbar nicht jeder bereit war.111 Alltägliche Einschränkungen, eine in der Inflation und Weltwirtschaftskrise unzureichende Ernährungslage, anhaltend schlechte Wohnverhältnisse besonders in der Arbeiterschaft, wiederholte Zusammenbrüche einer marktgängigen Versorgung, die mühsame subsistenzwirtschaftliche Absicherung der Haushalte durch die Arbeit der Hausfrauen und die konsumgesellschaftliche Exklusion der Arbeitslosen: Das waren die Phänomene des Mangels, welche die Konsumerfahrung eines großen Teils der Verbraucherschaft auszeichnete  – und doch engten sie den Erwartungshorizont der Konsumenten nicht wirkungsvoll ein, verhinderten nicht, dass Ansprüche und Hoffnungen auf ein materiell besseres Leben artikuliert wurden. Die Wohlstandserwartung, auf die im Folgenden einzugehen ist, beruhte auf der Wahrnehmung vielfältiger Wohlstandsdifferentiale. Dass der zeitliche und der soziale Vergleich die Möglichkeit eines höheren Konsumniveaus vermittelte, zeigte sich im bereits skizzierten Auf und Ab der finanziellen Spielräume und im sozialen Gefälle, das die oberste Schicht der Facharbeiterschaft und vor allem die höheren Angestellten und Beamten von der Masse der einkommensschwachen Konsumenten trennte und in dem sich jene »Dialektik von Prätention und Distinktion«112 entfalten konnte, die jeder Auseinandersetzung um kulturelle Hierarchien eigen ist. Es kam hinzu, dass sich mit dem Durchbruch einer modernen Konsumkultur und mit der Entwicklung der Großstadt zu einem translokalen Raum virtuelle und räumliche Vergleichsperspektiven vermehrten, die S. 38–41; Crew, Germans, S. 179–185; Führer, Managing, S. 334–336; ders., Mieter, S. 184– 188; v. Saldern, Häuserleben, S. 146–149, 188 f.; Peukert, Generation, S. 182; ders., Krise, S. 276–282, 290–292; Rosenhaft, Unemployed, S. 217–219; Kiaulehn, Berlin, S. 558 f. 111 Vgl. Lüdtke, Depression, S. 166–168; Crew, Germans, S. 166–172; Winkler, Weg, S. 51 f. Das Reich zog sich aus der Finanzierung der Schulspeisungen seit 1928 schrittweise, endgültig dann 1931 zurück: vgl. Allen, Metropole, S. 92 f. 112 Bourdieu, Unterschiede, S. 294.

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bei der Beurteilung des faktischen Konsums wiederum die Möglichkeit seiner Erweiterung ins Blickfeld rücken ließ. Diese Differenzerfahrungen räumlicher und imaginativer Art, die sich vor allem durch die Begegnung mit der Werbung, der Massenkultur und den massenmedial transportierten Vorbildern von Orten des Hochkonsums ergaben, trugen dazu bei, dass der Konsumismus als Er­ wartungshorizont weiter in den mentalen Haushalt der Verbraucher eindrang. Trotz der schwankenden und insgesamt schlechten Versorgungslage der Inflationszeit machten sich schon in den ersten Jahren der Republik verschiedene Konsumimpulse bemerkbar. Zunächst war ein durch die Entbehrungen der Kriegszeit hervorgerufenes Nachholbedürfnis erkennbar, das allerdings kaum befriedigt werden konnte und daher für die politisch Verantwortlichen bedrohlich wurde. In der Stadtverordnetenversammlung von Essen hieß es im Januar 1919, es werde »immer schwerer, dem Publikum klarzumachen, daß trotz der Beendigung des eigentlichen Kriegszustandes unsere Verhältnisse in keiner Weise besser geworden sind«.113 Auch Friedrich Ebert verwies auf den Nexus von politischer Stabilität und Versorgungsansprüchen, als er zur Revolution kommentierte: »Das ist nun die Stunde der Machtübernahme, die sich so viele dereinst als Fest- und Jubelstunde geträumt hatten: Der Existenzdruck von 70 Millionen meist hungernder und verzweifelter Menschen senkt sich auf einige wenige Menschen herab.«114 Das Nachholbedürfnis wurde durch inflationsbedingte Konsumanreize verschärft, so dass auch ein nüchterner Beobachter wie Emil Lederer feststellte, bei den steigenden Preisen kenne »der Exzess des Konsums keine Schranken«, nachdem sich die Verbraucher zunächst in Erwartung stabilerer Geldwert­ verhältnisse »noch etwas zurückgehalten« hätten.115 Das war, wie der voran­ gehende Abschnitt gezeigt hat, als gesamtgesellschaftliche Beschreibung zwar verfehlt, entsprach aber einem populären Wahrnehmungsmuster, das sich an der öffentlichen Sichtbarkeit eklatant unterschiedlicher Konsumniveaus orientierte. Der Vorwurf der illegitimen Verschwendung, die in der Sprache der Zeitgenossen »Schlemmerei« hieß, wurde dabei sowohl in der Arbeiterschaft als auch im Bürgertum laut und war daher, mal von Aufstiegshoffnungen, mal von Abstiegsängsten begleitet, ein Zeichen der in Bewegung geratenen gesellschaftlichen Hierarchie. Dem Vorwärts beispielsweise erschien 1921 die Lage der großstädtischen Arbeiterschaft gerade im Angesicht des Luxus miserabel: »Täglich sinkt ihre Lebenshaltung tiefer. Und während sie nicht mehr imstande ist, sich auch nur noch genügend zu beköstigen, geschweige denn, sich Kleidungsstücke oder Wäsche anzuschaffen, schwelgt ein Teil der Bevölkerung im üppigen Luxus. Geht der Arbeiter mit hungrigem Magen, in abgerissener Kleidung, mit durchlöcherten Schuhen, ja, oft ohne Unterwäsche durch die Straßen, 113 Bericht der Stadtverordneten-Versammlung vom 4.1.1919, zit. n. Hartewig, Jahrzehnt, S. 169. 114 Ebert, Schriften, S. 115. 115 Lederer, Wiederaufbau, S. 47.

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so sieht er in den Schaufenstern die schönsten Delikatessen, Kleidungs­stücke, Wäsche in Hülle und Fülle zur Schau gestellt. Das wirkt stärker als jede Agitation.«116 Umgekehrt drohte, von bürgerlicher Warte her gesehen, der ökonomischen Enteignung in der Inflation der Verlust des kulturellen Kapitals zu folgen. In der Weltbühne erschien der Luxuskonsum deshalb als Skandal, weil er in die Hände der Arbeiter gefallen war – es wurde »mehr als einmal beobachtet, wie Arbeiterfrauen schlankweg die Kalbskeulen oder Rehrücken einkauften, die die Frauen von Ärzten und Anwälten … nicht bezahlen konnten« –, und die liberale Zeitschrift Die Hilfe geißelte die »rasch aufgeklebten, schnell gelernten und schwer wieder zu entbehrenden Genießer- und Luxusgewohnheiten der Städte« und brandmarkte die nouveaux riches, die versuchten, »Kultur zu er­ haschen durch den äußeren Schimmer eines Reichtums, den es nachzu­a hmen und vorzutäuschen galt«.117 Die Figur des »Raffke«, des Inflationsgewinnlers,118 deren diskursive Präsenz ihre ökonomische Bedeutung und gesellschaftliche Repräsentanz bei weitem übertraf, war nicht das einzige Phänomen, auf das sich der Neid der kleinen Leute sowie der Distinktionsreflex der Bürgerlichen richtete. Der zur Schau gestellte Luxuskonsum der mit harten Devisen ausgestatteten ausländischen Touristen, der sich in den deutschen Städten beobachten ließ und in zahllosen Zeitungsartikeln kolportiert wurde, beschäftigte die öffentliche Wahrnehmung, und so beförderte das ausschweifende Leben einer Minderheit eine Wohlstandssehnsucht, die sich mit nationalistischen Ressentiments und misogynen Stereotypen verband. Hans Ostwald hat in seinen ebenso detailreichen wie unkritischen Aufzeichnungen über das Inflationsdeutschland als »Paradies der Ausländer« die damals gängigen Vorstellungen von den im Luxus schwelgenden Ausländern reproduziert, deren Verlockungen die deutschen Frauen reihenweise erlagen. Gerade in den besetzten Gebieten kulminierten chauvinistische Kränkung, rassistisches Vorurteil, Konsumneid und die Angst vor der sexualmora­ lischen Degeneration  – Maximilian Harden schrieb im Juni 1920 pointiert, doch keineswegs distanziert: »Wo Rudel junger Soldaten in Waffenruhe, bei reich­licher Nahrung hausen, ist Erotenentgleisung alltäglich; sind’s Kerle mit Afrikanerblut in den Adern, so häufen die Fälle sich wohl noch höher.«119 Die besondere Diskrepanz von Gegenwärtigkeit und Unerreichbarkeit fiel nicht nur bei den Vergnügungen der wenigen Profiteure und Touristen ins Auge; die gehobene Warenwelt insgesamt schien die Möglichkeit des Wohlstands präsent zu halten. Hatten mitunter Inflation und Schwarzmarkt die Läden von den gewöhnlichen Lebensmitteln leergefegt, ergab sich fatalerweise, dass »nur besonders teure Erzeugnisse, wie Ölsardinen und Schokolade … noch in den 116 Franz Krüger im Vorwärts, zit. n. Streiflichter, Sp. 512. 117 Gehrke, Proletarisierung, S. 399; Wentscher, Proletarierkultur, S. 412. 118 Vgl. dazu Geyer, Welt, S. 152–157; Kunz, Inflation, S. 175–180; Feldman, Disorder, S. 527– 555; Widdig, Culture, S. 208 f.; Ostwald, Sittengeschichte, S. 78–90. 119 Zit. n. ebd., S. 102; vgl. allgemein: ebd., S. 99–129; Large, Berlin, S. 175 f.

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Auslagen zu sehen« waren.120 Andere Genüsse waren sogar nur mehr semantisch präsent, wie die Reisebeschreibungen des russischen Literaten Ilja Ehrenburg zeigen: »Im Café Josty, das ich manchmal besuchte, wurde eine ›Mokka‹ betitelte Brühe in metallenen Kaffeekannen gereicht, um deren Henkel Fingerschützer gewickelt waren: Der Kunde sollte sich ja nicht die Finger verbrennen. Die Kuchen wurden aus gefrorenen Kartoffeln hergestellt. Die Berliner rauchten nach wie vor Zigarren, die Zigarren hießen nach wie vor Havanna oder Brasil, obwohl sie aus nikotingetränkten Kohlblättern bestanden.«121 Das Provisorium und die Praxis einer den Schein der Normalität aufrechterhaltenden Etikettierung erinnerten aber, wie bei den Ersatzprodukten der Kriegszeit, unentwegt daran, dass die Waren ihrem Namen und dem damit verbundenen Anspruch nicht gerecht wurden. Und doch gab es auch in der Inflation ein Vergnügen, auf dem nicht der Fluch der Unverfügbarkeit lag und das wie kein anderes eine gesamtgesellschaft­liche Neigung zum unmittelbaren Genuss verkörperte: das Tanzen. Das Berliner ­Tageblatt berichtete über die Silvesterfeierlichkeiten des ersten Friedens­jahres 1919: »Die Musik spielt in Hunderten von Lokalen Tänze über Tänze. Walzer, Foxtrott, Onestep, und die Beine rasen wie verhext über die Diele, die Röcke fliegen, der Atem jagt, Sektpfropfen knallen …und das Prosit Neujahr klingt über die Straßen, in ­denen eben noch der Schritt der Demonstranten klang. Wir wollen nicht moralisieren, aber wir dürfen schon sagen: so ein Silvester hat Berlin noch nicht erlebt. Mit dem Fallen des Tanzverbots stürzte sich das Volk wie ein Rudel hungriger Wölfe auf die lang­ entbehrte Lust, und nichts kann ihm seine Festesfreude stören. … Nie ist in Berlin so viel, so rasend getanzt worden. … Und überall, hier, dort, da, im Norden, im Westen, im Süden, in den Vororten Silvesterbälle. An allen Ecken Tanztees, mit Eintrittsgeld und ohne. Wenn es kein Eintrittsgeld kostet, kostet der Kaffee zweimal so viel und der Kuchen ist teuer wie Gänseleber. … Was tut’s? Hauptsache, daß getanzt wird. Und es wird getanzt.«122

Diese exemplarischen Beschreibungen verdeutlichen, warum der Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch die Tanzmanie der Nachkriegszeit als Verarbeitungsform eines krisenbedingten Schwindelgefühls – darin der Walzer-Euphorie im Paris der 1790er Jahre vergleichbar – und als »erotische Entladung« der im Krieg unterdrückten Triebenergien interpretiert.123 Darüber hinaus handelte es sich aber bei den Tanzveranstaltungen um die Form der Unterhaltung, die den konsumgesellschaftlichen Gegebenheiten der Inflation am besten ange­ 120 Falck, Preisentwicklung, S. 173. 121 Ehrenburg, Menschen, S. 9. 122 Berliner Tageblatt, zit. n. Ostwald, Sittengeschichte, S.  148 f. Vgl. auch Large, Berlin, S. 162. 123 Vgl. Schivelbusch, Kultur, S.  319–323, Zitat: S.  319. Zur »Tanzwut« vgl. auch Diop, Ver­ gnügungsbummel.

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passt war: Die Konsumenten hatten weniger Geld, dafür aber, nach den Arbeitszeitverkürzungen der Revolution, mehr freie Zeit als vor dem Krieg. Tanzen war, zumal wenn kein Eintritt verlangt wurde, das Freizeitvergnügen, das anders als der kostspieligere Konsum von Reisen, Mode und langlebigen Bedarfsgütern auch ohne hohen finanziellen Aufwand realisierbar war. Es kommt hinzu, daß zwischen einer Romantisierung der Geschlechterbeziehungen einerseits und einer expandierenden Konsumkultur andererseits seit jeher eine Wahlverwandtschaft besteht, wie einige der interessantesten Beiträge der Konsumhistoriographie: von Werner Sombart, Colin Campbell und zuletzt Eva Illouz, gezeigt haben.124 In der Weimarer Republik wurde die Praxis der romantischen Verabredung – das Rendezvous – durch eine Gewichtsverschiebung in der Geschlechterhierarchie zugunsten der Frauen begünstigt und ließ sich, wenn kommerzielle Verwertungsinteressen hinzutraten, mit diversen Formen des Freizeitkonsums assoziieren – wenn auch, solange Geldmangel herrschte, zunächst nur imaginär: Von den Konsummöglichkeiten, die auf eine Begegnung beim Tanzen folgen mochten – Einladungen zum Essen, ins Konzert oder Theater, gemeinsamen Ausflügen und den Möglichkeiten der conspicuous consumption (Mode, Auto etc.) – träumten allen voran die weiblichen Angestellten, die am treffendsten von dem damals bekannten, heute seltener gelesenen Erzähler Franz Hessel portraitiert und von Siegfried Kracauer analysiert worden sind.125 Es ist kein Zufall, dass die bislang angeführten Beispiele für das Auseinanderdriften von Konsumerwartung und -erfahrung stets im großstädtischen Kontext und meist in Berlin angesiedelt waren. Dass dieser Umstand die Aussagekraft der hier vertretenen These nicht schmälert, liegt daran, dass die Stadt in der Moderne und a fortiori Berlin in der Weimarer Republik wie nie zuvor ein translokaler Raum war. Das soziologische Konzept der Translokalität eignet sich gut dazu, die Bedeutung Berlins für die Weimarer Gesellschaft zu erfassen. Folgt man den Überlegungen Arjun Appadurais, ist ein Ort translokal, wenn dort durch die Bewegung von Menschen, Waren und Symbolen lebensweltliche Verbindungen mit anderen Orten erzeugt werden. In dieser Hinsicht sind Metropolen in besonderer Weise Transmissionsriemen solcher Austauschprozesse, weil sich in ihnen, wie es Ulf Hannerz auf globaler Ebene für die »Weltstädte« beschrieben hat, vier Akteursgruppen versammeln, durch deren Handlungen überkommene lokale Begrenzungen aufgeweicht werden: Eine Unternehmerund Managerelite organisiert die Waren- und Informationsströme der modernen Verkehrswirtschaft; eine Masse von schlecht ausgebildeten und gering verdienenden Arbeitsmigranten dringt aus agrarisch geprägten Regionen in eine 124 Vgl. Sombart, Liebe; Campbell, Ethic; Illouz, Konsum. 125 Vgl. beispielhaft Hessel, Teigwaren, S. 73–81; ders., Ermunterungen, S. 35–39, 41–57; Kracauer, Angestellten, S. 65–72, 91–101; ders., Ladenmädchen, S. 279–294; Moreck, Frauenideale, S. 314. Eine aufschlussreiche Analyse Hessels findet sich in: Gleber, Art, S. 63–125. Wie üblich es unter Berliner Jugendlichen war, mit dem Freund oder der Freundin auszugehen, zeigt Peukert, Mädchen, S. 162–166. Zur Affinität von Rendezvous und Konsumismus vgl. jetzt vor allem Illouz, Konsum, S. 51–72.

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urbane Lebenswelt ein; »expressive specialists«, d. h. die Kulturproduzenten in den Künsten, Medien, der Mode und Werbung, verbreiten laufend das, was man mit Saskia Sassen »a new vision of the good life« nennen kann; Touristen schließlich fungieren als kulturelle Vermittler auf kurze Zeit.126 Als Zentren des Kulturtransfers fungierten im Deutschen Reich mit seiner regionalen Tradition auch viele andere Städte; Weltstadt im eben skizzierten Sinne war aber nur Berlin. Wie vielschichtig und ambivalent – zwischen fortschrittsgläubiger Verehrung und kulturkritischer Großstadtfeindschaft pendelnd – die Wahrnehmung Berlins in der Weimarer Republik auch gewesen ist, keine andere Stadt beschäftigte in diesem Maße die Vorstellungswelt der Deutschen.127 Auch wenn die vielen zeitgenössischen Kommentare, die sich mit der Rolle Berlins auseinandersetzten, geteilter Meinung waren über die zahlreichen Neuerungen, die in Technik, Verkehr, Architektur, Kunst und Massenkultur unablässig von der Vier-Millionen-Stadt ausgingen: Als Vorreiter und Spektakel war Berlin ohne Konkurrenz und verschob damit die Grenzen des Möglichen gerade auch im Bereich des Konsums. Auch wenn pejorativ geurteilt wurde, wie es der Nationalökonom Alfons Goldschmidt tat, dem Berlin im Gegensatz zum Werte schaffenden Ruhrgebiet als »nutzloser Kolossalkonsument« erschien, galt es als das Gravitationszentrum einer fortschreitenden Konsumgesellschaft: »Berlin verwendet und frißt. Berlin ist die unproduktive Verfeinerung, der unproduktive Magen, Billionen Kalorien frißt Berlin.«128 Es kam hinzu, dass Berlin als die amerikanischste Stadt Deutschlands galt – einige der damals kursierenden Bezeichnungen wie »Chicago an der Spree«129 oder »Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten«130 zeugen davon  –, so dass ihr schon des126 Vgl. Appadurai, Modernity, S. 178–199; Hannerz, Connections, S. 127–139; Sassen, Global City, S. 343. Den Hinweis auf das Konzept der Translokalität verdanke ich Anna Spiegel. 127 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Ward, Weimar Surfaces, S.  9 f., 107–113, 161 f.; Large, Berlin, S. 158–241; Lees, Berlin, S. 62–66; Prümm, Dynamik, S. 105 f.; Bodenschatz, Planung; Kirsch, Berlin, S.  337–372; Petro, Streets, S.  39–43; Strohmeyer, Kumpel, S.  30 f.; Schivelbusch, Kultur, S. 327–331; Châtellier, Moloch, S. 567–577; Jelavich, Berlin ­Cabaret, S. ­154–186; Schmidt, Bild, S. 38 ff.; Kiaulehn, Berlin, S. 532–558; Frisby, Deciphering. Detlef Briesen hält dagegen Berlin für eine überschätzte Metropole; seine Untersuchung ist jedoch auf die kulturelle Elite fixiert und unterschätzt die Wirkungsmacht des BerlinMythos (vgl. Briesen, Berlin, S. 39–57). Die Ikonographie der Stadt wird anschaulich bei Görtemaker, Weimar; Neubauer, Weimar Republic, S. 154–157, 258–289; Metzger, Berlin. Beispiele aus dem zeitgenössischen Berlin-Diskurs: Osborn, Berlin, S. 190–230; Brennert u. Stein, Probleme; Waldstein, Lage, S. 126–129; Böß, Berlin; Scheffler, Berlin; Moreck, Führer; Hessel, Flaneur. 128 Goldschmidt, Deutschland, S.  25 f. Zur Bedeutung des Konsums  – der Mode, der Ver­ gnügungsindustrie à la Luna-Park und Haus Vaterland – für die Großstadterfahrung in Berlin vgl. bes. Hessel, Flaneur, S. 31–50, 145–153, 183–191. 129 Rathenau, zit. n. Schivelbusch, Kultur, S. 329. Zugleich war Berlin mit seinen 200.000 rus­ sischen Emigranten und acht russischsprachigen Tageszeitungen auch so etwas wie die westlichste Stadt Russlands. Vgl. Large, Berlin, S. 183. 130 Zit. n. Lees, Berlin, S. 65.

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halb, ob nun als Wunsch- oder Schreckensbild, Zukunftsträchtigkeit bescheinigt wurde. Für die zu skizzierende, noch heute staunenerregende Entwicklung der Massenkultur und der Reklame, die sich zwischen 1924 und 1929 vollzog und die für die Erweiterung des Erwartungshorizonts der Konsumenten zentral war, war daher Berlin als translokaler Konsumverstärker, der Subjekte, Praktiken und Symbole – oft amerikanischer Herkunft – aufnahm, verarbeitete, neu schuf und in Umlauf brachte, von großer Bedeutung. Der rasanten Verbreitung der neuen Massenmedien zum Trotz war die alltäglichste Freizeitbeschäftigung auch in der Zwischenkriegszeit das Lesen.131 Nach einer Krise des Presse- und Verlagswesens, die durch die kriegsbedingte Rohstoffknappheit, durch konjunkturelle Schwankungen und die zur Konsolidierung der Reichsfinanzen bis 1925 bestehende Anzeigensteuer hervorgerufen war, stieg der Verkauf von Zeitungen, Zeitschriften, Büchern und Heftromanen mit der Stabilisierung der Währung wieder deutlich an. So kam nach zeitgenössischen Schätzungen im Jahr 1928 eine Zeitschriftenausgabe auf zwei Einwohner, und die Gesamtauflage der Tageszeitungen im Deutschen Reich betrug im Jahr 1932 ungefähr 26 Millionen. Höchster Beliebtheit erfreuten sich dabei die nach dem Durchbruch des Fotojournalismus massenhaft zirkulierenden Illustrierten: Die 1921 vom kommunistischen Verleger Willi Münzenberg gegründete Arbeiter-Illustrierte-Zeitung erreichte Ende der zwanziger Jahre eine Auflage von einer halben Million, während ihr bürgerliches Vorbild, die Berliner Illustrirte Zeitung, 1927 bereits 1,7 Millionen Exemplare verkaufte.132 Nicht nur dass die Frequenz der mehr und mehr über den Straßenhandel direkt an die Konsumenten gebrachten Publikationen anstieg, auch deren Inhalte diversifizierten sich in einer breiten Angebotspalette von »301 Sportzeitschriften, 227 Wochen- und Unterhaltungsillustrierten aller Art, 175 Frauen- und Modeblätter, 67 Jugendzeitschriften und 58 Radio- und Programmzeitschriften«.133 Für viele Menschen rückten damit Lebensbereiche – im wörtlichen Sinne – in den Blick, beschäftigten ihre Phantasie und regten ihr Informationsbedürfnis an, die ihnen in dieser Anschaulichkeit bislang verborgen geblieben waren und an denen sie selbst fortan als Zuschauer partizipierten: Sportereignisse, Reisen, Sensationen und Skandale aller Art, das Leben der Filmstars und der oberen Zehntausend, die neueste Mode aus Paris und die Ikonen des technischen Fortschritts bildeten die wesentlichen Gegenstände des von Walter Benjamin so

131 Vgl. Reuveni, Reading, S. 89. 132 Der quantitative Vorsprung der Boulevardpresse vor den seriösen politischen Publika­ tionen ist bemerkenswert: Der Vorwärts beispielsweise verkaufte 1925 etwa 100.000 Exem­ plare, während die Auflage der Vossischen Zeitung in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre 50.–80.000 betrug. Vgl. Heenemann, Auflagenhöhen, S. 77; Reuveni, Lesen, S. 104, 106; Lüdtke, Ikonen, S. 200; Reinhardt, Reklame, S. 187; Schütz, Medien, S. 388–390; Kiaulehn, Berlin, S. 542 f. Zum Fotojournalismus vgl. vor allem Petro, Streets, S. 90–139. 133 Laut Reuveni, Lesen, S.  106, ist dies nur eine Auswahl der um 1930 erschienenen Zeitschriften. Vgl. zudem ders., Wohlstand, S. 272 f.; ders., Reading, S. 99–122.

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hellsichtig beschriebenen »leidenschaftliche[n] Anliegen[s] der gegenwärtigen Massen«, die »Dinge sich räumlich und menschlich ›näherzubringen‹«.134 Eine breite, keineswegs auf die Unterschichten beschränkte Leserschaft fand auch die Trivialliteratur, deren Identifikationsangebote nicht selten mit Wohlstandserwartungen und Hoffnungen auf sozialen Aufstieg verknüpft waren. Sicher ist es nicht möglich, einem ganzen Genre wie dem Detektivroman oder der love story einer Hedwig Courths-Maler – um nur zwei besonders beliebte Typen zu nennen – eine eindeutige und zudem noch eindimensionale Rezeption zu unterstellen. Eine naive, lineare Wirkungsvorstellung, welche die Trivialliteratur den linken Kritikern lange Zeit als eskapistisch, den bürgerlichkonser­vativen als subversiv erscheinen ließ, ist in der heutigen Kulturtheorie längst von dem komplexeren Modell der Aneignung eines nicht fixierbaren Bedeutungsüberschusses abgelöst worden. Dennoch lassen einige der in den Groschenheften und Kolportageromanen stereotyp verwendeten Charaktere und narrativen Muster erkennen, was wohl den Geschmack des Publikums getroffen hat – nicht umsonst wurden die erfolgreichsten Heftserien dieser Art jede Woche mit einer Auflage von 100.000 Stück vertrieben:135 Zum einen waren beispielsweise die Detektivfiguren Frank Allan und John Kling sozial schwer zu verorten, da sie als bürgerliche Außenseiter mit Robin-Hood-Funktion auftraten, und die Protagonistinnen in den millionenfach verkauften Romanen von Courths-Maler waren sozial Benachteiligte, deren Weg zum Wohlstand über die Romanze führte. Zum anderen wurde, ob nun durch Umverteilung oder Aufstieg, die Utopie des guten Lebens im gesetzmäßig erfolgenden happy end realisiert. Dass die imaginären Vorbilder in die Vorstellungswelt gerade der jugendlichen Leser eingriffen, zeigt eine von Detlev Peukert herangezogene Untersuchung von Aufsätzen Berliner Berufsschüler aus dem Jahr 1926. Die jungen Arbeiter wie auch die Arbeiterinnen wählten als Motiv der von ihnen geschriebenen Kriminalgeschichten zum weit überwiegenden Teil die Habgier, während Grausamkeit, Rache oder sexuelle Motive seltener vorkamen. Offenbar nahmen Wohlstandsphantasien, wenn auch in der gebrochenen Form eines zum devianten Verhalten neigenden Handlungsmotivs thematisiert, einen zentralen Platz im Denken der jugendlichen Konsumenten ein.136 Ähnliche Wirkungen wie die Flut von billigem und bebildertem Lesestoff zeitigte der Kinoboom, der die deutsche Gesellschaft in der Mitte des Jahrzehnts erfasste. Kamen im Jahr 1919 noch zwölf Kinositze auf 1.000 Einwohner, waren es zehn Jahre später dreißig; die Zahl der verkauften Eintrittskarten stieg zwischen 1925 (erst seit dieser Zeit liegen brauchbare Statistiken vor) von 134 Benjamin, Kunstwerk, S. 142. Vgl. auch Lüdtke, Ikonen. 135 Vgl. v. Saldern, Massenfreizeitkultur, S.  35. Zur Rezeptionstheorie vgl. Fiske, Under­ standing, S. 23–47, 55 f., 120–127; de Certeau, Kunst, S. 11–29, 77–97; sowie Marßolek, Internationalität, S. 144–148. 136 Vgl. Peukert, Jugend, S. 213–215; Reuveni, Reading, S. 242 f.; Marßolek, Internationalität, S. 151 ff.; Silbermann, Kunst, S. 72–74, 85.

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271 Millionen auf 353 Millionen im Jahr 1928, also um dreißig Prozent in vier Jahren, bevor sie in der Weltwirtschaftskrise wieder auf das Niveau von 1926 zurückfiel.137 Nun sollten die geradezu explodierenden Besucherzahlen nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Kinobesuch nicht ein in allen Volksschichten gleichermaßen verfügbares Vergnügen gewesen ist. Bereits die Analyse der schichtspezifischen Konsumgestaltung hatte die Einkommensabhängigkeit der Kinoausgaben sowie die Vorreiterrolle der Angestellten bei den modernen kommerzialisierten Freizeitaktivitäten erwiesen. Darüber hinaus haben die Untersuchungen von Karl Christian Führer überzeugend die beträchtlichen Unterschiede in der Kinoversorgung nicht nur zwischen Stadt und Land, sondern auch zwischen verschiedenen urbanen Regionen wie etwa dem relativ »kinoarmen« Ruhrgebiet und Berlin, wo fast zehn Prozent der deutschen Lichtspieltheater ansässig waren, dargelegt. Dass, nur nach der Anzahl der verkauften Karten berechnet, im Laufe des Jahres 1928 jeder Erwachsene über 18 Jahren 8,6 mal das Kino besuchte, sagt daher relativ wenig über die tatsächliche Verteilung aus. Heute geht man davon aus, dass ein großer Teil der deutschen Bevölkerung – in den Großstädten etwa ein Drittel, in den Kleinstädten und Dörfern ungefähr die Hälfte – gar nicht ins Kino ging, während wiederum ein gewichtiger Teil des Mittelstands und der Arbeiterschaft in den Großstädten regel­mäßig, oft wöchentlich die Vorstellungen besuchte. Dabei fiel zudem auf, dass der größere Teil des Publikums weiblich und dass unter den Jugendlichen – zumindest nach den Untersuchungen für Berlin zu urteilen – das Kino zur wichtigsten außerhäuslichen Freizeitbeschäftigung geworden war.138 Diese Differenzierungen sind aufschlussreich, weil sie auf einen noch zu erläuternden Strukturwandel der Öffentlichkeit hindeuten, der für den Aufbruch der Konsumerwartung zentral war; sie sollten aber nicht dazu verleiten zu denken, das Kino habe in der Weimarer Gesellschaft nur partiell, für dessen regelmäßige Besucher, eine Rolle gespielt. Kaspar Maase ist darin zuzustimmen, dass die Bedeutung einer Unterhaltungsform bereits zurückgeht, wenn sie am weitesten verbreitet ist: »Der Umgang mit dem allgemein Verfügbaren ist Routine; was noch seltener und schwerer zugänglich ist, beschäftigt mehr und bewegt tiefer. In dieser Hinsicht hatten Kino, Radio, Schausport und Ausflüge zwischen den Kriegen weitaus größeres Gewicht als später.«139 So bemerkte eine Studie aus dem Jahr 1928, dass in einem Kölner Arbeiterviertel bereits die Plakatierung eines neuen Films höchstes Interesse erregte, und bei Stichproben stellte 137 Vgl. Monaco, Cinema, S. 21; Wernecke, Kinobesuch, S. 92 f. 138 Vgl. Führer, Weg, S. 742–746; Wernecke, Kinobesuch, S. 93; Peukert, Jugend, S. 210; ders., Mädchen, S. 166; Harvey, Culture, S. 287–291; v. Saldern, Wochenend-Mensch, S. 13, 18–21; Dussel u. Frese, Vereinskultur, S. 99; Abrams, Control, S. 281 f. Zum Freizeitverhalten der Jugendlichen existieren die einschlägigen zeitgenössischen Untersuchungen: Dinse, Freizeitleben; Dehn, Jugend. Da diese jedoch insbes. von Detlev Peukert und Christina Benninghaus hinreichend analysiert worden sind, sollen sie hier nicht noch einmal zum Gegenstand der Forschung gemacht werden. Vgl. Benninghaus, Toil, S. 59–69. 139 Maase, Vergnügen, S. 116.

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sich heraus, dass alle befragten Passanten wussten, welcher Film gerade im örtlichen Kino lief.140 Doch was gab es eigentlich zu sehen, das die Zuschauer in Scharen in die Kinos lockte? Zunächst einmal sahen sie seit 1924/25 mehr Hollywood-Filme als jemals zuvor, als durch die Stabilisierung der Währung einerseits, durch einen für die US-Konzerne günstigen Verleihvertrag zwischen der UFA, Paramount und Metro-Goldwyn andererseits eine Welle amerikanischer Importe die deutschen Kinos erreichte. Damit wurde der Film in einem derartigen Ausmaß zu einem Vehikel der Amerikanisierung, dass der Filmhistoriker Thomas ­Saunders noch heute von der größten »kulturellen Invasion« in Deutschland seit Napoleon spricht.141 Es ist hinlänglich bekannt, dass dieser Kulturtransfer eine bildungsbürgerlich begründete, kulturkonservativ bis nationalistisch gestimmte Abwehrreaktion hervorrief.142 Welche Bedeutung diesem Antiamerikanismus aber zuzumessen ist, ist aus zwei Gründen fraglich: Erstens entstammen die meisten der zur Dokumentation der »Amerikamüdigkeit« verwendeten Quellen einer elitären Diskursschicht, an deren gesellschaftlicher Eindringtiefe schon der Erfolg der amerikanischen blockbuster an den deutschen Kinokassen zweifeln lässt. Zweitens erscheint es wenig sinnvoll, einen übermäßigen Gegensatz zwischen amerikanischen und deutschen Filmproduktionen zu konstru­ieren, wenn es doch scheint, dass sich – zumindest nach dem Ende des expressio­nistischen Stils 1923/24  – die formalen Elemente der Kassenschlager durchaus ähnelten und auch der Publikumsgeschmack kaum eine solche Unterscheidung machte, da sowohl die UFA-Filme wie die Hollywood-Importe reüssieren konnten.143 Dass der Erfolg eines Filmes nicht eine Frage seiner nationalen Herkunft war, sondern vielmehr seiner inhaltlichen und formalen Gestaltung, zeigt sich ironischerweise an einem der wenigen Publikumsproteste gegen eine amerikanische Produktion: Im Mai 1926 erfuhr der MGM-Streifen »Gier nach Geld« (orig. »Greed«) bei seiner Premiere im Berliner UFA-Palast am Zoo und bei der darauffolgenden Vorführung eine derart heftige Ablehnung durch das Publikum, dass er sofort abgesetzt werden musste. Interessanterweise richtete sich diese ungewöhnliche Reaktion, die oberflächlich betrachtet als amerikafeindlicher Protest interpretiert werden kann, ausgerechnet gegen einen Film, der es sich, unter der Regie von Erich von Strohheim, zum Ziel gesetzt hatte, dem vermeintlich deutschen Geschmack durch einen übermäßig realistischen plot und eine morbide Atmosphäre im Stil der expressionistischen Kunstfilme entgegenzukommen. Die Zuschauer goutierten diese transnationale Fehlperzeption frei140 Vgl. Wernecke, Kinobesuch, S.  93, der sich auf die wichtige Dissertation von Irmalotte Guttmann, Über die Nachfrage auf dem Filmmarkt in Deutschland, Köln 1928, bezieht. 141 Saunders, Hollywood, S. 117. Vgl. zudem de Grazia, Mass Culture, S. 60–68; dies., Empire, S. 284–313; Abrams, Control, S. 281–287; Kaes, Mass Culture, S. 325 ff. 142 Vgl. vor allem v. Saldern, Massenfreizeitkultur; dies., Überfremdungsängste; Saunders, Hollywood, S. 117–144; Klautke, Möglichkeiten, S. 239–255; Costigliola, »Americanization«, S. 196–200; Berg, Deutschland, S. 136–152; Doering-Manteuffel, Deutschen, S. 20–34. 143 Vgl. Saunders, Hollywood, S. 150–160.

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lich nicht und klagten lautstark ihr Recht ein, im Kino den Alltag hinter sich lassen zu dürfen.144 Um dieses Bedürfnis befriedigen zu können, wurde das Patentrezept Hollywoods – eine perfekte optische Gestaltung, der Starkult und ein garantiertes happy end – auch zum Leitprinzip des deutschen Unterhaltungsfilms in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre.145 Darüber hinaus war der Film für die deutsche Gesellschaft eine Schule der modernen Konsumkultur. Untersucht man anhand von Inhaltsangaben und zeitgenössischer Kritik die deutsche Filmproduktion des Jahres 1929 im Hinblick auf das Handlungsgerüst und das setting der Filme, treten – ähnlich wie in der Trivialliteratur – aufschlussreiche Stereotype hervor: In zahlreichen Filmen liefert die moderne kommerzialisierte Kultur des Tourismus und der Mode, des Rennsports und der Schönheitssalons den Hintergrund für eine beliebige unterhaltsame Handlung.146 Die romantische Komödie/Tragödie bildet weit vor der Kriminalgeschichte und dem Historienspektakel das bevorzugte Genre.147 Berufs- oder schichtspezifische Probleme, die eine eindeutige Identifizierung der Protagonisten erlauben würden, werden in den Filmen meist nicht ausführlich thematisiert, wohingegen soziales Elend und Abstiegsängste einerseits, ein konsumorientierter Lebensstil und Wohlstandsträume andererseits eine prominente Rolle spielen.148 Besonders interessant ist, dass in zahlreichen Filmen die weiblichen Hauptfiguren in eine moralische Dilemmasituation geführt werden, die darin besteht, dass sie entweder aus einer existenzbedrohlichen sozialen Not heraus oder durch den Wunsch nach einem höheren Lebensstandard in Versuchung geraten, sich selbst: also ihre Liebe und Sexua­lität, zu verkaufen.149 Die Konfrontation mit Konsum­ 144 Vgl. ebd., S. 134–143. Zur Filmrezeption in der Weimarer Republik vgl. vor allem Korte, Spielfilm. 145 Es sollte dabei nicht übersehen werden, dass einige herausragende Akteure wie Erich Pommer, Fritz Lang, Ernst Lubitsch oder Marlene Dietrich als cultural broker für einen wechselseitigen transnationalen Transfer zwischen amerikanischem und deutschem Film sorgten. Vgl. etwa Thompson, Lubitsch; de Grazia, Empire, S. 289–292. 146 Bspw. in »Achtung! Liebe! Lebensgefahr«, »Anschluß um Mitternacht«, »Atlantic«, »Auf der Reeperbahn nachts um halb eins«, »Autobus Nr. 2«, »Bobby, der Benzinjunge«, »Das brennende Herz«, »Die Konkurrenz platzt!«, »Die Nacht gehört uns«, »Die fidele Herrenpartie«, »Frauen am Abgrund«, »Ich hab mein Herz im Autobus verloren«. Vgl. Gandert, Film, passim. 147 Die Filme, in denen amouröse Verwicklungen den Handlungsmotor bilden, sind zu zahlreich, um sie hier aufzuführen. Vgl. Gandert, Film, passim. 148 Zu diesem Ergebnis kommt auch die Studie von Schettler, Arbeiter, S. 246–266; 149 Als Beispiel vgl. die Filme »Adieu, Mascotte«, »Alimente«, »Anschluß um Mitternacht«, »Asphalt«, »Autobus Nr. 2«, »Bruder Bernhard«, »Büchse der Pandora«, »Die Frau, die jeder liebt, bist Du!«, »Die nicht heiraten dürfen«, »Ehe in Not«, »Engel im Separée«, »Das Erlebnis einer Nacht«, »Fräulein Else«, »Fräulein Fähnrich«, »Frauen am Abgrund«, »Die Frau, nach der man sich sehnt«, »Die Halbwüchsigen«, »Heilige oder Dirne«, »Held aller Mädchenträume«, »Hingabe«, »Hütet Euch vor leichten Frauen«, »Jennys Bummel durch die Männer«, »Jenseits der Straße«, »Die keusche Kokotte« – schon einige der Titel ­sprechen Bände.

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problemen – nicht genug zu haben oder mehr haben zu wollen – erhöhte diesem Muster zufolge die Wahrscheinlichkeit, dass der weibliche Körper selbst zum Konsumobjekt wird. Da die Frauenfiguren zwischen Zwangsprostituierter und femme fatale changieren und eine Anklage gegen soziale Missstände ebenso verkörpern können wie die Warnung vor einem konsumistischen Ethos, lassen sich sicherlich keine eindeutigen Botschaften fixieren. Erkennbar ist jedoch in allen Fällen, dass die Möglichkeit einer Veränderung des Konsumniveaus – ob nun durch Heirat, Prostitution, Verbrechen oder Zufall – dem Publikum vor Augen geführt wird. Wenn wir mit Georg Lukács und Fredric Jameson davon ausgehen, dass das Kino dazu dient, das Mögliche im Wirklichen zu reflektieren und gesellschaftlich kursierende Ängste und Hoffnungen zu verarbeiten,150 wurden die Zuschauer in der virtuellen Realität der Filme der »Goldenen Zwanziger« mit einer Konsumkultur vertraut gemacht, die es in der »realen« Realität noch einzulösen galt. Bereits Kracauer hat daher die besonders im Angestelltenmilieu beliebten Unterhaltungsfilme treffend als »Tagträume der Gesellschaft« bezeichnet. In keinem anderen Bereich war jedoch der Aufbruch zwischen 1924 und 1929 so spürbar wie in der Werbung, die am unmittelbarsten die Konstruktion von Konsumwünschen und Wohlstandserwartungen vorantreibt.151 Nachdem die Werbewirtschaft zwischen 1914 und 1923 praktisch zum Erliegen gekommen war, stabilisierten sich seit 1924 die Bedingungen für ihren Wiederaufstieg, der bald weit über das Vorkriegsniveau hinausführen sollte. Nicht zuletzt aufgrund der sich normalisierenden Papierpreise und der rasch sinkenden Stromtarife setzte ein wahrhafter Reklameboom ein, der sowohl quantitativ als auch qualitativ neue Maßstäbe schuf. Die Warenhäuser steigerten den Anteil der Werbekosten am Umsatz zwischen 1924 und 1926 um durchschnittlich 58,6 Prozent,152 und die Zahl der Anzeigenseiten in den Zeitungen und Illustrierten verdoppelte sich fast zwischen 1923 und 1924 und legte im folgenden Jahr noch einmal um ein Fünftel zu.153 Die wissenschaftlichen und organisatorischen Ressourcen, derer sich die Werbung bediente, waren nicht minder 150 Hier geht es um die besonders von Jameson betonte utopische Dimension in den Kulturprodukten einer Gesellschaft, nicht um seine neomarxistische These einer damit verbundenen »symbolischen Affirmation der gesellschaftlichen Einheit« (Jameson, Unbewußte, S.  289). Vgl. zudem Monaco, Cinema, S.  7–11; Lukács, Gedanken; Kracauer, Ladenmädchen, S. 280; Hofmannsthal, Ersatz. 151 Zum Folgenden vgl. vor allem Reinhardt, Reklame, S.  38–44, 198–201, 220–223; BruneBerns, Lichte; Schug, Wegbereiter, S. 29–48. 152 Dabei legten die Unternehmen und Konzerne mittlerer Größe (ab 1 Million RM Umsatz) mit 88,3 Prozent am kräftigsten zu. Vgl. Reinhardt, Reklame, S. 41, Tab. 2: eigene Berechnungen nach der dort zit. Statistik der Werbeausgaben der deutschen Warenhäuser, die der Enquête-Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft 1929 vorlegte. Zu den Warenhäusern vgl. auch Briesen, Warenhaus, S. 60–66. 153 Vgl. Reinhardt, Reklame, S. 200, Tab. 21.

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gewachsen: Dem Heer der Anzeigenvermittlungsunternehmen und den firmeninternen Reklameabteilungen machten die seit 1925 entstehenden amerikanischen Werbeagenturen Konkurrenz.154 Diese in Deutschland neuartigen Unternehmen ließen Werbefeldzüge generalstabsmäßig durch eine interdisziplinäre Gruppe von Ökonomen, Psychologen, Graphikern und Medienexperten planen und durchführen. Freilich konnten sich nur große Unternehmen die Dienste dieser Elite der Reklameexperten leisten, so dass das Gros des deutschen Einzelhandels dem neuen werbewissenschaftlichen know how wohl eher durch die Tätigkeit der Fachverbände wie dem Verein Deutscher Reklamefachleute oder dem Bund der Schaufensterdekorateure, durch Ausstellungen, Publikationen und die sich an den Universitäten und Handelshochschulen ausbreitende absatzwirtschaftliche Forschung begegnete.155 Welche Fortschritte die Professionalisierung und Verwissenschaftlichung der Werbung gemacht hatte, lässt sich an der vielfältigen Werbefachliteratur erkennen, die anlässlich des 1929 in Berlin stattfindenden Weltreklamekongresses in Form eines Bücherkatalogs zusammengetragen worden ist: Mehr als die Hälfte des dort verzeichneten Schrifttums, das theoretische Grundlagenwerke und programmatische Abhandlungen ebenso umfasste wie Ratgeberliteratur und nützliche Verzeichnisse, erschien zwischen 1924 und 1929. »Reklame – Schlüssel zum Wohlstand der Welt« war das Motto der internationalen Leistungsschau des Gewerbes, worin das gewachsene Selbstbewusstsein der deutschen Veranstalter und das utopische Selbstbild der Werbung als Wohlstandsmaschine zum Ausdruck kamen.156 Doch auch qualitativ wurde ein bis dahin unbekanntes Niveau erreicht, als spektakuläre Neuheiten sowie immer ausgereiftere und subtilere Werbegestaltungen Verbreitung fanden:157 die Schaufensterdekoration mit den in szenischen Darstellungen arrangierten, neuen naturalistischen Schaufensterpuppen; der technisch innovative und originelle Werbezeichentrickfilm; die nach dem amerikanischen »reason why approach« gestalteten, Bild und Text kombinierenden Anzeigen, die stärker auf Information und Seriosität als auf Ästhetisierung und Effekt setzten; die Lichtreklame in den um das tourismusförderliche Image der Metropole bemühten Großstädten158  – insbesondere als Bestandteil der modernen Warenhausarchitektur, deren riesige erleuchtete Glasfassaden zum abendlichen window shopping einluden – alles das war neu und faszinierend 154 Vgl. Schug, Missionare, S. 320 ff.; ders., Wegbereiter, S. 30–45; de Grazia, Empire, S. 226– 283; Reinhardt, Reklame, S. 125–128; ders., Historizität, S. 34–39. 155 Vgl. Ward, Weimar Surfaces, S. 200 f.; Reinhardt, Reklame, S. 134–137. 156 Von den 465 datierten Titeln erschienen 263 im besagten Zeitraum (Schmiedchen u. Voss, Bücherkatalog). Vgl. außerdem die Begrüßungstexte im Katalog der Reklameschau, Berlin 1929; Knapp, Reklame; sowie Weltmacht Reklame: eine Sonderausgabe des Zeitungs-­ Verlags zur Reklameschau 1929. 157 Zum Folgenden vgl. bes. Ward, Weimar Surfaces, S.  101–116, 198–220; Brune-Berns, Lichte, S. 108–115; Reinhardt, Reklame, S. 280–283, 318–325, 341–343; de Grazia, Empire, S. ­250–270; Agde, Versprechen, S. 28–104. 158 Vgl. Jüllig, Lichter, S. 65–75; Hedinger, Las Vegas, S. 94–103.

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und ließ die Konsumwünsche den Möglichkeiten ihrer Befriedigung weit vorauseilen.159 Gerade in der großstädtischen Lebenswelt prägte die Werbung die moderne Wahrnehmungsweise, indem sie das flanierende Publikum einer unaufhörlichen Abfolge von visuellen Reizen aussetzte. Die Myriaden von Reklamebildern und -texten auf Plakaten, Flugblättern, Litfaßsäulen, an Bahnhöfen und Straßenbahnen und sogar – seit der Erfindung dieser spektakulären Technik 1926 – am Himmel empfand Walter Benjamin als »Heuschreckenschwärme von Schrift«.160 Die ikonographisch überhöhte Warenkultur verwandelte die moderne Stadt, wie Benjamin es schon an den Pariser Passagen des 19.  Jahr­ hunderts erkannt hatte, in den Augen des Flaneurs in ein lesbares Konsumversprechen, in ein Traumbild des Kapitalismus. Die Steigerung des konsumistischen Begehrens durch die visuelle Kultur der Weimarer Republik ist von Janet Ward insbesondere durch eine Analyse der Schaufenstergestaltung und der Lichtreklame sowie von Anke Gleber durch die Interpretation der Wahrnehmung des Flaneurs hervorgehoben worden.161 ­Gleber hat dabei zu Recht darauf hingewiesen, dass es gerade die Vergänglichkeit und der ständige Wechsel der Angebote und Reize sowie die Unberührbarkeit der Produkte in den Fenstern und auf den Plakaten waren, die das Verlangen danach stimulierten. Es kam hinzu, dass die Werbung ihre Botschaften nicht mehr nur an die vermeintlich vertrauten, in ihrem Wunschhaushalt tatsächlich aber weitgehend unbekannten Käuferschichten adressierte, sondern im Geiste des neuen Service-Gedankens damit begann, eine auf psychologische Erkenntnisse und Marktforschung gestützte, gezielte Kundenwerbung und -pflege zu betreiben. Nach Meinung aller zeitgenössischen Beobachter wurde die Re-

159 Vgl. die Schilderungen der Warenhäuser und Schaufenster in Hessels »Flaneur«: »So sehr ich unsere Schaufenster im Westen liebe mit ihren immer neuen Gruppierungen, Beleuchtungen, Überraschungen – in der Woche vor Weihnachten wird’s mir zu üppig hinterm Glase. Immer wieder diese Lebensmittelmassen […] diese riesigen ›Freßkörbe‹, in denen Schnapsflaschen, Würste, Ananas und Trauben mit schimmernden Schleifen gebunden und auf Tannenstreu gebettet überquellen! In allen Preislagen wird mit der Ware zugleich seelenvolle Aufmachung feilgeboten.« (S. 218) »[…] so genießen wir doch vor diesem geordneten Reichtum an Waren aller Art die Vielfalt, vor der unsere Bedürfnisse, die uns eben noch so erheblich erschienen, plötzlich Liliputmaß annehmen. Aber uns kann geholfen werden. Die Verkäufer und Verkäuferinnen haben den ›Dienst am Kunden‹ von Grund auf studiert. Die großen Kaufhausfirmen haben Schulen ins Leben gerufen, in denen Lehrer, die an Handelshochschulen vorgebildet sind, den jungen Mädchen Anschauungsunterricht über die Behandlung der Ware und der Kunden geben. Wir ahnen gar nicht, was für Künstlerinnen des Verkaufs und der richtigen Suggestion wir gegenüber­stehen, wenn uns die kleinen Fräulein von Wertheim und Tietz sanft in ihren Bannkreis ziehen.« (S. 32) 160 Benjamin, Einbahnstraße, S. 42. Vgl. zu Benjamin nur Gleber, Art, S. 43–60; Ward, Weimar Surfaces, S. 24–37; Hansen, America. 161 Vgl. Ward, Weimar Surfaces, S. 191–240; Gleber, Art (zum Folgenden vgl. S. 103.). Theoretisch origineller, empirisch aber weniger gehaltvoll ist Friedberg, Window Shopping.

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klame dadurch realistischer und wirksamer.162 In der Weltbühne beschrieb die Journalistin Hilde Walter die neue Subtilität der Mode- und Kosmetikindustrie, die nicht mehr mit unerreichbaren Schönheitsidealen werbe, sondern auf die Psychologie der Konsumentin eingehe und »Rücksicht auf das Geltungsbedürfnis minderbemittelter Schichten« nehme: »Die Symbole sind echter geworden, ihre Verlogenheit ist nicht ohne weiteres erkennbar.« Während die Figuren wirklichkeitsnäher geworden seien, bewirke die Spanne, die sich zwischen ihnen und der »erbarmungslosen Natur« dennoch auftue, um so mehr die Anregung der Käuferinstinkte.163 Sicherlich wäre es unzulässig, einen simplifizierenden kausalen Zusammenhang zwischen Werbeaufwand und Markterfolg anzunehmen; gleichwohl ist es auffällig, dass gerade die Kosmetikbranche mit ihren hohen Werbeetats, den plötzlich überall stattfindenden Modenschauen und Schönheitswettbewerben und den immer zahlreicheren Agenten des beauty business (Kosmetikerinnen, Verkäuferinnen, Mannequins und Revuegirls) einen bemerkenswerten Aufschwung nahm, der auch durch die Krise der dreißiger Jahre nicht zum Erliegen kam.164 Indem sich mit der Ausbreitung der kommerziellen Massenkultur in Presse, Trivialliteratur, Film und Werbung sowohl der Kreis der Rezipienten als auch deren Wahrnehmungsmuster veränderten, setzte sich ein tiefgreifender Strukturwandel der Öffentlichkeit fort, der bereits im späten Kaiserreich in Gang gekommen war. Nicht nur dass die konsumkulturellen Angebote die Milieugrenzen übersprangen und der männlich dominierten Arbeiterbewegungs­kultur darin eine Alternative erwuchs, die sie ihres exklusiven Zugriffs auf die Freizeitgestaltung der Arbeiter beraubte.165 Besonders waren es die Frauen, die von den Kulturproduzenten als Zielgruppe entdeckt wurden und nun einen großen 162 Zur Bedeutung der Psychologie für die Werbung vgl. als Auswahl aus den zeitgenössischen Abhandlungen: Münsterberg, Psychologie; König, Reklame-Psychologie; Mataja, Reklame; Pauli, Rhythmus; v. Hartungen, Psychologie; Jaederholm, Psychotechnik; Marbe, Psychologie; Tietjens, Desuggestion; Giese, Methoden; Schönemann, Kunst. 163 Walter, Psychologie, S.  333–335. Auch Benjamin meinte: »Der heute wesenhafteste, der merkantile Blick ins Herz der Dinge heißt Reklame.« (Benjamin, Einbahnstraße, S. 95) 164 Das zeigen die in der Verbrauchsstatistik ausgewiesenen Ausgaben für Hygiene und Gesundheit (Tab. 1 u. 2) sowie Thoms, Schönheitsideal, S. 272–275; v. Ankum, Karriere; und bereits Moreck, Frauenideale; Chiavacci, Kampf. 165 Die Forschung betont mittlerweile, dass die moderne Massenkultur die Arbeiterbewegungskultur nicht unmittelbar verdrängte. Als Konkurrenz wurde sie wohl lediglich von der sozialistischen Organisationselite betrachtet, während die Mehrheit der ein­fachen Mitglieder sie als willkommene Erweiterung der Angebotspalette in ihren Freizeitalltag integrierte, was sich schon daran ablesen lässt, dass die Arbeiterbewegungskultur in puncto Mitgliederstärke und Organisationsgrad sogar ihren Höhepunkt in der Zwischenkriegszeit erreichte. Kurzfristig ist also von einem Nebeneinander von kommerzieller und sozialistischer Populärkultur auszugehen, während langfristig die Expansion ersterer zur Erosion letzterer beitrug, insofern diese ihren exklusiven Gestaltungsanspruch aufgeben musste. Vgl. nur v. Saldern, Wochenend-Mensch, S.  17 f.; dies. u. Mühlberg, Kontinuität, S. 229–232, 244–247; Langewiesche, Massenmedium; ders., Politik, S. 402; Guttsman, ­Culture; Dussel u. Frese, Vereinskultur, S. 103 f.

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Teil des lesenden und schauenden Publikums bildeten. Eine Feminisierung der Öffentlichkeit vollzog sich auf der Seite der Konsumenten wie auf der der Konsumobjekte: Im Kino begegnete das überwiegend weibliche Publikum den überwiegend weiblichen Filmstars; die Schaufenster der Warenhäuser lockten mit immer neuen Modearrangements vorzugsweise Kundinnen ins »Paradies der Damen« (Zola), wo oft tadellos gekleidete und geschminkte Verkäuferinnen den meist unerreichbaren Überfluss verwalteten. Freilich lässt sich keine ungebrochene Geschichte eines weiblichen empowerment in der Konsumsphäre schreiben, da beispielsweise in den Werbeanzeigen durch die stereotypen Darstellungen als Hausfrau und Mutter einerseits, als erotisches Objekt andererseits eine symbolische Zurückweisung der Frauen in private und passive Rollen stattfand. Es steht jedoch außer Zweifel, dass die Konstruktion der Konsumentin, einer zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum stehenden Subjektivität, durch die Vielzahl der massenmedial verbreiteten Botschaften, Versprechungen und Anforderungen vorangeschritten war. Nicht nur Wirtschaft und Werbung, sondern auch die großen Bewegungen zur Rationalisierung der Hausarbeit und zur Sexualreform sowie die Wahlkampagnen der Parteien arbeiteten am Janusgesicht der Konsumentin, die einerseits verführbar war und verführte, andererseits rational planen und entscheiden konnte.166 Welche Bedeutung die erweiterten Möglichkeiten zur Gestaltung der Freizeit für Arbeiterfrauen am Ende der zwanziger Jahre hatten, wird deutlich, wenn man die Aufsätze liest, die 150 Textilarbeiterinnen zu einem Preisausschreiben ihres Verbandes verfasst haben. Diese reichhaltige Sammlung, die 1930 unter dem Titel »Mein Arbeitstag – mein Wochenende« veröffentlicht wurde, gewährt einen Einblick in die alltägliche Arbeitserfahrung und das außeralltägliche Freizeitvergnügen der Teilnehmerinnen.167 Das auffälligste Merkmal der Schilderungen ist sicherlich, dass einem langen und harten Arbeitstag, der noch am Feierabend vollständig durch Hausarbeit erfüllt ist, ein Wochenende gegenübersteht, das Gegenstand aller Freuden und Ziel aller Sehnsüchte ist. Die Gespräche im Kreis der Kolleginnen kreisen oft um die Erlebnisse des vergangenen und die Vorfreude auf das kommende Wochenende, dessen Beginn regelmäßig 166 Vgl. Bernold u. Ellmeier, Konsum, S.  456–464; v. Ankum, Karriere; Rosenhaft, Lesewut, S. 124–127; Hake, Girls; dies., Mirror; Heinze, Mitteln; Thoms, Schönheitsideal, S. ­257–278; Gleber, Art, S. 171–189; Petro, Streets, S. 20 f., 89; Grossmann, Girlkultur; Sneeringer, Winning; dies., Shopper; Nolan, Visions, S.  206–226; Sachse, Anfänge, S.  56–58; SchlegelMatthies, Haus, S. 149–191. Enttäuschend hingegen: Wagner-Braun, Frau. 167 Sie ist daher schon des öfteren Gegenstand der historischen Forschung geworden; bislang allerdings, um zu zeigen, über welche unterschiedlichen Freiheitsressourcen die Ledigen im Gegensatz zu den Müttern verfügten, wie der Rationalisierungsdruck den Alltag – auch in Richtung des Reproduktionsverhaltens  – der Arbeiterinnen erreichte, und um zu verdeutlichen, dass die Arbeiterbewegungskultur und die kommerzielle Massenkultur in der Praxis problemlos vereinbar waren. Vgl. Deutscher Textilarbeiterverband, Arbeitstag; dazu: Grossmann, Girlkultur, S.  69–75; Begemann, Bedingungen; Neef, Feierabend, S. ­69–74.

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als Erlösung empfunden wird – daran ändert auch die Tatsache nichts, dass für viele Mütter die Zeit zur freien Verfügung erst am Sonntagnachmittag beginnt. Die bevorzugten Freizeitaktivitäten scheinen zunächst, oberflächlich betrachtet, kaum von der modernen Massenkultur berührt: Überwiegend wird berichtet, man bevorzuge es, am Wochenende zu wandern und Ausflüge in die freie Natur zu machen sowie, auch unter der Woche, die Kulturangebote der Partei oder des Verbandes zu nutzen. Zwar spielt die Lektüre von Zeitungen eine Rolle, der Besuch des Kinos oder des Gasthauses kommt aber selten, der von Tanz­ veranstaltungen praktisch gar nicht vor. Bei näherem Hinsehen erweist sich diese erstaunliche Zurückhaltung jedoch als eine sozialpädagogische Verzerrung: Es fällt auf, dass meistens, wenn davon mit dem Gestus der Überlegenheit berichtet wird, die anderen es sind, die auswärts essen und trinken, ins Kino oder zum Tanzen gehen. »Meine Kolleginnen erzählen mir oft von ihren Erlebnissen, die sie Sonntags auf Tanzböden oder in Cafés machen. Mich interessieren diese Sachen nicht«, so ist zu lesen oder eine andere Arbeiterin gibt an, ihre Kolleginnen wegen ihrer »falsche[n] Auffassung von sogenanntem Amüsieren« zu bedauern. Wenn weiterhin über die schlecht besuchten Verbandsversammlungen und die vollen Kinos geklagt wird, darf insgesamt angenommen werden, dass sich die durchschnittliche Arbeiterin aufgeschlossener gegenüber den kommerziellen Angeboten zeigte, als es viele Selbstzeugnisse der in dem Sample versammelten, organisierten und politisierten Frauen nahelegen.168 Was angesichts der schweren Arbeitsbelastung der Frauen und ihrer Bekennt­ nisse zur sozialistisch korrekten Freizeitgestaltung bislang übersehen wurde, ist die regelmäßige Konfrontation mit einem höheren Konsumniveau, die ebenfalls fester Bestandteil der autobiographischen Erzählungen war. Schon der Produktionsalltag in der Fabrik und die imaginierte Präsenz der vom Luxus verwöhnten Unternehmerfamilie boten Anlass zum neidischen Vergleich: »Wir verarbeiten die herrlichsten Spitzen und Bänder. Jedoch können wir sie uns von unserem kargen Lohn nicht leisten. Aber die Frauen der Unternehmer, die nichts tun, können sich doch die feinsten Sachen kaufen.« Und eine andere schreibt: »Meine Gedanken sind auch drüben, in der Fabrikanten-Villa. Von den feinen Speisen dürfen wir nur schnell im Vorbeihuschen den Duft einziehen.« Erst recht wird in der Freizeit das sichtbare Konsumgefälle zwischen den sozialen Schichten zur Verletzung des Gerechtigkeitsgefühls. So gesteht eine 31-jährige Mutter: »Ab und zu passiert es aber doch einmal, daß wir uns in ein Gartenrestaurant ver­ irren. Da erleben wir schon etwas anderes. Z. B. ›Wochenende am Strand‹, indem wir uns in die ausgelegten illustrierten Zeitungen vertiefen. Wir sehen da, wie sich dickbäuchige Kapitalisten mit ihren ›Damen‹ unter den Klängen einer Kapelle amüsieren und anderes mehr.«169 Eine 33-jährige, ledige Kollegin macht ähnliche Lektüreerfahrungen und lässt intime Kenntnisse von den »Alltags­ sorgen« der Oberschicht erkennen: 168 Deutscher Textilarbeiterverband, Arbeitstag, S. 39, 25 (Zitate); vgl. ebd., S. 28, 42 f., 182. 169 Zitate in dieser Reihenfolge: ebd., S. 59, 127, 159.

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»Ich vertrete den Standpunkt, eine verheiratete Kollegin, Mutter von Kindern, kennt überhaupt kein Wochenend, ihr Leben ist nur von Arbeit und nochmals Arbeit ausgefüllt. Ich lese in Nr. 35 des Textilarbeiters den Artikel: ›Ein Tag aus dem Leben einer Frau‹. O welch ein krasser Unterschied, er spornt an zum Nachdenken. Ja, diese mondäne Frau, sie beginnt eigentlich ihr Wochenend schon am ersten Tag der Woche, denn ihr erster Gedanke ist, ob ihr Gewicht auf normaler Höhe sich befindet usw. Kosmetik betreiben, das ist ihre Arbeit. … Ihr letzter Abendgedanke ist, daß Creme und Paste auch den völlig reinen Teint entstehen lassen.«170

Nicht nur wird in dieser Phantasie vom »ewigen Wochenende« der mondänen Frau abermals die hohe Wertschätzung der Freizeit deutlich, auch ist das kosmetische Detailwissen zweifellos das Ergebnis einer medial vermittelten, konsumorientierten Akkulturation. »Wie oft liest man nur Artikel, wie sich Damen gegenseitig Ratschläge geben, wie sie sich schön erhalten oder wie sie sich die Zeit vertreiben, und was erhalten diese Dämchens, diese Filmschauspielerinnen für Gehälter?« Die vermeintliche Distanziertheit der Arbeiterinnen gegenüber der Welt des Luxus wird in diesen Berichten von der Intensität der Schilderung unterlaufen, die erkennen lässt, wie weit sich die Phantasie in diesen Raum der Konsummöglichkeiten vortastete. Folglich wird auch die Diskrepanz zwischen Wunsch und Befriedigung wiederholt thematisiert. Beim Einkaufen wird die Erfahrung gemacht, dass die »schönsten Wünsche … natürlich ungestillt bleiben [müssen], denn meistens ist der Geldbeutel nicht voll genug«. Und generell gilt: »Doch bleiben leider jede Woche noch so viele Wünsche offen, weil, wie immer, der Kies nicht reichen will.«171 Somit zeigen auch die Selbstzeugnisse der Textilarbeiterinnen, dass gerade in der weiblichen Bevölkerung »neuartige Ansprüche veränderter Menschen« entstanden waren.172 Die Frauen artikulierten als Konsumentinnen nicht mehr nur ihre notwendigen Bedürfnisse, sondern mobilisierten darüber hinaus gehende Wünsche. Von ebenso großer Bedeutung für die Steigerung der Wohlstandserwartungen wie die Ausweitung der Konsumöffentlichkeit war die schleichende Veränderung der alltäglichen Wahrnehmungswelt durch die Konsumkultur.173 Großstadt, Film, Illustrierte und Werbung bildeten gewissermaßen homologe 170 Ebd., S. 64. 171 Zitate in dieser Reihenfolge: ebd., S. 189, 41, 187. 172 Auf diesen Nenner hat Dietrich Mühlberg die Modernisierungstendenzen in der weib­ lichen und jugendlichen Arbeiterschaft gebracht: Mühlberg, Modernisierungstendenzen, S. 34. 173 Der hier beschriebene Wahrnehmungswandel durch die Massenkultur ist verwandt, jedoch nicht identisch mit dem vor allem von Kracauer und Benjamin konstatierten, den sie auf den Begriff der Zerstreuung bringen. Die genuin moderne und großstädtische »Rezeption der Zerstreuung« (Benjamin), die bei ihnen ebenfalls auf der Faszination einer sich ständig verändernden Reizwelt beruht, wird jedoch stark unter dem Blickwinkel der entfremdeten Arbeitswelt betrachtet und daher tendenziell als kompensatorisch verstanden. Allzu leicht nimmt daher der Konsument im Sinne Kracauers und Benjamins den Charakter des bloß passiven Massenmenschen an. Vgl. Kracauer, Kult; ders., Ladenmädchen; Benjamin, Kunstwerk; dazu auch Lacey, Zerstreuung; Hansen, America; Petro, Streets, S. 57–68.

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Räume, deren Strukturen sich in dreifacher Hinsicht ähnelten: Erstens waren sie durch eine ausufernde Bildhaftigkeit gekennzeichnet – der Spaziergänger in den Geschäftsstraßen war dem Reiz des Visuellen ebenso ausgesetzt wie der Zuschauer im Kino und der Leser der Illustrierten und Anzeigen. Zweitens waren die Bilder wie nie zuvor in Bewegung, zum einen durch den zunehmenden Verkehr in den Großstadtstraßen und durch eine immer perfektere und schnellere Montagetechnik im Film, zum anderen durch die hohe Frequenz des fortlaufenden Umschlags von Werbeangeboten, Zeitungs- und Zeitschriftenausgaben und Fortsetzungsromanen.174 Drittens wurden aus dem Strom der Bilder und Konsumoptionen einige Objekte des Begehrens herausgehoben, die den Status von »Mythen des Alltags« (Barthes) erlangten: Es gleichen sich nämlich die touristische Sehenswürdigkeit, der Filmstar und der Markenartikel gerade darin, dass sie ein beinahe magisches Qualitäts- und Sinnversprechen vermitteln und ihnen die Aura des Besonderen zugesprochen wird.175 Zur Veränderung der Bilderwelt kam hinzu, dass die verschiedenen Angebote ineinander griffen und sich wechselseitig verstärkten: Das Kino und die Tanzeuphorie beförderten den Absatz von Jazzschallplatten und Grammophonen;176 die Illustrierten machten die Filmschauspielerin erst zum Star, der wiederum die neueste Mode popu­ larisierte. Als die beliebte Lil Dagover in der Berliner Illustrirten Zeitung für ein Enthaarungsmittel Werbung machte, titelte die Anzeige ohne Umschweife: »Mit Recht sind die Bühnen- und Filmstars, was Eleganz und Schönheitspflege betrifft, unserer Damenwelt ein Vorbild. Denn die Kunst zwingt die Künstlerin – sei es auf der Bühne, sei es im Film – ihre Persönlichkeit voll zur Geltung zu bringen.«177 Der konsumkulturelle Komplex, der sich bis zum Ende der zwanziger Jahre voll ausgebildet hatte, war imstande, auf dem Wege der Umgestaltung der alltäglichen Wahrnehmungswelt Verhaltensdispositionen zu verändern und die konsumistische Erwartungshaltung des »Was gibt es als nächstes?« in der Vor174 Zudem »verdoppelte« gleichsam der Film die städtische Wahrnehmung, wenn sie wie in Walter Ruttmanns »Berlin  – Die Sinfonie der Großstadt« oder in Fritz Langs »Metro­ polis« selbst zum Gegenstand des Geschehens wurde. Zur Parallele von Film und Großstadterfahrung vgl. Gleber, Art, S. 138–149; Schmidt, Bild, S. 90–106; Prümm, Dynamik, S. 105–123; Kaes, Einführung, S. 4–9; Schütz, Medien, S. 371–377. Zur Bedeutung des unterschichtlichen Spaziergangs vgl. Warneken, Schritte, S. 428–431, 437–441. Zur wechselseitigen Verstärkung von Wahrnehmungsmustern durch die illustrierte Presse und den Film vgl. Petro, Streets, S. 82 u. Kap. 3 u. 4. Vgl. jüngst auch Fritzsche, Time, S. 148: »The cumulative ›reality effect‹ of newspapers, illustrated weeklies, and films was the non-stop production of the new.« 175 Zum Bedeutungsgewinn des Visuellen durch die Konsumkultur vgl. allgemein Haas, Welt; Ward, Weimar Surfaces, S. 143; Rosenhaft, Lesewut, S. 130–143; Friedberg, Window Shopping; Schmidt, Bild, S. 19–25. 176 Zwischen 1925 und 1929 gingen gut 1,4 Millionen Grammophone über die Ladentische und der Schlager »Ausgerechnet Bananen« verkaufte sich bis 1929 gar drei Millionen mal. Vgl. Schröder, Tanz- und Unterhaltungsmusik, S. 315, 317. 177 Berliner Illustrirte Zeitung 1929, S. 1262, zit. n. Thoms, Schönheitsideal, S. 266.

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stellungswelt der Verbraucher zu verankern. Das offenbarte sich auch den zeitgenössischen Beobachtern mit erschreckender Deutlichkeit, als mit dem ökonomischen Zusammenbruch der Weltwirtschaftskrise die Differenz zwischen Mangelerfahrung und Wohlstandshoffnung zu einer unüberbrückbaren Kluft aufriss. In den sogenannten »Angestelltenromanen« wurden die Erfahrungen der Arbeitslosigkeit und des sozialen Abstiegs daher stets vor dem Hintergrund einer entfalteten Konsumkultur reflektiert. Die 1931/32 erschienenen Bestseller dieses Genres von Erich Kästner, Hans Fallada und Irmgard Keun illustrieren allesamt, dass die Tragik der im Laufe der Handlung aus der Gesellschaft ausgeschlossenen Hauptfiguren erst durch ihre Verstrickungen in die Konsumsphäre entsteht.178 Der Publikumserfolg dieser in ihrer Sprache und ihren Botschaften leicht zugänglichen Romane lässt darauf schließen, dass mit diesem Thema ein Nerv der Zeit getroffen wurde. In Kästners »Fabian« wird erzählt, wie der Protagonist, der als gebildeter und idealistisch gesinnter Mensch für die Verlockungen des Konsums selbst recht unempfänglich ist, sich von einer Gesellschaft entfremdet, die davon voll­ständig durchdrungen ist. Der promovierte Germanist Jakob Fabian ist gezwungen, als Werbetexter einer Zigarettenfirma zu arbeiten, als er ironischerweise wegen der Kürzung des Reklamebudgets entlassen wird. Nachdem er auf seinen erotischen Streifzügen durch die Berliner Amüsierbetriebe Cornelia Battenberg kennengelernt und sich in sie verliebt hatte, bringt der Verlust der Stellung schlagartig die ökonomische Basis ihrer Beziehung und eine gemeinsame Zukunft in Gefahr. Battenberg beschließt, ihr finanzielles Glück selbst in die Hand zu nehmen, und geht ein sexuelles Verhältnis mit einem Filmproduzenten ein, der ihr eine Zukunft als Filmstar verspricht. Zu allem Überfluss geht das Kalkül auf, und Fabian sieht eines Tages ihr Foto in einer Illustrierten: Batten­berg sitzt, schick angezogen, in einem Auto und wird als kommender Star und neuer Modetyp angepriesen. Fabians Schicksal besteht mithin darin, dass er sich der Logik des Konsums unterwerfen muss, obwohl er dazu weder bereit noch finan­ ziell in der Lage ist. Als er überlegt, wie er sein Leben fortsetzen soll, erscheinen daher auch nur zwei diametral entgegengesetzte Wege gangbar: zurück in die Werbebranche und damit in die Konsumgesellschaft oder ganz hinaus in die Berge und die Dörfer.179 Auch in Hans Falladas »Kleiner Mann – was nun?« ist die Arbeitslosigkeit die Ursache der finanziellen und emotionalen Misere der Figuren, und auch hier erhält der soziale Abstieg erst vor dem Hintergrund der gleichzeitig präsenten Konsummöglichkeiten seine Schärfe. In einer berühmten Szene gegen Ende des Buches erlebt der junge Textilverkäufer Pinneberg, arbeitslos und herunter­ 178 Vgl. zum Folgenden vor allem die zentrale Studie von Deborah Smail (White-collar Workers, S. 51–80, 113–145), die die zentrale Bedeutung der großstädtischen Konsumkultur in den drei Romanen hervorhebt. Eine Darstellung der Berliner Vergnügungsszene, die sich mit den literarischen Verarbeitungen in vieler Hinsicht deckt, liefert Kiaulehn, Berlin, S. 532–558. 179 Vgl. Kästner, Fabian, S. 7–11, 39–45, 75–84, 111 f., 124 f., 163 f., 180–183.

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gekommen wie er ist, erst vor den Schaufenstern der Friedrichstraße seine totale Exklusion. Als er sich vor den Auslagen eines Delikatessengeschäfts die Nase platt drückt, starren die Leute ihn an und er wird von einem Polizisten fortgeschickt: »Und plötzlich begreift Pinneberg alles, angesichts dieses Schupo, dieser ordentlichen Leute, dieser blanken Scheibe begreift er, daß er draußen ist, daß er hier nicht mehr hingehört, daß man ihn zu Recht wegjagt.«180 Doch auch bereits, als er noch im Warenhaus angestellt ist und ein schmales Gehalt nach Hause trägt, wird er von allerdings bescheidenen Wohlstandsphantasien geplagt. Eine Frisiertoilette für das Schlafzimmer ist das Objekt der Begierde, lässt seine Frau »Lämmchen« ihn eines Tages wissen, und in nuce wird vorgeführt, wie das Leben über die eigenen Verhältnisse zustande kommt: »›Brauchen wir die denn?‹ hatte er ganz erstaunt gefragt. Er hatte immer nur an Betten, einen Klubsessel aus Leder und einen eichenen Diplomaten gedacht. ›Gott, brauchen. Aber schön wäre es doch. Wenn ich mich da so frisieren könnte! Na, guck nicht so, Jungchen, es wird schon nur ein Traum bleiben.‹«181

Doch dabei bleibt es keineswegs. Die beiden beginnen, »Entdeckungsreisen« zu Möbelgeschäften zu unternehmen, sichten ihre Lieblingsmodelle und küren schließlich ihren Favoriten – das alles im vollen Bewusstsein, dass ein Kauf jenseits ihrer finanziellen Möglichkeiten liegt. Und dennoch: Mit seinem ersten Gehalt, das weit geringer ausgefallen ist, als es sich Pinneberg erhofft hatte, geht er in einem Akt der Verzweiflung zum Möbelhändler und kauft das ersehnte Stück, gleichsam als paradoxe Überkompensation für die erlittene Enttäuschung: »Man nimmt nicht so leicht von seinen Träumen Abschied. […] Es ist eigentlich rätselhaft, wieso man sich in solch ein Ding so verlieben kann, tausend Stück gibt es, die ähnlich sind oder fast gleich, aber dies, dies, dies ist es!« Dann, nach quälend langem Hin und Her, der Moment der Entscheidung: »Und plötzlich macht Pinneberg kehrt. Ohne zu zögern, ohne dies Möbelstück auch nur eines Blickes zu würdigen, schreitet er schnurstracks auf die Ladentür zu … Und während er dies tut, geht viel in ihm vor. ›Es kommt doch nicht darauf an‹, klingt es. Und: ›Einmal muß man anfangen. Warum sollen wir immer gar nichts haben?‹ Und ganz entschlossen: ›Ich will es, und ich tu es, und was auch kommt, einmal will ich so gewesen sein!‹ Ein bißchen verelendeter noch, dies ist die Stimmung, in der man stiehlt, einen Raubmord begeht, bei einem Krawall mitmacht. Pinneberg kauft in dieser Stimmung eine Frisiertoilette, es ist alles das Gleiche.«182

Der innere Konflikt, der den Kauf begleitet und ihn beinahe wie eine illegale oder sogar gewaltsame Handlung erscheinen lässt, erklärt sich aus der fata180 Fallada, Mann, S. 239. Vgl. hierzu auch Smail, White-collar Workers, S. 137 f. 181 Fallada, Mann, S. 101. 182 Ebd., S. 102 f.

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len Gleichzeitigkeit von Mangel und Wohlstandshoffnung, die für die Zeit der Wirtschaftskrise charakteristisch ist. In Irmgard Keuns »Das kunstseidene Mädchen« begegnet uns schließlich diese Diskrepanz ins Extreme gesteigert.183 Die kleine Büroangestellte Doris, deren Erlebnisse geschildert werden, ist ihres bescheidenen und ereignislosen Lebens überdrüssig und träumt davon, ein »Glanz« zu werden: »Ich will so ein Glanz werden, der oben ist. Mit weißem Auto und Badewasser, das nach Parfüm riecht, und alles wie Paris. Und die Leute achten mich hoch, weil ich ein Glanz bin, und werden es dann wunderbar finden, wenn ich nicht weiß, was eine Kapazität ist, und nicht runter lachen auf mich wie heute.«184 Doris’ Wohlstandsprojektionen sind erkennbar von den massenmedial verbreiteten Bildern des Lebens der Reichen und Schönen geprägt; ihr Bedürfnis nach Anerkennung lässt sie, mehr und mehr wie eine Abhängige, nach einem Repräsentationskonsum streben, was unausweichlich – ein vertrautes Motiv – zu ihrer partiel­ len Prostitution führt. Auf der Suche nach einem Mann, der ihr das Leben im ­Luxus ermöglichen kann, lässt sie sich wie im Rausch durch das Berliner Nachtleben treiben, dessen visuellen Reizen sie sich vollständig hingibt: »Ich sehe – gequirlte Lichter, das sind Birnen dicht nebeneinander  – Frauen haben kleine Schleier und Haar absichtlich ins Gesicht geweht. Das ist die moderne Frisur – nämlich: Windstoß – und haben Mundwinkel wie Schauspielerinnen vor großen Rollen und schwarze Pelze und drunter Gewalle – und Schimmer in den Augen – […] ich sehe, ich sehe – meine Augen erwarten ein Ungeheures – ich habe Hunger auf was Herrliches und auch auf ein Rumpsteak so braun mit weißem Meeretich und so Stäbchenkartoffeln, das sind in die Länge gezogene Bratkartoffeln – […] Ich sehe – mich in Spiegeln von Fenstern, und dann finde ich mich hübsch, und dann gucke ich die Männer an, und die gucken auch […] der Gloriapalast schillert – ein Schloß, ein Schloß – es ist aber Kino und Kaffee und Berlin W.«185

Eine Orgie des Sehens und Gesehenwerdens spielt sich ab und eine endlose Abfolge unerreichbarer Genüsse hinterlassen im beobachtenden Subjekt ihre Spuren. Am Ende der drei Romane finden sich alle Hauptfiguren von der Konsumgesellschaft ausgeschlossen: Wie Fabian verlässt auch Pinneberg, der in eine Laubenkolonie zieht, die Großstadt, während Doris, an ihrer »Glanz«-Vision zweifelnd, im Wartesaal des Bahnhofs Zoo zurückbleibt.186 Die Schere, die sich am Ende der Weimarer Republik zwischen der Erfahrung der alltäglichen Not und der Erwartung des möglichen Wohlstands aufgetan hatte, wird in dieser Ausweglosigkeit manifest.187 183 Vgl. außer Smail, White-collar Workers, auch Gleber, Art, S. 191–208; Barndt, Sentiment; v. Ankum, Spaces; Frevert, Glanz. 184 Keun, Mädchen, S. 45. 185 Ebd., S. 102 f. 186 Vgl. Smail, White-collar Workers, S. 64, 139–145. 187 Vgl. auch die Beschreibung des Wohlstandsgefälles in Berlin 1931 bei Ehrenburg, Menschen, S. 255 f.

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In jeder Gesellschaft sind die entgegengesetzten Pole des Konsums: das Leben am Existenzminimum einerseits, Luxus und Überfluss andererseits, öffentlich relevante Phänomene. Doch vielleicht ist nur in wenigen Gesellschaften ihre Diskrepanz so schmerzhaft spürbar geworden wie in der Weimarer. In weiten Kreisen der Verbraucherschaft war das Bedürfnis nach Grundsicherung, einer minimalen Versorgung mit Lebensmitteln und Wohnraum, dauerhaft präsent, wurde aber besonders in den schweren Krisen bis 1924 und ab 1930 akut. Es koexistierte mit der Hoffnung auf mehr Wohlstand, auf eine spürbare Ausweitung des Konsumspielraums für Unterhaltung, Bildung, langlebige Konsumgüter oder Hygiene – ein Wunsch, der von der sich rasend schnell verbreitenden Massenkultur und Werbung in den stabilen Jahren der Republik mächtigen Auftrieb erhielt. Alle Dimensionen des Vergleichs, die dem Konsumenten als homo comparans zu Gebote stehen, offenbarten diese Kluft zwischen Mangelerfahrung und Wohlstandserwartung: In »zeitlicher« Hinsicht kontrastierte, wie sich anhand der Realeinkommensentwicklung deutlich zeigte, der Boom der Vorkriegszeit mit dem instabilen Weimarer Konjunkturverlauf, der den verschiedenen Segmenten der Verbraucherschaft Versorgungskrisen und Wohlstandsgewinne in rascher Folge bescherte. Der räumliche Vergleich ließ ein doppeltes Konsumgefälle erkennen, das im Bewusstsein der Zeitgenossen prominent war: Mit der gleichen ambivalenten Faszination, mit der das amerikanische Wirtschaftswunder in Gestalt der konsumkulturellen Angebote wahrgenommen wurde, blickten die Menschen in die Großstadt, die als Zentrum des Konsumismus einerseits, der verelendeten Massen andererseits galt. Soziale Unterschiede in der Güterversorgung fragmentierten zudem die Verbraucherschaft und waren das Ziel von Aufstiegshoffnungen ebenso wie Abstiegsängsten; zugleich waren die Konsumstile, die zwar immer noch von schichtspezifischen Mentalitäten geprägt waren, in Bewegung geraten, da sich eine Reihe von gemeinsamen Aspirationen ausmachen ließ. Von einem absichtsvoll beschränkten, traditionalen Konsumstil der Arbeiterschaft ist wenig zu erkennen. Hinsichtlich der Verfügbarkeit und Wertschätzung bestimmter Waren und Dienstleistungen musste schließlich auffallen, dass sich einerseits der Existenzbedarf durch seine anhaltend hohe quantitative Bedeutung im Haushaltsbudget auszeichnete, dass andererseits aber der Wahlbedarf bei der Erweiterung von Spielräumen extrem elastisch reagierte, was auf einen Aufbruch des Erwartungshorizonts verweist. Wohl keine andere Gruppe innerhalb der Verbraucherschaft erlebte die Diskrepanz zwischen dem Verfügbaren und dem als möglich Erscheinenden so stark wie die Frauen. Sie waren die Verwalterinnen des Mangels und traten zugleich als neue Akteure in der entstehenden Konsumöffentlichkeit auf. Angesichts der vielfältigen konsumgesellschaftlichen Disparitäten – ­zwischen Bedürfnissen und Wünschen, verschiedenen Verbrauchergruppen sowie den unterschiedlichen Orten und Zeiten von Entbehrung und Genuss – musste die Wahrnehmung und Artikulation der Konsumenteninteressen ein komplexes Unterfangen sein. Das galt nicht nur für staatliche Institutionen, sondern auch für das selbstbewusste zivilgesellschaftliche Sprachrohr »der« Verbraucher: die Konsumgenossenschaften. 97

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II. Die Konsumvereine und der Kampf um den politischen Konsumenten »Es ist unzweifelhaft, daß die Fragen des Konsums in Zukunft eine bedeutend größere Rolle spielen werden als vor dem Kriege; denn als neuer Machtfaktor stieg aus dem wirtschaftspolitischen Chaos empor der Träger des Konsums, der Konsument.« Robert Schloesser, 19161

1. Das Projekt der Konsumvereinsbewegung Nach dem Zusammenbruch der politischen und wirtschaftlichen Ordnung im Jahr 1918 durfte sich die Konsumgenossenschaftsbewegung als Siegerin in Trümmern fühlen.2 Die materielle Not führte den Konsumvereinen scharenweise neue Mitglieder zu, und die Zeit der gesetzlichen Benachteiligung durch die auf eine »Mittelstandspolitik« eingeschworene wilhelminische Bürokratie ging zu Ende.3 Mit großem Selbstbewusstsein traten die Genossenschaften in der Öffentlichkeit als die legitimen Repräsentanten der Verbraucher auf. Ihre Bedeutung als Wirtschaftsunternehmen mit gesellschaftlicher Reformvision und ihre Rolle im Gefüge der Weimarer Interessengruppen bilden gleichwohl ein weithin vergessenes Kapitel deutscher Geschichte,4 das hier neu aufgeschlagen werden soll. Es ist zu untersuchen, wie die Konsumgenossenschaften intensiv an der Formierung, Befriedigung und Artikulation der Verbraucherinteressen arbeiteten und auf diese Weise eine alternative Ordnung der entstehenden Konsumgesell1 2 3 4

Schloesser, Konsumentenkammern, S. 5. Vgl. nur Kasch, Zukunft, S. 357 f. Vgl. Richter, Kampf, S. 3–15; Prinz, Brot, S. 280–286. Zu den deutschen Konsumgenossenschaften existiert bislang nur eine Monographie, die den heutigen historiographischen Ansprüchen genügt: Prinz, Brot, beschränkt sich jedoch auf die Zeit bis 1914. Hasselmann, Geschichte, ist hingegen stark deskriptiv und hält wenig Distanz zum Gegenstand. Zu den Konsumvereinen der Zwischenkriegszeit liegt aber eine Reihe von Aufsätzen vor: Buchheim, Konsumgenossenschaften; Fairbairn, Rise; Schramm, Arbeiterkonsum; Spiekermann, Medium; ders. u. Stockhaus, Konsumvereinsberichte; Sywottek, Konsumverhalten. Unverzichtbar ist zudem, wenn auch mit wirtschaftswissenschaftlichem Erkenntnisinteresse geschrieben: Weuster, Theorie. In den einschlägigen Gesamtdarstellungen der Weimarer Republik werden die Konsumgenossenschaften kaum erwähnt.

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schaft zu verwirklichen suchten. Diese war am Leitbild der Bedarfsdeckungswirtschaft orientiert und beruhte auf der Figur des vernünftig und politisch handelnden Konsumenten, dessen letztlich statische Bedürfnisse die Planbarkeit des Konsums ermöglichten. Aus der Sicht des heute hegemonialen Modells einer dynamischen Wohlstandsgesellschaft, in der das nutzenmaximierende, hedonistische Individuum die Hauptrolle spielt, erscheint die Erfolgsbilanz dieses verschütteten Pfades der Konsumgesellschaft äußerst gering; von vielen Zeitgenossen wurden die Chancen des organisierten Konsums jedoch ganz anders beurteilt. Als »soziale Laboratorien« hatte schon der französische Reformsozialist Jean Jaurès die Genossenschaften bezeichnet, und als solche sind sie auch als Teil des »Experiments von Weimar« zu verstehen, jenes Aufeinandertreffens konkurrierender Gesellschaftsmodelle, dessen Ausgang lange Zeit ungewiss war.5 Die deutschen Konsumvereine waren in zwei großen Verbänden zusammen­ geschlossen,6 die beide in der Zwischenkriegszeit einen sagenhaften Aufschwung nahmen. Der größere Zentralverband deutscher Konsumvereine (ZdK) war in Hamburg ansässig und stand der SPD und den Freien Gewerkschaften nahe, während mit dem Reichsverband deutscher Konsumvereine (RdK) die christlichen Gewerkschaften und Teile der Zentrumspartei sympathisierten. Beide pflegten jedoch zugleich die offene Mitgliedschaft in den Vereinen und wachten in dieser Frage eifersüchtig über ihre parteipolitische und religiöse Neutralität. Der Zentralverband, der seit seiner Gründung im Jahr 1903 schon bis zum Ersten Weltkrieg um eine Million Mitglieder gewachsen war, erlebte im Kriegsund Inflationsjahrzehnt einen noch beeindruckenderen Zulauf: Die Zahl der Mitglieder stieg von 1,7 (1914) auf 3,5 Millionen (1924). In der Stabilisierungszeit schrumpfte der Verband wieder leicht – nicht zuletzt weil zahlreiche nichtkaufende Mitglieder, sogenannte »Papiersoldaten«, ausgeschlossen wurden –, doch auch am Ende der Weimarer Republik (1932) zählte man noch rund 2,9 Millionen Genossenschafter. Ähnlich, wenn auch in bescheideneren Größenverhältnissen, verlief die Entwicklung im Reichsverband, der besonders im Rheinland und in Westfalen organisationsstark war und mehr als eine halbe Million seiner 730.000 Mitglieder im Jahr 1924 seit Beginn des Ersten Weltkriegs gewonnen hatte. Danach stagnierte die Zahl, auch wenn im Reichsverband kaum Ausschlüsse durchgeführt wurden, und lag in den Jahren der Weltwirtschaftskrise bei knapp 0,8 Millionen. Auf dem Höhepunkt des Mitgliederzustroms im Jahr 1924 waren daher fast so viele Menschen in Konsumvereinen organisiert wie in 5 Jaurès zit. n. Wilbrandt, Konsumgenossenschaften, S. 9. Zu Ordnungsentwürfen in der Weimarer Republik vgl. u. a. Nolte, Ordnung, S. 61–187; Fritzsche, Landscape. 6 Bis 1920 war ein Teil der Konsumvereine noch dem älteren, von Schulze-Delitzsch gegründeten Allgemeinen Verband angeschlossen, der diese aber aus Angst vor internen Konflikten entließ, als er sich mit dem Hauptverband deutscher gewerblicher Genossenschaften zusammentat, in dem die Einzelhändler organisiert waren. Vgl. Hasselmann, Geschichte, S. 384; Bösche u. Korf, Jahre, S. 17.

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den Freien Gewerkschaften, und mit rund vier Millionen Mitgliedern erfassten die Vereine etwa ein Viertel aller deutschen Haushalte.7 Darüber hinaus waren die Genossenschaften nicht mehr wie noch im Kaiserreich eine fast ausschließlich proletarische Erscheinung, sondern wurden sozial heterogener, da sie offenbar breitere Schichten der städtischen Verbraucherschaft anzusprechen vermochten. Fraglos dominierte zwar noch immer die Arbeiterschaft, dennoch war die soziale Verbreiterung bemerkenswert: Im Zentralverband ging der Anteil der gewerblichen Arbeiter und Angestellten von 79 Prozent (1914) auf 69 Prozent (1930) zurück, während jener der Freiberufler und Beamten im gleichen Zeitraum von drei auf neun Prozent anstieg. Der Reichsverband zählte 1929 sogar dreißig Prozent Beamte und Arbeiter im öffentlichen Dienst, wohingegen die Quote der gewerblichen Arbeiter und Angestellten nur 49 Prozent betrug.8 Als ein wichtiger Grund für diese Organisationserfolge darf die soziale Ubiquität der materiellen Notlage in den Inflationsjahren gelten. Die prekäre Versorgungslage bis 1924 plausibilisierte demnach die Rolle der Konsumgenossenschaften als Sprachrohr der städtischen Verbraucher. Wenn auch das Potential der organisationsfähigen Verbraucher noch nicht ausgeschöpft war, zeigt doch die Mitgliederentwicklung, dass die Weimarer Konsumvereine als Massenphänomen und gewichtige Interessengruppe zu gelten haben. Grob gesagt, warben die Genossenschaften mit zwei verschiedenen Argumenten für ihr Projekt: Zum einen sollten die Verbraucher zu ihrem eigenen materiellen Vorteil Mitglied der Vereine werden, zum anderen trügen sie damit zur Entstehung einer besseren Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung bei. Es lassen sich daher eine ökonomische und eine politische Dimension unterscheiden, deren Analyse im folgenden den spezifischen Charakter des eigenartigen Zwitterwesens der Konsumgenossenschaften herausstellen wird. Zunächst zur wirtschaftlichen Seite: Um die Attraktivität der Konsum­vereine für ihre Kundschaft zu verstehen, muss ihre Funktionsweise rekapituliert werden. Die Mitgliedschaft im Konsumverein war, wie schon erwähnt, offen für jedermann, lief allerdings bei Familien über den Mann, auch wenn tatsächlich die Frau den Laden besuchte. Der Verkauf an Nichtmitglieder wurde untersagt und die Berechtigung meist streng kontrolliert. Nachdem am Anfang ein geringes Eintrittsgeld in die Genossenschaft von 50 Pf. oder 1 RM entrichtet worden war, konnte bereits der Einkauf beginnen; die weiteren Beiträge zum zu erwerbenden Geschäftsanteil von meist 30 RM (in den großen Vereinen auch 50 bis 60 RM) wurden nach und nach eingesammelt.9 Die »Verteilungsstellen« genannten Läden lagen in dicht besiedelten Wohngebieten, selten in den innerstädtischen Ge7 Vgl. Hasselmann, Geschichte, S.  707, 709; Sywottek, Konsumverhalten, S.  77 f.; Buchheim, Konsumgenossenschaften, S. 51; Potthoff, Freie Gewerkschaften, S. 348. 8 Vgl. Spiekermann u. Stockhaus, Konsumvereinsberichte, S. 96; Buchheim, Konsumgenossenschaften, S. 56. Schramm, Arbeiterkonsum, S. 27 f., betont anhand des Konsumvereins Leipzig-Plagwitz stark die anhaltende Dominanz der Arbeiter, kommt aber nicht umhin, auch dort den wachsenden Anteil der Angestellten und Beamten zu konstatieren. 9 Vgl. Ausschuß, Konsumvereine, S. 9, 16; Kaufmann, Grundsätze, S. 14 f.

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schäftsstraßen und waren meist schlicht und relativ schmucklos, jedoch sauber und in der Regel mit Schaufenstern versehen; zudem wurde die Einrichtung im Laufe der zwanziger Jahre modernisiert: Auf Ausstattung, Dekoration und ein geschultes Personal wurde mehr und mehr Wert gelegt.10 Was die Preisgestaltung betraf, bestand eigentlich der Grundsatz, dass der Verkauf zu den im örtlichen Einzelhandel üblichen Tagespreisen und ausschließlich gegen Barzahlung erfolgen sollte. Während letzteres weitgehend eingehalten wurde, etablierte sich aber die Praxis der festen Rabattgewährung, und man unterbot in der Regel die Preise der privaten lokalen Konkurrenz nicht selten um zehn Prozent – das ergab eine Studie des Internationalen Arbeitsamtes in Genf, die 1927 veröffentlicht wurde und anlässlich derer die Haupt­gemeinschaft des Deutschen Einzelhandels und die Konsumvereine einen kurzen Wettstreit öffentlicher Preisvergleiche austrugen.11 Der beträchtliche Überschuss, der sich durch den genossenschaftlichen Bezug großer Mengen erzielen ließ, wurde zum einen Teil am Ende des Jahres an die Mitglieder rückvergütet, und zwar gemessen am Wert der von ihnen getätigten Einkäufe, nicht an der Höhe ihres Geschäftsanteils. Dadurch unterschied sich der Konsumverein von einer Aktiengesellschaft und prämierte die vielbeschworene »genossenschaftliche Treue«, den möglichst umfangreichen Einkauf in der Verteilungsstelle. Der andere Teil der Gewinne wurde zur Aufstockung des Betriebskapitals verwendet, das auch in die Errichtung der genossenschaftlichen Eigenproduktion, in Reservefonds, Bildungs- und Schulungsarbeit, Wohlfahrtseinrichtungen und die Ausstattung der Läden floss. Die Rückvergütungssätze, die sich nach der Höhe der erwirtschafteten Überschüsse richteten und die vor dem Krieg noch fünf bis zehn Prozent vom jährlichen Einkauf betragen hatten, sanken in der Zwischenkriegszeit auf drei bis sechs Prozent, was sowohl auf die erhöhte Konkurrenz durch den privaten Handel als auch auf die Vernichtung des genossenschaftlichen Kapitals in der Inflation, vor allem aber auf eine Prioritätsverlagerung zugunsten der betrieblichen Expansion zurückzuführen ist. Dennoch blieb die Dividende für die Verbraucher ein wesentliches Moment der materiellen Anziehungskraft der Konsumvereine.12 Neben dem finanziellen Vorteil sollte das Warenangebot die Verbraucher anlocken, was jedoch nur partiell gelang. Einerseits kam der Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft 1931 zu dem Ergebnis, dass sich auch die Konsumvereine nicht einem gewachsenen Interesse an Markenartikeln13 und den deutlich gestiegenen Qualitäts­ 10 Vgl. Spiekermann, Medium, S. 156, 169–171; Ausschuß, Konsumvereine, S. 31. 11 Vgl. BA, R 908, 27; Hauptgemeinschaft, Bemerkungen; Cassau, Konsumvereinsbewegung, S. 68 f. 12 Vgl. Kaufmann, Grundsätze, S. 24; Cassau, Konsumvereinsbewegung, S. 67 f. 13 Die Markenartikel stellten in dieser Hinsicht ein gewisses Problem dar, weil sie vom Hersteller einer Preisbindung unterlagen und daher auch nicht in die Rückvergütung mit einbezogen werden konnten. Die Genossenschaften versuchten deshalb, den Bedarf an Marken­

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ansprüchen der Verbraucher entziehen konnten: »Eine große Zahl verbrauchsfertig hergestellter Lebensmittel und namentlich auch Delikatessen mußten aufgenommen werden. Kosmetika, Kolonialwaren, Konserven, Früchte, Weintrauben, Weine, Konfitüren und Konditoreiwaren spielen im Sortiment der Konsumvereine heute eine wesentlich größere Rolle als in der Vorkriegszeit.«14 Es wurde dabei betont, dass dieser Trend nicht ein Effekt veränderter Käuferkreise sei, sondern sich auch in Arbeitervierteln beobachten lasse. Ein großer Unterschied im Warenangebot bestand allerdings zwischen den riesenhaften Konsumgenossenschaften der Großstädte, die zum Teil mehr als 100.000 Mitglieder zählten, und den kleinen Vereinen mit weniger als 2.500 Mitgliedern. Während bei diesen nach wie vor ein begrenztes Sortiment an notwendigen Lebens- und Bedarfsmitteln vorherrschte, erschlossen sich die großen Vereine mit Bekleidung, Möbeln und Manufakturwaren neue Absatzsegmente.15 Andererseits änderten diese Bemühungen nichts an dem Umstand, dass die Konsumvereine nach wie vor den wesentlichen Anteil ihres Geschäfts (im Zentralverband meist 90 %) mit Lebensmitteln machten16 und andere Kaufmotive als die Suche nach dem finanziellen Vorteil ihnen kaum Kunden zuführten. Das zumindest ergab sich aus einer im Jahr 1932 früh durchgeführten qualitativen Marktforschung zum Kaufverhalten von knapp 1.500 Haushalten in Köln. Bei der Auswahl schien den Befragten der Markt wie auch das Warenhaus überlegen, während die Qualität der Produkte, die Bedienung und Geschäftsnähe für den Einkauf im Einzelfachgeschäft sprachen. Auch wenn die Konsumvereine solide Qualität lieferten und das korrekte Abwiegen der Mengen garantierten, waren es in erster Linie der Preis und die Rabattgewährung, welche die Käufer anzogen.17 Die materielle Attraktivität der Vereine erschöpfte sich jedoch nicht in einem Warenangebot, das auf eine Kundschaft mit einem Interesse an preisgünstigen Produkten mittlerer Qualität zugeschnitten war. Darüber hinaus wurden so­ziale Sicherungsangebote gemacht, die sich großer Beliebtheit erfreuten:

artikeln durch eigene Produktionsbetriebe und Großhandelsorganisationen (GEG und GEZ bzw. Gepag) zu decken, die genossenschaftseigene Marken vertrieben. Vgl. Hasselmann, Geschichte, S. 428; Spiekermann, Medium, S. 168 f. 14 Ausschuß, Konsumvereine, S. 29. 15 Vgl. ebd., S. 89–91, 128–131, 323–325, 625, 639, 659. Der Vorsitzende des Ausschusses Georg Bernhard konnte sich daher in einer der Funktionärsbefragungen an dem Angebot von Damenschuhen begeistern: »Darin liegt schon eine starke Strukturwandlung des ganzen Konsumvereinsgeschäftes! Der Konsumverein hätte vor dem Kriege niemals Damenlackschuhe geführt. Das ist an sich schon ein Zeichen für den Aufstieg der Arbeiterklasse, daß ein großer Teil von jungen Mädchen und Frauen aus der Arbeiterschaft es für selbstverständlich hält, solche Schuhe zu tragen. Diesen Ansprüchen haben Sie sich angepaßt.« (S. 128 f.) 16 Vgl. Hasselmann, Geschichte, S. 409. 17 Vgl. Seyffert, Bedeutung, S. 117–122; vgl. auch Ausschuß, Konsumvereine, S. 28 f.; Spiekermann u. Stockhaus, Konsumvereinsberichte, S. 99.

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Es existierten Notfonds, die bei Todesfällen kurzfristig aushalfen; in den vielerorts bestehenden genossenschaftlichen Sparkassen schwollen die Guthaben seit der Währungsstabilisierung gewaltig an, und die »Volksfürsorge« – die von den Konsumvereinen und den Gewerkschaften gemeinsam unterhaltene Versicherungsgesellschaft  – verzeichnete ebenfalls seit dieser Zeit wieder einen kräftigen Mitgliederzuwachs: Die Zahl der Versicherungsverträge betrug im Jahr 1928 1,25 Millionen, während es noch 1924 lediglich 420.000 gewesen waren.18 Die Entwicklung der Umsätze ist neben jener der Mitglieder ein aussagekräftiger Indikator für den ökonomischen Erfolg der Konsumgenossenschaften. Auch hier ist Zwiespältiges zu konstatieren: Der Anteil der Konsumvereine am gesamten Einzelhandelsumsatz stieg zwischen 1925 und 1932 von 2,4 auf 5,1 Prozent, bei den Nahrungs- und Genussmitteln im gleichen Zeitraum von 6,4 auf knapp zehn Prozent – zweifellos ein beachtlicher Erfolg, ohne dabei zu übersehen, dass die Genossenschaften von der vom Zentralverband angestrebten marktbeherrschenden Stellung weit entfernt waren und letztlich einen Zweig des Einzelhandels neben anderen darstellten. Auffällig ist zudem, dass die Umsätze in den Inflationsjahren trotz der großen Mitgliederzuwächse bis 1924 mit der Konjunktur einbrachen, während sie in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre kontinuierlich stiegen. Die Verdoppelung des Umsatzes pro Mitglied im Zentralverband zwischen 1925 und 1928 lässt sich zwar zum Teil, aber doch nicht vollständig auf den erwähnten Ausschluss nichtkaufender Mitglieder zurückführen; und weil auch im Reichsverband bei ungefähr stagnierender Mitgliederzahl zwischen 1925 und 1930 der Umsatz pro Mitglied anstieg, darf geschlossen werden, dass die Konsumvereine für ihre Kundschaft ein finanziell attraktiver Versorgungsweg blieben. Allerdings deckten nur die wenigsten Mitglieder ihren gesamten Bedarf an Nahrungsmitteln durch Einkäufe in der Verteilungsstelle und frequentierten stets auch – und in der Regel in weit überwiegendem Ausmaß – die private Konkurrenz.19 Der wichtigste Grund für den unverkennbaren, wenn auch nicht überwältigenden ökonomischen Erfolg lag in der hohen Konkurrenzfähigkeit der Konsumgenossenschaften, die sich Maßnahmen betrieblicher Rationalisierung und verbandlicher Konzentration verdankte. Heinrich Kaufmann, der führende Kopf des Zentralverbands, gab in seinen »Grundsätzen der konsumgenossenschaft­ lichen Praxis«,20 die zwischen 1907 und 1927 in vier Auflagen erschienen und in den Schulungskursen des Zentralverbandes als Vademekum zur Führung eines Konsumvereins verwendet wurden, die Marschroute der Rationa­lisierung vor: 18 Vgl. Kaufmann, Grundsätze, S. 13–32; Cassau, Konsumvereinsbewegung, S. 34; Ausschuß, Konsumvereine, S. 9, 16, 31, 49, 59; Schweikert, Sparkasse; Spiekermann, Medium, S. 170 f.; Novy u. Prinz, Geschichte, S. 143–153; Hasselmann, Geschichte, S. 414. 19 Vgl. Sywottek, Konsumverhalten, S. 79 f.; Buchheim, Konsumgenossenschaften, S. 62; Seyffert, Bedeutung, S. 119. 20 Zum Folgenden vgl. Kaufmann, Grundsätze, S. 3 f., 9, 25–32.

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Kleinere Vereine sollten sich zu Bezirkskonsumgenossenschaften21 ver­einigen, und die Revisionsverbände in den verschiedenen Ländern sollten gegenüber den einzelnen Vereinen die betriebliche Erfolgskontrolle durchführen und eine Beratungstätigkeit ausüben. Dringend wurde dazu geraten, die Einrichtung der Läden und den Bezug der Waren vollständig über die Großeinkaufsgesellschaft deutscher Consumvereine (GEG) abzuwickeln, alsbald ein Zentrallager einzurichten und einen besoldeten Geschäftsführer anzustellen. Die Entwicklung in den zwanziger Jahren zeigte, dass diese Ratschläge  – im Zentralverband entschlossener als im Reichsverband  – beherzigt wurden: Die Zahl der Vereine ging zurück, weil viele kleinere zu größeren verschmolzen, während zugleich das Ladennetz massiv ausgebaut wurde; die Zentrallager wuchsen an Zahl und Größe. Verteilungsstellenkontrolleure wurden eingesetzt und vorbildliche, zum Teil im Vorzeigeunternehmen, der Hamburger Konsumgenossenschaft »Produktion«,22 ausgebildete Verkäuferinnen als Schulungspersonal zur Supervision durch die Vereine geschickt.23 Die Maßnahmen zur Effizienzsteigerung brachten es mit sich, dass immer mehr die basisdemokra­tische und laienhafte Leitung der Vereine durch die Mitgliederversammlungen und die Lagerhalter abgelöst und von einer buchhalterisch und betriebswirtschaftlich geschulten Geschäftsführung ersetzt wurde, die von den Großbetrieben und Großhandelsorganisationen sowie den Zentralverwaltungen abhängig war. Die Bedingung für diese Entwicklung waren die von der Konsumvereinsbewegung betriebenen Novellen des Genossenschaftsrechts von 1922/23, das in Vereinen mit mehr als 10.000 Mitgliedern (seit 1926 mit mehr als 3.000) eine Vertreterversammlung zur Pflicht machte,24 da die Vollversammlungen aller Mitglieder bei wachsender Größe der Vereine zunehmend impraktikabel und besonders mit dem Ziel der wirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit unverträglich erschienen. 21 Der Bezirkskonsumverein hatte die »typischen Vorteile des Filialbetriebes«, wie Theodor Cassau erläuterte: »Er kann erstens als größerer Käufer billiger einkaufen, zweitens erspart er durch regelmäßigen Waggonbezug außerordentlich viel Fracht gegenüber dem kleineren Konsumverein, drittens ist die Verwaltung sehr viel billiger als die dezentralisierte Verwaltung in einer Reihe kleinerer Vereine […], viertens ist die Liquidität des Bezirkskonsumvereins größer als die Liquidität desselben Vermögens in vier oder fünf Teilverwaltungen mit ihren Geschäftszufällen.« (Cassau, Konsumvereinsbewegung, S. 80 f.) 22 Vgl. Totomianz, Konsumentenorganisation, S.  167–172. Der 1899 gegründete »Konsum-, Bau-, Sparverein Produktion eGmbH« war in vieler Hinsicht ein Vorreiter. Im Krieg sorgte er dafür, dass sich das Ansehen der Konsumvereine in der staatlichen Bürokratie deutlich verbesserte, indem auf Schwarzmarktmethoden verzichtet wurde und Kapazitäten für die Truppenversorgung bereitgestellt wurden. In der Zwischenkriegszeit galt die in Hamburg betriebene Ausweitung der Eigenproduktion als vorbildlich: 1930 zählte man von der Fleischwaren- bis zur Möbelfabrik 15 genossenschaftseigene Betriebe. Vgl. Rieger u. a., Konsumgenossenschaft; Judt, Genossen. 23 Schulungskurse für Filialrevisoren fanden seit 1928 auch im Reichsverband statt: vgl. ­Schloesser u. Esser, Filialrevisor, S. 16. 24 Vgl. Hasselmann, Geschichte, S. 399 f.

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Theodor Caussau, einer der besten Kenner der Materie, hielt daher das »Problem der Verbindung von Demokratie und Großbetrieb« für eine zentrale Herausforderung der Konsumvereinsbewegung, ließ aber zugleich keinen Zweifel daran, dass seines Erachtens die herkömmlichen Verwaltungsmethoden der lokalen Ebene untauglich geworden seien.25 In den Vollversammlungen grassierte, wie die Spitzenfunktionäre oft beklagten, die »Dividendenseuche«, was bedeutete, dass die Mitglieder bei der Entscheidung über die Höhe der Rückvergütungen diese zulasten der für den betrieblichen Ausbau notwendigen Investitionen in die Höhe trieben. Eine »leistungsfähige Konsumvereinsbewegung« ließ sich aber, so Cassau, »nur mit Großbetrieben schaffen«.26 Um Großbetriebe handelte es sich bei den beiden Großeinkaufsgesellschaften, der Gepag und vor allem der GEG, die zwischen 1924 und 1930 ihre Eigenproduktion begannen bzw. kräftig ausbauten. 1931 unterhielt die GEG 34 Betriebe der Nahrungs- und Genussmittelindustrie, vier Textilwarenfabriken und neun weitere Betriebe, darunter zwei Seifenfabriken, eine Möbel- und eine Papierwarenfabrik. Nachdem zuvor schon konsumgenossenschaftliche Bäckereien sich bewährt hatten, war man in großem Stil in die Fleischwarenproduktion eingestiegen. Die beiden größten deutschen Schlachtereien waren schließlich (1931) in der Hand der GEG und der Hamburger »Produktion«. Die Entwicklung der Eigenproduktion, der Handelsabteilungen, der Lager- und Verkaufsorganisation sowie des Transportapparats und der Verwaltung sprach mithin eine eindeutige Sprache: Die Konsumgenossenschaften standen an der Speerspitze der Rationalisierung im deutschen Einzelhandel.27 Um die politische Dimension der Konsumvereinsbewegung zu erfassen, ist es notwendig, auf die ihr zugrunde liegenden Theorien und Visionen einzugehen und dabei ein intellektuelles Feld auszumessen, das, heute kaum mehr sichtbar, in der Zwischenkriegszeit von großer Vitalität war. Das Politische an den Konsumgenossenschaften, die sich selbst eigentlich als wirtschaftliche und nicht als politische Gebilde beschrieben,28 bestand darin, dass nach Ansicht ihrer Protagonisten durch erfolgreiche Genossenschaftsarbeit langfristig eine grundlegende Veränderung im Verhältnis von Politik und Wirtschaft eintreten werde. Nur aus dem Inneren der Wirtschaft selbst, nämlich durch die Organisation der Verbraucher, könne eine nachhaltige Umgestaltung der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung bewerkstelligt werden. Bei der Hervorbringung der idealen Ordnung, die, je nach genossenschaftstheoretischer Ausrichtung, mit den Be25 Vgl. Cassau, Konsumvereinsbewegung, S. 11–28, 136 f., Zitat S. 26. 26 Ebd., S. 22. 27 Vgl. insgesamt zur Konkurrenzfähigkeit der Konsumvereine Hasselmann, Geschichte, S.  387–390, 397–400, 412 f., 417–425; Spiekermann, Medium, S.  168; Buchheim, Konsumgenossenschaften, S.  58–61; Cassau, Konsumvereinsbewegung, S.  36; Kaufmann, Festschrift, S. 258, 273; zur Geschäftsbilanz des Zentralverbands und der GEG vgl. ebd., S. 333, 350 f. 28 Vgl. Weber, Konsumgenossenschaften, S.  17; Staudinger, Sozialisierungsschwierigkeiten, S. 297; Kaufmann, Grundsätze, S. 35.

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griffen »Sozialismus«, »Gemeinwirtschaft«, »Bedarfsdeckungswirtschaft« oder »Volksgemeinschaft« bezeichnet wurde, hatte der Konsument daher stets neben seiner ökonomischen eine politische Funktion zu erfüllen. Bevor die Elemente des konsumgenossenschaftlichen Diskurses erläutert werden, sind dessen personale und publizistische Trägerstrukturen zu skizzieren. Der sozialistische wie der christliche Zweig der Konsumvereinsbewegung hatte seine Vordenker und Exponenten, wobei eine Unterscheidung entlang der beiden weltanschaulichen Lager nicht trennscharf möglich ist, da sich einige Autoren durch ein christlich-sozialistisches Ideenamalgam auszeichneten, das auch in der Geschichte der englischen und französischen Genossenschaften des 19. Jahrhunderts anzutreffen ist.29 Der Grandseigneur der Konsumvereine der sozialdemokratischen »Ham­ burger« Richtung war Heinrich Kaufmann (1864–1928). Der ehemalige Volksschullehrer, Mitglied der Hamburger Arbeiterbewegung, war bereits an der Gründung der GEG und des Zentralverbands 1894 bzw. 1903 maßgeblich beteiligt und blieb bis zu seinem Tod geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Verbandes. Seine Position innerhalb der Genossenschaftsbewegung war so stark,30 dass er auch nach außen als deren Repräsentant auftreten konnte: Kaufmann war Mitglied sowohl des Vorläufigen Reichswirtschaftsrates als auch des Leitenden Ausschusses des Internationalen Genossenschaftsbundes. Mit den »Grundsätzen der konsumgenossenschaftlichen Praxis« entwarf er, der eher ein erfahrener Praktiker als ein Theoretiker war, den Leitfaden, der Hunderte von autonomen Vereinen anwies, bei der Führung ihrer Geschäfte einer erprobten Strategie zu vertrauen, um den »sicheren genossenschaftlichen Weg« zu gehen und nicht durch geschäftliche Experimente wie den verfrühten Übergang zur Eigenproduktion oder dem Verkauf an Nichtmitglieder einem unnötigen Konkurs anheimzufallen.31 Dahinter stand die Leidensgeschichte der viele Vereine, die bei ihren ersten Gehversuchen im 19. Jahrhundert gescheitert waren. Die beiden wichtigsten publizistischen Organe des Zentralverbands waren die Konsumgenossenschaftliche Rundschau und das Konsumgenossenschaftliche Volksblatt. Die Rundschau erörterte vor allem theoretische und organisato­ rische Fragen und war daher primär für Verbandsfunktionäre interessant, während das Volksblatt, das in populärer Aufmachung und in einer Massenauflage erschien, zur Mitgliederwerbung und -pflege an der Basis diente.32 Als besonders aktive Autoren der Rundschau traten mit August Kasch, ihrem Schriftleiter bis 1931, und dem Philosophen Franz Staudinger zwei unterschiedliche Männer 29 Vgl. Heimann, Sozialismus, S.  159–163, 168–171; de Boyve, Christlich-Sozialen, S.  45–49; ­Sotelo, Utopie, S. 377–383. 30 Er saß zudem im Aufsichtsrat der GEG und im Vorstand der Volksfürsorge. 31 Vgl. Kaufmann, Festschrift, S. 309; Weuster, Theorie, S. 158. Zitat: Kaufmann, Grundsätze, S. 7. 32 Die jährliche Auflage der Rundschau betrug zwischen 13.000 und 26.000, die des Volksblattes zwischen 600.000 und 1,1 Mill. (1918 bzw. 1928). Vgl. Kaufmann, Festschrift, S. 386, 392.

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in Erscheinung. Der Journalist Kasch dokumentierte in zahlreichen, oft polemischen Artikeln die laufenden Auseinandersetzungen um Fragen der Steuerpolitik, der politischen Neutralität, der öffentlichen Verbrauchervertretung und vieles mehr und prägte auf diese Weise die politische Programmatik des Zentralverbands. Der von den Marburger Neukantianern beeinflusste Staudinger, dessen Genossenschaftstheorie eine Synthese von Kant und Marx anstrebte, schuf hingegen das ideelle Fundament der Bewegung.33 Als er im Jahr 1921 starb, schrieb nicht ohne Grund Ferdinand Tönnies in der Rundschau seinen Nachruf. Tönnies war dort regelmäßiger Gastautor, der Staudingers Vorstellung von der Genossenschaft als einem zukunftsträchtigen Gesellschaftsmodell teilte, da er in ihr die Verbindung zweckrationaler Vergesellschaftungsmomente mit gemeinschaftsstiftenden Prinzipien zu erkennen glaubte.34 Ohne ein Teil des Hamburger Netzwerks zu sein, bewegte sich der Tübinger Nationalökonom Robert Wilbrandt in einem verwandten, von Sozialismus und Neukantianismus geprägten theoretischen Bezugsrahmen, der bei ihm einen deutlich religiösen Einschlag hatte. Als eines der wenigen Mitglieder seiner Zunft fiel er durch eine intensive Lehr- und Publikationstätigkeit zum Konsumgenossenschaftswesen auf und war in dieser Hinsicht einflussreich: Kurz vor dem Krieg veranlasste er den Verein für Sozialpolitik zu seinen Unter­suchungen über Konsumvereine und wurde als Experte für Genossenschaftsfragen in die Sozialisierungskommission 1918/19 berufen. Als Schüler Wilbrandts trat vor allem Theodor Cassau hervor, der die beste zeitgenössische Analyse zum Genossenschaftswesen vorlegte.35 Der Reichsverband wiederum hatte seine eigenen, publizistisch aktiven Gewährsleute. Vergleichbar der Stellung Kaufmanns im Zentralverband war der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende Peter Schlack (1875–1957) als Gründer und Verbandsdirektor der »Übervater« des Reichsverbands. Schlack war katholisch sozialisiert und hatte vor dem Krieg gegen den Willen Kaufmanns den Zusammenschluss der christlichen Konsumvereine betrieben und durchgesetzt. Von 1918 bis 1933 saß er als Abgeordneter des Zentrums im Reichstag. Die Publikationstätigkeit Schlacks wurde vor allem durch seinen Kol33 Am deutlichsten wird das in Staudinger, Bedeutung, S. 774–789; vgl. zudem ders., Wegnotwendigkeiten; ders., Konsumgenossenschaft. 34 Vgl. zu Kasch und Staudinger die Jahrgänge der Konsumgenossenschaftlichen Rundschau bis 1921, passim; dazu auch Tönnies, Nachruf Franz Staudinger, S.  557–559. Zu Tönnies vgl. ders., Genossenschaft, S.  293 f.; ders., Egoismus, S.  235 f.; ders., Ökonomie, S.  597 f.; ders., Ethik, S.  631 f., 650 f., 663 f. Zur Publikationstätigkeit des Zentralverbands vgl. den nützlichen bibliographischen Überblick in Kaufmann, Festschrift, S. 395–528. Als weitere besonders aktive Autoren seien genannt: Robert Schweikert, dessen Fachgebiet das Fort­ bildungswesen und die Werbearbeit der Konsumvereine war, sowie Franz Feuerstein (MdR, 1920–24). 35 Vgl. Wilbrandt, Kapitalismus, S.  413 f.; ders., Sozialismus, bes. S.  89–134; ders., Konsum­ genossenschaften; Cassau, Konsumvereinsbewegung. Zu Wilbrandt vgl. auch Schragmüller, System, S. 193–224; Fäßler, Professor, S. 304–315; Marcon u. Strecker, Jahre, S. 389–398.

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legen im Vorstand des Reichsverbands, Robert Schloesser, ergänzt.36 Dieser initiierte nicht nur reichsweite Bemühungen, eine öffentlich-rechtliche Vertretung der Konsumenten durch die Einrichtung von Verbraucherkammern zu erreichen; er war auch der Herausgeber und Autor der »Verbrauchergenossenschaftlichen Bücherei«, einer propagandistisch angelegten Schriftenreihe, die insbesondere die Verbreitung des Genossenschaftsgedankens in der katholischen Soziallehre dokumentierte. Sowohl Theodor Brauer, der bislang ausschließlich als Theoretiker der christlichen Gewerkschaften gilt, als auch der Theologe und Nationalökonom Oswald von Nell-Breuning, der als Autor der Sozialenzyklika »Quadrogesimo Anno« bekannt ist und dessen Stellung in der gebildeten katholischen Öffentlichkeit kaum überschätzt werden kann, priesen in dieser Reihe die versittlichende Wirkung der Konsumvereine und deren Prinzip der Bedarfsdeckungswirtschaft.37 An die eigenen Mitglieder schließlich wandte sich der Reichsverband mit einer Zeitschrift, für die ebenfalls Schloesser als Redakteur verantwortlich zeichnete und die seit dem Oktober 1924 unter dem Titel Konsumverein. Zeitschrift für die deutsche Hausfrau und ab Juli 1925 als Die Genossenschaftsfamilie erschien. Damit ist das intellektuelle Feld abgesteckt, auf dem in der Weimarer Republik die Konsumgenossenschaftstheorie gedieh, die eine Wahlverwandtschaft zwischen einem revisionistischen Sozialismus und der katholischen Soziallehre erkennen ließ. In beiden Deutungssystemen erschienen die Konsumvereine als eine Alternative zu dem rasch diskreditierten Staatssozialismus einerseits und zu dem in seiner Legitimität nicht weniger beschädigten liberalen Kapitalismus andererseits und repräsentierten daher etwas, was heute unter der Bezeichnung »Dritter Weg« firmieren würde.38 Um diesen Weg näher zu charakterisieren, lassen sich einige der im konsumgenossenschaftlichen Diskurs regelmäßig wiederkehrenden Vorstellungen herauspräparieren, die das historische Bewusstsein und die Zukunftsvision der Bewegung sowie ihre gesellschaftliche Pro­ blemanalyse und die Bedeutung der Konsumvereine als gesellschaftspolitisches Heilmittel thematisieren. Als historische Vorbilder galten der Konsumvereinsbewegung der Weimarer Republik weniger ihre deutschen Vorläufer, wie es aus der Sicht einer na­ tionalstaatlich zentrierten Geschichtsschreibung vielleicht zu erwarten wäre, als vielmehr die »Redlichen Pioniere von Rochdale«, die Begründer der Konsum­ genossenschaften, die 1844 mit dem ersten funktionierenden Konsumverein den Grundstein der mächtigen britischen Bewegung legten. An den Prinzipien, welche die Weber um Robert Owen und William King aufstellten: demokra36 Vgl. nur die Schriften: Schlack, Reichsverbandes; ders., Stellung; ders., Mitbesitz; Schloesser, Gütervermittlung; ders., Konsument; ders., Frauenfrage; ders., Genossenschaftswesen. Vgl. zudem Weuster, Theorie, S. 255–257; Klein, Selbsthilfe, S. 176. 37 Zu Brauer vgl. Brauer, Gemeinschaft; ders., Konsumgenossenschaftsbewegung; ders., Grunz u. Schloesser, Konsumgenossenschaft. Zu v. Nell-Breuning vgl. v. Nell-Breuning, Konsumvereine; ders., Rationalisierung; ders., Wirtschaft. Vgl. auch Weuster, Theorie, S. 297–305. 38 Vgl. Furlough u. Strikwerda, Economics, S. 2 f.; Lüdders, Suche.

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tische Struktur, politische und religiöse Neutralität, Barzahlung, Rückvergütung nach Höhe des Einkaufs, hielten auch die deutschen Genossenschafter achtzig Jahre später fest. Die genossenschaftlichen Betätigungen der 1850/60er Jahre von Hermann Schulze-Delitzsch, Victor Aimé Huber und Eduard Pfeiffer wurden im Rahmen der Traditionsbildung in den einschlägigen Darstellungen zwar anerkannt, jedoch überwogen im Zentralverband die distanzierenden Bewertungen. Schulze-Delitzsch, der Genossenschaften als Mittel zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des kleingewerblichen Mittelstands betrachtete, habe mit dieser Haltung der Bewegung langfristig sogar geschadet, wie Wilbrandt argumentierte, weil damit die Gegnerschaft Lassalles verstärkt worden sei, dem die Konsumvereine als soziales »Beruhigungsmittel« der Arbeiterbewegung erschienen. Auch dem sozialkonservativen Huber habe, so Cassau, die »Fühlung mit den Arbeitern« gefehlt, während es den lobenswerten Bemühungen Pfeiffers um Arbeiterkonsumvereine in Württemberg an der geeigneten sozialen Basis mangelte.39 Der englische Industrialisierungsvorsprung wurde als Bedingung einer auf proletarischer Massenbasis beruhenden Konsumvereinsbewegung identifiziert, die, weil prinzipientreu geführt, sich einen der Höhe der wirtschaftlichen Entwick ­lung entsprechenden Organisationsvorsprung vor ihren europäischen Schwesterorganisationen erhielt. Das machte Großbritannien zum bevorzugten Ziel von Studienreisen ausländischer Genossenschafter, so dass sich etwa die große deutsche Delegation im Jahr 1913 von der ökonomischen Potenz und der Modernität der bereits intensiver auf Außenwirkung bedachten britischen Vereine tief beeindruckt zeigte.40 Zugleich waren sich besonders die historischmaterialistisch informierten Theoretiker wie Franz Staudinger bewusst, dass ein simpler Transfer des britischen Organisationsmodells noch nicht dessen Erfolg in Deutschland garantierte. Er wies deshalb darauf hin, dass erst unter bestimmten sozioökonomischen Bedingungen der transnationale Lernprozess der Genossenschafter aussichtsreich gewesen sei: »Man sagt, die Konsumvereinsbewegung habe sich von England aus in alle anderen Länder verbreitet. Richtig aber ist wohl: Das Bedürfnis nach einer Konsumvereinsbetätigung hat sich allenthalben gezeigt, nachdem das Kapitalsystem sich auf eine bestimmte Stufe entwickelt hatte. Und wo das geschah, da studierte man natürlich, was anderwärts auf diesem Gebiete geleistet war, und bildete es […] den jeweiligen Verhältnissen gemäß um und weiter.«41 Für den Erfolg der Bewegung musste die 39 Vgl. Wilbrandt, Konsumgenossenschaften, S. 22; Cassau, Konsumvereinsbewegung, S. 1–4 (Zitat S. 2); Schloesser, Art. Konsumgenossenschaft, S. 561–564; vgl. zudem Fairbairn, Rise, S. 270–277. 40 Vgl. Cassau, Konsumvereinsbewegung, S. 34; Wilbrandt, Kapitalismus, S. 437; Kaufmann, Festschrift, S.  147. Wie Kaufmann in einer Rede als Gast des 54. britischen Genossenschaftstages noch 1922 feststellte: »For since twenty-five years the British movement has been a model for the development of the German distributive societies. […] Even to-day we still come to you as students.« (BA, R 3101, 10590, Bl. 83) 41 Staudinger, Konsumgenossenschaft, S. 47.

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Zeit reif sein, und das war sie in Deutschland offenbar seit den 1890er Jahren, als mit einer Gründungswelle von Konsumvereinen der bis in die Zwischenkriegszeit anhaltende Mitgliederzuwachs einsetzte.42 Das Reifestadium des Kapitalismus ließ sich darüber hinaus theoretisch erfassen. In seinem Beitrag über Konsumvereinspolitik im »Grundriss der Sozialökonomik« erläutert Wilbrandt, dass die moderne Wirtschaftsgeschichte als ein sich verschärfender Gegensatz zwischen den lohn- und gehaltsabhängigen Konsumenten einerseits und den kapitalistischen Produzenten und Händlern andererseits zu verstehen sei.43 In der »Epoche der Konkurrenz« im ersten und zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts sei die Position der Konsumenten zum Kapitalismus noch ambivalent gewesen: Einerseits hätten sie unter den Bedingungen des um Absatzmärkte kämpfenden Produzentenwettbewerbs vom Gesetz der Massenproduktion profitiert, das die Preise tendenziell auf die Herstellungskosten herabdrücke, andererseits seien ihnen »Konkurrenzkosten« aufgebürdet worden, die in Qualitätsverschlechterungen und Verfälschungen von Produkten sowie vor allem in den »Spesen des Absatzkampfes«: einem wachsenden Handelsnetz, steigenden Werbungskosten und den bedürfnisweckenden Erscheinungen der Mode, bestünden. In der »Epoche des Monopols« hingegen, in der sich die deutsche Volkswirtschaft, dem hohen Kartellierungsgrad nach zu urteilen, seit Ende des 19. Jahrhunderts und erst recht nach dem Ersten Weltkrieg befinde, sei der Ausbeutung des Konsumenten gänzlich Tor und Tür geöffnet, da dieser nun vollständig vom Preisdiktat der organisierten Produzenten abhängig sei. Das gelte um so mehr, seit auch die Arbeiter als Produzenten organisiert seien und sich durch Tarifverträge zu schützen wüssten. »Ausbeutbar wurden sie statt dessen als Konsumenten. Mehr und mehr ist dies auch in Europa der Weg des geringsten Widerstandes geworden.«44 Auch Franz Staudinger stellt die Tauschverhältnisse in den Mittelpunkt seiner Gesellschaftsanalyse.45 Er unterscheidet zwischen einem »Kontrahentenverhältnis« und einem »Konkurrenzkampf« der am Austausch von Ware, Geld oder Arbeitskraft interessierten Wirtschaftsakteure. Dass es zwischen Kontrahenten wie Arbeitern und Kapitalbesitzern (die aber nur die prominentesten Kontrahentengruppen darstellen) unter den Bedingungen faktisch ungleicher Kapital- und Kräfteverhältnisse zu einem ungleichen Tausch und, sofern sie sich organisierten, zum Klassenkampf käme, erschien Staudinger im Gegensatz zur marxistischen Orthodoxie nicht den zentralen gesellschaftlichen Konflikt zu berühren; denn diese Kontrahenten blieben letztlich auf den Tausch und damit auf ein Minimum an Gegenseitigkeit angewiesen, was den wirtschaft42 Vgl. Prinz, Brot, S. 236–245. 43 Zum Folgenden vgl. Wilbrandt, Kapitalismus, S. 414–424; ders., Konsumgenossenschaften, S. 15–18; ders., Sozialismus, S. 60. 44 Ders., Kapitalismus, S. 424. 45 Vgl. zum Folgenden Staudinger, Klassenkampf, S. 301–304; ders., Produzenten, S. 309–311; ders., Wegnotwendigkeiten, S. 7–31.

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lich Schwächeren die Gelegenheit gebe, auf dem Weg politischer und recht­licher Kämpfe für eine Herstellung gleichberechtigter Tauschbedingungen einzutreten. Weitaus folgenreicher ist für Staudinger der Konflikt, der entsteht, wenn zu einem zweiseitigen Tauschverhältnis eine dritte Partei als Konkurrent hinzutritt. Bei Konkurrenzkämpfen gehe es stets darum, den »Nebenbuhler aus einer von ihm begehrten Tauschbeziehung zu verdrängen«46 und nicht nur wie im Fall der Kontrahentenkämpfe die Tauschbedingungen zu den eigenen Gunsten umzugestalten. Die Konkurrenz um tauschwillige Partner – und darunter falle vor allem der Kampf um den Absatz von Waren – nehme im Kapitalismus einen unausweichlichen Verlauf: Der Versuch, bessere und billigere Waren zu verkaufen, führe zunächst zu einer technischen Höherentwicklung der Produktion, schreite aber bald zur bloßen »Vorspiegelung von besserer Ware«,47 sprich: zu Werbung und sonstigen Ästhetisierungen fort. Schließlich laufe alles auf das Bemühen um eine Monopolstellung hinaus, die es nötigenfalls durch politische Machtmittel wie Gesetze und Kriege zu verteidigen gelte. Als erste sichtbare Zeichen dieser Entwicklung erschienen die kartellbedingten Preissteigerungen der Vorkriegszeit sowie der Krieg selbst, der nichts anderes als eine Auseinandersetzung der nationalstaatlich protegierten Monopolisten sei. Nicht mehr die Ausbeutung der Arbeiter durch das Kapital, sondern die der Konsumenten durch den Handel – bei Marx ein kaum explizierter Nebenwiderspruch – stellte nach Staudinger den wesentlichen Interessengegensatz im modernen Kapita­lismus dar.48 Die Genossenschaftstheorie entwarf mithin eine Spielart des Interpretationsschemas vom »Organisierten Kapitalismus«, das gerade in der Kriegs- und Inflationszeit durch die Schriften von Rudolf Hilferding eine erhebliche Breitenwirkung entfaltete.49 Zwar ging es hier nicht um die zunehmende Durchdringung staatlicher und unternehmerischer Lenkungsfunktionen, doch die Betonung der Monopolbildung und die Diagnose der Ablösung der wirtschaftlichen Konkurrenz durch die Organisation waren für die Vordenker der Verbraucherbewegung ebenso zentral wie für Hilferding; und auch sie erkannten im gesellschaftlichen Funktionsprinzip der Organisation eine dialektische Kraft: Ähnlich wie dieser auf die Affinität von kapitalistischer und sozialistischer Planung abhob, sahen Wilbrandt, Staudinger und die anderen den Ausweg in der planmäßigen Konzentration des Handels in den Händen der Verbraucher. Der Konsument schien den preissteigernden und qualitätsverschlechternden Machenschaften des privaten Handels schließlich nicht rettungslos ausgeliefert, denn – und in dieser Erkenntnis besteht tatsächlich die historische Leistung der Konsumvereinsbewegung  – der Verbraucher war zwar individuell das schwächste Glied 46 Ebd., S. 19. 47 Ebd., S. 20. 48 Vgl. auch Staudinger, Bedeutung, S. 781–789; Totomianz, Konsumentenorganisation, S. 31– 35, 46–51. 49 Vgl. Hilferding, Finanzkapital; ders., Probleme, S.  1–17; Winkler, Bemerkungen, S.  9–18; Feldman, Kapitalismus, S. 150–171.

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der profitwirtschaftlichen Kette, als Kollektiv organisiert konnte er jedoch zum Machtfaktor werden. Letztlich bestimmten ja die Verbraucher durch ihre Kaufentscheidungen, wohin die Profite fließen sollten. In den Konsumgenossenschaften schien sich nun die verborgene Macht des »letzten Verbrauchers«50 zu materialisieren und zur Ausübung zu gelangen, so dass das hoffnungsfrohe Kalkül formulierbar wurde, dass die Profitwirtschaft zurückgedrängt würde, je mehr sich die Konsumenten mit ihresgleichen zusammenschlossen. Organisation und Planung bildeten daher das zentrale Strukturmerkmal der Konsumgenossenschaften, das auch im Selbstverständnis ihrer Vertreter die herausragende Stellung einnahm. Kein anderes Thema wird in der Genossenschaftsliteratur in dieser Häufigkeit besprochen wie die Notwendigkeit und Überlegenheit des »organisierten Konsums«.51 Das teilweise bereits realisierte wirtschaftliche Erfolgsmodell der Konsumvereine sah es vor, dass den Vorteilen des genossenschaftlichen Großeinkaufs sukzessive der Ausbau der Eigen­ produktion folgen würde, so dass die Marktmacht der organisierten Verbraucher wachsen und sich mit der Zeit in eine – letztlich politische – Macht zur Systemveränderung verwandeln würde. Die Äußerungen der Vordenker zeigen, wie viel bei diesem Projekt auf dem Spiel stand: Für Peter Schlack, den Kopf der eigentlich gemäßigteren christ­ lichen Konsumvereine, war das »Endziel« der Bewegung nichts Geringeres als die »Ausschaltung von Profitsucht und Wucher, zweier Übelstände der privatwirtschaftlichen Wirtschaft, die das ganze Volksleben verpesten und den größten Feind einer idealen Volksgemeinschaft bilden«.52 Auch Schlacks katholische Gesinnungsgenossen Brauer und v. Nell-Breuning glaubten, dass es den Konsumvereinen gelingen könne, an die Stelle der noch vorherrschenden liberal-­ kapitalistischen Wirtschaft, die hinsichtlich des Konsums »anarchisch, ziellos und […] als Ganzes betrachtet absolut irrational« sei, eine »bedarfsgerichtete« zu setzen. In dieser höheren Wirtschaftsform werde, der genossenschaftlichen Organisation sei dank, nur für jenen »wahren, wertechten Bedarf« produziert, der im Sinne eines wohlverstandenen Menschenbildes auch »befriedigungswürdig« sei. Dieser Vorstellung nach existierte eine natürliche Rangordnung der Bedürfnisse, die in dreifacher Hinsicht zur Geltung zu bringen war. Erstens musste unter den Konsumvereinsmitgliedern selbst auf dem Weg der Selbstdisziplinierung und Erziehung der Sinn für die »wahren« Bedürfnisse gestärkt werden; zweitens galt es, die Produktion so zu beeinflussen, dass Waren herge50 Vgl. Verbraucher heraus! in: Vorwärts, Nr. 555, 30.10.1919; Die Rechte des »letzten Verbrauchers«, Berliner Tageblatt, zit. in: KR 17 (1920), S. 191 f. 51 Vgl. Wilbrandt, Wesen, S. 61; ders., Sozialismus, S. 53; ders., Kapitalismus, S. 432; Schloesser (Hg.), Konsumgenossenschaft, passim; Kaufmann, Grundsätze, S. 9; Staudinger, Wegnotwendigkeiten, S. 36–45; Cassau, Konsumvereinsbewegung, S. 11–29; Warbasse, Demokratie, S. 55 f. 52 Schlack, Stellung, S.  4. Vgl. zum Volksbegriff auch ders., Standes-Genossenschaftsbewegung, S. 17 f.; Schröder, Konsumgenossenschaft, S. 13; Kaufmann, Grundsätze, S. 6; Müller, Entwicklung, S. 302 f.

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stellt würden, die der Bedürfnishierarchie angemessen waren, was idealerweise durch den Übergang zur genossenschaftlichen Eigenproduktion gelang; drittens war auf alle jene Methoden der Suggestion und Bedarfsweckung zu verzichten, die in der Privatwirtschaft zu einer gezielten Verwirrung der natür­ lichen Ordnung der Bedürfnisse führten.53 Im Zentralverband pries Heinrich Kaufmann die Vorzüge der konsum­ genossenschaftlichen Planmäßigkeit als Schlüssel zu einer verteilungsgerechten Wirtschaftsordnung. Für ihn musste es das Ziel der Bewegung sein, »an die Stelle einer individualistischen und kapitalistischen, auf Profitstreben und einer ungerechten Verteilung des Arbeitsertrages beruhenden Produktion für den Markt […] eine gemeinnützige genossenschaftliche Bedarfsdeckungswirtschaft der Produktion für den organisierten Konsum setzen [zu] wollen, die zu einer gerechten Verteilung des Arbeitsertrages führt«.54 Die gezielte Produktion für einen als bekannt vorausgesetzten Bedarf sollte demnach langfristig das überlegene Allokationsmodell darstellen, womit eine Befreiung von den kapitalistischen Flüchen der zyklischen Krisen, der profitwirtschaftlichen Ausbeutung und der Verschwendung in Aussicht gestellt wurde. Staudinger brachte diesen Zustand auf den Begriff der »geregelten Tauschgemeinschaft«.55 Ein durch das Verhältnis von Nachfrage und Angebot bestimmter Austausch von Gütern finde auch in der genossenschaftlichen Tauschgemeinschaft statt, jedoch würde nicht mehr spekulativ und mit Gewinnabsicht produziert, da die Produzenten vollständig vom Konsumenteninteresse abhängig seien: »In einer Gemeinschaft bestimmt notwendig das Gebrauchsbedürfnis und nicht der Produzentenwille, was zu erzeugen ist.«56 Die Konsumentensouveränität war dieser Vorstellung nach absolut, da auch der Preis als Regulator von Angebot und Nachfrage ausgeschaltet sein musste, wenn eine preissteigernde »Nachfragekonkurrenz« der Verbraucher vermieden werden sollte. Im Fall einer über das Angebot gestiegenen Nachfrage müsse eben – das schien Staudinger das kleinere Übel als der verderbliche Preismechanismus  – vorübergehend eine Rationierung stattfinden. Charles Gide, der führende französische Konsumvereinstheoretiker, der auch die deutsche Genossenschaftspublizistik anregte, glaubte sogar das gesamte Programm der Bewegung auf die Formel von der »Verwirklichung des gerechten Preises« bringen zu können. Dieser sei lediglich so hoch wie die unbedingt notwendigen Produktionskosten und widersetze sich sowohl aller ungerechtfertigten Profite wie auch jeder Form von Reklame und jeder sonstigen Handelspraxis, die als betrügerisch oder verschwenderisch verstanden wurde.57 53 Zitate bei v. Nell-Breuning, Wirtschaft, S. 4; vgl. zudem Brauer, Bedeutung, S. 9–14; ­Schloesser, Gehalt, S. 42 f.; Warbasse, Demokratie, S. 49, 55 f. 54 Kaufmann, Ziel, S. 132. 55 Staudinger, Wegnotwendigkeiten, S. 36. 56 Vgl. ebd., S. 36–45; Zitat: S. 39. 57 Gide, Preis, S. 119. Dieselbe Ansicht äußerte – lange vor Gide – Lujo Brentano: vgl. Brentano, Preis, S. 121–123; ebenso Brauer, Konsumgenossenschaftsbewegung, S. 13; zu Gide vgl. ­Totomianz, Konsumentenorganisation, S. 27–37; Williams, Dream Worlds, S. 276–321.

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Wie diese Aussagen zeigen, war das Vertrauen der Genossenschafter in die Planbarkeit des Wirtschaftsprozesses im allgemeinen und in die Berechen­ barkeit der Konsumbedürfnisse im besonderen ausgeprägt. An utopischem Denken und Gestaltungsoptimismus bestand demnach kein Mangel in der Konsumvereinsbewegung, deren Zukunftsfähigkeit von allen ihren Vertretern wieder und wieder beschworen wurde.58 Auch Tönnies bescheinigte ihr, »einen der wenigen fruchtbringenden sozialen Zukunftsgedanken« entwickelt zu haben, und teilte die für die Verbandsfunktionäre und ihre Meisterdenker ty­ pische Heilserwartung: »Je mehr die Genossenschaft eine soziale Macht wird, um so mehr wird die kapitalistische Gesellschaftsordnung von innen her durch die in ihr selbst entwickelten Kräfte über sich hinausgehoben und in eine höhere soziale Ordnung, die man die sozialistische oder die genossenschaftliche nennen mag, auf streng gesetzmäßige, friedliche und innerlich gesunde, mithin auf dauerhafte Art umgewandelt.«59 Damit war zwar nicht gesagt, dass der Erfolg der Bewegung als ausgemacht galt, denn es wurden regelmäßig auch skeptische Stimmen vernommen, die den Wettkampf zwischen Konsumentenorganisation und Privatwirtschaft für unentschieden hielten.60 Kaum ein Zweifel bestand jedoch über die grundsätzliche Machbarkeit, die Wirtschaft in der geschilderten Weise nach genossenschaftlichen Prinzipien zu organisieren. Auch im Reichsverband, in dem Peter Schlack ursprünglich eine moderatere Ziel­ vision vorgab: die Ausbildung einer konsumgenossenschaftlichen Gegenmacht, welche die Profitwirtschaft in ihre vernünftigen Grenzen zu weisen habe, setzte sich im Laufe der zwanziger Jahre eine teleologische Transformationsperspektive durch – auch bei Schlack selber und wohl nicht zuletzt unter dem Einfluss der weiterreichenden Konzepte Schloessers und Brauers.61 Der Entwicklungszuversicht der Genossenschaftsbewegung wurden darüber hinaus durch ihre transnationale Vernetzung wichtige Impulse verliehen. Gide erläuterte den Master-Plan der »Genossenschafter aller Länder«, der darin bestehe, zunächst den Handel, dann die gewerbliche Industrie und schließlich die Landwirtschaft unter genossenschaftliche Kontrolle zu bringen, und wies darauf hin, dass England auf diesem Weg schon ein gutes Stück vorangekommen sei – was bei aller Vorbildlichkeit der englischen Konsumvereine eine mehr als

58 Vgl. Müller, Einleitung, S. 10 f.; Wilbrandt, Wesen, S. 61; ders., Konsumgenossenschaften, S. 5–15; Peus, Politik, S. 526; Laufkötter, Konsumgenossenschaften, S. 163. 59 Tönnies, in: Schloesser (Hg.), Konsumgenossenschaft, S. 38. 60 Vgl. Weber, Konsumgenossenschaften, S.  96–118; Lederer, Versuch, S.  112 f.; Staudinger, ­Abbau, S. 21 f. 61 Vgl. Schlack, Mitbesitz, S. 11; Brauer, Konsumgenossenschaftsbewegung; v. Nell-Breuning, Geleitwort, S. 10; zudem: Weuster, Theorie, S. 297–304. Schloesser stellte schon 1914 fest: »Der Zentralverband deutscher Konsumvereine sowie der Reichsverband haben […] aus­ gesprochen sozialistische Tendenzen. Ich verstehe hier unter Sozialismus die Bedeutung des Wortes im revisionistischen Sinne ›die Bewegung zu oder der Zustand der genossenschaftlichen Gesellschaftsordnung‹.« (Schloesser, Gütervermittlung, S. 24)

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optimistische Beurteilung ihrer Stärke war.62 Den vielleicht am meisten beachteten ausländischen Beitrag lieferten aber die international anerkannten Genossenschaftstheoretiker und Begründer der Fabian Society: Beatrice und Sydney Webb. Ihr »Consumers’ Co-operative Movement« erschien 1924 in deutscher Übersetzung in zwei Teilen, die von den Professoren August Müller und Julius Hirsch, beide erfahrene Ministerialbürokraten und Experten des Genossenschafts- bzw. Einzelhandelwesens, mit ausführlichen Einleitungen versehen wurden.63 Die Webbs forderten, in der »genossenschaftlichen Gemeinwirtschaft« – so wurde das von ihnen anvisierte »Cooperative Commonwealth« ins Deutsche übertragen – müsse eine »Suprematie der Gemeinschaft, organisiert als Konsumenten und Staatsbürger, über das Eigentum, die Direktion und Ausführung der Industrien und Dienste« herrschen.64 Der einleitende Kommentar Müllers, der als Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium die Grenzen einer staatlichen Interventionspolitik kennengelernt hatte, verdeutlicht, welche Hoffnungen auch in Deutschland auf die Konsumvereinsbewegung gesetzt wurden. Müller erblickte in der Bedarfsdeckungswirtschaft ein sozialistisches Prinzip, das im Gegensatz zu den überstürzten Sozialisierungsplänen der Revolutionszeit Aussicht auf Realisierung biete und sich dabei eine im positiven Sinne utopische Dimension bewahrt habe. Wie die Webbs glaubte auch er, dass die Konsumgenossenschaft, »die allergrößte soziale Bedeutung gewinnen kann, wie sich am augenscheinlichsten in Großbritannien, dem klassischen Lande der Konsumgenossenschaftsbewegung studieren läßt«.65 Die Überzeugung, der Konsumverein sei das soziale Modell der Zukunft, stützte sich demnach auf die eigene ökonomische Erfolgsgeschichte, auf eine halb philosophisch, halb nationalökonomisch vorgetragene Kapitalismuskritik sowie auf die Gewohnheit, die zeitgenössische britische Bewegung als Zukunftsbild der deutschen zu interpretieren. Das Bewusstsein von der Mission der Verbraucherbewegung wurde noch dadurch verstärkt, dass den Genossenschaften eine hohe sozialmoralische Wirkung zugeschrieben wurde. Staudinger war davon überzeugt, dass gerade ihr »sittigender Einfluß«66 das Paradoxon sozialistischer Aufbauarbeit beseitigen werde, das darin bestand, dass die bessere Gesellschaftsordnung nur schwerlich mit den im Geist des Kapitalismus befangenen, »schlechten« Menschen geschaffen werden konnte, dass deren moralische Verfassung sich aber zugleich nicht 62 Vgl. Gide, Genossenschaftsprogramm, S. 112–118; Gurney, Culture. 63 Vgl. Webb u. Webb, Genossenschaftsbewegung; dies., Gemeinwirtschaft. Lujo Brentano hatte bereits 1893 Beatrice Potter-Webbs »Die britische Genossenschaftsbewegung« herausgegeben – ein Text, der nach wie vor rezipiert wurde: vgl. Schloesser, Verbraucherliteratur, S. 200. 64 Webb u. Webb, Gemeinwirtschaft, S. 95. 65 Müller, Einleitung, S. 17. Kaufmann schrieb 1921: »Wir dürfen daher mit Recht sagen, daß […] die britische genossenschaftliche Gegenwart unsere deutsche Zukunft ist.« (Kaufmann, Blick, S. 36) 66 Staudinger, Konsumgenossenschaft, S. 35.

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ohne eine Veränderung der verhaltensprägenden sozialen Praxis verbessern werde. Auch Werner Sombart glaubte: »Die Stärke der Genossenschaft als eines sozialen Umgestaltungsprinzips liegt […] darin, daß sie die Reformen mit dem kanaillesken Menschen von heute durchzuführen vermag.«67 In der Genossenschaft bildete sich im Schoße der kapitalistischen Gesellschaft die Quelle einer höheren Moral, da hier jedes Mitglied erkennen musste, dass Eigeninteresse und Gemeinsinn zusammenfielen: denn je stärker die Genossenschaft wirtschaftlich, desto vorteilhafter auch die Güterversorgung für den Einzelnen. Erst in der Gemeinschaft der organisierten Konsumenten konnte, so Staudinger, der kategorische Imperativ Kants zur Geltung kommen, ungehindert von den Egoismen, die ihm in der Zeit der Konkurrenzkämpfe noch zuwider liefen, und alle Tugenden der Gemeinschaftlichkeit seien die natürliche Folge: Die Wahrhaftigkeit war in der redlichen Handelspraxis, die Gerechtigkeit in der Rechtsgleichheit der Mitglieder wie in der materiellen Verteilung begründet, und die Friedfertigkeit ergab sich aus der Konvergenz der Interessen.68 Besonders von den Vertretern des Reichsverbands69 wurde die Nähe zwischen christlicher Ethik und den gemeinschaftsbildenden Kräften der Konsum­ genossenschaft hervorgehoben. Theodor Brauer attestierte den Konsumvereinen in einem Rundfunkvortrag im Jahr 1929 eine »ganz außerordentliche sozial-ethische Bedeutung«, die er nicht zuletzt daran erkannte, dass sie die »Entproletarisierung der breiten Schichten« beförderten und dem Wucher, Lieblingsfeind christlicher Wirtschaftsethik, die Grundlage entzögen und quasi automatisch  – durch das profitlose Genossenschaftsprinzip  – den schon von Thomas von Aquin angemahnten »gerechten Preis« verwirklichten.70 Ein Vermächtnis der utopischen Sozialisten: die »moralische Ökonomie« der Konsumgenossenschaftsbewegung, war daher noch ein Jahrhundert nach ihren Vor­ läufern präsent.71 Doch auch wenn ihre Zielvorstellung, individualistisches Gewinnstreben durch altruistische Regungen ersetzen zu können, utopische Züge trug: Der Weg dorthin war durch und durch reformistisch konzipiert. Sämtliche Autoren 67 Sombart, Schlußwort, S. 278. 68 Vgl. Staudinger, Konsumgenossenschaft, S. 29–35. 69 Doch nicht nur von diesen: Auch Wilbrandt hatte schon 1913 auf dem Evangelisch-sozialen Kongreß über die Bedeutung der Konsumgenossenschaften für die christliche Ethik gesprochen, und der Werkbund-Anhänger Bruno Rauecker verwies auf die ursprüngliche Bedeutung christlicher Moraltheorien für die Genossenschaften. Vgl. Wilbrandt, Sozialismus, S. 100–125; Rauecker, in: Schloesser (Hg.), Konsumgenossenschaft, S. 29 f. 70 Brauer, Bedeutung, S. 13; ders., Konsumgenossenschaftsbewegung. Der Generalpräses der evangelischen Arbeitervereine Alfred Grunz geriet in Verzückung: Die Ethik müsse ja »blind sein, wenn sie nicht sieht, wie in der Konsumgenossenschaft, in ihrem Aufbau, in ihrem freiwilligen Zusammenschluß, in ihrem Streben nach Sauberkeit und Leistungshöhe, in ihrer Rückvergütung, in ihrer Vereinigung sonst toter Einzelkräfte zu lebendigem, gemeinsamen Wirken, die Wirklichkeit ihr geschenkt ist, die sie als Ethik so brennend sucht«. (Grunz, Konsumgenossenschaftswesen, S. 24) 71 Vgl. Furlough u. Strikwerda, Economics, S. 8.

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stimmten darin überein, dass die ersehnte Systemtransformation nur als graduelle Entwicklung und nicht als radikaler Umbruch gelingen konnte. So kam es auch, dass der Begriff des Weges zu einer Prominenz gelangte, die unter idealistisch gestimmten Theoretikern selten ist: Staudinger erörterte die »Wegnotwendigkeiten« der Bewegung, und die von Kaufmann und Schlack verfassten Leitfäden zur Gründung und Führung von Vereinen wollten das »Wegbewußtsein« fördern.72 Gerade darin wähnten sich die Genossenschafter anderen, an Gesellschaftsreform interessierten Kräften überlegen, dass sie eine Methode gefunden zu haben glaubten, die unter der Voraussetzung von Zeit und Prinzipientreue sicher zum Erfolg führen würde. Jede Form von dekretierter, überstürzter und erst recht gewalttätiger Veränderung  – wie es sie in den Tagen von Revolution und Zwangswirtschaft reichlich gegeben hatte – war abzulehnen, da sie sich letztlich als nicht nachhaltig erwiesen hätte und auch stets erweisen müsste, fehlte ihr doch jenes »organische Wachstum«, das die Genossenschaften auszeichnete. Überhaupt waren organizistische Metaphern auch in der Konsumvereinstheorie gängig,73 um die Überlegenheit des Reformansatzes zu unterstreichen, wurden jedoch nicht als Gegensatz zu Planung und Organisation verstanden, wie dies etwa im Horizont der »Ideen von 1914« geschehen war. Die Genossenschaften schienen vielmehr alle Gegensätze aufzuheben, indem sie Wachstum durch Organisation und die Schaffung einer besseren Gesellschaftsordnung ohne den Umsturz des Bestehenden versprachen. Für den sozialdemokratischen Zweig der Bewegung bedeutete das, dass er sich fest im Lager der Revisionisten und in Opposition zu den orthodox-marxistischen Kräften der Partei befand. Von diesen trennte die Genossenschafter fast alles: der Fokus auf Handel und Konsum statt Produktion, die Abkehr von der Verelendungs- und Zusammenbruchstheorie, die Ablehnung der zu Beginn der Weimarer Republik in Angriff genommenen, aber nicht durchgeführten Verstaatlichungen. Wer sich dennoch zum ebenso unverzichtbaren wie undefinierten sozialdemokratischen Programmpunkt der Sozialisierung bekannte, meinte damit die schrittweise Ausdehnung des genossenschaftlichen Eigentums.74 Zum Reformismus trat die Überzeugung, dass nur auf dem Weg der »Selbsthilfe« und nicht durch staatliche Intervention dauerhafte Veränderung herbeizuführen war. Bei allen Versuchen, die gesetzliche Gleichbehandlung und die Anerkennung der staatlichen Stellen für die Genossenschaftsarbeit zu erlangen, muss betont werden, dass es sich bei dem vielfach wiederholten Postulat von der »wirtschaftlichen Selbsthilfe« der Konsumenten, nicht um eine leere Phrase 72 Vgl. Staudinger, Wegnotwendigkeiten; Kaufmann, Grundsätze; Schlack, Leitfaden zur Errichtung von Konsumgenossenschaften, zit. n. Schloesser, Verbraucherliteratur, S. 145. 73 Vgl. nur Staudinger, Wegnotwendigkeiten, S.  78 f.; Wilbrandt, Konsumgenossenschaften, S. 30 f.; Brauer, Gemeinschaft; Kaufmann, Ziel, S. 133. 74 Vgl. Staudinger, Warum, S. 333–335; ders., Sozialisierungsfragen, S. 77–79, S. 101–104; Müller, Einleitung, S. 15; Weuster, Theorie, S. 215–240.

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handelte:75 Das Vertrauen auf die eigene ökonomische Konkurrenz­f ähigkeit und die schlechten Erfahrungen, welche die Konsumvereine wie jedes andere Handelsunternehmen auch mit der zentralen Erfassung und Verteilung notwendiger Lebensmittel in der Kriegs- und Nachkriegszeit machten, führten tatsächlich zu einer prononcierten Ablehnung staatlicher Wirtschaftslenkung. Gegen kaum ein anderes Thema agitierte die Genossenschaftspresse in den ersten Jahren der Republik so scharf wie gegen die Zwangswirtschaft – jenes System mithin, das im Ersten Weltkrieg gerade zur Sicherung einer Minimal­versorgung der Verbraucher geschaffen worden war.76 Zwar waren im Januar 1919 vom Leiter des Reichsernährungsamtes Emanuel Wurm (USPD) Richtlinien erlassen worden, welche die Länder und Kommunen anwiesen, die Konsumgenossenschaften als gleichberechtigte Partner bei der Warenverteilung zu behandeln; dennoch wurden sie, wie wiederholte Beschwerden der Konsumvereine zeigen, von vielen Kommunalverbänden bei der Belieferung mit den rationierten Waren gegenüber den privaten Händlern benachteiligt.77 Auf ihren Genossenschaftstagen in den Jahren 1920 und 1921 forderten daher sowohl der Zentralverband als auch der Reichsverband einen möglichst zügigen Abbau der Zwangswirtschaft.78 Das genossenschaftliche Projekt, die Systemtransformation auf dem Weg der wirtschaftlichen Konkurrenz zu er­reichen, verlangte vorerst die Wiederherstellung der marktwirtschaftlichen Ordnung, die auch von den traditionellen Gegnern: Handel und Landwirtschaft, gefordert wurde.79 Die Berufung auf das Prinzip der genossenschaftlichen Selbsthilfe war zugleich der Versuch, einen Exklusivanspruch auf die Vertretung des Verbraucherinteresses zu erlangen. Gerade in der chaotischen Versorgungslage der 75 Sehr deutlich formulierte das Franz Müller auf dem Jahrestag des Reichsverbands 1920: »Auch hier möchte ich wieder darauf pochen, daß wir Leute der Selbsthilfe sind und deshalb auf Staatshilfe nicht angewiesen sein wollen. Sie können sicher glauben, […] es ist auch uns der Gedanke gekommen, der Staat könnte uns mit Geldmitteln […] unter die Arme greifen. Wir haben dieser Versuchung aber stets consequent widerstanden, weil wir uns zu dem Prinzip der Selbsthilfe bekennen.« (Müller, Konsumgenossenschaftsbewegung, S. 338) 76 Für den Zentralverband schrieb vor allem August Kasch gegen die öffentliche Bewirtschaftung: vgl. Kasch, Abbau, S. 309; ders., Zwangswirtschaft, S. 234; ders., Streit, S. 41 f.; ders., Selbsthilfe, S. 77 f.; ders., Kampf, S. 261 f.; ders., Blut, S. 493. Vgl. zudem Elfter Genossenschaftstag. Zu einer Minderheitenposition in dieser Frage vgl. Staudinger, Abbau, S. 21 f. 77 Vgl. BA, R 3101, 10590, Bl. 10–38; Handelskammern und Konsumvereine, S. 90; Kaufmann, Festschrift, S. 199. 78 Vgl. Müller, Konsumgenossenschaftsbewegung, S.  337–339, 351–356, 370–373; Verbands­ bericht, S. 206; Kasch, Zwangswirtschaft, S. 234; 19. ordentlicher Genossenschaftstag des Zentralverbandes deutscher Konsumvereine in Eisenach, 19.–21. Juni 1922, in: KR 19 (1922), S. 327–330; Kaufmann, Festschrift, S. 212, 219. Zum Zeitpunkt der schlimmsten Krise im Sommer 1922 sprach sich der Zentralverband aber für eine Beibehaltung der Brotgetreidebewirtschaftung aus: vgl. ebd., S. 229. 79 Vgl. Die Zwangswirtschaft und ihr Abbau, in: KR 17 (1920), S. 254–256; Kaffeebewirtschaftung im Reichswirtschaftsrat, in: KR 17 (1920), S.  381; Konsumvereine und Zwangswirtschaft, in: KR 19 (1922), S. 437 f.; Kasch, Streit, S. 41 f.

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ersten Nachkriegsjahre traten mit den Kommunen, den Gewerkschaften und Betriebsräten unliebsame Konkurrenten in der Warenteilung auf, die es zurück zu drängen galt. Den Plänen zur Kommunalisierung von Wirtschaftsbetrieben, wie sie im Reichswirtschaftsministerium unter Wissell und v. Moellen­dorff und seit 1920 mit der Idee einer »Zwangslieferungsgenossenschaft« seitens der USPD ventiliert wurden,80 erteilten die organisierten Verbraucher eine Absage. Ebenso zog man gegen den Warenhandel zu Felde, den zahllose Behörden und Betriebe aus der Not heraus organisierten und die Warenversorgungsstelle deutscher Gewerkschaften unter Beteiligung des Deutschen Beamten-Wirtschaftsbundes sogar mit staatlicher Unterstützung – einem Reichskredit von 25 Millionen RM – betrieb. Als Notstandsmaßnahme schien das gerade noch hinnehmbar, ein dauerhaftes Konkurrenzunternehmen war jedoch keinesfalls zu dulden, weswegen allen entsprechenden behördlichen und gewerkschaftlichen Versuchen die Sachkenntnis und Legitimität abgesprochen wurde: »Eine dauernde berufsständische Warenversorgung schädigt auf die Dauer Gewerkschafts- und Konsumgenossenschaftsbewegung und führt zu einer Kräfte­zersplitterung. Jede Organisation muß bei ihrer eigentlichen Aufgabe bleiben, nur dann wird das Interesse der breiten Schichten sachgemäß gewahrt.«81 Der »berufsständische« Warenhandel sollte nicht die einzige Herausforderung für den Anspruch der Konsumvereine bleiben, einen privilegierten Zugang zum Verbraucherinteresse zu unterhalten  – doch dazu später mehr. Bei Gründung der Weimarer Republik verkörperte die Konsumgenossenschaftsbewegung jedenfalls ein in vieler Hinsicht anschlussfähiges demokratisches und wirtschaftliches Reformprojekt. Mit ihrer Mischung aus Utopie und Reformismus konnte sie alle jene politischen Kräfte ansprechen, die auf der Grundlage des Bestehenden auf eine Umgestaltung der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung hinwirken wollten. Der Imperativ der »von unten« organisierten Bedarfsdeckung klang nach dem Zusammenbruch des kriegswirtschaftlichen Allokationssystems ebenso überzeugend wie der Verweis auf die Rationalisierungsleistung der Verbände in der Warenverteilung. Das Gemeinschaftsversprechen, das der Genossenschaftsbegriff transportierte, war der nicht geringe idealistische Bonus einer in der Praxis vor allem mit wirtschaftlichen Tages­ fragen beschäftigten Bewegung.

80 Vgl. ders., Ordnung, S.  57 f.; ders., Konsumgenossenschaften, S.  178 f.; ders., Kommuna­ lisierung, S. 419; StenBerRT Bd. 344, S. 227 (5.7.1920). 81 Verbandsbericht, S. 206. Vgl. zudem Schloesser, Werkskonsumanstalt; ders., Bedarfsgüterversorgung, S.  321 ff.; Feuerstein, Warenversorgung, S.  50 f.; Ellenbeck, Versorgung, S.  18, 22.

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2. Das genossenschaftliche Konsumentenbewusstsein So groß das Vertrauen auf die Macht der selbst organisierten Verbraucher sein mochte, waren sich doch auch die glühendsten Vertreter der Genossenschaftsbewegung darüber klar, dass diese Macht eine theoretische bliebe, wenn die Verbraucher sie nicht realisierten, also als solche erkannten und durch möglichst zahlreiche und intensive Nutzung des Konsumvereins umsetzten. Gerade weil das Prinzip der Freiwilligkeit bestand, war keine Gewähr gegeben, dass die Verbraucher sich der vermeintlichen Überlegenheit der Konsumgenossenschaften bewusst wurden. Mehr noch: Die Erfahrung in den Vereinen weckte den Verdacht, dass sich die Verbindung von Individual- und Kollektivinteresse auf dem Höhenkamm der Genossenschaftstheorie doch allzu reibungslos darstellte. Was, wenn die stärkste Waffe der Konsumvereine, den Verbrauchern preisgünstige und qualitativ solide Produkte anzubieten, gerade jenen kurzfristigen kapitalistischen Eigennutz konservierte, den es langfristig als Handlungsmotiv zu überwinden galt? Dass diese Gefahr bestand, offenbarte sich zum einen darin, dass die meisten Genossenschafter nur einen Teil ihres täglichen Bedarfs in den Konsumvereinen deckten und ihnen also chronisch »untreu« waren, zum anderen in dem Umstand, dass die Mitgliederversammlungen oft höhere Rück­vergütungen auf Kosten der genossenschaftlichen Kapitalbildung forderten – das war die »Dividendenseuche«.82 Schon aus diesen Gründen schien es notwendig, dass zu der Einsicht in den kurzfristigen ökonomischen Vorteil die Identifikation mit den langfristigen Zielen der Konsumvereins­bewegung hinzukam. Die Tätigkeit der Vereine und Verbände musste daher stets auch Erziehungsarbeit sein, welche die Bildung und Verbreitung eines Verbraucher­ bewusstseins zur Aufgabe hatte. Nichts stünde dem Erfolg der Konsumvereine im Wege, wie der anhaltinische Sozialdemokrat Heinrich Peus glaubte, »als daß denjenigen, die daran objektiv interessiert sind, das subjektive Interesse hierfür fehlt«.83 Es galt gewissermaßen, den Verbraucher für sich zu schaffen, der sich, in Erkenntnis seiner ambivalenten ökonomischen Ohnmacht/Macht-Position, seine Verantwortung für die Bewegung und seine politische Bedeutung zu Bewusstsein brachte. Die Erziehungs- und Agitationsarbeit nahm verschiedene Formen an. Zunächst einmal sollte eine gezielte Sprachregelung die Besonderheit des Konsumvereinswesens vermitteln, indem die übliche »kapitalistische« Terminologie des Einzelhandels durch eine genossenschaftliche ersetzt wurde. Schon vor dem Krieg erläuterten Robert Schloesser und Franz Staudinger, dass man bei der Praxis des Konsumvereins weder von »Laden« noch von »Waren« noch über82 Vgl. Staudinger, Konsumgenossenschaft, S.  102–105. Zum Eigennutz der Mitglieder vgl. auch Wilbrandt, Gegenwartsaufgaben, S.  5–10; ders., Kapitalismus, S.  449 f.; Laufkötter, Konsumgenossenschaften, S. 162–165. 83 Peus, Sicht, S. 648.

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haupt von »Kauf« oder »Verkauf« sprechen dürfte, da es sich bei der »genossenschaftlichen Gütervermittlung« lediglich um die »Verteilung« zuvor bestellter »Bedarfsgüter« und wegen des genossenschaftlichen Eigentums auch nicht um einen Eigentumstransfer handele.84 Dass die alltagssprachlichen Aus­w irkungen dieses Versuchs einer genossenschaftlichen Sprachpolitik begrenzt gewesen sein dürften, ist wahrscheinlich, lassen sich doch derart etablierte Redegewohn­ heiten nicht ohne weiteres beseitigen.85 Die Regelung erfüllte allerdings den zusätzlichen Zweck, die differentia specifica der Konsumvereine gegenüber dem Privathandel, die Abwesenheit des Profits, durch eine entsprechende Begleit­ semantik öffentlich sichtbar zu machen, woraus beispielsweise in den ständigen Konflikten um die Umsatzbesteuerung der Genossenschaften ein strategisches Argument wurde: Wer nur verteilte und nicht verkaufte, bräuchte auch keine Umsatzsteuer zahlen.86 Von größerer Wichtigkeit für die Verbrauchererziehung waren die konkreten Versuche, den Konsumenten eine Kenntnis von einfachen volkswirtschaftlichen Zusammenhängen zu vermitteln und ihnen ihr ökonomisches Potential sowie den Zweck der Konsumgenossenschaft vor Augen zu führen. Nach Ansicht der Verbandsfunktionäre war ein derartiges Verbraucherbewusstsein überall noch sehr entwicklungsbedürftig: Den Beamten wurde in der Deutschen BeamtenRundschau nahegelegt, dass sie durch ihre Mitgliedschaft im Konsumverein »praktische Konsumentenpolitik« treiben sollten, weil diese ihren rein »hauswirtschaftlichen Interessen« am besten entspräche.87 Die organisierte Arbeiterschaft wiederum musste von einem dominierenden »Produzentenbewußtsein« befreit werden, das – nicht zuletzt durch die Schuld der Gewerkschaften – Lohn und Tarifabschluss mehr Aufmerksamkeit schenkte als dem Preisniveau.88 Die konsumgenossenschaftliche Agitation bemühte sich deshalb zu betonen, dass der Zweck des Konsumvereins die Erhaltung der Kaufkraft des Lohnes auf dem 84 Staudinger auf dem 8. Kongreß des Internationalen Genossenschaftsbundes 1910 in Hamburg, zit. n. Weber, Konsumgenossenschaften, S.  84 f. Vgl. auch Schloesser, Gütervermittlung, S. 84 ff.; sowie Spiekermann, Medium, S. 165. 85 So finden sich in den Erinnerungen einer Berliner Hausfrau an das Einkaufen im Konsumverein auch die vertrauten Begriffe: »Einkaufen gingen wir immer in die Lübbener Straße – beim Konsum. Zu Hause wurde ins Einkaufsbuch geschrieben, was wir brauchten, da mußten wir gleich überlegen, was wirklich notwendig war, und wurden nicht im Laden, so wie heute, durch Sonderangebote verführt. Die Verkäuferinnen nahmen dann die Bücher […] und suchten die Waren zusammen, die man aufgeschrieben hatte. Während man wartete, bis man dran kam, konnte man sich immer mit den anderen Kunden unterhalten. […] Im Konsum kauften fast nur organisierte Arbeiter ein. Das war unser Laden.« (Meine Hervorheb., C. T.; zit. n. Novy u. Prinz, Geschichte, S. 81) 86 Vgl. nur Konsumgenossenschaften und Umsatzsteuer, in: KR 19 (1922), S. 61 f., sowie zahlreiche Artikel zum Thema in den Jahrgängen 1920–24 der Konsumgenossenschaftlichen Rundschau. Dass die Konsumvereine tatsächlich aber nicht erst nach eingeholter Bestellung ihren Großeinkauf tätigten, zeigte bereits Weber, Konsumgenossenschaften, S. 85. 87 Dölz, Beamte, S. 289, 291; ders., Konsumentenkammern, S. 3–6. 88 Vgl. Staudinger, »Produzenten«bewußtsein, S. 143 f.; ders., Bedeutung, S. 769.

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Abb. 1: Arbeiter als Zielgruppe: Werbeschrift des Reichsverbandes deutscher Konsumvereine, 1926 Quelle: Die Genossenschaftsfamilie 19 (1926), S. 177.

Wege der Preisregulierung war. Es ist aufschlussreich zu beobachten, wie die Konsumvereinspropaganda den Arbeitern in ihrer Eigenschaft als Konsumenten Identifikationsangebote machte, die auf die Stilmittel der Arbeiterbewegung zurückgriffen und zugleich in Konkurrenz zu dieser standen. Die Abbildung 1 zeigt, wie aus der »grauen«, sozial nicht differenzierten Masse der Verbraucher ein starker Männerarm sich emporreckt und eine Fahne schwenkt – ein Motiv aus der proletarischen Symbolsprache, das sich in der Zwischenkriegszeit verbreitete. Die Fahne ist ergänzt durch den Schriftzug der »Gepag«, das Warenzeichen der Großeinkaufsgesellschaft des Reichsverbandes, das den Kunden des Konsumvereins als Label auf den genossenschaftlichen Markenartikeln be123

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kannt war. Diese Darstellung verknüpfte das ökonomische Interesse der Verbraucher mit dem politischen Impetus der Bewegung und machte die Marke zum Instrument einer basisdemokratischen Vergesellschaftung. Die wichtigste Zielgruppe der Bildungsarbeit am Verbraucherbewusstsein waren aber die Hausfrauen, die den weitaus größten Teil der Kundschaft ausmachten. Auch von den Genossenschaftern wurde also die geschlechtliche Arbeitsteilung nicht hinterfragt, die den Frauen die Erledigung sämtlicher hauswirtschaftlicher Aufgaben und insbesondere den Einkauf zuwies. »Unser Ruf nach genossenschaftlicher Treue«, mahnte der Fachmann für das Fortbildungswesen im Zentralverband, Robert Schweikert, »müßte demnach zuallererst an die Frauen gerichtet werden. Vom Umsatze hängt doch im wesentlichen die Entwicklung der Genossenschaft, die Erweiterung ihrer Betriebe und deren Leistungsfähigkeit ab. Die Frau beeinflusst dadurch das Vorwärtsschreiten oder den Stillstand einer Genossenschaft. Den Abnehmern der genossenschaftlich erworbenen und erzeugten Bedarfsgüter, den Frauen, obliegt infolgedessen eine sehr große Verantwortung.«89 Das Argument, das sich in den zahllosen Beiträgen zur Stellung der Frau in der Konsumvereinsbewegung wiederholte,90 lief stets darauf hinaus, dass sich die Hausfrau ihres volkswirtschaftlichen Steuerungspotentials bewusst werden müsse und sich daraus unmittelbar ihre Pflicht als Konsumentin zur Unterstützung des Konsumvereins ableite, da dieser allein die individuelle Macht in gebündelter Form aktualisieren und in Gesellschaftsreform umsetzen werde. Abbildung 2 illustriert einen typischen genossenschaftlichen Erziehungs­ versuch: Der mit den Markenprodukten der »Gepag« gefüllte Einkaufskorb symbolisiert die »Wirtschaftsmacht der Hausfrau«, deren Ausübung aber nicht allein ihrem Ermessen überlassen ist, sondern einem Appell an die Vernunft der Käuferin unterworfen wird, der in der Bildunterschrift noch zurückhaltend formuliert ist. Im Nebensatz wird zudem eine Geschlechterdifferenzierung nach Praxisfeldern vorgenommen, indem festgestellt wird, dass die genossenschaftlichen Unternehmen von den Männern für die Frauen gegründet wurden. Vor dem Hintergrund der von einigen Genossenschafterinnen erhobenen Forderung nach eigenständiger Mitgliedschaft und stärkerer Einbindung in Leitungspositionen91 hieß dies im Subtext, dass wie schon die Gründung so auch die gehobene Organisation und Führung der Genossenschaften Sache der Männer war, während den Frauen der Platz im örtlichen Konsumverein: vor und hinter der Ladentheke zukam.

89 Schweikert, Frau, S. 5. 90 Vgl. die zahlreichen Beiträge zit. in: Kaufmann, Festschrift, S. 503 f.; Schloesser, Frauenliteratur, S. 8–27. 91 Vgl. Die Frau in der Genossenschaftsbewegung, in: Die Gemeinwirtschaft 4 (1924), S. ­17–19; Das familiale Doppelstimmrecht in den Genossenschaften, in: Die Gemeinwirtschaft 4 (1924), S. 157 f.

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Abb. 2: Frauen als Zielgruppe: Titelblatt einer Genossenschaftszeitschrift, 1925

In der face-to-face-Kommunikation vor Ort vollzog sich auch der Hauptteil der Agitationsarbeit, so dass die lokale Vereinsverwaltung und das oft weibliche Ladenpersonal den Kundinnen gegenüber einen umfangreichen Erziehungsauftrag zu erfüllen hatte. Eine ganze Reihe von »Zusammenkünften belehrender Art« sei notwendig, forderte Schweikert und führte aus, was durch Vorträge und Versammlungen zu vermitteln war: »Im besonderen erwarten wir von der genossenschaftlichen Erziehung der Frauen die Erweckung des Verbraucherbewußtseins. Wir erwarten ferner, daß die Frauen Verständnis für all die bedeutsamen genossenschaftlichen Tagesaufgaben zeigen, so für die Notwendigkeit der Stärkung des eigenen Kapitals in Form hoher und rasch ein-

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gezahlter Geschäftsanteile, hoher Reserven, daß die Frauen ferner die Notwendigkeit für Verminderung von Rabatt und Rückvergütung und deren restlose Einbehaltung zur Bildung neuen Gemeinschaftsvermögens, ferner daß die Frauen die Notwendigkeit der restlosen Bedarfsdeckung aus den eigenen Vorratsräumen erkennen.«92

Im Konsumverein sollte es also um mehr gehen als nur darum, günstig einzukaufen. Das Interesse der Verbraucher am unmittelbaren finanziellen Vorteil – an Rabatt und Rückvergütung – war vielmehr mit Rücksicht auf die langfristige genossenschaftliche Vision im Zaum zu halten. Den Hausfrauen wurden Pflichten auferlegt, die sie, schon nach der Häufigkeit und Dringlichkeit der Erziehungsbotschaften zu urteilen, nicht erfüllten.93 So ist es auch nicht verwunderlich, dass die lokalen Veranstaltungen der Konsumvereine, die unterhaltenden Charakter hatten und bei denen die Produktwerbung im Vordergrund stand, deutlich besser besucht waren als jene Vorträge und Frauenversammlungen, in denen die Konsumentinnen als Aktivistinnen einer letztlich moralischen Konsumpolitik in die Pflicht genommen wurden.94 Ein Vortrag der Frauensekretärin Paula Mußenbrock verdeutlicht, welchen Ansprüchen die bewusste Konsumentin zu genügen hatte:95 »Auch in unserer Bewegung muß man erst seine Pflicht erfüllen, ehe man Rechte fordern kann«, dekretierte die Rednerin und ließ die üblichen Aufforderungen zur sofortigen Einzahlung des Geschäftsanteils, zur »Treue« beim Einkauf und zur Nutzung der genossenschaftlichen Sparkasse folgen. Die Zuhörerinnen wurden beschworen, sie sollten sich »der Macht Ihres Einholkorbes, Ihrer Stellung in der Volkswirtschaft als Verwalterinnen des größten Teils des Einkommens bewußt werden, und diese Ihre Macht in den Dienst der großen Bewegung stellen«. Bis dahin war es jedoch noch ein weiter Weg, denn die Frauen konnten sich »nicht daran gewöhnen, ihren Bedarf zu notieren und für mehrere Tage gleichzeitig im Konsumverein einzukaufen«, und erlagen nach Ansicht Mußenbrocks allzu leicht den Verlockungen des privaten Handels. Mit solchen Aussagen wurde einerseits der Topos von der weiblichen Verführbarkeit bemüht, andererseits traf es zu, dass auch die Konsumvereinsmitglieder weiterhin den privaten Einzelhandel frequentierten, was aber nicht auf spezifisch weibliche Vorlieben zurückzuführen war.96 Trotz solchen widerspenstigen Konsumverhaltens wurde an der Vorstellung von der grundsätzlichen Erziehbarkeit der Verbraucher festgehalten: »Wir sind der festen Überzeugung, daß, wenn unsere Hausfrauen die wahre volkswirtschaftliche Bedeutung der Verbraucherbewegung erfaßt haben, sie keinen Pfennig mehr zum privaten Händler tragen werden.« 92 Schweikert, Frau, S. 9 f. 93 Zur Pflicht-Rhethorik vgl. auch Bochmann, Pflichtbewußtsein, S. 17; Laufkötter, Konsumgenossenschaften, S. 165; Maxwell, Genossenschaftstreue, S. 143–145. 94 Vgl. Spiekermann, Medium, S. 173, Tab. 6b. Zum allgemeinen Desinteresse der Basis an der genossenschaftlichen Aufklärung vgl. Kaufmann, Grundsätze, S. 40. 95 Dieses und die folgenden Zitate: Mußenbrock, Vortrag, S. 51 f. 96 Vgl. Seyffert, Bedeutung, S. 119 f.

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Erneut offenbarte sich hier ein Entwicklungsoptimismus, der sich einem aufklärerischen Vertrauen in die Kräfte der Vernunft – in Erziehung, Reform, Planung und Selbstorganisation – verdankte und von dem bemerkenswerten Aufschwung der Bewegung seit der Jahrhundertwende beglaubigt zu werden schien. Es ist möglich, dass diese utopische Perspektive der Genossenschafts­t heorie eine realistischere Wahrnehmung der eigenen Grenzen und Schwächen sowie der Stärken der privatwirtschaftlichen Konkurrenz blockierte.97 Mit Sicherheit existierte in der Konsumvereinsbewegung aber ein Bild vom Konsumenten, das im Hinblick auf die Geschlechterproblematik und die soziale Rekrutierung unbestimmt und hinsichtlich der Bedürfnisstruktur einseitig war. Wer waren nach Ansicht der Konsumvereinsexperten die Verbraucher, deren Interessen man zu vertreten beanspruchte, und entsprach dieses Bild dem, was wir über die Zusammensetzung der Mitglieder und über das Verhalten der Konsumenten wissen? Zunächst zur Geschlechterdimension: Die Konsumvereinsbewegung verstand sich, wenn es nach den Positionen der Meinungsmacher und Genossenschaftstage geht, sicherlich nicht als eine Frauenbewegung, schenkte aber zugleich den Frauen als Konsumentinnen eine besondere Beachtung: das jedoch in einer Weise, welche die Frauen gleichsam als »halbierte« politische Akteure behandelte. Einerseits wurde ein vormals privater Bereich: jener der Hauswirtschaft und Verbrauchsgestaltung, politisiert, indem man den Hausfrauen das Leitbild des gesellschaftlich relevanten Konsumverhaltens präsentierte. Andererseits blieb ihnen die Teilnahme an einer weiteren Verbandsöffentlichkeit weitgehend versperrt, weil nur eine Minderheit der weiblichen Kundschaft überhaupt über eine eigenständige Mitgliedschaft verfügte – im Zentralverband etwa zwanzig Prozent – und Frauen in den Leitungsfunktionen der Verbände praktisch nicht vertreten waren.98 Es ist behauptet worden, die Konsumvereinsbewegung habe es versäumt, die Frauen nicht nur als Kundinnen, sondern als aktive Genossenschafterinnen für ihre Sache zu gewinnen, und habe durch die Aufgabenverteilung, die den Frauen das Einkaufen, den Männern die Verwaltung zuwies, die geschlechterspezifische, bürgerliche Trennung von Privatem und Politischem sogar verfestigt.99 Das ist nur teilweise richtig. In der Tat scheiterten die Versuche, eine Doppelmitgliedschaft von Ehepartnern oder gar eine Übertragung der Mitgliedschaft vom Mann auf die Frau durchzusetzen, am Widerstand der männlichen Genossenschafter; auch in Vorständen, Aufsichtsräten und Delegiertenversammlungen blieb die Zahl der weiblichen Vertreter verschwindend gering.

97 Vgl. als zeitgenössische Kritiker eines überbordenen Optimismus Weber, Konsumgenossenschaften; Lederer, Organisationen, S. 641–694. 98 Vgl. Kluge, Frauen, S.  48; Hasselmann, Geschichte, S.  435; Fairbairn, Rise, S.  292; Hagemann, Frauenalltag, S. 138. 99 Vgl. Ellmeier u. Singer-Meczes, Modellierung, S. 423 f.; Hagemann, Frauenalltag, S. 147–153.

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Die Vorstellung von einer »natürlichen Arbeitsteilung« der Geschlechter war unter den Genossenschaftsfunktionären allzu weit verbreitet.100 Und doch fand zugleich ein diskursives empowerment statt, das die Marginalisierung und Zurückdrängung ins Private unterlief. Die Genossenschafts­ publizistik gewährte der Debatte um die Bedeutung der Frau für die Konsumvereinsbewegung von Beginn der Weimarer Republik an einen so breiten Raum, dass bereits 1922 eine zwanzigseitige Rezension über die »genossenschaftliche Frauenliteratur« erschien.101 Diese Debatte wurde wesentlich von einer Reihe engagierter Genossenschafterinnen102 angestoßen und geführt, die erfolgreich für eine stärkere Berücksichtigung der Frauenarbeit durch entsprechende Veranstaltungen und für die Anstellung von Frauensekretärinnen plädierten; der Versuch, eine eigenständige Organisation zu etablieren  – die von Frauen des Reichsverbands 1920, abermals nach englischem Vorbild gegründete »Deutsche Frauengilde für Gemeinwirtschaft auf verbrauchergenossenschaftlicher Grundlage« – verlief allerdings im Sande.103 Die im Laufe der zwanziger Jahre wachsende, wenn auch minoritär bleibende Vertretung von Frauen in der lokalen Genossenschaftsverwaltung resultierte aus der erhöhten Aufmerksamkeit innerhalb der Verbandsöffentlichkeit. Am wichtigsten war jedoch die Tatsache, dass der privaten Hausfrauentätigkeit selbst ein politischer Bedeutungsgewinn zugeschrieben wurde. Symptomatisch für die widersprüchliche gleichzeitige Fixierung und Erosion geschlechtsspezifischer Räume des Privaten und des Politischen ist die von Peter Schlack verfasste Schrift »Hausfrau, erkenne Deine Macht!«. Die Agitationsbroschüre »wendet sich im Plauderton an die deutschen Hausfrauen und zeigt ihnen die 100 Schweikert, Frau, S. 5. Vgl. auch Metzinger, Frau, S. 29: »Die Frau geht in ihrer häuslichen Sorge vollständig auf. Sie kann sich zu wenig um die Dinge kümmern, die sich draußen in der Öffentlichkeit abspielen.« 101 Vgl. Schloesser, Frauenliteratur, S. 8–27; sowie die Beiträge von Schloesser-Nickel, Freundlich, Vurthmann, Hölzgens, Mußenbrock, in: ebd., S. 5–7, 31–37, 49–54, 68 f., 74–79; die Beiträge von Trost, Freundlich, Rupprecht, Busch, in: KR 19 (1922), S. 32, 99–102, 159; die Sondernummer »Die Frau in der Genossenschaft« der KP 11 (1922), 1. Juni; Die Frau in der Genossenschaftsbewegung, in: Die Gemeinwirtschaft 4 (1924), S.  17–19; Doppelstimmrecht, in: ebd., S.  157 f.; ferner: Freundlich, Frau; Die Frauen und das Konsumgenossenschaftswesen, in: Deutsche Arbeiterin 11 (1919), S. 229 f., 237 f. 102 Einen Pionierbeitrag zum Thema verfaßte bereits 1905 Gertrud David, die Frau des revisio­ nistischen Sozialdemokraten Eduard David (vgl. David, Konsumverein). Nach 1918 setzte zuerst Christine Teusch, jüngstes Mitglied der Nationalversammlung und MdR des Zentrums (1920–33), durch einen Vortrag auf dem Genossenschaftstag 1919 die Frauenpolitik auf die Agenda des Reichsverbandes (vgl. Jb. d. RdK 4–7 (1917–1920), S. 215; Schloesser, Frauenfrage, S. 99). Eine der international profiliertesten Genossenschafterinnen war die österreichische Sozialdemokratin Emmy Freundlich, die zur Präsidentin des seit 1921 bestehenden Frauenausschusses des Internationalen Genossenschaftsbundes gewählt wurde und auch in der deutschen Genossenschaftsliteratur mit Diskussionsbeiträgen präsent war (vgl. nur Freundlich, Hausfrau; dies., Frau; dies., Macht; dies., Genossenschaften, S. 161–164). 103 Vgl. Schloesser-Nickel, Aufgaben, S. 68 f.; dies., Genossenschaftsfrauen, S. 74–79; Hasselmann, Geschichte, S. 437.

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großen Vorteile, welche die Konsumgenossenschaften dem Haushalt bieten. Sie weist nach, wie die Hausfrauen eine große wirtschaftspolitische Macht sein könnten, wenn sie sich in den Konsumvereinen organsierten«.104 Die Identitätszuschreibung als Hausfrau, deren Aufklärung durch den Autor in vertrau­licher Rede erfolgt, kontrastiert hier mit der Aufforderung, sich als qua Konsum politisch gestaltenden Akteur zu begreifen. Wenn, wie die Genossenschafts­t heorie besagte, die zentralen Machtmittel nicht staatlicher, sondern wirtschaftlicher Natur waren, dann war privates hauswirtschaftliches Handeln – die Domäne der Hausfrau – von politischer Relevanz, dann, so lässt sich in der Sprache der angloamerikanischen Konsumhistoriographie formulieren, wurden Kundinnen zu citizen consumers, wenn sie sich in ihrem Verbrauch durch politisch-soziale Ideale leiten ließen.105 Ein ähnlich zwiespältiges Verhältnis wie zur Stellung der Frau in der Konsumvereinsbewegung offenbarte sich hinsichtlich des sozialen Profils ihrer Anhängerschaft. Einerseits dokumentierte die Verbandsstatistik für alle deutlich erkennbar, dass der weitaus größte Teil der Mitglieder, besonders im Zentral­ verband, aus der Arbeiterschaft stammte. Auch bestanden enge Verbindungen zu den Gewerkschaften, die sich etwa darin ausdrückten, dass zwischen der Klien­tel beider Organisationen erhebliche Überschneidungen bestanden und im Zentralverband nur solche Arbeiter beschäftigt wurden, die sich auch gewerkschaftlich organisiert hatten. Zudem war nicht zu übersehen, dass im »sozial­demokratischen« Zentralverband viele Genossenschafter auch der Partei angehörten, während die Mitglieder im Reichsverband, folgt man der zeitgenössischen Studie von Reinhard Weber, überwiegend eine »christlich-nationale« Gesinnung hegten und vor allem die »nicht sozialistisch denkenden minderbemittelten Klassen« repräsentierten, die dem Zentralverband niemals beigetreten wären.106 Dass es die in der Genossenschaftsliteratur meist nicht näher definierten »breiten Schichten« der »Besitzlosen« oder »Minderbemittelten« waren, die faktisch die Klientel der Konsumvereine bildeten, musste auch im Reichsverband mit seiner sozial heterogeneren Mitgliederschaft zugegeben werden: »Die sogenannten besseren Stände sind keine Konsumenten in unserm Sinne«, weil sie entweder genug verdienten oder selbst von hohen Bedarfsgüterpreisen profitierten.107 Erst recht wusste jeder Genossenschafter, dass ein großer Teil des alten Mittelstandes: der Einzelhandel, gewissermaßen der natürliche Feind der Konsumvereine war, die von ihm seit jeher offen bekämpft wurden. 104 Schlack, Hausfrau; Schloesser, Verbraucherliteratur, S. 145. In ähnlich ambivalenter Weise wurden im Konsumgenossenschaftlichen Volksblatt die Frauen als »Finanzminister« im Haushalt angesprochen, denen jedoch oft noch das erforderliche volkswirtschaftliche Wissen fehle. Vgl. Werner, Frau, S. 49. 105 Vgl. Cohen, Citizens, S. 204; dies., New Deal State, S. 111 ff.; Kroen, Aufstieg, S. 555; Wildt, Konsumbürger, S. 255–283. 106 Weber, Konsumgenossenschaften, S. 77; vgl. auch ebd., S. 136, 150 f., Staudinger, Wegnotwendigkeiten, S. 109. 107 Anon., KP 9 (1920), S. 163.

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Dem sozialen bias in der Rekrutierung der Mitglieder und der Gegnerschaft konkurrierender Gruppen zum Trotz propagierte die herrschende Lehre in der Konsumvereinsbewegung eine umfassende Neutralität und zeichnete das sozial »unscharfe« Bild einer letztlich harmonischen Gemeinschaft von Verbrauchern.108 Ein klares Bekenntnis gegen den Klassenkampf und zur Neutralität – darin stimmten die führenden Vertreter wie Kaufmann, Staudinger, Wilbrandt und um so mehr Schlack, Schloesser und Brauer überein  – war notwendig, wollte man nicht eine möglichst allseitige Ausweitung der Mitgliederschaft und damit das hoch eingeschätzte Entwicklungspotential der Bewegung von vornherein beschneiden. Auch Emil Lederer hielt eine Sammlungsbewegung aller un­selbständig Beschäftigten: der Arbeiter, Angestellten und Beamten, unter dem Dach der Konsumgenossenschaften für möglich – und das im Jahr 1911, noch bevor in der Kriegs- und Nachkriegszeit tatsächlich eine Verbreiterung ihrer sozialen Basis einsetzte. Es sei sicher, so Lederer, »daß die Konsumentenorganisationen einen neutralen Boden abgeben können, um diese großen Gruppen, welche in der Produktion getrennt und organisatorisch heute weiter denn je von einander geschieden sind, als Konsumenten zusammenzuführen«. Die Bewegung sei demnach in der Lage, »ein einheitliches Klassengefühl, ein Gemeinsamkeitsbewußtsein zu schaffen, das eine ähnliche Wirkung haben könnte, wie das von der sozialistischen Theorie behauptete, aber tatsächlich nicht be­ stehende, einheitliche Klassengefühl aller unselbständig Berufstätigen«.109 Genau darum ging es den führenden Genossenschaftstheoretikern: Eine einseitige Identifizierung mit der Arbeiterbewegung musste um jeden Preis vermieden werden, um nicht den möglichst inklusiven Charakter der auf dem vermeintlich neutralen Boden der rein wirtschaftlichen Kooperation stehenden Genossenschaften zu beschädigen. Gerade für die Vertreter des Zentralverbandes bestand das Dilemma darin, dass sie einerseits nicht über die vorwiegend proletarische Massenbasis hinwegsehen konnten und es sich zudem auf die Fahnen geschrieben hatten, die Grundfesten der kapitalistischen Ordnung zu erschüttern, aber andererseits das sozialharmonische Selbstbild zu einer Distanzierung vom Klassenkampf zwang. Allerlei argumentative Kunstgriffe wurden vorgenommen, welche die soziale Begrenztheit und das konflikthafte Moment der Konsumvereine herunterspielten: Kaufmann meinte, es gebe überhaupt nur einen politischen Klassenkampf, aus dem sich die Bewegung durch ihre parteipolitische Unabhängigkeit heraushielte, und auch Wilbrandt war der Ansicht, dass es den Genossenschaften gelingen könnte, »zu sozialisieren mittels eigenen Kapitals, frei, fern von aller Politik«.110 Für Hans Müller, einen der prononcier108 Zum Folgenden vgl. Müller, Klassenkampftheorie; ders., Entwicklung, S. 302 f.; ders., Genossenschaften, S. 51–55, 104–111; Jenssen, Volksgemeinschaft, S. 136 f.; Staudinger, Klassenkampf, S.  301–304; ders., Klassenkampf, S.  81 f., 110 f., 125 f., 136 f.; Weber, Konsum­ genossenschaften, passim; Tönnies, Vorwort, S. VII-IX. 109 Lederer, Organisationen, S. 687. 110 Wilbrandt, Konsumgenossenschaften, S.  8; vgl. auch Weber, Konsumgenossenschaften, S. 20 f.

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testen Gegner der Klassenkampftheorie, war der Konsumverein bereits der »Sozialismus en miniature«, denn er glaubte, dass das Bedarfsdeckungsprinzip und das genossenschaftliche Gemeineigentum, die in nuce vorhanden waren, alle Interessengegensätze transzendieren würden, und es stünde daher in »unsichtbaren Lettern […] über seiner Pforte das große Wort geschrieben: Kommet her zu mir alle, ihr Mühseligen und Beladenen!«111 Die Positionierung als Massenorganisationen, die jenseits spezifischer Klasseninteressen »wirtschaftliche Volksinteressen«112 verkörperten, musste gegen »Zersplitterungsversuche« von außen und innen verteidigt werden. Gerade die Beamten unterliefen die Bildung sozial gemischter Genossenschaften, indem sie sich in eigenen Beamtenkonsumvereinen zusammentaten und vor allem dem Reichsverband anschlossen  – das bekannteste Beispiel hierfür war der über 100.000 Mitglieder starke Beamten-Wirtschaftsverein in Berlin. Als zudem im Jahr 1920 der Deutsche Beamten-Wirtschaftsbund gegründet wurde, war zu befürchten, dass die in den Behörden selbst organisierte Warenversorgung die Konsumvereine der Beamten auflösen würde. Mit der Begründung, nur ein Zusammenschluss aller Verbraucher gewähre den Effizienzvorteil eines Großunternehmens, und unter Verweis auf die strikte Neutralität der Konsumvereine wurde gegen die Tätigkeit des Beamten-Wirtschaftsbundes und gegen jede Form von »Standesgenossenschaftsbewegung« vehement und insgesamt erfolgreich protestiert, denn langfristig unterblieb die Herauslösung der Beamten aus den Konsumvereinsverbänden.113 Im Zentralverband hatte man sich vor allem den ständigen Versuchen einiger kommunistischer Mitglieder zu erwehren, die Konsumgenossenschaften zu parteilich gebundenen Instrumenten des Klassenkampfes umzufunktionieren. Die prominenteren kommunistischen Genossenschafter Karl Ertinger und Karl Bittel entfalteten in diese Richtung eine rege Agitationstätigkeit: Die lini111 Müller, Klassenkampftheorie, S. 33 f., 38. Selbst ein scharfsinniger Kritiker wie Reinhard Weber, der Müller und den anderen ihre bisweilen naive Unterschätzung der Grenzen und Gegner der Bewegung vorhielt und darauf hinwies, dass die bestehenden Konsumgenossenschaften schon deshalb keine Inseln des Sozialismus seien, weil in ihnen weder vollständige Bedarfsdeckung der Mitglieder noch echtes Kollektiveigentum verwirklicht sei, konnte nicht umhin zuzugeben, dass die parteipolitische Unabhängigkeit und die formelle soziale Neutralität in der Mitgliederfrage zweckmäßig seien. Dennoch galten Weber die Konsumvereine aufgrund der von ihnen notwendig erzeugten Widerstände als Erscheinungen des Klassenkampfes, der allerdings ein »aufbauender«, nicht ein »destruktiver« sei, wie ihn die Kommunisten führen wollten. Vgl. Weber, Konsumgenossenschaften, S. 79–95, 126–138; zudem Totomianz, Konsumentenorganisation, S. 55–62. 112 Müller, Genossenschaften, S. 51. 113 Vgl. Schlack, Standes-Genossenschaftsbewegung, S.  17 f.; Wiesel, Beamte, S.  14; Schröder, Beamten-Wirtschaftsbund, S. 329 f.; Werner, Beamtenschaft, S. 40; Kaufmann, Festschrift, S. 189; ders., Grundsätze, S. 34; Hasselmann, Geschichte, S. 385. Zur Bevorzugung des Reichsverbandes gegenüber dem Zentralverband von Seiten der Beamten vgl. Kasch, Zersplitterung, S.  318 f.; Zersplitterung der Konsumvereinsbewegung, in: ebd., S.  378, 393 f., 402.

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entreue Zeitschrift Der Genossenschafter wurde herausgegeben, »Ernährungskongresse« wurden veranstaltet, und auf dem Genossenschaftstag 1921 in Baden-Baden stellten sie die Forderung auf, dass sich der Zentralverband als nicht neutral erklären und für die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat aussprechen sollte. Der Antrag wurde aber von einer erdrückenden Mehrheit, die sich für den Grundsatz »striktester parteipolitischer Neutra­lität« aussprach, abgelehnt, wie auch auf lokaler Ebene die Vereine, in denen eine Unterwanderung gelungen war  – wie in Halle und Merseburg  – rigoros ausgeschlossen wurden.114 Wenn, so lässt sich zusammenfassen, für die Konsumvereinsbewegung ausschließlich die tatsächliche Klientel in den örtlichen Verteilungsstellen: die große Mehrheit der Arbeiterfrauen, von Bedeutung gewesen wäre, hätte sie sich, überspitzt gesagt, als eine Synthese von Arbeiter- und Frauenbewegung verstehen und präsentieren müssen. Weil die potentielle Zielgruppe aber bedeutend weiter reichte und die Vision der Bewegung universalistisch war, stand die weniger konkrete Figur des Konsumenten aus den unteren und mittleren Gesellschaftsschichten im Mittelpunkt der Selbstbeschreibung: Die Konsumvereine galten als Organisationen »der Klasse der Unbemittelten« und des »kleinen Mannes« und sollten »für alle Frauen wie für alle Männer bestimmt« sein.115 Dem entspricht die Beschreibung, die der Funktionär einer mitgliederstarken, proletarisch geprägten Konsumgenossenschaft von deren Kundschaft gab. Sie sei »nach oben und unten begrenzt […]. Die ganz arme Bevölkerung kommt nicht zu uns, weil sie organisationsunfähig ist. Die hochgestellte Bevölkerung kommt nicht zu uns, weil sie sich einer Konsumentenvereinigung nicht anschließen will«.116 Wenn auch den einkommensstarken bürgerlichen Kreisen kein positives Identifikationsmuster geboten werden konnte, spricht doch die sich langsam sozial verbreiternde Massenmitgliedschaft der Konsumgenossenschaften dafür, dass der Weg, der zwischen Zielgruppenorientierung und Berufung auf ein allgemeines Verbraucherinteresse schwankte, der richtige war.

114 Vgl. Bittel, Genossenschafts-Thesen; Kasch, Aufbauen, S. 341 ff.; ders., Streit, S. 41 f.; Vorstand des Zentralverbands, Bekanntmachung, S.  529 f.; Gegen den Mißbrauch der Konsumvereine, in: KR 21 (1924), S. 9, 57; Kommunistische Verbrechen an der deutschen Konsumgenossenschaftsbewegung, in: ebd., S.  202 f.; Müller, Entwicklung, S.  302 f.; Weber, Konsumgenossenschaften, S. 178–185; Hasselmann, Geschichte, S. 391, 432 f. 115 Zitate in dieser Reihenfolge: Protokoll der Verhandlungen des 8.  Kongresses des Inter­ nationalen Genossenschaftsbundes in Hamburg, 5.–7. Sept. 1910 (zit. n. Weber, Konsumgenossenschaften, S. 51); Wygodzinski, Genossenschaftswesen, S. 196; Warbasse, Demokratie, S. 8. Wilbrandt sah in der Konsumvereinsbewegung einen »Klassenkampf derjenigen Klassen […], die vom Kapitalismus mehr leiden als gewinnen. Nicht also ein Klassenkampf des Proletariats […], nicht der Kampf einer Klasse, sondern der von mehreren« (Wilbrandt, Kapitalismus, S. 455). 116 Ausschuß, Konsumvereine, S. 129.

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Das langfristige Scheitern der Konsumvereine hatte eine andere Ursache, die mit der Vorstellung zusammenhing, die sich die führenden Theoretiker und Praktiker der Bewegung von der Bedürfniswelt der Konsumenten machten. Mit der Planmäßigkeit der angestrebten Bedarfsdeckungswirtschaft war die Be­rechenbarkeit der Konsumbedürfnisse bereits im Kern des genossenschaftlichen Projektes verankert. Um aber berechenbar zu sein, mussten die Bedürfnisse einen statischen Charakter haben, durften sich nur in antizipierbaren Grenzen verändern. Das mag leidlich zutreffend gewesen sein in dem Bereich notwendiger Lebens- und Bedarfsmittel, in dem die betriebswirtschaftliche Kalkulation mit einigermaßen stabilen Erfahrungsgrößen arbeiten und die Effizienzvorteile des Großbetriebs ausspielen konnte. Bei allen Konsumgütern aber, die sich durch den Einfluss von Werbung und Mode veränderten oder neu hinzu kamen, stieß die rationalisierte Betriebsform der Konsumgenossenschaften: der garantierte Massenabsatz, der schnelle Warenumschlag, an ihre Grenzen.117 Doch nicht nur weil vertraute Kalkulationsmethoden ins Wanken gerieten, war eine dynamische Nachfrageentwicklung problematisch, sondern weil sich dahinter die Gestalt eines unbekannten, unsteten und insgesamt unvernünftigen Verbrauchers verbarg, der sich einem von den Spitzen der Genossenschaftsbewegung nie hinterfragten Bedürfnis- und Wertekanon widersetzte. Eine als gegeben angenommene Rangordnung der Bedürfnisse, die kaum expliziert wurde, ließ bekannte bildungsbürgerliche Präferenzen erkennen. Als legitim galten zum einen die auf die reine Lebenserhaltung gerichteten Bedürfnisse nach Nahrungsmitteln, Wohnung und Kleidung, zum anderen jene »gehobenen« Kulturbedürfnisse, die zu entwickeln eines der langfristigen Erziehungsziele der Konsumgenossenschaften sein sollte. Der »wahre, wertechte Bedarf«, dessen Befriedigung nach Ansicht v. Nell-Breunings anzustreben war, blieb allerdings in den Schriften der Genossenschaftstheoretiker unbestimmt. Symp­ tomatisch für die Vorstellung, der Bedarf ließe sich nach intersubjektiven Kriterien festlegen, war ein Vorschlag, den ausgerechnet ein Amerikaner machte: James Warbasse, Präsident der Genossenschaftlichen Liga der Vereinigten Staaten, verstand sich als Schüler der europäischen Genossenschaftsbewegung und glaubte, dass es in der voll entwickelten Bedarfsdeckungswirtschaft verschiedenen Ausschüssen von Experten – für Lebensmittel, Kleidung, Haushaltsgegenstände, Unterhaltung, Hygiene, Verkehr etc.  – überlassen sein müsste, die genossenschaftlichen Vertreterversammlungen darüber zu beraten, was zu produzieren wäre. Es ließ sich ein sachlich begründeter Konsens darüber herstellen, welche Bedarfsgüter »notwendig«, »dauerhaft« oder »nutzbringend« waren, wobei solche wenig spezifischen Attribute stets auf das Ideal des einfachen, nicht

117 Auf die Kalkulationsprobleme, mit denen zahlreiche Konsumvereine zu kämpfen hatten, weil sie Bekleidung und Haushaltsartikel ins Sortiment nahmen, verweist Kaufmann, Grundsätze, S. 42 f.

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dekadenten Lebens verwiesen, das sich ganz auf die vermeintlich natürlichen Bedürfnisse beschränkte.118 Dass die Überzeugung, mit der Stabilität des Bedarfs rechnen zu können, nicht in Zweifel gezogen wurde,119 lag nicht zuletzt daran, dass man die noch vorhandenen »Irrationalitäten« im Konsumverhalten auf den Einfluss der kapitalistischen »Anreizwirtschaft«120 zurückführte und durch die sukzessive Einwirkung der genossenschaftlichen Erziehung glaubte beseitigen zu können. Bedauerlicherweise war das Ausmaß des illegitimen Konsums durch eine ganze Reihe von privatwirtschaftlichen Strategien der »Bedarfsweckung« gerade seit der Mitte der zwanziger Jahre noch größer geworden. Das Sündenregister des Kapitalismus war bekannt: Beklagt wurden der »Anreiz zu immer neuem, zu Schund und Kitsch, die Vermodung fast aller Gebrauchsgegenstände, die Reklamesuggestion […]. Wie sind Alkohol und Nikotinverbrauch durch das kapitalistische System gefördert worden!«121 Das kulturkritische Lamento ließ durchblicken, dass der Konsument zwar als erziehbar, aber auch als verführbar angesehen wurde und – kurz gesagt – der unkontrollierte Aufbruch der Wohlstandserwartungen die schlimmste aller Bedrohungen für jene andere Form der Konsumgesellschaft war, welche die Konsumvereinsbewegung zu entwerfen suchte. Der auf die Selbstkosten beschränkte »gerechte Preis«, die Ehrlichkeit im Geschäftsgebaren und die Sparsamkeit als Kardinaltugend sowohl des Verbraucherverhaltens wie der effizienten Verteilungsorganisation: Das waren die Prinzipien einer moralischen Ökonomie, denen auf lange Sicht zur Geltung verholfen werden sollte.122 Sie liefen den diversen Werbe- und Verkaufspraktiken diametral zuwider, mit denen Teile der privatwirtschaftlichen Konkurrenz eine Dynamisierung der Nachfrage unterstützten und denen sich die Konsumvereinsbewegung an vorderster Front widersetzte. Konsequent wurde das »Borgwesen« und das »Zugabewesen«, wie der Konsumentenkredit bzw. die Gewährung von Werbegeschenken genannt wurde, attackiert, während das Verhältnis zur Wort- und Anschauungsreklame ein komplexeres war. Die dem Grundsatz der Barzahlung verpflichteten Konsumvereine hatten immer schon ihre Mitglieder davon zu überzeugen versucht, dass das Anschreibenlassen beim Einzelhändler die Familie in eine dauerhafte fi118 Vgl. Warbasse, Demokratie, S.  55 f.; Brauer, Konsumgenossenschaftsbewegung, S.  12; v. Nell-Breuning, Wirtschaft; ders., Grunz u. Schloesser, Konsumgenossenschaft, passim; Gerhardt, Art. Rationalisierung, S. 808. 119 Nur höchst selten wurde diese Notwendigkeit so klar reflektiert wie von Werner Sombart: »Man lernt jetzt allmählich einsehen, daß alles, was man Plan- oder Gemeinwirtschaft benennt, geknüpft ist an die Voraussetzung einer Uniformierung und Stabilisierung des Bedarfs bzw. des Konsums. Zu diesem zu ihrem Teile beizutragen, ist aber die größte historische Aufgabe und Leistung der Konsumvereine.« (Sombart, in: Schloesser (Hg.), Konsumgenossenschaft, S. 36). Vgl. auch Bienstock, Zukunft, S. 417–425. 120 Schloesser, Gehalt, S. 42. 121 Ebd., S. 43. Vgl. auch Wilbrandt, Kapitalismus, S. 418 f.; ders., Sozialismus, S. 56. 122 Zum Sparsamkeitsappell vgl. Sierakowsky, Sparsamkeit, S. 5; Mitzkat, Sparen, S. 29.

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nanzielle Abhängigkeit bringe und darüber hinaus zum Einkaufen überflüssiger Artikel verleite. Erst recht verführten aber die Angebote zur Ratenzahlung und Konsumfinanzierung zu einem Leben über die eigenen Verhältnisse.123 Auch als beispielsweise der Karstadt-Konzern im Jahr 1928 seinen Kunden die Offerte machte, eingezahlte Ersparnisse mit bemerkenswerten zwölf Prozent zu verzinsen, unter der Bedingung, dass das Geld nicht zurückgezahlt werden konnte, sondern durch Einkäufe bei Karstadt verausgabt werden musste, beurteilte der Reichsverband diese Idee zwar als betriebswirtschaftlich »glänzend«, aber insgesamt dennoch verwerflich: »Wir begeben uns unserer Barmittel und geraten ganz und gar in die Vormundschaft des großkapitalistischen Warenhauses, dessen Geschmacksrichtung und Preisgestaltung wir uns bedingungslos unterwerfen müssen, wollen wir unserer Ersparnisse nicht überhaupt verlustig gehen.«124 Mit den Prinzipien der Konsumvereine waren risikobehaftete Geschäftspraktiken, die auf Bedarfsweckung und Mischkalkulation – die Querfinanzierung von verlustbringenden Zugartikeln – angelegt waren, nicht zu vereinbaren, und so wurden neue Konkurrenzmethoden nicht übernommen, sondern politisch bekämpft. Als sich in der Stabilisierungszeit die Zugabe von Gratisleistungen (Porzellan, Kinderspielzeug und anderes) wachsender Beliebtheit erfreute, wurde über Jahre hinweg auf ein gesetzliches Verbot gedrängt, das schließlich die Regierung Brüning im März 1932 erließ – wenn auch gravierende »Schlupflöcher« seine Wirksamkeit vorerst beschränkten.125 Die Kampagne gegen das Zugabewesen war dabei mehr als ein Schachzug im Konkurrenzkampf, denn auch die Konsumvereine hätten sich schließlich dieser »Anreißermethode« bedienen können. Wie Bruno Dölz, Verbrauchervertreter im Reichswirtschaftsrat erläuterte, widersprach jedoch die Abgabe von Waren unterhalb ihrer Gestehungskosten einer Werteordnung, der zufolge es sich verbat, dass Erzeugnisse von »ehr­licher Hände Arbeit« zu »Gratiszugaben degradiert werden« durften. Vor allem aber führten diese Angebote den Verbraucher in die Irre, indem sie ihn über den wirklichen Wert der Waren im Unklaren ließen, in deren Preis ja die Zugabe 123 Vgl. Vom Borgunwesen, in: Die Genossenschaftsfamilie 21 (1928), S. 22; Beamten-Selbsthilfe? in: ebd. 22 (1929), S. 120; Die Vorzüge der Barzahlung, in: ebd., S. 261; Mußenbrock, Borgen, S. 9; Kasch, Fort, S. 141; ders., Borgunwesen, S. 239; Feuerstein, Barzahlung, S. 620; Kaufmann, Schuldsklaverei, S. 662; Grotkopp, Gefahr, S. 663; Ein Propagandist der Konsumfinanzierung, in: KR 24 (1927), S. 66, 86. 124 Finanzierungsschwindel, in: Die Genossenschaftsfamilie 22 (1928), S.  20; vgl. dass., in: ebd. 23 (1929), S. 171. Reichswirtschaftsminister Curtius (DVP) schloss sich dieser Kritik an, nachdem auch ein Gutachten des Reichswirtschaftsrates die Nachteile der Warenhaussparkassen betont hatte: vgl. StenBerRT Bd. 424, S. 2050 (4.6.1929). 125 Vgl. Dölz, Zugabe-Unwesen, S.  3–19; Pelka, Zugabeunwesen; Wiesel, Rabattgewährung, S. 581; Der Kampf gegen das Zugabeunwesen, in: KR 22 (1925), S. 541, 593; Preisschleuderei und Zugabewesen, in: KR 23 (1926), S. 747; sowie verschiedene Artikel u. Notizen in KR 24 (1927), S. 483, 506, 726, 769, 786, 802; Schrader, Umwertung, S. 219. Zur Zugaben­ reklame siehe ausführlicher unten Kapitel IV.

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einkalkuliert war, wodurch eine rationale, preisvergleichende Wahl erschwert würde. Darüber hinaus sah Dölz die ideale Solidargemeinschaft der Verbraucher in Gefahr, denn, »bekommt einer etwas umsonst, dann muß es der andere mittragen, und dieser andere ist doch unser Nächster. Wenn eine Firma für den Serienbezug von 25 halben Pfunden Kaffee eine blaue Vase verspricht, so bezahlen die Vielen, die gar nicht in der Lage sind, die Serie jemals zu erreichen, die Vasen mit, die den wenigen Serienbeziehern geschenkt werden«.126 Solchen Angeboten, die auf der Grundlage einer flexibleren Kalkulation mit dem Reiz des Außeralltäglichen rechneten, wussten die Konsumvereine wenig entgegenzusetzen. Hilflos wurden daher die Mitglieder ermahnt: »Ein ehrlicher Käufer läßt sich nichts schenken. Ein Genossenschafter erst recht nicht!«127 Der Großteil des kaufenden Publikums wird das anders gesehen haben. Die Haltung der Konsumvereinsbewegung zur Produktwerbung war weniger eindeutig und vielmehr von einem Bruch zwischen Theorie und Praxis gekennzeichnet. Während die publizistisch aktiven Spitzen der Verbände dem genossenschaftlichen Erziehungs- und Fortbildungswesen eine überragende Bedeutung zuerkannten, schenkten sie der Werbung wenig Beachtung oder missbilligten sie als kapitalistische Verschwendung und Manipulation. Theodor Brauer betonte, dass Bedarfsdeckung, nicht Bedarfsweckung der Zweck der Konsumgenossenschaft sei, die eine »ihrer grundsätzlichen Einstellung nach reklamelose Wirtschaftsform« sei, wie Robert Schloesser meinte.128 Die werbeasketischen Grundsätze bröckelten jedoch, je weiter man sich der wirtschaftlichen Vereinspraxis näherte. Schon früh machten sich auch in den Verbandsorganen Stimmen bemerkbar, die eine intensivere Werbetätigkeit forderten, mit der sich die ästhetische Wirkung der Waren und Verteilungsstellen verbessern ließ.129 Wegweisend war in dieser Hinsicht zudem die Etablierung der genossen­ schaftlichen Eigenmarke durch die GEG, deren Design unter anderem Lucian Bernhard, einer der fähigsten Werbegraphiker Deutschlands, entwarf. Gerade auf lokaler Ebene wurde im Laufe der zwanziger Jahre immer deutlicher, dass Werbung und Aufmachung für den Verkaufserfolg unerlässliche Faktoren waren, und daher veranstalteten die Vereine umfangreiche und gut besuchte Warenausstellungen, Werbefeste und -umzüge sowie Filmabende.130 Dass Preis und Qualität der Produkte für die Verbraucher mitnichten als die einzigen Kauf­ kriterien galten, wie es die Genossenschaftstheorie gern gesehen hätte, sondern von ästhetisch-symbolischen Begleiterscheinungen verdrängt werden konnten, war eine der praktischen Erfahrungen in den Verteilungsstellen, aus der Konse126 Dölz, Zugabe-Unwesen, S. 7. 127 Die Zugabe, in: Die Genossenschaftsfamilie 19 (1926), S. 191. 128 Schloesser, Gehalt, S. 43; vgl. ders., Scheinblüte, S. 46; Brauer, Bedeutung, S. 10–12; Schäfer, Genossenschaften, S. 308 f. 129 Vgl. Leisering, Schaufensterdekoration, S. 467 f.; Tiedemann, Reklame, S. 251 f., 419, 455 f.; Götz, Warenausstellungen, S.  232 f.; Konsumgenossenschaftliche Reklame, in: KR 21 (1924), S. 180 f.; Kampf der Reklame, in: Die Genossenschaftsfamilie 23 (1929), S. 43. 130 Vgl. Spiekermann, Medium, S. 167–173.

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quenzen gezogen wurden. Das bezeugt die Aussage, die der Leiter eines vorwiegend von Angestellten und Arbeitern frequentierten Konsumvereins vor dem Enquête-Ausschuß im Jahr 1929 machte: Sie hätten aufgrund der in allen Kreisen gestiegenen Ansprüche an das äußere Erscheinungsbild nicht nur den Laden gründlich modernisiert, sondern verkauften auch einige identische Artikel in verschiedener Aufmachung. So würden beispielsweise Nudeln, die in attraktiver Verpackung, aber zu einem höheren Preis angeboten würden, mehr nachgefragt als die gleiche Sorte, die – bei gleicher Menge und Qualität – lose zum Verkauf stünde.131 Ein solches Verhalten ließ sich nicht in das Bild einfügen, das sich die Genossenschaftstheorie vom Verbraucher und von einer effizienten Wirtschaftsorganisation machte. Das Dilemma, vor dem die Konsumvereinsbewegung daher stand: sich von der Werbung aus programmatischen Gründen distanzieren zu wollen, sich aus Interesse am Geschäftserfolg ihr aber nicht verschließen zu können, spiegelte sich in dem Balanceakt, kommerzielle Reklame mit Erziehungsbotschaften zu verknüpfen. So wurde besonderes Augenmerk auf die Hausagitation, auf Publikumszeitschriften und Veranstaltungen gelegt, die einerseits die wirtschaftlichen Vorzüge hervorkehrten, welche die Mitglieder als Kunden genossen, und diese andererseits an die Pflichten erinnerten, die sie als Genossenschafter zu erfüllen hätten. Dieser Versuch, die Werbung zu einem genossenschaftsspezifischen »Medium der Solidarität«132 umzufunktionieren, scheiterte bereits daran, dass die Konsumvereine das ästhetische und dynamische Potential der Werbung, das zur gleichen Zeit in der Privatwirtschaft realisiert wurde, nicht auszuschöpfen vermochten. Wie beispielsweise Abbildung 3 zeigt, verzichtete der Zentralverband zwar nicht darauf, für GEG-Zigarren Reklame zu machen, obwohl damit ein eigentlich überflüssiges Genussmittel beworben wurde; zugleich machte man sich aber wenig Mühe, den Verbraucher von der Qualität der Marke zu überzeugen. Dem lapidaren Hinweis, die Zigarren seien wieder erhältlich, folgte sogar der obligatorische Pflichtappell – werbepsychologisch ein dürftiges Verkaufsargument. Die Folge des ambivalenten Verhältnisses zur Werbung lässt sich an Zahlen ablesen: Im Zentralverband ging die Besucherzahl bei den zunächst äußerst beliebten Warenausstellungen zwischen 1924 und 1931 mehr und mehr zurück, und auch wenn die Werbeetats der Konsumvereine in der Zwischenkriegszeit anstiegen, blieb doch ihr Anteil am Umsatz weit unter dem, was im privaten Handel üblich war.133 »Dream worlds of consumption«134 waren die Konsum­ genossenschaften eben nicht.

131 Ausschuß, Konsumvereine, S. 625; zu den gewachsenen Ansprüchen der Verbraucher vgl. auch ebd., S. 324 f., 639, 659. 132 Spiekermann, Medium. 133 Vgl. ebd., S. 182–184. 134 Williams, Dream Worlds; vgl. auch Furlough u. Strikwerda, Economics, S. 5.

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Abb. 3: Konsum als Verpflichtung: Reklame für die Zigarren der Genossenschaftsmarke Quelle: Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 13 (1920), September, S. 59.

Das von der Konsumvereinsbewegung gepflegte Leitbild des Konsumenten unterschied sich grundlegend von der heute dominierenden Verbraucheridentität. Nicht ein individualistisches und unpolitisches Wahlbewusstsein, Wandel und Ausweitung der Bedürfnisse bestimmten den genossenschaftlichen Konsumenten, sondern er war idealiter ein solidarisch und politisch denkendes Subjekt, dessen materielle Bedürfnisse Grenzen kannten und der primär an einer zuverlässigen Versorgung mit notwendigen Bedarfsgütern interessiert war, die preisgünstig, qualitativ akzeptabel und »fair«, von gewerkschaftlich organisierten Arbeitern produziert zu sein hatten. Mit diesem Identitätsangebot waren die Konsumgenossenschaften in der Weimarer Republik einerseits erfolgreich und stießen andererseits frühzeitig an die Grenzen ihrer Entwicklungsmöglichkeit. Gerade in der Versorgungkrise bis 1924, doch auch danach, als der Konsum notwendiger Lebensmittel noch eine so zentrale Rolle im Haushaltsbudget spielte, entsprach der genossenschaftliche Imperativ der notwendigen 138

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Bedarfsdeckung den ökonomischen Gegebenheiten. Das Interesse großer Teile der Verbraucherschaft an einer Minimalversorgung kam den Stärken der Konsumvereine entgegen. Je mehr seit Mitte der zwanziger Jahre aber der Erwartungshorizont der Konsumenten aufbrach, wie es vorn dargestellt wurde, desto weniger plausibel wurde das Bild des sparsamen, ausschließlich auf Subsistenzsicherung bedachten Verbrauchers. Dass die Mitgliederzahlen seit 1925 auf hohem Niveau stagnierten, zeigt, dass die Attraktivität der Konsumvereine eine Grenze erreicht hatte. Sie bestand darin, dass es nicht gelang, das dynamische und hedonistische Bedürfnis der Konsumenten nach immer neuen und besseren Produkten, das durch das konkurrierende Angebot einer sich rasch entfaltenden Bilder- und Warenwelt starken Auftrieb erhielt, in das konsumgenossenschaftliche Projekt zu integrieren. Ob es hätte gelingen können, ist fraglich: Viel später machte man auch in der DDR in einem ähnlich angelegten, aber viel größeren Versuch die Erfahrung, dass Bedarfsdeckung und Bedürfnisrevolution zwei schwer aufeinander abstimmbare Größen sind.

3. Die Frage der öffentlichen Vertretung der Verbraucherinteressen Als in den ersten Jahren nach der Novemberrevolution 1918 um die Neuordnung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland gestritten wurde, spielte die Konsumvereinsbewegung eine Rolle, die für die Entwicklungspotentiale und -grenzen der Weimarer Republik in ihrer Formierungsphase aufschlussreich ist. Nach dem bisher Gesagten scheint die Bewegung als politisch aktiv gestaltende Kraft kaum in Frage zu kommen, denn legte nicht die revisionistische Langzeitperspektive und das Bekenntnis zur partei­politischen Neutralität die Konsumgenossenschaften auf eine primär wirtschaftliche Reformtätigkeit fest? Doch auch wenn die wirtschaftliche Selbsthilfe der Ver­ braucher propagiert und über »wirtschaftsunkundige Nurpolitiker«135 gelästert wurde, bedeutete das noch nicht eine Abstinenz von jeglicher politischen Einflussnahme. Selbstverständlich musste dafür gesorgt werden, dass konsumvereinsfreundliche gesetzliche Rahmenbedingungen herrschten und generell das Verbraucherinteresse in wirtschaftspolitischen Beratungs- und Entscheidungsinstitutionen vertreten war. Doch auf welchem Wege sollte das geschehen? Die Methode einer parteilich gebundenen Interessenpolitik erschien von vornherein ausgeschlossen, verkörperte doch die Konsumvereinsbewegung nach dem Bekunden ihrer Vordenker ein Gesellschaftsmodell, das nicht auf dem Weg des Klassenkampfes herzustellen war. Der Klassenkampf erschien, in den Worten von Hans Müller, als 135 Wilhelm A. Wilhelm, Sekretär des Zentralverbandes österreichischer Konsumvereine, zit. n. Staudinger, Bedeutung, S. 772. Vgl. auch Weber, Konsumgenossenschaften, S. 134 f.

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ein »Strudel der Streiks, Boykotts und Aussperrungen, der politischen Agitationen, Wahlen und Abstimmungen«,136 was bedeutete, dass weder Gewerkschafts- noch Parteistrategie zum Vorbild konsumgenossenschaftlicher Politik taugte. Dieser erhebliche Vorbehalt gegenüber den weltanschaulichen Grabenkämpfen der Parteien war der Grund für ein gewisses Desinteresse an parlamentarischer Repräsentation auf höchster Ebene: Weder wurde eine eigene Partei der Konsumvereine gegründet, wie sie in England zu dieser Zeit bestand,137 noch hielt man die Aufstellung eigener parteiloser Kandidaten für klug oder bemühte sich darum, dass Genossenschaftsvertreter in nennenswerter Zahl in die Reichstagsfraktionen der Parteien einzogen. Die Reichstage der Weimarer Republik zählten nur eine Handvoll ausgewiesener Vertreter der Bewegung: ­Peter Schlack und Christine Teusch für das Zentrum, Franz Feuerstein, Hermann Fleißner und Friedrich Peine für die Sozialdemokraten.138 Andere Mittel wurden gewählt, um politischen Einfluss auszuüben und in der Öffentlichkeit die Interessen der Verbraucher zu vertreten. Mit dem Selbstverständnis einer Bewegung, die, über dem Parteienzwist stehend, das All­ gemeinwohl verkörpern wollte, suchten Ideologen wie Staudinger, Wilbrandt und vor allem Schloesser die Unterstützung der nationalökonomischen Fachwissenschaft wie der politischen Öffentlichkeit. Der Durchbruch zu einer verstärkten Wahrnehmung der Konsumvereine, die bis zu den 1890er Jahren eher ein volkswirtschaftliches Nischendasein geführt hatten, erfolgte bereits im Jahrfünft vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges: Sie erfuhren auf dem Kopenhagener Kongress der II. Internationalen im Jahr 1910 erstmals die offizielle Anerkennung der Linken, und der im gleichen Jahr stattfindende Magdeburger Parteitag der SPD forderte die Mitglieder zum Eintritt in die Konsumvereine auf. In den folgenden Jahren (1911/12) beschäftigte sich Emil Lederer im innovativsten Organ der deutschen Nationalökonomie und Soziologie, dem Archiv für Sozialwissenschaft und Sozial­ politik, in zwei grundlegenden Beiträgen mit den Konsumgenossenschaften und den Grenzen ihrer mittlerweile respektabel erscheinenden Entwicklungsmöglichkeiten. Auf dem Evangelisch-sozialen Kongreß im Jahr 1913 verkündete Wilbrandt  – unter Zustimmung von Adolf Wagner  –, dass der Ausbau des Konsumvereinswesens der wahre, »praktische Sozialismus« und gleichbedeutend mit der Verwirklichung des Evangeliums sei; im Jahr darauf versuchte Staudinger mit seinen sozialphilosophischen »Kulturgrundlagen der Politik«, die bei Diederichs erschienen, eine gebildete Öffentlichkeit von der ethischen Bedeutung des Genossenschaftswesens zu überzeugen. Im Jahr 1915 gab dann

136 Müller, Klassenkampftheorie, S. 45. 137 Vgl. Carbery, Consumers; Gurney, Culture; Pollard, Foundation. 138 Schlack (1919–1933), Teusch (1919–1933), Feuerstein (1920–1924), Fleißner (USPD/SPD 1920–1933), Peine (1920–1933). Vgl. Schwarz, MdR, S. 647 f., 746, 774; zudem Weber, Konsumgenossenschaften, S. 18; Totomianz, Konsumentenorganisation, S. 55.

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der Verein für Socialpolitik in seiner Schriftenreihe die ersten »Untersuchungen über Konsumvereine« heraus.139 Diesen wichtigen Aufmerksamkeitsimpulsen zum Trotz blieb das Inte­resse der breiteren Öffentlichkeit und der Wissenschaft an der Konsumvereins­ bewegung bescheiden – so zumindest urteilten Tönnies und Cassau über deren Wahrnehmung. Tönnies widmete dem Genossenschaftswesen einen eigenen Abschnitt in seiner »Kritik der öffentlichen Meinung«, die zwischen 1915 und 1921 entstand, und stellte enttäuscht fest, dass in den einschlägigen Lehrbüchern der Nationalökonomie (Roscher, Conrad, Philippovich, Schmoller und Wagner) und der Ethik (Paulsen und Wundt) die gemeinschaftsbildende Qualität und die Profitlosigkeit der Genossenschaften ignoriert oder verkannt würden.140 Nicht nur durch seine Publikationstätigkeit für den Zentralverband versuchte er sich daher als Propagandist der Konsumvereine. Die 1922 erschienene vierte und fünfte Auflage seines breit rezipierten Hauptwerkes »Gemeinschaft und Gesellschaft« ergänzte Tönnies eigens um einen Zusatz, in dem er alle jene, die angesichts der vermeintlichen Auflösungserscheinungen der liberal-kapitalistischen Ordnung seinem »Ruf nach ›Gemeinschaft‹« zustimmten, darauf hinwies, dass diese Forderung nicht reine Utopie sei, sondern sich als »entwicklungsfähiges Prinzip« bereits in den Konsumgenossenschaften realisiert habe.141 Diese als Keim einer sozialharmonischen Gesellschaftsordnung anzusehen schien jedoch nicht konsensfähig zu sein: Tönnies selbst musste zugeben, dass die »Öffentliche Meinung« unbeirrt von »sozialdemokratischen Konsumvereinen« rede oder, wie Cassau meinte, wenig Notiz von ihnen nahm.142 Anderen wiederum erschienen sie als kapitalistische Gebilde: Je erfolgreicher desto mehr machte sich schließlich der Einfluss der professionellen Verbandsbürokratie geltend und desto höher wurde die Aufstockung des Betriebskapitals zulasten der Rückvergütung. Die mögliche Unvereinbarkeit von Demokratie und Großbetrieb erschien auch Cassau als die größte innere Gefahr der Konsumvereinsbewegung, und dass sogar ein begeisterter Anhänger wie Tönnies davor warnte, in eine gewöhnliche kapitalistische Geschäftspraxis zu verfallen, lässt vermuten, dass erst recht viele Verbraucher die »Verteilungsstelle« als einen Laden wie jeden anderen betrachteten.143 139 Vgl. Fairbairn, Rise, S.  284; Cassau, Konsumvereinsbewegung, S.  126; Lederer, Organisationen, S. 641–694; ders., Versuch, S. 101–114; Wilbrandt, Kapitalismus, S. 413 f.; ders., Sozialismus, S.  116–125; Klein, Selbsthilfe, S.  97; Staudinger, Kulturgrundlagen, Bd.  2, S. 144–185; Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 150 und 151: Cassau, Konsumvereinsbewegung in Großbritannien; Bittel, Pfeiffer. 140 Vgl. Tönnies, Kritik, S. 455–462. 141 Tönnies, Gemeinschaft, S. 201; vgl. auch ders., Menschheit, S. 38 ff. 142 Ders., Kritik, S. 457; vgl. Cassau, Konsumvereinsbewegung, S. 132, sowie Adolf Weber, in: Schloesser (Hg.), Konsumgenossenschaft, S. 40; Kuczynski, Labor Conditions, S. 195. 143 Vgl. Cassau, Konsumvereinsbewegung, S.  11–28; Tönnies, Gemeinschaft, S.  201; ders., Lohnzahlung ohne Bargeld, in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 7.9.1918, Nr. 458; Fritz Grossmann, Lohnzahlung ohne Bargeld, in: ebd. 1.11.1918, Nr. 560.

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Wenn auch die diskursive Präsenz des konsumgenossenschaftlichen ­Projekts in der breiten Öffentlichkeit eher gering war, standen dennoch die Chancen nicht schlecht, es bei jenen Kräften im Umfeld der Weimarer Koalition zur Geltung zu bringen, welche die politisch-ökonomische Ordnung neu zu ge­ stalten suchten. Nicht nur hatte der Krieg gezeigt, dass eine dauerhafte und manifeste Verletzung der Verbraucherinteressen wesentlich zum Umsturz beigetragen hatte und daher jede Regierung gut beraten schien, den  – wenn auch selbst ernannten  – Konsumentenvertretern Gehör zu schenken; nach 1918 wurde auch die Anschlussfähigkeit der Konsumvereinsbewegung verstärkt wahrgenommen. Das zeigt sich nirgendwo sonst so eindrucksvoll wie in jenen Anthologien, in denen die Urteile von »führenden Zeitgenossen« über das Konsumvereinswesen gesammelt wurden und die zugleich Spiegel und Motor seiner wachsenden Anerkennung waren.144 Im Jahr 1911 hatte bereits August Müller – bis 1919 im Vorstand des Zentralverbands und dann als Staatssekretär im Wirtschaftsministerium tätig  – eine Reihe wohlwollender Stimmen von Ökonomen wie Schmoller, Herkner, Rathgen und von einer Handvoll Regierungsbeamten zusammengestellt. Zehn Jahre darauf führte dann Robert Schloesser für den Reichsverband eine gezielte Umfrage unter »führenden Persönlichkeiten der Wissenschaft, Wirtschaft und Verwaltung« durch, deren Echo sich hören lassen konnte. Lujo Brentano attestierte den Konsumvereinen »von allen neuzeitlichen sozialen Organisationen […] die größte Zukunft«, und Werner Sombart glaubte in ihnen die »wichtigsten und segenreichsten Erscheinungen« seiner Zeit zu erkennen.145 Lobeshymnen dieser Art, die von einer großen Zahl der renommiertesten Na­tionalökonomen angestimmt wurden, bezogen sich auf jene Vorzüge, die uns bereits in der Selbstdarstellung der Konsumvereinsbewegung begegnet sind: Ernst Francke pries die »planmäßige Versorgung und Leitung des Verbrauchs der Volksmassen«,146 deren Erziehung zum rationellen Wirtschaften und die Förderung des Gemeinschaftsgeistes. Gerhart v. SchulzeGävernitz, der sich für den christlichen Sozialismus der englischen Pioniere begeisterte, argumentierte  – wie viele seiner Kollegen  –, dass die organisierte Selbsthilfe der Verbraucher die wirkungsvollere Reformbewegung sei als jeder Sozialisierungsplan. Ebenso oft wurde die Erwartung geäußert, die Konsumgenossenschaften könnten durch ihren Effizienzvorsprung jenen Zwischenhandel ausschalten, der sich insbesondere in der Kriegs- und Nachkriegszeit als »unproduktiv«, »unnütz« oder »überflüssig« erwiesen habe. In diese Kerbe schlug auch Carl Falck, der ehemalige Leiter des Preußischen Kriegswucheramtes, der sich daran erinnerte, dass ein großer Teil  der Kleinhandelsgeschäfte die Notlage der Konsumenten »in einer vielfach schamlosen Weise ausgebeutet« 144 Vgl. zum Folgenden Müller, Konsumgenossenschafts-Brevier; Schloesser, Konsumgenossen­ schaft, S. 256–286; ders., Konsumgenossenschaft; ders., Konsumgenossenschaftswesen. 145 Brentano u. Sombart, in: Schloesser, Konsumgenossenschaft, S. 262, 271. 146 Francke, in: Schloesser, Konsumgenossenschaft, S. 264.

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habe, während sich die Konsumvereine durch ihre faire Preispolitik verdient gemacht hätten – eine Äußerung, gegen die die Presse des Einzelhandels sofort scharf protestierte.147 Überhaupt waren die Bewertungen aus Regierungs- und Verwaltungskreisen ausgesprochen freundlich, sofern es sich um Sozialdemokraten handelte, bisweilen sogar euphorisch, was für die Bewegung im Vergleich zum Kaiserreich einen gewaltigen Fortschritt bedeutete. So betonte der ehemalige Reichskanzler Gustav Bauer die Fähigkeit der Konsumvereine, die Not der Verbraucher zu lindern, zur Sparsamkeit zu erziehen und Zwischengewinne auszuschalten. Der amtierende Reichswirtschaftsminister Robert Schmidt machte sich beinahe die komplette Genossenschaftstheorie zu eigen, indem er weitreichende Ziele formulierte: »Um […] den Konsumenten Erleichterung zu schaffen, kann die Konsumgenossenschaftsbewegung Erhebliches beitragen, indem sie durch Verkürzung des Weges vom Hersteller zum Verbraucher unproduktive Zwischenglieder ausschaltet und dem Konsum billige und Qualitätsware zuführt, indem sie den Konsumenten in den Konsumvereinen eine Interessenvertretung gibt, die sich für die Konsumenten, um als geschlossene Einheit im Wirtschaftsleben zu wirken, als erforderlich erwiesen hat. […] Die Erfordernisse der Wirtschaftlichkeit weisen den Konsumvereinen nicht nur Wege innerhalb der Warenverteilung, sondern führen sie schließlich zur Eigenproduktion und damit in konsequenter Abkehr vom regellosen Warenverkehr zur Bedarfs­ deckungswirtschaft, einer höheren Form der Wirtschaftsführung.«148

Dass Schmidt sich in dieser Form mit dem Programm der Konsumvereinsbewegung identifizierte, hatte sicher einen wesentlichen Grund darin, dass mit den bereits erwähnten Staatssekretären August Müller und Julius Hirsch zwei Männer in seinem Ministerium wirkten, die als Kenner und, im Fall Müllers, als Anhänger gelten können. Dieser war der Ansicht, dass aus der kriegs- und reparationsbedingten Verarmung Deutschlands ein besonderer Zwang zur Sparsamkeit im Umgang mit allen zur Verfügung stehenden Ressourcen erwuchs, was die Notwendigkeit einer durchrationalisierten Distribution einschloss. Dem stimmte auch Hirsch zu, der als führender Experte des Einzelhandelswesens galt und durchaus kein Sozialist, sondern eher der Vertreter eines »pragma­ tischen Dirigismus«149 im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung war. Hirsch hielt aber die Leistungen der Genossenschaftsbewegung für derart groß, 147 Falck, in: Schloesser, Konsumgenossenschaft, S. 264. Die Schrift versammelte des weiteren positive Bewertungen von Götz Briefs, Ernst Günther, Georg v. Mayr, Franz Oppenheimer, Max Sering, Ferdinand Tönnies und Waldemar Zimmermann – um nur die bekanntesten Professoren herauszugreifen. Zur Rezeption durch den Einzelhandel vgl. Kolonialwarenzeitung 1921, Nr. 84, Datum unleserl., zit. n. KP 10 (1921), S. 404 f. 148 Schmidt, in: Schloesser, Konsumgenossenschaft, S. 270. Vgl. auch die Rede Schmidts anlässlich einer ernährungspolitischen Debatte im Reichstag, in der er sich voll hinter die Konsumvereine stellte: vgl. StenBerRT Bd. 351, S. 5020 (17.11.1921). 149 Feldman, Disorder, S. 171 (Übersetzung, C. T.).

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dass er glaubte, jede privatwirtschaftliche Konkurrenz sei gezwungen, sich ihrerseits genossenschaftlicher Organisationsformen zu bedienen – wie das etwa bei den sich rasch entwickelnden Filialbetrieben der Fall war. Obwohl er nicht die Entwicklungszuversicht einiger Genossenschaftstheoretiker teilte, sympathisierte er doch mit ihrem Projekt einer »Neugestaltung der Wirtschaft auf der Grundlage des Bedarfs« und erklärte den »Verbrauchersozialismus« zu einem wesentlichen Programmpunkt des RWM.150 Auch wenn sozialdemokratische Entscheidungsträger in ihrer Unterstützung am weitesten gingen, verzeichnete doch die Umfrage auch eine positive Resonanz aus den Reihen der DDP und vor allem des Zentrums sowie der christlichen Gewerkschaften. Geradezu enthusiastisch ließ sich Matthias Erzberger vernehmen, der den Konsumgenossenschaften eine »Riesenentwicklung« vorhersagte, und auch seine Parteigenossen Heinrich Brauns und Adam Stegerwald – als Reichsarbeitsminister von 1920 bis 1928 bzw. 1930 bis 1932 zwei der einflussreichsten Sozialpolitiker der Weimarer Republik – würdigten ihre hohe erzieherische und sozialmoralische Bedeutung. Selbst der konservative, parteilose Hans Luther, der 1921 noch Oberbürgermeister von Essen und daher mit den Versorgungsnöten der Verbraucher direkt konfrontiert war, sprach sich für die Konsumvereine aus. Als er diese Unterstützung 1925 als Reichskanzler wiederholte, indem er den Beamten- und Angestelltenverbänden den Beitritt zum Konsumverein als wirkungsvollstes Mittel gegen die Teuerung empfahl, erntete er harsche Kritik des Einzelhandels.151 Insbesondere in den ersten Jahren der Weimarer Republik mangelte es also der Konsumvereinsbewegung nicht an Beifallsbekundungen, denn sie war für zwei zentrale Diskurse anschlussfähig, die sich um die Begriffe der Rationa­ lisierung und der Gemeinwirtschaft rankten. Dass die Genossenschaften einen Beitrag zur oft beschriebenen Rationalisierungseuphorie leisteten, ist bislang wenig beachtet worden, zeigt sich aber unverkennbar an den genannten Stimmen, die mal die großbetriebliche Effizienz der vielbeschworenen »planmäßigen Organisation« der Verbraucher lobten, mal zur Bekämpfung der Inflation auf die Verdrängung des »verteuernden Zwischenhandels« setzten oder angesichts wiederkehrender Versorgungsengpässe der Bedarfsdeckung als alternati-

150 Programm des RWM 1919: Ausführungen des UStS Hirsch vor Pressevertretern, in: ­Hubatsch, Entstehung, S.  57; Verbraucher heraus! in: Vorwärts, Nr.  555, 30.10.1919; vgl. auch Schloesser, Konsumgenossenschaft, S. 260 f., ders., Konsumgenossenschaft, S. 19, 24; Hirsch, Vorwort, S. V-X; Müller, Einleitung, S. 7–21. Zu den Akteuren im RWM vgl. Feldman, Disorder, S. 165–171; Weimer, Gemeinwirtschaft, S. 51–55; Staudinger, Wirtschaftspolitik, S. 27 f. 151 Schloesser (Hg.), Konsumgenossenschaft, S.  9, 13, 23, 36 f.; Adam Stegerwald, Von der erzieherischen Bedeutung der Verbraucherorganisationen, in: Der Deutsche, 14.4.1922, Nr. 110; Reichsverband Deutscher Kolonialwaren- und Lebensmittelhändler an die Regierung, 28.8.1925, BA, R 43 I, 1153, Bl. 321; Das Verbrechen des Reichskanzlers, in: Die Genossenschaftsfamilie 18 (1925), S. 1; Richter, Kampf, S. 16.

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ves Allokationsprinzip das Wort redeten.152 Ebenso war der schillernde Begriff der Gemeinwirtschaft ein mit hohen Erwartungen verknüpftes Reformkonzept, unter dessen breitem Dach auch die Genossenschaftsanhänger ihren Platz fanden. Quer durch das politische Spektrum bezogen sich all jene auf den Begriff der Gemeinwirtschaft, die sich nach dem Krieg gegen eine Rückkehr zur vermeintlich anarchistischen Verkehrswirtschaft aussprachen und für eine »gebundene Volkswirtschaft« – sei es durch Staatseingriffe, sei es durch Selbstverwaltungskörper der Wirtschaft – plädierten. Auch wenn weder Rathenau noch v. Moellendorff – die bekanntesten Exponenten einer durchorganisierten Wirtschaftsordnung  – den Konsumvereinen eine zentrale Rolle in ihrem Konzept zuschrieben,153 sind doch die Parallelen zur Genossenschaftstheorie offensichtlich: Eine auf das Gemeinwohl und den Bedarf ausgerichtete Wirtschaft, die ohne Krisen, verteilungsgerecht und vor allem effizient funktionieren würde, war die gemeinsame ordnungspolitische Zielvorstellung der Anhänger der Gemeinwirtschaft wie der Genossenschaftsbewegung.154 Was gerade in der Zeit der Übergangswirtschaft zahlreiche Nationalökonomen der Jüngeren Historischen Schule155 sowohl mit den revisionistischen Kräften der Mehrheitssozialdemokratie als auch mit dem linken Flügel des politischen Katholizismus verband, war die Suche nach einem »Dritten Weg« zwischen Kapitalismus und Sozialismus, eine Möglichkeit, die Marktordnung wiederherzustellen, ohne die Perspektive der langfristigen Systemtransformation aufzugeben. Eine derartige Mischung von Kompromissbereitschaft und Reformwillen kam dem Anliegen der Konsumvereinsbewegung entgegen und wurde durch sie verstärkt. Ihre Übereinstimmung mit den politischen Leit­ linien, die die Weimarer Koalition zu einer dilatorischen Reformpolitik veranlassten, war der Durchsetzung ihrer Ziele förderlich. In der Anfangsphase der Weimarer Republik wurde daher den Konsum­ genossenschaften allenthalben staatliche Unterstützung zuteil. Nicht nur dass das Reichsernährungsamt die Gleichbehandlung der Genossenschaften bei der Warenverteilung anordnete, das RWM forderte sogar im Jahr 1920 die Beamten zum Eintritt in Konsumvereine auf, und im Jahr darauf konnten die Genos152 Vgl. Rauecker, Rationalisierung, S. 95–98; Gerhardt, Art. Rationalisierung S. 811; Schlack, Preisregelung, S. 1–29. 153 Moellendorff, der in der Denkschrift des RWM vom Mai 1919 die Gemeinwirtschaft als »die zugunsten der Volksgemeinschaft planmäßig betriebene und gesellschaftlich kontrollierte Volkswirtschaft« beschrieb, gedachte allerdings in das von ihm betriebene System der wirtschaftlichen Selbstverwaltungskörper auch die Konsumvereine mitein­zubeziehen. V. Moellendorff, Sozialismus, S. 119; vgl. ebd., S. 137. 154 Vgl. zum Diskurs über die Gemeinwirtschaft Kahlmann, Diskussion; Weimer, Gemeinwirtschaft, S. 38–79; Lüdders, Suche, S. 170–177; Krüger, Nationalökonomen, S. 141–148, 158–169; Schivelbusch, Kultur, S. 310–313; Winkler, Revolution, S. 193–197; Braun, Konservatismus; Biechele, Kampf, S. 111–113. 155 Von diesen verwiesen u. a. Eduard Heimann, Edgar Jaffé und Edmund Fischer unmittelbar auf die Bedeutung des Genossenschaftswesens. Vgl. Krüger, Nationalökonomen, S.  84 f., 137, 159.

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senschaftsverbände die Reichsregierung dazu bewegen, ihnen eine besondere Verantwortung bei der Versorgung der Bergleute im Ruhrgebiet zuzuerkennen.156 Im Jahr 1922 wurde auch auf Initiative des RMEL der »Wirtschaftsausschuß der deutschen Verbraucher- und Erzeugergenossenschaften« ins Leben gerufen, der die Aufgabe hatte, direkte Geschäftsbeziehungen zwischen den landwirtschaftlichen Produktiv- und den städtischen Konsumgenossenschaften zu knüpfen und damit zur Rationalisierung der Warenverteilung beizutragen.157 Diese Erfolge waren nicht zuletzt einer intensivierten Lobbytätigkeit des Zen­tralverbands zuzuschreiben: Nachdem sein Vorstand bereits 1918 die Einsetzung von Parlamentsausschüssen zur Interessenwahrnehmung der Konsumvereine beschlossen hatte, richtete man im November 1922 eine ständige Vertretung in Berlin ein, um »den Verkehr mit den Reichs- und Preussischen Landesbehörden [zu] erleichtern«.158 Im März 1923 bildeten die beiden Konsumvereinsverbände und die gewerblichen Genossenschaften zusammen mit dem RDI und dem Zentralverband des deutschen Großhandels eine »Genossenschaftliche Einigungsstelle«, womit sich die private Konkurrenz zur Anerkennung des Großhandelsstatus der Genossenschaftszentralen verpflichtete.159 Auch wenn dadurch die bereits aus der Vorkriegszeit bekannten Konflikte um den Verkauf an Nichtmitglieder, um Preisvergleiche und Fragen der Besteuerung langfristig nicht verhindert werden konnten und der Reichsverband die Einigungsstelle daher später als Misserfolg wertete, zahlte sich die verstärkte Lobbyarbeit für die Konsumvereine bald im wörtlichen Sinne aus: Als sie im Herbst 1923 aufgrund der Entwertung ihrer Kapitaleinlagen vor dem finanziellen Ruin standen, konnte der Zentralverband durch eine Eingabe beim RWM erreichen, dass die Konsumvereine einen Kredit von 4 Millionen Goldmark erhielten.160 Nach Beendigung der Inflation wuchs zwar der politische Widerstand erneut an, den die Einzelhandelsverbände und vor allem die Reichspartei des deutschen Mittelstandes gegen die Konsumvereine mobilisierten, und doch resümierte der Hallenser Professor für Genossenschaftswesen, Ernst Grünfeld, noch 1928: »Die Zeit der großen Kämpfe ist vorbei; man ist anerkannte Stütze von Staat und Ordnung.«161 Die politischen Ziele der Konsumvereinsbewegung erschöpften sich aber keineswegs in der Herstellung genossenschaftsfreundlicher gesetzlicher Rahmen156 Vgl. Kaufmann, Festschrift, S. 192; anon., KV 13 (1920), S. 40; anon., KV 14 (1921), S. 18, 22. 157 Unter Mitwirkung von Kaufmann fand das Ziel der genossenschaftlichen Kooperation von Landwirtschaft und Verbrauchern schließlich Eingang in das Programm, das die Weltwirtschaftskonferenz in Genf 1927 verabschiedete. Vgl. Kaufmann, Festschrift, S. 286; zudem Müller, Genossenschaftsbewegung, S. 1123, 359 f.; ders., Erzeuger- und Verbrauchergenossenschaften, S. 103–117; Kluthe, Genossenschaften, S. 100. 158 ZdK an RWM, BA, R 3101, 10590, Bl. 135, 161. Vgl. auch Kaufmann, Festschrift, S. 199. 159 Vgl. Kluthe, Genossenschaften, S. 100, 117; Fleischer, Zentralverband, S. 35 f. 160 Vgl. BA, R 3101, 10590, Bl. 170 f., 173–176. 161 Grünfeld u. Hildebrand, Genossenschaftswesen, S. 31; vgl. auch Richter, Kampf, S. 14–26; Schumacher, Mittelstandsfront.

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bedingungen. Der am weitesten reichende politische Vorstoß, der in der formativen Phase der Weimarer Republik gemacht wurde, bestand in dem Versuch, den Konsumenten als politisches Subjekt zu konstituieren, indem seine Vertretung in eigenständigen »Verbraucherkammern« und in den laut Verfassung zu schaffenden Wirtschaftsräten angestrebt wurde. Wenngleich diese bereits im Jahr 1916 anlaufende Kampagne spätestens 1922 weitgehend scheiterte, sollte doch nicht übersehen werden – was in der Forschung bislang der Fall ist –, dass die Debatte um die öffentliche Verbrauchervertretung zentrale Entwicklungsprobleme der Weimarer Demokratie und Gesellschaft berührt: Zum einen ging es um die Möglichkeit einer Gewichtsverschiebung des Politischen weg von den staatlichen Institutionen hin zu neuen Formen der wirtschaftlichen Selbstverwaltung. Zum anderen vollzog sich eine Auseinandersetzung über die Selbstbeschreibung der deutschen Gesellschaft: Bestand diese primär aus den sozialen Gruppen von Kapital und Arbeit, zwischen denen ein Ausgleich herzustellen war, oder lagen die bedeutsameren Konfliktlinien zwischen den Interessentenkoalitionen von Produzenten und Konsumenten? Das Vorhaben, den Verbrauchern Sitz und Stimme in öffentlichen Vertretungskörperschaften zu erobern und somit auf dem Weg einer grundlegenden Reform der Interessenvertretung den Verbraucherschutz politisch zu institutionalisieren, traf jedoch auf mächtigen Widerstand: Nicht nur dass sich die etablierten Interessengruppen der Unternehmerschaft und auch der Gewerkschaften den Verbrauchervertretungen widersetzten, wobei sie sich auf die Tradition berufsständischer Ordnungsvorstellungen einerseits,162 auf den Imperativ der »Produktionspolitik« andererseits stützten; fatalerweise war auch die Konsumvereinsbewegung selbst in der Frage der Verbraucherkammern gespalten. Ein Durchbruch in der institutionellen Verankerung von selbst ernannten Anwälten der Verbraucherschaft war bereits im Ersten Weltkrieg erzielt worden. Im Dezember 1914 wurde in Berlin der »Kriegsausschuß für Konsumenten­ interessen« (KAKI) gegründet, der sich als halboffizielles Bindeglied zwischen Regierung und Bevölkerung positionierte. Zum ersten Mal wurde damit in Deutschland gezielte Lobbyarbeit im Interesse der Verbraucher betrieben. Die Behörden wurden praktisch in sämtlichen Fragen der Versorgungspolitik beraten, wodurch beispielsweise erfolgreich gegen Preiserhöhungen protestiert oder für die Einführung der Brotkarte geworben wurde. Zudem sollten die Hausfrauen an der Heimatfront zur Sparsamkeit erzogen und durch Sammlung von statistischem Material und die Erhebung von Haushaltsrechnungen die konsumpolitischen Wissensressourcen erweitert werden. Nach und nach wurden auch auf lokaler und regionaler Ebene entsprechende Ausschüsse gebildet, die sich besonders auf dem Feld der Preisüberwachung betätigten.163

162 Vgl. Nolte, Ständische Ordnung, S. 246–250. 163 Vgl. Schloesser, Kriegsorganisation; Roerkohl, Hungerblockade, S. 194–199; Davis, Home Fires, S. 28.

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Interessanterweise waren es nicht die Konsumvereine, die bei der Gründung des KAKI Pate standen, sondern bürgerliche Interessengruppen, die sich hier zum ersten Mal unter der Devise des Verbraucherschutzes zusammenfanden. Die Hauptinitiatoren waren der Bund der Festbesoldeten und der Deutsche Käuferbund: eine Vereinigung bürgerlicher Frauen, die nach dem Vorbild der amerikanischen Consumers’ League164 zu einem ethischen, die Produktionsbedingungen der Waren berücksichtigenden Kaufverhalten erziehen wollte. Unmittelbar schlossen sich der Bund deutscher Frauenvereine, die Konsumgenossenschaftsverbände und zahlreiche Arbeitnehmerorganisationen der Arbeiter, Angestellten und Beamten an, so dass eine breite Interessenkoalition zustande kam, die mit dem Anspruch, Millionen von Verbraucher zu repräsentieren, Klassen- und Milieugrenzen übersprang. Auch ein Blick in den Vorstand des KAKI spricht für das Integrationspotential der angestrebten Konsumenten­ vertretung: Dort traf man nicht nur auf die Liberalen Gertrud Bäumer und Hellmuth von Gerlach – auf dessen Anregung der KAKI zurückging –, sondern auch auf die Sozialdemokraten August Müller und Robert Schmidt, die hier das konsumpolitische Rüstzeug für ihre spätere Tätigkeit im Reichswirtschafts­ ministerium (RWM) erwarben.165 Als umtriebiger Organisator und Vordenker in den Reihen des KAKI trat Robert Schloesser vom katholischen Reichsverband hervor. Schloesser war frühzeitig darauf bedacht, dass der Organisationserfolg des KAKI, der sich im Grunde der Ausnahmesituation der kriegsbedingten Teuerung und Versorgungsnot verdankte, auf Dauer gestellt werden müsse. Er forderte daher bereits 1916 in einer Denkschrift, die Kriegsausschüsse nach dem Friedensschluss als Verbraucherkammern fortbestehen zu lassen und sie den etablierten Handels-, Gewerbe-, Landwirtschafts- und Handwerkerkammern gegenüber gleichzu­ stellen und als öffentlich-rechtliche Körperschaften gesetzlich anzuerkennen. Nur auf diese Weise ließe sich im Kräfteverhältnis der wirtschaftspolitischen Interessenvertretung ein Gleichgewicht zwischen Produzenten und Konsumenten herstellen.166 Der Vorschlag fand ein geteiltes Echo in der Öffentlichkeit. Unterstützung erhielt er im Kunstwart und in der Neuen Zeit, während Max Schippel in den Sozialistischen Monatsheften und Georg Bernhard in der Vossischen Zeitung die einseitige und kurzsichtige »Konsumentenpolitik« kritisierten, die durch die Verbraucherkammern noch gefördert werden würde.167 Beide erhoben prinzipielle Einwände gegen die wirtschaftspolitische Legitimität des Verbraucherinteresses, das sie überdies als Fehlkonstruktion zu entlarven versuchten. Der 164 Vgl. Storrs, Civilizing; Sklar, White Label Campaign, S. 17–35; Athey, Conscience, S. ­362–382. 165 Vgl. Schloesser, Kriegsorganisation, S. 9 f. 166 Vgl. ders., Konsumentenkammern, S. 22 f. 167 Vgl. Oestreich, Verbraucherkraft, S. 258–264; Barthel, Verbraucherausschüsse, S. 564–568; Georg Bernhard, Leben statt Phrasen, in: Vossische Zeitung, 25.12.1917 (Morgenausgabe); Schippel, Konsumentenstandpunkt, S. 13–20; ders., Konsumentenvertretung, S. 73–82.

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vielbeschworene »letzte« oder »persönliche« Verbraucher sei eine Fiktion, da – abgesehen von Beamten und Pensionären – gar keine »Nur-Konsumenten« existierten; alle anderen, vom Arbeiter bis zum Unternehmer, seien ebenso sehr Produzenten wie Konsumenten. Zudem sei es fatal, wenn die Arbeitnehmer dazu verleitet würden, sich ausschließlich als Verbraucher zu verstehen und deshalb zu glauben, dass es die »Hauptsorge des Staates sein müsse, alle Gegenstände des Bedarfs den Staatsbürgern so billig als möglich zu beschaffen«.168 Das engstirnige »Billigkeitsinteresse« bewirke aber nicht nur auf dem Weg des Preisdrucks Lohndumping und die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, es weise überhaupt volkswirtschaftlich den falschen Weg. Nur eine blühende Wirtschaft sei ein wirksamer Schutz gegen Teuerung, und auch für den Verbraucher sei am besten gesorgt, wenn er ein reichliches Einkommen habe. Das war das Credo der Produktionspolitik. Überraschender Gegenwind für Schloesser und den KAKI kam darüber hinaus vom Zentralverband, der die Verbraucherkammern zunächst weniger aus programmatischen, als vielmehr aus taktischen Gründen ablehnte. Nachdem Franz Feuerstein bereits 1916 die Württembergische Regierung erfolglos ersucht hatte, die Möglichkeit von Verbraucherkammern zu prüfen, und die wilhelminischen Behörden sich ohnehin nur zögerlich der Mitarbeit des KAKI öffneten und ihn als Provisorium verstanden wissen wollten, hielt der Zentralverband die Forderung nach eigenständigen Kammern für aussichtslos. Den Reformismus habitualisiert, erschien es dem Vorstand und den Delegierten auf dem Genossenschaftstag 1917 daher klüger, sich mit dem Wunsch nach Entsendung von Konsumvereinsvertretern in die bestehenden Handelskammern zu be­gnügen.169 Damit wurde jedoch zugleich eine inhaltliche Differenz markiert, vertrat doch der Zentralverband die Position, dass es sich ausschließlich bei Konsumvereinsmitgliedern um vertretungsberechtigte Verbraucher handele, während es dem Reichsverband mit den Kammern um die Bildung einer breiten Verbraucherbewegung aus organisierten Genossenschaftern, Arbeitern, An­gestellten, Beamten, Hausfrauen und Mietern ging.170 Dieser Konflikt um die breite oder schmale Basis dauerte an und sollte in der Folgezeit verdeutlichen, in welchem Dilemma die Verbraucherbewegung steckte. Übersetzte man »Konsument« mit »Konsumgenossenschafter«, wie es der Zentralverband tat  – der damit auch seine Rolle als Sprachrohr der Verbraucher bekräftigen wollte –, stiegen die Chancen, als Interessengruppe anerkannt zu werden, da das Kriterium der Mitgliedschaft den Kreis der Interessenten eindeutig definierte. Allerdings musste man wohl auf diesem Weg mit der bescheideneren Form eines Unterausschusses in den Handelskammern Vorlieb 168 Bernhard, Leben, in: Vossische Zeitung, 25.12.1917 (Morgenausgabe). 169 Vgl. Dölz, Konsumentenkammern, S. 8; Kaufmann, Errichtung, S. 293 f.; Oestreich, Verbraucherkammern, S. 114; Fleischer, Zentralverband, S. 10–12. 170 Vgl. Schloesser, Richtlinien für die Errichtung von Verbraucherkammern, BA, R 43 I, 1254, Bl. 264 f.; ders., Zusammensetzung, S. 6–8, 134–136; Kaufmann, Errichtung, S. 293–295.

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nehmen, was der Aussicht, als ebenbürtiger Gegenspieler der Produzenten auftreten zu können, von vornherein einen Dämpfer versetzte. Wurde andererseits wie vom Reichsverband eine Spitzenorganisation angestrebt, welche die verschiedensten sozialen Gruppen in ihrer Eigenschaft als Konsumenten repräsentierte, ließ sich auf die Formierung einer mächtigen Verbraucherbewegung hoffen. Man setzte sich jedoch der Frage aus, wer überhaupt als Verbraucher zu gelten habe und welche Organisationen berufen seien, ihn zu vertreten – für das Vorhaben, ein Interesse zu institutionalisieren, eine unangenehme Kritik. Es deutete sich hier an, dass der Versuch, in den Kreis der Lobbyisten einzudringen, entweder mit einem relativ bedeutungslosen Erfolg oder mit einem ambi­ tionierten Scheitern enden würde. Dann aber kamen Revolution und Rätebewegung und verliehen den Bemühungen um die organisatorische Vertretung der Verbraucher vorerst neuen Auftrieb. Nun war es der Zentralverband, der als erster die Gelegenheit erkannte und seine Strategie veränderte: Er begann seinerseits, die Gründung von Verbraucherkammern zu betreiben, die aber gewissermaßen auf einer »mittleren« Basis aus Konsum- und Baugenossenschaften, Hausfrauen- und Mietervereinen beruhen sollten, wodurch sichergestellt war, dass den Konsumvereinen ihre Führungsrolle nicht durch die Berufsverbände streitig gemacht werden konnte. Der KAKI wiederum, der nach dem Krieg auch unter dem Namen »Reichsausschuß für Konsumenteninteressen« firmierte, trachtete danach, zur höchsten Verbraucherkammer des Reiches zu werden, und forderte die Bezirksausschüsse auf, sich als Kammern auf »breiter Basis« zu konstituieren. Es begann also ein Wettlauf zwischen Zentralverband und KAKI, in dem beide Seiten auf die Taktik des fait accompli setzten: In der chaotischen Situation der Übergangszeit, so das Kalkül, konnten nach den eigenen Vorstellungen Kammern gegründet werden, die ihre Tätigkeit aufnahmen, so dass durch praktische Bewährung ihrer späteren gesetzlichen Anerkennung vorgearbeitet werden würde.171 Schon im November 1918 ging der Zentralverband in diesem Wettstreit in Führung. In Hamburg gelang es, aus Konsumvereinsvertretern eine »freie Konsumentenkammer« zu bilden, die auf Anordnung des Arbeiter- und Soldatenrats als gleichberechtigtes Mitglied dem neuen Wirtschaftsrat der Stadt angeschlossen wurde, in dem die Handels-, Gewerbe- und Detaillistenkammern und später auch der Große Arbeiterrat vertreten waren. In Karlsruhe zog der KAKI nach und erwirkte die behördliche Anerkennung einer badischen Verbraucherkammer, nach dem Entwurf Schloessers unter Beteiligung der Gewerkschaften. In Berlin bestanden zeitweilig zwei konkurrierende Kammern. Die gesetzliche Anerkennung als öffentlich-rechtliche Körperschaften stand je-

171 Vgl. ebd., S. 293–296, 306–308; Kasch, Konsumentenkammer, S. 368; Oestreich, Verbraucherkammern, S. 114–117; Schloesser, Richtlinien für die Errichtung von Verbraucherkammern, BA, R 43 I, 1254, Bl. 264; Antrag des Reichsausschusses für Konsumenteninteressen betr. die Errichtung von Verbraucherkammern, BA, R 43 I, 1254, Bl. 9.

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doch allenthalben noch aus und bildete in den folgenden Jahren das Hauptziel der Bemühungen.172 Der Erfolg der so aktiven, wenn auch gespaltenen Verbraucherbewegung war es aber zunächst, dass in der Debatte um die Neuordnung Deutschlands, die im wesentlichen in den Jahren 1919 und 1920 ausgetragen wurde, nicht an der Frage der Repräsentation von Konsumenteninteressen vorbeizukommen war. Als im April 1919 der Zweite Rätekongreß in Berlin tagte, entdeckte ausgerechnet Karl Kautsky, der führende Theoretiker des Klassenkampfes und ehemalige Kritiker der Konsumvereine,173 den Konsumenten als »neue Person«, ohne dessen Berücksichtigung in der Sozialisierungsfrage keinerlei Fortschritte zu machen wären. Mit aller Deutlichkeit mahnte Kautsky, dass eine »revolutionäre Klasse, die siegen und Dauerndes schaffen will, […] nicht bloß ihr eigenes Klasseninteresse, sondern auch das allgemeine gesellschaftliche Interesse, das Konsumenteninteresse, vertreten« müsse, welches das »höchste ökonomische Interesse in der Gesellschaft und auch das stärkste« sei. Ohne die Ausbeutung der Verbraucher durch die Teuerung hätte es 1918 keine Revolution gegeben, lautete Kautskys zeithistorische Lektion, denn nur durch die Verletzung des »Billigkeitsinteresses« habe sich der Konsument vom Parteigänger des Kapitalismus zur revolutionären Kraft gewandelt. Bei der Gestaltung der sozialistischen Wirtschaftsordnung müsse darauf geachtet werden, dass eine Art »balance of power« zwischen Proletariat und Verbraucherschaft hergestellt werde: Mit allzu umfangreichen Entscheidungsbefugnissen ausgestattet, würden sonst entweder die Arbeiter gruppenegoistisch für Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen oder die Konsumenten kurzsichtig für Preissenkungen votieren. Wohlverstandener Sozialismus erschöpfe sich daher nicht in der Enteignung der Kapitalisten, sondern bestehe in der »Organisierung der Produktion und des Absatzes durch das Zusammenwirken der organisierten Arbeiter und der organisierten Konsumenten auf Grund wissenschaftlicher Erkenntnis«. Die Sozia­ lisierung sei daher auch nicht alleinige Sache der Arbeiterräte, sondern müsse unter der Mitwirkung von Konsumentenvertretungen geschehen, als welche nicht nur die Konsumvereine, sondern vor allem die Gemeinden und der Staat anzusehen wären.174 In der darauf folgenden Aussprache erntete Kautsky die harsche Kritik des produktionspolitischen Mainstreams der Versammlung, der in vorderster Front von Julius Kaliski, Redakteur der Sozialistischen Monatshefte, vertreten wurde. Dieser unterstellte Kautsky, er halte »das Konsumententum« für den »Höhepunkt menschlichen Seins, wirtschaftlichen Werdens und Könnens«, was ein »bedauerlicher Rückfall in die Zeit manchesterlicher Händlerpolitik« sei.175 Das war durchaus nicht rein polemisch gemeint, sondern verwies auf einen grundle172 Vgl. Möller, Verbraucherkammer, S. 4–6; Oestreich, Verbraucherkammern, S. 115. 173 Vgl. Cassau, Konsumvereinsbewegung, S. 122. 174 Vgl. Kautsky, 14.4.1919, StenProt II. Rätekongreß, S. 224–230. (Zitate S. 226 f.) 175 Kaliski, 14.4.1919, in: StenProt II. Rätekongreß, S. 231.

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genden Unterschied in der soziologischen Analyse wie in der wirtschaftspolitischen Überzeugung. Nach Kaliskis Vorstellung waren die Arbeiter qua Produzentenstatus die alleinigen Träger der Wirtschaft und des Gemeinschaftslebens. Ihnen einreden zu wollen, sie hätten zugleich ein Konsumenteninteresse an billigen Bedarfsgütern, gefährdete seines Erachtens sämtliche Errungenschaften der Arbeiterbewegung von den höheren Löhnen über die kürzeren Arbeitszeiten bis zu den sozialpolitischen Leistungen. Nicht ein materieller Ausgleich zwischen Konsumenten und Produzenten, sondern allein  – wie sich Kaliskis Mitstreiter Max Cohen ausdrückte – eine »unendlich gesteigerte Produktion« würde die Verteilungskämpfe um eine chronisch zu kurze »Decke« des Konsums beseitigen.176 Bei der Schaffung von Vertretungskörperschaften war deshalb dafür zu sorgen, dass die Produzenten die wirtschaftspolitischen Leitlinien festlegen konnten, was durch paritätisch von Arbeitgebern und Arbeitnehmern besetzte »Kammern der Arbeit« gewährleistet werden sollte. In diesem letztlich berufsständischen Rätemodell war für die Verbraucher kein Platz vorgesehen. Dass die Ausführungen Kautskys auf dem Rätekongreß nicht mehrheits­f ähig waren, war nur der erste Rückschlag für die politischen Ambitionen der Verbraucherbewegung. Der zweite folgte im Mai 1919, als deren innere Spaltung sich weiter vertiefte. Der KAKI berief, um das Projekt der Verbrauchervertretung nach seinen Vorstellungen weiter voranzutreiben, alle beteiligten Organisationen zu einer zentralen Versammlung nach Berlin ein. Schloesser hatte dazu »Richtlinien für die Errichtung von Verbraucherkammern nebst Satzungen« erarbeitet, deren Annahme seine Konzeption einer breiten Verbraucherallianz verbindlich machen sollte. Die Liste der in den Kammern vorgesehenen Mitgliedsorganisationen war der Versuch, eine denkbar heterogene Mischung gesellschaftlicher Gruppen unter dem Dach des Verbraucherinteresses zu vereinen. Folgende Verbände sollten in die Bezirkskammern eine unterschiedliche Zahl von Vertretern entsenden: die Konsumvereine und Gewerkschaften (je 10), die Organisationen der Privatangestellten und öffentlichen Beamten (je 5), die Bau- und die Mietervereine (je 4), die Hausfrauenvereine (2) sowie die Siedlungsgesellschaften, Hausratgesellschaften, Versicherungsgenossenschaften, Versicherungsschutzvereine, Käufervereine, Kleingartenbauvereine und Klein­ tierzuchtvereine (je 1).177 Dieser Plan hätte den Anspruch des Zentralverbands, die führende Stimme der Verbraucherbewegung zu sein, schwer beschädigt, und daher zog man in Hamburg die Konsequenz, sich aus dem KAKI vollständig zu verabschieden und an der Sitzung gar nicht erst teilzunehmen. Ebenso verfuhren die Gewerkschaften, denen in Weimar weit wirkungsvollere politische Interventionswege offen standen.178 Damit war das Ende des KAKI praktisch besiegelt, auch wenn 176 Cohen, Aufbau, S. 124 f. Vgl. auch Winkler, Revolution, S. 198–205. 177 Vgl. Richtlinien, BA, R 43 I, 1254, Bl. 270. 178 Vgl. Kasch, Konsumentenkammern, S. 151 f.; Konsumgenossenschaften und Konsumenten­ ausschüsse, in: KR 16 (1919), S. 196.

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Schloesser fortfuhr, theoretische und praktische Vorstöße zur Verbrauchervertretung zu unternehmen. Unterdessen hatte unter dem Eindruck der großen Streiks im Frühjahr 1919 in den Regierungsparteien die Idee Gestalt angenommen, ein Rätesystem in der Reichsverfassung zu verankern.179 Die Aussicht auf Wirtschaftsräte weckte auch Begehrlichkeit in der Verbraucherbewegung, schien sich doch eine weitere Chance zur gleichberechtigten Interessenartikulation aufzutun. Die quer durch das Parteienspektrum verteilten Befürworter der Wirtschaftsräte waren zudem einem expertokratischen Politikverständnis besonders aufgeschlossen,180 das in der Genossenschaftsbewegung begrüßt und unterstützt wurde. Der Staat habe längst erkannt, dass, wie Schloesser formulierte, »das Wirtschaftsleben zu kompliziert sei, um es vom grünen Tisch aus beurteilen zu können«,181 weshalb es Sachverständige  – gerade auch in Verbraucherfragen  – benötige, die den staatlichen Behörden zur Beratung dienten, die Verbrauchererziehung nach wissenschaftlichen Erkenntnissen betrieben und den Ausbau der wirtschaft­ lichen Selbstverwaltung unterstützten. Sich auf »Sachverstand« und »Selbstverwaltung« zu berufen verlieh der Überzeugung Ausdruck, dass die wirtschaftspolitische Kompetenz der Parlamente gering, die der in der Wirtschaftspraxis geschulten Fachleute hoch war. Trotz solcher Affinität wurde die Hoffnung auf eine Berücksichtigung der Konsumenten zunächst enttäuscht. Der spätere Räteartikel 165 wurde nämlich in seinen Grundzügen im Reichsarbeitsministerium (RAM) unter Gustav Bauer konzipiert und zielte darauf ab, Institutionen zu schaffen, die den sozialen Ausgleich zwischen Unternehmern und Arbeitern fördern würden: die Bezirkswirtschaftsräte und den Reichswirtschaftsrat.182 Die Regierungsvorlage wies damit einen unverkennbaren »Produzenten«-bias auf: Sie sah eine paritätische Zusammensetzung aus Arbeitern und Unternehmern vor und postulierte, dass die Wirtschaftsräte »im Dienste der Produktionspolitik«183 stünden – von Verbrauchern war nicht die Rede. Als am 2. Juni 1919 der Verfassungsausschuß der Nationalversammlung sich mit der Regierungsvorlage zu den Wirtschaftsräten befasste, zeigte sich allerdings, dass die Verbraucherbewegung durchaus ihre Fürsprecher hatte.184 Der bedeutende Arbeitsrechtler Hugo Sinzheimer (SPD) kennzeichnete in seinem 179 Vgl. Potthoff, Verfassungswerk, S.  476–479; Riedel, Rätegedanke, S.  125 f.; Ritter, Ent­ stehung, S.  79; Gusy, Reichsverfassung, S.  364–369. Zur Debatte um die Dimension des Verbraucherschutzes im VRWR vgl. auch die rechtshistorische Dissertation: Geyer, Gedanke. 180 Vgl. Bernhard, Wirtschaftsparlamente, S.  49; Schäffer, Reichswirtschaftsrat, S.  5; Nolte, Ständische Ordnung, S. 240–249; Maier, Taylorismus, S. 198–203. 181 Antrag betr. die Einrichtung von Verbraucherkammern, BA, R 43 I, 1254, Bl. 9. Vgl. auch Schloesser, Konsument, S. 73 f. 182 Vgl. Ritter, Entstehung, S. 79–84. 183 Zit. n. Schloesser, Konsument, S. 44. 184 Vgl. zum Folgenden Berichte und Protokolle des 8. Ausschusses, S. 393–399.

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Referat den Reichswirtschaftsrat als ein Organ, das den Zweck hatte, die Partizipation weiterer gesellschaftlicher Gruppen am wirtschaftspolitischen Willensbildungsprozess zu ermöglichen: Es vereinigten sich dort »die Interessen der Arbeiter, Arbeitgeber, Verbraucher und die anderen Interessenten.«185 Das »große Parlament des Wirtschafslebens« sollte dem politischen Parlament zwar keine Entscheidungsbefugnisse abnehmen, ihm aber in der wirtschaftspolitischen Gesetzgebung als Beratungsorgan dienen und auch ein Initiativrecht ausüben. Sinzheimer glaubte, dass damit eine »Arbeitsteilung zwischen politischer und wirtschaftlicher Demokratie«186 zustande käme, die einerseits der Idee der wirtschaftlichen Selbstverwaltung »von unten« zu ihrem Recht verhalf, andererseits die Entscheidungssouveränität des politischen Parlaments garantierte. Der Vertreter des gewerkschaftsdominierten RAM war zwar mit dieser Aufgabenbestimmung einverstanden, protestierte aber gegen die Hereinnahme der Verbraucher, weil dadurch die Parität zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zerstört würde. Zudem seien die Konsumenteninteressen einerseits schon durch die Vertreter der Arbeiterschaft, andererseits durch jene Produzenten berücksichtigt, die etwa gegenüber der Rohstoff- und Halbfabrikatindustrie als Verbraucher der Vorprodukte aufträten. Mit diesem Einwand setzte sich das RAM nur partiell durch. Nachdem auch der DDP-Abgeordnete Erich Koch-­ Weser und der Sozialdemokrat und Konsumgenossenschafter Simon Katzenstein für eine Beteiligung der Verbraucher plädiert hatten, wurde eine Kompromissformel gefunden, der zufolge »sonst beteiligte Volkskreise« in den Räten vertreten sein sollten.187 Der entscheidende Passus des späteren Artikel 165 erwähnte mithin die Verbraucher nicht, ließ ihnen aber eine Hintertür offen. Im Juni 1919 versuchte der KAKI zwar erneut, sie weiter aufzustoßen, indem er der Nationalversammlung und den relevanten Regierungsstellen jene Anträge zur Einrichtung von Verbraucherkammern und zur Vertretung der Konsumenten im Rätesystem vorlegte, die von der Hauptversammlung im Mai angenommen worden waren.188 Nach den Geschehnissen um den »amputierten« KAKI und den Beratungen im 185 Sinzheimer, Berichte und Protokolle des 8. Ausschusses, S. 395. Auf dem SPD-Parteitag bekräftigte Sinzheimer seine Ansicht, daß im Reichswirtschaftsrat »alle an der Produktion beteiligten Kreise, also auch die Verbraucher« vertreten sein sollten. (Sinzheimer, Protokoll SPD-Parteitag Weimar 1919, S. 412) Vgl. auch Albrecht, Sinzheimer, S. 91–99, 117–123, 137–148. 186 Sinzheimer, Rätesystem, S. 348, 327. 187 In der Verfassung hieß es: »Die Bezirksarbeiterräte und der Reichsarbeiterrat treten zur Erfüllung der gesamten wirtschaftlichen Aufgaben und zur Mitwirkung bei der Ausführung der Sozialisierungsgesetze mit den Vertretungen der Unternehmer und sonst be­ teiligter Volkskreise zu Bezirkswirtschaftsräten und zu einem Reichswirtschaftsrat zusammen. Die Bezirkswirtschaftsräte und der Reichswirtschaftsrat sind so zu gestalten, daß die wichtigsten Berufsgruppen entsprechend ihrer wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung darin vertreten sind.« (WRV, Art. 165, Abs. 3) 188 Vgl. Anträge des Reichsausschusses für Konsumenteninteressen, BA, R 43 I, 1254, Bl. 7–11.

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Verfassungsausschuß war die Initiative jedoch vergeblich und führte in der Nationalversammlung nicht zu einer Änderung des Verfassungstextes im Sinne der Verbraucherbewegung.189 Die Entscheidung über die genaue Zusammensetzung des Reichswirtschaftsrates stand aber noch aus und sollte erst in den zähen Verhandlungen über den »Vorläufigen Reichswirtschaftsrat« fallen, der schließlich durch eine Verordnung vom 4. Mai 1920 gebildet wurde. Vor dem Hintergrund der nicht ab­ geschlossenen Auseinandersetzungen über die Rolle der Konsumenten legte Schloesser den bislang avanciertesten Versuch vor, die Vertretungsberechtigung der Verbraucher zu begründen. In seiner Schrift »Der Konsument im Rätesystem« unternahm er es, die noch kaum verstandene »Doppelnatur des Menschen als Konsument und Produzent«190 aufzuklären, die in der Tat die Hauptangriffsfläche darstellte für jeden, der die »Nichtfassbarkeit« des Verbrauchers kritisierte. Schloesser konzedierte, dass zwar jeder Mensch zugleich Konsument und Produzent sei, so dass sich die Gesellschaft nicht einfach in diese zwei Gruppen einteilen ließe; er glaubte aber, unterschiedliche Interessenlagen sehr wohl identifizieren zu können: Die Konsumenteninteressen zielten auf »die bestmögliche Befriedigung der persönlichen Wirtschaftsbedürfnisse durch Verbilligung und Verbesserung der Bedarfsgüterversorgung«, während die Produzenteninteressen sich auf »ein höheres Einkommen, bessere Arbeitsbedingungen oder andere in der Eigenschaft des Menschen als Produzenten begründete Bestrebungen« richteten.191 Unter der Bedingung ungleicher Machtpositionen im Produktionsprozess verhalte es sich zudem so, dass die Arbeiter, Angestellten und Beamten, die in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis stünden, sich durch eine gemeinsame Schwäche auszeichneten, nämlich die Unfähigkeit, ihr ohnehin relativ geringes Nominaleinkommen signifikant zu erhöhen. Daher seien sie stärker auf die bestmögliche Ausnutzung des verfügbaren Einkommens angewiesen, und es überwiege bei ihnen demnach das Konsumenteninteresse an einer preiswerten Bedarfsgüterversorgung. Bei selbständigen Unternehmern hingegen dominiere stets das Produzenteninteresse, da die Steigerungsfähigkeit ihres Einkommens erheblich größer sei. Die Pointe dieser Argumentation lag darin, dass die Doppelidentität Konsument/Produzent sich nur aufheben ließe, indem die »gegensätzlichen Willensrichtungen organisatorisch verselbständigt«192 würden. Auch wenn es also keine »reinen« Verbraucher gab, ließ sich doch eine Vertretung des Verbraucherinteresses fordern. Die von Schloesser an das RWM geschickte Abhandlung entfaltete ihre Wirkung, als dort die »Verordnung über den Vorläufigen Reichswirtschaftsrat« vorbereitet wurde. Ministerialrat Hans Schäffer, der mit dem Entwurf der Verord189 Kein einziger Abgeordneter ergriff für die Erwähnung der Verbraucher Partei: vgl. StenBerRT Bd. 328, S. 1772–1798 (21.7.1919); ebd. Bd. 329, S. 2182–2191 (31.7.1919). 190 Schloesser, Konsument, S. 8. 191 Ebd., S. 10. 192 Ebd., S. 73.

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nung betraut war, machte sich zahlreiche Argumente Schloessers zu eigen193 und begründete die Notwendigkeit eigenständiger Verbrauchervertreter insbesondere damit, dass den Arbeitern die Vertretung der Konsumenteninte­ ressen nicht zuzutrauen sei, weil erfahrungsgemäß die Gefahr bestünde, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu Lasten der Verbraucher auf eine Erhöhung von Preisen und Löhnen verständigten. Damit bekundete das RWM seine Vor­behalte gegenüber einer möglichen Allianz von Produzenten, die sich im Vorläufigen Reichswirtschaftsrat (VRWR) hätte formieren können, wäre dieser rein berufsständisch strukturiert und paritätisch aus Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern zusammengesetzt worden. Als die neu institutionalisierte wirtschaftliche Interessenvertretung und Poli­ tikberatung in Gestalt des VRWR Form annahm, standen sich somit zwei unterschiedliche Konzeptionen gegenüber: Das RAM verfocht – ebenso wie Hugo Preuß, der Schöpfer der Verfassung, und Georg Bernhard, der Chefredakteur der Vossischen –194 die Idee eines berufsständischen Produzentenrates, in dem sich die gegensätzlichen Interessen von Kapital und Arbeit innerhalb der jeweiligen Branchen annähern und ausgleichen würden. Dem setzte das RWM – unter Bezugnahme auf Schriften von Lederer, Kautsky und Korsch,195 die auf die wirtschaftspolitische Bedeutung des Verbraucherinteresses hingewiesen hatten – die Vorstellung eines breiten Wirtschaftsparlaments entgegen, in dem alle betroffenen Interessengruppen vertreten waren und darunter insbesondere den Verbrauchern die Aufgabe zukam, als Gegengewicht und Kontrollinstanz gegenüber den Produzenten aufzutreten.196 Der Volkswirtschaftliche Ausschuß der Nationalversammlung beriet schließlich im Februar und März 1920 die Zusammensetzung des VRWR, dessen Plätze sich als heiß begehrt erwiesen. Da die als Wahlkörper vorgesehenen Bezirkswirtschaftsräte noch nicht bestanden, sollte das Benennungsrecht für die Vertreter des VRWR im wesentlichen den bestehenden Wirtschaftsverbänden zukommen, die nun in zahllosen Petitionen eine Erhöhung ihrer Vertreterzahl einforderten.197 Dabei offenbarte sich jene Allianz von Produzenten, vor der die Verbraucherbewegung stets gewarnt hatte: Die aus Unternehmern und Gewerk193 Das erhellt aus einem Vergleich von Schäffers Kommentar zur Verordnung über den VRWR mit den Ausführungen Schloessers. Vgl. Schäffer, Vorläufige Reichswirtschaftsrat, S. 22–25; Schloesser, Konsument, 32–37. 194 Vgl. ebd., S. 44–46; Brandt, Wirtschaftsräten, S. 259 f.; Bernhard, Wirtschaftsparlamente, S. 56. 195 Vgl. Lederer, Organisationen, S. 641–694; Kautsky, Sozialisierung; Korsch, Sozialisierung. 196 Schäffer sah die Aufgabe des Verbrauchervertreters darin, »durch objektive Nachprüfung der von den Produzenten geltend gemachten Gründe und durch sachkundige Darlegung der Folgen beabsichtigter Maßnahmen für die Allgemeinheit das Gewissen der Beteiligten, insbesondere der Arbeitnehmerschaft, zu schärfen.« (Schäffer, Vorläufige Reichswirtschaftsrat, S. 24) 197 Vgl. StenBerRT Bd. 343, S. 3102–3111 (5.2.1920). Zu den Beratungen vgl. auch Riedel, Rätegedanke, S. 140 ff.

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schaftern gebildete Zentralarbeitsgemeinschaft und der Reichsausschuß der deutschen Landwirtschaft kritisierten die im Regierungsentwurf vorgesehene Verbrauchervertretung als grundsätzlich illegitim und beantragten ihre Beseitigung; der RDI verlangte, die Zahl ihrer Vertreter zu reduzieren. Das RWM hielt jedoch gegen alle Widerstände daran fest, und der Volkswirtschaftliche Ausschuß einigte sich letztlich darauf, in den 326 Mitglieder zählenden Rat 30 Vertreter der Verbraucherschaft entsenden zu lassen.198 Wie war dieses Ergebnis zu bewerten? An der folgenden Übersicht (Tab. 5), welche die relevanten Bestimmungen der Verordnung über den VRWR zusammenfasst, lässt sich der zwiespältige Institutionalisierungserfolg der Verbraucherbewegung ablesen. Einerseits war es gelungen, im höchsten wirtschafspolitischen Gutachtergremium der Republik Fuß zu fassen. Auch waren die Einflussmöglichkeiten der Verbrauchervertreter noch größer, als es ihre überschaubare Anzahl vermuten lässt. Die Verordnung schaltete nämlich der Einteilung in Gruppen, die den berufsständischen Interessen (I bis VI) eine deutliche Stimmenmehrheit gewährte, eine in Abteilungen vor, die für die Geschäftsordnung des VRWR von Bedeutung war: Die drei Abteilungen der Arbeitgeber, der Arbeitnehmer und der »neutralen«199 Gruppen VII bis X wählten »gleichgewichtig« den Vorstand, in dem sie zu je einem Drittel vertreten sein mussten. Zudem wählten sie die Ausschüsse, in denen die wesentliche Arbeit der Beratung und der Expertenanhörungen stattfand. Diese Arbeitsausschüsse mussten nicht nur zu einem Drittel mit Mitgliedern der Gruppen VII bis X besetzt sein, sondern auch mindestens einen Vertreter jeder dieser Gruppen aufweisen  – das bedeutete, dass in jedem Ausschuss wenigstens ein Verbraucher­ vertreter saß.200 Andererseits war, wie ein Blick auf die Zusammensetzung der Gruppe VII zeigt, doch nur ein Pyrrhussieg errungen, da die Verbraucherfront auf ihrem Marsch in die Institutionen weiter an Konturen verloren hatte. Die Verfassung verlangte ja nur die Vertretung »sonst beteiligter Volkskreise«, und daher war die relativ starke Position der Verbrauchergruppe damit verbunden, dass sie zu einem Sammelbecken unterschiedlichster Interessen gemacht wurde. Es war undenkbar, dass die Vertreter der kommunalen Spitzenverbände, der Konsumvereine, der Hausfrauen, Hausangestellten und des Gastwirtgewerbes sich auf eine Definition des Verbraucherinteresses, geschweige denn auf ein konsumpolitisches Programm verständigen konnten, wie es den beiden Konsumgenossenschaftsverbänden möglich gewesen wäre. Welche Differenzen hier zu überbrücken waren, zeigt bereits eine Eingabe des Verbandes deutscher Hausfrauenvereine an den Volkswirtschaftlichen Ausschuß, in der gefordert wurde, dass 198 Vgl. StenBerRT Bd. 343, S. 3103, 3105 (5.2.1920), 3111–3118 (9.3.1920). 199 Schäffer, Vorläufige Reichswirtschaftsrat, S. 107. 200 Vgl. RGBl. 1920, Nr. 99, S. 858–870. Zu den Mitgliedern der Gruppe VII in den wichtigsten Ausschüssen vgl. BA, R 401, 53956, Akte 329, Bl. 115; zu den Mitgliedern des VRWR insgesamt vgl. Lilla, Mitglieder.

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Tab. 5: Die Zusammensetzung des Vorläufigen Reichswirtschaftsrats (326 Mitglieder) Abteilungen

Gruppen I.

1. Arbeitgeber 2. Arbeitnehmer

3. Angehörige der Gruppen VII bis X

Land- und Forstwirtschaft II. Gärtnerei und Fischerei III. Industrie IV. Handel, Banken und Versicherungen V. Verkehr und öffentliche Unternehmungen VI. Handwerk VII. Verbraucherschaft VIII. Beamtenschaft und freie Berufe IX. Ernannte des Reichsrats X. Ernannte der Reichsregierung

Gruppe VII: Verbraucher (benennende Körperschaft) 68 6 68 44 34 36 30 16 12

Dt. Städtetag Reichsstädtebund Dt. Landgemeindetag Reichsrat (aus den klein. dt. Landgemeinden) ZdK RdK Dt. Genoss.verband Verb. dt. Hausfrauenver. Zentralverb. d. Hausangestellten Reichsverb. weibl. Hausangestellter Dt. Gastwirtsverband Verb. d.Gastwirtsgehilfen u. Dt. Kellnerbund

6 2 2 2 8 3 1 2 1 1 1 1

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Quelle: Eigene Darstellung nach der Verordnung über den vorläufigen Reichswirtschaftsrat vom 4. Mai 1920 (RGBl. 1920, Nr. 99, S. 858–870, Art. 2 u. 7)

die Hausfrauen als Berufsorganisationen in den VRWR einzugliedern wären – das war alles andere als ein klares Bekenntnis zur Verbraucheridentität.201 So hatten sich die Protagonisten des ehemaligen KAKI  – allen voran Robert Schloesser  – die Institutionalisierung einer »breiten« Verbraucherbewegung nicht vorgestellt.202 Und doch war es dieser fehlgeleitete Versuch, eine »Massen­bewegung« von Konsumenten in ein überwiegend berufsständisches Interessenforum von Lobbyisten und Experten zu integrieren, der für das Zerfasern der Verbrauchervertretung verantwortlich war. Der Versuch, das Konsumenteninteresse gruppen- und schichtenübergreifend zu definieren, stand in einem nicht lösbaren Spannungsverhältnis zu der Notwendigkeit, es zugleich ein­deutig bestimmen und mit einer fest umrissenen Gruppe von intermediä201 Vgl. StenBerRT Bd. 343, S. 3102 (5.2.1920). 202 Schon deshalb nicht, weil der KAKI selbst im Laufe der Beratungen im Volkswirtschaft­ lichen Ausschuß von der Bildung des VRWR ausgeschlossen wurde. Keine zwei Jahre nach Kriegsende galt die ehemalige Lobbyzentrale der Verbraucherbewegung als »absterbende Körperschaft«. Das war auf den erwähnten Austritt des ZdK und der Gewerkschaften zurückzuführen. Vgl. StenBerRT Bd. 343, S. 3104, 3109 (5.2.1920), 3120 (Anlage 1), 3125 (Anlage 2); zudem: Schloesser, Konsument, S. 111.

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ren Vertretungskörperschaften verbinden zu müssen. Man erfüllte somit nicht die conditio sine qua non einer erfolgreichen Interessenpolitik und war, immer wenn es zur Machtprobe um die Einrichtung von Vertretungsorganen kam, der Kritik nicht nur der wohlorganisierten Produzenten ausgesetzt. Zuletzt zeigte sich das in den langwierigen Debatten im Verfassungsausschuß des VRWR, der sich vor allem im Jahr 1921 mit der Vorbereitung der noch ausstehenden Bezirkswirtschaftsräte befasste. Die Beratungen, die im Dezember 1921 auf Eis gelegt werden sollten, weil eine Einigung über die Aufgaben und die Zusammensetzung der Räte nicht zu erzielen war,203 gewähren nicht nur einen Einblick in die ebenso gründliche wie ergebnislose Arbeitsweise des VRWR, sondern verdeutlichen auch die spezifische Reichweite der Forderung nach einer Interessenvertretung der Verbraucher. Von März bis Juli 1921 fanden im Verfassungsausschuß Anhörungen von mehr als 20 Sachverständigen statt, denen ein Fragebogen zur Gestaltung der Bezirkswirtschaftsräte vorgelegt worden war.204 Unter anderem waren die Fragen zu beantworten, welcher Anteil an den Bezirkswirtschaftsräten den »sonst beteiligten Volkskreisen« zuzumessen sei und ob es notwendig wäre, Verbraucherkammern zu gründen, die neben den bestehenden Wirtschaftskammern als Unterbau dieser Räte fungieren könnten. Hochkarätige Beiträge lieferten unter anderem Max Cohen, der neben Paul Mitzlaff vom Deutschen Städtetag als Referent federführend in den Beratungen war, Hugo Preuß, Hans Luther sowie – durch schriftliche Gutachten – Rudolf Wissell und Wichard von Moellendorff. Cohen, der ja eigentlich als Vorkämpfer einer rigorosen Produktionspolitik bekannt war, eröffnete die Reihe der Sitzungen mit einem Paukenschlag. Er habe sich von Verbrauchervertretern überzeugen lassen, dass sowohl die Einrichtung von Konsumentenkammern als auch die Repräsentation der Verbraucher in den Räten auf Bezirks- und Reichsebene sinnvoll und gerechtfertigt sei. Gegen die um sich greifende Praxis der parallelen Preis- und Lohnerhöhungen böten nur solche Organisationen den Verbrauchern Schutz, die sich zusammengetan hätten, um ihren Mitgliedern »Nahrungsmittel und Gebrauchsgegenstände ohne Gewinnabsicht« zu vermitteln. Das seien vor allem die Konsumvereine, aber auch die Baugenossenschaften und Mietervereine sowie die Hausfrauenorganisationen, die daher ein Recht auf Vertretung in den Kammern und Räten hätten.205 Hugo Preuß widersprach dem aufs schärfste. Zwar sei zuzugeben, dass die Unsitte einer »do-ut-des-Politik« zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden auf Kosten der Verbraucher gehe und ihr Einhalt geboten werden müsste. Diese Aufgabe sei jedoch Sache der politischen Parlamente, auf kommunaler Ebene der Stadtverordnetenversammlungen, die bereits die wahren Verbraucherkammern darstellten. Auch sei in den Räten für die Verbrau203 Vgl. BA, R 401, 53989, Akte 565, Bl. 170–172. 204 Vgl. zum Folgenden BA, R 401, 53989, Akte 565, Bl. 16–170; sowie die stenographischen Protokolle des Verfassungsausschusses des VRWR: BA, R 401, 53989, Akte 568, Bl. 84–253. 205 Vgl. BA, R 401, 53989, Akte 568, Bl. 84 f., 90.

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cher kein Platz, da jene nicht als »Universalvertretung des Wirtschaftslebens« missverstanden werden dürften, sondern dazu dienen sollten, die Produzenteninteressen und ihren Sachverstand zu organisieren. Ein Zahlenverhältnis zwischen Konsumenten und Produzenten ließe sich ohnehin nicht schlüssig begründen, weil sich die Gruppe der Verbraucher nicht definieren lasse.206 Dass die Mehrheit der in der Folge auftretenden »Experten« sich vehement gegen die Verbraucherkammern aussprach, ist wenig überraschend, handelte es sich doch in vielen Fällen um die Vertreter der Handels- und Landwirtschaftskammern, des Kleinhandels, der Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften; ebenso wenig erstaunt die energische Verteidigung seitens der Konsumvereinsverbände und der Mietervereine.207 Das ungleiche Kräfteverhältnis der Expertengruppen offenbart aber eine Crux des VRWR, der Sachverständigen- und Interessentengremium in einem sein sollte: Das Schwergewicht der interessengebundenen Expertise durch die etablierten Produzentengruppen verringerte von vornherein die Chancen der newcomer aus der Verbraucherbewegung, die in deren Kreis einzudringen versuchten. Nicht weniger fatal wirkte sich aber die von Preuß aufgeworfene Schwierigkeit aus, die Verbraucher identifizieren zu müssen, wenn ihnen eine quantifizierbare Vertretung zuerkannt werden sollte. Regierungsrat Quaatz aus Essen polemisierte, er sei noch niemals einem Verbraucher begegnet: »Ich wäre äußerst gespannt, einen vor mir zu haben. Ich könnte ihn mir vorstellen wie einen Rentner, der weiter nichts tut, als seinen Frühschoppen trinkt, sein Mittagessen oder sein Abendessen einnimmt. (Zuruf: Oder ein Baby!) – Oder auch ein Baby! (­Zuruf: Viele Millionen Familien haben sich als Verbraucher organisiert!)  – Ganz recht, wir dürfen hier den Menschen aber nicht in seiner Eigenschaft als Staatsbürger fassen, auch nicht als Verbraucher, sondern als Produzent. Sonst lassen sie ihn in dem Organismus ja zweimal vertreten sein.«208

Dass hier Staatsbürgerschaft und Konsumentenstatus in einen semantischen Zusammenhang gebracht wurden, hätte durchaus im Sinne der Verbraucher­ bewegung sein können, wäre es nicht der Zweck dieser Einrede gewesen, damit deren Anspruch auf Repräsentation in den Wirtschaftsräten zurückzuweisen und die politischen Parlamente für zuständig zu erklären. Auch einer gemäßigten Stimme wie der Hans Luthers erschien die Gruppe der Konsumgenossenschaften, der Hausfrauen- und Mietervereine als eine »ziemlich bunt zusammengewürfelte Gesellschaft«. Luther – wie auch Wissell und v. Moellen­ dorff  – äußerte sich daher skeptisch gegenüber den Verbraucherkammern, wollte aber an einer Konsumentenvertretung in den Bezirkswirtschaftsräten

206 Vgl. BA, R 401, 53989, Akte 568, Bl. 128–132 (Zitate: Bl. 128, 132) 207 Vgl. BA, R 401, 53989, Akte 568, Bl. 190 f., 196, 200, 214, 218–220, 226, 228–230. Vgl. zudem Konsumentenkammern, in: Industrie- und Handelszeitung, Nr. 242, 15.10.1921. 208 BA, R 401, 53989, Akte 568, Bl. 120.

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und im Reichswirtschaftsrat festhalten, wo sie im Rahmen der »sonst beteiligten Volkskreise« zweifellos ihren Platz hätten.209 Damit war eine Kompromisslinie formuliert, der auch Max Cohen folgte, indem er als Referent aus der Fülle der Gutachten einige konsensfähige Leitsätze zu destillieren versuchte: In den Bezirkswirtschaftsräten sollten die »freien Berufe, Beamten, Vertreter allgemeiner Interessen, Verbraucher« ein Drittel der Mitglieder stellen, während die Verbraucherkammern als Unterbau keine weitere Erwähnung fanden. Zur Begründung hieß es: »Es gibt schlechterdings keine befriedigende Zusammensetzung einer Verbraucherkammer. Es gibt auch wirklich kein gemeinsames Band, das die Verbraucher verknüpfte, es sei denn, daß man alle miteinander nähme, und das scheint eine unmögliche Zusammen­ setzung für eine Verbraucherkammer zu sein.«210 Für die noch in der Schwebe befindliche Frage, ob den frei gebildeten Verbraucherkammern die gesetzliche Anerkennung zu gewähren sei, war dieses Stimmungsbild des obersten Sachverständigenrates der Republik alles andere als förderlich. Im April 1922 lehnte der Preußische Landtag den Antrag der sozialdemokratischen Fraktion ab, den Konsumentenkammern in Preußen die Rechtsfähigkeit zu erteilen.211 Auch in den anderen Teilen des Reiches verliefen die entsprechenden Bewegungen im Sande. Die 1920/21 allenthalben mit großem Enthusiasmus gegründeten Kammern warteten vergeblich auf die staat­ liche Sanktionierung, wussten aber ohne diese »noch nicht so recht, etwas mit sich anzufangen«, wie Heinrich Kaufmann zugestand.212 Die signifikante Ausnahme, die beweist, dass die Verbraucherkammern durchaus funktionsfähige Gebilde hätten sein können, war die »Kammer der Vereinigungen nichtgewerblicher Verbraucher« in Hamburg, die im Juli 1920 tatsächlich das Placet von Bürgerschaft und Senat erhielt.213 Sie repräsentierte nicht alle Verbraucher, sondern nur jene, die sich einer nichtgewerblichen Verbraucherorganisation angeschlossen hatten. Das bedeutete praktisch, dass die riesige Konsumgenossenschaft »Produktion« dominierte, während etwa die Vereine der Hausfrauen und der Beamten in verschwindend geringer Stimmenzahl vertreten waren.214 Die Kammer erstellte Gutachten, benannte Sachverständige und entsandte Vertreter in diverse Verwaltungsstellen, arbeitete also den staatlichen Behörden zu und vertrat zugleich die Interessen der organi209 Vgl. BA, R 401, 53989, Akte 568, Bl. 161, 216, 221. 210 BA, R 401, 53989, Akte 568, Bl. 240, 246. 211 Vgl. Gesetzgebung, in: KR 19 (1922), S. 164. 212 Zit. n. Mitzkat, Versammlung, S. 523. Vgl. zudem Kaufmann, Festschrift, S. 211. Zur Tätigkeit der provisorischen Kammern vgl. Zwangswirtschaft und Verbraucher, in: KV 13 (1920), S.  52; Entschließungen der westfälischen Verbraucherkammer, in: KV 14 (1921), S. 30; Ellenbeck, Verbraucherkammer, S. 47; Tagung der Verbraucherkammern, in: KV 14 (1921), S. 78. 213 Vgl. zum Folgenden Möller, Verbraucherkammer, S. 1–40, 79–106. 214 Relativ stark vertreten waren noch die anderen Organisationen des ZdK: die Großeinkaufs- und die Verlagsgesellschaft deutscher Konsumvereine. Vgl. ebd., S. 39.

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sierten Verbraucherschaft. In den Jahresberichten erörterte man darüber hinaus aktuelle politische und wirtschaftliche Entwicklungen in einer Reihe von Bereichen, die für die Lebenshaltung der breiten Bevölkerung für relevant gehalten wurden. Das zeigt beispielsweise eine Auflistung der Themen, die das Inhaltsverzeichnis des Jahresberichts von 1921 bilden: »Steuern, Zölle, Kartoffeln, Entwicklung der Vieh- und Fleischpreise, Versorgung mit frischen Fischen, Schmalz und Margarine, Milchversorgung, Zucker, Hausbrand, Haushaltungsgegenstände, Textilien und Schuhwaren, Wucherbekämpfung, Kartellauswüchse, Verkehrswesen, Bezirkseisenbahnräte, Postwesen, Wohnungswesen, Aufbau der Wirtschaftsordnung.«215 Das Themenspektrum, das hier unter der Perspektive des Verbraucherschutzes synthetisiert wurde, markierte einen Großteil des Politikfelds »Konsum«, das in Weimar zu einem zentralen Interventionsgebiet des Staates wurde. Und dennoch: Die Hamburger Verbraucherkammer blieb Episode, und ihr Erfolg war wohl nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass sie in der Hochburg des durchsetzungsfähigen Zentralverbands gegründet wurde; die in allen Teilen des Reiches gebildeten Schwesterorganisationen brachen ohne die gesetzliche Anerkennung wieder zusammen. Das vorzeitige Ende der Verbraucherkammern bedeutete, dass der Versuch weitgehend scheiterte, den Konsumenten nicht »lediglich als Objekt der Wirtschaftspolitik zu betrachten«,216 sondern ihn in Form einer öffentlich-recht­ lichen Interessenvertretung nachhaltig zum politischen Akteur zu machen. Die Verbrauchervertreter im Vorläufigen Reichswirtschaftsrat, die entweder marginalisiert zu werden drohten oder sich einer allzu heterogenen Interessen­a llianz einzufügen hatten, waren gegenüber den ausbleibenden Kammern und Bezirkswirtschaftsräten ein schwacher Trost. Gleichwohl gelang der Verbraucherbewegung im Kampf um die »Sicht- und Teilungsprinzipien«217 der sozialen Welt nicht mehr und nicht weniger als ein Teilerfolg: Einerseits war nach allen Debatten und trotz aller Agitationsanstrengungen noch immer strittig, wer überhaupt als Verbraucher zu gelten hatte und welche Organisationen und politischen Körperschaften seine Vertretung beanspruchen durften. Andererseits bestand kein Zweifel, dass ein legitimes Verbraucherinteresse an einem Schutz vor Preiserhöhungen und an einer gesicherten Versorgung existierte und dieses Schutzbedürfnis im und nach dem Krieg auf vielfältige Weise verletzt worden war. Ohne Rücksicht auf das Konsumenteninteresse ließ sich nicht regieren – diese politische Botschaft kommunizierte die Verbraucherbewegung. Dass sie nicht ungehört verhallte, wird das folgende Kapitel zeigen. Jene alternative Konsumgesellschaft, deren Verwirklichung gerade zu Beginn der Weimarer Republik von der Konsumvereinsbewegung mit erheb­licher organisatorischer und diskursiver Energie angestrebt wurde, war mehr als ein Ordnungsentwurf und weniger als die herrschende soziale Realität. Ein Teil 215 Bericht der Konsumentenkammer 1921, S. 2. 216 Ebd., S. 38. Vgl. auch Kasch, Reichswirtschaftsrat, S. 69. 217 Bourdieu, Feld, S. 69.

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der Bevölkerung befriedigte einen Teil  seiner Bedürfnisse durch den Einkauf im Konsumverein und genoss auf diese Weise den materiellen Mehrwert einer effi­zienten Organisation; für die begeisterten Genossenschafter und die hauptberuflichen Anwälte der Verbraucherinteressen waren die reformerischen Impulse der Bewegung der Kern der Sache. Das regime of consumption, das in Theorie und Praxis Gestalt annahm, basierte auf dem Leitbild der selbst­ bewussten Verbraucherin, die ihre privaten Konsumentscheidungen zum Instrument eines gesellschaftspolitischen Reformprojekts macht und deren wesentliches Interesse eine gesicherte und erschwingliche Lebensmittelversorgung ist. Die genossenschaftliche Konsumgesellschaft, die sich an Sicherheit und Bedarfsdeckung statt an Auswahl und Bedürfniswandel orientierte, war ebenso wie die Rationalisierung und das Bild der »neuen Frau« eines jener Weimarer Experimente, die, ohne auf der ganzen Linie erfolgreich zu sein, doch nicht folgenlos blieben. Die Verbraucherbewegung zeugt nicht nur von einer lebendigen Zivilgesellschaft, da es ihr »von unten« durch ein effektives agenda setting in Sachen Verbraucherschutz gelang, die Rechte und Pflichten der Konsumenten zu einem integralen Bestandteil der sozialen Staatsbürgerschaft in der Weimarer Republik zu machen. Es manifestiert sich in ihr darüber hinaus der beachtliche Versuch, ein Dilemma aller modernen Staaten mit ihren mächtigen Interessenverbänden zu lösen, auf das Charles S. Maier hingewiesen hat: »Wie man die Unorganisierten organisiert« oder ein »öffentliches Interesse institutionalisier[t]«, das war auch im »korporativen Pluralismus« der Weimarer Republik ein Grundproblem nicht nur der Verbraucher, sondern auch der Arbeitslosen.218 Die Stärke und die Schwäche der Konsumgenossenschaftsbewegung zugleich war ihr Bekenntnis zur Universalität, das ihr zum einen integrative Kraft verlieh, zum anderen ihr Institutionalisierungsdefizit begründete. Diese Ambivalenz war der so vorbildlichen britischen Bewegung ebenso vertraut;219 dort allerdings entschied man sich zur Gründung der – wenn auch mäßig erfolgreichen – Co-operative Party, um die politische Willensbildung zu beeinflussen. In Deutschland wählte man hingegen den steinigen Weg, der zur Etablierung im Rahmen des Korporatismus führen sollte und auf dem man schließlich über die eigene Heterogenität und den Widerstand der Produzentengruppen und »Produktionspolitiker« stolperte.

218 Maier, Strukturen, S. 208; vgl. auch ders., Recasting, S. 3–15, 353–386. 219 Vgl. Hilton, Consumerism, S. 87.

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III. Konsumpolitik demokratisch: Die Rechte der Verbraucher »Wirtschaftlich betrachtet ist die Welt, in höherem Maße die Nation, eine Vereinigung Schaffender; wer Arbeit, Arbeitszeit oder Arbeitsmittel vergeudet, beraubt die Gemeinschaft. Verbrauch ist nicht Privatsache, sondern Sache der Gemeinschaft, Sache des Staates, der Sittlichkeit und Menschheit. […] Die Reihenfolge des Bedarfs [ordnet] den Fluß der Begriffe vom notwendigen Verbrauch bis zum frivolen Luxus. Luxuriös ist jeder Verbrauch, solange ein ursprüngliches Bedürfnis unbefriedigt bleiben muß, das an seiner Statt hätte gestillt werden können. […] Das Ziel aber ist der materiell unbeschränkte Staat. Er muß mit seinen Mitteln dem Bedürfnis vorauseilen, nicht nachhinken, nicht die Frage stellen, »wie bringe ich auf«, sondern »wie bringe ich unter«. Er soll eingreifen können in jeder Not, zu jeder Sicherung des Landes, zu jedem großen Werk der Kultur, zu jeder Tat der Schönheit und der Güte.«1 Walther Rathenau, 1917

Als Walther Rathenau, AEG-Industrieller und Organisator der deutschen Rohstoffversorgung im Krieg, diese Zeilen in seiner gesellschaftspolitischen Prophetie »Von kommenden Dingen« schrieb, formulierte er damit die Leitlinien einer Konsumpolitik, die in der wechselvollen Geschichte der Weimarer Republik ihre volle Wirkung entfalten sollte. Diese Konsumpolitik, deren Gründe, Erscheinungsformen und Konsequenzen in den folgenden Kapiteln erläutert werden, soll auf den Begriff eines demokratischen Paternalismus gebracht werden. Das geschieht, um den Sinnzusammenhang einer ganzen Reihe andernfalls disparater wirtschafts-, sozial- und kulturpolitischer Maßnahmen sichtbar zu machen, die für die Weimarer Republik prägend gewesen sind. Demokra­ tischer Paternalismus meint im Kontext der Konsumpolitik einerseits die Verantwortung des Staates für die Einlösung der als berechtigt verstandenen Versorgungsansprüche seiner Bürger, andererseits die staatliche Selbstermächtigung zur Bevormundung der Konsumenten, zur Kontrolle und Kanalisierung unerwünschter Bedürfnisse. Eine derart ausgerichtete, zweigleisige Konsum­politik 1 Rathenau, Dingen, S. 97 f., 115.

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beruht auf der universellen Unterscheidung von legitimen und illegitimen Formen des Konsums, auf der Semantik von Lebensnotwendigem und ­Luxus, die aber zugleich historisch variabel ist: Nicht nur fallen in verschiedenen Gesellschaften verschiedene Güter und Dienstleistungen unter diese Begriffe, vor allem ist die Unterscheidung selbst von unterschiedlicher diskursiver Präsenz. Für die Weimarer Politik war die ständige Rede von Existenzbedarf und Verschwendung von herausragender Bedeutung. Wie kam es dazu? Rathenaus Schrift, die sich in dieser Zeit einer sagenhaften Popularität erfreute,2 verdeutlicht, welche Lehren einer der einflussreichsten Köpfe der Weimarer Koalition aus dem Zusammenbruch der wilhelminischen Hoch­ konjunktur durch den Krieg zog. Rathenau, ein früher Verteidiger der Rationalisierung, hielt die Beseitigung von Not und Armut unter den Bedingungen einer weit entwickelten Volkswirtschaft für eine selbstverständliche gesellschaftliche Aufgabe, die ohne größere Schwierigkeiten zu bewerkstelligen wäre. Worauf es eigentlich ankomme, sei die »Durchgeistigung« einer mechanisierten Welt, die sich ohne eine bewusste Ausrichtung auf die absoluten Werte höchster Geistigkeit, wie sie in der Kunst, der Religion oder der Philosophie verkörpert seien, dem »Großstadttaumel« hingebe.3 Der urbanen Massen- und Konsumkultur des Kaiserreichs begegnet Rathenau mit dem typisch bildungsbürger­ lichen Distinktions­gestus, der aus der Kulturkritik der Jahrhundertwende hinlänglich bekannt ist. Die Reflexion der materiellen Bedingungen von Staat und Gesellschaft gewinnt jedoch im Krieg an Schärfe: Die Kriegsproduktion lässt den Verteilungsspielraum schrumpfen, die Gewährleistung der Existenzsicherheit für alle wird problematisch, und vor diesem Hintergrund gerät jeder Konsum, der nicht der unmittelbaren Reproduktion der Arbeitskraft dient, unter Rechtfertigungsdruck. Allenthalben scheinen die knappen Ressourcen für »Überflüssiges, Nichtiges, Schädliches, Verächtliches« verwendet zu werden, und jede Form der Verschwendung wird als ein Verrat an der Gemeinschaft der Arbeitenden und als Angriff auf das Gerechtigkeitsempfinden interpretiert. Rathenau dia­gnostiziert die »gewaltige Bedeutung des Verbrauchs und seiner Regelung für das künftige Wirtschaftsleben« und betreibt eine konsequente Moralisierung und Politisierung des privaten Konsums.4 Ein solches Programm erwies sich als doppelt anschlussfähig: Die aktive Rolle des Staates, der einen anspruchsvollen sozialen und kulturellen Gestaltungsauftrag zu erfüllen hat, war Wasser auf die Mühlen der Sozialdemokraten, während die Verteidigung einer auf Hochkultur und Bildung fixierten bürgerlichen Lebensführung auf Zustimmung besonders in liberalen und konservativen Kreisen stieß. Das Programm enthält zugleich die Vision einer »nivel­ 2 Sie erschien zwischen 1917 und 1925 als Einzelausgabe in 72 Auflagen, zudem in den »Gesammelten Schriften« 1918 in vier Auflagen. Vgl. ders., Dingen, letzte Druckseite. Zum Folgenden vgl. ebd., S. 38–162. 3 Ebd., S. 55, 40. 4 Ebd., S. 99, 106.

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lierten Mittelstandsgesellschaft« avant la lettre, die allzu utopisch war, als dass ihre Realisierung möglich gewesen wäre, die aber als regulative Idee wirksam wurde: Rathenau glaubte, dass sich durch Vermeidung jeglicher Form von Verschwendung und Luxus die Weltproduktion so umstrukturiere, dass sich die Erzeugung nützlicher Güter um ein Drittel steigere. Damit werde ein bürgerlicher Lebensstil für alle zugänglich, der einem »Jahresaufwande von etwa 3.000  Mark für eine Familie« entspreche, und der Abschied vom Proletarierdasein sei daher auch nicht mehr eine Frage der Vermögensverteilung, sondern des »Verbrauchsrechts«.5 Gegen die Extreme von Not und Verschwendung sah Rathenau also die Konsumpolitik in einer Art Zwei-Fronten-Krieg, um das Ideal der bürgerlichen Gesellschaft auf dem sicheren sozialen Terrain der Mittelschicht zu retten und zu universalisieren. Zweifellos ist die Konsumpolitik nicht erst ein Produkt des Weltkrieges, auch wenn mit der Institutionalisierung der Konsumenteninteressen, dem System der Rationierung und den Preiskontrollen die materiellen Lebensbedingungen der Verbraucher weit mehr zum Gegenstand staatlicher Regulierung wurden.6 Schon vor dem Krieg existierte ein Repertoire von Eingriffsmöglichkeiten, die der Nationalökonom Karl Oldenberg in seinem umfassenden Beitrag für den »Grundriss der Sozialökonomik« (1914) unter dem Begriff »Konsumtionspolitik« zusammenfasste. Dazu zählten erstens das Verbot und die Kontrolle von unsittlichen Darstellungen und von unhygienischem Konsum, womit auf die Zensur sowie auf die Hygienegesetze im Bereich des Wohnungswesens und der Nahrungsmittelproduktion verwiesen wurde. Auch die Einschränkung des Alkoholkonsums, die der Staat im Verein mit der Abstinenz- und Mäßigkeitsbewegung anstrebte, war Bestandteil dieser negativen Konsumpolitik, nicht jedoch, wie es in der Vormoderne der Fall gewesen war, die Kontrolle von Kleidung und Mode. Das zweite wichtige Feld war die Beeinflussung des Verbrauchs durch Steuern und Zölle, auch wenn sie anderen – fiskalischen oder protektionistischen – Motiven entsprangen. Hier habe der Grundsatz zu gelten, dass die existenznotwendigen Massengüter wie Brot, Fleisch, Salz oder Brennstoffe finanziell zu entlasten, Genussmittel und Luxusgüter zu belasten seien. Drittens trete der Staat dort selbst als Nachfrager und Förderer auf, wo die Verbraucher wegen mangelnder Einsicht oder geringer Kaufkraft »latente Bedürfnisse«7 nicht zur Geltung bringen und eine entsprechende Produktion nicht in Gang halten könnten. Hiermit war vor allem die öffentliche Bereitstellung kollektiver Güter im Bereich der Bildung, der Kultur, des Verkehrswesens und der Wohlfahrtspflege gemeint. Dass diese Interventionswege hier unter dem Begriff der Konsumpolitik firmierten, verweist sowohl auf die Modernität des späten Kaiserreichs als auch auf die Kontinuität der Maßnahmen über 1914 hinaus; und dennoch unter5 Ebd., S. 107, 110. 6 Vgl. Davis, Home Fires. 7 Oldenberg, Konsumtion, S. 160.

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schieden sich die wilhelminischen Konzepte von dem, was im und nach dem Krieg folgen sollte. Oldenberg leitete seine Beobachtungen zur Konsumpolitik noch mit den Worten ein: »Im ganzen läßt der moderne Staat den Konsumenten frei schalten«, und er stellte fest, daß die Luxusgesetze der Vergangenheit »aus der Mode gekommen«8 seien. Von einer solchen Meinung war die Position Rathenaus denkbar weit entfernt, auch wenn zwischen beiden Äußerungen nur wenige Jahre lagen. Die Unbedingtheit, mit der sowohl die staatliche Kontrolle des entbehrlichen Konsums als auch die systematische Erhaltung und Hebung des Lebensstandards der breiten Massen gefordert wird, ist im späten Kaiserreich kaum bekannt, für die Weimarer Republik aber prägend. Von einem ideengeschichtlichen Höhenkamm aus betrachtet, ließen sich Rathenaus konsumpolitische Empfehlungen leicht als Renaissance eines asketischen Bürgerideals verstehen, das den Massenkonsum seit jeher unter Generalverdacht stellte.9 Es dürfen aber die sozioökonomisch fundierten konsumgesellschaftlichen Basisprozesse nicht übersehen werden, die vorn dargestellt wurden, da sie der Politisierung des Konsums mächtigen Vorschub leisteten. Nach dem Krieg ließ zum einen das niedrige Niveau der Realeinkommen verbunden mit der Unterernährung, dem Wohnungsmangel und anderen Formen der Unterversorgung, das Existenzminimum ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit rücken. Zum anderen stellten die hedonistischen Impulse der Massenkultur und die Verschiebungen in der Einkommenshierarchie das auf Distinktion bedachte und dem Arbeitsethos verpflichtete bürgerliche Konsummodell in Frage. Vor diesem Hintergrund und angesichts der geschrumpften Verteilungsspielräume wurden Konsumpraktiken unter dem Begriff der Verschwendung zum politisch sensiblen Thema. Die nun zu analysierenden konsumpolitischen Maßnahmen sind daher nicht einfach als Auswüchse eines staatlichen Interventionismus und Ausdruck eines anachronistischen Puritanismus zu verstehen, sondern müssen als Reaktionen auf den krisenhaften Zustand der Konsumgesellschaft betrachtet werden. Diese Reaktionen waren dabei nicht zwangsläufig oder unumstritten, sondern entstanden vielmehr in einem Minenfeld konkurrierender Ideen und Interessen hinsichtlich der Rolle der Konsumenten und der politischen Regulierung des Konsums. Die nach dem Krieg anstehende Herstellung einer neuen staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung implizierte, zumindest sofern es nach den Konzepten der demokratischen Reformkräfte ging, die Etablierung 8 Ebd., S. 159. Als unzeitgemäß werden die Luxusgesetze auch im Brockhaus (1898) und in Meyers Konversationslexikon (1905) beurteilt (vgl. dort die jeweiligen Einträge zu »Luxus«). Zugleich bestand im wilhelminischen Bürgertum allerdings eine ungebrochene Tradition der Luxuskritik, die als Gegenmittel aber ganz auf den individuellen Weg von Bildung und Erziehung, nicht auf staatliche Verbote und Kontrollen setzte. Vgl. Breckman, Disciplining. 9 Vgl. Kroen, Aufstieg, S. 538–550; Berry, Idea.

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einer neuen Form von citizenship mit deutlich erweiterten sozialen Rechten und moralischen Pflichten der Staatsbürger – vor allem in ihrer Eigenschaft als Verbraucher.10

1. Die mittlere Linie zwischen Produktionspolitik und Verbraucherschutz Dass Deutschland arm sei, das war der Minimalkonsens unter sämtlichen politischen und sozialen Gruppierungen der Nachkriegszeit, und das entsprach auch vollkommen den Tatsachen, bedenkt man, dass das reale deutsche Volkseinkommen im Jahr 1919 um fast dreißig Prozent unter dem Stand von 1913 lag.11 Aus der übereinstimmenden Elendsdiagnose erwuchsen jedoch mit der »Produktions­ politik« und der »Konsumentenpolitik« zwei radikal gegensätz­liche Konzepte zur politischen Bewältigung der Armut und ihrer sozialen Folgen. Während einerseits die Erhöhung der volkswirtschaftlichen Produktionsleistung langfristig notwendig schien, da der Verteilungskampf um einen dauerhaft zu kleinen Kuchen endemisch zu werden drohte, gab es andererseits kurzfristig zum staatlichen Schutz der städtischen Verbraucher keine Alternative, solange der Markt angesichts der großen Nachfrage und des geringen Warenangebots als alleiniges Allokationsinstrument versagte. Dass in dieser Situation ein echtes Dilemma steckte, zeigte sich an den Auseinandersetzungen um die Aufhebung der Zwangswirtschaft:12 Je länger die Preise für Nahrungsmittel im Interesse der Verbraucher niedrig gehalten wurden, desto weniger waren die Landwirte zur Ablieferung ihrer Produkte an die Behörden bereit, wodurch der zu verteilende Gesamtertrag schrumpfte; hob man aber die Preisbindungen auf, zogen die Preise wegen des Ungleichgewichts von Angebot und Nachfrage kräftig an und gefährdeten wenigstens vorübergehend die Versorgung der finanzschwachen städtischen Schichten. Frühzeitig und als eine Hinterlassenschaft des Krieges kristallisierte sich daher ein Neben- und Gegeneinander von Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik heraus.13 Die schwierige Balance von Produktivismus und Verbraucherschutz 10 Zur Genese einer sozialen Staatsbürgerschaft in der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts vgl. Marshall, Wohlfahrtsstaat, S. 157; ders., Staatsbürgerrechte, S. 65–73; Eghigian, Pain, S. ­25–27; Canning, Gender History, S. 212 ff.; zur besonderen Bedeutung des Konsums in diesem Kontext vgl. vor allem Hilton u. Daunton, Politics; Cohen, Republic, S. 18–53. 11 Nach zwischenzeitlicher Erholung lag es 1923 erneut auf diesem Stand. Vgl. Holtfrerich, Inflation, S. 224. 12 Vgl. Schumacher, Land, S. 130–186; Moeller, Peasants, S. 69–74, 95–115; Beckstein, Interessenpolitik, S. 413–432; Feldman, Disorder, S. 165–171, 188–195, 218–232. 13 Dieser Dualismus wurde bereits 1973 auf dem Bochumer Symposion »Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik« herausgestellt. Eindringlich analysiert wurde er dann vor allem in Gerald Feldmans epochaler Darstellung der deutschen Inflation. Vgl. Mommsen u. a., System, S. 614; Feldman, Disorder; Balderston, Rez. Feldman.

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war ein zentraler Bestandteil dieses Konflikts, der in Zusammenhang mit den beiden wichtigsten Richtungsentscheidungen der Jahre 1919/20 verstanden werden muss: Zum einen war die von den bürgerlichen Parteien betriebene Rückkehr zum freien Markt auch in der Mehrheitssozialdemokratie faktisch beschlossene ­Sache, als die Planwirtschaftskonzepte von Wissell und v. Moellendorff im Juli 1919 abgelehnt und alle Sozialisierungspläne hinausgeschoben wurden. Spätestens mit dem Amtsantritt von Andreas Hermes (Zentrum) Ende März 1920 als Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, der den schrittweisen Abbau der staatlich gelenkten Erfassung und Verteilung von Nahrungsmitteln voran­trieb, standen die Weichen in Richtung Marktwirtschaft. Zum anderen bildete das Bekenntnis zum demokratischen Sozialstaat ein nicht hintergehbares Versprechen der Republik: »Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziel der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen«, verknüpfte die Verfassung im Artikel 151 den Gedanken der sozialen Gerechtigkeit mit der Gewährleistung eines (noch nicht näher bestimmten) Existenzminimums.14 Nicht nur weil nach Meinung aller Beobachter der Krieg die Geburt von Radikalismus und Revolution aus der Erfahrung des Hungers vor Augen geführt hatte,15 sondern auch weil die Beseitigung materieller Not in unterschiedlichen politischen Gesinnungen ihren Platz hatte, war sie als Staatsziel konsensfähig – ob es sich um sozialistische Gerechtigkeitsvorstellungen, um die bürgerliche Idee der kulturellen »Hebung« oder die nationalistische Sorge um die »Volksgesundheit« handelte. Nicht zuletzt durch die gleichzeitigen Entscheidungen für eine marktge­ steuerte Produktionsförderung einerseits und den Schutz der Verbraucher vor den Dysfunktionalitäten des Marktes andererseits verschärfte sich die Polarisierung der Gesellschaft in städtische Konsumenten und landwirtschaftliche Produzenten. Deren widerstreitende Interessen an Versorgungssicherheit respek­tive freier Entfaltung der Marktkräfte ließen sich nicht ohne weiteres vereinbaren, und so standen sich Stadt und Land feindlich wie nie zuvor gegenüber – jeweils vertreten durch mächtige Interessengruppen, denen aufgrund der korporativen Durchdringung des politischen Systems eine erhebliche Bedeutung zukam. Die Frontstellung ist aus den erbitterten Konflikten um die Zwangswirtschaft und die Preispolitik bekannt:16 Auf der Seite der Verbraucher engagierten sich allen voran die Gewerkschaften, der Deutsche Beamtenbund und die Städtetage, die den Unmut über die schlechte Ernährungslage und die hohen Preise am unmittelbarsten zu spü14 WRV, Art. 151, Abs. 1. Vgl. dazu Völtzer, Sozialstaatsgedanke, S. 292. 15 Vgl. nur Naumann, Gegenwartsproblem, S. 114; Beyer, Hungerblockade, S. 196–202. 16 Vgl. zum Folgenden Schumacher, Land, S.  130–186; Moeller, Peasants, S.  69–84; Führer, Mieter, S. 128 ff.; Geyer, Wohnungsnot, S. 138 f.; ders., Welt, S. 167–204; Feldman, Disorder, S. 165–171, 188–195, 218–232, 244–250, 406–417.

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ren bekamen; im Bereich der Wohnungswirtschaft machten zudem die Mieter­ vereine ihren Einfluss in den Mieteinigungsämtern geltend. Den größten Druck entfalteten aber zweifellos die Verbraucher selbst, die in spontanen Teuerungsprotesten immer wieder die öffentliche Ordnung erschütterten und damit zugleich die Popularität der Wucherverfolgung bekundeten. Die Konsumgenossenschaften plädierten dagegen, wie zuvor erwähnt, für eine Liberalisierung, da sie ihr Ziel einer verteilungsgerechten Wirtschaft auf dem Weg der Konkurrenz erreichen zu können glaubten. Gegen die Fortführung der Bewirtschaftung und die Preiskontrollen machten besonders die Landwirtschaftsverbände mobil – eine stetige Flut von Protestresolutionen ging vom Reichsausschuß der deutschen Landwirtschaft und vom Reichs-Landbund aus. Mit dem Schlagwort von der »einseitigen Verbraucherpolitik« zog etwa Graf Westarp, konservativer Anwalt agrarischer Interessen und Mitbegründer der DNVP, gegen jene zu Felde, die vermeintlich kurzsichtig die städtische Versorgungssicherheit im Auge hatten. Westarp hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, in seinen Reden zu betonen, dass Deutschland durch den Krieg »bettelarm« geworden sei und nur härteste Arbeit und alte preußische »Bedürfnislosigkeit« einen Wiederaufstieg ermöglichen würden. In einem Begrüßungsartikel für eine Versammlung des Bundes der Landwirte geißelte er in typischer Diktion die »von Demokratie und Sozialdemokratie Jahrzehnte hindurch zu Parteizwecken betriebene Verhetzung der Konsumenten gegen die Landwirtschaft«.17 Durch die Preispolitik in die Defensive gedrängt sahen sich auch die Hausbesitzer, die durch die staatlich administrierten Mieten empfindliche Verluste hinnehmen mussten, und die Einzelhändler, die am stärksten dem Vorwurf des Wuchers ausgesetzt waren. Daher ist es nur folgerichtig, dass die Wurzeln der Reichspartei des deutschen Mittelstandes – einer jener wirtschaft­lichen Interes­sentenparteien, die später zur Zersplitterung der bürgerlichen Mitte beitrugen18 – auf ein Bündnis zurückgehen, das 1921 der Zentralverband der Hausund Grundbesitzer und die Wirtschaftspartei, ein Konglomerat von Mittelstandsgruppen aus Handwerk und Kleinhandel, eingingen. Als Initiator und einer der führenden Köpfe der Partei begründete Johann Victor Bredt die Notwendigkeit einer eigenen Mittelstandsvertretung damit, dass in allen Parteien »heute die Angst vor der Masse [herrsche]« und daher »einseitige Konsumenten­ politik getrieben [werde]«.19 Bredt regte die Gründung einer Partei an, weil er als deutschnationaler Stadtverordneter in Marburg (1919–1921) erlebt hatte, wie sich über weltanschauliche Differenzen hinweg die von ihren Konsumenteninteressen geleiteten konservativen Beamten und Angestellten mit den liberalen und sozialdemokratischen Fraktionen verbündet und ihre Besoldungserhöhungen

17 v. Westarp, Politik, S. 323, 312, 329. 18 Vgl. Jones, Liberalism, S. 251–305. 19 Bredt, Erinnerungen, S. 162.

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gegen die ebenfalls parteiübergreifende Allianz der Gewerbetreibenden und Hausbesitzer durchgesetzt hatten.20 Als sich vor dem Hintergrund derart polarisierter Konsumenten- und Produzenteninteressen der Konflikt zwischen Verbraucherschutz und Produktions­ förderung entfaltete, zeigte sich dann aber, dass sich – gerade unter den Bedingungen von Marktwirtschaft und demokratischem Sozialstaat  – Produktion und Konsum kaum gegeneinander ausspielen ließen. Zu eng waren nämlich volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Lebensstandard verzahnt, als dass eine einseitige Bevorzugung möglich gewesen wäre: Wenn ein gewisser Lebensstandard herrschen sollte, musste die Produktion erhöht werden. Um aber auf hohem Niveau produzieren zu können, mussten zugleich akzeptable Reproduktionsbedingungen, also: ein bestimmter Lebensstandard, herrschen. Auf die wechselseitige Abhängigkeit von Arbeit und Konsum in der modernen Gesellschaft hatte schon die Jüngere Historische Schule der Nationalökonomie aufmerksam gemacht, die sich seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts vermehrt mit den Bestimmungsfaktoren der Arbeitsproduktivität beschäftigte.21 Dabei war vor allem der Zusammenhang von Arbeitskraft und Lebens­haltung ins Zentrum des Interesses gerückt. Nach den Pionierarbeiten von Thomas Brassey und Lujo Brentano über die leistungssteigernde Wirkung von Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen hatte Gerhart von Schulze-­ Gävernitz in einer weithin beachteten Studie den Erfolg der englischen Baumwollindustrie auf die höhere Lebenshaltung und besonders die bessere Ernährung der Arbeiter auf der Insel zurückgeführt.22 Auch für Gustav von Schmoller und Karl Bücher, die Galionsfiguren der Historischen Schule, waren die geschichtlich gewachsenen Konsummöglichkeiten zu einem ökonomisch bedeutsamen Faktor geworden. Bei Schmoller geschah das über den Begriff der Lebenshaltung, den er in seinem Beitrag zur Lohntheorie als Summe der »körperlichen und geistigen Lebensansprüche« einer Gruppe verstand. Die Lebenshaltung spiegele klassenspezifische Gewohnheiten, verbessere sich aber unter dem erzieherisch wirkenden Vorbild höherer Schichten und weise zudem eine »konservative Tendenz« auf: Das einmal Erreichte werde in der Regel verteidigt. Wie eine Lohnerhöhung auf die Lebenshaltung wirke, hänge zwar von der »Kulturhöhe« einer Klasse ab, die sich aber im Fall der westeuropäischen und nordamerikanischen Arbeiter so entwickelt habe, dass ein wachsender finanzieller Spielraum auf ein Bedürfnis nach verbesserter Nahrung, Wohnung, Bildung und Hygiene träfe und nicht, wie das in der Vergangenheit oder in den Tropen noch immer der Fall sei, Faulheit und ungesunde Verschwendung zur Folge hätte. Dass eine durch 20 Vgl. ebd., S. 160 f.; Schumacher, Mittelstandsfront, S. 80–83. 21 Vgl. zum Folgenden Rabinbach, Motor, S. 241–256 22 Vgl. Brassey, Work; Brentano, Verhältnis; v. Schulze-Gävernitz, Großbetrieb. Zum dogmengeschichtlichen Reflexionsstand zu Beginn der Weimarer Republik vgl. v. Philippovich, Grundriß, S. 157–160.

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Lohnerhöhungen gestiegene Lebenshaltung ihrerseits sich positiv auf die Leistungsfähigkeit des Arbeiters auswirken könne, war die an die Adresse der Unternehmerschaft gerichtete Konsequenz dieser Überlegung.23 Ebenso erkannte Bücher einen Fortschrittsimpuls im Konsum. Obwohl zunächst eine Wertvernichtung stattfinde, steigere der Konsum die Produktion, sofern die Eigenschaften und der letztlich immaterielle Nutzen der Güter und Dienstleistungen in einer Weise »einverleibt« und in Arbeitsfähigkeit umgesetzt würden, dass eine »Erhöhung unserer geistigen und sittlichen Kraft, unserer Freude am Leben, unseres Wohlbefindens« die Folge sei. Nur ein Konsum in einem vernünftigen Maß, der sich nicht der Verschwendung oder dem Luxus hingebe und zu dessen Einhaltung allen voran die Hausfrauen berufen seien, gewähre jedoch die erhöhte Arbeitsproduktivität.24 Als einer der Väter solcher psychotechnischen Argumente und bedürfnisevolutorischen Annahmen meldete sich im Herbst 1918 erneut Lujo Brentano zu Wort, als es darum ging, die Forderungen nach Produktionssteigerung und Existenzsicherung durch eine Neubestimmung des Verhältnisses von Arbeit und Konsum zu versöhnen.25 In einem Vortrag in der Gesellschaft für So­ziale Reform bekräftigte er seine Überzeugung, dass in einer von kulturellen Errungenschaften geprägten Industrienation vermehrte Freizeit und Konsum zur Weiterentwicklung der Arbeitskraft führten, da sie Ermüdungs- und Unlustgefühle kompensierten. Zugleich deutete Brentano auf der Basis seiner wenige Jahre zuvor entworfenen Hierarchie von Bedürfnissen an, wie die Lohnhöhe zu bestimmen sei, damit der Kreislauf von Arbeit und Konsum zu einer zivilisatorischen Spirale steigender Arbeitsleistung und steigenden Wohlstands werden könne. In Tarifverträgen müssten je nach Berufszweig die Arbeitslöhne nach einem viergliedrigen Bedarfsschema festgelegt werden: Erstens seien die Kosten für die notwendige Nahrung, Kleidung und Wohnung zugrunde zu legen, zweitens ein Posten für die Familiengründung anzusetzen, drittens der Aufwand für Partizipation am kulturellen und politischen Leben und viertens für zukunftsorientierte Rücklagen zu berechnen. Bedarfserhebungen dieser Art steckten zu Beginn der Weimarer Republik noch in den Kinderschuhen, waren aber für die von Brentano empfohlene »gesteigerte Menschenökonomie« unabdingbar.26 Das angemessene Niveau der Lebenshaltung, wofür auch der englische Begriff des standard of life verwendet wurde,27 war nur mit Hilfe eines statistisch fun23 Vgl. Schmoller, Lohntheorie, S. 4–8, Zitate: S. 5 f.; sowie ausführlicher: ders., Frage. 24 Vgl. Bücher, Entstehung, S. 323–327, 336 f., Zitat: S. 325. 25 Vgl. Brentano, Arbeitslohn, S. 3–30; eine ähnliche Position zum Zusammenhang von Lebenshaltung und Arbeitsleistung findet sich zur gleichen Zeit bei Braun, Arbeitsleistungsproblem, S. 295–344. 26 Vgl. Brentano, Arbeitslohn, S. 3–30, Zitat: S. 28; ders., Versuch. 27 Vgl. z. B. Weber, Volkswirtschaftslehre, S.  62: »Das Gesamtmaß der wirtschaftlichen Bedürfnisse, die nach Herkommen und Sitte für eine Klasse der Gesellschaft als normal und berechtigt gelten, nennt man die Lebenshaltung (standard of life).« Ebenso Lujo Brentano: »Unter Lebenshaltung, standard of life, versteht man das Maß dessen, was eine Bevölkerung

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dierten wirtschaftspolitischen Instrumentariums zu bestimmen, dessen vollständige Entwicklung vor allem auf Reichsebene noch ausstand. Was die neoklassischen Kritiker den Kathedersozialisten schon im Werturteilsstreit vorgeworfen hatten: dass diese das Konzept der volkswirtschaftlichen Produktivität von einem unklaren und normativen Lebensbegriff abhängig machten,28 geschah unter dem Eindruck massenhaften Hungers und Mangels im und nach dem Krieg auf wirtschaftspolitischer Ebene verstärkt: Die Begriffe »Leben« und »Existenz«, hinter denen sich, meist nicht expliziert, die materiellen Gewohnheiten und Interessen der Konsumenten verbargen, gewannen unter der Deutungshoheit sozialreformerischer und sozialistischer Kräfte an diskursiver Prominenz. Die Lebenshaltung galt als »soziale Macht«, deren Missachtung fatale Folgen haben würde und die durch wirtschaftsstatistische und konsumpolitische Maßnahmen einzuhegen war;29 die vor dem Krieg noch unbekannte Ernährungspolitik wurde als Bestandteil einer »Politik des so­zialen Lebens« bezeichnet, die den Staatsbürger in seiner Rolle als Produzenten wie Konsumenten zum Schutzobjekt erklärte;30 eine an den »›Lebensinteressen‹ des Volkes« orientierte Politik, die den Massen »ausreichende, gesunde, billige« Nahrung, Wohnung und Kleidung garantierte, sollte die bislang von Produzenteninteressen diktierte »Männerpolitik« ersetzen.31 Forderungen wie diese trugen dazu bei, dass die Rückkehr zur freien Wirtschaft nur unter Berücksichtigung der Versorgungslage der Bevölkerung und dass Produktionssteigerung nicht ohne Sicherung des Existenzbedarfs vollzogen werden konnte. Der Nexus von Lebensstandard und Produktivität verlangte, dass »Bedarfsdeckung und Steigerung produktiver Kräfte«, welche die links­liberale Ökonomin Frieda Wunderlich als doppelten Zweck der Wirtschaft definierte, Hand in Hand gehen mussten.32 Die nationalökonomischen Ideen der Historischen Schule legten daher einen politischen Kompromiss zwischen den antagonistischen Interessen der Konsumenten und Produzenten nahe, der das relative Gewicht von staatlich kontrollierter Versorgungssicherheit einerseits und marktgesteuerter Produktion und Verteilung andererseits von Fall zu Fall zu bestimmen hatte. Die Regierungen der Inflationszeit stellte der Versuch, eine mittlere Linie zu finden, vor erhebliche Probleme. Die Abhängigkeit einer stabilen Er­ nährungslage – dem dominierenden innenpolitischen Ziel der Nachkriegszeit – oder eine Volksklasse zur Befriedigung ihres Nahrungs-, Kleidungs-, Wohnbedürfnisses und ihrer übrigen unabweislichen und überflüssigen Bedürfnisse beansprucht.« Brentano, Versuch, S.  24. »Lebenshaltung« war selbst eine Begriffsbildung des späten 19.  Jahrhunderts. Vgl. auch Triebel, Moral, S. 381. 28 Vgl. die Zusammenfassung der Debatte im Verein für Socialpolitik im Jahr 1909 und ihre Fortführung bei Wunderlich, Produktivitätsbegriff, S. 289–309. 29 Zimmermann, Bedeutung, S. 2. 30 Grünfeld, Stellung, S. 274. 31 Potthoff, Rätesystem, S. 29. 32 Wunderlich, Produktivitätsbegriff, S. 305.

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von Produktionssteigerungen in Industrie und Landwirtschaft ließ sich nicht übersehen. Zu weit war Deutschland bereits auf dem Weg vom Agrar- zum Industriestaat vorangeschritten, zu eng war es in den globalen Agrarmarkt vor 1914 eingebunden – Importabhängigkeit bestand besonders bei Weizen, Fleisch, Kraftfutter und Kunstdünger –, als dass die seit dem Krieg rückläufige einheimische Produktion die gewohnte Ernährung der deutschen Bevölkerung hätte gewährleisten können. Die beiden ersten, sozialdemokratischen Leiter des neu errichteten Ernährungsressorts, Emanuel Wurm (USPD) und Robert Schmidt (SPD), bemühten sich daher im Verein mit ihren liberalen Kabinettskollegen und getreu ihrer freihändlerischen Position aus der Vorkriegszeit darum, die Unterdeckung der Nahrungsmittelversorgung durch Wiederaufnahme von Außenhandelsbeziehungen auszugleichen. Das verpflichtete zugleich zu einer industriellen Produktionsförderung, da die Lebensmittelimporte, wie Schmidt warnte, nur finanzierbar seien, wenn die deutsche Industrie wieder Exportwerte – besonders Eisen, Kohle und Kali – liefern könne.33 Schon eine Denkschrift des Vorsitzenden der Reichsgetreidestelle hatte im Februar 1919 Regierung und Nationalversammlung alarmiert: Die durch Streiks und Unruhen gestörte Kohlenproduktion erschien dort als Achillesferse der allgemeinen Versorgung, da Kohle nicht nur unmittelbar für die Getreideproduktion und das Transportwesen, sondern auch als Tauschwert unabdingbar war. »Ohne Kohle kein Brot, kein Brot aus deutscher Ernte, kein Brot aus fremder Hilfe; denn die Hilfe muss bezahlt, und Zahlung kann nur geleistet werden, wenn deutsche Kohle ausgeführt werden kann«, so die produktionspolitische Quintessenz.34 Vor diesem Hintergrund ist auch verständlich, warum Scheidemann und Schmidt in den ernährungspolitischen Debatten der Nationalversammlung im März und April 1919 mit ihrer ureigenen Klientel, den streikenden Bergarbeitern, hart ins Gericht gingen. Weil sie dadurch die gleichzeitig stattfindenden Verhandlungen über die Lebensmittellieferungen der Entente gefährdet sahen, galten ihnen die Massenstreiks als »Verbrechen am deutschen Volke«. Dass die Streiks, wie Scheidemann formulierte, ein »Wüten gegen das eigene Fleisch« seien, schien deshalb in versorgungspolitischer Hinsicht doppelt zuzutreffen.35 Nur die USPD stellte sich in dieser Frage voll hinter die protestierende Arbeiterschaft, indem sie darauf beharrte, dass einer erhöhten Arbeitsleistung eine Verbesserung der Ernährung vorausgehen müsse.36 Die Bemühungen um Außenhandel und industrielles Wachstum wurden als ernährungspolitische Leitlinie im März 1920 durch einen agrarischen Produk33 Vgl. StenBerRT Bd. 326, S. 626 (10.3.1919); Feldman, Disorder, S. 143 f. 34 Denkschrift v. Graevenitz, 15.2.1919 (BA, R 43 I, 1253, Bl. 62–64). 35 StenBerRT Bd. 326, S. 577 (Scheidemann, 8.3.1919); vgl. Schmidt: ebd., S. 625 f. (10.3.1919); Bd. 327, S. 1019 (14.4.1919). 36 Vgl. den Abg. Wurm: StenBerRT Bd.  327, S.  1036 (14.4.1919); ebd. Bd.  330, S.  3117 (14.10.1919).

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tivismus abgelöst. Der Zentrumspolitiker Andreas Hermes stand dem zu diesem Zweck neu zugeschnittenen Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft vor und verkündete unter breiter Zustimmung im Reichstag, dass langfristig eine »die Verhältnisse des praktischen Landwirtschaftsbetriebes verständnisvoll würdigende Produktionspolitik« auch die »beste Konsumenten­ politik« sei. Den Kurswechsel begründete Hermes mit zwei unbestreitbaren Argumenten: Nicht nur nahm unter der Zwangswirtschaft der Produktionsrückgang der Landwirtschaft immer bedrohlichere Formen an, auch verschlang die Subventionierung der eingeführten Lebensmittel, deren Weltmarktpreis für die deutschen Verbraucher unerschwinglich gewesen wäre, gewaltige Summen; für das im August 1920 endende Erntejahr rechnete Hermes mit über zehn Milliarden RM.37 Angesichts der überaus angespannten Reichsfinanzen und des Kursverfalls der deutschen Währung erschienen die Nahrungsmittelimporte nur als Notbehelf akzeptabel. Statt dessen kündigte Hermes an, durch schrittweise Aufhebung der Zwangswirtschaft und durch Gewährung von Mindestpreisen, welche die gestiegenen Produktionskosten berücksichtigten, die landwirtschaftliche Produktion so weit steigern zu wollen, dass Unabhängigkeit vom Ausland hergestellt werden könne. Die »heimische Scholle« als Garant der Volksernährung  – das war schon im Kaiserreich das Versprechen der Konservativen und fand sich nun auch im Programm von DNVP, DVP und Zentrum.38 Neu war indes, dass auch inner­ halb der SPD die agrarische Produktionspolitik einen wichtigen und frühen Anhänger fand: Bereits Ende August 1919 hatte sich der Preußische Landwirtschaftsminister Otto Braun in einem Artikel im Sorauer Tageblatt, den der Reichs-Landbund sogleich in seiner Deutschen Tageszeitung wiedergab, gegen seinen Parteigenossen Schmidt und für eine partielle Aufhebung der Bewirtschaftung, flankiert von rigiden Preiskontrollen zum Schutz der Verbraucher, ausge­sprochen. Zwar stellten sich das Kabinett und der Vorwärts hinter Reichs­ ernährungsminister Schmidt, doch war mit der öffentlichen Auseinandersetzung das Meinungsmonopol auf die Vertretung der städtischen Verbraucher­ interessen vorläufig verspielt.39 Auf diese berief sich stets auch Hermes, als er seine landwirtschaftsfreundliche Politik in den Jahren 1920/21 durchsetzte: Ob es sich um Ablieferungsprämien für Bauern, um die Liberalisierung des Schlachtvieh- und Kartoffelhandels oder um die Einführung der Getreideumlage handelte, die den freien Verkauf von Überschussmengen gestattete, Produktionsanreize für die Landwirtschaft dienten nach seiner Ansicht auch der Ernährungssicherheit der Konsumenten.40 37 StenBerRT Bd. 333, S. 5452–5459 (Zitat: S. 5458). 38 Vgl. Grundsätze der Deutschnationalen Volkspartei 1920, in: Treue, Parteiprogramme, S. 115; Grundsätze der Deutschen Volkspartei, 19.10.1919, in: ebd., S. 123; Aufruf und Leitsätze der Deutschen Zentrumspartei, in: Lepper, Volk, S. 399. 39 Zum Konflikt zwischen Schmidt und Braun vgl. AdR Kab. Bauer, S. 231 f., 246, 258; sowie BA, R 43 I, 1255, Bl. 115 f., 186. Vgl. dazu auch Schumacher, Land, S. 141 f. 40 Zu den Maßnahmen vgl. ebd., S. 151–156; Beckstein, Interessenpolitik, S. 424–426.

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Schon weil die Vertreter der industriellen wie der agrarischen Produktionspolitik sich zur Rechtfertigung auf die Versorgungseffekte ihrer wirtschafts­ politischen Strategie bezogen, wurden durchgängig weitreichende Konzessionen an die jeweils aktuelle Notlage der Verbraucherschaft gemacht. Aber auch weil die Produktionspolitik langfristig nur mehrheitsfähig war, wenn dadurch nicht kurzfristig das Ernährungsminimum unterschritten wurde, bestand eine große Bereitschaft, den Verbrauchern entgegenzukommen. Der noch am 8. November 1918 vom Kriegsernährungsamt veranlassten Erhöhung der Brotration folgte eine Erhöhung der Fleischration am 13.  Januar 1919  – auch wenn diese bereits im März wieder zurückgenommen werden musste, weil die erforderliche Fleischmenge nicht aufzubringen war.41 Forderungen nach einer Umerziehung der Verbraucher in Richtung einer stärker vegetabilischen Ernährungsweise, wie sie von Vertretern der Lebensreform in dieser Zeit an die Regierung herangetragen wurden, fanden ebenfalls ein negatives Echo. Den Argumenten der Ernährungsreformer, Fleisch habe eine schlechtere Nährwertbilanz und die Viehzucht verringere die für die menschliche Ernährung zur Verfügung stehende Getreidemenge, widersprach das Reichsgesundheitsamt: Im Krieg hätten sich die Erkenntnisse der dominierenden Ernährungstheorie bestätigt, die den Wert einer eiweißreichen Nahrung betonte, und vor allem sei es ganz unmöglich, die Ernährungsgewohnheiten eines Volkes in kürzester Zeit durch Belehrung zu verändern.42 Eine ähnliche Rücksichtnahme zeigte im Juli 1919 der Ausschuß für Volkswirtschaft, wo die Vertreter aller Parteien forderten, es müsse wieder besseres Mehl geliefert und daher die Ausmahlquote auf achtzig Prozent herabgesetzt werden, was von der Regierung auch durchgeführt wurde.43 Überhaupt war die wichtigste ernährungspolitische Entscheidung im ersten Friedensjahr von einem Konsens getragen: An der Bewirtschaftung der Hauptnahrungsmittel Brotgetreide, Fleisch, Milch und Kartoffeln wurde in der Weimarer Koalition übereinstimmend festgehalten, da eine Freigabe wegen der niedrigen Produktion exorbitante Preissteigerungen erwarten ließ.44 Insbesondere die Versorgung der Städte schien keine Experimente in den Kern­bereichen der Ernährung zu erlauben – schon deshalb nicht, weil die Industrie zum Wachs41 Vgl. Schumacher, Land, S. 133 f.; Bekanntmachung über die Ausgestaltung der Fleischkarte und die Festsetzung der Verbrauchshöchstmenge an Fleisch und Fleischwaren (RGBl. 1919, Nr. 17, S. 96); StenBerRT Bd. 326, S. 628 (10.3.1919). 42 Vgl. Deutscher Verein für Volksernährung an den Rat der Volksbeauftragten (BA, R 43 I, 1253, Bl. 5; vgl. auch ebd., Bl. 7 f.); Reichsgesundheitsamt an Reichskanzlei (ebd., Bl. ­89–93). 43 Vgl. Bericht des Ausschusses für Volkswirtschaft über die Beratung des Entwurfs einer Verordnung über die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse und für Schlachtvieh (StenBerRT Bd. 338, Anlage Nr. 891, S. 841); zudem ebd. Bd. 330, S. 3450 (RWM Schmidt, 27.10.1919). 44 Selbst die DNVP verlangte im März 1919 nur eine allmähliche Aufhebung der Zwangswirtschaft und plädierte für das später von ihr bekämpfte Umlageverfahren. Vgl. StenBerRT Bd. 326, S. 617–659 (10.3.1919); zudem: ebd. Bd. 330, S. 3129 (14.10.1919).

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tumsmotor auserkoren war, von dem sich bald herausstellte, dass er, um richtig laufen zu können, im voraus benötigte, was er letzten Endes (auf dem Umweg der Importe) liefern sollte: reichlichere und bessere Lebensmittel. Wie in der nationalökonomischen Theorie vorgezeichnet, wurde die Sorge um die »Arbeitsmoral« zum Bindeglied zwischen Produktionsförderung und Konsumpolitik. Für den Zentrumsabgeordneten Johannes Blum – eigentlich ein Vertreter agrarischer Interessen –, der die Nationalversammlung nicht nur als verfassung­ gebend, sondern auch als »brotgebend« verstanden wissen wollte, lautete die Antwort auf die Frage, wie man Kohle fördere, ganz einfach: »durch Speck«.45 In dieselbe Kerbe schlug der Ausschuß für Volkswirtschaft nach seinen Beratungen über die Lage im Kohlenbergbau, indem er verlangte, dass »den Bergarbeitern zur Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit und Arbeitsfreudigkeit unverzüglich mehr Lebensmittel, namentlich Fettwaren geliefert werden«.46 Reichsernährungsminister Schmidt entsprach diesen Forderungen im April 1919, als er ankündigte, dass Auslandslieferungen von Mehl und Speck bevorzugt in Industriebezirken und in Städten mit mehr als 50.000 Einwohnern zur Verteilung gelangen sollten. Auch wenn er nicht glaubte, dass die Bergarbeiterstreiks ihre Ursache allein in der schlechten Versorgung hatten, erkannte er doch die Berechtigung der Sonderzulagen für Bergleute an. Die Stimmungslage in den Städten, die schweren Arbeitsbedingungen im Bergbau und vor allem der Stellenwert der Branche für die deutsche Wirtschaft wogen für ihn schwer genug, um eine sozialräumlich bestimmte Ungleichbehandlung der Verbraucher vorzunehmen: Das in Hamburg eintreffende Mehl sollte zuerst dort sowie in Berlin, Dresden, Leipzig und Magdeburg verteilt, der über Rotterdam gelieferte Speck zuerst ins rheinisch-westfälische Industriegebiet geschickt werden.47 Im Juni 1919 nutzten dann die Eisenbahnorganisationen ihre kaum weniger starke Verhandlungsmacht und erwirkten, dass ihnen eine erhebliche Verbilligung der Auslandslebensmittel garantiert wurde, deren Kosten der Staat übernahm.48 Solche Zugeständnisse brachten die staatlich gelenkte Ernährungspolitik, die dem Ziel der Verteilungsgerechtigkeit verpflichtet war, selbst in den Reihen ihrer Verteidiger in Bedrängnis. Bereits im April kritisierte der sozialdemokratische Abgeordnete Röhle die Bevorzugung der Großstädte und mahnte, dass die Zuteilung nicht nach Einwohnerzahl, sondern nach »Bedürftigkeit« erfolgen müsse, die in Kleinstädten mitunter ebenso groß sei.49 Die Kritik veranschaulicht das Dilemma der Zwangswirtschaft: Einerseits versprach sie den Versorgungsberechtigten gleiche Mindestrationen und beruhte damit auf dem Gleich45 StenBerRT Bd. 326, S. 639 f. (10.3.1919). 46 Bericht des Ausschusses für Volkswirtschaft über die Lage im Kohlenbergbau und die Kohlenversorgung (StenBerRT Bd. 335, Anlage Nr. 386, S. 238). 47 Vgl. StenBerRT Bd. 327, S. 1019 f. (14.4.1919) Zudem: Wirtschaftspolitische Richtlinien des Reichswirtschaftsministers, 18.9.1919 (AdR Kab. Bauer, S. 261). 48 Vgl. Kabinettssitzung vom 28. Juni 1919 (AdR Kab. Bauer, S. 23). 49 StenBerRT Bd. 327, S. 1016 (14.4.1919).

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heitsprinzip, andererseits produzierte sie neue Ungleichheiten, indem sie – wie schon im Krieg die militärische – nun die industrielle Leistungsfähigkeit durch Mehrkonsum zu prämieren versuchte. Doch nicht nur die Bevorzugung der städtischen Arbeiter, die sich einem produktionspolitischen Kalkül verdankte, war dazu angetan, das Gerechtigkeitsempfinden breiter Verbraucherkreise zu stören; auch die chronischen Fehl­ allokationen der Zwangswirtschaft trugen zu ihrem fortschreitenden Legitimitätsverlust bei. So drohte im Frühjahr und Sommer 1919 ein Teil der eigentlich guten Obsternte des Vorjahres zu verderben und zwar in Form von ungezuckertem Obstmus, das ein Halbfabrikat für die Marmeladenherstellung war. Der Brotaufstrich Marmelade galt den Behörden in Zeiten des Fettmangels als wichtige Kompensation, und daher hatte man, allerdings ohne Rücksicht auf die verfügbare Zuckermenge, noch 1918 die Produktion von 20 Millionen Pfund Obstmus angeordnet. Der zur Weiterverarbeitung und Konservierung nötige Zucker war aber in Deutschland, das vor dem Krieg einer der größten Zuckerproduzenten weltweit gewesen war, zunehmend knapp: nicht nur weil schon 1915 die Anbaufläche wegen der entfallenden Exporte um ein Viertel reduziert worden war und weil sich auch hier der Mangel an Arbeitskräften und Kunstdünger sowie die produktionshemmende Wirkung der Zwangswirtschaft bemerkbar machten, sondern auch weil der Mundzucker, den die Verbraucher erhielten, für politisch noch zentraler als die Marmelade gehalten wurde. Von den Rationen dieses gerade für die minderbemittelten Schichten so wichtigen Lebensmittels glaubte Schmidt nicht »auch nur 1 Gramm« kürzen zu dürfen.50 So sah die Realität der Mangelverwaltung aus: Der Aufrechterhaltung des Ernährungsniveaus an einer Stelle folgten Engpässe an anderen Stellen auf dem Fuß. Außer dem beständigen Druck der Interessengruppen waren es daher ebenso die unumgänglichen, oft als ungerecht oder skandalös erscheinenden Entscheidungen über die Verteilung von Ressourcen, welche die Zwangswirtschaft diskreditierten und demonstrierten, dass der Staat in seiner Steuerungsfähigkeit überfordert war. Nur so erklärt es sich, dass selbst die SPD, die ja für die Fortführung der Bewirtschaftung vor allem im Bereich der Grundnahrungsmittel eintrat, auf ihre explizite Verteidigung in dem für die Reichstagswahl 1920 verfassten »Handbuch für sozialdemokratische Wähler« verzichtete, wo das umstrittene Thema nur am Rande erwähnt wird. Und es verwundert deshalb auch nicht, dass Schmidt dazu bereit war, im Frühjahr 1919 die Zwangswirtschaft für einige Nahrungsmittel – Eier, Gemüse und Obst ganz, Hafer und Hülsenfrüchte großteils – aufzuheben, die für die Ernährung als nicht lebensnotwendig betrachtet wurden.51 50 StenBerRT Bd. 327, S. 1023 (14.4.1919). Vgl. auch ebd., S. 1017 (Abg. Röhle); Anfrage Kunert betr. Zuweisung von Zucker an die Marmeladenfabriken, ebd. Bd. 338, Anlage Nr. 908; Antwort, ebd., Anlage Nr. 1043; »Angriffe auf die Reichsstelle für Gemüse und Obst« (Abschr. aus dem Berliner Lokalanzeiger, 1.4.1919), BA, R 43 I, 1253, Bl. 169. 51 Vgl. Handbuch, lediglich S. 82, 117; AdR Kab. Bauer, S. 246.

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Die Kompromisslinie einer schrittweisen Liberalisierung hatte allerdings fatale Konsequenzen, indem sie einerseits die von den Kritikern befürchteten Preissteigerungen nach sich zog, andererseits die noch bestehenden Vorschriften unterminierte. So beschädigte die Freigabe des vornehmlich als Futtermittel dienenden Hafers die restliche Getreideversorgung, weil die Bauern sofort begannen, dem im Preis gestiegenen Hafer anderes Brotgetreide unterzumischen oder dieses gar anstelle des Hafers zu verfüttern, während der Hafer ins Ausland verkauft wurde. Noch bedrohlicher für die zukünftige Ernährungslage war die Gefahr, dass die Landwirte, auf die anhaltende Preisdifferenz spekulierend, vermehrt Hafer auf Kosten anderer Getreidesorten anbauen würden.52 Die Kritik, welche die Regierung angesichts dieser absehbaren Konsequenzen erntete, war aber noch milde im Vergleich zu dem Sturm der Entrüstung, der auf die Freigabe der Wirtschaft mit Häuten, Fellen und Leder im August 1919 folgte.53 Zwei Tage debattierte das Parlament über eine Interpellation, die die sozialdemokratische Fraktion anlässlich der »unerhörten Preissteigerungen« besonders bei Schuhen gegen ihren eigenen Ernährungs- und Wirtschaftsminister eingebracht hatte.54 Tatsächlich hatte die teilweise Aufhebung der Zwangswirtschaft zu der absurden Situation geführt, dass bei den Häuteund Fellauktionen die Haut einer Kuh einen beinah ebenso hohen Preis erzielte wie die gesamte Kuh inklusive des Fleisches zu den administrierten Preisen der Zwangswirtschaft. Natürlich provozierte das zudem Schwarzschlachtungen, die zum Teil sogar zulasten des Nutzviehbestandes gingen, von dem die Milchversorgung abhängig war. Die größte Besorgnis rief aber das Los der mäßig bis schlecht verdienenden Verbraucher hervor, die sich wegen der gestiegenen Lederpreise keine Schuhe mehr leisten konnten. Die Debatte, die sich um diese Fehlentwicklungen und ihre möglichen Korrekturen drehte, lässt erkennen, dass die Frage von Verbraucherschutz vs. Produktionsförderung überraschende Solidarität entstehen ließ. Während die beiden sozialdemokratischen Fraktionen die Liberalisierung heftig attackierten und sich dabei auf zum Teil  vernichtende Urteile aus der liberalen Frankfurter Zeitung, dem Berliner Tageblatt und sogar der Verbandspresse der Lederwirtschaft stützten, verteidigte Schmidt seine Entscheidung in einer für ihn unbequemen Allianz mit den bürgerlichen Parteien von der DDP bis zur DNVP, die wiederum nicht zu erwähnen versäumten, dass auch der Zentralverband deutscher Konsumvereine und der sozialdemokratische preußische Landwirtschaftsminister für eine Aufhebung der Zwangswirtschaft eintraten. 52 In der Bewertung der desaströsen Folgen der Freigabe von Hafer waren sich Heim (Zentrum), Wurm (USPD) und Schmidt (MSPD) einig: Vgl. StenBerRT Bd.  329, S.  2817, 2819 (2.10.1919); ebd., S. 3763 (26.11.1919). Durch die Verordnung vom 11.12.1920 (RGBl. 1920, S. 2042) wurde dann für Hafer wieder eine Mindestablieferung – mit Ausnahme von Kleinbetrieben – eingeführt. 53 Zum Folgenden vgl. StenBerRT Bd.  330, S.  3053–3087 (13.10.1919); ebd., S.  3093–3129 (14.10.1919). 54 StenBerRT Bd. 339, Anlage Nr. 1101: Interpellation Löbe, Scheidemann (4.10.1919).

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Auch wenn die Vertretung der Konsumenteninteressen zu einer unübersichtlichen Angelegenheit geworden war, in einem Punkt kamen doch alle politischen Richtungen überein: dass sich durch die unerwartet hohen Preissteigerungen bei Leder für die Schuhversorgung der »minderbemittelten« Schichten im kommenden Winter ein unhaltbarer Zustand ergeben musste, wenn nicht politisch interveniert werde. Verschiedene Vorkehrungen wurden erwogen, darunter die von der Regierung bereits verfügte Zahlung eines »Konjunkturgewinns«, den die Ledergerber und -händler von ihren Profiten an den Staat abzuführen hatten. Dieser sollte damit und unter Hinzuziehung der noch vorhandenen Heeresbestände die Produktion billiger Schuhe ermöglichen. Zu diesem Zweck war zudem die Gründung eines gemeinnützigen Unternehmens, der »Deutschen Gesellschaft für Volksschuhbeschaffung«, geplant, die aber in der Debatte als ein pseudozwangswirtschaftliches Bürokratiegebilde durchfiel; statt dessen wurde von den meisten Rednern empfohlen, die notwendige staatliche Fürsorge für die Schuhversorgung der Bedürftigen in die Hände der Kommunen zu legen. Außer allen diesen moderaten konsumpolitischen Korrekturversuchen wurde eine Maßnahme mit besonderer Leidenschaft gerade von jenen Fraktionen der Mitte und des konservativen Lagers gefordert, die für die baldige Aufhebung der Zwangswirtschaft stimmten: Die Verschärfung der noch bestehenden Preiskontrollen zu einer durch drakonische Strafen sanktionierten Wucherverfolgung wurde als Tauschobjekt für das Ende aller anderen Kontrollen ins Spiel gebracht. Und bevor die populistische Wucherrhetorik in den folgenden Jahren zur Domäne erst der bayerischen Regierung unter Gustav von Kahr und der extremen Parteien dann aller politischen Richtungen wurde,55 überboten sich im Oktober 1919 die Vertreter der bürgerlichen Mitte mit der Forderung, die Wucherer an der nächsten Laterne aufzuknüpfen – ein Motiv der Abschreckung, mit dem die eigene Machtlosigkeit kaschiert wurde und das sich wie ein roter Faden durch die Debatte zog: Der DDP-Abgeordnete Karl Hermann erbot sich, selbst die Stricke zu liefern; dem Zentrumspolitiker Carl Diez schien ein Strick »noch zu gut für derartige Sünder«, und das obwohl er zuvor betont hatte, die Zwangswirtschaft sei gescheitert an der »Verkennung des Möglichen in der Anwendung des Zwanges«.56 Als Schmidt einwandte, er lehne die Todesstrafe nicht nur ab, sondern halte sie auch für zwecklos, denn es gebe in Berlin mehr ­Wucherer als Laternenpfähle, entgegnete der konservative Karl Gebhart, so müssten eben an jedem Pfahl zwei oder drei hängen.57 Die Verordnung über Sondergerichte gegen Schleichhandel und Preistreiberei vom 27. No55 Vgl. Geyer, Welt, S. 186 ff. 56 StenBerRT Bd. 330, S. 3102, 3101; zudem vgl. ebd., S. 3067. 57 Vgl. StenBerRT Bd. 330, S. 3105, 3127. Für eine schärfere Verfolgung der Preistreiberei plädierten allerdings auch die Sozialdemokraten (vgl. ebd., S.  3058, 3105). Otto Braun hatte im Preußischen Landtag bereits die Zwangsarbeit für Schleichhändler gefordert (vgl. ebd., S. 3117).

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vember 1919, die durch die Einrichtung von Wuchergerichten das Preistreibereistrafrecht verschärfte, ist daher in erster Linie auf den Radikalismus der bürger­lichen Mitte zurückzuführen. Der Einblick in die blutrünstige Phantasie der Parlamentarier zeigt, wie tief der Schock über die Preisentwicklung saß und wie verzweifelt man nach Kompen­sation suchte, welche die geplante Rückkehr zum freien Markt für die Verbraucher erträglich gestalten konnte. Was sich an vielen anderen versorgungspolitischen Entscheidungen der Inflationszeit ebenso demonstrieren ließe, zeigt sich hier bereits in nuce: Die Regierung stand vor einer die Staats­ autorität gefährdenden Aporie. Die produktionspolitisch vernünftige Aufhebung der zwangswirtschaftlichen Interventionen musste aus konsumpolitischen Gründen durch die Einführung anderer Interventionen wenigstens vorübergehend »abgefedert« werden. Schlug man der Hydra der Zwangswirtschaft einen ihrer Köpfe ab, entstanden neue in Gestalt anderer versorgungssichernder Maßnahmen, die nicht weniger schwer zu bändigen und im Fall der Wuchergesetzgebung noch schlechter zu kontrollieren waren. Auch unter der Ägide von Hermes, der in der historischen Forschung als Vertreter einer konsequenten Liberalisierungspolitik gilt, wurde unterhalb der Ebene der produktionspolitischen Richtungsentscheidungen eine ganze Reihe von konsumpolitischen Zugeständnissen gemacht, wodurch tatsächlich der »Mittelweg«58 seines sozialdemokratischen Vorgängers fortgesetzt wurde. Ein kursorischer Überblick über einige Stationen der Kompromissbildung in den Jahren 1920/1921 genügt, um zu erkennen, dass die Gravamina der Konsumenten kontinuierlich Gehör fanden. Zwar drängte Hermes im Jahr 1920 zweifellos zuerst auf Anreize zur Förderung der landwirtschaftlichen Produktion, indem er die Einführung von Frühdrusch- und Ablieferungsprämien, die Erhöhung der Mindestpreise für wichtige landwirtschaftliche Erzeugnisse und die Aufhebung der Bewirtschaftung von Fleisch und Kartoffeln durchsetzte.59 Die landwirtschaftsfreundliche Politik sollte aber keinesfalls einseitig auf Kosten der städtischen Verbraucher gehen. Gerade angesichts der im Sommer 1920 eskalierenden Lebensmittelunruhen hielt er es für die »unbedingte Pflicht« der Regierung, »alle verfügbaren Mittel für eine Besserung der Ernährungsverhältnisse einzusetzen und bei jeder Maßnahme peinlichst zu prüfen, welchen Einfluss sie auf die wirtschaftliche Lage der verbrauchenden Bevölkerung ausüben wird«.60 Daher erachtete Hermes auch die Aufrechterhaltung der Zwangswirtschaft für Brot, Milch und Zucker einstweilen für notwendig, weil bei Frei58 So die Selbstbeschreibung der Ernährungs- und Agrarpolitik durch Schmidt: StenBerRT Bd. 330, S. 3105 (14.10.1919). Zur abweichenden Bewertung Hermes’ vgl. Beckstein, Interessenpolitik, S. 423; Schumacher, Land, S. 146. 59 Freigabe bei Kartoffeln: 15.9.1920; bei Fleisch: 1.10.1920. Vgl. Beckstein, Interessenpolitik, S. 426; zudem Schumacher, Land, S. 151–153; StenBerRT Bd. 333, S.  5452–5459 (Hermes, 26.4.1920); ebd. Bd. 344, S. 120–128 (Hermes, 2.7.1920); AdR Kab. Fehrenbach, S. 58–62, 108. 60 StenBerRT Bd. 344, S. 120 (Hermes, 2.7.1920).

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gabe eine nicht kontrollierbare Preissteigerung zu erwarten war; daher glaubte er auch, die kräftig angehobenen Erzeugerpreise nicht durch eine Steigerung des Brotpreises, sondern über den Reichshaushalt ausgleichen zu müssen; und daher votierte Hermes dafür, die langfristig nicht finanzierbare Verbilligung der Lebensmittel­importe vorläufig fortzusetzen.61 Zu einer ganz ähnlichen Linie fand der Unterausschuß für Landwirtschaft und Ernährung des Vorläufigen Reichswirtschaftsrats, der zwischen Juli und Oktober 1920 über die Ernährungspolitik beriet und nicht unter dem Kom­ promissdruck stand, der vom Zwang zur Entscheidungsfindung ausgeht.62 Dort waren  – um nur die Vorsitzenden zu nennen  – mit den Sozialdemokraten August Müller und Paul Umbreit und dem deutschnationalen Anführer des Bundes der Landwirte, Gustav Roesicke, denkbar unterschiedliche Positionen vertreten. Obwohl Produzenten- und Konsumentenstandpunkt aufeinanderprallten, wurde in »vielen Fällen über Einzelfragen eine Verständigung« erzielt. Einstimmig wurde etwa beschlossen, dass die Zwangswirtschaft für Getreide noch nicht beendet werden könne, während für Kartoffeln die Freigabe unter bestimmten Bedingungen befürwortet wurde. Auch hielt es der Ausschuss, erneut einstimmig, nicht für gerechtfertigt, den Brotpreis zu erhöhen, um die Einfuhr von Getreide zu finanzieren, welche die Lücke zwischen einheimischer Ernte und Bedarf schließen sollte. Denn nur wenn die Kosten über den Reichs­ etat liefen, war gewährleistet, dass nicht nur die 49 Millionen Versorgungsberechtigten, sondern die »Allgemeinheit« belastet wurde, zu der eben auch 14 Millionen Selbstversorger zählten.63 Der Ausschuss sah sich demnach gezwungen, den breiten Kreis der städtischen Konsumenten weiterhin als »Versorgungsklasse« anzuerkennen – um mit M. R. Lepsius zu sprechen 64 – und dabei an eine Solidargemeinschaft von Stadt und Land zu appellieren, die aber seitens der Landwirte längst durch ihren passiven Widerstand gegen den Lieferungszwang ausgehöhlt wurde. Das Brot blieb unterdessen – im Hinblick auf Qualität, Menge und Preis – das politisch sensibelste Thema der Ernährungspolitik, das die Notwendigkeit und die Grenzen der staatlichen Intervention aufzeigt. Als der DDP-Abgeordnete Anton Erkelenz im Juli 1920 dem Reichstag das auf Marken erhältliche Brot in natura vorführte, war offensichtlich, dass das Versprechen der Regierung vom Vorjahr, der Bevölkerung besseres Brot zu liefern, nicht hatte gehalten werden können. Zumindest galt das, wie Erkelenz anhand zahlreicher Beispiele nachwies, im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Dort war die Qualität des 61 Die wechselseitige Abhängigkeit von produktions- und konsumpolitischen Maßnahmen beschrieb Hermes am deutlichsten in einem Brief an den Vorstand des ADGB: vgl. AdR Kab. Fehrenbach, S. 125–129. 62 Zum Folgenden vgl. Bericht des Unterausschusses für Landwirtschaft und Ernährung (BA, R 43 I, 1258, Bl. 54–60, Zitat: Bl. 60) 63 Nach den offiziellen Berechnungen, mit denen die Reichsgetreidestelle arbeitete: vgl. ebd., Bl. 56. 64 Lepsius, Ungleichheit, S. 128–131.

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­ rotes mitunter so schlecht, dass es zu achtzig Prozent aus Streckstoffen beB stand, was zu regelrechten Vergiftungen führte, wie der Verein Düsseldorfer Ärzte berichtete. Dass ausgerechnet im industriellen Kern des Reiches die Brotversorgung so alarmierend war, hatte die Fraktionen von DDP, Zentrum und DVP zu der von Erkelenz vorgetragenen Interpellation veranlasst. Sie lässt die verschiedenen Begründungszusammenhänge des konsumpolitischen Engagements erkennen: Erstens deutet die Warnung vor den »allerbedenklichsten politischen Konsequenzen« der Unterversorgung auf die Sorge um die Stabilität der öffentlichen Ordnung; zweitens bestätigt der Hinweis auf die in anderen Reichsteilen weit bessere Brotqualität den staatlichen Auftrag der Verteilungsgerechtigkeit – hier in seiner regionalen Dimension; drittens schien die mangelhafte Versorgung gerade der Bergleute zu einem herben Rückschlag für die angestrebte Erhöhung der Kohlenproduktion zu werden – die vom Brot erkrankten Arbeiter einer Essener Zeche verweigerten bereits die vereinbarten Überschichten; viertens schließlich drohten nach Auskunft der Ärzte und Ernährungs­ physiologen irreparable Schäden an der Gesundheit des »Volkskörpers«.65 Ein Thema, das diskursiv mit den Politikzielen Legitimitätssicherung, so­ ziale Gerechtigkeit, Produktivismus und Volksgesundheit besetzt war, verlangte nach weiterer staatlicher Reglementierung – auch wenn sie vollkommen unwirk­ sam bleiben musste, wie etwa die Verordnung über die Bereitung von Kuchen, die im März 1921 mit Rücksicht auf die »üble Lage der Brotversorgung«66 erlassen wurde. Die Verordnung legte fest, dass das in Bäckereien und Konditoreien zur Herstellung von Kuchenteig verwendete Mehl nur bis zu dreißig Prozent aus Brotgetreide stammen durfte und drohte bei Zuwiderhandlung mit einer Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr. Damit blieb die Verordnung noch weit hinter dem Verbot jeder gewerblichen Herstellung von Kuchen zurück, das der Reichstag zu erlassen empfohlen hatte. Nach Rücksprache mit Verbraucher­vertretern gewann die Regierung den Eindruck, dass bei der »erwerbstätigen Bevölkerung ein gewisses Bedürfnis nach Kuchen« nicht ignoriert werden könne und optierte daher erneut für eine Kompromisslösung, die kaum effektiv kontrollierbar war. Vergeblich warnte Julius Hirsch, Staatssekretär im Reichswirtschafts­ ministerium, davor, eine weitere Verordnung zu erlassen, die nur auf dem Papier stehen werde, weil weder Polizei noch Bevölkerung an ihrer Einhaltung interes­siert seien.67 Stand die Regierung im Hinblick auf die versprochene Qualität und Menge des Brotes bereits mit dem Rücken zur Wand, bekam sie in der Frage des Brot65 Vgl. StenBerRT Bd. 344, S. 216–220 (5.7.1920), Zitat: S. 216. 66 StenBerRT Bd. 346, S. 1667 (15.12.1920); vgl. Verordnung über die Bereitung von Kuchen vom 11.3.1921, RGBl. 1921, S. 226. 67 Vgl. RGBl. 1921, Nr.  28, S.  226 f. (11.3.1921); Entwurf einer VO über die Bereitung von ­Kuchen (BA, R 43 I, 1258, Bl. 73–82, Zitat: Bl. 78); StS Hirsch an Reichskanzlei, 14.1.1921 (ebd., Bl. 100 f.); StenBerRT Bd. 346, S. 1667 (15.12.1920). Nur wenige Monate später wurde im Rahmen der Getreideumlage die Kuchenverordnung wieder aufgehoben. Vgl. RGBl. 1921, Nr. 62, S. 750.

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preises bald gar keine Luft mehr, so groß war der Druck, der von allen Seiten auf sie einwirkte. Die Subventionierung des Brotpreises erwies sich bei dem weiteren Kursverfall der Mark als ein Fass ohne Boden und war, nachdem sich die Regierung Wirth hatte verpflichten müssen, die Reparationsvereinbarungen so weit wie möglich zu erfüllen, mit den erforderlichen Sparmaßnahmen nicht in Einklang zu bringen. Zugleich gingen unter dem künstlich niedrig gehaltenen Brotpreis die Ernteerträge kontinuierlich zurück, weil den Landwirten die Produktionskosten davonliefen: Nach einer unabhängigen zeitgenössischen Berechnung versechsfachten sich die Preise für Kunstdünger zwischen Kriegsbeginn und Anfang 1920, während die Getreidepreise nur um das Zweieinhalbfache stiegen.68 Einer Erhöhung des Brotpreises waren dennoch vergleichsweise enge Grenzen gesetzt, denn in der städtischen Öffentlichkeit kam diesem eine überragende symbolische Bedeutung zu. Schon als im Januar 1921 Gerüchte über einen bevorstehenden Preisanstieg die Runde machten, regte sich heftiger Widerstand an der Gewerkschaftsbasis, die in zahllosen Protestschreiben die »denkbar schärfsten Aggressivmaßnahmen« forderte.69 In einer daraufhin vom ADGB-Vorstand verlangten Unterredung mit Mitgliedern des Kabinetts verteidigte Hermes zwar seine Strategie einer schrittweisen Liberalisierung, stellte aber zugleich in Aussicht, dass der Mehlpreis im laufenden Wirtschaftsjahr – also bis zum 15. August 1921 – nicht erhöht würde. Mit diesem Versprechen geriet Hermes jedoch wenige Monate später in Konflikt mit Reichskanzler und Finanzminister Wirth, der aus haushaltspolitischen Gründen im Kabinett zunächst eine doppelte Preiserhöhung am 15. Juli und 15. August durchsetzte. Hermes protestierte unter Verweis auf die zu erwartenden Unruhen und Lohnforderungen und drang damit durch: Das Kabinett revidierte seine Entscheidung und beschloss eine fünfzigprozentige Brotpreiserhöhung erst zum 15. August. Wenige Wochen darauf war es dann der Volkswirtschaftliche Ausschuß des Reichstages, der für die Verbraucher Partei ergriff, indem er die Regierung einstimmig ersuchte, die geplante Erhöhung auf vierzig Prozent zu begrenzen  – und wieder folgte das Kabinett gegen den Willen Wirths dem konsumpoli­ tischen Zugeständnis.70 68 Vgl. Eulenburg, Preisrevolution, S. 293. Zum Problemdruck, der von den zurückgehenden Ernteerträgen ausging vgl. Entwurf eines Gesetzes über die Regelung des Verkehrs mit Getreide (StenBerRT Bd. 367, Anlage Nr. 1957, S. 11). 69 Vorstand des ADGB an die Reichsregierung, 27.11.1921 (BA, R 43 I, 1258, Bl. 104 f.). Zu den Gerüchten vgl. auch StenBerRT Bd. 347, S. 2268 (Hertz, 29.1.1921). 70 Vgl. Besprechung mit den Führern des ADGB, 18.2.1921 (BA, R 43 I, 1258, Bl.  127–129); AdR Kab. Wirth I, S. 42, 48, 58 f., 131 f. So sehr Wirth und auch Hermes also davon überzeugt waren, die kostspieligen Zuschüsse abbauen zu müssen, mussten sie sich doch dem Vetorecht der Ernährungssicherheit ein ums andere Mal beugen, wie auch ein anderes Beispiel bezeugt: Noch im August 1921 beantragte Hermes für den Nachtragsetat seines Ministeriums eine halbe Milliarde Mark, die der »Ernährungsfürsorge für unterernährte Kinder« dienen sollte. Er bezog sich dabei nicht nur auf eine in seinem Ressort erstellte Denkschrift, die eine Reihe von Gesundheitsuntersuchungen in Schulen auswertete und zu dem Ergebnis

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Dieser Entscheidung war kurz zuvor die im Reichstag heftig umstrittene Einführung der gemischtwirtschaftlichen Getreideumlage vorausgegangen, die für ein Liefersoll von 2,5 Millionen Tonnen Getreide weiterhin Höchstpreise, für die Überschussmenge Marktpreise vorsah. Auch hier hatte Hermes eine Synthese von Produktionsförderung und Verbraucherschutz angestrebt, indem er für die Teilliberalisierung, die den Forderungen der landwirtschaftlichen Produzenten eindeutig entgegenkam, eine konsumpolitische Zielsetzung reklamierte: Nur so sei die »Belieferung der versorgungsberechtigten Bevölkerung mit den bisherigen Brot- und Mehlrationen zu erträglichen Preisen«71 zu gewährleisten, weshalb der ursprüngliche Entwurf des RMEL auch ein höheres Liefersoll von 3,5 Millionen Tonnen vorschlug.72 Die Debatte um die Getreideumlage spaltete dennoch die Weimarer Koa­ litionsparteien, denn in der Frage der Brotversorgung stieß die Kompromissbereitschaft der SPD an eine Grenze, weil hier in den Augen der führenden Ernährungspolitiker der Partei das schlechthin existenzsichernde Lebensmittel auf dem Spiel stand, das, anders als etwa Fleisch und Kartoffeln, im Falle heftiger Preissteigerungen als nicht auch nur teilweise ersetzbar galt.73 Die Fraktion der SPD plädierte deshalb ebenso wie die der USPD für eine Aufrecht­erhaltung der bisherigen Bewirtschaftung und – für den Fall, dass die Umlage doch eingeführt würde – für ein hohes Liefersoll von 4,5 Millionen Tonnen sowie für eine Erhöhung der täglichen Mehlration. Keine dieser Forderungen ließ sich im Reichstag durchsetzen, wo die DNVP und der agrarische Flügel der DVP vehement auf eine vollständige Beseitigung der Zwangswirtschaft für Getreide drängten. Als der Umlage-Entwurf schon zwischen diesen extremen Positionen unterzugehen drohte, kam schließlich doch noch ein hinter den Kulissen zwischen den bürgerlichen Parteien ausgehandelter Kompromiss mit der verringerten Umlage von 2,5 Millionen Tonnen zustande. Damit war eine zentrale ernährungspolitische Entscheidung gegen das Votum des größten Koalitionspartners, der SPD, und mit den Stimmen der DNVP gefallen, welche die Umkam, dass die Hälfte der Stadtkinder unterernährt seien, sondern konnte auch darauf verweisen, dass aus dem Arbeitsministerium eine ähnlich alarmierende Untersuchung vorlag und dass der Innenminister ebenso wie das Reichsgesundheitsamt und der Deutsche Städte­ tag seinen Wunsch unterstützten. Hermes erkannte ausdrücklich an, dass sein Programm einer langfristigen Produktionssteigerung der Landwirtschaft im Hinblick auf die Ernährung der Kinder nicht schnell genug wirke, weshalb im Interesse der »völkische[n] Zukunft Deutschlands« eine Notstandsaktion erforderlich sei. Diesem Appell und der breiten versorgungspolitischen Allianz mochte sich das Kabinett nicht verschließen und be­w illigte im November 1921 0,4 Milliarden Mark insbesondere für eine reichlichere Milchversorgung. Vgl. Denkschrift des RMEL über den Ernährungszustand der deutschen Kinder (BA, R 43 I, 1259, Bl. 110–129, Zitat: Bl. 117); AdR Kab. Wirth I, S. 294, 438, 445. 71 StenBerRT Bd. 349, S. 3849 (Hermes, 14.6.1921). 72 Vgl. StenBerRT Bd. 349, S. 3859 (Schmidt (Köpenick), 14.6.1921). 73 Vgl. ebd.; ebenso argumentierten in diesem Punkt die Kommunisten: vgl. ebd., S.  3892 f. (Eckardt, 15.6.1921).

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lage als »das kleinere Übel« gegenüber einer durch parlamentarische Blockade bedingte Fortsetzung der Bewirtschaftung betrachtete.74 Der SPD gab das allerdings die Gelegenheit, nach der Phase des Lavierens, durch die sie unter Ernährungsminister Schmidt und durch die fraktionsübergreifende Zusammenarbeit in den Ausschüssen gegangen war, sich wieder stärker ihres Rufes als Verbraucherpartei zu vergewissern. So sorgte sich die hamburgische Sozialdemokratin Margarete Zabe, die während des Krieges eine Volksküche geleitet hatte, auf dem Görlitzer Parteitag im September 1921 nicht nur um das Leben der breiten Massen, sondern auch um das Image der Partei: »Wir haben uns in den Parlamenten zu sehr von den bürgerlichen Fachministern belehren lassen. Wir sollten als Sozialisten unsere eigene Politik, die Politik der Menschlichkeit machen. (Zurufe: Sehr richtig!) Auf uns sehen Millionen Menschen, die sehnsüchtig darauf warten, daß wir dafür sorgen, daß sie ihre Existenz haben. Das Existenzminimum ist im Verhältnis zur Vorkriegszeit um 50 Proz. zurückgegangen. Das ist ein so großer Ausfall an notwendigen Lebensmitteln und Kleidung, daß es unverantwortlich ist, daß wir nur mit Reden die Genußsucht und Profitsucht der bürger­lichen Kreise bekämpfen. Wir haben nicht laut genug über die Verteuerung des Brotes gesprochen, die bedeutet, daß Millionen Arbeiter sich nicht sattessen können. Die Verteuerung der Milch bedeutet, daß täglich Tausende von Säuglingen zugrunde gehen. […] Wenn unsere Fraktion arbeitet und nicht weiter kommt, so muß sie dem Lande mehr Mitteilungen zukommen lassen.«75

Die Botschaft, die vom SPD-Parteitag in Form einer Resolution an die Regierung ausging, war dann auch eindeutig auf die Interessen der Verbraucher zugeschnitten: Nachdem sich durch die Brotpreiserhöhung und die dadurch wesentlich mit verursachte allgemeine Verteuerung die »Lebenshaltung der Arbeiter, Angestellten, Beamten und Rentenempfänger erheblich verschlechtert« habe, sei man gezwungen, für eine entsprechende Anhebung der Einkommen und Bezüge einzutreten.76 Erst die Frustration über die ernährungspolitische Niederlage machte in der SPD den Weg frei für den »great wage push«, der im August 1921 unter dem unmittelbaren Eindruck der Brotpreiserhöhung einsetzte.77 Trotz des Auswegs in den »Inflationskonsens« blieb die Brotversorgung weiterhin ein zentrales Politisierungsinstrument, das sowohl zu einer stärkeren Pola­risierung des politischen Spektrums in linke Verbraucher- und bürgerliche 74 StenBerRT Bd. 349, S. 3928 (Schiele, 16.6.1921). 75 Protokoll SPD-Parteitag Görlitz 1921, S. 232. 76 Ebd., S. 218. Der ADGB hatte längst schon in Antizipation der Brotverteuerung die gleiche Forderung erhoben und ausdrücklich eine Verbraucherfront in Aussicht genommen, indem er ein Kooperationsabkommen mit dem AfA-Bund und dem Deutschen Beamtenbund vorbereitete: Die Basis für die gemeinsame wirtschaftspolitische Ausrichtung sollte die »Lage der Mitglieder als Arbeitnehmer und Verbraucher« sein. Das Abkommen scheiterte aber schließlich an der zögerlichen Haltung des Beamtenbundes. (vgl. Sitzung des Bundesausschusses des ADGB, 16.–18.8.1921, in: Ruck, Gewerkschaften, S. 354 f., 371 (Zitat), 432 f.) 77 Feldman, Disorder, S. 406–416.

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Produzentenparteien als auch zu einer Wiederannäherung von SPD und USPD beitrug. Im November 1921, als die SPD-Minister im Kabinett Wirth die Politik der Regierung noch mit verantworteten, brachten die Fraktionen der beiden Parteien Gesetzesanträge vor den Reichstag, die eine Erhöhung der täglichen Mehlration und des Getreideliefersolls sowie die Einführung des Umlageverfahrens für Kartoffeln beantragten. Die eindringliche Art und Weise, in der zur Begründung der Anträge die Abgeordneten Mathilde Wurm (USPD) und Clara Schuch (SPD) die Notlage der unter der Teuerung leidenden städtischen Verbraucher schilderten, verdeutlicht zweierlei: Die Verteidigung der Konsumenteninteressen war zum einen spätestens seit dem Ersten Weltkrieg gerade auch eine Domäne der Frauen und blieb zum anderen im Hinblick auf das seit den 1890er Jahren gewachsene rhetorische Arsenal des Teuerungsprotests eine Domäne der Linken. Die Beschreibung der hungernden und frierenden Frauen und Kinder, die Klage über den Verlust der materiellen Grundlagen – namentlich Ernährung, Kleidung und Hygiene – jeder menschlichen Kultur, die Forderung, die Wucherer vor das »Forum des Reichstags und damit der hungernden Bevölkerung« zu zerren – alles das war in einer hoch emotionalen Sprache formuliert, gegenüber der die Sorge um die Volksernährung seitens der Mittel- und Rechtsparteien und ihr Hinweis auf die funktionsuntüchtige Zwangswirtschaft in dürren Worten gefasst waren und eher wie Lippenbekenntnisse klangen.78 Als im Juni 1922 die Entscheidung über die Fortsetzung oder Aufhebung der Getreideumlage anstand – des halbstaatlichen Systems, das die Ablieferung eines Zwangskontingents mit dem freien Verkauf der Überschussernte verband  –, schweißte die sich über Tage hinziehende Generaldebatte im Reichstag SPD und USPD endgültig wieder zur gemeinsamen Verteidigung der städtischen Konsumenten zusammen. Der Hintergrund dieser heftig geführten Auseinandersetzung war, dass Regierung und Parteien in der Ernährungspolitik vor einem Scherbenhaufen standen: Jene Kompromisse, die auf eine Verbindung von landwirtschaftlicher Produktionsförderung und Ernährungssicherung zielten, hatten schließlich in eine unhaltbare, weder die Agrarier noch die städtischen Konsumenten zufriedenstellende Lage geführt. Der sogenannte politische Brotpreis, der im Interesse der Versorgungssicherheit unter dem Weltmarktpreis gehalten wurde, war die Zwickmühle, in die sich das politische System durch die Gleichzeitigkeit von Produktions- und Konsumpolitik hineinmanövriert hatte. Der Preis war für die Getreidebauern untragbar, einerseits weil die Produktionskosten nicht fixiert waren, in denen sich die Inflation voll niederschlug, andererseits weil man bei den anderen Agrarprodukten längst zur freien Wirtschaft zurückgekehrt war, was als krasse Benachteiligung empfunden wurde. Die Verbraucher wiederum reagierten auf Brotpreiserhöhungen extrem sensibel, zum einen weil angesichts der niedrigen Realeinkommen dem wichtigsten Grundnahrungsmittel tatsächlich eine größere Bedeutung zukam, zum anderen weil 78 StenBerRT Bd. 351, S. 4982–5007 (11.11.1921); ebd. S. 5011–5051 (17.11.1921), Zitat Schuch: S. 5050.

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auch von Seiten der Politik der Anspruch auf eine geregelte und erschwing­liche Brotversorgung immer wieder bestätigt wurde – nicht zuletzt als Ausgleich für die schrittweise Aufhebung der Zwangswirtschaft und die allgemeine Verteuerung der Lebenshaltungskosten, die seit dem Übergang zur galoppierenden Inflation dramatische Formen angenommen hatte. Die Umlage und damit der »politische Brotpreis« waren daher, rein ökonomisch betrachtet, nicht zu rechtfertigen, aber zugleich derart politisiert, dass eine Rückkehr zum freien Markt und die unvermeidliche Brotverteuerung das Risiko öffentlicher Unruhen mit sich brachte. In dieser Situation blieb die Entscheidung über die Umlage lange Zeit ungewiss. In der zu Sondierungsgesprächen am 17. Juni 1922 anberaumten Parteiführerbesprechung in der Reichskanzlei verkündete Hermann Müller, dass für die SPD die Umlage nicht verhandelbar sei. Zentrum und DDP waren gespalten, da sie von der Unhaltbarkeit der Zwangswirtschaft ebenso überzeugt waren wie von der Notwendigkeit, die Brotversorgung der Städte unter keinen Umständen gefährden zu dürfen.79 Erneut erwies sich die Regierung Wirth als flexibel, wenn es um die Beschaffung einer parlamentarischen Mehrheit ging. Die Gesetzesvorlage des neuen Ernährungs- und Landwirtschaftsministers, Anton Fehr, immerhin Mitglied des Bayerischen Bauernbundes, sah die Beibehaltung der Umlage mit der Begründung vor, dass ein »stabiler« und »erträglicher Brotpreis ein unbedingtes Erfordernis« darstelle.80 Im Gegenzug sollte die Ungerechtigkeit bei den Ablieferungspflichten beseitigt, der bäuerliche Kleinbesitz geschont und der Kreis der Versorgungsberechtigten enger gezogen werden: Verbraucher jenseits einer noch zu bestimmenden Einkommens- und Vermögensgrenze sollten nicht länger Anspruch auf verbilligtes Brot haben. Die Vorlage passierte schließlich am 1. Juli 1922 den Reichstag, in den Kernpunkten unverändert, mit den Stimmen von SPD und USPD sowie mit der Mehrheit der Zentrums- und DDP-Abgeordneten. Die namentliche Abstimmung verrät darüber hinaus, dass die Landwirte in den Reihen von Zentrum und DDP sich der Mehrheit widersetzten und gegen die Umlage votierten, während andererseits die Frauen ihre Zustimmung gaben  – eine weibliche fraktionsübergreifende Verbraucherallianz reichte von der USPD bis zur BVP, und auch nur eine der sechs Abgeordneten der beide Rechtsparteien stimmte mit »Nein«, während die anderen der Abstimmung fernblieben.81 Wie kam es zu diesem Erfolg der Linksparteien und dazu, dass sich die Mittelparteien nun auf den »Konsumentenstandpunkt« stellten, nachdem sie ein Jahr zuvor über die Umlage noch gemeinsam mit der DVP und der DNVP gestimmt hatten? Das Zusammenspiel aus den gesellschaftlichen Bruchlinien der Inflation, den diskursiven Gewichten im parlamentarischen Konflikt und dem 79 Vgl. Besprechung mit Parteiführern vom 17. Juni 1922, AdR Kab. Wirth II, S. 884–887. 80 Entwurf eines Gesetzes über die Regelung des Verkehrs mit Getreide aus der Ernte 1922, StenBerRT Bd. 374, Anlage Nr. 4498, S. 5. 81 Vgl. StenBerRT Bd. 356, S. 8213 f. (1.7.1922); ebd., S. 8259–8261 (namentliche Abstimmung).

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Gang der politischen Ereignisse liefert den Schlüssel: Gleich zu Beginn der Beratungen am 19./20. Juni 1922 tat sich für die Abgeordneten eine bedrohliche Alternative auf.82 Kurz zuvor hatte das Zentralorgan der USPD, die Freiheit, einen skandalträchtigen Boykottaufruf agrarischer Verbände veröffentlicht, dessen Echtheit zwar von den Vertretern des Reichs-Landbundes, Schiele und Roesicke, bestritten wurde, der aber die von den Lobbyisten aufgeheizte Stimmung unter den Landwirten durchaus widerspiegelte; auch Roesicke gab unumwunden zu, dass bei Fortbestehen der Umlage die Bauern »naturgemäß« weniger produzieren würden.83 Drohte mit der Umlage der Lieferstreik auf dem Land, war ohne sie und bei steigenden Brotpreisen in den Städten mit gewaltsamen und möglicherweise nicht nur punktuellen Protesten der Verbraucher zu rechnen. »Ehe es ans Verhungern geht, kommt der Bürgerkrieg«, warnte der Sozialdemokrat Hermann Krätzig, denn die »Arbeiter, Angestellten und Beamten« seien »zur Abwehr bereit«.84 Enthielt diese Drohung noch ein gewisses Maß an Übertreibung, war im Fall eines Scheiterns der Umlage eine andere Konsequenz wahrscheinlich, die für die Mittelparteien fatal gewesen wäre. Die SPD kündigte an, in diesem Fall die Regierung zu verlassen und auf eine Auflösung des Reichstages zu drängen. Die Neuwahlen wären dann entlang des Grabens zwischen landwirtschaftlichen Produzenten und städtischen Konsumenten entschieden worden, und hätten der SPD einen Wahlkampf unter der Parole des »Brotwuchers« beschert. Besonders das Zentrum, das wegen seiner heterogenen Klientel nicht zu einer eindeutigen Parteinahme in diesem Konflikt fähig war und daher im Nachteil gewesen wäre, warnte vor dieser Möglichkeit.85 Am 24. Juni 1922 erhöhte sich dann der Druck auf eine Entscheidung zugunsten der Linken durch ein unvorhersehbares Ereignis: Walther Rathenau fiel einem Attentat zum Opfer, dessen geistige Urheberschaft unmittelbar dem nationalistischen Lager zugeschrieben wurde. Die dadurch entstehenden Unruhen in der Bevölkerung wussten die Sozialdemokraten zu nutzen, indem sie erklärten, dass eine Rückkehr zur freien Wirtschaft wie eine Belohnung für die Rathenau-­ Mörder wirke.86 Unter diesen Bedingungen war die Position der landwirtschaftsfreundlichen Kräfte im Reichstag nicht mehrheitsfähig. Ihr Argument, die Ernährung der Zukunft sei nur durch Produktionsförderung zu gewährleisten, wog weniger schwer als der Hinweis auf den gegenwärtigen Hunger. Der sozialdemokratische Appell an das höhere »sittliche Recht« des »unversorgten Volkes« drang 82 Zum Folgenden vgl. StenBerRT Bd.  355, S.  7875–7892 (19.6.1922); ebd., S.  7894–7918 (20.6.1922). 83 StenBerRT Bd. 355, S. 7884 (Roesicke, 19.6.1922). Der Boykottaufruf war Gegenstand einer Interpellation der USPD: vgl. ebd., Bd. 374, Anlage Nr. 4491. Zur Stimmung unter den Landwirten vgl. Moeller, Peasants, S. 109–112. 84 StenBerRT Bd. 355, S. 7882 (Krätzig, 19.6.1922). 85 Vgl. Besprechung mit Parteiführern vom 17.  Juni 1922, AdR Kab. Wirth II, S.  886 f.; ­StenBerRT Bd. 355, S. 7896 (Diez, 20.6.1922). 86 Vgl. StenBerRT Bd. 356, S. 8181 (Hertz, 30.6.1922).

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durch, was sich daran zeigte, dass sämtliche Parteien die Versorgungspflicht der Landwirtschaft und die Notwendigkeit einer Brotverbilligung für die minderbemittelten Schichten anerkannten – auch wenn kein Konsens darüber bestand, wer dazu gehörte.87 Der Vorwurf der Deutschnationalen, die Linken hätten den eigentlich nach ökonomischen Maßstäben zu berechnenden Brotpreis politisiert, so dass er nun von seiner Wirkung auf die Verbraucher her bestimmt würde, traf zwar ins Schwarze, änderte aber nichts an der Tatsache, dass diese Politisierung erfolgreich war und mit dem Brotpreis zugleich die Stabilität und Legitimität der öffentlichen Ordnung auf dem Spiel stand.88 Als Adam Stegerwald, Preußischer Minister für Volkswohlfahrt und einer der führenden Zentrumsabgeordneten, nüchtern feststellte, dass der für das erste Umlagedrittel vereinbarte Getreidepreis wirtschaftlich gesehen hätte höher ausfallen müssen, aber gerade nach dem Mord an Rathenau kein weiteres Entgegenkommen möglich gewesen sei, weil es sich nun einmal um einen »politischen Preis« handele, war die Entscheidung gefallen.89 Die republikanische Reichstagsmehrheit optierte mit der Fortsetzung der Getreideumlage für den konsumpolitisch motivierten Weg der unmittelbaren Versorgungssicherung und gegen die langfristig unvermeidliche Produktionspolitik. Mit der Verlängerung der Umlage im Sommer 1922 war der SPD jedoch ein zweifelhafter Sieg gelungen, denn das eigentliche Ziel, ein stabiler und erschwinglicher Brotpreis, ließ sich wegen der sich rasant beschleunigenden Geldentwertung nicht erreichen. Gegen den Widerstand der Linken wurde mit Unterstützung der bürgerlichen Parteien der Preis für das Umlagegetreide in den kommenden Monaten mehrfach erhöht, um den Zusammenbruch der Getreideproduktion zu verhindern.90 Dass sich die wiedervereinigte Sozialdemokratie darauf versteifte, nur die Symptome der Inflation zu kurieren, lag auch an ihrer Rolle als Partei der städtischen Verbraucher, die es mit sich brachte, dass konsumpolitischen Sofortmaßnahmen Vorrang eingeräumt wurde, welche die Wurzel des Problems, die Geldentwertung selbst, unangetastet ließen. Wie sich auf dem Augsburger Parteitag im September 1922 zeigte,91 reagierte die SPD damit auf den Druck der Parteibasis, die in zahlreichen Anträgen gegen die Teuerung auf das Primat der Ernährungssicherung pochte. Die Entschließung des Parteitags zur Sicherung der Lebensmittelversorgung versammelte die bekanntermaßen hilflosen Forderungen nach einer strengeren Anwendung der Ablieferungspflicht für Getreide und der Wuchergesetze, dem Verbot von gewerblicher Kuchenherstellung und von Starkbier sowie der Verschärfung der Polizeistunde 87 Vgl. zur Kompromisslinie StenBerRt Bd. 355, S. 7901–7904 (Trieschmann, 20.6.1922); ebd., Bd. 356, S. 8171 (Dusche, 30.6.1922), S. 8179 f. (Stegerwald, 30.6.1922); Zitat: ebd., Bd. 355, S. 7876 (Krätzig, 19.6.1922). 88 Zum Streit über die Politisierung vgl. StenBerRT Bd. 356, S. 8171–8181 (30.6.1922). 89 Ebd., S. 8180 (Stegerwald, 30.6.1922). 90 Vgl. Schumacher, Land, S. 172 f., 177 f. 91 Zum Folgenden vgl. Protokoll SPD-Parteitag Augsburg 1922, S.  18, 24–51 sowie die Entschließungen Nr. 310, 311, 324 (S. 103, 105 f.).

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in Gaststätten. Die Kritiker, die auf die Zwecklosigkeit dieser Maßnahmen hinwiesen und die Getreidepreiserhöhung für unvermeidlich hielten, wurden vom konsumpolitisch orientierten Mainstream majorisiert. Die Wiedervereinigung von SPD und USPD, die bislang vor allem als Linksschwenk und Rückbesinnung auf das proletarische Milieu interpretiert worden ist, war, wenn auch nicht auf semantischer Ebene, aber in ihrer thematischen Ausrichtung mehr noch von einer Parteinahme zugunsten der städtischen Konsumenten geprägt. Die Verschärfung der Klassengegensätze, auf die sich etwa Hermann Müller in seiner Eröffnungsrede bezog, leitete er primär aus der Preispolitik der Landwirtschaft und der Kartelle ab. Diese gefährdete das »Existenzminimum des werk­tätigen deutschen Volkes«, von dem wiederum die Arbeitskraft – das »kostbarste Gut« – abhing. Dem Telos der Arbeit ging nach dieser Logik der Konsum als notwendige Bedingung voraus. Wie Müller unter lebhafter Zustimmung der Delegierten ausführte, war die »eiserne Ration von Brot, Kartoffeln, Fleisch und Zucker zu erschwinglichen Preisen« das, was in der nationalen »Notgemeinschaft« jedermann unbedingt zustand.92 Vor einem freien Markt, der diese minimale Versorgung nicht gewährleisten konnte, musste der Staat den Verbraucher in Schutz nehmen. Angesichts der Unnachgiebigkeit, die die Sozialdemokratie in der Frage der öffentlichen Brotversorgung an den Tag legte, überrascht es fast, dass sie im Juni 1923 doch noch der Abschaffung der Getreideumlage zustimmte, die schließlich am 15.  Oktober endete. Der Grund dafür war der letzte der hier zu behandelnden Kompromisse zwischen einer wirtschaftsliberalen Richtungsentscheidung im Sinne der landwirtschaftlichen Produzenten und ihrer sozialpolitischen »Abfederung« im Interesse der Konsumenten. Hans Luther, der seit Dezember 1922 amtierende Minister für Ernährung und Landwirtschaft, war die ideale Besetzung, um diesen Kompromiss zustande zu bringen: Einerseits wollte er die Reste der Zwangswirtschaft so schnell wie möglich beseitigen und trat seinen Ministerposten sogar in der Erwartung an, er könne in vier Monaten praktisch überflüssig gemacht werden,93 andererseits galt er als ehemaliger Oberbürgermeister von Essen als von Amts wegen mit der Not der städtischen Bevölkerung vertraut; sobald er nicht den Wünschen der Agrarier entgegenkam, wurde ihm das von der konservativen Presse auch argwöhnisch vorgehalten, die ihn im »Banne von Konsumentenvorstellungen« wähnte.94 92 Ebd., S. 4. 93 Vgl. Luther, Politiker, S. 91. 94 BA, R 43 I, 1262, Bl. 77. Luther selbst nutzte sein Prestige als ehemaliger Oberbürgermeister bewusst aus, um bei der städtischen Verbraucherschaft für unvermeidliche Preiserhöhungen zu werben: »Als alter Oberbürgermeister einer großen Stadt fühle ich das Bedürfnis, die Getreidepreiserhöhung ganz persönlich vor der Öffentlichkeit zu begründen und zu rechtfertigen. So mancher hat vielleicht nicht nur im Scherz gemeint, wenn ein Bürgermeister an die Spitze des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft trete, dann werde es mit den Preissteigerungen ein Ende nehmen. Solche Meinung würde aber, solange wir ­unter der Wirkung der Geldentwertung stehen, auf einer völligen Verkennung der volks-

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Luthers Gesetzentwurf verknüpfte das Ende der Markenbrotversorgung geschickt mit der Einführung von Geldzahlungen an »bedürftige« Bevölkerungsgruppen, die durch eine den Besitz belastende Abgabe finanziert werden sollten.95 Die Höhe der Beihilfen sollte ungefähr so bemessen sein, dass sie in den bedürftigen Familien vierzig Prozent der Ausgaben für Brot decken würden. Damit kam das Gesetz indirekt der vom Reichstag konsensual beschlossenen Forderung nach, für eine Brotverbilligung der Minderbemittelten zu sorgen. Die Regelung bedeutete freilich, dass die bereits im Vorjahr anhebende Frage, wer als versorgungsberechtigt zu gelten habe, nun neu entschieden werden musste – und zwar in einer restriktiveren Weise, als es die Umlage vorsah, denn eine steuerfinanzierte Geldunterstützung der großen Massen der städtischen Verbraucher war undenkbar. Zum Kreis der Bedürftigen zählten schließlich die Kriegsopfer (Invaliden, Witwen, Waisen), die Sozial- und Kleinrentner, die kinderreichen Familien und, auf Wunsch der SPD, die Arbeitslosen.96 Das waren zusammen, wie die Regierung schätzte, noch immer etwa sieben Mil­ lionen Menschen, aber doch weit weniger als die 49 Millionen Nicht-Selbstversorger, die ursprünglich an der öffentlichen Brotversorgung teilnahmen. Für die Sozialdemokraten machte diese Bestimmung, die den Besitz belastete und den Bedürfnisbegriff als Anspruchstitel verwendete, den Verlust der Umlage erträglich. Luther hingegen fürchtete gerade das: dass mit der Brotbeihilfe erneut ein subjektiv empfundenes Anrecht – auf eine zuverlässige Deckung von vierzig Prozent der Brotausgaben – geschaffen werden könnte, das aber nicht exakt einzulösen sei, weil dem Staat weder die genaue Zahl der Bedürftigen bekannt sei, noch Klarheit über den zugrunde zu legenden Brotpreis bestünde. Den Staat durch ein Gesetz seinen Bürgern gegenüber materiell zu verpflichten, ohne dabei ein Anspruchsbewusstsein zu schaffen, war ein Ding der Unmöglichkeit und verdeutlicht noch einmal die Schwierigkeiten, die den von Kompromissen und konsumpolitischen Konzessionen geprägten Abbau der Zwangswirtschaft begleiteten. Die Identifikation von Verbraucherstatus und Versorgungsberechtigung, die sich durch die Rationierung der Kriegswirtschaft herausgebildet hatte, ließ sich nur teilweise aufbrechen. Zwar reduzierte sich wirtschaftlichen Gesetze beruhen, die uns, Städter und Landwirte, beherrschen.« (Luther, Der neue Getreidepreis. Einige Worte an die städtische Bevölkerung, BA, R 3901, 10554, Bl. ­unnum., o. D. (ca. Dez. 1922). 95 Zum Folgenden vgl. Denkschrift des RMEL über die Getreidewirtschaft, 12.2.1923 (AdR Kab. Cuno, S. 243–250); Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung der Brotversorgung im Wirtschaftsjahre 1923/24, StenBerRT Bd.  377, Anlage Nr.  5864; Bericht des Ausschusses für Volkswirtschaft über den Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung der Brotversorgung im Wirtschaftsjahre 1923/24, ebd., Bd. 378, Anlage Nr. 5979; sowie die abschließende Debatte: ebd., Bd. 360, S. 11505–11519 (20.6.1923). 96 Von den kinderreichen Familien sollten nur diejenigen Mitglieder unterstützt werden, die »über ein gewisses Normalmaß hinausgehen«; von den Arbeitslosen waren es jene, die nach der Verordnung über die Erwerbslosenfürsorge vom November 1921 unterstützt wurden. Vgl. StenBerRT Bd. 360, S. 11506 (Luther, 20.6.1923).

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zwischen 1919 und 1923 die Gruppe der Versorgungsgüter ebenso wie die Zahl der Versorgungsberechtigten, die politische Debatte um eine Garantie des Existenzminimums, um angemessene Preise und staatliche Versorgungssicherung blieb aber erhalten. Vier verschiedene politische Ziele waren es vor allem, die dem Recht der Verbraucher auf eine gesicherte Grundversorgung eine konstant hohe Relevanz verliehen: die Stabilisierung der republikanischen Ordnung; die Verwirklichung einer verteilungsgerechten Gesellschaft, in der die Gleichzeitigkeit von Hunger und Verschwendung inakzeptabel war; die Erhöhung der Arbeitsproduktivität und die Erhaltung der öffentlichen Gesundheit. Weil alles das nach Ansicht der republiktreuen Kräfte in der Sozialdemokratie und der bürgerlichen Mitte auf dem Spiel stand, wurde verzweifelt an einer Ernährungspolitik festgehalten, die sich längst als funktionsuntüchtig erwiesen hatte und durch zahlreiche Kompromisse weiter demontiert worden war.

2. Weimars Versprechen – zur Konstruktion des Existenzminimums Der Begriff des Existenzminimums erlebte in der Weimarer Republik eine bis dahin unbekannte Konjunktur. Sie verdankte sich einem Zusammenspiel von Staat, Wissenschaft und Öffentlichkeit, dessen Bedeutung darin besteht, dass es den Begriff politisch »produktiv« werden ließ.97 Das soll heißen: In verschiedenen diskursiven Zusammenhängen entwickelte sich das Existenzminimum zu einem Erwartungsbegriff, mit dessen Hilfe Missstände angeprangert, Ansprüche artikuliert und politische Regulierungen eingefordert und durchgesetzt wurden. Als Erwartungsbegriffe – so ließe sich im Anschluss an die Überlegungen Kosellecks zur Verzeitlichung von Begriffen formulieren98 – können solche Termini der politisch-sozialen Sprache gelten, die nicht bloß bekannte gesellschaftliche Phänomene beschreiben, sondern vielmehr die Ordnungsagenturen in Staat und Wirtschaft durch ihre Normativität und Zukunftsbezogenheit unter Druck setzen. Die Erwartungen, die durch begriffliche Konstrukte wie »Existenzminimum«, »angemessener Preis« oder »Versorgungssicherheit« überhaupt erst politisch kommunizierbar wurden, zielten auf die Einlösung von Normen, an deren Herstellung eine Vielzahl von wissenschaftlichen Experten von der Ernährungsphysiologie über die volkswirtschaftliche Statistik bis hin zur Architektur beteiligt war. 97 Zum Gedanken der Produktivität der zwischen Politik und Wissenschaft aufgespannten Diskurse vgl. Foucault, Dispositive. 98 Koselleck spricht auch von »Erfahrungsstiftungsbegriffen« (im Gegensatz zu »Erfahrungsregistraturbegriffen«) und von »Bewegungsbegriffen«, um jene zeitlich offenen, auf die »vergegenwärtigte Zukunft« gerichteten Erwartungsbegriffe von den »erfahrungsgesättigten« Begriffen zu unterscheiden. Vgl. Koselleck, Erfahrungsraum, S.  355, 370–373; ders., Verzeitlichung.

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Die Beschäftigung mit dem Problem des Existenzminimums setzte freilich bereits im 19. Jahrhundert ein, ohne dass aber der Begriff selbst ins Zentrum der politisch-ökonomischen Reflexion gerückt wäre.99 Die Ernährungs­ wissenschaften suchten zu bestimmen, welche Nahrungsmittel der Mensch in welchen Quantitäten zum Leben benötigte; sozialpolitisch denkende Finanzwissenschaftler begannen, Abhandlungen über die »Steuerfreiheit des Existenzminimums« zu verfassen; und politisch wirksam war die Idee des Rechtes auf den notwendigen Lebensunterhalt schließlich auch in der Armenpflege, im Sozialversicherungswesen sowie im Unterhalts- und Lohnpfändungsrecht.100 Dennoch spielte der Begriff des Existenzminimums noch keine prominente Rolle: Nachdem die älteren Lohntheorien weitgehend ad acta gelegt worden waren, die in der Tradition von Malthus, Ricardo und Marx die Bindung der Löhne an die »Reproduktionskosten« der Arbeiterfamilie postuliert hatten, suchte man bei jenen Nationalökonomen wie Lujo Brentano oder Adolf Günther, die sich dem Thema Lebenshaltung widmeten, vergeblich nach einer Auseinandersetzung mit dem Existenzminimum. Dass hier vielmehr die Frage nach der Möglichkeit eines weiter steigenden Lebensstandards im Vordergrund stand, spiegelte den dynamischen Erwartungshorizont der wilhelminischen Hochkonjunktur.101 Wo der Problemkreis der materiellen Existenzgrundlage thematisiert wurde, bevorzugte man meist bedeutungsähnliche Formulierungen wie »notwendiger Lebensunterhalt«, »Lebensnotdurft« oder »bare Lebenserhaltung«. Dennoch gilt es zwei feine, aber wichtige Unterschiede zwischen diesen älteren Beschreibungen und dem Neologismus »Existenzminimum« herauszustellen. Durch das Suffix »-minimum« stellte dieser nämlich eine wissenschaftlich exakte Berechnung in Aussicht und transportierte darüber hinaus den an die Adresse des Staates gerichteten Imperativ, einen Rechtsanspruch auf die Gewährung einer materiellen Grundversorgung anzuerkennen und umzusetzen. Beide Erwartungen sollten sich als Überforderungen erweisen und verloren 99 Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung des »Existenzminimums« soll hier nicht geleistet werden. Der Abriss über das »Existenzminimum in der Geschichte der NationalÖkonomie«, den David Lewin im Jahr 1913 verfasst, verdeutlicht aber zweierlei: Erstens sprachen die dort behandelten Lohntheoretiker von den Physiokraten bis zur jüngeren Historischen Schule nicht vom Existenzminimum, sondern beispielsweise vom »Minimum des Arbeitslohnes« (Marx) oder vom »salaire nécessaire« (Sismondi). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird es zweitens möglich, solche und ähnliche Termini (»notwendiger Lebensunterhalt«) unter dem Neologismus des Existenzminimums zu subsumieren. Vgl. Lewin, Arbeitslohn, S. 5–19. 100 Zur Ernährungswissenschaft vgl. nur Spiekermann, Pfade; zeitgenössische Belege für die steuer- und die sozialpolitischen Kontexte: Fischer, Fideikommiß; Schmidt, Steuerfreiheit; Sardemann, Existenzminimum; Schmidt u. Cuno, Existenzminimum; zudem die rechtshistorischen Untersuchungen: Sartorius, Existenzminimum; Ludwig, Pfändungsschutz. 101 Vgl. Brentano, Versuch; Günther, Problem. Ein dogmengeschichtlicher Überblick über die Lohntheorien, der den Reflexionsstand der Zwischenkriegszeit verdeutlicht, bei Weber, Volkswirtschaftslehre, S. 248–259; Heimann, Theorie, S. 17; Lorenz, Existenzminimum.

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doch nicht ihre normative Kraft. Die Hoffnung auf eine »empirische Objektivierung der Lebensbedingungen«,102 die zu einer Entspannung der sozialen und politischen Konflikte beitragen sollte, erwies sich bei der Umsetzung des Erwartungsbegriffs »Existenzminimum« in die politische Praxis als trügerisch. Anhand dreier diskursiver Kontexte  – der Sozialstatistik, der Fürsorgepolitik und des Reformwohnungsbaus – lässt sich zeigen, welche Bedeutung das Existenzminimum für die Konstruktion materieller Rechte und Erwartungen in der Weimarer Republik annahm. Der erste und wichtigste Zusammenhang, in dem das geschah, war die Etablierung der Statistik der Lebenshaltungskosten. Die Geschichte des Statistischen Reichsamts und die Entstehung der seit 1919/20 dort erstellten »Reichsindexziffer« ist durch die Studien von Carl-Ludwig Holtfrerich und Adam Tooze bekannt und braucht nicht rekapituliert zu werden.103 Worauf es hier ankommt, ist zu erläutern, unter welchen Druck die Statistiker des Reiches durch ihre eigenen Berechnungen sowie durch das Konstrukt des Existenzminimums gerieten. Es kann zunächst nicht genug betont werden, dass das Statistische Reichsamt keineswegs die Absicht hatte, ein Existenzminimum zu berechnen, als es in den Jahren 1919/20 daran ging, reichsweit die Lebenshaltungskosten zu er­ heben. Der Reichsindex war vielmehr als Indikator des Preisniveaus gedacht und wurde daher auch »Teuerungsziffer« genannt; er sollte lediglich die relative Veränderung der auf den Kleinhandelspreisen basierenden Lebenshaltungskosten messen, nicht aber die absolute Höhe der zum Leben notwendigen Aus­ gaben. Das Ziel dieser vom Reichswirtschaftsministerium ausgehenden Bemühungen war es, einen nach wissenschaftlichen Kriterien erstellten und daher möglichst konsensfähigen Maßstab für die Tarif- und Schlichtungsverhandlungen zu gewinnen. An dieser Aufgabe scheiterten die Reichsstatistiker, denn ihre Berechnungen wurden immer wieder zur Zielscheibe der öffentlichen Kritik und mussten wiederholt reformiert werden. Es wurde schnell deutlich, dass sich ihr vermeintlich autonomes Expertenproblem  – die Messung der Preis­ bewegung – nicht vor einer gesellschaftlichen Debatte um die legitimen Konsumerwartungen der Bevölkerung verschließen ließ. Einer der wichtigsten Gründe lag zunächst in der Teuerungsstatistik selbst, in die eine – unvermeidlich konfliktträchtige – Entscheidung über den historischen Referenzpunkt des materiellen Lebensstandards eingelassen war. Das Reichsamt entschied sich, der Preisstatistik einen eingeschränkten Warenkorb von 13 Lebensmitteln, Wohnungsmiete sowie Heizung und Beleuchtung zugrundezulegen, wobei Auswahl und Gewichtung auf Schätzungen beruhten

102 Tanner, Fabrikmahlzeit, S. 127. 103 Vgl. Holtfrerich, Inflation, S.  24–43; Tooze, Statistics, S.  76–102; sowie: Scholz, Lohn, S. 286 ff. Die folgende Darstellung beruht zudem wesentlich auf den Akten zur Lebenshaltungsstatistik im RAM: BA, R 3901, 10658–10665.

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und das eingeschränkte Konsumniveau der Nachkriegszeit spiegeln sollten.104 Die andere Möglichkeit, einen Warenkorb mit einem breiteren Bedarfsschema aus der Vorkriegszeit zu verwenden, wofür die Erhebung von Haushaltsbudgets aus dem Jahr 1907 die Grundlage geliefert hätte, verwarfen die Statistiker, weil sie diesen Maßstab als nicht mehr repräsentativ ansahen. Zudem konnten auf diese Weise mit den Mitteln der Statistik Lohnforderungen begrenzt werden, wohingegen ein erweiterter Warenkorb mit einem höheren Anteil von Gütern zu nicht-administrierten, überdurchschnittlichen Preisen insgesamt eine stärkere Teuerung angezeigt und damit potentiell lohntreibend gewirkt hätte. Als im August 1920 der »Nachkriegs«-Index (mit den Angaben für Februar) zum ersten Mal veröffentlicht wurde, bekräftigte das Reichsamt, dass dieser lediglich die Preisentwicklung, keineswegs aber das Existenzminimum darstelle, schließlich fehlten jegliche Ausgaben für Bekleidung, Hygiene, Verkehr, Bildung und Unterhaltung.105 Der Versuch, die offizielle Preisstatistik nur auf einem Teil des notwendigen Bedarfs aufzubauen und damit auch der Frage auszuweichen, wie der Warenkorb für das Existenzminimum auszusehen hätte, war vergeblich. Die Kritik, die am intensivsten von der linksgerichteten Presse und den Gewerkschaften daran geübt wurde, zielte stets auf die mangelhafte Repräsentativität des Bedarfsschemas und verlangte dessen Ausweitung, um es dem »Normalverbrauch« einer Arbeiterfamilie anzunähern.106 Doch auch aus dem nationalistischen Lager wurde die Unterschätzung der Teuerung angegriffen, die durch die Orientierung des Index am Substandard der Nachkriegszeit entstand. Das zeigt eine Anfrage der BVP im Reichstag, die jedoch nicht sozialpolitisch, sondern reparationsstrategisch motiviert war: Den Alliierten müsse ein Bild der Not vermittelt werden, das sich nur ergab, wenn die Konsumnormalität des Juli 1914 zur Grundlage der Erhebungen gemacht wurde.107 Genau hier lag der wunde Punkt des Reichsindex: Sollte er die Veränderung der Lebenshaltungskosten dokumentieren, setzte das eine »richtige« Erfassung der Lebenshaltung voraus. Den 104 Es ist unklar, warum Tooze, Statistics, S. 91 f., behauptet, dass der Index auf dem Wertigkeitsschema der Vorkriegszeit basierte, welches der Reichserhebung von Haushaltsrechnungen von 1907 entnommen worden sei. Dem Reichsamt ging es vielmehr darum, den niedrigeren Standard der Nachkriegszeit einzufangen. Vgl. Denkschrift des Statistischen Reichsamts zur Umgestaltung der Reichsindexziffer der Lebenshaltungskosten, 18.3.1931, BA, R 43 I, 2110, Bl. 148; Teuerung in Hamburg, S. 11; Elsas, Kaufkraft, S. 505; Holtfrerich, Inflation, S. 28. 105 Vgl. Statistisches Reichsamt, Teuerungsstatistik, S. 158, 165. 106 Vgl. nur Gewerkschaftsbund der Angestellten an RAM, 10.9.1921, BA, R 3901, 10659, Bl.  113; Besprechung im Statistischen Reichsamt über die Feststellung der Lebenshaltungskosten und die Berechnung der Reichsindexziffer, 18.11.1924, ebd. 10664, Bl. 29–31; Die Umgestaltung des Reichsindex, in: Vorwärts, Nr.  569, 3.12.1924; Xaver Kamrowski, Meßziffern der Lebenshaltung, in: Vorwärts, Nr. 577, 7.12.1924; Die Revision des Lebens­ haltungskostenindex, in: Frankfurter Zeitung, 15.12.1924. 107 Vgl. Anfrage Deermann, Nr. 906, 24.6.1921 (StenBerRT Bd. 368, Anlage Nr. 2313).

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Maßstab sollte aber, so der Tenor der Kritiker, in Ermangelung einer aktuelleren Erhebung das bekannte Bedarfsschema der Vorkriegszeit liefern. Mit ihrem Drängen auf eine Ausweitung des Index setzten sich die Gewerkschaften sukzessive durch. Im Frühjahr 1922 wurden die Bekleidungsausgaben mit einbezogen und eine reichhaltigere Ernährung zugrundegelegt, im Winter 1924/25 wurde der Index nach den Beschlüssen der aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern zusammengesetzten »Reichsindexkommission« reformiert und orientierte sich nun wieder stärker an den Haushaltsbudgets von 1907: Das Verhältnis der Bedarfsgruppen im Warenkorb entsprach diesen weitgehend bis auf einen noch immer reduzierten Anteil für Hygiene und Bildung. Bereits 1922 konnten sich die Gewerkschaften in ihrer Kritik bestätigt fühlen, denn die Neuberechnung des erweiterten Index wies eine um zehn Prozent höhere Teuerungsrate aus.108 Der entscheidende Punkt an dieser Entwicklung war, dass das geschah, wogegen sich die Statistiker mit Händen und Füßen wehrten: Indem man den Vorkriegsstandard einer Arbeiterfamilie zur Berechnungsgrundlage des Index machte, wurde er im Grunde als Norm für ein soziales Existenzminimum festgeschrieben. Besonders bis zur Indexreform im Jahr 1925 bestimmte der Hiatus zwischen Statistik und »Wirklichkeit« den Diskurs über den Reichsindex. Sobald die Maßzahl in die Öffentlichkeit und die Wirtschaftspraxis der Tarifparteien gelangte, setzte der Vergleich ein zwischen der statistisch ausgewiesenen und der »gefühlten« Inflation sowie zwischen dem statistischen Warenkorb und dem tatsächlichen Bedarf, der sich je nach Berufszweig, Schicht und Region unterschied.109 Symptomatisch ist die Anfrage, die der Vorsitzende eines Schlichtungsausschusses an das Reichsarbeitsministerium richtete. Er bat um Stellungnahme und Material zu der Frage, »welche Lebensbedürfnisse für eine vierköpfige Arbeiterfamilie unter den heutigen Lebensverhältnissen allgemein anerkannt sind«. Diese Frage bedürfe einer dringenden Klärung, denn die Arbeiterschaft trete ständig durch Streik- und Gewaltaktionen für Lohnerhöhungen und Zulagen ein und zwar mit dem Argument, dass »alle bisherigen Statistiken, auch die Reichsindexziffer versagen, da die betreffenden Teuerungszahlen nur einen Teil des notwendigen Lebensbedarfs berücksichtigen. Die Arbeitnehmerbeisitzer im hiesigen Schlichtungsausschuss beantragen deswegen eine grundsätzliche Anerkennung über das Mindestmaß der Lebenshaltung einer Arbeiterfamilie«.110 108 Das Reichsarbeitsministerium hatte im Januar 1922 auf die Hereinnahme der Bekleidung insistiert und gedroht, es würde notfalls einen eigenen Index erstellen. Vgl. Besprechung im Statistischen Reichsamt, 5.1.1922, BA, R 3901, 10660, Bl. 22–39. Zudem: Statistisches Reichsamt, Die Lebenshaltungskosten, in: Reichsarbeitsblatt Nr. 13, 1925 (Nichtamtl. Teil), S. 213–216; Scholz, Lohn, S. 308. Zur Indexkommission vgl. Besprechung im Statistischen Reichsamt, 18.11.1924, BA, R 3901, 10664, Bl.  29–33; Stellungnahme der gewerkschaft­ lichen Spitzenverbände, 12.12.1924, ebd. Bl. 42–46. 109 Zur vielfältigen Verwendung der Indexziffern vgl. Nathan, Berechnung, S. 573. 110 Vorsitzender des Schlichtungsausschusses des Kreises Neuwied an RAM, 27.2.1922, BA, R 3901, 10660, Bl. 108 f.

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Zwar gab das Reichsarbeitsministerium zur Antwort, es sei nicht anzunehmen, dass eine allgemein anerkannte »Festsetzung einer Mindestmenge, das sogenannte Existenzminimum, in absehbarer Zeit wird erfolgen können« – und doch mussten auch die amtlichen Statistiker schließlich akzeptieren, dass sich das praktische Interesse am Index immer mehr von der Entwicklung des all­ gemeinen Preisindex hin zu konkreten absoluten Zahlen verschob, die Reallohnberechnungen und Aussagen über den Lebensstandard ermöglichten.111 Doch selbst nach der Reform, die diesem Funktionswandel hin zu einem »Vergleichsmaßstab zwischen den Vorkriegs- und Nachkriegslöhnen« Rechnung trug, war der Reichsindex vor weiteren Angriffen von links, wie sie vor allem in der Roten Fahne stattfanden, nicht geschützt.112 Die wichtigere Unterstützung der Gewerkschaften konnte allerdings gewonnen werden, jedoch zeigt die gebetsmühlenartige Aufklärungsarbeit, die Kurt Heinig, Arbeitnehmervertreter in der Indexkommission, im Vorwärts verrichtete, wie schwer es war, der proletarischen Öffentlichkeit zu vermitteln, dass der Index eben nicht das Existenzminimum darstellte. Allein die Titel seiner Artikel – »Index und Wirklichkeit«, »Der mißverständliche Index«, »Illusionen der Indexziffer«  – verweisen auf ein erhebliches Kommunikationsproblem im Hinblick auf den Sinn der Teuerungsziffer.113 Dass das Statistische Reichsamt sich mit seiner Schöpfung unter einem permanenten Rechtfertigungsdruck befand, lag auch daran, dass die Zunft der ­Statistiker sich nicht durch Einmütigkeit auszeichnete. Es kursierte eine Vielzahl von Teuerungsziffern, die in den Statistischen Landesämtern von renommierten Fachkollegen publiziert wurden, welche daher mit dem Reichsamt in einer öffentlichen Konkurrenz um die beste Erhebungsmethode standen. So berechnete Richard Calwer einen Ernährungskostenindex auf der Basis einer üppigen Vorkriegsration, in der im Gegensatz zum Reichsindex eine erhebliche Fleischmenge, Kaffee und Butter vorgesehen waren. Auch Moritz Elsas in Frankfurt, der den Index Calwers übernahm und ihn durch eine Erhebung der übrigen Lebensbedürfnisse erweiterte, hielt am Vorkriegsstandard mit nur geringen Abstrichen fest. Das Statistische Landesamt in Hamburg veröffentlichte im Jahr 1921 für die Stadt sogar verschiedene Teuerungszahlen, die den Vergleich zwischen einem »eingeschränkten« und einem »uneingeschränkten« Bedarfsschema ermöglichten, wobei letzteres auf dem »normalen Friedensverbrauch« basierte: Nach Verhandlungen mit Gewerkschaftsvertretern hatten die

111 Antwort des RAM, 29.5.1922, ebd. Bl. 110; vgl. auch Wagemann an RAM, 15.3.1925: Presse­ notiz zur Veröffentlichung des reformierten Index, BA, R 3901, 10664, Bl. 130–134; Statistisches Reichsamt, Reform, S. 160. 112 Heinig, Der verbesserte Index, in: Vorwärts, Nr.  120, 12.3.1925. Vgl. zur Kritik: Indexschwindeleien des Statistischen Reichsamts, in: Die Rote Fahne, Nr. 213, 16.9.1925. 113 Vgl. in dieser Reihenfolge: Vorwärts, 27.11.1924; ebd. Nr.  419, 5.9.1925; ebd. Nr.  613, 30.12.1925.

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Statistiker anerkennen müssen, dass der Warenkorb des Reichsindex für die Hamburger Verhältnisse nicht hinreichte.114 Noch einen entscheidenden Schritt weiter als diese Berechnungen, die am Lebensstandard der Vorkriegszeit festhielten, ging René Robert Kuczynski, der Direktor des Statistischen Amtes von Berlin-Schöneberg. Kuczynski tat, wo­ gegen sich die communis opinio der Lebenshaltungsforschung verwahrte: Er berechnete zwischen 1920 und 1926 jeden Monat das Existenzminimum und übte damit einen bemerkenswerten Einfluss aus. Der Erfolg Kuczynskis verdankte sich ganz dieser Innovation, mit der er in die von der amtlichen Statistik gelassene Lücke stieß, nicht etwa seinen politischen Verbindungen, die ihn eher als Außen­seiter erscheinen lassen. Er stand zunächst der USPD, dann der KPD nahe, wurde jedoch nie Parteimitglied; Rathenau soll über ihn gesagt haben, er bilde stets eine »Einmannpartei« und stehe auf ihrem linken Flügel.115 Als ehrenamtlicher Berater im Reichswirtschaftsamt spielte er 1918/19 nur eine kurze und marginale Rolle, und auch seine Tätigkeit in der zweiten Sozialisierungskommission hatte keine nennenswerten politischen Folgen. Einer breiten Öffentlichkeit wurde er erst bekannt, als er 1926 den Volksentscheid zur »Fürstenenteignung« initiierte. Parteipolitisch ohne Ambitionen, machte Kuczynski Politik mit den Mitteln der Sozialstatistik. Er hatte 1897 bei Brentano promoviert und sein Handwerkszeug danach vor allem in den USA – im Zensusamt und im Bureau of Labor Statistics in Washington  – gelernt. Im Februar 1920 und damit noch einige Monate bevor die Reichsindexziffer herauskam, ver­ öffentlichte er zum ersten Mal in der von ihm herausgegebenen Finanzpolitischen Korrespondenz das Existenzminimum für Groß-Berlin, das alle wichtigen Ausgaben eines vierköpfigen Haushalts berücksichtigte. Kuczynskis Methode war simpel. Er ging zunächst von einem Mindestbedarf an Nahrung von täglich rund 3.000 Kalorien für einen erwachsenen Mann von 70 kg bei mittlerer körperlicher Arbeitsbelastung aus. Das war die einigermaßen konsensfähige Meinung der Ernährungsphysiologen wie sie von Nathan Zuntz, Max Rubner und Carl von Voit vertreten wurde. Von Zuntz übernahm ­Kuczynski auch die Annahme, dass die Frau wegen durchschnittlich geringeren Körpergewichts und vermeintlich leichterer Arbeit nur vier Fünftel dieser Kalorienmenge benötige und Kinder wiederum einen noch kleineren Anteil.116 Dann berechnete er, inwieweit sich der Kalorienbedarf der Familie durch die rationierten Lebensmittelmengen decken ließ und ging für die auf dem freien Markt zuzukaufenden Mengen von einer weitgehenden Substituierbarkeit aus, so dass bevorzugt Güter wie Graupen, Gemüse und Marmelade mit einem günstigen Preis-Kalorien-Verhältnis eingesetzt wurden. Zugleich fanden aber auch die Ernährungsgewohnheiten – etwa der Fleischkonsum des Mannes – Berück114 Vgl. Teuerung in Hamburg, S. 12 f., 36–42; Elsas, Kaufkraft; Hofmann, Indexziffern, S. 1–21; Nathan, Berechnung; Holtfrerich, Inflation, S. 37–43. 115 Vgl. Kuczynski, Kuczynski, S. 5, 61 f. 116 Vgl. Kuczynski, Existenzminimum, S. 5 f., 20 f.; Teuerung in Hamburg, S. 25.

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sichtigung, denn kein Mensch würde schließlich seine gesamte Ernährung auf Graupen umstellen. Zu den Kosten für die Ernährung addierte Kuczynski diejenigen für Wohnung, Heizung, Beleuchtung sowie für Bekleidung und sonstige Ausgaben, womit er über den Warenkorb des Reichsindex von Anfang an hinausging. Der Mindestbedarf an Wohnraum, Kohlen, Briketts und Gas ließ sich noch recht unproblematisch festlegen; so bestritt niemand, dass eine vierköpfige Familie mindestens eine Wohnstube plus Küche benötigte. Angreifbarer waren seine Angaben zur Bekleidung. Nach seinen Beobachtungen entsprachen die jähr­ lichen Kosten für Anschaffung und Instandhaltung von Kleidung, Schuhen und Wäsche beim Mann dem Preis für etwa 1 ¾ Anzug und 1 ¾ Paar Stiefel, die Kosten für die Frau betrügen nur zwei Drittel, für die Kinder nur ein Drittel dessen. Noch weit ungenauer und bestenfalls eine informierte Schätzung darstellend war der pauschale Aufschlag von 25 Prozent der Gesamtkosten, den ­Kuczynski für den sonstigen Bedarf an Hausrat, Fahrgeld, Steuern und Beiträgen in die Berechnung einsetzte.117 Aller Vagheit zum Trotz lieferte das Ergebnis jene absolute Zahl, die das Reichsamt verweigerte und die in den Gewerkschaften heiß begehrt war, denn die Kosten für das Existenzminimum lieferten einen statistisch fundierten Maßstab für Lohnverhandlungen, der sich am Lebensstandard und nicht, wie von den Arbeitgebern gewünscht, an der Produktivität der deutschen Wirtschaft ausrichtete. Bevor auf die Wirkung eingegangen wird, die Kuczynskis Statistik entfaltete, sollte der methodische Eklektizismus festgehalten werden, der am Werk war, indem er sich dem Existenzminimum zugleich biologisch und kulturell näherte. Jene ernährungsphysiologischen Bedarfsnormen, die während des Ersten Weltkrieges nicht selten dazu verwendet wurden, um die Überlebensmöglichkeit auf einem Hungerniveau nachzuweisen, bildeten hier keineswegs einen Gegensatz zum erworbenen, sozialen Existenzminimum, das die Arbeiterbewegung zu verteidigen suchte und zu dem sich auch Kuczynski rückhaltlos bekannte. Die 3.000 Kalorien-Marke, welche die Ernährungsphysiologen bereits vor dem Ersten Weltkrieg etabliert hatten, war angesichts der Versorgungsnot der Nachkriegsjahre vielmehr der Standard, den es wiedereinzuholen galt und der noch heute als ausreichend angesehen wird. Die Nährwertberechnungen stellten hier, um so mehr als sie durch die Erfassung der sonstigen Konsumgewohnheiten ergänzt wurden, keineswegs ein Instrument zur Einhegung von Erwartungen dar.118 117 Zu Kuczynskis Methode sowie seiner Kritik am Reichsindex vgl. die zahlreichen Aufsätze in der Sammlung Kuczynski der Zentral- und Landesbibliothek Berlin: NL ­Kuczynski, Kuc 7-1-1-97; ebd. 7-1-1-150. Einige der wichtigsten Beiträge sind wiederabgedruckt in: ­Kuczynski, Existenzminimum, S. 1–31. 118 Jakob Tanner überzeichnet den Gegensatz zwischen physiologischem und sozialem Existenzminimum. Es kommt eher darauf an, wie hoch der Ernährungsstandard in welcher historischen Konstellation angesetzt wird. Vgl. Tanner, Fabrikmahlzeit, S. 135–139. Dass die »biologische Methode« zu einem reichhaltigeren Warenkorb führen konnte, zeigt auch Leibfried, Existenzminimum, S. 475–477.

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Kuczynskis Kollegen befürchteten eher, dass seine Veröffentlichung des Existenzminimums »indirekt aufreizend« wirkte, da es die Vorstellung erweckte, »als ob irgendwer, die Stadt, der Staat oder das Reich verpflichtet sei, das scheinbar wissenschaftlich einwandfrei nach statistischer Methode berechnete Existenzminimum jedem einzelnen Staatsbürger zu ›garantieren‹«.119 Diese Befürchtung war nicht unbegründet, denn mit Hilfe der Berechnungen ließ sich zum ersten Mal die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Lebensstandard der Arbeiterschaft beziffern. Kuczynski selbst verglich die Kosten des Existenzminimums, die er für Februar 1920 auf 254 Mark ansetzte, mit dem durchschnittlichen Lohn eines Berliner Arbeiters, der laut Reichsstatistik nur 170 Mark betrug.120 Dem naheliegenden Einwand seiner Kritiker, dass es also möglich sei, mit einem Verdienst unterhalb des Existenzminimums zu leben, begegnete er mit einer Verteidigung des Lebensstandards der Vorkriegszeit und dem Hinweis auf die Notstrategien der Bevölkerung: Dass viele mit einem geringeren Einkommen als für das Existenzminimum nötig auskämen, sei zwar richtig, aber nur möglich, wenn die üblichen Neuanschaffungen von Hausrat und Kleidung aufgeschoben würden oder wenn auf die gewohnten qualitativen Standards in der Ernährung und der Bekleidung verzichtet würde. Das dürfe »aber nicht dazu verleiten, das Existenzminimum niedriger anzusetzen«; gerade im Interesse der »unentbehrliche[n] Vergleichbarkeit mit Vergangenheit und Zukunft« dürfe das Existenzminimum nicht der jeweiligen Marktlage angepasst werden.121 Kuczynski reklamierte daher den materiellen Lebensstandard der Vorkriegszeit als historische Norm und machte ihn im gesellschaftlichen Verteilungskampf operationalisierbar. Der Erfolg war durchschlagend. Kuczynskis Existenzminimum und seine Erläuterungen erschienen reichsweit in einer Fülle von lokalen, regionalen und überregionalen Zeitungen  – von den Flensburger Nachrichten bis zur Neckar Zeitung Heilbronn, von der Leipziger Volks-Zeitung bis zur Vossischen; auch in den renommierten Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik wurden seine Ergebnisse während der Inflationszeit in der regelmäßigen Miszelle »Brotpreise und Kosten des Ernährungsbedarfes in Berlin« referiert. Ende 1922 erwarb der Vorwärts die Rechte an den Schriften Kuczynskis.122 Der sich rasch ausbreitenden öffentlichen Aufmerksamkeit für das Existenzminimum, von Kuczynski selbst eifrig befeuert und vor allem von den Gewerkschaften kräftig angefacht, konnten sich auch die Statistischen Landesämter nicht entziehen.123 Trotz der überwiegend kritischen Kommentare, der 119 Württembergisches Statistisches Landesamt an RAM, 14.4.1920, BA, R 3901, 10658, Bl. 11. Vgl. auch die Kritik von Günther, Lebenshaltung, S. IX f. 120 Kuczynski, Existenzminimum, S. 30. 121 Ebd., S. 16 f., 18. 122 Zur publizistischen Verbreitung: NL Kuczynski, Kuc 7-1-2-passim; zu den Jahrbüchern: JfNS 115 (1920) –122 (1924); zum Vorwärts: NL Kuczynski, Kuc 7-1-1-150: Einband des Jb. der Finanzpolit. Korresp., H.2. 123 Zum Folgenden vgl. Zimmermann, Lehre, S. 117–127.

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Mindest­bedarf sei historisch-kulturell im Fluss und lasse sich nicht objektiv bestimmen, gingen sie vielerorts – zum Beispiel in Köln, Leipzig, Stuttgart, Hannover, Breslau und Nürnberg  – dazu über, nach dem Vorbild Kuczynskis ein Existenzminimum zu berechnen. Zur Einigung über den notwendigen Lebensbedarf bedurfte es allerdings der Aushandlung durch beratende Ausschüsse von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, und damit war das sozialtechnokratische Vorhaben der Statistiker, durch wissenschaftliche Objektivität den korporativen Interessenkonflikt ruhigzustellen, auf diesen selbst zurückgeworfen: Ohne einen außerwissenschaftlichen Konsens über den Minimalkonsum konnten die Statistiker mit ihren Berechnungen gar nicht erst beginnen. Lokale Verhältnisse und die Stärke der jeweiligen Interessengruppen beeinflussten die Konsens­ bildung, so dass sich regional unterschiedliche Existenzminima herausbildeten: In Berlin war eine recht große Fleischportion im Existenzminimum vorgesehen, in Nürnberg täglich ein ¾ Liter Bier pro Person; in Hannover waren die Wohnungen relativ groß, in Leipzig einigte man sich anders als in Köln darauf, dass der Besuch von Theater, Kino und Gasthaus zum notwendigen Bedarf zählte. Wichtiger als diese Unterschiede war jedoch, dass die zwischen den Tarifparteien und den Statistikern getroffenen Übereinkünfte allesamt, ganz im Sinne Kuczynskis, einen Mindeststandard bekräftigten, den eine zeitgenössische Dissertation als das »sozialpolitische hygienische Existenzminimum« beschrieb, um damit »anzudeuten, daß es ein seinsollendes Existenzminimum ist«.124 Über die Details des notwendigen Verbrauchs ließ sich auch in diesem Inflationskonsens streiten, nicht aber darüber, dass als Maßstab legitimer materieller Erwartungen nicht mehr das Hungerniveau der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit gelten konnte, sondern ein Existenzminimum, das sich ebenso an physiologischen Normen wie vor allem am Lebensstandard der Vorkriegszeit orientierte. Dass Kuczynskis Ein-Mann-Unternehmen die Statistiker im Reich und in den Ländern besonders zwischen 1920 und 1922 praktisch vor sich her treiben konnte, lag auch daran, dass seine Berechnungen politisch vielfältig nützlich waren: Das Preußische Landesamt dokumentierte mit ihrer Hilfe die weitaus schlechtere Versorgungslage der Familien gegenüber den kinderlosen Ehe­ paaren, und auch der Deutsche Städtetag nutzte sie in seiner Denkschrift über den Ernährungszustand der Kinder. Sogar die Regierung Fehrenbach, die sich öffentlich gegen Kuczynskis Kritik an der Indexziffer zu Wehr setzte, verwendete unter der Hand seine Zahlen, als es im November 1920 darum ging, das Material für die deutschen Vertreter bei der Londoner Konferenz vorzubereiten und dem Ausland gegenüber ein Bild der Not zu präsentieren, wie es aus dem Reichsindex nicht so deutlich abzulesen gewesen wäre.125 Die Inflation, in der das Zurückbleiben der Einkommen hinter den Preisen und die daraus 124 Ebd., S. 115. 125 Zum Preuß. Statist. Landesamt vgl. ebd., S.  126; zur Denkschrift vgl. BA, R 43 I, 1259, Bl. 117; zur Vorbereitung der Londoner Konferenz vgl. Scholz, Lohn, S. 304.

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resultierende Mangelerfahrung quer durch alle sozialen Schichten gingen, war für die Popularisierung der sozial- und lohnpolitischen Maxime des Existenzminimums, wie Kuczynski sie betrieb, ein günstiger Nährboden. Zweierlei ließ sich damit erreichen: Erstens formulierte das Existenzminimum ein Staatsbürgerrecht der Konsumenten, vor dem alle anderen sozialen Unterschiede verblassten. Zweitens wurden bei der Definition des Existenzbedarfs einerseits wissenschaftliche Normen als Mindestanforderung festgeschrieben, andererseits der Lebensstandard der Vorkriegszeit als Horizont legitimer Ansprüche markiert. Das Festhalten am sozialen Existenzminimum der  – vor allem in der Rückschau  – »guten« Jahre vor 1914 wurde zu einer vergegenwärtigten Zukunft. Auf der Ebene der ernährungsphysiologischen und statistischen Normkonstruktion war das Existenzminimum auf Individuen bzw. Durchschnittshaushalte bezogen, was auf die Herstellung eines universellen Anspruchstitels hinauslief. Auf dem sozialpolitischen Feld der Armenfürsorge – dem zweiten der hier zu behandelnden diskursiven Kontexte – erwies sich hingegen, dass gerade die Idee des sozialen Existenzminimums, das ja die gewohnte Lebenshaltung zu sichern trachtete, offen war für eine nach Schichten abgestufte Behandlung der Bedürftigen. Die Auseinandersetzung um die Reichsfürsorgepflichtverordnung 1924/25 zeigt, dass Differenzierung und Standardisierung die widerstreitenden Prin­ zipien bei der Zumessung der staatlichen Versorgungsleistungen waren.126 Dieser zentrale Konflikt um den Ausbau des Weimarer Wohlfahrtsstaates ist bislang, durchaus zutreffend, folgendermaßen dargestellt worden: Auf der einen Seite stand das Reichsarbeitsministerium, unterstützt von den einflussreichen Interessenverbänden der Kriegsopfer sowie der inflationsgeschädigten Rentenempfänger. Das RAM erlangte breite politische Zustimmung im Reichstag für eine Reform der Fürsorge, die traditionell in den Händen der kommunalen Armenpflege lag und nun stärker zentralstaatlich reglementiert werden sollte: Erstens wurden die Länder angewiesen, »Richtsätze« für die Unterstützungs­ leistungen zu erlassen und zu veröffentlichen, die so zu bemessen waren, dass sie »zur Deckung des notwendigen Lebensunterhalts« ausreichten.127 Damit sollten die willkürliche Leistungsgewährung der Kommunen eingedämmt, die starken regionalen Unterschiede reduziert und durch den Publikationszwang eine Steigerungsdynamik in Gang gebracht werden. Das Kalkül ging auf, wie die Entwicklung der Fürsorgeleistungen bis zur Weltwirtschaftskrise zeigt: Die Sätze stiegen, die Unterschiede schmolzen. Zweitens sollten die Kriegs­ opfer und die »Sozial- und Kleinrentner« durch eine »gehobene Fürsorge« be126 Zum Folgenden vgl. Stolleis, Sozialpolitik, S.  277–283; Sachße u. Tennstedt, Geschichte, Bd.  2, S.  142–152, 173–184; Leibfried, Existenzminimum; Crew, Bedürfnisse; ders., Germans, S. 72–76; Hong, Welfare, S. 91–140; Rudloff, Wohlfahrtsstadt, S. 601–629. 127 § 33a der Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge, in: Reichsarbeitsblatt (Amtl. Teil), Nr. 45, 1925, S. 530.

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vorzugt werden, die mindestens ein Viertel über dem allgemeinen Richtsatz liegen musste.128 Die Wohlfahrtsverbände auf der anderen Seite bekämpften diese Regelungen als eine »Schematisierung« und pochten darauf, dass die individuelle Bedürftigkeitsprüfung, die in der Verantwortung der Armenpfleger lag, nicht weiter beschnitten werden dürfe. Das Gesetz sah schließlich zugleich vor, dass »die Eigenart der Notlage« eines Hilfsbedürftigen berücksichtigt werden sollte, was bedeutete, dass seine gesamte familiäre und finanzielle Lebenslage zu prüfen war. Auch ob »Geld, Sachleistung oder persönliche Hilfe« gewährt werden sollte, lag im Ermessen der kommunalen Behörden.129 Diese verteidigten mit ihrem Eintreten gegen standardisierte Leistungen und für eine weitere Individualisierung der Fürsorge somit ihre lokale Herrschaftsposition. Was in diesem Konflikt zwischen dem Reich und der kommunalen Wohlfahrtsbürokratie bislang übersehen wurde, ist der Umstand, dass beide Seiten dem Prinzip des sozialen Existenzminimums folgten, von dem differenzierende ebenso wie standardisierende Wirkungen auf die Fürsorge ausgingen. Das RAM war einerseits gewillt, eine Aufstockung und Vereinheitlichung der Sätze gegen die kommunale Willkür durchzusetzen; es erkannte aber andererseits eine nach Gruppen gestaffelte Anspruchsberechtigung an, für die die militärische und produktive Leistung für die Nation ebenso eine Rolle spielte wie die soziale Herkunft. Bedürftigkeit existierte daher in den Augen des Gesetzgebers nicht ohne ihre soziale Einbettung, was zu einer Drei-Klassen-Gesellschaft der Fürsorgeempfänger führte: An der Spitze standen die Gruppen, denen ein besonderer Opferstatus zugeschrieben wurde: die Veteranen sowie die Arbeitsinvaliden (Sozialrentner) inklusive ihrer Familien, ebenso aber jene große Gruppe der mittelständischen Kleinrentner, deren Vermögen durch die Inflation entwertet war. Wenn dieser Gruppe ein gehobener Versorgungsstandard gewährt wurde, konnte das »als soziales Existenzminimum bezeichnet werden«, wie ein Für­ sorgefachmann kommentierte.130 Das Ziel dieser Bevorzugung war nämlich, den Kleinrentnern die Fortsetzung ihrer bürgerlicher Lebensweise zu ermöglichen, die sich vor allem in einem höheren Wohnungsstandard und entsprechenden Mehrausgaben in diesem Bereich ausdrückte. Wurde das Existenzminimum jener Gruppen von »neuen« Armen, die durch Krieg und Inflation entstanden waren, höher veranschlagt als das der traditionellen Fürsorge­ klienten, wurden von diesen wiederum jene Bedürftigen unterschieden, die 128 Zu Zielsetzung und Folgen der Fürsorgereform vgl. Erwin Ritter, Vom Unterstützungswohnsitzgesetz zur Fürsorgepflichtverordnung, in: Reichsarbeitsblatt II (Nichtamtl. Teil), Nr.  13, 1928, S.  217 f.; Sachße u. Tennstedt, Geschichte, Bd.  2, S.  183 f.; Hong, Welfare, S. 127–131; Stolleis, Sozialpolitik, S. 282. 129 Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge, in: Reichsarbeitsblatt (Amtl. Teil), Nr. 45, 1925, S. 530. 130 Sasse (Stadtamtmann in Hagen), Verordnung, S. 581–588, hier: S. 585. Zum Sozialprofil der Kleinrentner vgl. auch Günther, Folgen, S. 239–245; Hong, Welfare, S. 103–109; Reidegeld, Sozialpolitik, Bd. 2, S. 134–136, 193.

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nach Prüfung ihres Falles als »arbeitsscheu« eingestuft wurden. Sie waren dem disziplinierenden Zugriff des Staates sowie materieller Benachteiligung ausgesetzt. Der standardisierenden Richtsatzpolitik stand demnach ein nach Opferstatus, Schichtzugehörigkeit und Arbeitsethos differenzierendes Leistungs­ gefälle gegenüber. Die Wohlfahrtsverbände wiederum kritisierten, dass allein durch Gruppenzugehörigkeit Anspruch auf einen erhöhten Lebensstandard erhoben werden konnte und plädierten für eine Fürsorge, die sich nach einem einheitlichen Prinzip: dem der individuellen Bedürftigkeit, richten sollte. Die Wohlfahrts­ ämter sollten die gruppenspezifischen Ursachen der Verarmung außer Acht lassen und ausschließlich die individuelle »Art des Notstands« zur Grundlage der Beurteilung machen.131 Damit sollte keine egalitäre Behandlung erfolgen. Auch die führenden Köpfe der Wohlfahrtsbürokratie, die in ihren Verbandspublikationen den Geist der Fürsorgegesetze nach ihren Vorstellungen auslegten, bekannten sich explizit zum sozialen Existenzminimum, was bedeutete, dass für die »Höhe der Unterstützung entscheidend das Lebensniveau [war], das wir dem einzelnen Hilfesuchenden zubilligen, gleichgültig, welcher Gruppe er entstammt«. Es kam mithin alles darauf an, den notwendigen Bedarf für den Einzelfall zu bestimmen, und dabei taten sich erhebliche Unterschiede auf: kaum in der Ernährung, für die eine weitgehende Standardisierung möglich schien – einmal mehr waren hierfür die Berechnungen Kuczynskis das Vorbild –, sehr wohl aber in den Ausgaben für Wohnung und Kleidung, die sich zwischen »Mittel- und Arbeiterstand«, nach Berufszweig, Alter oder familiären Verhältnissen unterschieden.132 Genau wie bei dem System der abgestuften Rationierung von Grundnahrungsmitteln während der Zwangswirtschaft wurde auch bei den Fürsorgeleistungen das universelle Versorgungsversprechen in der politischen Umsetzung gebrochen, indem es die soziale Fraktionierung der Verbraucherschaft durch Privilegien und Diskriminierungen verstärkte. Das soziale Existenzminimum hatte demnach zwei Seiten: Als historische Norm verstanden wirkte es progressiv, da es sich am höheren Lebensstandard der Vorkriegszeit orientierte und auf eine überregionale Vereinheitlichung der staatlichen Transferleistungen drängte. Als Anspruchstitel im gesellschaftlichen Verteilungskampf konnte es aber ebenso konservative Effekte entfalten, denn hier diente es den in Not geratenen bürgerlichen Schichten dazu, ihren Konsumstil als »standesgemäß« zu reklamieren und vom Staat Sonderhilfen einzuklagen. Dass die Berliner Statistiker Hans Guradze und Karl Freudenberg im Jahr 1923 ein »Existenz­minimum 131 Zit. n. Orthbandt, Deutsche Verein, S. 233. 132 Vgl. Binder (Stadtrat in Bielefeld), Unterstützungsmaßstäbe, S. 9–22, Zitate: 13 f. Vgl. zudem Richtsätze für die Bemessung der Unterstützungen, in: NDV Nr. 52 (1924), S. 115 f.; Die bestimmenden Faktoren bei Aufstellung von Unterstützungsmaßstäben, in: ebd. Nr. 61 (1925), S. 276 f.; Grundlagen für die Aufstellung von Unterstützungsrichtsätzen, in: ebd. Nr. 62 (1925), S. 303 f.; Aufstellung von Richtsätzen nach einheitlichen Gesichtspunkten, in: ebd. Nr. 65 (1925), S. 369–371; Orthbandt, Deutsche Verein, S. 230–235.

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des geistigen Arbeiters« berechneten, zeigt erneut, dass sich mit dieser Innovation der Sozialstatistik nicht nur Versorgungsansprüche erheben, sondern auch soziale Hierarchien verteidigen ließen. Gegen den Nivellierungstrend der Inflation hielten Guradze und Freudenberg am Beispiel eines höheren Beamtenhaushalts an der Rechtmäßigkeit unterschiedlicher Konsumniveaus fest. Die Lebensgewohnheiten der Akademiker wurden als spezifische soziale Norm akzeptiert: Dem bürgerlich-intellektuellen Bedürfnis nach Repräsentation und Ruhe trug man Rechnung, indem pauschal die doppelten Kosten für Wohnung und Bekleidung veranschlagt wurden, wie sie sich aus dem Reichsindex ergaben. Hinzu kam ein praktisch willkürlicher Aufschlag von sechzig Prozent für kulturelle und sonstige Ausgaben. Auch eine höherwertige Ernährung war notwendig, wie unter Berufung auf die jüngsten Untersuchungen des Physiologen Otto Kestner argumentiert wurde: Zwar brauchte der »geistige Arbeiter« weniger Kalorien als ein körperlich schwer Arbeitender, doch auch bedeutend mehr Fleisch und eiweißreiche Kost, um den – experimentell nachgewiesenen – höheren Phosphorsäurespiegel zu neutralisieren.133 Auch bei der Konstruktion dieses Existenzminimums gingen biologische und sozialstatistische Methoden also Hand in Hand, mischten sich mit konventionellen Vorstellungen eines standesgemäßen Konsums und kamen schließlich zu dem Ergebnis, dass die Kosten für den notwendigen Lebensbedarf der höheren Beamten bei dem 1,6 bis 1,9fachen der Kosten für den Arbeiterhaushalt lagen.134 Außer den Akteuren der Sozialstatistik und -politik adaptierten schließlich auch Architekten und Stadtplaner den normativen Begriff des Existenzminimums und stellten damit staatliche Versorgungsziele auf. Die Wohnungsnot war bekanntlich ein Dauerproblem der Weimarer Republik, das trotz des seit 1925 quantitativ durchaus beeindruckenden staatlichen Wohnungsbaus nicht gelöst werden konnte. Problematisch waren zum einen die hohe Zahl an Wohnungssuchenden – das RAM schätzte den Fehlbedarf 1927 auf 600.000 Wohnungen135 – und die damit verbundene Überfüllung der Altbauten, die wegen des Mangels an privatem Kapital und der deshalb überfälligen Instandhaltung ohnehin in schlechtem Zustand waren. Zum anderen stellte sich immer deutlicher heraus, dass die nach dem Krieg erbauten Wohnungen trotz subventionierter Mieten zu kostspielig für die unteren Einkommensschichten waren. Beamte, Angestellte und eine Minderheit gut bezahlter Facharbeiter zogen in die meist 133 Guradze und Freudenberg schlossen daraus, dass der Beamte im Vergleich zum Hand­ arbeiter monatlich 15 kg Kartoffeln und 10 kg Mohrrüben weniger, dafür aber 5 kg Rindfleisch mehr benötigte. Vgl. Guradze u. Freudenberg, Existenzminimum, S. 327–333. Zu Kestner vgl. Klinische Wochenschrift 1922, H. 27. 134 Guradze u. Freudenberg, Existenzminimum, S. 331. Diese Untersuchung repräsentiert das seit dem Krieg anschwellende Interesse an der Erforschung des Konsumverhaltens bürgerlicher Haushalte – ehemals ein Stiefkind der Lebenshaltungsforschung. Die materielle Notlage mittelständischer Gruppen dokumentierten zwischen 1920 und 1925 die Studien von Günther, Lebenshaltung; Heiler, Verelendung; Fürth, Haushalt; Simon, Haushalt. 135 Vgl. Ruck, Wohnungsbau, S. 98.

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recht geräumigen Wohnungen der Neubauviertel mit mehr als 50 qm Wohnfläche. Nach einer Studie des Internationalen Arbeitsamtes war nur ein Drittel der zwischen 1924 und 1929 in Deutschland geschaffenen Wohnungen ein bis drei Zimmer groß, während dieser Anteil in den kontinentaleuropäischen Vergleichsländern weit darüber lag – in Schweden, Dänemark, Tschechoslowakei, Finnland, Österreich durchgängig über siebzig Prozent.136 Nachdem vor allem durch die Reichswohnungszählung vom Mai 1927 immer deutlicher geworden war, dass die am meisten unter dem Wohnungsmangel leidenden Schichten am wenigsten vom bisherigen Wohnungsbau profitiert hatten, mehrten sich die Stimmen derer, die wie der neue Arbeitsminister Rudolf Wissell eine stärkere Orientierung am Bedarf der »breiten Massen« forderten. Anzustreben sei, schrieb er Anfang 1929, die Errichtung von Wohnungen, »die weit mehr als bisher für diese Bevölkerungskreise und vor allem für die kinderreichen Familien in Betracht kommen und dem Einkommen der Wohnungs­ anwärter entsprechen«.137 In der Folgezeit waren es vor allem die Protagonisten des Neuen Bauens, die sich für diesen sozialpolitischen Auftrag des Wohnungsbaus stark machten, indem sie das Konzept der »Wohnung für das Existenzminimum« entwickelten. Diesem Thema widmete sich der II. Internationale Kongreß für Neues Bauen, der vom 24. bis 26. Oktober 1929 unter der Federführung des Architekten Ernst May in Frankfurt stattfand. Mit Walter Gropius, Sigfried Giedion, Pierre ­Jeanneret, der Le Corbusier vertrat, und anderen nahmen führende Vertreter der Neuen Sachlichkeit teil. May, der seit 1925 als Leiter des Hochbau- und Siedlungsamtes verantwortlich für das ambitionierte Bauprogramm des »Neuen Frankfurt« war, übernahm mit seinem überaus fähigen Mitarbeiterstab138 die Vorbereitung einer Wanderausstellung, die eine große Zahl von Mustergrundrissen der Wohnung für das Existenzminimum aus zahlreichen europäischen Großstädten zeigte.139 In den programmatischen Referaten des Kongresses offenbarte sich, dass May, Gropius und Giedion ein zutiefst gespaltenes Verhältnis zum »Verbraucher, dem Besteller und Bewohner des Hauses«140 hatten. Ein schwieriger Kompromiss wurde angestrebt, der darin bestand, dass der kollektive Bedarf an billigem Wohnraum Anerkennung fand, ohne dabei den individuellen Bedürfnissen der Bewohner zu weit entgegenzukommen und vor allem ohne die wich136 Vgl. Internationales Arbeitsamt, Wohnungspolitik, S. 59; zudem: Führer, Mieter, S. 174 ff.; ders., Managing, S.  334; Ruck, Wohnungsbau, S.  98–100; v. Saldern, Sozialdemokratie, S. 183 ff.; Silverman, Pledge, S. 138; Witt, Inflation, S. 397 ff. 137 Zit. n. Ruck, Wohnungsbau, S. 100 f. 138 Dazu gehörten der niederländische Architekt Mart Stam, die ehemaligen Mitarbeiter von Gropius, Martin Elsaesser und Adolf Meyer, sowie Margarete Schütte-Lihotzky, die Erfinderin der Frankfurter Küche. Vgl. Kähler, Wohnung, S.  220; Kuhn, Wohnkultur, S. 152 ff. 139 Zum Kongreß und zur Ausstellung vgl. Wohnung (CIAM II). 140 Vorbereitender Internationaler Kongreß für Neues Bauen (CIAM I), S. 2.

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tigsten Qualitätsstandards aufzugeben, die bereits in den Neubauten der vergangenen Jahre realisiert worden waren. Der Begriff des Existenzminimums diente auch hier nicht dazu, nur ein absolutes Minimum zu fixieren, sondern suchte einen erworbenen Standard zu verteidigen, der allerdings auf Finanzierbarkeit ebenso Rücksicht zu nehmen hatte wie auf wissenschaftliche Erkenntnisse. »Schafft uns Wohnungen, die, wenn auch klein, doch gesund und wohnlich sind und liefert sie vor allem zu tragbaren Mietsätzen.« Das war nach May die zu lösende Aufgabe, die Giedion zu einem versorgungspolitischen Imperativ erhob: »Der Vorschlag, daß jedem Menschen ›seine Ration Wohnung‹ zugeteilt werden muß, wächst über den Rahmen des Kongresses hinaus und wird zur allgemeinen Forderung.«141 Damit war freilich noch nicht die Frage beantwortet, welche Größe und Qualität diese »Ration« haben sollte und welchen Leitlinien bei ihrer Bestimmung zu folgen war. Für die Bestimmung des Bedarfs spielte die unmittelbare Ausrichtung an den Wünschen der Wohnungssuchenden eine untergeordnete Rolle. Der Rat Mays, jeder Architekt müsse eigentlich verpflichtet sein, ein paar Wochen bei einer Arbeiterfamilie zu wohnen, war in dieser Hinsicht die Ausnahme. Die Anregung zur stärkeren »Kundenorientierung« wurde wohl auch deshalb weder von seinen Kollegen noch von ihm selbst ernsthaft verfolgt, weil zur Eruierung des Notwendigen zwei andere Autoritäten bereitstanden: Zum einen zeigte das steingewordene historische Beispiel der Mietskasernen des Kaiserreichs, welche wohnungstechnischen Mängel in jedem Fall zu vermeiden waren; die mit erschütternden Fotografien ausgestatteten Dokumentationen der Wohnungsreformer waren als Horrorszenarien für die Vertreter des Neuen Bauens unverzichtbar.142 Zum anderen schienen die Wissenschaften der Hygiene und der Soziologie den verlässlichsten Maßstab für das zu liefern, was der moderne Mensch wirklich brauchte. Gerade Gropius war ein Meister darin, konkrete bautechnische Anweisungen und Bedarfsnormen durch den Rekurs auf hygienische und abstrakte soziologisch-historische Theorien aufzustellen. Von den Hygienikern übernahm er die Beobachtung, dass Licht, Luft und Wärme wichtiger als die Raumgröße seien, und schloss daraus: »Vergrößert die Fenster, verkleinert die Räume«! Dass dafür jedem Erwachsenen »sein eigenes, wenn auch kleines Zimmer« zustehen müsse, folgerte er wiederum aus dem soziokulturellen Entwicklungsprozess, in

141 May, Wohnung, S. 6; Giedion, Kongresse, S. 4. Giedion zitierte mit dieser Phrase den Basler Architekten Hans Schmidt. Zur weiteren Debatte über die Wohnung für das Existenzminimum vgl. Gruschka, Begriff, S. 865–867; Hilberseimer, Kleinwohnungen, S. 509–514; Wagner, Minimalwohnungen, S. 247–250; Kramer, Wohnung, S. 647–649; Heinicke, Flachbauwohnung. 142 Wirkungsmächtig war in dieser Hinsicht die Studie des Deutschen Vereins für Wohnungsreform: Schwan, Wohnungsnot. Siehe zudem die 18bändige Erhebung der Allgemeinen Ortskrankenkassen Berlin, die zur Dokumentation im Reichstag Verwendung fanden: StenBerRT Bd. 426, S. 3606, 3612 (17.12.1929).

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dem er die Gesellschaft begriffen sah:143 Nach einer familiaren Epoche, in der Produktion und Konsum im Rahmen der Hauswirtschaft und unter patriarchaler Führung stattgefunden hätten, befinde man sich nun schon beinahe auf dem Höhepunkt der Epoche des Individuums, in der ehemalige Familienfunktionen vermehrt von Staat und Wirtschaft übernommen worden seien. Als wichtigste Folgeerscheinungen hätten sich der Trend zur Kleinfamilie sowie vor allem die Emanzipation der Frau ausgebreitet, deren weiteres Voranschreiten den Übergang zu einer genossenschaftlichen Epoche in naher Zukunft ermögliche. Es würden darin schließlich immer mehr hauswirtschaftliche Arbeiten durch rationelle Organisation in »Großhaushalten« erledigt.144 Gropius war aus diesen Gründen nicht nur ein Vertreter der kleinen, funktional differenzierten Wohnung, die dem Individualisierungsprozess Rechnung trug, sondern auch ein Anhänger des mehrgeschossigen Hochbaus, für den er das günstige Verhältnis von Lichteinfall, Bettenzahl und erforderlichem Bauland errechnete und der für ihn den Kern des genossenschaftlichen Wohnens der Zukunft ausmachte.145 Nicht alle Fachleute teilten allerdings Gropius’ Vorliebe für Großbauten. Wer wie Ernst May von der Gartenstadtbewegung beeinflusst war, plädierte für Wohnungen in ein- oder zweistöckiger Flachbauweise, die Zugang zu einer eigenen Gartenparzelle besaßen und nicht nur, wie von Gropius vorgesehen, zu kollektiv genutzten Grünflächen. Idealerweise sollten die Ein- oder Zweifamilien-Reihenhäuser in aufgelockerter Bebauung in Trabantenstädten liegen, so wie May es in der Frankfurter Römerstadt realisiert hatte. Auch wenn die Wohnung mit Garten aufgrund ihres wirtschaftlichen und kulturellen Mehrwerts – der Möglichkeit zur Selbstversorgung und einer naturnahen, nicht »entfremdeten« Lebensweise – von ihren Anhängern ebenfalls als Minimalanforderung des modernen Wohnens gepriesen wurde, traf der Kongreß keine Entscheidung über die Frage ob »Flach- oder Hochbau«, denn hinsichtlich der Effizienzkalkulation gingen die Meinungen noch lange auseinander; die Ausstellung zeigte daher Pläne für Ein-, Zwei- und Mehrfamilien-Häuser.146 Konsens bestand aber darin, dass bei der Bestimmung des Minimums den hygienischen Standards der Querlüftung, des ausreichenden Sonnenlichts und der Ausstattung mit Bad und Toilette mehr Bedeutung zukam als der Wohnungsgröße. Folglich waren 25 der 40 Wohnungen, deren Grundrisse May und seine Mitarbeiter aus deutschen Städten präsentierten, nur bis zu 48 qm groß, wiesen aber eine gehobene Ausstattung mit Einbauküche und Badezimmer auf. Das bedeutete eine Verkleinerung gegenüber den Mitte der zwanziger Jahre verwirklichten Neubauten, wie auch ein Vergleich der Siedlung Römerstadt 143 Gropius folgte hier den »Entwicklungsstufen der Menschheit« des Soziologen Franz Müller-Lyer. Vgl. Gropius, Grundlagen, S. 13; dazu auch Nerdinger, Architekturutopie, S. 280. 144 Vgl. Gropius, Grundlagen, S. 13–19, Zitate: S. 19, 16. 145 Zu Gropius’ nicht realisiertem Plan einer Genossenschaftsstadt vgl. Nerdinger, Architektur­ utopie, S. 279 f. 146 Zu May vgl. Kähler, Wohnung, S. 199–220; zur Kontroverse vgl. Heinicke, Flachbauwohnung; Hilberseimer, Kleinwohnungen, S. 509–514; Gruschka, Begriff, S. 865–867.

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(1926/29) mit der späteren Siedlung Westhausen (1929/31) zeigt, in der May – gleichsam die Kurskorrektur vollziehend, die der Kongreß vorschlug – kleinere 40 und 42 qm-Wohnungen bauen ließ. Der Erfolg blieb nicht aus: Wohnten in der Römerstadt vor allem Angehörige der Mittelschicht, entwickelte sich Westhausen zu einer Arbeitersiedlung.147 Es ist sicher wichtig, darauf hinzuweisen, dass der oft beschriebene Rationalisierungsfuror der Reformarchitekten sich nicht nur gegen die eigene Zunft und ihre Vorliebe für prunkvolle Fassaden und bürgerliche Empfangszimmer, gegen handwerkliche Traditionen in der Bautechnik und städtische Bauordnungen, sondern auch gegen die Verbraucher selbst richtete: Was sich bereits in den Konsumvereinen gezeigt hatte: dass die Bevormundung die andere Seite der geplanten Bedarfsdeckung war, galt auch hier. Die Erziehung zu »Einfachheit und Gediegenheit« war für May ein zentraler Bestandteil bei der Schaffung einer durchrationalisierten Wohnkultur, und nach Gropius’ Selbstverständnis sollte der Architekt eben nicht nur »Diener«, sondern auch »Führer« sein.148 Dass die Bedürfnisse der Mieter in der Praxis allzu oft nicht mit dem expertokratisch bestimmten Bedarf übereinstimmten, ist jedoch ein anderes Kapitel. Hier geht es darum hervorzuheben, dass eine Ausstellung wie die »Wohnung für das Existenzminimum« Mindesterwartungen an die Wohnkultur popularisierte und damit den öffentlichen Wohnungsbau unter Druck setzte, die finanziellen Möglichkeiten der Wohnungssuchenden stärker zu berücksichtigen und dennoch bestimmte Standards einzuhalten. Die beiden exemplarischen Entwürfe (Abb. 4) kleiner, aber modern ausgestatteter Wohnungen verdeutlichen, was einer maximal drei- bzw. fünfköpfigen Familie nach den Vorstellungen der Reformarchitekten mindestens zugestanden hätte: eine zweifellos geringe Wohnfläche, aber durch die überlegte Konstruktion dennoch ein echter Fortschritt gegenüber den Lebensbedingungen in den Mietskasernen. Dem hier anvisierten Kleinstwohnungsbau mochten sich die staatlichen Entscheidungsträger jedoch lange Zeit nicht anschließen. Die Subventionen der Länder waren oft an Minimalanforderungen gebunden – beispielsweise in Berlin an Wohnungen von 48 qm Fläche, in Bayern an drei Zimmer. Erst unter dem Druck der Wirtschaftskrise im Juli 1930 ließ die Regierung Brüning ein Bauprogramm für Kleinwohnungen von etwa 42 qm auflegen, schränkte aber den öffentlichen Wohnungsbau insgesamt massiv ein.149 Welche Ansprüche an den Wohnstandard die Parteien im Reichstag noch im Dezember 1929 stellten, zeigte sich, als sie die »Reichsrichtlinien für das Wohnungswesen« verabschiedeten, die das RAM unter Wissell im Februar als Entwurf vorgelegt hatte und 147 Zur Römerstadt vgl. die Magisterarbeit: Schleuning, Siedlung; zu Westhausen anschaulich: http://www.ernst-may-museum.de (Zugriff: 20.10.2010). 148 Zum Rationalisierungs- und Erziehungsprogramm vgl. nur v. Saldern, Herd, S. 54 ff.; dies., Kathedralen, S. 173–183; Kuhn, Wohnkultur. Zu May: http://www.ernst-may-museum.de/ maybiografie/ (Zugriff: 20.10.2010). Zu Gropius: ders., Architektur, S. 76–81. 149 Vgl. Führer, Mieter, S. 181–183.

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Abb. 4: Wohnungen für das Existenzminimum: Ausstellungsentwürfe 1929: Wohnfläche 38,2 qm (oben) vs. 47 qm (unten) Quelle: Wohnung (CIAM II), S. 115 u. 136.

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die seitdem durch langwierige Beratungen des Wohnungsausschusses gegangen waren.150 Auf dessen Vorschlag beschloss der Reichstag, dass die durch die öffentliche Hand subventionierten Wohnungen für Familien eine Fläche von mindestens 48 qm haben sollten; entsprechend größer sollten sie bei mehr als drei Kindern sein. Es erging zudem ein klares Bekenntnis zum »Einfamilienhaus mit Garten« als anzustrebendes Ziel der Wohnungspolitik. Die Gründe dafür, dass sich der Reichstag nicht den »Wohnungen für das Existenzminimum« anschloss, sondern einen höheren Mindeststandard einforderte, traten in der Debatte deutlich hervor. Der Wohnungsausschuß hatte im Oktober 1929 eine Reise durch ganz Deutschland angetreten, um sich ein Bild von den Wohnverhältnissen vor Ort zu machen. Dabei hatte man zwar auch die Frankfurter Ausstellung mit Interesse verfolgt, einen tieferen Eindruck hinterließen jedoch offenbar die noch immer katastrophalen Zustände in den überfüllten Altbauten, ob in Berlin oder in der Oberpfalz. Vor allem bevölkerungspolitische und sexualhygienische Erwägungen sprachen in den Augen der Abgeordneten dafür, nicht durch den Bau von zu kleinen Wohnungen die Fehler der Vergangenheit zu konservieren. Die alternativen Gefahren von Überbelegung und Kinder­losigkeit wurden so hoch veranschlagt, dass Zentrum und SPD sogar eine Erhöhung der Mindestfläche auf 60 qm forderten, während die DVP eine ausreichende Zahl von Schlafräumen für entscheidend hielt.151 Ein Blick auf die oben abgebildeten Grundrisse gibt zudem einen Hinweis darauf, warum schließlich eine Wohnung von knapp 50 qm (unten) als akzeptabel erschien, während eine zehn Quadratmeter kleinere Lösung (oben) durchfiel: Den Unterschied machte das eigene Schlafzimmer für die Kinder. Im Interesse von »Wohnungskultur« und »Volksgesundheit«152 fiel die einseitige Entscheidung zugunsten eines 48 qmMinimums, ohne dass die Frage der Finanzierbarkeit und der erschwinglichen Mieten geklärt worden wäre. Die Richtlinien, die zudem keine Gesetzeskraft hatten, verstärkten damit die Kluft zwischen einem politischem Versorgungsversprechen und der Alltagserfahrung der Verbraucher. Im Rückblick ist die Anschlussfähigkeit des Begriffs »Existenzminimum« in der Weimarer Republik bemerkenswert. Der Bezug darauf war kein Reservat sozialistischer Politik, sondern wurde ebenso im politischen Katholizismus gepflegt. Im politischen Tagesgeschäft fand sich allenthalben die routinierte Forderung nach einer Sicherung des Existenzminimums, wie sie etwa das Zentrum im Hinblick auf die Beamteneinkommen im Preußischen Landtagswahlkampf 1921 erhob.153 Auf diese Weise prägte allerdings – wie so oft – ein Begriff die politische Sprache, dessen inhaltliche Bestimmung unklar und davon abhän150 Zum Folgenden vgl. Mündl. Bericht des 11. Ausschusses (Wohnungswesen) über den Entwurf von Reichsrichtlinien für das Wohnungswesen (StenBerRT Bd. 436, Anlage Nr. 1171); sowie die Debatte: StenBerRT Bd.  426, S.  3467–3483 (5.12.1929); ebd., S.  3605–3634 (17.12.1929). 151 Vgl. StenBerRT Bd. 426, S. 3471–3473, 3606, 3610, 3624–3627. 152 Abg. Wendt (SPD), StenBerRT Bd. 426, S. 3617. 153 Wahlaufruf der Preußischen Zentrumspartei, 28.1.1921 (Berlin), in: Lepper, Volk, S. 413.

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gig war, wer die Deutungshoheit bei seiner theoretischen Ausformulierung und praktischen Umsetzung hatte. Daher stellte auch ein Kommentar zum 40jährigen Jubiläum der Enzyklika »Rerum Novarum« im Jahr 1931 treffend fest, dass die Forderung nach dem Existenzminimum im Grunde sogar bei den Vertretern des »extremen Liberalismus heute absolut unkontrovers« sei, dass aber zugleich in der Praxis die »Grenze des sozialen (zivilisatorischen) Existenzminimums […] in allen Lohnkämpfen umstritten« war.154 Dieser Dissens verweist darauf, dass jene humanwissenschaftlichen Experten, die den Begriff zu definieren versuchten, mit ihrer sozialtechnologischen Hoffnung scheiterten, Maßzahlen für den Minimalbedarf berechnen zu können. Das änderte nichts daran, dass stets ein soziales Existenzminimum und damit ein Standard zur Debatte stand, der sich an der Lebenshaltung der Vorkriegszeit oder an relativ anspruchsvollen hygienischen oder physiologischen Normen ausrichtete. Insofern war dies ein Erfolg von Kuczynski, May und anderen – und doch zugleich ein Pyrrhussieg, denn solange die Republik diesen Standard nicht liefern konnte, kursierte das Existenzminimum nur als Anspruch und Erwartung.

3. Leistungen und Grenzen konsumpolitischer Intervention: Kommunale Daseinsvorsorge und Preispolitik Das umfangreiche Spektrum von Interventionen, die zur Stabilisierung und Verbesserung der Grundversorgung beitragen sollten, lässt sich in einer zusammenfassenden Leistungsbilanz kaum seriös erfassen. Im Folgenden sollen daher zwei genuin konsumpolitische Instrumente im Vordergrund stehen, die in Weimar mit besonderem Nachdruck verfolgt wurden: die Preispolitik und die kommunale Versorgungswirtschaft. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf die gesamte Verbraucherschaft zielten, während das System der Sozialversicherungen und die Fürsorgepraxis ebenso wie die Lebensmittelrationierungen bis 1923 nach Leistungs- und Statusgruppen differenzierten und damit die soziale Fraktionierung der Gesellschaft eher noch verstärkten. Welche Bedeutung kam also jenen Maßnahmen zu, die sich an ein Kollektiv der Verbraucher richteten, und welcher Erfolg war ihnen beschieden? Zunächst zur kommunalen Daseinsvorsorge: Der Begriff der Daseinsvorsorge, den der Staatsrechtler Ernst Forsthoff vor allem mit seiner Schrift »Die Verwaltung als Leistungsträger« aus dem Jahr 1938 popularisierte, spielt seither in den juristischen, verwaltungswissenschaftlichen und historischen Untersuchungen zum Aufgabenkreis der Kommunen eine herausragende Rolle. Er hat paradigmatischen Status und wird als Analysebegriff zur Beschreibung des langfristigen Prozesses der kommunalen Funktionsausweitung seit Mitte 154 Lechtape, Arbeits- und Arbeitslohnproblem, S. 164.

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des 19.  Jahrhunderts gebraucht.155 Zugleich bildet das Forsthoffsche Konzept, das ideengeschichtlich auf eine lange Traditionslinie156 von Hegels Vorsorgebegriff über Lorenz von Steins soziales Königtum bis zu Carl Schmitts Parlamentarismuskritik sowie Karl Jaspers Analyse der technischen Bedingungen des »Massendaseins«157 zurückblickt, zwei historische Konstellationen der Zwischenkriegszeit ab: Zum einen war das Projekt der Daseinsvorsorge alles andere als ein Reservat der Sozialisten, sondern zeigte sich vielmehr politisch poly­ valent. Die Sicherung materieller Teilhabe, die Forsthoffs Verwaltungslehre anvisierte, sollte aus obrigkeitsstaatlichem Kalkül heraus garantiert werden und fußte, seinen autoritär denkenden Vorläufern gemäß, gerade nicht auf demokratischer Teilhabe in der kommunalen Selbstverwaltung. Zum anderen zeigte sich, dass als Schutzobjekte der Vorsorge nicht mehr die Pauperisierten und Proletarier, sondern die Staatsbürger in ihrer Eigenschaft als Stadtbewohner und Konsumenten die zentrale Rolle spielten. Im Zentrum der Untersuchung Forsthoffs steht faktisch – wenn auch nicht semantisch  – die Beziehung zwischen der in ihren materiellen Verhältnissen ungesicherten Verbraucherschaft einerseits und einem mit der Aufgabe der kollektiven Versorgungsleistung betrauten Staat andererseits. Er geht in seinen Überlegungen von der seit Marx und Sombart gängigen Beobachtung aus, dass der moderne Mensch durch den Industrialisierungs- und Urbanisierungs­ prozess des 19.  Jahrhunderts von seinen »Lebensgütern«  – Haus und Grund und den damit verbundenen wirtschaftlichen Mitteln  – zunehmend getrennt worden sei. Dieser »beherrschte Lebensraum« sei in der Großstadt »bis zur Minimalisierung« geschrumpft, was den Städter der Möglichkeit beraube, sich selbst mit den notwendigen Gütern zu versorgen. Die »soziale Bedürftigkeit«, die er in Anlehnung an Max Weber auch als Notwendigkeit zur »Appropriation« bezeichnet, ist also mit der Ausbreitung der städtischen Lebensweise gewachsen.158 Um sich die Güter des notwendigen Bedarfs beschaffen zu können, müssen Maßnahmen getroffen und Institutionen errichtet werden, welche die »Daseinsvorsorge« bilden. Zugleich formuliert Forsthoff die These, dass sich die Verantwortung für die Daseinsvorsorge verschoben habe: Vom Individuum in der klassischen Epoche des bürgerlichen Liberalismus über die Korporationen in der Phase des Hochkapitalismus, die in den Weimarer Lohnkonflikten ihren Höhepunkt überschritten hätten, sei die Verantwortung zunehmend  – und vollends durch den Nationalsozialismus – auf den Staat übergegangen. Im Jahr 1938 zielten diese Überlegungen zweifellos auf eine Apologie des »totalen« Verwaltungsstaats ab, doch sollte nicht übersehen werden, dass sie bereits 155 Vgl. nur Jellinghaus, Daseinsvorsorge; Reulecke, Geschichte, S. 123 f. 156 Zum ideengeschichtlichen Hintergrund und zur Genese des Begriffs der Daseinsvorsorge bei Forsthoff vgl. Kersten, Entwicklung; Scheidemann, Begriff. 157 Vgl. Jaspers, Situation, S. 32–45, Zitat: S. 32. 158 Forsthoff, Verwaltung, S.  4 f. Vgl. zum Folgenden vor allem Kersten, Entwicklung, S. ­543–555.

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im Kontext der Debatte über die »Krise der Selbstverwaltung« seit 1929 Gestalt angenommen hatten. Wie kritisch Forsthoff auch immer die »gewaltig[e]« Politisierung der kommunalen Leistungsverwaltung seit dem Ersten Weltkrieg betrachtete, indem er wie sein Lehrer Carl Schmitt ihre Abhängigkeit vom parteipolitischen Interessenkonflikt geißelte, hielt er doch eine Entpolitisierung der Daseins­vorsorge im Sinne des Liberalismus ebenfalls für unmöglich.159 Vor allem verdeutlicht Forsthoff aber, wie weit sich auch bei einem jungkonser­ vativen Denker der Horizont der schließlich zentralstaatlich zu gewährleisten­ den Existenzsicherung aufspannen konnte. Drei Bereiche der Daseinsvorsorge werden benannt: »1. Die Gewährleistung eines angemessenen Verhältnisses von Lohn und Preis, wobei das Recht auf Arbeit und einen angemessenen, durch Arbeit verdienten Lohn zugrunde liegt; 2. die Lenkung des Bedarfs, der Erzeugung und des Umsatzes; 3.  die Darbringung von Leistungen, auf welche der in die modernen massentümlichen Lebensformen verwiesene Mensch lebensnotwendig angewiesen ist.«160 Dass Forsthoff die Lohn- und Preispolitik sowie die Marktregulierung zur Daseinsvorsorge rechnet, ist bereits bemerkenswert, wird aber von ihm nicht weiter erläutert; er konzentriert sich ganz auf die im dritten Punkt anvisierte staatliche Versorgungswirtschaft. Der Umfang dieser Leistungen ist zwar seines Erachtens eine Frage der politischen Aushandlung; er skizziert aber eine »umfassende Daseinsvorsorge großen Stils«, wobei er sich empirisch an einer Darstellung des Weimarer Finanzexperten und ehemaligen Staatssekretärs Johannes Popitz aus dem Jahr 1930 orientiert.161 Die Voraussetzung dafür, dass der Mensch in der Stadt überhaupt leben könne, sei der ge­sicherte Zugang zu Wasser, Gas und Elektrizität, zu den modernen Verkehrsund Kommunikationsmitteln, zu hygienischen Einrichtungen wie Bädern und den sozialen Sicherungssystemen gegen die Risiken von Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit. Diese Güter würden nicht mehr über den Markt, sondern durch den Staat verteilt, und der Anteil der öffentlichen Wirtschaft am Volkseinkommen sei daher, wie Popitz berechnete, von 29 Prozent im Jahr 1913 auf 53 Prozent im Jahr 1930 gestiegen. Dass sich die staatliche Leistungsverwaltung bereits seit Jahrzehnten und seit dem Ersten Weltkrieg rapide ausgedehnt hatte, ist heute keine besonders originelle Beobachtung mehr. Aus konsumhistorischer Perspektive interessieren vielmehr die Schlussfolgerungen, die Forsthoff daraus zieht und in denen sich zentrale konsumbezogene Krisenerfahrungen der Weimarer Republik bündeln. Zum einen diagnostiziert er eine mit dem Aufkommen der Daseinsvorsorge verbundene rechtsgeschichtliche Zäsur: Agierte der Staat im bürgerlichen 19.  Jahrhundert als Schiedsrichter in privatrechtlichen Vertragsverhältnissen und entschied im Missbrauchsfall über die Verteilung von Rechten und Pflich159 Forsthoff an Schmitt, 4.2.1931, in: Mußgnug u. a., Briefwechsel, S. 36 f.; vgl. zudem Forsthoff, Krise. 160 Ders., Verwaltung, S. 7. 161 Vgl. ebd., S. 7 f., Zitat: S. 8; Popitz, Finanzausgleich.

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ten zwischen den Individuen, stünden sich Staat und Gesellschaft jetzt in einem unmittelbaren Verpflichtungsverhältnis gegenüber. Am Beispiel einer juristischen Diskussion über die Lieferungspflicht und Tarifgestaltung von Versorgungsunternehmen verdeutlicht Forsthoff, dass selbst dort, wo Konzessionsverträge mit Privaten vorlägen, die Individuen als Verbraucher einen besonderen Schutz beanspruchen könnten, der einen Eingriff in die Vertragsfreiheit rechtfertige. Dass die gewachsene Bedeutung der Verbraucherrechte den Hintergrund für diesen Wandel darstellt, erhellt weiterhin daraus, dass Forsthoff die Fürsorge, die sich nur an die in Not geratenen Individuen richte, von der Daseinsvorsorge unterscheidet, welche die Existenzgrundlage für jeden Staatsbürger liefere. Staatsbürger aber, so lässt sich aus seiner Betonung des Urbanisierungsprozesses ableiten, waren in erster Linie Verbraucher, die keine Möglichkeit zur Selbstversorgung hatten. Die »Teilhabe« an der Volksgemeinschaft, so ergänzt er in einer Art politischer Affektenlehre, bestehe wesentlich aus einem Gefühl des »Gesichertseins«, das sich einer funktionierenden Daseinsvorsorge verdanke. Nur diese könne den »verborgenen Mächten der Panik« Einhalt gebieten, die aus dem Mangel der Kriegs- und Nachkriegszeit entstanden waren.162 Festzuhalten ist hier, dass Forsthoff den Begriff der Teilhabe nicht demokratisch füllt und dass er die Daseinsvorsorge nicht als Individualrecht verankert wissen will, sondern sie eher als Selbstverpflichtung der Herrschaft im Interesse einer stabilen Ordnung versteht. Die gedankliche Nähe zu Hitlers »Novembertrauma« – seiner Angst vor einem durch versorgungspolitisches Versagen hervorgerufenen Umsturz – ist deutlich spürbar. Es ist ausführlicher auf Forsthoffs Überlegungen eingegangen worden, um ihren Ursprung im konsumpolitischen Diskurs der Weimarer Republik aufzuzeigen und um zu verdeutlichen, dass die kommunale Daseinsvorsorge ein weltanschaulich und parteipolitisch übergreifendes Vorhaben war. Sicherlich spielte sie im sozialistischen Lager die prominenteste Rolle, wie aus den kommunalpolitischen Programmen von KPD und SPD zu entnehmen ist, die nach dem Scheitern der Sozialisierungspläne die Kommunalisierung von Wirtschaftsbetrieben als alternativen Weg in den Sozialismus priesen. Ebenso ist die Expansion der Gemeindewirtschaft nicht denkbar ohne den Siegeszug der Linken in den Stadtverordnetenversammlungen, der bereits in den 1890er Jahren einsetzte und nach dem Krieg endgültig zum Durchbruch gelangte.163 Dennoch waren die politischen Kräfteverhältnisse in den meisten Städten der Weimarer Republik nicht mit denen im »Roten Wien« zu vergleichen, wo eine sozialdemokratische Hegemonie ehrgeizige Programme zur Verbesserung besonders der proletarischen Lebensverhältnisse verwirklichte. Vielmehr sorgte zumeist recht zuverlässig ein Konsens zwischen der SPD und unterschiedlichen bürgerlichen Parteien für die zwischen 1924 und 1929 gewaltige Ausweitung der Investitionen der Städte und

162 Vgl. Forsthoff, Verwaltung, S. 28–33, 38 f., 47, Zitate: S. 18 f. 163 Vgl. Fülberth, Konzeption; Ambrosius, Staat, S. 58–60; McElligott, Crisis, S. 19 f.

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Gemeinden in ihre Infrastruktur.164 In diesem Zeitraum hatte kein einziger Sozialdemokrat in den zehn größten Städten Deutschlands den Posten des Oberbürgermeisters inne. Angesichts der erheblichen Machtfülle dieses Amtes, das mehrheitlich aus den Reihen von DDP, Zentrum und DVP besetzt wurde, ist das mehr als eine Randnotiz und verweist auf die Bereitschaft auch von Liberalen und Konservativen, dort anzuknüpfen, wo ihre Vorgänger vor dem Krieg aufgehört hatten: bei der Ausweitung der kommunalen Leistungen mit dem Zweck einer gezielten Hebung des kollektiven Lebensstandards – auch wenn dies nun mit wechselnden politischen Mehrheiten geschehen musste.165 Zugleich hat es bekanntlich an harscher Kritik an der kostspieligen Daseinsvorsorge nicht gefehlt. Die ebenfalls im bürgerlichen Lager angestimmte Klage über die »kalte Sozialisierung« und der Vorwurf der mangelhaften Produktivität öffentlicher Unternehmen trugen zwar zu ständigen Auseinandersetzungen über die Reichweite der kommunalen Tätigkeiten bei, verhinderten im Ergebnis die Ausgabensteigerungen aber nicht. Für die Finanzlage der Gemeinden bedrohlicher war das Bemühen der Reichsbank unter Hjalmar Schacht seit 1925, den Zugang zum ausländischen Kreditmarkt zu erschweren. Doch auch das blieb ohne Wirkung auf die Ausgaben für das Wohlfahrts- und Gesundheits­wesen, den Wohnungsbau, für Bildungs- und Kultureinrichtungen und die sonstige Infrastruktur, die bis 1929 kräftig erhöht wurden.166 Erst die Weltwirtschaftskrise und die für die Kommunen fatale Kombination aus den astronomischen Kosten der Arbeitslosigkeit und der radikalen Kürzung der Steuerüberweisungen des Reiches durch die Regierung Brüning dämmten die Ausgabefreude der hochverschuldeten Städte ein.167 164 Vgl. Lieberman, Recovery, S. 60–79; vgl. auch Gruber, Red Vienna. 165 Oberbürgermeister der DDP: Gustav Böß (Berlin), Carl Wilhelm Petersen (Hamburg), Ludwig Landmann (Frankfurt), Otto Wagner (Breslau); des Zentrums: Konrad Adenauer (Köln), Franz Bracht (Essen); der BVP: Karl Scharnagl (München); der DVP: Bernhard Blüher (Dresden), Karl Rothe (Leipzig); der DNVP: Robert Lehr (Düsseldorf, seit 1929 Mitglied). Vgl. allgemein: Hofmann, Rathaus. Die nach wie vor beste Einzelstudie: Rebentisch, Landmann. 166 Vgl. Lieberman, Recovery, S. 84. 167 Die hier nicht zur Debatte stehende Solidität der Gemeindefinanzen und die volkswirtschaftliche Rationalität der Ausgabenexpansion werden in der Forschung unterschiedlich beurteilt: Harold James beklagt – die Kritik Schachts an der Verschwendungssucht der Städte fortschreibend – die »Gigantomanie« zahlreicher Prestigeprojekte und betont den hohen Anteil der Kommunen an der öffentlichen Neuverschuldung sowie die Verdrängung des privaten Kapitals. Jeremy Leaman hingegen zeigt, dass der Anteil der Kommunen an der gesamten Staatsverschuldung sich auch im Vergleich zur Vorkriegszeit in einem vertretbaren Rahmen hielt. Gerold Ambrosius weist zudem darauf hin, dass der Ausbau der Infrastruktur auch der Privatwirtschaft zugute gekommen sei und dass die zunehmend nach betriebswirtschaftlichen Prinzipien geführten städtischen Unternehmen und die vielen gemischtwirtschaftlichen Betriebe durchaus politischen Auftrag und privatwirtschaftliche Rationalität zu verbinden wussten. Einigkeit besteht allein darin, dass der Mangel an langfristigen Krediten den Kommunen in der Krise zum Verhängnis wurde. Vgl. James, Deutschland, S. 95–116, Zitat: S. 99; Leaman, Local State, S. 263–272; Ambrosius, Staat, S. 104 f.

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Woran lag es, dass die Grenzen der kommunalen Versorgungswirtschaft von der großen Mehrheit der politisch Verantwortlichen so weit gesteckt wurden? Zunächst einmal hatte man bei zwei zentralen Gütern, Wasser und Gas, bereits seit Jahrzehnten positive Erfahrungen mit einer zunehmenden Kommunalisierung der Betriebe gemacht. Schon lange galt es als vorteilhaft für die Gemeindefinanzen wie für eine hygienisch und sozialpolitisch gestaltete Stadtentwicklung, eine möglichst flächendeckende Versorgung herzustellen und ihre Erträge der kommunalen Selbstverwaltung zuzuführen; so waren bereits 1913 zwei Drittel der Gaswerke und über neunzig Prozent der Wasserwerke im Besitz der Kommunen.168 Beide Motive – das fiskalische und das »reforminterventionistische«169 – verstärkten sich noch nach dem Ersten Weltkrieg: Nicht nur hatten die Gemeinden, nachdem sie durch die Erzbergerschen Reformen in finanzielle Abhängigkeit vom Reich geraten waren, ein erhöhtes Interesse an zusätzlichen Einnahmen;170 auch das Argument der Verteilungsgerechtigkeit hatte an öffentlicher Wirksamkeit gewonnen. So gelang es beispielsweise den städtischen Wasserwerken in Berlin, einen Wassernotstand in Schöneberg und Steglitz im Sommer 1925 dazu zu nutzen, ihrem privaten Konkurrenten, den Charlottenburger Wasserwerken, diese von ihm belieferten Bezirke abzunehmen. Der Berliner Magistrat instrumentalisierte den Versorgungsengpass und wies in der Presse darüber hinaus auf die Unhaltbarkeit der verschieden hohen Tarife der beiden Anbieter hin, deren Vergleich die städtischen Werke als die verbraucherfreundlicheren erscheinen ließen.171 Außer dem Ausbau bekannter Versorgungszweige – Wasser, vor allem aber Gas und öffentlicher Nahverkehr – stießen die Kommunen seit dem Krieg in neue Bereiche vor, wie ein Blick auf die Milchversorgung der Städte während der Inflation zeigt. Nach der zeitgenössischen Dissertation von August Osthus, der, politisch ungebunden, eine umfangreiche Erhebung bei den Städten sowie unter den Milchproduzenten und -händlern durchführte, war auch hier die Erfolgsbilanz meist positiv.172 Angesichts der massiv geschrumpften Milchproduktion, die bis zum Jahr 1920 auf etwa die Hälfte des Standes von 1914 gesunken war, schien die Ausgangslage für eine gesicherte und hinreichende Belieferung der versorgungsberechtigten Kinder, stillenden Mütter und Kranken schlecht. Die zwangswirtschaftlichen Regelungen der Ablieferungspflichten und Höchstpreise hatten zudem in bekannter Weise produktionshemmend gewirkt: »Der eigentliche Zweck dieser Organisation, der Konsumentenschutz, konnte so nur auf Kosten der Produktion erreicht und durchgesetzt werden und damit war alleine schon der Lebensdauer der Zwangswirtschaft von vorneherein eine bestimmte Grenze gesetzt.«173 Das Ergebnis war die Verordnung über 168 Ebd., S. 41, 45. 169 Zu diesem Begriff vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 668. 170 Vgl. Stier, Staat, S. 303 f. 171 Ausführlicher dazu Eiden, Versorgungswirtschaft, S. 160 f. 172 Zum Folgenden vgl. Osthus, Milchversorgung, passim. 173 Ebd., S. 18.

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den Verkehr mit Milch vom 30. April 1921, die mit den Erzeugerhöchstpreisen aufräumte, aber zugleich den Milchhandel im Falle einer Unterversorgung unter weitreichende behördliche Kontrolle stellte. Während daraufhin die Landwirte und Molkereien sich in Produzentenvereinigungen zusammenschlossen und durch Absprachen deutliche Preiserhöhungen durchsetzten, erhöhten vielerorts Konzessionierungen, erzwungene Lieferungsverträge und Eingriffe in die Verbraucherpreise den Druck auf den Handel. Trotz der Teilliberalisierung konnte der Markt eine zuverlässige und flächendeckende Versorgung nicht gewährleisten. Die Erzeugerpreise stiegen, Berichte über durch Transportprobleme verdorbene Milch häuften sich, und der kleinteilige lokale Handel war vielerorts ineffizient oder gegenüber dem Kartell der Milchproduzenten machtlos. Die Städte griffen in die Organisation der Milch­ erfassung und -verteilung auf unterschiedliche Weise ein. Einige ließen die etablierten Beziehungen der freien Händler zu den Produzenten weiter bestehen und ergänzten sie lediglich durch ein System von lokalen Ausgleichs- und Sammelstellen, an die sich jene Einzelhändler wenden konnten, die nach Ausweis ihrer Kundenlisten zu wenig Milch erhalten hatten. Andere Städte versuchten, den Milchbezug zu verbessern, indem sie durch die Einrichtung von Sammelstellen auf dem Land weitere Liefergebiete mit kleinen Erzeugern erschlossen. Wieder andere Städte nahmen die gesamte Milchversorgung selbst in die Hand, ob als gemischtwirtschaftliche GmbH oder als vollständig kommunalisierter Regiebetrieb. Das hatte den Vorteil, dass sie den Produzenten als ein Monopol der Abnehmer gegenübertraten, und brachte zudem Rationalisierungseffekte mit sich: Bei der Konzessionierung der Milchhändler wurden jene verdrängt, die nur im Nebenberuf tätig waren; zusätzliche Molkereien in der Stadt führten zu hygienischen Verbesserungen; die Schwankungen zwischen milcharmen und -reichen Tagen und Stadtbezirken wurden abgemildert. Aus Osthus’ Resümee lässt sich ablesen, warum eine einschneidende Um­ gestaltung des Milchhandels in so vielen Kommunen Zustimmung fand: »Preisbildung und Hygiene sind die Kernpunkte des Milchversorgungsproblems. Das Wesen aller um diese beiden Punkte sich herumgruppierenden Forderungen und damit die Milchversorgungsfrage überhaupt könnte man kurz dahin kennzeichnen: den kürzesten Weg zu schaffen von der Produktion zum Konsum.«174 Das bedeutete, dass der so oft gescholtene »unnütze Zwischenhandel« die unmittelbare Zielscheibe der Kommunalisierungsbestrebungen bildete, während durch die Zusammenfassung der Händlerfunktion der Kommune als »Vertreterin der Konsumenten«175 auch eine neue Machtposition gegenüber den Produ174 Ebd., S. 154. 175 Ebd., S. 151. Dass nicht etwa nur die Arbeiterschaft, sondern die Allgemeinheit der städtischen Verbraucher Zielgruppe der Kommunalisierung sein sollten, betonten auch Ernst W. Fischer in seiner programmatischen Schrift »Die Verbraucher als Träger der Sozialwirtschaft« (Fischer, Verbraucher) sowie der Nationalökonom Wilhelm Stieda: »Nicht um eine Klasse der Gesellschaft aus unwürdigen Banden zu befreien, sondern um der gesamten

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zenten zuwuchs. Das Zusammentreffen dreier Reformvorhaben – Rationalisierung, Hygienisierung und verteilungsgerechte Grundversorgung  – beförderte mithin den Bedeutungszuwachs der Kommunen. Die Hyperinflation 1923 brachte die kommunale Daseinsvorsorge in finanzielle, nicht aber ideelle Bedrängnis. Eine Umfrage des Deutschen Städtetages aus dem September des Jahres meldete eine Reihe von erzwungenen Stilllegungen öffentlicher Einrichtungen. Krankenhäuser waren in 13 Städten, Kinder­gärten in 31, Bäder in 65 und Theater in 22 Städten ganz oder teilweise geschlossen worden.176 Nach der Währungsstabilisierung begannen die Städte umgehend mit dem Wiederaufbau, der bis zur Weltwirtschaftskrise weit über das zuvor erreichte Niveau hinausführen sollte. Die Tabelle 6, die aus den Statistischen Jahrbüchern deutscher Städte gewonnen wurde, lässt das Ausmaß der kommunalen Aktivität erkennen. Binnen weniger Jahre verbesserte sich die Wasser- und die Gasversorgung in den deutschen Großstädten durchschnittlich um knapp ein Fünftel; mit dem Straßenbahnverkehr wurde ein anderer Zweig der Infra­struktur noch erfolgreicher ausgebaut – die Zahl der beförderten Personen stieg, ebenfalls im Durchschnitt, zwischen 1924/25 und 1929/30 um mehr als die Hälfte. Schon das zeigt, dass es den Städten nicht nur um die traditionelle Grundversorgung, sondern um die Hebung des kollektiven Lebensstandards ging. Besonders deutlich wird das aber, wenn man auf die rasant gewachsene Anzahl von Sportplätzen schaut, die sich in manchen Städten vervielfachte, und berücksichtigt, dass allein zwischen 1927/28 und 1929/30 die städtischen Zuschüsse für Theater und Orchester um fast ein Viertel erhöht wurden. Natürlich sind diese Durchschnittsbildungen angesichts der extremen Unterschiede zwischen den einzelnen Städten nur begrenzt aussagekräftig; sie veranschaulichen aber den dynamischen Großtrend der kommunalen Aktivität, von dem es nur wenige Ausnahmen gab. Eine solche Statistik sollte vor allem in eine Vorstellung davon transponiert werden, wie sich die Lebensbedingungen in den Großstädten durch die Leistungssteigerung bei solchen Gütern verändert haben, deren möglichst breite Nutzung das Ziel der Behörden war. Berücksichtigt man noch die voranschreitende Elektrifizierung der Städte177 und die zahlreicher werdenden Schwimmbäder und Grünflächen, lässt sich die Reihe der materiellen Verbesserungen dahingehend zusammenfassen, dass das Wohnen für viele gesünder und bequemer, der Arbeitsweg wie der WochenendausGesellschaft, deren Lebensbedingungen erschüttert zu sein scheinen, einen wesentlichen Dienst leisten zu können, sind diese Vergesellschaftungsprozesse entstanden.« (Stieda, Zukunft, S. 10) 176 Finanznot und Niedergang der städtischen Kultur- und Wohlfahrtseinrichtungen, in: Mitteilungen des Deutschen Städtetages 11 (1924), Sp. 26–28. Vgl. aber auch Reulecke, Auswirkungen, S. 112 f. 177 Diese wurde hier vor allem deshalb außer Acht gelassen, weil sie nur partiell in der Hand der Kommunen lag, während die privaten Konzerne, das Reich und vor allem »Preußen als Unternehmer« wichtigere Rollen spielten. Vgl. dazu Winkler, Preußen; sowie vor allem Stier, Staat, S. 287–324.

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Tab. 6: Kommunale Leistungsentwicklung in deutschen Großstädten (über 200.000 Einwohner) bis zur Weltwirtschaftskrise Wasserversorgung: Zahl der angeschlossenen Grundstücke 1923/24–1929/30 absolut in % 65.031 34 87.171 29.777 6 31.485 k.A.  – 53.418 20.495 – k.A. 23.402 7 25.031 23.484 20 28.110 16.116 13 18.263 17.883 20 21.440 21.004 18 24.700 10.530 16 12.243 9.300 17 10.921 37.904 26 47.909 5.921 32 7.814 12.191 41 17.186 12.000 – 11 10.599

Berlin Hamburg Köln München Leipzig Dresden Hannover Nürnberg Stuttgart Chemnitz Magdeburg Bremen Stettin Mannheim Kiel Durchschnittliches Wachstum

Gasversorgung: Gasabgabe pro Einwohner (in cbm) 1924/25–1929/30 absolut in % 90 71 154 136 4 141 93 2 95 73 12 82 80 20 96 110 4 114 99 17 116 100 14 124 150 3 155 90 8 97 58 33 77 136 2 139 51 41 72 109 32 144 133 13 150

19,9

18,4

Quelle: Eigene Berechnung nach Statist. Jb. dt. Städte 22 (1927), S. 100 f., 370, 183, 511 f.; ebd. 24 (1929), S. 310; ebd. 26 (1931), S. 109 f., 134, 189 f., 260 f., 281. Anmerkung: Die Auswahl repräsentiert die Mehrzahl der im Statistischen Jahrbuch deutscher Städte zwischen 1924 und 1930 in der Gruppe A klassifizierten Großstädte mit über 200.000 Einwohnern. Es fehlen Städte, die entweder erst während dieses Zeitraums in diese

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Zahl der Sportplätze

1924/25–April 1930 absolut in % 128 27 163 46 89 87 41 566 273 14 143 34 25 – 20 20 23 74 40 44 168 118 8 38 11 11 591 76 12  – k.A. 15 87 28 34 59 54 4 500 24 22 – 36 14 10 0 10

Berlin Hamburg Köln München Leipzig Dresden Hannover Nürnberg Stuttgart Chemnitz Magdeburg Bremen Stettin Mannheim Kiel Durchschnittliches Wachstum

163,3

Straßenbahnverkehr: Zahl der beförderten Personen (in 1.000) 1924/25–1929/30 absolut in % 531.740 75 930.417 229.195 2 233.058 185.077  – 1 183.163 162.925 11 180.962 132.345 22 161.585 152.981 20 184.180 48.169 57 75.494 59.715 75 104.234 70.813 73 122.646 37.350 71 63.959 30.463 100 60.815 60.780 35 82.264 15.140 123 33.818 31.620 33 41.971 16.659 77 29.525

Theater und Orchester: Zuschüsse der Stadt pro Einwohner (in RM) 1927/28–1929/30 absolut in % 0,65 25 0,81 1,90 22 2,32 3,61 23 4,44 1,25 83 2,29 1,92 32 2,54 1,16 51 1,75 4,28 13 4,83 3,46 24 4,30 1,83 23 2,25 2,23 56 3,47 3,15 9 3,44 2,94 –2 2,87 1,81 12 2,02 7,04 1 7,15 3,51 – 21 2,79

51,5

23,4

Kategorie aufrückten oder die durch größere Eingemeindungen ein die Statistik nach oben verzerrendes Wachstum verzeichnen würden: Breslau, Dortmund, Düsseldorf, Duisburg, Essen, Frankfurt/M., Gelsenkirchen, Königsberg, Wuppertal. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurde ferner auf die Angabe verzichtet, ob die Zahlen sich auf Kalender- oder Rechnungsjahre beziehen.

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flug leichter und die Freizeit sowohl sportlicher als auch hinsichtlich des kulturellen Angebots interessanter wurde. Sicher: Für die meisten dieser öffentlich bereitgestellten Güter war von den Verbrauchern noch ein Preis zu entrichten, und in den Stadtverwaltungen und den Versorgungsbetrieben wurde unablässig um die Höhe der Tarife gerungen, ob es sich um den Wasserpreis oder den Eintritt ins Theater handelte.178 Es ist zu bedenken, dass sich bei der Aneignung der kommunalen Leistungen einkommensbedingte Unterschiede ebenso wie schichtspezifische Präferenzen zeigten; waren die Arbeiter auf den Sportplätzen überdurchschnittlich vertreten, waren sie es im Theater unterdurchschnittlich. Dennoch wirkten die oben genannten Angebote – anders als das beim Reformwohnungsbau oft der Fall war – nicht massiv sozial exkludierend, was nicht zuletzt daran lag, dass besonders in den Mitte-Links-Parteien das Bewusstsein für ihren demokratischen Auftrag ausgeprägt war.179 Kurz: Das städtische Leben wurde durch die kommunalen Leistungen für breite Verbraucherschichten gesünder, mobiler und unterhaltsamer. Die hier skizzierte Daseinsvorsorge wurde freilich nicht nur real ausgeweitet, sondern, diesen Prozess begleitend und vorantreibend, auch imaginativ. Die materiellen Bedingungen jenes »menschenwürdigen Daseins«, zu dessen Sicherung die Weimarer Verfassung sich bekannte, wurden diskursiv erweitert und zunehmend an einer Vision des guten Lebens ausgerichtet. Diese Vision fand in zahlreichen großen Ausstellungen ihren publikumswirksamen Ausdruck. Besonders eindrucksvoll geschah das in der Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen (Gesolei), die zwischen Mai und Oktober 1926 in Düsseldorf stattfand und mit insgesamt rund 7,5 Millionen Zuschauern – durchschnittlich mehr als 47.000 pro Tag – die erfolgreichste ihrer Art in der Weimarer Republik war.180 Die heute gut dokumentierte sozialhygienische und fürsorgerische Leistungsschau verdeutlicht, warum die Verbesserung der allgemeinen materiellen Lebensbedingungen in der Zwischenkriegszeit zu einem so wichtigen Politikziel aufstieg.181 Reichskanzler Luther gab in seiner Eröffnungsansprache die »Pflege des deutschen Menschen« als Leitmotiv der Ausstellung aus.182 Diese Pflege hatte sich in den drei titelgebenden Bereichen, der öffentlichen Gesundheitspflege, der Fürsorge und des Sports, zu vollziehen und war dem produktivistischen Ethos einer sich zum Wiederaufbau bekennenden politisch-ökonomischen Elite verpflichtet: Wenn nur durch Arbeit und Leistung Deutschland sich aus seiner Verarmung retten konnte, musste Sorge dafür getragen werden, dass optimale Bedingungen für die Leistungsfähigkeit geschaffen wurden. 178 Wegen der erheblichen Preisunterschiede zwischen den Städten, die zudem mit den unterschiedlichen Lebenshaltungskosten in Beziehung zu setzen wären, wird hier auf eine generalisierende Betrachtung verzichtet. 179 Vgl. Lieberman, Recovery, S. 138–159. 180 Die Zahlen aus: Wiener, Gesolei, S. 8. 181 Vgl. Kunst, Sport und Körper; Wiener, Gesolei; Schlossmann, Ge-So-Lei. 182 Ebd., Bd. 1, S. 283.

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Daher skizzierte der Düsseldorfer Industrielle und einflussreiche Arbeitgebervertreter, Ernst Poensgen, das Ziel der Ausstellung folgendermaßen: »Rationelle Menschenwirtschaft, zweckmäßige Einteilung von Arbeit und Erholung, Erhaltung und Erhöhung der Arbeitsfähigkeit, das sind die Dinge, deren Kenntnis uns die Gesolei vermitteln wollte.«183 Aus diesem Zitat wie aus den Intentionen der Ausstellungsmacher spricht unverkennbar ein humanwissenschaftlicher Erziehungsimpetus, der zuletzt aus einer körperhistorischen Perspektive auf die »Gesolei« durchaus zurecht betont worden ist.184 Jedoch dürfte damit nur eine der möglichen Botschaften, die von der so populären Ausstellung ausgingen, erfasst sein, eine andere, um die es hier gehen soll, lag in der Demonstration des materiell Möglichen, in einem optimistischen Bekenntnis zur gezielten Steigerung des Lebensstandards, auch wenn sich diese an sozialhygienischen Normen zu orientieren hatte. Bereits die überschwängliche Presseberichterstattung lässt erkennen, dass das Erziehungsprogramm keineswegs die äußere Wahrnehmung dominierte. Für das Berliner Tageblatt war die »Gesolei« einfach die »schönste, reichste und gewaltigste Schau« der letzten Jahrzehnte, und die Frankfurter Zeitung prä­ zisierte: »Aus der Gesolei spricht ein geradezu leidenschaftliches Verlangen zur Bekämpfung aller Krankheiten und aller lebensverkürzenden Verhältnisse, ein leidenschaftliches Verlangen zu bessern, das Leben menschenwürdiger und fröh­licher zu machen, jedem so viel Sonne, Erholung, Spiel zu bringen, wie die Fron des Tages nur freigeben kann.«185 Auch wenn dies nach einem Versprechen von blühenden Landschaften klang, war doch das Bemerkenswerte, dass die Vision der »Gesolei« weniger mit utopischem Gestus auftrat, sondern sich vielmehr als konkretes Reformprojekt präsentierte, und dass die gestiegenen Erwartungen an den Lebensstandard im Tonfall der Notwendigkeit vorgetragen und als Bestandteil der Staat, Wissenschaft und Wirtschaft gemeinsam zukommenden Verantwortung für die Grundversorgung der Staatsbürger kommuniziert wurden. Daher war das Referenzsubjekt der Ausstellung auch »der Mensch« und nicht mehr der Arbeiter wie noch überwiegend in der Sozial­ reform des Kaiserreichs. Der Blick in eine der umfangreichsten Unterabteilungen der Ausstellung, die für »Wohnung und Siedlung«, verdeutlicht, dass hier eine Wiederaufnahme des Diskurses vom wissenschaftlich-technischen Fortschritt stattfand, der von den Zerstörungen des Ersten Weltkriegs unterbrochen worden war. Die einzelnen Abteilungen für Wasserversorgung, Gas und Elektrizität, Lichttechnik und Heizung, öffentlichen Verkehr, Abfallentsorgung, Feuerbekämpfung, Straßenbau, Siedlungsplanung und Friedhofswesen verweisen auf die Bedeutung der kommunalen Leistungsverwaltung in diesem Kontext. In vielen dieser Be183 Poensgen, Bedeutung, S. 16. 184 Vgl. die entsprechenden Beiträge in: Kunst, Sport und Körper, Bd. 2. 185 Berliner Tageblatt, 8.5.1926; Frankfurter Zeitung, Nr. 342, 8.5.1926. Weitere Pressereak­ tionen in: Schlossmann, Ge-So-Lei, Bd. 1, S. 197–199.

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reiche waren aufwendig gestaltete Modelle, Dioramen und Schaubilder  – wie etwa aus dem Deutschen Hygienemuseum in Dresden – zu sehen, die den historischen Verlauf vieler infrastruktureller Entwicklungen darstellten und damit das Narrativ des zivilisatorischen Fortschritts bedienten. Die weit mehr von wissenschaftlichen und städtischen als von privatwirtschaftlichen Trägern bestückte Leistungsschau gipfelte in der Regel in der Repräsentation jener jüngsten Errungenschaften, die noch nicht allgemeine Verfügbarkeit erlangt hatten, deren massenhafte Verbreitung aber durch ihre Einbettung in das Fortschrittsmodell in Aussicht gestellt wurde. Das galt für die modernen Wohn- und Siedlungsformen, für Grünflächen und Kleingärten, für Sanitäranlagen und elektrische Haushaltsgeräte.186 Nicht nur auf der Ebene des Repräsentierten, sondern auch durch ihre besondere performative Qualität trug die »Gesolei« dazu bei, den Anspruch auf einen durch städtische Leistungen erhöhten Lebensstandard zu vermitteln. Die »Gesolei« war bei aller Wissensvermittlung und Erziehungsabsicht zugleich eine Freizeitattraktion ersten Ranges. Darüber hatte es zwar im Vorfeld erhebliche Auseinandersetzungen etwa mit alkoholgegnerischen Vereinen gegeben, die darauf hinwiesen, dass man unmöglich in den Ausstellungshallen für eine gesunde Lebensführung werben und die Besucher danach zur Erholung in eine der zahlreichen Gaststätten mit Wein- und Bierausschank schicken könne. Jedoch: Die ganze Sache musste auch finanziert werden, und in realistischer Beurteilung der erhöhten Publikumswirksamkeit setzten sich die Planer auf der ganzen Linie durch. Schließlich nahm ein Vergnügungspark – mit dem gesamten Brimborium von Achterbahnen und Schießständen  – einen Großteil der Ausstellungsfläche ein, eine »Liliputbahn« führte die Besucher über das Gelände, in einem kostenlosen (und stets voll besetzten) Kino liefen neben Kultur- und Lehrfilmen auch Werbestreifen und Trickfilme, mehrmals täglich gab es Konzerte von Orchestern, Kapellen und Gesangvereinen. Gerade im Bereich der einträglichen Gastronomie sollten keine Wünsche offen bleiben, und so schuf man eine ganze Reihe von Restaurants und Cafés für alle sozialen Schichten: von den mondänen Rheinterrassen bis zum günstigen Volksspeisehaus, in dem man bereits für 60 Pf. ein Fisch- oder Fleischgericht bekam. Auch die regionalisierende Erlebnisgastronomie fehlte nicht: Im »Alpendorf« und im »Oberbayern« scheint die Stimmung schon damals bestens gewesen zu sein. Als herausragende Attraktionen wurden ein Planetarium und ein Wellenbad erbaut und, um die Besucher »abends so lange wie möglich auf dem Ausstellungs­ gelände festhalten« zu können, gab es die effektvoll eingesetzte elektrische Beleuchtung, die in zahlreichen Städten seit Mitte der zwanziger Jahre zum touristischen Anziehungspunkt wurde.187 186 Vgl. Freese, Wohnung, S. 493–524. 187 Vgl. Lux, Gaststätten, S. 356–372 (Zitat: S. 356). Aus dem Faszinosum der elektrischen Beleuchtung entwickelte sich ein eigenes Veranstaltungsgenre: Frankfurter Lichtfest 1927, Berlin im Licht 1928, Hamburg im Licht 1931. Vgl. dazu Ward, Weimar Surfaces, S. 101–110.

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Kurz: Während die »Gesolei« die Normen einer rationalen Gestaltung der materiellen Lebenswelt präsentierte, erweiterte sie als Freizeitereignis in actu das Spektrum der städtischen Aufgaben: Dazu gehörte nun mehr und mehr auch die Schaffung eines massenkulturellen Erlebnisraums. Sicherlich wird man nicht behaupten wollen, dass die Städte zu einem derartigen Engagement verpflichtet gewesen wären, und doch zeigt das lebendige Ausstellungswesen in der Wiederaufbauperiode der Weimarer Republik, dass die Leitbilder eines kollektiv erreichbaren Lebensstandards durch die Dynamik der kommunalen Akteure in Bewegung gerieten. Anders als die insgesamt erfolgreiche Ausweitung der kommunalen Daseinsvorsorge war die Preispolitik, der zweite konsumpolitische Weg zur Sicherung der Grundversorgung, ein Fiasko. Das Dilemma der Preispolitik bestand darin, dass sie einerseits in der städtischen Verbraucherschaft populär war, andererseits die Mehrzahl der Interventionsversuche fast wirkungslos verpuffte. Der Weimarer Staat nahm die gesellschaftlichen Erwartungen an stabile und erschwing­liche Preise auf, verstärkte und enttäuschte sie durch eine Vielzahl fehlgeschlagener behördlicher Maßnahmen zur Preiskontrolle und Wucherver­folgung, durch Preissenkungsaktionen und schließlich durch die Berufung eines ebenfalls nur begrenzt erfolgreichen Reichskommissars für Preisüber­wachung. Bislang ist in der Historiographie zur Weimarer Republik die Inflationszeit als Hochphase der Preispolitik in Erscheinung getreten und insbesondere durch die Arbeiten von Martin H. Geyer der Wucherdiskurs als Reaktion auf eine aus den Fugen geratene Wirtschafts-und Sozialordnung interpretiert worden. So zutreffend das auch ist, sollte nicht übersehen werden, dass der durch Krieg und Inflation geschaffene politische Impuls zur Preisregulierung sich in der Zwischenkriegszeit – und darüber hinaus188 – als äußerst langlebig erwies. Wie ein roter Faden zieht sich eine Kette preispolitischer Maßnahmen durch die ganze Weimarer Republik und band den Staat an eine weitere demokratische Selbstverpflichtung, die nicht einzuhalten war. Während der Inflation ruhte die Preispolitik im wesentlichen auf zwei Säulen, dem Preistreibereistrafrecht und den Wuchergerichten, welche die ganze Crux der »halb freien, halb interventionistisch geprägten Wirtschaft«189 offenbarten. Das Preistreibereistrafrecht hatte sich während des Krieges durch eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen sowie durch die Entscheidungen des Reichsgerichts herausgebildet und war in der Verordnung gegen Preistreiberei vom 8. Mai 1918 (PrTrVO) gebündelt worden, deren materielle Bestimmungen bis zum 19. Juli 1926 Bestand hatten. Die Wuchergerichte, die ein beschleunigtes Verfahren der vermeintlich eindeutigen Fälle von Preistreiberei durchführten, wurden durch die Verordnung über Sondergerichte gegen Schleichhandel

188 Vgl. Steiner, Preispolitik. 189 Nörr, Mühlsteinen, S. 18.

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und Preistreiberei vom 27. November 1919 eingerichtet und bestanden bis zum 1. April 1924.190 Es machte sich strafbar, wer für »Gegenstände des täglichen Bedarfs […] Preise fordert, die unter Berücksichtigung der gesamten Verhältnisse einen übermäßigen Gewinn enthalten«.191 In diesem Fall drohten eine Gefängnisstrafe und/oder eine hohe Geldstrafe. Das Hauptproblem dieser Verordnung bestand darin, dass sie mit Begriffen operierte, die kaum judiziabel waren und über deren Bedeutung sowohl in der nationalökonomisch-juristischen Fachwelt192 als auch zwischen den Interessenverbänden des Handels und der Konsumenten heftig gestritten wurde. Erstens hatte der Gesetzgeber die »Gegenstände des täglichen Bedarfs« undefiniert gelassen, was zu einer großen Unsicherheit in der Rechtsprechung und im Ergebnis zu einer immer weiteren Ausdehnung des Gegenstandsbereichs führte. Im Juni 1922 sah sich das RWM schließlich gezwungen, ein Verzeichnis von etwa 1.000 Gegenständen zu veröffentlichen, doch auch dort hieß es noch, dass eine erschöpfende Aufzählung unmöglich sei. Das bedeutete für die mit der Preisprüfung befasste Bürokratie, dass sie ständig die Urteile der Gerichte über den Geltungsbereich der Verordnung zu verfolgen hatte.193 Als bei deren Neufassung im Juli 1923 auch noch überhöhte Preise bei Dienstleistungen unter Strafe gestellt wurden, drang die Preisüberwachung in praktisch alle Bereiche des Wirtschaftslebens ein. Die zweite Formulierung der PrTrVO, die unscharf und hoch umstritten war, betraf den »übermäßigen Gewinn«, der »unter Berücksichtigung der gesamten Verhältnisse« zu beurteilen war. Das RWM und das Reichsgericht, die über Leitlinien und Auslegung der Preispolitik entschieden, wollten diesen dehn­baren Paragraphen so verstanden wissen, dass zur Beurteilung des Gewinns die »individuellen Gestehungskosten« berechnet werden mussten. Damit war den Preis­ prüfungsstellen, den Gerichten und  – zumindest in der Theorie  – auch dem Handel eine Herkulesaufgabe gestellt: Die Gestehungskosten umfassten nicht nur den Einkaufspreis der Ware, sondern auch den nur schätzungsweise zu ermittelnden Anteil, den die einzelne Transaktion an den gesamten Betriebs­ 190 Die PrTrVO wurde in den notwirtschaftlichen Verordnungen vom 13.7.1923 noch einmal, mit einigen Ergänzungen, neu kodifiziert. (Vgl. Schäfer, Preistreibereirecht) Erst am 26.6.1926 entschied sich der Reichstag zur Aufhebung dieser Verordnungen – mit einer Mehrheit von 174 gegen immerhin noch 111 Stimmen. (StenBerRT Bd. 390, S. 7587; AdR Luther I/II, Bd. 1, S. 427 f.) Zur WuchergerichtsVO: RGBl. 1919, Nr. 228, S. 1909–1915. 191 RGBl. 1918, S. 395. 192 Vgl. Lehmann, Begriff; Muhs, Preispolitik; Alsberg, Preistreibereistrafrecht; Geithe, Wirkungen; eine Zusammenstellung der Gesetze und Verordnungen inklusive Kommentaren bei Falck, Preistreiberei; Schäfer, Preistreibereirecht. 193 Auch das Reichsgericht hielt eine trennscharfe Definition für unmöglich. Nach einem Urteil, das Bücher zu den täglichen Bedarfsgegenständen zählte, genügte es, »wenn die Nachfrage dauernd in weiten Kreisen der Bevölkerung besteht«. (MfP 1922, Nr. 4, S. 28) Vgl. Begründung des dem Bundesrat vorgelegten Entwurfes einer VO gegen Preistreiberei, in: Falck, Preistreiberei, S. 14; Verzeichnis von Gegenständen des täglichen Bedarfs, in: MfP 1922, Nr. 6, S. 42; Alsberg, Preistreibereistrafrecht, S. 111–121; Geithe, Wirkungen, S. 99.

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unkosten (inklusive Kapitalzins, Risikoeinlagen, Unternehmerlohn) hatte. Zog man die Gestehungskosten vom Verkaufspreis ab, ergab sich der »Reingewinn«, der als angemessen galt, wenn er dem Betrag entsprach, der bei einem gleichartigen Geschäft vor dem Krieg üblich gewesen war. Der bekannte Strafverteidiger Max Alsberg, ein Experte in der Wuchergesetzgebung, kommentierte dazu: »Wer einer solchen Rechtsprechung nachleben will, muß Jura und Nationalökonomie studiert haben, drei Viertel des Tages, anstatt einzukaufen und zu verkaufen, nach der Methode des Reichsgerichtes die Preise berechnen und dennoch in der ständigen Angst leben, daß er vor einen Richter gebracht wird, der das Gesetz anders auslegt, als er es aufgefaßt hat.«194 Die Verbraucher vor der Abwälzung der Inflationspreise durch den Einzelhandel zu schützen lag in der Absicht der kaum umsetzbaren Vorschriften, die den Marktpreis als Kalkulationsgrundlage ausschalteten; der Effekt jedoch war die massenhafte Nichtbefolgung der Verordnung durch den Handel, der die Geldentwertung in seine Preise einzurechnen hatte, sollte nicht der Ausverkauf des Geschäfts stattfinden. Dennoch sträubten sich die für die Preis­ politik Verantwortlichen lange Zeit, die Auslegung der PrTrVO zu reformieren. Im Jahr 1921 konzedierten Reichsgericht und RWM lediglich, dass der Marktpreis eine »beschränkte Berücksichtigung« finden dürfe. Nur wenn für eine Ware eine normale, durch ein relativ ausgeglichenes Verhältnis von Angebot und Nachfrage gekennzeichnete Marktlage bestand, sollte ein Mischpreis aus Einkaufs- und Verkaufspreis berechnet werden, der die Kosten des Geldwertverlusts »unter Händler und Verbraucher« aufteilen würde.195 Bestand hingegen eine »Notmarktlage«, die der Richter am Fehlen gleichwertiger Angebote zu ähnlichen Preisen erkennen sollte, galt weiterhin die auf dem Einkaufspreis beruhende Gestehungskostenrechnung. Damit war eine weitere nach vagen ökonomischen Kriterien zu treffende Unterscheidung in die Hände der Justiz gelegt und eine uneinheitliche Spruchpraxis die Folge. Erst am 19. Dezember 1922 revidierte das Reichsgericht seine früheren Entscheidungen und erklärte die volle Berücksichtigung des Marktpreises für zulässig, hielt aber zugleich an der Unterscheidung von normaler Marktlage und Notmarktlage fest.196 Aus den Protokollen der Tagung der Landes-, Provinzial- und Bezirkspreis­ prüfungsstellen vom Mai 1922 wird deutlich, warum die Preiskontrollen so zäh verteidigt wurden. Illusionen über die mangelhafte Durchführbarkeit der Bestimmungen machte sich zwar keiner der dort anwesenden Bürokraten und Politiker. Im Gegenteil wurden sämtliche Implementierungsprobleme anerkannt: die schwammige Begrifflichkeit, die Willkür der Richter, die Klagen 194 Zit. n. ebd., S. 135. Vgl zudem ebd., S. 100–135; Alsberg, Preistreibereistrafrecht, S. 53–62. 195 Reichsgericht, 7.7.1921, zit. n. Wodtke, Der gegenwärtige Stand des Preistreibereirechts, in: MfP 1922, Nr. 9, S. 65. 196 Vgl. Das Reichsgericht über die Preisbemessung gemäß § 1 Nr. 1 der PrTrVO, in: MfP 1923, Nr. 1, S. 1–3; Grundsätze über die Feststellung des angemessenen Preises gemäß § 1 Nr. 1 der PrTrVO, in: MfP 1922, Nr. 12, S. 89–91.

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des Handels über Rechtsunsicherheit und die der Verbraucher über lasche Bestrafung. Jedoch war die große Mehrheit, in Übereinstimmung mit der Regierung Wirth,197 der Ansicht, dass eine substantielle Änderung oder gar Abschaffung der PrTrVO »aus politischen Gründen« unmöglich sei, »weil das in der gegenwärtigen Zeit von der Verbraucherschaft nicht verstanden werden würde«. Mochte eine nicht funktionierende Preispolitik unpopulär sein, noch unpopulärer wäre es dieser Meinung nach gewesen, auch die bloße Drohkulisse der Preisüberwachung zu demontieren. Nur wenige Vertreter sprachen sich dafür aus, nicht länger »mit Polizeimitteln die Volkswirtschaft beeinflussen« zu wollen und die Öffentlichkeit wissen zu lassen, dass man »dem kaufenden Publikum etwas versprochen hat, was man nun nicht halten kann«. Währenddessen ließ der Vorsitzende, Ministerialdirektor Hüttenhein vom RWM, erkennen, dass einmal geschaffene Bürokratien sich mit ihrer Selbstauflösung schwer tun: Angesichts der im Jahr 1921 verbesserten Wirtschaftslage konstatierte er in der Rückschau eine »resignierte Stimmung« in ihrer Runde, da der Sinn der Preisbehörden unter den stabileren Verhältnissen immer mehr in Frage stand.198 Die zahlreichen Strafbestimmungen zeitigten in der Praxis der Preisprüfungsstellen und der Wuchergerichte ambivalente Wirkungen. Eine hohe Zahl von Wucherverfahren stand einem eher geringen Anteil von hohen Geldstrafen und einer verschwindenden Zahl von Zuchthausstrafen gegenüber. Zudem ging das Verfahrensaufkommen zwischen 1920 und 1922 deutlich zurück, und der Anteil der Freisprüche stieg.199 Damit erwies sich auch der »angemessene Preis«, auf dem das Preistreibereistrafrecht beruhte, als ein Erwartungsbegriff, der das unhaltbare Versprechen transportierte, die Preisbildung mit der sukzessiven Aufhebung der Zwangswirtschaft freigeben und dennoch das Preisniveau staatlich kontrollieren zu können. Im Ergebnis – darin waren sich fast alle Preis­politiker einig  – war der Einzelhandel ob der Rechtsunsicherheit ebenso frustriert wie die Verbraucher ob der Zahnlosigkeit der Gesetze. Neben der uneindeutigen Rechtslage gab es vor allem zwei Gründe für die schwankende und hinsichtlich des Strafmaßes insgesamt milde Spruchpraxis: Zum einen waren die Wuchergerichte gehalten, möglichst frühzeitig Sachverständige hinzuzuziehen, die aber von den Gewerbekammern vorgeschlagen werden konnten. Dass diese bei der Beurteilung der vorgeschriebenen Preisbemessung, die so fundamental den privatwirtschaftlichen Kalkulationsmethoden widersprach, kaum als unparteiisch gelten konnten, überrascht nicht. Zum anderen registrierten 197 Vgl. StenBerRT Bd. 356, 14.7.1922, S. 8562, 8575. 198 Vgl. Sten. Prot. der 13. Tagung der Landes-, Provinzial- und Bezirkspreisprüfungsstellen am 23./24.5.1922 in Dresden, BA, R 3101, 12054, S. 1–111, Zitate: S. 93 f., 29 f., 36, 2. 199 Die Zahl der reichsweit vor den Wuchergerichten anhängig gemachten Verfahren sank von 27.524 (1920) auf 13.919 (1922), die Quote der Freisprüche stieg in diesem Zeitraum von 10,9 Prozent auf 25,5 Prozent. Vgl. Die Geschäfte der deutschen Wuchergerichte im Jahre 1922, in: Deutsche Juristen-Zeitung 28 (1923), H. 15/16, S. 468; zudem: Tätigkeit der Wuchergerichte im Kalenderjahr 1921, in: MfP 1922, Nr. 7, S. 53; Tätigkeit der Wuchergerichte im Kalenderjahr 1922, in: MfP 1923, Nr. 5, S. 34.

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die Behörden, dass die Verbraucher selbst vielerorts den nötigen Eifer vermissen ließen und Preisüberschreitungen nicht zur Anzeige brachten. Je kleiner eine Ortschaft und je personalisierter die traditionellen Beziehungen zwischen den Einzelhändlern und ihrer Kundschaft, desto geringer war in der Regel die Bereitschaft, einen Prozess anzustrengen. So wurden im Jahr 1922 in Hamburg mehr als doppelt so viele Wucherverfahren anhängig wie in den ländlich strukturierten Ländern Baden, Thüringen und Hessen zusammen.200 Als sich die Inflation im Sommer 1922 zu beschleunigen begann, drehte der Wind  – aus unterschiedlichen politischen Richtungen  – wieder in die Richtung einer Verschärfung der gesetzlichen Wucherbestimmungen. Im Juli beschloss der Reichstag, dass in der Tageszeitung und durch Anschläge öffentlich bekanntzugeben war, wenn ein Händler zu Gefängnis von drei Monaten oder einer Geldstrafe von 50.000 RM verurteilt worden war. Im September verlangte eine Denkschrift der Bayerischen Regierung erneut eine konsequentere Wucherverfolgung, und auch die Gewerkschaften drängten darauf bei einer Besprechung im Reichsarbeitsministerium im Februar 1923. Auf diese Forderungen reagierte der Reichstag mit dem Notgesetz vom 24. Februar 1923, das die Strafen noch einmal verschärfte, und die Regierung Cuno mit einem Rundschreiben an die Landesregierungen, das diese anwies, die Zulassungen der Einzelhändler sowie deren Pflicht zur Ausschilderung der Preise zu überprüfen, die Wuchergerichte auszubauen und die Option der Notmarktlage zu berücksichtigen.201 Dennoch hat alles das dem Einzelhandel wirtschaftlich kaum geschadet: Aus einer Untersuchung der Betriebsunkosten sowie der Spanne zwischen Groß- und Kleinhandelspreisen ergibt sich bereits für die Inflationsjahre ein günstiges Bild. Wenn zudem die gewerblichen Betriebszählungen von 1907 und 200 Protokoll der Sitzung v. 10.12.1920 über die Abänderung der Preisprüfungsstellen-Verordnung im RWM, BA, R 3901, 10552, Bl. 161–175; Niederschrift über die Tagung der Preisprüfungsstellen der alt- und neubesetzten Gebiete am 20./21.3.1923 im Oberpräsidium in Münster/Westf., ebd. 34072, Nr. 3039, Bl. 139–161; Rundschreiben des RWM und des RJM an die Landesregierungen, 16.12.1922, in: Schäfer, Preistreibereirecht, S.  317; Coenders, Aus der Arbeit eines Wuchergerichts, in: Reichsarbeitsblatt (Nichtamtl. Teil), 1922, Nr. 2, S. 57–59; Die Geschäfte der deutschen Wuchergerichte im Jahre 1922, in: Deutsche Juristen-Zeitung 28 (1923), H. 15/16, S. 468; Das Attentat auf die Taschen der Verbraucher, in: Vorwärts, 12.9.1922; Grzesinski, Kampf, S. 169; Paulus, Volks- und Wuchergerichte. 201 Vgl. Entwurf eines Gesetzes über die öffentliche Bekanntmachung von Verurteilungen wegen Preistreiberei, Schleichhandels, verbotener Ausfuhr lebenswichtiger Gegenstände und unzulässigen Handels, StenBerRT Bd. 373, Anlage Nr. 4274, S. 4637 f.; ebd., Bd. 356, S. 8561–8575 (14.7.1922); Denkschrift der Bayerischen Regierung zur Bekämpfung der Teuerung, 29.9.1922 (BA, R 43 I, 1260, Bl. 284–297); Ergebnis der Besprechung im RAM am 3.2.1923 zwischen Vertretern der Gewerkschaften und Vertretern der Reichs- und Preußischen Ressorts (BA, R 3901, 34072, Nr. 3039, Bl. 15 f.); Notgesetz v. 24.2.1923 (RGBl. 1923, Teil 1, Nr. 15, S. 147–51); Anregungen zur wirksameren Bekämpfung der Preistreiberei, in: MfP 1923, Nr. 2, S. 7–9. Bayern trat freilich bereits seit 1920 für eine Verschärfung der Gesetze ein. Geyer, Welt, S. 198, weist für München im Jahr 1923 einen deutlichen Anstieg der Wucherverfahren nach; für das Reich liegen keine Zahlen vor.

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1925 verglichen werden, stellt man fest, wie überdurchschnittlich das Handelsgewerbe in diesem Zeitraum, der Zahl der Betriebe wie der beschäftigten Personen nach, wuchs: nämlich jeweils um rund sechzig Prozent, während die entsprechenden Zahlen für das gesamte Gewerbe (Industrie, Handwerk, Handel und Verkehr) bei 14 bzw. 28 Prozent lagen.202 Die Preispolitik der Inflationszeit, als deren Zweck explizit der Verbraucherschutz ausgegeben wurde, musste ihr Ziel verfehlen, den Anstieg des gesamten Preisniveaus zu mäßigen, da sie mit untauglichen Mitteln arbeitete. Die Überdehnung und Überlastung der Preiskontrollen war populistischen Spekulationen geschuldet, welche die Suche nach indirekten, aber aussichtsreicheren Methoden der Inflationsbekämpfung blockierten, wie sie vor allem im Bereich der Geld- und der Fiskalpolitik gelegen hätten.203 Zukunftsträchtiger und doch in seiner unmittelbaren Wirkung ebenfalls beschränkt war ein anderer Weg der Preispolitik, der mit der Verabschiedung des ersten deutschen Kartellgesetzes, der Verordnung gegen Mißbrauch wirtschaftlicher Machtstellungen (KartellVO), beschritten wurde. Auch an den Anfängen einer Wettbewerbspolitik, die als solche erst nach dem Zweiten Weltkrieg gezielt verfolgt wurde, stand eine konsumpolitische Initiative, die den Verbraucher als Schutzobjekt in den Mittelpunkt rückte.204 Die vorentscheidende Hürde nahm die KartellVO bereits im Januar 1923, als der Volkswirtschaftliche Ausschuß sich mehrheitlich einer Petition des zentrumsnahen Reichsverbandes deutscher Konsumvereine anschloss und die Regierung aufforderte, ein Gesetz vorzulegen, das dreierlei beinhaltete: »1. die Errichtung eines Kartellregisters, 2.  die Bildung eines Verbraucherbeirats bei den Kartellen, 3. das Einspruchsrecht der Reichsregierung gegen die Beschlüsse der Kartelle auf Ansuchen des Beirats.«205 Nach der Zustimmung des Reichstages im März kam die zweite Regierung Stresemann diesen Forderungen mit der KartellVO vom 2. November 1923 schließlich nur bedingt nach. Weder wurden das Register noch die Verbraucherbeiräte geschaffen. Dafür wurde ein Kartellgericht eingerichtet, das auf Weisung des RWM einschreiten sollte, wenn Verträge oder Absprachen, die nun schriftlich zu erfolgen hatten, sich derart auf Produktion, Absatz oder Preisgestaltung auswirkten, dass die »Gesamtwirtschaft« oder das »Gemeinwohl« gefährdet war. Dieser Fall sei dann gegeben, wenn »in volkswirtschaftlich nicht gerechtfertigter Weise die Erzeugung oder der Absatz eingeschränkt, die Preise gesteigert oder hochgehalten« wurden.206 202 Vgl. Kiehling, Einzelhandel; StJbDR 46 (1927), S. 81. 203 So stieg die Umsatzsteuer, die auf allen Produktions- und Handelsstufen anfiel und damit das Preisniveau noch erhöhte, zwischen 1918 und 1922 von 0,5 auf 2,5 Prozent. Vgl. Kiehling, Einzelhandel, S. 302. 204 Zum Folgenden vgl. Liefmann, Unternehmungen, Bd.  2, S.  127–136; 203–215, 221–230; ders., Kartellgesetz, S. 662–664; aus der Sekundärliteratur nur: Nörr, Mühlsteinen, S. 143– 157; ders., Leiden; Neumann, Evolution; Schmoeckel, Rechtsgeschichte, S. 255 ff. 205 Bericht des Ausschusses für Volkswirtschaft, StenBerRT Bd. 376, Anlage Nr. 5478, S. 6007. 206 RGBl. 1923 I, S. 1067.

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Abermals hatte der Gesetzgeber zu Gemeinwohlformeln und weichen Kriterien gegriffen, die ohne hinreichende institutionelle Unterstützung durch ein Kartellregister und ein unabhängiges Kartellgericht die Anwendung der Verordnung erschwerten. Bis Ende der zwanziger Jahre sind trotz des hohen Kartellierungsgrades der Weimarer Wirtschaft nicht eine Handvoll Kartellverträge durch Intervention des RWM aufgelöst worden.207 Ob stärkere Eingriffe allerdings preissenkend gewirkt hätten und wie überhaupt die Auswirkungen der Kartelle auf das Preisniveau zu beurteilen sind, ist äußerst strittig – und war es auch unter den Politikern und Nationalökonomen der Weimarer Republik. Mit Robert Liefmann argumentierte einer der besten Kenner der Materie seit langem für die positiven Effekte der Kartelle, da sie die Tendenz zu großbetrieblichen, rationalisierten Unternehmensformen begünstigten und die Preiskonkurrenz durch Außenseiter keineswegs ausschlossen. Von der Linken wurde wiederum die Bildung oder Übernahme von Kartellen und Monopolen durch die öffent­liche Hand, gerade im Bereich der kommunalen Versorgungswirtschaft, betrieben. Vor allem weil den Kartellen im Rahmen von Rationalisierungs- wie So­zialisierungskonzepten eine nützliche Funktion zugeschrieben wurde, musste die Anwendung der KartellVO daher moderat bleiben. Damit blieb eine weitere Maßnahme der Preispolitik auf halbem Wege stecken, die schichtenübergreifend Popularität genoss. Der preispolitisch motivierte Kampf gegen monopolistische Strukturen war eben kein exklusives Vorhaben der Arbeiterbewegung. Das zeigt bereits die Zusammensetzung des Volkswirtschaftlichen Ausschusses, in dem SPD und KPD keine Mehrheit besaßen und der dennoch die KartellVO auf den Weg brachte. Auch dass mit Stresemann ausgerechnet ein Reichskanzler der DVP sich genötigt sah, in seiner Regierungserklärung am 6. Oktober 1923 der »Monopolpreistendenz« der Konventionen und Syndikate den Kampf anzusagen, spricht für die Konsensfähigkeit der Kartellpolitik. Daher konnte Eduard Heimann in seiner »Sozialen Theorie des Kapitalismus« feststellen, dass sich auf diesem Feld die »Front der sozialen Bewegung […] in die Verbraucherschutzpolitik hinein [erweitert]«. Und der ehemalige Staatssekretär im RWM, Julius Hirsch, brachte es in einem Bericht für das Internationale Arbeitsamt in Genf auf den Punkt: »The broad masses of urban consumers are in sharpest opposition to cartels and trusts in all countries.«208 Mit der Rückkehr stabilerer Verhältnisse im Jahr 1924 verschwand das Thema Preise keineswegs von der politischen Tagesordnung. Gegen den Willen von Reichsarbeitsminister Brauns wurde im März zwar die Aufhebung der Wucher207 Liefmann nennt einen einzigen, Callmann drei Fälle. Vgl. Liefmann, Unternehmungen, Bd. 2, S. 209; Nörr, Mühlsteinen, S. 149, Fn. 28. Genutzt wurde jedoch eine andere Bestimmung der KartellVO, die den vertragschließenden Partnern das Recht auf einseitige Kündigung einräumte, wenn sie in ihrer »wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit« eingeschränkt wurden. 208 Stresemann, StenBerRT Bd.  361, S.  11942 (6.10.1923); Heimann, Theorie, S.  53; Hirsch, Mono­polies, S. 16.

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gerichte beschlossen, zugleich aber bekannte sich die Regierung weiterhin zum Verbraucherschutz, weshalb die Fortführung der nun noch »zahnloseren« Preisprüfungsstellen als notwendig erachtet wurde. Unterdessen stieg der Reichsindex der Lebenshaltungskosten im Laufe des Jahres wieder an – um 15 Punkte zwischen Februar und Dezember, was nicht dramatisch, aber doch beträchtlich war. Es reichte jedenfalls, um den Beamtenbund und die Gewerkschaften zu einer Reihe von Eingaben an die Regierung zu bewegen, in denen sie energisch einen staatlich herbeigeführten Preisabbau verlangten.209 Auch die Linksparteien verzichteten in den beiden Reichstagswahlkämpfen des Jahres 1924 nicht auf die Wucherrhetorik, die für die SPD mittlerweile seit rund zwanzig Jahren zum erprobten Identifikationsmerkmal geworden war. Weit offensiver und in der Gestaltung professioneller als die Kommunisten setzten die Sozialdemokraten in ihren Flugblättern und Wahlplakaten auf die Konsumthematik. Sie vertrauten damit der Strategie, die ihnen im Kaiserreich den Ausbruch aus dem proletarischen Milieu und Stimmengewinne in den neuen städtischen Mittelschichten eingebracht hatte. Die Leitmotive von Hunger und Wucher, die drastische Gegenüberstellung von Mangel und Überfluss (»Hier fließt Sekt, dort fließen Tränen.«), der Appell an die Sorgen der Hausfrau (»Arbeiterfrau! Willst Du dulden, daß Brot, Fleisch und Kartoffeln noch teurer werden?«) – mit alle dem kommunizierte die SPD ihr Versprechen, für das Recht der Verbraucher auf ein erträgliches Preisniveau einzutreten.210 Der preispolitische Diskurs richtete sich in den Jahren 1924/25 vor allem auf die Zollpolitik. Der mit der Verabschiedung der Zolltarifnovelle am 12. August 1925 erlangte Kompromiss wiederholte ein politisches Tauschgeschäft, das in den Konflikten um die Zwangswirtschaft eingeübt worden war: Einer produzentenfreundlichen Richtungsentscheidung standen konsumpolitische Kompensationen gegenüber. Die Industriezölle dienten einerseits den protektionistischen Interessen in der Schwerindustrie, waren andererseits vor allem aus der Perspektive der exportorientierten Branchen (Chemie, Elektro, Maschinen, Fertigwaren) als Verhandlungsmasse für die Handelsverträge begehrt und zielten 209 Vgl. zum RAM: BA, R 43 I, 1153, Bl. 18–23; die Eingaben in: BA, R 3901, 10556, Bl. 73–75, 134 ff. 210 Vgl. zur SPD im Kaiserreich Nonn, Verbraucherprotest, S.  240–280; zum Wahlkampf 1924 vgl. die Materialsammlung des Instituts für Sozialforschung: BA, RY 22/V S. U. F., 5, Bl. 12–24, 41; ebd., 14, Bl. 20 (KPD); ebd., 7, Bl. 16–87; ebd., 16, Bl. 2–94; ebd. 17, Bl. 7 (SPD). Zitate: ebd., 7, Bl. 24; 16, Bl. 55. Der Erfolg dieser Strategie an den Wahlurnen ist schwer zu beurteilen, da die Zuschreibung von Wahlergebnissen zu einzelnen Themen des Wahlkampfes nicht methodisch zu kontrollieren ist. Es fällt aber auf, dass bei den beiden Wahlen im Jahr 1924 KPD und SPD, die die Teuerungssemantik pflegten, zusammen auf lediglich 33 und 35 Prozent kamen, während es bei den Wahlen zur Nationalversammlung für die Linke 45,5 Prozent und im ersten Reichstag 1920 noch 42,5 Prozent gewesen waren. Dazwischen lag nicht zuletzt der preispolitische Aktionismus, mit dem vor allem die SPD vergeblich die Inflation und die Rückbildung der Zwangswirtschaft zu kompensieren versucht hatte.

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insofern auf die Restitution der Außenhandelsbeziehungen.211 Die den Agrariern gewährten Getreidezölle waren der eigentliche Streitpunkt des Zolltarifs. Gegen die als »Hungerzölle« apostrophierten Tarife, von denen eine Verteuerung der Lebenshaltungskosten zu erwarten war, führten KPD und SPD einen publizistischen und parlamentarischen Kampf, der im Hinblick auf den Konflikt um den Bülow-Tarif von 1902 wie ein Déjà-vu anmutet.212 Christoph Nonn hat mit Blick auf das sich den Wünschen der Landwirtschaft öffnende Kieler Agrarprogramm der SPD von 1927 die These aufgestellt, in der Partei habe sich die Wahrnehmung der Konsumenteninteressen gewandelt, weil durch die Erfahrung der Blockade der nationalen Ernährungssicherheit ein höherer Stellenwert eingeräumt worden sei als vor dem Krieg.213 Wenn auch im Rahmen der Zolldebatte bereits festzustellen ist, dass die SPD einer verbesserten Kreditgewährung an die Landwirtschaft aufgeschlossen gegenüberstand, verhinderte das keineswegs, dass sie gleichzeitig eine traditionell freihändlerische Agitation gegen die Getreidezölle betrieb. Zwar gab es einzelne Stimmen wie die des sozialdemokratischen Agrarexperten Fritz Baade, die bereits nach neuen Wegen zu einem Ausgleich zwischen landwirtschaftlichen Produzenten und städtischen Konsumenten suchten. Die Fraktion im Reichstag, der Vorwärts und vor allem die sozialdemokratischen Reichstagswahlkämpfe des Jahres 1924 ließen jedoch keinen Zweifel daran, dass die SPD gegen die Getreide- und Fleischzölle das Recht der Verbraucher auf die Einfuhr preisgünstiger Nahrungsmittel verteidigte.214 Wenn ein Wandel in der Vertretung der Verbraucherinteressen durch die SPD stattfand, dann nicht im Sinne einer Ablösung der älteren Forderungen, sondern indem die Rechte der Konsumenten noch um den Punkt des nationalen Produktionsschutzes ausgeweitet wurden. Ob sich die zollpolitische Forderung nach der Billigkeit der Produkte mit dem neuen agrarpolitischen Streben nach Versorgungssicherung vereinbaren ließ, war sekundär: Die SPD behielt als Verbraucherpartei diskursiv die Hoheit. Doch auch die anderen Parteien waren für die Getreidezölle nur schwer zu gewinnen. Dem Zentrum, dessen besonders heterogene Klientel vom Industrie211 Daher argumentierte Carl Duisberg, der Vorsitzende des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, dass schon der Bülow-Tarif von 1902, an dem sich der neue Zolltarif orientierte, »auf Grund der damals abgeschlossenen Meistbegünstigungsvertäge praktisch dem Freihandel [diente]«. Duisberg, Das Gebot der Stunde, Kölnische Volkszeitung, 16.7.1925. Zur komplexen Verbindung von Welthandel und Protektionismus vgl. Torp, Heraus­ forderung. 212 Zur Debatte 1924/25 vgl. allgemein Bellers, Parteien; Leuschen-Seppel, Staatsverantwortung, S. 161–173; Krohn, Stabilisierung, S. 174–178. Zur Pressekampagne der Roten Fahne und des Vorwärts vgl. die zahlreichen Artikel im Reichs-Landbund/Pressearchiv: BA, R 8034 II, 5287 (KPD); ebd., 5295 (SPD). Zur Debatte 1902 vgl. Torp, Herausforderung, S. 211–291. 213 Vgl. Nonn, Konsumentenprotest, S. 32–37. 214 Vgl. die Sammlung von SPD-Flugblättern und -Plakaten zu den Wahlen im Mai u. Dezember 1924 im Archiv des Instituts für Sozialforschung: BA, RY 22/V S. U. F./7, 16 u. 17.

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arbeiter bis zum Landwirt reichte, drohte in dieser Frage die Zerreißprobe.215 Um seine Zustimmung zu erlangen, wurden Zugeständnisse gemacht: Die nicht in Vertragsverhandlungen veränderbaren Mindestsätze für Getreide wurden fallengelassen, die Umsatzsteuer von 1,5 auf ein Prozent gesenkt, um den Preiserhöhungen gegenzusteuern; ein großes Kontingent Gefrierfleisch blieb mit Rücksicht auf die »minderbemittelten« Schichten zollfrei, und ein Teil der staatlichen Zolleinkünfte sollte für Wohlfahrtszwecke verwendet werden.216 Darüber hinaus wusste Reichskanzler Luther, wem der Kompromiss auf welche Weise schmackhaft zu machen war: In seiner Rede zum Auftakt der Zolltarifdebatte im Reichstag adressierte er in erster Linie die Verbraucher und kündigte an, dass die Regierung auf eine »Preissenkung mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln« hinwirken werde. Er wolle sich bei sämtlichen Wirtschaftsverbänden dafür einsetzen, dass sich die Reduktion der Umsatzsteuer zum 1. Oktober 1925 auch wirklich »bei dem letzten Verbraucher« und in »möglichst großem Ausmaß« bemerkbar mache.217 Die groß angekündigte »Preisabbauaktion« versetzte die Regierung in den folgenden Monaten in hektische Betriebsamkeit. In einer ganzen Reihe von Gesprächen verlieh sie ihrer Forderung Nachdruck: Dem RDI drohte man mit dem verstärkten Einschreiten des Kartellgerichts; den Konsumvereinen wurde unmissverständlich geraten, dass sie ihre Gewinne nicht zur Kapitalbildung oder für Rückvergütungen, sondern in Form von Preissenkungen einzusetzen hätten. Bei den Ländern und Kommunen wirkte man auf eine gemäßigte Tarif­ gestaltung bei den Versorgungsbetrieben hin, und die Preisprüfungs­stellen sollten weiterhin »Preisauswüchse« anprangern und die Verbraucher zum kritischen Preisvergleich erziehen. Darüber hinaus ließ Luther eine ganze Medienkampagne zur Unterstützung der Aktion anlaufen, betonte er doch nach den Erfahrungen der Inflation den engen Zusammenhang zwischen der Psychologie der Konsumenten und der Preisentwicklung. Eine Kommission zur »Beobachtung und Bearbeitung der Presse« wurde eingesetzt, eine Serie von Artikeln auch in Provinzzeitungen veröffentlicht; die Vorsitzende der Berliner Hausfrauen­vereine, Charlotte Mühsam-Werther, hielt einen Rundfunkvortrag, in dem die Zölle verteidigt, Preissenkungen ankündigt und die Hausfrauen zur Mitarbeit bei den Preiskontrollen aufgefordert wurden.218 Das waren sämtlich indirekte Maßnahmen zur Preisbeeinflussung, denen oft keine große Wirksamkeit zugeschrieben wird,219 und doch ist festzustellen, dass sich die Indices der Lebenshaltungskosten und mehr noch der Ernährungs­ 215 Gut ablesbar an den gesammelten Artikeln in BA, R 8034 II, 5297. Zudem: Bellers, Parteien, S. 62–69. 216 Vgl. knapp Leuschen-Seppel, Staatsverantwortung, S. 170 f. 217 Vgl. StenBerRT Bd. 387, S. 4257 f. (8.8.1925) 218 Vgl. zum RDI BA, R 43 I, 1153, Bl. 271; ebd., 1154, Bl. 96–102; zu den Konsumvereinen ebd., 1155, Bl. 11–58; zu den Ländern zusammenfassend ebd., 1154, Bl. 180, 344 ff.; zu MühsamWerther ebd., Bl. 73; zur Propaganda ebd., 1153, Bl. 330 f.; ebd., 1154, Bl. 84–87, 177 f. 219 Vgl. Steiner, Einleitung, S. 11.

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kosten zwischen August 1925 und März 1926 entgegen dem Gesamttrend der Jahre 1924/29 leicht nach unten bewegten.220 Ob das auch ein Effekt der Preisabbauaktion gewesen ist, lässt sich nicht zuverlässig beurteilen  – das verhindert schon die Fülle der preisbildenden Faktoren, und es sollte auch nicht über­sehen werden, dass in diese Zeit die Rezession von 1925/26 fällt –, wichtiger war jedoch, dass es trotz des propagandistischen Aufwandes nicht gelang, daraus politisch Kapital zu schlagen. Zwischen der vollmundigen Ankündigung eines spürbaren Preisrückgangs zum Stichtag 1. Oktober und dem in der Wahrnehmung der Zeitgenossen mäßigen Ergebnis klaffte eine Lücke: Das RAM re­gistrierte von vornherein »Unglauben« und »Spott« in der Presse, und im Dezember hagelte es im Reichstag Kritik von Seiten der Linken, während auch Befürworter der Aktion eingestanden, dass lediglich eine »Preisfesthaltung« erreicht sei und die Maßnahmen noch energischer verfolgt werden müssten.221 Sogar Reichspräsident Hindenburg schaltete sich in dieser Frage ein und schlug Luther angesichts des mangelnden Erfolgs die Einrichtung eines mit notgesetzlichen Befugnissen ausgestatteten Reichskommissars für Preisüberwachung vor, was jedoch vorerst nicht weiter verfolgt wurde.222 Aufschlussreich war zudem eine Aufstellung der Maßnahmen zur Preissenkung, die in der Reichskanzlei im November 1925 angefertigt wurde. Die Liste war lang und reichte von der Beeinflussung der Preise von Kohle, Brot, Fleisch und Bekleidung über die Öffentlichkeitsarbeit bis zur Kartellpolitik. Das Dilemma aber lag in der Überschrift, die ursprünglich »Bereits erzielte Erfolge« lautete. Der zuständige Staatssekretär aber änderte handschriftlich in: »Bereits durchgeführte Maßnahmen« – ein subtiles Eingeständnis der Grenzen preispolitischer Intervention.223 Dennoch fungierte die Preispolitik während der Weltwirtschaftskrise ein weiteres Mal als konsumpolitische Kompensation und als vielversprechende Legitimitätsressource. Sie bildete einen unverzichtbaren Baustein in dem De­ flationskonsens, der die Regierung Brüning lange Zeit trug.224 Ihre Politik einer Entlastung der »produktiven Stände« durch die Senkung der Besitzsteuern, die Reduktion der Lohnkosten und die Erhöhung der Agrarzölle ließ sich langfristig nur durchsetzen und konnte nur dann die Tolerierung durch die SPD erhalten, wenn preispolitisch ein Ausgleich für den Lohn- und Gehaltsabbau und die gestiegenen Verbrauchsteuern geschaffen wurde. Allerdings zeigte sich, als die Regierung im Sommer 1930 ihren rigiden Sparkurs einleitete, dass sie keineswegs von Anfang an eine derartige Ausgleichsstrategie beabsichtigt hatte, 220 Vgl. StJbDR 45 (1926), S. 259; ebd. 46 (1927), S. 297. 221 RAM an RWM/RMEL, 15.9.1925, BA, R 43 I, 1154, Bl. 184–187; StenBerRT Bd. 388, S. 4868, 4882, 4887 (14.12.1925); 4901 (Zitat), 4904 (15.12.1925). 222 Vgl. Hindenburg an Luther, 4.11.1925, BA, R 43 I, 1155, Bl. 243 f. 223 Maßnahmen der Reichsregierung zur Preissenkung, ebd. Bl. 229 f. 224 In der Forschung ist das bislang kaum hinreichend thematisiert worden; Winkler weist jedoch darauf hin: Vgl. Winkler, Weg, S. 256, 462.

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sondern vielmehr von einer zivilgesellschaftlichen Bewegung zur staatlich initiierten Preissenkung gedrängt wurde. Im Juli 1930 hatte der liberale kommissarische Reichswirtschaftsminister Ernst Trendelenburg die Möglichkeiten einer groß angelegten Preisabbauaktion pessimistisch beurteilt, und das Programm zur Preisbeeinflussung, das er vorlegte, enthielt eher vorsichtige Schritte: Ein größerer Druck auf die Kartellpreise, Preisherabsetzungen einzelner Rohstoffe und ein Rationalisierungsimpuls auf den Einzelhandel durch Veröffentlichung von Handelsspannen wurden anvisiert. Brünings Hinweis, es sei notwendig, sich vor den Septemberwahlen mit den Lebensmittelpreisen zu befassen, wurde in der Regierung erst später verfolgt.225 Nachdem sich die finanzielle Belastung der Arbeitnehmer durch die Juli-Notverordnung und den »Wirtschafts- und Finanzplan« vom September er­heblich vergrößert hatte, wurde der Ruf nach schärferer staatlicher Intervention unüberhörbar, und im Kabinett entwickelte sich Adam Stegerwald, der christ­liche Gewerkschaftsfunktionär und Reichsarbeitsminister, mehr und mehr zum Fürsprecher entsprechender Forderungen.226 In den »großen Hoffnungen« auf versprochene Preissenkungen enttäuscht zeigte sich der Reichslandarbeiterbund, der beklagte, dass statt der täglichen Bedarfsgüter die Regierung »auf ­Eisen, Linoleum, Cement und Ziegelsteine verfallen« sei.227 Im westfälischen Münster bildete sich ein Verbraucherausschuss, in dem die Organisationen der Arbeiter, Angestellten und Beamten mit dem Zweck zusammenkamen, »die im allgemeinen Interesse notwendige Preisabbaubewegung« zu fördern. Erfolgreich ersuchte der Ausschuss die Regierung, die örtliche Preisbindung des Kohlensyndikats aufzuheben, damit es einem Außenseiter gestattet war, die Kohlen zehn bis 15 Prozent billiger zu liefern. Das Beispiel machte Schule, und Ende November 1930 rief der Deutsche Beamtenbund mit den gewerkschaftlichen Spitzenverbänden dazu auf, gemeinsam lokale Verbraucherausschüsse zu bilden.228 Zugleich machten die Frauenverbände mobil. Der Reichsverband Deutscher Hausfrauenvereine, der Katholische Deutsche Frauenbund und der Frauenbeirat der Zentrumspartei kritisierten unisono die unzureichenden Preissenkungen, die an den wirklichen Interessen der Verbraucher vorbeigegangen seien. Hatte die Regierung bislang vor allem Druck auf die Hersteller von Markenartikeln ausgeübt, wurde eingewendet, dass diese doch nur einen kleinen Anteil an den Haushaltsausgaben ausmachten, während bei den Preisen für Lebensmittel und Kohlebriketts sowie bei den Tarifen für Gas, 225 Vgl. AdR Brüning I u. II, Bd. 1, S. 267–272, 294–301, 390. 226 So schrieb Stegerwald an RMEL Schiele am 3.11.1930, dass eine »Weiterführung der von mir eingeleiteten Lohnpolitik nur möglich ist, wenn die Preise insbesondere der notwendigsten Lebensgüter eine Senkung erfahren, die dem Arbeiter als Konsumenten deutlich spürbar wird«. BA, R 43 I, 1158, Bl. 262. 227 Eingabe des Reichslandarbeiterbundes an den Reichskanzler, 7.10.1930, ebd., Bl. 173 f. 228 Verbraucher-Ausschuß Münster i.W. an MdR Kampschulte, 15.10.1930, ebd., Bl. 199–201; Reichspostminister Schätzel an Rk Brüning, 11.12.1930, ebd., 1159, Bl. 303 f.

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Wasser und Elektrizität noch kaum etwas geschehen sei. Die Reste des Preis­ prüfungswesens waren erst seit fünf Jahren aufgehoben, da wurde die Forderung nach Lebensmittelausschüssen mit der Kompetenz zur Festsetzung von angemessenen Preisen erneut laut.229 Auch die ominöse »Handelsspanne«, über die in der Weimarer Republik fast durchgängig gestritten wurde, geriet noch einmal verstärkt ins Visier der Kritiker. So wies der Deutsche Städtetag in einem Rundschreiben an die Oberbürgermeister darauf hin, dass es ihre vordringliche Aufgabe sein müsse, im Interesse des Preisabbaus für eine größere Publizität der Preise und damit für einen öffentlichen Druck auf die Handelsspannen der Einzelhändler und Handwerker zu sorgen. Zudem richtete der Städtetag in Zusammenarbeit mit der Reichsforschungsstelle für landwirtschaftliches Marktwesen des RMEL in einigen Städten einen Nachrichtendienst über die Preisspannen wichtiger Lebensmittel ein. Eine Allianz von städtischer Verwaltung, Verbraucherorganisationen und Presse sollte demnach die überfällige Rationalisierung im Einzelhandel vorantreiben und den Verbraucherschutz in Zeiten sinkender Einkommen gewährleisten.230 Angesichts der sich intensivierenden preispolitischen Initiativen sahen sich auch die Wirtschaftsverbände wie der RDI und die Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels genötigt, der Regierung ihre Bereitschaft zur Zu­ sammenarbeit in der Preissenkungsaktion zu erklären. Das geschah, um etwaigen Zwangsmaßnahmen zuvorzukommen wie beispielsweise einer schärferen Handhabung des Kartellrechts oder der Wiedereinrichtung von Preisprüfungsstellen, die bereits vom Berliner Polizeipräsidenten Albert Grzesinski ventiliert wurde. Die preispolitischen Bemühungen zu bremsen und kanalisieren war daher das eigentliche Ziel der wirtschaftsliberalen Kräfte, was keineswegs bedeutete, dass eine homogene Interessenlage bestanden hätte: Der RDI verwies darauf, dass der Einzelhandel chronisch »übersetzt« sei; dieser machte die Agrarzölle für den hohen Stand der Lebenshaltungskosten verantwortlich; die Agrarier wiederum beklagten wie stets die »Preisschere« zwischen Agrar- und Industrieprodukten. Einig war man sich allerdings darin, dass nur auf dem Weg der freien Konkurrenz ein Preisabbau möglich war und die Regierungsaktion schon aus konjunkturellen Gründen begrenzt sein sollte. Nach Ansicht der Deutschen Führerbriefe, einem wichtigen Organ der Großindustrie aus dem Umfeld von Paul Silverberg, hatte sich die ganze Debatte bereits zu einer »Preissenkungspsychose« ausgewachsen, weshalb in Erwartung weiter sinkender Preise ein »Käuferstreik« drohte. Die Handelskammern und Einzelhandelsverbände betonten darüber hinaus, dass der Preisabbau in erster Linie ein Darstellungs229 Vgl. Reichsverband Deutscher Hausfrauenvereine an Reichsregierung, 7.11.1930, ebd., 1158, Bl. 339; Reichsfrauenbeirat der Zentrumspartei an den Ausschuß zur Preissenkung bei der Reichsregierung, 13.11.1930, ebd., Bl. 400–403; Hausfrauenvereinigung des Katholischen Deutschen Frauenbundes an Rk Brüning, 19.11.1930, ebd., 1159, Bl. 69 f. 230 Vgl. Vorstand des Deutschen Städtetages an die Oberbürgermeister, 11.11.1930, ebd., Bl. 27–32; Brotpreise in deutschen Städten, ebd., 1158, Bl. 419–421.

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und Kommunikationsproblem sei: Die bereits erzielten Erfolge würden in der Öffentlichkeit nicht hinreichend wahrgenommen.231 Die Regierung Brüning zeigte sich solchen Einwänden gegenüber aufgeschlossen, konnte aber die wachsende Missstimmung der Konsumenten ob der unzureichenden Preissenkungen ebenfalls nicht ignorieren. Als im November 1930 der Kabinettsausschuß für Arbeits- und Preisfragen über den Fortgang seiner Bemühungen die Presse unterrichtete, versuchte man daher, preispolitisches Engagement zu demonstrieren, das ohne staatlichen Zwang auskam. Ausführlich wurde berichtet, dass Vereinbarungen mit der freien Wirtschaft bereits zu Preissenkungen für Kohle und für Lebensmittel geführt hatten – letztere ­jedoch bislang nur in Berlin, die es nun auszuweiten galt. Vor allem aber richtete sich ein Appell an die Hausfrau, der eine wesentliche Mitverantwortung für den Preisabbau zugeschrieben wurde: Verhielt sie sich beim Einkaufen als homo oeconomicus, dann übte sie den »Druck der Verbraucher und der öffentlichen Meinung« in Richtung auf eine Preiskonkurrenz der Anbieter aus.232 Die veröffentlichte Meinung war indes überwiegend skeptisch im Hinblick auf die Bilanz der Preissenkung. Sogar der liberalen Boulevardpresse war der Widerspruch nicht entgangen, der zwischen Preisabbau und Schutzzoll lag. »Ist schon vieles billiger geworden?«, fragte das 8-Uhr-Abendblatt, und gab zur Antwort: »Ausser bei der Kohle und einigen Markenartikeln nirgends Preissenkung, dafür aber zweihundertprozentige Verteuerung des Weizens!« Dass angesichts der mageren Ergebnisse die Enttäuschung groß war, wog umso schwerer als es sich hier um ein Thema handelte, das zuverlässig die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zog: »Preissenkung! Preissenkung! Aus jeder Überschrift, aus jedem Artikel der Tageszeitungen schreit uns Stunde für Stunde das Schlagwort entgegen, das so prägnant unsere Alltagsnöte formuliert.«233 Der reißerische

231 Vgl. Besprechung des Reichskanzlers mit Vertretern des RDI, 4.8.1930, AdR Brüning I u. II, Bd. 1, S. 355–359; Geheimrat Kastl (RDI) an Trendelenburg (RWM), 6.10.1930, BA, R 43 I, 1158, Bl.  165–170; v. Mendelssohn (DIHT) an Rk Brüning, 13.11.1930, ebd., Bl.  377 f.; Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels an Reichskanzlei, 20.11.1930, ebd. 1159, Bl.  82–85; Reichsverband Deutscher Lebensmittel-Filialbetriebe, Denkschrift über den Preisabbau im Lebensmitteleinzelhandel, 10.11.1930, ebd., Bl.  108 f.; sowie folgende Beiträge aus den Deutschen Führerbriefen: Die Aktion des Einzelhandels, 25.7.1930; Einzelhandel und Lohn- und Preisabbau, 26.8.1930; Vorsicht vor dem Käuferstreik!, 21.11.1930; Preissenkungspsychose, 25.11.1930; Auch noch Preisprüfungsstellen?, 12.12.1930. 232 WTB-Meldung, Nr. 2313, 14.11.1930, BA, R 43 I, 1158, Bl. 443–446. Vgl. auch vier Artikel der Reichszentrale für Heimatdienst, die an die »gesamte kleine Provinzpresse« gesendet wurden. Die Anweisung lautete dort: »Jeder einzelne Konsument muss von bequemen Einkaufsgewohnheiten abgehen, jedesmal die Preise in den verschiedenen Geschäften vergleichen und dort einkaufen, wo man bei gleicher Qualität am billigsten ist. Das führt zur Belebung der Konkurrenz, schaltet sie als wirkungsvolle Triebkraft für den weiteren Fortschritt der Preissenkung ein.« BA, R 43 I, 1159, Bl. 223–229 (Zitat: Bl. 227). 233 Ist schon vieles billiger geworden, 8-Uhr-Abendblatt, 30.10.1930; vgl. zudem: Preis-WirrWarr, in: Berliner Tageblatt, 30.11.1930.

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Ton sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit der Preispolitik in der Tat die Popularität der Regierung auf dem Spiel stand. Daher verwundert es auch nicht, dass schon im folgenden Jahr der nächste Anlauf zur Preissenkung unternommen wurde. Nach der Empörung, welche die »Peitsche« der Juni-Notverordnung mit ihren weiteren Einschnitten in die Löhne, Gehälter und sozialen Leistungen sowie den abermaligen Steuer­ erhöhungen ausgelöst hatte, folgte am 8.  Dezember 1931 das »Zuckerbrot« in der Vierten Notverordnung, das SPD und Gewerkschaften vorläufig besänftigte.234 Nicht nur wurden die gebundenen Preise inklusive der Markenartikel und der Kohle um zehn Prozent gesenkt, es wurde zudem ein Reichskommissar für Preisüberwachung berufen.235 Dieses Amt übernahm Carl Friedrich Goerdeler, der wirtschaftsliberale und national gesinnte Leipziger Oberbürgermeister, der Brünings Austeritätskurs und dessen autoritäres Präsidialregime von Herzen unterstützte. Die Aufgabe des Reichskommissars war es, auf eine »schlagartige, fühlbare Senkung«236 des gesamten Preisniveaus hinzuwirken – ein Ziel, das mittlerweile hohe Priorität genoss: zum einen weil zu erwarten war, dass mit den für den 1.  Januar 1932 vorgesehenen Einkommenskürzungen der soziale Frieden endgültig auf dem Spiel stehen würde; zum anderen weil durch die Abwertung der britischen und skandinavischen Währungen sowie durch den ausufernden Protektionismus das Kalkül Brünings, der »gesundgeschrumpften« deutschen Wirtschaft einen internationalen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen, einen herben Dämpfer erhielt, wodurch der Binnenmarkt und somit die Stabi­ lisierung der Nachfrage durch Preissenkungen stärker in den Blick gerieten.237 Goerdelers Kompetenzen waren umfassend gestaltet. Er sollte für alle »lebens­ wichtigen Gegenstände des täglichen Bedarfs und lebenswichtige Leistungen zur Befriedigung des täglichen Bedarfs«238 die Preise überwachen und dabei vor allem die Spanne zwischen Erzeuger-, Groß- und Einzelhandelspreisen überprüfen. Erschienen Preis oder Gewinnmarge überzogen, waren beträchtliche Sanktionsmöglichkeiten gegeben, die von der Verhängung von Geld- und Gefängnisstrafen bis zur Geschäftsschließung reichten. Ein eigener großer Verwaltungsapparat stand dabei nicht zur Verfügung: Der Reichskommissar hatte seine Kontrolltätigkeit mit Hilfe von neun Sachreferenten in der Berliner Zentrale sowie einer Reihe von Unterkommissaren in den Ländern zu bewerkstel­ ligen; für die Durchführung waren die Landesbehörden und die örtliche Polizei zuständig. Ein bürokratischer »Wasserkopf«, wie ihn die rund 1.600 Preis­ prüfungsstellen im Jahr 1923 darstellten,239 wurde daher nicht geschaffen, und 234 Vgl. Winkler, Weg, S. 457–460; AdR Brüning I u. II, Bd. 3, S. 2095–2098. 235 Vgl. RGBl. 1931, Teil 1, S. 700–702. 236 So die Zielbeschreibung durch Goerdelers Stellvertreter: Schroeder, Rechtsstellung, S. 387. 237 Vgl. AdR Brüning I u. II, Bd. 3, S. 2104 f. 238 RGBl. 1931, Teil 1, S. 702. Die Entscheidung darüber, welche Waren und Dienstleistungen dazu zählten, blieb dem Reichskommissar überlassen; Goerdeler definierte sie nicht, legte die Bestimmung aber weit aus. 239 Vgl. Denkschrift der Handelskammer zu Berlin, 11.2.1924, BA, R 3101, 20457, S. 196.

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auch sonst versuchte sich Goerdeler von dem preispolitischen Desaster der Inflationszeit möglichst weit zu distanzieren. Auch wenn er die Befugnis dazu hatte, Preise per Anordnung festzusetzen, bestand seine Haupttätigkeit doch darin, durch Verhandlungen mit den Wirtschaftsverbänden auf freiwillige Vereinbarungen zur Preissenkung hinzuwirken. Von den Sanktionen machte ­Goerdeler kaum Gebrauch, jedoch funktionierte das Mittel der Betriebsschließung auch als wirkungsvolle Drohung.240 Die zurückhaltende Handhabung der Interventionsmöglichkeiten hatte ihren Grund darin, dass für Goerdeler der Königsweg der Preispolitik in der Herstellung freier Konkurrenz und höherer Markttransparenz bestand. Hinzu kam das Gespür des Kommunalpolitikers für die versorgungspolitisch besonders sensiblen Themen, so dass er zunächst die Brot- und Fleischpreise in Angriff nahm. Symptomatisch sind die Erfolge, die in dieser Richtung erzielt wurden: Mit den Dachverbänden der Bäckerinnungen und des Fleischergewerbes wurden Vereinbarungen ausgehandelt, die auf Preissenkungen von acht bis zwölf Prozent bei Roggenbrot sowie, örtlich unterschiedlich, von zehn bis zwanzig Prozent bei Fleisch hinausliefen.241 Besonderen Wert legte der Reichskommissar zudem darauf, den Aushang von Preisverzeichnissen sowohl bei Lebensmitteln als auch bei manchen Dienstleistungen anzuordnen. Gerade in kleineren Geschäften sollte der Preisaushang bereits von außen in Schaufenstern und Schaukästen erkennbar sein, um den informellen Druck der Verkäufer auf die Kunden zu verringern und vor allem die Hausfrauen in ihrer Rolle als souveräne Konsumentinnen zu stärken.242 Als Goerdeler Ende Februar 1932 seine Tätigkeit in einer von allen deutschen Sendern übertragenen Rundfunkansprache für beendet erklärte und die weitere Preisüberwachung den Landesbehörden übertrug,243 zog er eine positive Bilanz: Er sei von einer »allgemeinen Zustimmung geradezu getragen« worden, die Wirtschaft habe freiwillig mitgewirkt, die Verbraucher seien aktiviert worden, und die Presse habe ihn stets unterstützt. Am wichtigsten aber war, dass Goerdeler darauf hinweisen konnte, dass der Lebenshaltungsindex seit Dezember 1931 um sieben bis neun Prozent ge­ fallen war.244 Auch wenn der Reichskommissar aus den Fehlern seiner preispolitischen Vorläufer  – von den Wuchergerichten bis zu den Preissenkungsaktionen  – 240 Vgl. Schroeder, Rechtsstellung; Schriften und Briefe Goerdelers, S. 244 f.; Maier-Ring, Kartellrecht, S. 98–104. 241 Vgl. Schroeder, Rechtsstellung, S. 394 f. 242 Vgl. Schriften und Briefe Goerdelers, S. 225, 231; Schroeder, Rechtsstellung, S. 396. 243 Es war zentral, dass die Tätigkeit nicht allzu lang fortgesetzt wurde, weil ohnehin die Gefahr bestand, dass sie die Kaufzurückhaltung förderte und damit prozyklisch die Rezession verstärkte. Auch wenn die Befugnisse übertragen wurden und das Amt des Reichskommissars formell bis Dezember 1932 bestehen blieb, lief doch faktisch die amtlich geförderte Preissenkung bereits Ende März aus. 244 Schriften und Briefe Goerdelers, Bd. 1, S. 219 f., 227. Vgl. ebd., S. 214–233, 240–246. Nach der Reichsstatistik waren es von November 1931 bis Februar 1932 7,3 Prozent.

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­ artiell gelernt hatte, sind doch einige Zweifel an der Erfolgsbilanz angebracht. p Erstens begann die Reichsindexziffer bereits seit Juli 1929 zu fallen; der Rückgang des allgemeinen Preisniveaus war also primär konjunkturell bedingt und nicht erst das Produkt staatlichen Eingreifens. Allerdings hatte sich seit 1928 eine »Schere« zwischen den nicht kartellierten und den gebundenen Preisen geöffnet: Während erstere frühzeitig dem sinkenden Niveau der Weltmarktpreise folgten, hielten sich letztere konstant, bis in der Tat die behördlichen Verordnungen auch die Kartellpreise fallen ließen.245 Nur dem Zweig der Kartell­politik kann somit eine ursächliche Wirksamkeit nachgewiesen werden. Zweitens waren die Preissenkungen keineswegs in allen Wirtschaftsbereichen gleichermaßen durchzusetzen. Besonders gering waren die Erfolge im Bereich der öffentlichen Versorgungswirtschaft, obwohl viele Verbraucherorganisationen dringend nach einer Senkung der Tarife für Gas, Wasser und Elektrizität verlangten. Goerdeler verhielt sich in dieser Frage bewusst defensiv, weil er deren Bedeutung für die Haushaltslage der Kommunen kannte, die mit der steigenden Belastung durch die Arbeitslosigkeit zudem immer schlechter wurde.246 Aus der von ihm verlangten Senkung der Bierpreise im Februar 1932 ergaben sich wiederum unvorhergesehene Schwierigkeiten: In Hamburg und Berlin traten schließlich rund 20.000 Gastwirte in einen »Bierstreik«, der zunächst von den Nationalsozialisten, dann auch von den Kommunisten gezielt angestachelt wurde, um den selbständigen Mittelstand gegen die Regierung Brüning aufzubringen. Großer Agitationskünste wird es dazu nicht bedurft haben, denn die Gastwirte sahen sich durch die Preissenkung in echte finanzielle Bedrängnis gebracht, nachdem bereits die letzte Biersteuererhöhung den Absatz derart hatte schrumpfen lassen, dass die Reichseinnahmen sogar zurückgingen – und die Steuer also kontraproduktiv wirkte. Die Gastwirte schlossen ihre Lokale für etwa drei Wochen, entließen Personal, und dem Staat gingen weitere Einnahmen verloren. Durch seine Vertreter in der Reichspartei des deutschen Mittelstandes erhöhte der Gastwirteverband noch den Druck auf die Regierung, rechnete vor, dass etwa zwei Millionen Konsumenten vom Streik betroffen seien, und betonte, dass gerade die Nationalsozialisten immer größeren Zuspruch erhielten. Kurz vor den Wahlen zum preußischen Landtag und zum Reichspräsidenten war das Kabinett praktisch gezwungen nachzugeben und willigte ein, die Biersteuer zu senken.247 Drittens dürften auch die Erfolge Goerdelers den hohen Erwartungen, die auf ihn gerichtet waren, niemals entsprochen haben. Bezeichnenderweise hatte er sich schon bei seiner Antrittsrede dagegen verwahrt, dass ihm eine Rolle als »Wunderdoktor« zugeschrieben und er von der Presse als »Preissenkungskommissar« empfangen wurde. Die Verbraucher warnte er, dass es eine Garantie 245 Vgl. Maier-Ring, Kartellrecht, S. 127–131. 246 Vgl. AdR Brüning I u. II, Bd. 3, S. 2203–2205, 2220 ff. 247 Vgl. AdR Brüning I u. II, Bd. 3, S. 2261 f., 2301–2304, 2316 f., 2321, 2337 f., 2362; zum Druck der Lobbyisten vgl. BA, R 43 I, 1161, Bl. 197–238; zu Hamburg: Büttner, Bierstreik.

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zur Aufrechterhaltung des gewohnten Lebensstandards nicht geben könne. Weil aber die Regierung zugleich verkündete, dass Lohn- und Preisabbau sich im Gleichschritt bewegen müssten, bildeten die Einkommensverluste den Maßstab für die Preissenkungen, die dann im Vergleich stets hinter den Erwartungen zurückblieben. Daher antizipierte Goerdeler selbst, dass die Reaktionen auf die von ihm verkündete Indexsenkung gemischt ausfallen würden: »Ganz nett sagen einige, zu wenig die meisten.«248 Viertens war die Preispolitik Brünings in erster Linie ein Instrument zur Stabilisierung der Gesamtnachfrage, nicht zur Sicherung der Grundversorgung. Am eigentlichen Problem der Wirtschaftskrise, der Arbeitslosigkeit, ging sie vorbei und verschärfte sogar, je länger desto mehr, die an dieser sozialen Bruchlinie verlaufende Kluft innerhalb der Verbraucherschaft: Auf der einen Seite standen jene Arbeitnehmer, denen noch ein Erwerbseinkommen zur Ver­f ügung stand und deren finanzielle Einbußen durch Preissenkungen partiell ausgeglichen wurden; auf der anderen Seite stand die wachsende Zahl der Erwerbs­ losen, deren Verluste weit schwerer wogen, umso mehr als im Verlauf der Krise eine immer größere Zahl von Arbeitslosen den Abstieg von der Versicherung über die Krisenfürsorge in die kommunale Wohlfahrtspflege verkraften mussten. Auf einem Niveau, das weit unterhalb des früheren Einkommens lag, boten die sinkenden Lebenshaltungskosten keine auch nur annähernd hinreichende Kompensation – sofern die Versorgungsleistungen überhaupt noch in Geld und nicht gleich in Naturalien erfolgten. Besonders der Versuch Goerdelers, dem Verbraucher als Subjekt einer freien Konsumwahl die Mitverantwortung für das Gelingen der Preispolitik zu übertragen, musste auf einem Hungerniveau, auf dem es kaum mehr etwas auszuwählen gab, wie der blanke Hohn wirken.

248 Schriften und Briefe Goerdelers, S. 219 f., 230.

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IV. Konsumpolitik paternalistisch: Die Pflichten der Verbraucher »Und schließlich haben die sozialen und die psychischen Folgen des Krieges eine Umwertung der Genußwerte bewirkt. Es klingt paradox, aber es ist nun einmal eine Tatsache, daß der Schnaps sich lebensnotwendiger gezeigt hat als die Kunst und der Tabakshändler wichtiger als der Arzt. […] Dieser Staat der Intellektuellen befindet sich, unleugbar, im Stadium der Auflösung. Sie zu verhindern, sehe ich kein andres Mittel als: den Kreis der Konsumenten zu erweitern, auf Cliché-Deutsch: ›die Kunst ins Volk hinauszutragen‹.«1 Richard Lewinsohn, 1922

Der Ausweitung der Verbraucherrechte im Bereich der Grundversorgung stand eine Fülle von Verpflichtungen auf dem Feld des Wahlkonsums gegenüber. So progressiv die Weimarer Republik in ihrer Versorgungspolitik war, so konservativ stellte sie sich in Fragen der konsumkulturellen Erziehung dar – ein Feld, auf dem die Mehrheit der politischen Akteure das Erbe des Kaiserreichs bereitwillig fortsetzte. Die Neigung zur staatlichen Intervention war in beiden Bereichen ebenso groß wie die Möglichkeit zur effektiven Durchsetzung der Maßnahmen gering war. Warum auch die moralischen Pflichten der Verbraucher im politischen Diskurs eine derart zentrale Rolle spielten und welche Folgen die zahlreichen Versuche hatten, die konsumgesellschaftliche Dynamik zu kontrollieren, gilt es nun zu untersuchen. Wie im Kaiserreich begegnet auch in Weimar eine breite Front von Erziehungs- und Kontrollagenturen. Die treibenden Kräfte im bürgerlichen Lager blieben die Kirchen sowie die mitgliederstarken Sittlichkeitsvereine und Hausfrauenverbände, auf der Linken war die Arbeiterkulturbewegung aktiv, und politisch polyvalente Kräfte wie die Lebensreform kamen hinzu. Alle diese Organisationen hatten zu Beginn der Weimarer Republik bereits eine längere oder kürzere Geschichte, doch war ihre Entwicklung damit keineswegs abgeschlossen. Kein Konsumbereich entging dem wachsamen Auge der Erzieher: Hauswirtschaft, Körperhygiene, Genussmittel, Film, Rundfunk, Trivial­ 1 Morus [Richard Lewinsohn], Bergab! in: Weltbühne 18/II (1922), S. 449.

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literatur, Werbung und weitere Praktiken der modernen Konsumkultur wurden zu Objekten politischer Regulierung. Ohne sie in ihrer Gesamtheit darstellen zu wollen, geschweige denn zu können, soll der Versuch unternommen werden, anhand dreier Politikfelder zu demonstrieren, was mit der paternalistischen Konsumpolitik auf dem Spiel stand. In der Zusammenschau politischer Debatten und Maßnahmen, die sich erstens um den Alkoholkonsum, zweitens die kommerzielle Massenkultur und drittens den Konsumentenkredit und die Zugabenreklame drehten, wird deutlich, dass es letztlich um die Verteidigung des bürgerlichen Konsummodells des 19. Jahrhunderts ging. Damit soll keineswegs behauptet werden, dass es allein das Distinktionsstreben bürgerlicher Schichten war, auf das der weitreichende Kulturinterventionismus zurückzuführen ist. Auch wenn dieses Motiv zweifellos eine Rolle gespielt hat, wäre seine einseitige Betonung schon deshalb wenig überzeugend, weil auch die sozialistischen Parteien ihren Kampf gegen alle Arten der Massenkultur führten. Aus der Sicht der Arbeiterbewegung, die den Idealen der planmäßigen Bedarfsdeckung und der Partizipation an der bürgerlichen Hochkultur anhing, waren die meisten Verlockungen des Konsums irrational, und die kulturelle »Hebung« der Massen blieb das Ziel der Verbrauchererziehung. Zwar sind konservativ-klerikale Kreise in ihrem Bedürfnis nach Kontrolle am energischsten aufgetreten, doch ist das Maß an Kompromiss und Konsens unter den »Konsumpädagogen« in den verschiedenen sozialmoralischen Milieus bemerkenswert. Auch ist es sicher zutreffend, was in der Forschung immer wieder hervorgehoben wurde, dass der in den kulturpolitischen Reglementierungen greifbare Abwehrreflex sich auf der Ebene der Intentionen und des Diskurses gegen Schichten und Gruppen richtete, welche die Regeln des legitimen Konsums zu verletzen schienen: Die Kritik zielte in bekannter Weise auf den Luxus der nouveaux riches ebenso wie auf den vermeintlichen Materialismus der »Massen«, die ihre geringen finanziellen Spielräume den Angeboten der Unterhaltungsindustrie opferten. Zudem wurden die Feindbilder der Kulturkritik gepflegt, ob es sich dabei wie schon in der wilhelminischen Warenhaus-Debatte um die Frauen, um die Jugend mit ihrer Vorliebe für »Kitsch« und »Schund« oder schließlich um amerikanische oder jüdische Einflüsse handelte. Jedoch: Unterhalb der Ebene der konkret benennbaren Gegner, die ja nicht von allen politischen und weltanschaulichen Gruppierungen geteilt wurden, zielte das bürgerliche Konsummodell, dessen Defensivstellung hier zu erläutern ist, auf mehr: Im Kern ging es nicht um das, was an der semantischen Ober­ fläche verhandelt wurde  – um »Verschwendung«, »Unsittlichkeit«, »Zerstreuung«, »Schlemmerei« und »undeutsche« Art, die den benannten Sozialfiguren zugeschrieben wurden – sondern, so die hier vertretene These, um das bürgerliche Konsummodell und seine rationale Struktur. Dieses setzte die Kategorien Bedürfnis, Arbeit und Konsum in eine festes Bedingungsverhältnis. Der erste Baustein darin war eine als natürlich und gegeben angenommene Stufenleiter der Bedürfnisse, die von den Existenz- zu den Kulturbedürfnissen führte. Wenn letztere auch das eigentliche Ziel des Zivilisationsprozesses bil246

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deten, setzten sie doch die Befriedigung des notwendigen Ernährungs-, Wohnungs- und Kleidungsbedarfs voraus. Wie sich schon im Zusammenhang mit der auf Planbarkeit der Bedürfnisse bedachten Konsumvereinsbewegung herausstellte, war diese Vorstellung weit verbreitet: unter Sozialisten ebenso wie in der katholischen Soziallehre und im Bildungsbürgertum. Nur liberale Stimmen, die von neoklassischen Nationalökonomen wie Ludwig von Mises stammten, aber im konsumpolitischen Diskurs wenig zur Geltung kamen, erklärten die universelle Rangordnung der Bedürfnisse zur Fiktion.2 Für die Mehrheit der politischen Akteure galt, dass das System der Bedürfnisse in Umfang und Ordnung bekannt war und den Ursprung ökonomischer Aktivität darstellte. Die Arbeit war dann der zweite Schritt, der zur Beschaffung der für die Bedürfnisbefriedigung erforderlichen Mittel zu tun war. Über die traditionelle Hochschätzung von Arbeit und Leistung im bürgerlichen Weltbild braucht kein Wort mehr verloren zu werden, hervorzuheben ist aber, dass im Produktivismus der Nachkriegszeit die Arbeit als letztes Mittel des deutschen Wiederaufstiegs und als einziger Weg aus der Armut zusätzliches Prestige erhielt. Erst nach erbrachter Leistung waren schließlich die Früchte der Arbeit zu genießen, allerdings in maßvoller Weise, damit nicht die weitere Leistungsfähigkeit beschädigt wurde. Als charakteristische Konsumnormen des Bürgertums können daher mit dem Soziologen Andreas Reckwitz »Moderatheit, Natürlichkeit und Teleologie« gelten.3 Die Rationalität dieses bürgerlichen Modells kultureller Reproduktion  – kein Genuss ohne Arbeit, keine Arbeit ohne vernünftiges Bedürfnis  – wurde in der Tat durch drei Phänomene der Konsumkultur angegriffen. Diese waren, abstrakt formuliert, der Rausch, die Imagination und das, was die Verhaltens­ ökonomik heute immediate gratification nennt.4 Konkret sind diese Erfahrungen verbunden mit dem Konsum von Genussmitteln, Massenmedien und Waren, die ohne Vorleistung, auf Kredit oder gratis, erworben werden. Eine kurze Phäno­menologie verdeutlicht, warum eine Konsumkultur, die auf solchen Erfahrungsbeständen beruht, die bürgerliche Rationalität untergraben musste.5 Der Rausch zunächst zeichnet sich dadurch aus, dass in diesem Zustand über ein konventionelles Maß hinaus konsumiert wird.6 Der exzessive Konsum, sei es 2 Vgl. Brentano, Versuch; v. Philippovich, Grundriß, S.  32–34; v. Nell-Breuning, Wirtschaft; ­Mises, Gemeinwirtschaft, S. 434–444. 3 Reckwitz, Subjekt des Konsums, S. 428; ausführlicher: ders., Subjekt. 4 O’Donoghue u. Rabin, Economics, konzipieren den Begriff der immediate gratification als zeitlich inkonsistentes Präferenzmuster: Während auf lange Sicht die Kosten und Nutzen einer zu treffenden Entscheidung »vernünftig« abgewogen werden, neigen Menschen dennoch oft dazu, im Moment der Entscheidung den unmittelbaren Genuss unter Hintanstellung der langfristigen Kosten zu bevorzugen. 5 Die folgenden Überlegungen sind inspiriert von Schrage, Integration; Illouz, Konsum; Campbell, Ethic; Bolz, Manifest. 6 Den Begriff des Rausches – wenn auch anders gefasst – für die Geschichtswissenschaft erschließen v. Klimó u. Rolf, Rausch.

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von Drogen, Musik oder Sexualität, schiebt die Sättigungspunkte, die für die rationale Bedürfnishierarchie zentral sind, weit hinaus, so dass es von deren Warte aus zu einer Vergeudung von Mitteln kommt. Die Geschichte der Genussmittel ist daher immer auch eine Geschichte der obrigkeitlichen Intervention gegen den möglichen Kontrollverlust über die eigene Bedürfniswelt gewesen. Weiterhin stellen die fiktionalen Realitäten, die sich durch die kommerzielle Massenkultur des Kinos und der Trivialliteratur, der Illustrierten und der Werbung vervielfältigt haben, die legitime Ordnung des Konsums in Frage. Zum einen weil durch ihre Interpretation der Bedürfnisse das Spektrum der möglichen Konsumwünsche sich erheblich verbreitert, zum anderen weil das fiktionale Erleben selbst – das Colin Campbell als imaginativen Hedonismus beschrieb7 – zum begehrenswerten Konsumobjekt wird. Durch den Einbruch des Neuen und die gewachsene Bedeutung der Imagination wird die eindeutige funktionale Beziehung zwischen Bedürfnis und Befriedigung zerstört. Konsumwünsche sind nicht mehr durch gegebene und durch soziale Konventionen abgesicherte Bedürfnisse festgelegt, sondern werden im zirkulären Prozess der Konsumkultur geformt. Die durch Kredite und Gratiszugaben beförderte immediate gratification schließlich verdunkelt das Verhältnis von Leistung und Genuss und kehrt es zeitlich um. Sind nach dem bürgerlichen Modell Arbeit und Sparsamkeit die Bedingungen des Konsums, ermöglicht hingegen der Konsumentenkredit den Genuss sofort und verlangt die finanzielle Leistung später.8 Das kostenlose Werbegeschenk – die sogenannte Zugabe oder Wertreklame – verschafft sogar die Illusion einer Genussmöglichkeit ohne jede Gegenleistung. Die veränderte temporale Struktur einer derart gestalteten Konsumkultur besteht darin, dass sie die Gegenwart und Zukunft möglicher Konsumerfahrungen gegenüber der Vergangenheit der tradierten Bedürfnisse und der investierten Arbeit bevorzugt. Dass damit ein enormes dynamisches Potential gegeben war, das eine liberale und kapitalistische Gesellschaftsordnung letztlich festigen sollte, stellte sich erst im Laufe des 20. Jahrhunderts heraus. Vom Standpunkt der linear geordneten Trias von Bedürfnis, Arbeit und Konsum erschien diese Dynamik zunächst als bedrohlich, zumal das bürgerliche Modell selbst das dominierende Fortschrittsnarrativ anbot und genau aus diesem Grund auch nicht nur eine Sache des Bürgertums war. Die auf Leistung, Sparsamkeit und rationalem Handeln basierende zivilisatorische Höherentwicklung von den notwendigen körperlichen zu den verfeinerten geistigen Bedürfnissen war das einzig verfügbare Rezept für den Wiederaufbau, an das sich die verschiedenen politischen Akteure von den Sozialisten bis zu den Konservativen klammerten. Das Problem bestand darin, dass man bereits von einer Konsumkultur umgeben war, 7 Campbell verortet die Ausprägung dieser mentalen Disposition in der englischen Romantik. Vgl. Campbell, Ethic. 8 Zur Bedeutung des Konsumentenkredits für die Genese der Konsumgesellschaft vgl. nur Calder, Financing.

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die auf die Freisetzung eines tendenziell unbeschränkten Begehrens zielte und der Wiederaufnahme des Fortschritts gerade entgegenzustehen schien. Die normative Einhegung des Begehrens war daher der gemeinsame Angriffspunkt aller jener Erziehungsbestrebungen, die nun zu erläutern sind.

1. Der Kampf gegen Alkohol und »Schlemmerei« Der Alkoholkonsum in Deutschland war seit der Mitte des 19.  Jahrhunderts jahrzehntelang angestiegen, wobei die Verdoppelung des Bierverbrauchs zwischen den 1860er Jahren und der Jahrhundertwende den langsam zurückgehenden Branntweinkonsum überkompensierte. Das Jahr 1900 markiert dann eine Trendwende, denn seitdem wurde bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs ein Siebentel weniger Bier und mehr als ein Drittel weniger Branntwein getrunken. Einen drastischen Rückgang brachte aber erst das Kriegs- und Krisenjahrzehnt 1914/24 aufgrund der strengen Kontingentierung von Gerste und Kartoffeln für die Alkoholproduktion sowie der niedrigeren Realeinkommen. Noch im Jahr 1925 lag der Bierkonsum um mehr als ein Viertel unter dem Vorkriegsstand, der von Branntwein war um fast zwei Drittel geschrumpft.9 Vermutlich wegen dieses im Vergleich zum Kaiserreich geringen Konsumniveaus sind auch die Versuche der organisierten Antialkoholbewegung und anderer gesellschaftlicher Gruppen zur weiteren Eindämmung des Trinkens nach dem Ersten Weltkrieg bislang kaum Gegenstand der Forschung gewesen. Obwohl sich die zahlreichen alkoholgegnerischen Vereine meist schon vor der Jahrhundertwende formiert hatten, lagen aber ihre größten politischen Erfolge in der Zeit der Weimarer Republik. Die Tatsache, dass sich frühzeitig eine ideologische Gräben überbrückende Front von Erziehern herausbildete, die den Verbrauchern die Rückkehr zur Vorkriegsnormalität zu verweigern suchte, war für den staatlichen Umgang mit jeder Form des »überflüssigen« Konsums von großer Bedeutung. Um eine Vorstellung von der Durchsetzungsfähigkeit aller jener Kräfte zu gewinnen, welche die »Alkoholfrage« zu einem Feld der Sozialdisziplinierung machten, sind zuerst die zahlreichen Abstinenz- und Temperenzvereine in den Blick zu nehmen. Für die Weimarer Antialkoholbewegung war es zunächst entscheidend, dass sie den früheren Dauerkonflikt zwischen den Anhängern der Enthaltsamkeit und denen der Mäßigkeit weitgehend beilegen konnte. Im Juni 1921 wurde die Deutsche Reichshauptstelle gegen den Alkoholismus ins Leben gerufen, in der die Dachverbände der beiden Richtungen vertreten waren: einerseits der Deutsche Verein gegen den Alkoholismus, in dem etwa 35.000 Temperenzler organisiert waren und der bis 1920 Deutscher Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke hieß, andererseits der Allgemeine Deutsche Zentral­verband gegen den Alkoholismus, dem zwei der drei größ9 Vgl. Grüttner, Alkoholkonsum, S. 235; Spode, Getränke, S. 40.

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ten Abstinenzverbände angehörten: der Guttempler-Orden und das katholische Kreuzbündnis mit ungefähr 33.000 bzw. 30.000 Mitgliedern. Nur das evangelische Blaue Kreuz mit seinen rund 27.000 Anhängern mochte sich nicht anschließen, da ihm der Anlass für die intensivierte Zusammenarbeit moralisch verwerflich erschien:10 Seit im Juli 1918 ein staatliches Großhandelsmonopol für Branntwein eingerichtet wurde, stellten die Regierungen aus dem Gewinn jährlich vier Millionen Reichsmark der Antialkoholbewegung für die Trinkerfürsorge, die Förderung alkoholfreier Gaststätten und die Öffentlichkeitsarbeit zur Verfügung. Während das Blaue Kreuz es ablehnte, von dem »Sündengeld« des Branntweinmonopols zu profitieren, ergriffen die anderen Verbände die Gelegenheit zur verstärkten Kooperation und gründeten die Reichshauptstelle in Berlin, um über die Verteilung der Gelder zu entscheiden. Bereits im Oktober 1921 fand in Breslau der Erste Deutsche Alkoholgegnertag statt, auf dem die Bewegung ihre Geschlossenheit demonstrierte; im Mai 1922 folgte der Zweite Deutsche Kongreß für Alkoholfreie Jugenderziehung, der von Reichskanzler Wirth eröffnet wurde.11 Gegenüber dieser interessenpolitisch verbesserten Lage war es zu verschmerzen, dass die Vereine im Vergleich zur Vorkriegszeit an Mitgliedern verloren hatten. Wie groß die gesamte organisierte Anhängerschaft der Alkoholgegner gewesen ist, lässt sich kaum exakt ermitteln, da zum einen die Zahlen auf den verbandseigenen und daher hochgegriffenen Angaben beruhen, zum anderen Doppelmitgliedschaften vorkamen, so dass die einfache Addition der oben genannten Mitglieder der vier Großverbände unzulässig ist. Angesichts einer Anhängerschaft, die irgendwo zwischen 100.000 und 200.000 lag,12 wird man aber nur bedingt von einer Massenbewegung sprechen können – umso mehr als die Rekrutierung in der Arbeiterschaft kaum Fortschritte machte: Der sozialdemokratische Arbeiter-Abstinentenbund zählte 1924 lediglich 3.300 Mitglieder.13 Wie schon vor dem Krieg dominierten mit Pastoren, Pädagogen und Ärzten typisch bildungsbürgerliche Berufe gerade die Schaltstellen der Antialkohol­ verbände. Immanuel Gonser, der von 1903 bis 1937 als Geschäftsführer der Temperenzverbände fungierte, war Arzt und überdies politisch ebenso anpassungsfähig wie der führende Kopf der Abstinenten, der Pädagoge Reinhard Strecker, 10 Die Mitgliederzahlen beziehen sich auf die Zeit 1920/24 und stammen aus: Elster, Alkoholismus, S. 230 f.; Bergman, Geschichte, S. 444 f. 11 Während der Inflation wurde die Fördersumme mit der Geldentwertung erhöht und ab 1924 in den Etat des Reichsinnenministeriums eingestellt. Vgl. Elster, Alkoholismus, S. 228; Bergman, Geschichte, S. 457, 462; Mumm, Kampf, S. 505 f. 12 Dass der Leiter der Reichshauptstelle, Reinhard Strecker, 1922 von 400.000 Anhängern sprach (SPAV 1922, S. 886), war eine progagandistische Übertreibung. Baumgartners Schätzung für 1911/12 liegt bei 230.000, und am Rückgang der Mitglieder seit der Vorkriegszeit besteht kein Zweifel. Die organisierten Abstinenzler schätzt Klatt, Alkoholfrage, S.  145, 1924 auf 100.000. Vgl. zudem Bergman, Geschichte, S. 447 f.; Elster, Alkoholismus, S. 231; Baumgartner, Antialkoholbewegung, S. 148. 13 Bergman, Geschichte, S. 439.

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der seine politische Heimat zunächst in der DDP, dann in der SPD suchte, bevor er 1933 Hitler unterstützte. Die wichtigste Mitstreiterin Gonsers war Liska Gerken-Leitgebel, Leiterin des umtriebigen Berliner Frauenvereins gegen den Alko­ holismus, die zusammen mit ihm den Zentralverband zum Studium des Alkoholismus betrieb, eine Art think tank der Bewegung, der viele Publikationen hervorbrachte. Außer einer Reihe von Geistlichen, in deren Händen die Leitung der kirchlichen Verbände lag, ist die Präsenz von Medizinern,14 Lehrern15 sowie von Erbauungsliteraten16 hervorzuheben. Als regelmäßige Sprachrohre standen vor allem der Neuland-Verlag sowie die Zeitschriften Auf der Wacht und Die Alko­holfrage zur Verfügung.17 Von den veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen unbeeindruckt, propagierte eine überschaubare, aber aktive Gruppe von Bildungsbürgern weiterhin ihre asketischen Ideale. Etwas neues wurde nur selten verkündet, denn die Grundlage der Agitation bildeten nach wie vor die Standardwerke der großen Vorbilder aus wilhelminischer Zeit von Gustav von Bunge, Abraham Baer und Wilhelm Bode.18 Im Unterschied zur Vorkriegszeit wurden aber im Krisen­ kontext der Jahre 1922/23 die Forderungen der Alkoholgegner beinahe zum Allgemeingut im politischen Diskurs. Dass die Kirchen und die Hausfrauenverbände ihren Feldzug gegen den Alkohol fortsetzten, ist wenig überraschend; eng waren hier die personellen und ideellen Verbindungen zu den alkohol­ gegnerischen Vereinen. Auffällig ist hingegen, wie stark sich nun auch SPD und Gewerkschaften mit gleichlautenden Forderungen hervortaten. Zwar gab es schon vor dem Krieg Sozialdemokraten wie Simon Katzenstein oder Georg Davidsohn, die gegen den Alkoholkonsum agitierten und im Jahr 1909 die Partei sogar zur Ausrufung eines Branntweinboykotts bewegten. Die Bemühungen der an Einfluss gewinnenden Temperenzler zielten aber darauf, über die Gefahr des unmäßigen Trinkens aufzuklären, während abstinenz­ lerische Verbotsforderungen kaum vorkamen und das Thema insgesamt randständig blieb.19 Auf dem Augsburger Parteitag im September 1922 bot sich ein anderes Bild: Dort waren fast dreißig Anträge gegen den seit Kriegsende vermehrten Alkoholkonsum eingegangen, der die Führungsgremien der Partei ge14 Zum Beispiel Emil Kraepelin, Anton Delbrück und Rudolf Theodor Bandel. 15 Besonders aktiv war der Deutsche Bund enthaltsamer Erzieher, der für die Einführung eines intensiveren Nüchternheitsunterrichts in den Schulen warb. Vgl. Klatt, Alkoholfrage, S. 148 ff. 16 Zum Beispiel Franziskus Hähnel und Georg Asmussen. 17 Eine genaue Analyse der Sozialstruktur des Deutschen Vereins für die Vorkriegszeit liefert Tappe, Weg, S.  290. Zu Gonser: ders., Rückschau; Proctor, Nazi War, S.  319; zu Strecker: ­Tilitzki, Universitätsphilosophie, S. 194 f. Zu Gerken-Leitgebel: Bergman, Geschichte, S. 454 f. Vgl. vor allem die über 300seitige Bibliographie von Klaus Dede zu den Publikationen der Antialkoholbewegung: www.klausdede.de/index.php?content=bibliographievomrausch (Zugriff: 12.4.2009). 18 Vgl. Elster, Alkoholismus, S.  241; Giles, Drinking, S.  475; Baumgartner, Antialkohol­ bewegung. 19 Vgl. Grüttner, Alkoholkonsum, S. 257–263.

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gen ihre eigene Klientel Stellung nehmen ließ. Der Fraktion wurde der Auftrag erteilt, dafür einzutreten, die Verwendung von Gerste für die Bierbrauerei scharf einzuschränken und die von Kartoffeln, Obst und Zucker für die Alkoholproduktion wie auch die Einfuhr alkoholischer Getränke ganz zu verbieten. Die Erziehung zu »Nüchternheit und Selbstbeherrschung« wurde zudem als wichtige Aufgabe der sozialistischen Organisationen bekräftigt.20 Die Spitzenverbände der Arbeiter und Angestellten hatten bereits einen Monat zuvor, im August 1922, ein noch weiter reichendes Kontrollprogramm ausgearbeitet, das der Regierung in den »Maßnahmen zur Bekämpfung der Teuerung« unterbreitet wurde. Dass ein großer Teil der unter dieser Überschrift erhobenen Forderungen auf eine paternalistische Konsumpolitik zielte, deutet erneut – wie schon im Fall der Wucherbekämpfung  – darauf hin, dass eine moralisch aufgeladene Politik, die sich an der Figur des Verbrauchers als Schutz- und Erziehung­sobjekt orientierte, die Suche nach wirkungsvolleren Instrumenten der Inflationsbekämpfung behinderte. Die Gewerkschaften empfahlen nicht nur ein Herstellungsverbot von Branntwein und Starkbier, sondern regten darüber hinaus ein vollständiges Alkoholverbot an. Zudem sollten die Schankkonzessionen eingeschränkt und die Gemeinden angewiesen werden, Gaststätten und Betriebe »in schärfster Weise zu besteuern«, in denen die Profiteure der Inflation – vor allem Spekulanten und Ausländer – ihr Luxusleben zelebrierten. Unter das Verdikt des verschwenderischen Luxus, der in einem verarmten Deutschland als eine schwere moralische Verfehlung erschien, fielen nicht nur der Alkohol, sondern mit Zigarren, Zigaretten, Tabak, Tee, Schokolade und Butter weitere Waren, die als Symbole des bescheidenen wilhelminischen Massenwohlstands gelten können. Deren Einfuhr über die Westgrenze, ermöglicht durch das laxe franzö­sische Handelsregime in Ems, galt es ebenfalls strikt zu unterbinden.21 Das Gewerkschaftsprogramm stellte eine Abkehr von den moderaten Erziehungsbestrebungen der Vorkriegszeit dar, mit denen etwa gegen den Alkohol am Arbeitsplatz vorgegangen worden war. Das im Sommer 1922 formulierte Ziel reichte bedeutend weiter. Es galt, das »ganze Leben des Volkes auf eine einfachere, bescheidenere Stufe« zu stellen, und zu diesem Zweck mochten die Funktionäre nicht auf die Besserungsfähigkeit der Konsumenten warten, sondern vertrauten auf Verbot und Kontrolle und befürworteten die Rückkehr zu kriegswirtschaftlichen Verhältnissen.22 Sie richteten sich damit auch gegen die Deregulierung des Jahres 1921, mit denen einige alltägliche Genüsse zurückgekehrt waren: eine größere Menge Bier durch den freien Verkehr von Gerste und 20 Protokoll SPD-Parteitag Augsburg 1922, S. 18, 103. 21 Vgl. Maßnahmen zur Bekämpfung der Teuerung sowie Vorschläge des Deutschen Gewerkschaftsbundes zur Abwendung bzw. Milderung der deutschen Wirtschaftskatastrophe, 24.8.1922, BA, R 43 I, 1132, Bl. 216–218; Sitzung des Bundesausschusses des ADGB, 28.9.– 1.10.1922, in: Ruck, Gewerkschaften, S.  629–631, 637, 647 f.; zur Diskussion im Kabinett: AdR Wirth I u. II, Bd. 2, S. 1047 f., 1053–1056. 22 Korrespondenzblatt des ADGB zit. n. SPAV 31 (1922), S. 960.

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Malz, ein gewisses Kontingent des beliebten Starkbieres sowie eine liberalere Polizeistunde in Preußen.23 Nicht nur in der Arbeiterbewegung, sondern auch quer durch die politische Landschaft wurden Forderungen nach einem aggressiven Vorgehen gegen den Alkohol und die »Schlemmerei« erhoben. Sogar der Wirtschaftspolitische Ausschuß des Vorläufigen Reichswirtschaftsrats, in dem es an Vertretern der liberalen Parteien und der Unternehmerschaft nicht fehlte, beschloss im August 1922 einstimmig, dass zur Bekämpfung der Inflation auch rigide konsumpolitische Eingriffe notwendig seien: Zu unterdrücken sei »aller überflüssige Luxuskonsum, der in Zeiten, wie den gegenwärtigen, die Volksstimmung verdirbt, die Volksmoral gefährdet und im Aus- und Inland ein falsches Bild von der deutschen Leistungsfähigkeit und den Entbehrungen der großen Masse des deutschen Volkes gibt«. Schnaps und Champagner sollten nicht mehr öffentlich ausgeschenkt werden dürfen, und die »beschämend hohe Zahl der Likörstuben, Bars, Dielen und Schlemmergaststuben« war zu reduzieren  – durch Steuern, Konzessionsverweigerung oder Verbot.24 Für die Alkoholgegner waren es goldene Zeiten, in denen das höchste wirtschaftspolitische Gremium Weimars ihre ureigensten Themen aufgriff und sogar die Landesregierung Bayerns, des Bollwerks der Alkoholkultur, der Reichsregierung die Einschränkung der Bier- und Schnapserzeugung empfahl.25 Nur wenige Wochen nach der Intervention von Gewerkschaften und Reichswirtschaftsrat reagierte die Regierung Wirth mit der Verordnung über Lebensmittel vom 8. September 1922, die einige der Forderungen erfüllte. Sie verbot die Verwendung von inländischem Zucker für die Herstellung von Branntwein, Sekt, Schokolade und Süßigkeiten, ferner die Herstellung von Branntwein aus Obst. Zudem wurde die Produktion von Starkbier, die erst einige Monate zuvor wieder zugelassen worden war, erneut untersagt und die von Vollbier eingeschränkt.26 Der Angriff gegen den Alkohol war in der Nachkriegszeit anschlussfähig wie nie zuvor, da jede Form des materiellen Genusses unter dem Generalverdacht der Verschwendung stand, solange die als Skandal betrachtete Wiederbelebung der Konsumkultur inmitten einer prekären Versorgungslage vor sich ging. Um den mentalen und diskursiven Hintergrund dieser Einstellung zu erhellen, die auf eine Politisierung aller »entbehrlichen« Formen des Konsums zielte, bietet sich der »Bund der Erneuerung wirtschaftlicher Sitte und Verantwortung« an, der als Ableger des Werkbundes im Jahr 1920 gegründet wurde und auf

23 Die Freiheit Nr. 611, 1922, zit. n. SPAV 31 (1922), S. 1075. 24 Entschließung zu der Frage der Ursachen und Folgen des Zerfalls der deutschen Währung und die zu seiner Bekämpfung anzuwendenden Mittel, in: Hauschild, Reichswirtschaftsrat, Bd. 1, S. 46–51, Zitat: S. 49 f. 25 Vgl. Denkschrift der Bayerischen Regierung zur Bekämpfung der Teuerung, 29.9.1922, in: BA, R 43 I, 1260, Bl. 288–290. 26 RGBl. 1922, Teil 1, S. 725 f.

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einem ausdrücklich konsumpolitischen Erziehungskonsens beruhte.27 Die Vereinigung wurde von dem Kunstkritiker und Redakteur der Vossischen Zeitung, Karl Scheffler, initiiert und war im Grunde nur ein kurzlebiges Gewächs im Biotop der sozialreformerischen Kräfte Weimars, denn schon ein Jahr nach der Gründung waren die finanziellen Mittel des Bundes erschöpft und er löste sich auf. Dennoch ist er von Bedeutung, da sich in seinem Anliegen und in der bunten Prominenz des liberalen und konservativen Bildungsbürgertums, das sich um ihn scharte, einerseits eine Belagerungsmentalität, andererseits ein unbedingter Wille zur »Erneuerung« Deutschlands spiegelten. Diese beiden Dis­ positionen wurden von Scheffler zu einem wirtschaftsethischen Programm verarbeitet, das den Konsum als zentrale Bedrohung und zugleich als Chance in den Mittelpunkt rückte. »Einfache Lebensführung, Verzicht auf übermäßigen oder ausländischen Luxus, Förderung aller deutschen hochwertigen Arbeit«28 waren die Hauptforderungen des Bundes, die in zwei Traktaten Schefflers – »Was soll ich tun?« und »Sittliche Diktatur«  – hergeleitet wurden. Von nationalökonomischen Kenntnissen unbeleckt und fest in der Tradition des deutschen Idealismus verwurzelt, glaubte Scheffler, allein durch die Anwendung des Kantschen Imperativs auf wirtschaftliche Zusammenhänge die Probleme der Zeit lösen zu können. Die Abhängigkeit Deutschlands vom Ausland bildete den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Den ehemaligen Feindesmächten sei daran gelegen, Deutschland zu einem »willenlosen Kunden des Auslands«29 zu machen und jenen Materialismus wiederanzustacheln, der im Kaiserreich den umfangreichen Konsumgüterimport bewirkt hatte und der auch nach dem Krieg sich wieder Bahn zu brechen drohte. Um nicht die finanzielle Verpflichtung des Reiches nach Versailles noch zu erhöhen, erschien eine Nationalisierung des Konsums unabdingbar: An erster Stelle war von den Verbrauchern so weit wie möglich der Verzicht auf Tabak, Alkohol und Mode aus dem Ausland zu verlangen. An eine vollständige Autarkisierung war aber nicht gedacht, denn die ersparten Mittel ließen sich nach Ansicht Schefflers für die Einfuhr notwendiger Lebens­ mittel und Industriegüter einsetzen. Als positive Kehrseite von Verzicht und Sparsamkeit wurde stets die Möglichkeit zur besseren Versorgung der Bevölkerung mit dem notwendigen Bedarfsgütern hervorgehoben. Die Konsequenz dieser sowohl nationalistischen als auch sozialen Vorstellungen war eine Diagnose, die zuerst von Walther Rathenau angestellt wurde, der der eigentliche 27 Zum Folgenden vgl. die Akte zum »Bund der Erneuerung« im RAM: BA, R 3901, 37049, Nr. 10450; sowie Scheffler, Jahre, S. 301–315; ders., Diktatur; ders., Was soll ich tun? – letztere Schrift wurde ohne Nennung eines Autors vom »Bund der Erneuerung« veröffentlicht, ein Vergleich mit der zuvor genannten lässt aber deutlich die Urheberschaft Schefflers erkennen. Vgl. zudem Campbell, Werkbund, S. 159–165; Geyer, Welt, S. 317 f. 28 Rundschreiben des RMI an die nachgeordneten Behörden zur Unterstützung des »Bundes der Erneuerung«, BA, R 3901, 37049, Nr. 10450, Bl. unnum. 29 Scheffler, Diktatur, S. 7.

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Spiritus rector des Bundes und zugleich dessen Mitglied war: Der »Verbrauch des Einzelnen [sei] nicht nur persönliche Angelegenheit, sondern ebenso Sache der Allgemeinheit«.30 Aus der eminent politischen Bedeutung des privaten Konsums leitete Scheffler freilich keine dirigistischen Forderungen ab, womit er sich von den eben gehörten Stimmen, die ein staatliches Vorgehen gegen den Alkohol verlangten, unterschied. Die anvisierte »sittliche Diktatur« sollte vielmehr von innen kommen und im Sinne Kants das Ergebnis von vernünftiger Einsicht und Willen sein. Die Bereitschaft zur freiwilligen Abkehr von Genuss, Mode und Luxus lasse sich lediglich durch Erziehung fördern, weshalb Wirtschaftsethik zum Bestandteil staatsbürgerlichen Unterrichts in allen Bildungseinrichtungen werden sollte; wer hingegen Verbote fordere, überschätze die Macht des Staates. In diesem Konzept war die hohe Wertschätzung von Gesinnung und Willen entscheidend. Die durchaus optimistische Neigung des Bürgertums, den Weg der Bildung dem des staatlichen Eingriffs vorzuziehen, überschnitt sich an dieser Stelle mit dessen pessimistischer Sicht auf die moderne Dynamik des Konsums. Schefflers Beschreibungen der Vergnügungen und Genüsse, vor denen es sich zu hüten galt, zeigen, dass der vernünftige Wille, dessen Fähigkeit zur Selbstdisziplin den Kern bürgerlicher Identität ausmachte, zugleich von einem rauschhaften Konsum bedroht schien. In der Rückschau auf die vergangenen Jahrzehnte glaubte er eine »große Albernheit«, einen »Strudel von Arbeit und Zerstreuung« zu erkennen, einen »Taumel«, dem sich niemand habe entziehen können. Eine Semantik des Kontrollverlusts bestimmt das Bild, und die Ausführungen Schefflers wirken wie der Aufruf zu einer großen Ernüchterung, die dem »rauschhaften Vergnügen und der Betäubung« ein Ende bereiten würde.31 Hier wurde nicht nur der bürgerliche Dekadenzdiskurs der Jahrhundertwende fortgeschrieben,32 die konsumreformatorische Haltung avancierte darüber hinaus zur Wunderwaffe für den Wiederaufbau. War den einzig unangreifbaren deutschen Ressourcen, Arbeit und Verzicht, erst zu gesellschaftlicher Geltung verholfen, stand dem erneuten Aufstieg nichts im Weg. Die Metaphern von Erneuerung, Gesundung und Wiedergeburt, die in Schefflers Traktat ebenso allgegenwärtig waren wie in der »Arbeitsgemeinschaft für Volks­ gesundung«, dem Dachverband der Sittlichkeitsvereine seit 1924, verdeutlichen zudem, welchen Stellenwert die Ablehnung bestimmter Konsumformen in diesem Weltbild einnahm. Genuss und Vergnügen, ob durch Essen und Trinken oder durch die materielle Kultur der Wohnungseinrichtung und der Mode vermittelt, galten sozialhygienisch gesehen als Krankheitserscheinungen, religiös

30 Vgl. ders., Was soll ich tun? (Zitat: S.  5); zu Rathenaus parallelen Überlegungen in »Von kommenden Dingen« vgl. oben, S. 165. 31 Scheffler, Diktatur, S. 13 f. 32 Vgl. hierzu Breckman, Disciplining.

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betrachtet als Sünde – in jedem Fall als das, was den Wiederaufstieg behinderte und korrigiert werden musste.33 Unverkennbar offenbarten sich im »Bund der Erneuerung« die Ideen von 1914, die dem »Zivilisationsramsch« die deutsche »hochwertige Arbeit« ent­ gegenstellten und dem ausländischen Luxus die armen, aber »vornehmen« Heroen der deutschen Geistesgeschichte.34 Dennoch war das von Scheffler ausgearbeitete Programm nicht ausschließlich rückwärtsgewandt, denn es befürwortete keineswegs die klassenspezifische Konsumstruktur des Kaiserreichs; die Massen waren nicht die Zielscheibe der Kritik. Auch wenn er das Loblied der handwerklichen Qualitätsarbeit anstimmte, konzedierte er doch zugleich die Bedeutung von Typisierung und Normierung für die moderne Produktion und war somit in dieser Frage ebenso unentschieden wie der Werkbund insgesamt. Scheffler bewegte sich im geistigen Horizont der Konservativen Revolution. Nur durch Rückbesinnung auf die ewigen Werte der Opferbereitschaft und der Arbeit ließ sich eine neue Gesellschaftsordnung errichten: jener »rechte Sozialismus«, in dem es »nicht mehr den Bourgeois und nicht mehr den Proletarier [gibt]; es gibt nur den neuen Bürger, alles darin ist Mittelstand«.35 Diese Position verweist nicht nur auf das Ideal der Volksgemeinschaft, sondern verdeutlicht auch, dass weniger die Distinktion als vielmehr der Produktivismus den archimedischen Punkt des »Bundes der Erneuerung« bildete. Die Überzeugung, dass der rauschhafte Genuss den Willen zur Arbeit korrumpiere, stand im Mittelpunkt seiner Mission der Verbrauchererziehung. Die Bedeutung des Bundes und der von ihm propagierten konsumpolitischen Prinzipien liegt nicht in seiner unmittelbaren Wirksamkeit. Diese war äußerst gering, wozu die kurze Dauer seines Bestehens ebenso beitrug wie die Tatsache, dass wenige konkrete Maßnahmen ins Auge gefasst wurden. Immerhin gelang es in einer Besprechung im Reichsinnenministerium, einige Behörden mit einem großen Beamtenapparat wie die Reichsbahn, die Post und die preußische Verwaltung dazu zu bewegen, den Aufruf und die programmatischen Broschüren des Bundes in ihren Dienststellen zu verteilen; »zählbare« Erfolge gab es darüber hinaus kaum. Was den Bund dennoch so interessant macht, ist der Umstand, dass sein Gründungsaufruf von einer Reihe prominenter Mitglieder des bildungsbürgerlichen Establishments unterzeichnet wurde, wodurch ein Einblick in die asketische Grundhaltung eines wichtigen Teils der liberalen und konservativen Eliten Weimars möglich ist.36

33 Vgl. Scheffler, Diktatur, S. 20; ders., Was soll ich tun?, S. 16; zur »Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung« vgl. Petersen, Zensur, S. 22–26. 34 Scheffler, Was soll ich tun?, S. 12 f. 35 Ders., Diktatur, S. 19; vgl. ders., Was soll ich tun?, S. 14. Zum Weltbild der Konservativen Revolution vgl. Sontheimer, Denken, S. 118 ff. 36 Vgl. BA, R 3901, 37049, Nr. 10450, Bl. unnum: darin der Gründungsaufruf des Bundes und die Liste der Unterzeichner.

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Aus der Regierung Fehrenbach, in dessen Amtszeit (1920/21) die Gründung fiel, unterschrieben außer dem Reichskanzler vier weitere Minister.37 Hinzu kamen liberale Führungsfiguren wie Rathenau, Gertrud Bäumer und Theodor Heuss sowie Konservative alter und neuer Prägung: vom Grafen von Posadowsky-Wehner bis zu Eugen Diederichs. Den Vorsitz des Bundes hatte Siegfried Graf von Roedern, auch wenn die eigentliche Initiative aus dem Werkbund kam, der daher neben Scheffler durch Peter Behrens, Ernst Jäckh und Karl Schmidt-Hellerau vertreten war. Weiterhin fanden sich zahlreiche Offiziere der Reichswehr sowie mehrere Intellektuelle und »deutsche Mandarine« wie etwa die Historiker Friedrich Meinecke, Hermann Oncken und Walter Goetz. Natür­ lich fehlte auch die bürgerliche Frauenbewegung nicht – außer Bäumer unterzeichneten Alice Salomon und Anna von Gierke. Besonders aufschlussreich ist schließlich eine parteipolitisch gemischte Gruppe, deren Interesse an der Lenkung des Konsums sich aus ihrer gemeinsamen Tätigkeit im Kriegsernährungsamt erklären dürfte: Sein konservativer Leiter Adolf von Batocki unterstützte den Bund ebenso wie der sozialdemokratische Staatssekretär August Müller und der spätere liberale Wirtschaftsminister Eduard Hamm. Diese Aufzählung, die sich auf die bekannteren Persönlichkeiten beschränkt, verdeutlicht den überparteilichen, bildungsbürgerlichen Zielkonsens, der im Genussverzicht bestand. Dass die Antialkoholbewegung angesichts einer solchen Disposition in Regierungskreisen auf offene Ohren stieß, ist nur allzu verständlich. Es kam hinzu, dass die Alkoholgegner sich schon längst nicht mehr auf eine rein religiös-­ moralisierende Verweigerungshaltung verließen, sondern aufgrund der seit Jahrzehnten vonstatten gehenden Verwissenschaftlichung der Bewegung und der von ihr betriebenen Pathologisierung des Alkoholkonsums genau jene Bereiche thematisierten, die für das Projekt des Wiederaufbaus besonders sensibel waren: zum einen die Gesundheit sowohl des individuellen Körpers als auch des »Volkskörpers«, zum anderen die Wirtschaft. Die gegen den Alkoholkonsum – gerade auch den mäßigen – in Stellung gebrachten Wissensbestände wirkten beeindruckend:38 Neuere medizinische Studien zeigten, dass auch moderates Gewohnheitstrinken zu einer dauer­haften Schädigung der Zellen führte, die sich gegen den Alkohol immunisierten und dabei für andere Krankheiten anfälliger würden. Nach internationalen Er­ hebungen von Kranken- und Lebensversicherungen bestand eine um etwa ein Viertel höhere Lebenserwartung für Abstinente; eine besonders hohe Sterblichkeitsrate wurde im Brauerei- und Gaststättengewerbe konstatiert. Auch die Unfallstatistik der Krankenkassen wies eine höhere Gefährdung der regelmäßigen 37 Innenminister Koch (DDP), Außenminister Simons (parteilos), Reichswehrminister Geßler (DDP), Postminister Giesberts (Zentrum). 38 Zum Folgenden vgl. die ausführliche Synthese des Forschungsstandes im Jahr 1923 bei ­Elster, Alkoholismus, S. 207–223; sowie vor allem ders., Konto; Wlassak, Grundriss; Klatt, Alkoholfrage.

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Alkoholkonsumenten nach; in England und der Schweiz wurden den Abstinenten von Unfallversicherungsgesellschaften bereits Vergünstigungen gewährt. Ein besonders düsteres Szenario entwarfen führende Vertreter der Rassen­ hygiene (Auguste Forel, Gustav von Bunge und Alfred Ploetz), die nicht zufällig auch zu den Vorkämpfern der Enthaltsamkeitsbewegung gehörten. Sie behaupteten, alkoholbedingte Degenerationserscheinungen im Vererbungsprozess festgestellt zu haben, wobei wiederum nicht allein die offensichtlich übermäßigen Trinker, sondern der Durchschnittsverbraucher als Problem galt, so dass »die Beseitigung des mittelmäßigen Trinkens vom rassehygienischen Standpunkt die allerwichtigste Forderung« war.39 Alle möglichen sozialen Pathologien wurden von entsprechend spezialisierten Untersuchungen mit dem Alkoholkonsum in Verbindung gebracht: schulischer Misserfolg bei Jugendlichen, Geschlechtskrankheiten, Prostitution, Kriminalität und zahlreiche psychische Erkrankungen. Unter den Abstinenzlern galt die propagandistische Faustregel, dass ohne den Alkohol die Gefängnisse ebenso wie die psychiatrischen Anstalten, in die die Alkoholiker oft eingewiesen wurden, sich um ein Drittel reduzieren ließen. Das hiermit anklingende Kostenkalkül verweist bereits auf den Argumenta­ tionsstrang, der in der angespannten Wirtschaftslage seit dem Krieg am meisten an Bedeutung gewann: Die ökonomische Bilanz des Alkohols erschien in jeder Hinsicht verheerend. Erstens verringerte sich nach arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen die individuelle Leistungsfähigkeit, zweitens stellten die Ausgaben für Alkoholika für den privaten Haushalt eine erhebliche Belastung dar, und drittens befand sich das »Konto des Alkohols in der deutschen Volkswirtschaft«, so der Titel einer in mehreren Auflagen erschienenen Studie, ständig im Soll: durch die Vergeudung von Ernteflächen, den Nährwertverlust durch Vergärung, die Belastung der Handelsbilanz und die unzureichende steuer­liche Abschöpfung.40 Alles das verdeutlicht, dass die verschiedenen mit dem Thema Alkohol befassten Experten eine Politisierung nicht nur des Alkoholismus, sondern des Alkoholkonsums überhaupt beförderten. Vor allem von den Abstinenzlern wurde nicht der Missbrauch, sondern der gewöhnliche Verbrauch in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt, denn nach ihrer Meinung verführte die euphorisierende Qualität des Alkohols fast automatisch zum Übermaß. Der diskursive Hintergrund für eine verstärkte Hinwendung des Staates zu diesem Konsumbereich hatte sich über längere Zeit herausgebildet, und schon vor dem Krieg waren die Hauptargumente der Alkoholgegner bekannt. Dass es auf dieser Grundlage erst in der Weimarer Republik dazu kam, dass ein erhöhter Druck in Richtung auf gesetzliche Maßnahmen wirksam wurde, hatte einen konkreten Anlass: In den ersten Nachkriegsjahren wurde schnell deutlich, dass mit dem Ende des Krieges auch das Ende der »Zwangsnüchternheit« ge­kommen 39 Elster, Alkoholismus, S. 213. 40 Vgl. ders., Konto. Den Horizont des ökonomischen Nullsummenspiels verdeutlicht auch der Aufruf an die Hausfrauen zum nationalen Konsum: Gerken-Leitgebel, Frauen.

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war. Alle Anzeichen sprachen für eine deutliche Zunahme des Alkoholkonsums zwischen 1919 und 1921: Die Kliniken und die Trinkerfürsorgestellen meldeten überall, dass die Zahl der wegen Alkoholismus behandelten Personen wieder rasch anstieg, nachdem sie sich während des Krieges drastisch verringert hatte. Die Bier-, Wein- und Branntweinproduktion legte wieder zu, und die Zahl der in Betrieb befindlichen Brauereien, von denen bis 1918 fast die Hälfte stillgelegt worden waren, lag zwei Jahre später sogar wieder auf dem Vorkriegsstand.41 Dass diese Entwicklung von vielen politischen Beobachtern nicht als Zeichen der Erholung, sondern des moralischen und wirtschaftlichen Verfalls beurteilt wurde, ist der dominierenden Selbstbeschreibung von der verarmten Nation zuzuschreiben. Weil die Verteilungsspielräume klein waren, die produktivistischen Tugenden von Arbeit, Planung und Gesundheit das Projekt des Wiederaufbaus begleiteten und weil schon aus reparationspolitischen Gründen das Bild von der deutschen Armut nicht durch Berichte über Trunk und Tanz gestört werden durfte, musste das, was als kollektive Flucht in den Rausch erschien, bekämpft werden. Die Auseinandersetzungen um eine schärfere öffentliche Kontrolle des Alkoholkonsums und der »Schlemmerei«  – darunter verstand der Sprachgebrauch »den übermäßigen Genuß von auserlesenen Speisen, Getränken und Genußmitteln«42 – sowie die parlamentarischen Debatten um ein Schankstättengesetz verdeutlichen, wie kontinuierlich in der Weimarer Republik um dieses Thema gestritten wurde und mit welcher bescheidenen Erfolgsbilanz diese Bemühungen endeten. Die Rechtsgrundlage für den Betrieb von Schank- und Gastwirtschaften bildete seit dem Kaiserreich die Reichsgewerbeordnung. Diese schrieb bereits die Konzessionspflicht für Gaststätten sowie für den Kleinhandel mit Branntwein vor, die jedoch liberal gehandhabt wurde. Im wesentlichen bestand sie aus einer Prüfung der persönlichen Zuverlässigkeit des Bewerbers und der Lokalität; darüber hinaus war den Landesbehörden die Möglichkeit gegeben, die Erlaubniserteilung von dem Vorhandensein eines lokalen Bedürfnisses abhängig zu machen. Das bedeutete in der Praxis lediglich, dass man Rücksprache mit den Gemeindebehörden hielt, bevor die Entscheidung auf dem Verwaltungsweg und sozusagen hinter verschlossenen Türen meist zugunsten des Antragstellers ausfiel.43 Gegen die relativ ungehinderte Ausbreitung von Gaststätten setzten sich die Alkoholgegner schon vor dem Krieg zur Wehr, indem sie vorschlugen, das Interventionsrepertoire des Staates zu erweitern. Außer der Verschärfung einiger Vorschriften, die den Alkoholausschank an Jugendliche und die Polizeistunde 41 Vgl. Saretzki, Reichsgesundheitsrat, S. 424–426; Die Zunahme des Alkoholismus, in: SPAV 31 (1922), S. 1076; Glücksmann, Gast- und Schankwirtschaftsgewerbe, S. 740; Bergman, Geschichte, S. 464. 42 Franz Mataré, Der Gesetzentwurf gegen die Schlemmerei, in: Münchener Neueste Nachrichten, 30.11.1921. 43 Vgl. Bornhak, Gemeindebestimmungsrecht, S. 16–19; Gerken-Leitgebel, Gemeindebestimmungsrecht, S. 485; Elster, Alkoholismus, S. 235–237.

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betrafen, waren zwei Ziele von größerer strategischer Bedeutung, die sich dem transnationalen Austausch auch dieser Reformbewegung verdankten: Zum einen wurde das in Schweden und Norwegen praktizierte Gotenburger System empfohlen, das in Deutschland unter dem Namen »Gasthausreform« lief. Es sah vor, die Gastwirtschaften durch die Gemeinde oder eine gemeinnützige Gesellschaft betreiben zu lassen und die Entlohnung der dort beschäftigten Wirte so zu gestalten, dass diese nur am Verkauf von nichtalkoholischen Getränken und Speisen ein finanzielles Interesse haben konnten. Zum anderen wurde das der amerikanischen »local option« entlehnte Gemeindebestimmungsrecht gefordert, das im Laufe des 19.  Jahrhunderts in den USA dazu genutzt wurde, auf einzelstaatlicher Ebene Prohibitionsgesetze mehrheitsfähig zu machen. Das Gemeindebestimmungsrecht sollte sämtlichen erwachsenen Gemeindemitgliedern – Männern wie Frauen – das Recht geben, über die Neuerteilung und Verlängerung von Schankkonzessionen per Abstimmung selbst zu entscheiden. Die Konzessionsfrage sollte also aus dem gewerbefreundlichen Verfahren des Verwaltungsrechts herausgelöst und ins Zentrum der lokalen politischen Öffentlichkeit gestellt werden, wo sich der Werbetätigkeit der Alkoholgegner ein Forum geboten hätte. Die demokratischen Impulse, die davon ausgehen konnten, beschränkten freilich die Chancen des Gemeindebestimmungsrechts im Kaiserreich, denn auch den Abstinenzlern schien, sofern sie konservativ und kirchlich organisiert waren, die Aussicht auf Frauenwahlrecht und Volksentscheid suspekt, und so unterstützten etwa die Guttempler und das Blaue Kreuz diese Forderung nicht. Immerhin gelangte im Jahr 1913 eine Petition mit 500.000 Unterschriften zur Einführung des Gemeindebestimmungsrechts vor den Reichstag; die ohnehin geplante Novellierung der Gewerbeordnung, in deren Rahmen das Thema wenigstens hätte diskutiert werden können, wurde aber aufgrund des Kriegsbeginns nicht mehr durchgeführt.44 Unter dem Eindruck des nach dem Krieg wieder zunehmenden Alkohol­ konsums mehrten sich die Stimmen – nun auch in den wichtigsten staatlichen Institutionen –, die verlangten, dem Gaststättengewerbe gesetzliche Schranken zu setzen. Bereits im Jahr 1921 war vor allem das Berliner Nachtleben ein Stein des Anstoßes. Der dortige Polizeipräsident berichtete, dass die Gewerbeordnung keine hinreichende Handhabe gegen die immer zahlreicheren Lokale und die regelmäßige Übertretung der Polizeistunde biete. Reichskanzler Fehrenbach regte daraufhin beim Preußischen Ministerpräsidenten Stegerwald an, auf dem Verordnungswege einzugreifen, denn es sollte, schon um des nationalen Zusammenhaltes willen, unbedingt verhindert werden, dass Berlin »den Eindruck der vergnügungssüchtigsten Stadt Europas« machte. Reichspräsident Ebert drängte sogar auf konkrete Maßnahmen wie ein Verkaufsverbot von Champagner und Sekt bei Tanzveranstaltungen, doch Stegerwald, der die »schrankenlose Genußsucht« nicht weniger verwerflich fand, gab zurück, dass etwaige Verbote kaum 44 Vgl. Goesch, Gesetz, S. 7–12; Wlassak, Grundriss, S. 212–234; Klatt, Alkoholfrage, S. 122– 148; Elster, Alkoholismus, S. 238–240.

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durchsetzbar seien.45 So wie die Wucherverfolgung an der Eigengesetzlichkeit des Marktes scheiterte, werde sich bei vermehrter polizeilicher Kontrolle ein Schwarzmarkt des Vergnügens entwickeln: Kneipen konnten zu geschlossenen Gesellschaften deklariert werden, Strohmänner als Konzessionsnehmer auftreten, wenn die Schankerlaubnis verweigert wurde. Die Bayerische Landesregierung ließ sich von solcherlei Bedenken nicht irritieren und beantragte im Dezember 1921 im Reichsrat ein Gesetz gegen Schlemmerei, das demjenigen mit empfindlichen Haft- und Geldstrafen drohte, der »aus Hang zum Wohlleben sich derart übermäßig der Genußsucht hingibt, daß dadurch angesichts der Not des Volkes Ärgernis erregt werden kann«.46 Die Unmöglichkeit, diese Bestimmung so zu spezifizieren, dass ein klar umrissener Tatbestand daraus hervorging und nicht Denunziation und richterlicher Willkür Tür und Tor geöffnet wurden, ließ diesen Antrag im Reichsrat zwar scheitern, doch der politische Wille, dem großstädtischen Amüsierbetrieb nicht nur mit den fragwürdigen Mitteln des Polizeistaats zu begegnen, sondern auf die Eindämmung der Alkoholkultur durch eine Veränderung der gesetzlichen Rahmenbedingungen hinzuwirken, nahm weiter Gestalt an. Als sie den Antrag Bayerns ablehnte, forderte die Länderkammer im Jahr 1922 von der Regierung Maßnahmen gegen die »immer mehr um sich greifende Völlerei und Schlemmerei«, und der Reichstag verlangte die Vorlage eines »Gesetzentwurfes gegen den Alkoholmißbrauch«.47 Die entscheidende Initiative hierzu ging vom Bevölkerungspolitischen Ausschuß aus, dessen Zusammensetzung in dieser Hinsicht interessant ist: Fast die Hälfte seiner Sitze (zwölf von 28) ging an Frauen, die im Vergleich zu ihrer sonstigen parlamentarischen Präsenz deutlich überrepräsentiert waren.48 Das zeigt – wie in den Debatten um die Brotversorgung –, dass auf dem Feld der Konsum­politik die Frauen eine besondere Aktivität entfalteten; in diesem Fall stand einmal nicht die Hausfrau als das mit Rechten und Pflichten versehene Referenzsubjekt im Mittelpunkt, sondern der überwiegend männliche Alkoholkonsument. Unterdessen waren auch die Antialkoholverbände nicht untätig und warben um öffentliche Unterstützung für gesetzliche Maßnahmen. In einer Reihe von Städten organisierten sie Probeabstimmungen über ein mögliches Alkoholverbot und erlangten geradezu verdächtig hohe Zustimmungsraten von sechzig bis neunzig Prozent. Die Vertreter des Alkoholgewerbes monierten zurecht, 45 Vgl. Berliner Polizeipräsident an RMI, 12.1.1921, BA, R 43 I, 1487, Bl. 54; Rk Fehrenbach an Preuß. Ministerpräs. Stegerwald, 20.2.1921, ebd., Bl. 37–40, Zitat: Bl. 37, in der Anlage die Vorschläge Eberts; Preuß. Ministerpräs. Stegerwald an Rk Fehrenbach, 3.5.1921, ebd., Bl. 52 f. 46 Zit. n. Denkschrift zur Wirtschaftslage, 21.12.1922, in: AdR Cuno, S. 87; vgl. zudem Franz Mataré, Der Gesetzentwurf gegen die Schlemmerei, in: Münchener Neueste Nachrichten, 30.11.1921. 47 Vgl. Denkschrift zur Wirtschaftslage, 21.12.1922, in: AdR Cuno, S.  87 f.; Entwurf eines Schankstättengesetzes, in: Hauschild, Reichswirtschaftsrat, Bd. 1, S. 73–75. 48 Zur Zusammensetzung des Ausschusses vgl. StenBerRT Bd. 344, S. 309 (28.7.1920); zu seiner Vorlage an den Reichstag: ebd., Bd. 368, Anlage Nr. 2438.

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dass an diesen freiwilligen, nicht offiziellen Plebisziten vor allem die Alkoholgegner teilgenommen hätten, deren Mobilisierungsfähigkeit aber durchaus bemerkenswert war. Sie zeigte sich auch darin, dass auf dem Zweiten Kongreß für alkoholfreie Jugenderziehung im Mai 1922 zahlreiche große Jugendverbände in einer gemeinsamen Erklärung ein sofortiges Alkoholverbot für Jugendliche unter 18 Jahren forderten und die Regierung damit weiter unter Druck setzten.49 Die Aufwertung der politischen Rolle der Frauen in Weimar und die hohe Bedeutung, die der Jugend als Verkörperung der nationalen Zukunft zugeschrieben wurde, spielte der Antialkoholbewegung sichtlich in die Hände. Im Jahr 1923 kam dann die einmalige Gelegenheit zur Durchsetzung ihrer wichtigsten Ziele. Der Zug zur staatlichen Intervention beschleunigte sich ausgerechnet nach dem Regierungsantritt Wilhelm Cunos, der als Direktor der HAPAG im Grunde für einen wirtschaftsliberalen Kurs stand. Das bürger­ liche Minderheitenkabinett Cuno drängte aus zwei Gründen auf ein energisches Einschreiten gegen das großstädtische Entertainment und den Alkoholgenuss. Zum einen waren vor dem Hintergrund des sich noch verschärfenden Konflikts mit den Alliierten über die deutsche Zahlungsfähigkeit die Berichte der Auslandspresse über das Luxusleben der Berliner Bohème fatal. Anfang Januar alarmierte der deutsche Botschafter in Washington die Reichsregierung, dass in den Zeitungen von »großen Orgien« in Hotels zu lesen sei, die Stimmung in der amerikanischen Öffentlichkeit deshalb zu kippen drohe und weitere Unterstützung etwa für die Getreidekredite kaum zu erwarten seien, wenn nicht eingegriffen werde.50 Zur gleichen Zeit – das war der zweite Grund – wurde mit der beginnenden Besetzung des Ruhrgebiets die innerdeutsche Solidarität auf die Probe gestellt. Weil Regierung und Presse die Sache zum nationalen Abwehrkampf stilisierten, durften sich die Menschen im Ruhrgebiet als Frontkämpfer verstehen, deren besondere Entbehrungen zu dem »Schlemmerleben im unbesetzten Gebiet«, so die gängige Wahrnehmung, in einem krassen Gegensatz standen. Die politischen Repräsentanten des Ruhrgebiets berichteten schockiert von ihren Reisen in die Hauptstadt, ihren Eindrücken aus »Varietés, Vergnügungslokalen, von dem Straßentreiben und der Lichtfülle in Berlin«.51 Noch im Januar verabschiedete das Kabinett den Entwurf eines Schank­ stättengesetzes, das im Juni in den Reichstag gelangte und zentrale Forderungen der Alkoholgegner enthielt: Der Bedürfnisnachweis für Gaststätten, der bislang in der Kompetenz der Landesregierungen lag, sollte reichsgesetzlich verpflichtend werden; Gemeinden und gemeinnützige Gesellschaften sollten bei der 49 Abstimmungen in Bielefeld, Oldesloe, Altona-Ottensen, Heidelberg, Darmstadt, Elbing. Vgl. Klatt, Alkoholfrage, S.  141; kritisch dazu: Bornhak, Gemeindebestimmungsrecht, S. 11 f. Zu den Forderungen der Jugendverbände: BA, R 43 I, 1199, Bl. 44; Denkschrift zur Wirtschaftslage, 21.12.1922, in: AdR Cuno, S. 88. 50 Telegramm des deutschen Botschafters Wiedfeldt, 5.1.1923, BA, R 3101, 12218, Bl. unnum. 51 Otto Boelitz, Preuß. Minister f. Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, an die Reichskanzlei, 18.8.1923, BA, R 43 I, 1199, Bl. 295; Bericht über die Lage im besetzten Gebiet, 19.3.1923, ebd. R 3101, 12218, Bl. unnum.

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Konzessionsvergabe bevorzugt werden, um eine Gasthausreform nach skandinavischem Vorbild in die Wege zu leiten; vor allem aber war die Möglichkeit zur Einführung des Gemeindebestimmungsrechts auf dem Weg der Landesgesetzgebung vorgesehen.52 Doch Cuno und seinen Staatssekretär Eduard Hamm, der ja den »Bund der Erneuerung« unterstützte und nun eine entsprechende Aktivität entfaltete, drängte die Zeit: In einem öffentlichen Rundschreiben an die Landesregierungen forderte der Reichskanzler dazu auf, schon die bestehenden rechtlichen Möglichkeiten mit aller Härte in Richtung Bedürfnisnachweis, Konzessionsentzug, Polizeistunde und Jugendverbot auszulegen. Die Erlaubnis zu Tanzveranstaltungen war grundsätzlich zu versagen. Sollten Verbote die rauschhafte Verbindung von Tanz und Alkohol im öffentlichen Raum eliminieren, galt es im privaten Leben durch Erziehung zu wirken. Verzicht und Bescheidenheit hätten wieder als »vaterländisch« zu gelten, das öffentliche Leben müsse wieder »rein und deutsch« werden.53 Die Landesbehörden reagierten unverzüglich: Der Preußische Innenminister etwa verordnete Tanzverbote, eine Verkürzung der Polizeistunde und ein Alkoholverbot für Jugendliche unter 16 Jahren. Zudem zog das Notgesetz vom 24.  Februar 1923 den allgemeinen Bedürfnisnachweis für Gaststätten vor, der eigentlich erst im noch zu verabschiedenden Schankstättengesetz vorgesehen war; das brachte freilich keine zusätzliche Verschärfung, denn schon Monate zuvor hatte das Ministerialblatt für die preußische Verwaltung verkündet, dass bei Konzessionsanträgen die »Bedürfnisfrage grundsätzlich zu verneinen« sei.54 Für sein Engagement erhielt Cuno von den Sittlichkeits- und Antialkohol­ verbänden fast überschwängliche Dankesschreiben, und mit triumphaler Geste organisierten sie eine Unterstützungskundgebung im Reichstag.55 Über dem Aktionismus von höchster Stelle ließ sich leicht vergessen, dass das eigentliche Ziel der Alkoholgegner, das Schankstättengesetz, noch nicht erreicht war. Das sollte sich rächen, zumal sich bald herausstellte, dass – wie zu erwarten – die bis dahin getroffenen Maßnahmen nicht kontrollierbar waren. Arbeitsminister Brauns verlangte nach weiteren Eingriffen, da ihm die Gewerkschaften zutrugen, dass nach wie vor alle Anzeichen des Luxus vom zunehmenden Automobilverkehr bis zur »übergroßen Zahl von Gaststätten kostspieligster Art« in der Arbeiterschaft für Missstimmung sorgten. Ein halbes Jahr nach der Verordnungsoffensive im Januar und Februar 1923 musste Staatsekretär Hamm jedoch eingestehen, dass die Reichskanzlei sich von weiteren polizeilichen Eingriffen 52 Vgl. Entwurf eines Schankstättengesetzes, 8.1.1923, BA, R 43 I, 1199, Bl. 77 f.; Zustimmung des Kabinetts am 12.1.1923: AdR Cuno, S. 133. Besonders informativ ist die ausführliche Begründung des Gesetzentwurfs in: StenBerRT Bd. 378, Nr. 5910. 53 Vgl. Rundschreiben des Reichskanzlers an die Landesregierungen, 16.1.1923, in: AdR Cuno, S. 151–155, Zitate: S. 154 f. Zur Tätigkeit Hamms vgl. ebd., S. XXXVIII. 54 Vgl. zur Reaktion der Länder: BA, R 43 I, 1199, Bl.  138, 188, 270 f.; das Notgesetz vom 24.2.1923: StenBerRT Bd. 376, Anlage Nr. 5535; die Notiz im Verwaltungsblatt zit. in: BA, R 43 I, 1199, Bl. 106. 55 Vgl. die Schreiben in: BA, R 43 I, 1199, Bl. 163 ff.; zur Kundgebung: ebd., Bl. 251 f.

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nichts versprach und das Rundschreiben Cunos weitgehend ohne Erfolg geblieben war.56 Im Grunde traf das nur halb zu, denn die Maßnahmen hatten sehr wohl die Wirkung, dass sie den Gastwirten das Leben schwer machten. Nach einer Erhebung für das Statistische Jahrbuch der deutschen Städte lag noch Ende 1924 die Zahl der Gaststätten überall deutlich unter der des Jahres 1911. Dafür war neben der gesunkenen Nachfrage zweifellos auch das verschärfte Konzessionsrecht verantwortlich. In Berlin wurden zwischen 1921 und 1924 insgesamt nur 580 Konzessionen neu erteilt, während es im Jahr 1911 allein 2.884 gewesen waren.57 Der eigentliche Zweck der Eingriffe, den de­monstrativen Genuss einzuschränken, wurde jedoch verfehlt, denn der Impuls dazu, der vom Währungsverfall gerade auf die Besitzer von Devisen ausging, ließ sich nicht durch ein Herumkurieren an den letzten Symptomen der Konsumkultur unterdrücken. Die Befürworter der Antialkoholgesetzgebung versäumten es, das Schankstättengesetz durch den Reichstag zu bringen, als in der ersten Jahreshälfte 1923 das politische Momentum dafür vorhanden war. Weil im Verlaufe des Jahres andere, die staatliche Existenz unmittelbar betreffende Probleme wie die Währungsreform und die Abwehr antirepublikanischer Umsturzversuche Vorrang hatten und auch weil der Reichstag im Krisenjahr 1923 dazu neigte, sich zugunsten einer Notverordnungspolitik aus der politischen Verantwortung zu ziehen, blieb der Gesetzentwurf unbearbeitet.58 Erst Anfang 1925 forderte ein Antrag der sozialdemokratischen Fraktion und des Bevölkerungspolitischen Ausschusses die erneute Vorlage des Schankstättengesetzes. Inzwischen hatten sich allerdings auch die Vertreter des Alkoholgewerbes – vor allem der Brauereien und des Hotel- und Gaststättengewerbes – formiert und einen lobbyistischen und publizistischen Feldzug gegen das Gesetz auf die Beine gestellt.59 Im Reichstag folgte dann am 18. Februar 1925 eine große Aussprache über die »Alkoholfrage«. Zur Debatte stand in erster Linie das Gemeindebestimmungsrecht, das im Gesetzentwurf von 1923 enthalten war. Es sah vor, dass auf Antrag eines Fünftels der Mitglieder einer Gemeinde eine Abstimmung darüber erfolgen sollte, ob dort Schankkonzessionen vergeben wurden und ob überhaupt weiterhin Alkohol zum Verkauf stehen sollte. Wenn sich drei Viertel der Wahlberechtigten an der Abstimmung beteiligten und eine Zweidrittel-Mehrheit der Stimmen zustande kam, konnte die Gemeinde schließlich ein Alkoholverbot erlassen. Das waren eigentlich recht hohe Hürden, die dafür sorgen sollten, dass, wie es in der Begründung des Ent56 Zum Implementierungsproblem vgl. BA, R 43 I, 1199, Bl. 176, 181, 294 f.; RAM Brauns an Rk Cuno, 7.6.1923, in: ebd., Bl. 274; Antwort durch StS Hamm, 14.6.1923, in: ebd., Bl. ­284–286. 57 Böhmert, Gast- und Schankwirtschaften, S. 139 f., 147. 58 Am 16.6.1923 wurde der Entwurf zur Vorberatung an den Bevölkerungspolitischen Ausschuß überwiesen, wo er liegen blieb (StenBerRT Bd. 360, S. 11432). Zur Rolle des Reichs­ tages in der Inflation vgl. Raithel, Spiel, S. 217 ff. 59 Vgl. Strecker, Kampf; Baurichter, Freiheitskampf. Einige der wichtigsten Argumente zugunsten des Alkoholgewerbes präsentierten Bornhak, Gemeindebestimmungsrecht; ­Dührssen, Wahrheit.

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wurfs hieß, eine »Trockenlegung« Deutschlands sobald nicht zu erwarten war.60 Aber genau um diese mögliche Konsequenz des Gesetzes drehte sich die parlamentarische Auseinandersetzung. Die Anhänger des Schankstättengesetzes standen dabei vor einem argumentativen Dilemma: Während sie im Reichstag beteuerten, dass das Gemeindebestimmungsrecht keineswegs mit einem staatlichen Verbot gleichzusetzen sei, betonte die gesamte Propagandaliteratur der Antialkohol­bewegung, dass damit der erste Schritt in Richtung »Trockenlegung« getan werde. Zudem war offensichtlich, wie die Vertreter des Alkoholgewerbes in den Mittelstandsparteien immer wieder hervorhoben, dass in den USA die »Lokaloption« den Auftakt zur Prohibition gebildet hatte. Daher bestimmte auch der Konflikt um die Deutungshoheit über die ausländischen und insbesondere die amerikanischen Erfahrungen mit dem Alkoholverbot die Diskussion. In dieser Hinsicht waren die Verbotsanhänger ebenfalls in die Defensive geraten. Zwar versuchten sie nach wie vor mit Medizinal-, Kriminalitätsund Unfallstatistiken aufzutrumpfen, doch nach mehreren Jahren »löchriger« Prohibitionspraxis häuften sich die Belege, dass nicht Enthaltsamkeit, sondern Schmuggel und Schwarzbrennerei den amerikanischen Alltag prägten. Das dokumentierten von amtlicher Seite eine Denkschrift des Reichsgesundheitsrates sowie eine Fülle privater Reiseeindrücke und der Großteil der Tagespresse.61 Die Debatte kreiste aber nicht nur um das Problem der Tauglichkeit des amerikanischen »Vorbildes«, sondern auch um die Frage, an welcher Stelle der Staat bei der Kontrolle des Alkoholkonsums einzugreifen hatte und wo letztlich das Selbstbestimmungsrecht der Konsumenten zu verorten war: beim Individuum oder in der demokratisch verfassten Gemeinde. Die Gegner des Schankstättengesetzes spitzten ihre Position hinsichtlich der Aufgabe des Staates geschickt auf die Alternative »Verbot oder Erziehung« zu und wussten dabei den Temperenzlern durchaus entgegenzukommen: Es sei einerseits unbedingt präventiv die Erziehung zur Mäßigkeit staatlich zu fördern, andererseits die Verfolgung von Trunkenheitsdelikten durch eine Strafrechtsreform zu verschärfen. In puncto Konzessionswesen sah man alles wichtige bereits durch das Notgesetz von 1923 erledigt – eine ironische Wendung dieses, wie sich jetzt herausstellte, verfrühten Erfolges der Alkoholgegner. Vor allem aber hielten die Anwälte einer liberalen Alkoholpolitik ein leidenschaftliches Plädoyer für die individuelle Entscheidungsfreiheit, in der man sich nicht von Abstinenzlern bevormunden lassen wollte – 60 Vgl. Entwurf eines Schankstättengesetzes, StenBerRT Bd. 378, Anlage Nr. 5910 (6.6.1923). 61 Vgl. StenBerRT Bd. Bd. 384, S. 684–704 (18.2.1925). Die Denkschrift des Reichsgesundheitsrats erschien zwischen 1924 und 1926 in vier Auflagen: Bogusat, Alkoholverbot, S. 16 f., 30 f. Bogusat konstatierte zugleich auch positive Auswirkungen der Prohibition im Hinblick auf Kriminalität, Gesundheitszustand und Sparverhalten der Bevölkerung. Es wäre müßig, die zahllosen publizistischen Kommentare zur amerikanischen Prohibition anzuführen. Die Antialkoholbewegung selbst führte in ihren Debatten und Schriften laufend Klage, dass – wie der sozialdemokratische Alkoholgegner Kurt Baurichter zusammenfasste – die »landläufige Meinung in Deutschland […] das völlige Mißlingen des Alkoholverbotes« konstatierte. (Amerika trocken, S. 5)

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Helene Weber, die führende Repräsentantin der katholischen Frauenbewegung kommentierte dazu kritisch-süffisant, dass »in diesem Hohen Hause noch niemals so sehr im Namen der persönlichen Freiheit gesprochen worden« sei.62 Die Anhänger der lokalen Verbotsoption, zu denen auch Weber gehörte, verwiesen dagegen auf die weit größere »soziale und kulturelle Aufgabe« des Staates im Kampf gegen den Alkohol.63 Die Freiheit des – vorwiegend männlichen und erwachsenen  – Alkoholkonsumenten erschien ihnen als in mehrfacher Hinsicht problematisch: Sie stellte, nicht nur in den Augen der Linken, eine verschleierte Form der Abhängigkeit vom »Alkoholkapital« dar, und die allgegenwärtige Gelegenheit zum Trinken erschien als das Instrument der Verführung. Frauen und Kinder waren zudem die Leidtragenden der Konsumfreiheit ihrer alkoholisierten Männer und Väter. Die Konsumentensouveränität hatte daher hinter dem Recht der Gemeinschaft auf Schutz der »Volksgesundheit« zurückzutreten. Dieses Recht sollte im demokratischen Votum der Gemeinde verankert werden, das den Frauen also ermöglichte, über den Alkoholkonsum ihrer Männer mitzuentscheiden. In einer namentlichen Abstimmung wurde die erneute Vorlage des Schankstättengesetzes und damit auch das Gemeindebestimmungsrecht schließlich mit 199 zu 165 Stimmen, bei 16 Enthaltungen, abgelehnt. Allerdings war eine parteienübergreifende und den Fraktionszwang teilweise auflösende Allianz von Alkoholgegnern entstanden, die den Sieg nur knapp verfehlte: Für das Gesetz stimmten SPD und KPD sowie Teile des Zentrums und der DDP, während die Enthaltungen fast sämtlich aus den Reihen der DNVP kamen, die ihren Parteifreunden nicht offen in den Rücken fallen mochten. Die Ablehnung kam durch die Stimmen der Deutschnationalen, der DVP, der Nationalsozialisten, der verbotsfeindlichen Zentrums- und DDP-Abgeordneten sowie – mit besonderer Geschlossenheit  – der mittelständlerischen Wirtschaftlichen Vereinigung und der Bayerischen Volkspartei zustande. Woran der Gesetzentwurf scheiterte, wird anhand des Alternativantrages deutlich, dem der Reichstag sich am Ende mit großer Mehrheit (305 zu 53 Stimmen) anschloss.64 Dieser Antrag, der von dem deutschnationalen Theologen Hermann Strathmann eingebracht wurde und erkennen lässt, in welcher Zwickmühle sich die pädagogisch engagierten konservativen Abgeordneten befanden, verlangte von der Regierung, »schleunigst ein Gesetz zum Schutze der Jugend gegen die Gefahren des Alkoholismus und zur Verbesserung des Schankkonzessionswesens unter Ablehnung der Trockenlegung Deutschlands« vorzulegen.65 Das »Gespenst der Tro62 Weber (Zentrum), StenBerRT Bd. 384, S. 700 (18.2.1925). 63 So der SPD-Abgeordnete Sollmann: ebd., S. 684. Die DDP-Politikerin Marie-Elisabeth Lüders fasste die ambitionierte Zielsetzung der Alkoholpolitik so zusammen: »Wiederherstellung der geistigen und sittlichen und körperlichen Gesundheit, Wiederaufbau der moralischen und physischen Kraft Deutschlands« – nicht nur Lüders bewegte sich damit noch Mitte der zwanziger Jahre im Diskurshorizont einer Nachkriegsgesellschaft (Ebd., S. 704). 64 Vgl. StenBerRT Bd. 384, 18.2.1925, Namentliche Abstimmungen. 65 StenBerRT Bd. 384, S. 687 (18.2.1925).

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ckenlegung Amerikas«,66 das mit dem Gemeindebestimmungsrecht verbunden war, brachte also das Schankstättengesetz zu Fall, während für mildere – erzieherische – Formen der alkoholpolitischen Intervention breite Zustimmung signalisiert wurde. Diese Entscheidung hatte eine widersprüchliche Konsequenz: Einerseits stellte die alkoholgegnerische Allianz ihre Bemühungen keineswegs ein, sondern in­ tensivierte sie noch einmal im folgenden Jahr, andererseits war ihre erneute Niederlage durch die diskursive und interessenpolitische Konstellation programmiert, die sich bereits 1925 herauskristallisiert hatte. Es wurden wieder verstärkt lokale Probeabstimmungen vorgenommen, und im Frühjahr 1926 fand darüber hinaus eine gewaltige Unterschriftensammlung statt, die zwei Millionen Stimmen zur Einführung des Gemeindebestimmungsrechts einbrachte und dem Reichstag vorgelegt wurde. Auch das »Alkoholkapital« mobilisierte abermals seine Kräfte, ließ eine Flut von Artikeln und Plakaten veröffentlichen und drohte bisweilen Zeitungen, die abstinenzlerische Beiträge brachten, mit dem Entzug der Inserate. Koordiniert wurde die Gegenpropaganda durch den »Deutschen Abwehr-Bund gegen die Ausschreitungen der Abstinenzbewegung«, in dem sich wichtige Verbände des Alkoholgewerbes wie etwa der Deutsche Brauerbund bereits vor dem Krieg zusammengeschlossen hatten; an seiner Seite standen die Handelskammern, die gegen die drohende Beschränkung der Gewerbefreiheit protestierten.67 Als der Reichstag im Mai 1926 in zwei weiteren Redeschlachten über ein neues Schankstättengesetz debattierte68 und sich schließlich mit einer deut­ licheren Mehrheit als im Jahr zuvor gegen die Aufnahme eines Gemeindebestimmungsrechtes entschied, geschah das auch deshalb, weil die Abgeordneten angesichts der laufenden öffentlichen Kampagnen beider Seiten einen Vorgeschmack darauf bekamen, was die zu erwartenden kommunalen Abstimmungen an sozialem Konfliktstoff geboten hätten. Einer weiteren Ausdehnung des demokratischen Prinzips auf Kosten verwaltungsrechtlicher Kompetenzen stand die Mehrheit skeptisch gegenüber. Zweifellos spielte auch die Erwägung eine Rolle, welche sozialen und ökonomischen Folgen die Einschränkung des Gaststättenwesens sowohl im Hinblick auf die Entwicklung der Arbeitslosigkeit als auch für die boomenden Fremdenverkehrsorte in Deutschland haben würde. Die entscheidende Strategie, die den Verbotsgegnern den Sieg eintrug, bestand aber darin, dass sie das Gemeindebestimmungsrecht mit der zwangsweise verordneten Abstinenz identifizierten – darauf deuten alle Debattenbeiträge hin, gerade auch jene, die fast flehentlich diese Gleichsetzung bestritten.69 66 Strathmann (DNVP), ebd., S. 688 (18.2.1925). 67 Vgl. Strecker, Kampf; Klatt, Alkoholfrage, S. 93–96. 68 Zum Folgenden vgl. StenBerRT Bd. 390, S. 7082–7107 (8.5.1926), S. 7116–7152 (10.5.1926). 69 Vgl. zusammenfassend das Urteil des Alkoholgegners Friedrich Goesch, »daß die Agitation der Alkoholgewerbe es verstanden hat, planmäßig die Begriffe Gemeindebestimmungsrecht und Alkoholverbot als gleichbedeutend hinzustellen« (Goesch, Gesetz, S. 24).

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Ein in Massenauflage verbreitetes Spottgedicht zielte auf die Stimmung an den Stammtischen, artikulierte aber zugleich eine auch im Reichstag verbreitete Befürchtung: »Was will das Gemeindebestimmungsrecht erreichen? / Daß wir als Abstinenzler durch’s Dasein schleichen! / Was will dieses Unrecht von Rechtes wegen? / Wie Wickelkinder will es uns trocken legen, / […] Will das Bier uns nehmen, das wir trinken in Ruh’, / Zigarren und Pfeifchen und Schnäpschen dazu.«70 Nach der neuerlichen Niederlage war die Front der Alkoholgegner nachhaltig entmutigt. Als die Regierung im Jahr 1928 endlich ein Schankstätten­gesetz in den Reichstag einbrachte, das wiederum erst 1930 verabschiedet wurde, aber keine großen Veränderungen gegenüber der bestehenden Gewerbeordnung und dem allgemeinen Bedürfnisnachweis enthielt, wurde die Forderung nach dem Gemeindebestimmungsrecht nicht mehr erhoben.71 Die konsumkulturelle wie die politische Bilanz der jahrelangen Bemühungen fiel denkbar schlecht aus. Nachdem während der Inflation der Alkoholverbrauch noch einmal zurückgegangen war, verdoppelte sich der Bierkonsum zwischen 1923/24 und 1929/30 von 45 auf 90 Liter pro Kopf und Jahr und näherte sich damit wieder dem Vorkriegsniveau.72 Das eigentliche Ziel der Bewegung, die langlebige Einschränkung des Verbrauchs, war weit verfehlt; die schärfere gesetzliche Reglementierung der Gaststätten blieb aus. Es überdauerte ein »leer« laufender Enthaltsamkeitsdiskurs, der von einer breiten, aber eben doch minoritären Allianz getragen wurde, welche die Liberale Marie-Elisabeth Lüders folgendermaßen beschrieb: Wer für das Schankstättengesetz stimmte, werde »in einer Reihe stehen mit den Geistlichen, den Lehrern, mit allen Arten von Erziehern, mit den Ärzten, mit den Fürsorgern, mit den Frauen und mit der Jugend«73 – sie vergaß zu erwähnen: auch mit der Arbeiterbewegung. Problematisch daran war nicht zuletzt, dass die alkoholgegnerischen Meinungsmacher in erster Linie aus den republiktreuen Parteien stammten, die sich dann vom rechten Lager als »Mucker­bande« und »Selterwassermehrheit« beschimpfen lassen konnten. Was das an Legitima­tionsverlust bedeutete, mag man nur erahnen.74 70 In kritischer Absicht zitiert von Sollmann (SPD), StenBerRT Bd. 390, S. 7087 (8.5.1926). 71 Vgl. Wlassak, Grundriss, S. 231 f.; Strecker, Kampf, S. 27 ff. Dennoch erhitzte auch der Gesetzentwurf von 1930 noch die Gemüter. Vgl. die langwierigen Beratungen zunächst im Volkswirtschaftlichen Ausschuß (Bericht des 8.  Ausschusses (Volkswirtschaft) über den Entwurf eines Schankstättengesetzes, StenBerRT Bd.  440, Anlage Nr.  1791), dann im Reichstag: StenBerRT Bd. 427, S. 4701–4706 (27.3.1930), S. 4711–4726 (28.3.1930), S. 4779– 4816 (4.4.1930), S. 4818–4830 (8.4.1930). Das Ergebnis war aber das »harmlose« Gaststättengesetz vom 28.4.1930 (RGBl. 1930, Teil 1, S. 146–151). Gläß, Gaststättengesetz, S. 248, der auch einen konzisen Überblick über die Debatte lieferte, resümierte: »Was bedeutet dies Gesetz für die deutschen Alkoholgegner? Mit einem Wort: eine große Enttäuschung!« 72 Vgl. Saretzki, Reichsgesundheitsrat, S. 424, Tab. 26. 73 Lüders (DDP), StenBerRT Bd. 384, S. 704 (18.2.1925). 74 So der deutschnationale Abgeordnete Gustav Budjuhn (zit. n. Strecker, Kampf, S. 19) bzw. der Nationalsozialist Wilhelm Kube (StenBerRT Bd. 390, S. 7146, 10.5.1926).

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2. Phantasiekontrolle: Der schwierige Umgang mit der Massenkultur Aus der Sicht des bürgerlichen, auf rationale und kontrollierte Bedürfnis­ befriedigung angelegten Konsummodells war das »alte« Rauschmittel Alkohol nicht die einzige Bedrohung. Die der Menge und Qualität nach neuartige massenmediale Durchdringung der Kultur durch Film, Unterhaltungsliteratur, illustrierte Presse und Werbung wirkte kaum weniger beunruhigend, und zum Umgang der Weimarer Eliten mit der Massenkultur existiert daher auch eine umfangreiche Forschungsliteratur.75 Diese hat stets das Abwehrverhalten der verschiedenen sozialmoralischen Teilkulturen hervorgehoben. Auf der Linken erschien die Massenkultur als eskapistisch und systemstabilisierend, den Kirchen ging es um die Verteidigung christlicher Werte und besonders der Sexual­ moral, Bildungsbürger und Konservative sahen soziale Hierarchien und ästhetische Normen in Gefahr, gerade weil Jugendliche und Frauen so intensiv wie noch nie die massenkulturellen Angebote nutzten, und nationalistische Kreise fürchteten angesichts der amerikanischen Importe und der Prominenz jüdischer Künstler die Überfremdung der »deutschen« Kultur. Diese vielfältigen Abgrenzungsversuche erscheinen, so unstrittig sie im einzelnen sind, in der Summe allzu leicht als ein übergreifender anti-modernistischer Grundzug der Weimarer Meinungseliten, so dass etwa die oft untersuchte kulturpolitische Kampagne gegen »Schmutz und Schund« wie eine Vorbereitung der nationalsozialistischen Bücherverbrennungen wirkt.76 Eine solche Interpretation sieht nicht nur davon ab, dass auch in anderen westlichen Ländern ein starker bürgerlicher Widerwille gegen die seichte Unterhaltung vorhanden war,77 sie versäumt es vor allem danach zu fragen, worin genau das Neuartige dieser massenmedialen Kultur lag, dass sie – beginnend im Kaiserreich und besonders intensiv dann in der Weimarer Republik – derartige, milieuübergreifende Ressentiments hervorrufen konnte. Einige Autorinnen wie Adelheid von Saldern und Miriam Hansen haben frühzeitig darauf aufmerksam gemacht, dass es die Figur des Konsumenten ist, die im Schnittpunkt der verschiedenen kulturkritischen Deutungsmuster steht, und dass eine »naive Wirkungsgläubigkeit«78 auf Seiten der Eliten dazu geführt 75 Vgl. nur die wichtigsten Beiträge: Abrams, Control; Barbian, Politik; ders., Filme; Stieg ­Dalton, Catholicism; de Grazia, Mass Culture; dies., Empire; Langewiesche, Freizeit; ders., Massenmedium; Maase, Vergnügen, S. 155–178; Petersen, Zensur; Peukert, Grenzen, S. 175– 191; Reuveni, Reading, S. 221–273; v. Saldern, Massenfreizeitkultur; dies., Überfremdungsängste; Schug, Ende; Speitkamp, Jugendschutz; Sturm, Zensurfreiheit. 76 Vgl. Maase, Vergnügen, S. 177; Speitkamp, Jugendschutz, S. 48 f. 77 Vgl. den international vergleichenden Ausblick bei Petersen, Zensur, S. 285 f., 293; sowie Rieger, Technology, S. 103 ff.; de Grazia, Empire, S. 226–335; Laqueur, Weimar, S. 290; Klautke, Möglichkeiten, S. 239 ff.; Middendorf, Massenkultur. 78 v. Saldern, Massenfreizeitkultur, S. 56. Vgl. auch Hansen, America, S. 182.

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habe, die von der Massenkultur ausgehenden Gefahren grob zu überschätzen. Gideon Reuveni wiederum, der die sich verändernde Lesekultur der Zwischenkriegszeit konsumhistorisch analysiert, hat zuletzt vorgeschlagen, dass es im Kern die Furcht vor einer »Diktatur der Konsumenten«79 war, die den Abwehrkampf gegen die Massenkultur motivierte. Diese Interpretationen lassen sich zusammenführen und lohnen der Vertiefung: Reuvenis These zielt auf den Umstand, dass die traditionellen Agenturen der Sinnproduktion – Familie, Kirche, Hochkultur – verstärkte Konkurrenz erhielten durch kommerzielle Kulturan­ gebote, die sich überaus erfolgreich an ein breites Publikum richteten. Damit das gelang, war jene Kundenorientierung, die gezielte Hinwendung zur Bedürfniswelt der Konsumenten, erforderlich, die nirgendwo so deutlich zum Ausdruck kommt wie in der werbepsychologischen Literatur der Zeit, die aber zweifellos auch für die übrige massenkulturelle Produktion, wenn auch weniger systematisch, handlungsleitend war.80 Zugleich war die »Diktatur der Konsumenten« seltsam gebrochen, denn die Massenkultur schien doch den Machtlosen die Macht auszuliefern: jenen, die keine Kontrolle über ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse hatten. Auf diesen Nenner lässt sich die unentwegte Rede von der Verführbarkeit der Konsumenten und der Passivität der weiblich konnotierten Masse bringen. Die durch von Saldern hervorgehobene Wirkungsgläubigkeit war diesem Manipulationsansatz verpflichtet und ging noch einen Schritt weiter, indem angenommen wurde, dass die massenkulturellen Botschaften un­ mittelbar auf das Verhalten durchschlugen: Diebstahl und Ehebruch auf der Leinwand beförderten Kriminalität und Promiskuität im wirklichen Leben. Die beiden Deutungsmuster, die vor der unumschränkten Herrschaft der Konsumenten einerseits und ihrer weitgehenden Manipulierbarkeit andererseits warnten, enthalten offensichtlich ein großes Maß an Übertreibung und scheinen zu zeigen, dass die Zeitgenossen ihre Konsumkultur missverstanden. Jedoch ist zu fragen, ob nicht gerade das Zusammentreffen beider Vorstellungen es ermöglichte, eine grundlegende Paradoxie des modernen Konsums zu reflektieren: Sie besteht darin, dass sich die Produzenten nach den Bedürfnissen und Wünschen der Konsumenten zu richten versuchen, während dessen diese sich durch den Umgang mit Waren und Bedeutungen verändern und neue Konsumwünsche entwickeln. Besonders deutlich zeigt sich das auf dem Feld der Massenkultur, die auf ein möglichst breites Publikum »zugeschnitten« ist, zugleich aber durch die Entfaltung der Symbolwelten in Film, Literatur und Werbung die »Fiktionsbereitschaft«81 der Konsumenten anspricht. In den wechselseitigen Interpretationsvorgängen  – der Konsumbedürfnisse durch die Produzenten, 79 Reuveni, Reading, S. 252 (Übersetz., C. T.). 80 Zur Kundenorientierung vgl. Borscheid, Agenten, S. 87–92. 81 Schrage, Integration, S. 75. Vgl. auch Campbell, Ethic. Campbell verortet die konsumkulturelle Verlagerung von den sinnlichen Genüssen zum »imaginativen Hedonismus«, für den das Symbolische des Konsums die zentrale Rolle spielt, bereits in der englischen Romantik. Der Aufstieg der kommerziellen Massenkultur seit Ende des 19. Jahrhunderts befördert dieselbe Entwicklung im größeren gesellschaftlichen Maßstab.

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der Kulturprodukte durch die Konsumenten – liegt ein dynamisches Potential, denn die Spekulation der Produzenten auf ein noch unbestimmtes Begehren wird ebenso gefördert wie die Neigung der Verbraucher, durch die Aneignung des Neuartigen den eigenen Bedürfnishaushalt imaginativ in Richtung eines weiter gespannten Horizonts von Konsummöglichkeiten zu überschreiten. Diese Dynamik war es, die den Beobachtern von der Sozialdemokratie bis zum konservativen Bürgertum begründete Sorge bereitete. In Gefahr geriet nicht nur die Deutungshoheit der milieuspezifischen Autoritäten, sondern vor allem die Kontrolle der Konsumenten über ihre eigenen Bedürfnisse. Das bürgerliche Konsummodell war hingegen auf Selbstdisziplin angelegt, was zwar nicht radikalen Verzicht verlangte, aber doch die Einhaltung der »fortschrittlichen« Ordnung der Bedürfnisse von den niederen körperlichen Instinkten zu den sublimen geistigen Erzeugnissen der Hochkultur. Wer in diesem Sinne bürgerlich bleiben oder es werden wollte, musste sich kulturpolitisch gegen solche kommerziellen Erscheinungen zur Wehr setzen, die auf die mühsam eingehegten Bedürfnisareale zielten: auf die Lust an der Sexualität, der kriminellen Normverletzung, der grenzüberschreitenden Erfahrung generell, auch wenn sie nur in der Rolle als Zuschauer geschah. Der Widerstand gegen die Massenkultur war daher weder nur reaktionär und gegen den Konsumstil anderer gerichtet noch stellte er einen Vorgriff auf totalitäre Lenkungsversuche dar, sondern er entstand aus der Sorge um das bürgerliche Konsumsubjekt selbst, dessen Fähigkeit, sich kulturell emporzuarbeiten, als Garant des Fortschritts galt. Es kam hinzu, dass das Problem der Selbstkontrolle der Konsumenten verknüpft war mit der Frage nach einem gesamtgesellschaftlichen Kulturideal. Die Vorstellungen von der deutschen Kulturnation und von der Weimarer Republik als Kulturstaat, die rechts bzw. links von der Mitte vorherrschten, waren tief verwurzelt und wurden nach der Kriegsniederlage kompensatorisch noch auf­gewertet.82 Es bestand daher ein parteipolitisch übergreifender Konsens, dass die Gestaltung der kulturellen Infrastruktur nicht allein dem Markt überlassen sein durfte, vielmehr der Staat sowie die Milieueliten eine wichtige Rolle dabei zu spielen hatten. Es gibt drei mögliche Wege der kulturpolitischen Intervention, die im Folgenden zu gewichten sind und deren Bedeutung im Hinblick auf die Kanalisierung der Phantasien zu beurteilen ist. Sie lassen sich unterscheiden nach dem Ort des Eingriffs im Kreislauf der kulturellen Reproduktion sowie – damit verbunden – nach dem Grad der Kontrollintensität. Erstens lässt sich auf der Stufe der Kulturproduktion intervenieren, indem diese mit Verboten belegt, staatlich monopolisiert oder steuerlich belastet wird. Das sind rigide, aber relativ gut kontrollierbare Formen der Beeinflussung. Schwieriger durchführbar ist die zweite Kontrolloption, die erst im Bereich der Distribution der Kultur­ güter durch Verbote und Zensurmaßnahmen einsetzt. Die dritte Form der kulturpolitischen Steuerung ist schließlich die staatliche oder zivilgesellschaftliche 82 Vgl. Bollenbeck, Enteignung, S. 42 f.; Mayer, Denken, S. 98 ff.

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Bereitstellung von Alternativen zum kommerziellen Kulturangebot. Sie ist das »weicheste« und am deutlichsten pädagogisch-optimistische Instrument, zielt sie doch auf die freie Entscheidung der Konsumenten. Zunächst zur politischen Beeinflussung der massenmedialen Produktionsbedingungen: In dieser Hinsicht hatte der Erste Weltkrieg eine Reihe massiver staatlicher Eingriffe mit sich gebracht, die erst nach und nach aufgehoben wurden. Die im Krieg von Großindustrie und Staat nicht zuletzt als »Volks­ erziehungsmittel« (Ludendorff) gegründete UFA wurde 1921 privatisiert,83 das Verbot der Lichtwerbung endete im darauf folgenden Jahr, und einige der Anzeigenverbote wurden erst im Juni 1924 revidiert.84 Darüber hinaus verband sich in der jungen Republik das gewaltige Finanzbedürfnis der öffentlichen Haushalte mit bildungsbürgerlichen Vorbehalten zu einer Steuerpolitik, die der Werbe- und der Filmwirtschaft nicht unerhebliche Belastungen auferlegte. So erschwerte zwischen Dezember 1919 und August 1925 eine Anzeigensteuer, die zwei bis zehn Prozent der Anzeigeneinnahmen betrug, die Lage der weitgehend vom Annoncengeschäft abhängigen Presse, die ohnehin unter den hohen Papierpreisen und dem allgemeinen Auftragsrückgang zu leiden hatte.85 Zudem verabschiedete im Jahr 1921 der Reichsrat eine Bestimmung, die es den Kommunen gestattete, nach eigenem Ermessen Zuschläge auf die Lustbarkeitssteuer zu erheben, die auf sämtliche der Unterhaltung dienenden Veranstaltungen vom Theater über das Kino bis zur Kirmes entrichtet werden musste. Für »volksbildende« oder als kulturell höherwertig eingestufte Angebote bestand allerdings die Möglichkeit einer Ermäßigung. In der Praxis zeigte sich, dass in den meisten Städten das Verständnis der lokalen Eliten für den Film, das wichtigste Vergnügungsmedium der Arbeiter und Angestellten, minimal war. Während die hochsubventionierten Theater geschont wurden, die in Deutschland in einer weltweit einmaligen Dichte existierten, aber schon wegen der Eintrittspreise nur eine kleine Minderheit der städtischen Bevölkerung erreichten, bat man die Kinobesitzer kräftig zur Kasse. Im Jahr 1924 betrug die Lustbarkeitssteuer für Kinos, die wie eine erhöhte Umsatzsteuer auf die Eintrittskarten funktionierte, im Durchschnitt zwanzig Prozent, wobei erhebliche Unterschiede bestanden: Während in Berlin, München und Leipzig nur 15 Prozent erhoben wurden, betrug der Satz in einigen anderen Städten wie Bremen, Bonn oder Münster dreißig Prozent und mehr. Zum Vergleich: In England und den USA waren die günstigeren Tickets vollständig von der insgesamt niedrigeren Vergnügungssteuer befreit.86 83 Das Reich verkaufte seine Anteile an die Deutsche Bank. Vgl. Schweins, Entwicklung, S. 35; Hake, Film, S. 65; Ludendorff zit. n. Lüdecke, Film, S. 20. 84 Vgl. Reinhardt, Reklame, S. 185, 319. 85 Vgl. ebd., S. 187. Die Subventionierung des Druckpapiers war Ende 1920 nicht mehr finanzierbar und wurde eingestellt; die Papierkontingentierung wurde am 1.4.1921 aufgehoben: vgl. AdR Kab. Fehrenbach, S. 623 f. 86 Vgl. Bestimmungen über die Vergnügungssteuer (RGBl. 1921, Nr.  72, S.  856–64); Pabst, Nieder­gang, S. 8–11; Schweins, Entwicklung, S. 77 f.; Wilke, Grundzüge, S. 322.

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Natürlich hatte das negative Auswirkungen nicht nur auf die Kinobetreiber, sondern auch auf die Filmindustrie, die zur Amortisierung ihrer hohen Produktionskosten auf eine möglichst große Zahl von Vorführungen angewiesen war.87 Der Reichsverband Deutscher Lichtspieltheaterbesitzer und die Spitzenorganisation der Deutschen Filmindustrie wandten sich daher an die Reichsregierung, um zentralstaatlich gegen die Diskriminierung durch die Kommunen vorzugehen. Die Eingaben der Lobbyisten und die behördlichen Reaktionen darauf, etwa durch den deutschnationalen Reichsinnenminister Schiele, verdeutlichen, warum schließlich das Produzenteninteresse Gehör fand: Die Zahl der Lichtspielhäuser war zwischen 1923 und 1925 trotz der sich verbessernden Wirtschaftslage zurückgegangen, und die deutsche Filmindustrie drohte auf diese Weise gegenüber der Konkurrenz aus Hollywood ins Hintertreffen zu geraten. Das war nicht nur im Hinblick auf die Handelsbilanz von Nachteil, denn der deutsche Stummfilm war mittlerweile ein echter Exportschlager; darüber hinaus schien, so Schiele, die »Gefahr einer allmählichen Amerikanisierung des deutschen Geschmacks wie des deutschen Kulturlebens überhaupt« zu wachsen. Zudem wurde der Film als »Kulturfaktor« anerkannt, was allerdings bedeutete, dass zwischen den wünschenswerten Kultur- und Lehrfilmen und der Unterhaltungsware deutlicher steuerlich zu differenzieren war. Es dauerte dennoch bis zum Juni 1926, bis das Reich den Finanzausgleich mit den Ländern und Gemeinden neu regelte und die Lustbarkeitssteuer reichseinheitlich auf 15 Prozent reduziert wurde; bis zum Jahr 1929 sank sie auf durchschnittlich 12,5 Prozent.88 Nach den Einschränkungen der Kriegs- und Inflationszeit kehrte daher mit einer gewissen Verzögerung in den Jahren 1924 bis 1926 jenes Kooperations­ verhältnis zurück, das sich bereits seit der Jahrhundertwende zwischen den staatlichen Institutionen und den Produzenten der Massenkultur in Werbewirtschaft und Presse angebahnt hatte. Die heftigen Auseinandersetzungen über eine Verunstaltung der Landschaft durch Reklame und über die Pflicht zur Verhängung der Schaufenster an Sonntagen, die vor allem in den 1890er Jahren stattgefunden hatten, gehörten der Vergangenheit an. Durch ein Ent­ gegenkommen der Konfliktparteien  – die Heimatschützer gaben ihre Fundamentalopposition auf, während die Werbetreibenden, nicht zuletzt als Legitimationsstrategie, an der Ästhetisierung ihrer Erzeugnisse arbeiteten – etablierte sich die Reklame mehr und mehr als normaler Bestandteil der Alltagskultur.89 Einige der staatlichen Institutionen entdeckten darüber hinaus, dass sie von den 87 Dass die Filmwirtschaft in der Inflationszeit dennoch florierte, lag daran, dass sie aufgrund des währungsbedingten Exportvorteils auf dem Weltmarkt reüssieren konnte. 88 Vgl. die Eingaben der Verbände in BA, R 3101, 10062; Zitate: RMI Schiele an RFM v. Schlieben, 10.7.1925, ebd., Bl. unnum.; Abg. Siegfried (WP), StenBerRT Bd. 425, S. 2233 (8.6.1929); Bericht des Steuerausschusses, StenBerRT Bd. 404, Anlage Nr. 1269 (28.7.1925); zur Neu­ regelung der Lustbarkeitssteuer am 22.6.1926: RGBl. I 1926, S. 259 ff. Vgl. zudem Pabst, Niedergang, S. 17; Schweins, Entwicklung, S. 77. 89 Vgl. Spiekermann, Elitenkampf; Reinhardt, Beten; ders., Reklame, S. 378–386; Ward, Weimar Surfaces, S. 92 ff., 198 ff.; Knop, Veralltäglichung.

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modernen Massenmedien finanziell profitieren konnten und wurden selbst zu deren Auftraggebern, was dazu führte, dass die Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes nun sogar mit amtlicher Sanktionierung voranschritt. Wenige Beispiele mögen genügen: Die Reichsbahn baute die Verkehrswerbung aus, und weil der Fiskus, trotz moralischer Bedenken, wegen des staatlichen Branntweinmonopols an vermehrtem Absatz interessiert war, kam es sogar so weit, dass Anfang der zwanziger Jahre in den Zügen der Reichsbahn die Türgriffe zwischen den Abteilen mit Reklameschildern versehen waren: Darauf räkelte sich zum Entsetzen der Alkoholgegner und aller zartbesaiteten Reisenden eine Frau mit Armen und Beinen um eine Kognakflasche. Vor allem erkannten aber die Städte, welche finanziellen Gewinnmöglich­ keiten in einer gezielten Förderung des Tourismus durch die Stilisierung des urbanen Raumes zum Konsumerlebnis lag. Verkehrsämter und gemischtwirtschaftliche Plakatanschlaginstitute wurden gegründet  – 1930 gehörten dem größten Betrieb dieser Art, der Städte-Reklame GmbH, 222 Städte und Gemeinden an –, und auch das große »Mitteleuropäische Reisebüro« war ein halbstaatliches Unternehmen.90 Vorbildlich für das städtische Marketing wurde 1926 die Kampagne, die das Berliner Messe- und Ausstellungsamt kreierte. »Jeder einmal in Berlin« hieß der einprägsame Slogan, mit dem der Leiter der Werbeabteilung, der Redakteur Karl Vetter, die soziale Exklusivität des Reisens zu durch­brechen suchte. In dieser Formulierung schwang die Konnotation der gleichheitlichen Berechtigung mit, die von der Rationierungswirtschaft in den Bereich des Wahlbedarfs übertragen wurde. Zur effektvollen Illustration enga­ gierte man mit Fritz Rosen einen der führenden Werbegraphiker, der auf seinem bekannten Plakat »Nach Berlin!« (Abb. 5) das Motiv des touristischen Wunschziels mit der Geschwindigkeitsfaszination der Eisenbahn verband.91 Aus der Geschichte des 1926 in Dresden gegründeten Werbefilmunternehmens »Boehner-Film« wird wiederum deutlich, dass diese ihren Aufstieg sogar weniger der Werbung für Konsumprodukte als den Auftragsarbeiten im Rahmen des regen Dresdener Ausstellungswesens verdankte. Die Jahresschau Deutscher Arbeit – eine jährlich stattfindende Verbindung von Industrie- und Kulturmesse – und die Internationale Hygiene-Ausstellung unterhielten eigene Filmstellen, in denen sich wirtschaftliche und kommunalpolitische Interessen trafen und die in 52 deutschen Städten dafür sorgten, dass nicht zuletzt das Image Dresdens als sehenswerte Kulturstadt verbreitet wurde.92 Sofern es die 90 Vgl. Borscheid, Agenten, S. 91; Spode, Aufstieg, S. 120. 91 Einen Überblick über die Tätigkeit des Amtes vermittelt der 1925–1927 von Vetter herausgegebene »Wochenspiegel für Leben, Wirtschaft und Verkehr der Reichshauptstadt«. Vgl. auch Ausstellungs-, Messe- und Fremdenverkehrsamt, Arbeitsbericht; zudem: Kiecol, Berlin; Saehrendt, Kriegserinnerung, S. 175. 92 Vgl. Eckhardt, Dienst, S.  11, 28 ff., 58 ff. Die an den Werbestrategien der Markenartikel orientierte Imagebildung der Städte kam in der Weimarer Republik voll in Gang: »Stuttgart, Deutschlands schönste Großstadt«, »Frühling in Wiesbaden« oder »Göttingen, die Stadt der Pensionäre« waren nur einige der Slogans. Vgl. Lohmann, Stadtverwaltung, S. 44.

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Abb. 5: Wunschziel Berlin: Werbung des Ausstellungs-, Messe- und Fremdenverkehrsamtes der Stadt Berlin Quelle: Deutsches Historisches Museum, Berlin.

Kommunikation in eigener Sache betraf – die Herstellung touristischer Attrak­ tivität oder die hygienische Aufklärungsarbeit –, war demnach von staatlichen Berührungsängsten gegenüber den Massenmedien seit Mitte der zwanziger Jahre wenig zu spüren, wie allein die intensive Kulturfilmproduktion jener Zeit verdeutlicht. Bildungsbürgerliche Vorbehalte gegenüber der Reklame waren zwar nicht verschwunden; dennoch erlangte die Werbebranche, nachdem die Anzeigenverbote und -steuern 1924/25 beseitigt waren, einen weit höheren Grad politischer Unterstützung als vor dem Krieg. Die Wahrnehmung der überlegenen alliierten 275

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Kriegspropaganda, das Ästhetisierungsprogramm von Werkbund und Dürerbund, das Professionalisierungsstreben der Berufsverbände und die Verwissenschaftlichung durch den Einfluss der amerikanischen Werbepsychologie – alles das sorgte für eine vermehrte öffentliche Akzeptanz. Reklamewissenschaft­liche Themen fanden im Rahmen der angewandten Wirtschaftspsychologie und der Betriebswirtschaftslehre Eingang in die Lehrpläne einer Reihe von Universitäten, Technischen Hochschulen und Handelshochschulen.93 Den Ritterschlag erhielt die Branche aber, als es 1929 gelang, den Kongress zum 25-jährigen Bestehen der International Advertising Association in Berlin stattfinden zu lassen. Mehr als 2.000 ausländische Vertreter versammelten sich vom 12. bis zum 15. August zu einem Wissensaustausch, der vor allem auf dem Gebiet der empirischen Werbewirkungsforschung recht einseitig von den USA und England nach Deutschland und Kontinentaleuropa verlief. Aus den Begrüßungsworten hochrangiger staatlicher Vertreter – unter anderem von Hans Luther, der den Vorsitz des Hauptausschusses innehatte, Reichskanzler Hermann Müller, Außenminister Stresemann und dem Preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun  – wird deutlich, dass parteiübergreifend die Überzeugung bestand, dass auch Deutschland politisch und ökonomisch von der Werbung profitieren würde; vorausgesetzt allerdings, dass die Werbefachleute den eingeschlagenen Weg der ästhetischen Verfeinerung und wissenschaftlichen Durchdringung ihrer Materie fortsetzten, sich ihrer moralischen Verantwortung bewusst waren und zudem ihre nationale Mission erfüllten, die in der Werbung für deutsche Qualitätsarbeit bestand. Diese Erwartungshaltung kommt in ihren verschiedenen Aspekten in Luthers Forderung nach einer »gediegenen, ehrlichen und wirkungsvollen Werbung für deutsche Dinge und Menschen« zum Ausdruck.94 Das »Marktschreierische« der älteren Reklame schien überwunden, und die als Professionalisierungsstrategie lancierte Kampagne »Truth in Advertising« der amerikanischen Werbebranche beeindruckte auch die deutschen Beobachter. Missbrauch und »Auswüchse« galt es vor allem mit dem Gesetz gegen un­lauteren Wett­bewerb weiterhin zu bekämpfen, aber angesichts des großen Potentials, das der Werbung im Hinblick auf einen vermehrten Absatz deutscher Waren  – nicht zuletzt auf dem Weltmarkt  – sowie hinsichtlich der Geschmackserziehung der Konsumenten zuerkannt wurde, war an eine gesetzliche Reglementierung, welche die Werbewirtschaft als ganze eingeschränkt hätte, nicht zu denken. Der Weimarer Staat überließ die massenmediale Produktion in Film, Presse und Reklame somit den Kräften des freien Marktes. Den Plänen der USPD zur Sozialisierung der Filmindustrie und zur Kommunalisierung der Kinos, denen 93 Vgl. Reinhardt, Reklame, S. 87–96; skeptischer beurteilen den Institutionalisierungserfolg Silberer u. Mau, Anfänge, S. 234 f.; eine gemischte Bilanz zieht Rudolf Seyffert, einer der Pio­niere der Reklamewissenschaften: vgl. Seyffert, Forschung, S. 81–83. 94 Luther, Werbung, S.  4. Vgl. auch die Stellungnahmen weiterer Politiker in: Weltmacht Reklame.

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auch der stets volkspädagogisch gestimmte, deutschnationale Reinhard Mumm wohlwollend begegnete, wurden im April 1920 vom Reichstag eine endgültige Absage erteilt.95 Der Markt allerdings funktionierte keineswegs politisch neutral, sondern war offen für weltanschauliche Einflussnahme selbst auf dem Gebiet der vermeintlich unpolitischen Unterhaltungswaren. Der Hugenberg-Konzern ist in dieser Hinsicht von zentraler Bedeutung.96 Hugenbergs Medienimperium reichte bekanntlich vom Scherl-Verlag und der Telegraphenunion, der zweitgrößten deutschen Nachrichtenagentur, über die ALA, das neben Mosse mächtigste Anzeigenvermittlungsunternehmen, sowie die Materndienste, die druckfertige Berichte und Bilder an mehrere Hundert Zeitungen lieferten, bis hin zur UFA, die im Jahr 1927 übernommen wurde. Nicht eine Monopolisierung der Presse und des Films oder eine Manipulation der öffentlichen Meinung war jedoch die Folge dieses schwerindustrielldeutschnationalen Firmenkonglomerats; die Weimarer Medienlandschaft blieb vielfältig und parteipolitisch diversifiziert, so dass sich auch ein unmittelbarer Propagandaerfolg durch Pressekampagnen vor Wahlen oder Volksabstimmungen kaum nachweisen lässt.97 Dennoch wurde Hugenberg in anderer Hinsicht zu einem Wegbereiter Hitlers, indem er nämlich auf eine bis dahin seltene Symbiose von Unterhaltung und Politik setzte. Noch immer existieren zu wenige Untersuchungen über die Inhaltsseite der von Hugenberg hergestellten Boule­ vardzeitungen, Spielfilme und Wochenschauen, es ist aber schon jetzt offensichtlich, dass dieser wichtigste Produzent der Weimarer Massenkultur ein Erfolgsrezept gefunden hatte: Zum einen wurde, aus kommerziellen Gründen, quantitativ überwiegend politikferne Unterhaltung geliefert. Die Nachrichten von technischen Sensationen, Sportereignissen, exotischen Ländern und Filmstars unterschieden sich nicht von dem, was aus den liberalen Häusern Mosse und Ullstein kam. Das war auch der Grund, warum Mumm, der führende Kulturpolitiker der DNVP, im Jahr 1929 die Partei verließ, vermochte er doch die seichte Unterhaltungsware, die der Konzern seines Vorsitzenden produzierte, nicht länger mit den ästhetisch-moralischen Zielen der Partei vereinbaren.98 Zum anderen ließen Hugenberg und sein Mitstreiter Ludwig Klitzsch, Generaldirektor des Scherl-Verlages und der UFA, nationalistisches Pathos verbreiten, selten mit erhobenem Zeigefinger, sondern eher en passant als Bestandteil der Unterhaltung, die Spannung, große Gefühle und visuelle Attraktionen bot. Eine der von Hugenberg kontrollierten Wochenschau-Produktionen aus 95 Vgl. StenBerRT Bd. 330, S. 3165 f. (Mumm, 16.10.1919); ebd., Bd. 333, S. 5182 (15.4.1920); sowie Kinter, Arbeiterbewegung, S. 187–190. 96 Zum Folgenden vgl. Fulda, Press; ders., Politik; Dussel, Tagespresse, S. 148; Wilke, Grundzüge, S. 350 f.; Murray, Film, S. 57–74; Monaco, Cinema, S. 26–33; Wernecke u. Heller, Führer, S. 83–141; Holzbach, »System Hugenberg«, S. 277 ff. 97 Die Ausnahme bilden Abstimmungsergebnisse in medial »unterversorgten« Regionen, wo etwa nur eine oder zwei von Hugenberg belieferte Provinzzeitungen existierten. Vgl. Fulda, Press, S. 114 f., 21–26. 98 Vgl. Mumm, Gedanke, S. 136 f.

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dem Jahr 1928  – die »Opel-Woche«  – illustriert diese Strategie.99 In eine Serie von Boulevardmeldungen, unter anderem über einen Freiballonwettbewerb, eine Gasexplosion in Pittsburgh, den Universitätsstaffellauf zwischen Oxford und Cambridge und eine neue Erfindung zur Verhinderung von Autounfällen, sind nur zwei offenkundig politische Ereignisse eingestreut: erstens »Faschistenbesuch in der Reichshauptstadt. Unterstaatssekretär ist zwecks Abschlusses einer Luftverbindung Italien-Deutschland in Berlin eingetroffen«, zweitens »Eine Protestkundgebung in den Straßen Berlins! Der Ringverband der geschädigten und verdrängten Auslandsdeutschen demonstriert gegen das Finanzministerium«. Während jene auf die visuelle Neugier und Sensationslust des Publikums zielenden Beiträge zusammen fünfeinhalb Minuten füllten, dauerten die beiden politischen Nachrichten zusammen nur etwas mehr als eine Minute, und doch ist es von Bedeutung, dass gerade den nationalistischen und faschistischen Kräften hier eine Bühne geboten wurde. Eine weitere und dazu mit 1:24 Minuten die längste Meldung dieser Wochenschau war ein Zwitter von Politik und Unterhaltung und für die Hugenberg-Medien absolut typisch. Berichtet wurde von den Armeesportkämpfen des Heeres und der Marine, denen Reichspräsident Hindenburg beiwohnte, was sowohl bildlich als auch im Zwischentitel hervorgehoben war. Durch Berichte wie diesen wurde Hindenburg zur über­ parteilichen Symbolfigur aufgebaut, und durch die Verbindung mit einem überaus beliebten massenmedialen Ereignis wie dem Sport entstand das Bild eines beinahe unpolitischen Politikers.100 Kurz: Vor allem durch Hugenbergs Wirken wurde die Figur Hindenburg zur leicht konsumierbaren Unterhaltung und erlangte damit eine Popularität, die keinem anderen Staatsmann der Weimarer Parteiendemokratie vergönnt war. Nun war die Sensationalisierung der Politik kein exklusives Merkmal der Hugenberg-Medien, sondern geschah auf breiter Front durch den Siegeszug der Boulevardpresse, auch der parteipolitisch liberal oder links eingestellten Blätter. Die seit 1924 gewaltig expandierenden Illustrierten zeugen dabei von weltanschaulicher Pluralität, auch wenn sie sich wie etwa der Marktführer, die ­Berliner Illustrirte Zeitung, dem Hindenburg-Mythos nicht entziehen konnten und die Skandalberichterstattung kultivierten.101 In dem für die Medienproduzenten so freiheitlichen politischen Klima Weimars war allerdings neben dem reaktionären Hugenberg ausschließlich sein kommunistischer Gegenspieler, Willi Münzen­berg, mit einem gezielt politisierten infotainment erfolgreich. Münzenberg verwandelte das Agitationsblatt Sowjet-Russland im Bild mit einer Auflage von 10.000 (1921) in die Arbeiter Illustrierte Zeitung, die mit etwa 450.000 ver 99 Zum Folgenden vgl. »Opel-Woche« 1928, Nr. 51, in: http://www.wochenschau-archiv.de/ (Zugriff: 7.6.2009). 100 Das Beispiel bestätigt die Analyse Fuldas, der die Hindenburg-Kampagnen der Presse als mediale Konstruktion eines »unpolitischen Führers« hervorhebt. Vgl. Fulda, Press, S. 109 ff. 101 Vgl. ebd., S. 75–103, 109–120; ders., Politik, S. 51–70.

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kauften Exemplaren (1928) über den Kreis der KPD-Leserschaft hinausging. Auch die Welt am Abend entwickelte sich unter Münzenberg zu einem boulevardesken, linksgerichteten Massenblatt, das mit einer Auflage von 229.000 im Jahr 1929 mehr als doppelt so viele Leser erreichte wie die Rote Fahne und der Vorwärts zusammen.102 Die SPD hingegen sperrte sich dagegen, die vor allem durch die neuen Bildmedien vor sich gehende Veränderung der politischen Kommunikation mitzugehen. Sie hielt an der Diskursivität des Politischen fest und wehrte sich, wie es ein Vorwärts-Redakteur ausdrückte, gegen eine »Kinomatisierung der Presse«, die zur »öden Schaulust« verführe.103 Zwar existierte seit 1924 die Illustrierte Reichsbanner Zeitung; sie erlebte aber anders als viele der ebenfalls neugegründeten bürgerlichen Illustrierten (Münchner Illustrierte Presse, Kölnische ­Illustrierte Zeitung) nicht einen so rasanten Aufstieg und blieb mit einer Auflage von etwa 76.000 (1929) deutlich hinter den Konkurrenten zurück.104 Auch als sich im Sommer 1929 der Regierung Müller die Gelegenheit bot, für das Reich die Mehrheit an dem zweitgrößten deutschen Filmproduzenten, der Emelka (Münchener Lichtspielkunst AG), zu einem recht günstigen Preis von 2,6 Millionen RM zu erwerben, zeigten sich führende Sozialdemokraten wie der Finanzminister Hilferding skeptisch. Erst als die Emelka von der UFA übernommen zu werden drohte, entschied sich die Regierung zum Kauf. Die Chance, mit der Emelka-Woche frühzeitig und entschlossen eine prorepublikanische Alternative zu den Hugenberg-Wochenschauen auszubauen, wurde jedoch verpasst.105 Die Sozialdemokratie versäumte es, ihr eigenes Personal und Programm in einem massenmedialen Zusammenhang zu präsentieren, der für das Publikum mehr und mehr als ein Ort positiver Sinnstiftung – von Sehnsüchten, Abwechslung und visueller Faszination – an Bedeutung gewann. Sieht man einmal von den bis Mitte der zwanziger Jahre zum Teil erheb­ lichen steuerlichen Interventionen ab, mischte sich also der Staat in die Produktion der Massenkultur kaum ein – und gewährte damit zugleich jenen Akteuren freie Hand, die kommerzielle und politische Motive zu verknüpfen wussten. Vor allem war damit aber der massenmedialen Verbreitung von Phantasien aller Art Tür und Tor geöffnet, wie sich in besonders drastischer Weise an den unmittelbar nach Kriegsende boomenden Aufklärungs- und Sexfilmen zeigte.106 Diese waren ein wesentlicher Grund, warum die Nationalversamm-

102 Vgl. Deilmann, Bild, S. 60 f.; Fulda, Press, S. 24 (Tab. 1.1.), 35. 103 Zit. n. Deilmann, Bild, S. 60. Auch in der KPD bestanden freilich erhebliche Reserven gegenüber einer Annäherung von Politik und Unterhaltung; Münzenberg muss eher als innovativer Außenseiter verstanden werden und repräsentierte nicht die Parteioffiziellen. Vgl. Simmons, Advertising, S. 136. 104 Vgl. Marckwardt, Illustrierten, S. 77. 105 Vgl. Grzesinski, Kampf, S. 230; AdR Kab. Müller II, Bd. 1, S. 808–810; ebd., Bd. 2, S. 926 f. Bereits im Oktober 1930 wurde die Emelka unter der Regierung Brüning wieder verkauft. 106 Vgl. Hagener, Geschlecht.

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lung das frühe Bekenntnis des Rates der Volksbeauftragten zur völligen Zensur­ freiheit relativierte und bereits in der Verfassung die Möglichkeit einer Filmzensur sowie der »Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur« eröffnete.107 Durch zwei Zensurgesetze – das Lichtspielgesetz vom 12. Mai 1920 und das Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften vom 18. Dezember 1926 – hat man versucht, auf dem Feld der Distribution eine schärfere Kontrolle auszuüben. Damit ergab sich im Grunde das gleiche Dilemma zwischen Liberalität und Intervention, vor dem der Weimarer Staat auch auf dem Gebiet der Nahrungsmittelversorgung bei Aufhebung der Zwangswirtschaft stand: Die Freiheit der Produktion ließ sich mit dem staatlichen Gestaltungswillen – sei es die Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit oder die kulturelle Hebung der Massen – nur vereinbaren, wenn in die Distribution eingegriffen und dort das Legitime vom Illegitimen geschieden würde, ganz so wie es auch in der Wuchergesetzgebung der Fall war. Die Diskurse und Akteure, die zu den Zensurgesetzen führten, sind bereits gut rekonstruiert.108 Im Folgenden soll zum einen ein Blick in die Zensurpraxis geworfen werden, um festzustellen, mit welcher Logik die bildungsbürgerlichen Zensoren arbeiteten und was ihnen als bedrohlich erschien; zum anderen soll nach den Auswirkungen der Zensur­ vorhaben, oder besser gesagt: nach den Konsequenzen des Scheiterns der Zensur gefragt werden. Das Lichtspielgesetz übte eine Vorzensur aus, indem alle Filme in- und ausländischer Herkunft vor ihrem Start einer der beiden Prüfstellen in Berlin und München vorzulegen waren, die ein Verbot oder die Streichung einzelner ­Szenen verfügen konnten. Gegen die Entscheidungen konnten die Länder bei einer Oberprüfstelle in Berlin in Revision gehen. Die ausführliche Darstellung ihrer Spruchpraxis durch ihren Vorsitzenden Ernst Seeger, Oberregierungsrat im Reichsinnenministerium, verdeutlicht, nach welchen Kriterien dort verfahren wurde.109 Die Versagungsgründe bezogen sich laut Gesetz auf die Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, die Verletzung des religiösen Empfindens, auf verrohende und entsittlichende Wirkung sowie die Gefährdung des deutschen Ansehens und der auswärtigen Beziehungen.110 Grundsätzlich sollte eine »Wirkungszensur« durchgeführt werden, was bedeutete, dass es nicht eine Liste objektiv als schädlich eingestufter Darstellungen gab, sondern die subjektive Wirkung des Dargestellten auf das »Gefühlsleben des normalen Durchschnittsmenschen« ausschlaggebend sein sollte.111 Damit wurde von den Prüfern nicht nur eine Spekulation über die Sehgewohnheiten und die mentale Verfassung der Filmkonsumenten erwartet, vor allem galt es, die gesamte 107 WRV, Art. 118. 108 Vgl. vor allem Petersen, Zensur; v. Saldern, Massenfreizeitkultur; Sturm, Zensurfreiheit; Speitkamp, Jugendschutz; Reuveni, Reading; Stieg Dalton, Catholicism. 109 Zum Folgenden vgl. Seeger, Reichslichtspielgesetz. 110 Vgl. RGBl. 1920, S. 963. 111 Seeger, Reichslichtspielgesetz, S. 208.

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filmische Leistung: die narrative Struktur, die Charaktere, den Kontext, zu berücksichtigen. Auf diese Weise wurden Bilder von Gewalt und Nacktheit nicht per se verboten, sondern es kam darauf an, wie sie im jeweiligen Film prä­ sentiert wurden. Besonders die Entscheidungen über Filme mit potentiell verrohender oder entsittlichender Wirkung zeigen, dass eine mögliche »Phantasieüberreizung«112 der Zuschauer, die durch den wachsenden Konsum virtueller Sexualität und Gewalt zu drohen schien, den Stein des Anstoßes bildete. In den Prüfstellen mussten sich unter einem hauptamtlichen Vorsitzenden des Innenministeriums die Vertreter der Filmwirtschaft sowie der Kunst und Literatur mit denen der Wohlfahrt, Volksbildung und Jugendfürsorge – worunter sich auch die Repräsentanten der Kirchen befanden – über den Grad der Phantasiegefährdung einigen. In der Oberprüfstelle kristallisierte sich im Laufe der zwanziger Jahre eine Kompromisslinie heraus. »Ort und Zeit der dargestellten Handlung« sollten einen wichtigen Anhaltspunkt liefern: Je realistischer der Film und je enger er sich an die sozialen und kulturellen Verhältnisse moderner westlicher Gesellschaften anlehnte, desto größer erschien die Gefahr, dass die sich auf der Leinwand abspielenden Normverletzungen zur Nachahmung verführten. Umgekehrt ließ man Milde walten, je unwahrscheinlicher die Filmhandlung und je weiter entfernt von der europäischen Gegenwart sie angesiedelt war. Geschehnissen, die sich unter den Einheimischen der Südsee und Zentralafrikas oder auch unter mittelalterlichen Piraten zutrugen, wurde im Hinblick auf die Darstellungen von Gewalt und nackten Körpern ein größerer Freiraum gewährt, da diese als relativ ungefährlich galten, solange sie im kulturellen Kontext der Zivilisationsferne verortet wurden.113 Alle Filme, die »zivilisierte« Verhältnisse zum Gegenstand hatten, wurden genauer unter die Lupe genommen; doch auch hier gab es eine Reihe von Gründen, die nach der Position der Oberprüfstelle dafür sorgten, dass die Themen Sexualität und Kriminalität in bestimmten Fällen und bestimmter Weise zeigbar waren. Als nicht verrohend wurden etwa die amerikanischen SlapstickFilme mit ihren grotesken Prügeleien und Unfällen eingestuft, und sogenannte Verbrecherfilme galten meist als akzeptabel, wenn die Handlung auf den Detektiv fokussierte oder am Ende die Strafe oder der Tod des Verbrechers standen. Auch der filmischen Reflexion zeitgeschichtlicher Ereignisse und sozialer Probleme wollte man sich nicht grundsätzlich verschließen. Kriegsfilme waren daher erlaubt, selbst wenn sie äußerst brutale Szenen enthielten, nicht zuletzt weil hier auf eine abschreckende Wirkung verwiesen wurde. Aus dem Milieu der Prostitution wiederum ließ sich erzählen, wenn es als pathologische Erscheinung der Inflationszeit und nicht als selbstgewählter Lebensentwurf portraitiert wurde. 112 Ebd., S. 255. Neben dem Verweis auf die »niederen Instinkte« war dieser Begriff einer der wichtigsten Topoi in den Debatten um die Zensurgesetze. 113 Vgl. Seeger, Reichslichtspielgesetz, S. 208 ff.

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Insgesamt restriktiver verfuhr die Oberprüfstelle bei den im weitesten Sinn sexuellen Darstellungen, da keinem anderen Bereich ein derart normzersetzendes Potential zugeschrieben wurde. Die geradezu ausufernde Schilderung der Verführungsmacht verschiedener sexueller Filmmotive verrät zweierlei: zum einen die Furcht vor der Unersättlichkeit der Konsumenten; zum anderen – da die geforderte Wirkungsprüfung von den Zensoren gewissermaßen an sich selbst vorgenommen werden musste – die Sorge um die eigene Bedürfnis­ kontrolle angesichts der diskursiv vielfach bezeugten Erregbarkeit, von der zu befürchten war, dass ihr alle sozialen Konventionen von der Monogamie bis zur Heterosexualität zum Opfer fallen könnten. Großaufnahmen von nackten oder halbnackten Körpern, Bauchtänze, Entkleidungsszenen und die Darstellung der Homosexualität als normale Orientierung waren daher tabu. Ein Konsens bestand auch dahingehend, dass aus der Reklame für neue Filme, die vor den Kinos oder an öffentlichen Anschlagstellen zu sehen war, allzu deutliche sexuelle Anspielungen zu verbannen waren. Das betraf gerade auch jene Aufklärungsfilme, deren bisweilen reißerische Ankündigung zur Harmlosigkeit des tatsächlich Gezeigten in keinem Verhältnis stand. So verbot die Oberprüfstelle wegen der zu erwartenden Phantasieüberreizung bei Jugendlichen die Werbung für den Film »Das Werden des Menschen. Von der Empfängnis bis zur Geburt«: »Enthüllung der Geheimnisse der Natur in gewaltiger, spannender und interessanter Weise über das Allernützlichste, Allernatürlichste und Allerunbekannteste«.114 Für den Geschmack der Zensoren waren hier zu viele Superlative in Verbindung mit dem auf körperliche Vorgänge bezogenen Filmtitel im Spiel. Dennoch wurde auch auf dem Feld der visuellen Sexualität eine Toleranzschwelle etabliert. Die Kompromisslinie lautete, dass nicht jede Darstellung von Nacktheit entsittlichend wirke, sondern nur solche, die »in lüsterner, die Sinnlichkeit des Beschauers aufstachelnder Form geboten« würden.115 Veränderungen in den Moralvorstellungen, der Mode und dem Körperverständnis sollten durchaus Rechnung getragen werden. Ehebruch ließ sich thematisieren, wenn er »innerlich motiviert« war und nicht der bloßen Lust am amourösen Abenteuer entsprang; auch komödiantische Verarbeitungen, in denen sich in rasantem Tempo verliebt, gestritten, geschieden und versöhnt wurde, waren gestattet.116 Die Mode wiederum ließ das Frauenbein bis zum Knie sehen, und so galt dies auch im Film als akzeptabel.117 Eine rigorose Verhüllung des Körpers war schon deshalb nicht beabsichtigt, weil andernfalls auch den erwünschten körperpolitischen Anstrengungen die Ausdrucksmittel entzogen worden wären. In dem diskursiv ausgetragenen Wettlauf der Zwischenkriegszeit um die Bedeutung und Formung des Körpers fungierte dieser schließlich nicht nur wie in den Revuen und Boulevardfilmen als Projektionsfläche sexueller Wünsche, sondern auch 114 Zit. n. ebd., S. 268. 115 Ebd., S. 266. 116 Ebd., S. 217. 117 Vgl. ausführlicher Hampicke, Bedecken.

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als Zielobjekt verschiedener ästhetisierender Ideale von Gesundheit, Natürlichkeit oder auch militärisch trainierter Fitness und Leistungsfähigkeit. Weil der Film in diesem Sinne als anerkanntes Erziehungsinstrument galt, wie es in dem UFA-Kulturfilm »Wege zur Kraft und Schönheit« idealtypisch zum Ausdruck kommt, blieb den Zensoren nichts anderes übrig, als im Einzelfall über die ästhetische Qualität der körperlichen Repräsentationen zu entscheiden.118 Im Falle des Schund- und Schmutzgesetzes lag ein ähnliches Problem vor.119 Kunst und Wissenschaft sollten nicht beeinträchtigt werden; zugleich galt es aber, wie es die lautesten Gegner der Massenkultur aus den Kirchen und den pädagogischen Berufen formulierten, die Jugend vor dem »Rausch des Schundlesens mit seiner Hingabe an vertierende Erhitzung der Instinkte« zu schützen.120 Auch hier war es der Praxis der Prüfstellen überlassen, die eigenen Zensurmaßstäbe zu erarbeiten, denn das Gesetz enthielt keine weitere inhaltliche Bestimmung der Begriffe »Schmutz« und »Schund«. Eine Arbeitsdefinition von Schundliteratur, welche die Regierung im Vorfeld ventilierte, zeigte aber, dass man sich im Wortlaut an den Kriterien orientierte, die sich im Lichtspiel­gesetz »bewährt« hatten, indem nämlich auf die verrohende und entsittlichende Wirkung sowie auf die Überreizung der Phantasie verwiesen wurde.121 Auch die Ausführungen der zahlreichen Befürworter des Schund- und Schmutzgesetzes im Reichstag deuteten recht genau darauf hin, welche Art von Literatur zur Zielscheibe der Zensur werden sollte:122 Die Vertreter der bürgerlichen Parteien geißelten die Erzeugnisse des »Schundkapitals«  – geschätzte zwei Milliarden in Umlauf befindlicher Groschenhefte,123 die seit Jahren von selbsternannten Sittenwächtern in Listen zusammengestellt worden waren und welche die Jugend für die Hochkultur unempfänglich zu machen schienen. Gegen die Massen­distribution leichter Unterhaltung, der jeder geistige, nur in der Sphäre der autonomen Kunst zu findende Wert abgesprochen wurde, war prohibitiv vorzugehen, wenn die Volksbildungsangebote noch ein Publikum finden sollten. Die Leitlinien und Urteile der Oberprüfstelle in Leipzig sowie schließlich die Reichsverbotsliste zeigen, dass die Zensoren dort einzugreifen bereit waren, wo sie einen Zusammenhang von kapitalistischer Kulturproduktion einerseits und einer triebhaft dynamischen, die Regeln der bürgerlichen Geschmacksordnung missachtenden Rezeptionshaltung andererseits zu erkennen glaubten, wo 118 Vgl. Seeger, Reichslichtspielgesetz, S. 212–218. Zur körperpolitischen Dimension der Massenmedien vgl. nur die Beiträge in: Cowan u. Sicks, Moderne; Hagener, Geschlecht. 119 Zum Folgenden vgl. vor allem Petersen, Zensur, S. 56–67, 155–174. 120 StenBerRT Bd. 404, Anlage: Schundheftreihen, die in Deutschland unter den Schul­k indern verbreitet sind, S. 5. 121 Vgl. Bericht des Bildungsausschusses über den Entwurf eines Gesetzes zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften, StenBerRT Bd. 409, Anlage Nr. 2372, S. 3. 122 Vgl. die wichtigsten Reichstagsdebatten am 26./27.11. u. 3.12.1926: StenBerRT Bd.  391, S. 8207–8232, 8233–8259, 8356–8378. 123 Diese Schätzung stellte freilich eine Übertreibung der Zensuranhänger dar. Vgl. ­Reuveni, Reading, S. 255.

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also »entweder auf die niederen Instinkte der Leser oder auf ihre ahnungslose Weltsicht spekuliert« wurde.124 Das betraf im Endeffekt in erster Linie billig gemachte Heftserien, Kriminal- und Liebesgeschichten sowie erotische Dar­ stellungen. Die künstlerische Avantgarde und die politische Meinungsäußerung hingegen ließ die Zensur, anders als von den Linksparteien, Schriftstellern und Verlegern befürchtet, relativ unbehelligt. Welche Auswirkungen hatten die beiden Zensurgesetze? Im Vergleich zur Fülle der in Bild und Schrift produzierten Unterhaltungswaren war die Menge der Verbote äußerst gering. Klaus Petersen hat nachgewiesen, dass die Berliner Prüfstelle von 1920 bis 1931 von rund 31.000 Filmen nur 190 untersagte und Ende 1932 ganze 164 Titel auf der Liste der indizierten Schriften standen.125 Zwar hat das Lichtspielgesetz, weil als Vorzensur durchgeführt, zweifellos den nicht messbaren Effekt einer vorauseilenden Selbstzensur der Filmwirtschaft gehabt, doch hat die skizzierte skrupulöse Spruchpraxis ebenso dazu geführt, dass filmische Wege – Exotisierung, Übersteigerung ins Groteske, Verwissenschaftlichung – offenstanden, um die Grenzen des Zeigbaren auszudehnen. Streichungen einzelner Szenen hat es dennoch in erheblichem Maße gegeben. Bei dem als Nachzensur praktizierten Schund- und Schmutzgesetz war das Verhältnis von Aufwand und Ertrag noch ungünstiger. Hierbei muss man sich vergegenwärtigen, dass der diskursive Prozess, der die Zensur vorbereitete, nicht auf der Ebene der staatlichen Institutionen, sondern an der gesellschaftlichen Basis begann. Ein Heer von Schundkämpfern aus den Kirchen, Sittlichkeitsvereinen, Frauen- und Jugendverbänden war damit beschäftigt, die Bahnhofsbuchläden, Kioske und Zeitungshändler zu kontrollieren und das Anstoß erregende Material sicherzustellen. Damit war freilich kaum etwas gewonnen, denn die moralische Empörung, die sich hier artikulierte, verebbte auf dem langen Weg durch die rechtsstaatliche Administration. Für ein Zensurverfahren antragsberechtigt waren nur die Landesregierungen und Landesjugendämter, und die zeigten wenig Initiative: nicht weil man dort an der Notwendigkeit des Schundkampfes gezweifelt hätte, sondern weil die Vorprüfung insbesondere bei den Heftserien eine beträchtliche Arbeitsbelastung darstellte. Bis schließlich die tatsächlich gestellten Anträge von den Prüfstellen bearbeitet worden waren, verging meist ein dreiviertel Jahr, währenddessen die beanstandeten Schriften ­weiter verkauft werden durften. Die drohende Indizierung wurde dann nicht selten zu einem zusätzlich verkaufsfördernden Anreiz und führte somit die Absichten der Zensoren ad absurdum.126 Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen ist es eine ungeklärte Frage, ob der mit den Mitteln der Zensur ausgetragene Kampf gegen die Massenkultur eher zur Stärkung oder zur Verunsicherung bildungsbürgerlicher Identität bei124 Zit. n. Petersen, Zensur, S. 162. Zur Spruchpraxis vgl. ebd., S. 159–174. 125 Ebd., S. 273, 168. 126 Vgl. Reuveni, Reading, S. 252–260; Petersen, Zensur, S. 161–168; Stieg Dalton, Catho­licism, S. 219–227.

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getragen hat. Einerseits hatte die kulturpolitische Defensive an der Basis starke gemeinschaftsstiftende Effekte. Allen voran der katholische Volkswartbund und die evangelischen Jungmännerbünde mit ihren jeweiligen Überwachungsdiensten sowie die 1924 gegründete überkonfessionelle Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung zeigen, dass das kulturkonservative Bürgertum gerade dadurch sich seines ästhetisch-moralischen Führungsanspruchs versicherte, dass unablässig das kulturell Minderwertige gesucht und stigmatisiert wurde.127 Auf der Linken hat es eine vergleichbare Mobilisierung gegen die kommerzielle Massenkultur zwar nicht gegeben, doch darf nicht übersehen werden, dass sich auch die Führungsschichten von SPD und KPD nicht von den Normen des bildungsbürgerlich definierten Geschmacks lösten. Die Zensur war ein Konsensprojekt der Weimarer Kulturpolitik: Das Lichtspielgesetz wurde 1920 von sämtlichen Parteien mit Ausnahme der USPD beschlossen, und im gleichen Jahr forderte der Reichstag mit großer Mehrheit die Vorlage eines Gesetzes gegen die Schundliteratur;128 ein früher Gesetzentwurf stammte 1924 aus der Feder von Heinrich Schulz, einem führenden Kulturpolitiker der SPD und Staatssekretär im Innenministerium. Dass Sozialdemokraten und Kommunisten sich 1926 vehement gegen das Schund- und Schmutzgesetz wehrten, lag daran, dass sie seine Ausdehnung über den Bereich jener Unterhaltungsliteratur hinaus befürchteten, die auch von ihnen als verbotswürdig eingestuft wurde. Im Reichstag bekannte der Sprecher der KPD, dass er dem Gesetz sogar zustimmen könnte, wenn es eine eindeutige Definition im Sinne einer Aufstellung der zu verbietenden Schriften enthielte. Die Befürworter des Gesetzes – unter anderem der demokratische Innenminister Wilhelm Külz, die Zentrumsabgeordnete Helene Weber sowie der deutschnationale Reinhard Mumm  – verteidigten den unbestimmten Schundbegriff und enthüllten damit das Ausmaß ihrer Konsensgewissheit in ästhetischen Fragen: Schund ließe sich ebenso wenig wie Schönheit definieren und dem subjektiven-gefühlsmäßigen Urteil der Prüfer dürfe man vertrauen – auch dann, wie ein volksparteilicher Abgeordneter bekannte, wenn einmal wieder ein Sozialdemokrat als Innenminister die Zensur beaufsichtigen sollte.129 Das Moment bürgerlicher Selbstvergewisserung, das mit dem Schundkampf verbunden war, wurde andererseits konterkariert durch die Frustration, die sich angesichts der bescheidenen Verbotswirkung der Zensur einstellte. Die gewissenhafte Einzelfallprüfung schien gegen die »Fluten«130 der minderwertigen »Industrieerzeugnisse« machtlos zu sein. Allein diese stereotyp verwendeten Formulierungen lassen erkennen, dass den Bildungsbürgern und Volkspäd­ 127 Das betont besonders Reuveni, Reading, S. 265 f., ohne allerdings das Moment der Frustration, das im Scheitern der Zensur lag, hinreichend zu berücksichtigen. 128 Vgl. StenBerRT Bd. 333, S. 5183 (15.4.1920). 129 Vgl. StenBerRT Bd. 391, S. 8227 (26.11.1926). 130 Vgl. zur Flut-Metapher: StenBerRT Bd.  385, S.  1333 (Schreiber, 2.4.1925); ebd., S.  1337 (Mumm, 2.4.1925).

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agogen angesichts der konsumkulturellen Herausforderung das Wasser bis zum Hals stand. Überdies bescheinigte auch noch ein offizieller Bericht über die Erfahrungen mit dem Schund- und Schmutzgesetz, dass die Regierung Müller die von den Kirchen und Verbänden angefertigten Listen für übertrieben hielt.131 Zum Gesamtbild der Weimarer Zensurbemühungen gehört ferner, dass ihre parlamentarischen Vorreiter aus DNVP und Zentrum eine Serie von Nieder­ lagen einzustecken hatten, da alle Versuche, gesetzlich härter durchzugreifen, abgelehnt wurden: Das Schund- und Schmutzgesetz galt nur für Jugendliche und nicht, wie von der DNVP gewünscht, für Erwachsene; mit der Strafrechtsreform scheiterte 1929 auch die Verschärfung des Unzuchtsparagraphen 184; und was das Lichtspielgesetz betraf, dauerte es ganze sieben Jahre, bis im Juli 1929 eine seit 1922 immer wieder geforderte Novelle in den Reichstag gelangte, nur um darauf im Bildungsausschuss zu versanden.132 Es verwundert nicht, dass der Caritas-Verband im Jahr 1930 bilanzierte, die bestehende Zensur sei »kein durchgreifendes Mittel zur Bekämpfung von Schund und Schmutz«. Und auch der langjährige Vorsitzende des Volkswartbundes schrieb 1932 in der Retrospektive, dass die großen Erfolge von noch größeren Enttäuschungen überwogen wurden.133 Erneut lief der Gestaltungswille der Republik ins Leere: Der vom hohen Pathos der Kulturkonservativen getragene Feldzug war der kommerziellen Massenkultur gegenüber machtlos. Bildungsbürgerliche und liberale Prinzipien verhinderten eine rigorose Durchführung der Zensur, denn die Freiheit der hochkulturellen, wissenschaftlichen und politischen Äußerung sollte gewahrt werden. Die Unterscheidung zwischen legitimen und illegitimen Formen der Kultur, das Zustandekommen einer ästhetischen Übereinkunft also, wurde einer gesellschaftlichen Kompromissfindung in den Prüfstellen überantwortet, in denen nicht nur die kirchlichen und pädagogischen Agenten der Sozialdisziplinierung vertreten waren, sondern auch die Vertreter der Kulturproduktion aus Kunst und Literatur, Filmwirtschaft und Verlagswesen. Das eigentliche Schutzobjekt der Zensur – darauf deutet die ständige Rede von der »Phantasieüberreizung« und den »niederen Instinkten« – wurde in der mentalen Disposition und der Bedürfnishierarchie der Kulturkonsumenten und insbesondere der Jugendlichen erblickt.

131 Bericht der Reichsregierung über die praktischen Erfahrungen bei Durchführung des Reichsgesetzes zur Bekämpfung von Schund- und Schmutzschriften, StenBerRT Bd. 437, Anlage Nr. 1307, S. 2. 132 Vgl. Petersen, Zensur, S. 30, 55, 66, 160, 256 f. Der vielfach eingeforderte Entwurf zur Novellierung des Lichtspielgesetzes stammte dann vom sozialdemokratischen Innenminister Severing, wurde aber von DNVP und Zentrum verteidigt, während ihm die SPD-Fraktion kritisch gegenüber stand. Vgl. den Entwurf: StenBerRT Bd. 437, Anlage Nr. 1298; zur Debatte: ebd., Bd. 426, S. 3404–3412. 133 Richtlinien zur Schund- und Schmutzbekämpfung, in: Caritas-Korrespondenz 2 (1930), Nr. 5, S. 1 (Zitat); Lennartz, Volkswartbund, S. 5 f.

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Der »negativen« Kulturpolitik, die, wenn auch halbherzig durchgeführt, die Verbreitung der kommerziellen Massenkultur kontrollieren sollte, stand eine »positive« Förderung vor allem hochkultureller Alternativen gegenüber. Was die Weimarer Republik an Kulturangeboten in staatlicher und zivilgesellschaftlicher Trägerschaft bewerkstelligte, erscheint auf den ersten Blick beeindruckend: Das Reich und die Länder betrieben seit Oktober 1923 den Rundfunk und gewannen bis zum Ende der Republik immerhin mehr als vier Millionen angemeldete Teilnehmer; die Städte kommunalisierten in der Nachkriegszeit eine Vielzahl von Bibliotheken und Theatern und steigerten bis zur Weltwirtschaftskrise kräftig ihren Bildungs- und Kulturetat. Die Kulturvereine der Arbeiterbewegung und der katholischen Kirche boten schließlich eine breite Palette milieuspezifischer Freizeitgestaltungen: Die Volksbühne und ihr katholisches Pendant, der Bühnenvolksbund, beschafften ihren Mitgliedern vergünstigten Eintritt ins Theater. Die Arbeiterbibliotheken und Volksbibliotheken der Borromäusvereine ergänzten das öffentliche Leseangebot durch ihre großen, weltanschaulich geprägten Bestände. Hinzu kamen noch die Laienorganisationen, angefangen bei Sport-, Turn- und Wandervereinen, über Chöre und Theatergruppen bis hin zu Klubs für Amateurfotographie und -film, die den markantesten Gegensatz zum kommerziellen Freizeitvergnügen darstellten, da ihre Mitglieder, zumindest nach der Vorstellung der Milieueliten, zu Produzenten ihrer eigenen »Volkskultur« wurden und nicht in der vermeintlichen Passivität ihrer Rezipientenrolle verharrten.134 Die Summe der Angebote lässt es fraglich erscheinen, warum dieser Zweig der Weimarer Kulturpolitik hier im Kontext der Konsumentenpflichten behandelt und nicht als Verbreiterung der kulturellen Rechte interpretiert wird. Tatsächlich deuten bereits die kulturpolitischen Zielsetzungen, die in den verschiedenen Parteiprogrammen zum Ausdruck kommen, darauf hin, dass demokratisches Sendungsbewusstsein und paternalistisches Erziehungsstreben Hand in Hand gingen. Die DDP verlangte, dass Wissenschaft, Kunst und Literatur »dem Volke Veredlung und Erhebung gewähren« sollten, und das Zentrum verkündete, dass die mit öffentlichen Geldern finanzierten Theater und Museen die Aufgabe hätten, »der Volkskultur zu dienen und nicht dem Luxusbedürfnis einer kleinen Schicht«. Die SPD postulierte das »Recht aller Volksgenossen an den Kulturgütern«, doch auch die DNVP sprach davon, dass die »Kunst […] allen Volkskreisen zugänglich sein und für die nationale Erziehung fruchtbar werden« solle.135 Auch wenn in solcher Programmatik die Grenze zwischen Rechten und Pflichten fließend ist und deutlich wird, dass zwischen 134 Vgl. Führer, Medium, S. 722; Reuveni, Reading, S. 161 f.; Dussel, Theater, S. 217; Langewiesche, Politik, S. 378 ff.; Stieg Dalton, Catholicism, S. 83–110, 178 ff.; Kinter, Arbeiterbewegung, S.  228–233; aus der kaum überschaubaren Literatur zur Arbeiterkulturbewegung vgl. nur v. Saldern, Arbeiterkulturbewegung; Wunderer, Arbeitervereine; van der Will u. Burns, Arbeiterkulturbewegung; Klenke u. a., Arbeitersänger. 135 Treue, Parteiprogramme, S. 127, 138, 105, 114.

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Demokratisierung und Erziehung kein Widerspruch erkannt wurde, zeigt sich doch im Detail, dass allzu oft eine Rhetorik der Lenkung und Verpflichtung das kulturelle Angebot in einem Ausmaß imprägnierte, das seiner Verbreitung von vornherein abträglich war. Daher ist es sinnvoll, auch die »positive« Kultur­ politik, die sich unmittelbar an die Konsumenten wandte, unter den »Pflichten« zu behandeln. Das zeigt sich bei sämtlichen kulturpolitischen Einrichtungen bereits auf der Ebene der Funktionsbestimmung. Die Volkshochschule sollte zur »Selbstzucht« erziehen; die erste deutsche Rundfunk-Gesellschaft, die »Deutsche Stunde in Bayern«, trug die präzise Beschreibung einer »Gesellschaft für drahtlose Be­ lehrung und Unterhaltung mbH«; der Werkbund folgte ohnehin einem ambi­ tionierten Programm ästhetischer Erziehung – die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen.136 Entscheidend für die letztlich begrenzte Konkurrenzfähigkeit des öffentlichen Kulturangebots im Vergleich zu der nach Millionen zählenden Anhängerschaft von Kino, Trivialliteratur und Zuschauersport wird jedenfalls gewesen sein, dass der pädagogische Impetus auch in der Praxis spürbar war, denn überall traten bildungsbürgerliche gatekeepers auf, die nicht nur die Qualität des Angebots, sondern auch die Rezeption zu kontrollieren suchten: In den Bibliotheken war nicht nur entgegen den Leserwünschen die Belletristik im Bestand unterrepräsentiert, großen Wert legte man vor allem auf den Grundsatz der individuellen Betreuung – oder auch: Bevormundung – durch den Bibliothekar. Die Rundfunkintendanten wachten darüber, dass in den begehrten Abendstunden bis 22 Uhr das Programm durch den Kanon klassischer Musik und durch Vorträge geprägt blieb; der durchaus bekannte Hörerwunsch nach einem mehr von Unterhaltungsmusik bestimmten Programm war »natürlich nicht zu erfüllen – ist überhaupt nicht zu diskutieren«, wie etwa der Berliner Intendant Carl Hagemann scharf formulierte. Auch die Organisatoren der Volksbühne und des Bühnenvolksbundes verstanden sich keineswegs als Mediatoren des Publikumsgeschmacks, sondern verfolgten einen Bildungsauftrag, indem sie bei den Stadttheatern auf Produktionen mit sozialkritischem bzw. christlichem Gehalt drängten. Die sozialdemokratische Filmkritik wiederum nahm eine eher indirekte Auswahl vor, indem sie vorab wissen ließ, welche Filme der sozialistischen Bewusstseinsbildung förderlich waren. Einer unbeeinflussten Rezeption standen schließlich als gatekeepers des legitimen Geschmacks jene Pastoren und Lehrer entgegen, die Hörergemeinschaften oder Pfarrkinos bildeten und damit das kulturelle Angebot einerseits ausweiteten, es andererseits mit Regeln und Anforderungen umstellten.137 136 Zitate n. Mayer, Denken, S. 354, Fn. 532; Dussel, Radio, S. 120; zum Werkbund vgl. Campbell, Werkbund, S. 143–151. Zur Bildungsmission vgl. ferner Führer, Medium, S. 742 ff.; ders., »Kulturkrise«; Langewiesche, Freizeit; zur Volksfilmbühne vgl. Murray, Film, S. 139–142. 137 Vgl. Stieg Dalton, Catholicism, S. 100 f., 178–181; Reuveni, Reading, S. 157–163; Dussel, Radio, S. 119–124, Zitat: S. 122; Führer, Medium, S. 742 ff.; Höpel, Kulturpolitik, S. 147 f., 175; Kinter, Arbeiterbewegung, S. 218 f.; Büttner, Weimar, S. 319.

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Dass die öffentliche Kulturpolitik sich nicht enger an den Wünschen der Konsumenten orientierte, lag daran, dass die zur Verfügung stehenden affirmativen Kulturbegriffe stets auf das Konzept der Bildung, niemals auf das des Konsums bezogen waren. Die Konsumenten, so die gängige Vorstellung, verlangten in erster Linie nach Unterhaltung und »Zerstreuung« – ein Zentralbegriff, der die Auflösung des autonomen Subjekts durch die visuelle Suggestivkraft der Massenkultur bezeichnete. Bildung hingegen bedeutete den Gewinn von Selbstkontrolle, war mit Anstrengung und ernsthafter Kontemplation verbunden.138 Die Dominanz des Bildungsgedankens und seine scharfe Abgrenzung gegenüber der Unterhaltung markierten die Grenze des Denkbaren und waren eine verbindende Klammer in kulturpolitischen Auseinandersetzungen. Exemplarisch dafür ist die Grundsatzdebatte über Sinn und Zweck der Kulturpolitik, die sich auf der ersten Tagung des Sozialistischen Kulturbundes – der Dachorganisation der sozialdemokratischen Kulturvereine – im Oktober 1926 abspielte. Der Kongress sah sich herausgefordert durch das Referat von Anna Siemsen, die zusammen mit einigen anderen Genossen der »bürgerlichen Kunstauffassung« den Kampf ansagte. Sie wandte sich gegen den Geniekult und die »Scheidung in schaffende Künstler und rein aufnehmendes Publikum«, der sie eine Kulturtheorie der Laienbewegung gegenüberstellte. Die Kunst sollte nicht ein »Luxusgegenstand«, sondern Ausdrucksmöglichkeit des arbeitenden Volkes sein, wobei auch eine größere Toleranz gegenüber den alltagsprägenden neuen Medien erforderlich sei.139 Der Arbeiter nicht als Konsument, sondern als Künstler war das Leitbild dieser Auffassung einer nicht historistischen Kultur, die auch unter den nietzscheanisch geprägten Lebensreformern kursierte. Andere Redner jedoch verteidigten das traditionelle kulturpolitische Konzept der Sozialdemokratie, das auf die Teilhabe an der bürgerlichen Hochkultur und ihren Kerninstitutionen Theater, Museum und Literatur zielte. Das Ziel, »das Licht der Erkenntnis in die Massen der Werktätigen hinein[zutragen]« und sie »empfänglich zu machen für all das, was Wissenschaft und Kunst seit Jahrhunderten geschaffen haben«,140 unterschied sich von Siemsens Ideal einer Laienkultur in vieler Hinsicht – nur in einer nicht: Es sollte in beiden Fällen um die Bildung der Persönlichkeit gehen, ob durch Aneignung des klassischen Kanons oder durch Entfaltung der kreativen Fähigkeiten, während dem Bedürfnis nach Unterhaltung ein positiver Platz im kulturpolitischen Denken verwehrt blieb. Es war deshalb auch ganz folgerichtig, dass Artur Crispien das Schlussreferat der Tagung über »die Pflichten des Einzelnen in der Gemeinschaft« hielt, denn der private Kampf gegen den »kleinen Spießbürger«, zu dem er jeden Genossen aufrief, thematisierte den Kulturkonsum weniger als ein Anrecht denn als eine Übung in Selbstdisziplin.141 138 Zur Persistenz des Deutungsmusters »Bildung« vgl. Bollenbeck, Bildung, S. 263–268; zum Begriff der Zerstreuung: Lacey, Zerstreuung. 139 Siemsen, Sozialismus, Zitate: S. 37, 36, 34. 140 Stein, Lage, S. 11. 141 Crispien, Pflichten, S. 104.

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Nicht zuletzt aufgrund dieser Dichotomisierung von Bildung und Unterhaltung blieb der Erfolg der öffentlichen Kulturangebote, zumindest aus der Vogel­ perspektive gesehen, beschränkt. Die Bibliotheken schnitten noch am besten ab, erreichten sie doch ein nach sozialer Schicht und Geschlecht gemischtes Publikum, an das allein die städtischen Büchereien im Jahr 1929 mehr als 15 Millionen Bände entliehen. Viele Bibliotheken berichteten, dass sie ihre Leserschaft in den zwanziger Jahren hatten verdoppeln können, und doch relativiert sich diese Bilanz angesichts der Tatsache, dass zur gleichen Zeit kommerzielle Leihbibliotheken und Buchklubs, zumal solche, die keinen Bildungsauftrag verfolgten, einen noch rasanteren Aufstieg verzeichneten. So vertrieb beispielsweise allein die »Buchgemeinschaft«, die erst 1924 gegründet wurde, fünf Jahre später bereits mehr als eine Million Bücher, was wohl auch darauf zurückzuführen war, dass offensiv mit dem Slogan der »völlig freien Wahl« geworben wurde.142 Die Kultivierungsmission des Rundfunks wiederum hat das Interesse insbesondere der unteren sozialen Schichten an dem neuen Medium unnötig gebremst. Aus zeitgenössischen Untersuchungen geht klar hervor, dass es bei weitem nicht nur finanzielle und frequenztechnische Gründe waren, die dazu führten, dass viele Hörer ihre Empfangslizenz sogar wieder kündigten. Das Radio blieb ein Medium der städtischen Mittelschicht, das Ende der zwanziger Jahre zwar rund die Hälfte der Angestellten- und Beamtenhaushalte, aber nur ein Siebentel der Arbeiterfamilien erreichte.143 Am deutlichsten kommt der beschränkte Zuspruch zum Bildungsprogramm Weimars aber in der Entwicklung der städtischen Thea­ter und Orchester zum Ausdruck. Diese Prestigeobjekte des Bürgertums wurden, oft von einem Konsens liberal- und sozialdemokratischer Kräfte getragen, einerseits mit einem erheblichen Subventionsaufwand bedacht, andererseits litten sie bereits Mitte der zwanziger Jahre unter einer Publikumskrise, die sich in stagnierenden Einnahmen und einer Auslastungsquote von durchschnittlich nur fünfzig bis sechzig Prozent (1928/29) spiegelte. Auch dass über die Volksbühne und den Bühnenvolksbund verbilligte Eintrittskarten vermittelt wurden, hatte nur einen bescheidenen Demokratisierungseffekt, denn diese Besucherorganisationen waren mindestens zur Hälfte ihrer Mitglieder bürgerlich »unterwandert«, wie sich aus der Untersuchung ihrer Sozialstruktur ergibt. In der Weltwirtschaftskrise verdichtete sich schließlich der Eindruck, dass das bildungsbürgerliche Kulturangebot gescheitert war: An den Theatern brachen die Zuschauerzahlen ein, drastische Einsparungen wurden unumgänglich, Konzessionen an den populären Geschmack in Gestalt vermehrter Operettenaufführungen wurden von den Eliten als Kapitulation des Geistes vor dem Geld erlebt.144 142 Vgl. Reuveni, Reading, S. 162, 178 f.; Langewiesche, Freizeit, S. 235; Höpel, Kulturpolitik, S. 221 ff. 143 Vgl. vor allem Führer, Medium, S. 738–740; sowie Marßolek, Radio. 144 Vgl. zur Krise der Theater nur Dussel, Theater; Führer, »Kulturkrise«; Lilje, Verband. Anhand einer Untersuchung der Kulturpolitik in Leipzig, Chemnitz, Lyon und Saint-Etienne

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Dass »die Politik die Kunst ist, die Volksseele zu leiten« kennzeichnet in Reinhard Mumms Autobiographie das typische Selbstverständnis des Weimarer Kulturpolitikers.145 Mit diesem Erziehungsanspruch war das kulturelle Interesse breiter Schichten jedoch nicht zu gewinnen, denn nur eine Verbindung von Bildung und Unterhaltung und ein Verzicht auf die bevormundenden Wächter des legitimen Geschmacks hätten den Zugang zum bildungsbürgerlichen Kanon attraktiv gemacht. Die Weigerung, der Figur des Konsumenten eine positive Rolle in der Kultur zuzubilligen, war für die Verbreitung hochkultureller Alternativen ebenso handlungsleitend wie für die Laienbewegung und setzte beiden relativ enge Grenzen.146 Gerade die Eindämmung einer Konsumhaltung, die mit Verführbarkeit, Grenzenlosigkeit und Passivität assoziiert wurde, war ja das Ziel der Kulturpolitik. Weil aber der kommerziellen Produktion vor allem seit Mitte der zwanziger Jahre wenige Beschränkungen auferlegt wurden und weil die Phantasiewelten der Massenkultur zwar mit hoher moralischer Geste verurteilt, ihre Verbreitung mit den Zensurgesetzen jedoch nicht wirksam eingeschränkt wurde, standen die bildungsbürgerlichen Angebote nun auf verlorenem Posten. Dass zugleich das »Volks«-Attribut für die Namensgebung zahlreicher kulturpolitischer Initiativen verwendet wurde, verweist nicht nur auf die verbreitete Hoffnung, dass entweder die Kultur weiteren Kreisen zugänglich gemacht oder eine neue Kultur des Volkes entstehen würde, es lässt auch eine weitere Differenz von politischem Gestaltungsanspruch und sozialer Realität erkennen: Volkshochschule, Volksbibliotheken, Volksbühne, Volksfilmbühne und die verwandten Organisationen erreichten niemals jene Popularität, die später das erste nationalsozialistische Plagiat, der Volksempfänger, erlangte.147

bewertete Thomas Höpel jüngst die Demokratisierungsversuche in den deutschen Städten positiver. Im deutsch-französischen Vergleich scheint das vollkommen überzeugend, Höpel geht jedoch nicht auf die Zusammensetzung der Besucherorganisationen ein. Vgl. Höpel, Kulturpolitik, S. 144–154, 174–178. 145 Mumm, Gedanke, S. 143. 146 Auf Laienorganisationen wie den Arbeiter-Lichtspiel-Bund oder den Arbeiter-Radio-Bund wird hier angesichts ihrer quantitativen Bedeutungslosigkeit nicht näher eingegangen. Vgl. Dahl, Arbeitersender; Kinter, Arbeiterbewegung, S. 363–374. Auch der Amateurfilm als bürgerliches Hobby hatte in Deutschland im Vergleich zu Großbritannien keine große Bedeutung. Vgl. Rieger, Technolgy, S. 201, 217. 147 Zwischen 1933 und 1941 stieg der Anteil der Rundfunkhaushalte von 25 auf 65 Prozent. Vgl. König, Volkswagen, S. 83.

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3. Kredite und Geschenke: Herausforderung der bürgerlichen Kaufmoral Ratenkauf und Werbegeschenke sind nicht erst eine Erfindung der Zwischenkriegszeit. Der offene Buchkredit, vor allem das »Anschreibenlassen« beim Kaufmann, hat bekanntlich eine lange Tradition, und Abzahlungsgeschäfte beförderten zunehmend seit den 1880er Jahren Möbel, Bekleidung und Nähmaschinen in die Haushalte der Arbeiterschaft und des Kleinbürgertums. Frühzeitig setzten sich die auf Barzahlung pochenden Gewerbetreibenden gegen die neue Konkurrenz zur Wehr, und bereits im Jahr 1891 lagen dem Reichstag Hunderte von Petitionen von Handelskammern und anderen Verbänden vor, die gegen die Kredithäuser und den Hausierhandel auf Abzahlung protestierten. Mit dem Abzahlungsgesetz von 1894 und der Novelle zur Gewerbeordnung zwei Jahre später wurde die Tätigkeit der Handelsreisenden eingeschränkt und der Rechtsschutz der Verbraucher bei Nichterfüllung des Kreditvertrags verbessert. Der Ratenkauf wurde damit aber keineswegs beseitigt, sondern breitete sich in der Folgezeit auf der solideren gesetzlichen Grundlage aus, bis im Jahr 1914 etwa 1.500 Kredithäuser in Deutschland existierten. Auch das sogenannte Zugabewesen – die Gewährung von Werbegeschenken beim Kauf einer Ware – expandierte bereits vor dem Krieg und zog ebenfalls die Kritik von Einzelhändlern auf sich, die im Rahmen der Verhandlungen über das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (1909) ein Verbot forderten. Der Gesetzgeber, der die Zugabe als Rabatt interpretierte, lehnte das aber mit der Begründung ab, dass zwischen den legitimen und illegitimen Formen der Rabattgewährung nicht sauber zu unterscheiden war. Durch Krieg und Inflation verschwanden dann die Zugaben ebenso wie die Abzahlungsgeschäfte fast vollständig aus der Geschäftspraxis und auch aus der öffentlichen Diskussion.148 Mit der Rückkehr stabilerer Verhältnisse seit 1924/25 wurden die noch jungen Strategien der Kundengewinnung wieder aufgegriffen und gewannen binnen kurzer Zeit erheblich an Bedeutung, weil sie nicht nur quantitativ zulegten, sondern auch durch institutionelle Neuerungen ihr Entwicklungspotential ausbauten. Als das geschah, zeigte sich, dass dem Strukturwandel in Richtung einer dynamischeren Konsumgesellschaft ein massiver Widerstand entgegenschlug. Dass der Verbraucher scheinbar Überflüssiges begehrte und – im Falle des Kreditkaufs – über seine finanziellen Möglichkeiten hinaus konsumieren konnte, wurde in mehrfacher Hinsicht als Bedrohung wahrgenommen. Die Organisa­ tionen des Einzelhandels, die schon in der Vorkriegszeit beklagt hatten, dass solche Geschäftspraktiken gegen die Prinzipien des »ehrbaren Kaufmanns« verstießen, mobilisierten auch in der Zwischenkriegszeit den schärfsten Protest. 148 Vgl. Mataja, Abzahlungsgeschäfte, S. 22–26; Koch, Abzahlungsgeschäft, S. 9–17, 21; Gottschick, Zugabeverbot, S. 4–7; zudem: Geyer, Gedanke, S. 48–60, 104 ff.; Käfer, Kommunikationsbeziehung, S. 28 ff.

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Unterstützung erhielten sie allen voran bei den Hausfrauenverbänden, die das bürgerliche Arbeitsethos und das Sparsamkeitsideal gegen die Verlockungen des »Kaufe jetzt, zahle später«149 verteidigten. Dass die durchaus nicht neue Kritik eine so große öffentliche Resonanz ausgerechnet im »guten« Jahrfünft der Weimarer Republik fand, hatte im wesentlichen zwei Gründe: Erstens fügte sich der vertraute Appell an Fleiß und Bescheidenheit in die Nachkriegserzählung von der verarmten Nation ein und war Bestandteil des produktivistischen Konzepts für den Wiederaufbau. Zweitens war die Auseinandersetzung über die Regeln des Marktes zugleich eine Debatte über die Amerikanisierung der deutschen Wirtschaft, denn mit der sogenannten Konsumfinanzierung, einer neuen Methode des Kreditkaufs, schien man ein Stück »verpflanztes Amerika«150 vor sich zu haben, das sich unter den deutschen Bedingungen als unfruchtbar erweisen würde, wie die Mehrheit der Beobachter glaubte. In den nun zu analysierenden Konflikten, zunächst um das Abzahlungs­ geschäft, dann um das Zugabewesen, kommt eine mentale Blockade zum Vorschein. Sie bestand darin, die Konsumenten auf die für die bürgerliche Konsummoral charakteristische lineare Zeitstruktur von Bedürfnis, Arbeit und Genuss zu verpflichten und sie gegen das Prinzip der instant gratification, das sich mit den Krediten und Geschenken anbahnte, zu immunisieren. Darüber hinaus bildete sich aus einer pessimistischen Lagebeurteilung bei vielen Kommentatoren, die sich mit diesen kommerziellen Experimenten befassten, die Überzeugung heraus, dass es auch volkwirtschaftlich unmöglich sei, gegenwärtigen Konsum durch einen Wechsel auf künftige Einkommen anzustoßen. Auch wenn ­Brünings Politik der Entbehrungen schließlich weit komplexere Ursachen hatte, ist eine diskursive Weichenstellung im Hinblick auf eine pessimistische Bewertung der Größen »Konsum« und »Kredit« nicht zu verkennen. Für den Aufschwung und die Veränderungen im Abzahlungsgeschäft seit 1924 bildete der allseitige Kapitalmangel die Voraussetzung. Zum einen waren vor dem Krieg die kreditierten Summen vornehmlich aus dem Eigenkapital des Einzelhandels bestritten worden, der nun durch die Inflation seiner Einlagen weitgehend beraubt war; zum anderen stieg aufgrund der Verarmung bürger­licher Schichten, die zudem einen Teil ihres Hausstands hatten ver­äußern müssen, das Interesse am Kreditkauf gerade in Kreisen mit stabilen Einkommensverhältnissen. Wie Waldemar Koch, deutschdemokratischer Betriebswirt und einer der besten zeitgenössischen Kenner des Abzahlungsgeschäfts, formulierte, bestand nach der Währungsreform eine »an Waren ausgehungerte, und daher kaufbegierige, um nicht zu sagen kaufgierige, Bevölkerung […], die aber über keinerlei Ersparnisse verfügte«.151 Zugleich begann in den USA noch während des Krieges der Siegeszug der Automobilindustrie, die vorführte, dass 149 So kauft man – so zahlt man, Berliner Tageblatt, Nr. 511, 29.10.1926. 150 Der Kauf auf Abzahlung marschiert, Industrie- und Handelszeitung, Nr. 226, 28.9.1926; Die Konsumfinanzierung, Germania, Nr. 540, 20.11.1926. 151 Koch, Abzahlungsgeschäft, S. 22.

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sich durch Einführung des Ratenkaufs binnen kürzester Zeit eine sagenhafte Absatzsteigerung herbeiführen ließ, wobei die Gründung von Finanzierungs­ gesellschaften den entscheidenden Schritt zur Marktausweitung bedeutete. Der Ratenkauf war damit nicht mehr nur eine Sache zwischen Käufer und Verkäufer, sondern bankähnliche Kreditinstitute übernahmen entweder die Forderungen des Händlers oder gewährten unmittelbar dem Konsumenten Kredit. Ein schlagender Beweis für den Erfolg der neuen Absatzmethode war die Tatsache, dass der in Deutschland so bewunderte Marktführer Henry Ford, der auf Barzahlung beharrte, gegenüber der entschieden den Ratenkauf forcierenden General Motors Company im Laufe der zwanziger Jahre an Boden verlor.152 Bei den Studienfahrern aus der deutschen Industrie und den Gewerkschaften, die zeitlich gedrängt im Jahr 1925 die USA bereisten, hinterließ die kreditbasierte Automobilisierung Amerikas bleibenden Eindruck,153 wie sich bald an den ersten deutschen Finanzierungsgesellschaften sowie an der sie begleitenden Kritik zeigte. Dass sich die traditionellen Abzahlungsgeschäfte nach der Währungsstabilisierung wieder beleben würden, war zu erwarten, wenn auch das Tempo überraschte, in dem beispielsweise der Reichsverband des kreditgebenden Einzelhandels an Mitgliedern gewann – deren Zahl betrug im Jahr 1925 schon rund 1.000, während sie zwischen 1914 und 1923 von 700 auf 250 gesunken war.154 Große Aufmerksamkeit erregten aber erst einige Pionierunternehmen, die fast gleichzeitig im Herbst 1926 auf den Markt traten. Den Anfang machte im September die Kundenkredit GmbH in Königsberg, eine recht kleine genossenschaftliche Gründung von 20 Einzelhändlern, meist aus der Textil- und Konfektionsbranche, die aber in den folgenden Jahren als Vorbild für eine Reihe von Schwesterorganisationen in anderen deutschen Städten diente.155 Im Oktober wurde dann bekannt, dass der Warenhausriese Hermann Tietz zunächst in seinen Berliner Filialen gemeinsam mit der Kaufkredit AG, Zürich, also unter Beteiligung schweizerischen Kapitals, ins Abzahlungsgeschäft einsteigen werde. Bei Tietz, Symbol des Barzahlungsgeschäfts, sollte man alles bis auf Lebensund Genussmittel auf einen Kreditschein kaufen können. Wenige Wochen später folgte der Verband der Berliner Spezialgeschäfte, der mit der Citag, einer Tochtergesellschaft des großen amerikanischen Finanzierungsunternehmens ­Commercial Investment Trust, ein Abkommen schloss. Gleichzeitig wurde die genossenschaftlich verfasste Kundenkredit-Gesellschaft Deutscher Einzelhändler gegründet, der zahlreiche Textil-, Mode- und Haushaltswarengeschäfte 152 Erst 1928 sah sich auch Ford gezwungen, auf Ratenkauf umzuschwenken. Vgl. Calder, Financing, S. 184–199; sowie wirtschaftsgeschichtlich grundlegend: Olney, Buy Now. 153 Vgl. nur die zwiespältige Bewertung der Gewerkschaftsdelegation: Amerikareise, S. 68 f. 154 Vgl. Koch, Abzahlungsgeschäft, S. 21 f. Es war natürlich nur ein Teil der Kredithäuser verbandsmäßig organisiert. 155 Vgl. Kaminsky, Teilzahlungsbanken, S. 15 f.; Koch, Abzahlungsgeschäft, S. 58–62.

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in Berlin angehörten und die durch ein deutsches Bankenkonsortium mit einer Gesamtkreditsumme von 50 Millionen RM versorgt wurde.156 Alle diese Angebote, für die sich rasch der Begriff der Konsumfinanzierung einbürgerte, unterschieden sich von den herkömmlichen Abzahlungsgeschäften darin, dass sie nicht die Wechsel der Einzelhändler diskontierten, sondern sich direkt an den Konsumenten wandten und diesem ein Darlehn gewährten, das er an die Finanzierungsgesellschaft in einem Zeitraum von, je nach Vereinbarung, 6 bis 24 Monaten – oft waren es 12 oder 18 Monate – abzuzahlen hatte. Dafür erhielt der Kunde ein Scheckbuch, mit dem er bei den Geschäften, die eine Vereinbarung mit der Finanzierungsgesellschaft getroffen hatten, wie mit Bargeld einkaufen konnte. Lebensmittel waren allerdings vom Kauf ausgenommen, weil hier der Eigentumsvorbehalt, der den Rechtsschutz des Verkäufers bei Zahlungsverzug darstellte, nicht greifen konnte. Entscheidend für diese neue Methode des Abzahlungsgeschäfts war, dass die Verhandlung über den Ratenkauf und seine Modalitäten nicht mehr zwischen Verkäufer und Käufer stattfand und auch nicht mehr auf bestimmte Waren bezogen war und bei jedem Kaufakt neu ausgetragen werden musste. Zu den genannten Unternehmungen, die bis auf die Königsberger Kundenkredit GmbH in der Metropole Berlin angesiedelt waren, muss ein weiteres innovatives Projekt gezählt werden, das ebenfalls im Herbst 1926 in der Reichshauptstadt anlief: Die Berliner Elektrizitätswerke (BEWAG) offerierten unter Beteiligung der Kreditanstalt für Verkehrsmittel AG und im Verein mit Installateuren und Elektrogeschäften den Ratenzahlungsplan »Elektrissima«, der es ermöglichte, elektrische Haushaltsgeräte, Installationen und sogar Stromanschlüsse auf Kredit zu erwerben. Die BEWAG fungierte als Finanzierungsbank, zahlte die Leistungen der Einzelhändler und zog die Raten mit der monatlichen Stromrechnung ein. Für die Gewinnung von Stromkunden und die Verbrauchssteigerung machte dieses erfolgreiche Modell Schule, und bereits im Jahr 1928 bedienten sich über 200 Elektrizitätswerke in Deutschland des Abzahlungs­ geschäfts.157 Als im Oktober und November 1926 – bevor einige der »Konsumfinanzierer« überhaupt ihren Betrieb aufnahmen – durch die Propagierung des Ratenkaufs sich eine Veränderung der Geschäftspraktiken andeutete, setzte in der Presse eine äußerst lebhafte Debatte ein.158 Zunächst verbreiteten Berliner Boulevardzeitungen wie das 8-Uhr-Abendblatt und das Berliner Tageblatt mit Begeisterung die Nachricht, dass Tietz und eine große Zahl von Einzelhändlern 156 Seine Majestät, der Kunde, Der Jungdeutsche, Nr.  268, 14.11.1926; Die Finanzierung des Konsumenten, Der Tag, Nr.  278, 20.11.1926; Konsum-Finanzierung  – Verelendung der Mittelschichten, Rote Fahne, Nr.  264, 28.11.1926; Koch, Abzahlungsgeschäft, S. 58–62. 157 Vgl. Würsching, Bedeutung, S. 51 f.; Koch, Abzahlungsgeschäft, S. 26; sowie aus der Forschung: Langguth, Elektrizität, S. 96–98; Heßler, Woman, S. 141 f., 147 f. 158 Die im Folgenden analysierten Beiträge aus der Tagespresse finden sich im Pressearchiv des Reichs-Landbundes: BA, R 8034 II, 6468 u. 3568.

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zum Weihnachtsgeschäft den Ratenverkauf einführen würden. Die neue Konsumfinanzierung wurde als eine »Kunst, mit wenig Geld viel zu leisten« als besonders zeitgemäße Errungenschaft gefeiert, und das »Scheckbuch des kleinen Mannes«, das bei der Kaufkredit AG erhältlich war, erläuterte man der Leserschaft durch eine regelrechte Gebrauchsanweisung. Ohne Umschweife wurde zugleich mitgeteilt, an welchen Teil  der Kundschaft sich die Angebote richteten: Tietz würde vorläufig Kreditscheine nur an Beamte mit ihren sicheren Einkommen aushändigen, während es über die Citag und den Berliner Einzelhandel hieß: »Jeder Zahlungsfähige erhält Kredit!«, was sich aber bei näherem Betrachten auf Beamte, Angestellte und freie Berufe bezog, wohingegen Arbeiter gar nicht zum Kreis der möglichen Kreditnehmer gezählt wurden. Am wichtigsten schienen die Vorteile, die sich für den kreditwürdigen Konsumenten er­ gaben und darin bestanden, dass er die Waren zum normalen Preis erhielt – der Zins wurde schließlich über den Kreditvertrag abgewickelt –, wie ein barzahlender Kunde behandelt werden würde und schließlich die ganze Palette von Gebrauchsgütern für den Ratenkauf zur Verfügung stand.159 Als die Kaufkredit AG am 1.  November 1926 ihre Schalter öffnete, waren die Berliner hinreichend angestachelt, und das 8-Uhr-Abendblatt berichtete von einem »Riesenandrang« an jenem »erste[n] Tag, an dem man pumpen konnte«. Bis zum frühen Nachmittag waren bereits 2.000 Anträge auf insgesamt 600.000 RM Kredit eingegangen, und vierzig Prozent der Antragsteller waren Frauen. Diskriminiert wurde nach Klassenzugehörigkeit und Berufsstellung, denn schon am Schalter lagen vier verschieden farbige Formulare für Beamte, Angestellte, Gewerbetreibende und freie Berufe bereit. Wie sich zeigte, war das Publikum durch die Presseberichte gut vorbereitet, denn es brachte genau die Unterlagen bei – Steuerbescheinigung, Nachweis des Arbeitgebers, Passbild –, die für die Prüfung der Kreditwürdigkeit erforderlich waren.160 Die Kritik ließ nicht lange auf sich warten. Die politische Tagespresse von links bis rechts zeigte sich bestürzt über das »Schlagwort der Zeit […]: Konsum um jeden Preis« und warnte vor dem »Konsumfinanzierungs-Taumel« mit einer Vielzahl von Argumenten.161 Die volkswirtschaftlichen Aussichten schienen in mehrfacher Hinsicht höchst bedenklich: Während die Befürworter der Ratenzahlung auf die belebende Wirkung auf die Binnennachfrage verwiesen, be­tonten die meisten Kommentatoren, dass eine solche nur kurzfristig und in einzelnen Branchen stattfinden würde, während sich die Massenkaufkraft, die schon Mitte der zwanziger Jahre ein viel diskutiertes Thema war, keinesfalls langfristig auf diese Weise erhöhen ließe. Nach dem Kreditkauf 159 Das große Abzahlungs-Projekt kommt zustande!, 8-Uhr-Abendblatt, Nr. 251, 27.10.1926; Weihnachtsgeschäft auf Kreditschein, Berliner Tageblatt, Nr.  509, 28.10.1926; So kauft man – so zahlt man, Berliner Tageblatt, Nr. 511, 29.10.1926. 160 Der erste Tag, an dem man pumpen konnte, 8-Uhr-Abendblatt, Nr. 255, 1.11.1926. 161 Seine Majestät, der Kunde, Der Jungdeutsche, Nr. 268, 14.11.1926; J. Plümpe, Gefahren der Konsumfinanzierung, Kölnische Volks-Zeitung, Nr. 848, 16.11.1926.

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war schließlich das Haushaltsbudget durch die Ratenzahlungen belastet und durch den Zins noch zusätzlich eingeschränkt. Dass keine zusätzliche Kaufkraft geschaffen würde und »kein Volk […] mehr verbrauchen [kann], als es auf Dauer an Einkommen erzielt«, wie es der Vorwärts unumstößlich formulierte, war die vorherrschende Meinung.162 Nur wenige Autoren wiesen dagegen auf die Möglichkeit komplexerer konjunktureller Impulse hin: So konnte in einer vom Abzahlungsgeschäft profitierenden Branche vermehrte Beschäftigungsmöglichkeit entstehen und so der Konsum der vormals Arbeitslosen den Nachfrageausfall der Ratenzahler überkompensieren. Oder ein junges Angestelltenehepaar mochte sich mit Hilfe eines Kredits eine Wohnungseinrichtung leisten, die es in die Lage versetzte, aus den zuvor gemieteten möblierten Zimmern auszuziehen und eine günstigere leere Wohnung zu nehmen, bei der monatlich an Miete weit mehr gespart wurde, als die Zinsen an Kosten verursachten.163 Während solche Möglichkeiten nur selten erwogen wurden, schien eine andere Konsequenz unausweichlich: Es musste eine Erhöhung des Preisniveaus stattfinden, weil die Einzelhändler, die bei der Konsumfinanzierung einen Teil der Zinsen trugen, die höheren Kosten auf die gesamte Kundschaft umlegen und dadurch die Barkäufer benachteiligen würden. Dass sich mit den Kreditgesellschaften ein preissteigerndes »Zwischenglied« zwischen Konsument und Verkäufer schob, lief zudem der Rationalisierungsbewegung zuwider und verstärkte nur die Inflationsangst.164 Auch die zu erwartenden Folgen für die Ka­ pitalbildung waren Anlass zur Sorge, denn je mehr ein von ausländischen Geldgebern finanzierter Ratenkauf expandieren würde, desto weniger Geld flösse über den Umweg der Sparkassen und Banken in die heimische Produktion und desto mehr in Form von Zinsen und Dividenden ins Ausland.165 Am vehementesten wurde freilich über die Vorbildhaftigkeit des amerikanischen Abzahlungsgeschäfts für die deutsche Wirtschaft gestritten. Die Anhänger des neuen Ratenkaufs konnten immerhin auf die mittlerweile jahrelangen positiven Erfahrungen in den USA verweisen und sahen vor diesem Hintergrund, wie ein Sprecher des Verbandes Berliner Spezialgeschäfte frohlockte, die 162 Abzahlungsgeschäft und Arbeiterschaft, Vorwärts, Nr.  512, 30.  Okt. 1926; vgl. auch J. Plümpe, Gefahren der Konsumfinanzierung, Kölnische Volks-Zeitung, Nr. 848, 16.11.1926; Die Konsumfinanzierung, Germania, Nr. 542, 21.11.1926; Die Finanzierung des Konsumenten, in: Der Tag, Nr. 278, 20.11.1926. 163 Vgl. Konsumfinanzierung und Konjunktur, Germania, Nr. 536, 17.11.1926; Koch, Abzahlungsgeschäft, S. 150. 164 Vgl. nur August Müller, Konsumbelebung durch Konsumfinanzierung, Hamburger Fremdenblatt, Nr.  302, 1.11.1926; Zur Frage der Konsumfinanzierung, Deutsche All­gemeine Zeitung, Nr. 537, 16.11.1926; Die Kehrseite der Konsumfinanzierung, Vorwärts, Nr. 542, 17.11.1926. 165 Vgl. Freiherr von Bissing, Konsumfinanzierung und Konjunkturentwicklung, Deutsche Tageszeitung, Nr. 552, 26.11.1926; J. Plümpe, Gefahren der Konsumfinanzierung, Kölnische Volks-Zeitung, Nr. 848, 16.11.1926.

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»Emanzipation des Konsumenten von Produktion und Handel« nahen.166 Solche Art von »Glücksverheißungen für den deutschen Konsumenten«167 stieß bei der Mehrzahl der wirtschaftspolitischen Publizisten jedoch auf taube Ohren, denn allzu unterschiedlich erschienen ihnen die ökonomischen Bedingungen und Aussichten zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten. Was sich die Amerikaner mit ihrem stabilen Wirtschaftswachstum, dem hohen Einkommensniveau und vor allem ihren »großen Zukunftsmöglichkeiten« leisten könnten, sei für das verarmte Deutschland, wo sich die Löhne am Existenz­ minimum bewegten und die Konjunkturerwartungen alles andere als rosig wären, kein empfehlenswertes Modell. Weil Krise und Stagnation den Erwartungshorizont der Experten prägten  – die Kurzrezession 1925/26 gerade erst überwunden  –, war ein Transfer kaum ratsam und musste als unverantwortliches Experiment erscheinen. Selbst der liberale Ökonom Wilhelm ­Vershofen, Vorreiter der deutschen Marktforschung und ein Befürworter der Konsum­ finanzierung, fürchtete die prozyklischen Effekte des Ratenkaufs, der zwar die Konjunktur anheizen, aber auch eine Depression verschärfen könnte, wenn zum Abschwung noch der Ausfall der Abzahlungsverpflichtungen hinzukäme. Auch der sozialdemokratische Genossenschaftstheoretiker August Müller warnte, dass es sogar in den USA schon viele Leute gebe, »die mit Grausen an den Eintritt einer Wirtschaftskrise denken, unter deren Einfluss die 6 Milliarden Dollars schwere Abzahlungs­k reditkette reißen könnte«.168 Neben die Erwägungen, die Wohl und Wehe der ganzen Volkswirtschaft mit der Konsumfinanzierung in Zusammenhang brachten, traten Bedenken, die sich auf die sozialen und sozialpsychologischen Auswirkungen des Ratenkaufs richteten. Als ungerecht galten einige der neuen Unternehmungen schon deshalb, weil sie, wie erwähnt, die Arbeiterschaft systematisch ausschlossen und sich ganz auf die Gewinnung bürgerlicher Käuferschichten konzentrierten. Warum das geschah, wusste Vershofen zu erläutern, als er betonte, dass die Kreditsicherheit zwar letztlich in dem Vertrauen begründet lag, das dem Konsumenten entgegengebracht wurde, dieses Vertrauen aber weniger auf dessen aktueller Finanzlage als auf der allgemeinen Konjunkturerwartung basierte: Die Wahrscheinlichkeit des Arbeitsplatzverlustes, die unter den Arbeitern mit Abstand am höchsten war, stellte in der krisengeschüttelten Weimarer Wirtschaft ein wichtiges Exklusionskriterium im Hinblick auf die Kreditvergabe dar.

166 Hausfrau und Anschaffungskredite, Berliner Lokalanzeiger, Nr. 546, 19.11.1926. 167 Die Konsumfinanzierung, Germania, Nr. 540, 20.11.1926. 168 August Müller, Konsumbelebung durch Konsumfinanzierung, in: Hamburger Fremdenblatt, Nr.  302, 1.11.1926 (Zitate); vgl. zudem: Die Konsumfinanzierung, in: Germania, Nr.  540, 20.11.1926, Teil  2: Nr.  542, 21.11.1926; Fritz Nonnenbruch, Das Abzahlungsgeschäft, in: Deutsche Zeitung, Nr. 323, 21.11.1926; J. Plümpe, Gefahren der Konsumfinanzierung, in: Kölnische Volks-Zeitung, Nr. 848, 16.11.1926; Die Konsumfinanzierung wird abgelehnt, Tägliche Rundschau, Nr.  537, 17.11.1926; Vershofen, Konsum­f inanzierung, S. 224 f.

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Wo Arbeiter und Geringverdienende nicht von vornherein abgelehnt werden würden, drohte freilich das Problem der Überschuldung, mit dem man in der Vorkriegszeit bereits hinreichend abschreckende Erfahrungen gemacht hatte. Handelsexperten wie Julius Hirsch bezifferten den Anteil von Gerichtsprozessen an den Geschäftsabschlüssen der Kredithäuser mit 15 Prozent, und im Amtsgericht Köln waren im Jahr 1912 angeblich 10.000 Verschuldungsprozesse anhängig, die aus Abzahlungskäufen entstanden waren. Die Überschuldung der Unter- und Mittelschichten würde noch zunehmen, je laxer bei der Kredit­ gewährung verfahren würde.169 Die vielleicht größte Gefahr bestand schließlich darin, dass der Ratenkauf zum Konsum von überflüssigen Waren verführte und der »Sparsinn« der Verbraucher verschwand. Seit der Inflation schien ohnehin eine veränderte Konsummentalität um sich zu greifen, die das Verhältnis von Leistung und Genuss verdrehte, sich durch einen permanenten, hedonistisch gestimmten Erregungszustand auszeichnete und der Pflicht zur Sparsamkeit kaum noch Beachtung schenkte. Unter diesen Bedingungen einer moralisch geschwächten Bevölkerung werde die Konsumfinanzierung fatal wirken, weil, wie es in der Täglichen Rundschau hieß, »breite Schichten bei uns noch immer an der seelischen Hemmungslosigkeit und dem Mangel an Widerstand gegen die Verführungen in jeder Form leiden, die ein unseliges und schwer zu überwindendes Erbe aus der Unterernährung des Krieges und der ersten Nachkriegszeit sind«. Selbst die den Ratenkauf vorsichtig unterstützende Industrie- und Handelszeitung fragte sich, »ob der deutsche Käufer für eine derartig verbreiterte Abzahlung wirtschaftlich und besonders moralisch bereits die nötige Reife erlangt hat«.170 Der Konsument musste vor den Verlockungen des Ratenkaufs gewarnt werden, weniger weil das einem Verbraucherschutzmotiv entsprang, sondern vielmehr weil die Pflicht zur Sparsamkeit es zu fordern schien.171 Gegenüber dem Chor der Kritiker waren die Stimmen, die auf die posi­tiven Auswirkungen des Konsumkredits hinwiesen, deutlich in der Minderheit. Vor allem aber bewegten sich sogar die Befürworter des Ratenkaufs mit ihren Argumenten im Wertehorizont von Produktivismus und Sparsamkeitsideologie. Sofern es sich um Konsum für produktive Zwecke handelte  – als klassisches Beispiel galt die Nähmaschine, aber auch die bevölkerungspolitisch wünschenswerte Gründung eines Hausstands gehörte dazu – war das Ratensystem zu emp169 Vgl. ebd., S. 224; Hirsch, Handel, S. 250. Zudem: Konsum-Finanzierung – Verelendung der Mittelschichten, Rote Fahne, Nr. 264, 28.11.1926; Konsumfinanzierung – das Problem des Tages, Germania, Nr. 551, 26.11.1926. 170 Die Konsumfinanzierung wird abgelehnt, Tägliche Rundschau, Nr. 537, 17.11.1926; Experimente zur Absatzsteigerung, Industrie- u. Handelzeitung, Nr. 270, 19.11.1926. 171 Vgl. eine typische Stellungnahme: »Wir sind ein armes Volk, die Verdienstmöglich­keiten sind gering, größte Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit ist heute Pflicht jedes einzelnen, ganz gleich, welcher sozialen Schicht er angehört.« Konsumfinanzierung  – das Problem des Tages, Germania, Nr.  551, 26.11.1926; weitere Beispiele: Die Konsumfinanzierung, ebd., Nr. 540, 20.11.1926; Rautmann, Abzahlungsverkehr, Vorwort.

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fehlen, was auch seine Gegner anerkannten. Als höchst umstritten erwies sich hingegen eine Position, die vollkommen zurecht auf die psychologischen Vorzüge des Kredits aufmerksam machte. So teilte etwa Vershofen die Überzeugung, dass die Sparsamkeit dadurch nicht geschwächt, sondern im Gegenteil gefördert würde, weil die Ratenzahlungen wie ein »Sparzwang« im nachhinein wirkten, während der Appell an das Sparen vor dem Kauf regelmäßig an der sozialen Lage und mentalen Disposition der Verbraucher scheiterte: Unter den Bedingungen knapper Einkommen und häufiger Notlagen, die dazu zwangen, das Gesparte immer wieder anzugreifen, sowie angesichts reizvoller Alternativen, die zu einem geringeren Entgelt lockten, war es eher unwahrscheinlich, dass breite Schichten jene Disziplin aufbrachten, die für den Erwerb teurer Objekte wie Möbel und elektrische Haushaltsgeräte notwendig gewesen wäre. Erfolgversprechender schien es, den Konsumenten mit dem Ratenkauf vertraglich auf seine eigene Selbstdisziplin zu verpflichten.172 Im Jahr 1926 war dieses konsumistische Sparsamkeitsmodell noch nicht mehrheitsfähig. Nach dem Bekanntwerden der verschiedenen Projekte zur Konsumfinanzierung beeilte sich der Einzelhandel, die Ausreißer in den eigenen Reihen zu marginalisieren. Der Reichsbund des Textileinzelhandels war ein entschiedener Gegner, die Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels äußerte sich anfänglich abwartend, dann ebenfalls ablehnend, und 20 bekannte Berliner Geschäfte und Warenhäuser – Wertheim, Kaufhaus des Westens und andere – schalteten große Inserate, die versprachen, am »bewährten Barzahlungssystem« festzuhalten.173 Dass die Konsumvereine gegen das Ratengeschäft agitierten, war bekannt, doch vor allem die bürgerlichen Hausfrauenverbände sahen sich als Hüterinnen ihrer hauswirtschaftlichen Ideale herausgefordert. Am 18. November 1926 trat die Zentrale der Hausfrauenvereine Groß-Berlins unter der Leitung von Charlotte Mühsam-Werther, die eine der führenden Hauswirtschaftsexpertinnen der Republik und zugleich Mitglied des Reichswirtschaftsrates war, in dessen Plenarsaal zu einer Sitzung zusammen. Für die eigens zur Verteidigung der Konsumfinanzierung geladenen Vertreter der neuen Kreditunternehmen hatte die Versammlung eher den Charakter eines Tribunals, an dessen Ende eine Entschließung gefasst wurde, die sämt­liche Anklagepunkte zusammenfasste: Die den Verbrauchern empfohlenen Kredite seien

172 Vgl. Vershofen, Konsumfinanzierung, S. 213 f.; Paneth, Entwicklung, S. 212 f.; Mataja, Abzahlungsgeschäft, S.  23; Gillmann u. Jonas, Abzahlung, S.  16 f.; sowie bereits Heymann, Abzahlungsgeschäft. 173 Wandlungen im Einzelhandel, Vorwärts, Nr. 559, 27.11.1926. Vgl. zudem: Die Konsumfinanzierung wird abgelehnt, Tägliche Rundschau, Nr. 537, 17.11.1926; Die umstrittene Konsumfinanzierung, Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr.  538, 17.11.1926; Die Kehrseite der Konsumfinanzierung, Vorwärts, Nr. 542, 17.11.1926; Hie Bar – hie Borg! Industrie- und Handelszeitung, Nr. 277, 27.11.1926; sowie vor allem die Sammlung von Stellungnahmen des Einzelhandels in: Konsumfinanzierung als Wettbewerbsmittel.

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»eine Belastung, welcher die dafür in der Hauptsache in Aussicht genommenen schwachen Schultern, unter ihnen zahlreiche Jugendliche und Unerfahrene, ohne Schädigung wirtschaftlicher und sozialer Lebensinteressen nicht gewachsen sind. Sie besorgen darüber hinaus eine Verteuerung der Waren; Verlockung zu unüberlegten, dem Luxus und der Laune dienenden Ausgaben; Lähmung des Spartriebes; schwerste Verlegenheit durch Gefährdung künftiger nützlichen oder gar notwendigen Ausgaben; in besonderen Fällen Not und Elend. Allen solchen Projekten stehen die gegenüber Abzahlungsgeschäften längst anerkannten Bedenken entgegen; es sei denn, daß es sich um Möbel oder sonstigen unentbehrlichen Dauerhausrat handelt. Zudem wird das Kreditsystem höchstens zu einer Verschiebung, nicht aber zu einer Erhöhung des Konsums führen, da letzten Endes niemand mehr ausgeben kann, als er hat. Und schließlich würde der sehr hohe Kreditnutzen hauptsächlich in die Taschen ausländischer Geldgeber fließen.«174

In dieser Stellungnahme war eine für die Weimarer Konsumpolitik charakteristische Mischung anzutreffen, die aus sozialem Verantwortungsgefühl, Unverständnis gegenüber dem Reiz der neuen Warenkultur, Skepsis mit Blick auf eine dynamischere Wirtschaftsweise und einer Portion ökonomischem Nationalismus bestand. Die Auswirkungen, welche die überwiegend pessimistische Beurteilung der Konsumfinanzierung in der veröffentlichten Meinung auf die Praxis der Kreditgeschäfte hatte, lassen sich nur skizzieren – nicht zuletzt weil auch die historische Forschung zum Konsumentenkredit vor 1945 unterentwickelt ist.175 Auffällig war jedenfalls, dass von den im November 1926 so heiß diskutierten neuen Unternehmen nur wenige zu reüssieren vermochten. Die Kundenkreditgesellschaft Deutscher Einzelhändler scheiterte ebenso nach kurzer Zeit wie die Citag mit dem Verband Berliner Spezialgeschäfte; das Königsberger Modell funk­tionierte hingegen, und auch Tietz vermeldete eine zufriedenstellende Umsatz­entwicklung bis 1929, führte allerdings die Ratenzahlung anders als geplant nicht deutschlandweit in seinen Filialen ein.176 Das war mithin eine eher schwache Bilanz, die in keinem Verhältnis zu dem anfänglich registrierten Interesse der Kundschaft stand. Der wichtigste Grund dafür, dass die Konsumfinanzierung Ende der zwanziger Jahre noch nicht Fuß fassen konnte, lag darin, dass es dem Einzelhandel gelang, das zweifellos vorhandene Bedürfnis nach dem Ratenkauf durch den Ausbau und die bessere Kapitalisierung der traditionellen Abzahlungsgeschäfte zu 174 Hausfrau und Anschaffungskredite, Berliner Lokalanzeiger, Nr. 546, 19.11.1926. 175 Zur BRD vgl. jetzt Stücker, Konsum. Als Überblick über die quantitative Entwicklung seit 1864 vgl. das allerdings wenig transparente Diagramm bei Reifner u. a., Tatsachen, S. 83 a; für die Zwischenkriegszeit zudem: Käfer, Kommunikationsbeziehung, S.  22 ff. Gelpi u. ­Julien-Labruyère, History, S. 141 ff., ist für den internationalen Vergleich in­struktiv, aber allzu universalhistorisch angelegt, um für den modernen Konsumentenkredit in Deutschland Substanzielles zu liefern. 176 Vgl. Koch, Abzahlungsgeschäft, S. 59–61.

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befriedigen. Es wurde als gemeinsames Projekt der Dresdener Bank, der Kreditanstalt für Verkehrsmittel AG und des Reichsverbandes des kreditgebenden Einzelhandels eine zentrale Diskontgesellschaft gegründet, welche die Kredit­ sicherheit des auf Raten verkaufenden Einzelhandel erhöhte und ihn zugleich mit Richtlinien für eine solidere Kreditgewährung versorgte:177 Nur wertbeständige Waren – also keine Textilien – sollten in Frage kommen, für jeden Ratenkauf müsse ein Kreditvertrag abgeschlossen werden, Scheckbücher seien abzulehnen, eine Baranzahlung von zwanzig Prozent wurde angeraten, und die Prüfung der Kreditwürdigkeit sei zunächst Sache des Verkäufers. Dieser sollte sich dafür aber nicht nur seiner lokalen Kenntnisse über den Kundenstamm bedienen, sondern es wurde eine für die zukünftige Praxis des Konsumkredits wegweisende Neuerung gefordert: Die Einzelhändler sollten ihr Wissen über zuverlässige und säumige Käufer vernetzen und in zentralen Kartotheken bündeln, die dann von allen konsultiert werden konnten. Dieses Modell repräsentierte seit 1927 die bis heute bestehende »Schutzgemeinschaft für Absatzfinanzierung und Kreditsicherung« (Schufa), die von Juristen aus dem Umfeld der BEWAG gegründet wurde und innerhalb von nur zwei Jahren eine Kartei mit 1,5 Millionen Kundeneinträgen auf die Beine stellte.178 Alles das waren im Grunde Maßnahmen, welche die Einzelhändler von einer allzu optimistischen Kreditpolitik abzuhalten versuchten, ohne das Abzahlungsgeschäft selbst übermäßig einzuschränken. Die Umsatzentwicklung verlief auch durchaus positiv: Zeitgenössische Fachleute schätzten das Gesamtvolumen des Ratenkaufs im Einzelhandel Anfang 1930 auf eine Milliarde RM, was zwar nur etwa drei Prozent des Gesamteinzelhandelsumsatzes ausmachte, aber gegenüber der Vorkriegszeit ungefähr eine Verdoppelung bedeutete  – während die Realeinkommen höchstens auf dem Niveau von 1913 lagen.179 Der Zug zur konservativen Kreditvergabe, der sich in der Ablehnung der Konsumfinanzierung äußerte, bedeutete zugleich, dass die Verbraucherschaft dadurch in zwei Gruppen zerfiel, wie Tabelle 7 verdeutlicht: Der einen, vornehmlich Beamten und Angestellten, wurde aufgrund von Einkommen und Beruf eine Erhöhung ihres materiellen Lebensstandards durch den Ratenkauf zugestanden, während die andere an den Horizont ihrer bescheidenen finanziellen Mittel gebunden blieb oder sich auf den Buchkredit und damit auf ihr Verhandlungsgeschick beim lokalen Händler verlassen musste. Vor allem die 177 Vgl. Richtlinien für die Konsumfinanzierung der neuen Zentral-Kreditgemeinschaft, Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 545, 22.11.1926; dazu auch: Rühl, Eigentumsvorbehalt, S. 240–243; Koch, Abzahlungsgeschäft, S. 62, 67, 78 f. 178 Vgl. ebd., S. 120–122; 75 Jahr Schufa – 75 Jahre Verbraucherkredit: Broschüre zum Jubiläumsjahr 2002: http://www.schufa.de/de/unternehmen/geschichtederschufa/geschichtederschufa.jsp. (Zugriff: 16.7.2009) 179 Vgl. Koch, Abzahlungsgeschäft, S. 30, der hier einer Berechnung von Julius Hirsch folgt. Hinzu käme noch eine weitere Milliarde unorganisierten Buchkredits sowie die hier nicht berücksichtigten Kredite der Industrie für Automobil- und Motorradkäufe, vgl. Vershofen, Konsumfinanzierung, S. 220 f.

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unterproportional ver­tretene Arbeiterschaft war in dieser Form beschränkt, wobei hier bereits die Auswirkung der Wirtschaftskrise die Lage verschärft haben dürfte.180 Tab. 7: Kreditvergabe im Einzelhandel 1930 a) Sozialstruktur der Kundschaft im Abzahlungsgeschäft in % Beamte

23,4

Angestellte

35,2

Arbeiter

16,6

Rentner

8,1

Gewerbetreibende

12,7

Freie Berufe

3,4

Landwirte

0,5

b) Konsumgüter und Zahlungsweise in % Barzahlung

Buchkredit

Ratenkauf

Öfen und Kochmaschinen

12,6

14,2

73,2

Möbel

15,2

27,1

57,7

Elektrische Installationen

15,4

35,4

49,2

Radioapparate und Zubehör

47,5

23,3

29,2

Kleidung

78,4

18,0

3,6

Quelle: a) basiert auf dem Durchschnitt der zehn Kreditgemeinschaften, die im September 1930 der Gesellschaft für Finanzierung von Kreditgemeinschaften mbH angehörten (Koch, Abzahlungsgeschäft, S. 160). b) laut Mitteilungen der Forschungsstelle für den Handel, 23. Oktober 1930 (Paneth, Entwicklung, S. 206).

Für die Modernisierung des Lebensstils im Sinne einer Technisierung und Erneuerung des Haushalts war aber der Zugang zum Abzahlungsgeschäft von großer Bedeutung, wie der zweite Teil der Tabelle zeigt. Dass viele der Abzahlungsgeschäfte – den Richtlinien der Diskontgesellschaft gemäß – offenbar den 180 Dass die Landwirte so schwach vertreten waren, lag daran, dass es sich um großstädtische Kreditgemeinschaften handelte. Vgl. Koch, Abzahlungsgeschäft, S. 160. Von der Benachteiligung der Arbeiter gab es auch Ausnahmen, wie die Handels-Enquête zeigt: vgl. Ausschuß, Einzelhandel, S. 213.

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Ratenverkauf von Bekleidung verweigerten, dürfte ebenfalls für die finanziell schwächere Kundschaft von Nachteil gewesen sein, denn wenn man die Ergebnisse der Handels-Enquête aus den Jahren 1925 bis 1927 zum Vergleich heranzieht, wird deutlich, dass in den dort untersuchten kreditgebenden Unternehmen die Nachfrage nach Mode und Textilien einen wesentlichen Anteil am Geschäft ausmachte.181 Kleine Wohlstandsgewinne »auf Raten«, die für viele Angestellte und Beamte möglich waren, lagen für die meisten proletarischen Konsumenten also in weiter Ferne. Dafür sorgten letztlich volks- und betriebswirtschaftliche Bedenken im Einzelhandel ebenso wie die pessimistischen Konjunkturerwartungen und das Festhalten am alten Sparsamkeitsmodell, durch die die Debatte in der politischen Publizistik geprägt war. Ähnliche Reaktionen waren zu verzeichnen, als sich seit der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre das Zugabewesen ausdehnte und damit eine aus heutiger Sicht ephemere Form der Werbung eine Bedeutung erlangte, die nur in dem größeren Zusammenhang einer Dynamisierung konsumgesellschaft­licher Spielregeln und der ihr entgegenstehenden Kräfte zu verstehen ist. Aus der reichhaltigen zeitgenössischen Literatur zum Zugabewesen, das von den Anhängern als »Wertreklame« verteidigt, von den Gegnern als »Zugabeunwesen« diffamiert wurde, ist zu entnehmen, dass das Kalkül der Zugabe darin bestand, »eine von der Hauptleistung verschiedene, selbständige Leistung zu sein mit eigenem besonderen Gebrauchs- oder Genußwerte, und derart mit dem Hauptgegenstand verknüpft zu sein, daß der Wunsch die Nebenleistung zu besitzen, den Wunsch erregt oder fördert, die Hauptware zu kaufen, da man jene nur mit dieser erhält«.182 Diese Strategie der Kundengewinnung hatte offensichtlich Erfolg, denn binnen weniger Jahre gingen immer mehr Hersteller und Händler zur Gewährung von Zugaben über. Eine Untersuchung der Forschungsstelle für den Handel aus dem Jahr 1930 ergab, dass es die Nahrungsmittelindustrie und darin vor allem die Margarine- und die Kaffeeersatzmittelproduzenten waren, die diese Reklame vorantrieben. Dass gerade diese Branchen darauf zurückgriffen, ist dadurch zu erklären, dass sie sich unter den Bedingungen steigender Einkommen im Wettbewerb mit den höherwertigen Substitutionsgütern Butter und Kaffee tendenziell im Nachteil befanden und nur die Chance bestand, durch zusätzliche Qualitäten zu punkten. Auch für die kleinen und mittleren Unternehmer, die unter einem wachsenden Konkurrenzdruck gegenüber Warenhäusern, Konsumvereinen und Einheitspreisgeschäften standen, waren die Zu181 Vgl. ebd., S. 217 f. 182 Lobe, Wertreklame, S.  7. Als zentrale Publikationen der Zugabegegner vgl. Pelka, Zu­ gabeunwesen; Huth, Gutscheinsystem; Dölz, Zugabe-Unwesen; wichtige Argumente für die Verteidiger lieferten dagegen Lobe, Wertreklame; Buhl, Wertreklame; Marbe, Psychologie. Zur Terminologie: »Wertreklame« und »Zugabe« werden im Folgenden, dem Sprachgebrauch der Zeitgenossen folgend, synonym verwendet, und nicht, wie die juristische Fachliteratur später differenzierte, die Zugabe als eine von mehreren akzes­sorischen Formen der Wertreklame verstanden. Vgl. Lehmann, Werbung, S. 3–20.

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gaben eine vielversprechende Alternative zur Wort- und Anschauungsreklame, denn Zeitungs­inserate verursachten unabhängig vom Umsatzvolumen relativ hohe Fixkosten, während die »Wertreklame«, die ja nur auf die tatsächlich verkauften Waren entfiel, sich proportional zum Umsatz verhielt und damit betriebswirtschaftlich eher dem mittelständischen Unternehmen entsprach. Wie sehr die Konkurrenz dadurch unter Zugzwang geriet, ist allein daran zu erkennen, dass im Jahr 1929 sogar die Edeka, die größte Einkaufsgenossenschaft der Einzelhändler, mit der Zugabenwerbung begann, obgleich ihr Direktor Fritz Borrmann, Abgeordneter der Wirtschaftspartei, im Reichstag als einer der eifrigsten Fürsprecher für das Zugabeverbot auftrat.183 Die Palette von Artikeln, die den Konsumenten als zusätzlicher Anreiz offeriert wurden, war erstaunlich breit: Sie reichte von den Sammelbildern, die in Zigaretten- oder Schokoladenpackungen steckten, bis zu wertvolleren Gegenständen wie Uhren, Taschenmessern, Füllfederhaltern, Kleidungs- und Möbelstücken. Am häufigsten wurden aber Geschirr und Hausrat (aus Porzellan, Steingut oder Glas), Besteck sowie Kinderspielzeug vertrieben. Eine besondere Form der Zugabe stellten zudem die Unfall- und Lebensversicherungen dar, die mit großem Erfolg den Abonnenten von Zeitschriften angeboten wurden. Oft waren die Zugaben an ein Gutscheinsystem gebunden, so dass der Kunde bei Vorlage einer bestimmten Zahl von Gutscheinen die Wahl zwischen verschiedenen Objekten hatte. Das Ganze expandierte derart, dass auf der ReklameAusstel­lung 1929 in Berlin ein Werbeunternehmen 2.500 unterschiedliche Zugabeartikel anpreisen konnte, und einige Zeitgenossen schließlich den Eindruck gewannen, dass »die Zugabenprospekte mancher Firmen heute aussähen wie die Kataloge kleiner Warenhäuser«.184 Für die Verbraucher war auf diese Weise ein komplexes Konsumangebot entstanden: Beim Einkauf von Waren des täglichen Bedarfs reichte eine überschaubare Ziel-Mittel-Erwägung, die für ein gegebenes Bedürfnis die verschiedenen Angebote nach Preis und Qualität verglich, oft nicht mehr aus. Die Zugaben – um so mehr wenn aus einer Liste frei wählbar  – erweiterten und verkomplizierten schließlich das Leistungsversprechen durch zusätzliche Gebrauchswerte und symbolische Dimensionen, die gerade beim Kauf von homogenen Alltagsprodukten wie Margarine oder Haferflocken zuvor keine Rolle gespielt hatten. 183 Vgl. Forschungsstelle, Zugabewesen, S. 16–20; Buhl, Wertreklame, S. 16–18; Matz, Regulierung, S. 71. Nachprüfbare Angaben über das Volumen der mit Zugaben vertriebenen Waren liegen zwar nicht vor, der Schutzverband für Wertreklame schätzte deren Gesamtumsatz im Juli 1930 aber auf 800–1.000 Millionen RM – eine Zahl, die von Einzelhandelsexperten in der Forschungsstelle nicht in Zweifel gezogen wurde. 184 Gottschick, Zugabeverbot, S.  7. Die Forschungsstelle für den Handel schätzte, dass 1929 Zugaben im Werte von 30–56 Millionen RM vertrieben wurden, die anteilig auf folgende Warengruppen entfielen: Porzellan und Steingut (30 %), Glas, Blechwaren und Bestecke, Kinderspielzeug (je 15 %), Lederwaren (10 %), Verschiedenes (15 %). Forschungsstelle, Zugabewesen, S.  18, sowie S.  21–51; vgl. auch die Beispiele bei Kind, Bedeutung, S. ­17–25.

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Zugleich stieg auch das Betrugs- und Enttäuschungspotential, denn vor allem einige der wertvolleren Zugaben wurden mit der Einlösung einer grotesk hohen Zahl von Gutscheinen verknüpft oder mit einem Lotterieverfahren (»In jeder 100. Packung findet sich ein Gutschein für xy«) verbunden. Dennoch brachte das Zugabewesen den Verbrauchern überwiegend greifbare Vorteile, ohne die seine Expansion auch kaum verständlich wäre. Gerade die geringverdienenden Haushalte gelangten dadurch in den Besitz kleinerer Wertgegenstände, die uns heute als vernachlässigenswert erscheinen, jedoch unter den Bedingungen knapper Budgets ihren Wert als außeralltägliche Konsumobjekte hatten, noch dazu wenn ihnen ein Moment der Wahlfreiheit anhaftete. Karl Marbe, einer der führenden Werbepsychologen der Zeit, führte den Anreiz, der von den Zugaben ausging, auf zweierlei zurück: Zum einen handele es sich dabei um »Gratisleistungen mit Geschenkcharakter«, die von den Käufern als freiwilliges Entgegenkommen des Händlers verstanden würden, auch wenn zugleich jedermann wüsste, dass ihre Kosten in die gesamte Preisgestaltung einkalkuliert waren. Zum anderen schätzte vor allem die »arme Hausfrau« die Tatsache, dass sie mit Porzellan und Spielzeug Waren erhielt, die sie sich im Fachhandel nur durch mühsames Sparen hätte leisten können und die ihrerseits als Geschenke für die Familie willkommene Verwendung fanden.185 Der Konflikt um ein Verbot der »Wertreklame« entsprang zunächst der Konkurrenz wirtschaftlicher Interessengruppen.186 Zu den entschiedensten Gegnern des Zugabewesens zählten die Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels und die Konsumvereine, die zwischen 1925 und 1932 mit einer Vielzahl von Veröffentlichungen sowie Eingaben an die Reichsministerien für Wirtschaft und Justiz für ein Verbot oder zumindest eine strengere Regulierung eintraten. Diese Initiative hatte verschiedene Gründe: Im Falle der Konsumvereine widersprachen die Zugaben nicht nur den Geschäftsprinzipien, die auf Preiskonkurrenz und Rückvergütung basierten, sondern auch dem Selbstverständnis der Genossenschaftselite, die auf die Idee der rationalen Bedarfsdeckung eingeschworen war.187 Auch der Fachhandel, besonders für Haushaltswaren, fürchtete gleichermaßen um Profit und Berufsehre, denn einige der dort ehemals exklusiv verkauften Artikel waren nun – gratis und als bloße Lockmittel – beim Einkauf von Lebensmitteln erhältlich. Selbst die kleinen und mittleren Einzelhändler für Lebens- und Genussmittel aber, die zunächst zu den Nutznießern der neuen Reklamemethode gehörten, traten Ende der zwanziger Jahre für ein Verbot ein, nachdem in den vergangenen Jahren sich eine Art Wettrüsten der Zugabengewährung entwickelt hatte, bei dem die kapitalkräftigen Großunternehmer der Branche langfristig die attraktiveren Angebote machen konnten. Zur Legitimation seines Kampfes gegen die »Wertreklame« berief sich der Ein185 Marbe, Psychologie, S. 15, 19. 186 Vgl. zum Folgenden vor allem Matz, Regulierung, S. 79–98; Forschungsstelle, Zugabewesen, S. 60–87; Gottschick, Zugabeverbot, S. 6–9. 187 Siehe oben Kapitel II.

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zelhandel stets auf das Leitbild des »ehrbaren Kaufmanns«, dem es ausschließlich darum ginge, preiswerte Qualitätsware zu liefern.188 Der Wunsch nach einer gesetzlichen Beschränkung des Zugabewesens wurde von der Konsumgüterindustrie überwiegend abgelehnt, weil mehrere Zweige wie die keramische und die papierverarbeitende Industrie von der Produktion der Zugabenartikel profitierten. Die beteiligten Unternehmen hatten sich im Schutzverband für Wertreklame organisiert, dessen erster Schachzug die Verbreitung des imageförderlichen Begriffs der Wertreklame selbst war. Darüber hinaus gelang es, den RDI dazu zu bewegen, bei den staatlichen Institutionen für die Wettbewerbsfreiheit der Zugabenproduzenten einzutreten. Unterstützung kam auch von den Gewerkschaften, die von einem Verbot in den betroffenen Branchen ein zusätzliches Anwachsen der Arbeitslosigkeit befürchteten. Trotz der widerstrebenden industriellen Interessen gelang es dem Einzelhandel mit seiner Agitation, zahlreiche Industrie- und Handelskammern für die Verbotsforderung zu gewinnen, was nicht zuletzt auch eine Folge der indifferenten Haltung war, die der Großhandel und eine Reihe unbeteiligter Industriezweige an den Tag legten.189 Auch der Deutsche Industrie- und Handelstag sprach sich seit 1930 mehrheitlich für eine schärfere Regulierung des Zugabewesens aus. Zwei Jahre später stellte eine unparteiische volkswirtschaftliche Dissertation schließlich mit Blick auf die organisierten ökonomischen Interessen fest, dass die Front der Verbotsanhänger »bei weitem größer und fester gefügt« sei als die der Verbotsgegner.190 Die Einzelhandelsverbände versuchten zunächst, durch die Einleitung von Gerichtsverfahren auf der Grundlage des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) gegen die Zugabenkonkurrenz vorzugehen. Auf diesem Weg wurden aber nur wenige Erfolge erzielt, denn das Reichsgericht hatte sich bereits im Dezember 1926 in einer Entscheidung, die anderen Gerichten darauf zur Orientierung diente, mit der »Wertreklame« beschäftigt: Es galt zu prüfen, ob ein Verstoß gegen die »guten Sitten« vorlag oder ob durch irreführende oder unrichtige Angaben der »Anschein eines besonders günstigen Angebots« hervorgerufen wurde.191 Das Reichsgericht betonte, dass als Schutzobjekt des UWG der Wettbewerber und nicht die Kundschaft anzusehen war und Zugaben als eine normale Form der Reklame nicht grundsätzlich als unlauter gelten durften. Es sollte aber im Einzelfall geprüft werden, ob die mit der Zugabe verkaufte Ware sich im Rahmen der ortsüblichen Preise bewegte. Wenn das aber der Fall war, indem der Verkäufer etwa an anderen Reklamekosten sparte, erwecke er »nicht nur den Anschein eines besonders günstigen Angebots, sondern 188 Vgl. nur Wilhelm Jaeger, Der ehrbare Kaufmann – die kritische Kundschaft, in: Deutsche Handelswarte 16 (1928), Nr. 2, S. 29–33; Gottschick, Zugabeverbot, S. 6. 189 Auf eine Rundfrage an die 127 deutschen Industrie- und Handelskammern äußerten sich 77 Kammern zum Thema Zugabewesen, von denen sich 73 für ein Verbot aussprachen. Vgl. Bücker, Zugabewesen, S. 31. 190 Kind, Bedeutung, S. 15. Ähnlich urteilt Gottschick, Zugabeverbot, S. 10. 191 UWG vom 7.6.1909, zit. n. Matz, Regulierung, S. 300.

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er macht tatsächlich ein solches Angebot«.192 Damit wurde die Entscheidung von einer Überprüfung der Preise abhängig gemacht, die aus den schon aus dem Wucherstrafrecht bekannten Gründen kaum durchführbar war. Trotz dieses Urteils gab es einige untergeordnete Gerichte, die damit begannen, eine andere Auslegung des UWG vorzunehmen, indem sie den Gedanken des Verbraucherschutzes stärker in den Mittelpunkt rückten. So begründete beispielsweise das Landgericht Halle seine ablehnende Entscheidung über das Zugabenwesen an erster Stelle mit der negativen Wirkung, die davon auf die Konsumenten ausginge: Vortäuschung eines Geschenkes, Verbreitung falscher Vorstellungen über die Preisbemessung und den echten Wert der Ware, Vertrauensverlust im Hinblick auf die Kalkulation der Verkäufer, Verleitung zu »unwirtschaft­ lichen Einkäufen« – alles das war von den Zugaben zu erwarten und rangierte in der Urteilsbegründung noch vor dem Hinweis auf die Schädigung des »ehrbaren Kaufmanns«.193 Das Motiv der Täuschung und Verführung der Konsumenten war in dieser Argumentation zentral und sollte sich noch als wegweisend herausstellen, in der Rechtsprechung zum UWG blieb es jedoch vorläufig eine Minderheitenposition, und eine Beschränkung der Zugaben erschien bei der bestehenden Gesetzeslage schwierig. Daran änderte auch ein Erlass des Preußischen Justizministers nichts, der im März 1928 die Strafverfolgungsbehörden anwies, schärfer gegen das Zugabewesen vorzugehen – wiederum mit der doppelten Begründung, dass »das kaufende Publikum und der ehrbare Kaufmann« zu ­schützen seien.194 Der parlamentarische Kampf gegen die Wertreklame begann im Winter 1928/29 mit dem Antrag der Wirtschaftspartei, der Maßnahmen zur Einschränkung vorschlug, und dem des Zentrums, der ein totales Verbot forderte.195 Die Reichsregierung verhielt sich zunächst zurückhaltend im Hinblick auf einen möglichen Eingriff in die Gewerbefreiheit. Angesichts der sich häufenden Eingaben der Interessenten sowie der Tatsache, dass nun auch Österreich nach anderen Ländern (Norwegen, Dänemark, Tschechoslowakei) begann, auf dem Gesetzesweg gegen das Zugabewesen vorzugehen, während in England, Frankreich und den USA nicht interveniert wurde, schien es der Regierung angeraten, durch ein Gutachten des Reichswirtschaftsrates eine sachliche Klärung der umstrittenen Materie herbeizuführen.196 Nachdem ein eigens eingerichteter Arbeitsausschuss mehr als 60 Sachverständige vernommen und über mehrere Monate hinweg beraten hatte, legte der Reichswirtschaftsrat im April 1930 seine 192 RGSt 61, 58. 193 Berufungsentscheidung des Landgerichts Halle, 15.11.1928, zit. n. Matz, Regulierung, S. 105 f.; vgl. zur Rechtsprechung ebd., S. 101–119; Forschungsstelle, Zugabewesen, S. ­95–100. Zur Priorität des Konkurrentenschutzes im UWG vgl. auch Geyer, Gedanke, S. 104–108. 194 Zit. n. Wolff u. Crisolli, Recht, S. 243. 195 Vgl. StenBerRT Bd. 433, Anlage Nr. 694 (Antrag Borrmann), Nr. 727 (Antrag Stegerwald). 196 Vgl. die Anfrage der Reichsregierung an den Vorläufigen Reichswirtschaftsrat, 5.6.1929, in: Forschungsstelle, Zugabewesen, S. 168–170; zudem: Matz, Regulierung, S. 122 ff.; zum internationalen Vergleich: Ligue Internationale, Kampf.

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Expertise vor.197 Einigkeit über die Wirkungen des Zugabewesens war kaum erzielt worden. Es bestand zwar kein Zweifel darüber, dass die Zugaben den Umsatz steigerten, doch darauf dass, wie von den Gegnern behauptet, der Reklameetat der Firmen zusätzlich erhöht und die Konsumenten durch Verteuerung und Qualitätsminderung der Waren geschädigt würden, mochte sich der Ausschuss nicht festlegen. Das Gutachten lehnte daher die Forderung nach einem radikalen Verbot ab, empfahl jedoch »im Interesse des Verbraucherschutzes«198 eine Ergänzung des UWG dahingehend, dass auf Wunsch des Käufers anstelle der Zugabe ein von vornherein bezifferter Barbetrag auszuzahlen war. Zudem sollte es verboten sein, Zugaben als »gratis« anzukündigen oder in irgendeiner Weise die Illusion der Unentgeltlichkeit zu vermitteln. Dass gerade in diesem letzten Punkt Einstimmigkeit im Ausschuss herrschte, lässt erkennen, wie sehr die wettbewerbsrechtliche Debatte mittlerweile von einem Moment der Verbrauchererziehung geprägt war, denn entgegen dem alltagssprachlichen Verständnis, dem zufolge die Zugaben ja tatsächlich »gratis« waren, weil sie dem Kunden nicht ausdrücklich in Rechnung gestellt wurden, wurde der Versuch unternommen, der konsumierenden Öffentlichkeit eine volks- und betriebswirtschaftliche Sichtweise einzuimpfen, nach der es auf dem Markt eben nichts zu verschenken gab.199 Zuletzt legte das Gutachten der Reichsregierung nahe, die besonders missbräuchlichen Formen überzogener Gutscheinsysteme und lotterieähnlicher Angebote zu überprüfen und eine schärfere Kontrollmöglichkeit einzuführen. Insgesamt waren das moderate Empfehlungen, die von den Verteidigern der »Wertreklame« als Erfolg interpretiert wurden. Für die Verbotsanhänger aber war die Angelegenheit trotz des auf Vermittlung zielenden Votums des höchsten Sachverständigengremiums damit keineswegs erledigt. Ein »Reichs­ ausschuß für das Zugabeverbot« wurde gegründet, mit dem der Einzelhandel seine Kampagne intensivierte. Im Reichstag stellten die Fraktionen der Wirtschaftspartei, des Zentrums, der Deutschnationalen und der Landvolkpartei verschiedene Verbotsanträge, und der Preußische Landtag stimmte mit großer Mehrheit einem Gesetzentwurf für ein umfassendes Zugabeverbot zu.200 Die entscheidende Initiative für den Fortgang der gesetzlichen Regulierung ging aber vom ersten Kabinett Brüning aus, in dem das Justizressort mit ­Johann 197 Vgl. Bericht des Arbeitsausschusses zur Vorbereitung des Gutachtens über die wirtschaftlichen Wirkungen des Zugabewesens, BA, R 401, 53940, Bl. 287–298. 198 Gutachten über die wirtschaftlichen Wirkungen des Zugabewesens, in: Hauschild, Reichswirtschaftsrat, Bd. 2, S. 58. 199 Eine Untersuchung des Sprachgebrauchs von »gratis« und »Geschenk« liefert Marbe, Psychologie. 200 Vgl. StenBerRT Bd. 448, Anlage Nr. 94 u. Bd. 449, Nr. 590 (Wirtschaftspartei); Bd. 448, Nr. 319 (DNVP); Bd. 449, Nr. 457 (Landvolkpartei); Bd. 450, Nr. 846 (Zentrum); Bd. 451, Nr. 1216 (interfraktionell, vor allem von Wirtschaftspartei und Zentrum). Nur die BVP folgte mit ihrem Antrag dem Gutachten des VRWR und verlangte die Beseitigung von Missbrauchsfällen im Zugabewesen (Bd. 449, Nr. 465). Zu Preußen vgl. Gottschick, Zugabeverbot, S. 10.

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Victor Bredt als Minister und Curt Joël als Staatssekretär durch zwei aus­ gewiesene Gegner der »Wertreklame« besetzt war. Kurz nachdem der Reichswirtschaftsrat sein Gutachten verabschiedet hatte, legte Joël bereits im Mai 1930 den deutlich abweichenden Entwurf für ein Verbotsgesetz vor, das allerdings bestimmte Ausnahmen als zulässig vorsah. Darunter war die zentrale Be­ stimmung, dass Zugaben dann erlaubt sein sollten, wenn die Möglichkeit der alternativen Barauszahlung ziffernmäßig angezeigt war. Das sollte die Transparenz des Angebots erhöhen und war von der Hoffnung bestimmt, dass die Verbraucher sich von den Zugaben abwenden würden. Seit Jahren einer der aktivsten Anhänger des Zugabeverbots in der mittelständischen Wirtschaftspartei, ging Bredt die Vorlage seines Staatssekretärs nicht weit genug, und er verlangte die Eliminierung der wichtigen Ausnahme. Nur weil der kommissarische Wirtschaftsminister Trendelenburg vor den negativen Konsequenzen warnte, die im Anstieg der Arbeitslosigkeit in den Branchen für Zugabenartikel bestehen konnten, scheiterte die Verschärfung im Kabinett. Im Grunde waren dort durch Arbeitsminister Stegerwald, der schon zuvor im Reichstag für ein Verbot eingetreten war, sowie später durch Goerdeler, der als Reichskommissar für Preisüberwachung eine kompromisslose Lösung durchzusetzen versuchte, weitere überzeugte Kritiker dieser Reklameform vertreten. Im November 1931 verabschiedete jedenfalls das Kabinett einen von Joël – der Bredt mittlerweile als Justizminister beerbt hatte – erarbeiteten Gesetzentwurf für das mit Ausnahmen versehene Zugabeverbot.201 In der ausführlichen Begründung dieser Vorlage, die schließlich auch den Reichsrat passierte, bildeten die befürchteten Auswirkungen auf das »kaufende Publikum« das Kernstück der gesetzgeberischen Überlegung:202 Der Kunde werde in seiner Aufmerksamkeit durch die Zugabe vom eigentlichen Ziel seines Kaufs abgelenkt und zu unnützen Anschaffungen verleitet. Durch das Gutscheinsystem binde er sich an ein einzelnes Geschäft, statt als rationaler Konsument die Angebote verschiedener Händler zu vergleichen. Überdies gehe die Zugabe notwendig zulasten der Qualität der Hauptware und verteuere die Preise. Allerdings sollte unter der Bedingung einer transparenten Barablösung die Zugabe gestattet sein, da auf diese Weise »die Konsumenten über den wirklichen Wert der Zugabe nicht im Unklaren gehalten werden. Es muß eine feste Berechnung für sie möglich sein, welcher Teil  des ihnen abverlangten Preises auf die eigentliche Ware und welcher Teil auf die Nebenleistungen entfällt«.203 Die Gesetzesvorlage inthronisierte also die Figur des vernünftigen Ver­brauchers als wettbewerbsrechtliches Leitbild, auch wenn das vor dem Hintergrund einer Protektion einzelhändlerischer Interessen geschah.

201 Vgl. Matz, Regulierung, S. 168–189. 202 Vgl. Entwurf eines Gesetzes über die Gewährung von Zugaben zu Waren oder Leistungen, in: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 37 (1932), S. 58–63. 203 Ebd., S. 61.

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Dass der Entwurf nicht mehr in den Reichstag gelangte, lag daran, dass Brüning ihn unmittelbar vor den Wahlen zur Reichspräsidentschaft im März 1932 als Teil  einer mittelstandsfreundlichen Notverordnung instrumentalisierte.204 Zu einer Zeit als die Wirtschaftsexperten auch im Umfeld der Regierung längst über die Möglichkeit von Arbeitsbeschaffungsprogrammen und eine Stärkung der Binnennachfrage diskutierten und die Bedeutung des Massenkonsums für die Überwindung der Depression immer öfter betont wurde,205 steuerte Brüning mit der Verordnung zum Schutze der Wirtschaft vom 9.  März 1932 in die entgegengesetzte Richtung: Um die »Ausartungen des Wettbewerbs« zu bekämpfen, unter denen vor allem der »gewerbliche Mittelstand« litte, wurde erstens das Zugabenverbot – mit den Ausnahmen wie im Gesetzentwurf vor­ gesehen – erlassen, zweitens die Veranstaltung von Sonder- und Ausver­käufen erschwert und drittens in Städten unter 100.000 Einwohnern die Errichtung von Einheitspreisgeschäften untersagt, aus deren sprunghafter Entwicklung seit 1926 abzusehen war, dass sie den lokalen Händlern eine schmerzhafte Konkurrenz bereiten würden.206 Zusammen waren diese Maßnahmen darauf gerichtet, einige der dynamischsten Erscheinungsformen der Konsumgesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg zurückzudrängen, vor allem weil der überwiegend kleinteilig strukturierte Einzelhandel ihnen nicht gewachsen war. Doch auch die Konsumvereine hatten ein handfestes Interesse daran, die Regeln des Wettbewerbs so zu gestalten, dass nicht die als irrational erscheinenden Motive der Verbraucher durch bestimmte Werbe- und Verkaufsmethoden hervortraten. Unter Berufung auf den Verbraucherschutz sollte mit dem Zugabeverbot tatsächlich Konsumentenerziehung im Sinne des eigenen Geschäftsmodells betrieben werden. Sich über den »wahren« Wert der Dinge zu informieren, zwischen echten Bedürfnissen und manipulierten Wünschen zu unterscheiden, Preise und Qualitäten rational zu vergleichen – auf die Förderung dieser Tugenden liefen die Argumente der Zugabegegner letztlich hinaus, denen es eben nicht nur darum ging, Missbrauchs- und Betrugsfälle zu verhindern. Dass das Zugabeverbot weniger einen schützenden als einen bevormundenden Charakter hatte, gaben bereits liberalere zeitgenössische Stimmen zu bedenken, wie eine Stellungnahme des Gewerkschaftsbundes der Angestellten verdeutlicht: Der Kreis derer, die sich zum Erwerb von Minderwertigem verleiten ließen, sei klein, und den »Vorteil des Verbrauchers schützen nicht immer diejenigen am besten, die dem Kon­sumenten beim Kauf dieser oder jener Ware alle möglichen gesetz­ 204 Vgl. Kabinettssitzung vom 8.3.1932, AdR Kab. Brüning I u. II, S. 2361: StS Pünder erklärte, Brüning »sei sehr für den Erlaß einer solchen Verordnung«, denn er verspreche sich davon »bei dem Mittelstand eine günstige Wirkung für die Wahl«. 205 Zu einem offensiven Bekenntnis zu keynesianischen Maßnahmen konnten sich viele Experten bekanntlich dennoch nicht durchringen – allerdings vor allem deshalb, weil ihnen das fiskalische Risiko unüberschaubar schien. Vgl. nur Borchardt, Beratung. 206 Deutscher Reichsanzeiger, Nr. 61, 12.3.1932, S. 1. Zur quantitativen Entwicklung der Einheitspreisgeschäfte vgl. Trost, Wandlungen, S. 47.

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lichen ›Schutz‹-Vorschriften zur Seite stellen wollen«.207 Verbraucherschutz bedeutete demnach in der Weimarer Republik nicht nur die Ausweitung sozialer Rechte, sondern schloss zugleich die Erziehung zu einem bestimmten Konsumverhalten ein. Schutz als politische Zwecksetzung war die kürzeste Antwort auf die Verunsicherungen der Zwischenkriegszeit und gehörte zum Kernbestand der Sozialdisziplinierung, die in diesem Fall auf die Aufrechterhaltung einer »rationalen« Konsumordnung zielte. Die Zugabeverordnung scheiterte schließlich am Eigensinn der Konsumenten, oder genauer: an einem gesetzestechnischen Mangel, der auf ein typisches Fehlurteil im Hinblick auf ihren Bedürfnishorizont schließen lässt. Zugaben waren ja weiterhin unter der Bedingung gestattet, dass alternativ die Auszahlung eines Barbetrages angeboten wurde. Die Hoffnung, die der Gesetzgeber an diese Ausnahme knüpfte, richtete sich darauf, dass in den Augen der Kundschaft die Zugabe durch die zu erwartende niedrige Bezifferung ihres Geldäquivalents entwertet würde. Die Einzelhändler verhielten sich auch wie gewünscht und setzten meist den Einkaufspreis der Zugabenartikel an, jedoch schreckte das die Verbraucher keineswegs ab, und das Geschäft mit den Zugaben expandierte im Laufe des Jahres 1932 nur noch mehr. Offenbar wählten die Kunden einen anderen Vergleichsmaßstab: Sie wussten nun, wie viel sie sparten, wenn sie als Zugabe einen Artikel zum Fabrikpreis erhielten, den sie im Fachhandel teurer hätten bezahlen müssen. Die anhaltende Präferenz für die »Wert­ reklame« spricht nicht nur für den Gebrauchswert der zugegebenen Bedarfsgüter, sondern zeigt auch, dass die Verbraucher in Sachen rational choice keiner Nachhilfe bedurften.208 Konsumentenkredit und Zugabewesen sind zwei der Faktoren, die seit Mitte der zwanziger Jahre eine dynamischere Kultur des Konsums vorantrieben und denen große öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wurde. Der Grund für den Politisierungsschub, der beide Phänomene trotz ihrer längerfristigen Entstehung in dieser Zeit erfasste, ist darin zu sehen, dass sich mit ihrer Expansion die Auf­ lösung eines linearen Konsummodells anbahnte. Dem bürgerlichen Leitbild zufolge war Arbeitsleistung die Voraussetzung für maßvollen Genuss, und der Konsument betrat den Markt auf der Grundlage gegebener Bedürfnisse und finanzieller Mittel, um das nach Preis und Qualität beste Angebot zu erwerben, das zu liefern die Aufgabe des »ehrbaren Kaufmanns« war. Der Kredit bildete solange kein Problem, als er in sozialen Kreisen zirkulierte, in denen Kreditwürdigkeit auf dem Wissen um vorangegangene – familiäre oder individuelle – Leistung beruhte. Mit der Ausdehnung des Abzahlungsgeschäfts und der Reklameleistungen löste sich nun für Konsumenten in weiteren sozialen Schichten 207 Zit. n. Buhl, Wertreklame, S. 62. 208 Zur Wirkungslosigkeit der Zugabeverordnung vgl. Matz, Regulierung, S. 207 f.; Duesterberg, Abwehrmaßnahmen, S. 15 f. Mit dem Gesetz über das Zugabewesen vom 12.5.1933 eliminierten die Nationalsozialisten kurzerhand jene Ausnahmebestimmung, die die Verordnung ausgehebelt hatte.

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die Bindung an verfügbare Geldmittel und damit an die gespeicherte Arbeitsleistung einerseits und an bewusst vorhandene Bedürfnisse andererseits. Im Vorgriff auf spätere Leistungen und künftige Wünsche wurden neue Konsummöglichkeiten in der Gegenwart geschaffen, nicht zuletzt weil sich auch die Produzenten und Verkäufer im eigenen Profitinteresse dieser Aufgabe eines finanziellen (Kredit) und symbolischen (Werbung) Vorschusses annahmen. Die Dynamisierung des Konsums, die damit in Gang kam, traf zugleich auf Widerstand: nicht nur im konservativen Bürgertum, sondern über das gesamte politische Spektrum hinweg, wie die Debatte um die Konsumfinanzierung gezeigt hat. Die Initiativen zur Einhegung der neuen Angebote waren auch keineswegs nur ein Reservat staatlich-bürokratischer Kräfte, wenngleich in der Frage der Zugabenregulierung sich einmal mehr der zahnlose Interventionismus Weimars offenbarte, der keine Entsprechung fand in England oder Frankreich, wo über die »Wertreklame« ebenfalls debattiert, jedoch nicht gesetzlich eingegriffen wurde.209 Die Abwehr gegenüber der neuen Konsumkultur wurde vielmehr ebenso getragen von Wirtschaftsinteressen, die im Konkurrenzkampf an ­Boden zu verlieren drohten, sowie von jenen zivilgesellschaftlichen Gruppen  – den Konsumvereinen und Hausfrauenverbänden  –, die sich die Verteidigung der Verbraucherinteressen auf die Fahnen geschrieben hatten. Zwischen Schutz und Erziehung der Verbraucher war die Grenze jedoch fließend.

209 Vgl. Tesche, Reklame, S. 57–63; Matz, Regulierung, S. 130–132.

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Zusammenfassung Die Forderung, die Walther Rathenau schon während des Ersten Weltkriegs aufstellte, dass der Verbrauch »nicht Privatsache, sondern Sache der Gemeinschaft, Sache des Staates, der Sittlichkeit« zu sein habe, sollte in der Weimarer Republik ihre Gültigkeit behalten.1 Die Politisierung des Konsums, die in Debatten und Regulierungsversuchen zum Ausdruck kam, bezog sich auf ein weites Spektrum materieller Bedürfnisse und Wünsche. Weniges erschien selbstverständlich oder unproblematisch, vieles hingegen von hoher gesellschaftlicher Bedeutung: Einerseits bildeten auf der Ebene des notwendigen Bedarfs die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln, das Preisniveau, die Bestimmung des Existenzminimums sowie die Ausweitung kommunaler Leistungen zentrale Angriffspunkte der Konsumpolitik. Andererseits gerieten mit dem Alkohol, der Massenkultur, dem Kreditkauf und der Werbung dynamische Formen einer erweiterten Konsumkultur in den Fokus öffentlicher Kritik. Der Hintergrund für dieses umfassende konsumpolitische Engagement, das die Steuerungsfähigkeit der Republik überforderte, ist in den besonderen konsumgesellschaftlichen Bedingungen der Nachkriegszeit zu sehen. Zwar dürfen in jeder Gesellschaft die Extreme des Subsistenz- und Dispositionskonsums – Not und Überfluss – als leicht politisierbar gelten, in der Weimarer Republik war ihre herausfordernde Gleichzeitigkeit jedoch besonders schmerzhaft zu spüren, trat die erste deutsche Demokratie doch ein schwieriges, »doppeltes« Erbe an: zum einen das der wilhelminischen Hochkonjunktur, die nicht nur die Erinnerung an stabile Wohlstandsgewinne bescherte, sondern auch die strukturellen Voraussetzungen einer modernen Konsumgesellschaft geschaffen hatte – eine geringere Selbstversorgung, ein ausgedehnter Distributionssektor sowie kulturelle »Verstärker« der Konsums; zum anderen das Erbe des Ersten Weltkriegs, in dem sich der Staat als alternative Verteilungsagentur positionierte und die Vorstellung einer rationalen Organisation des Konsums im Angesicht des Mangels an Bedeutung gewann. Das Hauptproblem, auf das die Konsumpolitiker eine Antwort zu finden hatten, bestand in der Kluft, die sich zwischen dem Erfahrungsraum und dem Erwartungshorizont der Verbraucher auftat. Das ständige Auf und Ab und die zahlreichen Differenzen: zwischen den verschiedenen Berufsgruppen und Einkommensschichten, zwischen Metropole und Provinz, zwischen den Traumbildern der kommerziellen Massenkultur und der harten Realität der alltäglichen Entbehrungen, waren, wie sich aus konsumhistorischer Perspektive erweist, prägender für die Weimarer Gesellschaft als die viel diskutierte wirtschaft­liche 1 Rathenau, Dingen, S. 97 f. Vgl. dazu auch vorn S. 165 f.

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Wachstumsschwäche, die in der Historiographie mit dem Begriff der relativen Stagnation belegt wurde und die Weimarer Republik fast als Dauerkrise erscheinen lässt. Auch ob es zu der hohen Lohnquote, auf die Knut Borchardt, Harold James und andere die Strukturprobleme der zwanziger Jahre zurück­ geführt haben, überhaupt eine Alternative gegeben hätte, erscheint mit Blick auf Konsumverhalten und Konsumerwartungen der unteren und mittleren Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenhaushalte fraglich. Dort zeigte sich einerseits die auch in den »guten« Jahren anhaltend hohe quantitative Bedeutung des Existenzbedarfs, andererseits ein stark elastischer Wahlkonsum im Falle wachsender Einkommensspielräume, der in allen so­ zialen Schichten den dringenden Wunsch nach einer Erhöhung des Lebensstandards erkennen ließ. Die Notwendigkeit zu sparen und den Ressourcenmangel zu verwalten war für die Verbraucher mithin ebenso bedeutsam wie die Tatsache, dass sie auf der Ebene der latenten Präferenzen bereits den Weg in die Wohlstandsgesellschaft angetreten hatten: Für eine genussbetonte Ernährungsweise, die Teilnahme an der expandierenden Freizeitöffentlichkeit sowie die ästhetisch-hygienische Verbesserung des häuslichen Komforts waren die Vorreiter  – in dieser Reihenfolge  – unter den Arbeitern, Angestellten und Beamten zu suchen; petrifizierte schichtspezifische Konsummuster lassen sich jedoch nicht ausmachen. Dass in der Enquête über die »Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft« wiederholt festgestellt wurde, dass sich bei den Verbrauchern durch alle sozialen Schichten hindurch deutlich höhere Qualitätsansprüche bemerkbar gemacht hätten, obwohl ja 1926/27 die Realeinkommen noch unter dem Vorkriegsstand lagen, wird vor dem Hintergrund dynamisch reagierender Konsummuster verständlich. Die Kopräsenz von Zwängen und Erwartungen war für die materiellen Ansprüche der Bezieher von Lohn-, Gehalts- und Transfereinkommen also entscheidend. Ob die daraus resultierenden Gewerkschaftsforderungen und sozialstaatlichen Leistungen die deutsche Wirtschaft übermäßig belasteten, ist eine andere, hier nicht zu dis­ kutierende Frage. Verschiedene Diskurse lassen sich identifizieren, in deren Bahnen sich die Artikulation und politische Formierung der Konsumenteninteressen vollzog. Zunächst war die bei Versorgungsengpässen und Preissteigerungen immer wiederkehrende Warnung vor der gefährdeten Stabilität der öffentlichen Ordnung Teil  des interessenpolitischen Konflikts, wobei die aktiven Proteste und Un­ ruhen der Verbraucher in den Nachkriegsjahren ihren wichtigsten Fürsprechern aus den Gewerkschaften, Städtetagen und Konsumvereinen Glaubwürdigkeit verliehen. Als der Staat in der Auseinandersetzung um die Zwangswirtschaft in die Zwickmühle der konkurrierenden Drohungen von städtischen Konsumenten und agrarischen Produzenten (Straßenprotest vs. Lieferstreik) geriet, garantierte der Verweis auf den Hunger in den Städten den Verbraucherinteressen eine Veto-Position. Mag der »Konsumentenstandpunkt« in dieser öffent­lichen Debatte auch als kurzsichtiger Interessenegoismus diffamiert worden sein, war dennoch die Missachtung der städtischen Verbraucher undenkbar. Ihren 316

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­ olitischen Stellenwert verdeutlicht bereits die Tatsache, dass 1919 das Reichsp wirtschaftsministerium unter dem Sozialdemokraten Robert Schmidt den »Verbrauchersozialismus« zu einem seiner Programmpunkte ausrief.2 Mit dem Problem der Stabilität eng verbunden war die Forderung, die Versorgung mit dem notwendigen Bedarf sozial gerecht zu gestalten. Auch wenn die politische Linke in diesem Punkt die diskursive Hoheit beanspruchte, war doch die Gewährleistung einer gerechten Grundsicherung ein parteiübergreifendes Projekt, das den Staat als Ordnungsagentur gegenüber der Bevölkerung in die Pflicht nahm: Die auch in der bürgerlichen Mitte nur zögerlich gewährte Aufhebung der Brotrationierung; das wiederholte, nicht auf die Inflationszeit beschränkte Bemühen, für die Einhaltung »angemessener«  – sprich: gerechter – Preise zu sorgen; der Versuch der Lebenshaltungsstatistik, mit einer Berechnung des Existenzminimums die Untergrenze legitimer Ansprüche objektiv zu bestimmen; die Ausweitung kollektiver Versorgungsleistungen durch Städte und Gemeinden; schließlich die moralische Entrüstung gegenüber der als Ressourcenverschwendung erscheinenden »Schlemmerei« – in alle dem war die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit präsent. Dass die Umsetzung dieses Ideals problematisch war, weil unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen kursierten, zeigte sich, wenn über die Konsumenteninteressen zugleich im Sinnhorizont des Produktivismus verhandelt wurde. Unter den Versorgungsberechtigten sowohl der Rationierungswirtschaft als auch des Wohlfahrtsstaates durchbrach die Binnendifferenzierung nach Leistungskriterien – ob militärisch, ökonomisch oder biologisch-reproduktiv – das auf Gleichheit angelegte Versprechen der Minimalversorgung. Dass im Namen so unterschiedlicher Gruppen wie der Kriegsopfer, Bergarbeiter, Akademiker oder kinderreichen Familien besondere Ansprüche geltend gemacht wurden, verdeutlicht zudem, dass zwischen Leistung und Konsum mittlerweile ein Zusammenhang wechselseitiger Abhängigkeit erkannt wurde. Auf den ersten Blick erscheint ja der Produktivismus, der Arbeit und Verzicht als Bedingung für Deutschlands Wiederaufstieg pries, als Antithese zur Berücksichtigung der Konsumenteninteressen. Vor allem die sozialdemokratischen und sozialreformerischen Träger der Republik waren sich aber darüber im Klaren, dass die Arbeitsleistung zugleich die Garantie eines nicht zu geringe