Richtige Mutter – falsche Mutter?: Die Rolle der leiblichen Mütter im Pflegekindersystem [1 ed.] 9783666402241, 9783647402246, 9783525402245

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Richtige Mutter – falsche Mutter?: Die Rolle der leiblichen Mütter im Pflegekindersystem [1 ed.]
 9783666402241, 9783647402246, 9783525402245

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Angelika Rohwetter / Marlies Böner Zollenkopf

Richtige Mutter – falsche Mutter? Die Rolle der leiblichen Mütter im Pflegekindersystem

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-40224-6 Umschlagabbildung: I Miss You © fotoknips/shutterstock.com © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Produced in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Zu diesem Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Die Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

Frühe Prägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Daniel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Bindung und Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Die phantasierten/phantastischen richtigen Eltern . . . . . . . . . . 28 Entwicklung der Bindungstheorie – und die Inobhutnahme . . . 34 Das unsicher gebundene Kind in der Pflegefamilie . . . . . . . . . . 37 Die Mütter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

Wie viele Kinder braucht Heike, um glücklich zu sein? . . . . . . 39 Petra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Emel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Mütter sind unzuverlässig und stören nur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Mütter haben das Recht, bei der Lösung der Probleme ihrer Kinder beteiligt zu sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Pflegeeltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

Kinderwunsch und andere Motive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Pflegekinder als Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Pflegekinder und leibliche Kinder in einer Familie . . . . . . . . . . 73 Behinderte Kinder im Pflegeverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Zeitliche Begrenzung des Pflegeverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . 81 Besondere Pflegeformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Laien oder Profis als Pflegeeltern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

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Rechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

Rechtliche Grundlagen, die das »Wohl von Kindern und Jugendlichen« und die »Inobhutnahme durch das Jugendamt« regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Rechtliche Grundlagen zum Kontakt zwischen Kindern, die in Pflegefamilien leben und ihren Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Umgangsrecht der Eltern bzw. der Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Die Rolle des Jugendamtes bei der Durchführung des Umgangs .106 Pflegeeltern und Besuchskontakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Elternberatung der Pflegekinderdienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

Die Pflegekinderdienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Elternberatung der Pflegekinderdienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Besuchskontakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Überlegungen zur Elternberatung der Pflegekinderdienste . . . 114 Unterbringungsmöglichkeiten für Kinder, die nicht bei ihren Eltern leben können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

Familienwohnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Mutter-Kind-Häuser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Leinerstift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Exkurs: Aus der Praxis des Pflegekinderwesens . . . . . . . . . . . 133 Modelle zur Veränderung des Pflegekinderwesens . . . . . . . . 139

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Die Stärkung der Mutter im System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Arbeit mit dem Mutter-Kind-Pflegefamilie-Gefüge . . . . . . . . . 149 Mütter und Kinder in gemeinsamen Einrichtungen . . . . . . . . . 155 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

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Inhalt 

Vorwort

Dieses Buch ist entstanden nach vielen Begegnungen mit Müttern, denen aus ganz unterschiedlichen Gründen ihre Kinder weggenommen wurden. Für (fast) jede dieser Inobhutnahmen gab es gute Gründe, weniger für die rigide Form, in der sie manchmal durchgeführt wurden. Wir begannen an diesem Thema zu arbeiten in tiefer emotionaler Parteilichkeit – für die Pflegekinder, die hin- und hergerissen werden zwischen persönlicher und institutioneller Gewalt, richtigen und falschen Eltern. Diese Parteilichkeit bestand manchmal in emotionaler Erschütterung, oft in geteilter oder stellvertretender Wut. Wie viel manche Mütter zu erleiden hatten, war uns vorher nicht so deutlich. Wir hatten (und haben) ein großes Mitgefühl mit den sogenannten Herkunftsmüttern, die, entmachtet und oft ohne jegliches Mitspracherecht, zurückblieben – und nicht mehr als eine Störung im neuen System bedeuteten. Schon allein an den verschiedenen Namen, die diesen Frauen gegeben werden – Herkunftsmutter ist nur einer davon – wird einiges davon deutlich, was den Frauen an Ressentiments entgegengebracht wird. Nach der üblichen Definition sind Mütter der weibliche Teil des Elternpaares, der Teil, der das Kind zur Welt gebracht hat. Deshalb sind sie auch keine »abgebenden Mütter«, das impliziert ja, dass es annehmende Mütter gäbe. Wir meinen: Die Mütter sind die Mütter. Es gibt Mütter, rechtliche Mütter (Adoptivmütter) und Pflegemütter. Dass die letzteren beiden auch manchmal »soziale Mütter« und die Mütter »biologische Mütter« oder noch schlimmer »Bauchmütter« genannt werden, beschreibt zwar nur sehr ungenau einen Sachverhalt, spiegelt aber durchaus das Problem: Es gibt gute und

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schlechte Mütter, und welche welche ist, steht im Pflegekindersystem nicht in Frage. Wir nehmen sehr ernst, dass die Mütter immer die Mütter sind, auch wenn sie nicht – oder vorübergehend nicht – in der Lage sind, ihrem Kind eine genügend gute Mutter im Sinne Winnicotts (1953) zu sein. Der Kinderpsychoanalytiker prägte den Ausdruck der good enough mother. Das ist eine Mutter, die nicht perfekt ist, aber ihr Kind ausreichend gut versorgt. Nur bei einer solchen Mutter lernt das Kind Frustrationstoleranz, Objektkonstanz, Entwicklung eigener Lösungen etc. Wir bemühen uns in diesem Buch um konsequente Benennungen. Wenn wir also von Müttern sprechen, meinen wir genau diese: die leiblichen Mütter. (Leibliche Väter kommen in der Realität des Pflegekindersystems selten vor, häufig sind die Mütter zum Zeitpunkt der Geburt schon wieder getrennt, manchmal kennen sie den Kindsvater gar nicht, wenn doch, handelt es sich in der Regel um sehr kurze Beziehungen.) In Psychotherapien tauchen manchmal Pflegemütter auf – selten geht es dabei um Probleme, die aus dieser Situation entstanden sind. Häufiger suchen ehemalige Pflege-, Adoptiv- oder Heimkinder psychotherapeutische Hilfe, die Mütter dieser Kinder unserer Erfahrung nach nie. Genauso wenig kommen sie als Thema in Ausbildungen (psychosozialer oder psychotherapeutischer Art) vor. Wir haben auch nach Literatur über Mütter gesucht, die nicht mit ihren Kindern zusammenleben können/dürfen. Bis auf ganz wenige kurze Absätze in Büchern über Pflegekinder und Pflegefamilien gibt es nichts, kein einziges Buch befasst sich ausführlich mit der spezifischen Problematik dieser Mütter. Dabei ist das längst überfällig. Einige Pflegekinderdienste beginnen ihren Fokus auf die Mütter zu erweitern, indem sie für diese ein besonderes Beratungs- und Gruppenangebot realisieren. Diese Angebote sind aber unseres Erachtens nicht niederschwellig genug, sie erreichen die betroffenen Mütter nur zu einem kleinen Teil (geschätzte 7 bis 10 %). Sie beinhalten im Wesentlichen die Arbeit daran, dass die Mütter einsehen mögen, dass alles richtig ist, so, wie es ist: Mutter und Kind getrennt voneinander. Die Idee, die Mutter-Kind-Beziehung aufrechtzuerhalten und

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Vorwort

zu stabilisieren, auch dann, wenn das Kind voraussichtlich eine ganz lange Zeit in der Pflegefamilie bleiben muss, dieser Ansatz kommt in keinem der von uns geprüften Konzepte der Pflegekinderdienste vor. Mütter, die erziehungsunfähig sind, selbst krank oder süchtig, haben momentan kaum eine Chance, einen der Situation angemessenen Kontakt zu ihrem Kind aufrechtzuerhalten. Ihnen gelten immer noch unsere Sympathie und unsere Sorge, und für sie haben wir dieses Buch geschrieben. Wir bedanken uns bei den Müttern, die uns ihre Geschichte zur Verfügung gestellt haben, bei den Pflegemüttern für einige sehr persönliche Gespräche und bei den Institutionen, die uns einen Einblick in ihre Arbeit gewährt haben.

Vorwort

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Zu diesem Buch

Wie im Vorwort erwähnt, begannen wir dieses Buch ausgesprochen parteiisch. Im Laufe unserer Arbeit und vieler Gespräche öffnete sich diese Haltung. Wir erkannten, dass eine Umkehrung der Zuordnung richtige und falsche Mütter das Problem nicht löst. Neben aller Empörung über Willkür und Amtsanmaßung sahen wir nun die Überforderung, Hilflosigkeit, mangelnden Ressourcen und fehlende fachliche Kompetenz der Ämter. Auch unsere Haltung gegenüber den Pflegeeltern weichte auf. Sicher, viele nehmen die Kinder aus eher unreflektierten Gründen zu sich. Wenn man sich diese Gründe näher ansieht, stellt man fest, dass es die gleichen Gründe sind, aus denen Menschen Kinder bekommen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Nur muss der Situation Rechnung getragen werden, dass die angenommenen Kinder schon Eltern haben. Genau darauf, was das bedeutet, welche Konsequenzen es für das Kind und das Leben mit ihm hat, eben nicht Eltern zu sein, sondern Pflegeeltern, müssen die aufnehmenden Paare gut vorbereitet werden. Die häufig anzutreffende Haltung »wie mein eigenes Kind« spiegelt das Problem. Wie ein eigenes Kind ist eben kein eigenes Kind. Im Buch stellen wir viele Fallgeschichten dar, die diese Probleme deutlich machen. Die Fälle sind keineswegs willkürlich gewählt und die Liste vergleichbarer Vorkommnisse kann beliebig verlängert werden. Uns geht es darum, wie nach einer notwendig gewordenen Inobhutnahme der Kontakt zu den leiblichen Eltern gestaltet werden kann. An diesem Prozess sind von Amts wegen schon eine Reihe von Personen beteiligt. Nun kommen noch die Menschen hinzu, in deren Familien das Kind untergebracht wird, also Pflegeeltern und, in selteneren Fällen und mit zeitlicher Verzögerung, auch Adoptiveltern.

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Bei den Pflegestellen handelt es sich in der Regel um Familien, die Platz haben, ein oder mehrere Kind/-er aufzunehmen und gegen Geld zu versorgen, meist pädagogische Laien, die vor der Aufnahme ihrer Tätigkeit geschult werden, manchmal einfach wohlmeinende Verwandte oder Nachbarn. Mitunter sind diese Pflegeeltern Profis, also ausgebildete Pädagogen, besonders bei Kindern mit besonderem Bedarf. In diesem Fall werden die Pflegeeltern häufig von Beratern fachkundig begleitet und unterstützt. Die Berater stehen zwischen Pflegeeltern, Ämtern und Herkunftsfamilien. Besonders die Letztgenannten beschäftigen uns in diesem Buch. Wer sind diese Menschen, deren Kinder in Obhut genommen werden müssen? Und was haben sie danach noch mit ihren Kindern zu tun? Sie – in der Regel geht es dabei eher um die Mütter – haben häufig keinen oder wenig Kontakt mehr zu ihren Kindern, ganz gleich, was sie sich wünschen. Die Inobhutnahme der Kinder erscheint somit oft als Strafaktion für unfähige Mütter und nicht einfach als notwendig gewordener Eingriff in ein Beziehungssystem, in dem das Wohl der Kinder nicht gesichert ist. Von Ämtern und Pflegeeltern wird der Kontakt zu den Müttern oft unterbunden, weil diese als nicht zuverlässig gelten. Wir gehen der Frage nach, ob diese Mütter im Leben ihrer Kinder noch eine Rolle spielen sollten – und wenn ja, wie diese gestaltet werden kann. Uns ist es dabei wichtig, für diese Frauen, die keinerlei Lobby haben, einzutreten. Wir beleuchten unsere Fragestellung von drei Seiten her und zwar von der Seite der Mütter, der Kinder und der Pflegeeltern. Ausgelassen haben wir – bis auf kleine Anmerkungen – die Ämter und die Pflegekinderdienste in privater Trägerschaft. Es ist nicht zu übersehen, dass die Pflegekinderdienste ein Teil des Problems sind, nicht zuletzt wegen ihres finanziellen Interesses und ihrer Parteilichkeit für die Pflegeeltern, die daraus erfolgen muss. Wenn das Konzept »die Mütter gehören dazu« von den Pflegekinderdiensten eindeutig vertreten würde, müssten größere Veränderungen in der Ausbildung der Pflegeeltern vorgenommen werden. Bisherige Praxis ist es, die Störungen durch die Mütter möglichst gering zu halten. Wir stellen in keiner Weise in Frage, dass es viele Gründe gibt, Kinder in

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Zu diesem Buch

Obhut zu nehmen. Aber alle sprachlichen Tricks (amtliche Benennungen) können nicht ungeschehen machen, dass es zwischen diesen Kindern und ihren leiblichen Müttern enge Beziehungen gibt, dass die Trennung – auch wenn sie das Kind in bessere Verhältnisse bringt – für beide ein Trauma ist. Wir plädieren dafür, die leiblichen Mütter/Eltern mit viel Geduld und Fürsorge in das Leben des Kindes einzubeziehen. Die Zusammenarbeit mit den leiblichen Eltern sollte als notwendiger Faktor für das Wohlergehen des Pflegekindes akzeptiert werden und verbindlicher Bestandteil der Fürsorge für die Kinder sein. Wir beschreiben in diesem Buch, wie die einzelnen Beteiligten in diesem Dreieck aus Müttern, Kindern und Pflegeeltern dastehen, was sie brauchen und was ihnen fehlt. Wir haben dabei auf einen möglichst aktuellen theoretischen Stand geachtet, wie z. B. die Bindungsforschung, die Hirnforschung und neue Ansätze in der Familientherapie. Gerade die Hirnforschung beschreibt eindrucksvoll die Bindung des Kindes an seine leibliche Mutter, die schon vor der Geburt beginnt. Natürlich sind wir bei unserer Kritik am Pflegekindersystem schnell mit den Sätzen konfrontiert worden: »Habt ihr eine bessere Idee? Und wer soll die Arbeit mit den Müttern machen?« Obwohl wir nicht der Meinung sind, dass, wer Missstände aufzeigt, gleich die Lösung parat haben muss, haben wir nach solchen gesucht. Wir haben dabei nach Erfolg versprechenden Ansätzen Ausschau gehalten und unsere eigenen Fachkenntnisse befragt. Und wir sind fündig geworden. Unsere ersten Notizen zur Lösung sahen so aus: Es müsste ein Modell geben, in dem alle Beteiligten besser aufgehoben sein könnten als in der gegenwärtigen Praxis. In einem solchen Modell sollte die Inobhutnahme und das ganze Pflegekinderwesen in die Zuständigkeit des Jugendamtes zurückgegeben werden: Wenn die Notwendigkeit des Eingreifens vorläge, würde das Kind in eine Pflegestelle gegeben, diese Pflegestellen könnten weiter von Kinderpflegediensten vermittelt werden. Danach würde ein besonderes Gremium des Amtes tätig werden, eine Institution ähnlich den psychosozialen Diensten. Hier würden Sozialpädagogen (mit

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Zusatzausbildung, am besten in systemischer Beratung), Erzieher und Psychologen arbeiten. Dieses Gremium wäre weitgehend unabhängig, hätte den Verlauf zu beobachten und alle wichtigen Entscheidungen müssten vor ihm begründet werden. Im Zweifelsfall hätte es den Stichentscheid. Abgebende, aufnehmende Familien, Kinder und andere eventuell Beteiligten (Verwandte, Schule etc.) würden als ein System gedacht und in gemeinsamen Sitzungen oder Aktionen begleitet werden. Den Kindern würde immer und von Anfang an erklärt werden – unabhängig vom Alter! – was mit ihnen geschehen ist und warum. Dazu bräuchte es versierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, die auch mit Säuglingen und Kleinkindern arbeiten können. Dass durchaus schon kleinste Kinder psychoanalytisch unterstützt werden können, beschreibt die Psychoanalytikerin Caroline Eliacheff in ihrem Buch »Das Kind, das eine Katze sein wollte« (1997). Soweit die ersten Notizen. Daraus hat sich ein dreistufiges Lösungsmodell entwickelt, in dem die einzelnen Komponenten auch verknüpft werden können. Alle drei Stufen halten wir für praktikabel, hilfreich und bezahlbar. Letztlich geht es darum, die Mütter wieder einzusetzen als das, was sie sind: die Mütter – und ihnen dabei die Hilfe und Unterstützung zu geben, die sie brauchen. Methodische Anmerkungen: Alle beschriebenen Fallbeispiele sind authentisch. Manche wurden aus der Erinnerung aufgeschrieben, einige nach einem von uns entworfenen Interviewleitfaden von jeweils einer von uns erfragt.1 Die Interviews wurden aufgezeichnet und transkribiert. Die Aussagen der Interviewpartnerinnen, die in Anführungszeichnen stehen, sind wörtlich so gefallen. Natürlich haben wir alle Namen geändert und in den meisten Fällen auch die Lebensumstände verfremdet, ohne dass die Inhalte verfälscht wurden. Ausnahmen hiervon sind die Fälle, die durch ihre Verbreitung in den Medien bekannt geworden sind, zum Beispiel auch die Geschichte von Christian. Hier handelt es sich um veröffentlichte persönliche Daten. 1 Deshalb steht in den Fallbeispielen »ich« und im übrigen Text »wir«, wenn wir, die Autorinnen, von uns sprechen.

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Zu diesem Buch

Die Kinder

»Als meine Familie bezeichne ich eigentlich alle so richtig, die jetzt so zu mir gehören, also einmal meine Pflegeeltern und einfach meine richtigen Eltern auch. Also ich würd jetzt nicht unbedingt sagen, dass ich nur hierhin gehöre, aber ich würd jetzt auch nicht sagen, dass ich woanders hingehöre.« Anna (Lehner, 2014)

Frühe Prägung Ein Kind wurde geboren. Eine Stunde nach der Geburt liegt es in einem warmen, hygienischen Bettchen und schläft (scheinbar) entspannt. Nur manchmal zucken seine winzigen Ärmchen. Dieses Kind liegt in seinem Bett und nicht in den Armen seiner Mutter und auch nicht mit ihr in einem Raum, weil es nicht bei seiner Mutter aufwachsen wird. Die Mutter ist nicht in der Lage, dem Kind eine genügend gute Mutter zu sein. Man sieht diesem Neugeborenen nicht an, was es schon erlebt und erlitten hat. Da war zuerst die nicht immer leichte Schwangerschaft, auch, wenn diese medizinisch gesehen völlig komplikationslos verlief. Als Teilhaber am Organismus der Mutter wurde das Kind von ihr versorgt mit allem, was es brauchte, davon vielleicht manchmal ein bisschen zu wenig. Und es bekam auch verschiedene Dinge mit, die es nicht gebraucht hätte, verschiedene toxische Stoffe, Lärm, Aufregung, Stress. Dies vermittelte sich über die erhöhte Herzfrequenz der Mutter, ihre tiefe oder flache Atmung, Verkrampfung ihrer Muskeln und die in ihr ausgeschütteten Stresshormone, die über die Nabelschnur in den kindlichen Organismus gelangten. Diese Stresshormone werden lange, vielleicht für immer, im Leben des

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Kindes eine belastende Rolle spielen. Es wird anfälliger für Stress sein, sein Risiko, an Diabetes, Angst, hohem Blutdruck oder Depressionen zu erkranken, ist höher als beim Durchschnitt der Menschen. Bei Ratten verursacht intrauteriner Stress sogar Veränderungen des Gehirns, die Forscher wissen noch nicht, ob das auch bei Menschen der Fall ist. Spätestens im 6. Schwangerschaftsmonat ist das Gehirn des Fötus so weit gereift, dass es reagiert und Erlebtes und Reaktionen speichert. Wenn die Mutter Stress hat, hat er auch Stress. Er kann Angst erleben, er kann weinen, wie dreidimensionale Ultraschallbilder ab der 16. Schwangerschaftswoche zeigen und natürlich auch lächeln, wenn es etwas zu lächeln gibt (Hüther u. Krens, 2011, S. 109 ff.). Nach dieser anstrengenden Schwangerschaft – und sie war mit Sicherheit anstrengend, wenn nun das Jugendamt bereitsteht, um das Kind in Obhut zu nehmen, kommt die Geburt, die immer traumatisch ist: Der Weg durch den engen Geburtskanal, das Aufwachen in einer fremden Umgebung, mit anderem Licht, anderen Geräuschen – alles ist plötzlich anders. Ein großes Trauma ist bei der Geburt die Trennung von der Mutter. Wenn das Kind auf die Welt kommt, verliert es alles, was ihm bisher vertraut war: den Raum in der Mutter, ihre Stimme, ihren Herzschlag, das Rauschen ihres Blutes, ihre Bewegungen. Um diese Dinge wissend, wird in der modernen Geburtshilfe alles versucht, um den Übergang von der einen in die andere Welt für das Kind so sanft wie möglich zu gestalten. Diese ersten Erfahrungen prägen das Kind, sie leiten die frühe Bindung ein – die Bindung an die leibliche Mutter. Das Kind kommt also auf die Welt in der Erwartung, die Stimme, den Herzschlag und die Bewegungen der Mutter wiederzufinden, mit denen sein Kontinuum an Geborgenheit erhalten bleibt. Unser Neugeborenes wird auch hier getrennt – das dritte Trauma, das es erlebt. Früher sprach man vom »dummen ersten Vierteljahr« (Diepold, 1992) und glaubte, in dieser Zeit sei ein Neugeborenes mehr eine Pflanze als ein Mensch. Ja, bis in die 1950er Jahre hinein waren manche Mediziner der Ansicht, diese kleinen Menschen seien schmerzunempfindlich. Nur so konnte es zu der verbreiteten Theorie kom-

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Die Kinder

men, dass je früher die Kinder in fremde Hände gebracht würden, dies bei ihnen weniger Schaden anrichtet, da sie sich ja an nichts erinnern könnten. Die vielen körperlichen Störungen, die Säuglinge zeigen, wenn sie früh zu Adoptions- oder Pflegeeltern gegeben werden, erklärte man sich mit der Vorgeschichte der Kinder oder einer allgemeinen Konstitutionsschwäche. Die Idee, dass es sich bei den Störungen um eine psychosomatische Reaktion der Kinder handelt, ist – zumindest in Deutschland – relativ neu, dabei »drückt sich in ihrem Alter [der Bruch, die Trennung; A.R./M.B.Z.] in funktionellen Störungen aus, oder, wie Denis Vasse sagt: ›Sie sprechen eine »Organsprache«, die nur deshalb organisch ist, weil sie sich nicht in Worten ausdrücken kann‹« (zit. n. Eliacheff, 1997, S. 20). Die französische Kinderanalytikerin Françoise Dolto arbeitete schon in den 1970er Jahren mit Säuglingen, ebenso der amerikanische Psychologe William Emerson, beide also lange, bevor die Hirnforschung die grundlegenden Thesen der Kinderpsychoanalyse bezüglich Bindung und subjektivem Erleben bestätigte. Eliacheff ist eine Schülerin von Dolto. Letztere sagt: »Sobald ein Kind auf die Welt kommt, lässt es seine Stimme hören, wird es bei seinem Namen genannt und hört es bei Reden zu. Das gibt ihm eine soziale Existenz und eine symbolische Aktivität« (Dolto, 1988, S. 183 f.). In den 1960er und 1970er Jahren begann dann die intensive Säuglingsforschung, in der sich besonders Daniel Stern Verdienste erworben hat. Sein berühmtestes Experiment sei hier nur kurz geschildert (Stern, 2003): Stern zeigte Säuglingen (im Alter von 6 bis 12 Wochen) Fotos ihrer Mütter und anderer Frauen. Daraus, dass die Bilder der Mütter deutlich länger angeschaut wurden als die anderer Frauen, wurde nach vielen Versuchen deutlich, dass die Säuglinge nicht nur in der Lage waren, ihre Mütter im persönlichen Kontakt zu erkennen, sondern sie auch in dieser abstrakten Form, auf dem Foto, identifizieren konnten. Die Schlussfolgerung war: Kinder müssen ein präverbales Erleben haben. Auch Cramer (1991) beschreibt sehr anschaulich diese frühen Bindungen – und was aus ihnen folgt. Heute wissen wir, dass die Kinder sogar ein pränatales Erleben haben. Dieses subjektive Erleben vor der Sprach- und Sprechfähigkeit kann in späteren Jahren nicht in Worten oder in Bildern erinnert werden.

Frühe Prägung

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Trotzdem gibt es Erinnerungen, die das ganze Leben lang wirksam bleiben, besonders, wenn sie nicht benannt und akzeptiert werden. So kennen wir Beispiele von diffusen Gefühlen, die von den Betroffenen so umschrieben werden: Etwas stimmt nicht, stimmt hier nicht oder stimmt mit mir nicht. Diese Gefühle lösen sich auf, wenn Menschen erfahren, dass sie adoptiert worden sind.2 Aus diesem Grund ist es wichtig, in allen Stadien der Wegnahme und Fremdunterbringung bzw. Fremdplatzierung mit dem Kind einfühlsam zu sprechen. Kinder, die in vorsprachlicher Zeit getrennt wurden, empfinden Schmerz darüber. Dieser Schmerz braucht Akzeptanz und Ausdruck – und als Ausdruck steht ihnen nichts anderes zur Verfügung als das körperliche Symptom. Dies genügt uns nicht: Jemand muss diesem Schmerz eine Stimme geben, weil die Kinder ein Recht auf diesen, ihren Schmerz haben. Diese Bemerkung scheint überflüssig, aber aus der Praxis kennen wir Fälle, wo sich Pflegeeltern (oder die Umgebung der Familie) wundern, wie schwierig die Kinder sind, obwohl sie so viel geboten bekommen. Außerdem hilft dieses Wissen, dem Impuls zu widerstehen, eine Kontaktsperre zu verhängen, um dem Kind damit vermeintlich Schmerz zu ersparen. Aus den Babyambulanzen (Praxen für sogenannte Schreikinder) wissen wir, dass die Kinder aus zwei Gründen schreien, nämlich, um einerseits ein »vorübergehendes Unwohlsein« anzuzeigen und andererseits »als Ausdruck der Erinnerung an eine existentielle Not, die [sie] im Mutterleib oder während [ihrer] Geburt erlebt ha[ben]« (Renggli, 2011, S. 270). Das bisher Gesagte gilt natürlich auch für ältere Kinder. Wir wissen, dass viele Pflegekinder sich schlecht entwickeln und emotional, sozial und intellektuell unter ihren Möglichkeiten bleiben, wie liebevoll und zugewandt die Pflegeeltern auch sein mögen und wie viele Angebote zur Entwicklung den Kindern auch zur Verfügung gestellt werden: Das diffuse Gefühl der existentiellen Not behindert sie im Aufbau ihrer Beziehungen und ihrer ganzen Entwicklung. Deshalb 2 Natürlich kennen wir diese Gefühle auch von Menschen mit anderen psychischen Belastungen, z. B. mit frühen Traumatisierungen.

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Die Kinder

sollte bereits bei der Arbeit mit Säuglingen angesetzt werden, um den Trennungsschmerz von der Mutter, den Eltern, zu mildern: »Die psychoanalytische Behandlung eines Säuglings bietet vor allem die Möglichkeit, ihm den Grund für die Trennung mitzuteilen und das, was er erlebt, in Worte zu fassen. Alles Nicht-Gesagte nämlich bewirkt einen Bruch im Symbolisierungsprozess, einen Bruch, der sich in der allerersten Zeit vor allem in körperlichen Symptomen äußert.   Die Worte werden direkt an den Säugling gerichtet, um ihn als Subjekt zu bezeichnen und ihm die Möglichkeit zu bieten, seinen Körper zu besetzen: Es geht also nicht darum zu trösten, und noch weniger darum, Wiedergutmachung zu leisten. Vielmehr wird das Leiden symbolisiert, indem man die Geschichte des Kindes neu faßt, durch die Verknüpfung mit seinen Ursprüngen seine Identität festigt und ihm ermöglicht, seine Rechte als Subjekt wahrzunehmen« (Eliacheff, 1997, S. 21). Ein Kind braucht klare Verhältnisse, auch sprachlicher Art. Immer wieder muss verbalisiert werden, was mit ihm geschieht und warum. Auch seine Beziehungen müssen klar ausgedrückt werden, also wo es lebt und warum es nicht bei seinen leiblichen Eltern sein kann. Ein Kind, dass früh dazu aufgefordert wird, die Pflegeeltern Mama und Papa zu nennen, wird dies tun, weil im Kindergarten alle Kinder die sie begleitenden Erwachsenen so ansprechen, weil es Angst hat, sein Nest zu verlieren oder weil es – aus verschiedenen Gründen – ein braves, gehorsames Kind ist. Und gleichzeitig wird es wissen, dass hier etwas nicht stimmt, dass es seine Eltern verleugnet. Zu der notwendigen Klarheit gehört es auch, niemals schlecht über die leiblichen Eltern zu reden, weil sich damit auch das Kind, dass ja mit ihnen identifiziert ist, entwertet und entwürdigt fühlt – und außerdem den Wunsch aufbaut, zu den leiblichen Eltern zurückzugehen, so wie es bei Daniel der Fall ist.

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Daniel Daniel ist neun Jahre alt. Seit fünf Jahren lebt er bei einer Pflegefamilie in Osnabrück. Die Pflegeeltern sind ganz in Ordnung, manchmal vielleicht etwas streng. In der Familie gibt es noch zwei Kinder, die eingebildete 13-jährige Laura, die richtige Tochter von Martin und Hilde. Daniel findet Laura besonders doof, wenn eine ihrer zahlreichen Freundinnen mit nach Hause kommt. Dann hören die Mädchen Musik und kichern. »Raus aus meinem Zimmer«, ruft Laura, wenn Daniel aus Versehen in die Nähe kommt. Es gibt noch den 4-jährigen Josef aus Ghana. Der ist behindert. Er hat ja auch einen blöden Namen. Wie Maria und Josef zu Weihnachten. Martin ist Lehrer an einer großen Schule. Wenn er mittags nach Hause kommt, muss man ihn in Ruhe lassen, sonst ist er schnell genervt. Aber am Wochenende hat er Zeit. Dann kann Daniel mit ihm Fußball spielen oder Fahrrad fahren am Schöllerberg. Dort ist Daniel mit dem Rad einmal gestürzt. Beide Knie waren blutig und auf der Stirn hatte er eine große Schramme. Natürlich musste er heulen. Jetzt wird das nicht noch mal passieren, er fährt viel sicherer. Hilde war früher auch Lehrerin. Heute kümmert sie sich um die Kinder. Das heißt, sie meckert auch öfter. Weil die Hausaufgaben nicht fertig sind, wenn Daniel mal vergisst, die Zähne zu putzen, mit Schuhen auf dem Sofa hopst oder Josef am Ohr zieht. Sie bringt Daniel in die Schule und Josef in den Kindergarten, sie kauft ein, kocht, wäscht die Wäsche und hilft bei den Hausaufgaben. Daniel hat aber auch eine richtige Mutter. Die wohnt in Dortmund und kommt einmal im Monat mit der Bahn nach Osnabrück. Daniel freut sich mächtig, wenn die Mama kommt. Er ist morgens schon so aufgeregt, dass fast immer etwas passiert. Die Milch kippt um, die Marmelade kleckert auf die Tischdecke oder das viel zu weiche Frühstücksei, das er sowieso nicht essen mag, fällt auf den Teppich. Hilde schimpft dann, aber Daniel kann doch nichts dafür. Daniel wurde zufällig in Osnabrück geboren. Seine Mutter machte gerade einen Drogenentzug in einem Therapiezentrum in der Nähe,

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als sie schwanger wurde. Damals hatte sie schon eine kleine Tochter, die in einem Kinderheim im Ruhrgebiet lebte. Das neue Kind wollte Daniels Mutter Simone aber gern behalten und so ging sie auf Anraten des Jugendamtes noch während der Schwangerschaft in ein MutterKind-Haus in Osnabrück. Knapp vier Jahre lebten Daniel und seine Mutter dort zusammen. Einmal lernte Simone in einer Disco einen Mann kennen. Sie verbrachte die Nacht mit ihm und blieb dann gleich bei ihm. Sie vergaß im Mutter-Kind-Haus Bescheid zu sagen. Als sie sich dort nach einer Woche reumütig meldete, war Daniel vom Jugendamt in einer Übergangspflegestelle untergebracht worden. Es dauerte ein paar Wochen, bis Simone und Daniel wieder zusammen waren. Simone versprach, ihr Kind nie mehr allein zu lassen. Das klappte leider nicht, sie brach ihr Versprechen: Es gab andere Männer und am Ende wieder Drogen. So kam Daniel zu Hilde und Martin. Wenn Daniels Mama Simone nach Osnabrück kommt, holt ihn eine Frau von der Schule ab, die sich »begleiteter Umgang« nennt. Die beiden fahren dann zum Bahnhof und warten auf Simone. Manchmal hat der Zug Verspätung. Das ist ganz schrecklich für Daniel. Er hält die Warterei kaum aus. Dann ist die Mama endlich da, und Daniel rennt sie fast um vor Begeisterung. Er drückt und küsst sie und redet ganz schnell, damit er nichts vergisst, was er ihr erzählen will. Die Frau vom begleiteten Umgang geht ein paar Schritte hinter ihnen auf dem Weg zum Einkaufszentrum, das sie immer besuchen. Daniel hält Mamas Hand ganz fest. Dass Simone wieder dünner geworden ist und dass sie undeutlicher spricht, weil ihr jetzt fast alle Zähne fehlen, bemerkt nur der begleitete Umgang. Simone bestellt Pommes Frites mit Majo und Ketchup, dazu für jeden eine Bratwurst. Das würde Hilde nicht gut finden, weiß Daniel, aber der Nachmittag mit Mama ist etwas ganz Besonderes. Zum Glück hat Daniel seine Batman-Figur mitgenommen. Die gefällt Mama auch gut. Robin hat er leider zu Hause vergessen. In seinem Zimmer gibt es noch mehr Spielfiguren, aber er darf Mama nicht mit nach Hause nehmen. Das wollen Hilde und Martin auf keinen Fall. Daniel ist darüber ganz traurig. Zu gerne würde er Mama zeigen, wo er wohnt.

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Einmal hat er Hilde gefragt, ob seine Mama ihn zum Geburtstag besuchen dürfe. »Nein«, war die Antwort. »Warum nicht?«, wollte er wissen. »Weil ich das nicht will«, sagte Hilde. Daniel trat dann gegen den Kühlschrank, der seitdem eine Delle hat. Manchmal verspricht Simone, Daniel anzurufen, und dann vergisst sie es. Das macht Daniel schrecklich wütend. Er muss dann etwas kaputt machen, gegen eine Tür treten oder Josef schubsen. Wenn er weinen muss, soll das niemand sehen. Es darf auch niemand sehen, denn vielleicht kommt die Mama dann gar nicht mehr. Daniel hat einmal gehört, wie Hilde zu Martin sagte: »Vielleicht wäre es besser, diese unzuverlässige Frau würde den Kontakt zu Daniel endgültig abbrechen«. Nach dem Essen schlendern Daniel, Simone und die Frau vom begleiteten Umgang durchs Einkaufszentrum. Bei schönem Wetter gehen sie zum Spielplatz. Da schaukeln Daniel und Simone um die Wette. Simone ist meist besser als Daniel. Der Abschied auf dem Bahnhof macht Daniel immer traurig, aber Mama verspricht, bald anzurufen. Daniel winkt, bis er den Zug nicht mehr sehen kann. Wenn Daniel groß ist, wird er mit dem Zug fahren und Mama in Dortmund besuchen. Das hat er sich fest vorgenommen.

Warum erzählen wir diese Geschichte? Daniel geht es gut mit seiner Pflegefamilie, die Pflegeeltern sorgen liebevoll für ihn. Er fühlt sich aufgehoben. Mit den Pflegegeschwistern hat er ganz normale Geschwisterkonflikte. Er zankt sich mit ihnen, man verträgt sich aber auch schnell wieder. Es sieht alles aus wie in einer Familie. Aber es ist keine normale Familie im Sinne unserer Traditionen oder Gesetze. Die Pflegeeltern zu ihren Gründen für die In-Pflegenahme zweier so verschiedener, schwieriger Kinder – Daniel und Josef – zu befragen, war nicht möglich, da für uns der Kontakt zu diesem Familiensystem über Daniels leibliche Mutter bestand. Mit System oder Familiensystem meinen wir alle Menschen, die durch die Fortnahme der Kinder von ihren leiblichen Eltern miteinander zu tun haben: das Kind, seine leiblichen Eltern, die Pflegeeltern, eventuell Verwandte, die eine Rolle spielen und alle Geschwister. Die Aufteilung von Betreuungen und Verfügungsbefugnissen ist für ein solches Familiensystem ein problematischer Punkt. Das Sys-

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tem wird gespalten, manchmal durch Zuständigkeiten, manchmal einfach durch die – natürlich in vielen Fällen sinnvolle – Schweigepflicht. So dürfen oft die Fachberater der Pflegeeltern nicht mit den Betreuern der Mutter sprechen – und umgekehrt. Daniel hat oft Sehnsucht nach seiner Mutter. Er möchte mehr mit ihr teilen können, wünscht sich, sie solle etwas von seinem Alltag mitbekommen. Er ist reif für sein Alter und mit seinen Pflegeeltern in einer guten Beziehung. Er spricht nicht davon, dass bei seiner richtigen Mutter zu leben für ihn besser wäre. Da er einige Jahre mit ihr zusammengelebt hat, sehnt er sich offensichtlich nicht danach zurück, er scheint die Mutter auch nicht zu idealisieren, aber er wünscht sich einen echten Kontakt, eine Beziehung zu ihr. Warum darf sie also nicht zu seinem Geburtstag kommen? Vielleicht, weil es der Pflegefamilie wichtig ist, einen Anschein aufrecht zu erhalten, der der Realität nicht entspricht. Bei einem Kind aus Ghana ist das kein Problem, aber die drogenabhängige Simone mit dem entsprechenden Aussehen symbolisiert die dunkle Seite in Daniels Leben. Doch ist es Daniels Aufgabe, diese Seite zu integrieren – und die Aufgabe der Pflegeeltern, ihn dabei zu unterstützen. Diese Integration sollte möglichst früh geschehen, bevor in der Pubertät Daniel bei (den altersentsprechenden) Auseinandersetzungen mit den Pflegeeltern sich das Gefühl entwickelt hätte, er wäre derjenige, bei dem etwas nicht in Ordnung ist – und deshalb würden die Pflegeeltern so viel mit ihm schelten. Oder, falls wir den Fall systemisch betrachten: Daniel hätte Mitgefühl mit seiner Mutter, aber auch Schuldgefühle, solange sie ausgeschlossen würde. Und wie kann er gern und gut in einem System leben und erfolgreich aufwachsen, das seine Mutter ausgrenzt? Auch wenn das Kind aus guten Gründen seiner Mutter oder seinen Eltern weggenommen wurde, in ihm bleiben diese präsent. Nach einer Weile positiver Erfahrungen gibt es auch Repräsentanzen der Pflegeeltern in dem Kind. Wenn die Instanzen von Eltern und Pflegeeltern unversöhnt sind oder in irgendeinem Konflikt stehen, hat es das Kind schwer, ohne psychische Beeinträchtigung seinen Weg zu gehen. Dies umso mehr, falls nicht mit ihm gesprochen wird. Daniels Pflegemutter hätte den Mut aufbringen müssen, ihm zu erklären,

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warum er seine Mutter an seinem Geburtstag nicht sehen darf – und das möglichst, ohne der Mutter ein Versagen zuzuschreiben, also nicht »so, wie die aussieht …«, sondern eher von ihren Gefühlen aus zu argumentieren: »Ich halte es nicht gut aus, wenn jemand bemerkt, wie deine Mutter aussieht. Natürlich hast du sie lieb und hättest sie gern da. Wir lassen sie an einem anderen Tag kommen, treffen uns übermorgen im Café mit ihr und feiern deinen Geburtstag nach, ja?« Eigentlich hat diese Pflegefamilie gute Chancen, Daniel den Raum zu geben, ihn zu einem lebenstüchtigen Menschen heranwachsen zu lassen. Dazu bräuchte sie nur wenige Information, nämlich das Wissen, dass Daniel gar nicht auf den Kontakt zu seiner Mutter verzichten kann. Und dann fehlt die fachliche Unterstützung dabei, sich als einen Teil einer »Herkunftsfamilie-Pflegefamilie-Konfiguration« (Wolf, 2013, S. 269) zu verstehen und zu erleben. Noch versteht sich Daniels Pflegefamilie als vollwertiger Familienersatz, in dem die Mutter eher störend und überflüssig ist. Hildes ablehnende Haltung Simone gegenüber ist eine große Last für Daniel. Er könnte bald in einen Loyalitätskonflikt geraten. Er weiß, dass er nicht bei seiner Mutter leben kann – fast alle Pflegekinder wissen das. Und trotzdem beginnen viele, sich in der Pubertät danach zu sehnen. Und: Erstaunlich viele Pflege- und auch Adoptivkinder haben als Erwachsene keinen oder nur noch wenig Kontakt zu den Familien, die sie einmal aus ihrer Notlage gerettet haben. Das mag unter anderem darin begründet sein, dass die Pflegeeltern aus dem inneren Kampf der Repräsentanten nicht als Sieger hervorgegangen sind. So bleibt jede nicht gut begleitete Trennung von der Mutter ein Trauma, ganz unabhängig davon, was sie dem Kind angetan hat. Dieses Trauma erneuert sich, wenn dem Kind – für es unnachvollziehbar – ein Kontakt zu ihr verweigert wird. Dabei ist das Kind sehr wohl in der Lage, psychisch gesund aus seinem traumatischen Erleben hervorzugehen, sobald ihm die Lage der Dinge erklärt wird. Das bedeutet: Ein Kind, das nicht bei seiner Mutter leben kann, braucht niemanden, der so tut, als sei sie seine Mutter, denn damit wäre ja eine für das Kind unerträgliche Konkurrenz eröffnet: Wer ist die bessere Mutter? Und auch: Darf ich meine Mutter lieben? Oder

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wird meine Pflegemutter dann böse und nimmt mir die Heimat, die sie mir gerade gibt? Um diesen Zustand (das Kind darf loyal zu seiner leiblichen Mutter stehen und seine Pflegemutter lieben) zu erreichen, braucht es nicht unbedingt eine Kindertherapie, sondern vielmehr könnten ihn offene, emotional vom Kind unabhängige Pflegeeltern herstellen und unterstützen. Was das genau bedeuten kann, davon ist im Kapitel über die Pflegeeltern die Rede (siehe S. 59 ff.).

Bindung und Beziehung Erinnern wir uns an das Neugeborene, das zu Beginn des Kapitels auf die Welt kam. Wenn die Umstände andere sind und die Mutter bisher noch nicht auffällig geworden ist, bleibt das Kind noch einige Zeit bei ihr, bis sich sorgende Menschen feststellen, dass sein Wohl dort stark gefährdet, ja vielleicht sogar sein Leben bedroht ist. Hier ist ein administrativer Eingriff notwendig. Was aber ist geschehen bis zu diesem Eingriff? Das Kind hat eine Bindung entwickelt. Der Pionier der Bindungstheorie John Bowlby glaubte noch, die erste Bindungsphase in den ersten sechs Lebenswochen sei eine Phase der nicht-personalen Bindung (Bowlby, 1969/1975). Erst danach treffe der Säugling Unterscheidungen, und ab dem Alter von 6 Monaten käme es zur eigentlichen Bindung. Das würde bedeuten, einem gut versorgten Säugling ist es wahrscheinlich gleich, wer es versorgt. Um diese Theorie in Frage zu stellen, brauchte es nicht erst die Hirnforschung. Die intensive Säuglingsforschung ab den späten 1970er Jahren (z. B. Daniel Stern) kam bereits zu anderen Ergebnissen als Bowlby. Videogestützte Versuchsanordnungen ergaben, dass das Kind von Geburt an die Stimme der Mutter (wieder-)erkennt und sehr bald auch das Gesicht der Mutter von den Gesichtern anderer Frauen unterscheiden kann. Im deutschsprachigen Raum waren die Untersuchungen von Martin Dornes (1993) bahnbrechend. Seine Erkenntnisse führten zum Beispiel zu einer Veränderung der psychoanalytischen Ausbildung. Von da an war Säuglingsbeobachtung integrierter Bestandteil. Dabei ging es im Wesentlichen um die Interaktion zwischen dem Säugling und seiner Mutter. Es wurde deut-

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lich, wie früh sich das Kind als von der Mutter getrennt erlebt – und nicht, wie in der Theorie von der symbiotischen Phase (Mahler, Pine u. Bergman, 1975/1978) angenommen, bis zu einem Alter von etwa sechs Monaten als Teil der Mutter. Es konnte von Dornes gut beobachtet werden, wie das Kind von sich aus aktiv versucht, eine Beziehung zu Mutter herzustellen. So bewegt zum Beispiel ein wenige Wochen alter Säugling auf dem Schoß der Mutter seine Ärmchen im Rhythmus ihres Sprechens. Gleichzeitig sucht er den Blickkontakt. Die Mutter beantwortet diese Bemühungen in der Regel mit Berührungen, Blickkontakt und Anrede: Hier entsteht die frühe Bindung – und darüber hinaus eine Beziehung. An dieser Stelle ist uns ein kleiner Exkurs zum Thema Bindung/ Beziehung wichtig. Der Terminus Bindung wird recht inflationär und vereinfachend verwendet. Natürlich gibt es verschiedene Typen von Bindung. Nach Bowlby (1959) sind das außer dem sicheren Bindungsstil drei unsichere Bindungsstile (desorientiert, ambivalentunsicher, unsicher-vermeidend). Wichtig ist dabei, dass keinem der unsicheren Bindungsstile eindeutig eine bestimmte Psychopathologie zugeordnet werden kann. Dies geschieht aber leider schnell: »Unsicher gebundene Menschen haben Schwierigkeiten, stabile Beziehungen aufzubauen«, wäre eine solche Behauptung. Eine Bindung entsteht in jedem Fall, auch wenn die Mutter nicht adäquat antwortet. Das Kind erkennt die Mutter nicht nur an ihrem Gesicht, sondern bereits vor der Geburt auch an der Stimme, dem Schlagen ihres Herzens, dem Spiel ihrer Bewegungen: Es ist längst an sie gebunden, wenn es auf die Welt kommt. Um eine Beziehung zur Mutter herzustellen, unternimmt das Kind – so beobachtete es auch der Säuglingsforscher Dornes – spätestens ab dem 3. Lebensmonat alles. Damit ist auch schon der Unterschied zwischen Beziehung und Bindung beschrieben: Die Bindung ist ein Vorgang, der sehr früh intrauterinär beginnt und bei dem das Kind am Anfang passiv ist. Bindung zu den frühen Objekten bleibt im Unbewussten bestehen. Eine Beziehung ist eine aktive und freiwillige psychische Leistung. Wir können in Daniels Fall sehr wohl vermuten, dass seine Anhänglichkeit an die Mutter ein Ausdruck seiner Beziehungsfähigkeit ist. Wir erkennen es unter anderem daran, wie liebevoll und

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detailliert er die Treffen gestaltet, ihr Dinge aus seinem Leben zeigt und das Zusammensein mit ihr genießt. Vielleicht bräuchte Daniel auch hier Unterstützung, zum Beispiel einen Hinweis, dass er nicht für das Glück seiner Mutter verantwortlich ist (auch das natürlich in einer kindgerechten Formulierung), damit sich bei ihm nicht das Gefühl des Versagens einstellt, wenn es seiner Mutter nicht gelingt, den Kontakt zu halten. Glücklicherweise ist das menschliche Gehirn flexibel. Die meisten Verletzungen der Psyche sind heilbar und einige Folgen des frühen Stresserlebens zumindest abzumildern. Dafür braucht das Kind eine einfühlsame, akzeptierende Begleitung. »Das Kind wird als Subjekt angesehen, als eigenständige Person, um die man sich im Hier und Jetzt bemüht, wie auch immer die Umstände und die Dauer der Unterbringung sein mögen. Die körperliche Trennung von der Familie muss nicht notwendigerweise als Schock oder Drama erlebt werden, wenn sie, wo immer möglich, vorbereitet und im Zusammenhang mit den Gegebenheiten erklärt wird, und wenn zudem die Bindung zwischen Eltern und Kind aufrechterhalten bleibt. Sie kann vielmehr die Möglichkeit bieten, über eine oftmals zutiefst verstrickte Situation zu reden, sie zu verstehen und zu verändern, eine Situation, die das Kind gefährdet, da es noch nicht alt genug ist, sich selbst zu schützen« (Eliacheff, 1997, S. 111). Wenn die innere Familie des Kindes – seine Bindung an die leiblichen Eltern – akzeptiert wird, kann es »schon im Alter von ungefähr drei Jahren aus der Abhängigkeit von den Eltern gelöst werden (besonders wenn es keine hat), auch wenn natürlich die Sorge von Erwachsenen unentbehrlich bleibt« (Eliacheff, 1997, S. 39). Das ist dann der Zeitpunkt, von dem an das Kind eine ruhige Beziehung zu der es aufnehmenden Familie herstellen und sich in ihr sicher fühlen kann. Denn, »[w]ie weit die lieblose Behandlung dieses Säuglings durch seine Eltern zu einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung führen wird, hängt […] davon ab, ob Menschen verfügbar sind, die eingreifen und helfen, das Schlimmste zu verhüten« (Eichenberger, 2011, S. 71).

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Die phantasierten/phantastischen richtigen Eltern Jörg Jörg war vier Jahre alt, als das Jugendamt sich entschied, er könne nicht mehr bei seiner Mutter leben. Der kleine Junge war oft über Nacht allein geblieben, während sich seine Mutter im Hamburger Stadtteil St. Pauli prostituierte. Gegen Morgen kam sie nach Hause, oft angetrunken und immer todmüde. Jörg bekam ein Toastbrot mit Nutella in die Hand gedrückt und seine Mutter schaltete den Fernseher an, bevor sie schlafen ging. Manchmal brachte sie auch einen Mann mit nach Hause. Dann zog sie Jörg Gummistiefel und Regenjacke an und schickt ihn in den Hof zum Spielen. Die Nachbarn ließen ihn ins Haus, wenn er nach zwei, drei Stunden weinend und frierend vor der Tür stand. Als der Gemüsehändler von gegenüber beim Jugendamt anrief, kam die Sozialarbeiterin bereits am nächsten Morgen vorbei. Jörg war wieder die ganze Nacht allein gewesen. Er hatte sich gerade einen Becher Joghurt aus dem Kühlschrank genommen und versuchte, sich schon mal anzuziehen. Danach ging alles sehr schnell. Schon zwei Tage später zog Jörg bei Hans und Julia ein. Die beiden lebten mit ihren beiden Kindern Leon und Anna in Schleswig-Holstein. Hans versorgte eine Landarztpraxis und Julia Kinder und Haushalt. Im Haus gab es genügend Platz und Julia hatte Zeit, sich um die drei Kinder zu kümmern. Der Anfang war viel schwerer, als Julia es sich vorgestellt hatte. Jörg machte wieder ins Bett, er sprach kaum und weinte, wenn er in den Kindergarten gehen sollte. Dann klammerte er sich an Julia und geriet in Panik, sobald sie sich verabschiedete. Hans und Julia waren geduldig. Jörg brauchte Zeit, da waren sie sich einig und viel mehr Führsorge und Zuwendung als die beiden anderen Kinder. Auch mit sechs Jahren sprach Jörg noch schlecht. Julia fuhr einmal in der Woche mit ihm zur Logopädin nach Husum. Jörgs Bewegungen waren unkoordiniert. Julia nahm mit ihm am Kinderschwimmen teil und brachte ihn zur Ergotherapie. Hans las den Kindern jeden Abend vor, aber während sich Anna und Leon an ihren Vater kuschelten, lief Jörg im Zimmer hin und her.

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Einmal im Monat fuhr Julia mit Jörg nach Hamburg, wo der Junge im Jugendamt seine Mutter traf. Manchmal sah er seine Mutter gar nicht an, manchmal war es sehr schwer, ihn dazu zu bewegen, wieder zu Julia ins Auto zu steigen. Langsam lebte sich Jörg in seine Pflegefamilie ein. Er war glücklich, wenn Hans sich die Zeit nahm, um sich allein mit ihm zu beschäftigen. Jörg besuchte jetzt einen Waldorfkindergarten, in dem er keine Angst mehr hatte, und er reagierte nur noch selten aggressiv auf seine Geschwister. Der Besuchskontakt zu seiner Mutter wurde seltener. Wenn sie betrunken zu den Besuchskontakten ins Jugendamt kam, schickte die Sozialarbeiterin sie fort. Später, da war Jörg zwölf Jahre alt, wurde die Mutter verurteilt und saß zwei Jahre in einer Frauenhaftanstalt in Süddeutschland ein. Jörg ging zum Konfirmandenunterricht, übte mit Julia für die Schule und spielte Fußball im Verein. Das Lernen fiel ihm schwer, aber mit Unterstützung schaffte er es, jedes Jahr versetzt zu werden. Jörg wollte seine Mutter zur Konfirmation einladen. Hans und Julia waren von der Idee nicht begeistert, aber sie erlaubten es. Es war ja Jörgs großer Tag. Jörg telefonierte mit seiner Mutter, und sie sagte, sie würde kommen. Aber sie kam nicht. Telefonisch war sie den ganzen Tag nicht zu erreichen, und erst drei Tage später erklärte sie am Telefon, sie habe kein Geld für die Fahrkarte gehabt. Einige Tage später war Jörg verschwunden. Hans und Julia machten sich große Sorgen. Der Junge blieb eine Woche bei seiner Mutter in Hamburg. Dann kam er zurück, schmutzig und ausgehungert. Er erzählte nie, was er in Hamburg erlebt hatte, er war einfach wieder da und froh, mit seiner Pflegefamilie nach Südfrankreich zum Zelten zu fahren. Jörg verschwand immer mal wieder nach Hamburg und war meist nach zwei, drei Tagen zurück. Hans und Julia wussten, dass sie Jörg besser keine Vorhaltungen machten, sonst blieb er für sie unerreichbar. Nach der 10. Klasse begann Jörg eine Tischlerlehre, die ihm Spaß machte. Er verstand sich gut mit seinem Ausbilder, und Hans überlegte, dem Jungen in der Garage eine kleine Werkstatt einzurichten. Kurz nach seinem 18. Geburtstag fuhr Jörg zu seiner Mutter. Er kam nach ein paar Tagen zurück, packte seine Sachen ein und verließ seine Pflegefamilie.

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Besonders Julia litt unter der Trennung. Sie suchte Jörg in Hamburg und fand ihn Wochen später zusammen mit seiner Mutter in einem Abbruchhaus. Julia bat ihn inständig, mit ihr zurückzufahren, aber Jörg wollte nicht. Noch ein weiteres Mal versuchte Julia Kontakt zu Jörg zu bekommen. Sie schickte ihm eine Einladung zu Weihnachten und ein Bahnticket. Jörg antwortete nicht.

Auf die Gefahr, dass die leiblichen Eltern als heldenhafte, reiche und machtvolle Gestalten phantasiert werden, soll hier noch einmal genauer eingegangen werden. Jörgs Mutter war mit Sicherheit keine heldenhafte Figur, die ihn vor irgendetwas hätte bewahren oder beschützen können. Die Bindung, die Jörg zu ihr hatte und hat, ist hier, wie so oft, nicht ausreichend erkannt, ausgesprochen und akzeptiert worden. Das zeigt sich nicht nur in Jörgs Fall, sondern auch bei anderen Pflegekindern, wenn es Konflikte in der Pflegefamilie gibt, sei es im Zusammenhang mit der Schule, mit sozialen Regeln und dies besonders in der Pubertät. Sigmund Freud beschreibt in »Der Familienroman der Neurotiker« (Freud, 1909), wie sich ein unglückliches Kind in eine Phantasiewelt flüchtet, sich eine wunderbar heilsame Geschichte ersinnt und eine ganz neue Familie erschafft. Wie viel leichter ist es für ein Pflegekind, diesen Weg zu wählen, das ja weiß, dass die Eltern, bei denen es lebt, nicht die richtigen sind. So wehrt es sich gegen berechtigte (oder auch unberechtigte) Ansprüche der Pflegeeltern gern mit dem Satz: »Ihr habt mir gar nichts zu sagen, ihr seid ja nicht meine richtigen Eltern!« Das Kind braucht diesen Trost, bis es die Fähigkeit der Selbstberuhigung und Selbstbemutterung entwickelt hat. Gleichzeitig ist es eine enorme Herausforderung an die Pflegeeltern, sich dieser destruktiven Äußerung zu stellen, ohne sich durch den Vergleich selbst gekränkt zu fühlen. Mit der Hinnahme geben sie dem Pflegekind die Erlaubnis, seine leiblichen Eltern zu idealisieren. Gleichzeitig machen sie dem Kind klar, welche Regeln bei ihnen gelten und dass diese Regeln nicht dazu da sind, jemanden zu ärgern, zurückzusetzen oder gar zu quälen. Diese Regeln gelten für alle in der Familie (und nur um solche Regeln geht es hier), und wer sie respektiert, ist stark.

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Antje, eine Adoptivtochter, beschreibt ihre Idealisierung der leiblichen Eltern so: »Ich konnte mir einen Vater ausmalen, der ein König war. Ich konnte von einer anderen Mutter träumen, von einer Prinzessin, die meine Wege nicht störte, die aber da sein würde, wenn ich sie brauchte« (Levend, 2011, S. 182). Diese Beschreibung erinnert ein wenig an den Vater von Pippi Langstrumpf, dem Schrecken der Meere, heute König in Taka-Tuka-Land (Lindgren, 1948/1951). Antje erzählt weiter, dass die Adoptiveltern ihr deshalb nie böse gewesen seien. Trotzdem geht die Geschichte nicht so gut aus, wie der Titel des Protokolls verrät: »Lieber gehe ich selbst, als wieder verlassen zu werden« (Levend, 2011, S. 182). Die einfache Akzeptanz der kindlichen Idealisierung reicht also nicht aus, es muss von den Pflegeeltern auch mit ihr umgegangen, sie muss als Sehnsuchtsphantasie angesprochen und irgendwann einer Realitätskontrolle unterzogen werden. Eine weitere kindliche Phantasie ist diejenige darüber, warum das Kind nicht bei den leiblichen Eltern aufwachsen kann. In ihr haben daran oft nicht etwa die Eltern Schuld, sondern diese sind Opfer: Jemand hat sie gezwungen, das Kind wegzugeben – oder es ihnen sogar geraubt. Nicht selten sind die Pflegeeltern dann die sprichwörtlichen Bösen. Wenn die Eltern so gut sind wie bei Antje, wenn sie Könige, Prinzessinnen oder einfach reiche gute Menschen sind, dann können sie das Kind nur aus einem Grund weggegeben haben (falls es nicht geraubt wurde): Dem Kind haftet ein fürchterlicher Makel an. Das ist einer der wesentlichen Konflikte, mit denen sich erwachsene Pflegeund Adoptivkinder quälen: »Was ist mit mir nicht in Ordnung?« Schon während der ganz frühen Kindheit ist dem Kind immer wieder zu sagen, dass mit ihm alles in Ordnung ist – unabhängig davon, was es gerade tut. Dieser Punkt führt uns zu der Frage, wie viel Wahrheit den Kindern über ihre eigenen Eltern erzählt werden soll. Wir haben gesehen, welche Folgen es hat, wenn das Kind nichts über seine Eltern weiß. Es idealisiert sie und kann dann den Pflegeeltern die Beziehung verweigern. Dabei entsteht entweder eine irreale Sehnsucht nach Rettung durch die leiblichen Eltern oder das Gefühl eigener Minderwertigkeit oder beides. Das setzt gleichzeitig

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wieder einen Prozess der Aversion gegen die Pflegeeltern in Gang: »Warum haben die mich genommen, wenn ich so schlecht bin? Ich habe doch ihrer Fürsorge nichts entgegenzusetzen und muss ihnen dreifach dankbar sein. Auf keinen Fall können die mich wirklich gern haben.« Die so entstehenden Schuldgefühle führen zuerst einmal zu Aggressionen und oft zu Konflikten bis hin zu Trennungen. Die leiblichen Eltern werden in der Psyche des Kindes immer präsent sein und oft auch in seinen bewussten Phantasien. Bleiben sie (die Eltern) den Phantasien des Kindes überlassen, prägen sie seine psychische, soziale und auch intellektuelle Entwicklung durch Identifikation mit den irrealen unbewussten Repräsentanzen. Nicht mit dem Kind über seine Eltern zu reden, ist keine Lösung, auch nicht, wenn dieses Schweigen mit dem guten Willen motiviert ist, das Kind schützen zu wollen. Man kann ein Kind nicht vor seinen Eltern schützen, nicht in seiner inneren Realität. Dem Kind ist durch seine Eltern ein Leid widerfahren, sonst wäre es ihnen ja nicht weggenommen worden. Die Eltern haben ihm gegenüber versagt. Sie taten das aber nicht, weil sie bösartige Menschen waren, sondern weil sie aufgrund eigener Defizite keine guten Eltern sein konnten. Das darf und muss dem Kind gesagt werden, eine Wahrheit, auf die es ein Recht hat, die aber gleichzeitig mit einem Mitgefühl den leiblichen Eltern gegenüber gepaart ist. Es kann sogar sein, dass die Eltern solch’ schrecklichen Dinge getan haben, dass sie einen Kontaktabbruch rechtfertigen. Auch darüber muss mit dem Kind gesprochen werden. Eliacheff sagt: »Die Erfahrung zeigt, dass das Verschweigen unter dem Vorwand, eine perverse Identifikation oder ›Traumatisierung‹ zu vermeiden, in Wirklichkeit nicht nur uneffektiv ist, sondern auch für die Betroffenen einen über mehrere Generationen wirksamen pathogenen Einfluss haben kann. Hier nur ein kurzes Beispiel: Frau N., neunzehn Jahre, ist die Mutter eines kleinen Jungen, der vom Jugendrichter wegen Mißhandlung in ein Heim eingewiesen wurde. Sie selbst wuchs seit frühester Kindheit in einer Pflege-

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familie auf, an die sie sehr gute Erinnerungen hat. Man hat ihr aber niemals gesagt, wer ihre Eltern sind, noch, warum sie in eine Pflegefamilie kam. Mit annähernd achtzehn Jahren zog sie mit einem Mann zusammen, der sie seit Beginn ihrer Schwangerschaft schlug« (Eliacheff, 1997, S. 67). Nur als kurze Anmerkung sei hier notiert, dass die Kinderrechtskonventionen, die Deutschland 1992 unterzeichnet hat, das Recht des Kindes beschreibt, seine Eltern zu kennen und wenn eben möglich von ihnen betreut zu werden. Das bedeutet im Einzelfall nicht, dass das Kind bei den Eltern leben muss. Wohlgemerkt: Hier ist vom Recht des Kindes auf seine Familie die Rede, nicht von den berühmtberüchtigten Elternrechten, die bei der Diskussion um die Fremdplatzierung so schnell als verwirkt beschrieben werden. »Das Kennen der eigenen Eltern – sofern sie am Leben sind – ist eine wichtige Bedingung für eine gesunde Identitätsentwicklung« (Vogel, 2012, S. 4). Der Gesetzgeber trägt diesen Forderungen inzwischen Rechnung, in dem er, wenn er eine anonyme Geburt erlaubt, gleichzeitig verfügt, dass die Daten der leiblichen Eltern versiegelt aufbewahrt werden und zu einem bestimmten Zeitpunkt dem Kind, wenn es danach fragt, zugänglich gemacht werden müssen. Ebenso haben Gerichte entschieden, dass die Anonymität eines Samenspenders aufgehoben werden muss, wenn das so gezeugte erwachsene Kind danach verlangt (2013).3 Wir kennen es als ein häufiges Phänomen aus vielen Pflegeverhältnissen, dass sich die Schicksale wiederholen, dass Menschen, die als Pflegekinder groß geworden sind, ihren eigenen Kindern keine guten Eltern sein können, auch wenn sie selbst in liebevollen Pfle3 Die Richter im westfälischen Hamm werteten das im Grundgesetz festgelegte Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit höher als das Recht eines Spenders auf Anonymität (Az: I-14 U 7/12). Das Urteil ist rechtskräftig. Eine Revision ist laut OLG nicht zugelassen. Vgl. Frankfurter Allgemeine (2013). Urteil des OLG Hamm: Name von Samenspender muss preisgegeben werden. 06.02.13. Abgefragt am 30.10.2015 unter http://www.faz.net/aktuell/ gesellschaft/familie/urteil-des-olg-hamm-name-von-samenspender-musspreisgegeben-werden-12053061.html

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gefamilien aufgewachsen sind. Junge und erwachsene Pflegekinder machen sich innerlich wie äußerlich auf die Suche nach den leiblichen Eltern, mit denen sie sich identifizieren. Zu stark wirken die unberücksichtigten inneren Konflikte.

Entwicklung der Bindungstheorie – und die Inobhutnahme Die Bindungstheorie hat die von Bolwby gelegten Grundlagen niemals verlassen. Alle neueren Theorien beziehen sich weiterhin auf ihn und die von ihm entwickelten Bindungstypen. Allerdings ist die Forschung dahingehend weitergegangen, dass es intensive Untersuchungen (und Ergebnisse) darüber gibt, was geschieht, wenn in den frühen Lebensmonaten eine sichere Bindung nicht gelingt. Außerdem sind psycho-neurobiologische Erkenntnisse eingeflossen, die erst zu Beginn dieses Jahrtausends relevante Resultate liefern konnten. Die Neurobiologie, besser gesagt die Neuropsychologie, erbrachte auch Antworten zur Deprivation. Eine weitere wichtige Erkenntnis, die wir dieser Forschung verdanken, ist das Wissen, dass Bindungssicherheit die Grundlage für Lernfähigkeit ist. Das erklärt weitgehend, wieso Pflegekinder auch in Familien mit hohem Bildungsstandard oft in der Schule versagen. Ein sehr eindrucksvolles Beispiel dafür ist die Fallgeschichte von Mandy und Ute (S. 73 ff.), die ausführlich im Kapitel »Die Pflegeeltern« behandelt wird. Auch wenn Mandys mögliche Vorschädigungen nie ganz geklärt wurden, ist doch anzunehmen, dass ein sicher gebundenes Kind bei dieser Förderung zu einem Bildungsabschluss gelangt wäre. Mandy war weder bei ihren Eltern noch bei ihrer Großmutter sicher. In der Pflegefamilie band sie sich an die Pflegemutter wie ein ängstliches kleines Kind – also unsicher-abhängig. Aus dieser Position kam sie nicht wieder heraus – so agiert sie mit der frühen eigenen Mutterschaft ihre Bindungswünsche. Dies ist wichtig zu bemerken, weil die Bindungstheorie sich bisher im Wesentlichen mit Kindern im familiären Zusammenhang beschäftigte. Des Weiteren verhalfen die neuen Bindungsforschungen den Gebieten Pädagogik (als wichtiger Vertreter Neuer

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Pädagogik ist hier Jesper Juul zu nennen) und Psychotherapie zu Erkenntnissen und Handlungsanleitungen. Bernhard Strauß hat die Bedeutung bindungstheoretischer Aspekte für einzelne psychische Störungen und die psychotherapeutische Arbeit beschrieben, gleichzeitig gibt er einen informativen Einblick in die Geschichte und den augenblicklichen Stand der Bindungstheorie (2014). Mit dem für uns relevanten Thema des Pflegekinderwesens und der Bedeutung der Bindungstheorie für die Entwicklung von in Obhut genommenen Kindern beschäftigt sich Roland Schleiffer, auf den sich die folgenden Ausführungen im Wesentlichen beziehen (Schleiffer, 2015). Mit Bowlby geht Schleiffer davon aus, dass, vereinfacht ausgedrückt, automatisch die erste freundliche Pflegeperson diejenige sein wird, an die sich das Kind bindet. Dieses Argument benutzen auch die Jugendämter, wenn sie ein Neugeborenes sofort nach der Geburt von der Mutter entfernen. Bei diesem Vorgehen werden jedoch jene Forschungen ignoriert, die das Erkennen des ganz jungen Säuglings beschreiben, das sich an der Stimme der Mutter und anderen körperlichen Verbindungen wie z. B. Herzrhythmus, Geruch etc. festmacht. Vielleicht ist diese Vertrautheit nicht eine Bindung im Sinne Bowlbys, sehr wohl aber eine Vertrautheit, sozusagen ein sanfter Übergang vom intrauterinären Leben zum Leben in der äußeren Welt. Auch der Mutter, die von ihrem Kind getrennt werden muss, wäre hier ein sanfterer Übergang zu wünschen. Schließlich wird sie gerade (wahrscheinlich zum wiederholten Mal) ihres Lebenssinns beraubt – wie irrational dieses Phantasma auch sein mag, dass ein Kind sie retten oder heilen könne. Dass Kinder direkt nach der Geburt fremdplatziert werden (müssen), ist nicht die Regel. Vielmehr handelt es sich hierbei meist um ältere Kinder – und älter meint: älter als ein Jahr. Diese Kinder sind an ihre Eltern (in der Regel an ihre Mütter) gebunden, wie unsicher auch immer. Schleiffer schreibt: »Auch, wenn die Versorgung durch die Eltern noch so mangelhaft war, sind die Eltern für die Kinder die primären Bindungsper-

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sonen. Kinder hängen an ihren Eltern. Die Trennung von ihnen bedeutet daher einen schmerzvollen Bindungsbruch, ohne dass für die Kinder vorhersehbar ist, ob und wer ihre Bindungsbedürfnisse in der Zukunft wird erfüllen können« (Schleiffer, 2015, S. 11). Und selbstverständlich entsteht diese Bindung auch an die unzureichenden Eltern, die Gründe dafür bieten, ihnen die Kinder fortzunehmen. Selten ist, so Scheffler, »das kommunikative Angebot seitens der sozialen Umwelt so dürftig […], sodass das Kind keinen Menschen als Bindungsperson auszuwählen vermag« (S. 58). Im Kapitel »Bindungstheorie und Sozialpädagogik« geht Schleiffer dem schwierigen Verhältnis zwischen Eltern und Kind nach. Er stellt einige Argumente dar, die auch den Thesen unseres Buches entsprechen. An dieser Stelle sei nur auf die Diskussion hingewiesen (S. 65 ff.). Nach allen Erkenntnissen der Bindungstheorie gilt zweierlei: Dem in Obhut zu nehmenden Kind muss eine sichere Bindungsmöglichkeit angeboten werden und ein Abbruch vorher entstandener Bindungen soll möglichst vermieden werden. Das bedeutet auch, Kinder sollten so früh wie möglich in eine sichere Umgebung gebracht werden, ohne dass die vorher entstandene Bindung radikal und schmerzhaft abreißen muss. In der Regel sind Pflegekinder der Abbruchssituation mehr als einmal ausgesetzt, sei es durch Übergangspflegen oder wechselnde Pflegefamilien. Letzteres kommt besonders häufig zustande, wenn das Kind aggressive oder andere sozial auffällige Symptome zeigt, kurz gesagt, unzumutbar wird und sich die Pflegeeltern überfordert fühlen. Durch diese Pflegeabbrüche werden sich die Symptomatiken jedoch eher verstärken als mildern, was gegebenenfalls zu einem weiteren Abbruch eines Pflegeverhältnisses (oder zum Wechsel des Heimes) führt. Schon in diesem Zusammenhang kann die Möglichkeit bedacht werden, die Mutter als kontinuierliche Bezugsperson in das Pflegesystem zu integrieren, um Wechsel weniger notwendig oder weniger schmerzhaft für das Kind zu machen.

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Das bindungsunsichere Kind enttäuscht oft, weil es sich entsprechend seiner bisherigen Bindungserfahrungen verhält. Es ist weder dankbar noch findet es sich freudig in das ihm von den Pflegeeltern liebevoll dargebotene Nest ein. »Wenn diese es nicht schaffen, selbst sich ihrem Kind [Pflegekind, A.R./M.B.Z.]4 gegenüber gewissermaßen erwartungswidrig zu verhalten, sondern komplementär reagieren und so die pessimistische Erwartung bestätigen, besteht die Gefahr, dass sich ein Teufelskreis etabliert« (S. 161).

Das unsicher gebundene Kind in der Pflegefamilie Jedes Kind bringt Vorerfahrungen mit in die Pflegefamilie, unabhängig davon, wie alt es zur Zeit der Inobhutnahme war. Schon die Erfahrungen, die ein Kind vor der Geburt macht, bestimmen spätere Handlungsmuster. »Das gilt vor allem für heftige Angst- und Stressreaktionen der Mutter, […] die mit einer verstärkten Anflutung der vom mütterlichen Organismus freigesetzten Stresshormone einhergehen«, erläutern Hüther und Krens (2008, S. 114). Dieses Erregungsniveau begleitet das Baby in seiner Pflegefamilie – und da es diese Erregung gewohnt ist, versucht es sie immer wieder herzustellen. Das geschieht über viele Jahre, wobei sich oft ein Kampf mit den Pflegeeltern entwickelt, die versuchen, das Kind zu beruhigen. Hier gilt es – wie im Fall von Mandy (siehe Fallgeschichte Mandy und Ute, S. 73 ff.) –, das Kind an der Stelle abzuholen, wo es sich gerade befindet: bei seinem Sosein. Das könnte in der Praxis, verkürzt beschrieben, so aussehen: Bevor das Kind zur Ruhe kommen soll, wird es dazu angeregt, sich kraftvoll, bis kurz vor der Erschöpfung in einer konstruktiven Weise auszutoben, damit es nachher die Ruhe als Wohltat erleben kann. Ähnliches gilt für das Bindungsmuster, das ein Kind mitbringt. Es ist ja nicht einfach unsicher oder ängstlich gebunden, sondern dieses in seiner eigenen, individuellen, von seiner Lebensgeschichte und seinem Temperament abhängigen Art und Weise. Ist das Kind 4 Hinweis: Auch hier wird das Pflegekind als das Kind der Pflegeeltern bezeichnet!

Das unsicher gebundene Kind in der Pflegefamilie

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zum Beispiel gewohnt, dass seine Bindungsversuche in der Umwelt Gewalt auslösen, hat es zwei extreme Reaktionsmuster zur Verfügung. Es kann sich entscheiden,5 das Leben völlig allein zu bewältigen oder den Kontakt weiterhin suchen: »Ganz gleich, wie weh es tut, ich will den Kontakt«. Es ist eine Wahl zwischen Skylla und Charybdis für das Kind, weil keine der beiden Möglichkeiten zu seinem wirklichen Ziel führen, nämlich gemocht und gut versorgt zu werden, also in Sicherheit zu sein. Entsprechend verunsichert sind Pflegeeltern, wenn das Kind unerwartet auf ihr Beziehungsangebot reagiert. Ihre Aufgabe ist es nun, anders zu reagieren, als das Kind es erwartet, zum Beispiel einen Kontakt immer wieder anzubieten, obwohl das Kind sich ablehnend, aggressiv oder unabhängig gebärdet. »Wenn diese [die Pflegeeltern; A.R./M.B.Z.] es nicht schaffen, selbst sich […] erwartungswidrig zu verhalten, sondern komplementär reagieren und so die pessimistischen Erwartungen bestätigen, besteht die Gefahr, dass sich ein Teufelskreis etabliert und sich das gezeigte Bindungsverhalten noch verfestigt […]. Insofern verursachen hochunsicher gebundene Pflegekinder insbesondere mit ihrem bindungsabweisenden und Bindungsbedürfnisse leugnenden Verhalten, dass ihnen die zu wünschenden bindungskorrigierenden Erfahrungen vorenthalten werden« (Schleiffer, 2015, S. 161). Einem aggressiven oder total passiven Kind eine korrigierende Bindungserfahrung anzubieten, ist eine Aufgabe, die enorm viel Geduld, eine stabile Psyche und ein fundiertes Fachwissen verlangt.

5 Dabei handelt es sich in der Regel um einen unbewussten Prozess. Allerdings sind Ausnahmen gar nicht so selten. Manchmal erinnern sich Patienten in der Therapie an solche Entscheidungen: »Da habe ich mir gesagt, dass ich nie wieder weinen werde!«

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Wie viele Kinder braucht Heike, um glücklich zu sein? Heike Ich lernte Heike kennen, da war sie 27 Jahre und ihr sechstes Kind, die kleine Marie, war gerade acht Wochen alt. Heike erzählte, Marie sei ein »ausgesprochen pflegeleichtes Baby«, sie schlafe nachts durch und auch tagsüber müsse man sie wecken, um ihr etwas zu essen zu geben. Ich durfte Marie ansehen, sie lag in einem Bettchen im Schlafzimmer. Ganz blass und zart war sie, vielleicht zu dünn, und sie lag völlig regungslos da. Als wir wieder im Wohnzimmer saßen und Heike sich eine Zigarette angezündet hatte, sprach sie weiter, als sei Maries Bruder, der 3-jährige Marcel, nicht mit im Raum. (Marie und Marcel haben denselben Vater und wohnten beide zu diesem Zeitpunkt bei ihren Eltern.) Marcel sprach vor sich hin, manchmal kreischte er, wobei kein Wort zu verstehen war. Heike reagierte nur auf ihn, wenn er ihrer Meinung zu laut wurde. »Er konnte schon als Baby nicht leise sein«, sagte sie zu mir. Nadine, die 7-Jährige, wurde gar nicht zur Kenntnis genommen. Ich war mit ihr gekommen. Nadine lebte mit ihrem Bruder Pierre bei Pflegeeltern, auch Nadine und Pierre haben einen gemeinsamen Vater. Ich arbeitete im Rahmen einer psychosozialen Betreuungsmaßnahme mit beiden Kindern. Nadine hatte große Sehnsucht danach gezeigt, ihre Mutter und die Geschwister, die bei der Mutter wohnen durften, kennenzulernen. Bisher hatten sich die Pflegeeltern dem entgegengestellt, aber Nadines Wunsch und ihre heftige Art, ihn zu vertreten – teils mit Auflehnung, Trotz und Geschrei, teils mit stiller Verweigerung aller Kontakte –, hatte sie schließlich einwilligen lassen. Für Pierre war keine solche Erlaubnis zu erwirken gewesen, sie wurde vor allem mit dem Argument verweigert, der Junge wolle seine

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Mutter ja gar nicht sehen. Zu dem Zeitpunkt war Pierre neun Jahre alt und hatte seine Mutter seit fünf Jahren nicht gesehen. Nur zu Anfang des Pflegeverhältnisses hatte es noch sporadische Kontakte zwischen Heike und ihren beiden Kindern Pierre und Nadine gegeben. Nach einigen Auseinandersetzungen mit den Pflegeeltern wurde dieser Kontakt (angeblich einvernehmlich) eingestellt. Nadine hatte trotzdem den Wunsch nach einer Begegnung mit ihrer Mutter entwickelt. Das Mädchen saß nun still auf einem Sofa, seiner rauchenden Mutter gegenüber und ließ diese nicht aus den Augen. Den kleinen Marcel, der versuchte, Kontakt mir ihr aufzunehmen, indem er ein Spielzeug nach dem anderen neben Nadine legte, ignorierte sie. Ich bemerkte, wie sehr Nadine ihrer Mutter ähnlich sah, die gleichen wuscheligen blonden Locken, die gleichen tief liegenden blauen Augen im zarten, runden Gesicht. Mein Versuch, einen Kontakt zwischen Mutter und Tochter herzustellen, indem ich auf diese Ähnlichkeit hinwies, scheiterte. – Und ich habe es in vielen wöchentlichen Besuchen nicht aufgegeben. Als sich dann erste, vorsichtige Kontaktaufnahmen abzeichneten, war die vom Jugendamt finanzierte Betreuungsmaßnahme zu Ende. – Heike hatte zu diesem Zeitpunkt einmal Nadines Wange gestreichelt und sie zwei Wochen später gefragt, wie es ihr in der Schule gefiele und mindestens 90 Sekunden ernsthaft zugehört, bevor sie sich die nächste Zigarette angezündet und sich wieder mir mit einer Geschichte aus ihrer schwierigen Beziehung zu Fred, dem Vater ihrer letzten beiden Kinder, zugewandt hatte. Dennoch: Nadine war in der Pflegefamilie deutlich ruhiger und angepasster geworden.

Es wären viel mehr Zeit, Geduld und Fachkenntnis notwendig gewesen, um Heike beim Aufbau einer Beziehung zu ihren Kindern zu helfen. Und damit natürlich auch die Kinder zu unterstützen, unabhängig davon, ob sie bei ihr lebten oder nicht. Heike war sicherlich nicht in der Lage, sich adäquat um vier Kinder zu kümmern. Trotzdem war es beeindruckend, mitzuerleben, wie sie langsam einen Kontakt zu Nadine aufbaute. So, als habe sie nicht wirklich den Mut dazu, als sei sie resigniert. Auch ich konnte ihr ja nichts versprechen. Heike hat Recht behalten, dennoch hatte sie es versucht: Die Besuche wurden nicht fortgesetzt, nachdem die Maßnahme beendet war.

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Die Pflegeeltern atmeten erleichtert auf. Nadine hatte schon mit dem Gedanken gespielt, ganz zu ihrer Mutter zu ziehen oder wenigstens einmal bei ihr zu übernachten. Das erste Kind, das Heike mit knapp 17 Jahren geboren hatte, war René. René war mit einem Jahr, kurz nach der Geburt des nächsten Kindes, Pierre, gestorben. Die Umstände seines Todes wurden nie ganz geklärt. »Er war wohl nicht ganz gesund«, erzählte mir Heike nach einiger Zeit unserer Bekanntschaft und habe immer viel geweint. Ja, manchmal habe sie ihn auch nicht gehört, weil sie mit Renés Vater viel getrunken habe, manchmal zu Hause, oft seien sie aber auch ausgegangen. Sie habe in der Zeit Angst gehabt, er würde eine andere Frau kennenlernen, weil er ein so schöner Mann war. Als dann René gestorben und Heike mit dem dritten Kind schwanger gewesen war, habe er sie verlassen. Sie wusste nicht, was aus ihm geworden sei, er habe auch niemals Unterhalt bezahlt. Sie sei sehr unglücklich gewesen damals und habe allein weiter getrunken. Da sei das Jugendamt gekommen und habe ihr Pierre und Nadine weggenommen. Sie habe aufgehört zu trinken und gearbeitet, aber das mache keinen Spaß, wenn man nichts gelernt habe. Sie lernte einen anderen Mann kennen, der war Gabelstaplerfahrer in dem Lager, in dem sie Pakete für Auslieferungen zusammenstellte. Der sei sehr lustig gewesen und habe sie manchmal mitfahren lassen, und nach der Schicht haben sie manchmal kleine Ausflüge gemacht. Er hatte nämlich ein Auto. Als sie ihm erzählte, dass sie schwanger war, sei er »plötzlich ganz anders« geworden. – »So haben wir nicht gewettet«, habe er geschrien, »ich bin schließlich verheiratet. Glaubst du, wegen einer Schlampe wie dir verlasse ich meine Frau?« Noch viele andere böse Worte seien gefallen. Irgendwann habe er geweint und gesagt, es täte ihm leid, aber sie solle auf keinen Fall angeben, dass er der Vater sei. Das würde sein Leben zerstören. Heike hatte eingewilligt, und auf der Geburtsurkunde des kleinen Maurice hatte »Vater unbekannt« gestanden. Nach der Geburt wurde Heike schwer krank. Es wurde eine pränatale Depression mit psychotischen Episoden diagnostiziert. Während der drei Monate, die Heike in der Psychiatrie verbrachte, kam Maurice in einer Pflegefamilie unter

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und zwar in einer anderen als die, die Pierre und Nadine beherbergte. Maurice war seinen Pflegeeltern übergeben worden mit der Option, er könne wohl auch adoptiert werden, die Mutter sei sicher nicht in der Lage, ein Kind großzuziehen, immerhin habe sie schon dreimal versagt. Man brauche dafür allerdings ihre Einwilligung. Nachdem Heike das Krankenhaus verlassen hatte, bemühte sie sich darum, Maurice zu sich zu holen. Sie bekam ihn aber nicht, weil er sich »so schön an die Pflegeeltern gewöhnt hatte«. Sie dürfe ihn besuchen, wurde ihr versichert, eine Sozialarbeiterin würde sie begleiten. Diese Besuche kamen nie zustande. Etwas kam immer dazwischen. Oft war das Kind krank oder die Sozialarbeiterin, die als Umgangsbegleiterin vorgesehen war, hatte Urlaub. Ein einziges Mal hatte Heike den Termin »vergessen, wirklich nur ein einziges Mal«. Sie wusste längst nicht mehr, wie ihr Kind aussah. Dann lernte sie Fred kennen. Fred hatte eine Arbeit, und er suchte eine Frau. Kinder mochte er auch – aber nur ganz und gar eigene. »Er wollte sie selbst machen«, erzählt mir Heike, verschämt lächelnd. Und da habe sie in eine Adoption von Maurice eingewilligt. Die damaligen Pflegeeltern bekamen das Kind allerdings nicht – sie waren zu alt. Und so musste Maurice mit einem Jahr noch einmal alle Beziehungen aufgeben. Wo er jetzt war, wusste Heike nicht, sie wollte es auch gar nicht wissen. Ganz schnell sei sie schwanger geworden, und Fred habe für sie diese Wohnung gefunden. Noch nie habe sie eine so schöne Wohnung gehabt, mit Balkon. Sie weist mit einer ausholenden Geste in die Runde. Die Wohnung ist preiswert und spärlich möbliert, aber sehr sauber und aufgeräumt. Nur ein paar seiner wenigen Spielzeuge verteilte Marcel, als sei es ihm sonst zu leer. Nach der Geburt des Jungen war Heike glücklich, bis Fred ihr gestand, er hätte es sich nicht so anstrengend vorgestellt, dieses viele Babyweinen – und außerdem hätte er doch lieber eine Tochter gehabt. Heike versuchte alles, um Marcel ruhig zu halten, ging viel mit ihm spazieren. Fred kam oft erst spät nach Hause, und das Glück begann sich zurückzuziehen. In der Hoffnung, alles würde wieder wie am Anfang ihrer Beziehung, setzte Heike die Pille ab, die sie sowieso »schlecht vertragen« hatte und wurde schnell wieder schwanger. So wurde Marie geboren, das Wunsch erfüllende Baby, ein Mädchen für Fred, ein ganz stilles dazu.

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Jedes Kind ist eine Wunscherfüllung, oft sicher die Erfüllung eines unbewussten Wunsches und noch öfter die Erfüllung eines verschobenen Wunsches. Das kann der Wunsch nach Anerkennung als erwachsene, potente Frau sein. Manchmal handelt es sich auch um den Wunsch nach Heilung – von den Verletzungen, die in einer unglücklichen Kindheit entstanden sind. Ähnliche Anliegen verbinden sich auch mit dem Kinderwunsch normaler – will heißen: normal-neurotischer – Frauen. Der Unterschied besteht darin, dass diese Frauen gleichzeitig ein Gefühl dafür entwickeln können, dass das Kind ein eigener Mensch mit eigenen Bedürfnissen ist und dass sie die Pflicht haben, diese Bedürfnisse zu stillen. Schwerer psychisch verletzte Frauen erleben die Erfüllung ihres Wunsches während der Schwangerschaft und vielleicht noch in den ersten Lebensmonaten des Säuglings, wenn es sich nicht gerade um ein Schreikind handelt. Dann, oder wenn der Eigenwille des Kindes spürbar wird, setzt die große Enttäuschung ein: Wieder nichts für mich, wieder niemand, der meine Wünsche erfüllt. Wieder jemand, für den ich sorgen muss, wie ich schon für meine Mutter und/oder meine Geschwister sorgen musste. Bei einem unserer Besuche war es gerade Essenszeit für Marie, ich weiß nicht, wieso, da wir doch immer zur gleichen Zeit kamen, mittwochs um fünfzehn Uhr. Heike holte Marie aus ihrem Bettchen und weil ihr das Fläschchen zu kalt erschien und sie in die Küche ging, um es ein wenig zu wärmen, durfte ich das Baby halten. Marie machte die Augen nicht auf, sie ruderte ganz schwach mit den Ärmchen, als ich leise mit ihr zu sprechen begann – das war das erste Lebenszeichen, das ich überhaupt wahrnahm. Noch nie hatte ich ein so starres Baby erlebt.

Und es war abzusehen, dass auch dieses Kind Schaden nehmen und dass es nicht bei Heike bleiben würde. Sie hatte keine Wärme für Marie. Diese Frau hatte nur den verzweifelten Wunsch, ihre innere Leere zu füllen, ihre Sehnsucht und ihre Einsamkeit nicht mehr zu fühlen. Aber mit jedem Kind, das ihr weggenommenen wurde, wurde dieses diffuse Gefühl, das sie nicht einmal für sich selbst benennen konnte, stärker, ja, potenzierte sich. Die Schuldge-

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fühle würden sich mit Maries Wegnahme verstärken genauso wie das Gefühl des Ausgeschlossenseins aus der normalen Welt. Dazu käme die Scham, es wieder nicht geschafft zu haben, ein Kind großzuziehen. Immer wieder ist sie dieser Trauer ausgeliefert – und versucht verzweifelt, sich zu heilen. Dabei gab es bei jeder Schwangerschaft eine starke Hoffnung, dass dieses Mal alles gut sein würde. Heike ist nicht unintelligent. Sie wäre durchaus in der Lage, in einer langjährigen Psychotherapie bzw. Psychoanalyse ein bisschen zu heilen und sich selbst verstehen zu lernen. Allerdings kommt sie aus einem Milieu, in dem noch nicht einmal diese Wörter bekannt sind. Außerdem ist es nach wie vor schwierig, Psychotherapeuten zu finden, die bereit sind, mit Menschen aus bildungsfernen Kreisen und einer so schweren Diagnose zu arbeiten. Es ist diesen Menschen nur schwer möglich, regelmäßig zu Terminen zu kommen und ihre Gefühle auszudrücken. Eine Therapie müsste bei ihnen in einem ganz anderen Rahmen stattfinden und sozialarbeiterisch begleitet werden. Heike legte sich das Kind in ihre linke Armbeuge, gab ihr mit der linken Hand die Flasche. Mit der rechten bediente sie sich an ihrer Kaffeetasse. Marie trank ruhig und gleichmäßig. Heike redete weiter, erzählte mir von ihren Problemen mit Fred, der jetzt so viel arbeitete, weil er ja einen Führerschein machen wolle. »Dann will er mit ein paar Kumpeln in Urlaub fahren, nach Frankreich«, erzählte sie, »da wollte ich auch schon immer mal hin.« Aber mit so kleinen Kindern ginge das ja nicht. Sie habe Frankreich schon immer geliebt, deshalb habe sie ja auch allen ihren Kindern französische Namen gegeben. Auch ein großer Eiffelturm – ein Geschenk von Fred – auf einem fast leeren Bücherregal zeugte von dieser Liebe und auch von Freds Liebe zu Heike.

»Allen meinen Kindern«, hatte Heike gesagt, und ich fragte mich, welche sie meinte: alle sechs? Fünf lebende Kinder? Vier, die sie kannte? Später erzählte mir Heike einmal, dass sie sechs Kinder geboren habe: »Sechs! In meinem Alter!« Also kamen alle ihre Kinder in ihrem Bewusstsein vor. Welche Rolle spielten sie in ihren Gefühlen, ihren Träumen, ihrem Unbewussten?

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Heikes Erzählungen wurden nur von ihrem Schimpfen unterbrochen, das sich gegen Marcel richtete. Der Junge machte immer etwas falsch, er spielte zu laut oder fasste etwas an, was er nicht anfassen sollte. Nachdem Nadine inzwischen ein wenig vertraut mit ihrem Bruder geworden war, bat ich sie, mit ihm im Kinderzimmer zu spielen – ich würde auch nachher beim Aufräumen helfen. Heike redete ununterbrochen weiter, immer wieder von ihren unerfüllten Träumen. Dabei wurde ihre sonst etwas schrille Stimme manchmal leiser und weicher. In solchen Momenten konnte ich beobachten, wie das starre Baby in ihrem Arm die Augen öffnete und ihr ins Gesicht sah. Ich machte Heike darauf aufmerksam: »Ich glaube, Marie will dir etwas sagen, sie sieht dich an.« – »Nee«, antwortete Heike, »dafür ist sie ja noch viel zu klein. Hoffentlich fängt sie nicht zu früh an zu reden und nervt Fred dann damit.« Sie erwiderte den Blick ihrer kleinen Tochter nicht.

Heike hatte bei all ihren Beziehungswünschen gar kein Gefühl und keinen Blick dafür, wie viel Kontakt und Beziehung ihr ihre Kinder anboten. Auch darin unterscheiden sich die Mütter, die nicht in der Lage sind, für ein Kind zu sorgen, von den anderen, normalen. Letztere sehen die Aktivität, die ein Säugling schon in den ersten Lebenswochen startet, um die Mutter zum Lächeln zu bringen und von ihr angesehen zu werden. Das durch die Kontaktaufnahme des ganz kleinen Kindes ausgelöste Glücksgefühl – man kann auch von einem Oxytozin-Rausch sprechen – ermöglicht es den Frauen (und auch den Vätern), das Kind auch nach der zehnten Nachtwache noch zu lieben. Ich hätte so gern Zeit gehabt, Heike zu erklären, wie so kleine Kinder Kontakt aufnehmen zu ihren Müttern, hatte ich doch gerade »Der kompetente Säugling« von Martin Dornes (1993) gelesen und mich intensiv mit der Säuglingsforschung beschäftigt. Aber leider war es schon 16 Uhr, das Ende der angesetzten Besuchszeit erreicht. Mehr als eine Stunde hatten nicht nur die Pflegeeltern nicht bewilligt, auch mein Etat ließ nicht mehr zu. Nun musste ich noch ins Kinderzimmer gehen und das Chaos beseitigen, das Marcel und Nadine vermut-

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lich angerichtet hatten. Als ich durch die spaltbreit geöffnete Tür ins Zimmer sah, erblickte ich Erstaunliches: Beide Kinder saßen auf dem Boden, die Unordnung hielt sich in Grenzen. Marcel schob ein kleines Auto hin und her und Nadine blickte wohlwollend auf ihren Bruder und sagte: »Auto, sag mal Auto, Marcel.« Der Junge sah sie an und lächelte. Leise schlich ich mich ins Wohnzimmer zurück, um Heike an dieser Szene teilhaben zu lassen. Sie wollte nicht sehen, wie gut sich ihre Kinder verstanden. »Nadine muss ja sowieso gleich wieder gehen«, sagte sie, »und beim letzten Mal hat Marcel geweint. Vielleicht ist es besser, wenn sie nicht mehr kommt.«

Heike ist offensichtlich eine Frau mit vielen Ängsten, Sehnsüchten und vor allem dem starken Wunsch, mit jemanden verbunden zu sein, sich zusammengehörig zu fühlen. Ich weiß nichts über ihre Geschichte, außer, dass ihre Eltern harte, fleißige Arbeiter waren, die Gefühle nicht gern zeigten. Während meiner Arbeit mit Nadine und Pierre verweigerten Heikes Eltern jedes Gespräch, obwohl sie zu den Kindern einen regelmäßigen Kontakt hatten. Den Kontakt zu Heike hatten sie hingegen völlig eingestellt, sie wollten auch darüber nicht reden. Heike suchte die Erfüllung ihrer ambivalenten Wünsche abwechselnd bei ihren Männern und ihren Kindern. Bei den Kindern befriedigte sie ihre symbiotischen Wünsche, ihre Wünsche nach zuverlässigem Kontakt, nach emotionaler Versorgung – jedenfalls bis zu einer gewissen Grenze. Die Bedürftigkeit der Kinder konnte sie nur in sehr eingeschränktem Maße wahrnehmen – eigentlich war nichts wichtiger als deren Anwesenheit, die ihr Gefühl der totalen Einsamkeit kurzfristig beruhigte. Erfüllte Heike (notgedrungen) die Bedürfnisse ihrer Kinder, verließ sie diese Beruhigung, da es wieder um die Bedürfnisse anderer ging. Ihre mütterlichen Aufgaben waren so für Heike gleichzeitig die Bestätigung, dass niemand für sie da war. Männer waren für Heike in ihrer Anwesenheit weit weniger zuverlässig als Kinder. Sie waren eher wichtig für Heikes narzisstischen Bedürfnisse. Immer war irgendein Mann da, der sie begehrte. Also musste sie doch als Person etwas wert sein, sich als Frau fühlen können neben all den anderen Frauen, die es besser hatten, die

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einen Beruf ausübten, ihr ihre Kinder wegnahmen oder nach Frankreich fuhren. Natürlich wurden Heikes Wünsche nicht erfüllt, nicht durch die Kinder und nicht durch die Männer. Und es war überhaupt keine Frage, dass sie unfähig war, psychisch gesunde Kinder großzuziehen, dass es Marcel und Marie auch zu wünschen war, liebevolle Pflegeeltern zu haben. Es geht nicht darum, Heike glücklich zu machen. Es geht auch nicht darum, die Familie wieder zusammenzuführen. Es geht darum, den Kindern einen Teil ihres Bindungswunsches an die Mutter zu erfüllen bzw. die schon vorhandene Bindung zu stärken. Heike kann dabei ihre Beziehungsfähigkeit entwickeln und neben der Empathie und Einfühlung in ihre Kinder Zugang zu ihrer eigenen Bedürftigkeit finden.

Petra Noch deutlicher wird die verzweifelte Lage, in der Mütter sich befinden können, wenn man sich die Geschichte von Petra ansieht. Petra wuchs bei ihren Großeltern in einer kleinen Stadt in Norddeutschland auf. Ihre Mutter hatte sie dort »abgeliefert«, als Petra zwei Jahre alt war. Die alleinerziehende Frau hatte einen Arbeitsplatz gefunden und konnte das Kind nicht mehr versorgen. In der Schule kam Petra nicht gut mit. Sie musste die 1. Klasse wiederholen, danach besuchte sie eine Sonderschule. Mit 16 Jahren begann Petra in der Küche eines Krankenhauses zu arbeiten. Etwa gleichzeitig traf sie einen jungen Marokkaner, von dem sie sehr schnell schwanger wurde. Kurz nach ihrem 18. Geburtstag brachte sie eine Tochter auf die Welt. Petras Großmutter kümmerte sich um das Baby und versuchte, Petra in die Versorgung des Kindes einzubeziehen. Aber Petra hatte einen neuen Freund. Sie kam über Nacht nicht nach Hause und blieb manchmal tagelang weg. Die Großmutter fühlte sich mit dem Kleinkind überfordert und schaltete das Jugendamt ein. Es gab Gespräche mit dem zuständigen Sozialarbeiter und Petra versprach, sich von nun an, um ihr Kind zu kümmern.

Petra

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Zu dieser Zeit war Petra schon mit dem zweiten Kind schwanger. Es ging ihr gesundheitlich nicht gut, und ihr Freund hatte sich von ihr getrennt. Der Sozialarbeiter des Jugendamtes fand für Petra und ihre Tochter einen Platz in einem Mutter-Kind-Haus. Dort gab es manchmal Probleme mit den Betreuerinnen, wenn Petra abends ausging und ihr Kind allein ließ oder wenn sie das Geld, das sie vom Jugendamt für ihr Kind bekam, für Haarspangen, Schminke und Modeschmuck ausgab. Petra liebte es, sich schön zu machen. Stundenlang konnte sie vor dem Spiegel stehen, Make-up und Frisuren ausprobieren. Sie betrachtete sich von allen Seiten und fühlte sich glücklich dabei. Als Petras zweites Kind, ein Junge, geboren wurde, kam die Tochter in eine Kurzzeitpflegestelle des Jugendamtes. So habe Petra mehr Zeit und Kraft, sich um das Neugeborene zu kümmern, meinten Jugendamt und Betreuerinnen des Mutter-Kind-Hauses. Petra ging es schlecht. Sie hatte stark abgenommen, konnte nicht schlafen und wenn das Baby weinte, weinte sie mit. Es gab Tage, an denen sie sich nicht mehr anzog und sie kaum noch die Kraft hatte, ihr Kind zu wickeln und ihm die Flasche zu geben. Als Petra sich nach einigen Wochen weigerte, das Bett zu verlassen, veranlassten die Betreuerinnen eine Einweisung in die Psychiatrie. Der kleine Sohn konnte in der Familie untergebracht werden, in der schon seine Schwester lebte, für das Jugendamt ein Glücksfall. Nach etwa sechs Wochen erschien Petra beim Jugendamt. Sie fragte nach der Adresse der Pflegeeltern, weil sie ihre Kinder besuchen wollte. Der Klinikaufenthalt würde noch eine Weile dauern. Petras Bitte wurde abgelehnt. Sie müsse erst richtig gesund werden, dann könne sie die Kinder sehen. Für die Kleinen sei es außerdem besser, wenn sie sich richtig in ihre neue Umgebung eingelebt hätten, bevor sie mit ihrer Mutter zusammenträfen. Petra fügte sich, sie war traurig und die Kinder fehlten ihr. Aber die Entscheidung des Jugendamtes nahm sie als unabdingbar hin. Petra blieb ein halbes Jahr in der Klinik und zog dann in eine Wohngemeinschaft für Menschen mit psychischen Problemen. Die Kinder waren inzwischen zwei und drei Jahre alt, und Petra hatte sie eineinhalb Jahre nicht gesehen. Aus der Übergangspflegestelle war eine feste Pflegestelle geworden und Petra erfuhr vom Jugendamt, dass die Kinder

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sich gut entwickelten, für einen Besuch der Mutter sei es aber zu früh. Aus dem Branchenbuch suchte sich Petra die Telefonnummer einer Rechtsanwältin und vereinbarte einen Termin. Jetzt wollte sie endlich ihre Kinder sehen. Aber die Anwältin winkte ab, nachdem Petra ihre Geschichte erzählt hatte. Sie sähe keine Möglichkeiten, meinte sie und schrieb eine Rechnung über 120 Euro. In der betreuten Wohngemeinschaft freundete sich Petra mit dem jungen Mitpatienten Michael an. Als er vorschlug, gemeinsam nach Berlin zu ziehen, weil das Leben in der Wohngemeinschaft doch nichts bringe, war Petra einverstanden. Das junge Paar wohnte in den ersten Tagen in Berlin bei Bekannten von Michael. Es wurde viel Alkohol getrunken, und das Geld war knapp. Michael besorgte sich einen jungen Hund. Das war für seine Freunde zu viel, und Petra und Michael mussten die Wohnung verlassen. Nach drei Tagen auf der Straße kamen die beiden in einer Obdachlosenunterkunft unter. Michael bettelte mit seinem Hund auf der Straße. Er neigte zu Gewaltausbrüchen, und manchmal schlug er Petra. Es dauerte fast ein Jahr, bis Petra und Michael eine Wohnung fanden, in die sie mit zwei Hunden und zwei Katzen einzogen. Petra telefonierte mit dem Jugendamt ihrer Heimatstadt. Sie wollte wissen, wie es ihren Kindern gehe und ob sie sie sehen dürfe. Es könnte einen Besuchskontakt geben, wurde ihr gesagt. Die Pflegeeltern brächten die Kinder dafür ins Jugendamt. Dort könnte Petra eine Stunde mit ihnen spielen. Petra versuchte, Geld für die Reise zu sparen, aber es gelang ihr nicht. Von der Sozialhilfe musste auch Futter für die Tiere gekauft werden, Zigaretten, Bier und Kosmetika. Außerdem war Petra wieder schwanger. Petra und Michael wussten, dass das Sozialamt ab der 12. Schwangerschaftswoche Mehrbedarf bezahlt. Dazu muss der Mutterpass vorgelegt werden. Weil Petra keinen Mutterpass hatte, weigerte sich der Sachbearbeiter, die Summe auszuzahlen. Das machte Michael schrecklich wütend. Er ohrfeigte den Sachbearbeiter und wischte mit der Hand die Akten vom Schreibtisch. Michael bekam eine Anzeige, und das Jugendamt wurde über Petras Schwangerschaft informiert. So bekam Petra bereits nach der Entbindung im Krankenhaus Besuch von einem Sozialarbeiter des Jugendamtes. Der Einsatz einer

Petra

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Familienhelferin wurde vereinbart. Beim ersten Hausbesuch bei Petra, Michael und ihrem kleinen Sohn war die Familienhelferin entsetzt, wie sehr die Wohnung durch die Tiere verunreinigt war. Für das Baby fehlte das Nötigste. Es gab kein Kinderbett und viel zu wenig Bekleidung. Michael reagierte ungehalten auf die junge Frau. Vier Wochen später meldeten Passanten der Polizei, dass in der Innenstadt ein Mann mit einem sehr kleinen Säugling auf dem Arm betteln würde. Draußen herrschten Minustemperaturen. Die Polizei informierte das Jugendamt und zwei Mitarbeiter brachten das Baby in eine Pflegestelle. Als Petra das vierte Mal schwanger wurde, traf sie mit dem Jugendamt die Vereinbarung, direkt nach der Geburt des Kindes in ein MutterKind-Heim zu gehen. Zwei Mitarbeiterinnen des Jugendamtes fuhren Petra und ihr Neugeborenes ein paar Monate später in ein Haus in der Nähe von Rostock. Schon bald fühlte sich Petra schrecklich einsam. Sie bekam keinen Kontakt zu den Betreuerinnen und Mitbewohnerinnen. Das Baby weinte viel, und Petra fühlte sich müde und zerschlagen. Täglich telefonierte sie mit Michael. Sie solle nach Hause kommen, meinte Michael. Das Jugendamt könne ihnen dieses Kind nicht auch noch wegnehmen. Petra hatte Angst, aber nach zwei Wochen hielt sie es nicht mehr aus. Sie setzte sich mit ihrem Kind in den Zug und kehrte nach Berlin zurück. Am nächsten Morgen standen vier Polizisten und zwei Sozialarbeiterinnen vor der Tür. Sie nahmen Petras jüngsten Sohn in Obhut. Er kam für ein paar Tage in ein Kinderkrankenhaus und dann in eine Pflegefamilie. Petra hat die beiden kleinen Jungen seit diesem Tag nicht mehr gesehen. Immer wieder bat sie Jugendamt und Pflegekinderdienst um eine Besuchserlaubnis. Die wurde mit der Begründung abgelehnt, dass es das Leben in den Pflegefamilien durcheinanderbringen könne. Beide Kinder benötigen eine besondere Betreuung. Petra und Michael haben sich getrennt. Michael ist zurzeit obdachlos, Petra bewohnt eine kleine möblierte Wohnung. Vor Kurzem bekam Petra ein Schreiben vom Amtsvormund der Jungen. Die Pflegeeltern der Kinder, die untereinander Kontakt haben, möchten die Jungen evangelisch taufen lassen. Dazu ist die Einwilligung

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der Mutter notwendig. Petra wandte sich an den Pflegekinderdienst und den Amtsvormund. Sie sei katholisch, und sie hätte gerne, dass ihre Kinder auch katholisch getauft würden. Außerdem würde sie bei der Taufe dabei sein wollen. Das wurde ihr in Aussicht gestellt. Daraufhin unterschrieb sie das Formular und erklärte sich auch mit der evangelischen Taufe einverstanden. Für alle Beteiligten, außer für Petra, war klar, dass Petra, die die Pflegeeltern ja nicht kannten, nicht zur Taufe eingeladen werden würde.

Emel Ich treffe Emel in der Straßenbahn. Es dauert einen Moment, bis ich sie erkenne, denn sie trägt ein schwarzes Kopftuch, tief ins Gesicht gezogen und einen langen schwarzen Mantel. Als ich Emel vor knapp zwei Jahren kennenlernte, war ich beeindruckt von ihren dunklen Locken und ihrem fein geschnittenen Gesicht. Emel hatte mehrere Psychiatrieaufenthalte und zwei Suizidversuche hinter sich. Nach dem letzten Klinikaufenthalt, dieses Mal hatte ihr Freund sie krankenhausreif geschlagen, konnte Emel wieder bei ihrer Mutter unterkommen. Aber das Zusammenleben gestaltete sich äußerst problematisch. Schon nach dem ersten Streit setzte die Mutter sie vor die Tür.

Hier wird wieder einmal deutlich, dass abgebende Mütter oftmals aus pathogenen Familien kommen, wie ihre Eltern auch schon. In den letzten Jahren hat der Anteil der Frauen mit Migrationshintergrund bei den abgebenden Müttern deutlich zugenommen. Sie stammen häufig aus Familien, für die die Umsiedlung in eine neue Kultur traumatisierend war (selbst, wenn sie freiwillig gekommen sind). Die Herkunftsfamilie der abgebenden Mütter ist so gut wie nie ausreichend versorgend gewesen, sonst wären die Mütter nicht in diese Lage gekommen – so lautet eine naheliegende Vermutung. Diese Hypothese gilt es immer zu prüfen, wenn an eine Familienpflege gedacht wird: Welche krankmachenden Faktoren liegen in dieser Familie vor? Verfügt die Familie über ausreichende Ressourcen, das Kind zu versorgen?

Emel

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Emel lebte danach in Obdachlosenunterkünften oder in Billighotels, vom Sozialamt bezahlt. Manchmal konnte sie auch bei früheren Schulfreunden übernachten, aber das ging selten lange gut.

Dass das mal funktioniert hatte, ist ein (unbeachteter) Hinweis auf Emels soziale Kompetenzen: Sie hat Freunde und Beziehungen zu ihnen. Diese Beziehungen können sie jedoch nicht dauerhaft (ausreichend) unterstützen. Sie sind aber prognostisch ein positiver Hinweis und ein Grund, Emel sozialpädagogisch intensiv zu betreuen. Wäre das geschehen, wäre Emel wahrscheinlich nicht so tief in ihr weiteres Unglück hineingeraten – ist unsere Meinung. Ich versuchte, Emel bei der Wohnungssuche zu unterstützen. Aber sie erschien oft nicht zu verabredeten Terminen, verschwand einfach tagelang und besuchte so oft es ging ihren Freund in der Haftanstalt, dem sie die schweren Misshandlungen verziehen hatte. Manchmal verhielt Emel sich wie ein kleines Mädchen. Ihre Stimme wurde weich und hoch, und sie rückte nah an mich heran. Aber es gab auch die andere Emel, die plötzlich und unvermittelt fremde Männer auf der Straße beschimpfte. Irgendwann bezog Emel wieder ein Zimmer in einem heruntergekommenen Hotel und erschien nicht mehr in meinem Büro. Jetzt, in der Straßenbahn, kommt Emel mit einem strahlenden Lächeln auf mich zu. Sie ist nicht mehr so mager und der Bauch rundet sich unter dem etwas zu engen Mantel. »Du bekommst ein Baby?«, sage ich. »Ja«, antwortet sie, »und wahrscheinlich wird es wieder ein Junge!« Ich bin erstaunt. »Wieso wieder?«, frage ich. »Mein kleiner Sohn ist jetzt viereinhalb Monate alt. Er darf nicht bei mir leben. Als er geboren wurde, war ich wieder obdachlos. Ich hatte ihn nur drei Tage bei mir im Krankenhaus, dann hat das Jugendamt ihn abgeholt. Sie haben mir angeboten, später für mich und das Baby einen Platz in einem Mutter-Kind-Heim zu suchen, aber ich wollte doch mit meinem Mann zusammenleben. Wir sind jetzt nämlich verheiratet. Der Hodscha hat uns getraut. Ich habe meinen Kleinen erst zwei Mal nach dem Krankenhausaufenthalt gesehen. Es gibt jetzt begleiteten Umgang im Jugendamt. Die Pflegefamilie möchte mich wohl nicht sehen, deshalb ist eine Frau vom Caritasverband dabei, wenn ich meinen kleinen Ali

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treffe. Jetzt habe ich mein Baby schon seit vier Wochen nicht mehr gesehen. Die Frau, die den Umgang begleitet, hat Urlaub. Ich habe jetzt eine Wohnung, und meinen Mann kann ich einmal in der Woche in der Haftanstalt besuchen. Leider ist seine Bewährung widerrufen worden. Ich hoffe, dass er bald entlassen wird. Wenn im August das neue Baby geboren wird, bekommen wir Ali bestimmt zurück. Dann fangen wir vier unser Leben von vorne an.« Emel winkt mir zu, als sie aussteigt. »Ich melde mich«, ruft sie und ist verschwunden.

Ohne fachgerechte, problembezogene und lösungsorientierte Unterstützung ist Emels weitere Leben unserer Erfahrung nach sehr voraussehbar: Inobhutnahme des zweiten Kindes, neue Misshandlungen durch den Ehemann, begleiteter Umgang mit den Kindern, neue Schwangerschaften, neue Eingriffe in das Familiensystem durch das Jugendamt.

Mütter sind unzuverlässig und stören nur Petras und Emels Geschichten enthalten viele Aspekte, die uns bei der Arbeit an diesem Buch beschäftigt haben. Genauso deutlich wie ihre Unfähigkeit, sich verantwortlich um ihre Kinder zu kümmern, ist auch ihr Wunsch, Kontakt zu ihren Kindern zu haben. Das macht deutlich, warum sie immer wieder ein Kind zur Welt bringen müssen. Gleichzeitig zeigt sich die Hilflosigkeit des Hilfesystems, das mit den Störungen der Mütter nicht heilend umgehen kann, sondern diese als Verantwortungslosigkeit abtut und bestraft. Auch die administrative Machtausübung des Systems wird (besonders in Petras Fall) deutlich: Pflegeeltern und Jugendamt verbünden sich gegen die leibliche Mutter, statt dieser einen angemessenen Platz einzuräumen. Die leiblichen Mütter stören auf allen Ebenen, weil sie nicht gemäß der an sie gerichteten gesellschaftlichen Erwartungen funktionieren. Zuerst sind sie Mütter, die als Mütter versagt haben: Sie haben ihren Kindern geschadet, sie haben sie vernachlässigt, misshandelt, verletzt, missbraucht – narzisstisch, emotional oder auch körperlich. Die Kinder müssen vor ihnen und ihren Impulsen, vor

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der negativen sozialen Umwelt, der sie durch diese Mütter ausgesetzt sind, geschützt werden. Das ist wichtig und richtig, das stellen wir nicht in Frage. Allerdings versagen diese Mütter nicht absichtlich. Sie können sich einfach nicht anders verhalten. Das, was sie ihren Kindern antun, sind Symptome ihres Leidens, Antworten auf das, was ihnen selbst angetan worden ist. Diagnostisch ausgedrückt heißen ihre Krankheiten Depressionen – auch mit psychotischen Episoden –, Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen, Ängste, Reaktionen auf schwere Belastungen, dissoziative Störungen, Persönlichkeitsstörungen, Intelligenzminderung, Entwicklungsstörungen, Zustand nach sexuellem Missbrauch im Kindesalter etc. Dies sind alles Zustände, die das ICD-10, der gängige Diagnoseschlüssel, als »psychische Störungen von Krankheitswert« katalogisiert (Dilling, Mombour u. Schmidt, 1991). Diese Diagnosen verpflichten die Krankenkassen laut Sozialgesetzbuch (SGB V) zur Bewilligung von Psychotherapie. Die meisten Mütter können gleich mit mehreren der aufgezählten Diagnosen aufwarten. Das bedeutet: 1. Sie sind definitiv nicht in der Lage, ohne Hilfe ein Kind großzuziehen, und sie sind 2. selbst ausgesprochen hilfsbedürftig und haben ein Recht auf Hilfe. Dieses Recht in Einklang zu bringen mit dem Recht des Kindes, ist im jetzigen System Kind-Mutter-Jugendamt-Pflegeeltern bislang nicht gelungen. Das herkömmliche Verfahren schaltet die Mütter aus, sobald die Kinder in Obhut genommen worden sind. Es gibt in der ersten Phase des Prozesses noch halbherzige Kontakte, zum Beispiel, um die Mutter davon zu überzeugen, das Kind freiwillig in eine Pflegefamilie zu geben. Wenn sie dies indes nicht tut, so muss ihr per Gerichtsbeschluss das Sorgerecht entzogen werden – ein Verfahren, das aufwändig und teuer ist. Nach dem Entzug des Sorgerechts ist die Position der Mutter noch schlechter als ohnehin schon. Aus diesem Grund willigen viele Frauen in eine vermeintlich freiwillige Fremdplatzierung ihres Kindes ein. Klar ist jedenfalls, dass die Mütter die Abläufe im System stören. Oft erscheinen sie nicht oder mit Verspätung zu vereinbarten Terminen – auch wenn es ein wichtiger auf dem Amt ist. Manchmal sind sie bei den Treffen nicht nüchtern. Sie sind sozial wenig kompatibel, haben einen aggressiven Habitus (hinter dem sie in der Regel

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ihre Angst vor der Staatsgewalt verstecken), kurz: Sie benehmen sich schlecht. Sie stammen ja auch nicht aus dem Bildungsbürgertum. So bekommt schon in der Anfangsphase jeder der vom Jugendamt Beteiligten das Gefühl, wie gut es ist, dass das Kind nicht bei dieser Mutter aufwachsen muss. Erst recht stören die Mütter in der Pflegefamilie – und zwar immer! Wenn sie Kontakt zu den Kindern wollen, ist das jedes Mal eine Unterbrechung des normalen Ablaufs, des Alltags in der Pflegefamilie. Mit den Treffen geht viel Organisation einher: Der Umgang muss begleitet werden und/oder an einem neutralen Ort stattfinden. Oft ist diese Mühe vergebens, wenn die Mütter nicht erscheinen. Die Kinder sind enttäuscht und reagieren verstört. Viele Anstrengungen in der Pflegefamilie werden damit zunichte gemacht: Das mühsam entwickelte innere Gleichgewicht des Kindes gerät aus der Balance. Manchmal machen die Mütter Versprechungen, die sie nicht einhalten (können), die aber das Kind gehört hat und mitunter als innere und äußere Argumente nutzt, um sich den Regeln der Pflegefamilie zu widersetzen. Gibt es gar keinen Kontakt zwischen Mutter und Kind, baut das Kind oft eine Idealisierung auf, als wäre ein Leben mit der leiblichen Mutter schöner, leichter, konfliktfreier – mit demselben Ergebnis wie die beschriebenen Folgen falscher Versprechungen der Mütter. In ihm wächst das Gefühl: Wenn bei den Pflegeeltern etwas schiefläuft, gehe ich eben zu meiner richtigen Mutter. (Diese Problematik haben wir ausführlich im Kapitel »Die Kinder«, S. 15 ff., diskutiert.) Provokant gefragt: Wäre es also nicht für alle Beteiligten besser, das Gesetz zu ändern und mit dem Entzug des Sorgerechts auch zu verbinden, dass die Mütter kein Recht auf Umgang mit ihren Kindern haben? Sollten Mütter nicht nur in ganz besonderen Fällen, wenn sie in der Lage sind, sich angepasst und zuverlässig zu verhalten, die Möglichkeit des Umgangs bekommen? Immer wieder sind negative, entwertende Äußerungen über die Mängel der Mütter von Fachberaterinnen zu hören, selten Mitgefühl oder konstruktiv Unterstützendes. Bei den Pflegeeltern ist eine solche Haltung zwar nicht zu akzeptieren, aber noch nachzuvollziehen: Ihre unzureichende Professionalität und ihre Imagination,

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es handele sich um ihre eigenen Kinder, drücken sich hier aus. Und wenn es sich auch nicht um ihre eigenen Kinder handelt, dann sind sie zumindest die besseren Eltern für diese Kinder – so die Meinung der Pflegeeltern. Für einen Fachberater oder eine Fachberaterin sind solche Äußerungen einfach unqualifiziert und inakzeptabel. Dazu zählen ebenso Bemerkungen wie diese: »Manchmal ist ein Umgang einfach nicht möglich, weil es die Kinder so durcheinanderbringt, dass sie in den Pflegefamilien nicht mehr zu halten sind. Wenn die Mütter den Kindern immer wieder Versprechungen machen, dass sie sie zu sich nehmen. Das bringt die Kinder völlig durcheinander, dann muss man vielleicht erst einmal eine Kontaktsperre verhängen, dass sie sich beruhigen können.« Statt den Müttern solche Versprechungen vorzuwerfen, könnte man sie auch interpretieren: Die Mutter empfindet Versagen und Schuld und drückt beides so gut aus, wie sie kann. Sie braucht Hilfe dabei, es so zu formulieren, dass ihr Kind sie versteht. Das Kind sollte Folgendes sagen können: »Mama kann mich nicht bei sich haben, auch wenn sie es gern hätte. Und das tut ihr leid. Aber bei meinen Pflegeeltern bin ich gut aufgehoben, und ich kann die Mama (oft) sehen.« – Probleme, die durch eine Kontaktsperre entstehen könnten, wären an dieser Stelle mit einer Familientherapie zu bewältigen. Es gilt, weitere psychische Schäden beim Kind abzuwenden. Die Bereitschaft, die Mütter zu unterstützen, ist vonseiten der Fachberater/-innen gering. Mütter zu begleiten sei eben zu teuer und »eine sehr frustrierende Arbeit, wer will das machen. Und manchmal haben die Mütter einfach das Recht auf ihre Kinder verwirkt, wenn sie sie sehr traumatisiert haben«, so hörten wir viele Äußerungen, ganz zu schweigen von Vorwürfen wie Unpünktlichkeit, Unzuverlässigkeit, Vernachlässigung der eigenen Person (Kleidung, Zähne) und so weiter. Die Liste ist lang. Alle aufgezählten Argumente stimmen, diese Mütter sind wirklich schwierig! Es geht uns auch nicht darum, die leiblichen Mütter in Schutz zu nehmen, zu idealisieren oder als reine Opfer darzustellen. Sie sind Opfer bei allem, bei dem sie unverschuldet Schaden davongetragen haben, und sie sind Täterin bei allem, was sie ihren Kindern angetan haben. Oft haben die Mütter die Geschichte hinter sich, die für

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ihre Kinder gerade angefangen hat: Misshandlung, Verwahrlosung, Inobhutnahme, verschiedenste Unterbringungsstationen – und nicht selten am Ende die Heimkehr ins alte Milieu, und die Geschichte beginnt von vorn. Eine Frau, die (meist) mehrere und dann noch in einer prekären Umwelt (meist) allein versucht, Kinder großzuziehen, hat sowieso wenig Chancen, eine genügend gute Mutter zu sein, umso weniger, je belasteter ihre eigene Lebensgeschichte von Gewalt und Vernachlässigung ist. Diese Mütter aber aufgrund ihres Fehlverhaltens, quasi zur Strafe zeitweise oder gänzlich vom Kontakt zu ihren Kindern fernzuhalten, ist eine unangemessene Reaktion. Die Frage müsste sein: »Was braucht diese Mutter, damit sie gewisse, minimale Bedingungen erfüllen kann, die für das Wohl des Kindes unverzichtbar sind?«

Mütter haben das Recht, bei der Lösung der Probleme ihrer Kinder beteiligt zu sein Der Hilfebedarf der Mütter lässt sich leicht verständlich machen. Erstaunlich ist es, dass er so wenig mit dem Hilfebedarf der Kinder in Beziehung gesetzt wird. Dies wird besonders deutlich bei der Fachberatung, die in der Regel ausschließlich den Pflegeeltern zu Gute kommt. Sehr anschaulich macht diese Behauptung ein Buch, das sich ausführlich mit der Problematik von Pflegekindern in der Pflegefamilie befasst. Es handelt sich um einen durchaus kompetenten Ratgeber, der schon im Titel eine Täuschung enthält: »ein Buch für Fachberater und Familien« (Frieling, 2011). Hier werden Pflegefamilien beraten. Es geht um ein systemisches Konzept, das der Autor in einer Fußnote beschreibt: »Mit Hilfe systemischer Beratung kann die Pflegefamilie sich zu einer selbstfindenden Lösungsstrategie in Bezug auf auftretende Fragestellungen oder Probleme hin entwickeln« (S. 138). Abgesehen von der Frage, was »selbstfindende Lösungsstrategien« sein mögen, ist auch nicht klar, weshalb die Mütter davon ausgeschlossen werden, Lösungen zu entwickeln, wenn sich Fragestellungen oder Probleme ergeben. Dieser Punkt ist besonders wichtig, da die Mütter ja an der Entstehung der Probleme maßgeblich beteiligt

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sind und sie sicherlich (bei entsprechender Unterstützung) einiges zur Lösung beitragen könnten. Frieling bezieht die Eltern lediglich dann ein, wenn es darum geht, den Kontakt zum Kind zu regeln. Hierbei sollten Mütter Vorschriften beachten, die andere aufgestellt haben (S. 31). Warum gibt es keine Regeln für Pflegeeltern? Eine solche könnte wie folgt lauten: Pflegeeltern haben Bedingungen zu schaffen, unter denen Mütter und Kinder einen Kontakt zueinander entwickeln können. Auch sollten sie selbst einen angemessenen Kontakt zu den Müttern entwickeln. Immer wieder ist bei Frieling davon die Rede, wie die Not des Kindes gemildert werden kann. Es ist nicht davon die Rede, dass die Trennung von der Mutter ein Teil dieser Not ist. Genauso wenig kommt die Not der Mutter zur Sprache – und auch nicht, dass das Kind (mehr als alle anderen Beteiligten) um deren Not weiß.

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Pflegeeltern

Kinderwunsch und andere Motive Selbst keine Kinder zu haben, aus welchen Gründen auch immer, ist eine der häufigsten Motivationen dafür, Pflegekinder aufzunehmen. Diese Möglichkeit wird oft sogar einer Adoption vorgezogen, die ein langwieriger Prozess ist. Außerdem sind die Chancen, ein relativ junges Kind, am liebsten ein Baby, zu bekommen, bei der Adoption nicht sonderlich groß. Adoptiveltern werden vom Amt in der Regel auch viel genauer unter die Lupe genommen als Pflegeeltern. Ein Grund dafür mag sein, dass die Vorschriften, die zur Überprüfung der aufnahmewilligen Menschen gelten, noch aus einer Zeit stammen, in der man davon ausging, das Pflegeverhältnis sei zeitlich begrenzt, wohingegen eine Adoption schon immer auf Dauer angelegt war. Ein Adoptivkind ist – auch bei großen Schwierigkeiten im Zusammenleben – nicht so einfach zurückzugeben, während diese Möglichkeit dem Pflegeverhältnis immer schon innewohnt. Es ist diese Ungewissheit, wie lange das Kind in der Pflegefamilie bleibt, die mit dazu führt, dass Paare sich gegen die Aufnahme fremder Kinder entscheiden, wie auch Carola in der folgenden Fallgeschichte berichtet: »Wir haben eine Anzeige gesehen in Hamburg, plakatierte Anzeigen ›Kinder suchen Eltern auf Zeit‹. Damals war das ja noch auf Zeit angelegt.« Und sie erzählt weiter, dass viele Pflegeelternanwärter zurückgetreten seien, weil sie sich eine mögliche Präsenz der leiblichen Eltern nicht vorstellen konnten, aber auch, weil sie die Möglichkeit, dass Kind wieder abgeben zu müssen, nachdem »sie sich aneinander gewöhnt« hätten, unerträglich fanden. Wir glauben, dass diese beiden Gründe auch die Ursachen dafür sind, dass im Augenblick (jedenfalls bei den Vermittlungsstellen,

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die uns bekannt sind) ein eklatanter Mangel an Pflegeeltern für eine Vollzeitpflege herrscht. Selbstverständlich ist ein Kinderwunsch ein legitimes Motiv dafür, ein Pflegekind aufzunehmen. Ja, der Wunsch, mit einem Kind zusammenzuleben, ist geradezu unverzichtbar. Wichtig bleiben aber die Reflexion des Motivs und der Umgang mit dem unerfüllten Wunsch. Ein Pflegekind kann niemals den Phantasien und Erwartungen entsprechen, die sich das Paar von seinem leiblichen Kind macht. So kann ein Pflegekind auch kein Heilmittel für die Wunde des unerfüllten Kinderwunsches sein. Im Gegenteil, dieses Trauma will erst verarbeitet werden, bevor ein fremdes Kind aufgenommen wird. Ein Pflegekind kommt dann nicht wegen des unerfüllten Kinderwunsches ins Haus, sondern trotzdem – oder idealerweise ganz unabhängig von dem Wunsch nach einem eigenen Kind. In diesen Fällen bekommt ein fremdes Kind die Bindungsenergie, die die Pflegeeltern zu vergeben haben, ohne dafür bestimmten Ansprüchen genügen zu müssen. Auch für diese Haltung – also eine ganz andere Motivation als den Kinderwunsch – haben wir Beispiele gefunden (siehe Abschnitte »Silvia, Pflegemutter«, S. 70 ff.; »Familie ­Berger«, S. 78 ff.). Carola und Klaus Die Geschichte von Carola, Klaus und ihren Pflegekindern Jule und Lukas steht zu Beginn unseres Kapitels über Pflegeeltern, weil sie eine gelungene Pflegschaft beschreibt. Eine von uns Autorinnen konnte über (fast) die ganze Zeit der Pflegschaft die Familie – natürlich sehr von außen – sehen und die Entwicklung der Kinder verfolgen. Kurz vor dem hier skizzierten Interview gab es eine kleine Szene zwischen Carola und Jule. Carola fragte Jule, ob sie es gestatte, dass wir über sie redeten. Sie sei ja schließlich volljährig und müsse ihr Einverständnis geben. Jule, die gerade Utensilien zum Autoputzen zusammensuchte, lachte kurz und sagte: »Macht ruhig …«. Lukas wurde nicht gefragt, weil er mit einem Freund in seinem Zimmer beschäftigt war und nicht gestört werden wollte.

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Carola und Klaus hätten gern eigene Kinder gehabt, aber sie bekamen keine – und entschieden sich schnell gegen den »künstlichen Weg«6. Carola hatte Pädagogik studiert und hielt es dann für »eine gute Idee«, Pflegekinder aufzunehmen. Beide besuchten gemeinsam eine umfangreiche Ausbildung für Pflegeeltern und schon nach kurzer Zeit erhielten sie die Nachricht, Jule zu sich nehmen zu können. Jule war damals drei Jahre alt und die Jüngste von vier Schwestern. Sie wohnte mit den Schwestern und der alkoholkranken Mutter zusammen in einer Wohnung, in der auch ein Sozialpädagogenpaar lebte. Auf die Frage nach dem Vater antwortete Carola: »Da gibt es verschiedene Väter, unbekannter Art und Weise.« Da die Mutter immer wieder rückfällig wurde und oft für lange Zeit verschwand, sollten die Mädchen anderweitig untergebracht werden – und zwar getrennt, weil »die Perspektive für Jule besser wäre, wenn sie allein in eine Familie käme. Weil die anderen in ihrem Verhalten wohl auch schon sehr schwierig waren«. Alle Beteiligten ließen sich Zeit mit der Anbahnung. Carola und Klaus besuchten Jule regelmäßig. »Wir haben uns wirklich Zeit gelassen. Das war aber auch die Mitarbeit von diesen beiden Sozialpädagogen, die mit den Kindern vorher gelebt hatten. Die wussten eben auch um diese Notwendigkeit von einer langsamen Anbahnung.« Eines Tages entschied Jule selbst, bei Carola und Klaus leben zu wollen. Anfangs kamen die Schwestern bei Jules Pflegefamilie noch regelmäßig zu Besuch und Jule hatte immer wieder Heimweh. Zur Mutter gab es regelmäßigen Kontakt, auch in der Anbahnungsphase: »Frau S. [Jules Mutter; A.R./M.B.Z.] war begleitet, wir trafen uns im Jugendamt. Sie wollte uns natürlich kennenlernen […]. Das Treffen war mit Jule zusammen, nachdem die Mutter wieder aufgetaucht war, nach Alkoholexzessen. Dann hat die Sozialarbeiterin es irgendwie geschafft, sie dort hinzukriegen. Ich bin sehr offen – ich habe ihr gesagt, dass sie Jule jederzeit sehen kann, wenn sie möchte, wenn sie nicht alkoholisiert ist und dass sie jederzeit anrufen kann, dass ich möchte, dass sie, wenn Jule das möchte, ihr Briefe schreiben 6 Alle mit Anführungszeichen gekennzeichneten Textstellen sind Zitate aus dem Interview mit Carola.

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kann, […] weil ich weiß, dass das wichtig ist. Die leibliche Mutter können wir ja nicht verleugnen. Und das war eigentlich immer unproblematisch, zum Glück, weil sie ja auch nicht so viel Energie hatte. Ich muss immer dazu sagen, beide Mütter waren nicht sehr in der Lage, viel zu fordern.« Ein Jahr später nahmen Carola und Klaus dann das zweite Kind auf, den damals 1-jährigen Lukas. Dieser Fall war schwieriger. Lukas musste dringend untergebracht werden, er war kurz nach seiner Geburt von seiner psychisch kranken Mutter getrennt worden und hatte schon sechs verschiedene Aufenthalte hinter sich. Zum Zeitpunkt der kurzen Anbahnung lebte er in einer Übergangspflegestelle. Er war völlig verängstigt, der erneute Wechsel lähmte ihn. Noch vier Jahre lang wurde er jede Nacht wach, nässte ein und weinte viel. Er geriet in Panik, wenn er weder Carola noch Klaus sehen konnte. Lange blieb er sehr anklammernd. Da fingen die Pflegeeltern an, getrennt in Urlaub zu fahren, »damit sich wenigstens einer erholen konnte«. Irgendwann begann Jule Mama und Papa zu Carola und Klaus zu sagen: »Ich weiß noch, wie erhebend das war und wie schön für mich, als sie das erste Mal Mama zu mir gesagt hat. Ich habe immer gedacht, ›da lass sie mal selber kommen‹. Irgendwann oder auch nicht. Damit hätte ich auch leben können. Also ich definiere mich nicht über dieses ›Mama‹ oder ›Papa‹. Wir sind ihre Eltern, in dem Falle nicht die leiblichen, aber die sozialen Eltern. Das reicht mir so. Wenn sie will, kann sie irgendwann Mama und Papa sagen. Das tat sie auch irgendwann. Das war ein absoluter Glückstag für mich. Es hat aber auch eine Zeit gedauert, aber das ist ja das, was es so sicher macht, denke ich, wenn es freiwillig kommt und es eben auch dauert, bis es kommt.« Die Kontakte zu den Müttern wurden unregelmäßiger, vor allem, weil nicht immer eine Begleitung für die Mütter organisiert werden konnte. Lukas’ Mutter kam erst regelmäßig, später besuchte Lukas sie. Sie lebt inzwischen in einer beschützenden Einrichtung und ruft ihn regelmäßig an. Dann besprechen beide neue Computerspiele oder ähnliches. Lukas fühlt sich noch sehr für seine Mutter verantwortlich. Die Mütter waren regelmäßig Thema in der Pflegefamilie. Carola versuchte immer wieder zu vermitteln: »Es ist nicht so, dass sie euch nicht lieben. Keine Mutter würde ihr Kind freiwillig weggeben, niemals.

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Bei euren Müttern ist es nicht, weil sie euch nicht lieben, sondern weil sie einfach nicht können, weil sie krank sind und selber Hilfe brauchen.« Jule, jetzt 21, ist  – auf ihren eigenen Wunsch hin  – seit ihrem 18. Geburtstag adoptiert und hat auch den Namen der Pflegefamilie angenommen. Carola betrachtet sie jetzt als leibliches Kind. Zu ihrer Mutter hat Jule so gut wie keinen Kontakt mehr, es gibt sporadische Anrufe, eine gegenseitige Karte zu Weihnachten und zum Geburtstag. Treffen möchte sie ihre Mutter nicht mehr. Jule macht eine Ausbildung zur Verfahrenstechnikerin für Kunst- und Kautschuktechnik, Lukas geht noch zur Schule. »Beide wollen heiraten und Kinder kriegen. Vor dem Hintergrund, dass ich ja (seit einem Jahr) getrennt bin von Klaus, immerhin, geben sie trotzdem nicht auf. Da waren sie nicht zu entmutigen.« Nach der Trennung der Pflegeeltern leben Jule und Lukas weiterhin bei Carola, sie haben aber regelmäßigen Kontakt zu Klaus. Die Frage, ob die Tatsache, dass sie zwei Pflegekinder großgezogen haben, bei ihrer Trennung eine Rolle spielte, beantwortet Carola mit einem eindeutigen Ja: »Wir haben uns einfach als Paar verloren, getrennte Urlaube und so, niemals Zeit für uns allein, jahrelang konnten wir nicht zusammen ausgehen«. Carola weist zudem darauf hin, wie wichtig die eigene Geschichte für Pflegeeltern ist. Sie selbst stamme aus einem harmonischen Elternhaus und sei sehr behütet aufgewachsen, Klaus habe zu Hause viel Gewalt erlebt. Eigentlich sei er selbst noch bedürftig gewesen und habe sich oft hinter die Pflegekinder zurückgesetzt gefühlt.

Auch Schleiffer weist darauf hin, dass die Fähigkeit der Pflegeeltern zur Bewältigung der Belastungen »von dem ihnen zur Verfügung stehenden erfahrungsabhängigen Bindungskonzept« (2015, S. 161) bestimmt ist. Risikofaktoren für eine Pflegebeziehung seien unter anderem nicht verarbeitete eigene Traumata der Pflegeeltern. Dazu zählen eben nicht nur Kindheitstraumata, sondern auch der unverarbeitete Wunsch nach eigenen Kindern oder ungelöste Beziehungskonflikte. Anmerkungen zu Carola und Klaus Wie viele Pflegeverhältnisse begann auch dieses aufgrund eines unerfüllten Kinderwunsches. Für Klaus und Carola schien dieser Weg

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einfacher als der einer künstlichen Befruchtung oder einer Adoption. Das bedeutet, dass sie von Anfang an das Risiko duldeten, von den Kindern wieder getrennt zu werden. Beide gingen sogar davon aus, dass das Pflegeverhältnis ein vorübergehendes sei – wie es damals noch das Anliegen der Vermittlungsstelle war – und nahmen somit bewusst in Kauf, dass die Kinder nicht für immer bei ihnen bleiben würden. So waren die Mütter für Carola und Klaus durchgehend Thema in ihrer Arbeit mit den Kindern. In unserem Gespräch macht Carola keinen Hehl daraus, dass sie sehr erfreut darüber war, dass sich beide Mütter als dauerhaft erziehungsunfähig erwiesen. Auch, dass die Besuche in stets abnehmender Frequenz stattfanden, erleichterte sie. Gleichwohl blieben die Mütter präsent. Jeder Gedanke an sie war für die Kinder erlaubt, auch der Wunsch, sie zu sehen – und die Enttäuschung, wenn es nicht klappte. Carola bemühte sich sehr zu vermitteln, dass weder die Mütter noch die Kinder in irgendeiner Form eine Schuld daran hatten, dass ein gemeinsames Leben nicht möglich sei. Grund dafür sei lediglich ein unverschuldetes Unvermögen der Mütter. Die Sicherheit, von ihren Müttern geliebt zu werden, und sie lieben zu dürfen, erleichterte nicht nur den Kindern eine Bindung zu Carola und Klaus aufzubauen, sondern auch deren Müttern, in die Pflege einzuwilligen. Schleiffer schreibt dazu: »Da die Pflegefamilie die kindlichen Bindungsbedürfnisse angemessener als die Herkunftsfamilie erfüllen soll, sehen sich Herkunfts- und Pflegefamilie einem Vergleich ausgesetzt. Gerade dies kann […] zur Ablehnung einer solchen Maßnahme seitens der Herkunftsfamilie führen« (2015, S. 13). Dies ist nur einer der vielen Gründe, sich verstärkt für eine positive, d. h. respektierende Beziehung zu den Müttern einzusetzen. Unserer Einschätzung nach bieten Pflegeverhältnisse dann signifikant bessere Chancen für die Kinder. Drei weitere wichtige Aspekte wurden in dem Gespräch mit Carola thematisiert. Zum einen ging es um die fehlende Unterstützung für die Pflegeeltern. Im Gegensatz zu Erziehungs­stel­len7 7 Damit meinen wir folgendes Modell: Eine fachlich qualifizierte Person (Erzieherin mit Zusatzausbildung, Sozialpädagogin o. ä.) wohnt mit einem Kind oder zwei Kindern zusammen. Sie ist dabei Angestellte des entsprechenden

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erhalten Pflegeeltern (außer einer jährlich stattfindenden Hilfeplanung) wenig Beistand von den Ämtern. Carola berichtete ausführlich, was und wie sie und Klaus alles allein organisiert und dass sie bei Anfragen ans Amt wenig Resonanz erfahren hätten. Eine wirklich fundierte Fachberatung habe jedenfalls nicht stattgefunden. Der jeweilige (und häufig wechselnde) Case-Manager ihres zuständigen Jugendamtes habe wenig Wissen um die besondere psychische Problematik der Pflegekinder und damit auch über die familiäre Belastung der Pflegefamilie gehabt. Der zweite Punkt, der hier besondere Erwähnung finden soll, ist Carolas Hinweis, wie wichtig es ist, dass sowohl die Pflegeeltern persönlich als auch ihre Beziehung sehr stabil sein müssen, um die Belastung wirklich langfristig ausgleichen zu können. Die Idee, ein Kind könne eine Beziehung stabilisieren, ist absurd. Unserer Einschätzung nach tritt dieser oft unbewusste Wunsch bei Pflegeeltern dennoch nicht viel seltener auf als bei leiblichen Eltern. Als ein ebenso das Pflegeverhältnis destruierender Wunsch erweist sich jener nach Sinnstiftung, ein (Pflege)Kind möge einen Sinn, eine Erfüllung ins eigene Leben bringen. Außerdem wird in dieser Pflegefamilie Folgendes deutlich: Obwohl Jule schon älter als drei Jahre war, als Carola und Klaus sie zu sich genommen haben, Lukas dagegen erst ein Jahr, lebte sich Jule wesentlich schneller ein, fasste früh Vertrauen und hatte insgesamt deutlich weniger Schwierigkeiten, z. B. in sozialen Kontakten oder beim Lernen. Die immer wieder postulierte Regel, es wäre für die Entwicklung einer sicheren Bindung an die Pflegeeltern wichtig, dass Kind so früh wie möglich von der Mutter fortzunehmen, wird damit in Frage gestellt. In Einzelfällen, bei einer besonders das Kindeswohl gefährdenden Mutter, mag das notwendig sein. Realität ist leider, dass das Kind nach der Inobhutnahme aus verschiedenen Gründen nicht gleich an einen dauerhaft sicheren Ort gebracht wird Trägers und hat z. B. einen Urlaubsanspruch. In dieser Zeit werden die Kinder von zusätzlichen Personen betreut. Ebenso ist eine zusätzliche Betreuung im Krankheitsfall der Mitarbeiterin möglich. Ihr steht zudem stets eine aufsuchende, kurzfristig erreichbare Fachberatung zur Seite.

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oder gebracht werden kann – auch wenn Lukas Geschichte mit sechs Übergangsorten extrem sein mag. Da erhebt sich eher die Forderung, das Kind so lange – gut betreut – bei der Mutter zu lassen, bis eine solche Pflegestelle gefunden ist und damit weitere absehbare Beziehungsabbrüche für das Kind zu vermeiden. Außerdem ist für notwendige Übergangsregelungen eine psychotherapeutische Betreuung des Säuglings wichtig (Eliacheff, 1997). Carolas und Klaus’ Haltung zu den Müttern ihrer Pflegekinder ist vorbildlich. Übrig bleibt die Frage, ob der Kontakt zu den Müttern bei stärkerer Unterstützung nicht intensiver hätte sein können. Das wäre auf jeden Fall für Lukas wünschenswert gewesen, der sich ja heute noch für seine Mutter verantwortlich fühlt. Ihm hätte vielleicht geholfen, intensiver über den realen Zustand seiner Mutter Bescheid zu wissen und eine Sicherheit darüber zu erlangen, dass sie bestmöglich versorgt ist und dadurch das sichere Wissen zu erlangen, dass er für ihr Glück nicht verantwortlich ist. Wie es am anderen Ende der Skala der Haltung zur (leiblichen) Mutter aussieht, zeigt die Fallgeschichte im nächsten Abschnitt. Peter und Lydia Peter und Lydia sind seit acht Jahren ein Paar. Sie wohnen idyllisch in einem Häuschen mit Garten am Stadtrand. Der Garten ist Peters ganzer Stolz. Viele Stunden verbringt er hier mit Hacken, Graben, Beschneiden. Peter ist Grundschullehrer. Bei der Gartenarbeit findet er Ruhe nach einem anstrengenden und lauten Arbeitstag. Er mag seine Klasse sehr und ist stolz, dass die Drittklässler den Vorlesewettbewerb gewonnen haben, aber die Pause am Spätnachmittag tut ihm gut. Lydia ist Erzieherin im Kindergarten. Sie leitet eine Gruppe von zwanzig 4- bis 6-Jährigen und bildet eine Praktikantin aus. Lydia ist geschickt mit ihren Händen. Sie baut Regale und streicht Gartenstühle, strickt Pullover und malt kleine Seidenbilder, die sie zu Glückwunschkarten verarbeitet. Lydia besucht zweimal in der Woche ihren alten Vater im Altersheim und geht regelmäßig schwimmen. Peter und Lydia lieben sich. Das merkt man sehr schnell, wenn man mit ihnen zusammen ist. Sie beziehen sich aufeinander, wenn sie erzählen, sie berühren sich gern und oft, sie lachen viel miteinander.

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Eigentlich sind sie glücklich, aber etwas fehlt in ihrem Leben, sie wünschen sich beide so sehr ein Kind. Ich lernte Peter und Lydia als Teilnehmer einer Fortbildung kennen. Wir freundeten uns schnell an und bald erfuhr ich von ihrem Kummer. Beide hatten eine Odyssee durch Frauenarztpraxen und Fertilisationskliniken hinter sich. Lydia schluckte über längere Zeit Hormone, bis festgestellt wurde, dass sie nicht unfruchtbar ist. Peter ließ sich ebenfalls untersuchen. Er empfand es als besonders demütigend, wenn die Arzthelferin ins mit vielen schwangeren Frauen besetzte Wartezimmer rief: »Herr G. sie können jetzt ihre Spermaprobe abgeben!« Zum Zeitpunkt unseres Kennenlernens hatten sich beide entschieden, sich nicht mehr weiter zu quälen. Keine Schwangerschaft um jeden Preis. Sie hätten mit dem Jugendamt gesprochen, erzählten uns beide an einem Sommerabend beim Wein. Sie hätten sich um die Aufnahme eines Pflegekindes beworben. Drei Wochen später rief Lydia an. Ihre Stimme klang freudig erregt: »Stellt euch vor, seit vorgestern ist unser kleiner Sohn bei uns! Wir sind so glücklich! Er ist zwei Jahre alt und sieht so süß aus! Jetzt gerade spielt er mit seinem Papa mit der Duplo-Eisenbahn im Kinderzimmer. Ihr müsstet die Beiden sehen! Sie passen wunderbar zueinander. Wir haben so ein Glück mit unserm Schatz. Das Jugendamt meint, wir könnten ihn wahrscheinlich für immer behalten, denn seine leibliche Mutter ist gerade wegen einer Drogensache zu drei Jahren Haft verurteilt worden. Der Erzeuger, auch ein Junkie, ist vor einigen Monaten gestorben. Ihr glaubt nicht, wie glücklich wir sind!«

Anmerkungen zu Lydia und Peter Auch in diesem Fallbeispiel wird ein Kind in Pflege genommen, weil das langersehnte leibliche Kind ausblieb. Lydia und Peter sind im Gegensatz zu Carola und Klaus lange medizinische Wege gegangen, was auf die verzweifelte Intensität ihres Kinderwunsches hinweist. Erst als dieser sich als unerfüllbar erwies, entschieden sie sich zur InPflege-Nahme. Ihre so motivierte Entscheidung lässt den Eindruck entstehen, als wäre ihr Glück auf ein Kind angewiesen. Die unvermittelte Bindung zum Kind, die sie so demonstrativ an den Tag legen, zeigt, dass sich ihre Gefühle nicht auf das reale Kind beziehen, das

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sie aufgenommen haben. Sie inszenieren die Aufnahme des Pflegekindes vielmehr wie die Geburt eines eigenen Kindes. Das bedeutet natürlich auch, dass dieses Pflegekind keine (anderen) leiblichen Eltern haben darf. Die Eltern werden verworfen, gleich im ersten Satz, mit denen die beiden den Neuankömmling in ihrem Haus uns vorstellen. Lydia drückt das unmissverständlich aus. Wie soll hier jemals die für das Kind so dringend notwendige Biographiearbeit erfolgen? Was ist mit den Großeltern des Jungen? Seine Herkunft wird vollständig ignoriert. Lydia freut sich geradezu darüber, dass der Kindsvater tot und die Mutter in Haft ist – wo man sie ja durchaus besuchen könnte. Der Junge ist schon zwei Jahre alt und hat bis zu der Verhaftung bei ihr gelebt. Natürlich ist in dieser Zeit zwischen Mutter und Sohn eine – wenn auch unsichere – Bindung entstanden. Im Gegensatz zu Lydia sah Carola aus dem vorigen Fallbeispiel deutlich, welchen Schaden die Ablehnung der Mutter für das Kind bedeuten kann: »Das kann ich ja noch als Haltung verstehen. Aber wenn man die Mutter willentlich ausbootet, weil man diese Last nicht haben will, […] dann hätte ich ja ständig ein schlechtes Gewissen, weil die Kinder, das ist ja ein Teil davon, also in dem Moment, wo ich die Mutter ablehne, lehne ich einen Teil des Kindes ab.« Genau das ist es, was Pflegekindern so häufig passiert und was dazu beiträgt, ihr Selbstwertgefühl dauernd zu schädigen bzw. es nicht wachsen zu lassen: Was können sie schon als Mensch wert sein, wenn sie von solchen Eltern abstammen, ja sogar von Eltern, die niemals erwähnt werden dürfen? Mit solcher Frage belastet, kann kaum ein gesundes Selbstbewusstsein bei den Kindern entstehen. Carola bringt spontan noch einen anderen Aspekt zur Sprache, der bisher unseres Wissens in der Literatur noch nie aufgetaucht ist. Sie sagt: »Ich verdanke mein Kind dem Leid einer anderen Frau. So ist das. Natürlich kann ich nichts für dieses Leid, und ich bin auch nicht dafür verantwortlich, aber deswegen hat man denen mit Respekt zu begegnen, finde ich. Weil, ja, hätte mich auch treffen können, wenn ich in anderen Verhältnissen aufgewachsen wäre, hätte es mir genauso gehen können.« – Diese Haltung, die Dankbarkeit, wäre eine gute Grundlage für ein Erziehungsbündnis zwischen Mutter und Pflegemutter.

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Zurück zu unsrem zweiten Fallbeispiel: Ganz sicher sind Lydia und Peter bereit, ein Bindungsangebot zu machen. Schwierig wird es erst, wenn der kleine Junge ihre Ansprüche nicht erfüllen kann. Wenn er, wie viele Kinder mit dieser Vorgeschichte, entwicklungsverzögert (was jetzt schon abzusehen ist) und/oder verhaltensauffällig reagiert. Die häufigen Verhaltensauffälligkeiten von Pflegekindern sind in zwei großen Formenkreisen zu beschreiben: Die Kinder sind entweder passiv zurückweisend, auch ängstlich, sich verweigernd oder aggressiv – und je nach Alter – entwertend und sogar delinquent, je nach Vorgeschichte (Schleiffer, 2015, S. 87). Sie sind dann gar nicht in der Lage, eine Bindung an eine bestimmte Person einzugehen. Verhaltensauffällige Pflegekinder verhalten sich zu den Pflegeeltern ebenso wie allen anderen, ihnen freundlich begegnenden Menschen gegenüber, von abwehrend bis distanzlos. So sagen manche Pflegeeltern von ihren Pflegekindern: »Der/die wäre mit jedem mitgegangen.« Die Pflegeeltern erleben ein solches Verhalten oft als kränkend – ebenso wie eine aggressive oder verweigernde Haltung des Pflegekindes. Sind sich die Pflegeeltern der Situation nicht ausreichend bewusst, erleben sie eine Retraumatisierung und sich »nicht ausreichend wertgeschätzt, gar als kinderlos« (S. 57). Letzteres ist besonders schmerzlich, sollte doch mit dem Pflegekind gerade das Trauma der Kinderlosigkeit geheilt werden. »Solchermaßen frustriert und in Unkenntnis der psychologischen Mechanismen auch gekränkt, wird die Motivation der Pflegeeltern, am Pflegeverhältnis festzuhalten, auf eine harte Probe gestellt. Es droht das Scheitern des Pflegeverhältnisses« (157 f.). Und dieses Scheitern setzt einen Teufelskreis in Bewegung bzw. verleiht ihm einen neuen Schwung: Bei den nächsten Pflegeeltern (häufig ist nach dem Scheitern eines Pflegeverhältnissen erst eine Übergangslösung notwendig) werden die Auffälligkeiten des Kindes sicher verstärkt und seine Fähigkeit, Vertrauen zu entwickeln und sich zu binden, weiter verringert sein.

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Pflegekinder als Aufgabe Silvia, Pflegemutter Als Silvia sich von ihrem Mann trennte, waren ihre beiden Kinder noch sehr klein. Arbeiten gehen konnte und wollte sie nicht. Da las sie in der Zeitung, dass das Jugendamt Pflegestellen für Kinder suchte. Die Möglichkeit, Pflegemutter zu werden, erschien Silvia ideal. Sie konnte bei ihren Kindern bleiben, würde Geld verdienen und Platz genug gab es in der Wohnung auch. Heute, 30 Jahre später, meint Silvia, es waren fast 400 Kinder, die sie betreut habe. Die meisten sind längst erwachsen, haben eine eigene Familie, aber der Kontakt zu vielen ist geblieben. Die ersten Kinder, die Silvia in ihre Familie aufnahm, waren 14 bis 17 Jahre alt. Sie hatten eine lange Leidensgeschichte hinter sich. Sie selbst waren zum Jugendamt gegangen und hatten um Unterbringung gebeten. Kontakt zu ihren Eltern wollten sie auf gar keinen Fall, sie wollten sich nicht mehr erinnern müssen an Gewalt und Alkoholabstürze. Später kamen zu den zwei bis drei Pflegekindern, die bei Silvia lebten, die Übergangspflegekinder. Für diese Kinder suchte das Jugendamt eine geeignete Dauerpflegestelle. Manchmal kamen die Kinder auch zu ihren Eltern zurück. Der Übergang, eigentlich auf vier bis sechs Wochen befristet, zog sich oft lange hin, weil es zu wenig geeignete Pflegestellen gab. Als 1997 eine Mitarbeiterin des Jugendamtes Silvia fragte, ob sie auch ein Baby aufnehmen würde, war Silvia zu diesem Schritt bereit. Dieses Kind, ein Junge, lebt seit knapp 16 Jahren bei Silvia und ihrem jetzigen Mann. Ein zweiter Junge kam zehn Jahre später dazu. Für Silvia ist seit dieser Zeit die Familie komplett. Übergangspflegekinder betreut sie nicht mehr. Der jetzt 16-jährige Sven war nie ein einfaches Kind. Seine drogenabhängige Mutter überließ ihn direkt nach seiner Geburt dem Jugendamt. Sven war untergewichtig, oft krank und schlief lange nicht durch. Als er etwa fünf Jahre alt war, erklärte ihm Silvia, dass sie und ihr Mann nicht seine leiblichen Eltern wären. Svens Mutter hatte bis zu diesem Zeitpunkt nie Kontakt zu ihrem Sohn gesucht. Vier, fünf Jahre später meldete sie sich. Nachdem sie eine mehrjährige Haftstrafe verbüßt hatte, wollte sie ihr Kind kennenlernen. Aber es kam zu keinem Treffen.

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Sven wollte seine Mutter nicht sehen, war sehr wütend auf sie. »Du bist meine Mama«, sagte er zu Silvia. Mit zwölf Jahren änderte sich seine Einstellung. Einmal verschwand er bis spätabends, weil er nach seiner Mutter suchte. Er fand sie nicht. Silvia, die sich große Sorgen gemacht hatte, bot ihm an, mit ihm zusammen zur vermeintlichen Wohnung der Mutter zu fahren und einen Zettel mit der Bitte um einen Anruf in den Briefkasten zu werfen. Die Mutter meldete sich aber nicht. Wahrscheinlich war sie wieder umgezogen. »Väter«, sagt Silvia, »gab es bei all meinen Pflegekindern fast nie. Sie spielten keine Rolle. Ich hatte, wenn überhaupt, nur mit Müttern zu tun.« Das zweite Pflegekind, das heute bei Silvia lebt, heißt Jonas und ist zwölf Jahre alt. Jonas hatte einen schweren Start in seiner Pflegefamilie. Er zog ein, kam zurück zu seiner Mutter, wurde wieder in Silvias Familie untergebracht. Silvia beschreibt Jonas als sehr sensibles Kind, das Probleme mit seinem Übergewicht hat. Besonders in Stresssituationen tröstet sich der Junge mit Süßigkeiten. Jonas’ Mutter stellte mehrere Anträge, sie wollte Kontakt zu ihrem Sohn. Bisher hatte es nur wenige Treffen gegeben. Vor seinem Geburtstag und vor Weihnachten bekam Jonas SMS von seiner Mutter mit der Frage, was er sich denn wünsche. Geschenke kamen allerdings nicht an. Bei einem Termin mit dem Jugendamt, der Pflegekinderberatungsstelle und den Pflegeeltern wurde abgesprochen, dass Jonas’ Mutter ihn in den nächsten Wochen sonntagabends um 18 Uhr anrufen solle. Würden diese Telefonkontakte gut klappen, könnten Mutter und Sohn sich treffen. Zehn Minuten vor 18 Uhr saß Jonas am Küchentisch und wartete auf seinen Anruf. Aber die Mutter rief nicht an. Zuerst war der Junge traurig, dann sehr wütend. Als das Jugendamt bei der Mutter nachfragte, warum sie denn nicht angerufen habe, erklärte sie, sie hätte kein Guthaben mehr auf ihrem Handy gehabt.

In den ersten 20  Jahren ihrer Arbeit als Pflegemutter habe das Jugendamt eigentlich gar nicht mit den Müttern der Pflegekinder gearbeitet, meint Silvia. Über Besuchskontakt sei kaum gesprochen worden. Wenn eine Mutter sich darum bemühte, ihr Kind zu sehen, sei die Frage an die Pflegemutter weitergegeben worden. Die Pflege-

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mutter entschied dann, ob es zu einem Treffen kam. Das habe sich geändert, sagt Silvia. Der Pflegekinderdienst arbeite nun auch mit den Müttern und versuche Kontakte herzustellen. Die Mütter, das ist Silvias Erfahrung, versprechen ihren Kindern viel, auch, dass sie sie bald wieder zu sich nehmen würden, sie seien aber nicht in der Lage, ihre Versprechungen einzuhalten. Silvia meint, Mütter, die ihre Kinder in Pflegestellen abgegeben haben, würden sich schämen. Sie hätten das Gefühl, versagt zu haben. Die Pflegemutter sei eine Konkurrenz, die bessere Mutter. Die Mütter würden ihre Kinder oft sehen wollen, schafften es aber nicht. »Sie bräuchten mehr Unterstützung«, meint Silvia, »sie sollten an die Hand genommen werden. Der Pflegekinderdienst müsste ihnen die Möglichkeit geben aufzuarbeiten, die Scham zu überwinden, vielleicht auch einzusehen, dass ein Zusammenleben nicht möglich ist, dass aber regelmäßige Kontakte für die Kinder sehr wichtig sein können. Wenn in diese Richtung gearbeitet würde, wäre ich gerne dabei.« Anmerkungen zu Silvia Für Silvia war der Beginn der Pflegeverhältnisse der Wunsch, auf sinnvolle Art Geld zu verdienen und dabei bei ihren eigenen Kindern bleiben zu können. Dies weist den Pflegekindern von Anfang an einen bestimmten Platz zu: Silvia bietet den Kindern einen Ort, an dem sie vorübergehend bleiben können. Sie gestaltet diesen Ort freundlich – und professionell. Diese Haltung verändert sich deutlich mit dem zweiten Kind, das sie in Dauerpflege nimmt. Damit sei »die Familie komplett« gewesen, sagt sie, zumal sie auch einen neuen Partner gefunden hatte. Der Übergang von der professionellen Pflege zur eigenen Familie erfolgt ziemlich abrupt. Niemand ist auf die Idee gekommen, ihn zu begleiten – schließlich war Silvia ja eine erfahrene Pflegemutter. Nun aber lassen sich an diesem Fall auch wieder die üblichen Konflikte zwischen Pflegemüttern und Müttern ablesen. Die Mütter seien nicht zuverlässig, sagt Silvia, verwickelt sich aber auch in einen Widerspruch, indem sie sagt: »Jonas’ Mutter stellte mehrere Anträge«, sie wollte Kontakt zu ihrem Sohn. Die Aufgabe, Kontakt

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zwischen Müttern und Kindern herzustellen, lagert sie allerdings aus ihrer Familie aus – dafür soll das Jugendamt sorgen. »Wenn in diese Richtung gearbeitet würde«, wäre sie dabei. Der Konjunktiv in diesem Satz schützt sie davor, den Müttern ihrer Pflegekinder ernsthaft begegnen zu müssen.

Pflegekinder und leibliche Kinder in einer Familie Ute und Mandy Ute lernte ihr Pflegekind Mandy in jenem Kindergarten kennen, in dem sie als Sozialpädagogin arbeitete. Das heißt, zunächst traf sie Mandys Mutter, die ihre 3-jährige Tochter Janine anmelden wollte. Als alle Formalitäten erledigt waren, erzählte die Frau, dass sie noch eine weitere, bereits 4-jährige Tochter habe. Dieses Kind gehe nicht in den Kindergarten. Es sei etwas zurückgeblieben und seinetwegen gebe es oft Streit in der Familie. Ute bat die Frau, Mandy im Kindergarten vorzustellen. Es gebe eine Gruppe mit einer Integrationshelferin, die sich Mandy einmal ansehen könnte. Ein paar Tage später erschien Mandy mit ihrer Großmutter im Kindergarten. Die erklärte Ute, dass Mandy überwiegend bei ihr lebe, weil die Eltern mit ihr nicht zurechtkämen. Ute hatte ebenfalls den Eindruck, dass Mandy nicht altersgemäß entwickelt war. Sie konnte sich nicht allein die Jacke anziehen, sprach wenig und undeutlich und malte auf den Zeichenblock, den Ute ihr gegeben hatte, nur schwarze Kreise. Aber Mandy strahlte Ute an, und diese fühlte sich zu dem Kind hingezogen. Ute vereinbarte einen Hausbesuch bei der Großmutter. Sie hatte den Eindruck, Mandy wäre vielleicht nicht gut untergebracht und erführe zu wenig Förderung. Der Eindruck bestätigte sich. Die Großmutter lebte in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung, zusammen mit drei Töchtern, deren Freunden, zwei Kampfhunden und Mandy. Mandy hatte kein eigenes Bett. Abends schlief sie vor dem Fernseher ein, manchmal auf dem Sofa, manchmal auf dem Teppich. Die Wohnung wirkte schmutzig und verwahrlost, es gab keinen Platz zum Spielen. Ute rief Mandys Mutter an und fragte, warum Mandy nicht zuhause lebe, die Zustände in der Wohnung der Großmutter wären ja nicht halt-

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bar. Die Mutter antwortete ausweichend. Sie habe sehr viel Arbeit mit den zwei kleineren Kindern, ihr Mann wolle Mandy nicht so gern im Haus haben, Mandy sei so schwierig. Ute sagte der Mutter, sie müsse dem Jugendamt eine Mitteilung machen, wenn Mandy weiterhin bei der Großmutter bliebe. So kam Mandy zurück in die Familie. Aber auch hier ging es dem Kind nicht besser. Mandy war meist allein in einem kleinen Zimmer, dort bekam sie auch ihr Essen. Janine sollte im Kindergarten nicht erzählen, dass Mandy ihre Schwester ist. Die Mädchen hatten wenig Kontakt zueinander. Auch sonst spielte Mandy oft still für sich, nur wenn sie Ute sah, strahlte sie, lief auf Ute zu und hielt ihre Hand fest. Mandys Mutter bekam keinen Zugang zu dem Kind. Der Vater lehnte Mandy ab, weil er nicht sicher war, wirklich der Vater zu sein. Ute befürchtete, dass Mandy von ihren Eltern geschlagen würde, das Kind wirkte immer ängstlicher und verstörter. Als die Mutter sich wieder einmal bei Ute über Mandy beschwerte, meinte Ute, ob die Eltern schon einmal darüber nachgedacht hätten, Mandy in einer Pflegefamilie unterzubringen. Das wies die Mutter weit von sich. Was würden denn die Nachbarn und die Familie denken? Außerdem fiele dann Mandys Kindergeld weg. »Und wenn Mandy erst einmal zu mir käme?«, fragte Ute spontan. Darüber würde sie nachdenken, entgegnete die Mutter. In Utes Leben änderte sich in der nächsten Zeit einiges. Nach sechs Jahren erwartete sie ihr zweites Kind. Die Familie hatte ein altes Haus gekauft, das umgebaut werden musste. Ute kümmerte sich um ihren pflegebedürftigen Vater und Lena, ihre große Tochter, kam in die Schule. Utes jüngere Tochter Mareike war gerade ein Jahr alt, als Ute einen Anruf vom Jugendamt bekam. Ob sie noch bereit wäre, Mandy als Pflegekind aufzunehmen. Es ginge dem Kind sehr schlecht. Ute sprach mit ihrem Mann, und beide entschlossen sich, Mandy zu sich zu holen. Die erste Zeit mit Mandy als Pflegekind war nicht einfach. Lena war nicht begeistert von dem neuen Familienmitglied, musste sie doch ihre Eltern schon mit Mareike teilen. Außerdem war das Haus eine einzige Baustelle. Mandy war zu diesem Zeitpunkt knapp zehn Jahre alt. Sie machte noch ins Bett, war sehr klein und zierlich und wechselte gerade auf eine

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Schule für lernbehinderte Kinder. Dort, in einer Klasse mit nur wenigen Kindern, konnte sie dem Unterricht besser folgen. Ute lernte viel mit ihr, meldete sie zum Schwimmkurs an und ging mit ihr zum Kinderturnen. Ute arbeitete nicht mehr im Kindergarten. Mandy war jetzt ihre Berufstätigkeit. Mandy spielte gerne mit der kleinen Mareike und fühlte sich in der Familie wohl. Ute rief in unregelmäßigen Abständen Mandys Mutter an, um über das Mädchen zu berichten, von sich aus meldete sich die Mutter nie. Wenn Ute Mandys Mutter zum Kaffee einlud, kam sie gerne, von sich aus äußerte sie nie den Wunsch, Mandy zu sehen. Bei den Besuchskontakten versuchte Ute, Mandy und ihre Mutter zum Spielen auf einem nahegelegenen Spielplatz zu animieren, aber dazu kam es nie, auch nicht zu einem Besuch in Mandys Familie. Mandy verbrachte die Feiertage in Utes Familie und fuhr mit ihr nach Frankreich und Dänemark in den Urlaub. Mit Utes Unterstützung gelang Mandy in der 9. Klasse der Sprung von der Schule für lernbehinderte Kinder in die Hauptschule. Den Hauptschulabschluss schaffte sie aber trotz vieler Anstrengungen nicht. Mandy hatte Kontakt zu ihrer Schwester Janine, die manchmal am Wochenende in Utes Familie zu Besuch war. Die Mädchen übernachteten dann zusammen im Kinderzimmer und hatten sich viel zu erzählen. Mandys erster Freund war ein Junge aus Nigeria, der mit ihr in eine Klasse ging. Da war sie zwölf Jahre alt. Später traf sie sich mit einem Jungen aus einer Jugendwohngemeinschaft. Mit 18 Jahren zog Mandy bei Ute aus und lebte in einer betreuten Jugendwohngemeinschaft. Nach einiger Zeit in dieser WG ging Mandy nicht mehr in die Schule, machte Schulden und arbeitete nicht mit. Die Situation war schwierig, und Mandy musste die Wohngemeinschaft verlassen. Ute half bei der Wohnungssuche, stellte Anträge beim Sozialamt und unterstützte Mandy, als das erste Kind kam. Utes Töchter haben nach Abitur und Auslandaufenthalten studiert und sind seit einiger Zeit berufstätig. »Heute sagt meine älteste Tochter, ich habe zu wenig Zeit für sie gehabt. Immer hätte ich mit Mandy für die Schule gelernt, aber wenn ich sie Vokabeln abhören sollte, war ich zu müde. Das tut mir jetzt leid. Ich glaube nicht, dass ich mich mit dem heutigen Wissen für ein Pflegekind entschieden hätte.«

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Anmerkungen zu Ute und Mandy Ute ist eine hingebungsvolle Pflegemutter. Sie tut alles für ihre Pflegetochter – und bleibt dabei doch (fast) erfolglos. Sicher, wir wissen nicht, was aus Mandy ohne Ute geworden wäre. Bei diesem Pflegeverhältnis sind wir an den Buchtitel »Liebe allein genügt nicht« von Bruno Bettelheim erinnert (1991). Die Beschreibung dieses Falles macht deutlich, wie sehr die Pflegemutter in diese Beziehung verstrickt war. Ihre Motive waren und bleiben unklar: Geht es um Dankbarkeit für ihr eigenes glückliches, erfülltes Leben? Vielleicht hat Ute auch ein (unbewusstes) Schuldgefühl: Darf es ihr so gut gehen, wenn andere unglücklich sind? Ging es um Utes Ehrgeiz, etwas zu schaffen? Dieses Motiv lässt sich aus dem Kampf um den Hauptschulabschluss ableiten. Es bleiben Spekulationen. Deutlich wird jedenfalls, dass Ute sehr viel Arbeit in Mandys Bildung gesteckt hat. Auslöser für diesen Ehrgeiz mag die Bemerkung von Mandys leiblicher Mutter gewesen sein, das Kind wäre etwas zurückgeblieben. Schon an dieser Stelle hätte Ute eine fundierte Fachbetreuung gebraucht, um Mandy gegenüber eine Position professioneller Distanz einnehmen zu können. Dann wäre es wichtig gewesen, zu analysieren, welche Bindungserfahrung das Kind mitbringt. Mandys Mutter äußerte in aller Deutlichkeit, dass das Zurückgebliebensein ihrer Tochter eine wichtige Rolle im Herkunftssystem gespielt habe, dass das Kind deshalb sogar aus der Familie ausgeschlossen worden sei. Ute erfüllte also, ganz gegen ihren eigenen guten Willen, Mandys negative Bindungserwartung: Mandy konnte einfach nicht so gut werden, wie es in der Pflegefamilie von ihr erwartet wurde – gegenüber Utes klugen leiblichen Töchtern war sie wieder ausgeschlossen. Gerade das wäre vermutlich jener Anknüpfungspunkt gewesen, um Mandy wirkungsvoller zu helfen, nämlich, ihre negative Bindungserwartung nicht zu erfüllen. Und die einzige Bindung an ihre Herkunftsfamilie, die Mandy deutlich macht, nämlich die zu ihrer Schwester Janine, hätte als Ressource mehr Beachtung finden können. Das hätte bedeutet – nach der alten sozialpädagogischen Regel – Mandy da abzuholen, wo sie stand und ihre Ressourcen zu fördern, nicht ihre Defizite in den Fokus zu nehmen.

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Anmerkung: Es geht hier keineswegs darum, Ute irgendwelche Fehler vorzuwerfen. Sie ist einfach mit diesem schwierigen Kind alleingelassen worden und jeder vermeintliche Misserfolg hat sie tiefer in ihre undankbare Rolle verstrickt. Utes Geschichte liefert auch Material, um über das Verhältnis zwischen Pflegekindern und leiblichen Kindern innerhalb einer Familie nachzudenken. In unseren Gesprächen mit leiblichen Kindern über ihre Pflegegeschwister wurde uns klar, dass dieser Aspekt im Pflegekinderwesen bisher viel zu wenig Beachtung gefunden hat. Oft fühlen sich die angenommenen Kinder weniger zur Familie dazugehörig. Anwesende leibliche Kinder in der Pflegefamilie verstärken dieses Gefühl. Dies geschieht auch, wenn die Pflegeeltern den Anspruch haben, die Pflegekinder wie eigene Kinder zu behandeln – und zu lieben. Aber auch die leiblichen Kinder betrachten die Pflegegeschwister durchaus nicht ambivalenzfrei. Wie bei Ute fordern die Pflegekinder besondere Aufmerksamkeit und entziehen die Eltern damit auf unbestimmte Zeit (von Minuten über Stunden) den leiblichen Kindern, denen sie sich dann nicht zuwenden können. In den leiblichen Kindern kann das Gefühl entstehen, für ihre Eltern nicht ausreichend, »nicht gut genug« zu sein. Dieses Gefühl führt eher zu einer Konkurrenz als zu einer harmonischen Geschwisterbeziehung. Utes Kinder warfen ihr vor, sich wegen Mandy nicht ausreichend um sie gekümmert zu haben. Anders reagierte Lucia, Tochter eines Paares, das neben ihr drei Pflegekinder großgezogen hatte. Sie beschuldigt ihre Eltern, sie den Pflegekindern vorgezogen zu haben und deshalb sei es für sie heute so schwierig, jenen Kontakt zu den Pflegegeschwistern zu haben, den sie sich wünsche. Hier hat das leibliche Kind in der Identifikation mit den Pflegekindern Schuldgefühle entwickelt. Wenn wir davon ausgehen, dass um das Pflegekind herum das gesamte System Unterstützung braucht, sind die leiblichen Kinder in der Pflegefamilie ein wichtiger Teil davon. Mit der geeigneten Betreuung können sie hilfreich für die Entwicklung des Pflegegeschwisters sein und auch selbst von dessen Anwesenheit profitieren.

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Behinderte Kinder im Pflegeverhältnis Familie Berger Familie Berger hat drei Pflegekinder: Die 16-jährige Lilly, den 10-jährigen Marco und den 8-jährigen Kevin. Sie sind erst vor Kurzem aus Süddeutschland hierher gezogen. Lilly war ein Jahr alt, als sie zu Bergers kam. Ihre drogenabhängige Mutter Rosi war nicht in der Lage, sich um das Kind zu kümmern. Der leibliche Vater hatte die damals knapp 20-jährige Rosi noch während der Schwangerschaft verlassen. Auch er hatte ein Drogenproblem. Rosi bemühte sich, für Lilly nach der Geburt da zu sein, aber es gelang ihr nicht. Schon nach ein paar Wochen kam das Kind in eine Übergangspflegestelle und als klar war, dass Rosi nie für Lilly sorgen könnte, suchte das Jugendamt Pflegeeltern für eine dauerhafte Unterbringung. Lilly erzählt gern: »Meine Mutter hat meine Pflegeeltern ausgesucht. Es gab noch ein Ehepaar, die mich haben wollten, aber die fand meine Mutter zu alt!« Lilly ist mit ihrer Mutter über Facebook in Kontakt. »›Bussi, Bussi‹, schreibt sie immer, aber von meinem Leben weiß sie nichts«, erklärt Lilly. Marco war noch keine zwei Wochen alt, als Familie Berger ihn aus dem Krankenhaus abholte. Seine Mutter ist psychisch krank. Sie möchte Marco nicht sehen. Bergers haben versucht, Kontakt zu ihr aufzunehmen, aber sie verweigert jedes Treffen. Marco kennt seine Oma, eine Schwester und einen Halbbruder. Zusammen mit Familie Berger hat er sie besucht. Die Schwester gab ihm ein Foto der Mutter. Marco ist froh, dass er weiß, wie sie aussieht. Kevin ist viel zu früh geboren, in der 23. Schwangerschaftswoche. Seine Mutter war zu dem Zeitpunkt 16 Jahre alt, eine junge Frau aus dem Kosovo. Kevin konnte lange nicht allein atmen, und er wog nur 650 Gramm. Als Familie Berger ihn aus dem Krankenhaus abholte, lag seine Geburt ein Jahr zurück, aber erst jetzt hatte er das Gewicht und das Aussehen eines Neugeborenen. Frau Berger, eine gelernte Kinderkrankenschwester, kümmerte sich ganz intensiv um das Baby. Den häufigsten Kontakt hat Familie Berger zu Rosi, Lillys Mutter. Als Lilly klein war, lebte Rosi nicht weit entfernt. Sie war zu dieser Zeit

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meist obdachlos und hielt sich oft wochenlang im Park auf. Dann war sie für das Jugendamt nicht erreichbar und Besuchskontakte konnten nicht abgesprochen werden. Bergers brachten Lilly im Kinderwagen in den Park, damit sie Rosi sehen konnte. Wenn Rosi einigermaßen ansprechbar war, freute sie sich, das Kind zu sehen. Manchmal war sie aber auch so verschlossen, dass sie Lilly nicht erkannte. Dass trotz Drogen- und Alkoholsucht der Kontakt zwischen Mutter und Kind nie abbrach, darum kümmerte sich auch eine Streetworkerin, die Rosi lange begleitete. Jetzt ist Rosi seit vielen Jahren im Methadonprogramm, und sie hat eine feste Wohnung. Ihre Freunde wechseln häufig. »Ich kann mir ihre Namen manchmal gar nicht merken«, meint Lilly. »Nun will sie auch noch heiraten, das finde ich nicht so gut. Aber sie hat uns alle zur Hochzeit eingeladen.« Als Rosi vor einem Jahr einen schweren U-Bahn-Unfall hatte, fuhr Frau Berger gleich mit Lilly ins Krankenhaus. Lilly hatte große Angst um ihre Mutter, und sie ist froh, dass Rosi sich wieder gut erholt hat. Wenn Bergers mit den Kindern Rosi in Süddeutschland besuchen, fahren sie auch zu Marcos Großmutter. Für ihn ist es gut, Verwandte zu haben, auch wenn seine Mutter ihn nicht treffen will. Vor vier Jahren war es Familie Berger gelungen, Kevins Mutter Samra in Österreich zu finden. Die junge Frau lebte vorübergehend bei ihrer Großmutter am Bodensee. Bergers mieteten eine Ferienwohnung und besuchten Samra. Obwohl es länger keinen Kontakt gegeben hatte, freuten sich alle über den Besuch, und Kevins Urgroßmutter kochte Essen für die ganze Familie. Jetzt ist Samra wieder verschwunden. Die Handynummer stimmt nicht mehr, und ihre Großmutter vermutet die junge Frau in Wien. »Wir finden sie irgendwann«, meint Frau Berger, »dann machen wir eine Reise nach Wien.« Bergers halten es für sehr wichtig, Kontakt zu den Herkunftsfamilien der Kinder zu haben. Sie nehmen weite Reisen in Kauf, damit die Kinder ihre Verwandten treffen können. »Erst beim letzten Mal haben wir dafür einen Zuschuss vom Jugendamt bekommen, bis dahin bezahlten wir jede Reise selbst«, sagt Frau Berger. »Dem Jugendamt ist es nicht wichtig, ob die Kinder Kontakt zu ihren Müttern und zu anderen Verwandten haben. Dort kümmert man sich nicht um Mütter und die

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Beziehung zu ihren Kindern, wenn die Kinder erst einmal fest in einer Pflegefamilie leben«, finden Bergers. Und die Väter? Von Marcos Vater ist nichts bekannt. Lilly hätte gern ein Foto von ihrem Vater. Sie will wissen, wie er aussieht, denn gesehen hat sie ihn nie. Rosi hat ihr ein Bild versprochen, aber dann findet sie es nicht wieder, oder der neue Freund hat es aus Eifersucht zerrissen. Lilly glaubt ihr nicht, aber irgendwann wird sie schon ein Foto bekommen. Kevins Vater, der auch aus dem Kosovo stammt, meldete sich einige Male aus der Haftanstalt bei Bergers. Er wusste, wenn er Kontakt zu seinem Kind hätte, würde er als Straffälliger nicht so leicht in den Kosovo abgeschoben werden. Aber dann hörte niemand mehr von ihm und Bergers wissen nicht, wo er heute lebt. Die nächste Familienreise dürfte nach Wien gehen und auf dem Weg werden Bergers auf jeden Fall Rosi besuchen.

Anmerkungen zu Familie Berger Der erste Grund des Paares Berger, Pflegekinder bei sich aufzunehmen, war ebenfalls ein unerfüllter eigener Kinderwunsch. So freuten sie sich sehr über den Einzug der kleinen Lilly. Anfangs sprachen sie die Entwicklungsverzögerung des Mädchens seiner schwierigen Vorgeschichte zu. Dass es behindert war, stellte sich erst später heraus. Auch Kevin ist sehr stark retardiert, er hat den Schaden, den er durch seine viel zu frühe Geburt erlitten hat, nie ausgleichen können. Bergers kümmern sich seit Jahren gemeinsam um die drei Pflegekinder: Frau Berger ganz, Herr Berger arbeitet stundenweise als Logopäde. Sie können davon leben, das Pflegegeld für diese Kinder mit den besonderen Bedarfen ist angemessen. Nur das Geld, das Bergers immer wieder bereit sind, für die Kontakte zu den Müttern auszugeben, erstattet ihnen keiner. Trotzdem sind Bergers ein Beispiel dafür, dass und wie ein Kontakt möglich ist, auch wenn die Mütter »nicht zuverlässig sind«. Und obwohl sie viel Zeit und Geld investieren, um ihren Pflegekindern den Kontakt zu den leiblichen Müttern zu ermöglichen, sagen die Bergers: »Wir verstehen uns als eine Familie.«

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Zeitliche Begrenzung des Pflegeverhältnisses Sehr wohlwollend und respektvoll beschreibt Klaus Wolf in seinem Beitrag über Pflegefamilien (2013) sowohl deren gesellschaftliche Position als auch Forderungen, die an sie gestellt werden. Er nennt Pflegefamilien »unkonventionelle Familien« in Abgrenzung zu einem klassischen, konservativen Familienbegriff und vergleicht sie mit Alleinerziehenden, Patchwork-Familien und homosexuellen Paaren mit Kindern. Alles Familien, in denen Kinder »glücklich oder unglücklich aufwachsen können, die aber besondere Herausforderungen an die Beteiligten stellen« (S. 268). Gleichzeitig sei das Pflegekinderwesen eine wichtige gesellschaftliche Ressource, weil Kinder, »die von ihren biologischen Eltern nicht hinreichend versorgt werden« (S. 269), untergebracht werden müssen. Schon dort zeigen sich zwei Probleme in diesem Denkmodell: Erstens ist die gesellschaftliche Pflicht gegenüber den Kindern, die in Obhut genommen werden müssen, noch lange nicht beendet, wenn die Kinder auf Dauer untergebracht sind. Natürlich gibt es Organisationen, die sich weiterhin kümmern und in Konfliktsituationen zuständig sind. Doch (fast) alle uns bekannten Pflegeeltern empfinden diese Unterstützung als ausgesprochen mangelhaft, wenn es um ernsthafte Probleme geht wie zum Beispiel Schulversagen, Schulverweigerung, Delinquenz etc. Zweitens wird in Wolfs Gleichstellung unterschlagen, dass in den von ihm benannten unkonventionellen Familien eine vorgängige Bindung vorhanden ist. In Stieffamilien hat mindestens ein Elternteil eine Bindung an das Kind, bei Alleinerziehenden sowieso. Bei homosexuellen Paaren handelt es sich bei ihrem Kind – wenn sie nicht ein Pflegekind aufnehmen – bindungstheoretisch am ehesten um ein eigenes Kind, bei lesbischen Paaren ist in der Regel eine der Frauen die leibliche Mutter, die andere von Geburt des Kindes an bei ihm. Natürlich ist eine Pflegefamilie eine unkonventionelle Familie. Dabei darf aber nicht übersehen werden, was sie von allen von Wolf benannten Familien unterscheidet: Pflegeeltern nehmen Kinder auf, die Eltern haben – und dieser Wechsel bringt eine bestimmte Art von Problematik mit sich, die in den anderen Beispielen so nicht vorliegt,

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besonders nicht auf Seiten der Kinder. Anders als zum Beispiel in Stieffamilien sind für Pflegekinder ja beide Elternteile neu und fremd. Wolf führt auf der positiven Seite an, dass das Pflegeverhältnis, wenn es gut läuft, eine dauerhafte Beziehung stiftet – über das Pflegeverhältnis hinaus. Hier geht es auch um Einsparung. Es ist erheblich billiger, wenn in Ausbildung befindliche oder arbeitslose Jugendliche noch materielle und/oder soziale Unterstützung von ihren Pflegeeltern bekommen, als wenn sie – entsprechend ihren Bedürfnissen und individueller Notwendigkeit – zum Beispiel in Wohngemeinschaften oder im begleiteten Einzelwohnen betreut werden. Also, so Wolf, könne man schon aus Kostengründen nicht auf Pflegefamilien verzichten. Die von Wolf postulierte Dauerhaftigkeit kann, unserer Meinung nach, kein Selbstzweck sein – zumal die lange Dauer eines Pflegeverhältnisses kein Garant für dessen Gelingen ist. Wir wissen, auch von leiblichen Kindern, dass gerade unsicher gebundene, oft misshandelte oder vernachlässigte Kinder als Erwachsene eine zutiefst konflikthafte Beziehung zu den Eltern bis ins hohe Alter hinein haben. Dieses Problem spielt in vielen Psychotherapien eine große Rolle und erweist sich oft als schwer lösbar. Alles in allem gilt für die Dauerhaftigkeit des Pflegeverhältnisses dasselbe wie für seine Aufnahme: Das Kind darf niemals dazu da sein, die (oft unbewussten, weil nicht ausreichend thematisierten) Wünsche der Pflegeeltern zu erfüllen, weder ihren Kinderwunsch noch ihren Wunsch nach Gesellschaft im Alter. Das bedeutet, nach Beendigung des offiziellen Pflegeverhältnisses gilt es, die Beziehung neu zu definieren. Das Pflegeverhältnis endet in der Regel mit Vollendung des 18. Lebensjahres. Für die meisten Pflegekinder ist dieser Zeitpunkt zu früh, da sie lange damit beschäftigt sind, Defizite aus ihrer frühen Kindheit aufzuholen. In dieser neuen Situation brauchen die Pflegeeltern erneut Unterstützung, fachliche wie finanzielle. Es ist nicht einzusehen, warum der Kontakt zu den Pflegekindern nun zu einer Privatangelegenheit werden soll. Eine ausführliche Fachberatung sollte bei der Bewältigung unterschiedlich gelagerter Abgrenzungsproblematiken helfen. Sie bietet zudem

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Pflegeeltern

einen späte Gelegenheit, Probleme zu bearbeiten, die dem Pflegeverhältnis zugrunde liegen (wie die Probleme in der Herkunftsfamilie) oder in ihm entstanden sind (z. B. Konkurrenzen mit leiblichen Kindern der Pflegeeltern usw.). Erst nach einer entsprechend gestalteten Abschlussphase kann ein Pflegeverhältnis als gelungen anerkannt werden und sich danach eine neue, freiwillige Beziehung mit begrenzter gegenseitiger Abhängigkeit entwickeln.

Besondere Pflegeformen Wir beschäftigen uns in diesem Buch mit der sogenannten Langzeitoder Dauerpflege. Kinder werden, nachdem sie in Obhut genommen worden sind, oft nach unterschiedlichen Übergängen, in eine Pflegefamilie gegeben, wo sie wahrscheinlich die nächsten Jahre, oft auch den Rest ihrer Kindheit, verbringen werden. Zu diesen Formen der Unterbringung gehört die Kurzzeitpflege, die für eine bestimmte Situation gedacht und auf einen entsprechenden Zeitraum befristete ist. Dabei geht es in der Regel über eine vorübergehende Abwesenheit der Mutter. Mit der Kurzzeitpflege wird die entstehende Betreuungslücke überbrückt. Als nächstes wäre die Übergangspflege zu nennen. Darunter wird die zeitnahe Unterbringung eines Kindes verstanden, das sofort aus seiner Familie entfernt werden muss. Pflege im sozialen Umfeld Einen besonderen Platz in der Langzeitpflege nimmt die Verwandtenpflege ein. Hier ist die Dunkelziffer hoch. Die Verwandtenpflege braucht laut § 44 SGB VIII keine Erlaubnis des Jugendamtes. Zwar steht im Absatz 2 dieses Paragraphen: »Die Erlaubnis ist zu versagen, wenn das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen nicht gewährleistet ist.« Das festzustellen ist schwierig. Dabei sollte gerade bei dieser Pflegeform Folgendes sorgfältig geprüft werden: Existieren bei den aufnehmenden Verwandten dieselben Strukturen, die maßgeblich beteiligt waren, dass die Mütter ihre Kinder nicht ausreichend versorgen konnten? Solche Strukturen können nicht gut genug sein, um nun das Kind aufzunehmen.

Besondere Pflegeformen

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Natürlich hat eine Verwandtenpflege – sollte es einen unbelasteten, psychisch und/oder sozial stabilen Familienteil geben – deutliche Vorteile, aus bindungstheoretischer Perspektive betrachtet. Die Kinder »müssen ihre Familie nicht komplett verlassen, sie bleiben bei vertrauten Menschen«, sagt Irmela Wiemann und beschreibt den idealen Fall von Großeltern, die ihr Enkelkind betreuen, während die Mutter eine Ausbildung absolviert (2009, S. 28 f.). Natürlich hat diese junge Mutter einen regelmäßigen Kontakt zu ihren Eltern und zu ihrem Kind. Eine solche Konstellation ist wirklich wünschenswert, beschreibt aber nicht die Realität jener Kinder, die untergebracht werden müssen, weil sie in Verhältnissen aufwachsen, in denen sie gefährdet sind. Verwandtenpflege hat seinen historischen Ursprung in der Zeit, als es noch sehr viel mehr Waisenkinder gab. Eine angemessene Reaktion auf die Notwendigkeit, Kinder unterbringen zu müssen, weil sie in ihren eigenen Familien misshandelt oder vernachlässigt werden, ist die Verwandtenpflege eher selten. Abgesehen davon, dass Kinder damit in Familien untergebracht werden, die ihren Müttern kein optimales Heranwachsen ermöglichen konnten, bleibt auch hier die Motivation der aufnehmenden Familie zu überprüfen. Wiedergutmachung am Enkel für das Versagen am eigenen Kind? Angst vor den Nachbarn? Oft versorgen Mütter, deren Töchter jung zu Müttern geworden sind, ihre Enkelkinder gleich mit. Gar nicht so selten sind die Fälle, in denen Kinder als Geschwister ihrer Mütter aufwachsen. Dazu schreibt Wieman: »Verwirrend ist für das Kind […], wenn die biologisch vorgegebenen Verwandtschaftsverhältnisse nicht mehr gelten« (2009, S. 29). Verwirrend ist eine verharmlosende Umschreibung für das, was einer Kinderseele in der beschriebenen Konstellation passiert. Für die komplexe Problematik der Verwandtenpflege (auf Dauer) steht hier noch eine Fallgeschichte. Kirsten und Larissa Kirstens Eltern waren beide Alkoholiker, der Vater trank immer mehr als die Mutter. Die fünf Jahre ältere Schwester Sabine kümmerte sich um Kirsten, wenn die Eltern betrunken waren. Sie brachte die Kleine

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zum Kindergarten und machte ihr etwas zu essen. Später schickte sie Kirsten in die Schule, kaufte für die Familie ein, kochte und versteckte vor den Eltern den Schnaps. Kirsten begann mit 13 Jahren zu kiffen und Alkohol zu konsumieren. Später stieg sie auf härtere Drogen um und spritzte am Ende Heroin. Sabine unternahm immer wieder Versuche, ihre Schwester von den Drogen wegzubekommen, aber das gelang nie. Sabine kümmerte sich um Kirsten, nahm sie bei sich auf oder gab ihr Geld. Manchmal war sie auch schrecklich wütend auf ihre Schwester und brach für einige Zeit den Kontakt ab. Sabine machte eine Ausbildung zur Zahntechnikerin, heiratete Peter Krüger und bekam eine Tochter. Mit Anfang 20 ging es Kirsten körperlich und psychisch sehr schlecht. Sie machte mit Hilfe der Drogenberatungsstelle einen Entzug und eine anschließende stationäre Therapie. Dort lernte sie Marco kennen. Beide wurden ein Paar, und ein Jahr später kam Larissa auf die Welt. Kirsten fand eine kleine Wohnung, und das Jugendamt stellte ihr eine Familienhelferin zur Seite. Von Marco hatte sich Kirsten bereits wieder getrennt. Zunächst sah es so aus, als kämen Mutter und Kind gut miteinander aus, aber bald fühlte sich Kirsten überfordert. Wenn Larissa schrie und nicht schlafen wollte, weinte Kirsten mit. Der Arzt verschrieb ihr ein Beruhigungsmittel. Kirsten trank wieder Alkohol und besorgte sich kurze Zeit später Drogen. Die Familienhelferin kümmerte sich darum, dass Larissa in einer Übergangspflegestelle untergebracht wurde, und Kirsten kam wieder in eine Entzugsklinik. So ging es in den nächsten Jahren weiter. Larissa lebte in Übergangspflegestellen und auch mal im Kinderheim. Kirsten bemühte sich immer wieder, clean zu bleiben. Neue Probleme gab es, als Larissa in die Schule kam. Sie konnte sich nicht anpassen, schlug und trat um sich. Anderen Kindern nahm sie Stifte, Füllhalter oder Etuis weg. Sie verließ den Klassenraum, wann sie wollte, und es fand sich kein Kind, das neben ihr sitzen mochte. Immer wieder sprach die Lehrerin mit Kirsten, aber die Situation in der Schule besserte sich nicht. Im Gegenteil, von Kirsten ließ sich Larissa nichts sagen. Sie trat nach ihrer Mutter und bespuckte sie. Larissa ertrotzte sich von Kirsten Geschenke, Spielzeug, Bekleidung, sogar ein kleiner Hund wurde angeschafft, der schon

Besondere Pflegeformen

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bald, schwer vernachlässigt, ins Tierheim gebracht werden musste. Im Umgang mit Männern zeigte Larissa ein stark sexualisiertes Verhalten. Sofort suchte sie körperliche Nähe, umarmte und küsste Männer, die sie gerade erst kennenlernte. Auf Anraten der Klassenlehrerin begann Larissa eine Therapie bei einer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Die Beziehung zwischen Kirsten und ihrer Tochter wurde immer schwieriger. Beim Jugendamt erklärte Kirsten, sie könne einfach nicht mehr, sie schaffe das Zusammenleben mit ihrer Tochter nicht. Ihre Schwester Sabine, die mit Mann und Tochter in der Nähe wohne und sich schon öfter um Larissa gekümmert habe, wäre bereit, das Kind bei sich auf zunehmen. Es gab gemeinsame Gespräche im Jugendamt, mit Sabine und Peter Krüger. Der Sozialarbeiter des Jugendamtes fand Familie Krüger geeignet, die Verwandtenpflege zu übernehmen. Es wurde ein detaillierter Vertrag ausgearbeitet, in dem festgelegt wurde, wann Kirsten ihre Tochter besuchen dürfe und wann Mutter und Tochter telefonieren könnten. Larissa hatte schon oft Wochenenden bei Tante und Onkel verbracht, und sie war bereit, zu ihnen zu ziehen. Die ersten Wochen im Haushalt der Krügers verliefen harmonisch, aber dann wollte Kirsten ihre Tochter zu Zeiten besuchen, die nicht verabredet waren, oder sie erschien nicht zu vereinbarten Terminen, sie rief drei Mal an einem Abend an oder eine Woche gar nicht. Larissa reagierte aggressiv, ließ ihre Wut und Enttäuschung an ihrer Cousine aus. Beim Gespräch im Jugendamt erklärte Sabine Krüger, sie könne doch ihre Schwester nicht wegschicken, wenn sie vor der Tür stünde, obwohl sie gern konsequent wäre. Peter Krüger zog sich mehr und mehr zurück, die Tochter hielt sich fast nur noch in ihrem Zimmer auf. Sabine hatte bald das Gefühl, sich immer weiter von ihrer Familie zu entfernen, Mann und Kind nach und nach zu verlieren. Sie meldete sich beim Jugendamt und bat um Auflösung des Pflegeverhältnisses. Larissa kam nach acht Monaten Verwandtenpflege bei Tante und Onkel zu ihrer Mutter zurück.

Die Verwandten- oder auch Vollzeitpflege im sozialen Netz kann für Kinder, die nicht bei ihren Eltern leben können, eine Chance sein. Sie werden nicht in einer Familie untergebracht, die sie erst kennen-

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lernen müssen. Kontakt zu Großeltern, Onkel und Tante haben sie wahrscheinlich schon immer gehabt. Bei Verwandten untergebracht zu sein, bedeutet für das Kind, dass viele bestehende Bindungen erhalten bleiben. Das Trennungstrauma ist so minimiert. Verwandtenpflege kann bestehende Bindungen fördern und biographische Einschnitte und Belastungen mildern. Auf der anderen Seite kann die Verwandtenpflege auch sehr schwierig sein. Wenn ein Kind bei der Mutter seiner Mutter untergebracht ist, greifen möglicherweise alte Muster: Verhaltensweisen und Strukturen innerhalb der Familie, die sich auf die Mutter krankmachend ausgewirkt haben, können sich beim Kind fortsetzen. Wie sich pathogenes Verhalten durch die Generationen zieht, können wir am Fallbeispiel von Kisten und Larissa sehen: Larissa begann früh, ihre Mutter zu kopieren, so wie Kirsten ihrerseits nach dem (gestörten) Beziehungsmuster ihrer Eltern lebt. Kirstens Schwester Sabine fällt nur scheinbar aus dem Schema heraus. Sie hat in diesem System die Rolle der Sozialarbeiterin, ist stark co-abhängig. Sich konsequent an Absprachen und Abmachungen zu halten, fällt ihr sicher schwerer als einer Pflegemutter. Aus diesen Gründen ist für Larissa eine andere, fachlich kompetente Betreuung notwendig, keine Unterbringung in den alten, unbearbeiteten Familienstrukturen.

Laien oder Profis als Pflegeeltern? Wolf schreibt, Pflegefamilien seien Familien und keine Organisationen (2013). Das ist sicher richtig, wenn man unter Organisation Betriebe, Parteien, Verbände oder ähnliches versteht. In Rückgriff auf Niederberger und Bühler-Niederberger (1988) macht Wolf vier Merkmaldimensionen aus, in denen sich Familien von Organisationen unterscheiden: 1. Kündbarkeit versus Dauerhaftigkeit, 2. Austauschbarkeit versus Einmaligkeit, 3. Schemenhaftigkeit versus Körperlichkeit und 4. Explizitheit versus Implizitheit (Wolf, 2013, S. 271–274). Vergleicht man aber Pflegefamilien mit leiblichen Familien, unterscheiden gerade die vier benannten Merkmale diese beiden Familienformen voneinander: Die Pflegefamilie ist deshalb unserer Meinung nach eine Organisation, eine Institution. Das macht

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die besondere Problematik von Pflegefamilien aus und ihren hohen Bedarf an Unterstützung und pädagogischer und psychologischer Fachberatung. Um diesen Bedarf benennen zu können, sind Wolfs Kriterien sehr hilfreich, wenn auch in umgekehrtem Sinn. Deshalb seien sie hier erwähnt. Wir benutzen also im Folgenden die Kriterien nicht, um Organisationen mit Pflegeeltern, sondern um Pflegeeltern mit leiblichen Eltern zu vergleichen und damit unser Plädoyer, Pflegeelternschaft zu professionalisieren, argumentativ zu untermauern. Wolf benennt als erstes Kriterium »Kündbarkeit versus Dauerhaftigkeit« (2013, S. 271). Sicher, in Organisationen gleich welcher Art ist fast jedes Mitglied kündbar, in Familien ist es nicht so. Kinder können die Beziehungen zu ihren Eltern abbrechen – oder umgekehrt, das verwandtschaftliche Verhältnis bleibt davon jedoch unberührt. Das klingt im ersten Augenblick sinnlos: Was bedeutet ein verwandtschaftliches Verhältnis, wenn die Beteiligten keinen Kontakt mehr haben? Andererseits ist auch bekannt, dass dieser Kontakt nach Jahren oder sogar Jahrzehnten spontan oder aus gegebenem Anlass wieder aufgenommen werden kann. Letzteres geschieht äußerst selten zwischen Pflegeeltern und -kindern. Das besonders deshalb, weil es meist schwerwiegende Gründe für eine solche Kündigung gibt oder gab und eine Wiederaufnahme der Beziehung von keiner Seite wünschenswert scheint. Natürlich wird ein Pflegeverhältnis niemals leichtfertig gekündigt, trotzdem bleiben viele negative Gefühle zurück. Es folgt ein Beispiel. Gesa und Enno Gesa und Enno arbeiten, jeder mit einer halben Stelle, als Diakone bei der evangelischen Kirche. Sie haben zwei Töchter, heute 14 und 16 Jahre alt. Vor fünf Jahren nahmen sie den 7-jährigen Mike als Pflegekind in ihre Familie auf. Sie fühlten sich in der Lage, einem besonders schwierigen Kind ein Zuhause zu geben. Aber sie waren auch auf das Geld angewiesen, das sie für die Pflegestelle bekamen, denn sie hatten erst vor Kurzem ein Reihenhaus am Stadtrand gekauft. Das Zusammenleben mit Mike war von Anfang an schwer. Der Junge war sehr aggressiv, schrie und tobte, wenn er nicht bekam, was er wollte. Viele Gegenstände im Haus gingen zu Bruch. Er akzeptierte

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Pflegeeltern

keine Grenzen. Immer wieder holte er sich Spielzeug aus den Zimmern der Mädchen, malte in ihre Schulhefte und zerstörte ihre Sachen. Mike quälte Tiere und verletzte seine Mitschüler. Die Mädchen besuchten immer häufiger Freundinnen, bei denen sie dann auch möglichst übernachteten. Gesa und Enno wurden vom Pflegekinderdienst betreut, aber den Alltag konnten sie kaum noch bewältigen. Sie schliefen schlecht, weil sie Angst hatten, Mike könne die Familie nachts in Gefahr bringen. Als der Junge eines Nachts mit einem Messer in der Hand vor ihrem Bett stand, entschieden sie sich Mike zurückzugeben. Der Schritt fiel ihnen nicht leicht, aber sie hatten sich versprochen, wenn die Familie oder die Ehe die Pflege des Kindes nicht mehr aushalte, würden sie das Pflegeverhältnis beenden. Noch heute fragen sich die Beiden, ob sie etwas falsch gemacht oder übersehen haben. Die Kündigung des Pflegeverhältnisses rettete zwar ihre Ehe, ließ aber die massive Kränkung zurück, bei aller Fachlichkeit dem verstörten Jungen nicht helfen zu können.

Wenn das Kind zu seiner Familie zurückkehrt und vorher zwischen dieser und der Pflegefamilie ein freundlicher, respektvoller Kontakt bestanden hat, mag eine solche Kränkung ausbleiben – der Trennungsschmerz bleibt. Gerade die Kündbarkeit der Pflegekinder-Pflegeeltern-Beziehung ist für die Beteiligten eine latente Dauerbelastung, die nur dadurch gemildert werden kann, dass allen die Besonderheit dieser Beziehung deutlich ist. Als zweites Kriterium nennt Wolf »Austauschbarkeit versus Einmaligkeit« (2013, S. 272). Wie gesagt, wir sollten nicht vergessen, dass er Organisationen mit Familien vergleicht. Wolf meint, dass man anhand der von ihm entwickelten Kriterien Pflegefamilien eher zu den Familien als zu Organisationen zählen kann, wobei die Relevanz dieses Vergleichs – bezogen auf Pflegefamilien – undeutlich bleibt. Im Punkt der Austauschbarkeit beschreibt Wolf die Möglichkeit auf »wesentlich größere Darstellungsspielräume« (S. 272) in der Familie. Das ist sicherlich so. Aber auch hierin unterscheidet sich die Pflegefamilie. Während eine Herkunftsfamilie viel mehr Abweichung

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toleriert (tolerieren muss) – und diese Abweichungen auf größere gesellschaftliche Akzeptanz stoßen, können solche Abweichungen (auch von den Erwartungen der Pflegeeltern) durchaus zur Kündigung eines Pflegeverhältnisses führen. Auch hier ist eine Fachbegleitung unverzichtbar. Pflegeeltern müssen die Chance bekommen, sich ein Verständnis dafür zu erarbeiten, dass das Kind möglicherweise ganz anders ist, als sie es sich jemals vorgestellt haben. Besonders ist es ganz anders, als ein (leibliches) Kind in ihrem Wunschbild war. Nur wenn sie sich dessen bewusst sind, können sie Belastungen und Verletzungen, die ein unerwartetes Agieren des Pflegekindes auslösen, psychisch verarbeiten. – Sollte ihnen das nicht gelingen, ist das Pflegekind sehr wohl austauschbar. Der dritte von Wolf benannte Punkt »Schemenhaftigkeit versus Körperlichkeit« trifft tatsächlich auf Pflege- wie auf Herkunftsfamilien zu, wenn auch in einem unterschiedlichen Maße. Natürlich ist in einer Organisation kein Platz für Körperlichkeit und Intimität, in einer Familie schon – manchmal sogar zu viel. Körperlichkeit in einer Pflegefamilie ist weniger selbstverständlich als in anderen Familien. Sie muss wachsen in dem Maße, wie die Bindung wächst. Bei kleinen, süßen Pflegekindern besteht auf der einen Seite die Gefahr, dass die Körperlichkeit zu früh in die Beziehung gelangt. Auf der anderen Seite ist es manchmal auch schwierig für Pflegeeltern, eine natürliche Körperlichkeit mit den Pflegekindern zu entwickeln. Wachsam sind da die Augen der Umgebung. Wolf beschreibt zum Beispiel einen Fall, indem eine Pflegemutter ihren kranken, 5-jährigen Pflegesohn zu sich ins Bett lässt. Eine Körperlichkeit, die in Familien (auch ohne Krankheit des Kindes) selbstverständlich ist. Dieser ebenso selbstverständlich handelnden Pflegemutter brachte ihr Handeln eine missbilligende Aufmerksamkeit ihres Trägers ein (2013, S. 273). Auch der Mann von Ute (siehe Fallbeispiel Ute und Mandy, S. 73) erzählte, dass er sich, als Mandy in die Familie kam, nie mehr nackt in seiner eigenen Wohnung gezeigt habe. Vorher sei es selbstverständlich gewesen. Nachdem Mandy in der Familie war, habe er sich auch für den kurzen Weg vom Bad zum Schlafzimmer vor und nach dem Duschen einen Bademantel übergezogen. Der

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Gedanke, sich vor Mandy nackt zu bewegen, habe ihm ein diffuses Unbehagen bereitet. Diese Beispiele beschreiben die Sehnsucht der Pflegeeltern, eine normale Familie zu bilden, besonders, wenn mit dem Pflegekind ein unbearbeiteter Kinderwunsch erfüllt wird. Sie bieten auch eine Erklärung dafür, dass Pflegehilfenetze, auch »Hochleistungspflegekinderdienste«, wie Wolf sie nennt (S. 269), nur bedingt funktionieren können. Pflegeeltern erleben das Auftreten der Mitarbeiter solcher Einrichtungen oft als Bevormundung und Kontrolle – etwas, was sie hindert, »wie eine ganz normale Familie« zu leben. Die mühsam errungene Intimität wird immer wieder gestört. Dabei müsste klargestellt werden, dass sie gar nicht herzustellen ist. Gerade diese Unmöglichkeit macht deutlich, dass eine Pflegefamilie eben eine Pflegefamilie ist und – im Kontext der Wolf ’schen Erörterungen, eher einer Organisation (mit Organisationsberatern und Personalentwicklern) ähnlich als einer Familie. Die Mitarbeiter der Pflegekinderdienste sind zudem oft ungenügend ausgebildet und mit den psychodynamischen Strukturen der Kinder und der Pflegefamilie nicht ausreichend vertraut bzw. ungeübt im Umgang mit psychischen Strukturen. Manchmal hörten wir Äußerungen von Pflegekindern, wie die eines 9-jährigen Mädchens, seit sechs Jahren in seiner Pflegefamilie, das anlässlich der zu erwarteten nächsten Hilfekonferenz seufzte: »Müssen denn schon wieder alle kommen und über mich reden?« Das heißt, dass das Hilfssystem einer Pflegefamilie als exogen und störend empfunden wird. Gleichzeitig wird aber immer wieder darauf hingewiesen, wie notwendig ein professionelles Unterstützersystem sei. Die Lösung aus diesem Dilemma kann nur sein, dass die Unterstützer als zum Gesamtsystem zugehörig empfunden werden müssen. Das bedeutet eine große Veränderung in der bisherigen Auffassung der Begleitung von Pflegefamilien. Mit diesen Fragestellungen werden wir uns ausführlich in unserem Kapitel »Modelle zur Veränderung des Pflegekinderwesens« (S. 139) beschäftigen. Die Pflegefamilien sind, jedenfalls nach Einschätzung von Wolf, als etwas Privates zu akzeptieren, um die herum ein professionelles Beschützersystem installiert wird (S. 273). Wolf wendet sich eindeu-

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tig gegen die Professionalisierung der Pflegeeltern. Seine Argumente sind nicht ganz von der Hand zu weisen, leugnen aber das, was Unterberg, Schröder, Pérez, Di Gallo und Schmid in ihrem Beitrag »Der Zusammenhang von elterlichem Stress, Bindungsproblemen und psychischer Belastung von Pflegekindern« (2013) beschreiben: »Pflegekinder gelten als Hochrisikogruppe für die Entwicklung psychischer Störungen und Bindungsprobleme, was zur Überforderung von Pflegeeltern führen kann. Dies hat wiederum Auswirkungen auf die Entwicklung der Pflegekinder« (S. 278). Mit dieser hochbrisanten Problematik ist ein privater Rahmen sicher überfordert. Das ist vor allem dann der Fall, wenn man auch noch die Herkunftsfamilie miteinbezieht, was unserer Meinung nach unverzichtbar ist. Wolf bemerkt richtig, dass Pflegeeltern Teil einer »Herkunftsfamilien-Pflegefamilien-Figuration« sind (2013, S. 247). Privatheit wäre hier vielleicht möglich, wenn die Pflegeeltern vor der Aufnahme ihrer Aufgabe, in der sie als Hochleistungseltern gefordert werden, eine entsprechende Ausbildung mit Schwerpunkten in Psychodynamik der Fremdplatzierung, Traumapädagogik, Behandlung von Verhaltensauffälligkeiten verursacht durch Bindungsstörungen und anderen erhielten. Dann bräuchte es immer noch eine supervisorische Begleitung. Das vierte und letzte Unterscheidungskriterium für Organisation versus Familie trifft fast uneingeschränkt auch auf Pflegefamilien zu. Es geht darum, dass Erziehung in Organisationen, speziell in der Schule, explizit betrieben wird, während sie in der Familie Teil des gesamten sozialen Geschehens sei. Auch das gilt für eine Pflegefamilie nicht im gleichen Maße wie für eine konventionelle Familie, da Pflegekinder mit einer anderen Bedürftigkeit, einem Mangel an Erziehung, Verhaltensauffälligkeiten etc. in die Pflegefamilie kommen. Mit der Aufnahme des Pflegekindes erhält die Pflegefamilie einen expliziten Erziehungsauftrag – einschließlich einiger notwendiger Korrekturen der bisher gemachten Fehler. Abgesehen davon, ist zwar die Schule eine Institution/Organisation, deren Auftrag explizit das Erziehen und Lehren ist. Wir wissen aber auch, dass das Lernen, besonders bei jüngeren Schülern, auf eine Beziehung angewiesen ist. Insofern spielt die Schule als Organisation beim Lernen eine sekun-

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däre Rolle. Wichtig ist die Beziehung zwischen Kind und Lehrer, da lernen nur in einer sicheren Bindung möglich ist – und in der ersten Schulzeit bezieht das Kind den Lehrer in sein Bindungsmuster ein. Fazit der Diskussion dieser vier Aspekte: Es wird nicht deutlich, warum Wolf sich so vehement gegen eine Professionalisierung der Pflegefamilien wehrt. Mit der Privatisierung der Pflege ist eine gesellschaftliche Aufgabe kostengünstig abgegeben worden. Andere, eindeutige Vorzüge einer Pflegefamilie als unkonventionelle Familie, sind bei Wolf nicht zu erkennen. Zu groß ist die Last und die Verantwortung, die Pflegeeltern tragen, als dass man sie, unserer Ansicht nach, gleichstellen könnte mit anderen Familien, wie Wolf es unternimmt. Was für eine Professionalisierung spricht Die Professionalisierung von Pflegefamilien hätte verschiedene Vorteile und könnte sich sehr positiv auf den Erfolg eines Pflegeverhältnisses auswirken. Zuerst würde es eine bessere Bezahlung der Pflegeeltern bedeuten, eine soziale Absicherung und Unterstützung im Krankheitsfall – und das Recht auf Urlaub, auch mal ohne Kinder. Es hieße auch die Professionalisierung ihres Bindungsangebotes. Lehrer, Erzieher, Psychologen und in Balint-Gruppen arbeitende Ärzte haben damit gute Erfahrungen gemacht. Balint-Gruppen sind Supervisionsgruppen für Ärzte, die sie im Umgang mit schwierigen Patienten unterstützen. Das Modell von Balint ist ein psychoanalytisches. Es beruht im Wesentlichen darauf, dass der Gruppenleiter die psychodynamischen Vorgänge innerhalb der Gruppe beobachtet. Nach Michael Balint spiegelt die Gruppe unbewusst Konflikt und Lösung des vorgetragenen Falles. Diese Art von Supervision eignet sich auch für Familien und Familiensysteme wie das Mutter-Kind-Pflegefamilie-Gefüge. In solchen Supersvisionsgruppen könnten Pflegeeltern das Störende in ihrer Beziehung zum Pflegekind bearbeiten, wie zum Beispiel: eigene Bedürftigkeit, die sich an das Pflegekind richtet, unverarbeitete Kinderwünsche, (unbewusste) Phantasien davon, was aus den Pflegekindern werden soll und andere Übertragungsphänomene, aber auch Schuld- und Versagensgefühle und überzogene Selbstansprüche. Professionelle Pflegeeltern

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würden diese Hilfe, deren Inanspruchnahme dann einfach ein Teil ihrer Arbeit wäre, nicht als Kontrolle und Einmischung erleben. Insbesondere dann nicht, wenn ein Supervisionsangebot nicht bei den Pflegekinderdiensten angesiedelt wäre und der Inhalt der Arbeit diesem gegenüber der Geheimhaltung unterläge. Ebenso hätten professionelle Pflegeeltern eine Fortbildungspflicht wie Lehrer, Ärzte und Psychotherapeuten sie haben (Sozialpädagogen leider nicht). Die Kündigung eines Pflegeverhältnisses wäre dann zwar immer noch für die Pflegekinder sehr problematisch, würde aber seltener vorkommen, weil sich die Pflegeeltern beispielsweise schon lange vor einer Eskalation Unterstützung holen würden und auch, weil sie dank geeigneter Fortbildungen (z. B. in der Traumapädagogik) auf Konflikte schneller und angemessener reagieren könnten. Ein dennoch notwendig gewordener Abbruch eines Pflegeverhältnisses wäre für die Pflegeeltern durch ihre erweiterten Kenntnisse weniger von Schuld- und Versagensgefühlen begleitet, weil sie wüssten, einem anderen Kind können sie ein angemessenes Nest bieten. Pflegeverhältnisse in rein privatem Rahmen scheinen, wie die unbegleitete Aufnahme von Waisenkindern in Verwandtschaftspflegefamilien, einer Zeit anzugehören, in denen die Problematik der in Obhut genommenen Kinder weit weniger dramatisch gewesen ist. Wenn heute ein Kind untergebracht werden muss, hat es in der Regel schon eine vielfältige Traumatisierung hinter sich – das ist oft mehr, als engagierte und liebevolle Laienpflegeeltern bewältigen können. Um den gestiegenen Anforderungen in der Betreuung gerecht werden zu können, ist eine Professionalisierung des Pflegeverhältnisses notwendig. Der finanzielle Mehraufwand, der eine Professionalisierung der Pflegefamilien bedeuten würde, wäre angesichts der heutigen Kosten für Übergangslösungen und Spätschäden bei den Kindern mehr als angemessen. Kurze Bemerkung zu den Kosten Pflegefamilien sind eine verhältnismäßig günstige Lösung in der Vollzeitpflege von Kindern. So stellt Wolf die Ersparnis, die eine solche Unterbringung bedeutet, explizit heraus. Er vergleicht die Kos-

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ten für eine Heimunterbringung mit dem Pflegegeld und kommt zu dem Ergebnis, dass »die Betreuung eines einzigen Kindes in der Pflegefamilie pro Jahr 33.600 € günstiger [ist] als ein Heimerziehungsarrangement« (2013, S. 269). Nach seinen Angaben bekommt die Pflegefamilie im Durchschnitt 800 Euro, ein Hochleistungspflegekinderdienst, wie er Pflegehilfenetze nennt, 900 Euro im Monat. Diese drei Zahlen reichen aus, um die finanzielle Situation zu beschreiben und allen Argumenten vorzubeugen, die da heißen, neue Konzepte seien aus Kostengründen nicht umzusetzen.

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Rechtliche Grundlagen

Rechtliche Grundlagen, die das »Wohl von Kindern und Jugendlichen« und die »Inobhutnahme durch das Jugendamt« regeln Kinder und Jugendliche genießen in unserer Gesellschaft einen besonderen rechtlichen Schutz. Das regeln verschiedene Gesetze, wie das Bürgerliche Gesetzbuch, aber auch Teile des Familienrechts, vor allem aber das achte Sozialgesetzbuch (SGB VIII). Hier hat der Gesetzgeber die Kinder- und Jugendhilfe geregelt. Das SGB VIII beschreibt die gesetzlichen Möglichkeiten zum Schutz von Kindern und Jugendlichen. Das Gesetz verpflichtet die Jugendämter zur Hilfe und schafft den Rahmen für die Unterstützung von Sorgeberechtigten, Müttern und Vätern zum Wohle ihrer Kinder. Das SGB VIII unterstützt die Kinder und Jugendlichen in ihrem Recht und Fachkräfte der Jugendhilfe finden hier die gesetzlichen Grundlagen für ihren Arbeitsbereich. Im ersten Kapitel des SGB VIII heißt es: § 1 Recht auf Erziehung, Elternverantwortung, Jugendhilfe (1) Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zur eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. (3) Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere

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1. junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen, 2. Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung zu beraten und unterstützen, 3. Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen, 4. dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen. Wird ein Kind (oder Jugendlicher) aus einer Notsituation heraus vom Jugendamt in einer Pflegestelle untergebracht, handelt es sich um eine Inobhutnahme. Dieser Vorgang ist durch den § 42 SGB VIII geregelt. Für uns ist dieser Paragraph von besonderer Bedeutung und soll an dieser Stelle genauer angesehen werden. § 42 SGB VIII Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen (1) Das Jugendamt ist berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn 1. das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet […]. Ein Kind in Not soll möglichst schnell und unbürokratisch in Obhut genommen werden. Wenn ein Kind selbst um Hilfe und Schutz beim Jugendamt oder beim Kindernotdienst nachsucht, ist das Jugendamt verpflichtet, dieser Bitte nachzukommen. Selbst wenn Mitarbeiter des Jugendamtes den Eindruck haben, dass die Not des Kindes nicht so groß ist, dass es nicht mehr bei seinen sorgeberechtigten Eltern leben kann, ist das subjektive Empfinden des Kindes entscheidend. Vorläufig müsste das Kind in einer Übergangspflegestelle oder einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht werden. Das nachfolgende Fallbeispiel erzählt von einem anderen Verlauf. Melanie Seit Melanies Vater seine Arbeit verloren hatte, stand bereits morgens um 10 Uhr eine Flasche Bier auf dem Tisch. Gegen Mittag gönnte er sich dann ein paar Gläser Korn. Die Mutter putzte vormittags Kran-

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Rechtliche Grundlagen

kenhausflure. Wenn sie mittags nach Hause kam, trank auch sie ein oder zwei Flaschen Bier und schlief auf dem Sofa ein. So fand Melanie ihre Eltern täglich betrunken oder angetrunken vor, wenn sie von der Schule heim kam. Manchmal gelang es ihr, sich leise in ihr Zimmer zu schleichen, oft aber fing der Vater sie ab, zog sie an den Haaren in die Küche und schlug auf sie ein. Nie wusste das Mädchen, was vorgefallen war, nie gab es einen Grund für diese Schläge. Die Mutter schrie aus dem Wohnzimmer: »Hört endlich auf mit dem Krach!« Und öffnete eine weitere Bierflasche. Irgendwann hatte Melanie das Gefühl, das Leben zu Hause nicht mehr auszuhalten. An einem Morgen fuhr sie mit dem Bus statt zur Schule zum Jugendamt. Es dauerte eine Weile, bis sie einen Sozialarbeiter gefunden hatte, der sich zuständig fühlte. Ihm erzählte sie ihre Geschichte und bat ganz nachdrücklich um Hilfe: »Bitte tun Sie etwas, dass ich nicht wieder nach Hause muss«. Der Sozialarbeiter besprach sich mit einer Kollegin, und beide waren der Meinung, dass es gut wäre, mit Melanie zu ihren Eltern zu fahren und sich vor Ort ein Bild von der Situation in der Familie zu machen. Der Vater war allein zu Hause, als die Mitarbeiter des Jugendamtes mit Melanie eintrafen. Es war frühmorgens, und er hatte noch kaum etwas getrunken. Melanie weinte. Sie hatte gehofft, dass ihr dieser Weg erspart bleiben würde. Der Vater zeigte sich fassungslos. »Melanie hat schon immer gelogen. Bereits als kleines Kind konnte sie sich die verrücktesten Geschichten ausdenken. Wie kommst du dazu, zu behaupten, ich würde dich schlagen? Schämst du dich nicht, mich so schlecht zu machen?« Der Sozialarbeiter des Jugendamtes bat darum, sich Melanies Zimmer ansehen zu dürfen. Es war sauber und aufgeräumt. Auf dem Küchentisch lag ein Stapel gebügelter Wäsche, und der Kühlschrank war gut gefüllt. »Möchten Sie, dass wir Ihre Tochter in einer Jugendhilfeeinrichtung unterbringen?«, fragte der Sozialarbeiter den Vater. »Auf gar keinen Fall«, antwortete er, »Melanie wird sich schon einkriegen.« Bei der Verabschiedung gab der Sozialarbeiter Melanie seine Karte. »Du meldest dich, wenn du Hilfe brauchst«, meinte er.

Rechtliche Grundlagen, die das »Wohl von Kindern und Jugendlichen« regeln

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Melanie hat nie mehr beim Jugendamt angerufen. Als der Vater sie das nächste Mal heftig schlug, verschwand sie. Sie lebte bei Freunden, auf der Straße, in Abbruchhäusern. Ihr Geld verdiente sie mit gelegentlicher Prostitution.

In Melanies Fall hätten sich die Sozialarbeiter des Jugendamtes an den Inhalt des § 42 (1) halten müssen: Das Jugendamt ist »verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in Obhut zu nehmen, wenn das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet«. Erst nachdem Melanie in Obhut genommen worden wäre, hätten die sorgeberechtigten Eltern benachrichtigt werden dürfen, und es wäre dann wahrscheinlich zu einer familiengerichtlichen Entscheidung gekommen – nun lebt das Hilfe suchende Kind auf der Straße und prostituiert sich. § 42 SGB VIII hat in Melanies Fall keine Anwendung gefunden, obgleich er Kinder und Jugendliche doch eigentlich schützen sollte. Im 2. Satz des § 42 (1) heißt es: Das Jugendamt ist berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn […] (2) eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und a) die Personensorgeberechtigten nicht widersprechen oder b) eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann […]. Auch hierfür folgt ein Beispiel. Svenja und Emil Svenja hat ein Alkoholproblem. Lange trank sie zusammen mit ihrem Freund, dem Vater ihres Kindes, der sie vor ein paar Wochen verließ. Svenjas Sohn Emil ist zehn Monate alt. Seit Svenja mit ihrem Kind allein ist, versucht sie weniger zu trinken, was ihr manchmal auch gelingt. Nur abends, wenn Emil in seinem Bettchen schläft, fühlt Svenja sich allein und verlassen. Dann trinkt sie ein paar Flaschen Bier, um ihr Unglück zu vergessen und besser schlafen zu können.

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Manchmal geht sie auch in die Eckkneipe. Sie nimmt sich dann vor, in einer halben Stunde zurück zu sein. Nur ein paar Leute treffen, etwas reden können, mit Erwachsenen, das kann doch nicht so schlimm sein. Emil hat auch einen festen Schlaf. An diesem Abend trifft Svenja viele Bekannte. Es wird Bier und Korn ausgegeben und Svenja fühlt sich gut wie schon lange nicht mehr. Als ein paar Männer vorschlagen, die Kneipe zu wechseln, denkt Svenja einen Moment lang an Emil. Aber gerade ist es so nett, und alle zusammen haben eine Menge Spaß. Emil schläft sicher ganz tief. Warum die Nacht in einem Polizeiauto endete, daran erinnert sich Svenja nicht mehr. Sie weiß noch, dass eine Polizistin ihren Kopf hielt, während sie schluchzte: »Mein Baby, mein Emil!« Nach einigem Hin und Her gelang es den Polizisten, Svenjas Adresse zu erfahren und ihr den Wohnungsschlüssel abzunehmen. Svenja übernachtete in der Ausnüchterungszelle, und Emil wurde in die Notaufnahme eines Kinderheimes gebracht.

Svenja konnte der Inobhutnahme ihres Kindes nicht widersprechen, dazu war sie viel zu betrunken. Würde Svenja ihren Sohn am nächsten Morgen aus dem Kinderheim abholen, wäre das rechtens. Das Jugendamt hat aber die Pflicht, zu prüfen, ob Svenja zurzeit in der Lage ist, Emil zu versorgen. Sollte das Jugendamt zu dem Schluss kommen, dass eine Versorgung und Betreuung des Kindes durch Svenja aufgrund ihres Alkoholkonsums nicht möglich ist, müsste Emil untergebracht werden. Das Jugendamt würde versuchen, dafür Svenjas Zustimmung zu bekommen. Ohne Svenjas Einverständnis würde das Jugendamt eine Entscheidung des Familiengerichtes herbeiführen müssen. § 42 SGB VIII (1) sagt dazu: Die Inobhutnahme umfasst die Befugnis, ein Kind oder einen Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen […].

Rechtliche Grundlagen, die das »Wohl von Kindern und Jugendlichen« regeln

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Rechtliche Grundlagen zum Kontakt zwischen Kindern, die in Pflegefamilien leben und ihren Eltern Der Kontakt zwischen Eltern und Kindern, die nicht zusammenleben, ist durch das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) und das achte Sozialgesetzbuch (SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe) geregelt. Im § 1684 BGB heißt es: (1) Das Kind hat das Recht auf Umgang mit jedem Elternteil; jeder Elternteil ist zum Umgang mit dem Kind verpflichtet und berechtigt. (2) Die Eltern haben alles zu unterlassen, was das Verhältnis des Kindes zum jeweils anderen Elternteil beeinträchtigt oder die Erziehung erschwert. Entsprechendes gilt, wenn sich das Kind in Obhut einer anderen Person befindet. (3) Das Familiengericht kann über den Umfang des Umgangsrechts entscheiden und seine Ausübung, auch gegenüber Dritten, näher regeln. Es kann die Beteiligten durch Anordnungen zur Erfüllung der in Absatz 2 geregelten Pflicht anhalten. Wird die Pflicht nach Absatz 2 dauerhaft oder erheblich verletzt, kann das Familiengericht auch eine Pflegschaft für die Durchführung des Umgangs anordnen (Umgangspflegschaft). Die Umgangspflegschaft umfasst das Recht, die Herausgabe des Kindes zur Durchführung des Umgangs zu verlangen und für die Dauer des Umgangs dessen Aufenthalt zu bestimmen. Die Anordnung ist zu befristen. Für den Ersatz von Aufwendungen und die Vergütung des Umgangspflegers gilt § 277 über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit entsprechend. (4) Das Familiengericht kann das Umgangsrecht oder den Vollzug früherer Entscheidungen über das Umgangsrecht einschränken oder ausschließen, soweit dies zum Wohl des Kindes erforderlich ist. Eine Entscheidung, die das Umgangsrecht oder seinen Vollzug für längere Zeit oder auf Dauer einschränkt oder ausschließt, kann nur ergehen, wenn andernfalls das Wohl des Kindes gefährdet wäre. Das Familiengericht kann insbesondere anordnen, dass

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der Umgang nur stattfinden darf, wenn ein mitwirkungsbereiter Dritter anwesend ist. Dritter kann auch ein Träger der Jugendhilfe oder ein Verein sein; dieser bestimmt dann jeweils, welche Einzelperson die Aufgabe wahrnimmt. Wie bereits durch die Beschreibung der gesetzlichen Grundlagen belegt, haben Kinder, die in Pflegestellen leben, das Recht auf Umgang mit ihren Eltern. Der Umgang kann sich unterschiedlich gestalten. Das Kind bekommt vielleicht Besuch von seiner Mutter (nur verschwindend wenige Väter halten Kontakt zu ihren Kindern, die in Pflegestellen leben), es telefoniert mit ihr, bekommt Briefe, E-Mails oder SMS. Wichtig ist, die bestehende emotionale Bindung zu erhalten oder sie auf zubauen. Wenn sich ein Pflegekind kaum an ein Zusammenleben mit seiner Mutter erinnert, kann es sich durch regelmäßige Kontakte eher mit seiner Herkunft auseinandersetzen und sich ein Bild von seiner Mutter machen. Die folgende Fallgeschichte schildert einen möglichen Umgang zwischen zwei in einer Pflegefamilie lebenden Kindern und ihrer Mutter. Johanna Johannas heute zwölf Jahre alter Sohn und ihre 11-jährige Tochter hatten Glück, sie konnten nach der Inobhutnahme zusammenbleiben und leben seitdem gemeinsam in einer Pflegefamilie. Als Johanna einen dicken Brief von ihren Kindern bekommt, hat sie die beiden seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Im Briefumschlag findet sie Fotos ihrer Kinder im Garten der Pflegefamilie, bei einer Schulfeier, Weihnachten, mit dem Hund der Familie. Jedes Kind hat ein Bild für Johanna gemalt, und die Kinder haben zusammen einen Brief geschrieben: »Liebe Mutter, wir möchten Dich kennenlernen. Schickst Du uns ein Foto von Dir? Hast Du einen Mann und noch andere Kinder? Welchen Beruf hast Du gelernt? Arbeitest Du?« Johanna freut sich über die Post ihrer Kinder. Immer hat sie den Brief bei sich. Aber sie braucht lange, bis es ihr gelingt, ihn zu beantworten. Sie möchte ihren Kindern etwas schenken, aber sie hat kein Geld. Das Schreiben fällt ihr schwer. Schließlich kauft sie eine bunte Ansichts-

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karte und schickt sie ihren Kindern. Der schriftliche Kontakt bleibt über Jahre bestehen, auch wenn es oft Wochen dauert, bis Johanna einen Brief beantwortet.

Im BGB § 1626 Elterliche Sorge, Grundsätze heißt es: (3) Zum Wohle des Kindes gehört in der Regel der Umgang mit beiden Elternteilen. Gleiches gilt für den Umgang mit anderen Personen, zu denen das Kind Bindungen besitzt, wenn ihre Aufrechterhaltung für seine Entwicklung förderlich ist. Dieser Paragraph bezieht sich auf den Kontakt zwischen Eltern und Kindern nach einer Trennung der Eltern. Er kann durchaus modifiziert auf die Situation von Pflegekindern übertragen werden. Der Umgang zwischen Eltern bzw. Müttern und Pflegekindern wird nicht um jeden Preis stattfinden. Er kann eingeschränkt oder ausgeschlossen werden, wenn Misshandlungen, sexueller Missbrauch oder schwere Vernachlässigung Gründe für die Inpflegenahme waren. Hier könnte der Kontakt mit den Eltern eine große Belastung oder eine Retraumatisierung für das Kind bedeuten. Dadurch wäre das Wohl des Kindes gefährdet. So jedenfalls die herrschende, oft undifferenzierte Praxis. Es folgt ein Beispiel. Ayten Ayten hat sich vor einem Jahr von ihrem Mann getrennt und lebt seitdem mit ihren beiden, sechs und sieben Jahre alten Söhnen allein. Vor ein paar Monaten verliebte sie sich in einen arabischen Mann. Schon bald stellte sich heraus, dass der neue Freund äußerst gewalttätig ist. Es gab oft Streit, dann schlug der Mann Ayten, trat nach ihr oder würgte sie. Danach weinte er, bat sie um Verzeihung, sagte, wie sehr er sie liebe, sie brauche, machte ihr Geschenke. Beim Besuchskontakt erzählten die Jungen ihrem Vater, dass der neue Mann die Mutter schlage und dass sie sehr viel Angst um ihre Mutter hätten. Der Vater schaltete das Jugendamt ein, und die Jungen wurden in einer Pflegefamilie untergebracht. Die Wochenenden sollten die Kinder bei Ayten verbringen, allerdings mit der Auflage, dass der Freund der Mutter sich dann nicht in der

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Rechtliche Grundlagen

Wohnung aufhalte. Diese Auflage konnte Ayten nicht erfüllen. Bereits am zweiten Besuchswochenende verschaffte sich ihr Freund Zugang zur Wohnung, indem er die Tür eintrat. Zurzeit findet ein begleiteter Umgang statt, zwei Stunden in der Woche im Jugendamt.

Umgangsrecht der Eltern bzw. der Mutter In einem Urteil von 1969 legte der Bundesgerichtshof fest, dass das Umgangsrecht den Eltern ermöglicht, »sich von dem körperlichen und geistigen Befinden des Kindes und seiner Entwicklung durch Augenschein und gegenseitige Aussprache fortlaufend zu überzeugen, die verwandtschaftlichen Beziehungen zu dem Kind aufrecht zu erhalten, einer Entfremdung vorzubeugen sowie dem gegenseitigen Liebesbedürfnis Rechnung zu tragen« (zit. n. Küfner, Helming u. Kindler, 2011, S. 564). Das Recht auf Umgang ist ein Bestandteil des verfassungsrechtlich garantierten Elternrechts. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Eltern noch die Personensorge für ihr Kind haben oder nicht. Die Eltern müssen wissen, ob es ihrem Kind gut geht. Die Beziehung zwischen Kindern und ihren Eltern soll erhalten und gepflegt werden und, wie der BGH es ausdrückt, »dem gegenseitigen Liebesbedürfnis muss Rechnung getragen werden« (zit. n. Küfner et al., 2011, S. 566). Durch den regelmäßigen Kontakt kann sich das Kind ein realistisches Bild von seinen Eltern/seiner Mutter machen und sich vergewissern, dass es ihnen/ihr gut geht. Lisa ist vierzehn Jahre alt. Seit zehn Jahren lebt sie in einer Pflegefamilie. Lisa weiß, dass ihre Mutter psychisch krank ist und dass sie ihre Tochter nicht versorgen kann. Für Lisa ist es aber ganz wichtig, ihre Mutter regelmäßig zu besuchen und sich davon zu überzeugen, dass ihre Mutter allein zurechtkommt.

Vor dem Inkrafttreten des Kindschaftsrechtsreformgesetzes gab es nur ein Recht der Eltern auf Umgang. Es besteht aber auch eine Pflicht der Eltern zum Umgang mit ihrem Kind. Das Gesetz geht

Umgangsrecht der Eltern bzw. der Mutter

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davon aus, dass das Kind ein Interesse hat, regelmäßigen Kontakt zu den Eltern zu pflegen. So entsteht für die Eltern auch die Pflicht zum Umgang.

Die Rolle des Jugendamtes bei der Durchführung des Umgangs Die Aufgabe des Jugendamtes ist es, die Durchführung des Besuchskontaktes zu unterstützen und ihn dort, wo er noch nicht stattfindet, anzubahnen. Das ist gesetzlich wie folgt festgelegt: § 18 SGB VIII (3) (3) Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf Beratung und Unterstützung bei der Ausübung des Umgangsrechts […]. Sie sollen darin unterstützt werden, dass die Personen, die […] zum Umgang mit ihnen berechtigt sind, von diesem Recht zu ihrem Wohl Gebrauch machen. Eltern, andere Umgangsberechtigte sowie Personen, in deren Obhut sich das Kind befindet, haben Anspruch auf Beratung und Unterstützung bei der Ausübung des Umgangsrechts. Bei der Befugnis, Auskunft über die persönlichen Verhältnisse des Kindes zu verlangen, bei der Herstellung von Umgangskontakten und bei der Ausführung gerichtlicher oder vereinbarter Umgangsregelungen soll vermittelt und in geeigneten Fällen Hilfestellung geleistet werden. Das heißt, es ist die Aufgabe des Jugendamtes, ȤȤ Kontakt zu Eltern, Großeltern, Geschwistern und sonstigen Bezugspersonen aufzunehmen, wenn kein Kontakt besteht; ȤȤ das notwendige Bewusstsein für die Bedeutung des Umgangs für die Entwicklung des Kindes zu vermitteln; ȤȤ mit allen Beteiligten auf eine einvernehmliche Regelung und klare Absprachen hinsichtlich der Durchführung der Umgangskontakte hinzuwirken; ȤȤ Besuchskontakte anzubahnen bzw. zu stabilisieren; ȤȤ briefliche und telefonische Kontakte herzustellen;

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Rechtliche Grundlagen

ȤȤ gegebenenfalls auch auf die Möglichkeiten des Familiengerichtes zur Anordnung bzw. Einschränkungen und Ausschluss des Umgangs hinzuweisen. Gibt es eine Umgangsregelung, die die Eltern getroffen haben oder die das Familiengericht festgelegt hat, unterstützt das Jugendamt bei der praktischen Umsetzung. Im Bedarfsfall bereitet es Besuchskontakte durch Gespräche vor und nach, hilft den Eltern, Angebote anzunehmen, die ihnen das Loslassen erleichtern, wirbt um Akzeptanz für die jeweils andere Familie, fördert die Umgangsbereitschaft des Kindes und begleitet den Umgang in jenen Fällen, in denen es notwendig ist. Das Jugendamt darf nicht darüber entscheiden, ob Kontakte zwischen Eltern und ihren in Pflegefamilien lebenden Kindern stattfinden oder nicht. Eine solche Entscheidung kann nur von den Eltern oder dem Familiengericht getroffen werden. Besuchskontakte auszuschließen, um die Eingewöhnung des Kindes in die Pflegefamilie nicht zu behindern, sind mit dem verfassungsrechtlich geschützten Umgangsrecht nicht vereinbar. Wenn das Jugendamt es für sinnvoll hält, dass das Kind die Eltern eine Zeit lang nicht bzw. nur unter bestimmten Umständen sieht, muss es um das Einverständnis der Eltern werben oder beim Familiengericht eine Einschränkung des Umgangs beantragen. Dora verbüßt eine dreijährige Haftstrafe. Sie ist wegen eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt. Ihr 4-jähriger Sohn Hassan lebt in einer Pflegefamilie. Dora möchte, dass ihr Kind sie regelmäßig in der Haftanstalt besucht. Sie hat einen Antrag beim Familiengericht gestellt. Das Gericht entscheidet, dass Hassan seine Mutter einmal im Monat in Begleitung der Pflegeeltern besuchen kann. Schon beim ersten Besuchstermin ist Hassan schier außer sich. Er schreit, wirft sich auf den Boden, will seine Mutter nicht sehen. Daraufhin wenden sich die Pflegeeltern an das Gericht mit der Bitte, den Besuchskontakt auszusetzen, da sie das Kindeswohl gefährdet sehen. Das Familiengericht stimmt dem Antrag zu, erlaubt Dora aber, einmal wöchentlich mit Hassan zu telefonieren und ihm zu schreiben.

Die Rolle des Jugendamtes bei der Durchführung des Umgangs

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Pflegeeltern und Besuchskontakte Wichtig ist, dass zwischen Eltern und Pflegeeltern eine möglichst spannungsfreie Beziehung besteht. Dann profitiert das Pflegekind vom Umgang mit seinen Eltern. Das Verhältnis zwischen Eltern und Pflegeeltern wird in der sogenannten Wohlverhaltensklausel beschrieben: § 1684 BGB (2) Die Eltern haben alles zu unterlassen, was das Verhältnis des Kindes zum jeweils anderen Elternteil beeinträchtigt oder die Erziehung erschwert. Entsprechendes gilt, wenn sich das Kind in der Obhut einer anderen Person befindet. Eltern sollen die Pflegeeltern nicht »schlecht machen« und damit das Verhältnis des Kindes zu seinen Pflegeeltern oder deren Erziehung erschweren. Aber auch die Pflegeeltern haben alles zu unterlassen, was das Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern beeinträchtigt. Vor einem Besuchskontakt sollen die Pflegeeltern das Kind abholbereit machen, das heißt, Kleidung und Spielzeug bereitzustellen. Die Bereitschaft des Kindes, seine Eltern zu treffen, sollte von Seiten der Pflegeeltern gefördert werden. Dieser Anspruch ist in der Realität nur selten durchzusetzen. Eltern und Pflegeeltern haben oft große gegenseitige Vorbehalte, und es gelingt ihnen durchaus nicht immer, ihre Spannungen zum Wohl des Kindes zurückzustellen oder gar zu be- und verarbeiten. Immer wieder berichten Pflegeeltern, dass Mütter sich nicht an getroffene Vereinbarungen halten. So hatte Jasmin bei einem Hilfeplangespräch im Jugendamt erklärt, sie würde ihre 6-jährige Tochter Sofie jeden Freitag um 14 Uhr bei der Pflegefamilie abholen und gegen 19 Uhr zurückbringen. Mit Sofie ginge sie dann zum Schwimmen ins Wellenbad, was das Kind ganz besonders liebt. Am nächsten Freitag wartet Sofie mit ihrer Badetasche um kurz vor zwei vor der Haustür auf ihre Mutter. Die Schwimmbrille trägt sie bereits. Aber Jasmin kommt nicht. Um viertel nach zwei weint Sofie,

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Rechtliche Grundlagen

und die Pflegemutter versucht, Jasmin anzurufen. Aber das Handy ist ausgeschaltet. Die Pflegemutter ist wütend und bittet das Jugendamt, die Besuchskontakte auszusetzen. Da Jasmin für das Gericht nicht erreichbar ist, wird dem Antrag der Pflegemutter stattgegeben.

Hier hat das Jugendamt nicht versucht, Jasmin bei der Durchführung ihres Plans, einmal in der Woche mit ihrer Tochter schwimmen zu gehen, zu unterstützen. Jasmin ist unstrukturiert und chaotisch. Sie war auch in der Vergangenheit sehr unzuverlässig. Das ist ein Grund, warum sie nicht mit ihrem Kind zusammenleben kann. Aber sie liebt Sofie und möchte den Kontakt. Dabei braucht sie Unterstützung. Wie diese aussehen kann, werden wir im Kapitel »Die Stärkung der Mutter im System« ausführlich beschreiben (S. 140 ff.).

Pflegeeltern und Besuchskontakte

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Elternberatung der Pflegekinderdienste

Die Pflegekinderdienste Ein Kind wird vom Jugendamt in Obhut genommen, wenn das Kind misshandelt, vernachlässigt ist und/oder seine Eltern mit der Betreuung und Versorgung des Kindes überfordert sind. Dann informiert das Jugendamt den zuständigen Pflegekinderdienst, der das Kind zunächst in einer Übergangspflegestelle unterbringt. In der nächsten Zeit wird entschieden, wie es mit dem Kind weitergeht. Das Jugendamt stellt beim Familiengericht den Antrag auf Übertragung der elterlichen Sorge, oder die Eltern bemühen sich, das Kind zurückzubekommen. Das Familiengericht muss entscheiden: Hält es die Eltern für nicht erziehungsfähig, wird das Kind in einer Dauerpflegestelle untergebracht. Dann sucht der Pflegekinderdienst die Pflegeeltern aus, die das Kind jetzt vielleicht für eine lange Zeit bei sich aufnehmen. In den kommenden Jahren wird die Fachberatung der Pflegeelternberatung die Pflegefamilie betreuen.

Elternberatung der Pflegekinderdienste Wie geht es mit den Eltern weiter, wenn ihr Kind in einer Pflegefamilie lebt? Wer ist ihr Ansprechpartner? An wen können sie sich mit ihren Wünschen und dem Bedürfnis nach Kontakt zu ihrem Kind wenden? Wer ist auf ihrer Seite? »PFIFF – Pflege- und Patenkinder, Fachdienst für Familien«, ein Pflegekinderdienst aus Hamburg, stellt in seinem »Fachblatt Elternberatung – Unterstützung für Eltern, deren Kinder in Pflegefamilien leben« heraus, wie wichtig es ist, die »vorhandenen Beziehungen der Kinder zu prüfen, sie gegebenenfalls zu erhalten und die Eltern in eine aktive, verantwortli-

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che Rollenübernahme zu begleiten« (PFIFF, o. J., o. S.). Die bereits bestehenden Beziehungen und eventuellen Bindungen der Kinder müssen dabei berücksichtigt werden. Die Kinder sollen darin unterstützt werden, ihre jeweils spezifischen Bedürfnisse nach Nähe oder Distanz zu ihrer Geburtsfamilie leben und gegebenenfalls aufarbeiten zu können. Zu der Familie gehören neben den Eltern explizit Großeltern und Geschwister. Vorhandene Beziehungen sollten, wenn es möglich ist, erhalten bleiben, denn für jedes Kind ist es wichtig, sich mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen zu können. Dazu braucht es seine Eltern. Kinder, die wenig konkrete Informationen über ihre Herkunft haben, neigen dazu, ihre Eltern zu idealisieren oder sie rigoros abzulehnen. Wenn ein Kind seine Eltern ablehnt, wertet es sich selbst als Teil der Eltern ab. In den letzten Jahren haben viele Pflegekinderdienste neue Stellen im Bereich der Elternarbeit geschaffen, aber die Elternberatung und -betreuung kommt immer noch zu kurz. Auch hier hat anscheinend noch die Unterstützung der Pflegeeltern Priorität. Das Angebot der Elternberatung erreicht zudem nur wenige Mütter und Väter. Die Eltern, deren Kind dauerhaft in einer Pflegefamilie untergebracht ist, erhalten meist von den Elternberatern einen Brief, in dem die Arbeit dieses Dienstes vorgestellt und die Eltern zu einem Gespräch eingeladen werden. In diesen Gesprächen könnten Eltern über ihre Probleme sprechen. Viele Eltern sind aber nicht daran gewöhnt, sich mit ihren Gefühlen auseinanderzusetzen. Sie schämen sich, dass sie als Eltern versagt haben, möchten über ihre Trauer, dass ihr Kind nicht mehr bei ihnen lebt, über ihre Wut und ihren Zorn nicht sprechen. Zwar haben sich die Elternberater das Ziel gesetzt, ohne Schuldzuweisung zu arbeiten und die Eltern zu befähigen, mehr Verantwortung für das eigene Leben zu entwickeln, aber sie erreichen bei den Eltern meist gar nichts, weil kein Kontakt zustande kommt.

Besuchskontakte Elternberater der Pflegekinderdienste sind sich einig, dass Besuchskontakte zwischen Eltern und ihren Kindern, die in Pflegefamilien leben, sehr wichtig sind. Aber, so betonen verschiedene Pflegekin-

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Elternberatung der Pflegekinderdienste

dervereine, hierbei gehe es vorrangig um die Bedürfnisse des Kindes. Wenn Pflegeeltern berichten, dass ihr Pflegekind auf Besuchskontakte negativ reagiere, sich aggressiv verhalte, wieder einnässe oder weine, dann müssten Lösungen gefunden werden. Wir glauben, dass es wichtig ist, zu klären, warum ein Kind ein auffälliges Verhalten zeigt. Wurde das Kind gegen den Willen der Eltern untergebracht, spürt es Trauer und Zorn der Eltern und reagiert es darauf? Besuchskontakte, das wünschen die Pflegekinderdienste, sollten möglichst einvernehmlich verlaufen. Eltern und Pflegeeltern sollten gemeinsam Modalitäten der Besuchskontakte erarbeiten und dem Kind einen schönen Nachmittag bereiten. Die Pflegeeltern sollten dem Kind vermitteln, dass sie den Besuchskontakten mit den Eltern offen und wertschätzend gegenüberstehen. Nur ist dies sehr oft leider nicht der Fall. Pflegeeltern versuchen, belastete Elterntreffen zu vermeiden, wenn das Kind im Anschluss daran schwierig, traurig oder aggressiv ist. PFIFF aus Hamburg stellt fest: »Die Wahrnehmung von Besuchskontakten erhöht die Stabilität von Pflegeverhältnissen. Sie dienen dazu, den Eltern und ihren Kindern ein realistisches Bild zu vermitteln […]. Die Kinder müssen sich weniger sorgen, die Eltern erleben die Entwicklung der Kinder aus erster Hand. Gleichzeitig sind diese Kontakte aber auch Quelle vielfältiger Kränkungen und Missverständnisse: Eltern sind unpünktlich, unzuverlässig, überfordern die Kinder bei den Kontakten mit ihrem Wunsch nach Nähe, überschütten sie mit Geschenken […] oder nehmen sie, das andere Extrem, kaum wahr« (PFIFF, o. J., o. S.) Das Pflegeverhältnis stabilisieren, den Pflegeeltern keine zusätzlichen Probleme machen, das Kind nicht mit dem Wunsch nach Nähe überfordern – die Anforderungen an die Besuchskontakte sind von Seiten der Pflegekinderdienste vielfältig. Aber vielleicht hat auch das Kind Wünsche an den Kontakt mit seinen Eltern, möchte ihnen nah sein und muss damit leben, dass es seine Eltern nur selten sieht. Bei dem Ideal eines gelungen Besuchskontakts müssen alle Beteiligten Abstriche machen: Eltern, Kinder, Pflegefamilien und Pflegekinderdienste. Trotzdem scheint es uns wichtig, dass das Kind seine Eltern trifft, ihre Realität und Wünsche nach Nähe erlebt. Schließlich lei-

Besuchskontakte

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det es häufig an der Phantasie, die Eltern hätten es nicht gewollt, sie hätten es abgegeben, weil es nicht gut genug wäre. Besuchskontakte können solchen Phantasien Einhalt gebieten.

Überlegungen zur Elternberatung der Pflegekinderdienste Wir haben bei unseren Gesprächen den Eindruck gewonnen, dass Mitarbeiter der Pflegekindervereine, die im Bereich Elternarbeit tätig sind, ihre Arbeit mit Eltern, die ihr Kind abgegeben haben, sehr ernst nehmen. Dafür sind sie bereit, in die Auseinandersetzung mit den Pflegefachkräften zu gehen, die mit den Pflegeeltern arbeiten. Eltern, die sich an die Elternberater wenden, müssen und sollen sicher sein, dass das, was sie besprechen, der Geheimhaltung unterliegt. Das ist wichtig und gibt den Eltern die Möglichkeit, Vertrauen zu entwickeln. Dazu trägt auch bei, dass die Berater das Verhalten der Eltern nicht bewerten – das stärkt die Eltern. Die Gründe, warum ein Kind nicht bei seinen Eltern leben kann, werden akzeptiert. Aber auch in der Elternberatung darf es keine bedingungslose Parteinahme für die Eltern geben. Es existieren Ausnahmen in der Schweigepflicht; darüber müssen die Eltern informiert werden. Das heißt, erfährt die Elternberaterin von den Eltern, dass sie ihr Kind während der Besuchskontakte misshandelt haben, ist es wichtig, diese Tatsache an die Fachkraft der Pflegeelternberatung weiterzugeben. Denn nur durch Wissen ist es möglich, beim Kind eine Traumatisierung zu erkennen und zu bearbeiten. Nur wenn Pflegeeltern erfahren, was mit ihrem Pflegekind passiert ist, können sie auftretende Störungen verstehen. Gleichzeitig müssen aber auch Eltern Informationen darüber bekommen, was ihr Kind in der Pflegefamilie erlebt. Gegenseitiges Wissen verringert die Spaltung zwischen den Bereichen Pflegefachkraft/Pflegeeltern auf der einen und Elternberaterinnen/Eltern auf der anderen Seite genauso wie die Spaltung zwischen »guten« (Pflege-)Eltern und »schlechten« Eltern. Bildeten noch vor einiger Zeit Pflegeeltern und Pflegefachkraft eine Einheit, so haben die Eltern mit den Elternberaterinnen qualifizierte Pädagoginnen an ihre Seite bekommen. Aber wo gibt

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Elternberatung der Pflegekinderdienste

es ein Miteinander von Eltern und Pflegeeltern? Welche gemeinsamen Gespräche finden statt? Im Elternberatungskonzept des Pflegekinderdienstes »PiB – Pflegekinder in Bremen« heißt es: »Zu Beginn eines neuen Pflegeverhältnisses gibt es mindestens ein gemeinsames Gespräch zwischen den Eltern, den Pflegeeltern und der Elternberatung sowie der zuständigen PiB-Fachkraft [der Fachkraft des Pflegekinderdienstes, A.R./ M.B.Z.], die das Pflegeverhältnis begleiten wird. In diesem Gespräch geht es darum, in möglichst vielen Bereichen, die die Belange des Kindes betreffen, eine übereinstimmende Haltung zu entwickeln. […] Weitere Gespräche können anlassbezogen stattfinden« (PiB, 2013, S. 8). Wenn die Eltern als wichtiger Teil des Systems angesehen werden – was unser Anliegen ist –, ist dieser vielleicht nur einmalige Kontakt zwischen Eltern und Pflegeeltern zu wenig. Angestrebt wird eine Erziehungspartnerschaft zwischen Eltern und Pflegeeltern. Um das zu erreichen, gilt es folgende Fragen aufzuwerfen: ȤȤ Werden die Eltern ausreichend in die Erziehungsarbeit miteinbezogen? ȤȤ Steht das Funktionieren des Pflegeverhältnisses im Vordergrund beim Kontakt mit den Eltern? ȤȤ Wird das Verhältnis zwischen Eltern und Kind als gleichwertige Aufgabe angesehen? Wenn Kinder in Pflegeverhältnissen leben, verbringen Eltern und Kinder ihren Alltag nicht mehr gemeinsam. Umso wichtiger sind die Besuchskontakte: § 1684 BGB besagt, dass das Kind das Recht auf Umgang mit jedem Elternteil hat und jeder Elternteil zum Umgang mit dem Kind verpflichtet und berechtigt ist. Wie aber werden Besuchskontakte geplant und gestaltet? Laut Konzeption des Pflegekinderdienstes PiB sollen Besuchskontakte »jenseits von belastenden Alltagsfragen die Möglichkeit bieten, möglichst schöne und unbeschwerte Zeiten miteinander zu verbringen« (PiB, 2013, S. 8). Ist es sinnvoll, beim Besuchskontakt eine künstliche Harmonie herzustellen, die dem Kind möglicherweise die Illusion vermittelt, es sei alles in Ordnung mit seiner Mutter? Darf die

Überlegungen zur Elternberatung der Pflegekinderdienste

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Mutter bei diesen Besuchskontakten darüber sprechen, wie sehr sie ihr Kind vermisst, wie wütend sie ist, dass sie nicht mehr mit ihrem Kind zusammenleben kann? Vielleicht weint die Mutter auch und zeigt dem Kind so ihre Trauer. Das macht sehr wahrscheinlich auch das Kind traurig, und die Pflegeeltern müssten sich nach einem Besuchskontakt mit einem bedrückten, wütenden und/oder aggressiven Kind auseinandersetzen. Das bliebe ihnen erspart, wenn die Mutter dem Kind ihre Emotionen nicht zeigen würde, sondern wie vereinbart mit dem Kind spielen, schöne Dinge unternehmen würde und eine Illusion der Sorglosigkeit entstünde. Zeigt sich die Mutter beim Besuchskontakt als besonders liebevolle, verständige Mutter, wird es für das Kind unverständlich, warum es nicht mit seiner Mutter zusammenleben kann. Aber das Kind ist auch traurig, falls es keine Emotionen von der Mutter erhält. Sowie die Mutter sich nicht als Person einbringen darf, kann das Kind leicht zu dem Schluss kommen, es sei seiner Mutter gleichgültig. Wenn die Mutter weint, wird die Trennung noch einmal deutlich, und sie kann an dieser Stelle bearbeitet werden. Solange es darum geht, »eine möglichst schöne, gemeinsame Zeit miteinander zu verbringen«, ist die Realität ausgeklammert. Auch die Kinder müssen die Möglichkeit haben, beim Besuchskontakt ihre Gefühle und ihren Trennungsschmerz äußern zu können. Ein Besuchskontakt kann nicht immer einvernehmlich verlaufen. Vielleicht will das Kind die Mutter anschreien: »Warum hast du mich abgegeben, warum nimmst du immer noch Drogen, warum darf ich nicht mitkommen?« Für Pflegeeltern ist es aber nicht unbedingt ein guter Besuchskontakt mit den Eltern, wenn das Kind verwirrt nach Hause kommt. Der Umgang mit dem Kind ist für sie deutlich schwerer als vorher. Die Regelungen für den Kontakt werden dann noch einmal mit den Pflegefachkräften neu besprochen, und es gibt eventuell Konsequenzen, wie zum Beispiel, den Kontakt zu reduzieren oder ihn sogar ganz auszusetzen. Der 5-jährige Martin lebt seit ein paar Monaten in einer Pflegefamilie. Seine Mutter soll sich nach einem Psychiatrie-Aufenthalt stabilisieren. Dann soll entschieden werden, ob Martin zu ihr zurückkommen kann.

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Elternberatung der Pflegekinderdienste

Es ist abgesprochen, dass Martins Mutter jeden zweiten Abend um 18 Uhr mit ihrem Kind telefonieren darf. Bei den ersten Gesprächen weinte sie am Telefon und sagte zu Martin, wie sehr sie ihn liebe und vermisse. Martin zeigte sich nach den Gesprächen aggressiv, wollte nicht schlafen gehen und nässte wieder ein. Es fand ein Gespräch mit den Pflegeeltern, der Mutter und der Pflegefachkraft statt. Bei diesem Gespräch wurde vereinbart, dass die Mutter bei den Telefonaten nicht von sich sprechen solle, nicht weinen dürfe, aber Martin nach seinen Erlebnissen im Kindergarten und mit seinen Freunden fragen solle. Außerdem sei es ganz wichtig, dass die Mutter pünktlich anrufe. Um wenige Minuten nach 18 Uhr solle die Pflegefamilie in Zukunft das Telefon ausschalten. Martins Mutter könne regelmäßig an der Elterngruppe, die der Pflegekinderdienst anbietet, teilnehmen. Dort könne sie über ihre Wut und Trauer, nicht mehr mit Martin zusammenzuleben, sprechen. Sie könne auch von guten Zeiten erzählen, wie sie sich auf das Kind gefreut hatte, dass sie die Schwangerschaft genoss, wie wohl sie sich mit dem Baby fühlte. Mit Martin dürfe sie nicht mehr darüber sprechen.

Aber wo lässt Martin seine Wut und seine Trauer? Seine Mutter soll sich zurückhalten, damit der Junge nicht furchtbar niedergedrückt ist und seinen Pflegeeltern Stress bereitet. Martin ist aber unbedingt traurig, wenn er von seiner Mutter keine Emotionen mehr erfährt. Steht in diesem Fall wirklich das Wohl des Kindes im Vordergrund, oder sollen nicht vielmehr die Pflegeeltern geschont werden? Gilt es die Mütter kompatibel zu machen, damit sie das Pflegeverhältnis weniger stören? Die meisten Eltern, deren Kinder in Pflegestellen untergebracht sind, leiden unter Schuldgefühlen. Sie haben als Mutter oder als Vater versagt, sie sind nicht in der Lage, ihre Kinder selbst großzuziehen. Dass sie schlechte Eltern sind, macht ihnen auch ihre Umwelt immer wieder deutlich. Wie viel Raum hat das Thema Schuldgefühle in der Elternberatung? Wir haben keinen Ansatz zur Bearbeitung gefunden. Die Notwendigkeit der Arbeit mit den Eltern ist inzwischen in die Aufmerksamkeit der Pflegedienste gerückt. Es gibt engagierte Mitarbeiter,

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die sich für die Eltern der Kinder in Pflegeverhältnissen zuständig fühlen. Uns fehlt aber ein radikalerer systemischer Ansatz, bei dem Eltern, Kinder, Pflegeeltern und auch Großeltern und Geschwister, soweit vorhanden, gemeinsam gesehen werden.

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Elternberatung der Pflegekinderdienste

Unterbringungsmöglichkeiten für Kinder, die nicht bei ihren Eltern leben können

Familienwohnen Viele Kinder- und Jugendheime bieten seit einigen Jahren das sogenannte Familienwohnen an. Das bedeutet, Eltern oder ein Elternteil werden mit ihren Kindern im Heim aufgenommen und dort betreut. Familienwohnen soll eine Fremdplatzierung der Kinder verhindern, wenn es in der Familie große Probleme gibt. In Bremen bieten unter anderem »Alten Eichen – Perspektiven für Kinder und Jugendliche gemeinnützige GmbH« und die St. Petri Kinder- und Jugendhilfe Familienwohnen an. Beide Einrichtungen haben ein gemeinsames Konzept entwickelt. Dort heißt es: »Die Familienwohnung ist ein ambulantes Angebot für Multiproblemfamilien, in denen über längere Zeit krisenhafte Bedingungen herrschen, die das Kindeswohl gefährden und die durch andere ambulante Maßnahmen nicht zu beheben sind«8. Das Familienwohnen unterscheidet sich von anderen Hilfsangeboten dadurch, dass die Familie nicht in ihrer Wohnung betreut wird, sondern auf dem Gelände der jeweiligen Sozialeinrichtung wohnt. Pädagogische Mitarbeiter des Heimes unterstützen die Familie beim »Aufbau und Training der Erziehungsfähigkeit« und helfen ihr bei der Strukturierung des Alltags (Alten Eichen u. St. Petri Kinderheim, Konzeptionspapier). Voraussetzung für das Familienwohnen ist die Befürwortung der Wohnform durch den Fallmanager des zuständigen 8 Internes Konzeptionspapier des St. Petri Kinderheims und der Jugendhilfeeinrichtung Alten Eichen in Bremen zur Vorlage beim Jugendamt, ohne Jahres- und Seitenangabe. Im Folgenden wird die Quelle mit »Alten Eichen u. St. Petri Kinderheim, Konzeptionspapier« angegeben.

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Jugendamtes. So werden nur Familien aufgenommen, denen der Fallmanager eine »ausreichende Motivation bei der Hilfe mitzuwirken und grundlegende Ressourcen, die durch diese Hilfeform aktiviert und verstärkt werden« bescheinigt (Alten Eichen u. St. Petri Kinderheim, Konzeptionspapier). Das Angebot Familienwohnen richtet sich an Familien mit mehreren Kindern, die aufgrund großer Belastungen ihre Erziehungsaufgaben nicht bewältigen können. Dabei kann es sich um Eltern handeln, die von Alkohol, Drogen oder Medikamenten abhängig waren, die psychische Probleme haben, die mit Hausarbeit und Gestaltung des Alltags überfordert sind, deren Kinder stark vernachlässigt sind oder Gewalt erlebt haben, bereits stationäre Hilfsangebote hinter sich haben und starke Auffälligkeiten zeigen. Das Team, das in den Einrichtungen im Bereich Familienwohnen arbeitet, führt eine Art Vorstellungsgespräch mit der eventuell aufzunehmenden Familie. Erst danach entscheidet sich, ob die Familie aufgenommen wird. Ist dann die Familie für das Familienwohnen vorgesehen, wird zusammen mit dem Fallmanager ein konkreter Hilfeplan erarbeitet. In diesem Zusammenhang werden auch die Umzugsmodalitäten der Familie besprochen. Der Umzug selbst findet dann meist mit Unterstützung des Betreuungsteams für das Familienwohnen statt. Die Maßnahme Familienwohnen wird in drei Phasen eingeteilt. Die erste Phase besteht in der Kontaktaufnahme, dem Erstellen eines Handlungsplanes und der Vereinbarung von Zielen. Die zweite Phase ist die Betreuungsphase, in der der Handlungsplan umgesetzt werden soll. Sie dauert zwischen 6 und 24 Monaten. In der dritten Phase findet der Übergang in die eigene Wohnung statt. Während der Betreuungsphase sollen die Eltern durch intensive Hilfestellung und Begleitung befähigt werden, ȤȤ ihre Erziehungsaufgaben zu erfüllen, ȤȤ Strukturprobleme im Alltag zu bewältigen, ȤȤ Konflikte und Krisen zu lösen, ȤȤ den Kontakt zu Ämtern und Institutionen zu verbessern, ȤȤ Bindungen und Beziehungen zu festigen.

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Unterbringungsmöglichkeiten für Kinder

»Die Betreuung und Begleitung der Familien erfolgt durch regelmäßiges aktives Aufsuchen in der Wohnung. Sie ist gekennzeichnet von systemischen Beratungsgesprächen, Trainings- und Schulungsangeboten, gemeinsamen Unternehmungen und ggf. erlebnispädagogischen Elementen« (Alten Eichen u. St. Petri Kinderheim, Konzeptionspapier). Erreicht werden soll unter anderem, dass sich alltagspraktische Fähigkeiten wie Haushaltsführung oder Umgang mit Geld verbessern, die Eltern auf Hygiene und ärztliche Versorgung ihrer Kinder achten, Schuldenregulierung in Anspruch nehmen, ihre Kinder regelmäßig in den Kindergarten und in die Schule schicken. Das Ziel des Familienwohnens ist laut Konzept eine zeitweise oder dauerhafte und häufig traumatisierend erlebte Trennung von Kindern und Eltern/Müttern möglichst zu vermeiden, die Familie soweit zu fördern, dass sie mit deutlich verringerten Hilfestellungen ihren Alltag bewältigen kann und dass die Familie in Zukunft ein eigenständiges und eigenverantwortliches Leben mit den Kindern führen kann. Familienwohnen ist ein guter Ansatz. Bei ihm können Mütter (oder auch Eltern) mit ihren Kindern zusammenbleiben, die sonst vom Pflegesystem getrennt werden würden. Gut und wichtig ist bei diesem Konzept auch, mit den Familien systemisch zu arbeiten und mit ihnen eine Strukturierung des Alltags zu erreichen. Allerdings muss der Fallmanager des Jugendamtes der Familie die dafür notwendige richtige Einstellung und das Entwicklungspotenzial bescheinigen. Was ist, wenn diese Ressourcen fehlen? Falls es wichtig ist, den Kindern die »häufig traumatisierend erlebte Trennung« (Alten Eichen u. St. Petri Kinderheim, Konzeptionspapier) zu ersparen, dann müssten auch Familien ohne Ressourcen Aufnahme ins Familienwohnen finden. Es könnten gerade in dieser Wohnform die Kinder durch die Mitarbeiter der Einrichtung weiter betreut werden, wenn die Mutter zum Beispiel ein paar Tage verschwindet. Dann wäre die Maßnahme Familienwohnen nicht in drei Phasen angelegt, sondern eine Langzeitmaßnahme, wie die Unterbringung von Kindern in Pflegestellen oder Heimen.

Familienwohnen

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Familie Schröder Das Familienwohnen könnte für Eltern und Kinder eine gute Möglichkeit sein zusammenzuleben, auch wenn die Probleme groß sind. Aber was in der Theorie positiv klingt, wird nicht immer praktisch umgesetzt, wie das Beispiel eines alleinerziehenden Vaters zeigt. Familie Schröder hatte es von Anfang an nicht leicht. Beide Elternteile, Volker und Inge, sind in Pflegefamilien und Kinderheimen aufgewachsen. Volker ist als Jugendlicher mehrmals straffällig geworden und hat eine Jugendstrafe abgesessen. Inge brach ihre Ausbildung zur Verkäuferin ab, als sie mit dem ersten Sohn Kevin schwanger war. Das Geld war immer knapp. Manchmal arbeitete Volker, manchmal kam das Geld vom Sozialamt. Die beiden anderen Söhne, Marco und Lion, wurden kurz hintereinander geboren. Volker war oft nicht zu Hause, mal hatte er eine Freundin, mal arbeitete er in einer anderen Stadt. Die Kinder wurden Inge bald zu viel. Sie litt an Depressionen und nahm Medikamente. Das Jugendamt stellte ihr eine Familienhelferin zur Seite, aber diese Hilfe war auf Dauer nicht ausreichend. Inge wurde einige Male in die Psychiatrie eingewiesen. In diesen Zeiten gab Volker seine Arbeit auf und versorgte die Kinder. Es kam zur Trennung der Eltern. Die drei Jungen blieben zunächst bei Inge. Aber bald meldete sie sich beim Jugendamt. Sie fühlte sich mit den Kindern überfordert, erklärte sie. Außerdem habe sie einen neuen Freund. Der möchte gern mit ihr zusammenleben, aber nicht mit den Jungen. So kamen die Kinder zu Volker. Die Familie lebte jetzt vom Sozialamt. Das Geld war stets knapp. Es mussten Schulden zurückgezahlt werden, die Volker und Inge gemeinsam gemacht hatten, und es entstanden auch neue Schulden. Teure Handys wurden gekauft, eine neue Waschmaschine und ein Trockner wurden angeschafft, die Jungen bekamen die neuesten Spielkonsolen zu Weihnachten. Volker verlor die Übersicht über die Ausgaben, und der Gerichtsvollzieher kam ins Haus. Probleme gab es auch, wenn die Kinder am Wochenende Inge besuchten. Oft stritten sich Inge und ihr neuer Freund in Gegenwart der Kinder, manchmal sagte Inge die Besuche auch ganz kurzfristig ab. Die Familienhelferin versuchte Schulden zu regulieren, zwischen den Eltern zu vermitteln, Volker zu überzeugen, dass er die Kinder

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Unterbringungsmöglichkeiten für Kinder

regelmäßig zur Schule schicken müsse. Volker wehrte ab. Er würde es schon schaffen, wenn Inge sich mehr um die Kinder kümmern würde. Sie habe keine Depressionen, sie sei nur faul. Ganz schwierig wurde es, als Volker die Kündigung von seinem Vermieter erhielt. Das Sozialamt bezahlte regelmäßig die Miete auf Volkers Konto, aber er hatte sie nicht an den Vermieter weitergegeben. Die Familienhelferin versuchte, die Kündigung rückgängig zu machen. Als das nicht gelang, bemühte sie sich, eine neue Wohnung zu finden. Aber auch da hatte sie kein Glück, und der Familie drohte die Obdachlosigkeit. Der Sozialarbeiter des Jugendamtes schlug vor, Volker und seine Söhne im Familienwohnen eines Kinderheimes unterzubringen. Volker war einverstanden. Er sah in dieser Maßnahme eine Möglichkeit, mehr Unterstützung und Hilfe zu bekommen. Volker wurde in zwei Kinderheimen zu Vorstellungsgesprächen eingeladen und beide Male als Bewohner für das Familienwohnen abgelehnt. Eine Erklärung erhielt er für diese Entscheidung nicht. Monate später fand Volker eine neue Wohnung, aber der Umzug gestaltete sich sehr problematisch. Nachbarn, die ihre Hilfe angeboten hatten, erschienen nicht. Eine Umzugsfirma konnte Volker sich nicht leisten und der Sperrmüll sammelte sich im Treppenhaus. Der Vermieter hatte eine Räumungsklage eingereicht. In dieser Situation sah sich das Jugendamt gezwungen, die Kinder in Obhut zu nehmen. Heute leben die drei Jungen in einem Kinderheim und Volker bei einer Freundin. Das Jugendamt versucht, eine Pflegefamilie zu finden, bei der die Kinder zusammenleben können. Aber das erscheint ziemlich aussichtslos.

Dagmars Familie Das Familienwohnen wäre auch für Dagmar und ihre Familie eine gute Lösung. Dagmar ist bereits zum dritten Mal obdachlos. Sie hatte es wieder nicht geschafft, die Wohnung, die sie mit Hilfe des Jugendamtes und ihrer Familienhelferin bekommen hatte, zu behalten. Sie hatte Termine beim Arbeitsberater des Jobcenters nicht eingehalten und nicht gesagt, dass sie Treppenhäuser in einem Wohnblock putzte, um sich ein biss-

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chen Geld dazuzuverdienen. Das Jobcenter hatte nach mehreren Verwarnungen die Zahlungen, auch die Mietzahlungen, eingestellt. Nun steht Dagmar mit ihren vier Kindern, die noch bei ihr leben, auf der Straße. Das Jugendamt handelt schnell und bringt die beiden zwölf und neun Jahre alten Mädchen und die 7- und 5-jährigen Jungen in einem Kinderheim unter. Dagmar hat sieben Kinder. Der 18-jährige Andreas besucht die 11. Klasse einer technischen Berufsschule. Er lebt in einer Ein-ZimmerWohnung und wird vom Jugendamt nach § 41 Kinder- und Jugendhilfegesetz betreut. Zwei Mädchen, die 15-jährige Anna und die 14-jährige Lisa, leben bei ihrem Vater und seiner neuen Familie in Süddeutschland. Der Vater hätte auch gern die 12-jährige Tanja bei sich aufgenommen, aber Tanja wollte das nicht. Die drei jüngsten Kinder, die 9-jährige Jasmin, der 7-jährige Mattes und der 5-jährige Max haben andere Väter, zu denen kein Kontakt besteht. Dagmar ist sehr unglücklich. Sie hängt an ihren Kindern und will mit ihnen zusammenleben, aber sie schafft es nicht, alle Bedingungen der Ämter zu erfüllen, was Maßnahmen immer wieder scheitern lässt. Dagmar selbst wuchs in verschiedenen Pflegestellen auf. Mit 19 Jahren und zwei gescheiterten Ausbildungsversuchen, lernte sie Andreas’ Vater kennen, der sie schon während der Schwangerschaft verließ. Zwei Jahre lebte Dagmar mit Andreas in einem Mutter-Kind-Haus und versuchte, einen Hauptschulabschluss nachzumachen, was ihr nicht gelang. Als sie den späteren Vater ihrer drei ältesten Töchter kennenlernte, zog sie gleich mit Andreas zu ihm. Der Mann heiratete Dagmar, als Anna unterwegs war. In kurzer Reihenfolge kamen auch Lisa und Tanja auf die Welt. Dagmar fühlte sich mit vier kleinen Kindern völlig überfordert. Ihr Ehemann arbeitete zwar, trotzdem fehlte das Geld überall. Oft kam es deshalb zum Streit. Die Wohnung war ein einziges Chaos, die Kinder schmutzig und ungepflegt. Das Jugendamt stellte Dagmar eine Familienhelferin zur Seite, die sich sehr bemühte, die Familie zu unterstützen. Der Ehemann hatte sich inzwischen getrennt.

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Unterbringungsmöglichkeiten für Kinder

Trotz der Hilfe der Familienhelferin verlor Dagmar die Wohnung. Die Anträge zur Mietübernahme waren beim Amt zu spät eingegangen. Der private Vermieter hatte bereits gekündigt. Nur weil Dagmar mit dem fünften Kind schwanger war, gelang es dem Jugendamt, eine neue Wohnung für die Familie zu finden und die Mietübernahme zu regeln. Als Jasmin geboren wurde, ging Andreas in die 4. Klasse und Anna in die 1. Beide Kinder wurden nach der Schule bis 16 Uhr im Hort betreut, Lisa und Tanja besuchten den Kindergarten. Auch wenn Dagmar tagsüber mit Jasmin allein war, fühlte sie sich überfordert. Sie brachte Lisa und Tanja in den Kindergarten, saß dann oft stundenlang im Park und trank Bier mit obdachlosen Männern. Jasmin schlief im Kinderwagen neben ihr. Als Dagmar wieder ihre Wohnung verlor, meldete sich ihr Ex-Mann beim Jugendamt. Er lebte in einer neuen Beziehung und wollte seine drei Töchter zu sich nehmen, um ihnen einen erneuten Heimaufenthalt zu ersparen. Seit knapp acht Jahren leben Anna und Lisa jetzt beim ihrem Vater, Tanja wollte nicht zu ihm. Sie und Jasmin gingen wieder ins Kinderheim, Andreas kam in eine Jugendwohngruppe. Dagmar schlief auf Parkbänken, in Hauseingängen oder sie ging mit Männern, die ihr einen Schlafplatz anboten. Sie trank viel und aß wenig. Als sie mit Mattes schwanger wurde, wusste sie nicht, wer der Vater war. Mattes kam zu früh auf die Welt. Er wog 1900 Gramm und blieb vier Monate im Krankenhaus. Dagmar saß an seinem Bettchen, und sie besuchte Tanja und Jasmin im Kinderheim. Die zuständige Sozialarbeiterin fand eine neue Mutter- Kind-Einrichtung, in der Dagmar mit Mattes leben konnte. Andreas fühlte sich in seiner Wohngruppe wohl. Dort wollte er bleiben. Dagmar vermisste Tanja und Jasmin sehr, aber das Jugendamt blieb hart. Die Mädchen würden im Kinderheim wohnen, bis Dagmar sich stabilisiert hätte. Noch während der Zeit mit Mattes im Mutter-Kind-Haus wurde Max geboren. Auch er hatte keinen (anwesenden) Vater. Dagmar versorgte die beiden Jungen und trank nur noch selten. Die Möglichkeit, auch Tanja und Jasmin zu sich zu nehmen, gab es in diesem Haus nicht. Im Gegenteil, die Kostenzusicherung des Jugendamtes lief aus, als Max drei Jahre alt wurde. Dagmar versuchte, mit allen Mitteln eine Woh-

Familienwohnen

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nung für sich und ihre vier jüngsten Kinder zu bekommen. Weil aber Tanja und Jasmin nicht mit ihr zusammen polizeilich gemeldet waren, erhielt sie keine Kostenzusicherung für eine Wohnung für fünf Personen. Außerdem zögerte das Jugendamt, Dagmar die beiden Mädchen zurückzugeben. Auch traute man ihr nicht zu, Mattes und Max allein zu versorgen, wenn die Unterstützung des Mutter-Kind-Hauses wegfiele. Dagmar war verzweifelt. Sie traf sich wieder mit ihren Trinkfreunden im Park und vor dem Hauptbahnhof. Das Jugendamt traf gemeinsam mit dem Kinderheim, in dem Tanja und Jasmin lebten, eine Entscheidung: Man würde für die vier Geschwister eine Außenwohngruppe des Heimes einrichten und die Kinder gemeinsam betreuen. Bald konnte ein Einfamilienhaus in einem Wohngebiet angemietet werden. Die Kinder werden nun von sechs Erzieherinnen und Erziehern rund um die Uhr betreut. Die wirtschaftliche Jugendhilfe zahlt einen Tagessatz von 220 Euro pro Kind an das Kinderheim. Dagmar ist wieder obdachlos. Manchmal übernachtet sie bei Andreas. Oder sie schläft in der Übernachtungseinrichtung der Inneren Mission für obdachlose Frauen. Ihre Kinder besucht sie fast täglich. Gern würde auch sie hier in diesem Haus leben, zusammen mit ihren Kinder und den Erziehern. Eine solche Unterbringung lehnt das Kinderheim aber ab. Es würde die pädagogischen Abläufe im Haus stören, heißt es von der Heimleitung.

Bleibt tatsächlich die Frage, ob bei Kosten von über 26.000 Euro im Monat die Betreuung der Mutter nicht mit geregelt werden könnte.

Mutter-Kind-Häuser Mutter-Kind-Häuser gibt es etwa seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Vorläufer dieser Einrichtungen waren oftmals Häuser für gefallene Mädchen – so bezeichnete man damals junge Frauen, die von gängigen Moralvorstellungen abwichen. In den entsprechenden Anstalten fanden »gefallene Mädchen längere Zeit Aufnahme und Vorbereitung für ein neues, geordnetes Leben« (Meyers Großes Konversations-Lexikon, 1908, S. 57). Oft waren die jungen Frauen schwanger, ihre Partner hatten sie »sitzen gelassen«. In den Heimen arbeiteten

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Unterbringungsmöglichkeiten für Kinder

sie für Unterkunft und Essen in Wäschereien, Schneidereibetrieben oder sie erledigten Gartenarbeiten. Die Kinder kamen schon kurze Zeit nach der Geburt in Pflegefamilien oder in Kinderheime. Die Mütter mussten für ihren und den Lebensunterhalt der Kinder arbeiten und sahen ihre Kinder nicht oft. Manchmal wurde den Müttern auch nahegelegt, das Kind zur Adoption freizugeben. So könne das Kind in einer Familie aufwachsen und sie selbst hätten eine Chance, doch noch einen Ehemann zu finden. Die heutigen Mutter-Kind-Häuser arbeiten anders. Sie nehmen junge Frauen zwischen 16 und manchmal bis zu 35 Jahren auf, wobei noch nicht volljährige Frauen besonders betreut werden. Alle Frauen befinden sich in schwierigen Lebenssituationen. Sie sind schwanger oder haben ein kleines Kind, und sie haben keine Unterstützung durch den Vater ihres Kindes oder durch ihre Eltern. Viele Frauen haben keinen Schulabschluss und keine Berufsausbildung. In den meisten Mutter-Kind-Häuern gibt es die Möglichkeit, schon bald nach der Geburt des Kindes mit der Schule oder der Berufsausbildung zu beginnen. Die Kinder werden in dieser Zeit von Erzieherinnen betreut. Es gibt eine enge Zusammenarbeit mit den Familienhebammen und dem Jugendamt. Mütter und Kinder leben gemeinsam in kleinen Wohnungen. Dabei müssen die jungen Frauen in allen Einrichtungen in der Lage sein, sich und ihr Kind zu versorgen. Das heißt, dass Frauen mit Alkohol- und Drogenproblemen sowie Frauen mit wesentlichen Behinderungen und psychisch kranke Mütter nicht im Mutter-Kind-Haus leben können. Als Zielgruppe für das Leben in einem Mutter-Kind-Haus werden häufig Frauen genannt, bei denen, würden sie mit ihren Kindern allein leben, das Kindeswohl gefährdet wäre und so eine intensive Betreuung wichtig ist. Aus vielen Mutter-Kind-Häusern sind heute Mutter-Vater-Kind-Häuser geworden. Das heißt, dass alleinerziehende Väter ab 16 Jahren genauso aufgenommen werden wie junge Mütter. Mutter-Kind-Häuser sind vergleichbar mit dem Familienwohnen, das einige Einrichtungen anbieten. Allerdings ist das Aufnahmealter der Frauen (oder Männer) begrenzt, und es handelt sich bei den Kindern meist nur um ein noch kleines Kind. Häufig können die jungen Frauen maximal drei Jahre in der Einrichtung bleiben. Schwierig wird

Mutter-Kind-Häuser

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es, wenn diese Zeit nicht ausreicht. Neben der Möglichkeit, länger dort zu bleiben, wäre eine sinnvolle Erweiterung dieser Maßnahme, wenn Mütter mit psychischen Problemen Aufnahme in einem Mutter-Kind-Haus fänden. Dort könnte man ihnen die Unterstützung bieten, die sie zum Zusammenleben mit ihrem Kind brauchen.

Leinerstift Das Leinerstift ist eine Jugendhilfeeinrichtung, die ihren Hauptsitz in Großefehn/Ostfriesland hat. Gegründet wurde die Einrichtung Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst als Armenhaus von Pastor Johann Heinrich Leiner. Als es schwierig wurde, Erwachsene und verwaiste Kinder zusammen unterzubringen, entstand ein Waisenhaus, das sich im Laufe von 150 Jahren zu einer modernen Jugendhilfeeinrichtung entwickelt hat. In Niedersachsen ist nicht die gesamte Arbeit mit Pflegestellen (§ 33 SGB VIII) ausgelagert, wie zum Beispiel in Hamburg und Bremen, wo sie von den Pflegediensten geleistet wird, sondern sie bleibt bei den Jugendämtern. Aber auch die Jugendämter der verschiedenen Landkreise gehen unterschiedlich mit der Pflegekinderhilfe um. Das Leinerstift bietet keine Pflegestellen, sondern Erziehungsstellen nach § 34 SGB VIII an. Seit 2002 werden vom Leinerstift Erziehungsstellenkinder aufgenommen, die mittelfristig oder dauerhaft von ihren Familien getrennt leben müssen. Erziehungsstellen sind ein Teil der öffentlichen Jugendhilfe. Sie unterscheiden sich insoweit von Pflegestellen, dass eine Person aus der Familie, die ein Kind aufnehmen möchte, pädagogisch ausgebildet ist. Diese Person ist beim Träger, in diesem Fall beim Leinerstift, angestellt. Anders als bei Pflegestellen üblich, wird ein Gehalt bezogen und in die Rentenkasse eingezahlt. Regelmäßige Fachberatung durch den Träger, Supervision, Kommunikation mit den Sorgeberechtigten (Eltern oder Vormund) und Teilnahme an den Hilfeplangesprächen werden geboten. Das Leinerstift hält die Elternarbeit für sehr wichtig. Gesetzlich sei allerdings nicht geklärt, welche Institution mit den Eltern arbeiten solle, so die Kritik, die in unserem Gespräch von den Mitarbeiterinnen formuliert wurde. Auch die entsprechende Finanzierung

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Unterbringungsmöglichkeiten für Kinder

sei unklar. Das Leinerstift wünsche sich einen Kontakt mit der Herkunftsfamilie der Kinder auf Augenhöhe, weil das letztlich dem Kindeswohl diene. In der Praxis sei das aber sehr schwer, da es oft große Konkurrenzen zwischen den Eltern und den Erziehungsstellen gebe. So sei es für manche Eltern nur schwer auszuhalten, dass es dem Kind in der Erziehungsstelle gut gehe. Oft komme dann die Frage: »Es geht dir doch nun gut, wann kommst du nach Hause?« Die Kinder hätten so keinen sicheren Ort und gerieten in einen Loyalitätskonflikt. Die Eltern dürften gleichzeitig nicht den Eindruck haben, als Schuldige abgestempelt zu werden. Vertrauen müsse in kleinen Schritten aufgebaut werden, denn am Anfang der Zusammenarbeit gebe es oft große Vorbehalte. Dann hätten die Eltern das Gefühl, diejenigen bekämpfen zu müssen, die ihnen das Kind weggenommen haben. Wenn die Eltern dann die Arbeit der Fachberatung akzeptieren lernen, würde die Zusammenarbeit besser. Die Frage sei immer wieder, was können die Eltern leisten und was können die Kinder aushalten? Manche Kinder bräuchten ihre Eltern schnell, wenn sie in eine Erziehungsstelle kommen, andere bräuchten Zeit, um sich an die neue Situation zu gewöhnen. Auch wenn die Mutter ihr Kind unter Umständen misshandelt hätte, würde der Kontakt langsam aufgebaut werden. Aber immer gelte: Was für das Kind gut ist, steht an erster Stelle. Wichtig sei es, klarzustellen, dass die Kinder, die in Erziehungsstellen leben, Eltern haben und mit denen müsse man wertschätzend umgehen. Früher habe man oft gesagt, Elternarbeit bringe alles durcheinander. Die Eltern untergebrachter Kinder sollten möglichst aus der Arbeit herausgehalten werden. Heute sehe man das anders. Wenn die Kinder keinen Kontakt zu ihren Eltern hätten, würden sie sich ein bestimmtes, möglicherweise glorifiziertes Bild von ihren Eltern aufbauen. Das schlimmste Trauma für ein Kind sei es, von seinen Eltern getrennt zu werden, egal, was die Eltern gemacht hätten. Die Kinder hätten nur die einen Eltern. Daher sei der Kontakt zwischen beiden Parteien auch so wichtig. Das Leinerstift als Träger sehe die Bedeutung der Besuchskontakte ein und würde gern mehr realisieren. Telefongespräche zwischen Eltern und Kindern gebe es meist schon in der ersten Woche

Leinerstift

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nach der Unterbringung. Guter Kontakt verhindere Abbrüche. Regelmäßiger Kontakt zur Herkunftsfamilie werde so wichtig genommen, dass auch Mütter in der Frauenhaftanstalt Vechta von ihren Kindern Besuch bekämen. Ein Ergebnis für eine gute Zusammenarbeit zwischen Eltern und Träger könne es sein, dass, wenn das Kind auf Dauer in einer Erziehungsstelle bliebe, die Eltern diese Entscheidung unterstützen würden. Dann könne das Kind seine Eltern am Wochenende besuchen und die Ferien bei ihnen verbringen. Die Fachberatung für Erziehungsstellen des Leinerstifts findet es äußerst schwierig, mit dem Kind, der Erziehungsstelle und gleichzeitig mit der Herkunftsfamilie zu arbeiten. Das sei eigentlich nicht möglich. Aber für eine getrennte Elternberatung gebe es keine finanziellen Mittel. Seitens der Jugendämter fehle es oft an Klarheit und Transparenz bei der Unterbringung von Kindern. Da werde den Eltern suggeriert, dass das Pflegeverhältnis nur vorübergehend sei: Die Mutter dürfe sich erholen, und anschließend würde sie das Kind wiederbekommen. Das sei nicht die Realität. Wie könne eine Maßnahme gelingen, wenn die Mutter im Kopf hat, mein Kind kommt später »repariert« zurück? Es sei möglich, dass eine Mutter unter diesen Voraussetzungen zu ihrem Kind sage: »Du machst jetzt so eine Art Urlaub, ich besuche dich ganz oft und spätestens in zwei Jahren bist du zurück.« Das Kind könne sich dann in der Erziehungsstelle nicht heimisch fühlen, sondern wolle nur nach Hause. Die Fachberaterinnen würden es sehr schätzen, wenn Eltern, die ihr Kind in eine Erziehungsstelle geben, jemanden zur Unterstützung an ihrer Seite hätten. Aber sie hätten da auch schlechte Erfahrungen gemacht. Die Familienhelferin, die weiterhin die Eltern und Geschwister des Kindes, das in der Erziehungsstelle lebt, betreue, habe oft nicht den nötigen Abstand, um eine gute Unterstützung für das ganze System zu sein. Am Konzept des Leinerstifts ist positiv, dass die Pflegeeltern (hier: Erziehungsstelleneltern) bei der Einrichtung angestellt sind und ein Gehalt beziehen. Für ihre Aus- und Weiterbildung wird viel getan. Sie werden in der Zeit, in der sie ein Kind bei sich aufgenommen haben, fachlich betreut und nehmen an Supervisionen teil. Eine Fachkraft für die Elternbetreuung ist nicht vorgesehen. Dafür fehlt

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Unterbringungsmöglichkeiten für Kinder

das Geld. Es wäre aus unserer Sicht sinnvoll, das vorhandene Geld zwischen der Fachberatung für die Erziehungsstelleneltern und einer Fachkraft für die Elternberatung aufzuteilen.

Leinerstift

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Exkurs: Aus der Praxis des Pflegekinderwesens

Christian Christian wird am 3. Juni 2014 in Bremen geboren. Seine Eltern, Florian und Bozena, beide Anfang 30, freuen sich auf dieses Kind. Formal ist Christians Mutter noch mit einem anderen Mann verheiratet, aber die Scheidung ist eingereicht. Während der Schwangerschaft leidet Bozena an Depressionen. Auch nach der Entbindung erholt sie sich nicht schnell, so dass die Familie vereinbart, Christian zunächst bei seinem Vater Florian und dessen Eltern in Cuxhaven zu versorgen. Das Jugendamt überprüft nicht, ob es dem Kind hier gut geht. Schon kurze Zeit später möchte die Mutter ihr Baby bei sich haben, und zwei Behördenmitarbeiterinnen holen Christian mit Unterstützung der Polizei ab. Vor diesem Einsatz fand von Seiten des Jugendamtes weder ein Gespräch mit der Mutter, noch mit dem Vater und den Großeltern statt. Der Mutter wird am 1. Juli 2014 ohne eine Anhörung das Sorgerecht entzogen. Einen Termin gibt es erst am 25. Juli, und noch an diesem Tag wird Christian zum zweiten Mal abgeholt und in ein Kinderheim gebracht. Kurze Zeit später kann Bozena mit Christian in ein Mutter-Kind-Haus ziehen, aber Florian darf keinen Kontakt mehr zu seinem Sohn und dessen Mutter haben. Im September 2014 wird Bozena erklärt, dass sie Christian zur Kindeswohlsicherung wieder abgeben soll. Wieder wird der Junge mit Unterstützung der Polizei abgeholt. Das Kind wird der Mutter förmlich aus den Armen gerissen, weil Bozena sich weigert, ihr Baby auszuhändigen. Christian wird keineswegs seinem Vater übergeben, der ihn am Anfang seines Lebens nachweislich gut betreute, sondern er wird in einer Pflegefamilie untergebracht. Wo Christian nun lebt, wissen seine Eltern und Großeltern nicht. Im Oktober 2014 bestätigt das Familiengericht in Bremen die Entscheidung zum Sorgerechtsentzug.

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Florian hat seinen Sohn seit sieben Monaten nicht mehr gesehen. Der Besuchskontakt ist ausgesetzt. Bozena hat begleiteten Umgang mit ihrem Kind. Ihr wird allerdings untersagt, mit dem Baby in ihrer Muttersprache zu sprechen. Einleuchtende Gründe gibt es für diese Aufforderung nicht. Florian und seine Eltern, Sabine und Rüdiger, sollen begutachtet werden. Erst danach wäre ein Besuchskontakt möglich. Die Großeltern, beide pensionierte Lehrer, arbeiteten über 30 Jahre an verschiedenen Schulen und unterrichteten mehrere hundert Kinder. Sie sind empört und finden, ein Erziehungsfähigkeitsgutachten käme reichlich spät. Das Jugendamt beantwortet Briefe und E-Mails von Eltern und Großeltern nicht mehr, seit die Familie montags vor dem Jugendamt demonstriert. Dieser Versuch, endlich gehört zu werden, wird besonders dem Vater negativ ausgelegt. In einem Schreiben der Fallmanagerin heißt es: »Der Vater ist offenbar weniger an Kontakten zu seinem Sohn interessiert, als an der öffentlichen Kundgebung seiner Situation.«

Bei Küfner, Helming und Kindler heißt es: »Eltern haben grundsätzlich das Recht auf und die Verpflichtung zu Kontakten zu ihrem Kind. Eine von außen durchgesetzte, längerfristige Einschränkung ist nur erlaubt, wenn das Wohl des Kindes gefährdet ist« (2011, S. 562). Im § 1684 Abs. 1 BGB wird das Recht auf Umgang zwischen Eltern und Kind gesetzlich festgehalten: »Das Kind hat das Recht auf Umgang mit jedem Elternteil«. Und wieder Küfner, Helming und Kindler: »Es [das Kind; A.R./M.B.Z.] soll die Gelegenheit haben, persönliche Kontakte zu seinen Eltern zu pflegen, wenn es nicht bei ihnen aufwachsen kann« (2011, S. 567). Es sollen die emotionalen Bindungen zu seiner leiblichen Familie aufrechterhalten bzw. aufgebaut und weiterentwickelt werden. Der Paragraf 1626 Abs. 3 BGB sagt deutlich: »Zum Wohl des Kindes gehört in der Regel der Umgang mit beiden Elternteilen. Gleiches gilt für den Umgang mit anderen Personen, zu denen das Kind Bindungen besitzt, wenn seine Aufrechterhaltung für seine Entwicklung förderlich ist.« (Also auch in diesem Fall der Kontakt zu den Großeltern.) Die grundsätzlichen Kindes- und Elternrechte werden im Fall von Christian, seinen Eltern und Großeltern außer Acht gelassen.

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Exkurs: Aus der Praxis des Pflegekinderwesens

Hier wirken Beschlüsse des Familiengerichtes, die auf Vorgabe des Jugendamtes erlassen worden sind, familienzerstörend. Vater und Sohn sind getrennt, es gibt keinen Besuchskontakt. Christian wird seinen Eltern immer mehr entfremdet, und eine endgültige Entscheidung ist noch lange nicht zu erwarten. Wir stellen diesen Fall so ausführlich dar, weil er für großes öffentliches Aufsehen gesorgt hat. Außerdem handelt es sich hier um eine der dubiosen anonymen Unterbringungen, das heißt: Niemand von den betroffenen Angehörigen weiß, wo sich das Kind befindet. Luca Luca kam mit seiner zweieinhalb Jahre älteren Schwester Marina mit einem Jahr zu einer Pflegefamilie. Eigentlich wollte die Familie nur Marina, nahm Luca auf Drängen des Jugendamtes aber ebenfalls auf. Es sollte ihm eine weitere traumatisierende Trennung erspart bleiben. Anfangs ging alles gut, besonders, da beide Kinder hübsch waren. Marina war ein stilles, gehorsames Kind. Luca wurde zunehmend schwierig. Als er mit sieben Jahren noch ins Bett machte und sich deshalb ein Lehrer weigerte, ihn mit auf eine Klassenfahrt zu nehmen, schlug ihn der Pflegevater zum ersten Mal. Danach steigerten sich die Misshandlungen. In der sehr schwierigen Pubertät hetzte der Pflegevater einmal den Hund, einen großen Mischlingsrüden, auf den Jungen. Da verließ Luca das Haus der Pflegeeltern und lebte einige Zeit auf der Straße.

Das Erschreckende an diesem Geschehen ist, dass die Familie sehr wohl unter Aufsicht des Jugendamtes stand. Etwa einmal im Jahr kam ein Sozialarbeiter (angekündigt) ins Haus. Dann saß die Familie, also beide Pflegekinder, ein leiblicher Sohn (der nach Lucas Aussage niemals geschlagen wurde) mit dem Sozialarbeiter am Tisch. Die Kinder wurden gefragt, ob es ihnen gut ginge. Sie antworteten mit ja. Der Mann vom Amt sah sich kurz im sauberen Haus um und sagte den Kindern, wie gut sie es hätten – jeder ein eigenes Zimmer, sowie einen großen Garten und sogar einen Hund zum Spielen.

Exkurs: Aus der Praxis des Pflegekinderwesens

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Sonja Sonja ist drogenabhängig, deshalb ist ihr Baby, auf das sie sich so gefreut hat, in einer Pflegefamilie. Nach fast einem halben Jahr darf sie ihr Kind endlich sehen – alle 14 Tage für eine Stunde. Bei einem dieser begleiteten Umgänge sitzt der inzwischen acht Monate alte Säugling beruhigt auf dem Schoß seiner Mutter. Leise singt sie ihm ein Lied vor – es ist schwer, sich in diese Situation einzufinden, allein und beobachtet von drei kritischen Augenpaaren. Die Pflegeeltern sind zu zweit gekommen, und die »Begleitung« des Umgangs ist ungeschickter Weise gleichzeitig Angestellte der vermittelnden Agentur. Dann ist die Zeit um. Die Begleiterin nimmt der Mutter das Kind energisch aus den Armen, trägt es zu den auf den der anderen Seite des Tisches sitzenden Pflegeeltern. Dabei sagt sie deutlich: »Hier haben Sie Ihr Kind wieder.« Flora Auf einer Dienstbesprechung erzählt eine Pflegestellenvermittlerin stolz von der 10-jährigen Flora, die sich lange Zeit sehr schwer in die Pflegefamilie einfügen konnte. Jetzt habe Flora ihren Platz gefunden, vermisse ihre Mutter kaum noch und stellte auf einer Geburtstagefeier, wo auch ihre Mutter dabei sein durfte, die Verhältnisse folgendermaßen klar: »Dies ist meine Bauchmutter. Und das ist meine richtige Mutter.« Die Dame von der Vermittlung war sehr stolz auf Flora. Yagmur Der Fall von Yagmur war bundesweit in den Schlagzeilen. Yagmur starb am 18. Dezember 2013 mit drei Jahren in Hamburg an den Folgen von Misshandlungen durch ihre Mutter. Seit der Geburt stand das Kind unter Aufsicht des Jugendamtes, weil die Eltern sich überfordert fühlten. Yagmur wurde in einer Pflegestelle untergebracht, die Eltern behielten aber das Sorgerecht. Zwei Jahre blieb Yagmur bei ihrer Pflegemutter. Die Wochenenden verbrachte das Kind häufig bei den Eltern. Manchmal wurde es mit Verletzungen zur Pflegemutter zurückgebracht. Die Lebensverhältnisse der Eltern stabilisierten sich und Yagmur sollte schrittweise in die Familie zurückgeführt werden. Das Jugendamt verlor bald die Übersicht über das, was in Yagmurs

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Exkurs: Aus der Praxis des Pflegekinderwesens

Leben geschah. Mit der Informationsweitergabe klappte es nicht richtig. Der Fall wurde von einer neu eingearbeiteten Mitarbeiterin des Jugendamtes übernommen. Nach schweren Misshandlungen brachten die Eltern Yagmur in ein Krankenhaus. Dort ließ man das Kind von einem Rechtsmediziner untersuchen. Der stellte schwere Verletzungen wie Knochenbrüche und Hämatome fest und gab den Fall an die Staatsanwaltschaft weiter. Yagmurs Mutter wurde zweimal vorgeladen. Als sie zu beiden Terminen nicht erschien, ließ man die Sache auf sich beruhen. Das Jugendamt hatte Yagmurs Eltern eine Familienhelferin zur Seite gestellt und für Yagmur einen Kindergartenplatz organisiert. Als die Eltern diese Hilfe nicht in Anspruch nahmen, intervenierte das Jugendamt nicht. Zwei Wochen vor Yagmurs Tod fand im Jugendamt eine Fallbesprechung zu ihrem Fall statt. Die Mitteilung der Staatsanwaltschaft, dass das Kind schwer misshandelt werde, fand bei dieser Besprechung keine Beachtung. Chantal Chantal starb 2012 in der Wohnung ihrer drogenabhängigen Pflegeeltern in Hamburg-Wilhelmsburg an einer Methadontablette. Die Pflegeeltern wohnten in einer verwahrlosten Wohnung mit vier Kindern und drei Hunden. Die 11-jährige Chantal hatte kein eigenes Bett, sie teilte sich den Schlafplatz mit einer anderen Pflegetochter. Der Herd in der Küche war nicht angeschlossen, oft gab es kein Licht in der Wohnung. Die Kleidung lag auf dem Boden verstreut, Kleiderschränke hatte die Pflegefamilie nicht. Warum hat ein drogenabhängiges Paar überhaupt Pflegekinder vom Amt zugewiesen bekommen? Chantal lebte mit ihrer alkoholkranken Mutter in der Nachbarschaft der Pflegefamilie. Die nahm das Kind auf, wenn es nicht bei der Mutter bleiben konnte. Später fragte das Jugendamt nach, ob die Familie Chantal nicht als Pflegekind betreuen könnte, froh, überhaupt Pflegeeltern gefunden zu haben. Die Pflegeeltern waren substituiert, konsumierten aber auch Heroin und verfügten über mehr Methadon, als der Hausarzt ihnen verschrieb. Das Jugendamt kontrollierte die Pflegefamilie nicht. Man glaubte der Pflegemutter, das alles in Ordnung sei, auch als sie behauptete, nie

Exkurs: Aus der Praxis des Pflegekinderwesens

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mit Drogen zu tun gehabt zu haben. Die Aussagen der Pflegemutter zog man auch dann nicht in Zweifel, als mehrere Personen auf ihren Drogenkonsum aufmerksam machten. Das sei eine Verleumdung, meinte das Jugendamt. Die Pflegeelternberaterin des Verbundes sozialtherapeutischer Einrichtungen war im Auftrag des Jugendamtes zwischen 2008 und 2012 über zehn Mal in der Wohnung der Pflegeeltern. Nur ein Mal sah sie sich bei diesen Besuchen das Kinderzimmer an, Bad und Küche sah sie nie. Das Jugendamt beschuldigt nun die Pflegeelternberaterin, nicht genau hingesehen zu haben, und die Beratungsstelle beklagt, dass das Jugendamt ein Kind in einer Drogenfamilie unterbrachte. Das Jugendamt fand aber diese Familie richtig für Chantal, die bei ihrer alkoholkranken Mutter nicht mehr bleiben konnte. Pflegekinder sollen möglichst milieunah untergebracht werden. Das heißt, das Kind, das am Rand der Gesellschaft gelebt hat, bleibt auch dort. Siri Siri wurde das Umgangsrecht mit ihren Kindern verboten, weil sie sie nicht genügend vor ihrem neuen Freund schützen konnte. Dessen Gewalttätigkeit richtete sich gegen Siri, nicht gegen die Kinder, die bei ihrem Vater leben. Siri erhielt einen Brief vom Jugendamt: Sie darf mit ihren Kindern telefonieren, aber nur auf Deutsch, nicht in ihrer Muttersprache, in der sie bisher immer mit den Kindern gesprochen hat. Und sie soll den Kindern nicht sagen, dass sie sie vermisst.

Das sind »Fälle« mehr oder weniger willkürlich aus unserem großen Bestand an Erfahrungen und Erfahrungsberichten herausgesucht. Einige der Geschehnisse sind auch aus der Presse bekannt. Die Beispiele zeigen, dass das gesamte Pflegekinder-System ungenügend ist. Mehrere Schwächen werden an den Beispielen deutlich: ȤȤ Probleme bei der Aufgabenverteilung/Zuständigkeit, ȤȤ fehlende klare Verantwortlichkeiten, ȤȤ mangelhafte Fortbildung der professionellen Beteiligten, ȤȤ noch mangelhaftere Fortbildung der Pflegeeltern (unter besonderer Berücksichtigung der Motivation), ȤȤ unmotivierte Parteilichkeit (in der Regel für die Pflegefamilie).

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Exkurs: Aus der Praxis des Pflegekinderwesens

Modelle zur Veränderung des Pflegekinderwesens

Vorbemerkung Wir haben uns ausführlich mit den Problemen des Pflegekinderwesens befasst und einige alternative Konzepte entwickelt. Dabei geht es uns besonders darum, die Mütter (mehr) zu respektieren und einzubeziehen in alles, was das Kind und die Pflege betrifft. Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, wie systematisch die Position der Mütter (die wenigen Väter, die das Problem betrifft, sind hier miteinzubeziehen) geschwächt und ihre Bedeutung geleugnet wird. Dies geschieht manchmal in einem Ausmaß, dass man von einer Menschenrechtsverletzung sprechen kann. Schließlich, so bemerkt auch Wolf in seinem Artikel, in dem er für die Anerkennung der Pflegefamilie als »echte Familie« plädiert, ist eine »Pflegefamilie ohne andere Eltern der Pflegekinder nicht vorstellbar« (2013, S. 275). Die Eltern nennt er »andere Eltern« der Pflegekinder – eine missachtende Bezeichnung. Die sogenannten Herkunftsfamilien bzw. Herkunftsmütter sind nicht die »anderen«, sondern die Eltern der Kinder. Und die Pflegeeltern sind die Pflegeeltern. Es gibt also keine richtigen und falschen Eltern, auch nicht Eltern und andere Eltern, es gibt Eltern (Mütter und Väter) und Pflegeeltern. Warum das richtig und wichtig ist, haben wir in den drei Hauptkapiteln ausführlich begründet. Unsere eigenen Ansätze zielen auf eine dreischrittige Veränderung herrschender Konzepte. Zuerst – und am einfachsten umzusetzen – geht es um die Stärkung der Mutter im bestehenden Konzept. Der erste Schritt besteht also darin, eine einseitige, d. h. parteiliche sozialpädagogische Unterstützung der Mütter zu leisten. Dieses Konzept wird im zweiten Schritt konsequent erweitert. In ihm geht es darum, die Mütter als bedeutenden, mitspracheberech-

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tigten und gleichwertigen Teil des Systems anzusehen. Das bedeutet auch, dass die Mutter bei allen Entscheidungen nicht nur informiert wird, sondern auch mitbeschließt. Sollte eine Konsensfindung nicht möglich sein, fasst, unserer Idee nach, ein unabhängiges Gremium den Entschluss. Gleichzeitig verlieren die Pflegekinderdienste nach der Vermittlung der Kinder ihre bisherige Funktion. Im dritten Schritt unseres Konzeptes wird die Möglichkeit eines erweiterten Familienwohnens untersucht. Das bedeutet ein hochprofessionell betreutes Zusammenleben aller Beteiligten nach dem Vorbild mancher Therapiedörfer, z. B. anthroposophischer Einrichtungen für Behinderte und Gesunde oder Wohngemeinschaften für drogenabhängige Mütter, die dort mit ihren Kindern betreut werden.

Die Stärkung der Mutter im System Mütter, deren Kinder in Obhut genommen wurden, sind immer überfordert, manchmal psychisch krank und/oder haben ein Alkohol- oder Drogenproblem. Sie sind vielleicht obdachlos oder leben in einer Gewaltbeziehung. So wie in der Geschichte von Daniel und seiner Mutter Simone. Daniel und Simone Simone ist drogenabhängig. Mal ist sie clean, dann gibt es wieder einen Rückfall. Sie liebt ihren Sohn Daniel, aber sie ist extrem unzuverlässig. Es hilft Simone, wenn sie von ihrer Betreuerin in der Beratungsstelle immer wieder darin bestärkt wird, Daniel zu besuchen. Die Betreuerin fragt nach, ob Simone schon das Bahnticket besorgt hat und lässt sich nach dem Besuchskontakt genau erzählen, was Simone und Daniel unternommen haben, wie groß der Junge geworden ist und welches Spielzeug er seiner Mutter gezeigt hat. Simone ist dann unheimlich stolz und freut sich auf den nächsten Besuchskontakt. Ohne diese Unterstützung würde Simone sicher manchen Besuchstermin nicht schaffen, und das hätte dann vielleicht Folgen für die Regelung der Besuchskontakte.

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Mütter, deren Kinder untergebracht sind, brauchen jemanden, der ihnen dabei hilft, ihre momentane Lebenssituation zu verbessern. Für die Sozialarbeiterin, die diese Aufgabe erfüllt, ist das sicher eine schwere Aufgabe. Eine Voraussetzung für diese aufsuchende Basisarbeit ist eine Festanstellung bei einem Träger, eine gute Zusatzausbildung und eine angemessene Bezahlung. Durch eine solche kompetente Unterstützung wird die Mutter wieder mehr Kraft haben, den Kontakt zu ihren Kindern zu halten, ja auch, ihr eigenes Leben so zu verändern, dass dies ihr und ihrer Beziehung zum Kind zugutekommt. Wenn eine Mutter wieder ein Dach über dem Kopf hat, bereit und in der Lage ist, ihr Suchtproblem anzugehen, eine Schuldenberatungsstelle aufsucht und nicht mehr die Briefe der Insolvenzbüros verschwinden lässt, dann sind überhaupt erste Voraussetzungen geschaffen, sich mit ihrem Kind zu beschäftigen. Mütter, deren Kinder in Pflegefamilien oder Kinderheimen leben, sind in der Regel nicht zuverlässig. Sie halten sich nicht an Absprachen, verschwinden oft für Wochen, machen ihren Kindern Versprechungen, die sie nicht einhalten können. Sie telefonieren nicht zum verabredeten Zeitpunkt und vergessen die Geburtstage der Kinder. An diesen Stellen brauchen sie also Unterstützung. Bisher war die Position der Pflegekinderdienste (ganz im Sinne der Pflegefamilien) folgende: Wenn die Mutter sich nicht an Verabredungen halten kann, dann gibt es eben keine mehr.9 Damit sie zuverlässiger werden, brauchen die Mütter Unterstützung durch eine Person, die nur für sie da ist. Diese Person hat die Aufgabe, den Platz der Mutter im System zu stabilisieren, solange die Mutter sich nicht allein behaupten kann. Sie dient sozusagen als Hilfs-Ich. Sie kann der Mutter die Bedürfnisse der einzelnen Systemmitglieder erklären, sie kann der Mutter helfen, eigene Gefühle und Wünsche auszudrücken und sie bei der Kontaktgestaltung zum Kind unterstützen, indem sie zum Beispiel 9 Abgesehen davon, dass ein Kontakt, Umgang genannt, zu oft in einer Weise organisiert ist, dass er zu keiner annehmbaren Beziehung von Mutter und Kind führen kann. Wie soll sich bei einem begleiteten, also unter Beobachtung stehendem Treffen von einer Stunde im Monat etwas entwickeln, das sowohl die Mütter als auch die Kinder sich wünschen?

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der Mutter altersgemäße Spiele zeigt. Gleichzeitig hat ein Hilfs-Ich die Funktion der Realitätsprüfung: Ist es wirklich möglich, dass die Mutter ihr Kind in absehbarer Zeit zurückbekommt? Kann sie die notwendigen Voraussetzungen schaffen? Was wird passieren, wenn sie zum Beispiel rückfällig wird? – Und: Wie kann die Mutter die Situation, in der sie für eine längere Zeit von ihrem Kind getrennt sein wird, möglichst hilfreich für alle Beteiligten gestalten? Viele Pflegekinderdienste haben die Notwendigkeit, die Mütter einzubeziehen, in den letzten Jahren erkannt und Stellen für Elternberater eingerichtet. Die Eltern/Mütter werden von den Beratern angeschrieben und zu einem Gespräch eingeladen, wenn ihre Kinder in Obhut genommen worden sind. Außerdem werden Gruppensitzungen angeboten. Die zur Verfügung stehende Zeit reicht aber selten aus, um Mütter zu Terminen beim Jugendamt, beim Amtsvormund oder zu Besuchskontakten zu begleiten. Dabei wäre hier eine praktische Unterstützung wichtig. Viele der Mütter müssen an die Hand genommen werden. Sie brauchen eine Sozialarbeiterin, die sie zum Beispiel immer wieder an Termine erinnert und die darauf achtet, dass die Mutter über ihre Rechte informiert ist und diese auch durchsetzen kann. Eines der wichtigsten Rechte der Eltern ist das »Recht und die Verpflichtung zu Kontakten zu ihrem Kind« (Küfner et al., 2011, S. 562) Manchmal werden Mütter nicht auf dieses Recht vom Jugendamt hingewiesen. Im Gegenteil, es wird ihnen gesagt, dass das Kind sich zunächst in der Pflegefamilie einleben müsse und es von daher besser sei, erst einmal von Besuchskontakten abzusehen. Halten sich die Mütter an diese Vorgabe, wird ihnen später zum Vorwurf gemacht, dass sie ja das Kind so lange nicht getroffen hätten, dass es nun das Kind durcheinanderbringen würde, wenn es die Mutter/Eltern jetzt sähe. Sarah Hier soll noch einmal an einem Fallbeispiel deutlich gemacht werden, wie die Dinge heute ablaufen und wie viele Möglichkeiten es im Alltag gäbe, den Verlauf zu verbessern, um damit den Mütter, den Kindern – und weiteren Kindern, die oft nur als Folge des Kontaktabbruchs zu Welt kommen – einiges Leid zu ersparen.

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Modelle zur Veränderung des Pflegekinderwesens

Als ich Sarah kennenlernte, war sie 21 Jahre alt und hatte seit Jahren ein Alkoholproblem. Sie wohnte in einer Obdachlosenunterkunft und versuchte, ihren Alkoholkonsum einzuschränken. Zu mir in die Beratungsstelle kam sie, weil sie eine eigene Wohnung brauchte, ihre Schulden regeln wollte und gern regelmäßigen Kontakt zu ihrer Tochter gehabt hätte, die in einer Pflegefamilie lebte. Helen, die Tochter, war zweieinhalb Jahre alt. Sie wohnte mit den Pflegeeltern, einem Lehrerehepaar, in einem gutbürgerlichen Stadtteil. Die Pflegeeltern hatten zwei leibliche Söhne, 12 und 14 Jahre alt. Sie hatten sich eine Tochter gewünscht und fanden es verantwortungsvoller, nicht noch ein Kind zu bekommen, sondern ein Pflegekind in die Familie aufzunehmen. Helens Vater war ein junger türkischer Mann, von dem Sarah sich bereits während der Schwangerschaft trennte. Schon vor ihrer Schwangerschaft wurde Sarah vom Jugendamt betreut. Sie trank damals sehr viel Alkohol und konsumierte ab und zu Drogen. Im siebten Schwangerschaftsmonat randalierte sie betrunken in einer Diskothek. Das Jugendamt, von der Polizei informiert, verwarnte sie. So könne sie ihr Kind nicht behalten. Helen kam trotz aller Befürchtungen gesund zur Welt. Sie wog 3000 Gramm, hatte braune Augen und die dunklen Haare ihrer Mutter. Zwei Tage nach der Geburt bekam Sarah einen Anruf von einem Bekannten. Er meinte, abends gebe es eine super Party. Da müsse sie unbedingt dabei sein. Sarah verschwand aus dem Krankenhaus und wurde drei Tage später von der Polizei aufgegriffen. Helen war inzwischen in einem Säuglingsheim untergebracht. Sarah ging es schlecht, sie vermisste ihr Baby. Als ihr das Jugendamt die Chance gab, mit Helen in ein Mutter-Kind-Heim zu ziehen, griff sie dankbar zu. Sarah und Helen wohnten nur wenige Wochen in diesem Haus. Weil Sarah nicht mitarbeitete, Alkohol trank und dann ausfallend wurde, Helen schlecht versorgt war und Untergewicht hatte, musste Sarah das Haus verlassen. Das war eine Strafe für Sarah. Niemand hatte ihr gezeigt, wie man ein Baby versorgt. Noch weniger konnte sie mit der Ambivalenz fertig werden, die jede Mutter kennt: Ein Baby versorgen und lieben zu wollen und sich mit dieser Aufgabe überfordert und einsam zu fühlen. Eine »normale« Mutter hat für diese Zeit ein soziales

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Netz, bestehend aus Kindsvater, Verwandten und Freundinnen. Das Mutter-Kind-Heim erwies sich für Sarah als engmaschige Kontrolle (was natürlich für das Baby überlebenswichtig war) und nicht als eine wirkliche Unterstützung. Helen kam in die vom Pflegekinderdienst betreute Pflegestelle, und Sarah zog zu ihrem neuen Freund. Schon nach ein paar Tagen versuchte sie Kontakt zu ihrem Kind zu bekommen. Helen fehlte ihr sehr. Der Pflegekinderdienst lehnte ein Treffen ab. Helen müsse sich in ihrer neuen Familie eingewöhnen. Ein Zusammentreffen mit seiner Mutter würde das Kind durcheinander bringen. Es wäre besser, wenn Sarah Helen ein paar Monate nicht sähe. Sarah war außer sich. Sie lief zum Jugendamt. Aber dort bekam sie die Auskunft, dass der Pflegekinderdienst schon wisse, was für Helen gut sei. Sarah sprach mit einer Anwältin. Die versprach, sich um einen Besuchskontakt zu kümmern. Als Sarah die Rechnung nicht bezahlte, stellte sie ihre Bemühungen ein. Eine Besuchsregelung gab es erst nach einem Jahr. Sarah durfte ihre Tochter einmal im Monat in den Räumen des Pflegekinderdienstes sehen, zusammen mit den Pflegeeltern. Manchmal kam Sarah zu spät zu den Treffen, manchmal vergaß sie den Termin. Als Sarah zu mir in die Beratungsstelle kam, hatte sie Helen vier Monate nicht gesehen. Wir machten einen Termin beim Amtsvormund, und Sara erklärte ihm, dass sie Helen öfter sehen möchte und möglichst nicht in Begleitung der Pflegeeltern. Der Amtsvormund meinte, der Pflegekinderdienst wäre sehr erfahren und würde schon die richtigen Entscheidungen treffen. Ich telefonierte mit dem Pflegekinderdienst, und es gelang mir, einen Besuchstermin zu vereinbaren. Sarah würde eine neue Chance bekommen. Das Treffen sollte in den Räumen des Pflegekinderdienstes stattfinden. Ich begleitete Sarah, die schrecklich aufgeregt war. In der Straßenbahn überlegte sie, ob sie nicht doch lieber aussteigen sollte. Wir warteten ein paar Minuten im Spielzimmer des Pflegekinderdienstes, dann kamen die Pflegeeltern mit Helen. Der Pflegevater trug Helen auf dem Arm, die Pflegemutter eine Spielzeugtasche, Teeflasche und Kuscheldecke. Sarah stürzte auf Helen zu und rief: »Meine Süße!« Helen klammerte sich an den Pflegevater und weinte. Sarah weinte auch. »Das hat keinen Zweck«, meinte die Pflegemutter. Aber nach

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einer Weile spielten Sarah und Helen doch zusammen. Ich ging in ein Büro und las Zeitung. Als ich zurückkam, bauten Sarah und Helen mit Duplo-Steinen. Die Pflegeeltern saßen auf dem Sofa und hielten sich an den Händen. Helen lief manchmal zu ihnen und zeigte ihnen, was sie gebaut hatte. Dabei sagte sie Mama und Papa. Die Verabschiedung ging sehr schnell. Sarah bekam einen Zettel mit den nächsten Besuchsterminen. In der Straßenbahn weinte sie die ganze Zeit und meinte, sie brauche unbedingt einen Schnaps. Sarah war nicht in der Lage, ihr Kind zu versorgen. Sie war unzuverlässig, trank seit Jahren viel, war immer wieder mit anderen, oft gewalttätigen Männern zusammen. Aber sie hing an ihrem Kind und hatte oft Sehnsucht nach ihm. Es fiel ihr schwer, die seltenen Besuchskontakte, die ihr der Pflegekinderdienst einräumte, einzuhalten. Dafür schämte sie sich. Manchmal trank sie sich vor dem Besuchskontakt Mut an. Aber dann wurde sie weggeschickt, bevor sie ihre Tochter gesehen hatte. Sarah brauchte Unterstützung in vielen Lebensbereichen, aber ganz konkret war es wichtig, sie zum Besuchskontakt beim Pflegekinderdienst zu begleiten, ihr zu sagen: »Du schaffst es ohne Schnaps. (Denn mit Schnaps geht gar nichts!) Ich bin bei dir. Du wirst deine Tochter sehen und du wirst stolz sein, dass du es geschafft hast. Jeder Besuchstermin, der gelingt, macht dir Mut, weiterzumachen.«

Pflegeeltern sind den Müttern, die ihre Kinder abgegeben haben, oft verbal und intellektuell überlegen. Hier hätte die Unterstützerin die Aufgabe, Übersetzungsarbeit zwischen der Sprache der Mutter und der Sprache der »Mittelschichtsanteile im System«, d. h. der Pflegefamilie, dem Jugendamt, dem Pflegekinderdienst und dem Amtsvormund, zu leisten. Die Pflegeeltern leben in einer anderen Gesellschaftsschicht, haben eine Berufsausbildung und ein gesichertes Einkommen. Pflegeeltern sind ein Paar, während die Mütter in der Regel allein sind. Im Kontakt mit den Pflegeeltern fühlen sich die Mütter oft klein und unsicher. Sie geben schnell auf oder lassen sich zu Dingen überreden, die sie eigentlich gar nicht wollen. Auch hier ist eine Unterstützung ganz wichtig, die den Müttern hilft, ihre Rechte durchzusetzen. Die sich darum kümmert, dass die Mutter

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alle wichtigen Informationen von den Pflegeeltern bekommt. Die Mutter muss wissen, ob ihr Kind krank ist, ob es eine Klassenfahrt macht, dass das Kind jetzt Schwimmunterricht hat oder zur Logopädin geht. Es kann abgesprochen werden, ob die Mutter am ersten Schultag ihres Kindes teilnimmt, zum Geburtstag eingeladen wird oder den Elternsprechtag wahrnimmt. Wenn die Mutter nicht das Gefühl haben muss, allein dem Jugendamt, dem Pflegekinderdienst und den Pflegeeltern gegenüberzustehen, wird sie einen zuverlässigeren Kontakt zu ihrem Kind halten können und ihm eine größere Sicherheit und Stabilität erfahrbar machen. Dabei ist es hilfreich, dass betroffene Mütter eine Peergroup bilden. Dies mildert die Schmach des Versagens und das Gefühl von Einsamkeit und Ausgeliefertsein. Eine solche Gruppenarbeit mit Müttern beschreibt Eichenberger (2011). Bei der von ihr dargestellten Arbeit geht es um eine Therapie, die gleichzeitig Ursachen klärt und Lösungen erarbeitet. Sibel Dass es auch andere Möglichkeiten gibt, eine Mutter zu unterstützen, die zurzeit nicht in der Lage ist, ihr Kind zu versorgen, zeigt der Fall von Sibel. Die junge Frau litt während der Schwangerschaft und nach der Geburt ihres Kindes an Depressionen, und das Jugendamt brachte den kleinen Jungen in einem Kinderheim unter. Jetzt geht es Sibel besser, und sie darf ihr Kind nicht nur häufig im Heim besuchen, sie wird auch in die Betreuung und Versorgung miteinbezogen. Sie sieht ihren Sohn zweibis dreimal in der Woche und nimmt an vielen Terminen teil. Sibel fühlt sich kompetent beraten und gut vorbereitet auf die Zeit, in der das Kind mit ihr zusammenleben kann. Als Sibels Sohn geboren wurde, war sie seit einem Jahr mit ihrem Cousin verheiratet. Lange hatte sie sich geweigert, aber dann doch während eines Familienurlaubs einer Eheschließung zugestimmt und in Ankara geheiratet. Sibel ist in Hannover geboren, sie hatte dort den Kindergarten und die Schule bis zur 10. Klasse besucht. Zwei jüngere Schwestern gin-

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gen zum Gymnasium. Nach der Schule machte Sibel eine Ausbildung zur Sprechstundenhilfe bei einem Facharzt für Innere Medizin. Sie war eine fröhliche junge Frau, die sich gern mit ihren Freundinnen traf, zum Kaffeetrinken, zum Shoppen und manchmal zum Feiern. Sibel hatte gelernt, ihren Eltern und den älteren Verwandten mit Respekt zu begegnen. Sie war höflich, bei ihrem Chef und den Patienten beliebt. Ihren Cousin Mahmut kannte sie seit sie auf der Welt war. Jedes Jahr, wenn die Familie in den großen Ferien in die Türkei reiste, traf sie ihn. Er war der Sohn der Schwester ihrer Mutter. Als Sibel kleiner war, fand sie es wunderbar, im Sommer im Heimatdorf ihrer Eltern den ganzen Tag draußen mit ihren Schwestern und vielen Cousins und Cousinen spielen zu können. Auch mit Mahmut war sie gern zusammen. Das änderte sich, als sie ungefähr 13 Jahre alt war. Sie war lieber mit Mädchen zusammen, und Mahmut ging ihr aus dem Weg. Sibel wusste, dass die Familie meinte, sie und Mahmut sollten später heiraten. Dann könne Mahmut in Deutschland leben. Sibel nahm das nicht besonders ernst. Auch als Sibel älter wurde, fühlte sie sich mehr zu Mädchen hingezogen. In der 10. Klasse sprach sie einmal mit ihrer Vertrauenslehrerin darüber. »Du bist eben etwas spät entwickelt«, meinte die Lehrerin, »warte mal, bis du dich in einen richtig gutaussehenden Jungen verliebst!« Sibel hatte Mahmut geheiratet, weil sie ihren Eltern und der Tante die Bitte nicht abschlagen konnte. Sie hätte es einfach nicht ertragen, Streit mit der Familie zu haben. Die Eltern hatten dem jungen Paar eine Wohnung eingerichtet, und Mahmut durfte ein halbes Jahr nach der Hochzeit einreisen. Sibel wurde jeden Tag unglücklicher. Nicht, dass Mahmut sie schlecht behandelt hätte. Es gab einfach nichts Gemeinsames zwischen ihnen. Bald war Sibel schwanger. Es ging ihr nicht gut. Sie musste sich übergeben, hatte Kopfschmerzen und weinte viel. Der Frauenarzt schrieb sie krank. Sibel verbrachte den Tag auf dem Sofa, nachts schlief sie schlecht. Sie hatte stark abgenommen. Mahmut fand Arbeit in Duisburg. Manchmal rief er an, aber Sibel fühlte sich zu müde, um ans Telefon zu gehen. Es gab auch nichts zu sagen. Mahmut kam immer seltener nach Hause. Mustafa wurde drei Wochen zu früh geboren, aber er war gesund und wog knapp 3000 Gramm. Sibel weinte, wenn Mustafa weinte.

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Sie war zu müde zum Stillen und wollte ihre Eltern und ihren Ehemann nicht sehen. Bevor Sibel aus dem Krankenhaus entlassen wurde, sprach die Sozialarbeiterin mit ihr. Sibel würde Hilfe bekommen. Eine Familienhebamme könne sie zweimal in der Woche besuchen und sie unterstützen. Sibel empfand die Versorgung von Mustafa als unglaublich anstrengend. Das Baby schrie viel und schlief wenig. Nächtelang trug sie es durch die Wohnung. Beim Stillen schlief Mustafa ein und hatte eine Stunde später wieder Hunger. Sibel weinte nicht mehr. Sie wurde still, sprach nur noch wenig, war blass und dünn. Mahmut war seit Wochen nicht mehr zu Hause gewesen, und die Eltern machten sich große Sorgen. Die Familienhebamme schaltete das Jugendamt ein. Zwei Sozialarbeiterinnen machen einen Hausbesuch und gewannen den Eindruck, dass Mustafa nicht bei seiner Mutter bleiben könne. Die Mitarbeiterinnen vom Jugendamt legten Sibel nahe, einer Unterbringung ihres Kindes zuzustimmen. Aber Sibel wollte nicht. Sie wollte ihr Kind behalten. Am nächsten Tag kamen die Sozialarbeiterinnen wieder, mit einem Beschluss des Familiengerichtes. Zwei junge Polizeibeamte warteten vor der Tür. Mustafa wurde in ein Kinderheim gebracht, und Sibel entschloss sich ein paar Tage später, in die Psychiatrie zu gehen. Ich treffe Sibel ein halbes Jahr später wieder. Sie sieht gut aus, nicht mehr so dünn und ihre Augen leuchten. Sie erzählt mir, dass sie nun in die Tagesklinik der Psychiatrie gehe. Medikamente bekomme sie kaum noch. Mahmut möchte sich scheiden lassen, aber sie werden noch ein Jahr verheiratet bleiben. Dann hat Mahmut einen eheunabhängigen Aufenthaltsstatus. Zweimal in der Woche und sonntags besucht Sibel Mustafa im Kinderheim. Sie spielt mit ihm, wickelt ihn und geht seit Kurzem allein mit ihm spazieren. Nächste Woche wird sie Mustafa und die Heimbetreuerin zum Kinderarzt begleiten. Irgendwann, da ist sich Sibel sicher, wird sie mit Mustafa zusammenleben.

Bei diesem Beispiel wird deutlich, wie wenig es braucht, um die Mutter angemessen zu beteiligen. Im Heim wird sie wohlwollend unterstützt von den Betreuerinnen ihres Sohnes. Wegen ihrer Präsenz und ihres Wunsches, für ihr Kind zu sorgen, ist sie selbst dort

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eine echte Bereicherung und, nachdem sie die Abläufe kennengelernt hat, eine Entlastung. Diese Form von Beteiligung ist in einer Pflegefamilie schwer vorstellbar, weil sie die Illusion stört, das aufgenommene Kind sei ein eigenes. Das ist einer der vielen Gründe, warum wir glauben, dass Pflegekinder und Mütter hochprofessionelle Pflegeeltern brauchen.

Arbeit mit dem Mutter-Kind-Pflegefamilie-Gefüge Ursprünglich sollte dieses Modell »Konsequent systemische Arbeit« heißen. Dabei fiel uns auf, dass ein System einen Prozess braucht, um sich zu bilden. Systemische Familientherapie behandelt Konflikte auf der Basis folgenden Gedankens: Sie sucht die Ursachen für Symptome (Fehlverhalten) nicht im Individuum – im Gegensatz zu üblichen (tiefenpsychologischen) Therapien –, sondern in dem System, in dem der Klient lebt. Als sehr wirksam hat sich der systemische Ansatz in Bereichen wie Coaching, Personalentwicklung und anderen Beratungsbereichen erwiesen, in denen es um schnelle Veränderungen (Lösungen) geht. Der systemische Ansatz ist kaum prozessorientiert, lässt also wenig Raum für das Verständnis und die Entwicklung von Individuen zu. Das ist im Mutter-Kind-Pflegefamilie-Gefüge mitunter zweckmäßig, wenn gleichzeitig mit psychologischen Erklärungsmustern gearbeitet wird. Einen sinnvollen Einsatz für den systemischen Ansatz sehen wir in der Diagnostik. Bittet man in einem System alle Beteiligten, sich eine Position in einem vorgegebenen Raum zu suchen, bekommt man ein Bild davon, wie die Individuen zueinander stehen – und welche Konflikte vorhanden sein mögen. Zwar gibt es bis heute keine schlüssige Theorie und keine eindeutigen Wirksamkeitsnachweise zur Systemischen Familientherapie, aber in Kombination mit tiefenpsychologischen Verfahren bietet sie einiges an Handwerkszeug für die Arbeit mit dem Mutter-Kind-Pflegefamilie-Gefüge. Aber bevor hier ein systemischer Ansatz wirken kann, muss sich ein solches System erst in einem behutsam begleiteten Prozess entwickeln. Wie das aussehen könnte, erläutern wir im Folgenden.

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Bildung des Systems In dem Mutter-Kind-Pflegefamilie-Gefüge kommen verschiedene Parteien zusammen, die in unterschiedlicher Weise voneinander abhängig sind und zwar jede von den jeweils beiden anderen: 1. Die Mütter sind abhängig von ihren Kinder. Die Mütter sind insofern auf die Kinder angewiesen, als dass sie deren Zuneigung brauchen, deren Wunsch, eine Beziehung zu ihnen selbst zu haben und auch deren Bereitschaft, die Unzulänglichkeiten der Mütter hinzunehmen. Oft waren diese Wünsche der Grund, ein Kind zu bekommen. 2. Die Mütter sind abhängig von den Pflegeeltern. Die Mütter sind abhängig von den Pflegeeltern, von deren Bereitschaft, sie als Mutter der Pflegekinder zu akzeptieren und auch davon, dass die (sozial kompetenteren) Menschen ihrem Kind ein Verständnis für das Versagen als Mutter vermitteln. Die Mütter sind sowohl von der Geduld der Kinder als auch der der Pflegeeltern abhängig, wenn sie lange Zeit brauchen, sich in dem neuen Gefüge zurechtzufinden, ihren Platz dort einzunehmen. Sie brauchen Zeit, ihr Misstrauen aufzugeben und Akzeptanz dort zu fühlen, wo sie ihnen entgegengebracht wird. 3. Die Kinder sind abhängig von den Müttern. Die Mütter haben sie zur Welt gebracht, und – ohne rein biologistisch zu argumentieren – dabei ist eine Bindung entstanden, die in dem Kapitel »Die Kinder« (S. 15 ff.) ausführlich beschrieben worden ist. Wenn die Beziehung zu ihren Müttern gut oder ausreichend geklärt ist, ist das Kind ohne Schwierigkeiten in der Lage, andere Bindungen und Beziehungen einzugehen.   Die Beziehung zur Mutter ist dann gut, wenn sie (weitgehend) frei ist von Abhängigkeiten, was bedeutet, dass das Kind weiß, dass seine elementaren Bedürfnisse von dieser Person nicht oder nur zu einem kleinen Teil befriedigt werden können. Die Beziehung soll frei sein von Schuldgefühlen auf Seiten des Kindes. Es kann niemals für das Glück seiner Mutter/Eltern verantwortlich sein. Gleichzeitig macht es den Eltern keine Vorwürfe für ihr Versagen, weil es begriffen hat, dass es Gründe gibt, warum diese so geworden sind, wie sie geworden sind und dass sich ganz

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tief in ihrem Verhalten immer auch Liebe versteckt. Die Entwicklung einer solchen Beziehung hat keinen Schalter, den man drücken kann, wenn das Kind ein bestimmtes Alter erreicht hat. Die Mutter muss von Anfang an in das Aufwachsen des Kindes miteinbezogen werden. Abgesehen davon braucht das Kind die Einwilligung der Mutter dazu, mit anderen Menschen in einen liebevollen Kontakt zu treten. 4. Die Kinder sind abhängig von den Pflegeeltern. Bei den Pflegeeltern sollen sie das Nest bekommen, in dem alles vorhanden ist, was Kinder brauchen, um zu zufriedenen, lebenstüchtigen Erwachsenen zu werden. Kinder sind darauf angewiesen, nach ihren Bedürfnissen versorgt zu werden, genügend Zeit und Unterstützung zu bekommen, um eventuelle Defizite aufzuholen. Kinder sind wesentlich auf die Geduld der Pflegeeltern angewiesen, wenn sie deren Erwartungen nicht entsprechen (können). 5. Die Pflegeeltern sind abhängig von den Müttern, deren Kinder sie großziehen. Natürlich wären sie ohne diese Kinder gar keine Pflegeeltern geworden. Vor allem sind die Pflegeeltern darauf angewiesen, dass die Mütter ihren Kindern eine gute Beziehung zu ihnen gestatten. Diesen wichtigen Aspekt haben wir weder in der Literatur noch in den Konzepten, in denen es um Elternberatung geht, gefunden. Kurz lässt sich diese Aussage am Phänomen des sogenannten Fremdelns beschreiben: Wenn ein Kind Kontakt zu anderen Menschen (vom sicheren Arm der Mutter aus) aufnehmen möchte, kann man sehen, dass sein Blick immer wieder zwischen der Mutter und der weniger vertrauten Person hin und her schweift. Dabei beobachtet es zweierlei: Ist die Mutter zu dieser Person freundlich? Ist es für sie in Ordnung, wenn ich auch zu dieser Person freundlich bin? Das Kind holt so die Erlaubnis der Mutter ein, Kontakt zu anderen Menschen aufzunehmen. Ist die Mutter wenig im Kontakt, depressiv oder erteilt auf andere Weise diese Erlaubnis nicht, wird das Kind fremdeln. Das beginnt etwa im Alter von acht Monaten, wenn das Kind eigentlich bereit ist, Kontakt zu fremden Personen aufzunehmen. Sein Blick wan-

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dert dann zwischen der Mutter und der dritten Person hin und her. Lächelt die Mutter und ist sie auch freundlich zu der dritten Person, kann das Kind sich dieser zuwenden. Wenn nicht, wird das Kind auf diesen Kontakt verzichten und sich ängstlich an die Mutter schmiegen. Später verstärkt sich das Symptom aus Loyalität zu den Müttern. In einem solchen Fall ist die Bindung zwischen Kindern und Pflegeeltern von Anfang an erschwert. 6. Die Pflegeeltern sind abhängig von den Kindern. Diese Abhängigkeit wird am häufigsten übersehen. Wir sprechen hier nicht nur von dem Kinderwunsch der Pflegeeltern oder von dem (zu geringen) Einkommen, das sie für ihre Arbeit beziehen. In besonderem Maße ist das Ansehen der Pflegeeltern vom Verhalten der Kinder abhängig. Pflegeeltern werden von ihrer Umgebung durchaus kritisch betrachtet, zuerst bewundert für die Opfer, die sie bringen. Schnell schleicht sich aber auch Kritik ein. Freunde, Verwandte und Nachbarn geben Ratschläge. Pflegeeltern lassen sich verunsichern, wenn ihre Pflegekinder besonders auffällig sind. In der Phase der Systembildung ist es wichtig, auf zwei bestimmte Störungen genau zu achten, die für das Gelingen eines Pflegeverhältnisses sehr erschwerend sein können. Zu allererst gilt es, Spaltungen zu vermeiden. Diese findet häufig zwischen Eltern und Pflegeeltern statt – nach dem Motto: »schlechte Eltern – gute Pfleegeltern«. Pflegeeltern sind nicht die besseren Eltern. Sie sind die Pflegeeltern, die in der Lage sind, dem Kind ein angemesseneres Aufwachsen zu bieten als die Eltern. Es geht nicht darum, dass die Eltern schlechte Eltern sind, es geht darum, dass sie die Eltern sind und dass sie schon deshalb einen wichtigen Platz im Leben des Kindes einnehmen (dürfen). Daraus folgt die zweite Störung, die es zu vermeiden gilt: Das Kind darf nicht in einen Loyalitätskonflikt geraten! Für die Arbeit mit den Kindern, die ja in der Regel aus einer schwierigen bis traumatisierenden Situation in die Pflegestelle wechseln, empfiehlt sich in dieser Phase eine analytische Kurzzeit-Therapie mit Kindern (PaKT). Dazu eignet sich die PaKT-Methode von Göttken und von

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Klitzing (2015), weil sie neben der Behandlung von Symptomen Wert auf die Entdeckung und Entwicklung von Ressourcen legt – und einen guten Blick auf das gesamte soziale Gefüge des Kindes oder Jugendlichen hat. (Für die Kurzzeit-Therapie mit Kindern ist der Kostenträger übrigens die Krankenkasse.) Pflegeeltern brauchen in der Phase, in der sich das System bildet, immer wieder unterstützende und korrigierende Begleitung, um in der Eingewöhnungszeit des Kindes die richtigen Wege zu beschreiten. Dies ließe sich unseres Erachtens am besten in einer geleiteten Gruppe realisieren: Die Leitung, die idealerweise aus zwei Menschen bestehen sollte, würde von einem Sozialpädagogen mit familientherapeutischer Zusatzausbildung übernommen. In Frage käme auch eine Mitarbeiterin einer bestehenden Erziehungsberatungsstelle. Um Parteilichkeit im negativen Sinne (Spaltung im System) möglichst auszuschließen, kann diese Aufgabe nicht von einer Mitarbeiterin der vermittelnden Pflegekinderdienste übernommen werden. Auch die Mütter brauchen in dieser ersten Phase eine einfühlsame Begleitung. Diese kann so aussehen, wie im vorherigen Abschnitt (»Die Stärkung der Mütter im System«, S. 140) beschrieben. Hier ist also hauptsächlich Sozialarbeit erforderlich, um die Mütter doppelt zu verankern, einmal in ihrem eigenen Leben – und parallel dazu im Mutter-Kind-Pflegefamilie-Gefüge. Ist die Mutter in der Lage dazu, wäre auch eine psychotherapeutische Begleitung wünschenswert, in der sie ihre eigenen Traumatisierungen bearbeiten kann, gegebenenfalls käme auch ein Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik in Frage. Immer wieder müssen die Beteiligten zusammengeführt werden, damit sich das gemeinsame System bilden kann. Dieser Anspruch steht in klarem (und wohlbegründetem) Widerspruch zur weitverbreiteten Praxis, zuerst einmal eine Kontaktsperre zu verhängen, damit die Kinder sich an ihr neues Zuhause gewöhnen können. Die Bildung des Mutter-Kind-Pflegefamilie-Gefüges (hier auch System genannt) wird überwacht und geleitet von einem unabhängigen Gremium. Dieses kann zum Beispiel aus einem Kinderpsychoanalytiker, einem Familientherapeuten und einer Familienrichterin bestehen. Das Gremium entscheidet darüber, ob die erste Phase,

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die Bildung des Systems, geglückt ist, ob zusätzliche Maßnahmen oder eine zeitliche Verlängerung erforderlich sind. Kriterien für eine geglückte Eingewöhnungsphase sind folgende: Das Kind verhält sich (weitgehend) unauffällig, hat eigene soziale Kontakte (in Kindergarten oder Schule) gefunden und lebt gern bei den Pflegeeltern. Zwischen letzteren und den Müttern besteht ein regelmäßiger Kontakt, der weitgehend konfliktfrei ist. Beide können sich konstruktiv über das Kind und seine Bedürfnisse und Entwicklungen austauschen. Das Kind hat einen regelmäßigen und möglichst unbegleiteten Umgang mit der Mutter, es gibt auch gemeinsame Kontakte und Unternehmungen. Letzteres ist besonders wichtig, da gemeinsames positives Erleben Beziehungen viel mehr stabilisiert als Gespräche über die Beziehung. Die Dauerphase Danach beginnt die zweite Phase des Systems, die Dauerphase. Es kann natürlich sein, dass sich die Mutter soweit stabilisiert, dass sie wieder in der Lage ist, mit ihrem Kind ohne Pflegeeltern zusammenzuleben – mit oder ohne weitere Betreuung. Das ist durchaus wünschenswert, aber nicht das vorderste Ziel dieser Maßnahmen. Und selbst wenn das Kind zurückgeht, bleibt ja das System vorhanden, nur mit umgekehrten Rollen. Dann ist es an der Mutter, dafür zu sorgen, dass das Kind den Kontakt zu den Pflegeeltern aufrechterhält, solange es das wünscht und braucht. In vielen Fällen wird das Kind in der Pflegefamilie bleiben. Der größte Teil der psychotherapeutischen Unterstützung kann beendet und bei Bedarf wiederaufgenommen werden. Zur dauerhaften Begleitung gibt es zusätzlich Familientherapeuten, die sich regelmäßig (etwa einmal im Monat – die heute üblichen Hilfekonferenzen würden sich erübrigen) mit allen Beteiligten treffen, um auftretende Konflikte zu klären. Sollte es zu schweren Probleme innerhalb des Systems kommen, gibt es eine Rückführung in Phase Eins, in der sich das System bildet. In der Phase Zwei eignet sich besonders eine Begleitung durch systemisch-tiefenpsychologisch arbeitende ­Familientherapeuten. Dabei ist es möglich, neben der Darstellung der Konflikte und

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deren Verstehen, zu einer Lösung zu kommen, bei der die Gefühle und Wünsche aller Beteiligten einfühlsam berücksichtigt werden (Rieforth u. Graf, 2014). Denn: Natürlich steht in diesem System das Wohl des Kindes im Vordergrund. Dieses Wohl kann aber nur erreicht werden, wenn das Wohl aller Beteiligten berücksichtigt wird.

Mütter und Kinder in gemeinsamen Einrichtungen Während der Schwangerschaft sind Mutter und Kind eine Einheit. Es gibt einen gemeinsamen Blutkreislauf, das Kind wird durch die Mutter genährt. Es ist zufrieden, wenn es der Mutter gut geht, es spürt, wenn sie Probleme hat und es reagiert darauf mit Unruhe. Die Geburt trennt Mutter und Kind, aber eine sehr enge Verbindung bleibt bestehen. Noch, zumindest in den meisten Fällen, gibt es sehr viel körperliche Nähe zwischen Mutter und Kind. Der Säugling wird von der Mutter gestillt, und er schläft in ihren Armen, beruhigt von ihrer Stimme und durch ihren Herzschlag, beide sind dem Kind aus der Zeit der Schwangerschaft vertraut. Mutter und Kind in dieser frühen Zeit, nämlich schon kurz nach der Geburt, zu trennen, bedeutet eine traumatische Erfahrung für den Säugling, die Auswirkungen auf sein gesamtes weiteres Leben haben kann, wie die Hirnforschung nachgewiesen hat. Depressionen, verminderte Stresstoleranz etc. können die langfristigen Folgen sein. Mit dem Wissen, dass frühe Trennungen von Mutter und Kind bleibende Schäden verursachen können, hat in den letzten Jahrzehnten ein Umdenken in der Arbeit in verschiedenen Institutionen stattgefunden, zum Beispiel im Strafvollzug, in der Drogentherapie und Psychiatrie. Mutter und Kind im Strafvollzug Die gemeinsame Unterbringung von Müttern und ihren Kindern in Haftanstalten ist eng mit dem Namen der langjährigen Leiterin der Frauenvollzugsanstalt Frankfurt Preungesheim, Helga Einsele, verbunden. Sie schreibt schon in einer 1978 veröffentlichten Publikation:

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»Dass die Entwicklung von Säuglingen und Kleinkindern in besonders hohem Maße von der Beziehung zur Mutter […] abhängt, ist heute allgemein bekannt und gilt genauso für die Kinder strafgefangener Frauen. Den recht präzisen Forschungsergebnissen von Rene A. Spitz und psychologischen Theorien ist zu entnehmen, dass nicht Gefängnismauern, sondern die frühe Trennung von der Mutter das Hauptproblem für das Kind darstellt.   Es hat sich gezeigt, dass Kinder, die zusammen mit ihren Müttern in Heimen oder Gefängnissen leben, weit besser gediehen, als Kinder ohne Mütter. […] Die Mütter kommen meist aus der sozialen Unterschicht, sind sehr häufig in verschiedenen Heimen aufgewachsen oder lebten in gestörten Familien […]. Es sind manche Frauen darunter, die erstmals das Aufwachsen und Gedeihen ihres Kindes erleben, obwohl sie bereits mehrere Kinder geboren haben. Sie trennten sich bisher stets bald von ihnen, da sie den Belastungen nicht gewachsen waren« (Einsele u. Dupuis, 1978, S. 63). Zunächst blieben Kinder nur kurz bei ihren Müttern in der Haftanstalt, »dann wurde diese Zeitspanne immer weiter ausgedehnt, weil nur so die seelische Verbindung zwischen Mutter und Kind durch tägliches Zusammensein gefördert werden konnte« (S. 63). Einsele belegte mit Zahlen, dass Kinder, die während einer längeren Haftzeit mit ihren Müttern zusammen waren, eine enge Beziehung zu ihren Müttern entwickelten und auch nach der Haftzeit mit ihren Müttern zusammenblieben. Die Mutter-Kind-Haftanstalt Frankfurt Preungesheim revolutionierte in den 1970er Jahren den Strafvollzug mit der Erkenntnis, dass es für Kinder eine große Sicherheit bedeutet, wenn sie möglichst lange mit ihren Müttern zusammen sein können. Heute gibt es im gesamten Bundesgebiet sieben Einrichtungen, in denen inhaftierte Mütter mit ihren Kindern gemeinsam leben können. Eine davon ist das Mutter-Kind-Haus der Justizvollzugsanstalt für Frauen in Vechta. Ziele dieser Einrichtung sind:

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»Die Trennung von Mutter und Kind während der Haft zu vermeiden und dadurch Störungen in der frühkindlichen Entwicklung entgegenzuwirken, positive Entwicklungsprozesse einzuleiten, soziale Entwicklung zu intensivieren und eine Festigung der Mutter-Kind-Beziehung zu fördern, die Mütter entsprechend der Entwicklungsstufe ihrer Kinder, in ihrer Erziehungsfähigkeit zu stärken und weiterzubilden, das mütterliche Erziehungsverhalten zum Wohle des Kindes anzuleiten und positiv zu beeinflussen«.10 Mutter und Kind in der Drogentherapie Noch vor nicht allzu langer Zeit bedeutete eine Drogentherapie für den Patienten eine absolute Trennung von seinem gewohnten Umfeld. Der Drogenentzug fand meist in einem psychiatrischen Krankenhaus statt. Danach folgte eine länger angelegte Therapie, häufig weit weg in einer ländlichen Umgebung. Oft gab es eine Kontaktsperre zu Freunden und der Familie. Hintergrund für diese Maßnahme war die Meinung, dass das soziale Umfeld dazu beigetragen habe, den Drogenabhängigen süchtig zu machen. Für Mütter bedeutete das auch die Trennung von ihren Kindern. Diese Regelung war aber ein wichtiger Grund, warum gerade Mütter oft eine Drogentherapie abbrachen und rückfällig wurden. Seit einigen Jahren ist es in vielen Therapieeinrichtungen für Mütter möglich, ihre Kinder mitzubringen. Als Beispiel seien hier die Kraichtal-Kliniken genannt. Diese Drogentherapieeinrichtung schreibt in ihrem Konzept:

10 Justizvollzugsanstalt für Frauen in Vechta (o. J.). Das Mutter-Kind-Haus der JVA für Frauen in Vechta. Abgefragt am 22.10.2015 unter http://www.jva-fuer-frauen. niedersachsen.de/portal/live.php?navigation_id=24017&article_id=89798&_ psmand=179

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»Suchttherapie mit Kind stellt für die Mutter einerseits eine große Herausforderung dar, andererseits erleben wir es immer wieder, dass die Anstrengung am Ende mit einer gefestigten Mutter-KindBeziehung, gestärkter Erziehungskompetenz der Mutter und oft erstaunlicher Entwicklungsschüben der Kinder belohnt wird. […] Wir begegnen jeder Mutter grundsätzlich mit Wertschätzung und Vertrauen in die eigene Entwicklungsfähigkeit. Wir gehen davon aus, dass jede Mutter, die sich auf die Behandlung einlässt, eine gute Mutter sein und für ihr Kind das Beste will – selbst wenn das in der Vergangenheit aufgrund der Suchterkrankung manchmal nur begrenzt möglich war. Allein das intensive Zusammenleben unter Abstinenzbedingungen ermöglicht oftmals bereits eine deutliche Verbesserung der Mutter-Kind-Beziehung. Das Kind erlebt seine Mutter als zuverlässige Bezugsperson, die ansprechbar und emotional erreichbar ist. Die klare Tagesstruktur bietet Mutter und Kind einen sicheren Rahmen, in dem sich Phasen des Miteinander und der guten Trennung abwechseln. Unter diesen Bedingungen machen die Kinder oft in kurzer Zeit erstaunliche Entwicklungsschritte«.11 Mutter und Kind in der Psychiatrie Wie in drogentherapeutischen Einrichtungen ist es auch in der Psychiatrie noch nicht lange üblich, Mütter und Kinder gemeinsam aufzunehmen. Auch heute werden Kinder fast automatisch von ihren psychisch kranken Müttern oder Müttern mit psychischen Problemen getrennt. Aber selbst hier beginnt sich die Arbeit mit Patienten zu verändern, und es gibt eine Reihe von psychiatrischen Krankenhäusern, die mit Müttern und Kinder gemeinsam arbeiten. Das Bethesda Krankenhaus in Hamburg Bergedorf ist ein Beispiel dafür:

11 Kraichtal-Kliniken (o. J.). Mutter-Kind-Therapie: Kinder sind bei uns willkommen … Abgefragt am 29.10.2015 unter http://www.kraichtal-kliniken.de/ index. php/mutterkindkraichtalblick

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»Die Behandlungskonzeption der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie basiert wesentlich auf einem psychodynamischen Verständnis psychischen Krankseins. Arbeit an und in der Beziehung, Verstehen zugrunde liegender innerseelischer Konflikte und eine entwicklungspsychologische Betrachtungsweise stehen im Mittelpunkt. Sie werden ergänzt durch eine systemische Betrachtung der familiären und sozialen Zusammenhänge«.12 Auf der Station S 12 werden Patienten mit Depressionen, Ängsten, Zwängen, emotionaler Instabilität, Psychosen nach einer akuten Phase und mit Essstörungen behandelt. Hier können einige kranke Mütter mit ihren Kindern aufgenommen werden. Zum Konzept der Klinik gehört es, Entwicklungs- und Erziehungsberatung zu leisten. Wenn es also Möglichkeiten gibt, dass Mütter und Kinder auch in extremen Lebenssituationen zusammenbleiben können, dann müsste es auch umsetzbar sein, dass Kinder nicht grundsätzlich in Pflegefamilien untergebracht werden, wenn ihre Mütter mit der Versorgung und Betreuung der Kinder überfordert sind. Therapeutisches Zusammenleben von Müttern und Kindern Die von uns beschriebenen Mütter haben große Probleme, Mütter zu sein und diese Rolle auszufüllen. Sie sind mit der Versorgung der Kinder überfordert, es fällt ihnen schwer, Beziehungen einzugehen, sie haben vielleicht eine Suchterkrankung oder leiden unter Depressionen. Wenn sie sich verlieben, vergessen sie oft, dass sie ein Kind haben. Diese Mütter sind sehr hilfsbedürftig, sie haben selbst einen besonderen Betreuungsbedarf. In diesen Fällen schreitet das Jugendamt ein und bringt die Kinder in Pflegefamilien oder in Heimen unter. Es sollte bessere Möglichkeiten geben, als Mutter und Kind zu trennen. Dabei könnten Einrichtungen helfen, die Mutter und Kind im System gemeinsam bereuen und für alle Mütter mit Schwierig12 Bethesda Krankenhaus Bergedorf (o. J.). Station 12: Depressionen, Persönlichkeitsstörungen und Mutter-Kind-Behandlung. Behandlungskonzept. Abgefragt am 29.10.2015 unter http://www.klinik-bergedorf.de/Station12

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keiten offen wären, nicht nur für Mütter, die straffällig geworden sind, für drogenabhängige und psychisch kranke Mütter. Natürlich könnten gezielte Mutter-Kind-Programme in den vorhandenen, beschriebenen Institutionen am einfachsten durchgeführt werden. Dazu kämen noch in Frage: Frauenhäuser, Einrichtungen des betreuten Wohnens, Pflegeheime und andere. Unser Ideal: Ein Mutter-Kind-Dorf, in dem Mütter und Kinder zusammenleben, auch wenn die Mütter nicht zur oben beschriebenen Klientel gehören. Die Mutter bliebe die Hauptbezugsperson für das Kind. Wenn und soweit sie dazu in der Lage wäre, trüge sie die Verantwortung für ihr Kind und dessen Versorgung. Das Kind würde den Kindergarten oder die Krabbelgruppe besuchen. Die Erzieherinnen wären in gutem Kontakt mit den Kindern und den Müttern. Sie sprängen ein, wenn die Mutter ausfällt. Vielleicht verschwände diese für ein paar Tage, weil sie einen Mann kennengelernt hätte, vielleicht würde sie rückfällig, wenn sie suchtkrank wäre oder es ginge ihr psychisch nicht gut. Dann wären die vertrauten Erzieherinnen für die Kinder da. Es gäbe ein besonderes Kinderzimmer. In ihm könnten die Kinder in dieser problematischen Zeit leben, und hier hätten sie vertraute Menschen um sich. Die Kinder würden so im Dorf bleiben, in einer sicheren, ihnen gewohnten Umgebung, bis die Mutter zurück wäre. Dann würde mit der Mutter am Problem gearbeitet werden. Therapeuten stünden dafür zur Verfügung. Keine Mutter würde aus der Einrichtung hinausgeworfen werden, weil sie ihr Kind alleingelassen hätte. Die Erzieherinnen würden die Mütter anleiten, sich aktiv mit ihren Kindern zu beschäftigen. Viele Mütter brauchen hier Unterstützung. Gemeinsam könnte gelesen, gebastelt und geturnt werden. Babyschwimmen, Spaziergänge und Singen würden organisiert, Einschlaf- und Ruherituale eingeübt. Die Mütter könnten sich in einer regelmäßig stattfindenden Müttergruppe austauschen und in Beratungsgesprächen von den Erzieherinnen über die Entwicklung des Kindes informiert werden. Vielleicht hätte das Kind einen besonderen Förderungsbedarf. Dann könnte sich die Erzieherin nach Rücksprache mit der Mutter an die entsprechenden Stellen wenden. Immer wieder fänden Gespräche statt, die die Mutter-Kind-

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Modelle zur Veränderung des Pflegekinderwesens

Beziehung zum Inhalt hätten. Eine Möglichkeit der Beratungsarbeit wäre, Mutter und Kind in alltäglichen Situationen zu filmen, später den Film gemeinsam anzusehen und die gefilmten Situationen zu besprechen. Eine psychische Erkrankung ist kein Grund für eine Trennung von Mutter und Kind. Viele Frauen, besonders sehr junge Mütter, leiden unter Schwangerschaftspsychosen oder Depressionen. Etwa 10 bis 15 % aller Frauen leiden unter einer postnatalen Depression, circa 0,1 bis 0,2 % an einer postnatalen Psychose. Dies trifft besonders junge Erstgebärende.13 Manchmal bleiben diese Erkrankungen nach der Entbindung bestehen, sie können aber nie ein (alleiniger) Grund für eine Fremdplatzierung des Kindes sein. Für die Arbeit in einer solchen Gemeinschaft, unserem idealen Therapiedorf, eignet sich ein tiefenpsychologischer Ansatz, kombiniert mit systemischer Therapie, wie es bereits im Kapitel »Arbeit mit dem Mutter-Kind-Gefüge« (S. 149 ff.) beschrieben wurde.

13 9 monate (o. J.). Postnatale Depression (Wochenbettdepression). Abgefragt am 29.10.2015 unter http://www.9monate.de/schwangerschaft-geburt/entbindung-kaiserschnitt/wochenbettdepressionen-id94503.html

Mütter und Kinder in gemeinsamen Einrichtungen

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Resümee

Dieses Buch nimmt Partei für die Mütter im Pflegekinderwesen. Je länger wir an dem Thema arbeiteten, desto deutlicher wurde uns, wie notwendig diese Parteilichkeit ist. Die Mütter sind einfach die am schlechtesten Vertretenden in diesem System. Sie werden verachtet wegen ihrer Symptome, psychischen Erkrankungen, ihrer Herkunft. Diese Verachtung begegnete uns oft, manchmal nur schlecht verborgen. Die Mütter werden auch angefeindet, wenn sie um ihre Rechte kämpfen, nicht einfach ihr Kind freiwillig abgeben wollen. Und oft werden sie noch mit Tricks um ihre letzten Rechte gebracht, wie das Fallbeispiel von Petra (S. 47 ff.) zeigte. Manchmal hat man sogar das Gefühl, Ämter und Pflegedienste verschwören sich gegen die Mütter, wenn diese plötzlich und nicht nachvollziehbar gar nicht mehr wissen dürfen, wo ihre Kinder untergebracht sind. So stießen wir auf verschiedene anonyme Unterbringungen, die im Gesetz gar nicht vorgesehen sind. Der Gedanke, die Mütter zu unterstützen, ist nicht ganz neu. Nicht umsonst haben einige Pflegekinder-Organisationen inzwischen sogar Stellen geschaffen für Sozialpädagoginnen, die diese Aufgabe erfüllen (sollen). Leider erreichen diese Mitarbeiterinnen nur einen geringen Anteil der betroffenen Mütter – nämlich den mittelschichtsnahen. Das sind gleichzeitig die Mütter mit den wenigsten Problemen. Das soll heißen, von diesem Angebot profitieren Mütter, die ihre Gefühle reflektieren und ausdrücken können. Ziel dieser Maßnahmen ist offenkundig nicht, die Mütter näher an ihre Kinder heranzuführen, sondern sie zu beruhigen, mit dem Geschehenen auszusöhnen, so dass sie dem Ereignis zustimmen. Das ist sicher sinnvoll – und führt auch dazu, dass solchermaßen befriedete Mütter im System weniger stören. Trotzdem werden Mitarbeiterin-

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nen, die parteiisch für die Mütter sind, in den Pflegekinderverbänden immer noch mit Misstrauen angesehen. Der Grundgedanke »alles zum Wohle des Kindes« ist ein Gedanke, den wir selbstverständlich teilen! Natürlich sollen nicht alle Mütter bedingungslos ihre Kinder behalten können. Jedes Kind auf der Welt sollte die Chance haben, geborgen, respektiert und mit einem Zugang zur Bildung aufzuwachsen – respektiert zu werden beinhaltet auch das Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit. Wir haben auch gesehen, wie zahlreiche Pflegeeltern mit viel Engagement versuchen, diese Aufgabe zu erfüllen. Reine Parteilichkeit hilft also nicht wirklich weiter, eklatante und deutliche Missstände zu beheben. In der Realität gibt es Gewinner und Verlierer. Verlierer sind eindeutig die Mütter, Gewinner sind ebenso eindeutig die freien Träger, die die ausgesourcte Aufgabe des Jugendamtes übernommen haben. Zur Erinnerung: Die Pflegeeltern bekommen (im Durchschnitt) 800 Euro pro Kind und Monat, die Pflegekinderdienste 900 Euro, das heißt, dass eine Fachberaterin, die 40 bis 50 Pflegekinder betreut, ihrem Verein monatlich 36.000 bis 45.000 Euro einbringt (Wolf, 2013, S. 269). Es gibt inzwischen Jugendämter, die die Aufgabe, Pflegekinder zu vermitteln und die Pflegefamilien zu betreuen, zurück von den Pflegekinderdiensten ins Amt holen – und die dann trotz Neueinstellungen viel Geld sparen. Die Pflegeeltern stehen zwischen Ämtern, Pflegekinderdiensten und Eltern. Subjektiv haben sie manchmal gewonnen – wenn sich mit dem Pflegekind zum Beispiel ein langer, starker Kinderwunsch scheinbar endlich erfüllt. Verloren haben sie, weil sie trotz Fachberatung mit vielen Problemen für sich dastehen: Unglücklich beendete Pflegeverhältnisse müssen sie allein verarbeiten, Konflikte können sie den Fachberatern nur abgemildert schildern. Letzteres liegt darin begründet, dass Pflegeeltern für ihre Arbeit, die Aufnahme und Betreuung der Kinder, Geld bekommen. Sie sind somit auch finanziell auf diese Pflegekinder angewiesen, da ihr Einkommen maßnahmenbezogen ist. Letzteres bedeutet zum Beispiel, dass es den Pflegeeltern schwerfällt, sich ausreichend fachliche Unterstützung von den Fachberatern der Pflegekinderdienste zu holen. Um selbst nicht inkompetent zu erscheinen, was möglicherweise bedeu-

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ten würde, das Pflegekind aus der Pflegefamilie zu nehmen, müssen sie oft schwere Konflikte abgeschwächt darstellen, weil sie Angst haben, ihre Arbeit zu verlieren. Pflegeeltern bräuchten auf zwei Ebenen mehr Unterstützung. Erstens benötigen sie Hilfe dabei, ihre persönliche Motivation und ihre Eignung für die Aufgabe der Pflegeelternschaft zu prüfen. Zudem bräuchten sie viel mehr (zuerst) theoretisches Wissen über die Kinder, die ihnen begegnen werden, ihre Probleme und ihr Verhalten. Zweitens fehlt ihnen Unterstützung im Alltag, die es ihnen beispielsweise auch einmal ermöglichen würde, allein in den Urlaub zu fahren. Alle Beteiligten des Eltern-Kinder-Pflegeeltern-Beratersystems bräuchten also eine Unterstützung und eine klarere Definition davon, welches ihr Ort im System ist und wie sie mit den anderen Orten vernetzt sind. Damit würde sich die Chance erhöhen, zu gelingenden Pflegeverhältnissen zu kommen – und den Kindern, um die es geht, ein gutes Leben zu ermöglichen. Das führt uns zu der abschließenden Betrachtung: Was ist ein gelungenes Pflegeverhältnis? Und wie soll das gemessen werden? Für den Erfolg eines Pflegeverhältnisses kann man zwei sehr einfache Kriterien anlegen: 1. Das Pflegekind ist in der Lage, stabile soziale Kontakte zu entwickeln – und als Erwachsener eine Liebesbeziehung zu führen. 2. Es ist im entsprechenden Alter in der Lage, eine Berufsausbildung erfolgreich abzuschießen – oder einer geregelten Arbeit nachzugehen und finanziell selbstständig zu werden. 3. Es ist als Erwachsener selbstreflexiv, das bedeutet, es kann seine Fähigkeiten und Stärken ebenso benennen wie Schwächen und Mängel und an seiner Persönlichkeitsentwicklung weiterarbeiten. Dazu gehört besonders die Bereitschaft, das, was aus seiner ungewöhnlichen Kindheit übriggeblieben ist (Symptome, Gefühle von Verletzung, Insuffizienzgefühle etc.), selbstverantwortlich zu verarbeiten, gegebenenfalls mit psychotherapeutischer Unterstützung. Kurz gesagt, ein Kind, das unter guten Bedingungen ganz oder in Phasen seines Lebens als Pflegekind aufgewachsen ist, unterscheidet sich wenig von einem Kind, das ununterbrochen bei mindestens einem Elternteil groß wird.

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Um das oben entworfene Ziel zu erreichen, müssen viele Bedingungen erfüllt sein: 1. Das Kind bleibt ausreichend lange in einer funktionierenden, gut unterstützten Pflegefamilie. Dabei werden 2. seine negativen Bindungserwartungen enttäuscht, und es kann aus einem ausreichenden Angebot an Bindungsmustern das ihm angemessene wählen. So kann es sein eigenes Bindungsverhalten aufgrund positiver Erfahrung korrigieren. Eine gut funktionierende, heilsame Pflege schließt 3. ein, dass das Recht des Kindes auf seine Herkunft bedingungslos respektiert wird. Dazu zählt auch, dass das Kind eine Beziehung zu seiner Mutter entwickelt. Ohne die Beziehung zu seiner Mutter ist die Gefahr, dass es sonst zu einer psychopathogenen Entwicklung kommt, enorm groß. Ein positives Ergebnis einer Pflege liegt auch vor, wenn das Kind mit entsprechender Begleitung und Unterstützung der Mutter/des Herkunftssystems zu dieser/diesem zurückgeführt werden und hier eine stabile Bindung entwickeln kann.

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Literatur

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