Römisches Recht: Ein Studienbuch [6 ed.] 3825204650, 3525031416, 9783825204655

Dieses Buch, das hier in sechster, gründlich überarbeiteter und aktualisierter Auflage vorliegt, dient zur Ergänzung der

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Römisches Recht: Ein Studienbuch [6 ed.]
 3825204650, 3525031416, 9783825204655

Table of contents :
Römisches Recht
Titelei
Vorwort
Inhalt
1. Kapitel: Römische Verfassungs- und Rechtsgeschichte
1. Republik
2. Prinzipat
3. Der spätantike Absolutismus
4. Justinian
5. Das römische Recht in Europa
2. Kapitel: Die römische Hausverfassung
1. Die Hausgewalt des römischen Familienvaters
2. Eherecht
3. Das gesetzliche Erbrecht
4. Die Testierfreiheit
3. Kapitel: Das römische Eigentum
1. Gegenstand und Inhalt
2. Übertragung
3. Das Eigentum im Prozess
4. Kapitel: Deliktsrecht im Zeichen der Privatstrafe
1. Reaktionsweisen früher Rechtsgemeinschaften auf Untaten ihrer Mitglieder
2. Sachentziehung
3. Sachbeschädigung und - zerstörung
4. Verletzung der Person und der Persönlichkeit
5. Kapitel: Die römischen Schuldverträge
1. Schuld und Haftung
2. Stipulation
3. Realverträge
4. Konsensualverträge
5. Der Rest
6. Vom Enumerationsprinzip zur Verbindlichkeit aller Schuldverträge
6. Kapitel: Bona fides als rechtsschöpferisches Element am Beispiel des Kaufrechts
1. Die klassischen Klagformulare des Käufers und des Verkäufers
2. Rechtsmängelhaftung
3. Sachmängelhaftung
4. Weitere Ableitungen aus der bona fides
Zeittafel
Quellenregister
Sachregister
Kleiner romantischer Apparat
Abkürzungen

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UTB 465

Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage

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Detlef Liebs

RÖMISCHES RECHT Ein Studienbuch

6., vollständig überarbeitete Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

Detlef Liebs, geboren 1 936, promoviert 1 962, habilitierte sich 1 970 in Göttingen für römisches Recht, bürgerliches Recht und Privatrechts­ geschichte der Neuzeit. Seit 1 970 lehrt er in Freiburg i. Br. Zivilrecht und Rechtsgeschichte.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 3-8252-0465-0 ISBN 3-525-03141-6

©

1975, 1982, 1987, 1993,1999,2004

Vandcnhoeck

&

Ruprecht in Göttingen.

Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urhebelTechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu



52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne

vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und UntelTichtszwecke. - Printed in Germany. Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Druck und Bindung: Hubert ISBN 3-8252-0465-0

&

Co .. Göttingen

(UTB Bestellnummer)

Rene Magritte, Die Legende der Jahrhunderte ( 1 952) © V G Bild-Kunst,

Bonn 2004

Vorwort

Dieses Buch ist veranlasst durch die Bedürfnisse der Lehre. Nachdem in allen Ländern der Bundesrepublik die Ausbildungsordnungen für Juristen nur noch wenige rechtsgeschichtliche Pflichtvorlesungen vorsehen, stellt sich dem Romanisten die Frage, ob Pflichtstoff für alle Studenten nur noch die sog. äußere Rechtsgeschichte sein soll, der Stoff der einen der bisherigen Vorlesungen, die bisherige "Römische Rechtsgeschichte" ; oder ob aus bei den bisherigen Hauptvorlesungen je ein Teil herüberzunehmen ist. Nun sehen die neuen Justiz­ ausbildungsordnungen als Prüfungsstoff die geschichtlichen Grundla­ gen des geltenden Rechts vor. Aus dem römischen Recht gehören dazu aber gewiss die Institutionen zum al des Privatrechts, wohl sogar in erster Linie, wenn auch längst nicht alle. Deshalb scheint mir der zweite Weg geboten, mag er auch schwieriger sein. Aus den her­ kömmlichen Stoffmassen muss man eine Auswahl treffen, so riskant das ist. Es schien empfehlenswerter, sich auf wenige Gebiete zu kon­ zentrieren, als von allem kurz zu handeln. Für den verbliebenen, von jedem heutigen Jurastudenten zu verlan­ genden Reststoff aus dem römischen Recht gab es lange Zeit kein Lehrmittel in Deutschland. Was auf dem Markt ist, will meist einen vollständigen Ü berblick - über das jeweilige Gebiet - geben. Das vorliegende B ändchen sollte diesem Mangel abhelfen. Gewiss kann nicht alles, was hier nachzulesen ist, zu Prüfungsstoff erklärt werden. Aber einzelnen Fragen mitunter weiter nachzugehen, als es für eine Wissensprüfung erforderlich wäre, schien mir nötig, wenn das Buch anschaulich sein sollte. Wer es gelesen hat, wird, so hoffe ich, etwa über das römische Eigentum oder die Rolle der hana fides in jener Gesellschaft mitreden können, wird j uristischen Wirklichkeitssinn, Scharfsinn und Eigensinn miterlebt haben. Bei der 6. Auflage, die gründlicher aktualisiert wurde, auch bei den Vergleichen mit dem heutigen Recht, hat mich wieder Dr. Andreas Boos mit großem Einsatz unterstützt, wofür ich ihm auch an dieser Stelle herzlich danke . Ich widme den B and denen, ohne deren kriti­ sche Mitarbeit in Seminaren, Proseminaren und Vorlesungen viele der hier erörterten Fragen bestimmt magerer dargestellt worden wären. Freiburg i. Br. im März 2004

Detlef Liebs

Inhalt

Wozu römisches Recht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. . . . . . . . . . . . . 11

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Erstes Kapitel: Römische Verfassungs- und Rechtsgeschichte . . 1 7 l . Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . b ) Jurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Magistratische Rechtsschöpfung . d) Senatsbeschlüsse . . . . . . . . . . . . . . .

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 .

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. . . . . . . . . . . . . . . 17

. . . . . . . . . . . . . . . 26 . . . . . . . . . . . . . . . 37 . . . . . . . . . . . . . . . 41

2. Prinzip at . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfassungsschein und Verfassungs wirklichkeit . . . . . . . . . . . b) Die Juristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Eine neue Rechtsquelle : kaiserliche Festsetzungen . . . . . . . . . .

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. . . . . . . 43

. . . d) Institutiona1isierung außerordentlicher Rechtswege . . . . . . . . .

3. Der spätantike Absolutismus . . . . . . .

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43 51 69 73

. . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 a) Allgemeine Zustände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 b) Die kaiserliche Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 c) Neue und die alte Rechtsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 .

4. lustinian . .

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 a) Das römische Reich und die B arbaren im 5. u. 6. Jh. n. Chr . . . . . . . . . 92 b) Die justinianische Gesetzgebung I: Codex Justinianus . . . . . . . . . . . . . 96 c) Dasselbe II: Digesten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 d) Dasselbe III: Institutionen, Neubearbeitung des Codex und Novellen 1 00 .

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5 . Das römische Recht in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die karolingische Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die zweite Vorrenaissance des 1 1 . Jhs. und die Glossatoren c) Frühhumanismus und Konsiliatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Humanistische Jurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Usus modemus pandectarum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Historische Rechtsschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. . . . . . 1 03 .

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1 05 1 06 1 09 1 12 1 14 1 16

Zweites Kapitel: Die römische Hausverfassung . . . . . . . . . . . . . . . 1 1 9

1 . Die Hausgewalt des römischen Familienvaters . . . . . . . . . . . . . 1 1 9 .

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a) Die potestas des pater familias über Kinder und Unfreie . . . . . . . . . . 1 1 9 b) Rechtsgeschäfte des Haussohns und des Sklave . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 1

8

Inhalt

2. Eherecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 24 a) Das Recht der Eheschließung und -scheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 24 b) EhegütelTecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 27 3 . Das gesetzliche Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Agnationsprinzip der Zwölf Tafeln . . . . . . . . . . . . . . b) Das gesetzliche Erbrecht der klassischen Zeit . . . . . . . . . c) Das spätrömische gesetzliche Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . 1 30 .

. . . . . . . . . . 131 . . . . . . . . . . 1 34 . . . . . . . . . . 1 36

4. Die Testierfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 37 .

a) Die Herausbildung der Testierfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) FOlTl1elle Schranken der Testierfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Inhaltliche Schranken der Testierfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Absicherung der Testierfreiheit gegen Selbstbeschränkungen durch den Testator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 1 37 . 1 40 . 1 43 . 1 45

Drittes Kapitel: Das römische Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . 1 48 .

I.

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Gegenstand und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 48 .

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a) Die Herausbildung des römischen Eigentumsbegriffs . . . . . . . . . . . . . b) Worin äußert sich die Besonderheit des römischen Eigentums? Vier Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Nachbarrechtliche Beschränkungen des Grundeigentums . . . . . . . . . . d) Ö ffentlich rechtliche Beschränkungen des Eigentums . . . . . . . . . . . . . e ) Rechtsmissbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 48 1 49

ISS

159 1 60

2. Ü bertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 63 a) Die Übereignung von rcs /lC(' ma/lcipi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 63 b) Die Ü bereignung von res ma/lC/jJi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 69 .

.

c) Eigentum kraft vollen Rechts und Eigentum kraft Rechtsschutzes . . 1 7 3 d ) Erwerb vom Nichtberechtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 74 3 . Das Eigentum im Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a ) Das Formular der rei \'indicatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b ) Insbesondere : Die Arbiträrklausel und die Einrede der Arglist . . . . . c) Das Prinzip der Geldverurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Formular der Herausgabeklage des bonitarischen Eigentümers . . .

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Viertes Kapitel: Deliktsrecht im Zeichen der Privatstrafe I.

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178 179 1 80 1 85 1 86

. . . 1 88 .

Reaktionsweisen früher Rechtsgemeinschaften auf Untaten ihrer Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 8 8 .

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a ) Blutrache und Fehderecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 89 b) Sühnevergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 90 c) Rechtliche Festlegung der Sühneleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 90

Inhalt

2. Sachentziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

. . 191 a) Die Regelung der Zwölf Tafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 9 1 b ) Die weitere Entwicklung desjimum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 9 3 c) D i e Herausbildung der Kriminalstrafen. Stellionat . . . . . . . . . . . . . . . 1 96 .

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3 . Sachbeschädigung und -zerstörung . . . . . . . . . . .

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. . . . . . . . . 1 98 .

a) Die Kasuistik der Zwölf Tafeln . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . b) Die Lex Aquilia de damno und ihre klassische Handhabung . . . . c) Die actio de dolo (Arglistklage) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Rezeption und Umbildung der aquilischen Klage in der Neuzeit e) Die Generalklausel im privaten Deliktsrecht . . . . . . . . . . . . . . . .

. ... . . . . . . . . ... . . . .

1 98 1 99 205 206 2 10

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4. Verletzung der Person und der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . 2 1 4 .

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a ) Die Tatbestände der Zwölf Tafeln . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . b ) Die prätorische Neuregelung und ihre klassische Handhabung . . . . c ) Außerordentliche Bestrafung schwerer Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Entwicklung eines überpositiven allgemeinen Persönlichkeitsrechts in der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215 218 222

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Fünftes Kapitel: Die römischen Schuld verträge

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. . 1 . Schuld und Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a ) D i e Grundbedeutung d e s Rechtsworts .haften' . . .. . . . . . . . . b) Vertraglich begründete Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Haftungslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der Abbau der persönlichen Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Stipulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3 . Realverträge . . . . . . .

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228

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. . . 228 . 229 . . 23 1 . . . 232 .

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. . . . . . . . . . 233

a ) Ursprung und Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Lockerungen nach der allgemeinen Bürgerrechtsverleihung . c) Vom Wortformalismus zur Schriftform . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Stipulation im Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

222

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. . . . . ..... . . . . . ... . .

233 235 237 239

. . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . 242 a) Vorgeschichte : Die Rückgabeschuldverhältnisse . . . . . ... . . . . . . . . . 242 b) Zusammenfassung der vertraglichen Rückgabeschuldverhältnisse zum Verpflichtungstyp ,Realkontrakt' . Heutige Realverträge . . . . . . . 244 .

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4. Konsensualverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. . . . 247 .

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a) Die Entwicklung des Geldwesens in Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kauf (emplio vendilio) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zur-Verfügung-Stellung/Vergabung Mitführung (/ocalio conduclio). d) Gesellschaft (soeielas) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Auftrag (mandalum) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

247 247 248 250 252

S. Der Rest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 .

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10

Inhalt

6. Vom Enumerationsprinzip zurVerbindlichkeit aller Schuldverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 a) Die Moraltheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 .

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b) Das Kanonische Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 c) "Pacta sunt servanda" im weltlichen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 .

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Sechstes Kapitel: Bonafides als rechtsschöpferisches Element am Beispiel des Kaufrechts . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

1. Die klassischen Klagformulare des Käufers und des Verkäufers . 264 a) Banal/des und Sozialmoral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .... 264 b) Die Rezeption der banafides in das Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 c) Der Spielraum der bana-ji·des-Formulare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 .

2. Rechtsmängelhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . 268 .

a) Die activ auctoritatis des Manzipationskäufers b) Stiplilativ duplae und Marktaufsicht . . . . . . . . . c) Die actia empti.Einstige Grenzen . . . . . . . . . . d) Die Überwindung des Eviktionsprinzips . . . . . .

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268 269 269 27 1

3 . S achmängelhaftung . . . . . . . . . . . .. . .... . . . . . . . . . . . . .... . . . . . 277 a) Die Rechte des Manzipationskäufers . . . . . . . .. .. .. . . . . . . . .. . .. . 277 b) Das Sonderrecht der Marktaufsichtsbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 c) Die Möglichkeiten der activ empti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 .

4 . Weitere Ableitungen aus der bona fides . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 .

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a) Anfängliche Unmöglichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nachträgliche Unmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cl Verzug des Verkäufers mit der Lieferung . . . .. . . . . . dl Verzug des Käufers mit der B ezahlung . . . . . . . . . .. e) Nebenptlichten des Grundstücksverkäufers . . .. . .. . . f) Formlose Nebenabreden (paeta adiecta in contincnti) . g) Aufrechnung (compensatio) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kleiner romanistischer Apparat .. . . Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. 285 . 287 . 288 . 290 . 293 . 294 . 296

. 300 . 302 . 307 .3 1 2 .3 1 3

Wozu römisches Recht?

Jede soziale Gruppe braucht zur Begründung eines Selbstbewusstseins, zu ihrer Selbstdarstellung die geschichtliche Dimension, mit deren Hilfe sie ihre Identität findet, ihre Zukunft entwirft, der Zusammenhalt der Gruppe gestärkt wird. Jeder Verein, die Gemeinden, die Staaten sonnen sich in ihren Jubiläen. Gewiss, der aufgeklärte Zeitgenosse begegnet solchen Jubiläen mit Distanzierung. Überzeugend, ansteckend wirkt diese Distanzierung aber nur bei falschen Jubiläen, Jubiläen von Ge­ meinschaften, deren Geschichte abgebrochen war, sich verloren hatte oder womöglich in Wahrheit nicht mehr verpt1ichtet: Jubiläen, die nur vorgeben, allgemein geschätzte Ereignisse der Vergangenheit zu feiern, an deren Wertsetzungen anzuknüpfen, während in Wahrheit ganz ande­ re Werte gelten sollen, nichts weiter bezweckt ist, als die Herrschaft einer bestimmten Teilgruppe zu festigen. Gerade die unehrliche Rekla­ mation von Ahnen, die dubiosen Jubiläen oder die unterdrückten und oppositionellen, die pathologischen Fälle belegen die Notwendigkeit von Erinnerung für den Zusammenhalt sozialer Gruppen; die Notwen­ digkeit, das die Gruppe Verbindende zu pflegen. Das Reich der Achä­ meniden, das alte persische Großreich, hat Alexander der Große ausge­ löscht. Dem hundert Jahre später von den Arsakiden und dann den Sasaniden wieder errichteten parthischen bzw. neupersischen Reich haben die Araber ein Ende bereitet. Und die mittelalterlichen Neugrün­ dungen eines selbständigen Persien erlagen den Türken und Mongolen. Das stete Wiederanknüpfen der Perser an schon lange zerstörte Reiche zeigt gerade in seiner Fragwürdigkeit, wie nötig eine Gemeinschaft die Geschichte zu ihrer Selbstbehauptung braucht. Andere, europäische Völker waren als ihrer selbst bewusste Völker, deren Gipfel das Staats­ volk, die Nation ist, schon verschwunden wie die Bulgaren, oder fast verschwunden wie die Griechen. Ihre große Vergangenheit ließ sie wieder zu sich selbst finden. Das ist um so schwerer, je gebrochener die Geschichte der betreffenden Gemeinschaft verlaufen ist. Staaten ohne Geschichte sind gegenüber exzentrischen, mit Leiden und Blutvergießen verbundenen Ideologien am anfälligsten. Europa ist heute dabei, eine neue Identität in engerem Zusammenhalt zu suchen, nachdem es seine Führungsrolle in der Welt eingebüßt hat. Technokratische Regeln mit wirtschaftlichen Vorteilen allein vermögen den Zusammenhalt offenbar nicht hinreichend zu festigen, solange die einzelnen Staaten dabei verharren, vorzüglich auf ihre je besondere Vergangenheit zu blicken. Europa muss sich auf seine gemeinsame

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Herkunft und Geschichte besinnen, und diese datiert nicht erst aus dem 19. Jahrhundelt. Es genügt auch nicht, sich bis zur französischen Revo­ lution zurückzuerinnern, zumal nicht, wenn Mittel- und Nordeuropa dazugehören sollen. Auch nicht, mit dem 6. bis 10. Jahrhundert zu be­ ginnen, die Gründerzeit der europäischen Staatenwelt. Die wichtigste geistige Macht des Mittelalters, die Kirche, macht deutlich, dass die westliche oder abendländische Kultur eine Sekundärkultur ist, geprägt von der griechisch-römischen Antike. Das mittelalterliche Deutschland empfing seine entscheidenden kulturellen Impulse von den Klöstern und den Bischofsstädten; und diese sind, jedenfalls die älteren, die von den Römern gegründeten Städte. Die für das Werden Westeuropas produk­ tivsten Jahrhunderte vom Eintritt der Griechen in die Geschichte bis zur Entstehung der heutigen europäischen Staaten, oder gar alle Vergangen­ heit bis ins 1 8 . Jh. hinein i m Unterricht preiszugeben, dem allgemeinen Bewusstsein zu ersparen, wie heute vielfach gefordert wird, bedeutete eine Verarmung unseres Selbstbewusstseins, der eigenen Identität. Unsere Sprachen, im Deutschen jedenfalls Syntax und Grammatik, Filosofie, Mathematik, Musik, Kunst, Baukunst, Medizin, Rechtswis­ senschaft, Geldwesen, freies Unternehmertum, die Stadt als Zivilisati­ onsform, freiheitliche Lebensweise, freie politische Rede und Demokra­ tie: alles beginnt für uns in der griechischen oder römischen Antike. Jahrhundertelang war sie uns im sog. Mittelalter unerreichtes Vorbild in fast allen Lebensäußerungen. Uns von der lebendigen Anteilnahme daran abzuschneiden unter dem selbstgefälligen, die eigene Ratlosigkeit verdeckenden Schlagwort von der Entrümpelung der Lehrinhalte und Studiengänge wird kein Selbstbewusster über sich ergehen lassen. Naives Geschichtsbewusstsein sonnt sich in der Geschichte, der Ge­ schichte der eigenen Gruppe. Die Geschichte dient der eigenen Verherr­ lichung, stellt sich dar als Kette glänzender Leistungen und Erfolge, dem eine Kette des Versagens der einst konkurrierenden, jetzt unterle­ genen Mächte entspricht. Nicht selten sollen dadurch zweifelhafte Er­ eignisse der eigenen Vergangenheit nachträglich gerechtfertigt werden. So ist das Bild aufschlussreich, das Hollywoodfilme von den Urein­ wohnern Amerikas zeichnen, von den Mexikanern der Südweststaaten der USA oder von den Russen Alaskas. Der Naive verzeichnet die Ge­ schichte nach seinen Wünschen, gerade auch die fernere Vergangenheit. Und solche Verzeichnung ist nicht harmlos, aus ihr werden Forderungen an die Gegenwart abgeleitet, freilich in verschiedener Weise. Der Ge­ genwartsstolze färbt die Vergangenheit eher düster, unterstellt eine

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einzige Willkürherrschaft bis ins 1 9 . Jh. hinein oder gar bis zum 2 3 . Mai 1 949, als das deutsche Grundgesetz in Kraft trat. Für den skeptischen Betrachter der Gegenwart, der auf Veränderungen dringt, nimmt die Vergangenheit leicht allzu lichte Färbung an, Ausdruck des ewigen Traums der mit der Gegenwart Unzufriedenen vom einstigen Goldenen ! Zeitalter. So heißt es etwa im Manifest der Kommunistischen Partei von Karl Marx und Friedrich Engels aus dem Jahr 1 848 : "Die Bour­ geoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarcha­ lischen, i d y l l i s c h e n Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen n a t ü r l i c h e n Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ,bare Zahlung ' . Sie hat die h e i l i g e n Schauer der frommen Schwärmerei, der r i t t e r l i c h e n B e g e i s t e r u n g , der spießbürgerli­ chen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung er­ tränkt. Sie hat die p e r s ö n l i c h e Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freihei­ 2 ten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt." Bei aller Nüchternheit der um die Aufhellung vergangener Zustände so verdienten Autoren wird hier doch zu sehr geschwelgt, freilich wir­ kungsvoll geschwelgt. Die persönliche Würde des gemeinen Mannes war im frühen 1 9 . Jh. trotz allem besser gesichert als in den Jahrhunder­ ten davor. Aber auch die Wortführer der Restauration erliegen jenem Traum: "Diese Jugendzeit der Völker (nämlich als das Recht wie die Sprache im Bewusstsein des Volkes noch lebte) ist arm an Begriffen, aber sie genießt ein klares Bewusstsein dieser Zustände und Verhältnis­ se, sie fühlt und durchlebt diese ganz und vollständig, während wir, in unserem künstlich verwickelten Dasein, von unserem eigenen Reichtum überwältigt sind, anstalt ihn zu genießen und zu beherrschen." Das schreibt Friedrich earl von S avigny in seiner Programmschrift "Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft" (S. 9). Auch dilettantisches Geschichtsbewusstsein kann zerstörerisches Han­ deln zeitigen, wie gerade Deutschland der Welt bewiesen hat. Beschäf­ tigung mit der Geschichte bedeutet nicht zuletzt Aufklärung auf diesem so leicht von Wunschdenken beherrschten Gebiet, bedeutet Bekanntma1 Je weiter man zurückgeht. um so mehr Beispiel findet man. S. etwa Ammia­ nus Marcellinus, Res gestae (deutsch: Das röm. Weltreich vor dem Untergang, Zürich 1 974) 30, 4, 5-7; u. Tacitus, Annalen 3, 26. 2 Hervorhebungen von mir.

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Einleitung

chen mit wirklichen, gewesenen, nicht bloß vorgestellten Welten; ver­ hilft dazu, Abstand zur eigenen Welt zu gewinnen. Das ist zumal bei der Welt der Juristen heilsam, die ihre Welt, die ge­ genwärtig gültige Rechtsordnung, allzu rasch als stimmig, als heil aus­ zugeben geneigt sind; der Jurist wird geradezu erzogen, die gegenwärti­ ge Ordnung zu harmonisieren, was ihn selbstgerecht und intolerant gegenüber anderen Bewertungen von Erscheinungen des Zusammenle­ bens macht, gegenüber nicht in Gesetzesform geronnenen Wertvorstel­ lungen der Allgemeinheit, durch die das formulierte Normsystem immer wieder ergänzt werden muss. Günstigenfalls kann die Betrachtung der eigenen Rechtsvergangenheit die Duldsamkeit des Juristen gegenüber ihm fremden Wertsystemen fördern; kann die Rechtsgeschichte lehren, die Wichtigkeit einzelner Rechtsnormen nicht zu überschätzen; kann sie die Jurisprudenz davor bewahren, dass sie zu einer gedankenlosen Technik des Ineinandergreifens vieler einzelner von einem hypostasier­ ten Gesetzgeber erlassener Rechtsbefehle herabsinkt, den Büttel der Mächtigen abgibt ohne Besinnung auf die Aufgabe allen Rechts, eine Gemeinschaft zu integrieren. Erst die Rechtsgeschichte zeigt, dass ei­ nerseits der Bereich des Normativen nicht losgelöst erfasst werden kann von der geschichtlichen Bewegung der Gesellschaft, die er normieren will; dass das Überich der Gesellschaft an ihrem geschichtlichen Wan­ del notwendig teilhat; und dass andererseits ihre rechtliche Verfasstheit stets Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst gewesen ist3 . Rechtswissenschaft ist zu einem wesentlichen Teil Rechtsgeschichte, denn kein Rechtssatz lässt sich verstehen oder gar fortbilden ohne Rück3 S. Ernst-Wolfgang B öckenförde. Die Historische Rechtsschule und das Problem der Geschichtlichkeit des Rechts, in: Collegium Philosophicum, Studien Joachim Ritter zum 60. Geburtstag (Basel 1 965) 9-36. Allgemein zur Aufgabe der Rechtsgeschichte heute Dieter Simon. Art. Rechtsgeschichte, in: Handlexikon zur Rechtswissenschaft (München 1 972 rororo 6 1 79/80, 1 974) m. Nachw. der einschlägigen verstreuten Arbeiten von Franz Wieacker; dazu noch ders . , in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 226 ( 1 975) 1 04- 1 1 7 (Rez.). Zur Geschichtswissenschaft allgemein. insbesondere der Alten Geschichte. etwa Christian Meier, Die Wissenschaft des Historikers und die Verantwor­ tung des Zeitgenossen, in: ders . , Entstehung des Begriffs Demokratie (Frank­ fmt am Main : edition suhrkamp 3 8 7 . 1 970) 1 82-22 1 . S. a. ders . , Was soll uns heute noch die alte Geschichte, ebd. 1 5 1 - 1 8 1 ; Manfred Fuhnnann, Die Antike und ihre Vermittler (Konstanz 1 969); ders . , Alte Sprachen in der Krise? (Stutt­ gart 1 976) 1 8-36; HJ . Krämer, Zur Ortsbestimmung der historischen Wissen­ schaften, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 5 ( 1 974) 74-93 . =

Wozu Rechtsgeschichte?

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griff auf die konkreten sozialen Konflikte, die zu regeln er formuliert worden ist. Andernfalls führt seine Anwendung zu willkürlichen Ergeb­ nissen, die nach westlicher (nicht unbedingt nach orientalischer) Tradi­ tion nicht mehr "Recht" genannt werden können. Eine besondere Gefahr dabei ist, dass solches Recht unbewusst zum Dienst am Stärkeren aus­ schlägt. So dient, um hier nur ein Beispiel zu nennen, die Rechtfertigung faktischer "Verträge" durch den Satz protestatio facto contraria non valet (Die im Widerspruch zum Handeln stehende Verwahrung gilt nicht) Stadtwerken und sonstigen privatrechtlich auftretenden öffentli­ chen Versorgungsunternehmen zur schematischen, arbeitsparenden Vereinnahmung von Entgelten, wo nach Privatrecht an sich nur delikti­ sche Ansprüche mit Schuld- und Schadensnachweis gegeben wären (BGHZ 2 1 , 3 1 9; u. BGH NJW 1 965, 387); oder gar der Durchsetzung von "Vertrags"strafen, wo nur öffentliche Bestrafung am Platz wäre, aber entweder ausgeschlossen oder gar schon geschehen ist (BGHZ 23, 1 7 5 ; u . LG Bremen NJW 1 966, 2360) . Der Satz wurde entwickelt für Fälle wie § 39 ZPO a.F. (s. Glosse Protestetur zu Corp. jur. can., Liber sextus 1 , 6, 25) und verbal widen-ufene Delikte nach dem Muster "Du Esel! Ich habe nichts gesagt" (v gl. noch preuß. allg. Landr. II 20 § 546). In seiner heutigen Anwendung widerspricht er allen Grundsätzen des Rechts der Willenserklärung, auch § 1 3 3 BGB ; die Privatautonomie wird mit ihm zum Lippenbekenntnis 4 • Gegenstand dieses B uchs ist nicht die Geschichte unseres geltenden Rechts schlechthin, sondern nur ein Teil davon, der antike, und das heißt im Bereich des Rechts: der römische Anteil, die Romanistik im ur­ sprünglichen Sinn des Wortes. Erstaunlicherweise hat sie noch immer im Rechtsunterricht ungefähr gleiches Gewicht wie die andere Kompo­ nente der deutschen Rechtsgeschichte, ihr germanisch-deutscher Anteil: die Germanistik, während bei der Geschichte anderer Disziplinen als des Rechts die Antike wesentlich weniger Raum einnimmt. Darin spie­ gelt sich zweierlei. Einmal hat Deutschland im Bereich des Zivilrechts, dem Schwerpunkt noch der heutigen luristenausbildung, bis zum Vor­ abend des BGB im Wesentlichen nach römisch-deutschem, dem sog. Gemeinen Recht gelebt. Bis 1 900 ergehen knapp die Hälfte der veröf­ fentlichten Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen nach Gemeinem Recht, und das heißt: nach Maßgabe von Texten aus dem 4

Treffend Arndt Teichmann, Protestatio facto contraria, in Festschrift f. Kar! Michaelis (Gättingen 1 972) 294-3 1 5 : s. a. Verf. , Lateinische Rechtsregeln (6. Aufl. München 1 997) P 1 25 .

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Corpus juris civilis lustinians, 1 300 bis 1 800 Jahre alten Texten - eine unbehagliche Lektüre. Und das deutsche BGB selbst hat, ungeachtet großer schöpferischer Leistungen seiner Verfasser, auf weiten Strecken, zumal im Schuld- und Erbrecht, schlicht gemeinrechtliche Lehren in deutsche Sprache übersetzt. Immer mehr in verständlichem National­ stolz gepriesene Leistungen unserer Vorfahren im Recht erweisen sich bei genauem Hinsehen als Aneignungen römischer Institutionen, durch die Kirche und das kanonische Recht vermittelt' . Wichtiger aber am römischen Recht als sein Inhalt ist seine Methode, eine säkularisierte Rationalität, die zu klarem juristischen Argumentieren seit je geschult hat. Wenn wir heute gewohnt sind, das Recht wissenschaftlich zu betreiben, so danken wir das der Rezeption des römischen Rechts. Seine Tradition ist der Schlüssel aller rechtswissenschalftlichen Leistung in Deutschland und Kontinentaleuropa bis ins 18. und auf einem umfang­ reichen Teilgebiet tief ins 1 9 . Jh. hinein6 . Und solange unsere Gesell­ schaft Wert darauf legt, die Ergebnisse juristischer Tätigkeit so gut als möglich ausgewiesen zu bekommen, sollte sie auf die Ausbildungshilfe des römischen Rechts nicht verzichten. Freilich bedeutet das Enttäu­ schung der oft geäußerten Hoffnung, den Juristen könne die Arbeit leichter gemacht werden; verzweigte Begriffsvielfalt sei nicht nötig, vielmehr komme man weithin mit groben Annäherungen wie Ge­ schäftsgrundlage, Vertrauens- oder Sozialstaatsgedanke und locker gefügten Fallgruppen aus. Wieso sollte jedoch gerade das Recht denke­ risch immer billiger möglich sein; hier die alte Erfahrung nicht gelten, dass zwischen Kosten und Brauchbarkeit einer Sache eine Beziehung besteht? Wie gut wohlklingende Allgemeinbegriffe sich dazu eignen, eine Rechtsordnung auszuhöhlen, hat z.B . 1 974 Michael Stolleis in seinem Buch über Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht gezeigt.

Dazu etwa Gerhard Köbler, z .B . : ders. , Das Recht im frühen Mittelalter (Köln 1 97 1 ); Hennann Nehlsen, Sklavenrecht zwischen Antike und Mittelalter I (Göttingen 1 972); u. Udo Wolter, Jus canonicum in iure civili (Köln 1 97 5 ) . 6 Z u diesem Komplex verweise i c h hier n u r auf Paul Koschaker, Europa und das römische Recht (München 1 947 , unveränd. 2. Auf!. 1 95 3 ) ; und den ebenso betitelten Essay von Franz Wieacker, in: ders . , Vom römischen Recht (2. Auf!. Stuttgart 1 96 1 ) 28 8-304.

ERSTES KAPITEL Römische Verfassungs- und Rechtsgeschichte

1.

Republik

a) Gesetzgebung Unser Recht heute ist hauptsächlich in Gesetzen niedergelegt. Sie sind unsere wichtigste Rechtsquelle; wir sind gewohnt, dass alles, was bean­ sprucht, als Recht zu gelten, in wohlgeordneten Gesetzen niederge­ schrieben ist: Gesetze des Bundes und der Länder mitsamt den dazuge­ hörigen Verordnungen. Die übersichtliche Ordnung der Rechtsquellen war eine der wichtigsten Aufgaben des säkularisierten Staats. Und eben diesem Zweck, der Promulgation des Rechts und damit der Kontrolle seiner Anwendung, dienten die ältesten aus der griechisch-römischen Welt bekannten größeren Gesetzgebungen: Die Gesetzgebung Drakons (624 v . Chr. ) und Solons (594/93 v.Chr.) in Athen ebenso wie vermutlich das Stadtrecht von Gortyn auf Kreta aus der Mitte des 5. Jhs. v.Chr. und die etwa gleichzeitigen Zwölf Tafeln in Rom. Diesem Zeitalter des ge­ schriebenen, allgemein zugänglichen Rechts geht regelmäßig eine Perio­ de beim politischen Herrscher zusammengefasster und durch seine Rechtsprechung konkretisierter Rechtsbildung voraus, da die wichtigste, seine meiste Zeit in Anspruch nehmende Aufgabe des Herrschers darin bestand, zu Gericht zu sitzen, den inneren Frieden zu erhalten. Die B ibel berichtet es von den Königen Israels, die eine Zeit lang Richter hießen wie die sächsischen Schulzen; und die Erzählungen aus Tausend und eine Nacht von den Kalifen und Sultanen der mittelalterlichen islami­ schen Welt. Zugleich waren diese Herrscher Gesetzgeber und Heerfüh­ rer; die Herrschergewalt ist ungeteilt. So wird es uns auch aus der ältesten Zeit Roms berichtet, der Königszeit, als Rom ein kleiner, straff geführter Stadtstaat unter einem König aus etruskischem Adel war, der über eine Gemeinde von latinischen B auern, Handwerkern und Kleinhändlern gebot und Heerführer, Gesetzgeber und oberster Gerichtsherr in einem war. 510 v.Chr . veltrieb eine Adelsrevolte den König aus der Stadt, wodurch die wirtschaftlich vorteilhafte Verbin­ dung mit Etrurien unterbrochen wurde. Die etruskischen Handwerker

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Römische Verfassungs- und Rechtsgeschichte

und Künstler zogen nach Norden ab, Handel und Gewerbe gingen zu­ rück, die Agrarwirtschaft rückte wieder ganz in den Mittelpunkt. Außen­ politisch richtete sich Rom statt nach Etrurien im Norden nach Großgrie­ chenland im Süden Italiens aus. Nach innen hielten die erfolgreichen Adelsfamilien, die patricii (von patres ,die Väter' , nämlich die Mitglie­ der des Senats) die Macht fest in Händen und kapselten sich ab: Neue Familien konnten nicht mehr zu Patriziern aufsteigen; wenn jetzt Adels­ häuser aus den stammverwandten latinischen Gemeinden nach Rom zuzogen, die bisher selbstverständlich auch hier zum Adel zählten, wur­ den sie zur plehs (das Volk) geschlagen. An der Spitze des Staates stan­ den ein oder mehrere, jedenfalls jährlich wechselnde Oberbeamte, die Prätoren (eigentlich , Heerführer' ) bzw. später Konsuln (Berater), was nur ein Patrizier werden konnte. Auch der Senat, das einstmals hundert, in der Republik 300 Mitglieder zählende Beschlussorgan, war Plebejern unzugänglich. Und ebenso waren ihnen die wichtigsten Priestertümer verschlossen, vor allem die der Auguren und der Pontifices, die sich zu unentbehrlichen Fachleuten in Rechtsfragen emporgeschwungen hatten, nicht nur im Bereich des Sakralrechts, sondern auch des weltlichen Rechts: des öffentlichen (Auguren) und des privaten (Pontifices). B ald stellte sich jedoch, heraus, dass dieser rigorose Ausschluss der Plebs von der Herrschaft ihrer Bedeutung im Staat widersprach, die ihr durch die neue Heeresverfassung zukam. Das älteste römische Heer bestand aus - die Kampfweise des Adels - Reiterverbänden, die sich in 30 Curien gliederten; dem Fußvolk oblagen nur Hilfsfunktionen. Dementsprechend war die älteste römische "Volks"versammlung gegliedert: die Kuriatko­ mitien, eine Versammlung von 30 Adelshäuptern mit ihrer Klientel: freie Anwohner, die in einem Schutz- und Treueverhältnis zu einer Adelsfami­ lie standen (Patronat). Wohl im späten 6. oder frühen 5. Jh. v.Chr. setzte sich indessen die Hoplitentaktik als das schlagfähigere Instrument durch, was eine neue Form der Volksversammlung bedingte. Kern der Truppe war die Hoplitenfalanx: die in geschlossenem Verband (Falanx) kämp­ fenden, schwer bewaffneten Fußsoldaten, neben denen nur mehr einige wenige Reiterverbände fortbestanden. Da, wie in allen archaischen Hee­ ren, jeder Kämpfer für seine Bewaffnung selbst aufkommen musste, gliederte sich das Aufgebot nach Besitzklassen, je nach dem, welche Bewaffnung sich der einzelne Bürger leisten konnte. Und diese Gliede­ rung wurde beibehalten, wenn das Heer zu friedlichen Zwecken zusammentrat, um über innerstaatliche Belange zu entscheiden. Die römische Überlieferung schreibt diese Heeresreform mitsamt ihrer

Republik: Gesetzgebung

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Rückwirkung auf die innere Verfassung des Staates dem König Servius Tullius zu, der in die Mitte des 6. Jhs. v. Chr. datiert wird, weshalb sie herkömmlich servianische Verfassung heißt; und da die Volksversamm­ lung nach Zenturien (Hundertschaften) gegliedert ist, nennt man sie auch Zenturiatkomitien. Die einzelnen Zenturien verteilen sich S07: Patrizier

6 Zenturien

Reiterausrüstung

I Z. Konsulare

Plebejer I classis (prima cl.)

12 Z. der Reichsten �O Z. 20 Morgen Land oder mehr

cassis Helm

IOriC3

Panzer

oereae Beinschienen

hasta Lanze

gladius Schwert

clipeus Erzschild

I Z. Zimmerleute I Z. Schmiede

scuturn Holzschild

II cl.

20Z. l5 Morgen

IIJ cL

20 Z. 10 Morgen

IV cl.

20 Z. 5 Morgen

verutum Wurt'spieß

V cl.

30Z. 2 Morgen

funda Schleuder

I Z. Tubabläser I Z. Hornisten

I Z. unbewaffnete Ersatzleute I Z. proletarii

=

1/3 der Gesamtbevölkerung

Zusammen 195 Zenturien

Abgestimmt wurde nach Zenturien, jede Zenturie hatte 1 Stimme. Die einzelnen Zenturien wurden der Reihe nach zur Stimmabgabe aufgefor­ dert, angefangen bei der ranghöchsten. Waren 98 Ja-Stimmen, d.i. die 7 Vgl. Livius. Ab urbe condita 1 . 42 f. u. dazu Robert M. Ogilvie, A commen­ tary on Livy (Oxford 1 965) 1 67 f. Zur späteren Entwicklung s . Lily Ross Taylor. Roman voting assemblies (Ann Arbor 1 966); u. Andre Magdelain, Les accensi et le total des centuries, Historia 27 ( 1 97 8 ) 492-9 5 .

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Römische Verfassungs- und Rechtsgeschichte

Mehrheit beisammen, so wurde die Abstimmung abgebrochen. Dadurch waren die proletarii von der Stimmabgabe so gut wie ausgeschlossen. Waren sich Patrizier und plebejische Großbauern einig, so konnten sie alles durchbringen. Die Centuriatkomitien waren zuständig für Krieg und Frieden, Wahl der Höchsmagistrate, Aburteilung von Staatsverbrechen und Gesetzgebung. Der Ü bersichtlichkeit halber sei schon hier die dritte und letzte, wieder jüngere Form der Volksversammlung angefügt, die Tributkomitien, die nach tribus (Aushebungs- bzw. Wohnbezirke) gegliedert sind. Der römi­ sche Stadtbezirk war in vier, das Umland in 1 6 und schließlich 3\ tribus aufgeteilt. Auch in dieser Volksversammlung waren Geburts- und Be­ sitz adel tonangebend, dadurch gesichert, dass Proletarier, Neubürger und Freigelassene nur in die städtischen trihus eingeschrieben wurden, schließlich unabhängig davon, wo sie Wohnung genommen hatten. Zuständig waren die Tributkomitien für minder wichtige Gesetze und die Wahl der niederen Magistrate. Der erste große Erfolg der Plebs im Ständekampf war das Zwölf-Tafel­ 8 Gesetz , eine Kodifikation des gesamten damals geltenden Rechts im Jahr 449 v.Chr. Der Gedanke der Rechtskodifikation ist griechischen Ursprungs, wo das mittlerweile fast 1 50 Jahre zurückliegende Beispiel Solons vor allen berühmt geworden war. So will denn auch die römische Geschichtsschreibung wissen, dass man bei Abfassung der Zwölf Tafeln eine Gesandtschaft nach Athen geschickt habe; und in der Tat gibt es frappierende Übereinstimmungen zwischen athenischen Vorschriften und Bestimmungen der Zwölf Tafeln, z.B. zur Aufwandsbeschränkung bei Leichenfeiern. Doch begegnet die Wissenschaft dem Gesandtschafts­ bericht mit Skepsis und reduziert ihn auf eine Konsultation jonischer Kolonien in Großgriechenland. Anders als bei den bekannten griechischen Vorbildern wurde in Rom nicht ein einzelner Schlichter zwischen Volk und Staatsführung zur Gesetzesstiftung berufen, sondern ein Kollegium von 10 Männern, die decem viri legihus scrihundis. Das Ergebnis ihrer Arbeit wurde, nach lebhaftem Hin und Her, 449 v.Chr. von der Volksversammlung gebilligt und als unabänderlich beschworen; trotzdem wurden mannigfache Ein­ zelheiten später, z.T. sehr bald abgebogen. Einen Eindruck vom Inhalt des Gesetzes mögen folgende Bestimmungen vermitteln: 8 Dazu Franz Wieacker, Römische Rechtsgeschichte I (München 1 988) 287309.

Republik: Gesetzgebung

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IX 1 : Pl1vilegia ne inroganto - Privilegien (eigentlich: Befreiungen vom Gesetz)

sollen nicht zuerkmillt werden. IX 2: De capite civis nisi per maximum comitiatum ne felUnto - Über den Kopf

eines Bürgers sollen sie Vorschläge in der Großen Volksversammlung einbringen (Zenturiatkomitien). 1 1 : S i in ius vocat, ito. Ni it, antestamino. 1 9itur em capito. - Wenn er (der Klä­ ger) vor Gericht lUft, soll er (der in AnsplUch Genommene) gehen. Wenn er nicht geht, soll er (der Kläger) die Umstehenden zu Zeugen anrufen. Dann soll er (der Kläger) ihn (den in AnsplUch Genommene) ergreifen. 2: Si calvitur pedemve stlUit, mamlln endo iacito - Wenn er (der in AnsplUch Genommene) Ausflüchte macht oder den Fuß hinstellt (stehen bleibt), soll er Hand auf (ihn) legen. 3: Si morbus aevitasve vitium escit, iumentum dato. Si nolet, arceram ne sternito. - Wenn Krankheit oder Alter ein Hindernis sein sollte, soll er (der Kläger) ein Lasttier zur Verfügung stellen. Wenn er (der in AnsplUch Genommene) es ableh­ nen wird, muss er (der Kläger) nicht einen bedeckten Wagen zurechtmachen. 4: Adsiduo vindex adsiduus esto. Proletario quis volet vindex esto. - Für einen Ansässigen (Vollbauern) soll Fürsprecher (der bei Misserfolg auch für den Be­ klagten haftete) ein Ansässiger sein. Für einen Proletarier soll wer will Fürspre­ cher sein. III 1 : Aeris confessi rebusque iure iudicatis XXX dies iusti sunto - (Vor Gericht) AnerkaJillten Geldes und rechtens abgeurteilter Sachen sollen 30 Tage rechtens (frei von Vollstreckungshandlungen) sein. 2: Post deinde manus iniectio esto. In ius ducito. - Danach soll numnehr Handan­ legung sein. Er (der Kläger) soll ihn (den VelUl1eilten) vor Gericht führen. 3: Ni iudicatum facit aut quis endo eo in iure vindicit, sec um ducito. Vincito aut nervo aut compedibus XV pondo ne maiore aut si volet minore vincito. - Wenn er (bis dahin) nicht das Geurteilte macht oder jemand vor Gericht für ihn eintritt, soll er (der Kläger ihn) mit sich führen. Er soll (ihn) fesseln entweder mit einem Strick oder mit Fußketten von 15 Pfund, nicht von größerem; oder, wenn er will, von gel1ngerem Gewicht. 4: Si volet suo vivito. Ni suo vivit, qui eum vinctum habebit, libras farris endo dies dato. Si volet plus dato. - Wenn er (der Venn1eilte) will, soll er von Eigenem leben. Wenn er nicht von Eigenem lebt, soll der, der ihn gefesselt haben wird, am Tag ein Pfund Speltbrot geben. Wenn er will, soll er mehr geben. 6: Tel1iis nundinis partis secanto. Si plus minusve secuelUnt, se fraude esto. - Am dritten Markttag sollen sie (die Gläubiger) Teile schneiden (den Schuldner ent­ sprechend dem jeweiligen Anteil zerstückeln). Wenn sie mehr oder weniger geschnitten haben, soll das kein Rechtsverstoß sein.

Die Weiterentwicklung des mit den Zwölf Tafeln elTeichten Rechtszu­ stands war an sich ebenfalls Sache der Volksgesetzgebung. Jedenfalls nach der Velfassungstheorie, der vorhelTschenden politischen Überzeu-

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Römische Verfassungs- und Rechtsgeschichte

gung. So wurde die Bestimmung 1 1 , 1 , wonach Ehen zwischen Plebejern und Patriziern verboten waren, sanktioniert mit Verlust der Standesvor­ rechte, vier Jahre später durch eine Lex Canuleia entkräftet. Auf den weniger spektakulären Gebieten entwickelten freilich ganz andere Ver­ fassungsorgane und -autoritäten das Recht fort (dazu näher später). Auch wenn man das abzieht, verbleibt der Volksgesetzgebung, dem sichtbarsten Ort der Beteiligung des Volkes am politischen Geschehen, nach Abschluss der Zwölf Tafeln noch ein weites Feld. Die ganzen ers­ ten zweieinhalb Jahrhunderte der republikanischen Verfassung sind 9 gekennzeichnet vom Ständekampf zwischen Patriziern und Plebejern . Mit bei den Worten verbinden wir heute nicht dieselbe Bedeutung, die sie damals haUen. Wir verstehen unter Plebs die unterste Schicht des Volkes, diejenigen, die es zu nichts gebracht haben, die Besitz- und womöglich Karakterlosen. Bei den Römern waren die Worte scharf abgegrenzte juristische Termini. Zur Plebs gehörten alle nicht patrizischen Bürger, die Bürger schieden sich in Patrizier und Plebejer. Zu welcher Gruppe man gehörte, richtete sich nach Geburt und Vermögen. Patrizier waren die Abkömmlinge der vornehmen Geschlechter im Mannesstamm, der gen­ tes, solange sie vermögend waren. So gab es die gens der Cornelii, die sich später in mehrere Zweige teilte: Cornelii Scipiones, Cornelii Sullae usw.; die lulii, von denen die lulii Caesares berühmt geworden sind; die Claudii usw. Diese erst Ende des 6. Jhs. aus Clusium zugezogene Adels­ familie war übrigens die letzte, die ins Patriziat aufgenommen wurde. Die Patrizier zeichneten sich aus durch umfangreichen Landbesitz und Organisation als Großfamilie. Auch nach Beginn der Republik bildete sich beides in Rom neu, aber diese neuen S ippen mit neuem Reichtum blieben Plebej er. Bald gab es zahlreiche vornehme und wohlhabende Plebejersippen, die durch die Abschließung der Patrizier auf Solidarisie­ rung mit ihren Herkunftsgenossen verwiesen waren. Die Frage der Herkunft der Plebejer hat viele zum Teil abenteuerliche Hypothesen gezeitigt. Am wahrscheinlichsten sind es die Nachkommen der bei der Stadtgründung, die man sich als Zusammenschluss von Ge­ schlechtshäuptern vorzustellen hat, zwischen den HelTschaftsgebieten dieser Geschlechter unabhängig, aber ohne Tendenz zu eigener HelT­ schaftsbildung wirtschaftenden Bauern, der freien Handwerker und Händler; und ein beträchtlicher Teil wird auf Zuzug aus den benachbar9

Dazu statt vieler Franz Kiechle, Römische Geschichte I (Stuttgart, 1 967) 3744, 56-6 1 (wo leider der Monats- als Jahreszinssatz mißverstanden ist) u . 7888.

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ten stammverwandten und den eroberten Städten zurückgehen, deren Bevölkerung nicht immer versklavt, sondern oft einfach ins bevölke­ rungshungrige Rom umgesiedelt wurde; die vornehmsten ursprünglich auch ins Patriziat aufgenommen. Zu den Plebejern, von denen nicht alle seit je Bürgerrecht hatten, gehörten schließlich auch die Klienten der Patrizier. Wirtschaftlich freilich hingen diese von ihren Herren ab, denen sie auch politisch Gefolgschaft zu leisten hatten. Und doch waren sie beteiligt, als die Plebejer sich selbständig organisierten. Mittelpunkt ihres Eigenlebens war ein plebejisches Heiligtum, der Cerestempel auf dem Aventin, einem der sieben römischen Hügel (aedes Cereris). Ceres war die Göttin der Feldfrucht. Dieser Tempel hatte ständige Beamte, die aediles, in den ersten Jahrzehnten der Republik jeweils zwei. Sie organi­ sierten Feste mit Spielen, unterhielten ein Archiv , bemühten sich in schlechten Jahren um Getreide zu einem angemessenen Preis und kon­ trollierten dann auch ständig lebenswichtige Preise. Schließlich avancier­ ten sie zur Marktpolizei und sorgten für Sicherheit und Ordnung auf den öffentlichen Plätzen, Straßen und in öffentlichen Gebäuden, das aber schon nicht mehr ohne die Mithilfe der Patrizier. Diese haben die ihnen gefährlich werdende Institution rechtzeitig dadurch gezähmt, dass sie den zwei plebejischen Ädilen zwei patrizische, sogenannte curulische Ädilen mit entsprechenden Befugnissen zur Seite stellten und schließlich durch­ setzten, dass alle vier durch das Gesamtvolk gewählt wurden und ihr Amt kollegial ausübten; die Marktgerichtsbarkeit aber wurde den curuli­ schen Ädilen vorbehalten. Ein anderer Kristallisationspunkt der Plebs war das Amt der Volkstribu­ lO nen • Die tribun i plebis waren ihre Sprecher, und sie wurden bis zuletzt nur von der Plebs gewählt. In der Überlieferung treten sie erstmals 494 v.Chr. auf, als sie die erste secessio plebis (Auszug des Volkes) auf den Heiligen Albanerberg außerhalb der Stadt organisierten. DOlt sollen sich die Plebejer geschworen haben, Angriffe auf ihre Vertreter abzuwehren und sie notfalls mit Gewalt zu schützen, der Keim der Unverletzlichkeit (sacrosanctitas) der VolkstIibunen. Die Sezession wurde durch ein Über­ einkommen mit den Patriziern beigelegt, in dem sie die Volkstribunen als Sprecher der Plebs anerkannten und ihnen die geforderte Unverletzlich­ keit zusicherten. 449 v.Chr. im Verlauf des Streites um die Ratifikation der Zwölf Tafeln organisierten sie die zweite scessio plebis auf den Aventin. Die Plebs erwirkt wieder eine beiderseits beschworene Verein10

Dazu Jochen B leicken, Das Volkstribunat der klassischen Republik (Göttin­ gen 1 95 5 ) .

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barung, in der die Zahl der Volkstribunen von zunächst zwei, dann vier oder fünf auf zehn erhöht wird, die jährlich neu zu wählen sind. Ihre Unverletzlichkeit wird bestärkt: Wer einen Volkstribunen verletzt oder tötet, darf seinerseits straflos getötet werden; seine Habe wird für Rech­ nung des Cerestempels versteigelt. Die Volkstribune erhalten das ius auxilii (Recht des Beistands), das Recht, jeden Bürger der magistrati­ schen Gewalt zu entziehen; zu diesem Zweck musste ihr Haus Tag und Nacht offenstehen. Weiter haben sie das ius intercessionis, das Recht, gegen jede Amtshandlung eines Magistrats oder auch eines Kollegen im Volkstribunat Einspruch einzulegen mit der Folge, dass die Amtshand­ lung zu unterbleiben hat. Ihre Stellung innerhalb der Plebs schließlich sichert das ius agendi cum plebe, das ausschließliche Recht der Volkstri­ bunen, eine Versammlung der Plebs (col1cilium plebis) einzuberufen und zu leiten. Diese nicht mehr das Gesamtvolk vereinende vierte Form der Volksversammlung konnte im Gegensatz zu den ersten drei ohne Er­ mächtigung durch den Senat (allctoritas patrum), ohne formelle Ladung durch die Oberbeamten und ohne Auspizien durch die Auguren (religiöse Unbedenklichkeit) zusammentreten. Ihre Beschlüsse hießen plebiscita, die zwar nicht das Gesamtvolk rechtlich banden, denen aber tatsächlich eine nicht geringere Bedeutung zukam; so war die eben erwähnte Lex Canuleia in Wahrheit bloß ein Plebiszit, das wohl durch nachträgliche Zustimmung von Seiten des Senats, der Versammlung der Patrizier, gesetzesgleiche Kraft erhielt. Theodor Mommsen karakterisierte das Volkstribunat als "die legalisierte Revolution in Permanenz". Seit dem letzten Drittel des 5. Jhs. drängten die Führer der Plebs auf Beteiligung an der Höchstmagistratur, dem nachmaligen Konsulat. Seit 42 1 v.Chr. konnten sie zu Quästoren (Hilfsbeamten der Konsuln) ge­ wählt werden, aber erst 409 schaffte es tatsächlich ein Plebejer, in dieses an sich niedrige, aber traditionell Eingang in den Senat verschaffende Amt gewählt zu werden. Und 367 v.Chr. brachten die Plebejer endlich nach einer neuen schweren Krise die Lex Licinia Sextia durch, die ihnen unter anderem den Zugang zum Konsulat eröffnete; der erste plebj ische Konsul wurde Sextius selbst schon im Jahr drauf, doch haben im Ganzen nur sehr wenige plebej ische Familien (knapp 30) den Aufstieg geschafft; die älweren kamen schon deshalb nicht in Frage, weil der freistaatliche Magistrat die Kosten seines Amtes selbst zu tragen hatte. Damals ver­ mochten sich die Patrizier noch mit der Rechtsansicht durchzusetzen, die bislang von den Konsuln gleichermaßen wahrgenommene Rechtspre­ chung (iurisdictio) könne nur ein Patrizier ausüben. So wurde die

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Rechtsprechung vom Konsulat abgespalten und einem collega minor (kleinerer Kollege) der Konsuln übertragen, für den man den für die Höchstmagistrate nicht mehr verwendeten Namen Prätor wiederbelebte und wozu also weiterhin nur ein Patrizier Zugang hatte. Damit war, wenn auch nicht unmittelbar beabsichtigt noch gar verfassungsrechtlich abge­ sichert, so doch faktisch die rechtsprechende von der Exekutivgewalt getrennt. Doch dauerte es nicht mehr lange, bis auch die letzten Ma­ gistraturen den Plebejem geöffnet wurden. Seit 364 konnten sie curuli­ sehe Ä dilen werden, 356 Diktator, 35 1 Censor (mit der Aufgabe, das Vermögen der Bürger zur Berechnung der Steuem zu schätzen, Staatsaufträge zu vergeben usw.) und 337 schließlich auch Prätor. 287 v.Chr. kommt es zur dritten secessio p/ehis auf den Janiculus, der heutige Giannicolo. Der Grund war drückende Verschuldung. Der Senat emennt den Plebejer Quintus Hortensius zum Diktator, dieser vermittelt und setzt die Lex Hortensia durch, wonach Plebiszite fortan von vomherein Geset­ zeskraft haben, für das Gesamtvolk verbindlich sind. Seither vollzog sich die Gesetzgebung fast nur noch in der Form von Plebisziten, ohne dass sie dadurch einen revolutionären Zug angenom­ men hätte. Es scheint nur das einfachere Verfahren gewesen zu sein, das die Gesetzesinitiatoren diese Form bevorzugen ließ. Das Volkstribunat war aus einem Element der Unruhe über Nacht zu einem Verfassungsor­ gan geworden, das mit den alten Verfassungsorganen reibungslos zu­ sammenarbeitete. Schließlich war es nur mehr eine Sprosse in der Ä mter­ laufbahn, die Eingangsstufe für Angehörige plebej ischer Familien. Im Gegensatz zu den Patriziem, die gleich mit der Quästur begannen, durch­ liefen die Plebejer erst einmal das Volkstribunat, und erst danach kam die Quästur, dann wurde man Ä dil, daJm ursprünglich Konsul und danach Prätor, später war dies umgekehrt; und am angesehensten waren die selteneren Magistraturen der Censoren, die nur alle fünf Jahre tätig wur­ den, und des noch selteneren, nur in Notfällen auf höchstens ein halbes Jahr berufenen Diktators. Der Senat wurde praktisch zur Versammlung der ehemaligen Amtsträger von den Quästoren, zeitweise erst von den Ädilen an. Zusammen mit den plebejischen Senatsfamilien bildeten die alten Patrizierfamilien einen neuen, den Amtsadel (nohiles), der sich fast ebenso hermetisch abschloß wie seinerzeit die Patrizier. Von Cicero wissen wir, wie schwer es ein homo novus (neuer Mann) hatte, bis zum Konsulat aufzusteigen. Unterhalb der Nobilität bildete sich eine Schicht von Reichen ohne politischen Ehrgeiz, eine Art Geldadel, seitdem 2 1 8 v.Chr. die Lex Claudia de senatorihus den Senatoren und ihren Söhnen

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Handel und Wucher unmöglich gemacht hatte. Da jene Reichen ein Vermögen von 400 000 Sesterze vorweisen mussten, in der Lage waren, die teure Reiterausrüstung zu finanzieren, den Senatoren aber schließlich auch das Ritterpferd genommen wurde, hieß nun dieser neue zweite Stand ordo equester (Ritterstand). Die aus den Ständekämpfen hervorgegangene Verfassung entfaltete immerhin eine beträchtliche Integrationskraft. 200 Jahre lang, bis zu den gracchischen Unruhen gegen Ende des 2. Jhs. v.Chr. , sollte Rom im Inneren stabil bleiben. Unter dieser Vert'assung erfuhr der römische Machtbereich seine größte Ausdehnung. Aus einer Landstadt, die Rom nach dem Galliereinfall 387 v.Chr. nur mehr war, wurde ein Weltreich, das alle nennenswerten Gegner und Rivalen besiegt und unterworfen hatte: Die Samniten im Osten, die Etrusker im Norden, die Griechen Süditaliens und unter König Pyrrhus von Epirus, Karthago und schließ­ lich sogar die hellenistischen Großmächte: Mazedonien, das ptolemäi­ sche Ä gypten und den Koloß des Seleukidenreiches, das von der Ägäis bis zum Indus reichte und aus dessen Zelfall das Partherreich hervorging, für Jahrhunderte Roms einziger Kontrahent.

h) Jurisprudenz " Die römischen Pontifices l 2 waren ursprünglich eine Priesterschaft wie viele andere auch: die Auguren, ein für die religiöse Unbedenklichkeit von Staatsakten und schließlich für das Staatsrecht zuständiges Dreier­ kollegium; die Epulonen, die S alier und was es sonst noch alles gab. Das Kollegium der Pontifices bestand ursprünglich aus drei, dann sechs Mit­ gliedern, denen einer von ihnen, der Pontifex maximus, vorstand. Nur Patrizier konnten beitreten, wie den wichtigsten anderen Priesterschaften auch. Vor allem waren die römischen Pontifices keine politisch abstinen­ ten oder wie die römischen flamines ins politische Abseits gedrängten Priester; vielmehr war in Rom die Religion überhaupt eine sehr weltliche Angelegenheit. Gewöhnlich versah man ein Priesteramt in Personalunion mit weltlichen Ämtern. Cäsar war seit 73 v.Chr. Pontifex und seit 63 Pontifex maximus, was für seine spätere politische Karriere von nicht zu

1 1

Dazu Fritz Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft (Weimar 1 96 1 ) 7- 1 1 6: u. Wie acker (oben Fußn. 8 ) 5 1 9-675. 12 Zu ihnen besonders Kurt Latte, Römische Religionsgeschichte (München 1 960) 1 95-200 u. 400 f. : u . George J. Szemler. in: RE Supp!. 15 ( 1 97 8 ) 3 3 1 396.

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unterschätzender Bedeutung war. Auch Augustus ließ sich zum Pontifex maximus wählen, und danach hatten alle Kaiser den Oberpontifikat kraft Amtes inne, bis Gratian 382 n.ehr., nachdem die Kaiser seit einem hal­ ben Jahrhundert christlich waren, den heidnischen Titel ablegte, der dann, zusammen mit dem Ansehen, das er verschaffte, vom Papst ange­ nommen wurde. In historischer Zeit war die Priesterschaft der Pontifices die mächtigste. Der Oberpontifex hatte Disziplinargewalt nicht nur über die vestalischen Jungfrauen, sondern auch über seine Kollegen im Ponti­ fikat und insbesondere über die dem Pontifikalkollegium assoziierten 1 5 flamines, für j e einen bestimmten Gott zuständig, und den rex sacrorum (Opferkönig). Dieser und die drei flamines maiares gingen ihm aber im Range vor. Ursprünglich müssen also rex sacrorum, flamen Dialis (zu­ ständig für Jupiter/Zeus) , flamen Martialis (für Mars) und flamen Quiri­ nalis (für Quirinus) auch mehr Eint1uss als der Pontifex maximus gehabt haben. Seine hervorragende Stellung in historischer Zeit scheint erst das Ergebnis vorgeschichtlicher Machtkämpfe zu sein. Die ursprüngliche Aufgabe der Pontifices ist aus ihrem etymologisch durchsichtigen Namen abzuleiten, gebildet aus facere (machen) und pans, das im klassischen Latein ,Brücke ' bedeutet, eigentlich aber ,Dammweg, Knüppelpfad, Holzpfad mit Unterbau ' . D. h. die Pontifices waren ursprünglich Wegbereiter, Weganleger, wahrscheinlich aus der Zeit der Wanderschaft der Latiner, die sie schließlich nach Italien führte; sie waren Straßen- und Brückenbauingenieure, was in damaliger Zeit allerdings mehr als technische Fertigkeiten erforderte. Gleichzeitig muss­ ten sie Fachleute für den Verkehr mit unbekannten Mächten, mit Gotthei­ ten sein, die in unbekanntem Gelände, in unvertrauter Umgebung alleror­ ten vermutet wurden. Die ranghöchsten vier Priester waren für bestimmte Gottheiten zuständig, die Pontifices dagegen anscheinend für alle Gott­ heiten, für die keine besonderen Priester vorgesehen waren, für alle neuen Mächte, mit denen das Volk sich auseinanderzusetzen hatte; und das verschaffte ihnen im Laufe der Zeit mehr und mehr Aufgaben, einen stetigen Machtzuwachs. Insbesondere waren sie zuständig für die Tiber­ brücke im Verlauf der alten Salzstraße (via salaria) von den sabinischen Bergen zum Tyrrhenischen Meer, den pOilS sublicius im prägnanten Sinne des Wortes, der nicht unerheblich zur Stadtwerdung Roms beige­ tragen hat. Er war in alter Zeit eine Holzbrücke, für die kein Metallstück verwendet werden durfte, was auf eine Tradition bis vor die Bronzezeit schließen lässt. Er führte in Feindesland und musste rasch abgebrochen werden können. Gleichzeitig waren die Pontifices zuständig für den

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Verkehr mit dem Flussgott Tiber, ferner für Weihungen an unterirdische Gottheiten (devotiones) und für den Kalender: sie bestimmten die Mo­ natslänge, die Schalttage und gaben bekannt, welche Tage für Rechts­ handlungen religiös unbedenklich waren. Sie führten die Annalen, einer Annahme an Kindes Statt mussten sie zustimmen, die ältesten Testamen­ te waren von ihrer sakralrechtlichen B illigung abhängig. Kurz, sie waren zuständig für alles rituelle Handeln, soweit es nicht Spezi alkompetenzen zugewiesen war; und entwickelten Formen, insbesondere Spruchformeln, für den Verkehr mit unbekannten Mächten, die befriedet werden muss­ ten, wenn wichtige Profanakte unanstößig ausgeführt werden sollten. ]3 Die älteste Bedeutung von lex, das älteste Recht ist Ritus ; der älteste Rechtsgang (Prozess) heißt legis actio. Diese war ursprünglich an keinen Gerichtsherrn gebunden, vielmehr bedeutet legis actio schlicht , rituell festgelegtes Vorgehen' , das die ungebändigte Selbsthilfe ablöst. Die Ablösung der nackten Gewalt durch Ritus bedeutete auch, dass umstrit­ tene Tatsachen nach formalisierten Regeln festgestellt wurden, z.B. durch Zusammenrufen der Nachbarn, durch rituelle Haussuchung beim des Diebstahls Verdächtigen; ohne solches galt ein Diebstahl nicht als voll bewiesen. Auf einer ähnlichen Stufe stehen die Gottesurteile im älteren deutschen Prozess. Die Pontifices aber führen aus diesem Forma­ lismus heraus, indem sie eine Möglichkeit entwickeln, im Rechtsstreit die Wahrheit frei, ohne Bindung an formale Beweisregeln zu ermitteln. Das Verfahren heißt legis actio sacramento (durch Eid), das in zwei Spielarten entwickelt wurde: als legis actio sacramento in rem (auf eine Sache) bei Streit um Sachen und als legis actio sacramento in personam (auf eine Person) bei Streit um Schuld und Haftung. Dazu gehörten feste Formeln, die die streitenden Parteien vor dem Gerichtsherrn zu sprechen hatten (Spruchformeln), was z.B. im Falle des Streits um eine Kuh fol­ gendermaßen aussah (vgl. Gai 4, 16 tI) :

1 3 Umstritten. M . E . durchschlagend aber Bruno Schmidlin, Zur Bedeutung der legis actio - Gesetzesklage oder Spruchklage? TR 38 ( 1 970) 367-87. Anders Jochen B leicken, Lex Publica, Gesetz und Recht in der römischen Republik (Berlin 1 97 5 ) ; u. Andre Magdelain, La loi it Rome, Histoire d ' un concept (Paris 1 97 8 ) . Zur ältesten Bedeutung von ius ,gegenüber den überirdischen Mächten reine, befriedete Lebensordnung ' Okko Behrends, fus und Ius Civile, in: S ympotica Franz Wieacker sexagenario Sasbachwaldeni a suis libata (Göt­ tingen 1 970) 1 1 -5 8 .

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� Erst sprach der Kläger (actor) : "Hane ego vaccam ex iure Quiritium meam esse aio. Sec undum suam causam. siCllt dixi. ecce tibi. vindictam imposui. - Ich sage. dass diese Kuh nach dem Recht der Quiriten mein ist. Gemäß ihrer Rechtslage, wie ich gesprochen habe, sieh selbst. habe ich den Stab angelegt." Darauf der Beklagte (reus) : "Hane ego vaeeam ex iure Quiritium meam esse aio. Secundum suam causam, sicut dixi, etc. - Ich sage, dass diese Kuh nach dem Recht der Quririten mein ist. Gemäß ihrer Rechtslage. usw." Nunmehr greift der Gerichtsherr (rex. COIlSII! bzw. praetor) ein: . ,Mittite ambo vaccam - Lasst beide die Kuh los ! " Nachdem die Parteien diesem Befehl nachgekommen sind, fährt der Kläger zum Beklagten gewandt fort: "Postulo anne dicas qua ex causa vindicaveris - Ich fordere, dass du sagst, aus welcher Rechtslage du vindizierst (eigentlich: Recht behauptest) ! " Darauf der Beklagte: "Ius fe c i sicut vindictam imposui - Ich habe Recht getan so wie ich den Stab angelegt habe." Der Kläger erwidert: "Quando tu iniuria vindicasti. L aeris sacramento te provoco - Weil du zu Unrecht vindiziert hast, fordere ich dich durch Eid über 50 (Pfund) Kupfer zum Streit heraus." Und der Beklagte: "Et ego te - Und ich dich."

Beide Parteien stellten also einander widersprechende Rechtsbehauptun­ 4 gen aufl . Nach Austausch der Spruchformeln beeideten beide ihre Rechtsbehauptung, d.h.verfluchten sich selbst für den Fall, dass sie Un­ recht hätten. Einer der beiden auf konträre Behauptungen geleisteten Eide ist, wie man schon jetzt weiß, falsch; schon jetzt steht fest, dass einer der bei den die Schwurgottheit herausgefordert hat, dass sie einen von beiden heimsuchen wird. Und das bedeutet, dass die ganze Gemein­ schaft in den Streit der beiden hineingezogen zu werden droht. Um das 14 Zum Folgenden Max Kasel', SZ 1 04 ( 1 987) 5 3 -79.

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zu verhindern, müssen beide Parteien sofort nach Leistung des Eides die zur Versöhnung der Gottheit erforderliche Leistung, das Sühneopfer erlegen, welches bei den Pontifices in ihrem Amtslokal an der Tiberbrü­ ckels hinterlegt wird. Jetzt kann in Ruhe mit Klärung der Frage begonnen werden, wer nun wirklich sühnen musste und wer das Sühnegeld zurück­ bekommt. Zur Klärung dieser Frage nutzen weder Pontifices noch Ge­ richtsherr ihre Autorität ab, sondern sie wird einem angesehenen Privat­ mann, einem Senatsmitglied übertragen, der schließlich zu entscheiden und zu verkünden hat, wessen Handeln religiös unbedenklich war, auf wessen Seite das Recht steht. Er ist eine Art Geschworenenrichter und heißt iudex. Bei der Ermittlung dessen, was tatsächlich geschehen ist, ist er frei; in Rechtsfragen wird er von den Pontifices beraten. Die Partei, deren Eid sich als richtig erweist, bekommt ihr sacramentum, wie der Geldbetrag kurz genannt wird, zurück und darf die Sache, um die gestrit­ ten wurde, mitnehmen; wessen Eid falsch war, der muss die Sache fahren lassen und verliert seinen Einsatz endgültig. Die Höhe betrug, je nach Wert des Streitgegenstands, 50 As (Pfund Kupfer), wenn der Streitge­ genstand weniger als 1 000 As wert war; sonst 500 As. Auf einen solchen Rechtsstreit konnte sich also nur ein Begüterter einlassen. Der Streit eines kleinen Mannes mit kleiner oder ganz ohne Gefolgschaft pflegt dem inneren Frieden der Gemeinschaft weniger gefährlich zu sein; er ist nicht in der Lage, wegen ihm zugefügtem Unrecht oder vermeintlichem Unrecht große Unruhen zu stiften. Doch blieb es dabei nicht. Später wurde eine Prozessform ohne sacra­ mentum entwickelt, die ganz entsprechend begann, wo der Kläger dann aber, statt den Eid des Gegners zu provozieren, unmittelbar den Prätor bittet, einen Geschworenenrichter einzusetzen: die legis actio per iudicis arhitrive postulationem (durch Forderung eines Geschworenen oder Schiedsmanns). Die Zwölf Tafeln schreiben diese Prozessform zwingend vor für Streit aus Schuldversprechen und Erbteilung; später kommen weitere Fälle hinzu, und noch weiter vereinfachte Spruchformelverfahren werden geschaffen. Zwar haften den Spruchformelverfahren, insgesamt betrachtet, noch mannigfache altertümliche Züge an, wozu insbesondere gehört, dass die geringste Abweichung der Parteien vom vorgeschriebenen Wortlaut ihre 15 Ad pOllfel11 : Varro, De lingua Latina 5, 1 80. Nach der Entmachtung des rex saCl'O/'lI111 zog der Pontifex maximus in die angesehenere d0I11 11 S regia (Kö­ nigspalast) um, wo er in historischer Zeit residiert. Das mittlerweile säkulari­ sierte sacramentlll11 fließt j etzt in die Staatskasse.

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ganze Erklärung, und das hieß für den Beklagten: seine Verteidigung, für den Kläger: das Klagbegehren ungültig machte, in welchem Fall der Beklagte ohne weiteres zu verurteilen war, der Kläger ohne weiteres abzuweisen, ohne dass er den Prozess hätte von Neuem anstrengen kön­ nen. Auf der andern Seite aber ist es einmalig, dass auf so früher Ent­ wicklungsstufe ein Verfahren zur Erforschung der materiellen Wahrheit in freier Beweisaufnahme zur Verfügung steht, mag seine älteste Aus­ prägung, die legis actio sacramento, dies auch nur über einen Umweg, gewissermaßen durch einen Trick erreicht haben. Dabei sticht besonders die Kühnheit hervor, mit der die Pontifices die Schwurgottheit wissent­ lich herausforderten, und die B auernschläue, mit der die davon der Ge­ meinde drohende Gefahr von vornherein abgeleitet wird, ein Beleg für das nüchterne Verhältnis der Römer zu ihren Göttern. Die Pontifices stellten ihre Formelkunde, ihr Wissen, wie unbekannte Mächte zu besänftigen sind, ihre Kunde in rituellen Fragen und schließ­ lich ihre Rechtskunde allen zur Verfügung, die darum nachsuchten, insbesondere auch den Gerichtsmagistraten, zumal den Prätoren. Auch die Prätoren waren in der Regel rechtlich nicht ausgebildet. Es waren Politiker; auch die Prätur war nur eine Stufe in der Ämterlaufbahn, auch die Prätoren wurden jährlich neu gewählt. Zwar wurden sie hauptsäch­ lich für die Gerichtsbarkeit eingesetzt, aber nicht ausschließlich. Fielen die Konsuln aus, sei es durch Tod, sei es durch auswärtige Aufgaben wie Kriegführung, so oblagen den Prätoren allgemeine Regierungsaufgaben, gegebenenfalls also auch militärische Führung. Aber auch gewöhnliche Bürger, Privatleute wurden von den Pontifices beraten, mochte ihr Rat wegen eines zu führenden Prozesses oder wegen eines abzuschließenden Geschäfts, eines Vertrages oder eines aufzusetzenden Testaments ge­ sucht werden. Auf diese Weise entwickeln und entfalten die Pontifices z.B. die oben genannten Prozessformeln, aber auch mannigfache Ver­ tragsklauseln und ganze Geschäftstypen. Man spricht von kautelaren Gutachten im Gegensatz zu den judiziellen, die einen abgeschlossenen Fall zum Gegenstand haben, und von Kautelarjurisprudenz. Das Wort kommt von cavere, eigentlich , sich vorsehen, eine Rechtshandlung hieb­ und stichfest vornehmen' , daher cautio, das hieb- und stichfeste Rechts­ geschäft' . So entwickelten sie mit der in iure cessio (Abtretung vor Ge­ richt), einem Scheinprozeß um eine Sache vor dem Prätor, eine Möglich­ keit, Eigentum abstrakt zu übertragen, unabhängig von dem damit ver­ folgten Zweck wie Kauf, Schenkung, Treuhand. Und eine ähnliche Struktur hat die manumissio vindicta (Freilassung durch Stab) vor dem

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Prätor, ebenfalls in Form eines scheinbaren Freiheitsprozesses; die Zwölf Tafeln hatten nur eine Freilassung von Todes wegen: die testamentari­ sche Freilassung anerkannt. Aber auch die Möglichkeit, eine Sache au­ ßergerichtlich abstrakt zu übereignen, wird von den Pontifices geschaf­ fen. Dabei können sie anknüpfen an einen Satz der Zwölf Tafeln (6, 1 ) :

Cum nexum faciet mancipiumque, uti !ingua nuncupassit. ita ius esto (Wenn er Bindung machen wird und Handgreifen, wie er mit der Zunge verkündet hat, so soll es recht sein). Dabei ist mit , Handgreifen' (mallci­ pium) der alte, förmliche Barkauf aus der Zeit vor Einführung gemünzten Geldes, also von Ware gegen Rohkupfer gemeint, weshalb Kupferwaage und Wägemeister für das Geschäft erforderlich sind; außerdem braucht man 5 Zeugen: geschlechtsreife männliche römische Bürger, und das den Kaufpreis darstellende Rohkupfer. Der Käufer fasst den Kaufgegenstand, etwa eine Kuh, an und spricht die Worte: ,,Hanc ego \'accam ex iure

QlIiritilim meam esse aio eaque mihi empta esto hoc aere aeneaque !ibm (Ich sage, dass diese Kuh nach dem Recht der Quiriten mein ist und dass sie mir gekauft sein soll mit diesem Stück Kupfer und der Waage aus Erz) ." Dann wird das Kupfer abgewogen, dem Verkäufer übergeben, und der Käufer zieht mit der Sache von dannen. Da nun nach einem anderen Zwölf-Tafel-Satz (7, 1 1 ) der Käufer Eigentum an der gekauften Sache erst elwarb, wenn er den Kaufpreis bezahlt hatte, konnte auf diesen Teil des Geschäfts nicht verzichtet werden. Aber man konnte ihn auf einen rudimentären Rest reduzieren, die äußeren Requisiten: Kupfer, Waage und Wägemeister zwar beibehalten, aber nur mehr zum Schein; nur noch symbolisch wurde ein kleines Kupferstückehen zugewogen. Das Ge­ schäft hieß mancipatio nummo uno (mit einem einzigen Geldstück), ein Scheinkauf. Und diese vom Terminkalender des Prätors unabhängige abstrakte Eigentumsübertragung wurde dann weiter ausgebaut und für vielerlei Zwecke verwertet: für treuhänderische Übereignungen sei es zur Sicherung eines Kredits (jiducia cum creditore Treuhand mit dem Gläubiger), sei es zum Zwecke einer Abwesenheitspflegschaft (jiducia cum amieo Treuhand mit dem Freund) . Am kunstvollsten sind die Ausgestaltungen der mancipatio lJummo uno für erb- und familienrecht­ liche Zwecke. Mit diesen ihren Leistungen trugen die Pontifices neuen wirtschaftlichen Bedürfnissen Rechnung und festigten so wiederum ihre Macht. Kenn­ zeichnend für ihre Schöpfungen ist der große Aufwand an rituellen Re­ quisiten, auch dies eine Möglichkeit, die eigene Fachkunde eindrucksvoll zur Schau zu stellen und Außenstehende von der Teilhabe femzuhalten, -

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m.a.W. die Rechtskunde als Geheimwissenschaft z u betreiben. Ende des 4. Jhs. v. Chr. ist dann auch dieses Monopol Angriffen ausgesetzt, Angrif­ fen auf das Monopol selbst und gegen die exklusive Zusammensetzung des Kollegiums. In die erste Richtung gehen die von Appius Claudius Caecus geführten Vorstöße, dem bedeutendsten Römer der Zeit um 300 v.Chr. : Erbauer der ersten Römerstraße (via Appia) und der ersten großen römischen Wasserleitung (aqua Appia), "ein Mann ohne jedes Vomrteil, mit einem B lick für die Anfordemngen der Gegenwart; ein Kopf, dem etwas einfiel und der genügend Energie besaß, es durchzuführen" (Alfred Heuß). Als Censor 3 1 2 bis 308 v.Chr. nach der Lex Ovinia (ca. 3 1 5 v.Chr. ) zuständig für die Aufstellung der Liste der Senatoren (lectio senatus), auf die traditionell die gewesenen Magistrate gesetzt wurden, nahm er erstmals Söhne von Freigelassenen in den Senat auf, was aller­ dings schon wenige Jahre später wieder rückgängig gemacht wurde. Er ebnete dem Schreiber Gnaeus Flavius, auch Sohn eines Freigelassenen, die Wahl zum cumlischen Ädil, was großes Aufsehen erregte. Und eben diesen entmutigte Appius Claudius nicht, eine handbuchartige übersicht­ liche Zusammenstellung der Klagformeln zu veröffentlichen, das sog. lus Flavianum : eine Tat mit noch größerem Nachhall, um die sich viele Anekdoten gerankt haben, besonders über die Art und Weise, wie sich Gnäus Flavius die Kenntnis der Formeln verschafft hat. Durch dieses Buch war der Rechtsunkundige erstmals nicht mehr auf Beratung durch die Pontifices unbedingt angewiesen, sondern konnte sich in bescheide­ nem Umfang selbst orientieren. Appius Claudius seinerseits hatte alle hohen Staatsämter, zum Teil mehrmals, bekleidet und war auch Pontifex gewesen 1 l " außerdem zweimal Prätor, zweimal Censor, Konsul und Diktator. Er veröffentlichte erstmals in Rom politische Reden, eine Spmchsammlung und auch die erste juristische Abhandlung: De usU/pa­ tionibus, wohl eine engagierte Schrift: " Über die Unterbrechung der Ersitzung" . Diese forschen Versuche, die Rechtskunde allgemein zugänglich zu machen und die ausschließliche Autorität der Pontifices und anderer Priesterschaften zu brechen, scheiterten anscheinend vorerst. In den nächsten hundert Jahren hören wir von keiner weiteren Juristenschrift. Eine neue Ordnung der Rechtsberatung gelang aber auf einem weniger spektakulären Weg: Über eine Ändemng der Zusammensetzung der obersten Priesterkollegien. Im Jahre 300 v .Chr. erging die Lex Ogulnia, ein auf die Volkstribunen Quintus und Gnaeus Ogulnius zurückgehendes 16

Jörg Rüpke, Kalender und Ö ffentlichkeit (Berlin 1 995) 249 f. u. Fußn. 1 8 .

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Plebiszit. Es erhöhte die Zahl der Pontifices von sechs auf neun, wovon vier Plebejer sein sollten; sie ergänzten sich aber weiterhin durch Koop­ tation, doch wird der Oberpontifex seit dem 3. Jh. v.Chr. unter den Neu­ nen durch Volkswahl bestimmt, seit der Lex Domitia ( 1 03 v.Chr.) auch die übrigen Pontifices aus einer Vorschlagsliste des Kollegiums. Und das Augurenkollegium wurde von drei auf neun Mitglieder mit fünf Plebe­ jern aufgestockt, aber auch hier erhielt sich seine Ergänzung durch Koop­ tation bis zur Lex Domitia. Der Versuch, die Rechtsberatung auf diesem Wege aus ihrer Exklusivität herauszuführen, erwies sich als erfolgreich; die plebejischen Pontifices enttäuschten die in sie gesetzten Erwartungen nicht und brachten die Rechtskunde wirklich unter die Leute. Die Gut­ achten wurden nicht mehr, wie bisher, anonym im Namen des Kollegi­ ums gegeben; dazu scheint es nicht mehr homogen genug gewesen zu sein. Erstmals kennen wir Juristen beim Namen. Zu nennen ist besonders Tiberius Coruncanius, aus landstädtischem Adel (seine Vaterstadt ist Tusculum) , in Rom homo novus, aber von den Fabiern gestützt. 280 v.Chr. , im Pyrrhuskrieg, ist er Konsul, etwa 260 Pontifex und seit 254 erster plebej ischer Pontifex maximus. Er hat nicht nur Rechtssuchende beraten, zu vorgetragenen Problemen Stellung genommen, sondern das Recht auch öffentlich gelehrt, seine Rechtskunde freigebig Wissbegieri­ gen zur Verfügung gestellt, wenn das auch noch kein methodischer Rechtsunterricht war. Denkwürdige Rechtsgutachten von ihm, memora­ hilia respOl1sa, kursierten. Daraus entwickelte sich später die Literatur­ form der Responsensammlung (Responsorum lihri), worin die Rechtsbe­ scheide eines Juristen zusammengestellt und veröffentlicht wurden. Solche Sammlungen sollte es während der ganzen Blütezeit der römi­ schen Rechtswissenschaft geben. In der übernächsten Juristengeneration ist die Personalunion mit dem Pontifikat anscheinend schon nicht mehr notwendig. Von Sextus Aelius Paetus Catus, ein Vertreter der plebejischen Nobilität schon in der vierten Generation, 1 98 v.Chr. Konsul und 1 94 Censor, als welcher er die ersten Sitzreihen im Theater für alle Zukunft den Senatoren reservierte, ist nicht überliefert, dass er Pontifex oder Augur gewesen wäre; immerhin war es sein Vater. Aelius ist der Verfasser eines Werks, das für lange Zeit die Grundlage vertiefter Kenntnis des weltlichen Rechts war: die Tripertita (Dreigeteiltes) oder, wie der volkstümliche Titel lautete, das Ius Aelia­ num. Es enthielt den Text der Zwölf Tafeln, einen Kommentar dazu (interpretatio) und drittens die dazugehörigen Spruchformeln. Es ist der erste juristische Kommentar, für den es literarische Vorbilder nur auf

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anderen Fachgebieten der hellenistischen Wissenschaften gab: der Filo­ logie, Filosofie und Medizin, wo seit langem Homer-, Plato-, Aristoteles­ und Hippokrateskommentare verbreitet waren. Aelius kommentierte vor allem nicht mehr geläufige Wörter, nicht mehr ohne weiteres verständli­ che Stellen; doch enthielt seine Interpretatio außerdem doch wohl die an die Zwölf Tafeln anknüpfende Rechtsfortbildung. In der Folge wurde der Kommentar als juristische Literaturform immer mehr vervollkommnet. Sein Gegenstand war zunächst immer wieder das ehrwürdige Zwölfta­ felge setz, doch bearbeitete man schließlich auch alle anderen staatlichen Rechtssetzungen auf diese Weise. l7 Vom 2. Jh. v. ehr. an kennen wir viele Fachjuristen mit Namen , von denen aus der Republik nur noch zwei vorgestellt werden sollen. Auch Quintus Mucius Skävola gehörte zur plebej ischen Nobilität in der vierten Generation. Schon sein Vater Publius Mucius Skävola, Konsul 1 3 3 und Pontifex maximus 1 30 bis 1 1 5 v.elu·. , war ein hochberühmter Jurist gewesen, den die spätere Zeit zu den jimdatores iuris eivWs (Begründer des bürgerlichen Rechts) rechnete. Sein Sohn Quintus wurde im Jahre 1 1 5 etwa 25jährig Pontifex und durchlief die Ämterlautbahn eines Plebe­ jers bis zum Kosulat (95 v. ehr. ), an das sich damals sofort das Prokonsu­ lat anschloß, welches ihn in die Provinz Asia, das heutige westliche Kleinasien führte. Er verwaltete die Provinz gerecht und uneigennützig, schützte die Provinzialen vor der Habgier der römischen Steuerpächter, wofür er in ganz Griechenland verehrt, in Rom vom tätigen Haß des Ritterstandes verfolgt wurde. Der Senat empfahl seine Provinzverwal­ tung allen Nachfolgern als Vorbild. Durch seinen Onkel, Quintus Mucius der Augur, stand er dem Scipionenkreis nahe, wodurch er mit der stoi­ schen Filosofie in Berührung kam, der er in Handeln und Denken ver­ pt1ichtet war. Nach umständlichen Versuchen der Generation vorher unternimmt er es, das gesamte Privatrecht systematisch nach Gattungen (genera) geordnet darzustellen; das Ergebnis, seine Libri XVIII iuris ch'ilis ( 1 8 Bücher bürgerliches Recht), fanden bis in die spätklassische Zeit hinein großen Anklang. Von seinen Verdiensten um das positive Recht nenne ich hier nur die als Statthalter (und das bedeutete zugleich Oberster Richter) von Asien entwickelte Einrede der Arglist, die er noch als praescriptio (Vor-Schrift), als vor die Fonnel zu setzende Einschrän­ kung gefasst hat: " Ea res agatur. extra quam si ita negotium gestum est, ut eo stari non oporteat ex tide bona (Diese Sache soll verhandelt wer­ den, außer wenn das Geschäft so geführt worden ist, dass nach guter 17

Zu ihnen Wieacker (oben Fußn. 8) 535-55 1 .

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Treue an ihm nicht festgehalten werden darf) ." Bei seiner juristischen Alltagsarbeit treffen wir Quintus Mucius aber auch dabei an, in traditio­ neller Juristenweise die Pedanterie auf die Spitze zu treiben, so wenn er in dem berühmten Prozess des Curius (causa Curiana) sich einer den Absichten des Testators entgegenkommenden Interpretation letztwilliger Anordnungen widersetzt, worin ihm im konkreten Fall das Gericht übri­ gens nicht gefolgt ise R . Der letzte hier zu nennende Jurist war ein persönlicher Freund Ciceros: Servius Sulpicius Ruf'us, Konsul 5 1 v.Chr. Er war filosofisch und rheto­ risch ausgebildet und zunächst als Gerichtsredner tätig, in welchem Beruf damals Rechtskenntnisse nicht erwartet wurden. Als er deshalb einmal bei Quintus Mucius Rechtsrat einholte, soll dieser ihn so beschämt ha­ ben, dass sich Servius nahezu 30jährig noch der Rechtswissenschaft zuwandte, und in diesem Metier blieb ihm der Erfolg nicht versagt. Er hinterließ einen großen Kreis ganz auf ihn eingeschworener Schüler. Am Lehrsystem des Quintus Mucius arbeitete er weiter und gelangte dabei einen großen Schritt über Mucius hinaus. Erst er soll, wie wir leider nur vom ruhmredigen Cicero wissen, das Aufgehen der Jurisprudenz in der Beurteilung von Einzelfällen wirklich überwunden, er erst ein leicht lehrbares System entwickelt haben. Jedenfalls legte er gegenüber dem traditionellen Betrieb der Juristerei eine große Freiheit an den Tag, so­ wohl in der Methode als auch in seinen Einzelergebnissen. So hat offen­ bar er die dingliche Pfandklage, die actio Serviana entwickelt, wenn auch vorerst nur für den Vermieter und den Verpächter, der sich Inventar vom Mieter bzw. Pächter ohne Übergabe hatte verpfänden lassen. Erst sie macht das Pfandrecht zum dinglichen, gegenüber jedermann geltend zu machenden Recht. Als Schriftsteller war er sehr fruchtbar. Seine berühm­ teste Schrift sind die Reprehensa Scaevolae capita (Widerlegte Kapitel aus Skävola, d. i. aus dessen Libri XVIII iuris civilis), der erste (kritische) Kommentar zu einer Juristenschrift. Auch kommentierte er erstmals das prätorische Edikt, auf das die juristen der Folgezeit den größten Fleiß und Scharfsinn verwenden sollten; im Umfang sollten sie die Schrift des Servius bis um das 75fache übertreffen. Wessen Jurisprudenz war das? War es nur die Jurisprudenz der Nobili­ tät? des Geldadels? oder auch des wenig oder nichts besitzenden Volkes? Die Juristen gehörten stets der sozialen Führungsschicht an. Trotzdem sind sie nicht ohne weiteres mit den Kapitalisten zu identifizieren, wie 18

Dazu und zum Folgenden Okko Behrends, Die fraus legis (Göttingen 1 982) 75-77 u. 68-73.

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das Beispiel des Quintus Mucius lehrt; oder mit den Adligen, wie mit anderen Beispielen belegt werden könnte. Aber eine breitere Verwurze­ lung in der Rechtsgemeinschaft gelang Roms Jurisprudenz doch erst in der Kaiserzeit.

c) Magistratische Rechtsschöpji/l1g

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Das Sonderamt der Prätur führte zur Bildung einer besonderen Fachtradi­ tion der Gerichtsmagistrate. Es bildete sich die Praxis des Jahresedikts (edictum perpetuum) heraus. Alle römischen Oberbeamten pflegten an eine unbestimmte Vielzahl gerichtete Anordnungen allgemeiner Art in Form von Edikten (von edicere ,ansagen' ) zu erlassen, die Befugnis dazu hieß ius edicendi. Die Gerichtsmagistrate nun, und das waren seit 242 v.ehr. zwei Prätoren: der praetor urbanus (Stadtprätor) für Prozesse zwischen Bürgern und der praetor peregril1us (Fremdenprätor) für Pro­ zesse zwischen und mit Nichtrömern, sowie die beiden curulischen Ädi­ len als Inhaber der Marktgerichtsbarkeit, entwickelten daraus ein Instru­ ment der Rechtsfortbildung, das Rechtssicherheit und Elastizität in be­ sonders glücklicher Weise miteinander verband. Es bürgerte sich die Übung ein, dass die Prätoren zu Beginn ihres Amtsjahrs am Amtslokal auf dem römischen Forum weiße Holztafeln (album, von albus , weiß ' ) aufstellten, auf denen sie angaben, wie sie ihr Rechtsprechungsamt füh­ ren würden. Insbesondere gaben sie für jede Klage eine oder mehrere Musterformeln bekannt. Die Klagen hatten ihren Grund in den einst ähnlich publizierten Volksgesetzen, vor allem den Zwölf Tafeln. Aber einmal verlor mit zunehmender Weltverflochtenheit Roms die alte Tech­ nik der Spruchformeln mit ihrer Gefahr, sich zu versprechen, an Über­ zeugungskraft. Jene radikale Rechtsfolge musste als zu hart empfunden werden, und so setzte sich ein gelockertes Verfahren durch, in dem nicht mehr die Parteien zu förmeln brauchten, sondern nur noch der Prätor bei seiner Instruktion des Geschworenenrichters; ihm kam aber naturgemäß größere Freiheit zu, vom selbst edizierten Wortlaut abzuweichen. Die Instruktion geschah schriftlich, und so nennen wir diese Blankette SchriftformeIn oder Formulare. Bei der Klage wegen Tierschaden sieht das z. B. so aus : Das Gesetz (XII Taf. 8 , 6) lautete vermutlich: Si quadru19 Dazu Wieacker, Der Prätor, in: a.a. O. (oben Fußn. 6) 8 3 - 1 27 ; u. Max Kaser, SZ 10 1 ( 1 984) 1 - 1 1 4 . Zu den prätorischen Stipulationen Friedrich von Woeß, Die prätorischen Stipulationen und der römische Rechtsschutz, SZ 53 ( 1 93 3 ) 372-408 , b e s . 379 ff. u . 3 9 1 ff.

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pes pauperiem faxit, aut noxiam sarcito aut in noxam dato (Wenn ein Vierfüßer einen Schaden angerichtet haben wird, soll er [der Eigentümer des Tieres] entweder den Schaden ersetzen oder [das Tier] für die Scha­ denszufügung ausliefern), Dazu gehörte eine Spruchformel, bei der der Kläger vermutlich zu sagen hatte: "Quadrupedem tuum mihi pauperiem

feässe aio, quam oh rem te mihi noxiam san'ire aut in noxam dare opor­ tere (Ich erkläre, dass [der und der] dein Vierfüßer bei mir [den und den] Schaden angerichtet hat, weshalb du mir entweder den Schaden ersetzen oder [das Tier] für die Schadenszufügung ausliefern musst)"; und der Beklagte antwortete: Quadrupedem meum tibi pauperiem fecisse nego (Ich bestreite, dass [der und der] mein Vierfüßer bei dir [den und den] Schaden angerichtet hat) ," Die Schriftformel dagegen, Edictum praetoris Tit. XV (§ 75), ist folgendermaßen zu rekonstruieren: Gajus Seius iudex esto. Si paret quadrupedem pauperiem fecisse, qua de re agitur, quam ob rem Numerium Negidium Aulo Agerio aut noxiam sarcire aut in noxam dedere oportet, quanti ea res est, tantam pecuniam aut in noxam dedere, iudex, Numerium Negi­ dium Aulo Agerio condemna. Si non paret, absolve. Gajus Sejus soll (Geschworenen-) Richter sein. Wenn es sich erweist, dass der (und der) Vierfüßer (den und den) Schaden ange­ richtet hat, um welche Angelegenheit es (hier) geht (folgte konkrete Beschreibung des Geschehens), weswegen der Kläger dem Beklagten entweder den Schaden zu ersetzen oder (das Tier) für die Schadenszufügung auszuliefern verpflichtet ist, dann sollst du, Richter, den Beklagten dem Kläger (entweder) in den Geldbetrag verurteilen, den diese Angelegenheit ausmacht, oder (das Tier) für die Schadens­ zufügung auszuliefern. Wenn es sich nicht erweist, sollst du freisprechen.

Sodann reichten mit Differenzierung der Lebensverhältnisse die gesetzli­ chen Klagmöglichkeiten bald nicht mehr aus. Wer zum Beispiel etwas unentgeltlich verliehen hatte, der konnte, wenn ihm die Sache nicht freiwillig zurückgegeben wurde, von der nur in engen Verhältnissen wirksamen Möglichkeit sozialen Drucks hier abgesehen, seine Sache mit der allgemeinen Eigentumsherausgabeklage zurückverlangen; konnte der Entleiher gar einer Unterschlagung überführt werden, so griff außerdem die privatdeliktische Diebstahlsklage ein. Beide Möglichkeiten konnten aber versagen, etwa wenn der Verleiher nicht selbst Eigentümer der verliehenen Sache war, oder auch bloß Schwierigkeiten hatte, sein Eigen-

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turn nachzuweisen. Hier nutzte der Prätor seine Amtsgewalt (imperium), um die vorhandenen gesetzlichen Rechtsschutzmöglichkeiten zu ergän­ zen und neue, auf der eigenen Befehlsgewalt beruhende zu verheißen, wie er es im Fall der Leihe getan hat. Sein diesbezügliches Edikt lautete

(Edictum pe/petuum praetoris urbani Tit. XVII: De rebus creditis, 4 . : De iudicio commodati Ständiges Edikt des Stadtprätors Titel 1 7 : Über kreditierte Sachen, 4. [= § 98] : Über die Leiheklage) : Quod quis commo­ dasse dicetur, de eo iudicium dabo (Wovon behauptet werden wird, dass -

es jemand verliehen habe, darüber werde ich ein Gericht einsetzen). Und die dazugehörige Schriftformei: Gaius Seius iudex esto. Si paret Aulum Agerium Numerio Negidio mensam argenteam commodasse eamque Aulo Agerio redditam non esse. quanti ea res erit, tantam pecuniam, iudex, Numerium Negidium Aulo Agerio condemna. Si non paret, absolve. Gajus Sejus soll Richter sein. Wenn es sich erweist, dass der Kläger dem Beklagten den (und den) silbernen Tisch verliehen hat und dieser dem Kläger nicht zurückgegeben worden ist, dann sollst du, Richter, den Beklagten dem Kläger in einen so hohen Geldbetrag verur­ teilen, wie diese Sache ausmachen wird. Wenn es sich nicht erweist, sollst du freisprechen.

Das prätorische Edikt enthielt also zum Teil Klagverheißungen mit den dazugehörigen Klagformularen, zum Teil bloß Formulare, wenn nämlich die betreffende Klage eine gesetzliche Grundlage hatte. Die auf besonde­ rer prätorischer Verheißung beruhenden Klagen hießen iudicia imperio continentia, die von den auf Gesetz beruhenden Klagen, den iudicia legitima, stets unterschieden wurden. Die Gesamtheit des auf solche prätorischen Schöpfungen zurückgehenden Rechts hieß ius praetorium oder, das von den Ä dilen geschaffene Recht einbeziehend, ius honorari­ um (Honorarrecht) ; die Magistraturen waren Ehrenämter (honores). Im Laufe der Zeit nahm diese magistratische Rechtsschöpfung einen immer breiteren Raum ein. Nicht nur Lücken wurden gefüllt, gesetzliche Klag­ möglichkeiten ergänzt, sondern das gesetzte Recht auch korrigiert. Die ersten umfassenden Neuerungen des Prätors betrafen die schleunige Rechtspflege zum Schutze der hergebrachten Nutzung öffentlicher Bin­ nengewässer, öffentlicher Wege und des Privatbesitzes gegen Übergriffe Mächtiger. Die Prätoren bildeten dazu ein besonderes Mittel aus, die Interdikte (interdicta Verbote), so benannt nach dem häufigsten, in den meisten Interdikten enthaltenen Formelteil: Vim fieri veto (lch verbiete, -

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dass Gewalt geschieht) . So lautete das interdikt Ut via plIblica Damit auf öffentlicher Straße (Edictum perpetULl/l1 Tit. XXXXlJl : De interdictis. / 2 . - Ständiges Edikt Titel 43: Ü ber die Interdikte, 1 2. § 2 3 8 ) : Quo minus illi via publica itinereve publico ire agere liccat, vim fieri veto (leh verbiete, dass Gewalt geschieht [mit dem Erfolg] , dass jenem auf öffent­ licher Straße oder öffentlichem Weg zu gehen oder [Vieh] zu treiben nicht gestattet wird) . Oder das Interdikt Uti possidetis Wie ihr besitzet (De imerdictis, 2 / . § 247): Uti eas aeeles, qllibus de agitur, nec v i nec -

=

-

=

clam I1 CC precario alter ab altem possidetis qllo minus ita possideatis, (Wie ihr [jetzt] das Haus, um das es hier geht, weder vim fieri veto -

durch Gewalt noch heimlich noch auf Grund [bloßer] Bittleihe der eine vom anderen besitzet, dass l mit dem Erfolg L dass ihr nicht mehr so besitzet, Gewalt geschehe, verbiete ich). Der Prätor beschränkt sich also darauf, der Selbsthilfe des Betroffenen freie Bahn zu schaffen. Wird er vom Störer, gegen den der Betroffene ein Interdikt erwirkt hat, doch gehindert, so erlegte ursprünglich der Prätor in einem Schnellverfahren dem Zuwiderhandelnden ein kräftiges Zwangs­ geld auf, eine Verwaltungsbuße (nm/ta); in jüngerer Zeit wurde er in einem gleichfalls beschleunigten Nachverfahren, wenn er nicht noch im letzten Augenblick freiwillig den vorigen Zustand wiederherstellte, zu Schadensersatz in Geld verUl1eilt, und in der Regel noch mit allerhand zusätzlichen Kosten belastet. Diese Privatisierung des Besitzschutzes hängt vielleicht zusammen mit dem Übergang von einer älteren genos­ senschaftlichen Mitberechtigung am Ackerboden zum Privateigentum. Eine andere bedeutsame Neuerung der Prätoren ist mit der Entwicklung Roms vom Agrarstaat zur Welthandelsmacht in Verbindung zu bringen: der Schutz bestimmter formlos getroffener Abmachungen im Bereich des Wirtschaftens, insbesondere die Bewehrung formloser Kaufabreden mit Klagen unabhängig davon, ob schon begonnen worden war, das Geschäft zu vollziehen - die Konsensualverträge, wie im fünften und sechsten Kapitel (Abschnitt 4 bzw. 1) näher auszuführen. Außer Kauf sind allein kraft Konsenses verbindlich: Miete, Pacht, Selbtsverdingung, Werkver­ trag, Gesellschaft und Geschäftsführung für andere (Auftrag). Alle Konsensualverträge betreffen also Geschäfte des Wirtschaftslebens und müssen auf die Wirtschaft ennutigend und belebend zurückgewirkt, zumal den Rechtsverkehr mit AusHindern erleichtert haben. Denn die Verbindlichkeit formloser Zusagen bei diesen Geschäftstypen wird theo­ retisch noch auf andere Weise abgestützt. Es sei dies ius gentiul11 (Recht der Völker) , womit nicht etwa das heutige Völkerrecht, sondern allen

Prinzipat: Senatsbeschlüsse

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Kulturvölkern gemeinsame Rechtsvorstellungen gemeint sind. Und diese The0l1e ist für das Denken in Rom um so aufschlussreicher, als sie sich nicht verifizieren lässt; die hellenistischen Rechte z.B. erkannten formlo­ se Vertragsabschlüsse nicht als bindend an. All diese Neuerungen wurden zwar formell von den Prätoren eingeführt. Wären sie auch in der Sache der persönlichen Initiative der einzelnen Prätoren entsprungen, so hätte bei dem jährlichen Wechsel der Amtsträ­ ger ein ständiges Hin und Her und schließlich ein Durcheinander entste­ hen müssen. Je nach dem, welche Überzeugungen der zwar vom Volk gewählte, unter den schließlich zehn bis zwanzig Kollegen für die Zivil­ rechtspflege aber erst durch Los bestimmte Honoratiore mitbrachte, hätten die Rechtssuchenden in Rom jedes Jahr durch ein völlig neues Jahresedikt übetTaseht werden können. Dass es nicht so kam, liegt einmal an dem ausgeprägten Traditionalismus der Römer. Jeder neu gewählte Magistrat orientierte sich bei seiner Amtsführung zunächst an der seines Vorgängers, und so übernahm auch jeder neue Prätor in sein Jahresedikt zumindest den Grundbestand des Edikts seines Vorgängers, in der Regel sogar das Ganze ohne jede Änderung. Verhältnismäßig selten kam Neues hinzu oder wurden überkommene Bestimmungen gestrichen. Die Prätur war in der späten Republik nur ein Durchgangsstadium in der Ämter­ laufbahn, die Vorstufe für das vor allem angestrebte Konsulat. Und auch die wenigen Änderungen hatte der betreffende Prätor meist nicht etWa selbst ersonnen. Jeder mit einer öffentlichen Aufgabe Betraute pflegte sich in Rom mit Ratgebern zu umgeben, Prätoren naheliegenderweise mit Juristen. Änderungen und Neuerungen des prätorischen Edikts wer­ den in Wahrheit das Werk der Juristenzunft gewesen sein.

d) Senatsbeschliisse Ursprünglich ein Rat der Alten (sen es), nämlich der patrizischen Famili­ enhäupter, ergaben die Ständekämpfe, dass aus dem Senat endgültig eine Versammlung ehemaliger Amtsträger wurde. Am raschesten setzte sich durch, dass die Konsuln und Prätoren mit Ablauf ihres Amtes ausnahms­ los aufgenommen wurden. Seit dem 3. Jh. wurde das auch für die ehema­ ligen Ädilen üblich, und schließlich kamen die ehemaligen Volkstribu­ nen und Quästoren hinzu. All diese Ämter bis hin zum Konsulat über­ nahm man in relativ jungen Jahren. Erst 1 80 v.ehr. wurde durch die Lex Vellia al1l1alis ein Mindestalter und ein zweijähriges Intervall zwischen den einzelnen Stationen festgesetzt. Danach konnte man Ädil mit 37, Prätor mit 40 und Konsul mit 43 Jahren werden, was in der Kaiserzeit

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wieder unterschritten wurde. In der Republik, und gerade in ihrer Blüte­ zeit, war der Senat ein Hort von Erfahrung in Staatsführung und Staats­ verwaltung. Eine Versammlung von Königen nannte ihn Kineas, der Abgesandte von König Pyrrhus. Gab dieses Gremium einem aktiven Amtsträger eine Empfehlung, so konnte dieser die Autorität der Gesamt­ heit seiner Amtsvorgänger nicht wohl übergehen; praktisch war er an solche Ratschläge gebunden, auch wenn sie sich selbst nur ,Ratschlag des Senats (senatus consultul11 ) nannten, ihre Verbindlichkeit verfas­ sungsrechtlich nicht verankert war. "Ein Senatus consultum ist genau genommen lediglich ein Beratungsergebnis" (Schottlaender). Äußerlich wird dieses Konzept bis in die Ausdrucksweise hinein aufrechterhalten. In einem Senatsbeschluss erscheint kein Befehlswort; was der Senat will, wird zurückhaltend bis zur Unverständlichkeit formuliert. Ein Beispiel : �

Senatus consultum de philosophis et rhetoribus Gaio Fannio Strabone Marco Valerio Messala consulibus. Marcus Pomponius praetor senatum consuluit. Quod verba facta sunt de philosophis et rhetoribus, de ea re ita censuerunt: Ut Marcus Pomponius praetor animadverteret curaretyue, ut si ei e re publica fideque sua videretur, uti Romae ne essent. Senatsbeschluss über die Filosofen und Redekünstler Unter dem Konsulat von Gajus Fannius Strabo und Marcus Valerius Messala ( 1 6 1 v.Chr.). Der Prätor Marcus Pomponius hat den Senat um seine Meinung befragt. Was das anbetrifft, dass verhandelt worden ist über die Filosofen und Redekünst­ ler, dazu haben sie (die Senatoren) Folgendes gemeint: Dass der Prätor Marcus Pomponius Acht habe und Sorge trage, dass sie (die Filosofen etc.), wenn er meint, es sei dem Staate unzuträglich und nicht zu ver­ antworten, sich nicht in Rom aufhalten. =

Aber nicht nur konkrete Maßnahmen werden vom Senat empfohlen oder abgedeckt, sondern es gibt auch allgemeine, für eine unbestimmte Viel­ zahl von Fällen in alle Zukunft Geltung beanspruchende Empfehlungen: Senatus consultum Vellaeanum de intercessionibus feminarum Quod Marcus Iunius Silanus et Vellaeus Tutor consules verba fecerunt de obliga­ tionibus feminarum, quae pro aliis reae fierent, quid de ea re fieri oportet, de ea re ita censuerunt: Quod ad ji"deiussiones et mlltui dationes pro aliis qllibliS intercesserint feminae pertinet, tametsi ante videtur ita ius dictum esse, ne eo nomine ab his petitio sit neve in eas actio detur. cum eas virilibus officiis fungi et eius generis obligationi­ bus obs1l1ngi non sit aequum, arbitrm1 senatum recte atyue ordine factums ad quos de ea re in iure aditum erit, si dederint operam. ut in ea re senatus voluntas serve­ tur.

Prinzipat: Juristen

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Velläanischer Senatsbeschluss über das Eintreten (für fremde Schulden) von Frauen (54 oder 55 n.ehr.) Was das anbetrifft. dass die Konsuln Marcus Junius Silanus und Velläus Tutor vorgetragen haben über Verbindlichkeiten von Frauen, die für andere Schuldne­ rinnen werden, was in dieser Sache geschehen solle, dazu haben sie Folgendes gemeint: Was die Bürgschaften und Darlehnszahlungen fi/r andere, für die Frauen eintre­ ten, betrifft, obwohl nach dem Eindruck des Senats schon bisher in der Weise Recht gesprochen worden ist, dass deshalb gegen sie (die Frauen) kein Anspruch besteht und auch keine Klage gegeben wird, da es nicht richtig ist, dass sie Män­ nem zukommende Aufgaben versehen und in derlei Verbindlichkeiten verstrickt werden, meint der Senat, dass die, vor die eine solche Sache kommen wird, richtig und ordnungsgemäß handeln, wenn sie darauf hinwirken, dass der Wille des Senats in diesen Dingen gewahrt wird.

Präliminarien, Motivierung und Worte der Zurückhaltung decken die eigentliche Norm fast ganz zu: nur ein Fünftel des Textes (kursiv) gilt ihr. Von den Prätoren werden die Senatsbeschlüsse gehandhabt wie verfassungsmäßige Gesetze.

2. Prinzipat

a) Velfassungsschein und Velfassungswirklichkeit "Die römische Republik ist an ihren Erfolgen zugrundegegangen" sagte 2 Montesquieu 0 . Seit der Mitte des 2. Jhs . v.Chr. , als Rom die alles be­ herrschende Macht des Mittelmeerraums geworden war, jedoch immer noch als Stadtstaat regiert wurde, geriet die republikanische Verfassung in immer ernstere Schwierigkeiten. Die großen außenpolitischen Erfolge waren auf Kosten der bäuerlichen Mittelschicht erzielt worden, die, fast ständig unter Waffen, Haus und Hof vernachlässigen musste, sich ver­ schuldete, das Land endlich an einige wenige Großgrundbesitzer verlor, die dadurch auf die verbliebenen Freibauern immer mehr Druck ausüben konnten. Auf der andern Seite floß nach dem Erwerb reicher Provinzen mit großen Steueraufkommen viel Geld nach Rom, das vorher von den hellenistischen Herrschern kassiert worden war. Vor allem die Brüder Tiberius und Gajus Gracchus, die Begründer der politischen Gruppierung der Populm'en (,Volksfreunde' ) , die auch im Senat Anhänger und Sympathisanten hatten, versuchten, der immer 211

Zum Folgenden etwa Jürgen von Ungern-Sternberg, Weltreich u. Krise, Museum Helveticum 39 ( 1 982) 254-7 1 ; ders. , Hist. Ztschr. 266 ( 1 998) 607-24.

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Römische Verfassungs- und Rechtsgeschichte

krasser gewordenen Ungleichheit der Besitzverteilung in Italien entge­ genzuwirken. Doch die alte soziale Führungsschicht, die sich in der Partei der Optimaten (eigentlich ,die Besten ' , vgl. oi: äPLO'WL), der ei­ gentlichen Senatspartei organisierte, unterdrückte deren Initiativen schließlich mit Brachialgewalt und politischem Mord. Gerechtfertigt wurde das als innere Notstandsmaßnahme. Dazu sollte ein senatus con­ sultum ultimum (letzter Senatsbeschluss) ennächtigen, eine bisher unbe­ 2 kannte Einrichtung 1 • Die Optimaten begannen mit einer Politik der Beschwichtigung durch großzügige Verteilung von Brotspenden unter den in die Stadt gezogenen Verannten; das stadtrömische Volk fängt an, ein parasitäres Leben zu führen, was es bis in die Spätantike beibehalten 22 sollte . Mit ihrer ersten Niederlage zerstob die populare Bewegung aber nicht etwa, vielmehr gewann sie zwischendurch mehnnals die Wahlen, was jedoch keine politische Beruhigung mehr brachte, sondern zu immer extremeren Ausschlägen, immer schlimmeren Gewaltherrschaften nun auch von Seiten der anfangs betrotlenen Partei führte. Nach einer Schre­ ckensherrschaft der Popularen in den 80er Jahren v.Chr. , der sogar ein Quintus Mucius Skävola zum Opfer fiel, erlebte Rom im Jahr 82 den ersten Putsch: Sullas, eines Mannes der Rechten, Marsch auf Rom, der in die berüchtigtste, weil außer alle Kontrolle geratene Gewaltherrschaft mündete. Seither erlebte es Rom immer häufiger, dass große Heere nicht mehr dem Staat und seinen verfassungsmäßigen Repräsentanten Loyali­ tät bewiesen, sondern auf ihren Feldhenn persönlich eingeschworen waren, der auch seinerseits für seine Veteranen sorgte: vor Sulla schon Marius, und danach Pompejus, Cäsar, Mark Anton und schließlich Au­ gustus. Cäsar gelang es im 49 V . Chr. von ihm begonnenen Bürgerkrieg, sich zum faktisch unumschränkten Helm des Staates zu machen. Seine Ennordung am 1 5 . März 44, gedacht zur Wiederherstellung der Repu­ blik, brachte zur Überraschung der Verschwörer nicht den gewünschten Effekt. Die alte senatorisch-optimatische Partei bewies ihre Unterlegen21

Zum politischen und geistigen Hintergrund der Auseinandersetzung s. Okko Behrends, in: Das Profil des Juristen in der europ. Tradition, hrsg. v. Klaus Luig u. Verf. (Ebelsbach 1 980) 25 - 1 2 1 . 22 Dazu Marina Elisabeth Pfeffer, Einrichtungen der sozialen S icherung in der griech. und röm. Antike (Berlin 1 969) 1 28-40; ferner Hans K1oft, Liberalitas principis (Köln 1 970) . Zur Rolle der hauptstädtischen Plebs beim Übergang von der Republik zur Monarchie Zvi Yavetz, Plebs and princeps (Oxford 1 969) u. dazu Jochen B leicken, SZ 87 ( 1 970) 5 1 0- 1 3 .

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heit den kommenden Kräften gegenüber rasch, während der Kampf zwischen den sich entzweienden Cäsarianem über 1 0 Jahre dauerte. Aus ihm ging schließlich Augustus, ein Großneffe Cäsars vom Lande, sieg­ reich hervor. Er lässt sich des Onkels Ende eine Lehre sein, dessen un­ verhohlener Wunsch nach einer offen monarchischen Stellung Assoziati­ onen an die heroische Zeit der Gründung der Republik hervorgerufen und dadurch erst die Zahl seiner Gegner zu einer beachtlichen Fraktion hatte anwachsen lassen. So hält zwar Augustus alle durch seinen endgül­ tigen militärischen S ieg errungene Macht im Staate weiterhin unge­ schmälert in Händen, hat dabei aber geschickt verstanden, den Anschein zu erwecken, als habe er sie Senat und Volk zmückgegeben, die Repu­ blik wiederhergestellt. Deklarierte und praktizierte Verfassung treten auseinander. Lassen wir den Schöpfer dieser Verfassung zu Wort kom­ men und halten wir dem die damalige Wirklichkeit gegenüber: Res gestae divi Augusti ("Meine Taten" von dem göttlichen Augustus) Caput I: Annos undeviginti natus exercitum pl1vato consilio et privata impensa comparavi, per quem rem publicam a dominatione factionis oppressam in liberta­ tem vindicavi. Kap. 1 : Im Alter von 19 Jahren habe ich als Privatmann aus eigenem Entschluss und mit eigenen Mitteln ein Heer aufgestellt, mit dessen Hilfe ich den der Will­ kürheITSchaft einer Clique ausgelieferten Staat wieder in die Freiheit gefühlt habe.

In Wirklichkeit hatte Augustus sein Heer dem Senat zur Verfügung gestellt, um damit gegen den nur kurz republikanische Gesinnung zur Schau tragenden Mark Anton zu ziehen, gegen den ein senatus con­ sultum ultimum ergangen war; in diesen Wochen hielt Cicero, der zur Senatspartei gehörte, seine "Philippischen" Reden (in Erinnerung an Demosthenes' Aufstachelung der Athener zum Widerstand gegen Phi­ lipp von Mazedonien) . Der Senat, in dem die Verschwörer herrschten, verlieh Augustus proprätorisches Imperium, die Befehlsgewalt eines Prätors, und vertraute ihm gemeinsam mit den Konsuln, die natürlich gleichfalls der Senatspartei angehörten, das Heer an, das den im Norden Italiens operierenden Mark Anton verfolgen sollte. In der Schlacht fallen beide Konsuln, Mark Anton entkommt. Augustus ist nun alleiniger O­ berbefehlshaber des senatorischen Heeres. Er kehrt nach Rom zurück, lässt sich zum Konsul nachwählen und mit der Verfolgung von Mark Anton beauftragen. In Gallien angekommen, verbündet er sich mit ihm. Es entsteht das zweite Triumvirat. Die in Rom weilenden Parteigänger der Verschwörer, darunter Cicero, werden zur Tötung freigegeben; an Widerstand ist nicht zu denken. Die mit einem zweiten senatorischen

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Heer in Griechenland stehenden Verschwörer Brutus und Cassius wer­ den von Mark Anton geschlagen, eine Schlacht, in der Augustus eine sehr bescheidene um nicht zu sagen klägliche Rolle spielte. Caput V : Dictaturam et absenti et praesenti mihi delatam et a populo et a senatu M. Marcello et L. Arruntio consulibus non recepi . . . Consulatum quoque turn annuum et perpetuum mihi delatum non recepi. Kap. 5: Die Diktatur, die mir in Abwesenheit und anwesend sowohl vom Volk als auch vom Senat im Jahre 22 v.Chr. angetragen wurde, habe ich nicht angenom­ men . . . Auch das mir damals angetragene jährliche Konsulat auf Lebenszeit habe ich nicht angenommen.

Augustus bezieht sich auf ein Ereignis des Jahres 22 v.Chr. , als in Rom die Pest wütete, während er im Orient beschäftigt war. Eine Annahme der Diktatur hätte Erinnerungen an Sulla und Cäsar wachgerufen und republikanische Gefühle verletzt, und nicht viel geschickter wäre ein lebenslängliches Konsulat gewesen. Caput VI: Consulibus Marco Vicinio et Quinto Lucretio et postea Publio Lentulo et Cnaeo Lentulo et tertium Paulo Fabio Maximo et Quinto Tuberone senatu populoque Romano consentientibus ut curator legum et morum maxima potestate solus crearer, nullum magistratum contra morem maiorum delatum recepi. Quae turn per me geri senatus voluit, per tribuniciam potestatem perfeci, cuius potestatis conlegam et ipse ultro quinquies a senatu depoposci et accepi. Kap. 6: Als im Jahre 19 v .Chr. und dann 18 V.Chr. und zum dritten Mal 1 1 v .Chr. Senat und Volk von Rom einhellig meine Bestellung zum alleinigen, mit außeror­ dentlicher Vollmacht ausgestatteten Refonner der Gesetze und Sitten betrieben, habe ich es strikt abgelehnt, ein Amt zu übernehmen, das im Widerspruch zum Herkommen unserer Vorfahren steht. Was der Senat damals von mir besorgt wissen wollte, habe ich kraft meiner tlibunizischen Gewalt durchgeführt. Für diese habe ich selbst fünfmal einen Amtskollegen erbeten und erhalten.

Auch eine cum legum et morum (Sondervollmacht zur Neuordnung der Gesetze und Sitten) hätte vennutlich republikanische Gefühle verletzt, jedenfalls wäre sie ohne jedes Vorbild gewesen. Übrigens berichten, entgegen dieser Quelle, die Geschichtsschreiber Sl.leton am Anfang des 2. und Cassius Dio Anfang des 3. Jhs. n. Chr. , Augustus habe diese Voll­ macht angenommen. Wahrscheinlich hat er sie nur der Fonn nach, nicht auch in der Sache abgelehnt. Das Volkstribunat oder besser die Befugnis eines Volkstribunen hatten fortan alle Kaiser inne, ja nach ihr zählten sie ihre Regierungsjahre. Die von Augustus erwähnten Kollegen waren sein Schwiegersohn Agrippa, der Nachfolger werden sollte, aber vorzeitig starb; und danach sein Stiefsohn Tiberius, den zu seinem Nachfolger zu

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machen dem ersten Augustus ja auch gelungen ist. Von Respekt vor dem republikanischen Prinzip der Kollegialität kann bei diesen Ernennungen also keine Rede sein. Caput VII: Triumvirum rei publicae constituendae fui per continuos annos decem. Princeps senatus fui usque ad eum diem, quo scripseram haec, per annos quadra­ ginta. Caput XXXI IlI: In consulatu sexta et septimo postquam bella civilia extinxeram, per consensum universorum potitus rerum omnium, rem publicam ex mea potesta­ te in senatus populique Romani arbitrium transtuli. Quo pro merito meo senatus consulto Augustus appellatus sum . . . Post id tempus auctoritate omnibus praestiti, potestatis autem nihilo amplius habui quam cete,; qui mihi quoque in magistratu conlegae fuerun!. Kap. 7: Mitglied des Dreierkollegiums zur Neuordnung des Staates war ich zehn Jahre lang ohne Unterbrechung. Ranghöchster des Senats war ich bis zu dem Tag, an dem ich dies niederschreibe, vierzig Jahre lang. Kap. 34: In einem sechsten und siebenten Konsulat (28 u. 27 v .Chr.) , nachdem ich die Bürgerkriege ausgemerzt hatte, habe ich, der ich mit Zustimmung aller die höchste Gewalt erlangt hatte, meine Machtfülle im Staate wieder der freien Ent­ scheidung des Senats und des römischen Volks übergeben. Für dieses mein Ver­ dienst bin ich durch Senats beschluss Augustus genannt worden. Danach überragte ich zwar alle an Ansehen. Macht aber besitze ich seitdem nicht mehr als die andem, die meine Kollegen in irgendeinem Amt waren oder noch sind.

Das im Herbst 43 v.Chr. beschlossene sogenannte Zweite Triumvirat zwischen Augustus, Mark Anton und Lepidus ließen diese, nunmehr Herren Italiens und des Westens, durch Volkswahl legalisieren und dabei auf fünf Jahre, bis zum 3 1 . Dezember 38 festsetzen; nach Ablauf dieser Frist wurde es noch einmal um weitere 5 Jahre, also bis 3 1 . Dezember 3 3 verlängert. A l s diese Frist ablief, befand sich Augustus mitten im Ent­ scheidungskampf gegen den inzwischen mit ihm verfeindeten Mark Anton; Lepidus hatte er schon vorher ausgeschaltet. Von Gesetzes wegen hätte Augustus nun am 1 . Jan. 32 alle Macht niederlegen müssen; legale Kompetenzen hatte er keine mehr, da er sich auch nicht zum Konsul oder sonst einem Magistrat hatte wählen lassen. Natürlich herrschte er trotz­ dem weiter und bereitete den Krieg mit Mark Anton vor, hob neue Trup­ pen aus usw . , de jure Hochverrat (crimen laesae maiestatis). Fünf Jahre später allerdings, nachdem der Kampf gegen Mark Anton gewonnen und auch die letzten Widerstandsnester im Westen ausgehoben waren, insze­ nierte Augustus tatsächlich eine feierliche Niederlegung aller außeror­ dentlichen Befugnisse. Fortan hatte er im Wesentlichen nur mehr ordent­ liche republikanische Befugnisse inne, indessen stets mehrere zugleich

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und bei den wichtigsten Jahr für Jahr wiederholt, was beides dem Geist der republikanischen Verfassung zuwiderlief, ihn gerade nicht seinen vielen wechselnden Kollegen im Amt gleichstellte. Die wichtigste dieser Befugnisse verschweigt Augustus in Kapitel 34 freilich: das imperium proconsulare (Befehlsgewalt eines Prokonsuls) über alle angeblich noch nicht befriedeten Provinzen, d.h. alle Provinzen, in denen Militär stand. Durch diese Befugnis hatte er den Oberbefehl über alle römischen Truppen, nach über hundert Jahren Bürgerkrieg der wichtigste Machtfaktor. Wollte Augustus sich in Rom und Italien ohne offene Gewaltherrschaft behaupten, so durfte er diesen Punkt tunliehst nicht hervorkehren. Vielmehr führte er seine unleugbar herausragende Stellung im Staate auf ein vergleichsweise harmloses, althergebrachtes republikanisches Vorrecht zurück: die ihm zwei Tage nach seinem Rück­ tritt in einer wohlvorbereiteten Sitzung des Senats durch Akklamation, nicht durch Abstimmung zugesprochene Stellung eines princeps senatus (Erster des Senats) , etwa der Stellung eines Mehrheitsführers im Parla­ ment heute entsprechend. Bei Beratungen hatte der Prinzeps als erster das Wort, er konnte außerordentliche Sitzungen einberufen und schrift­ lich Anträge einbringen. Diesen an sich nur auf den Senat bezogenen Titel gebrauchte Augustus später auch ohne Zusatz, wodurch er sich als der Erste im Staate bezeichnete. Und bis in die Spätantike hinein blieb das Wort princeps die häufigste Bezeichnung für den Kaiser. Mit diesem Tenninus grenzte Augustus seine Regierungsform von Königtum und Diktatur sichtbar ab, wie er sich auch, jedenfalls in Rom, die Anrede dominus (Herr) verbat. So gab der Kurztitel princeps der römischen Regierungsform der ersten drei Jahrhundelte nach Cäsar den Namen: Prinzipat. In jener Senatssitzung vom 1 6. Januar 27 v.Chr. erhielt Augus­ tus auch den Beinamen, unter dem wir ihn heute noch benennen, eigent­ lich ,der Erhabene ' , welcher Name neben Imperator, eigentlich der Sie­ gemame des Triumfators, und Caesar, welchen Namen Augustus von seinem Großonkel durch eine rechtlich nicht einwandfreie Adoption geerbt hatte, zur ständigen Titulatur der Kaiser wurde : Imperator Caesar

Augustus. Augustus hat sein Doppelspiel meisterhaft zu Ende geführt, ohne sich während der ganzen 57 Jahre von Cäsars bis zu seinem eigenen Tod eine Blöße zu geben. Erst auf seinem Sterbebett soll er haben durchblicken lassen, was in Wahrheit gespielt wurde, indem er den traditionellen, am Schluss eines Theaterstücks von einem Schauspieler an das Publikum gerichteten Spruch: "Hat das Ganze euch gefallen, nun so klatschet un-

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serm Spiel" (auf griechisch) hersagte und die zu ihm eingelassenen Freunde fragte, ob er das Schauspiel des Lebens gut gespielt habe23 . Diese Regierungsform juristisch aufzubereiten war nahezu unmöglich. Die alten republikanischen Verfassungsorgane sollten nicht nur fortbe­ stehen, sondern Augustus hatte ja behauptet, sie sogar wiederhergestellt zu haben. Tatsächlich aber mussten sie verkümmern. Die Volksver­ sammlung wird nur noch selten, nach Augustus nur mehr zur Legitimie­ rung eines neuen Kaisers einberufen. Im Senat fällt kein offenes Wort mehr, doppelbödiges Argumentieren bürgert sich ein, wie folgender Bericht beleuchtet: Sueton, De vita Caesarum, Augustus cap. XXXVII Exegit etiam, ut, quotiens consulatus sibi daretur, binos pro singulis collegas haberet, nec optinuit, reclamantibus cunctis satis maiestatem eins imminui, quod honorem eum non solum sed cum altera gereret. Sueton, Kaiserbiografien, Augustus Kap. 37 a. E Er forderte auch, dass er jedesmal. wenn ihm das Konsulat übertragen würde, statt eines Kollegen zwei erhalte: doch setzte er sich damit nicht durch, da alle dagegen einwandten. seine Hoheit werde schon dadurch genug beeinträchtigt, dass er dieses Amt nicht allein, sondern zusammen mit einem zweiten bekleide.

Man belog sich gegenseitig. Je mehr Konsuln neben Augustus amtierten, um so weniger würden sie neben ihm zu sagen haben, und das scheinen die Senatoren verstanden zu haben. Ihre Ablehnung des kaiserlichen Vorschlags begründen sie jedoch mit vorgeblicher Sorge um die Hoheit des Antragstellers. Im Senat geht aber der äußere Betrieb weiter. Senatsbeschlüsse gibt es bis in die späteste Zeit; einen selbständigen politischen Willen der Sena­ toren drücken sie aber nicht mehr aus. Nur noch Vorlagen des Kaisers oder seiner Mittelsmänner werden beschlossen. Schließlich übergeht man auch die Zeremonien der Beschlussfassung und lassen es die Juristen genügen, wenn der Kaiser seinen Antrag im Senat verlesen oder auch verlesen lassen hat; sie nennen die Senatsbeschlüsse seit dem späten 2. Jh. orationes AUfiusti (Reden des Kaisers [an den Senat] ). Auch die Rechtsfortbildung der Magistrate durch Fortentwicklung ihrer lahresedikte geht mehr und mehr zurück. Änderungen werden immer seltener und geringfügiger. 1 3 1 n. Cht'. greift dann der Kaiser unmittelbar ein. Hadrian lässt das prätorische Edikt endgültig redigieren und das

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Sueton, De vita Caesarum, Augustus 99, l .

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Ergebnis vom Senat bestätigen. Dabei wurde für den Fall von Rege­ lungslücken folgendermaßen vorgesorgt: Oratio Hadriani de compositione edicti (s. Const. Tanta § 1 8 a. E.) Si quid in edicto positum non invenitur, ad eius regulas eiusque coniecturas et imitationes possit nova instruere auctoritas. Rede Hadrians (an den Senat) über die Abfassung des Edikts Wenn sich etwas im Edikt nicht geregelt findet. kann gemäß seinen Wertungen, seinem mutmaßlichen Urteil und in Analogie zu ihm die Autorität (des Gerichts­ magistrats) Neues einführen.

Noch autoritärer sollte die Regelung der Rechtsfortbildung durch Justin­ ian sein, dem wir die Nachricht über Hadrian verdanken. Und auch das darin noch dem Absolutismus verhaftete preußische Allgemeine Land­ recht von 1794 überlässt Ergänzung und Weiterentwicklung des soeben 24 kodifizierten Rechts nicht dem Zufall, sondern bestimmt : Einleitung �� 49-5 1 : Findet der Richter kein Gesetz, welches zur Entscheidung des streitigen Falles dienen könnte, so muß er zwar nach den in dem Gesetzbuche angenommenen allgemeinen Grundsätzen und nach den wegen ähnlicher Fälle vorhandenen Verordnungen seiner besten Einsicht gemäß erkelmen. Er muß aber zugleich diesen vermeintlichen Mangel der Gesetze dem Chef der Justiz sofort anzeigen. Sollte durch dergleichen Anzeige in der Folge ein neues Gesetz veraniaßt werden, so kann dasselbe doch auf die vorher schon gültig vollzogenen Handlungen kei­ nen Einfluss haben.

Auch das schweizerische Zivilgesetzbuch vom 1 0. Dezember 1 907 stellt Richtlinien auf, wie sich der Richter bei Gesetzeslücken verhalten soll: Art. l Abs. 2 u. 3 : Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, s o soll der Richter nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt. nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. Er folgt dabei bewählter Lehre und Überlie­ ferung.

Das BGB hat sich einer Regelung dieser Frage bewusst enthalten und sie in liberalem Geist der Wissenschaft überlassen. Und in der Tat musste diese den in solchen Anweisungen steckenden naiven Optimismus stets enttäuschen, als sei ein Normgefüge, ein System von Wertungen beliebig 24 Zum Folgenden: Clausdieter Schott, "Rechtsgrundsätze" und Gesetzeskor­ rektur. Ein Beitrag zur Geschichte gesetzlicher Rechtsfindungsregeln (Berlin 1 97 5 ) ; s . a. Lex Burgundionum, prima constitutio 4 u. 1 0.

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fortschreibbar, könne die schlichte Anknüpfung an das Bestehende die Kriterien für die Lösung noch nicht entschiedener, womöglich noch nicht einmal bewusst gewordener, später auftauchender Wertungsfragen lie­ fern. Aber es ist verständlich, wenn der Schöpfer eines großen Werks, der eine Kodifikation entlassende Gesetzgeber, die Bedeutung seines Werks für zukünftige Generationen überschätzend, sein Werk für ab­ schließend hält, welcher Versuchung vor allem autoritäre Gesetzgeber erliegen.

b) Die Juristen25 Unter Augustus trugen mehrere der angesehensten Juristen republikani­ sche Gesinnung zur Schau, ohne dem Prinzeps dadurch politisch gefähr­ lich zu werden. Augustus nimmt das hin. Die Juristen beschäftigten sich ohnehin kaum mehr mit dem politisch womöglich brisanten Staatsrecht. Ohnehin war das öffentliche Recht nie in gleichem Umfang wie das Privatrecht literarisch gepflegt worden; das Kollegium der Auguren hatte mit seiner Wissenschaft ganz anders als das Pontifikalkollegium fast bis zum Ende der Republik die Publizität gemieden. Doch wurden im späte­ ren 2. Jh. v.Chr. die Allgemeinheit bewegende Fragen des öffentlichen Rechts wie umstrittene völkerrechtliche Verträge, Bürgerrechtsfragen oder die Befugnisse der Konsuln auch öffentlich erörtert. Und seit dem Ausbruch der über hundert Jahre andauernden römischen Revolution 1 3 3 v.Chr. mit ihrem Wechsel von senatorischem Notstandsregiment und popularer Anarchie erschien eine Fülle öffentlichrechtlicher Monogra­ fien, die indessen richtiger populare bzw. optimatische Parteischriften zu nennen sind26 • Wie wenig die Staatspraxis sich tatsächlich noch von rechtlichen Erwägungen leiten ließ, beleuchtet ein im ersten Revolutions­ jahr gefallener Ausspruch des gewesenen Konsuls und amtierenden Oberpontifex Publius Cornelius Scipio Nasica Serapio, des Hauptes der Reaktion: Consul dum iuris ordinem sequitur, id agit, ut cum omnibus legibus Romanum imperium corruat Wenn der Konsul sich an die Verfassung hält, bewirkt er, dass er den römischen Staat mit der ganzen Rechtsordnung niederreißt, (Valerius Maximus 3, 2, 1 7 ) . Und Publius -

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Dazu Wieacker, Augustus und die Juristen seiner Zeit, TR 37 ( 1 969) 3 3 1 -49; wieder Fritz Schulz (oben Fußn. l l ) 1 1 7-334; u . meine Beiträge im Handbuch der lat.Lit der Antike (München 1 989 ff.) . 26 Mario Bretone, Pensiero politico e diritto publico, in: ders . , Tecniche e ideologie dei giuristi romani (Neapel 1 97 1 ) 3 -7 1 .

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Mucius Skävola, der getaldete amtierende Konsul, später Serapios Nach­ folger als Pontifex maximus, der angesehenste Jurist jener Jahre, focht im Senat, als dort die Notstandsmaßnahmen gegen Tiberius Gracchus bera­ ten wurden, zwar gegen ein Ermächtigungsgesetz für Mord und Tot­ schlag; das geforderte scnatusconsliltum ultimum sei rechtlich unzulässig. Nach geschehener Gewalttat rechtfertigt er sie aber auch juristisch. Der Beruf des Juristen war zum Mittel sozialen Aufstiegs geworden, seine Repräsentanten hatten kein eigenes politisches Gewicht. Ihre auctoritas reichte nicht, um politische Sturzbäche zu lenken. Unter den Juristen der beginnenden Monarchie, die die neue Staatsform noch offen ablehnen, ist Labeo der wissenschaftlich bedeutendste. Sein Vater hatte zu den Verschwörern gegen Cäsar gehört und war als Unter­ feldherr des Brutus gefallen. Trotzdem beruft Augustus den Sohn in die Kommission zur Erneuerung des Senats, wo Labeo den mit Augustus entzweiten, gestürzten und gedemütigten Triumvirn Lepidus vorschlägt. Politisch harmlosen Eigensinn bezeugt auch seine Weigerung, einer Ladung der Volkstribunen zur Untersuchung einer bei diesen gegen ihn erhobenen Beschwerde Folge zu leisten, wofür er sich auf altes republi­ kanisches Staatsrecht beruft, wonach die Volkstribunen zwar zur Fest­ nahme (prcnsio), nicht aber zur Ladung (l'Ocatio) befugt waren. Wie wenig dahinter eine organisierte Opposition, eine geschlossene Gruppe stand, wird daran deutlich, dass sowohl Labeos Lehrer, Trebaz, zur Ge­ folgschaft Cäsars gehört hatte und diese Bindung auf Augustus übertrug, als auch Labeos größter Schüler, Cocceius Nerva, mit Kaiser Tiberius persönlich befreundet war. In der Geschichte der römischen Jurisprudenz bezeichnet der Name Labeo einen großartigen Neubeginn, der das nächste Jahrhundert ganz beherrscht und bis zum Ende der freien römischen Jurisprudenz zwei Jahrhunderte später auf Schritt und Tritt begegnet. Labeo war nicht mehr in erster Linie Persönlichkeit des öffentlichen Lebens mit großer Respondierpraxis als Sprungbrett für Wahleliolge und sozialen Aufstieg, sondern lebte ganz Forschung und Lehre. Er war beschlagen in den griechischen Künsten der Filosofie und zumal der Sprachwissenschaft; auch die Altertümer hatte er studiert. Der Umfang seiner literarischen Hinterlassenschaft war enorm. Sein großer Ediktkommentar, dreißigmal so stark wie der erste von Servius, initiierte die Entwicklung dieser Lite­ raturgattung zum unentbehrlichen Nachschlagewerk, das sie in spätklas­ sischer Zeit werden sollte. Sein (Schülers-'?) Schüler Proculus kreierte, offenbar angeregt durch die Edition der Briefe Ciceros, die jUlistische

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Briefsammlung (Libri epistularum), die sich ein Jahrhundert lang großer Beliebtheit erfreuen sollte. Sie bot Gelegenheit, in besonders freier Weise auf juristische Probleme einzugehen, theoretische Fragen abzuhandeln und wieder Fälle nunmehr ausführlich mitsamt Variationen und Digres­ sionen zu erörtern. Labeos Pithana (Einsichten) knüpften an griechische literarische Tradition an. Zusammen soll Labeo rund 400 libri, (Buchrol­ len, ein liber entspricht 30 bis 40 heutigen Druckseiten) geschrieben haben. Auch unter den Juristen gab es Parteigänger Cäsars, die ihre Loyalität später auf Augustus übertrugen. Bezeichnenderweise sind das jedoch alles Leute unterhalb des Amtsadels: Ofilius, der aus dem Ritterstand kam und trotz hohen Alters auch unter Augustus nicht in den Senatoren­ stand aufrückte; Alfenus Varus, Sohn eines Schuhmachers aus Cremona, also einfacher Herkunft, der seinen Aufstieg bis in die oberen Ränge des Senats nicht ohne die Mithilfe seines mächtigen Gönners erlangt hat; und, weitere Namen hier beiseitegelassen, der schon erwähnte Trebaz, der gleichfalls im Ritterstand verbleiben sollte, wenngleich er in hohem Alter unter den juristischen Ratgebern von Augustus höchste Autorität genoss. Die Parteigänger der neuen Ordnung und ihre Opponenten sind bei des Übergangserscheinungen. Im 1 . Jh. beginnt sich ein neuer Juristentyp herauszubilden, Juristen, die in kaiserlichen Diensten Karriere machen. Einer der ersten ist Atejus Capito, von Tacitus zum karakterlosen Günst­ ling gestempelt (Annalen 3, 70) : L. Ennium equitem Romanum, maiestatis postulatum quod effigiem principis promiscum ad usum argenti vertisset, recipi Caesar inter reos vetuit, palam asper­ nante Ateio Capitone quasi per libeltatem. Non enim debere eripi patribus vim statuendi neque tantum maleficium impune habendum. Sane lentus in suo dolore esset; rei publicae iniurias ne largiretur. Intellexit haec Tiberius, ut erant magis quam ut dicabantur, perstititque intercedere. Capito insignitior infamia fuit quod humani divinique iuris sciens egregium publicum et bonas domi artes dehonesta­ visset. Den römischen Ritter Lucius Ennius. der Majestätsverletzung beschuldigt, weil er ein Kaiserbildnis eingeschmolzen und Geschin für den Hausgebrauch hatte ma­ chen lassen, verbot Tiberius anzuklagen, was Atejus Capito unter der Maske des Freimuts öffentlich rügte. Den Senatoren dürt'e nämlich die Jurisdiktion nicht entzogen werden noch dürfe ein so schweres Verbrechen ungesühnt bleiben. Er sei in seinem Schmerz allzu mild. Dem Staat zugefügte Beleidigungen dürfe er niemandem schenken. Tiberius durchschaute sehr wohl, dass hier mehr im Spiel war als ausgesprochen wurde, und bestand auf seiner Einstellung des Verfahrens. Capitos Schamlosigkeit war um so bezeichnender, als er, ein Kenner des mensch-

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lichen und göttlichen Rechts, dadurch eine wichtige öffentliche Einrichtung und im privaten Bereich segensreiche Profession entehrt hatte,

Coccejus Nerva gehörte sogar zum engsten Freundeskreis des zweiten Augustus. Masurius Sabinus, aus armen Verhältnissen, machte seinen Weg als Rechtslehrer. Seine gedrängte Darstellung des Privatrechts (luris civilis lihri III) sollte ihn für alle Zeit berühmt machen, und dank kaiser­ licher Protektion konnte er am Ende auch eine bescheidene Gutachtertä­ tigkeit beginnen. Gajus Cassius Longinus schließlich, ein Urenkel des Cäsannörders, war unter Caligula und Claudius Provinzstatthalter von Asien und dann von Syrien und wirkte noch unter Vespasian. Aber noch auf eine andere Weise versuchte schon Augustus, die Juris­ prudenz zu zähmen und an den Kaiser zu binden. Die freie öffentliche Gutachtertätigkeit der Juristen (publice respondere) war in der Republik eine Möglichkeit gewesen, öffentliches Ansehen zu erwerben. Augustus wagte nicht, diese Institution geradewegs zu beseitigen; er beginnt aber, sie zu untergraben. Einzelnen ausgewählten, ihm besonders ergebenen Juristen gewährt er ein sogenanntes ius respondendi ex auctoritate prin­ cipis (Recht, auf Empfehlung des Kaisers Rechtsbescheide zu geben) 27 . Die Gutachten dieser Ausgezeichneten sollten also durch die zusätzliche Autorität des Prinzeps aufgewertet werden, eine scheinbar niemandem etwas nehmende Maßnahme. Ein gutes Jahrhundert später ist es aber so weit, dass Kaiser Hadrian etwa l 30 n.Chr. bestimmt (Gajus, Inst. 1 ,7), die Gerichte hätten einem solchen Rechtsbescheid zu folgen, wenn kein abweichender Rechtsbescheid eines anderen Juristen mit derselben Aus­ zeichnung vorliegt. Von da an konnten mit dem ius respondendi nicht beliehene Juristen sich als Rechtsgutachter in Rom sinnvollerweise nur noch bei Fragen betätigen, zu denen sich noch kein kaiserlich patentierter Jurist geäußert hatte. M.a.W. wer sich jetzt als lurist durchsetzen wollte, musste das ius respondendi haben. Ohne das Patent Autorität zu erlan­ gen, glückte in Rom nur ganz wenigen, doch scheint es sie gegeben zu haben. Anscheinend ist der gründliche und fleißige Pomponius, der unter 27

Seine gen aue B edeutung ist umstritten. M. E. zu etatistisch und der römi­ schen Aristokratie zu günstig Wolfgang Kunkel, Das Wesen des ius respon­ dendi, SZ 66 ( 1 948) 423-57; u. ders. , Herkunft und soziale Stellung der röm. Juristen (Weimar 1 95 2 , um Druckfehler bereinigte Nachdrucke Köln 1 967 und 200 1 ) 272-89 (angesichts der wichtigsten, obwohl nicht widerspruchsfreien Quelle: Dig. 1 , 2, 2 §§ 48-50, gewagt) u. 3 1 8-23. Andererseits wird Wieacker, Respondere ex auctoritate principis, in: S atura Roberto Feenstra (Frei­ burg/Schweiz 1 985) 7 1 -94, dem Gegenwartsbezug dieser Quelle nicht gerecht.

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anderem einen etwa 1 50 Buchrollen umfassenden Ediktkommentar geschrieben hat, solch ein Fall. Der Kaiser organisiert auch die Juristenausbildung. In der Republik wurde man Rechtskundiger, indem man sich einem anerkannten Juristen anschloß. Dieser patronalen Fortpflanzung des Juristenstandes, oft inner­ halb der Familie, begegnet der Kaiser auf indirektem Weg. Er sorgt für öffentliche Gebäude mit Bibliotheken, sog. stationes ius puhlice docenti­ um aut respondentium (Stätten der das Recht öffentlich Lehrenden oder [Rechts unkundige 1 Bescheidenden), in denen sich Unterweisung und Gutachtertätigkeit konzentIierten. 1m 1. Jh. n.Chr. bildeten sich zwei Gruppierungen: die Schulen der Sabinianer bzw. Cassianer und die der Prokulianer, zmückgehend auf Masurius Sabinus bzw. seinen Schüler Gajus Cassius Longinus und auf Sempronius Proculus, wie Cassius Mitte des 1. Jhs . Ähnlich wie die gIiechischen Filosofenschulen scheinen auch die Rechtsschulen feste Lokale gehabt zu haben und kennen wir die Schulhäupter jedenfalls für das 1 . Jh. ihres Bestehens. Dem äußeren Wettstreit entsprachen verschiedene Grundauffassungen, Rechtswissen­ schaft zu betreiben. Labeo und die Prokulianer waren methodenbewuss­ ter: ihre Ergebnisse sind sicherer ableitbar. Die Teilsysteme, innerhalb deren sich die Argumentation zu bestimmten Problemfeldern bewegt, greifen \\ eiter aus als bei den S abinianern, welche eingefahrenen Lösun­ gen. aber auch neuen wiI1schaftlichen und sozialen Bedürfnissen eher entgegenkommen, mögen dadurch die logischen Teilsysteme, innerhalb deren die Rechtssätze eindeutig ableitbar sind, auch kleiner, das Ganze weniger fest sein 2� . Im 2. Jh. verzweigen sich diese Schulen. Mittlerweilen war die Verbindung von Rechtskunst und Reichsämtern in kaiserlichen Diensten selbstverst lindlich geworden29 . Fast alle bedeuten­ den Juristen treffen wir in der Provinzial- und Zentralverwaltung an. Bis zum Ende des JahrhundeI1s gehÖt1e dazu auch der Aufstieg in den Senat, ob der Betreffende bereits senatorischer Abkunft war, geringeren Standes oder gar gebÜI1iger Nichtrömer. Peregrine. Diese Reichsjuristen, die nicht mehr nur für Stadtrom und allenfalls Italien wirkten, zeichneten sich weniger durch Schriftstellerei aus; ihr literaIisches Werk besteht vor allem aus kasuistischen Schriften, insbesondere Responsensammlungen. Neben diesen JuIisten gab es eine kleinere Gruppe akademisch ausge­ richteter VeItreter ohne Anteil an der Reichsverwaltung, dafür aber schIiftstellerisch besonders produktiv, für welche Gruppe der schon 28 29

Verf. , Rechtsschulen. in: ANRW II 1 5 ( 1 976) 1 97-286 . , bes. 275-82. Zum Folgenden Kunkel, Herkunft (soeben Fußn. 27), bes. 290-304.

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genannte Pomponius steht, bei dem wir auch erstmals von einem ausge­ sprochenen Anfängerlehrbuch hören. Es hat den Titel enchiridium (nach griechisch eYXELp(ÖLOV ,Handbüchlein' ) , war dementsprechend schmal (ein oder zwei libri) und hat offenbar das wenige Jahre zuvor erschienene beliebte Handbüchlein des zunächst in Rom und dann im nahen Epirus wirkenden stoischen Filosofen Epiktet zum Vorbild. Anscheinend gehör­ te Pomponius der sabinianischen Rechtsschule an, spielte dort aber of­ fenbar eine bescheidene Rolle; Schulhäupter waren die angesehenen Reichsjuristen, zur Zeit des Pomponius bei den Sabinianem Julian und bei den Prokulianem Celsus. Schon der Vater des Publius Juventius Celsus, Celsus pater, hatte der prokulianischen Rechtsschule vorgestanden und gehörte wohl auch schon dem Senatorenstand an, wenn er auch nicht in der Liste der über­ liefe11en Höchstmagistrate erscheint. Der Sohn wurde 1 06 n.Chr. Prätor, 1 1 4 Statthalter von Thrakien im heutigen Bulgarien, 1 1 5 zum erstenmal und 1 29 zum zweitenmal Konsul; im Amtsjahr 1 29/30 war er dann Pro­ konsul der wichtigen Provinz Asien. Kaiser Hadrian suchte seinen juristi­ schen Rat. Die prokulianische Rechtsschule führte er neben Neraz. Sein Hauptwerk heißt Digesta (Geordnetes), nach Sachgebieten geordnete Kasuistik in 39 Büchern. Er urteilt sehr scharfsinnig und wohltuend entschieden; mit Leidenschaft verficht er billige Lösungen und bekämpft heftig unselbständiges Haften an Begriffen. Noch heute viel zitiert ist seine Definition des Rechts als ars bon i et aequi (Kunst des Guten und Gerechten, vgl. Seneca, De clementia 3, 1 6, I ) . Zur Frage, ob der in Verzug geratene Schuldner durch tatsächliches Angebot der geschulde­ ten Leistung den Gläubiger noch in Annahmeverzug setzen und so in den Genuss der Haftungsminderung (vgl. § 300 Abs . 1 B GB) gelangen kann, sagt er: Est haec quaestio de bono et aequo . in quo geilere plerumque sub auctoritate iuris scientiae perniciose erratur (Es ist das eine Frage des Guten und Gerechten, in welchem Bereich nur allzu oft mit der Auto­ rität der Rechtsgelehrtkeit auf verderbliche Weise fehlgegriffen wird, Dig. 45, I, 9 1 § 3). Damit bejaht Celsus die Frage, was noch heute gilt; vorher hatte man anscheinend abstrakt deduziert, Schuldnerverzug schließe Gläubigerverzug begrift1ich aus. Das Verhältnis von Celsus zu dem jüngeren Haupt der anderen Rechts­ schule, dem noch erfolgreicheren und berühmteren, von vielen als größ­ ter römischer Jurist überhaupt gefeierten Salvius Julian war gespannt.

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Julian"o wurde u m 1 05 n.Chr. i n Hadrumetum an der Ostküste Tunesiens, dem heutigen Sousse, geboren, bis dahin punische Freie Stadt, die unge­ fähr damals zur römischen Kolonie erhoben wurde. Nichtsdestoweniger ist Julians Karriere nicht nur von Anfang an senatorisch, sondern beginnt auch schon auf höchstem Niveau. Um 1 2 8 n.Chr. ist er Vorsitzender Richter am Hundertmännergericht, das sich vor allem mit Erbschaftssa­ chen zu befassen hat, und 1 3 1 Quästor des alternden Kaisers Hadrian, danach Volkstribun und um 1 3 8 Prätor. Um Hadrian und seinem Nach­ folger Antoninus Pius als Berater zur Verfügung zu stehen, erhält er weiterhin stadtrömische Ä mter bis zum ordentlichen Konsulat 148 n.Chr. und unterbrochen nur von der Statthalterschaft Niedergerrnaniens 1 5 1 /52. 1 6 1 -64 ist er Gouverneur des östlichen Spanien und 1 67/68 Prokonsul von Kleinafrika. Seit ungefähr 1 30 steht er der sabinianischen Rechtsschule vor. Er wird zur überragenden Autorität für die zwei fol­ genden Generationen, insbesondere mit seinem Hauptwerk, wiederum Digesta, aber mehr als doppelt so umfangreich wie die von Celsus. Er hat einen großen Schülerkreis. die mei sten berühmten Juristen der folgenden Generation gehören dazu. Seine Juristerei zeichnet Einfachheit und Klarheit aus. Mit Neuerungen ist er zmückhaltender als Celsus. zumal wenn er damit in tief verwurzelte soziale Überzeugungen eingreifen \\ ürde. wofür er auch Inkonsequenzen in Kauf nimmt. Kennzeichnend ist eine Äußerung zur Frage, ob in einem Fall überholender Kausalität ( S I hatte dem Sklaven des G schuldhaft eine tödliche Wunde beigebracht: bevor er daran starb, tötete ihn S 2) der Geschädigte beide Schädiger auf vollen Schadensersatz in Anspruch nehmen, den Schaden also z\\ eimal liquidieren kann. Julian bejaht das, dem archaischen Sühnegedanken folgend. der im Recht der hier ein­ schlägigen Lex Aquilia de damllo (Aquilisches Gesetz über Schaden, s. unten 4. Kap. 3b) bei mehreren Tätem althergebracht war" l : Celsus hatte ,0

Zu Julian : Elmar B und. Salvius Julianus - Leben und Werk, in: ANRW II 1 5 ( 1 976) 408 ff. : zu Celsu s : Herbert Hausmaninger, Publius Iuventius Celsus - Persönlichkeit und j uristische Argumentation. ebenda S . 382 ff. , I Verf. , Die Klagenkonkurrenz in röm. Recht (Göttingen 1 972) 1 8 1 . Zur überholenden Kausalität jetzt gründlich Ankum, in: De iustitia et iure - Festg. von Lübtow 80. Gbtg. (Berlin 1 980) 325-5 8 . Wir treffen den S ühnegedanken im privaten Deliktsrecht der Römer bis in die spätklassische Zeit hinein immer wieder an, s. etwa noch Ulpian Dig. 9 . 2, 1 1 §§ 2 u. 4 u. wieder Julian Dig. 9, 2, 5 1 § 1 . Sogar im Vertragsrecht schlägt er bei der Sanktionierung vertragli­ cher Pflichtverletzungen zuweilen noch durch, etwa wenn Ulpian Dig. 1 6, 3 , I

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das, den Ausgleichsgedanken hervorkehrend, absurd genannt (s. bei Ulpian Dig. 9, 2, 2 1 § 1 , ferner Dig. 9, 2, 1 1 § 3 u. 47, 2, 68 § 2), worauf Julian repliziert: Multa iure civili contra rationem disputandi pro utilitate communi recepta esse il1llumerahilihus rehus prohw'i potest (An zahllo­ sen Beispielen lässt sich nachweisen, dass vieles in der römischen Rechtsordnung zum gemeinen Besten einer theoretisierenden Vernunft zuwider allgemein gebilligt wird, Dig. 9, 2, 5 1 § 2). Julian war es auch, dem als Quästor des Kaisers in jungen Jahren die Aufgabe zukam, die endgültige Redaktion des prätorischen Edikts (oben S. 49 f.) zu entwer­ fen. Die Juristen des 2. Jhs. bis Mark Aurel (regierte 1 6 1 -80) werden die Hochklassiker genannt, die des 1 . Jhs. Frühklassiker und die Juristen der severischen Zeit ( 1 93-235) Spätklassiker. Die Hochklassiker stammten zwar zu einem erheblichen Teil nicht mehr aus der römischen Ober­ schicht, der größte, Julian, sogar aus der Provinz, war also womöglich fremdstämmiger, nämlich punischer, also semitischer Herkunft; doch könnte er auch von italischen Kolonisten in Nord-Afrika abstammen. Jedenfalls zollen die Hochklassiker der stadtrömischen Oberschicht noch insofern Reverenz, als sie rein senatorische Ä mter durchlaufen, die tradi­ tionell eng an die Stadt Rom gebunden sind, bei aller Verwendung in der Reichsverwaltung. Bei den Spätklassikern ändert sich das noch weiter zuungunsten Roms. Soweit wir über ihre Herkunft überhaupt unterrichtet sind, stammen sie fast alle aus der Provinz und durchlaufen nur mehr sog. ritterliche Karrieren, verbleiben also in dem Stand, dem die reiche­ ren Bewohner der Provinzen, die in der Regel das römische Bürgerrecht hatten, oft schon angehörten. Vor allem aber waren die mit Leuten aus dem Ritterstand (oben S. 25 f.) besetzten Staatsämter enger an den Kaiser gebunden. Papinian wurde wohl um 1 60 n. Chr. in Kleinafrika geboren und gelangte möglicherweise erst über den Staatsdienst in den Ritterstand. Septimius Severus, auch er afrikanischer Herkunft, wenngleich Senator, Provinz­ gouverneur und seit 1 93 Kaiser, aber erst 1 97 allseits anerkannt, förderte viele Juristen, allen voran Papinian, so dass die schöne Legende aufkam, dieser sei mit der Kaiserin Julia Domna aus syrischem Hochadel ver-

� 25. anders als die §§ 287 S. 2 u. 848 a. E. BOB, den pflichtwidrig Handeln­ Jen bei mangelnder Kausalität nicht entlastet; s. a. unten S . 2 8 3 .

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32 wandt gewesen . In den frühen 90er Jahren des 2. Jhs . war Papinian Rechtsberater (assessor?) der Prätorianerpräfekten, deren es stets zwei gab, seit Augustus das Amt geschaffen hatte. Sie waren eigentlich die Oberbefehlshaber der Prätorianergarde, der einzigen größeren in Italien stationierten Truppe vor den Toren von Rom, aus der lange alle unteren Offiziere hervorgingen. Da die Macht des Kaisers aber, solange er in Rom residierte, letztlich auf diesen Elitekohorten beruhte, waren ihre beiden Kommandeure enge Vertraute des Kaisers, denen dann auch andere, zivile Aufgaben übertragen wurden, insbesondere die oberste Gerichtsbarkeit in Italien außerhalb Roms und seines Umlandes bis zum hundertsten Meilenstein. Nachdem aus den Revolten des Jahres 1 93 n.Chr. Septimius Severus siegreich als Kaiser hervorgegangen war, wurde Papinian Chef der Kanzlei a libellis (von den Bittschriften), in welcher Eigenschaft er von Privatleuten an den Kaiser gerichtete Einga­ ben zu bearbeiten und die Antworten zu redigieren hatte; außerdem wurde er Mitglied des Kaiserlichen Rates (consilium principis), in dem die vor den Kaiser gebrachten Rechtssachen erörtert wurden. Von 205 bis 2 1 1 n.Chr. war er selbst Prätorianerpräfekt, konnte sich aber, als Septimius Severus 2 1 1 starb und den Thron den jugendlichen Söhnen Caracalla und Geta hinterließ, in dieser Stellung nicht behaupten. Jener beseitigte bald den weniger machtbewussten Bruder, und Papinian wurde von einem Militärgericht der Prätorianer in einem fragwürdigen Prozess zum Tode verurteilt. Vom Kaiser aufgefordert, Getas Sturz vor Senat und Volk zu rechtfertigen, hatte er das nach einer stolzen Legende mit der Begründung abgelehnt: Non tam facile parricidium excusari pOfest quam fieri (So leicht lässt sich ein Brudermord nicht rechtfertigen, 33 wie er begangen wird) . Er schrieb 37 Buchrollen Quaestiones (Unter­ schungen) und 19 Buchrollen Responsa (Rechtsbescheide). Darin zeich­ net er sich aus durch feinfühliges Eingehen auf den Fall und undogmati­ sche Lösungen, stets bereit zur Berücksichtigung neuer Gesichtspunkte. So sind auch seine Responsen keine schlichten Protokolle von Anfrage und darauf erteiltem Bescheid, vielmehr stellen sie auch die tragenden Gesichtspunkte der Entscheidung heraus, wenigstens durch einen Paral32 Die Legenden zu Papinian zerstörte Ronald Syme, Three jurists, jetzt in: ders . , Roman papers (Oxford 1 979) 790 ff. ; s . a. Verf. , Die Jurisprudenz im �p ätantiken Italien (Berlin 1 987) 90 f. u. 1 1 0- 1 4 . , Scriptores historiae Augustae Carac. 8, 5-7. Dazu Geza, Alföldy, in: B onner Historia-Augusta-Colloquium 1 970 (Bonn 1 972) 1 9-5 1 ; u . Okko Behrends, in: Literatur und Recht, hrsg. v . Ulrich Mölk (Göttingen 1 996) 255-9 1 .

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Römische Verfassungs- und Rechtsgeschichte

lel- oder Gegenfall. Vor allem bei den Kaisern des späteren 3. Jhs . bis Justinian genoss Papinian überragende, alle andern in den Schatten stel­ lende Autorität; Justinian lässt ihn gleich hinter Julian rangieren. Seine Sprache ist besonders farbig und doch zugleich knapp. Sein Bestreben, die rechtlichen Wertungen sichtbar zu machen, wirkt oft pathetisch. 34 Julius Paulus ist nicht etwa mit dem julischen Geschlecht der ersten Kaiser verwandt, sondern Abkömmling eines durch einen Julier zum Bürgerrecht Gelangten, d.h. eines Neubürgers von Cäsars oder Augustus ' Gnaden oder eines ihrer Freigelassenen. Geboren um 1 65 n.Chr. beginnt er als Advokat, wird dann Assessor beim Prätorianerpräfekten Papinian und Rechtsberater von Kaiser Septimius Severus; Kaiser Elagabal mach­ te ihn 2 1 9 z u seinem Prätorianerpräfekten und Schwiegervater, überwarf sich aber nach einem guten Jahr mit ihm, was Verbannung und Schei­ 3s dung bedeutete. Alexander Severus jedoch, seit 22 1 /22 auf dem Thron, hielt ihn wieder in Ehren. 224 n.Chr. lebte er noch. Paulus schrieb viel, zusammen nahezu 300 Buchrollen, darunter mehrere kasuistische Wer­ ke: 23 Bücher Quaestiones, 26 Bücher Responsa, 6 Bücher Imperiales sententiae in cognitionibus prolarae (Kaiserliche Urteilssprüche, aus der [kaiserlichen] Rechtsprechung hervorgegangen). Mittlerweile überwie­ gen aber die Kommentare und Darstellungen, darunter ein Ediktkom­ mentar in 78 Büchern nebst 2 Büchern zum Edikt der Ädilen. Eine Ei­ genart des Paulus sind seine zahlreichen Kurzmonografien über die mannigfachsten, von den Juristen bis dahin oft noch gar nicht aufgegrif­ fenen Gegenstände: De portionibus quae liheris damnatorum concedun­ tur ( Über die Erbteile, die den Kindern der Verulteilten [deren Vermögen an den Staat gefallen war] eingeräumt werden); De iure singulari ( Ü ber juristische Ausnahmen) ; De illris et facti ignorantia ( Über Rechts- und Tatsachenirrtum) usf. Paulus war ein freimütiger Kritiker, der sich oft an Autoritäten wie Quintus Mucius Skävola, Labeo, aber auch kaiserlichen Entscheidungen rieb, wobei er zuweilen sehr scharf wurde. Der Jurist, von dem am meisten überliefert ist und der infolgedessen unsere Art, j uristisch zu argumentieren, besonders geprägt hat, Domitius 36 Ulpian , wurde etwa 1 70 n.Chr. in Tyros, dem heutigen Sour im Südli34

Zu ihm Adolf Berger, RE Art. Iulius 3 8 2 ( 1 9 1 8) 690-752; u. Hans-Dieter Spengler. Dogmatik, Systematik, Polemik - Untersuchugen zu Stil und Me­ thode des Iulius Paulus (München 2004). 35 Verf. , in; Festschrift E . von Caemmerer (Tübingen 1 978) 35 ff. 36 Zu ihm Paul Jörs, RE Art. Domitius 84 ( 1 903) 1 435 - 1 509; u. Tony Honore, Ulpian (2. Aufl. Oxford 2002). Abzulehnen ist die bisweilen anzutreffende

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banon, geboren. Er machte seinen Weg im kaiserlichen Zivildienst. Seit 203 entwarf er die kaiserlichen Privatreskripte (unten S. 7 1 f.) bis 209. Nach Caracallas Tod verbannt, wurde er, wohl schon unter Elagabal, römischer Getreidepräfekt und unter Alexander Severus Prätorianerprä­ fekt. In dieser Stellung hat er die bei den bisherigen Prätülianerpräfekten, die ihm unterstellt worden waren, sich aber nicht reibungslos unterordne­ ten, gnadenlos hinrichten lassen. Bald danach (223 n.Chr.) wurde er seinerseits von meuternden Soldaten erschlagen. Seine Werke, zusam­ men über 200 libri, verfasste er hauptsächlich 2 1 3 bis 2 1 7 , also in den fünf Jahren nach Caracallas allgemeiner Bürgen'echtsverleihung (unten S. 64), die Ulpian angeregt haben wird; sie erfassen alle Rechtsgebiete bemerkenswert gleichmäßig. Zu nennen sind ein Ediktkommentar in 8 1 Büchern und ein unvollendeter Kommentar zum schmalen lus cil'ile von Masurius Sabinus in 5 1 Büchern, während er zur kasuistischen Literatur nur mit 7 Büchern Disputationes puhlicae beitrug ( Öffentliche Erörte­ rungen) . Kein anderer Jurist dagegen hat sich so gründlich um die mitt­ lerweile zu stattlichem Umfang angewachsenen außerordentlichen Ge­ richtsbarkeiten gekümmert wie Ulpian. Er behandelt die Rechtsprechung der verschiedenen Spezialprätoren wie des Vonnundschaftsprätors, des Prätors in Fideikommißsachen (formlose letztwillige Verfügungen), der Konsuln, des Stadtpräfekten und vieler anderer sowohl in Einzelschriften als auch in einem zusammenfassenden Werk De omnibus trihunalihus lihri X ( 1 0 Bücher über allerlei Gerichtshöfe). Vor allem aber befasst er sich mit der Rechtsprechung des Provinzstatthalters; seine Libri X de officio proconsulis ( Über das Dezernat des Prokonsuls) sollten das meistbenutzte juristische Buch der folgenden Jahrhunderte werden. Schroffheiten des überkommenen römischen Rechts, wie sie noch Paulus weiterwalten ließ, versucht er nach Möglichkeit zu lindern. Leidenschaft­ lich prangert er Bedrohungen der Gleichheit vor dem Recht durch Reiche an. Er zitiert freigebig, auch Kaiserkonstitutionen, waren sie doch i.d.R. sein und seinesgleichen Werk. Erst er löst die römische Jurisprudenz von ihrer Zentrierung auf Rom. Seine hohe Meinung von seiner Aufgabe bezeugt das berühmte Fragment Dig. I, 1 , 1 pr. § 1 : Ulpianus, Institutiones I, Tit. : De iustitia et iure Iuri operam datururn prius nosse oportet, unde nomen iuris descendat. Est autern a iustitia appellatum. Narn, ut eleganter Celsus definit, ius est ars bon i et aequi. Geringschätzung Ulpians als eines bloßen S ammlers, wie an einem schönen Beispiel auch Karlheinz Misera, Klagen manen te societate, StDoc 60 ( 1 994) 395-403, zeigt.

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Cuius merito quis nos sacerdotes appellet. Iustitiam namque colimus et boni et aequi notitiam profitemur, aequum ab iniquo separantes, licitum ab illicito discer­ nentes, bonos non solum metu poenarum, verum etiam praemiorum exhortatione efficere cupientes, veram nisi fallor philosophiam, non simulatam affectantes. Ulpian, Institutionen Buch 1 , Titel: Über Gerechtigkeit und Recht Wer sich anschickt, sich mit dem Recht zu beschäftigen, muss zunächst erfahren, woher das Wort ,Recht' kommt. Es ist nämlich nach der Gerechtigkeit benannt. Denn, wie Celsus in gelungener Weise bestimmt: das Recht ist die Kunst des Guten und Gerechten. In Anbetracht dessen sollte man uns Priester nennen. Denn wir versorgen den Dienst an der Gerechtigkeit und verbreiten die Kenntnis des Guten und Gerechten, das Gerechte vom Ungerechten trennend, das Erlaubte vom Unerlaubten scheidend, bestrebt, die Menschen zu gutem Verhalten nicht nur aus Furcht vor Strafen, sondern auch durch Ermunterung mit Belohnungen zu veran­ lassen: wenn ich nicht irre um die wahre Filosofie, nicht um eine vorgetäuschte uns bemühend.

Darin spiegelt sich das Selbstbewusstsein des Mannes der Tat gegenüber 37 dem Theoretiker . Später drückt man das so aus (Dig. 1, I , 10) : Ulpianus H, Regulae I, Tit. : De iustitia et iure Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi. Iuris praecepta sunt haec : honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere. luris pru­ dentia est divinarum atque humanarum rerum notitia, iusti atque iniusti scientia. Ein anderer Ulpian, Grundlinien Buch I , Titel: Über Gerechtigkeit und Recht Gerechtigkeit ist der stetige und fortwährende Wille, jedem das Seine zuzugeste­ hen. Die Anweisungen des Rechts sind: ehrenhaft leben, den andem nicht verlet­ zen und jedem das Seine zugestehen. Rechtswissenschaft ist Kenntnis der göttli­ chen und menschlichen Dinge, die Wissenschaft von gerecht und ungerecht.

Nach Papian, Paulus und Ulpian blüht die römische Jurisprudenz noch eine Generation lang; gegen Mitte des 3. Jhs. n.Chr. verebbt die juristi­ sche Schriftstellerei aber allmählich. Über tausend Jahre lang gibt es im ganzen römischgriechischen Kulturkreis, insbesondere in Europa keine vergleichbaren Leistungen mehr. Zwar gelingen immer wieder beschei­ dene Neuansätze, die ein bis zwei lahrhundelte lang vorhalten; sie rei­ 38 chen an die Leistungen der "Klassiker,, , an ihren Scharfsinn, ihre Un37 Dazu Dieter Nörr, Iurisperitus sacerdos, in: Xenion - Festschrift f. Pan. J. Zepos (Athen u . Freiburg 1 973) I 5 5 5 -72; s . a. dens . , Bull. 75 ( 1 972) l l ff. , bes. 37ff. : u. Wolfgang Waldstein, Zu Ulpians Definition der Gerechtigkeit, in: Festschr. W. Flume (Köln 1 978) 2 1 3 ff. 38 Vgl. F. Wieacker, Ü ber das Klassische in der röm. Jurisprudenz (Tübingen 1 950, Nachdr. [oben Fußn. 6] 1 6 1 -86).

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terscheidungskunst und ihre Selbständigkeit aber nicht entfernt heran und beanspruchen auch nicht, ebenbürtig neben sie zu treten. Erst im Mittel­ alter setzt wieder eine eigenständige Rechtswissenschaft ein, angeregt durch die Wiederbeschäftigung mit den klassischen Juristentexten. Was war der Grund des Niedergangs? Im Laufe der Kaiserzeit waren die Juristen immer abhängiger vom Kaiser geworden, waren schließlich eng an die Person des Kaisers gebunden. Als das Kaisertum im zweiten Drittel des 3. Jahrhunderts, mit dem Tod von Alexander Severus 235 n.Chr. , in eine Krise geriet, waren seine Repräsentanten vollauf damit beschäftigt, sich selbst zu behaupten. In den 50 Jahren danach bis zur Machtergreifung Diokletians 284/85 zählt man 7 1 Träger des Purpurs, von denen viele nur wenige Monate, Wochen oder gar Tage herrschten 39 und nur wenige sich im ganzen Reich durchsetzten • Gelang ihnen das, so mussten sie auswärtigen Feinden entgegentreten. Alemannen, Sarrna­ ten, Goten und Perser bedrängten Rhein-, Donau- und Euphratgrenze. Die große, durch die Westwanderung der Hunnen ausgelöste Völker­ wanderung kündigte sich an. Es ist die Zeit der sogenannten SoIdatenkai­ ser, denen für die friedliche Aufgabe der Rechtspflege und Gesetzgebung nicht viel Zeit blieb, ja die Rom, wo die Jurisprudenz ihre Wurzeln hatte, oft während ihrer ganzen Regierungszeit nicht sahen. Hinzu kommt, dass andere, weniger diesseitige Gegenstände als die Rechtswissenschaft schöpferische Geister stärker anzogen: die Filosofie - mitten in dieser unruhigen Zeit begründeten Plotin und Porphyrios in Rom den Neupla­ tonismus -; und die Religion: das 3. Jh. n.Cm·. ist das große Zeitalter der Mysterienreligionen vom Manichäismus über Mithraskult und Gnosis bis hin zum Christentum, das schließlich den Sieg davontragen sollte. Nord­ afrika, das vorher viele Juristen hervorgebracht hatte, wird Heimat der besten lateinischen Theologen. Einer von ihnen, Tertullian, war zunächst Jurist und hat sich nach wenigen scharfsinnigen und vielversprechenden juristischen Werken der Theologie zugewandt. Nach leidlicher Beruhi­ gung der äußeren Verhältnisse im 4. Jh. gerieten seit dem 5. Jh. Rom und der Westen des Reichs in die Hand von Germanen. In der Provinz hatte die römische Rechtswissenschaft schon in hoch- und .jo spätklassischer Zeit Wurzeln schlagen können . Zumal hier war ihr noch 39

S. Felix Hartmann, Henscherwechsel und Reichskrise (FrankfurtIM. 1 982): u. Dietmar Kienast, Röm. Kaisertabelle (2. Auf!. Darmstadt 1 996) 1 83-263. 40 Dazu und zu S . 66-69 Verf. , Röm. Provinzialjurisprudenz, in: ANRW II 1 5 (Berlin 1 976) S . 288-362; z u Tertullian S . 294 Fußn. 37a; u . Burkhard Leh­ mann, ANRW II 1 4 ( 1 982) 279-84.

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eine bescheidene Nachblüte beschieden. Im Verlauf der Kaiserzeit waren immer größere Teile der Bevölkerung des römischen Reichs in den Ge­ nuss des römischen Bürgerrechts gelangt mit der Folge, dass sie eigent­ lich - aber man machte Abstriche - nach römischem Recht zu leben 41 hatten und auf römische Weise zu prozessieren . Zumal die Oberschicht war mit dieser Auszeichnung bedacht worden, der Hauptkonsument des Privatrechts : die ratsfähigen Bürgetfamilien der Städte, aber auch Häupt­ lingsfamilien der Wüstenstämme. Am meisten haben die Veteranenan­ siedlungen zur Ausweitung des Röme11ums beigetragen. Dienst im römi­ schen Heer verschaffte vielen Nichtbürgern Lateinkenntnisse und bei ehrenvoller Entlassung nach 25jähriger Dienstzeit Bürgerrecht und wei­ tere Privilegien, die es zusammen mit zwangsweise angespartem Sold dem Veteran ermöglichten, in den Kleinstädten des Reiches zur gehobe­ nen Mittel- oder gar zur Oberschicht aufzusteigen. Im Jahr 2 12 n.Chr. verleiht Caracalla zur Feier des Sieges über seinen Bruder der gesamten Bevölkerung des Reichs das Bürgerrecht (col1stitutio Antoniniana). Noch unter Augustus war das Römische Reich ein Konglomerat von Provinzen und Klientelstaaten unter Roms Hegemonie gewesen mit dementspre­ chend verschiedenen Staatsangehörigkeiten und Rechtsordnungen: der rhodisehen, der der anderen griechischen und sonstigen Freien Städte, der kappadokischen, der mauretanischen usw. Im Verlauf des Prinzipats wurden diese mehr oder minder selbständigen Gebiete den unmittelbar 42 regierten Teilen angeglichen , ein gleichmäßig in Provinzen unterteiltes Reich mit einheitlichem Bürgerrecht der Bevölkerung geschaffen, mit Reichsbürgerrecht. Die nichtrömischen Rechtsordnungen verschwanden über kurz oder lang, hielten sich allenfall s als Geschäftspraxis und loka­ les Gewohnheitsrecht. Das führte aber nicht zur Rechtsgleichheit der Bevölkerung. Die alther­ gebrachte stadtrömische Unterscheidung zwischen Senatoren, Rittern und Volk galt nun reichsweit. Zu den höheren Ständen zählten jetzt aber auch die regionalen und lokalen Führungsschichten zumal auch der kleinen Städte. Vergröbernd unterschied man im Recht deshalb zwischen 4] honcstiorcs (die Angeseheneren) und humifiorcs (die Niedrigeren) . Zu 41 Ü ber Verbreitung und Inhalt des röm. Bürgerrechts orientiert eingehend A. N . Sherwin-White, The Roman citizenship (2. Aut1. Oxford 1 97 3 ) . 4 2 Z u diesem Prozess Dieter Nörr, Imperium und Polis in der hohen Prinzipats­ zeit (München 1 966); u . dazu Jochen B leickel1. SZ 84 ( 1 967) 424-34. 43 S . im Einzelnen Peter Garnsey, Social status and legal privilege in the Ro­ man empire (Oxford 1 970) 1 03-78; u . dazu D . Nörr, SZ 88 ( 1 97 1 ) 408- 1 7 .

Prinzipat: Juristen

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den hOl1estiores gehörten außer den Senatoren Roms und den Staatsbe­ amten alle ratsfähigen Familien der Städte, die Großgrundbesitzer und die sonstigen traditionell Höhergestellten der ländlichen Gebiete. Die humiliores waren das Volk von Rom, Italien und den Provinzen, insbe­ sondere die selbst arbeitenden B auern und Handwerker. Die Unterschei­ dung war vor allem im Kriminalstrafrecht bedeutsam, das durchgehend zweispurige Strafen vorsieht. Für honestiores Entfernung vom Amt, Velmögensstrafen, Verbannung und allenfalls Tod durch das Schwert; für humiliores körperliche Züchtigung, lebenslängliche oder zeitige Zwangsarbeit in Bergwerken, Steinbrüchen oder sonstigen staatlichen Betrieben, wobei, wer lebenslänglich verurteilt war, Staatssklave (servus poel1ae) wurde; und schließlich die entehrenden Todesstrafen von der Kreuzigung bis zum unbewaffneten Kampf mit wilden Tieren in der Arena vor allem Roms, aber auch der großen Städte in den Provinzen, eine ursprünglich nur gegen Sklaven verhängte Strafe. Humiliores dürfen im Ermittlungsvelfahren gefoltert werden. Der römische Provinzstatthalter hatte seit j e nicht nur militärische Auf­ gaben, sondern in gleichem Umfang zivile. Insbesondere oblagen ihm Rechtsprechung und Einziehung der Steuern; für ihr reichsweites Ver­ mögen bauten die ersten Kaiser eine Spezialverwaltung auf. Die Recht­ sprechung der Provinzstatthalter konkulTierte mit einheimischen Rechts­ pflegeorganen insbesondere der Griechenstädte, Ägyptens, aber auch der römischen B ürgerstädte in Italien und außerhalb. Diese freilich waren, wenn es sich nicht um eine Freie Stadt handelte, nur für kleinere Sachen zuständig, in Zivilsachen für Streitwerte meist bis zu 1 000, alllenfalls 5000 Sesterze (US , I US entspricht grob 0,5 €) , in Strafsachen konnten 44 sie nur niedrige Geldstrafen verhängen . Für größere Sachen und als Appelationsinstanz ist das straffer organisierte Statthaltergericht zustän­ dig. Dabei nimmt der Statthalter eine Arbeitsteilung vor: Nur die Krimi­ nalgerichtsbarkeit und die außerordentliche Rechtspflege in Zivilsachen erledigt er selbst; mit der ordentlichen Zivilrechtspflege, der komplizier­ tere, dem Richter weniger Freiheit lassende Teil, betraut er seinen Lega­ ten. Beide versehen sich, wie die stadtrömischen Rechtsprechungsbeam4-l

Zu Italien Wilhelm Simshäuser. Iuridici und Munizipalgerichtsbarkeit in Italien (München 1 97 3 ) ; zu den Provinzen Hartmut Ga1sterer, SZ 1 1 4 ( 1 997) 392-40 1 . Auf die Gerichtsbarkeit der Freien Städte nahmen die Kaiser seit Trajan Einlluss durch außerordentliche Kommissare ad corrigendum statum Iiberarul7l cil'itatium (zur Verbesserung der Lage der Freien Städte). sog. corrcetorcs ( Verbesserer). Dazu ders . , in: ANRW 1I 13 (Berlin 1 980) 40 1 -49.

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Römische Verfassungs- und Rechtsgeschichte

ten auch, mit juristisch vorgebildeten Beisitzern (assessores), aber auch diese kommen, wie die Statthalter selbst, von der Zentrale, dürfen keine bodenständigen, am Ort ihres Wirkens beheimateten Provinzialen sein. Provinzbürger mit Rechtskenntnissen gibt es erst seit dem späteren 2. Jh. n.Chr. , zuerst in den am stärksten romanisierten Provinzen Africa, Süd­ spanien, Provence und Dalmatien; später auch in Kleinasien, Syrien und dem heutigen Westungarn und Ostösterreich. Diese Kenner wohlgemerkt des römischen, nicht etwa ihres angestammten heimischen Rechts erhiel­ ten ihre Ausbildung zunächst noch in Rom. Aber seit dem späten 2. Jh. n.Chr. wird auch dies anders, begegnet uns Rechtsunterricht auch in den Provinzen: in Kleinafrika, in Dalmatien und dann vor allem in Beryt, dem heutigen Beirut, römische Veteranenkolonie seit Augustus mit ius Italicum45 und lateinische Sprachinsel im sonst griechischsprachigen Osten. Im 3. Jh. finden sich Rechtslehrer auch in nichtromanisierten, griechisch sprechenden Reichsteilen. Die Provinzen bringen es aber auch zu einer bescheidenen Rechtslitera­ tur. Zwar bleibt Rom bis ins 5 . Jh. n.Chr. hinein das juristische Kultur­ zentrum. Unter Augustus war es sogar für kurze Zeit einmal das allge­ meine Kulturzentrum des Mittelmeerraums gewesen, führend insbeson­ dere auch in der Dichtkunst. Die Augusteische Kulturblüte ging aber rasch zu Ende; Griechenland übernahm die Führung wieder. Nur im Bereich des Rechts, einer stets schwer zu verpflanzenden Kunst, blieb Rom noch lange danach Mittelpunkt46 • Wer sich als Jurist besonders hervortun wollte, ging in die Hauptstadt, machte dort Karriere. Die Rechtsliteratur der Provinzen ist gegenüber ihrem römischen Vorbild weniger lebendig. Gleichwohl hat sie bei aller Bescheidenheit einzelne beachtliche Leistungen vorzuweisen. Der bedeutendste und fruchtbarste, zugleich der erste fassbare juristische Provinzialschriftsteller ist Gajus (ungefähr 1 20 bis 1 80 n.Chr. ), dessen Lokalisierung freilich noch heute umstritten ist. Mommsen und die Mehrzahl der Gelehrten, vor allem des Auslands, lokalisieren ihn in eine Provinz des Ostens; Kunkel, dem in Deutschland viele folgen, hält Rom

45

Zu seiner B edeutung Focke Tannen Hinrichs, Die Gesch. d. gromat. Institu­ tionen (Wiesbaden 1 974) 1 47-57; u. Jochen Bleicken, In provinciali solo dominium populi Romani est vel Caesaris - Zur Kolonisierungspolitik der ausgehenden Republik und früheren Kaiserzeit, in: Chiron 4 ( 1 974) 3 59-4 1 4 . 4 6 Manfred Fuhrmann, Die lateinische Literatur der Spätantike, i n : Antike und Abendland 1 3 ( 1 967) 56-79.

Prinzip at: Juristen

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47 für wahrscheinlicher • Gajus hatte allerdings in Rom gelernt, nämlich an der sabinianischen Rechtsschule, die er nostra schola (unsere Schule) nennt. Seine Schriften aber hat er wahrscheinlich in und für die Provinz geschrieben, nicht in Rom; vermutlich in Beirut. Womöglich ist er der Begründer des späteren Ruhms der Rechtsschule dieser Stadt, die im 5 . und 6. Jh. Rom i n den Schatten stellen sollte. Unsterblich wurde Gajus durch sein Anfängerlehrbuch: Institutionum lihri IV (wörtlich , Unterweisungen' ) , ein voraussetzungslos verständli­ ches juristisches Anfängerlehrbuch, auf Anfängerniveau reduzierte Dar­ stellung des Privatrechts. Sie sollte Schule machen. Die Gliederung des Stoffes, das System, hat Gajus vermutlich von älteren römischen Juristen übernommen. Da die älteren Lehrbücher aber nur sehr bruchstückhaft erhalten sind, während die Institutionen des Gajus zu den ganz wenigen römischen Juristenschriften gehört, die fast vollständig auf uns gekom­ men sind, nicht nur in mehr oder weniger umfangreichen Auszügen, hat man das System lange Zeit auf Gajus auch zurückgeführt, zumal nach ihm benannt: Gajus-System. Die Durchgliederung des Stoffes bis ins letzte Detail mag wirklich erst auf ihn zurückgehen; jedenfalls ist hier griechischer Geist am Werk, wie wir ihn aus den hellenistischen Lehrbü­ 48 chern der Grammatik, Rhetorik, Architektur, Medizin usf. kennen . Alle neuzeitlichen Versuche, ein lückenloses System des Rechts zu schaffen, knüpfen an das Gajus-System an, das auch das BGB geprägt hat. Hier sein Grundgerüst: lus civile (Bürgerliches Recht) ActlOnes ([Rechtsgeschäfte, zumal] � Klagen � Prozessr., Bu. IV) Einz. SachgeObligationen körp. Sachen samtheiten

Personae (Personen. Bu. I)

/'--.-..

� / � Freie

Sklaven

Freigeborene Freigelassene

Res (Sachen, Bu. TI. III)

� � \� �

Testal11. Erbr.

Gesetzl Erbr.

Realvertr.

Vertrag Delikt

Verbalv. Litteralv.

Konsensualv.

Vgl. BGB : Buch 2 ObligatR. , Bu. 3 Sachenr. (ohne Erbr.), Bu. 4 FamR. (PersR.) BGB Allg. Tl. : 1 . Abschn. Pers. , 2. Ab. Sachen, 3 . Ab. Rechtsgeschäfte BGB Schuldrecht Bes. TL : Tit. 1 -22 Verträge, 25 Unerlaubte Handlungen 47

Zum Streitstand Verf. (oben Fußn. 40) 294-3 1 0 , 328-30 u. 354-57. Dazu Manfred Fuhrmann, Das systematische Lehrbuch - Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaften in der Antike (Göttingen 1 960).

4H

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Römische Verfassungs- und Rechtsgeschichte

Im Text liest sich das so: Gaius, Institutiones I ( § § 8- 1 2) Omne ius, quo utimur, vel ad personas pertinet vel ad res vel ad actiones, Et prius videamus de personis. Et quidem summa divisio de iure personarum haec est, quod omnes homines aut liberi sunt aut servi. Rursus liberorum hominum alii ingenui sunt, alii libertini. lngenui sunt, qui liberi nati sunt; libertini, qui ex iusta servitute manumissi sunt. Rursus libertinorum genera sunt tria; aut enim cives Romani aul Latini aut dediticiorum numero sunt. De quibus singulis dispiciamus. Ac prius de dediticiis. Alles Recht, das wir anwenden, betrifft entweder Personen oder Sachen oder Rechtsgeschäfte und Klagen. Und zuerst wollen wir die Personen betrachten. Und zwar ist die oberste Einteilung des Personenrechts die, dass alle Menschen entwe­ der Freie sind oder Sklaven. Von den freien Menschen wiederum sind die einen freigeboren, die andem freigelassen. Freigeboren sind die, welche als Freie gebo­ ren sind; freigelassen, welche aus rechtmäßiger Sklaverei entlassen worden sind. Von den Freigelassenen wiederum gibt es drei Arten. Entweder handelt es sich nämlich um römische Bürger oder um latinische Bürger oder sie gehören zu den UnterwOlfenen. All diese betrachten wir nun der Reihe nach. Und zunächst die Unterworfenen.

Gajus' Lehrvorträge in Beimt scheinen unautonslert mit- und abge­ schrieben worden zu sein und waren bald weit verbreitet. Eine das Ganze auf sieben Bücher streckende Ü berarbeitung durch den Autor selbst, die Res cottidiallae (Tägliche Sachen) oder Aurea (Goldenes)49 , entwickeln die Detailgliederung weiter, enthalten mehr Stoff und schließen in den Institutionen verbliebene Lücken; die historischen Rückblenden wurden wohl erst von Justinian getilgt. Weiter schrieb Gajus einen Kommentar zum Provinzialedikt (Ac! edictum prOl'inciale libri XXX) und viele ande­ re, nur keine kasuistischen Werke; zusammen hören wir von fast 1 00 Buchrollen. Gajus ' Stil ist nicht problembewusst, selten hat er eine eige­ ne Meinung; in der Regel schließt er sich einfach führenden Autoritäten an, vor allem Julian und den Kaisern. Seine Darstellung ist glatt, das Latein freilich nicht immer korrekt; sachlich bringt er auffällig viel Histo­ risches, dem er jedoch z.T. kühl bis ablehnend begegnet. Ein anderer in der Provinz wirkender Schriftsteller war Callistrat, der unter Septimius Severus schrieb. Alle fünf von ihm bekannten Werke sind schmal : ein Kommentar zum Provinzialedikt, den er Monitorium (eine Lehnübersetzung von griechisch vJt(5 �lV11 f!a, die sich im Lateini49 Ihre Authentizität wird z.T. noch immer angezweifelt, s. aber Hein L.W. Nelson, Ü berlieferung, Aufhau und Stil von Gai institutiones (Leiden 1 98 1 ) 294-343, LI . dazu Verf. , Gnomon 5 5 ( 1 983) 1 1 7 - 1 9.

Prinzipat: Kaiserkonstitutionen

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sehen nicht wiederfindet) edicti, also etwa: Aufzeichnungen zum Edikt (des Provinzgouverneurs) nennt, in sechs Büchern; ein Handbuch der außerordentlichen Rechtspflege desselben Umfangs : De cognitionibus; Rechtsfragen anhand von Fällen (Quaestiones) in zwei Büchern; und schließlich ein Handbuch des Fiskalrechts: De iure fisci et populi libri IV, die erste monografische Darstellung dieser Materie aus der Feder eines Juristen, welche Anregung in Rom sofort aufgenommen wird, Callistrat schreibt nicht besonders klar, sein Latein enthält auf Schritt und Tritt griechische Grammatik und Gedankenfülu·ung. Sachlich ist er wenig selbständig, hält sich am liebsten einfach an kaiserliche Rechtsbescheide; ab und zu bezieht er sich auch auf Labeo, Sabinus oder Julian. Ämilius Macer schließlich wirkte unter Alexander Severus (222 bis 235) anscheinend in Nordafrika. Wir kennen fünf Schriften, alle bloß zwei Buchrollen lang. Der bemerkenswerteste Titel darunter ist De re militari ( Über Militärwesen), nicht etwa eine Darstellung des gesamten Militär­ wesens, sondern entgegen dem Titel nur des Militärrechts. Es ist die erste und einzige Gesamtdarstellung des Militärrechts durch einen auch auf anderen Rechtsgebieten ausgewiesenen Juristen; vorher machten das Spezialisten dieses Fachs. Macer ist nicht so unselbständig wie Gajus oder Callistrat; er kritisiert auch Kaiserkonstitutionen.

c) Eine neue Rechtsquelle: kaiserliche Festsetzungen Die neue, im Ergebnis monarchische Staatsform mit ilu'em schleichen­ den, aber stetigen Abbau der republikanischen Freiheiten setzt sich im Bereich der Rechtsbildung nicht nur negativ oder lenkend durch, indem Volksgesetzgebung und magistratische Rechtssetzung absterben, Senats­ beschlüsse zu kaiserlichen Reden im Senat werden oder das freie juristi­ sche Gutachterturn zu einer Tätigkeit auf Empfehlung des Kaisers; son­ dern die Ein-Mann-Herrschaft kommt allmählich auch hier unmittelbar zur Geltung. Kaiserliche Verlautbarungen oder Anordnungen, in welcher Form sie immer geschehen, gelten schließlich als Recht. Die Benennung dieser neuen Rechtsquelle entspricht genau Augustus ' Konzeption der verhüllten Monarchie. Sie heißen cOl1stitutiones principum, zu deutsch etwa ,kaiserliche Festsetzungen ' , doch sagen wir Kaiserkonstitutionen. Heute bedeutet Konstitution , Verfassung ' , ein Begriff des Staatsrechts. Diese Bedeutung ist aber erst verhältnismäßig jung, im antiken Rom besagte das Wort etwas anderes. Schon in der Republik war der Termi­ nus ius constitutum, constitutio geläufig. Er bezeichnete damals einen von der Jurisprudenz entwickelten Rechtssatz, auf den man sich geeinigt

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hat, der dem Meinungsstreit entzogen ist; bedeutete also so viel wie , allgemeine Meinung ' , wogegen sich zu wenden sinnlos ist. Constitutio principis sollte an sich also nichts weiter sagen, als dass ein Rechtssatz durch die Autorität des Kaisers unstreitig geworden ist. Der Unterschied war nur der, dass die Autorität des Kaisers so mächtig war, dass eine von ihm ausgesprochene Rechtsmeinung eine größere Chance hatte, allein dadurch dem Bestreiten durch einen gewöhnlichen, sterblichen Juristen entzogen zu werden, mag sie damit auch noch nicht völlig unangreifbar geworden sein. Aber im Alltag setzten sich die kaiserlichen Rechtsmei­ nungen durch, und es spielte keine Rolle, dass die Kaiser von Hause aus gar keine Juristen waren. Schließlich hießen sämtliche kaiserlichen Rechtssetzungen constitutiones: seine formellen Rechtssetzungsakte kraft altem republikanischen Staatsrecht oder besonderer Ermächtigung eben­ so wie jene informellen Bekundungen. Fünf Erscheinungsformen wurden im Rechtsleben wichtig50 :

( I ) Edicta principis (Edikte des Kaisers) Häufig übernahm der Kaiser das Konsulat, und als Konsul konnte er ebenso Edikte erlassen wie jeder andere Magistrat auch. Aber da es mehr und mehr als Ä ußerlichkeit empfunden wurde, ob der Kaiser gerade eine republikanische Magistratur bekleidete, billigte man ihm ein besonderes ius edicendi zu, das an kein hergebrachtes Amt gebunden war, sondern dem Kaiser vermöge seiner Stellung als princeps zustand; der Prinzipat galt nun eo ipso als Magistratur. Überdies erachtete man die Edikte der Kaiser bald als den Edikten der übrigen, gewöhnlichen Magistrate über­ legen, setzten kaiserliche Edikte ihnen etwa entgegenstehende Edikte anderer Magistrate, der Konsuln oder der Prätoren, außer Kraft und endete ihre Gültigkeit weder mit einem Amtsjahr noch auch mit Amts­ ende durch Tod. (2) Decreta principis (Urteile des Kaisers) Decretum bedeutet eigentlich , Entscheidung eines Prozesses ' , und zwar eines durch den Magistrat selbst zu Ende geführten Prozesses, was es 50

Zum Folgenden Tony Honore, Emperors and lawyers (2. Auf! . Oxford 1 994) 1 -70; Dieter Nörr, Zur Reskriptenpraxis in der hohen Prinzipatszeit, SZ 98 ( 1 9 8 1 ) 1 -46; ders. , Zu einem fast vergessenen Konstitutionentyp: interlocu­ tio de plano, in: Studi in onore di Cesare S anfilippo III (Mailand 1 98 3 ) 5 1 943; Wynne Williams, Epigraphical texts of imperial subscripts, Ztschr. f. Papyrologie u. Epigraphik 66 ( 1 986) 1 8 1 -207; u. Jean-Pierre Coriat, Le prince legislateur (Rom 1 997).

Prinzipat: Kaiserkonstitutionen

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auch gab; die Zweiteilung des Verfahrens war nicht ausnahmslos durch­ geführt. Prozessentscheidungen der Magistrate oder der Geschworenen­ richter waren an sich keine Rechtsquellen, trugen nach römischer An­ schauung zur Rechtsfortbildung nicht bei. Sie ergingen ja nicht aus eige­ ner Autorität, sondern stützten sich auf die Autorität der den Richter beratenden Juristen. Anders war es beim Kaiser, auf welche Weise im­ mer ein Prozess vor ihn kam. Der Kaiser konnte grundsätzlich erstin­ stanzliche Sachen an sich ziehen, was er vor allem in Strafsachen tat; wann immer möglich hielten sie sich damit aber zurück. Außerdem entwickelte sich die Praxis, gegen ein vom Geschworenenrichter oder Magistrat gefälltes Urteil, mit dem sich die unterlegene Partei nicht ab­ finden wollte, den Kaiser anzurufen, woraus ein regelrechter Instanzen­ zug wurde, eine Appellationsgerichtsbarkeit des Kaisers.

(3) Rescripta principis (Antwortschreiben des Kaisers) i. e. S . Die interessanteste und i m 2. und 3 . Jh. wichtigste Gattung kaiserlicher Konstitutionen waren die sog. Rückschreiben, Antworten auf schriftliche Eingaben, in denen alltägliche Nöte, Bedrängnisse und Beschwerden, aber auch unmittelbare Bitten um Rechtsweisung vor den Kaiser ge­ bracht werden konnten, was i.d.R. durch eine einfache Rechtsauskunft erledigt wurde. Solche Anfragen kamen vor allem aus der Provinz, wo es kaum Rechtsberater mit eigener Autorität gab; wo immer der Kaiser sich aufhielt, gingen ihm derartige Bittschriften (libelli) zu. Rechtsanfragen zu bescheiden war an sich eine den Juristen seit alters obliegende Aufgabe. Nicht nur im Verhältnis zu den Provinzialen haben die Kaiser damit konkun·iet1 und diesen Dienst in großem Stil ausgebaut; sie waren in der Lage, bei solcher Gelegenheit auch ganz neues Recht zu setzen wie in dem auf Verwendung der Altkaiserin Plotina ergangenen Reskript Hadri­ ans an den Epikuräer Theotimos. Darin wird der Filosofenschule der Epikuräer in Athen gestattet, jemanden zum Schulhaupt zu wählen, der SI nicht das römische Bürgerrecht hat . Augustus richtete zur Erledigung dieser Rückschreiben eine eigene Kanzlei ein, das Amt a fibel/iso Grund­ sätzlich wurde über die Eingaben im kaiserlichen Rat beraten und obla­ gen Fonnulierung und Ausfertigung der Antwort der Kanzlei. Seit Had­ rian wurde die Antwort am Aufenthaltsort des Kaisers öffentlich ausge­ hängt, woher auch der Anfragende den Bescheid erfuhr. An die Spitze 51

FIRA I S. 430f. Nr. 79. Beispiele aus dem Alltag im Jahre 200 n . Chr. bei William L. Westennann u. A. Arthur Schiller, Apokrimata. Decisions of Septimius Severus on legal malters (New York 1 954). =

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des Libellamts setzte Hadrian über den bisherigen Freigelassenen einen gut bezahlten Ritter (oben S. 58 f.), meist einen Juristen; und Septimius Severus erhöhte dessen Stellung erneut. So wurden die Reskripte eine ernste Konkurrenz zur freien Gutachtertätigkeit der Juristen. Im 3. Jh., als die militärische Lage den Kaisern immer wieder die ganze Aufmerksam­ keit abforderte, mussten die Juristen im Gefolge lange Zeit zurückste­ cken. Seit 283 und zumal unter Diokletian setzten sie sich aber noch einmal durch. Die meisten überlieferten Reskripte stammen von diesem Kaiser. Schon die hoch- und vor allem die spätklassischen Juristen taten gut daran, diese Rechtsbescheide zur Kenntnis zu nehmen und in ihren Schriften zu verarbeiten. Später werden die Reskripte zusammen mit den anderen Kaiserkonstitutionen, jenen gegenüber eine quantite negligeable, gesonde11 gesammelt und veröffentlicht. (4) Epistlilae principis (Bliefe des Kaisers) Gingen die Anfragen von Beamten oder Institutionen wie Provinzalland­ tagen, Städten im Reich usw. aus, so fiel die kaiserliche Antwort weniger schlicht aus; man raffte sich zu einem regelrechten Brief mit Anrede, Grußfonnel und den sonst für nötig erachteten Floskeln auf, was dann eine andere Kanzlei ausfertigte: die Kanzlei ah epistulis. Die vom Kaiser unterschriebene Epistel wird dem Adressaten zugestellt. Man nannte sie auch rescriptul11 .

(5) Mandata principul11 (Weisungen der Kaiser) Der Kaiser hatte viele Unterbeamte, vor allem in der ihm allein unterste­ henden Fiskalverwaltung. Aber auch die allgemeine Provinzverwaltung fühl1en zum größeren Teil dem Kaiser unmittelbar Unterstellte aus. Ägypten, wo Augustus nominell Nachfolger der ptolemäischen Pharao­ nen war ohne Zwischen schaltung des römischen Staats, und welches Land infolgedessen Senatoren nicht betreten durften, verwaltete Augus­ tus durch einen ritterlichen praefectus Aeg)'pti, das höchste an einen Ritter zu vergebende Amt des Kaisers . In den Grenzprovinzen mit Mili­ tär war der Kaiser formell Provinzstatthalter, welches Amt er natürlich nicht selbst, sondern durch Gehilfen wahrnahm, senatorische legati Augllsti. Und in einzelnen kleinen Provinzen wie z.B. Judäa, deren ge­ ringes Steueraufkommen den üblichen organisatorischen Aufwand nicht lohnte, ließ sich der Kaiser nur durch einen praefectus oder procllrator (eigentlich ,Stellvertreter' ) aus dem Ritterstand (wie z.B. Pontius Pilatus) vertreten, der auch in den verschiedensten sonstigen Bereichen der kai-

Prinzipat: Außerordentliche Gerichte

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serlichen Verwaltung Verwendung fand52 . I n all diesen Fällen der Herr­ schafts ausübung durch Mandat konnte der Kaiser Weisungen an seine Repräsentanten richten, und solche Dienstanweisungen des Kaisers hießen mandata principis. Vor allem im Fiskalbereich haben sie eine große Rolle gespielt, ein besonderes ius jlsci (Fiskalrecht) s3 begründet. Aber auch die Statthalter der zehn Senatsprovinzen, die Prokonsuln, waren ihnen ausgesetzt.

d) Institutionalisierung m!ßerordentlicher Rechtswege Die ordentliche Rechtspflege (ordo iudiciorllln ) , geordnet durch Volks­ gesetze im Verein mit uraltem Herkommen, war aufgeteilt in die Privat­ und die Kriminalrechtspflege. Jene, der ordo iudiciorum privatorum unter den zwei Prätoren und den Ädilen, wurde in der augusteischen Lex lulia illdiciorum privatorum neu geordnet. Zur Entscheidung berufen war in der Regel ein Geschworenenrichter (iudex privatus), in manchen Fällen ein Kollegium von drei Geschworenen (recuperatores, eigentlich ,Zurückholer' ) , zuständig vor allem für die Privatstrafklagen wegen Diebstahls und Körperverletzung. Der jeweils zuständige Geschworenen­ richter wurde einer Geschworenenliste entnommen, die alljährlich nach festen Regeln aufgestellt wurde. Den ordo iudiciorum publicorum. die Schwurgerichte unter sechs bis acht weiteren Prätoren, erneuerte Augustus in der Lex lulia iudiciorum publicorum. Hier entschieden Geschworenenbänke von je 1 7 Richtern, wobei jeder der im ganzen zehn Geschworenenhöfe unter je einem Prätor oder auch einem niederen Magistrat für bestimmte Verbrechen zuständig war: für Totschlag, Fälschung, Erpressung durch Beamte, Ehebruch usf. Das dabei zu beobachtende Verfahren war in den noch aus der Republik stammenden, die einzelnen Höfe konstituierenden Gesetzen eingehend geregelt und mit mannigfachen rechtsstaatlichen Kautelen versehen, was die ganze Institution schwerfällig machte54 . So treten in der Kaiserzeit neben die ordentliche Rechtspflege, an deren Geschworenendienst das gehobene Bürgertum des ganzen Reichs beteiligt war, immer mehr au52

Näher Hans-Georg Pt1aum, RE Art. procuraror 2 ( 1 957) 1 240-79 , bes. 1 243 -46 u. I 267-69. 5 1 Dig. 49. 14 u. Cod. lust. 1 0, 1 - 1 5 . Zu unterscheiden vom eigentlichen Steu­ elTecht: Dig. 50, 1 5 u. Cod. Just. 1 0, 1 6ff. 54 Im Einzelnen Wolfgang Kunkel , RE Art. quaestio 1 ( 1 963) 720-86; u. A. H . M. Jones, The criminal courts o f the roman republic and principate (Oxford 1 972): u. dazu Okko Behrends, SZ 90 ( 1 97 3 ) 462-75.

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ßerordentliche Gerichte der verschiedensten Machtträger. Schon erwähnt wurde die Appellationsgerichtsbarkeit der Kaiser, deren Grundlage seine tribunizische Gewalt war. Der republikanische Volkstribun konnte ver­ möge seines ius intereedendi (Recht des Dazwischentretens) gegen jede magistratische Handlung angerufen werden: appellari. Das gab ihm aber nur das Recht, magistratische Maßnahmen, auch Urteile zu kassieren; gegen das Urteil eines Geschworenenrichters konnte er nichts unterneh­ men, und reformieren konnte er auch das magistratische Urteil nicht. Augustus aber hatte sich zur tribunizischen Gewalt die besondere Befug­ nis einräumen lassen appellatum iudieare (angerufen zu urteilen) . Da ein Instanzenzug den Römern aus der Republik nicht geläufig war, wird damit nur gemeint gewesen sein, dass Augustus erstinstanzliche Prozesse an sich ziehen kann. Durch das Schwergewicht der Macht wurde auch aus diesem kleinen Zugeständnis eine übergeordnete Kompetenz des Prinzeps. Schließlich gab es unter ihm noch weitere Appellationsinstan­ zen: für Rom und seine nähere Umgebung der Stadtpräfekt (proe/eetus urbi) für das übrige Italien der Prätorianarpräfekt (proe/eetus proetorio) und z.B. in Nordafrika auch für die kleineren Provinzen östlich und westlich von Aji"ica proeonsularis der proconsul Aji"icae. Die Appellati­ onsgerichtsbarkeit war extra ordinem. Aber nicht nur über der ordentlichen Rechtspflege, sondern auch neben ihr entstanden neue Gerichtsbarkeiten. Bereiche, deren Regulierung bisher sich selbst, d.h. Konvention und Sitte überlassen war, wurden vom Kaiser einem Beamten zur besonderen Obsorge anvertraut, wofür sich zumal die noch immer hochangesehenen, aber nur mehr geringfügige Restfunktionen ausübenden Konsuln anboten. Sie erledigten die ihnen anvertrauten Sachen, Meinungsverschiedenheiten der Bürger in Fragen des praktischen HandeIns, nach alter römischer Tradition justizförmig, d.h. : unter gleichmäßiger Anhörung beider Teile, Beratung des Vorge­ brachten im Kreise sachverständiger Freunde und Verkündung des Er­ gebnisses der Beratung, also Erledigung der Sache durch einen Spruch. Dieser war wohl ursprünglich nur eine gütliche Empfehlung, hatte durch die hohe Stellung seines Urhebers aber praktisch eine gute Durchset­ zungschance; die unterlegene Seite konnte es sich gesellschaftlich kaum leisten, ihm nicht nachzukommen. Denn anders als üblicherweise bei der ordentlichen Gerichtsbarkeit wurde der abschließende Spruch, das ab­ schließende Erkenntnis von der Autorität des Beamten selbst getragen; es war sein Erkenntnis. Und da für eigene Entscheidungen der Beamten der Terminus cognitio (Erkenntnis) eingeführt war, bekam diese Form der ,

Prinzipat: Außerordentliche Gerichte

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Gerichtsbarkeit den Namen cognitio extra ordinem. So wurden Unter­ haltsfragen zwischen Verwandten juridifiziert, was ursprünglich dem in allen frühen Gemeinschaften stark ausgeprägten Familiensinn überlassen sein konnte. Seit dem 2. Jh. n.ehr. ließ aber wohl so mancher reiche Mann alte Eltern hungern und war der Staat in Fragen der Armenfürsor­ ge feinfühliger geworden; um 1 00 n.ehr. setzen eine ganze Reihe sozial­ staatlicher Maßnahmen einss . Ein anderer Punkt waren die Honorarforde­ rungen der Lehrer, Redner, Advokaten und Ärzte. Höhere, eines Freien würdige Dienste (artes liberales) machte ein standesbewusster Freiberuf­ ler, auch wenn es rechtlich möglich war, nicht zum Gegenstand eines Dienstvertrags um Lohn (mercedes). Trotzdem mussten die in Rom wirkenden Lehrer, Redner, Advokaten und Ärzte von ihrem Verdienst leben. Deshalb vereinbarten sie mit ihren "Klienten" als Gegenleistung sog. Ehrengelder (honoraria), deren Entrichtung die Ehre des Verspre­ chenden gebot. Im 2. Jh. n.ehr. haben Mißstände auch hier den Kaiser zum Eingreifen veranlasst. Oder: Vormundschaften zu übernehmen war einst nicht nur Ehrenpflicht, sondern auch beliebt, denn es bedeutete einen Machtzuwachs für den Vormund. Seitdem aber die Haftung des Vormunds für Verluste am verwalteten Vermögen immer mehr ver­ schärft wurde, verlor die Aufgabe ihre Anziehungskraft und versuchte man, sich ihr zu entziehen. So richtete der Kaiser eine Stelle ein, die Ablehnungen von Vormundschaften überprüfte und dabei im Laufe der Zeit einen festen Katalog von anerkannten Ablehnungsgründen erarbeite­ te: der praetor tutelarius, eine neue PrätorensteIle. Formlose Verfügun­ gen von Todes wegen, fidei commissa (der Treue Überlassenes), waren ursprünglich nicht rechtsverbindlich, sondern, wie der Name sagt, der Pietät des damit Betrauten anheimgegeben. Hier hat schon Augustus anlässlich eines Falles aus dem Jahr 4 n.ehr. die Konsuln beauftragt, auctoritatem suam intelponere (ihre Autorität einzusetzen), also eigent­ lich nur: zu vermitteln, den Streit nach eigenem Ermessen zu schlich­ ten56 . B ald wird daraus eine ständige Amtstätigkeit, die solchen Umfang einnimmt, dass ein halbes Jahrhundert später eine weitere Sonderprätur eingerichtet wird: der praetorfideicommissarius. Die einschneidendste, für den einzelnen Bürger und zum al die Ober­ schicht gefährlichste außerordentliche Gerichtsbarkeit war die erstin­ stanzliche Kriminalgerichtsbarkeit der beiden Präfekten, des Stadt- und des Prätorianerpräfekten, die nicht nur neben die alten Geschworenenge55 56

Dazu Marina Elisabeth Pfeffer (oben Fußn. 22) 1 22-27. Inst. Just. 2 , 23 § 1 u. 2 , 25 pr.

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Römische Verfassungs- und Rechtsgeschichte

richtshöfe trat, m.a.W. weitere Taten kriminalisierte (crimina extraordi­ naria); sondern bald konkurrierten die Präfekten auch mit den Geschwo­ renengerichtshöfen, griffen sie in deren Zuständigkeit ein und verdräng­ ten sie schließlich auf breiter Linie. Mit ihren rechts staatlichen Kautelen wurden sie als nicht schlagkräftig genug empfunden. Vor allem die nie ganz bewältigte Bestechlichkeit der Geschworenenrichter diskreditierte die ganze Institution. Ciceros Briefe künden beredt, wie dadurch eine wirksame Verbrechensbekämpfung zum Stillstand gebracht werden konnte. Zu Beginn des 3. Jhs. n.Chr. scheinen diese Überbleibsel aus rechtsstaatlieh engagierteren Zeiten nur mehr für minder gemeingefährli­ che Delikte fortbestanden zu haben, zumal für Ehebruch.

3.

Der spätantike Absolutismus

a) Allgemeine Zustände 57

Den Höhepunkt der großen Reichskrise im 3. Jh. n.Chr. markiert die Gefangennahme Kaiser Valerians durch die Perser im Jalu- 260. Schon vorher, aber besonders danach schossen die Usurpatoren im Osten und entlang der Donau-Rheinfront wie Pilze aus dem Boden, und zum ersten Mal brachten die sich daran anschließenden inneren Machtkämpfe keine baldige Klärung. Zwei der Aufrührer konnten "sich in Teilen des Reichs lange Zeit behaupten, was separatistische Kräfte auf den Plan rief, die beide Sonderreiche den Tod ihres Gründers überdauern ließen. Es waren: im Osten das Reich von Palmyra, das von Phönizien bis Kappadokien reichte und erst 272 zurückerobelt wurde; und im Westen ein gallisch­ britisches Sonderreich (bis 273), das sich hier noch viennal wiederholte: 287-96 nur in Britannien und 350-53 , 383-87 und 407- 1 3 zusammen mit Gallien und Spanien. Den Randvölkern an der Nordgrenze gelingen tiefe Einbrüche auf Reichsboden bis nach Zentralgriechenland und Nordafüka. Das Heer bringt aber schließlich mehrere tatkräftige Herrscher aus lllyrien (etwa das ehemalige Jugoslawien) auf den Thron, die das Reich allmählich wieder festigen: Claudius Gothicus, so zube­ nannt nach einem großen Sieg über die Goten 270 n.Chr.; Aurelian, 57

Dazu Franz Wieacker, Die Krise der antiken Welt (Göttingen 1 974); Peter Brown, Welten im Aufbruch - Die Zeit der Spätantike (deutsch B ergisch Gladbach 1 980); Jochen Martin, Spätantike und Völkerwanderung ( 3 . Auf! . München 1 99 5 ) ; u . Alexander Demandt, D i e Spätantike (München 1 98 8 ) .

Spätantike: Ständezwang

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Probus und schließlich Diokletian. Dieser Kaiser errichtet neue, näher an der Front gelegene Residenzen in Trier, Mailand, Sirmium (unweit Bel­ grad), Serdica (heute Sofia), Nikomedia am Ostzipfel des Marmarameers und Antiochia in Syrien, und von da an weilen die Kaiser nur noch selten im traditions stolzen und aufsässigen, den Soldatenkaisern fremd gewor­ denen Rom. 330 weiht Konstantin die neue Hauptstadt Konstantinopel an der Stelle der alten Mittelstadt Byzanz ein, und bald hat sie alle Privi­ legien Roms : Senat, Vergnügungsstätten, Brotverteilungen und Exemp­ tion von der Provinzialverwaltung unter einem besonderen Stadtpräfek­ ten. Die Wirtschaft des Reichs ist nach fünfzig Jahren Bürgerkrieg und Plün­ derung der Städte durch die Fremdvölker stark zurückgegangen. Das Land liegt brach, die Städte müssen befestigt werden, wobei man sich oft mit einem kleinen Bruchteil des alten Weichbildes begnügt. Ganze Pro­ vinzen werden geräumt wie das Dekumatenland zwischen Oberrhein und Donau oder Dazien (Siebenbürgen) mit seinen wichtigen Silberbergwer­ ken. Der wachsende Finanzbedarf des Staates für ein immer anspruchs­ volleres Heer und einen immer größeren Beamtenapparat führte schon seit der Machtübernahme durch Septimius Severus zu einer stetigen Münzverschlechterung, die im späteren 3. Jh. rapide Ausmaße annimmt. Die Währung basierte auf einer Silbermünze, dem Denar, der am Ende der Regierungszeit Galliens, des Sohnes und Nachfolgers von Valerian, nur noch einen hauchdünnen Silberüberzug aufweist, praktisch zu einer bloßen Weißkupfermünze wird. Hand in Hand damit geht eine sich überstürzende Inflation, infolge deren die Geldwirtschaft weithin aufhört. Das Bezahlen in Naturalien wird wieder üblich, sofern man nicht über­ haupt wie auf den großen Gütern zur Selbstversorgung übergeht. Die ländliche Bevölkerung hat ihre Steuern jetzt durchweg in Feldfrüchten zu entrichten, die unmittelbar der Heeresverpt1egung zukommen; auch für die Staatsbeamten erweist es sich als günstiger, in Naturalien besoldet zu werden. Zwar begründet dann nach Ansätzen Aurelians Diokletian und endgültig Konstantin eine neue Goldwährung. Diokletians Höchstpreis­ S8 edikt für fast alle Waren und Dienstleistungen erweist sich aber rasch als Fehlschlag und zieht zunächst auch die Währungsreform in den Stru­ del hinein. Das neue gute Geld wird gehortet. Notgedrungen wird auch das klassi sche Prinzip der Geldverurteilung aufgegeben; seit dem späte­ ren 3. Jh. wird der Schuldner bei Herausgabe- und deliktischen Scha58

Im Westen ignoriert. Ausgabe : Marta Giacchero, Edictum Diocletiani et collegarum de pretiis rerum venalium, 2 Bde. (Genua 1 974).

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Römische Verfassungs- u n d Rechtsgeschichte

densersatzklagen wieder wie in ältester Zeit in die Sache selbst bzw. zur Erstattung einer (oder mehrerer) gleichwertiger Sachen verurteilt. Am härtesten betroffen59 waren das im 1 . und 2. Jh. zu einigem Wohlstand gelangte Bürgertum der Städte und die Landpächter. Zahlrei­ che öffentliche Aufgaben waren in klassischer Zeit freiwillig von wohl­ habenden Bürgern bestritten worden, die sich um die kostspieligen Eh­ renämter bewarben, in denen sie Z.B. für Wasserleitungen, Straßen bau oder öffentliche Gebäude aus ihrem Privatvermögen sorgten. Mitglied (decurio) des Stadtrates (cl/ria), eines je nach Größe der Stadt 30- bis 600köpfigen Gremiums, innerhalb dessen solche Aufgaben verteilt wur­ den, wurde man, ähnlich wie in Rom Senator, als gewesener Amtsträger; und in die Gemeindeämter gelangte man einst durch mehr oder minder demokratische Wahlen. Mit schwindender Zahl freiwilliger Kandidaten wird nun die Nominierung (nominatio) durch die Kurie oder den Vor­ gänger entscheidend, und einer Nominierung kann man sich nicht mehr ohne weiteres entziehen; die Mitwirkung der Bürgerschaft reduziert sich auf eine Art Akklamation. Ähnlich wie vorher schon bei den Vormund­ schaften entwickelt die statthalterliche, vom Kaiser instruierte cognitio extra ordinem auch hier ein System von Entschuldigungsgründen. So wird der Dekurionat praktisch erblich, gemieden wegen der Haftung seiner reichsten und angesehensten Mitglieder für die Steuern etwa Ent­ wichener. Schließlich können sich die kuriablen Bürger nicht einmal mehr durch Wegziehen aus der Vaterstadt, für den antiken Menschen ein harter Schritt, vor dem Zugriff des Staats retten. Konstantin hebt ihre Freizügigkeit unter Androhung schwerer Strafen offen auf, und seitdem werden sie immer ärger bevormundet. Einst die Blüte des Reichs, durch große, von anderen bewirtschaftete Besitztümer als Rentier und dadurch für kommunalpolitische Aufgaben frei, findet ihre bevorzugte Lebens­ weise im spätantiken Beamten- und Militärstaat, dessen beste Soldaten sich aus den am wenigsten zivilisierten Gebieten, keine spontane Aner­ kennung mehr. Noch schlechter erging es der anderen genannten Gruppe, den landwirt­ schaftlichen Kleinpächtern (coloni) . Ihnen nimmt Konstantin nicht nur die Freizügigkeit, sondern im Verlauf des 4. Jhs. überantwortet sie der Staat in vielen persönlichen Beziehungen ihren Grundherren, welche oft die Steuern für sie abführen und gegen die sie die Gerichte nur mehr 59

Zum Folgenden Veri'., Privilegien und Ständezwang in den Gesetzen Kon­ stantins, RIDA 24 ( 1 977) 297ff; zu den cololli Michael Munzinger, Vinculae deterrimae condicionis (München 1 998)

Spätantike: Ständezwang

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wegen überhöhter Pachtzinsforderungen und schwerer Verbrechen anru­ fen können (s. Cod. Just. 1 1 , 50, 2 von 396). Ein Teil von ihnen, die sog. adscripticii (Zugeschriebene, nämlich in den Steuerlisten), de jure freie römische Bürger, werden in Wahrheit Leibeigene (wie vor der COl1stitutio Antoniniana?) ohne eigenes Velmögen und ausgeschlossen von der Ehegemeinschaft mit Höhergestellten (Cod. Just. 1 1 , 48, 1 9 ; 2 1 u. 24, alle frühes 6. Jh.). Freie Bauern auf eigenem Land verschwinden im Westen fast ganz; nur im Osten wird das Bauemlegen seit dem späten 4. Jh. mit immer schwereren Strafen bedroht (Cod. Theod. 1 1 , 24). Aber noch viele andere Berufsgruppen werden unfrei. Um in kritischer Lage die Versorgung der römischen Plebs mit billigem Kom zu sichem, unterwarf man die dafür benötigten Reeder und Bäcker massiven Zwangsmaßnahmen (Cod. Theod. 1 3 , 5 , 1 -3 , 3 14/ 1 5 n.Chr.). Und nach­ dem der Staat immer mehr tägliche Verbrauchsgüter kostenlos ( Öl, Schweinefleisch) oder zu herabgesetzten Preisen (Wein) den städtischen Massen zur Verfügung stellt, werden immer mehr Gewerbetreibende mit ihrem Vermögen über den Tod des Einzelnen hinaus an ihren Beruf gebunden, also auch ihre Erben. Ihr Verdienst ist nicht Gewinn, der einen freien Markt voraussetzt, in der Höhe nur ihm unterworfen ist, sondem eine staatlich festgesetzte Provision, bei den Getreideschiffem z.B. 4% der Ladung (s. Cod. Theod. 1 3 , 5, 7 a. E.). Die Reglementierung wird vermittelt von den jeweiligen Berufsvereinigungen (collegia), die zu Zwangsverbänden werden. Für die Ausrüstung des Heers sorgen staatli­ che fabricae. Freie Wirtschaft hält sich daneben aber auch. Die Kehrseite des Gewerbe- und Ständezwangs war, dass die Angehöri­ gen der am meisten betroffenen Gruppen ihm nach Möglichkeit zu ent­ kommen trachteten. Immer neue Verbote, am dichtesten überliefert zum Ständezwang der Dekurionen, spiegeln, da sie oft nur längst Geltendes wiederholen (Cod. Theod. 1 2, I u. pass.), wie schwer es war. die Zahl der Dekurionen auf dem erforderlichen Stand zu halten. Begehrt war insbe­ sondere der zivile Staatsdienst. Die Beamten, auch die unteren, waren i.d.R. von Abgaben befreit und durch sonstige VOlTechte begünstigt, wussten sich aber auch ohne Rechtsgrundlage bei der Verteilung des Sozialprodukts ihren Anteil zu sichem60 . Diokletians große Verwaltungs­ reformen hatten zu einer Vervielfachung des Beamtenapparats geführt, und außerdem besetzte man viele Ämter doppelt, damit sich ihre Inhaber gegenseitig kontrollierten; großzügig wurden Titularwürden ausgeteilt. 60

Zum Folgenden Verf. , Ämterkauf. SZ 95 ( 1 978) 1 5 8-86: u. Simon Corco­ ran, The empire of the tetrarehs (Oxford 1 996).

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Römische Verfassungs- und Rechtsgeschichte

Durch bezahlte Fürsprache (sufji-agium) sich einen Posten bei Hofe zu verschaffen war gang und gäbe, gesetzlich dagegen einzuschreiten wird zu einem ständigen Ritus. Die andere Gruppe, zu welcher der Zugang gesetzlich beschränkt werden musste, waren die Kleriker der christlichen Kirche. Seit 3 1 2 ergehen immer weiterreichende Wiedergutmachungs- und Gleichstellungsgeset­ ze, die, im Gesetzestext selbst nahezu unmerklich, in ihrer praktischen Auswirkung schon unter Konstantin zu einer massiven Bevorzugung der christlichen gegenüber den anderen Priesterschaften führen. Die höheren kirchlichen Ä mter sind denn auch bald fest in der Hand der weltlichen Führungsschicht6 1 . Diese ist die dritte, mehr tatsächlich als rechtlich begünstigte Gruppe, die das ganze Reich, am dichtesten aber den Westen überziehende Schicht der Großgrundbesitzer, deren Spitze die Senatoren von Rom und Konstantinopel bilden; in den Hauptstädten präsent ist nur ein kleiner Bruchteil; die meiste Zeit verbringen sie auf ihren Gütel11 , oft regelrechte kleine Territorialherrschaften mit eigener Polizei, die der des lokalen Repräsentanten der Staatsrnacht überlegen ist. So können sie Schutz gewähren und sich Ü bergriffe leisten, ohne dass der Betroffene wirklich Zugang zu den staatlichen Organen hat. Der römische Staat war nie so gleichgültig gegenüber dem Los des gewöhnlichen Bürgers, so unfähig zur Integration neuer Gruppen, wie unter den christlich gewor­ denen Kaisel11 , bei aller Mildtätigkeit der Kirche und ihren oft höchst effektiven Bemühungen um Ausgleich. Nachdem die letzten Reste der Beteiligung des Senats an der Macht: die senatorischen Offiziers stellen und seine Mitwirkung bei der Erhebung eines neuen Kaisers, im späten 3. Jh. beseitigt waren, regiert der Kaiser seit Diokletian unverhüllt als absoluter Monarch. Er heißt jetzt für alle dominus (Herr), wonach die neue Regierungsform Dominat genannt wird. Diokletian führt das orientalische Hofzeremoniell mit Proskynese vor dem Herrscher (Fußfall mit einer Art Kusshand) ein, und seit Kon­ stantin trägt er das Diadem, die hellenistische Stil11binde als Zeichen der Königsherrschaft; sie anzustreben war Tiberius Gracchus verdächtigt und dann erschlagen worden, und nach ihr getrachtet zu haben hatte noch Cäsar das Leben gekostet. Der Kaiser umgibt sich mit einem immer differenziel1eren Hof. Zentral- und Regionalverwaltung werden von 61

S . etwa Friedrich Prinz, Die bischöfliche Stadtherrschaft im Frankenreich vom 5. bis zum 7 . Jh. , in: His!. Ztschr. 2 1 7 ( 1 973) 1 -3 5 ; Martin Heinzelmann, B ischofsherrschaft in Gallien (München 1 976): u. Bemhard Jussen, Über Bischofsherrschaften . . . in Gallien . . . , Hist. Ztschr. 260 ( 1 995) 673-7 1 8 .

Spätantike : Rechtsliteratur

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Grund auf umgestaltet. Vor allem werden jetzt auf beiden Ebenen zivile und militärische Befugnisse, im römischen Staat bis dahin stets beisam­ men, getrelmt. In Diokletians Tetrarchie (Vierkaiserherrschaft) von zwei über- (Augusti) und zwei Unterkaisem (Caesares) mit je einem Reichs­ sprengel bildeten die Verwaltungsspitze zwar noch zwei Prätorianerprä­ fekten alten Stils. Nachdem dieses System aber an der Übergehung des genialsten Nachkommen von Diokletians Vierkaisermannschaft, Kon­ stantins, zerbrochen war, stehen an der Spitze des Heeres zwei Heerrneis­ ter (magistri militum), der magister equitum (Kavallerie) und der m. peditum (Infanterie); und der Zivilverwaltung der quaestor sacri pa/atii (eine Art Justizminister), die comites (eigentlich ,Begleiter' ) sacrarum /argitiol1um (der allerhöchsten Schenkungen, gemeint: Privatisierungen, eine Art Finanzminister) und rerum primtarum (der Domänen, zuständig auch für Konfiskationen) und der magister ojjiciorum (Chef der großen Zentralkanzleien [so oben S. 7 1 f.l , der Palastgarden und Protokollchef) . All diese und einige weitere wie der praepositus sacri clihiculi (über­ kämmerer) sind ständige Mitglieder des Kronrats (consistorium, von consistere ,hintreten, sich einfinden ' ) . Für die regionale Zivilverwaltung wird das Reich in vier, zeitweise drei Präfekturbezirke unter je einem praefectlls praetorio unterteilt, der nicht mehr notwendig beim Kaiser residiert und keine militärischen Befugnisse mehr hat. Die Präfekturbe­ zirke gliedem sich in je zwei bis fünf Diözesen unter einem vicarius (eigentlich ,Ersatzmam1, Stellvertreter' , nämlich des Prätorianerpräfek­ ten), und die Diözesen, Italien bildet z.B. zwei, zerfallen in eine Vielzahl kleiner Provinzen. All das zusammen erlaubte eine intensivere Verwal­ tung und staatliche Rechtsprechung. Für die Nachrichtenübermittlung richtet Konstantin ein straff organisier­ tes Corps kaiserlicher Botenreiter ein, die berüchtigten agentes in rebus, die auch nachrichtendienstliche Aufgaben erhalten. In einer großen Steu­ en'eform ebnet Diokletian die ererbte regionale Mannigfalt im Rahmen des Möglichen ein, schafft insbesondere die immer zahlreicher geworde­ nen lokalen Privilegien wie die Grundsteuerfreiheit Italiens und der Städte mit ius ltalicum ab, deren Zahl fast von jedem Kaiser für gute Dienste vennehrt worden war. Grundlage der landwirtschaftlichen Be­ steuerung sind nach ihrer EI1ragsfähigkeit gleichmäßig registrierte Wirt­ schafts einheiten, insbesondere Arbeitskräfte und nach Bodengüte und Kultur abgestufte Einheitsflächen, so dass die Zahl der Steuereinheiten für jeden Besitz und jede Gemeinde, Provinz, Diözese, jeden Präfektur­ bezirk und schließlich das ganze Reich katalogisiert wird mit periodi-

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Römische Verfassungs- und Rechtsgeschichte

scher Korrekturmöglichkeit. Der im voraus für jedes Jahr geschätzte Staatsbedarf wird auf die Einheiten gleichmäßig umgelegt. Das Gefährli­ che an diesem System war nicht nur der große dafür erforderliche Beam­ tenapparat, der angesichts vergleichsweise geringer Besoldung und auto­ ritären, gegen freimütige Kritik jetzt abgeschirmten Staatsgebarens in bisher unbekanntem Ausmaß der Korruption erlag; sondern auf diese Weise konnte die Steuerschraube verführerisch leicht angezogen werden. Auch war dadurch dem Privilegienwesen kein Riegel vorgeschoben. Z. B. sollte schon Licinius wieder bestimmen, dass Wehrbauern und Vete­ ranen fünf bzw. zwei Einheiten absetzen können, was Konstantin zwar wieder einschränkt, aber nicht mehr aufheben kann (Cod. Theod. 7, 20, 4; 325 n.Cm·.). b) Die kaiserliche Gesetzgebung

Der konsequente Abbau aller etwa noch erhaltenen autonomen Träger von Staatsgewalt und eigenständigen Verfassungsorgane zugunsten der kaiserlichen Allmacht bzw. der Bürokratie bringt es mit sich, dass jetzt auch in der Theorie die Rechtssetzung beim Kaiser konzentriert ist. Neues Recht kann im Dominat nur noch der Kaiser setzen, und endlich heißen seine diesbezüglichen Akte auch leges (Gesetze). Die Nomenkla­ tur des Prinzipats wird aber zur Differenzierung innerhalb der kaiserli­ chen Anordnungen beibehalten, doch sind die Übergänge fließend; eine strenge Terminologie wird nur noch partiell beobachtet. Herausgehoben sind die kaiserlichen Edikte, die ad populum (an das Volk) gerichtet sind, während gewöhnliche Gesetze als epistulae an Beamte ergehen, die sie im Rahmen eines eigenen Edikts promulgieren. All das sind allgemeine Gesetze (leges generales). Pragmaticae (nämlich leges oder sanctiones) heißen seit dem 5. Jh. demgegenüber kaiserliche Schreiben an Körper­ schaften und Privatleute mit Einzelregelungen, zumal auch Vergünsti­ gungen (privilegia, adnotationes) . Weiterhin ergehen kaiserliche Be­ scheide (rescripta) auf Eingaben Privater oder von Behörden62 . Unter

62

Dazu Dietrich V. S imon, Konstantinisches Kaiserrecht (Frankfurt 1 977) 5 49 . Z u den sanctiones pragmaticae Gunter Wesener, RE Supp!. 1 4 ( 1 974) Art. pragmatica sanctio; u. Peter Kußmaul , Pragmaticum und lex (Göttingen 1 98 1 ). Zu den Edikten Nicolaas van der Wal, Edictum und lex edictalis, RIDA 28 ( 1 98 1 ) 277-3 1 3 . Zur Gesetzgebung Jean Gaudemet, L a formation d u droit seculier et du droit de I'Eglise aux IV ' et V ' siecles, (2. Aufl . Paris 1 979) 30-

Spätantike: Gesetzgebung

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Konstantin, der i m Gegensatz z u Diokletian dem überkommenen Recht wenig Respekt zollt und oft eigenwillig und ungeduldig eingreift, werden dem weiter vorhandenen juristisch geschulten Beraterstab in verstärktem Maße Literaten vorgesetzt, die die kaiserlichen Rechtssetzungen ärger als zuvor in den Dienst der Herrscherpropaganda stellen63 • Kaiserliche Großmut und Bestechlichkeit selbst der höchsten Beamten drohen die Rechtsordnung zu unterhöhlen64 : Imperator Constantinus Augustus lulio Antiocho praefecto vigilum (Cod. Theod. 1 , 2, 1 ) Annotationes nostras sine rescribtione admitti non placet. Ideoque officium gravi­ tatis tuae observet, sicut semper est custoditum, ut resclibta vel epistulas potius nostras quam adnotationes solas existimes audiendas. Data III Kalendas lanuarias Treviris Volusiano et Anniano consulibus Kaiser Konstantin an den Präfekten der Stadtwache Julius Antiochus Es ist nicht richtig, dass Randverfügungen von unserer Hand, die nicht als Be­ scheide ausgefertigt sind, (vor Gericht) zugelassen werden. Und deshalb möge das Büro deiner Gewichtigkeit beobachten, wie es immer befolgt worden ist, dass du vielmehr unsere ausgefertigten Bescheide oder Schreiben statt bloßer Randverfü­ gungen zu beachten für richtig hältst. Gegeben am 30. Dezember zu Trier im Jahr 3 1 4 n.Chr. Imperator Constantinus Augustus ad populum (Cod. Theod. l , 2, 2) Contra ius rescribta non valeant, quocumque modo fuerint inpetrata. Quod enim publica iura praescribunt, magis sequi iudices debent. Proposita nn Kalendas Septembres Romae Constantino Augusto IIIl et Licinio IIII consulibus Kaiser Konstantin an das Volk Rechtswidrige kaiserliche Rückschreiben sollen nicht gelten, auf welche Weise immer sie erlangt worden sein mögen. Was nämlich das allgemeine Recht vor­ schreibt, dem vielmehr müssen die Richter folgen. Ausgehängt am 29. August zu Rom im Jahr 3 1 5 n.Chr.

Inhaltlich hat die Gesetzgebung seit Konstantin deutlich autoritäre, und das heißt auch: sozialfürsorgerische Züge. Oft sind die Eingriffe des 42; u. Christoph F. Wetzler, Rechtsstaat und Absolutismus - Ü berlegungen zur Verfassung des spätantiken Kaiserreichs (Berlin 1 997). (,3 Dazu S imon ( soeben Fußn. 62), zum übernächsten Text dOlt S . 1 1 ff. ; u . Wulf Eckart V o ß , Recht u n d Rhetorik in den Kaisergesetzen d e r Spätantike (Frankfurt am Main 1 982). 6 4 Dazu insbes. Wolfgang Schuller (Hrsg. ) , Korruption im Altertum - Kon­ stanzer Symposium Oktober 1 979 (München 1 982).

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Römische Verfassungs- und Rechtsgeschichte

Herrschers gewaltsam und unausgewogen Lind ändern nach den Bedürf­ nissen des Tages. So schreitet Konstantin in seinem Edikt vom I. Dezem­ ber 3 l i,j hart gegen Denunzianten ein. Sie sollen gar nicht erst angehölt, sondern sofort hingerichtet werden. Acht Jahre später aber verspricht er Sklaven, die Falschmünzerei aufdecken, die Freiheit: Imperator Constantinus Augustus ad Ianuarinum vicarium urbis (Cod. Theod. 9, 2 1 , 2) Quoniam nOill1Ulli monetarii adulterinam monetam clandestinis sceleribus exer­ cent, cuncti cognoscant necessitatem sibi incumbere huiusmodi homines in­ quirendi, ut investigati tradantur iudiciis, facti conscios per tormenta ilico prodituri ac sic dignis suppliciis addicendi. Accusatoribus etiam eorum immunitatem permittimus, cuius modus, quoniam dispar census est, a nobis per singulos statue­ tur. Servos etiam, qui hoc detulerint, civitate Romana donamus, ut eorum domini pretium a fisco percipiant. Si quis autem militum huiusmodi personam susceptam de custodia exire fecerit. capite puniatur. Appellandi etiam privato licentia denege­ tur; si vero miles aut promotus huiusmodi crimen incun'erit, super eius nomine et gradu ad nos referatur. Si dominum fundi vel domus conscium esse probabitur, deportari eum in isulam oportebit, cunctis eius rebus protinus confiscandis; si vero eo ignaro crimen commissum est, possessionem aut domum debet amittere, in qua id scelus admissum est. Actor fundi vel servus vel incola vel colonus, qui hoc ministerium praebuit, cum eo qui fecit supplicio capitali plectetur, nihilo minus fundo vel domo fisci viribus vindicanda. Quod si dominus ante ignorans, ut pri­ mum repperit, scelus prodidit perpetratum, minime possessio vel domus ipsius proscribtionis iniUliae subiacebit, sed auctorem ac ministrum poena capitalis excipiet. Data XII Kalendas Decembres < .. proposita . . . > Romae Crispo II et Constantino II Caesaribus consulibus. Kaiser Konstantin an den Vikar von Rom Januarin Weil etliche Münzer verbrecherischerweise heimlich falsches Geld herstellen, mögen alle erfahren, dass dergleichen Leute sich unvermeidlich eine Untersu­ chung zuziehen. die Aufgespül1en den Gerichten übergeben werden, die Mitwis­ ser der Tat, der Folter unterwolien, sof0l1 aussagen werden und sie so mit den verdienten Strafen zu belegen sind. Außerdem gewähren wir ihren Anklägern Steuelireiheit, deren Umfang, da die Veranlagung unterschiedlich ist, im Einzel­ fall von uns festgesetzt werden wird. Ferner beschenken wir Sklaven, die das aufdecken, mit dem römischen Bürgerrecht, unter Entschädigung ihrer Eigentü­ mer (nur soweit unschuldig) durch den Fiskus. Wenn aber ein Soldat, der einen solchen Menschen zu bewachen hat, bewirkt, dass er aus dem Gefängnis ent­ weicht, soll er mit dem Tode bestraft werden. Weiter wird Zivilisten das Recht, .

6

5 Cod.Theod 1 0, 1 0 , 2 . Zur Datierung Otto Seeck, Regesten der Kaiser u . Päpste (Stuttgart ( 9 1 9) SO f. u. 1 60; u. Timothy D. B ames, The new empire of Dioc1etian and Constantine (Cambridge/USA 1 982) 7 1 .

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Berufung einzulegen, abgeschnitten; wenn aber ein Soldat oder e i n höherer Beam­ ter sich in ein solches Verbrechen stürzt, ist über seinen Namen und Dienstgrad uns zu berichten. Wenn erwiesen wird, dass der betreffende Land- oder Hausei­ gentümer eingeweiht ist, so ist er auf eine Insel zu deportieren und sein ganzes Vermögen sogleich zu konfiszieren; wenn das Verbrechen aber ohne sein Wissen begangen wurde, so muss er trotzdem den Besitz oder das Haus, in dem das Verbrechen begangen wurde, einbüßen. Der Verwalter, Haussklave, Bewohner oder Zinsbauer, der dabei Hilfe gewährte. ist zusammen mit dem Täter mit dem Tode zu bestrafen, das Land bzw. Haus aber nichtsdestoweniger dem Fiskus zuzuweisen. Wenn aber der anfangs unwissende Grundeigentümer das Verbre­ chen, sobald er davon erfahren hat. anzeigt, dann wird sein Besitz oder Haus nicht unrechtmäßiger Einziehung unterliegen, sondern die Todesstrafe wird an ihm und seiner Dienerschaft vOlübergehen. Gegeben am 20. November < . .. , ausgehängt am . .> zu Rom im Jahr 32 1 .

Und in einem Gesetz vom 29. Mai 326 (Cod. Theod. 9, 9, 1 ) prämiert er, gegen Verbindungen zwischen einer Freien und einem Unfreien wütend, denunzierende Sklaven wieder. Selbst einer unehelichen Verbindung zwischen hohem Offizier und Gastwirtin entsprungen, eifert er gegen uneheliche und eheliche Mesalliancen und versperrt den daraus hervor­ gegangenen Kindern den Aufstieg (Cod. Theod. 4, 6, 3). Seinen vorehe­ lichen, schon zum Mitherrscher erhobenen Sohn lässt er töten, bald auch seine Frau und erlässt dann wirre Gesetze, welche die Sittlichkeit schleu­ nigst heben sollen. So sei keinem Ehemann zu erlauben, eine Konkubine bei sich zu haben, ohne Sanktion (Cod. Just. 5, 26, 1 ) ; der Konkubinat war an sich eine monogame nichteheliche Lebensgemeinschaft und durchaus ehrenhaft - man kann nur ahnen, was hier gemeint sein mag. Großzügig erteilt er Einzelnen und ganzen Gruppen Steuerprivilegien, was ihn dann zur Einführung eines rigorosen Ständezwangs nötigt. Einer seiner Söhne und Nachfolger, Constans, versucht, die Steuerprivilegien in größerem Umfang zurückzunehmen66 , doch wird er sobald die erste größere Gruppe davon erfasst wird, gestürzt. Immerhin erließ Konstantin o auch viele sozialfürsorgerische Gesetze 7 • 66

In chronologischer Reihenfolge, ohne die wenigen Parallelgesetze seiner Mitherrscher: Cod. Theod. 1 5 , 1 , 5; 6, 22, 2 1 2, 1 , 24; 1 2, 1 , 26; 1 2, 1 , 4 1 ; 1 1 , 1 2, 1 ; 6 , 22, 3 ; 1 2 , 1 , 36; 1 2, 1 , 42; und dann: 1 1 , 7 , 6 . Vgl. von ihm auch Cod. Theod. 1 0, 1 0 , 7 u . 1 0, 8, 4 u. dazu Hans Wieling, in: Atti deWAccademia Romanistica Costantiniana 9 ( 1 993) 267-98, bes. 278 u . 28 1 . 67 Z. B . Cod. Theod. 1 , 22, 2 ; 3 , 30, 1 -5 ; 9 , 2 1 , 4 oder 9 , 42, I . Dazu Joseph Vogt, Zur Frage des christlichen Einflusses auf die Gesetzgebung Konstantins des Großen, in: Festsehr. f. Leopo1d Wenger II (München 1 945) 1 1 8-48 . =

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Römische Verfassungs- u n d Rechtsgeschichte

Schon vor der Plünderung Roms durch die Westgoten 4 1 0 n.Chr. und erst recht danach ergriff das noch im späteren 4. Jh. zweitrangige Ost­ reich die Führung, auch im Recht. Die seit der konstantinischen Wende ergangenen Kaisergesetze waren zu einer unübersichtlichen Masse ange­ schwollen, da sich die absolutistisch herrschenden Kaiser weder inhalt­ lich noch sprachlich Schranken auferlegt hatten; hemmungslos hatten sie die Gesetzgebung in den Dienst der Herrscherpropaganda gestellt und die Texte zu diesem Zweck rhetorisch kräftig aufgeputzt und stark vermehrt. 429 nun setzte der Ostkaiser Theodosius II. eine Kommission mit dem tüchtigen Juristen Antiochus Chuzon ein, welche die seit 3 1 2 ergangenen Gesetze sammeln, auf ihre Echtheit überprüfen und ordnen sollte68 . Schon die bloße Bestandsaufnahme erwies sich indessen als mühselig. Das Hauptarchiv in Rom war zerstört, und die übrigen waren nicht gleichmäßig geführt worden, zumal im Ostreich nicht. Nun musste man die Gesetze herbeischaffen, woher man sie bekommen konnte: aus Pro­ vinzialarchiven, Privatsammlungen usf. 435 wird die Kommission ver­ größert und erhält genauere Instruktionen. Vorerst soll nur eine Samm­ lung der allgemeingültigen Kaisergesetze (bzw. ihres anordnenden Hauptteils ohne weitschweifige Präambel und Epilog) erstellt werden, geordnet nach Sachgebieten in rund 400 Sachtitel, verteilt auf 1 6 libri; komplexe Gesetze wurden zerschnitten. Innerhalb der Titel wurden die Gesetze nach Datum chronologisch geordnet, so dass der Benutzer selbst beurteilen konnte, inwieweit ein älteres Gesetz durch ein späteres über­ holt war. Nach gut zwei weiteren Jahren war die Arbeit bewältigt und am 1 5 . Februar 438 wurde der Codex Theodosianus in Konstantinopel und Ende des Jahres auch in Rom verkündet69 . Mehr als die Hälfte seines Inhalts ist öffentliches Recht. Das letzte, 1 6. Buch ist dem Recht der christlichen Kirche gewidmet.

68

Dazu Tony Honore, Law in the crisis of empire 379-455 AD (Oxford 1 998) 97- 1 5 3 ; u. The Theodosian code, hrsg . v . Jill Harries u . a (London 1 993). 6 Y Maßgebende Ausgabe von Theodor Mommsen unter dem Titel Theodosiani libri XVI (Berlin 1 905), wonach hier zitiert ist. Der beste Kenner der Hand­ schriften war Paul Krüger, der in hohem Alter eine neue Ausgabe begann (Codex Theodosianus, fase. 1 u. 2 B uch 1 -8 , Berlin 1 92 3 u. 1 926), welche die nur lückenhaft überlieferten B ücher 1 -5 besser rekonstruiert. Den Anfang von Buch 9 hatte Krüger verloren, worüber die Ausgabe ins Stocken geriet und der Herausgeber starb. Zu Datierung und Lokalisierung der einzelnen Gesetze ist stets beizuziehen Otto Seeck, Regesten der Kaiser und Päpste für die Jahre 3 1 1 -476 n .Chr. (Stuttgart 1 9 1 9) , dem im allgemeinen auch hier gefolgt wird. =

Spätantike: Gesetzgebung

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c) Neue und die alte Rechtsliteratur

In der Mitte des 3. Jhs. n.Chr. verebbte wie gesagt die klassische Rechts­ literatur. Trotzdem gab es weiterhin Juristen, die das Recht einigermaßen beherrschten, zumal in den Rechtsschulen und in den kaiserlichen Kanz­ leien unter den juristischen Ratgebern des Kaisers. Denn kaiserliche Reskripte ergehen weiterhin; von Diokletian sind sogar mehr erhalten als je zuvor. Konstantin erst schränkt diesen Dienst erheblich ein. Gegen Ende des 3. Jhs. machen sich zwei Juristen daran, die Konstitutionen zu sammeln, zu ordnen und zu publizieren. Der eine, Gregorius, geht bis Hadrian zurück und schließt seine Sammlung, den Codex Gregorianus, im Frühjahr 29 1 ab, während der andere, Hermogenian, sich auf die beiden Jahre 293 und 294 konzentriert, Diokletians Reskripttätigkeit dieser Jahre in großer Fülle ausbreitet. Er selbst hatte sie als Chef der Libellkanzlei konzipiert. Beide Werke, wiewohl vermutlich von höchster Stelle angeregt oder doch gefördert, geben sich im Gegensatz zum Codex Theodosianus noch als private Juristenarbeiten; doch werden sie das Vorbild für ihn, auch ihre Ordnung der Materien. Aber auch Darstellungen des damals geltenden Rechts fehlen nicht ganz, sie sind nur viel bescheidener als die klassischen Juristenschriften. Ein­ mal ist ihr Umfang gering: fünf bis höchstens sechs libri, oft nur ein einziger. Sie teilen nur kurz Rechtssätze mit, ohne sich mit Begründun­ gen, sonstigen Erörterungen oder Auseinandersetzung mit anderen Auto­ ren aufzuhalten. Trotzdem sind diese Rechtssätze zum großen Teil den klassischen Juristenschriften entnommen. Die Autoren sind unselbstän­ dig, Epigonen. So wagen sie es auch nur ausnahmsweise, ihre Erzeugnis­ se unter ihrem eigenen Namen zu veröffentlichen. Meist schützen sie einen der gängigen Klassiker vor, insbesondere die beiden Spätklassiker Paulus und Ulpian sowie Gajus. Unter eigenem Namen veröffentlichte Hermogenian, der Konstitutionensammler, sechs libri [uris epitomae (Auszüge aus dem Recht); Arcadius Charisius, Chef der Libellkanzlei 290/9 1 , schrieb drei Einzellibri De testibus ( Über Zeugen), De muneribus civilihus ( Über städtische Lasten) und De oflicio praefecti praetorio (Über das Dezernat des Prätorianerpräfekten); und ein anderer Ulpian verfasste zwei bis drei Generationen nach seinem berühmten Namensvet­ ter Regulae (Grundlinien) in sieben Büchern. Unter einem Klassikerna­ men verstecken sich die Paulus unterschobenen Sententiae receptae ad filium (Anerkannte Meinungen für den Sohn) in fünf lihri, die Ulpian zugeschriebenen Opiniones in sechs Büchern, angeblich gajanische Regulae in etwa fünf Büchern, ihm zugeschriebene Regulae in einem

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Römische Verfassungs- und Rechtsgeschichte

einzigen Buch und viele andere kleine Werke. Sodann gibt es Summie­ lUngen klassischer Schriften wie der Institutionen des Gajus, juristische Wörterbücher, Exzerptensammlungen aus den Schriften der Spätklassi­ ker und den Konstitutionenkodizes wie die Fragmenta Vaticana und aus dem S. Jh. bescheidene ErläutelUngswerke zu den Kodizes und den pseudopaulinischen Sentenzen 70 . Bei diesem Stand der Dinge war es auch für die Praxis um so wichtiger, die alten, klassischen Juristenschriften ergänzend heranzuziehen. Es geht vor allem um die Hauptschriften der Spätklassiker Papinian, Paulus, Ulpian und Modestin sowie von Gajus. Die zahlreichen Kontroversen unter den klassischen Juristen, auch noch der Spätklassiker, IUfen jetzt aber nur mehr Ungeduld hervor und machen die Richter unsicher. Zumal die westliche Richterschaft scheint gegenüber mit solchen Kontroversen spielenden Advokaten hilflos gewesen zu sein und nach allerhöchsten Richtlinien verlangt zu haben, wie man in einem solchen Fall verfahren soll. Jedenfalls erließ der Kaiser des Westens, Valentinian III., drei Jahre, bevor sein Vetter im Osten, Theodosius H . , die erste Kommission zur Sichtung der geltenden Gesetze einsetzte, die ursprünglich auch das Juristenrecht einbeziehen sollte, das sogenannte Zitiergesetz: Imperatores Theodosius et Valentinianus Augusti ad senatum urbis Romae (Cod. Theod. 1 , 4, 3) Papiniani, Pauli, Gai, Ulpiani atque Modestini sCl1pta universa finnamus ita, ut Gaium quae Paulum, Ulpianum et ceteros comitetur auctoritas lectionesque ex omni eius corpore recitentur. Eorllll1 quoque scientiam, quorum tractatus atque sententias praedicti onmes suis operibus miscuerunt, ratam esse censemus, ut Scaevolae, Sabini , Iuliani atque Marcelli omniumque, quos illi celebrarunt, si tarnen eorum libri propter antiquit,itis incertum codicum collatione finnentur. Ubi autem diversae sententiae proferuntur, potior numerus v incat auctorum, vel si numerus aequalis sit, eius partis praecedat auctoritas, in qua excellentis ingenii vir Papinianus emineat, qui ut singulis vincit, ita cedit duobus. Notas etiam Pauli atque Ulpiani in Papiniani corpus factas, sicut dudum statutum est, praecipimus infinnari. Ubi autem eorum pares sententiae recitantur, quorum par censetur 7 0 Zu diesen Hartwig Schellen berg, Die Interpretationen zu den Paulussenten­ zen (Göttingen 1 965). Zu Pseudo-Ulpians Opinionen, Verf. , Ulpiani opinio­ num libri VI, TR 41 ( 1 97 3 ) 279-3 1 0. Zu den Paulussentenzen Verf. , Röm. Jurisprudenz in Africa (Berlin 1 993) 27- 1 02 u . 1 1 5 -86, 2 . Auf! . 2004 S. 431 28 . Zu den Fragmenta Vaticana Verf. (oben Fußn. 32) 1 50-62. Zu Erläute­ rungen der Kodizes ebd. 1 75 - 8 8 . Zu Gregorius, Hermogenian, Arcadius Chari­ sius und anderen Juristen damals ebd. 1 9-55 und zu ihren Werken 1 3 1 -50; u . Honore (oben Fußn. 50) 1 39-85.

Spätantike: Gesetzgebung

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auctoritas, quos sequi debeat, eligat moderatio iudicantis. Pauli quoque sententiae semper valere praecipimus. Data VII idus Novembres Ravenna dominis nostris Theodosio XII et Valentiniano II Augustis consulibus. Die Kaiser Theodosius und Valentinian7 1 ,ill den Senat der Stadt Rom Wir bestätigen die Geltung sämtlicher Schriften von Papinian, Paulus, Gajus, Ulpian und Modestin, so dass also Gajus dasselbe Ansehen genießt wie Paulus, Ulpian und die übrigen und dass Belegstellen aus seinem ganzen Werk angeführt werden können. Auch die Erkenntnisse der Autoren, deren Erörterungen und Ansichten alle die Genannten in ihre Werke aufgenommen haben, erklären wir für gültig, z.B. die des (Quintus Mucius) Skävola, Sabinus, Julian und Marcellus sowie all derer, die von den Genannten ständig angeführt werden, vorausgesetzt, dass der Text ihrer Werke in Anbetracht der altersbedingt unsicheren Überliefe­ rung durch Vergleich mehrerer Exemplare gesichert ist. Wo aber unterschiedliche Ansichten vorgebracht werden, dort soll die größere Zahl der Autoren maßgeblich sein; oder, wenn das Zahlenverhältnis gleich ist, dann soll das Ansehen der Seite den Vorrang haben, auf der sich die herausragende Einsicht Papinians hervortut, des Mannes, der zwar zwei andem unterliegt, gegenüber Einzelnen jedoch die Oberhand behält. Auch setzen wir fest, dass die kritischen Anmerkungen, die Paulus und Ulpian dem Werk Papinians beigegeben haben, ungültig sind, wie schon truher angeordnet (von Konstantin im Jahre 32 1 , eod. Theod. 1 , 4, 1 ). Wo aber gleich viele Stimmen aus der Zahl der Autoren angeführt werden, die glei­ ches Ansehen genießen sollen, dort mag das Ermessen des Urteilenden abwägen, welcher Seite er folgen soll. Femer bestimmen wir, dass die Sentenzen von Paulus stets einbegriffen sind (so schon Konstantin 328, eod. Theod. 1 , 4, 2). Gegeben am 7 . November zu Ravenna im Jahr 426

Angebahnt hat dieses Zählen schon Hadrian (ca. 1 30 n.C1rr.) nach Gajus, Inst. 1 , 7 (Schluss des Rechtsquellenkatalogs): Responsa prudentium sunt sententiae et opiniones eorum, quibus pennissum est iura condere. Quorum omnium si in unum sententiae concurrant, id quod ita sentiunt legis vicem optinet, si vero dissentiunt, iudici licet quam velit senteniam sequi. Idque rescripto divi Hadriani significatur. Gutachten der Rechtsgelehrten sind die Meinungen und Ansichten derjenigen, denen es erlaubt ist (Anspielung auf das ius respondendi ex auctoritate principis), 7 1 Im eod. Theod. , der ja in bei den Reichsteilen als Gesetz verkündet worden ist, fiImieren stets alle jeweils regierenden Kaiser (außer denen, die als Usur­ patoren galten) als gemeinsame Urheber der einzelnen Gesetze. Dieser Schein trügt aber. Seit 286 übte jeder Augustus sein Gesetzgebungsrecht selbständig aus, und ob der Kollege im anderen Reichsteil einen Erlass des einen über­ nahm, blieb stets zweifelhaft. Die erhaltenen Dubletten zeigen oft Ä nderun­ gen, zumindest abweichende Formulierung.

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Römische Verfassungs- und Rechtsgeschichte

Rechtssätze aufzustellen. Wenn deren aller Meinungen übereinstimmen, hat das, wofür sie sich auf diese Weise aussprechen, Gesetzeskraft. Wenn sie jedoch nicht übereinstimmen, darf der Richter der Meinung folgen, welcher er will. Das besagt ein Bescheid des göttlichen Hadrian.

Das Zitiergesetz ist ein trauriges Dokument geistiger Selbstlosigkeit, die schon unter Konstantin anhebt. Dieser hatte die klitischen Anmerkungen von Paulus und Ulpian zu Papinian strikt verboten. Dagegen setzt er sich für die pseudopaulinischen Sentenzen ein: ihre Authentizität dürfe nicht mehr bezweifelt werden7 2 . 3 Auch die Juristenausbildung wird in der Spätantike straifer organisiert7 • Das Reich hat zwei und später drei staatliche Ausbildungsstätten für Juristen mit staatlich besoldeten Dozenten: Rom, das noch lange führend bleibt, die Rechtsschule von Beirut und die zwischen 4 1 4 und 425 n.Chr. gegründete Universität von Konstantinopel. Außerdem gab es privaten Rechtsunterricht in Alexandria bei Ägypten, Cäsarea in Phönizien und im Westen Salona in Dalmatien, vermutlich Karthago in Kleinafrika und seit dem 5. Jh. in Narbonne, was den Westgoten nützen sollte, und Lyon (den Burgundern und Franken) . In Konstantinopel lehrten im 5. Jh. und offenbar noch unter Justinian 10 lateinische und 10 griechische Gramma­ tiker; die Grammatik war eine Art Grundstudium. Als Auibaustudium könnte man den Unterricht bei den Rednern kennzeichnen, deren es drei lateinische (oratores) und fünf griechische (Rhetoriker oder Sofisten) gab. Schließlich konnte man als eine Art Vertiefungsstudium Filosofie oder Jura wählen; für jenes Fach gab es einen, für dieses zwei Ordina­ rien. In Beirut lehrten nur Juristen, und zwar gleichfalls zwei Ordinarien; der Rechtsunterricht dort genoß bis ins 6. Jh. höheres Ansehen als in Konstantinopel. Auch Filosofie studierte man vorwiegend außerhalb der Hauptstadt: in Athen, bis Justinian 529 die dortigen Filosofenschulen schloss. Aus Beirut kennen wir das damalige akademische Disziplinar­ recht. Der von auswärts kommende Student musste sich zunächst beim Magistrat der Stadt melden, eine vom heimatlichen Provinzgouverneur ausgestellte Studienerlaubnis vorlegen und angeben, wo er Wohnung nahm. Sein Fleiß beim Studium und seine Führung außerhalb der Schule wurden überwacht. Er durfte nicht zu oft im Theater und sonstigen Volksbelustigungen in der Arena oder im Circus gesehen werden und 72

eod. Theod. 1 , 4, I u. 2 v. J. 3 2 1 u. 328. Zum Folgenden B ernhard Kübler, Gesch. d. Röm. Rechts (Leipzig 1 925) 424- 3 3 ; Verf. (oben Fußn. 32) passim; u . ders . , Röm. Jurisprudenz in Galline (Berlin 2002) passim. 73

Spätantike : Rechtsunterricht

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keine üppigen Gelage halten. Wer gegen die Studienordnung verstieß, wurde öffentlich ausgeprügelt und per Schiff abgeschoben. Studierende durften höchstens 25 Jahre alt sein. Seit 460 n.Chr. ist ein Abschluss­ zeugnis erforderlich, um beim Gericht des Prätorianerpräfekten in Kon­ stantinopel als Anwalt zugelassen zu werden. Die Zahl ist auf 1 5 0 be­ grenzt, aus denen die hohen Beamten und Richter rekrutiert werden. Das Studium dauert fünf Jahre. Ihm liegen klassische Juristenschriften und die Konstitutionenkodizes zugrunde, die in Auswahl gelesen und erläutert werden. Unterrichts sprache ist mittlerweile griechisch, die Texte werden aber im Original gelesen, man musste also auch Latein können. Im ersten Jahr las man Gajus (die Institutionen) und knappe Zusammen­ fassungen des Ehegüter-, Vorrnundschafts-, Testaments- und Verrnächt­ nisrechts; die Studenten des ersten Jahrgangs hießen dupondii (Gro­ schen), worin sich offenbar der Hochmut der älteren Semester kundtut. Im zweiten Jahr kam die erste Hälfte des Ediktstoffs an die Reihe, näm­ lich Gerichtsverfassungs- und Verfahrensrecht, allgemeines Vertrags­ recht und das Recht der Kreditgeschäfte. Die Studenten hießen edictales. Das dritte Jahr brachte den Rest des Ediktstoffs in Auswahl und acht ausgewählte Bücher aus Papinians Responsen, weshalb man Papinia­ nista hieß; zu Beginn feierten die Studenten ein Papinianfest. Im vierten Jahr las man im Eigenstudium die Responsen von Paulus und im fünften Kaiserkonstitutionen; außerdem beteiligte man sich am Unterricht der Anfänger. Die so weit Vorgerückten hießen AU"taL (Gelöste). Bei diesem Unterricht genießen die Klassikertexte unbedingte Autorität. Sie werden erklärt, illustriert, Parallelstellen in andem Schriften werden angegeben, etwaige Widersprüche erörtert und auch allgemeine Lehrsätze entwi­ ckelt. Beirut hat sich um die Pflege der klassischen Texte sehr gekümmert. Seit dem späten 4. 1h. verbessert sich die Qualität der Gesetze allmählich; sie sprechen wieder deutlich aus, was gemeint ist, werden genauer und knüpfen sorgfältiger an den bisherigen Rechtszustand an. Das war nur möglich, weil an den Rechtsschulen die klassischen Juristenschriften stets gepflegt wurden. Die theodosische Kodifikation und vor allem ihre Vollendung und klassizistische Überhöhung durch Justinian wären ohne Beirut undenkbar. Es lohnt sich wieder, das Recht zu studieren, zum Schaden für die Rhetorik, wie Libanius am Ende des 4. 1hs. klagt.

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Römische Verfassungs- und Rechtsgeschichte

Justinian

a) Das römische Reich lind die Barbaren im 5 . und 6. Jh . n.Chr. Im Laufe des 5 . Jhs . n.Chr. verfällt das seit dem Tod von Theodosius I. 395 n.Chr. endgültig durch einen zweiten Kaiser von Mailand und dann R1venna aus regierte Westreich. Fortschreitende Feudalisierung und Ständezwang, Pfründenwirtschaft und Korruption großer Teile der Be­ amtenschaft haben die Staatsgesinnung der Bevölkerung unterhöhlt. Das Heer entgleitet dem Staatsoberhaupt und gelangt in die Hände tüchtiger Heermeister (magistri militum, s. oben S. 8 1 ) barbarischer, d.h. gewöhn­ lich germanischer Herkunft. Die germanischen und hunnischen Verbän­ de sind die wichtigsten Truppenteile geworden und stellen mittlerweile auch die kaiserlichen und sonstigen Leibwachen. Diese Fremdlinge an der Spitze der bewaffneten Macht des Reiches konnten nicht selbst Kai­ ser werden, wie es nach 200 und mehr Jahren über Ansätze zu Dynastie­ bildungen immer wieder triumfierenden Soldatenkaisertums das Natürli­ che gewesen wäre. Seitdem die Barbaren im römischen Heer ganze Formationen unter eigener Führung bilden, ist es mit dem Heeresdienst als Schule der Romanisierung, mit der liberalen Verbreitung und Ver­ breiterung des Römerturns vorbei. Immer wieder schwelgen Stadtbevöl­ kerung, Nobilität und der Hof selbst in fremdenfeindlichen Stimmungen. Ein weströmisches Gesetz (Cod. Theod. 3, 14, 1 , 370) bedroht Ehe­ schließungen zwischen Römern und Barbaren mit Todesstrafe, was deren Führer aber nicht davon abhält, durch Einheirat in die Reichsaristokratie zwischen den Führern der Völker Bande zu knüpfen zu versuchen, meist vergeblich. 399 ergeht ein strenges Verbot, in Rom mit tzanga und bra­ cae umherzulaufen, der Fuß- und Beinbekleidung der B arbaren (Cod. Theod. 14, 1 0, 2 u. 3); und 4 1 6 wird verfügt, dass sich in Rom und Um­ gebung niemand mit langen Haaren und bekleidet mit Fellen sehen las­ sen dürt'e, auch kein Sklave (Cod. Theod. 14, 1 0, 4). Die vom legitimen Herrscheramt ausgeschlossenen neuen Kräfte sind also darauf verwiesen, entweder aus dem - mangels militärischer und politischer Leistung für das Amt des Kaisers seit Jahrhunderten nicht mehr in Betracht gezogenen, aber sozial hochangesehenen - Senatoren­ stand ihre Kreaturen auf den Thron zu heben wie der Franke Arbogast einen Eugenius (392-394), der Westgotenkönig Alarich einen Attalus (409/1 0, 4 1 4-4 1 6 wiederverwendet durch Alarichs Nachfolger Athaulf), der Alanenfürst Goar mit dem Burgunderfürsten Gunthiar einen Jovin

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(4 1 1 -4 1 3), die Goten Thraustila und Optila einen Petronius Maximus (455), der Westgotenkönig Theoderich H. einen Avitus (455/56), der Swebe Ricimer einen Libius Severus (46 1 -465) und Olybrius (472), und 473/74 der Burgunder Gundobad einen gewissen Glycerius; oder sie suchen, durch Verschwägerung mit dem Kaiserhaus wenigstens ihre Nachkommenschaft zu legitimen Herrschern zu erheben wie offenbar schon der Vandale Stilicho, seit 39 1 östlicher und ab 395 wenigstens noch westlicher Heermeister, 408 gestürzt; wohl auch der Donaurömer mit gotischen und hunnischen Verbindungen Aetius, seit 432 Heermeis­ ter des Westens und 454 vom misstrauischen Kaiser persönlich umge­ bracht; der 424-47 1 das Ostreich beherrschende Alane Aspar; sein Mör­ der und Erbe, der lsaurierhäuptling Tarasicodissa, dem es gelang, sein Söhnchen von der Tochter Kaiser Leos nach dessen Tod 474 auf den Thron in Ostrom zu bringen und sich selbst, umbenannt in Zeno, alsbald dazu; und der Pannonier mit hunnischen Verbindungen Orestes, Heer­ meister des Westens 475/76, der sein Knäblein von einer Senatorentoch­ ter, Romulus, zum Augustus ausrufen ließ, aber bald an dem Skiren Odowakar scheite11e. Dieser lässt sich zunächst vom Ostkaiser als magis­ ter militum anerkennen, versucht dann aber, nachdem dessen Prätendent für den Westen 480 in Dalmatien vergiftet worden war, das eigene Kind zum Kaiser des Westens aufzubauen, was Zeno mit Hilfe der Ostgoten unter Theoderich vereitelt. Das Sozialgefüge des Reichs vennochte die neuen Völkerschaften nicht zu integrieren, deren militärische Kraft bei der Wehrmüdigkeit der Reichsbewohner - die Gesetze gegen WehIi1ucht der Veteranensöhne häufen sich seit Konstantin - im späten 4. Jh. rasch unentbehrlich gewor­ den war. Die Heermeister der vielen Kinderkaiser aus der Nachkommen­ schaft Valentinians 1. (364-375) und Theodosius' 1. (379-395) verfolgen ihre eigene Politik immer ungeniel1er, begünstigt durch die wachsende Rivalität zwischen den beiden Reichsteilen und das Volk bannenden Dogmenstreit. So hört 476 die Reihe der westlichen Kaiser sang- und klanglos auf, ohne dass dies für die Zeitgenossen einen scharfen Ein­ schnitt bedeutete. Seit der juristischen Teilung des Reiches 3 1 3 n.ehr. , als Konstantin und Licinius vereinbarten, dass jeder Augustus für seinen Reichsteil das Recht der Gesetzgebung hat, hatte das Reich immer wie­ der nur einen Kaiser gehabt, der in Konstantinopel residierte; auch im 5 . Jh. noch: nach dem Tod des Honorius 423 hatte der Westen oft monate­ und sogar j ahrelang keinen eigenen Kaiser, und mehrfach hatte dann Konstantinopel einen neuen geschickt. Odowakar regierte anfänglich und

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die Ostgotenkönige regierten stets unter der Oberhoheit des Ostkaisers als Reichsverweser. Sie erlassen keine Gesetze (leges), nur Edikte; und auf ihren Münzen erscheint auf der Rückseite der Ostkaiser. Aber nicht nur innerhalb des römischen Staatsapparats vor allem des Westens waren die Barbaren zu einem wichtigen Faktor geworden, SOn­ dern außerdem entstanden regelrechte Barbarenreiche auf römischem Boden, die sich für dauernd freilich nur im Westen etablieren konnten74 . Es begann damit, dass Valens 378 die Westgoten, die VOn den aus der Mongolei kommenden Hunnen im Gebiet des heutigen Rumänien 375 aufgestört worden waren, auf - weithin entvölkertem - Reichsboden in Thrakien ansiedeln wollte. Von korrupten Beamten betrogen, vernichten sie das Ostheer in der denkwürdigen Schlacht bei Adrianopel (Edime). Der neue Ostkaiser Theodosius nimmt trotzdem das Projekt wieder auf und schließt 382 einen Föderatenvertrag, wonach die Westgoten gegen Tributzahlungen die Donau zu verteidigen haben. Doch hält es sie dort nicht lange. Nach dem Tod des Kaisers brechen sie wieder auf und ver­ wüsten Griechenland und Italien, 4 1 0 erobern sie gar Rom. Der im sumpfgeschützten Ravenna residierende Honorius, nach der Ausrottung Stilichos und seiner Anhängerschaft zu schwach, um gegen sie anzutre­ ten, paktiert mit ihnen und schickt sie nach Gallien gegen einen dort aufgestandenen Usurpator, nach dessen Überwindung sie das Reich von Toulouse gründen. S ilvester 406 überschreiten die Vandalen die Rhein­ grenze und ziehen durch Gallien und Spanien nach Nordafrika, die Kornkammer des Reichs, wohin innerer Zwist sie einlädt und wo sie sich über ein Jahrhundert lang behaupten. 4 1 3 siedelt Jovin, von Honorius bestätigt, die Burgunder um Worms an, und 443 weist ihnen Aetius neue Plätze in Savoyen um Genf und Lyon zu. 450 wird den Ostgoten Panno­ nien, das heutige Westungam, vertraglich überlassen, doch brechen sie 460 schon wieder auf, um schließlich 489 nach Italien geschickt zu wer­ den, das sie dann fast 60 Jahre mit Dalmatien, Pannonien, Noricum, Rätien und der Provence beherrschen. Mit den Vandalen über den Rhein gezogene Sweben verbleiben in Galicien (Nordwestspanien), und die Franken stoßen nach Nordfrankreich vor. Sachsen und Angeln endlich besetzen seit dem Ende des 4. Jhs. Nordfrankreich und schließlich Bri­ tannien. Und schon im 3. Jh. hatten die Alemannen das heutige Südwest­ deutschland überflutet.

74

Dazu etwa Laetitia B öhm, Geschichte Burgunds (Stuttgart 1 97 1 ) 4 1 -68.

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Die zivilisierteren Gennanenreiche, gewöhnlich die, welche auf gründ­ lich romanisiertem Boden siedeln, werden nach wenigen Jahrzehnten der Konsolidierung vom Kodifikationsgedanken angesteckt. Westgoten, Burgunder, Franken und Ostgoten bringen Ende des 5. und Anfang des 6.Jhs. ansehnliche Rechtsaufzeichnungen zustande, teils für gennanische und römische Bevölkerung mehr oder weniger getrennt (Westgoten und Burgunder), teils für beide gemeinsam (Ostgoten) oder nur für den ger­ manischen Bevölkerungsteil (Franken): Codex Euricianus (um 475) und Lex Romana Visigothorum (506), Lex Burgundionum und Lex Romana Burgundionum (um 495 und 520) . Lex Salica (um 5 1 0, Gesetzbuch der salischen Franken) und Edictum Theoderici (frühes 6. Jh. , wirklich ostgo­ tisch) 75 . Von ihnen tradieren weiterhin römisches Recht vor allem die eigens für die romanische Bevölkerung ergangenen Gesetzbücher, nach außen Werke der germanischen HeITscher, in der Sache ihrer romani­ schen Berater. Sie resumieren (das burgundische) oder zitieren wortwört­ lich (das westgotische) aktuelle Stellen aus dem Codex Theodosianus samt dazu ergangenen Novellen. Gregorianus, Hennogenianus, den Paulussentenzen und den Institutionen des Gajus, dem allem die Westgo­ ten JnteljJretationes beifügen, die sie zeitgenössischen ErJäuterungswer­ ken entnehmen. Zumal das westgotische Römergesetz, auch Breviarium Alaricianum genannt, war eine bedeutsame Leistung nicht nur für den inneren Frieden, sondern auch für die Selbstdarstellung dieser Reiche nach außen, insbesondere gegenüber Ostrom. Hier hat sich die Staatsgewalt, anders als im Westen, konsolidiert. Militä­ risch hat man sich von der Abhängigkeit von geschlossenen barbarischen Verbänden frei machen können: und wirtschaftlich konnten sich die seit alters hochentwickelten östlichen Provinzen wieder so weit erholen, dass, als 5 1 8 Kaiser Anastasius kinderlos starb, er geordnete Staatsfinanzen, gar ansehnliche Reserven hinterließ, ohne welche die oströmischen Un­ ternehmungen der folgenden Jahrzehnte unmöglich gewesen wären. Im 5 1 8 entbrennenden Kampf um den Kaiserthron von Konstantinopel siegte der Genialste und Skrupelloseste, ein junger Offizier der Palast­ garde . Justinian. Er stammte von einfachen B auern in Illyrien ab, also aus lateinischem Gebiet im ganz überwiegend gliechisch sprechenden Reich. Und zwar lässt er vorerst den Chef der Palastgarde, seinen bejahrten Onkel Justin. zum Kaiser ausrufen. Aber schon lange vor dessen Tod 9 75 Hermann Nehlsen, SZ Germ. Abt. 86 ( 1 969) 246-60 (Rez. ); s. a. Verf. (oben Fußn. 32) 1 9 1 -94. Zu den Rechtsaufzeichnungen der Wetgoten, Burgunder und Franken ders . (soeben Fußn. 73) 1 57-79 u. J 82.

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Jahre später hält der Neffe die Macht in der Hand und hen'scht dann noch 38 Jahre allein. Er war ein Mann von rastloser Energie, der unglaubliche Leistungen vollbracht hat, unter denen die aufsehenerregendsten die kürzeste Zeit Bestand hatten: die RückerobelUng des vandalisch, des ostgotisch und von Teilen des westgotisch beherrschten Gebiets. Und seine autoritären Vennittlungsversuche im christologischen Streit und schließliehe Wendung gegen die Monofysiten, die zumal in Syrien und Ägypten stark waren, entfremdeten diese Teile dem Reich, die wichtigste Vorbedingung für ihre fast kampt10se ErobelUng durch die Araber hun­ dert Jahre später.

h) Die justinianische Gesetzgehzll1g 76 I: Codex JIIstinial1l1s Einer der ersten Gegenstände von Justinians Aktivitäten zur Reichser­ neuelUng war die Gesetzgebung. Schon ein halbes Jahr nach Antritt der Alleinherrschaft setzt er eine Kommission mit dem magister officiorum (s. oben S. 8 1 ) Tribonian und acht weiteren juristischen Praktikern der Ministerialbürokratie, Richterschaft und Advokatur und einem Rechts­ lehrer, Theophilos, ein. Die Kommission hat den Auftrag, das auf kaiser­ licher Rechtssetzung belUhende Recht, die Kaiserkonstitutionen, neu zusammenzustellen. Die vorhandenen drei Sammlungen, die Codices Gregorianus, Hennogenianus und Theodosianus waren nicht nur inhalt­ lich vielfach überholt, sondern auch durch ihre Verschiedenartigkeit schwer zu handhaben. Ein neuer übersichtlicherer Codex in 1 2 Büchern sollte sie ersetzen, der nur das noch fortgeltende Recht, aber mit Ein­ schluss der seit dem letzten Codex ergangenen Novellen enthält. Bereits nach einem guten Jahr war die der Kommission gestellte Aufgabe erfüllt. Die 1 2 Bücher sind in je 40 bis 80 Sachtitel unterteilt, innerhalb deren die einzelnen Konstitutionen chronologisch angeordnet sind unter Angabe von Urheber, Adressat und Datum. Der Codex Justinianus beginnt mit dem Kirchenrecht, es folgen Staats- und dann Prozessrecht; Buch zwei bis acht sind dem Privatrecht gewidmet, neun dem Strafrecht und zehn bis zwölf dem Verwaltungsrecht. Die einzelnen Konstitutionen sind 76 Dazu Tony Honore, Tribonian (London 1 978). Ä ltere Literatur: Paul Krü­ ger, Geschichte der Quellen und Litteratur des Römischen Rechts (2. Auf! . München 1 9 1 2) 365 -405 . Weiter ausgreifend Friedrich Ebrard, Die Entstehung des Corpus iuris nach den acht Einführungsgesetzen des Kaisers Justinian, in: Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Geschichte 5 ( 1 947) 28-76; u. Franz Wieacker, Corpus Iuris , in: a. a. O. (oben Fußn. 6) 242-87.

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glündlich überarbeitet, insbesondere von rhetorischem Schwulst befreit, der die Konstitutionen seit dem 4. Jh. üppig geziert hatte; nur die justini­ schen und zumal die vielen durch die Kodifikation veranlassten justinia­ nischen Konstitutionen sind nicht gekürzt. Trotzdem bleibt das ganze ein Sammelsurium von einander mannigfach überschneidenden Einzelent­ scheidungen, weit entfernt nicht nur von einer straffen Kodifikation im modemen Siml, sondern auch von den vergleichbaren antiken und mit­ telalterlichen Rechtsaufzeichnungen seit den Zwölf Tafeln bis zum Sach­ senspiegel. Ungeachtet aller wiederholten Versicherung, alles Ü berflüs­ sige sei getilgt, Wiederholungen seien vermieden worden, trifft auch das nicht zu; man wollte es wohl nicht wirklich. Nicht nur schlichte Rechts­ weisung war Zweck des Unternehmens, sondern ebenso wichtig war die Selbstdarstellung dieser Rechtsordnung und zumal der Kaisergesetzge­ bung. Diese wird mitsamt ihrer Ahnenreihe zur Schau gestellt.

c) Dasselbe Jl: Digesten An mehr als an einen neuen Codex mit seinem Namen hatte der Kaiser ursprünglich nicht gedacht. Theodosius II. hatte seinerzeit den Plan, auch die Juristenschriften nach dem noch F0l1geltenden zu sichten, aufgeben müssen und neun Jahre gebraucht, um wenigstens den Codex auch nur in vereinfachter Form fertigzustellen. Und in diesem Punkt waren auch die Gernlanengesetze dürftig, beschränkten sie sich doch auf zwei besonders anspruchslose Erzeugnisse der römischen Jurisprudenz: die Institutionen des Gajus und die pseudopaulinische Sentenzen. Nachdem man in Kon­ stantinopel aber mit dem Codex so rasch zu Rande gekommen ist, ver­ steht es Tribonian, mittlerweise quaestor sacri palatii (s. oben S. 8 1), den Kaiser auch für das ehrgeizigere Projekt zu gewinnen, die klassische Rechtsliteratur auszuwerten. Am 1 5 . Dezember 530 erteilt ihm Justinian offiziell den Auftrag, eine zweite Kommission zusammenzustellen. Tribonian beruft den obersten Richter des Reichs, einen Mann namens Konstantin, der bereits der Codexkommission angehört hatte; vier Pro­ fessoren aus Konstantinopel (Theophilos und Kratinos) und Beirut (00rotheos und Anatolios) und elf am obersten Gericht zugelassene Advoka­ ten. Bis auf Tribonian selbst, Konstantin und Theophilos gehörten die Mitglieder der Codexkommission nicht an; und während die Codex­ kommission noch hohe Verwaltungsbeamte und sogar einen General zu ihren Mitgliedern zählte, sind nunmehr die Gelehrten und Justizjuristen unter sich.

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Von der klassischen Rechtsliteratur waren damals insgesamt noch mehr als 240 Werke mit zusammen etwa 1 5 30 Buchrollen greifbar, die zu einem Werk von 50 lihri, also auf ein knappes Dreißigstel komprimiert werden sollten; die Kommission mogelte aber und ließ die einzelnen lihri dicker ausfallen, so dass fast ein Zwanzigstel erhalten ist. Alle irgend erreichbaren Klassikerschriften einschließlich (offenbar unerkannt) apo­ kryfer Werke werden in die Kompilationsarbeit einbezogen, man be­ schränkt sich nicht auf die Schriften der fünf Zitierjuristen oder der durch das Zitiergesetz wenigstens mittelbar autorisierten, noch auf Juristen mit ius respondendi ex auctoritate principis. Bewältigt wird die Fülle, indem man den Gesamtbestand in zunächst drei Massen aufteilt und diese drei Unterkommissionen zuweist; einzelne erst nachträglich aufgefundene Schriften werden zu einer kleineren vierten, der sog. Appendixmasse vereinigt. Zunächst nimmt der Kaiser am Fortgang der Arbeit persönlich regen Anteil und lässt sich alle zwei Monate berichten, um alte Juristenkontro­ versen autoritativ zu entscheiden. Nach dem Nika-Aufstand, der Justin­ ian beinahe die Herrschaft gekostet und das ganze Unternehmen gefähr­ det hat, hört das jedoch fast auf; der Neubau der Hagia Sophia fesselt ihn ganz77 • Und da auch der beim Volk verhaßte Tribonian vom Kaiser aus allen sonstigen Ämtern entlassen werden muss, bleibt die Kommission sich selbst überlassen. nicht zum Schaden der Sache. Klassikerkontrover­ sen entscheidet sie jetzt i.d.R. allein und verändert eigenmächtig die alten Texte (interpoliert sie, von illte/polare ,aufpolieren, appretieren ' alter Kleider) . Schon nach drei Jahren ist die Kommission mit ihrer Arbeit fertig und der Kaiser erlässt das Ganze als Gesetz unter dem Namen

7 7 Es ist nämlich zu bedenken, dass die Pläne für den Neubau der Hagia Sophia bereits 40 Tage nach dem Nika-Aufstand, der durch die Zerstörung des theo­ dosischen B aus erst den Anlass zum Neubau gegeben hatte, fertig waren. Und der B au selbst war es nach knapp sechs Jahren. selbst unter heutigen Verhält­ nissen eine logistische Leistung ersten Ranges . die nicht ohne die ständige persönliche Obsorge des Kaisers denkbar ist. Er erschien fast täglich auf der B austelle. Wer will es auch einem sensiblen Mann verdenken, dass er das große B auwerk der Befassung mit klassischen Streitfragen vorzog. Hinter der kaiserlichen Enthaltsamkeit gegenüber dem Fortgang der Digesten nach dem Nika-Aufstand politische Motive zu suchen, erübrigt sich wohl. Zur B auge­ schichte der Hagia S ophia s. Prokop (von Cäsarea) , Werke V: Die B auten (München 1 977) Buch 1 Kap. I §§ 20-7 8 , bes. 67 ff. ; u . etwa Heinz Kähler. Die Hagia S ophia (Berlin 1 967) 9 u. 1 5 - 1 9 .

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Digesta (oder Pandectae) Iustiniani. Gleichzeitig ergeht eine neue Stu­ dienordnung für die staatlichen Rechtsschulen in Rom ( ! ), Beirut und Konstantinopel auf der Grundlage der neuen Kodifikation. Die authenti­ schen Juristenschriften dürfen nicht mehr benutzt werden, die privaten Rechtsschulen werden verboten. Auch die Digesten werden als Gesetz verkündet, doch bieten sie in noch geringerem Maß als der Codex Justinianus schlichte Normbefehle. Noch mehr als der Codex sind sie ein Erfahrungsschatz juristischen Könnens. Viel z.T. Zeitbedingtes ist weggelassen, vor allem sind die vielen klassi­ schen Kontroversen stark beschnitten, wenn auch nicht ausgemerzt; Wiederholungen sind vermieden, doch blieb ein ansehnlicher Rest erhal­ ten. So manches wurde abgeändert, insbesondere vereinfacht. Trotz allem ist ein beachtlicher Teil der frischen Lebendigkeit in der klassi­ schen Rechtswissenschaft bewahrt worden, eben so viel, dass die Texte in einer veränderten Zeit einigermaßen aus sich heraus verstanden wer­ den konnten. Dabei gab man durchweg an, welcher klassischen Juristen­ schrift die einzelnen Texte entnommen sind. Der in den ersten Titeln noch durchgehaltene Vorsatz, die Fragmente in einer Art Montagetech­ nik zu einem fortlaufenden Text zu verbinden, der Zeit geläufig aus den theologischen Kettenkommentaren, wird bald aufgegeben; bloß noch hie und da werden kürzere Fragmentketten gebildet, sog. Katenen. Nur durch die Digesten ist ein ansehnlicher Teil der klassischen römi­ schen Rechtsliteratur, das Wichtigste der römischen Jurisprudenz auf uns gekommen. Im praktischen Rechtsleben des byzantinischen Staats spiel­ ten die Digesten dagegen eine geringere Rolle als der Codex. Die vielen spätantiken Elemente der byzantinischen Rechtsordnung fehlten hier, von den wenigen Fragmenten aus einer Handvoll apokryfer Schriften und der einen oder anderen Interpolation abgesehen. Kirchenrecht fehlen ganz, das Recht der Zwangswirtschaft wird nahezu vergessen gemacht. Drei Viertel des Ganzen ist Privatrecht reinsten Wassers, über ein Viertel davon Erbrecht, das den alten Römern sehr wichtig war; der Rest präsen­ tiert etwas Verfahrensrecht, Verwaltungsrecht und Strafrecht. Viele praktisch obsolete oder durch andere ersetzte Rechtsinstitute sind aufge­ nommen und in allen Einzelheiten durchexerziert. Aktuell ist von Anfang an nur ein kleiner Bruchteil, weshalb die Praxis die Digesten im Gegen­ satz zum Codex auch kaum zur Kenntnis genommen hat. Benutzt wur­ den sie hauptsächlich für die Juristenausbildung. Dieses schöne Denkmal der klassizistischen Grundhaltung Justinians wie überhaupt der byzanti­ nischen Geistigkeit war vom Tage seiner feierlichen Enthüllung am 1 6 .

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Dezember 5 3 3 an weniger geltendes Recht7 � als ein Konglomerat metho­ discher Lehrstücke, Recht zu praktizieren.

d) Dasselbe lII: Institutionell , Neubearbeitung des Codex und Novellen Nachdem die Hauptarbeit an den Digesten getan ist, ordnet Justinian schon vor ihrer endgültigen Fertigstellung an, ein neues Elementarlehr­ buch zu schaffen, das die Institutionen des Gajus, als Einführungslehr­ buch bis dahin unschlagbar, ersetzen soll. Drei Mitglieder der Digesten­ kommission: Tribonian und die beiden Professoren Theophilos und Dorotheos, werden mit der neuen Aufgabe betraut, deren sie sich in wenigen Wochen entledigen; schon am 2 1 . November 533 kann das Ergebnis publiziert werden. Den Grundstock bilden wiederum die Insti­ tutionen des Gajus, ergänzt durch ihre Langfassung, die Res cottidianae. Für viele Einzelheiten sind aber auch die jüngeren Institutionenwerke von Ulpian, Marcian und Florentin herangezogen. Außerdem wurden ganze Fragmentketten aus den Digesten übernommen, und immer wieder sind j üngere Kaiserkonstitutionen, vor allem Justinians selbst referiert. Anders als bei den Digesten vermerkt man die Herkunft der einzelnen Texte aber nicht; vielmehr bilden die Sachtitel einen fOltlaufenden Text, den keine Inskriptionen unterbrechen. Die sog. Reformgesetze, welche die Arbeit der Digestenkommission vorbereitet und dann zunächst in dichter Folge begleitet hatten, die aber in Wahrheit nichts reformierten, sondern in den alten Schriften festzustel­ lende, meist ziemlich subtile Kontroversen zu entschärfen sich anschick­ ten, wurden ein oder zwei Jahre vor Abschluss der Digesten selbständig unter dem Titel L decisiones (50 Kontroversenentscheidungen) amtlich publiziert. Die Reformgesetzgebung geht aber auch nach 533 weiter, jetzt vor allem auf dem bis dahin unbeachteten Gebiet des Kirchenrechts. So entschließt man sich im Herbst 534, alle seit 529 ergangenen Gesetze in den Codex Justinianus einzuarbeiten. Tribonian wird auch mit dieser Nacharbeit betraut, diesmal zusammen mit Dorotheos und drei Advoka­ ten aus der Digestenkommission. Sie arbeiten in den Codex auch man­ ches andere ein, was bei Herstellung der Digesten durch Interpolationen 78

S. Giovanni Rotondi, Scritti giuridichi I ( Mai land 1 922) 340-69; Artur Steinwenter, Aegyptus 32 ( 1 952) 1 3 1 -3 5 ; u. Peter E. Pieler, in: Herbert Hun­ ger, Die hoch sprachliche profane Literatur der Byzantiner II (München 1 978) 40 1 -3 , aber auch Verf. (oben Fußn. 32) 242 f. : u . Wolfgang Kaiser, SZ 1 1 8 (200 1 ) 2 1 8f.

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erledigt worden war. Am 16. November 534 wird der Codex Iustinianus repetitae praelectionis (in überarbeiteter Lesung) verkündet, in der er auf uns gekommen ist. Auch damit hörte die Reformgesetzgebung aber nicht auf; einmal in Gang gesetzt, ließ sich die Erneuerungsbewegung nicht so rasch abschal­ ten. Die ganzen späten 30er Iahre hindurch werden weitere Änderungen verfügt, die mit vielen in den Digesten und auch im Codex konservierten Rechtssätzen des klassischen Privatrechts entschiedener aufräumen, weil der Gesetzgeber nicht mehr unter dem unmittelbaren Einfluss der alten Texte steht. Die östliche juristische Praxis fordert und bekommt ihr Recht, wodurch freilich beachtliche Teile von Codex, Digesten und Institutionen überholt werden. Auch sprachlich nimmt man jetzt mehr Rücksicht auf die Adressaten der Gesetze; sie ergehen jetzt meist auf Griechisch, z.T. auch zweisprachig. Iustinian hatte vorgehabt, diese der großen Kodifikation nachfolgenden Gesetze nun nicht mehr dem Codex einzuverleiben, aber in einer besonderen amtlichen Sammlung unter dem Titel Novellae constitutiones (Neue Konstitutionen) dem dreiteiligen Gesetzeswerk als besonderen vierten Teil anzufügen. Dazu ist es nicht mehr gekommen, doch haben sich Private der Aufgabe angenommen, und so haben wir mehrere chronologisch angelegte Sammlungen der Novellen, auch eine lateinische Übersetzung für das von Iustinian zu­ rückerobel1e Italien, gewöhnlich aber im griechischen Urtext, deren vollständigste der modemen Ausgabe der Novellen von Schöll und Kroll zugrundeliegt. Sie bietet den griechischen Text, die alte und unter dem Strich eine modeme, zuverlässigere lateinische Übersetzung und bildet den dritten und letzten Band der Editio stereotypa (Standardausgabe) des CO/pus iuris civilis. Bd. 1 enthält sowohl die Institutiones, hrsg. v. Paul Krüger, als auch die Digesta, hrsg. v. Theodor Mommsen u. Paul Krüger, zuletzt 1 5 . Aufl. Berlin 1 928; Bd. 2 den Codex Iustinianus hrsg. v. Paul Krüger, 1 0 . Aufl. 1 929; u. Bd. 3 die Novellen, hrsg. v. Rudolf Schöll u. Wilhelm Kroll, 5. Aut1. 1 928. Die Nachdrucke hiervon sind gleichwertig, während in denen von Bd. 2 wichtige Addenda fehlen und von Bd. 1 obendrein ältere Druckfehler wiederbelebt sind. Auf die rasch vollbrachte Kodifikation war der Kaiser stolz. Besorgt, andere könnten das Eneichte verwässern, verbot er unter Androhung der auf Fälschung stehenden Kapitalstrafen nicht nur, die von ihm verkünde­ ten Texte mit den Originaltexten zu vergleichen oder auch nur nach den Originaltexten zu forschen, sondern auch, bei der Verbreitung der

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Rechtsbücher Abkürzungen zu verwenden, und vor allem, sie zu kom­ mentieren: Imperator Caesar Flavius Iustinianus . . . Augustus ad senatum et omnes populos (sog. Constitutio Tanta, das Einführungsgesetz zu den Digesten, das mit dem Wort Tanta beginnt) § 2 1 . . . nemo neque eorum, qui in praesenti iuris peritiam habent, nec qui postea fue­ rint, audeat commentarios isdem legibus adnectere, nisi tantum si velit eas in Graecam vocem transformare sub eodem ordine eaque consequentia, sub qua et voces Romanae positae sunt, hoc quod Graeci xm:cx noöa dicunt; et si qui forsitan per titulorum subtilitatem adnotare maluerint et ea quae nap