Rhythmus - Balance - Metrum: Formen raumzeitlicher Organisation in den Künsten [1. Aufl.] 9783839425466

This volume demonstrates that a richer notion of spatiotemporal organization in the arts and beyond can allow contouring

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German Pages 214 [215] Year 2014

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Rhythmus - Balance - Metrum: Formen raumzeitlicher Organisation in den Künsten [1. Aufl.]
 9783839425466

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Inhalt

Einleitung

Christian Grüny, Matteo Nanni | 7 Eine Geschichte der Rhythmen: warum und wie?

Jean-Claude Schmitt | 15 Die Tücken des Binären, oder warum Gilles Deleuze die Betrachtung des Rhythmus in der Barockmusik aufgegeben hat

Alexander Jakobidze-Gitman | 31 Kulturen des musikalischen Rhythmus

Steffen A. Schmidt | 59 Rhythmus und Geste, oder Metaphysics in Mecklenburgh Street

Christian Grüny | 73 Typen posttonaler Rhythmik

Claus-Steffen Mahnkopf | 95 Phänodramen oszillierender Membranen

Inge Hinterwaldner | 109 Henri Matisse, Jazz und der Rhythmus des Lesens

Martin Sundberg | 137 Rhythmusexperimente – Halt und Bewegung

Christopher Hasty | 155 Zu den Autorinnen und Autoren | 209

Einleitung Christian Grüny, Matteo Nanni Die drei Begriffe, die diesem Buch seinen Titel geben, spielen jeder für sich und in ihrer Kopplung eine ganze Reihe unterschiedlicher Disziplinen an. Rhythmus und Metrum verweisen zunächst auf einen musikbezogenen Kontext; berücksichtigt man aber ihre Etymologie und Begriffsgeschichte, so kommen auch Literatur, Philosophie, Geschichte, Tanz und Kunstwissenschaft ins Spiel. Als normativen Begriff finden wir ῥυϑμός (rhythmós) in seinen grundlegenden Definitionen bei Platon und Aristoxenos als „Prinzip einer faßlichen Bewegungs- und Zeitordnung“1, wobei bereits der Ursprung des griechischen Wortes in der Bedeutung von Proportion und Verhältnis ebenso auf die Disziplin der Mathematik verweist: Die lateinische Übersetzung für den Terminus ῥυϑμός lautet ab dem 1. Jahrhundert v. Chr. numerus. Die Einführung des Begriffs der Balance mag in diesem Kontext eher überraschen; dabei hat die Kopplung von Rhythmus und Balance etwas Bestechendes: Es scheint eine unmittelbar einleuchtende Affinität zwischen ihnen zu geben, ohne dass sich genau benennen ließe, worin diese besteht. In beiden Fällen geht es um eine nicht beliebige Ordnung von Verhältnissen, die wesentlich im Ästhetischen stattfindet, aber nicht auf diese Sphäre und schon gar nicht auf die Kunst beschränkt ist. Gerade in ihrer Kopplung beleuchten die Begriffe sich gegenseitig: Es ist nicht selbstverständlich, Rhythmus unter dem Gesichtspunkt der Balance anzusehen und umgekehrt, und insofern scheint sich hier eine spezifische theoretische Position anzudeuten, die noch explikationsbedürftig ist. In jedem Fall ist Vermittlungsarbeit nötig, um organisierte zeitliche Gliederung und räumliche Ausgewogenheit – als Minimaldefinitionen – in ein geklärtes Verhältnis zueinander zu setzen. Dabei kann man sich nun naheliegenderweise an John Dewey halten. In Kunst als Erfahrung heißt es im Rahmen einer langen Auseinandersetzung mit der Frage des Rhythmus: „Denn die Idee organisierter Energie bedeutet, daß Rhythmus 1 | Wilhelm Seidl, Art. Rhythmus/numerus, in: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, hg. von Hans Heinrich Eggebrecht, Stuttgart 1980, S. 1 [nicht durchgehend numeriert].

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und Balance nicht getrennt werden können, obschon sie gedanklich unterschieden werden können.“2 Voraussetzung für diese enge Verbindung ist also ein energetisches Verständnis künstlerischer Gestaltung, das das Vorliegen von Verhältnissen nicht von ihrer Erfahrung trennt bzw., genauer, außerhalb der Erfahrung gar keine ästhetisch relevanten Verhältnisse erkennt. Raum und Zeit lassen sich diesem Verständnis zufolge nicht voneinander trennen, sondern bilden je unterschiedliche Konstellationen; zwar würde man Rhythmus eher der Musik und Balance eher der bildenden Kunst zuordnen, letztlich handelt es sich für Dewey aber lediglich um einen Unterschied der Perspektive, nicht um einen der Gegenstände: „Wir sehen Intervalle und Richtungen auf Bildern, und wir hören Distanzen und Umfänge in der Musik.“3 Nun soll hier mit diesen beiden Begriffen noch ein dritter verbunden werden, der des Metrums. Anders als bei den anderen beiden mit ihrem weiten Assoziationsraum haben wir es hier mit einem eher technischen Begriff zu tun, der zudem mit zwei spezifischen künstlerischen Disziplinen verbunden ist, nämlich der Musik und der Dichtungstheorie. Die Zusammenstellung von Rhythmus und Metrum führt in eine ganz andere Richtung als die zuvor genannte: Sie weist auf eine recht spezielle, in diesen Bereichen ausführlich geführte Diskussion, deren Relevanz über sie hinaus zwar erkennbar ist, deren technischer Charakter aber einen Anschluss schwierig zu machen scheint. Anhand der beiden Begriffe wird das Verhältnis von (zeitlicher) Regelmäßigkeit und freier Gestaltung verhandelt, das gerade in der Musik mit ihren ausgefeilten Mitteln zeitlicher Gestaltung besonders komplex, aber auch besonders gut greifbar ist. In der auf die Musik bezogenen Diskussion – die Verslehre als historisches Phänomen sei hier und im weiteren ausgeblendet – werden die Motive des Maßes und des Messens zunehmend als problematisch erkannt, weil sie ein Vorliegendes suggerieren, an dem Maß genommen werden kann, und damit den zeitlichen Charakter der behandelten Phänomene nicht ernst genug nehmen.4 Dennoch wird man das Problem nicht los, das mit der Entgegensetzung von Rhythmus und Metrum beschrieben werden soll, nämlich die Spannung von Freiheit und Gebundenheit. Formuliert man dieses Grundproblem weniger technisch und disziplinenspezifisch, wird seine Relevanz auch für andere Kunstformen erkennbar. In der genannten Spannung muss sich jede Diskussion um die raumzeitliche Gestaltung in den unterschiedlichen Künsten aufhalten, von ihr muss sie ausgehen und für sie muss sie theoretische Angebote machen. Es mag sein, dass sie gut daran tut, sich nicht vorschnell auf begriffliche Entgegensetzungen festzulegen, die Maß und

2 | John Dewey, Kunst als Erfahrung, Frankfurt a.M. 1980, S. 208. 3 | A.a.O., S. 214. 4 | Vgl. vor allem Christopher F. Hasty, Meter as Rhythm, New York u. Oxford 1997.

Einleitung

Beweglichkeit als Prinzipien klar festschreiben und voneinander trennen, sondern die Unterscheidung selbst beweglich zu halten. An dieser Stelle könnte der Begriff der Balance ins Spiel kommen, der es bis heute nicht zu terminologischer Schärfe gebracht hat und der auch von Dewey en passant eingeführt und eher allgemein bestimmt wird. Er würde dann auch hier weniger die Seite der bildenden Künste oder eine eher an diesen gewonnene Perspektive vertreten als vielmehr als vermittelnder Begriff zwischen Rhythmus und Metrum einzutreten. Balance kann für die offene Frage nach der Ordnung stehen, nach Konsistenz, Ausgewogenheit und Stimmigkeit, die immer ein Moment des Temporären und Prekären behalten. Es erscheint tatsächlich produktiv, einen solchen Vermittlungsbegriff in die Diskussion einzuführen. Seit mit der Einführung des Akzentstufentaktes in der Musik des Barock die scharfe Unterscheidung von Metrum und Rhythmus gesetzt worden ist, arbeitet sich die Diskussion an ihr ab. Paradigmatisch ist dafür die Auffassung, die die beiden auf unterschiedlichen kategorialen Ebenen verortet. So heißt es dann bei Moritz Hauptmann: „Metrum wollen wir das stetige Maass nennen, wonach die Zeitmessung geschieht. Rhythmus, die Art der Bewegung in diesem Maasse.“5 Seitdem wird diese Unterscheidung in immer neuen Varianten durchgespielt. Einige Beispiele: Cooper und Meyer verstehen das Metrum als Matrix, die den Rhythmus hervorbringt,6 Yeston unterscheidet mehrere Ebenen mit dem bloßen neutralen Nacheinander der Klänge an der Oberfläche und der metrischen Grundstruktur in der Tiefe,7 Lerdahl und Jackendoff rekonstruieren die gehörte Musik als eine Art gestaffeltes Suchbild, bei dem aus den – hier allerdings gegliederten – Oberflächenphänomenen die metrische Tiefenstruktur erfasst werden muss,8 Lidov schreibt nur den Rhythmus der Musik zu und verortet das Metrum ganz in den Reaktionen des Hörers.9 Erstaunlicherweise ist es gerade Riemann, der die Entgegensetzung von Metrum und Rhythmus unterläuft, indem er beide Begriffe umdeutet. Allerdings sind seine Ausführungen weitgehend an den klassischen Periodenbau und die harmonische Tonalität gebunden.10 In jüngerer Zeit hat 5 | Moritz Hauptmann, Die Natur der Harmonik und der Metrik. Zur Theorie der Musik, Leipzig 1873, S. 211. 6 | Vgl. Grosvenor W. Cooper u. Leonard B. Meyer, The Rhythmic Structure of Music, Chicago 1960. 7 | Vgl. Maury Yeston, The Stratification of Musical Rhythm, New Haven 1976. 8 | Vgl. Fred Lerdahl u. Ray Jackendoff, A generative theory of tonal music, Cambridge, MA u. London 1983. 9 | Vgl. David Lidov, Repairing Errors in the Musical Theory of Meter, in: Christa Brüstle, Nadia Gattas u. Clemens Risi (Hg.), Aus dem Takt. Rhythmus in Kunst, Kultur und Natur, Bielefeld 2005, S. 161-173. 10 | Vgl. Hugo Riemann, System der musikalischen Rhythmik und Metrik, Leipzig 1903.

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Steffen Schmidt eine Rhythmustheorie vorgeschlagen, die diesen als „Auspendeln“ zwischen den jeweiligen rhythmischen Gestalten versteht und damit sehr nah an der Idee der Balance ist (auch wenn er letztlich am Metrum als gegebenen Maß festhält).11 Christopher Hasty schließlich hat versucht, die Unterscheidung generell zu überwinden und Metrum als emergente Eigenschaft konkreter rhythmischer Phänomene zu beschreiben.12 In der bildenden Kunst ist die Lage naheliegenderweise eine andere: Hier musste überhaupt erst der Gedanke einer Zeitlichkeit des Bildes und der Skulptur artikuliert werden, um von Rhythmus sprechen zu können. Entsprechend geht es hier mehr um das Vorliegende und seine Entfaltung als um das Raster und das in ihm Stattfindende. Auch wenn der erste prägnante Versuch in diese Richtung bereits in den zwanziger Jahren von Erwin Panofsky (der hier vom Gegensatz von Metrum und Rhythmus ausgeht, um emphatisch den Rhythmus in den Mittelpunkt zu stellen) unternommen wurde,13 hat sich hier bis heute kein Diskussionszusammenhang etabliert. Rhythmus bleibt eine zwar immer wieder in Anspruch genommene, aber für die bildende Kunst kaum terminologisch fixierte Kategorie.14 Weit über die Diskussionslage in der Musik und in den Künsten überhaupt hinaus ist der Begriff des Rhythmus in den unterschiedlichsten Kontexten mobilisiert und sein Anwendungsbereich ins Unabsehbare erweitert worden. Seinen Ursprung hat die Emphase, mit der er aufgeladen worden ist, in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Bei Ludwig Klages wird er zur Welterklärungsformel und gleichzeitig zum Inbegriff der Lebendigkeit der „Seele“, bei Émile Jaques-Dalcroze und anderen zum Zentrum reformpädagogischer Bemühungen, bei Richard Hö11 | Steffen A. Schmidt, Schnitt und Strom. Ansätze zu einer integralen Funktionstheorie des musikalischen Rhythmus, in: Musik & Ästhetik 3, 9 (1999), S. 58-72. 12 | Vgl. Hasty, Meter as Rhythm, a.a.O. In musikpsychologischen Kategorien finden sich ähnliche Motive auch bei Justin London, Hearing in Time. Psychological Aspects of Musical Meter, Oxford 2004. 13 | Vgl. Erwin Panofsky, Albrecht Dürers rhythmische Kunst, in: Jahrbuch für Kunstwissenschaft, Leipzig 1926, S. 136-192, jetzt in: ders., Deutschsprachige Aufsätze I, Berlin 1998, S. 390-474. 14 | Vgl. aber Rudolf Kuhn, Komposition und Rhythmus. Beiträge zur Neubegründung einer Historischen Kompositionslehre, Berlin u. New York 1980; Lorenz Dittmann, Probleme der Bildrhythmik, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 29, 2 (1984), S. 192-213; ders., Bildrhythmik und Zeitgestaltung in der Malerei, in: Hannelore Paflik (Hg.), Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, Weinheim 1987, S. 89-124; Gottfried Boehm, Bild und Zeit, in: Paflik, Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, a.a.O., S. 1-23; Guido Reuter, Statue und Zeitlichkeit 1400-1800, Petersberg 2012; Christian Grüny, Bildrhythmen, in: Rheinsprung 11, 05 (2013), S. 149-161 (rheinsprung11.unibas. ch/ausgabe-05/glossar/bildrhythmen.html).

Einleitung

nigswald zum erkenntnistheoretischen Zentralbegriff.15 Im Begriff des Rhythmus bündeln sich so die Versprechen eines universalen theoretischen Instruments, eines ganz praktischen, körperlich-seelischen Anschlusses an eine elementare Wirklichkeit und einer neuen Form von Gemeinschaftsbildung, die allesamt gegen die mechanische, seelenlose Wiederholung des Metrums oder Takts in Stellung gebracht werden. Auch wenn die große Emphase hier sicher vergangen ist, hat sie doch ihre Spuren hinterlassen; von hier ausgehend trägt der 2005 erschienene, von Patrick Primavesi und Simone Mahrenholz herausgegebene Band Geteilte Zeit den Untertitel Zur Kritik des Rhythmus in den Künsten.16 Die Mehrdeutigkeit ist bezeichnend: Sowohl die Künste als auch der Rhythmus können als Subjekte und als Objekte dieser Kritik zugleich verstanden werden. Wenn künstlerische Positionen sich kritisch gegen die Rhythmusemphase wenden, richtet sich diese Kritik in der Regel gegen die mitunter dubiose, antimoderne Betonung des Elementarischen, Archaischen und die Beschwörung basaler Einheit und mobilisiert dabei bisweilen selbst rhythmische Figuren – solche, die sich einer solchen Vereinheitlichung entziehen. Dabei ist die Tilgung oder vollständige Transformation des Rhythmus in berechenbare absolute Zeitverhältnisse in der seriellen Musik ein extremes Beispiel17; daneben finden sich auch die „Verbindung einer strikten Rationalität der Definition und Transformation mit der Irrationalität einer heftigen Körperlichkeit“18, die Frank Cox in der Neuen Musik beobachtet, oder Positionen, die Rhythmus als „Ausdruck und Bedingung von Veränderung, als eine Wechselwirkung zwischen Milieus oder Zuständen, auf deren Verschiedenheit es ankommt“19, von denen Primavesi und Mahrenholz sprechen. Anschließen kann eine derartige kritische Rhythmuspraxis an die Etymologie des Wortes, die Benveniste vorgelegt hat, und an Maldineys Reflexionen: Benveniste zufolge bezeichnete Rhythmós ursprünglich „die Form in dem Augenblick, 15 | Ludwig Klages, Vom Wesen des Rhythmus, in: ders., Sämtliche Schriften Bd. 3, Bonn 1974, S. 499-551; Émile Jaques-Dalcroze, Rhythmus, Musik und Erziehung, Basel 1921; Gertrud Bünner u. Peter Röthig (Hg.), Grundlagen und Methoden rhythmischer Erziehung, Stuttgart 1971; Richard Hönigswald, Vom Problem des Rhythmus. Eine analytische Betrachtung über den Begriff der Psychologie, Leipzig u. Berlin 1926. Man muss fairerweise sagen, dass Hönigswald nur bedingt in diese Reihe einzuordnen ist, weil er ein deutlich nüchterneres Ziel verfolgt. 16 | Patrick Primavesi u. Simone Mahrenholz (Hg.), Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Künsten, Schliengen 2005. 17 | Vgl. etwa prägnant Karlheinz Stockhausen, ...wie die Zeit vergeht..., in: ders., Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Bd. 1, Köln 1963, S. 99-139. 18 | Frank Cox, Annäherungen an eine Projektive Kunst, in: Musik & Ästhetik 12 (2000), S. 79-85, hier 83f., Fn. 6. 19 | Patrick Primavesi u. Simone Mahrenholz, Einleitung, in: dies., Geteilte Zeit, a.a.O., S. 9-33, hier 14f.

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in dem sie angenommen wird durch das, was beweglich, bewegend, flüssig ist, die Form von dem, was keine organische Konsistenz besitzt“20 – eine Bestimmung, die sich denkbar weit von allen Vorstellungen von Regelmäßigkeit und Vereinheitlichung entfernt. Auch Maldiney weist auf den Aspekt der Form hin, versteht diesen aber als diskrete Artikulation und bezieht ihn auf das griechische σχῆμα.21 Die bewegliche, artikulierte Form ist nicht auf die traditionellen Zeitkünste festgelegt, zeigt sich aber dennoch in einer raumzeitlichen Beweglichkeit, einer Nicht-Feststellbarkeit, die sie auf die Musik ebenso wie auf die Literatur, den Tanz oder die bildende Kunst anwendbar sein lässt. Von unserer Begriffstrias aus könnte man sagen, dass der Begriff des Metrums an diese Form zwei Fragen stellt: einmal die nach ihrer Kohärenz – Wie regelmäßig ist die Ordnung des rhythmischen Geschehens? Scheint es sich selbst im Hinblick auf ein Maß zu organisieren? – und zum anderen die nach dem Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität. Die metrische Ordnung bedarf auch dort, wo sie nicht als vorausgesetztes Raster gedacht wird, der Unterscheidung von Ereignissen, um sie in ein Verhältnis setzen zu können, und erinnert so daran, dass die sich ereignende Form des Rhythmus keine bloße fließende Kontinuität darstellt, sondern eine innere Gliederung, an der die Idee des Maßes überhaupt erst gebildet wird. Eine Theorie des Rhythmus, die all dem Rechnung trägt, müsste eine Theorie des Konkreten sein, in dem sich das Verhältnis von Maß und Bewegung, von Kontinuität und Diskontinuität je spezifisch ausbalanciert. Sie hätte so die drei Begriffe des Titels in sich aufgenommen. Die hier versammelten Texte gehen auf unterschiedliche Weise mit diesen Voraussetzungen um, sie widmen sich konkreten Phänomenen in der Musik, der Malerei, dem Tanz und der Literatur, arbeiten dabei aber gleichzeitig mehr oder weniger explizit an der Theoriebildung. Von den hier skizzierten Voraussetzungen her müsste man sagen, dass jede intensive Beschäftigung mit einem Gegenstand unter dem Gesichtspunkt des Rhythmus zugleich an seiner Theorie arbeitet, und dass die Theoriearbeit sich nur vollziehen kann, wenn sie sich an konkreten Gegenständen abarbeitet – auch wenn die Schwerpunkt je unterschiedlich gesetzt werden. Der Text von Jean-Claude Schmitt setzt einen Anfang, der dazu etwas quer steht: Er macht das Feld weit auf und fragt nach den Möglichkeiten und Zielen einer Geschichte der Rhythmen. Ausgehend von der Beschäftigung mit dem Rhythmus im 20. Jahrhundert und dem Neben- oder Gegeneinander von Rhythmuseuphorie 20_ePLOH %HQYHQLVWH 'HU %HJULII GHV ࡏ5K\WKPXV¶ XQG VHLQ VSUDFKOLFKHU $XVdruck, in: ders., Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, München 1974, S. 363-373, hier 371. 21_9JO +HQUL 0DOGLQH\ /·HVWKpWLTXH GHV U\WKPHV LQ GHUV 5HJDUG 3DUROH Espace, Lausanne 1973, S. 147-172.

Einleitung

und Rhythmuskritik skizziert er sein großangelegtes Projekt, eine Geschichte der Rhythmen im Mittelalter zu schreiben. Die Formen raumzeitlicher Organisation, um die es hier geht, sind solche der Gesellschaft, von denen bildliche und musikalische Gestaltungen ausgingen, auf die sie bezogen blieben und die sie möglicherweise zur Darstellung brachten. Alexander Jakobidze-Gitmans Beitrag befasst sich mit Gilles Deleuzes Betrachtungen zum Verhältnis von Rhythmus und Metrum in der Barockmusik. Ausgehend vom „Ritornell“-Kapitel aus Tausend Plateaus zeichnet er die Opposition von Rhythmus und Metrum – verstanden als Maß – nach und fragt nach der Angemessenheit von Deleuze’ Rekonstruktion des Barock. Seine Frage ist, welche Anregungen aus der Musik gewonnen werden können, wenn man nach Zusammenhängen zwischen innermusikalischen Strukturen und weiterem kulturellen Kontext sucht. Steffen A. Schmidt beginnt seinen Text mit einem historischen Exkurs, verfolgt aber ein anderes Ziel, nämlich das einer Kartographie unterschiedlicher Rhythmuskulturen, die heute noch wirksam sind. Neben der rhythmischen Kultur der Marschmusik und der daraus vermeintlich abzuleitenden Tanzmusik ist vor allemeine an der Sprache orientierten klassischen Rhythmik zu nennen, die Schwankungen des Pulses zulässt und als subjektiven Ausdruck gelten lässt. Daneben wird die mathematische Dimension des Rhythmischen angesprochen, die einem archaischen und innovativen Begriff des ethnischen Rhythmus gegenüber zu stehen scheint. Schliesslich spielt noch die phänomenologisch geprägte Rhythmuskultur eine Rolle, die den Rhythmus nicht aus einem festgefügten Raster von Kriterien gewinnt, sondern als Experimentieren der Wahrnehmung und der Wirklichkeit begreift. Christian Grüny entwirft ausgehend von philosophischen und entwicklungspsychologischen Quellen eine gestische Theorie des Rhythmus als kontinuierlicher Modulation. Rhythmus und Geste, Diskontinuität und Kontinuität müssen von hier ausgehend als komplementäre Betrachtungsweisen begriffen werden, was an einem Performancestück von Jonathan Burrows und Matteo Fargion veranschaulicht wird. Schließlich wird das Prinzip des Rhythmus als in sich gespannte Gestaltung von Zeitlichkeit begriffen, von dem die wellenförmige Regelmäßigkeit des Taktes ein besonderer Fall ist. Ausgehend von der These, dass es ein internes Verhältnis zwischen dem rhythmischen Denken und der Art und Weise gibt, wie dieses sich in der Notation niederschlägt, unterscheidet Claus-Steffen Mahnkopf drei Typen rhythmischer Auffassung. Als erster Typus wird eine freie Morphologie rhythmischer Gestalten erwähnt, als zweiter die gegen die Strenge und Wohlgeordnetheit des Taktschemas gerichtete Artikulation und als dritter das Komponieren mit komplexen Figurationen, die auf unregelmäßige Proportionen beruhen, die schließlich in das aus der zeitgenössischen New Complexity stammende dekonstruktive Verständnis rhythmischer Gebilde münden.

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Im kunsthistorischen Beitrag von Inge Hinterwaldner wird der Begriff des Rhythmus unter dem Gesichtspunkt der Visualität behandelt und die Frage gestellt, wie die Kategorie Rhythmus auf die bildende Kunst anwendbar sein kann. Ausgehend von einer Untersuchung multimedialer Klanginstallationen bildender Künstler wird zunächst das Moment der Parallelität von bildlichem und klanglichem Rhythmus betont, um dann drei Typologien herauszuarbeiten (optisch-räumlicher Rhythmus, raumzeitlicher Rhythmus und zeitlicher Rhythmus), die dazu beitragen, die Frage nach dem Rhythmus im Bild systematisch zu beantworten. Ebenfalls aus einer kunsthistorischen Perspektive befasst sich Martin Sundberg in seinem Beitrag mit der Rolle rhythmischer Bewegung in der Malerei von Henri Matisse. Ausgangspunkt ist die phänomenologische Beobachtung, dass sich beim Blättern eines Buches zwangsläufig ein Rhythmus ergibt. Im Bilderbuch Jazz (1947) befasst sich Matisse mit der Verschränkung räumlicher und zeitlicher Phänomene, die hier unter den Begriffen Kristallisation und Improvisation erläutert und im Hinblick auf die rhythmische Wiederholungsstruktur des Buches untersucht werden. Schließlich expliziert Christopher Hasty aus einer musiktheoretischen Perspektive seine umfassende Konzeption von Rhythmus als Form dauerhafter Aufmerksamkeit, in der Festhalten und Bewegen zusammenkommen. Nach einer philosophisch-terminologischen Klärung des Begriffs Wiederholung als zentrale Kategorie seiner Rhythmustheorie werden in Form eines Experiments verschiedene Beispiele aus Musik und Dichtung mit einem Ausblick auf die Implikationen für die Malerei untersucht. Im Fokus des Beitrags steht die Auffassung, dass Halt und Bewegung den Rhythmus der Erfahrung bilden und zielt auf eine neue philosophische Konturierung des Begriffs des Rhythmischen, der nicht nur auf Musik anwendbar ist, sondern für weitere ästhetische Bereiche fruchtbar gemacht werden kann. Die hier versammelten Texte gehen auf die im Rahmen des NFS Bildkritik eikones 2012 in Basel veranstaltete internationale Tagung Rhythmus – Balance – Metrum. Formen raumzeitlicher Organisation in Musik und Bild zurück und wurden durch weitere Originalbeiträge ergänzt. Der Band ist damit im Rahmen der für eikones spezifischen Diskussion der Bildkritik entstanden und nimmt eine musikästhetische Reflexion zum Anlass, einen interdisziplinären Dialog zwischen Bildtheorie, Philosophie, Musiktheorie und Kulturgeschichte zu initiieren.

Eine Geschichte der Rhythmen: warum und wie? Jean-Claude Schmitt

Seit zwei Jahrhunderten sucht das Problem der Rhythmen die westliche Kultur heim. Aber das wusste ich noch nicht, als ich, ein Historiker mit Schwerpunkt in der mittelalterlichen Gesellschaft, anfing mich dafür zu interessieren. Deshalb möchte ich vor allem darüber sprechen, wie ich dazu gekommen bin, mir diese Frage zu stellen, und wie meine Fragestellung sich langsam entwickelt hat. In meinen früheren Forschungen versuchte ich ständig die historischen Studien über die mittelalterliche Kultur entlang einer anthropologischen Orientierung zu erneuern, indem ich verschiedene Probleme und Gegenstände wie Gesten und Rituale, Zeit- und Raumvorstellungen, Bilder und Musik, Traumerzählungen und Selbstzeugnisse betrachtete. Vor ungefähr acht Jahren kam mir die Lust, dazu all diese Aspekte der mittelalterlichen Kultur miteinander zu verknüpfen, ohne aber sie anzuhäufen: stattdessen versuchte ich sie zu durchqueren. Das Problem der Rhythmen schien mir eine geeignete Leitfrage, um das Unternehmen einer solchen Durchquerung zu wagen. Daher kommt das Projekt eines neuen, den mittelalterlichen Rhythmen gewidmeten Buchs, ein Projekt, das jedoch zwei einleitende Warnungen erfordert. Erstens wird mein Projekt kaum auf die Geschichte der Zeit im Mittelalter selbst zielen. Es gibt dazu schon viele und gute Bücher, die entweder die mittelalterlichen Vorstellungen von Zeit und ihrer Messung betreffen oder mit den von den Historikern selbst verwendeten zeitlichen Begriffen zu tun haben. Ganz bestimmt kreuzen sich sehr oft die Frage der Zeit und die Frage der Rhythmen. Es handelt sich aber um verschiedene Fragen, die sich nur zum Teil überschneiden. Die Frage der Rhythmen betrifft nur besondere Formen des Zeitlaufs (Kadenz, Takt, Periodizität, Zyklus, usw.) und den besonderen Gebrauch der Zeit (nämlich rituelle Gebräuche oder die zeitlichen Bedingungen der Narrativität). Überdies betreffen nicht alle Rhythmen direkt die Zeit, sondern den Raum: zum Beispiel wird der Rhythmus der in einem Bild verwendeten Farben empfunden, ohne dass die Zeit von Anfang an bewusst ist. Erst wenn das Bild länger betrachtet wird, wird der

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Zuschauer von dem Rhythmus der Farben und der Formen dauerhaft bewegt. Auf ähnliche Weise kann man von Rhythmen einer Architektur oder einer Kolonade sprechen: Sie betreffen die Zeit nur indirekt. Zwar scheint die Frage der Zeit die Frage des Rhythmus umfassen zu können, als der Rhythmus eine Form der Zeit und des Werdens wäre, aber das Gegenteil ist ebenso wahr, wenn man mit Emile Dürkheim und Marcel Mauss annimmt (und darauf komme ich später zurück), dass die Rhythmen des Lebens, der kollektiven Tätigkeiten, der Arbeit- und Freizeit, dem Jahreszyklus herum, die Kategorien der Zeit in einer bestimmten Kultur bestimmen. Zweitens beabsichtige ich nicht, die Gesamtheit der in der mittelalterlichen Gesellschaft, etwa zehn Jahrhunderte lang existierenden Rhythmen, zu bearbeiten, sondern eine besondere Zahl von Fällen, unter bestimmten Typen von Rhythmen, auszuwählen, um zu versuchen eine Reihe von Fragen zu beantworten. Meiner Ansicht nach ist es nicht die Aufgabe des Historikers, Gegenstände zu studieren, sondern Fragen zu stellen und möglicherweise zu beantworten. Über die Rhythmen habe ich allerdings viele Fragen zu stellen, die ich in verschiedenen Komplexen zusammenstelle: Dies sind erstens Fragen zu den anthropologischen Grundstrukturen der Rhythmen: Wie hat das Mittelalter den Rhythmus definiert ? Wie hat es das Verhältnis zwischen den Rhythmen der Natur – Jahreszeiten, Wandel zwischen Licht und Nacht- und denen des menschlichen Körpers, seiner Gebärden, seiner Stimme, verstanden? Was diese Grundrhythmen betrifft, so werden Texte und Bilder benutzt, die zu Traditionen der Astronomie, der Astrologie, der Rhetorik, der Musik gehören. Es geht auch um die kulturellen, rituellen, sogar institutionellen Formen der Rhythmen: Welche sozialen Formen wurden den Rhythmen gegeben, zum Beispiel der Kalender und seine Bilder, der räumliche und zeitliche Lauf der Liturgie, das individuelle und kollektive in Psaltern und Stundenbüchern geübte Gebet, die memoria der Toten, die Wallfahrten und Prozessionen, die textuelle und bildliche Narration der Geschichte, sei es in der Form der Universalgeschichte oder der lokalen Chroniken, der hagiographischen Legenden, der Selbstzeugnisse. Drittens will ich mich um die Historizität der Rhythmen kümmern: Wie haben sich die Rhythmen im Laufe der Geschichte entwickelt, wie entstanden Rhythmen neuer Art, als neue „rhythmischen Agenturen”, wie zum Beispiel die mittelalterliche Stadt, die Universität, der Staat, ohne dabei die von Georg Simmel einst gestellte Frage nach dem Geld und seinem Einfluss auf die Verflüssigung der sozialen Rhythmen zu vergessen. Solche Fragen betreffen von Anfang an die Schwierigkeit, den Rhythmus und die Rhythmen allgemein und in der mittelalterlichen Kultur zu definieren.

Geschichte der Rhythmen

1. WARUM ? Für den Historiker sind die Worte bzw. Termini selbst ein guter Ausgangspunkt. Das Wort „Rhythmus“ (rhythmos) ist schon in der griechischen Sprache bei den vorsokratischen Philosophen bezeugt. Platon hat den Rhythmus als „die Form der Bewegung“ verstanden. Augustinus von Hippo um 400 und Beda Venerabilis Anfang des 8. Jahrhundert haben vom Rhythmus ausschließlich im Bereich der Rhetorik gesprochen, als sie Rhythmus und Metrum gegenüberstellten. Laut Beda (672-735), der als erster dem Thema Rhythmus ein Kapitel in seinem De arte metrica widmete, „scheint es, dass Rhythmus dem Metrum ähnlich sei; aber der Rhythmus ist ein Zusammenhang von Wörtern, der ohne Skandierung von metrischen Füssen, sondern nach der Zahl der Syllaben moduliert wird und von dem Ohrengericht beurteilt wird“ (videtur autem rhythmus metris esse consimilis, quae est verborum modulata compositio, non metrica ratione, sed numero syllabarum ad indicium aurium examinata). Er sagt auch, dass Rhythmus von den volkstümlichen Dichtern benutzt wird (ut sunt carmina vulgarium poetarum) und zum Schluss, dass der Unterschied zwischen Rhythmus und Metrum darin liegt, dass „der Rhythmus sich ohne Metrum verstehen könne, im Gegensatz zum Metrum, das ohne Rhythmus unmöglich sei: Metrum sei Zahl mit Modulatio, Rhythmus Modulatio ohne Zahl (et quidem rhythmus per se sine metro esse posset, metrum vero sine rhythmo non posset, quod liquidius ita definitur: metrum est ratio cum modulatione, rhythmus modulatio sine ratione). Die mittelalterliche Dichtkunst blieb einer solchen Definition treu, indem sie auch mit Gesang verbunden war: Der Rhythmus par excellence war der sogenannte Gregorianische Gesang, der cantus planus. Ab der Karolinger-Zeit hat sich eine musikalische Schrift entwickelt: Die Neumen, die keine Noten sind, stellen die melodische Bewegung der Stimme dar, manchmal aber auch den Rhythmus. Als die volkssprachliche Dichtkunst sich verbreitet, wird das Verhältnis zwischen Rhythmus und poetischen Reim in Frage gestellt. Ab dem 12. Jahrhundert kam das französische Wort „rime“, daher das deutsche Wort „Reim“ auf, die das lateinische Wort „Rhythmus“ übersetzen. Erst im späten Mittelalter und in der Renaissance, zum Beispiel in Joachil du Bellays Deffence et illustration de la langue françoyse (1549), konnte man zwischen „rime“ oder „Reim“ einerseits, und „rythme“ oder „Rhythmus“ anderseits im modernen Sinn der Worte unterschieden. Unter der aus dem Latein abgeleiteten Form „Rhythmus“, „rythme“, „ritmo“, „rhythm“ hatte das Wort bis zum 18. Jahrhundert einen langen Erfolg. Aber bis zu jener Zeit bedeutete es nicht oder nicht nur, was wir heute als „Rhythmen“ verstehen. In der Vergangenheit gehörte es ausschließlich zum Bereich der Rhetorik, der Lyrik und der Musik. Im Gegensatz dazu dehnte sich das Wort „Rhythmus“ ab dem 19. Jahrhundert in allen europäischen Sprachen auf viele anderen verschiedenen Bereiche des Wissens und des sozialen Lebens aus: Physiologie, Botanik, Mechanik, industrielle Arbeit, Schulzeit, Kino, Sport, Politik, Kommunikation,

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usw. Ab dieser Zeit darf man mit den Soziologen von „sozialen Rhythmen“ im Allgemeinen sprechen. Aber einen solchen Begriff gab es im Mittelalter noch nicht. Dennoch habe ich vor, die mittelalterlichen sozialen Rhythmen, von den Rhythmen des Gebets bis zu den Rhythmen der Reise oder der Steuereintreibung, zu untersuchen. Wie Marc Bloch mehrfach insistierte, soll das Vorgehen des Historikers, sei es unbewusst oder möglicherweise bewusst, immer von der Gegenwart zur Vergangenheit verlaufen. Die Geschichtsschreibung soll regressiv, rückläufig sein. Ich will meinerseits die Legitimität eines solchen Vorgehens in Anspruch nehmen, einerseits indem ich die von Bloch empfohlene regressive Methode verwende, andererseits indem ich den Wert des gegenwärtigen Begriff „soziale Rhythmen“ für die Erforschung der Vergangenheit erproben möchte, obwohl die vergangenen Jahrhunderte diesen Begriff noch nicht kannten. Meiner Ansicht nach soll die Benutzung des aus unserer „Jetztzeit“ (wie Walter Benjamin sie nannte) entlehnten Begriffs das Verstehen der mittelalterlichen Kultur und Gesellschaft ermöglichen. Unsere „Jetztzeit“ ist voll von Rhythmen, deren auf uns wirkende Herrschaft und deren Zwang wir stets beobachten und empfinden können. Es geht vor allem um die Rhythmen des alltäglichen Lebens, das von dem Wechsel zwischen Arbeit und Freizeit bestimmt ist, was ein wirtschaftliches und soziales ebenso wie ein ethisches Modell bezeichnet, nach welchem wir uns alle zu richten haben. Die Rationalisierung der industriellen Produktion, der Taylorism, die sogenannten „infernalen Rhythmen“ des Fliessbands, die von Charlie Chaplin in Modern Times (1936) einst verspottet wurden, sind exemplarische Formen der gegenwärtigen Rhythmen. Die Frage der Rhythmen bezieht sich auch auf den Bereich der Schule, zum Beispiel das Verhältnis zwischen Unterricht und Freizeit. Im Bereich des politischen Lebens wird die unentbehrliche Beschleunigung der Reformrhythmen stets unterstrichen. Neue Transporttechniken (Zug, Auto und Flugzeug) und Kommunikationsmittel (Fernsehen, Telefon, Internet) skandieren unseren Alltag grundsätzlich. Es ist üblich zu sagen, dass die Zeit eine zunehmende Beschleunigung erfährt, die sich durch schnellere Rhythmen ausdrückt. Der Soziologe Hartmut Rosa zeigte vor kurzem, wie der „Rhythmus des Lebens“ in Europa seit ungefähr 1750 in allen technologischen, soziologischen und sogar subjektiven und psychologischen Aspekten immer schneller wurde.1 Die Frage der Rhythmen ist auch eine ethische und politische Frage, wie von Henri Meschonnic und Pascal Michon gezeigt wurde. Meschonnics Werk ist umfangreich. Zwei große Bücher betreffen besonders die Rhythmik: Eine Kritik des Rhythmus. Historische Anthropologie des Rhythmus (1982) und Politik des Rhythmus. Politik des Subjekts (1995). Als Sprachwissenschaftler, Übersetzer der Bibel und Dichter wollte Meschonnic den Unterschied 1 | Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/M. 2005.

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zwischen Prosa und Vers abschaffen, um die skandierte Flut der Stimme mit ihren Akzenten, Stillen und Aufhebungen hören zu lassen. Weil es um die Sprache und das Subjekt in der Gesellschaft geht, nimmt das Werk eine kritische und politische Dimension an. T. S. Eliot folgend nennt der Autor den Dichter einen „Erfinder von Rhythmen“ „Rhythmenbrecher“2 . Nach Pascal Michon, einem Philosophen und Soziologen, der 2005-2007 selbst zwei große Bücher über politische Rhythmen, Macht, Demokratie und Globalisierung veröffentlichte, findet sich im Rhythmus das Prinzip einer harschen Kritik der gegenwärtigen globalisierten Welt, in welcher das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft sowie zwischen Subjekt und Politik wiederdefiniert müsste. Als die totalitären Staaten der Menge eine metrische und binäre Symmetrie durchsetzen, mussten die Bürger eine flüssigere und demokratischere Rhythmik erfinden, in welcher die individuellen Herausforderungen sich mit dem gesellschaftlichen Zusammenleben versöhnen konnten.3 Die Entwicklung der Rhythmen des modernen Lebens und die aus ihr und durch sie entstandene kritische Diskussion verlangen, dass wir die Probleme aus der Ferne betrachten. Die Frage der Rhythmen wird seit zwei Jahrhunderten im Zusammenhang mit der Entwicklung der Moderne gestellt; deshalb müssen wir verstehen, wie die hier verwendeten Begriffe sich während dieser Zeitspanne ausgebildet haben. In ihrem 2010 erschienenen und nach Nietzsches Ausdruck betiteltem Buch Die Form des Werdens, erforschte die Berliner Historikerin Janina Wellmann die Entstehung und die Entwicklung der neuen epigenetischen Episteme, die in die Naturwissenschaften um 1800 eindrang, die aber auch andere davon noch nicht scharf getrennte Bereiche – Dichtkunst, Tanz, Musik, Schöne Künste – betraf.4 Exemplarisch dafür sei an Goethes Werk als Dichter aber auch als Naturforscher (z.B. an seinen Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären, 1790) zu denken. Aber man denkt auch an Hölderlins Gedichtkunst. Meinerseits möchte ich hier Charles Baudelaire erwähnen, der um die Mitte des Jahrhunderts den tönenden Rhythmus seines auf den Pariser Pflastersteinen stolpernden Schritts in erstaunlicher Weise wiederzugeben wusste:

2 | Henri Meschonnic, Critique du rythme. Anthropologie historique du langage, Lagrasse 1982; ders., Politique du rythme. Politique du sujet, Lagrasse 1995. 3 | Pascal Michon,, Rythmes, pouvoir, mondialisation, Paris 2005; ders., Les rythPHVGXSROLWLTXH'pPRFUDWLHHWFDSLWDOLVPHPRQGLDOLVp3DULVGHUV3RXUTXRLDYRQVQRXVEHVRLQG·XQHU\WKPRORJLHSROLWLTXH"LQ0XOWLWXGHV  6 173-179. 4 | Vgl. Janina Wellmann, Die Form des Werdens. Eine Kulturgeschichte der Embryologie, 1760-1830, Göttingen 2010.

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ࡐ/HORQJGXYLHX[IDXERXUJRSHQGHQWDX[PDVXUHV Les persiennes, abri des secrètes luxures, 4XDQGOHVROHLOFUXHOIUDSSHjWUDLWVUHGRXEOpV 6XUODYLOOHHWOHVFKDPSVVXUOHVWRLWVHWOHVEOpV -HYDLVP·H[HUFHUVHXOjPDIDQWDVTXHHVFULPH Flairant dans tous les coins les hasards de la rime, 7UpEXFKDQWVXUOHVPRWVFRPPHVXUOHVSDYpV +HXUWDQWSDUIRLVGHVYHUVGHSXLVORQJWHPSVUrYpV´ 5

Hochinteressant ist, dass Baudelaires Gedichte von Walter Benjamin auf Deutsch übersetzt und kommentiert wurden. So lautet Walter Benjamins Übersetzung desselben Gedichts: ࡐ'XUFKGDV)DXERXUJZRDQGHQDOWHUQGHQ*HElXGHQ Marquisen hängen, Obdach von geheimen Freuden Wird, wenn die Sonne mit verdoppelter Gewalt Stadt trifft und Felder, Saaten und Asphalt Wegab ein seltsames Gefecht mich führen Reimbeute in den Winkeln aufzuspüren $P:RUWDOVZlU·VHLQ3ÁDVWHUDXI]XSUDOOHQ Und über längst geträumte Zeilen fast zu fallen”6

Ich lese Baudelaire mit Walter Benjamins Kommentar zusammen, einem anderen bummelnden Pariser Spaziergänger, der unter anderem Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus schrieb. Seiner Ansicht nach war Baudelaire der erste, der „die poetische Erfahrung der außergewöhnlichen Aktualität der Stadt Paris“, ausdrückte, als die Großstadt von Haussmann tief und schonungslos aufgebrochen und umgewandelt wurde. Aber Baudelaire war nicht der einzige. Zwischen Baudelaires neunzehntem Jahrhundert und der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, als Walter Benjamin über die neuen von der technischen, sozialen und politischen Modernität verursachten Rhythmen nachdachte, darf ein anderer Wendepunkt unterschieden werden, nämlich die Zeit gerade vor und nach 1900. Exemplarisch für diese Zeit ist Friedrich Nietzsches Definition des Rhythmus 1870-1871: „Rhythmus ist die Form des Werdens, überhaupt die Form der Erscheinungswelt“7 Man darf nicht vergessen, dass diese Zeit auch als die Zeit der Geburt der Sozialwissenschaften galt, eine Geburt, die vor allem von der Kritik am Historismus des 19. Jahrhunderts gefördert wurde. Wie Otto Ger5 | Charles Baudelaire, Les Fleurs du mal, Tableaux parisiens, LXXXVII: Le soleil, in: ders., Oeuvres complètes Bd. I, Paris 1975, S. 83. 6 | Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. IV, 1, Frankfurt/M. 1981, S. 22-25. 7 | Friedrich Nietzsche, KGA Bd. II.3, Berlin 1993, S. 338.

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hard Oexle zu Recht hervorhob, spielte Nietzsche in dieser Kritik eine nicht zu unterschätzende Rolle. Was die Untersuchung der sozialen Rhythmen betrifft, sind die ersten Namen, die wir in Betracht nehmen müssen, Emile Durkheim, Marcel Mauss – von dem die Formulierung stammt, dass der Mensch ein „rhythmisches Tier“ sei – und Georg Simmel, der die Verbindung zwischen der Entwicklung der Geldwirtschaft und der Verflüssigung der sozialen Rhythmen, einschließlich ihrer psychologischen Aspekte, zeigte.8 Laut Durkheim ist „der Rhythmus des sozialen Lebens […] der Grundsatz der Kategorie der Zeit“9, und diese Formel wurde von seinem Neffen und Nachfolger Marcel Mauss wiederaufgenommen, als er sagte: „Die Vorstellung der Zeit ist wesentlich rhythmisch.“10 Die Rhythmen sind nicht das Nachbild der regelmäßigen Wiederkehr der Natur, sondern sie sind von sozialen Bestimmungen geprägt, wie Mauss in dem Fall der Eskimos zeigte: Bei den Eskimos folgen alle produktiven, feierlichen, religiösen Tätigkeiten, ebenso wie der Wechsel der Wohnorte, zwischen dem Iglu, wo sich die ganze Gruppe im Winter sammelt, und den in der Jagdsaison zerstreuten individuellen Familienzelten, einem zweigeteilten Rhythmus. Die soziale und kulturelle Anthropologie des 20. Jahrhunderts wurde von diesen Überlegungen tief beeinflusst, zum Beispiel E. E. Evans-Pritchards mit seiner Studie über die Nuer im Sudan (1937), der schrieb: „Es sind hauptsächlich die Bedürfnisse des Viehs und die Veränderungen der Nahrung, die den ökologischen Jahresrhythmus in den sozialen Rhythmus hineintragen.“11 Die Veränderungen der Zeit um und nach 1900 haben eine europäische Dimension. Als Gründer der französischen Soziologie kannte Marcel Mauss Karl Büchers wesentliches Buch Arbeit und Rhythmus (1896), ein Buch, welches bis 1924 sechs Mal wieder aufgelegt wurde und das heute noch aktuell ist: Kürzlich ist eine Biographie Büchers von Beate Wagner-Hasel erschienen. Laut Bücher entziehen die industrielle Zivilisation und die Mechanisierung dem Menschen die Rhythmen des Körpers und der Natur, die traditionellerweise durch Arbeitsgesänge in der Werkstatt oder auf den Feldern unterstützt wurden. Reinhart Meyer-Kalkus zeigte 2004, wie Karl Bücher das Interesse seiner Zeitgenossen für die Herkunft der Sprache teilte, mit der Ansicht, dass die Rhythmen der kollektiven Arbeit, ebenso wie die des ihr eng verwandten Tanzes, der Ursprung der Dichtkunst, des Gesanges, der Musik, ja der Sprache selbst seien. Ein anderer Autor aus dieser Zeit soll nicht unerwähnt bleiben, Wilhelm Pinder, ein Historiker der mittelalterlichen Kunst, der sich in den Jahren 1904-1905 8 | Georg Simmel, Philosophie des Geldes (1900), Frankfurt/M. 2000. 9 | Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt/M. 1981, S. 588. 10_0DUFHO0DXVV0DQXHOG·HWKQRJUDSKLH3DULV6 11 | Edward E. Evans-Pritchard, Les Nuer. Description des modes de vie et des LQVWLWXWLRQVSROLWLTXHVG·XQSHXSOHQLORWH  3DULV6

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bemühte, die „Rhythmik“ der romanischen und gotischen Architektur zu verstehen. Seine Darstellung der Abfolge der Stile in der Kunstgeschichte führte ihn anschließend zu einem theoretischem Buch, Problem der Generation (1926). Horst Bredekamp würdigte kürzlich dieses Buch, in dem Pinder Heinrich Wölfflin vorwarf, er habe eine abstrakte und „namenlose“ Vorstellung von der Kunstgeschichte gehabt, wo ein Stil dem anderen „im Gänsemarsch“ gefolgt wäre.12 Nach Pinder kann jeder Stil in anderen Epochen anwesend sein als den, die gewöhnlicherweise mit Ausdrücken wie „Barock“ oder „Manierismus“ bezeichnet werden. Seiner Ansicht nach bedeutet der, von Reihard Koselleck später aufgewertete Begriff „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“, dass nicht immer alle Künstler und alle Werke, die zu derselben Epoche gehören, wie Zeitgenossen zu betrachten sind, da sie unterschiedliche kulturelle Gedächtnisse haben. In jeder Epoche gibt es verschiedene ästhetische Wege, die ein Künstler wählen kann. Pinder selbst hat allerdings eine schlechte Wahl getroffen: Als er gleichzeitig mit Martin Heidegger zu einem der wichtigsten Vertreter der Kultur des Dritten Reichs geworden war, obwohl seine Haltung – laut H. Bredekamp – nicht eindeutig gewesen ist, wurde er 1945 aus der akademischen Welt ausgeschlossen und sein Werk zur Vergessen verdammt. Die Zeit um 1900 und ihre Folgen sind reich an vielen anderen theoretischen Überlegungen gewesen, weil zur selben Zeit allgemeinere wesentliche Umwandlungen der sozialen Rhythmen stattfanden, und auch weil neue Formen der Ästhetisierung des Rhythmus gleichzeitig erschienen sind: die Einführung der aus afro-amerikanischen Kulturen stammenden musikalischen Rhythmen des Jazz und des Swing; der dem klassischen Ballet sich entgegensetzende „Freie Tanz“, mit zum Beispiel den erst in Amerika und später in Berlin und Paris lebenden Schwestern Isadora und Elisabeth Duncan; in den Zwanziger Jahren in Deutschland die sogenannte „Rhythmenbewegung“ und „rhythmische Gymnastik“; im Bereich der bildenden Künste die Revolution in der Malerei in Form verschiedener Strömungen wie zum Beispiel Expressionismus oder Futurismus und vor allem die abstrakte Kunst. Die abstrakte Malerei ist nicht nur im wesentlichen rhythmisch, sondern viele Werke wurden auch von ihren Schöpfern mit „Rhythmus“ betitelt. Auch die theoretischen Schriften vieler Künstler – Paul Klee, Piet Mondrian, Robert Delaunay, Leopold Survage u.a. – bezeugen, dass für sie die Frage des Rhythmus ein Hauptinteresse war. Laut Delaunay zum Beispiel erschafft der Maler „einen Rhythmus, Rhythmen, eine Bewegung, die den Gegenstand hervorbringt – das Poetische und Erhabene“13. Man könnte den kreativen Charakter des Rhythmus nicht besser 12 | Horst Bredekamp, Wilhelm Pinder, in: ders. u. Adam S. Labuda (Hg.), In der Mitte Berlins. 200 Jahre Kunstgeschichte an der Humboldt Universität, Berlin 2010, S. 295-310. 13_5REHUW'HODXQD\'XFXELVPHjO·DUWDEVWUDLW'RFXPHQWVLQpGLWVSXEOLpVSDU 3LHUUH )UDQFDVWHO HW VXLYLV G·XQ FDWDORJXH GH O·RHXYUH GH 5 'HODXQD\ SDU *X\ Habasque, Paris 1957, S. 168.

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bezeichnen: Dieser ist nicht nur eine Form der Bewegung, er bringt die Bewegung hervor, er verursacht das Geschehen des Realen. Wie kann man aus diesen mannigfaltigen Erfahrungen des 19. und 20. Jahrhunderts eine allgemeine Definition des Rhythmus ziehen? Seit Anfang des 19. Jahrhunderts, vor allem um 1900, um 1925 und auch heute haben Naturforscher, Philosophen, Musiker, Maler, Soziologen, Historiker, Sprachwissenschaftler endlos über Rhythmen gesprochen. Aber haben sie alle den gleichen Begriff von Rhythmus benutzt? Alle Autoren, die versuchten, dem Rhythmus eine Definition zu geben, waren sich einig, was folgende Merkmale betraf: Bewegung, Wiederholung, Regularität, Kontinuität, Variation, Periodizität, Abwechslung, Verschiedenheit, Intensität, Akzentuierung, Betonung. Dieselben Autoren stellen sich auch alle der antiken Frage des Unterschieds zwischen Rhythmus und Metrum: Der Rhythmus sei auf der Seite des Wechsels, der freien und potentiell endlosen Bewegung, sowie des subjektiven Erlebens, in einem Wort, auf der Seite des Lebens; im Gegensatz dazu sei das Metrum oder der Takt auf der Seite einer abstrakten, eben mechanischen Regelmäßigkeit, wie es beim Metronom oder beim Ticken der Uhr der Fall ist. Die Frage wurde unter anderem in Ludwig Klages einflussreichem Buch Vom Wesen des Rhythmus (1926) gestellt. Seiner Ansicht nach ist das „Erlebnis“ des Rhythmus dem Traumzustand nahe, wie es gezeigt wird bei einem in einer Eisenbahn geschaukelten und allmählich einschlafenden; reisenden Menschen, im Gegensatz zum Takt der im Wachzustand festhält: laut Klages vernichtet der Takt den Rhythmus. Auffallend ist, dass in denselben Jahren die wichtigsten theoretischen Fragen von dem Kunsthistoriker Erwin Panofsky 1926 artikuliert wurden, als er Hans Hoffmanns Albrecht Dürers rhythmische Kunst (1924) kritisch diskutierte. Der zentrale Punkt besteht noch einmal im Unterschied zwischen Metrum und Rhythmus. Laut Panofsky aber sind die beiden Begriffe nicht an sich entgegengesetzt, als ob der Rhythmus frei und der Takt bestimmt wären; charakteristisch für den Rhythmus sind das Erleben und damit die Möglichkeit, einen für das Subjekt ästhetischen Wert anzunehmen: „[M]an darf sagen, dass das ‚Metrum‘, sobald es überhaupt in der Gestalt eines dichterischen oder musikalischen Kunstwerks – und sei es auch nur das Trommeln einer zum Tanze taktschlagenden Negerkapelle oder einer marchierenden Militärabteilung – in die Sphäre des sinnlich Erlebbaren hinübertreibt und innerhalb dieser Sphäre ästhetisch aufgenommen wird, sich stets und gleichsam automatisch in ‚Rhythmus‘ verwandelt.“14 Die französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari haben in ihrem 1980 erschienenen Buch Tausend Plateaus (Mille Plateaux) die dialektische Kraft des Rhythmus unterstrichen, die sie, im Gegensatz zu Panofsky, von keiner 14 | Erwin Panofsky, Albrecht Dürers rhythmische Kunst, in: ders., Deutschsprachige Aufsätze I, Berlin 1998, S. 390-474, hier 392.

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bestimmten ästhetischen Erfahrungssphäre abhängig machen. Ihre Überlegung entwickelt sich unter dem Zeichen des Ritornells, des Gesanges eines hüpfenden Kindes: Indem das Kind in kleinen Sprüngen umher geht, umschreibt es sein Territorium, ebenso wie der Maler, laut Paul Klee, den Raum seiner Tafel vorzeichnet. Das Ritornell hat einen paradigmatischen Wert, es „kann auch andere Funktionen übernehmen, amouröse, berufliche oder soziale, liturgische oder kosmische: es trägt immer Erde mit sich“15. Der Rhythmus wird von Deleuze und Guattari allgemein und funktional definiert, das heißt, er baut in allen Bereichen Zeit und Raum zusammen auf. Der Rhythmus ist die Form einer wiederholten und abwechselnden Bewegung, die als „Gegenmittel […] gegen das Chaos“ fungiert: „Rhythmus gibt es, sobald es einen transcodierten Übergang von einem Milieu zum nächsten gibt […]. Dahinsiechen, Tod und Eindringen bekommen keinen Rhythmus. Bekanntlich ist der Rhythmus weder Maß noch Kadenz, er ist nicht einmal eine ungleichmäßige Kadenz: nichts hat weniger Rhythmus als ein Militärmarsch. Das Tam-tam ist nicht 1-2, der Walzer ist nicht 1-2-3 […]. Das Maß ist dogmatisch, aber der Rhythmus ist kritisch, er verknüpft kritische Momente, oder er sich mit dem Übergang von einem Milieu in ein anderes.“16 Aus dieser fruchtbaren Definition möchte ich vor allem auf die dynamische Funktion des Rhythmus aufmerksam machen. Sie wird mit der wesentlichen Irregularität des rhythmischen Vorgangs verbunden, die hier als „kritisch“ bezeichnet wird. Diese Überlegung gehört zu der alten, aus der Antike stammenden, dort aber noch auf Bereich der Rhetorik beschränkten Tradition, der Unterscheidung zwischen Rhythmus und Metrum oder Takt: Der Rhythmus besteht nicht aus reiner Wiederholung und Wiederherstellung des Gleichen, sondern aus unendlicher Variation, Differenzierung, Gleichgewichtsstörung, einer ständigen „Krise“. Anders gesagt, der Rhythmus darf nicht ohne „Arhythmia“ gedacht werden. Was sich mehr oder weniger regelmäßig wie ein Kehrreim oder der Glockenklang wiederholt, wird nie von der Unregelmäßigkeit verschont, wie es die französische Wendung „quelque chose cloche“ – „etwas stimmt nicht“, wörtlich: „etwas hinkt“ – ausdrückt: das Verbum „clocher“, kommt nicht von „la cloche“, die Glocke – das Instrument, das den Rhythmus am besten symbolisiert –, sondern vom lateinischen „claudicare“, humpeln. In diesem Sinne schrieb der französische Philosoph Frédéric Bisson kürzlich: „Der Rhythmus hinkt immer.“17 Als Historiker können wir es oft beobachten: Die mittelalterlichen Autoren haben viel über die Störungen der gewöhnlichen Rhythmen von Individuen nachgedacht, z.B. über das Stottern (daher die Beinamen eines karolingischen Kaisers, Karl der Stotterer, und des berühmten Musikers Notker von Sankt-Gallen) und das Humpeln; 15_*LOOHV'HOHX]HX)pOL[*XDWWDUL7DXVHQG3ODWHDXV%HUOLQ6 16 | A.a.O., S. 427. 17_/HU\WKPHHVWWRXMRXUVERLWHX[´ )UpGpULF%LVVRQ$LQVLPDUFKH$QQD&UX] in: Multitudes 46 (2011), S. 181-188)

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gleichzeitig wurde der Gang der Jahre in den Annalen und Chroniken durch die Störungen des Klimas und unerwartete Ereignissen gegliedert, als es von einem Jahr zum anderen mehr oder weniger regnete oder fror, als die Kornernten und Weinlesen früher oder später stattfanden oder vom Hagelwetter zerstört wurden, als monströse Tiere geboren wurden, usw. Arhythmia ist das dynamische Prinzip der Rhythmen, der Grund ihrer Innovationskraft. In einer Gesellschaft, die die Tradition und den Respekt der Auctoritates – der Bibel, der Kirchenväter, des Rechts und der Gewohnheit – hoch schätzte, gab es Bruchpunkte oder – nach Deleuze und Guattari – „kritische Momente“, die einen neuen Anfang und die Schöpfung neuerer Rhythmen hervorriefen. Als Beispiel solcher „kritischen Momente“ kann man an die Arbeitslosigkeit denken. Die moderne Wirtschaftskrise und ihre Folgen, vor allem die Massenarbeitslosigkeit, die wir auch heute wieder erleben, erlauben die Wichtigkeit der Arbeitsrhythmen besonders deutlich zu erkennen. Der ganze soziale Körper und auch das persönliche und psychologische Gleichgewicht der Arbeitslosen und ihrer Familie werden bedroht. Die Krise von 1929 brachte diese Fragestellung erneut auf, als einer der Protagonisten der berühmten Wiener Schule für „Soziographie“, Paul Lazarsfeld, und seine Mitarbeiter 1933 ihr Buch Die Arbeitslosen von Marienthal veröffentlichten.18 Dieses niederösterreichische Dorf hatte sich im 19. Jahrhundert dank einer Textilfabrik entwickelt, wo die Männer gemeinsam mit Frauen und Kindern tätig waren. 1929 musste die Fabrik ihre Tore schließen; die ganze lokale Gesellschaft wurde zur Arbeitslosigkeit und der Zahlung einer geringen staatlichen Nothilfe verurteilt. Laut der Autoren hat die Krise den „Zeitrhythmus“ der Einwohner zerstört. Nun warten sie z.B. nicht mehr am Wochen- oder Monatsende auf ihren Lohn, sondern alle vierzehn Tage auf die Zahlung ihrer Arbeitslosenunterstützung. Auch ihr physisches Verhalten wird verändert: weil „das Nichtstun den Tag beherrscht“, sprechen sie und gehen sie langsamer als früher, als sie beruflich noch tätig waren. Paul Lazarsfeld weist auf ein Paradox hin: Als sie arbeiteten, strebten die Arbeiter nach mehr Freizeit, aber jetzt, wo ihnen die ganze Zeit zur Verfügung steht, wo sie theoretisch davon profitieren und ihre Tätigkeiten vervielfältigen könnten, tun sie nichts und warten ziellos, „apatisch“, „zerbrochen“, „auf ihr Schicksal gefasst“: „Die Freizeit ist zu einem vergifteten Geschenk geworden.“ Die Lage der Frauen sah um einiges anders aus. Vorher mussten sie ihre Hausarbeit als Ehefrauen und Mütter mit ihrer Arbeit in der Fabrik in Einklang bringen. Sie blieben den größten Teil der Nacht wach, um zu nähen und zu stopfen. Obwohl ihr Leben erschöpfender war, fehlt ihnen nun die Arbeit, die ihnen einen sozialen Status gab und einen Zugang zur Welt eröffnete. 18 | Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld u. Hans Zeisel, Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitlosigkeit [1933]. Mit einem Anhang zur Geschichte der Soziographie, )UDQNIXUW0  IU] hEHUV /HV FK{PHXUV GH 0DULHQWKDO 3UpIDFH GH 3LHUUH Bourdieu, Paris 1981).

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Als Pierrre Bourdieu diese klassische soziologische Studie um 1981 übersetzte und kommentierte, verallgemeinerte er das Thema, indem er die strukturierende Kraft der Arbeit für das soziale und psychische Leben betonte. Zusammen mit ihrer Arbeit haben die Arbeitslosen „die tausend Nichtigkeiten“ („les mille riens“) des Lebens verloren, in denen die sozialen Funktionen der Individuen erkannt und anerkannt werden, d.h. all die Ansprüche und Anforderungen wie Verabredungen, Termine, bestimmte Leistungen, „die ganze Zukunft, die schon unmittelbar zur Gegenwart gehört“, die sich in Gestalt von Zeitfristen, Daten, Stundenplänen, Taktungen, Aufgaben zeigen. Als diese Anforderungen verschwinden, die die Tätigkeit und damit das ganze soziale Leben anregen und bestimmen, kann die Freizeit nicht erlebt werden, sie wird zur „toten Zeit“, zu einer „Zeit für Nichts“, die ihres Sinnes entleert wird. Es scheint, als ob die Zeit vernichtet würde, weil die Mehrzahl von Interessen, Erwartungen, Ansprüchen, Hoffnungen, von in der Gegenwart, der Vergangenheit und der Zukunft geleisteten Investierungen, von der Arbeit unterstützt wird.19 Die Rhythmen, alle Rhythmen, haben soziale Funktionen. Sie verstärken den sozialen Zusammenhalt, indem sie den Mitgliedern der Gesellschaft ein Bild von Kohärenz, Harmonie, Einstimmigkeit wiedergeben. Wir brauchen nur an die Funktion der liturgischen oder der zivilen Prozessionen denken. Dank der Rhythmen werden die Stöße der Gesellschaft, die Unruhe wie die Kakophonie in der Musik aufgefangen. Zwar braucht der Rhythmus „kritische Momente“, die ihm seine Dynamik verleihen, aber übermäßige Verstörungen werden so gut wie möglich korrigiert und ihre Anstifter in die allgemeineren Rhythmen zurückgezwungen. Laut Pierre Bourdieu sind die Rhythmen ein Werkzeug der sozialen Einstimmigkeit, weil sie ideologisch naturalisiert werden. Es scheint, als ob sie die Ordnung der Natur einverleiben würden. 1972 schrieb er: „Die kollektiven Rhythmen zu beachten heißt, der Ordnung der Welt zu folgen, […] ‚im Einklang mit der Natur leben‘, d.h. mit der durch die Bräuche rhythmisierten Natur mit ihrem Wechsel von schwachen und starken Zeiten, von alltäglicher Arbeit und Fest.“ „Die Rhythmen zu beachten ist eine der grundsätzlichen Anforderungen einer Ethik der Konformität, die im Glauben verankert ist und die ihm zugrunde liegt.“20 In diesem Sinne ist auch der Rhythmus ein Werkzeug der Macht. Der Rhythmus hat eine politische Funktion. Darüber hat auch Roland Barthes in einem kleinen, posthum veröffentlichten Buch mit dem Titel Wie zusammen leben? (Comment vivre ensemble?) nachgedacht.21 Seiner Ansicht nach ist der „Idiorhythmus“ ein Ideal 19 | Einleitung zur französischen Übersetzung, a.a.O. 20_3LHUUH%RXUGLHX(VTXLVVHG·XQHWKpRULHGHODSUDWLTXHSUpFpGpGHWURLVpWXGHV G·HWKQRORJLH NDE\OH *HQqYH3DULV  6   )Q  'LH ]LWLHUWHQ Passagen finden sich in der deutschen Ausgabe nicht). 21_5RODQG%DUWKHV:LH]XVDPPHQ/HEHQ"6LPXODWLRQHLQHUDOOWlJOLFKHU5lXPH im Roman. Vorlesungen am Collège de France 1976-1977, Frankfurt/M. 2007.

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des Zusammenlebens, das bei den Anachoreten in den ersten Jahrhunderten des Christentums in der Wüste verwirklicht wurde. Aber zur Zeit der Kaisern Konstantin und Theodosius ist das christliche Kaisertum entstanden, und gleichzeitig sind die Einsiedler im Westen zu Mönchen geworden. Im 5. Jahrhundert wurde Barthes zufolge der „Idiorhythmus“ der Frühzeit vom „Heterorhythmus“ ersetzt, der von der öffentlichen Macht des christlichen Staates durchgesetzt wurde. Ein Beispiel dafür ist die Regel des Benedikts von Nursia (um 530), die die kollektiven Zeitrhythmen des Stundengebets und der Handarbeit (ora et labora) der klösterlichen Gemeinschaft als ethische Aufgabe auferlegte. Roland Barthes’ Annahme ist hochinteressant, obwohl seine Interpretation der Regel als Machtwerkzeug mir zu einseitig erscheint. Benedikt kümmerte sich um die individuellen Bedürfnisse der Mönche, um ihren „Idiorhythmus“, um den Individuationsprozess innerhalb des Klosters, in dem Abweichungen und Ausnahmen für die Jungen, die Alten, die Kranken vorgesehen waren. Kapitel 43 schreibt die Regel vor, dass der Psalm 94, der jede Nacht den Gesang der Vigilien einführt, langsam gesungen werden soll, sodass die Nachzügler noch rechtzeitig zu ihrem vorgeschriebenen Platz im Chor gelangen können!22 Im Gegenteil zu Barthes hat der Philosoph Giorgio Agamben kürzlich richtig die Anpassung der Regel an die Bedürfnisse der individuellen Mönche unterstrichen.23

2. W IE ? Im Folgenden soll es darum gehen, wie mein Buch aufgebaut werden soll. Die konzeptuellen Fragen, von denen ich gerade gesprochen habe, werden in den zwei ersten Teilen gestellt: Der erste Teil betrifft den Begriff Rhythmus, wie er seit zwei Jahrhunderten im Westen in einem allgemeineren Sinne gedacht wurde. Der zweite Teil geht zurück zum Altertum, zur Spätantike und zum Mittelalter, um den Begriff Rhythmus in seiner damaligen und engeren Bedeutung zu betrachten und damit die Rhythmik der mittelalterlichen Dichtkunst und Musik zu erforschen. Die übrigen Teile des Buchs betreffen die sozialen Rhythmen im Mittelalter, die jeweils differenziert kategorisiert werden. Im dritten Teil wird deshalb eine erste Form von Rhythmen diskutiert, nämlich zyklische Rhythmen. Das sind Rhythmen, die von Periodizität gekennzeichnet sind. Man könnte sie eine „gerundete Zeit“ nennen. Es geht erstens um die Rhythmen der Natur und des Körpers: die Abwechslung des Tageslichtes und der Nacht, die mittelalterliche Haltung gegenüber der Gezeiten, die Reihenfolge der 22 | Gerhard Dohrn-van Rossum, Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnungen, München 1992, S. 10. 23 | Giorgio Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung (Homo sacer II.2), Frankfurt/M. 2010.

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Jahreszeiten, die Atmung, der Herzrhythmus und der Kreislauf des Bluts und der Hormone im menschlichen Körper. Es geht auch um die Messung der Zeit, den liturgischen Kalender, die kanonischen Offizien, den wöchentlichen Gesang von Psalmen, die Entwicklung der mechanischen Uhr und ihre Folgen, um den Arbeitsmarkt, die Belohnung der Arbeiter und die Konflikte über die Arbeitszeit. Es geht noch weiter um andere periodische soziale Praktiken wie den regelmäßigen Aderlass in den Klöstern oder die Erhebung der herrschaftlichen Steuer zu bestimmten Terminen und durch das ganze Jahr hindurch. Im vierten Teil des Buchs ist von einer anderen rhythmischer Form die Rede. Diese besteht aus Rhythmen, die vom Skandieren eines linearen Vorgangs gekennzeichnet sind. Noch mehr als die Zeit ist hiervon der Raum ibetroffen. Im Mittelalter wurde der Mensch als Reisender, homo viator, betrachtet. Das ganze weltliche Leben wurde als peregrinatio, als Wallfahrt im christlichen Sinne verstanden, in der die verschiedenen Menschenalter die Etappen der Reise von Geburt bis zum Tod bezeichneten. Es gab viele reale Gründe, sei es Handel oder Kreuzzug, um wegzufahren oder zu gehen. Man versteht hier auch, inwiefern der Begriff Raum im Mittelalter anders als heute verstanden wurde. Der Raum galt nicht als im Voraus geben wie auf einer modernen Karte. Die Raumvorstellung wurde von dem Reisenden selbst hergestellt, wenn er von einem Ort zum anderen die Etappen seiner Reise durchschritt. Man kann dies auch bei Prozessionen innerhalb einer Kirche, eines Kreuzgangs oder auf dem öffentlichen Platz einer Stadt betrachten. Zum gleichen Thema gehören auf ähnliche Weise auch der Transport der sogenannten Totenrollen zwischen den zur gleichen spirituellen „Familie“ gehörenden Klöstern, die „Romfahrt“ des Kaisers über die Alpen, oder noch die ununterbrochenen und gut dokumentierten Reisen der mittelalterlichen Könige, die überall in ihrem Reich von ihren Untertanen und Lehnsleuten gesehen werden mussten. Im fünften Teil meines Buchs will ich noch eine andere Form der Rhythmen betrachten. Es handelt sich um den Erzählrhythmus, vor allem um die Erzählung der Geschichte, der historia, d.h. um die Universalgeschichte, wie sie in der Bibel erzählt wurde und wie sie später von Augustinus durch die Reihenfolge von sechs Weltaltern, von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht, konzipiert wurde; und wie sie, noch später, im 12.-13. Jahrhundert von verschiedenen Autoren wie Peter Comestor (Historia Scholastica), Peter von Poitiers (Chronologia ad vitam Christi), Joachim von Fiore (in den Diagrammen des Liber Figurarum), neu erläutert und anhand von Beispielfällen abgebildet wurde. Aber es gab auch lokale Geschichten, die in Chroniken mit ihren eigenen Rhythmen erzählt und dargestellt wurden. Um solche Fragen zu stellen, benutze ich unter anderen ein umfangreiches ikonographisches Material, von dem eines der berühmtesten Stücke der Teppich von Bayeux ist. Wenn man sich die oberen und unteren Randstreifen, die unter anderen Fabelmotive darstellen, oder die narrativen Bilder des zentralen Streifens über die Eroberung Englands und die Schlacht von Hastings, oder zuletzt die lateinischen Inschriften ansieht, die die Handlung bezeichnen und erläutern, kann

Geschichte der Rhythmen

man festhalten, dass die Wandstickerei von Bayeux am häufigsten mit der varietas – Verschiedenheit – und dem Aufbrechen der Formen-, Farben-, und Klangrhythmen spielt, sei es mit dem wechselnden Schritt und Lauf der Pferde, den farbigen Stäben und Sparren der Randstreifen oder dem Zeitenwechsel der Verben, mit denen der sprachliche Kommentar zur Eroberung Englands mitgeteilt wird. Eine andere Art von geschichtlicher Erzählung stellen die Biographie, die Hagiographie und auch die Autobiographie dar, die alle ihre ganz eigenen Rhythmen besitzen. Das Trachtenbuch des Matthäus Schwarz (um 1560) war der Anfangspunkt meiner Studie über die mittelalterliche Erfindung des Geburtstages im Westen. Als er zwanzig Jahre alt wurde, entschied Matthäus Schwarz, sich jedes Mal, wenn er einen neuen Anzug für sich kaufen würde, mit ihm in seinem Buch darzustellen. Seine neuen sorgfältig beschriebenen und abgebildeten Trachten skandieren die Darstellung seines ganzen Lebens. Dreizehnmal ist der Geburtstag die gewählte Gelegenheit, um eine neue Tracht machen zu lassen und ein neues Abbild in das Buch zu setzen. Mit 137 Bildern wurde das Trachtenbuch fast bis zum Lebensende von Schwarz fortgeführt.24 Im sechsten und letzten Teil will ich zur historischen Dynamik der Rhythmen zurückkommen. Obwohl die Rhythmen sich im Allgemeinen wiederholen, kennt ihr Vorgang manchmal einen Bruch, eine Unterbrechung, wie wenn ein Herzschlag den Herzrhythmus unterbricht und das Leben bedroht. Von solchen Brüchen tauchen neue soziale Rhythmen auf, die die älteren Rhythmen verändern oder eben ersetzen. Die Frage des Rhythmenwechsels und der Rhythmeninnovation unterrichtet den Historiker über den Beitrag der Rhythmen zum historischen Prozess. Von den Rhythmen in der Geschichte komme ich auf die Rhythmen der Geschichte. Ein Beispiel für einen solchen produktiven Bruch finde ich in der Abänderung des päpstlichen Jubiläums: 1300 entschied Papst Bonifaz VIII., zum ersten Mal das Jubiläum der Kirche zu feiern. Es sollte jedes Jahrhundert erneut gefeiert werden. Dies war das erste Mal, dass man nicht mehr vom saeculum als „jenseitige Welt“, sondern vom „Jahrhundert“ in der modernen Bedeutung des Wortes, als einer Dauer von hundert Jahren, gesprochen hat. Übrigens war der wirtschaftlich Erfolg so groß, dass das Papsttum nicht ein ganzes Jahrhundert warten konnte, sondern schon 1350 das zweite Jubiläum organisierte. Die Zeitintervalle wurden später auf 25 Jahre verkürzt: So ist ein neuer Rhythmus entstanden, der seit dem 15. Jahrhundert bis heute in Sankt-Peters-Basilika fortgeführt wird.25 Die Geschichte der Rhythmen zeigt somit zwei Aspekte: Auf der einen Seite handelt es sich um eine Geschichte der verschiedenen rhythmischen Formen des individuellen und kollektiven Lebens. In allen Bereichen erscheinen die sogenannten sozialen Rhythmen regulär und variabel gleichzeitig, da ihre Abfolge, ihre Be24_-HDQ&ODXGH6FKPLWW/·LQYHQWLRQGHO·DQQLYHUVDLUH3DULV6 25_9JO(LQWUDJࡐ+HLOLJHV-DKU´LQ/H[LNRQGHV0LWWHODOWHUV6WXWWJDUWX:HLPDU 1999, Bd. IV Sp. 2024-2025.

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wegung und Fortsetzung Irregularität und Ungleichgewicht beinhaltet. Auf der anderen Seite hat der Gang der Geschichte selbst seine eigenen Rhythmen, die sich in den verschiedenen Bereichen – Wirtschaft, Politik, Kultur – unterscheiden, die aber insgesamt heute eine „Beschleunigung der Zeit“ erleben. Die beiden Aspekte, die Rhythmen in der Geschichte und die Rhythmen der Geschichte, müssen wir zusammen in Betracht nehmen, um die historische Funktion der Rhythmen besser zu verstehen.

Die Tücken des Binären, oder warum Gilles Deleuze die Betrachtung des Rhythmus in der Barockmusik aufgegeben hat Alexander Jakobidze-Gitman

1. L IEGENGEBLIEBENES Gilles Deleuze war bekanntlich kein Historiker, geschweige denn Kulturforscher oder Musikwissenschaftler. Er hat sich aber viel mit dem beschäftigt, was man als Kultur-, Geschichts- und Kunstphilosophie bezeichnet, auch wenn ihm diese Bezeichnungen nicht gefallen haben dürften. Seine zahlreiche Abschweifungen in die Kulturgeschichte dienten ihm meistens als Hilfsmittel, um den Sinn der von ihm eingeführten Begriffe („les concepts“)1 aufzuklären; trotzdem können Kulturwissenschaftler vieles aus seinem Werk schöpfen, sowohl in breiteren als auch in sehr spezifischen Wissenssparten.2 Er hat völlig neue Zusammenhänge zwischen zuvor kaum nebeneinander denkbaren Gegenständen und Problemfeldern etabliert und die üblichen Grenzen zwischen Ontologie, Erkenntnistheorie und Ästhetik 1_ࡐ'LH3KLORVRSKLHLVWGLH.XQVWGHU%LOGXQJ(UILQGXQJ+HUVWHOOXQJYRQ%HJULIIHQ´ *LOOHV 'HOHX]H X )pOL[ *XDWWDUL :DV LVW 3KLORVRSKLH" )UDQNIXUW0  S. 6) 2_ࡐ7KHJUHDWQHVVRI*LOOHV'HOHX]H²RUDWOHDVWRQHRIKLVPDQ\FODLPVRQJUHDWQHVV²ZDVWRKDYHFRQIURQWHGRPQLYRURXVO\WKHLPPHQVHILHOGRIHYHU\WKLQJWKDW was thought and published. No one can read the two volumes of Capitalisme et VFKL]RSKUHQLH RULQDGLIIHUHQWZD\WKRVHRI&LQpPD ZLWKRXWEHLQJVWXQQHGE\ the ceaseless flood of references that tirelessly nourish these texts, and which DUHSURFHVVHGLQWRFRQWHQWDQGRUJDQL]HGLQWRGXDOLVPV´ )UHGULF-DPHVRQ'Xalism in Deleuze, in: ders., Valences of the Dialectic, New York u. London 2009, S. 181-199, hier 182.)

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verwischt. Von dorther sowie von seinem deutlich ausgeprägten Hang zum Vitalismus3 erscheint es nicht überraschend, dass er sich auch einmal ausführlich der Problematik des Rhythmus zugewendet hat, und zwar des Rhythmus im weiteren Sinne, transdisziplinär betrachtet und bezogen nicht nur auf tönende zeitliche, sondern auch auf räumliche Phänomene. Im 11. Kapitel („Zum Ritornell“) des zweiten Bandes von Kapitalismus und Schizophrenie erschließt sich das Deleuzsche Verständnis von Rhythmus im Zusammenhang mit dem Milieu – einem der grundlegenden Begriffe der Tausend Plateaus: „Jedes Milieu vibriert, das heißt, es ist ein Block aus Raum und Zeit, der durch die periodische Wiederholung der Komponenten gebildet wird.“4 Als eine Regelung von Raum und Zeit definiert sich das Milieu als Gegensatz von Chaos: „Die Milieus sind offen für das Chaos, das sie zu zerrütten oder zu durchsetzen droht. Aber der Rhythmus ist das Gegenmittel der Milieus gegen das Chaos.“5 Der Rhythmus schützt das Milieu jedoch eher wie eine Impfung oder ein homöopathisches Arzneimittel, weil er bestimmte Affinitäten zum Bedrohenden hat: „Die Gemeinsamkeit von Chaos und Rhythmus ist der Zwischenraum, der Raum zwischen zwei Milieus, Chaos-Rhythmus oder Chaosmos […].“6 Sobald die Verfasser zur künstlerischen Darstellung von Chaos und Milieu übergehen, kommt der Barock ins Spiel: „Der klassische Künstler […] gliedert die Milieus, trennt und harmonisiert sie, steuert ihre Vermischung und geht von einem zum anderen über. Auf diese Weise wird er mit dem Chaos konfrontiert, mit den Kräften des Chaos, den Kräften einer ungezähmten und rohen Materie, denen man Formen aufzwingen muss, um Substanzen zu schaffen. […] Aus diesem Grunde ist es niemals gelungen, eine klare Grenze zwischen Barock und Klassik zu ziehen. In der Tiefe der Klassik dröhnt der gesamte Barock; die Aufgabe des klassischen Künstlers ist die von Gott selber, nämlich das Chaos zu ordnen […].“7 Der Barock ist demgemäß als künstlerische Repräsentation der Kräfte des Chaos zu verstehen, die sich (nur) als ein Gegensatz zur „Klassik“ erschließen lässt. Es geht keineswegs darum, dass diese zwei Phänomene einander im historischen Verlauf abgewechselt haben, sondern eher darum, dass sie eine unauflösliche Synthese bilden.

3_ࡐ0DQVFKUHLEWLPPHUXP/HEHQ]XJHEHQXPGDV/HEHQ]XEHIUHLHQZRHV eingekerkert ist […]. Alles, was ich geschrieben habe, war vitalistisch, zumindest KRIIHLFKHVXQGELOGHWHHLQH7KHRULHGHU=HLFKHQXQGGHV(UHLJQLVVHV´ *LOOHV Deleuze, Unterhandlungen. 1972-1990, Frankfurt/M. 1993, S. 205, 209) 4_*LOOHV'HOHX]HX)pOL[*XDWWDUL7DXVHQG3ODWHDXV .DSLWDOLVPXVXQG6FKL]Rphrenie Band II) Berlin 1997, S. 426f. 5 | A.a.O., S. 427. 6 | Ebd. 7 | Deleuze u. Guattari, Tausend Plateaus, a.a.O., S. 460f.

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In ähnlicher Weise bildet der Rhythmus im „Ritornell“-Kapitel eine Opposition zum Metrum („Maß“): „Bekanntlich ist der Rhythmus weder Maß noch Kadenz, er ist nicht einmal eine unregelmäßige Kadenz: nichts hat weniger Rhythmus als ein Militärmarsch.“8 Welche Musik- bzw. Tanzgattungen würden dann nach Deleuze und Guattari mehr Rhythmus aufweisen? Diejenigen, die in der Lage sind, „die Kräfte des Chaos, die an die Tür klopfen, auf Distanz zu halten“9. Es ist kein Zufall, dass Deleuze und Guattari den Rhythmus als „kritisch“ bezeichnen („er verknüpft kritische Momente“10), denn die Kraft, die das Milieu vor dem Chaos schützt, nennen sie „die kritische Distanz“. Und als Beispiel führen sie ein ganz konkretes Phänomen aus der Musikgeschichte an, das wiederum sowohl räumliche als auch anthropologische (biologische) Bezüge enthält: „Das kann man sehr gut an den sogenannten barocken oder manieristischen territorialen Tänzen sehen, bei denen jede Pose, jede Bewegung eine solche Distanz herstellt (Sarabanden, Allemanden, Bourrées, Gavotten...). Es gibt eine regelrechte Kunst der Stellungen, Haltungen, Silhouetten, Schritte und Stimmen.“11 Es geht, mit anderen Worten, um nichts anderes als um den Rhythmus in der Barockmusik! Und in dieser kleinen, beiläufigen Bemerkung steckt eine Menge kulturwissenschaftlicher (anthropologischer, sozialer, topographischer usw.) Implikationen, von denen jede das Thema einer eigenständigen Forschung bilden könnte (man denke z.B. an sogenannten „spatial turn“ in den modernen Geisteswissenschaften). Allerdings bleibt dies die einzige Erwähnung des Rhythmusproblems in der Barockmusik, die sich in Tausend Plateaus findet. Der Grund hierfür scheint darin zu liegen, dass die Verfasser Kapitalismus und Schizophrenie keineswegs als kulturgeschichtliches Buch verstanden wissen wollten; sie wollten nicht auf ein Thema eingehen, sondern zwischen möglichst vielen Gegenstände überraschende Zusammenhänge finden. Acht Jahre nach Tausend Plateaus hat Deleuze, diesmal allein, seine Monographie Die Falte. Leibniz und der Barock12 veröffentlicht. Dort greift er mehrmals auf die Barockmusik zurück, und das letzte Kapitel widmet er ihr sogar ausschließlich. Deleuze analysiert hier hauptsächlich die Verhältnisse zwischen dem Text und seiner Vertonung sowie zwischen Melodie und Harmonie; die für die Epoche deut8_$D26 2EGDVIUDQ]|VLVFKH:RUWࡐFDGHQFH´VLFKPLWࡐ.DGHQ]´EHUsetzen lässt, erscheint zweifelhaft, denn Deleuze und Guattari verstehen darunter deutlich keine musikalische bzw. poetische Kadenz. Das französische Wort ࡐFDGHQFH´KDWHLQYLHOEUHLWHUHV%HGHXWXQJVVSHNWUXPDOVGLHGHXWVFKHࡐ.DGHQ]´ und bedeutet u.a. ein regelmäßiges Zeitmaß.) 9 | A.a.O., S. 436. 10 | Ebd. 11 | Ebd. 12 | Gilles Deleuze, Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt/M. 1996 (Ursprünglich erschienen: Gilles Deleuze, Le Pli. Leibniz et le Baroque, Paris 1988).

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lich wichtigeren Verhältnisse von Rhythmus und Metrum aber, für die er zuvor bereits einen beeindruckenden Begriffsapparat erarbeitet hatte, lässt er außer acht. Diese erstaunliche Lücke markiert ein Problem, dem ich nachgehen werde. Dafür allerdings ist ein ziemlich großer Umweg nötig. Zunächst werde ich die Grundlagen darlegen, mit welchen Deleuze kulturgeschichtliche Phänomene betrachtet hat, sowie seine Umdeutung des Prinzips der binären Oppositionen. Dann springe ich zu dem Abschnitt aus Leibniz’ Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand über, der den Ausgangspunkt von Deleuze’ Untersuchungen in Die Falte bildet und der wesentliche musikalische Bezüge enthält. Dann betrachte ich, wie Deleuze die Leibnizsche Allegorie der gefalteten Leinwand in Übereinstimmung mit der Konzeption der prästabilierten Harmonie zwischen Seele und Körper bringt und in seine eigene Allegorie des zweigeschossigen Hauses umarbeitet, sowie was aus dieser Allegorie folgt. Erst dann kann vorgeführt werden, wie Deleuze mit seinem Begriffsapparat die Betrachtung der Barockmusik in Angriff nimmt und wie sich dabei seine schroffe Gegenüberstellung von Leibniz und Descartes als hinfällig erweist, und zwar schon bei seiner Erörterung der Verhältnisse zwischen Melodie und Harmonie. Die Gegenüberstellung als methodologisches Verfahren ist ein übliches Verfahren in der musikwissenschaftlichen Betrachtung der Epoche des Barocks; diese neigt dazu, in der Musik jener Zeit ein System von Dichotomien (Oppositionen) zu sehen, die auf sehr verschiedenen Ebenen wirken, das Verhältnis von Rhythmus und Metrum eingeschlossen. Diese dichotomischen Verhältnisse sind vom Geist des mechanistischen Weltbildes und des damit verbundenen Dualismus durchtränkt, den man gewöhnlich mit Descartes verbindet, und tatsächlich war Descartes der erste Denker, der auf diese neuen Verhältnisse seines Zeitalters hingewiesen hat. Da dieser nun aber gerade nicht als barocker Denker dargestellt werden sollte, wäre es Deleuze, wie ich zeigen werde, höchst schwergefallen, das Verhältnis von Rhythmus und Metrum in der Barockmusik zu erörtern, ohne Descartes’ Ansichten als richtig anzuerkennen. Dann werde ich kurz darauf eingehen, was Descartes über die Musikwahrnehmung geschrieben hat, um zu zeigen, dass seine Auffassung sich bei näherer Betrachtung als gut vereinbar mit der Leibnizschen Wahrnehmungstheorie und ihr keinesfalls entgegengesetzt erweist. Schließlich werde ich zu Deleuze’ und Guattaris Erörterung des Rhythmus zurückkehren, um zu zeigen, dass im Grunde auch sie gut mit der Barockmusik kompatibel sein könnte, wenn gewisse ideologische Festlegungen von Deleuze dem nicht im Wege stünden, und abschließend auf einige seiner Begriffe hinweisen, die mir als sehr fruchtbar für die Musikforschung erscheinen.

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2. N OOLOGIE

STATT

G EISTESGESCHICHTE

Das einführende Kapitel von Tausend Plateaus stellt ein Manifest der spezifischen Denkweise oder der Art des Philosophierens dar, die Gilles Deleuze in seinem Œuvre über viele Jahre konsequent verfolgt hat. Für ihn und seinen Mitverfasser Felix Guattari dient das Rhizom als Allegorie des Denkmodells, das eine Alternative zum üblichen abendländischen Gedankenverlauf anbietet 13, der linear und kausal ausgerichtet ist. Tausend Plateaus folgt dem schon von seiner Struktur her. Dies wird insofern politisch links gedeutet, als die Autoren davon ausgehen, dass die Mainstreamphilosophie der „Staatsordnung“ dient, und sie als ihren „Held“ bzw. als ihren „Fokalisierungspunkt“ die Figur des Nomaden (also einer unterdrückten Klasse) etablieren, die dem Staatsapparat Widerstand leisten soll. Trotz aller überraschenden Gedankenwenden und Übersprünge, die den Stil des Buches ausprägen, wäre es verfehlt zu denken, dass Tausend Plateaus überhaupt auf Systematik verzichtet. Im Kapitel „Abhandlung über Nomadologie: Die Kriegsmaschine“, welches auf „Zum Ritornell“ folgt, stößt man plötzlich mitten in einem vollkommen „poststrukturalistisch“ geschriebenen Absatz auf eine überaus klare wissenschaftlich formulierte Definition: „Die Noologie, die man nicht mit der Ideologie verwechseln darf, ist das Studium der Bilder des Denkens und ihrer Geschichtlichkeit.“14 Für die traditionelle Ideologiekritik dagegen hält Fredric Jameson fest, dass „for any such individual phenomenon—a text, an idea, or even a social class—equivalents are sought, and a correlation is meant to be established between this or that aspect of the superstructure and conditions in the base of infrastructure.“15 Gegründet ist die Noologie in Deleuze’ Lehre der Exteriorität, „in which it is no longer a question of establishing some simple one-to-one correlation between two already existing entities (such as literature and society, for instance), but rather of showing how any given text knows lines of flight out beyond itself, being apparently autonomous yet in its very structure carrying a kind of referentiality, a kind of movement out of itself to something else“16. Aus dem Anliegen von Deleuze, traditionelle Vorstellungen von Struktur als einer fest bestimmten Einheit abzuschaffen, folgt kein Verzicht auf das Prinzip der binären Oppositionen, welches der Methodologie des Strukturalismus zugrunde liegt: In Tausend Plateaus stehen sich die Kriegsmaschine und der Staatsapparat gegenüber, das Axiom dem Code, das Rhizom dem Baum, die nomadische 13 | Den Begriff des Rhizom haben Deleuze und Guattari aus der Botanik entlehnt: Er bezeichnet einen Wurzelstock oder einen Erdsproß, der unterirdisch oder dicht unter der Bodenoberfläche wächst und der ausdauernde Sprossachse vieler Stauden hat. 14 | Deleuze u. Guattari, Tausend Plateaus, a.a.O., S. 517. 15 | Jameson, A.a.O., S. 193. 16 | A.a.O.,. S. 194.

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Wissenschaft der Staatswissenschaft, der gekerbte Raum dem glatten Raum, die Geschwindigkeit der Bewegung, und, last but not least, der Rhythmus dem Maß/ der Kadenz und der Barock der Klassik. Ausschlaggebend ist dabei aber die Umdeutung dieses Prinzips: Erstens, basiert die Noologie von Deleuze und Guattari nicht auf Saussures binärem Model, sondern auf Louis Hjelmslevs Zeichenbeziehung zwischen zwei Ebenen, der Ausdrucksebene und der inhaltlichen Ebene, die miteinander „von außen“ verwandt sind, durch Exteriorität und Kontingenz, und nicht durch eine Art prästabilierter Harmonie.17 Damit eignet beiden Ebenen, Inhalt und Ausdruck, eine innere Oppositionen zwischen Substanz und Form: Es gibt eine Form und eine Substanz des Inhalts, ebenso wie es eine Form und eine Substanz des Ausdrucks gibt. Die Deleuzeschen Begriffe „Strom“ („flux“, ein Äquivalent des Inhalts) und „Code“ (ein Äquivalent des Ausdrucks) verhalten sich so, dass sie auch separat analysiert werden können, als unterschiedliche Elemente, die sich im Laufe der Geschichte auf verschiedene Weise miteinander koppeln und eher Ereignisse als Strukturen bilden.18 Überdies stellen die verschiedenen Oppositionen in Tausend Plateaus keine ausschließenden Alternativen dar, sondern gleichen einander auf je unterschiedliche Weise aus. In jedem konkreten historischen Moment gibt es also eine einzigartige Konstellation mehrerer Oppositionen, bei denen einer der Pole überwiegt (aber nicht herrscht). Solche Konstellationen bezeichnen Deleuze und Guattari als „Gefüge“ („agencements“) – dynamische Gestaltungen, wo die einzelne Elemente umstellbar bleiben: „Als Gefüge bezeichnen wir jeden Komplex von Besonderheiten und Merkmalen, die der Strömung selektiert, organisiert und stratifiziert – entnommen werden, so dass sie künstlich und natürlich konvergieren (Konsistenz) […]. Die Gefüge können sich zu sehr großen Komplexen gruppieren, die ‚Kulturen‘ oder sogar ‚Zeitalter‘ bilden […].“19 So kann beispielsweise der Walzer als ein Gefüge betrachtet werden, wobei nicht nur der Rhythmus das Metrum überwiegt, sondern auch die Bewegung eine wichtigere Rolle spielt als die Geschwindigkeit, und seine „Handlung“ wahrscheinlich eher einen glatten als einen gekerbten Raum voraussetzt (im Gegensatz zum Militärmarsch). In Die Falte. Leibniz und der Barock bleibt Gilles Deleuze einerseits seinem einzigartigen Denkstil treu und treibt das „rhizomatische Denken“ weiter: Schon der Aufbau des Buches allein verneint eine geschlossene und statische lineare Struktur mit einer axialen Ausrichtung. Andererseits aber bildet seine Abhandlung in ihrem Versuch, etliche grundlegende Affinitäten zwischen verschiedenen Sparten der Philosophie, Wissenschaft und Kunst zum Vorschein zu bringen, und erst recht in der Annahme eines fragwürdigen und altmodischen Begriffs des „Ba17 | Jameson, a.a.O., S. 194. 18 | Ebd. 19 | Deleuze u. Guattari, Tausend Plateaus, a.a.O., S. 562.

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rock“ doch eine Art der „großen Erzählung“, welche die poststrukturalistische Philosophie eigentlich zu beseitigen versuchte. Deleuze versteht Leibniz als „barocken Denker“ par excellence und belegt dies dadurch, dass er seine Philosophie als wesensverwandt mit der zeitgenössischen Kunst und besonders Musik beschreibt; die Gegenfigur dazu bildet Descartes. Deleuze betrachtet die Philosophien von Descartes und Leibniz als ästhetische Phänomene und stellt sie einander anhand der kunsttheoretischen Begriffe gegenüber, die er von Heinrich Wölfflin entlehnt.

3. U MWANDLUNG

DER

L EIBNIZSCHEN FALTE

Den Ausgangspunkt der Falte bildet der Anfang des 12. Kapitels von Leibniz’ Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand, das den komplexen Ideen gewidmet ist. Bei Leibniz geht es hier hauptsächlich um die menschliche Wahrnehmung und um die Rolle des Verstands und des Gehirns dabei: ࡐPhilalethes. Nicht übel könnte man den Verstand mit einem ganz dunklen Zimmer vergleichen, das nur einige kleine Öffnungen hat, um von außen die Bilder der äußeren sichtbaren Dinge einzulassen. Wenn diese Bilder, die sich in dem dunklen Zimmer abzeichnen, dort verbleiben und in einer bestimmten Ordnung aufgestellt werden, so dass man sie bei gegebenem Anlass wiederfinden könnte, so gäbe es eine große Ähnlichkeit zwischen diesem Zimmer und dem menschlichen Verstande. Theophilus. Um die Ähnlichkeit noch zu vergrößern, müsste man voraussetzen, GDVVHVLQGHPGXQNOHQ=LPPHUDOV%LOGIOlFKHHLQH/HLQZDQGJlEH«´ 20

Es ist schwer, hier nicht sofort an Platons Höhlengleichnis zu denken. Dann aber stellt sich heraus, dass Leibniz’ Ausführungen nichts mit der Aufdeckung von Illusionen zu tun haben und seine Leinwand im Unterschied zu der des Films „nicht ganz eben, sondern durch Falten aufgegliedert wäre, die die eingeborenen Kenntnisse darstellen sollen“21 und die von außen eingehende Eindrücke bearbeiten. Diese „gefaltete Leinwand“ ist ein Analogon des Gehirns, und Leibniz setzt sie dem musikalischen Ton mit seinem Schwingungen und Wellen gleich. Er betont, dass das Bild der Falte nichts mit der Seele zu tun hat, die keine elastische, sondern einfache, ausdehnungslose und einfache Substanz (d.h. Monade) ist. Es geht tatsächlich um eine Dichotomie zwischen Seele und Gehirn.22 20 | Gottfried Wilhelm Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand (Zweites Buch: von den Ideen, Kap. XII, &1), Frankfurt/M. 1996, S. 181. 21 | Ebd. 22_ࡐ>«@GLHVH/HLQZDQGRGHU0HPEUDQZHQQPDQVLHDXVVSDQQWHLQH$UW(ODVtizität oder Wirkungskraft hätte und dass ihr sogar eine gewisse Tätigkeit oder

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Deleuze wandelt das Leibnizsche dunkle Zimmer ins ebenso allegorische zweigeschossige Haus um, wo die Beziehungen zwischen zwei Etagen die Verhältnisse zwischen der Seele und der Materie darstellen. Die Seele „wohnt“ auf der zweiten Etage in einem abgeschlossenen Privatzimmer, das mit einer „von Falten untergliederten Leinwand“ tapeziert wird; die Materie wohnt unten in einem „Gemeinschaftszimmer mit kleinen Öffnungen, die die fünf Sinne“ repräsentieren. Eigentlich barock ist „diese Unterscheidung und Aufteilung zweier Etagen. Man kannte die Unterscheidung zweier Welten in einer platonischen Tradition. […] Die Welt aber aus nur zwei Etagen, getrennt durch die Falte, welche sich auf beiden Seiten in unterschiedlicher Weise auswirkt, das ist der barocke Beitrag par excellence.“23 Deleuze zieht damit die Leibnizsche Idee der prädestinierten Harmonie zwischen der Seele und dem Körper heran, und schreibt Leibniz zu, was in seinem Text eigentlich nicht steht: „Gleichwohl macht Leibniz daraus eine Art Repräsentation dessen, was er immer wieder behaupten wird, nämlich eine Entsprechung und sogar Kommunikation zwischen den beiden Etagen, zwischen den beiden Labyrinthen, den Faltungen der Materie und den Falten in der Seele.“24 Die letzte Aussage ändert den ursprünglichen Sinn vollständig: Bei Leibniz sind die Seelen ja Monaden,25 die ihrerseits durch „keine Ausdehnung, keine Gestalt, keine mögliche Theilbarkeit“ gekennzeichnet sind 26; als ausdehnungslose Wesen können sie eigentlich keine Falten haben. Im Unterschied zu Leibniz betrachtet Deleuze offenbar den Verstand als ein Teil der Seele und platziert ihn auch

Reaktion eignete, die sich sowohl nach den alten Falten als auch nach aus den Eindrückes der Bilder hervorgegangen neuen richtet. Und diese Tätigkeit würde in bestimmten Schwingungen und Wellenbewegungen bestehen, wie man sie an einer ausgespannten Saite wahrnimmt, wenn man sie berührt, derart, dass sie gewissermaßen einen musikalischen Ton hervorbringt. Denn wir empfangen nicht allein die Bilder oder Spuren im Gehirn, sondern formen daraus eine neue, wenn wir die komplexen Ideen ins Auge fassen. So muss die Leinwand, die unser Gehirn darstellt, aktiv und elastisch sein. Dieser Vergleich würde annehmbar erklären, was im Gehirn vor sich geht. Was aber die Seele betrifft, die eine einfache Substanz oder Monade ist, so stellt sie ausdehnungslos die gleiche Vielheit ausgedehnter Massen dar und hat auf diese Weise Perzeption.” Ebd. 23 | Deleuze, Die Falte, a.a.O., S. 52f. 24 | A.a.O., S. 13. 25_ࡐ6HHOH kPH VROOHIUGLHMHQLJHQ>0RQDGHQ@YRUEHKDOWHQZHUGHQGHUHQ3HU]HSWLRQGLVWLQNWHUXQGYRQ(ULQQHUXQJEHJOHLWHWVLQG´ *RWWIULHG:LOKHOP/HLEQL] Monadologie, §19, in: ders., Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade; Monadologie, Hamburg 1956, S. 35) 26 | Leibniz, Monadologie (§3), a.a.O., S. 27.

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auf der zweiten Etage. Er fungiert somit als eine Hülle der Seele und „aktualisiert sich in den intimen Falten, welche die Seele in der oberen Etage einschließt“.27 Die zwei Etagen bei Deleuze erhalten reelle räumliche Zusammenhänge. Die untere Etage ist wie eine Fassade eingerichtet, die obere wie ein Interieur: „Die Monade ist die Autonomie des Inneren, eines Inneren ohne Außen. Sie hat jedoch als Korrelat die Unabhängigkeit der Fassade, ein Äußeres ohne Inneres.“28 Dann lässt Deleuze die Affinitäten zwischen der Leibnizschen Lehre der prädestinierten Harmonie und barocken Architektur zum Vorschein kommen: „Es ist unmöglich, die Leibnizsche Monade und ihr System Licht – Spiegel – Gesichtspunkt – Innendekoration zu verstehen, wenn man sie nicht auf die barocke Architektur bezieht. […] Was die barocke Architektur definieren kann, ist diese Spaltung zwischen Fassade und Innenraum, zwischen Innerem und Äußerem, Autonomie des Inneren und Unabhängigkeit vom Äußeren unter solchen Bedingungen, dass jeder der beiden Ausdrücke den anderen auslöst.“29 Tatsächlich spricht Deleuze von den zwei Arten der Falte: einer „großen Spaltung von Innerem und Äußerem“, die „auf die Unterscheidung beider Etagen“ verweist, und von vielen kleineren, welche einerseits die Seele oben „einschließen“, welche aber andererseits auf der unteren Etage von der Materie erzeugt werden. „So ist die ideale Falte Zwiefalt, differenzierende und sich differenzierende Falte.“30 Mit der Falte versucht Deleuze die grundlegenden Gemeinsamkeiten zwischen Philosophie, Wissenschaft und Kunst ans Tageslicht zu bringen und ihre Grenzen verschwimmen zu lassen: „Es gibt also die barocke Linie, die genau der Falte gemäß verläuft und die Architekten, Maler, Musiker, Dichter und Philosophen vereinen könnte.“31 Es ist ganz klar, dass das Ziel von Deleuze dabei ist, in der Vergangenheit nach Gleichgesinnten zu suchen, die als seine Verbündete bei seiner Kampf gegen die rationalistische Metaphysik (vertreten von Platon über Descartes bis zu Hegel) fungieren könnten.32 Seine Definition der Falte ist keine „wissenschaftliche“ Definition: Sie ordnet sich nicht dem Kriterium strenger Folgerichtigkeit unter. Deshalb läuft sie Gefahr, ihre Selbstidentität zu verlieren: Man kann die Falte ja überall erblicken. Deleuze 27 | Deleuze, Die Falte, a.a.O., S. 53. 28 | A.a.O., S. 50. 29 | A.a.O., S. 50f. 30 | A.a.O., S. 53. 31 | A.a.O., S. 60. 32 | Solche Verbündeten hat er schon früher in u.a. griechischen Stoiker, Spinoza, Bergson, Kafka und Lewis Carroll gefunden. Siehe: Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks, München 1993 (ursprünglich 1968); ders., Logik des Sinns. Frankfurt/ M. 1989 (ursprünglich 1969); ders., Bergson zur Einführung. +DPEXUJ XUVSUQJOLFK GHUVX)pOL[*XDWWDUL.DIND)UHLQHNOHLQH Literatur, Frankfurt/M. 1976 (ursprünglich 1975).

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ist sich dessen bewusst: „Gewiss kann man einwenden, dass der Begriff der Falte seinerseits zu weit bleibt. Um nur die bildende Künste zu nehmen: In welcher Periode und in welchem Stil könnten sie die Falte als Charakteristikum der Malerei oder der Bildhauerei ignorieren?“ Nachdem er dies eingeräumt hat, fährt er fort: „Die Falten Uccellos sind in Wahrheit nicht barock, weil sie in festen, polygonalen, unflexiblen geometrischen Strukturen verbleiben, wie zweideutig sie auch sind. Wenn wir die operative Identität des Barock und der Falte aufrechterhalten wollen, muss man folglich zeigen, dass die Falte in den anderen Fällen begrenzt bleibt und dass sie im Barock eine grenzenlose Freisetzung erfährt, deren Bedingungen bestimmbar sind.“33 In einem Wort: Die grenzenlose freigesetzte Falte ist für Deleuze die Urgestalt der gesamten Epoche des Barocks. Nun wird es ganz klar, dass Die Falte ein Gesamtbild einer kulturgeschichtlichen Epoche schildert, und dass durch all seine typischen poststrukturalistischen Eigenschaften, die auf der Oberfläche auffallen, deutlich eine alte Tradition der Geistesgeschichte hindurch scheint, die Wechselwirkungen zwischen den philosophischen, religiösen, sozialen und künstlerischen Gestalten einer Epoche gesucht hat. Von der Exteriorität oder Kontingenz, mit welchen sein früheres „noologische Verfahren“ unterschiedliche Zusammenhänge etabliert hatte, ist kaum eine Spur geblieben. Es scheint sogar, dass Deleuze in die übliche Sünde der Geistesgeschichte verfällt: indem er nämlich versucht, über einen gemeinsamen Nenner verschiedene Kulturbereiche des Barock gleichzustellen, damit das Bild der Epoche einheitlich aussieht. Dabei verschweigt er oder verdreht einige Sachverhalte, die das erwünschte einheitliche Bild der Epoche ins Schwanken bringen könnten. Dies fällt besonders auf bei seinem wiederholten Rückgriff auf die binären Oppositionen (das methodische Standardverfahren des Strukturalismus), mit denen Wölfflin die Renaissance dem Barock gegenüberstellte: 1. Das Lineare und das Malerische; 2. Fläche und Tiefe; 3. Geschlossene und offene Form; 4. Vielheit und Einheit; 5. Klarheit und Unklarheit.34 Auch wenn Wölfflin bis heute als Klassiker gilt, wurde es zu einem beliebten Zeitvertreib späterer Kunsthistoriker, seine Methodologie als hinfällig aufzudecken: „[D]er Barock umfasst […] so verzweigte, in den einzelnen Länder und Kultursphären unter so verschiedenen Formen auftretende künstlerische Bestrebungen, dass die Möglichkeit, diese auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, als zweifelhaft erscheint. Nicht nur der Barock der höfischen und katholischen Kreise ist gänzlich verschieden von dem der bürgerlichen und protestantischen Kulturgemeinschaften. […] Die wichtigste dieser sekundären Verzweigungen ist die des höfisch-katholischen Barocks in eine sensualistische, monumental-dekorative, im herkömmlichen Sinn ‚barocke‘ Richtung und einen strengeren, formrigoristischeren, ‚klassizistischen‘ Stil. […] 33 | Deleuze, Die Falte, a.a.O., S. 60f. 34 | Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, Basel 1991 (18. Auflage), S. 11.

Die Tücken des Binären

[D]ie Eindeutigkeit des Barockbegriffes wird auch bei Wölfflin noch um den Preis erkauft, dass er bei seinen Betrachtungen den Klassizismus des 17. Jahrhunderts im Wesentlichen unberücksichtigt lässt.“35 Nun versteht Deleuze den „Barock“ auf zweifache Weise: nicht nur als dominanten Stil einer (kultur)geschichtlichen Periode, sondern auch als ein gestalterisches Bewusstsein, das auch über zeitliche Grenzen hinausgehen kann. Er zieht Denker und besonders Künstler aus anderen Zeiten (vorwiegend aus der Moderne) heran und nennt sie „barock“: als Gesinnungsgenosse von Leibniz fungieren Paul Klee und Stéphane Mallarmé. Doch war so eine Verwendung des Begriffs „Barock“ auch in der alten kunstwissenschaftlichen Geistesgeschichte üblich: So bezeichnet Aby Warburg die frühen Kupferstiche von Albrecht Dürer oder sogar die antike Laokoon-Gruppe als „barock“.36 Seinen sparsamen, aber bedeutsamen Rückgriff auf Musik beschränkt Deleuze jedoch auf die tatsächliche Musik des37 Barockzeitalters. Und gerade in diesen Zusammenhang rächt sich seine Vernachlässigung des klassizistischen Barocks und macht sein ganzes Bild des Barocks anfechtbar.

4. B EZUG

AUF DIE

M USIK

Obwohl Deleuze im Laufe des Buches eine Menge Beispiele aus den verschiedensten kulturellen Bereichen anführt, wartet er bis zum letzten Kapitel („Die neue Harmonie“), bis er endlich die Auseinandersetzung mit der Musik im Angriff nimmt. Dabei macht er keinen Versuch, Leibniz’ Vergleich der Wahrnehmung mit dem musikalischen Ton aufzugreifen, sondern untersucht die Affinitäten zwischen der Lehre der prästabilierten Harmonie und der klanglichen Struktur der Barockmusik. Das einzige direkte musikalische Äquivalent seiner Allegorie vom zweigeschossigen Haus findet Deleuze im Verhältnis von Melodie und Harmonie. Er platziert Harmonie auf der oberen und Melodie auf der unteren Etage: „Wenn das ba35 | Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1990 (Ungekürzte Sonderausgabe in I. Bd.), S. 455, 457. 36 | Aby Warburg, Dürer und die italienische Antike (1905), in: ders., Werke in einem Band, Berlin 2010, S. 176-185. 37_/DXWGHUXQWHU0XVLNKLVWRULNHUQKHXW]XWDJHYHUEUHLWHWHQ0HLQXQJࡐ%DURTXH· is a term that musicians do not need. Trying to justify it in any terms that actually relate to the music of the period has never led to anything but quibbling, sophistry, DQGWHUJLYHUVDWLRQ$OOLWLVQRZLVDFRPPHUFLDOORJRIRUDNLQGRIFODVVLFDOPXVLF· WKDWUHFRUGFRPSDQLHVDQGUDGLRVWDWLRQVPDUNHWDVVRQLFZDOOSDSHU/HW·VWU\WR IRUJHW LW´ 5LFKDUG 7DUXVNLQ 2[IRUG +LVWRU\ RI :HVWHUQ 0XVLF 9RO 0XVLF IURP the Earliest Notations to the Sixteenth Century, New York 2005. S. 797.

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rocke Haus musikalisch wird, enthält die obere Etage die vertikalen harmonischen Monaden, die inneren Zusammenklänge, die jede in ihren jeweiligen Zimmer hervorbringt, die Entsprechung oder Konzentrierung dieser Zusammenklänge, und die untere Etage erstreckt sich entlang unendlich vieler horizontaler melodischer Linien, die eine in der anderen genommen werden, umspielt in der Sinnlichkeit ihre Variationen und entwickelt zugleich ihre Kontinuität; denn die obere Etage faltet sich auf die untere, je nach Tonart, um dort ihre Zusammenklänge zu realisieren. In der Melodie nämlich realisiert sich die Harmonie.“38 Davor hatte er aber umgekehrt gesagt, dass es der Barockmusik zukomme, „die Harmonie aus der Melodie herauszuziehen“39. Obwohl Deleuze sonst gründliche Kenntnisse der Musikgeschichte hat, trifft diese Aussage leider nicht zu: Eine solche Charakterisierung würde z.B. viel besser die Musik der Moderne (wie späte Werke von Skrjabin oder sogar Schönberg) beschreiben als die Barockmusik. Denn gerade in der Barockmusik hat die Melodie sich weit von der Harmonie emanzipiert, so dass sich beide zwei ganz unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten untergeordnet haben.40 Das war eben das Ergebnis der Technik des Generalbasses, die als einer der Eckpfeiler der Barockmusik gilt: Während der Dauer eines 38 | Deleuze, Die Falte, a.a.O., S. 222. 39 | A.a.O., S. 209. Hier ist dem deutschen Übersetzer Johannes Schneider keine 6LQQHQWVWHOOXQJ YRU]XZHUIHQ 'HU 6DW] ODXWHW LP 2ULJLQDO ࡐ,O DSSDUWLHQW j OD PXVLTXHEDURTXHG¶H[WUDLUHO¶KDUPRQLHGHODPpORGLHHWGHUHVWDXUHUWRXMRXUVO¶XQLWp VXSpULHXUHjODTXHOOHOHVDUWVVHUDSSRUWHQWFRPPHDXWDQWGHOLJQHVPpORGLTXHV´ Gilles Deleuze, Le Pli, a.a.O., S. 175. 40 | Die widersprüchlichen Verhältnisse zwischen Melodie und Harmonie hat 0D[:HEHUVFKDUIKHUYRUJHKREHQ=ZDUYHUZHQGHWHUNHLQVROFKHV:RUWZLHࡐEDURFN´ VHLQ 9HUZHLV DXI -HDQ3KLOLSSH 5DPHDX XQG NXOWXUHOOH =XVDPPHQKlQJH GLHHUDQIKUWEHVDJHQGDVVHUDXFKGLH0XVLNMHQHU=HLWPHLQWࡐ'LHࡏ0HORGLN¶ überhaupt aber ist zwar harmonisch bedingt und gebunden, aber, auch in der Akkordmusik, nicht harmonisch deduzierbar […]. Allein Tonverwandtschaft und Tonnachbarschaft stehen, da der Sekundenschritt, vor allem der besonders intensiv »leitende« Halbtonschritt, gerade zwei in der physikalischen Verwandtschaft fernstehende Töne miteinander verbindet, in unversöhnlichem Gegensatz JHJHQHLQDQGHU >«@ 'LH 0HORGLHQ VHOEVW GHV VWUHQJVWHQ ࡏUHLQHQ 6DW]HV¶ VLQG weder stets nur gebrochene, d.h. in die Tonsukzession projizierte Akkorde, noch stets durch harmonische Obertöne des Fundamentalbasses in ihren Fortschreitungen verkoppelt und mit bloßen Terzensäulen, harmonischen Dissonanzen und deren Auflösungen allein wäre vollends niemals eine Musik konstruierbar gewesen […]. Ohne diese durch die Irrationalität der Melodik motivierten Spannungen gäbe es keine moderne Musik, zu deren wichtigsten Ausdrucksmitteln gerade sie ]lKOHQ´ 0D[:HEHU'LHUDWLRQDOHQXQGVR]LRORJLVFKHQ*UXQGODJHQGHU0XVLN München 1921, S. 7f.).

Die Tücken des Binären

Zusammenklanges durfte die Melodie hier ganz frei aufgebaut werden, ohne aber mit der klingenden Harmonie allzu scharf zu dissonieren. Überdies nähern Ausdrücke wie der des „Herausziehens“ der einen aus der anderen oder des „Realisierens“ der einen in der anderen sich seiner Allegorie des zweigeschossigen Hauses nicht an, sondern entfernen sich davon: Man kann zwar mit Recht ohne weiteres über die „Spaltung zwischen Fassade und Innenraum, zwischen Innerem und Äußerem“ sprechen, und mit Vorbehalt auch über die „Autonomie des Inneren und Unabhängigkeit vom Äußeren unter solchen Bedingungen, dass jeder der beiden Ausdrücke den anderen auslöst“,41 nicht aber über das „Herausziehen“ des einen aus dem anderen. Außerdem bleibt es unklar, wo nun die Leibnizschen Falten des Gehirns (die ja den Ausgangspunkt der Untersuchung von Deleuze gebildet hatten!) hingekommen sind. Als Deleuze danach zur Dyade von Melodie und Harmonie noch die Dimension des Texts hinzufügt, werden seine musikhistorischen Überlegungen überzeugender; der Preis dafür aber ist die Preisgabe der gerade vorher etablierten Aufteilung von Harmonie und Melodie auf die obere und untere Etage, und, noch wesentlicher, eine merkwürdige Abweichung der Leibnizschen Darstellung der Verhältnisse zwischen Seele und Körper: „Wie einen Text falten, um ihn in Musik zu hüllen? Dieses Ausdrucksproblem ist nicht nur für die Oper fundamental. Im Barock wird vielleicht zum ersten Mal eine systematische Antwort versucht: Es sind die Zusammenklänge, welche die dem Text gemäßen affektiven Zustände bestimmen und welche den Stimmen die notwendige melodischen Inflexionen geben […]. Der Text wird den Zusammenklängen gemäß gefaltet und von der Harmonie eingehüllt. […] Es ist kein Problem der Entsprechung, sondern des ‚fold-in‘ oder des ‚pli selon pli‘.“42 Auf der einen Seite können sowohl Text als auch Zusammenklänge als dominierende Elemente fungieren; Deleuze vermeidet eine eindeutige Antwort, als ob es um so etwas wie das Henne-Ei-Problem ginge. Auf der anderen Seite geht aus dem Text ganz klar hervor, dass die Melodie ein untergeordnetes Element ist und dass ihr Verlauf vor allem von den Zusammenklänge (und nicht von Text) geregelt würde. Dabei fällt aber eine beachtliche Abweichung von der Leibnizschen Darstellung der Verhältnisse zwischen Seele und Körper auf. Leibniz selbst war ja der Meinung, die Seele sei nicht in der Lage „die Richtung der Körper abzuändern“, und eben darin lag der Punkt seiner Uneinigkeit mit Descartes.43 Als Deleuze, 41 | Deleuze, Die Falte, a.a.O., S. 50f. 42 | A.a.O., S. 224. 43_ࡐ'HVFDUWHV HUNDQQWH GDVV GLH 6HHOHQ GHQ .|USHUQ NHLQH .UDIW PLWWKHLOHQ könnten, aus dem Grunde, weil sich in der Materie immer dasselbe Quantum von Kraft vorfindet. Doch glaubte er, es vermöge die Seele die Richtung der Körper abzuändern. Zu seiner Zeit wusste man noch nichts von dem Naturgesetze, welches die Beibehaltung derselben Totalrichtung schon in die Materie hineinlegt.

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nachdem er die Harmonie der Seele und die Melodie der Materie (und eigentlich auch dem Körper als einer Art der Materie) gleichgesetzt hat, schreibt, es seien die Zusammenklänge, „welche den Stimmen die notwendige melodischen Inflexionen geben“, redet er selbst gerade wie ein Cartesianer und kein Leibnizianer: Diese von den Zusammenklängen verursachte Inflexion ist ja eher als eine tatsächliche Wirkung (wie bei Descartes44), als eine scheinbare (wie bei Leibniz 45) zu verstehen. Die Ironie dabei ist, dass dieser plötzliche Verfall in den Cartesianismus gerade durch seinen Kampf gegen den Geist ausgelöst wurde, den man gewöhnlich mit Descartes verbindet. Dass Deleuze offensichtlich keine Neigung hat, dem textlichen Inhalt eine vorrangige Rolle zu geben, verweist auf seine Weigerung, das künstlerische Verfahren, das auf verschiedene Weise bald als Darstellung, bald als Imitation und bald als Mimesis bezeichnet wird, als ein leitendes Prinzip der barocken Kunstästhetik zu akzeptieren. In Tausend Plateaus gehen Deleuze und Guattari so weit zu behaupten: „Keine Kunst ist imitierend, keine Kunst kann imitativ oder figurativ sein“46, und stattdessen führen sie den Begriff des (künstlerischen) Werdens ein.47 Dabei bestand die Umwälzung der ersten „barocken“ Komponisten eben darin, dass sie den Text als primären Ausgangspunkt festgesetzt hatten, dem die Musik sich eigentlich unterordnen musste und nicht umgekehrt.48 Laut Hätte er dieses gekannt, so wäre er ohne Zweifel auf das System der prästabiliVLHUWHQ+DUPRQLHYHUIDOOHQ´ /HLEQL]0RQDGRORJLH†DD26I 44 | Doch ob Descartes tatsächlich so meinte, wie es Leibniz seine Ansichten beschreibt, ist eine Frage der Streit in der Geschichte der Philosophie. Vgl. Peter McLaughlin, Descartes on Mind-Body Interaction and the Conservation of Motion, in: The Philosophical Review, Vol. 102, No. 2 (Apr. 1993), S. 155-182. 45_ࡐ'LHVHV6\VWHPEHZLUNWGDVVGLH.|USHUKDQGHOQDOVREVLHZDVXQP|JOLFK ist, gar keine Seelen besäßen, und die Seelen handeln, als ob sie keine Körper KlWWHQXQGGRFKDOOHEHLGHVRKDQGHOQDOVZLUNWHQGLH(LQHQDXIGLH$QGHUHQ´ (Leibniz, Monadologie, §81, a.a.O., S. 65) 46_ࡐ(V JHKW QLFKW XP 0\WKHQ VRQGHUQ XP HLQ ZLUNOLFKHV :HUGHQ 'LH 6WLPPH selbst muss ein Frau-Werden oder ein Kind-Werden erreichen. Und das ist der wunderbare Inhalt der Musik. Wie Fernandez anmerkt, geht es nicht mehr darum, eine Frau oder ein Kind zu imitieren, selbst wenn es ein Kind ist, das singt. Die musikalische Stimme wird selber zum Kind, aber gleichzeitig wird das Kind NODQJOLFKUHLQNODQJOLFK«´ 'HOHX]HX*XDWWDUL7DXVHQG3ODWHDXVDD26 47_ࡐ6R ]HUVW|UW VLFK GLH ,PLWDWLRQ YRQ VHOEVW GHQQ GHU ,PLWLHUHQGH JHKW XQEHwusst in ein Werden ein, das sich unwissentlich mit dem Werden dessen verbindet, was er imitiert. Man imitiert also nur, wenn man scheitert, falls man scheitert. Maler oder Musiker imitieren das Tier nicht, sie werden zum Tier, während das Tier gleichzeitig wird, was sie in ihrer tiefster Übereinstimmung mit der Natur ZROOWHQ´'HOHX]HX*XDWWDUL7DXVHQG3ODWHDXVDD26 48_&ODXGLR0RQWHYHUGLEHKDXSWHWH DXI 3ODWRQ YHUZHLVHQG GDVV ࡐGLH 5HGH  GLH 

Die Tücken des Binären

Claudio Monteverdi muss der Komponist zunächst durch den Text affiziert werden, „eine Gemütsbewegung, die ihn dann den entsprechenden Affekt auch in der Musik darstellen lässt“49. Dabei verwiesen Monteverdi und seine Nachfolger auf Platon50 (der übrigens für Deleuze ebenso eine Gegnerfigur wie Descartes war). Was hat die Idee der musikalischen Mimesis mit dem Cartesianismus zu tun?

5. G EIST

DES MECHANISTISCHEN

WELTBILDES

Die Cartesianische Ausrichtung tritt eigentlich nicht so sehr in der Mimesis selbst zutage, sondern vielmehr in der rationalen und systematischen Weise, mit welcher sie in der Musik der Barockzeit zumeist verwendet wurde. Diese Ausrichtung der Mimesis zeigt sich schon in der verwendeten Terminologie. Als „imitatione“ bezeichnete Monteverdi einen ästhetischen Vorgang, der sich auf ein außermusikalisches Objekt richtet und dieses in der Musik nachzubilden sucht 51; in der dramatischen Musik bedeutet „imitatione“ vornehmlich „Darstellung der Affekte“. Die Art der Musik, die Affekte darstellt, bezeichnete Monteverdi aber als „genera rappresentativo“ (rappresentare = darstellen, wiedergeben; aufführen, spielen). Er strebte nicht nur nach der Erarbeitung neuer musikalischer Ausdrucksmittel, sondern nach ihrer deutlichen Taxonomie, und kam letztlich zum Gedanken, „dass sich unsere Leidenschaften oder Gemütsbewegungen in folgenden drei Grundaffekten ausdrücken: in Zorn, Mäßigung und Demut oder Flehen, wie dies die besten Philosophen bestätigen […] und wie es die Musik mit den drei Bezeichnungen ‚concitato‘ [erregt], ‚molle‘ [weiche] und ‚temperato‘ [gemäßigter Art] deutlich macht.“52 Monteverdi konnte in keiner Komposition früherer Komponisten ein Beispiel für die erregte Art (concitato genere) finden. Anhand des Zeugnisses Platons, „dass in […] einem schnellen Versmaß kriegerische, erregte Tänze üblich waren“,53 hat Monteverdi sich entschlossen, im „concitato genere“ die rhythmische +HUULQGHUࡏDUPRQLD¶LVWXQGQLFKW'LHQHULQ´ࡐ3ODWRQVDJWIROJHQGHVGLH0HORGLH EHVWHKHDXVGUHL.RPSRQHQWHQDXV5HGHDXVࡏDUPRQLD¶XQGDXV5K\WKPXV>«@ 5K\WKPXVXQGࡏDUPRQLD¶GHU5HGHIROJWHQGLH5HGHVHOEVWQLFKW5K\WKPXVXQG ࡏDUPRQLD¶IROJH´=LWQDFK6DELQH(KUPDQQ&ODXGLR0RQWHYHUGLGLH*UXQGEHgriffe seines theoretischen Denkens, Pfaffenweiler 1981, S. 131f. 49 | A.a.O., S. 31. 50_'HQ 0RQWHYHUGL DOV HLQHQ GLUHNWHQ 9RUJlQJHU VHLQHU ࡐVHFRQGD SUDWWLFD´ nennt. A.a.O., S. 24. 51 | A.a.O., S. 16. 52 | Claudio Monteverdi, Vorrede zu Madrigali Guerrieri, et Amorosi con alcuni opuscoli in genere rappresentativo… Libro Ottavo (1638). Zit. nach: Ehrmann, a.a.O., S. 143. 53 | A.a.O., S. 144.

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Komponente in den Vordergrund zu stellen, weil der Affekt hier primär durch den Rhythmus ausgedrückt wird.54 Somit hat er die Bahn für ein typisches Verfahren in der Barockmusik gebrochen, Emotionen direkt durch die Bewegungen auszulösen.55 Später erarbeiteten die Nachfolger Monteverdis „an emotive vocabulary – a musical lexicon of motives and figures that communicated and then evoked those emotions in the listener with some particularity. Arias became in effect a series of emblematic elaborations, each of a different passion – rage, lament, desire, joy etc. – with each passion associated with a certain set of musical attributes, much like the gestures and colours that conveyed expression in painting.”56 Monteverdi war offensichtlich der Meinung, dass eine reale direkte Wechselbeziehung zwischen von außen kommenden sinnlichen Vorgängen und den emotionalen Reaktionen existiert, die sie hervorrufen. Die Tatsache, dass Descartes kurz danach in seinem Traktat Des passions de l’âme (Die Leidenschaften der Seele, 1649) ganz ähnliche Ansichten mit noch ausdrücklicherer Taxonomierung (allerdings nicht mit Bezug zur Musik, sondern zur menschlichen Natur) geäußert hat, veranlasst Musikhistoriker wie Richard Taruskin, statt des für Musik ungeeigneten Terminus „Barock“ jene Epoche als „cartesian period“ zu bezeichnen.57 Dieselbe Tatsache mag auch Deleuze veranlasst haben, sich in die Auseinandersetzung um die ästhetischen Grundlagen des „barocken“ Rhythmus nicht einzumischen. Allerdings hatte er (wenn auch mit Guattari) bereits versucht, die gewöhnlichen Vorstellungen über die Mimesis umzuwerfen; was hat ihn dann von einem ähnlichen Eingriff ins Problem der rhythmischen Wirkung abgehalten?

54 | A.a.O., S. 21. 55_ࡐ,QPXVLFDPRWLRQLQWHQGHGWRUHSUHVHQWDQGXOWLPDWHO\VWLPXODWHDQHPRWLon, could be encoded in many ways, the most obvious being by means of rhythm. For example, the rapid repetition of a pitch, often in semiquavers as in MonteverGL·V concitato genere, was appropriate for bellicose, heroic or angry sentiments or actions because it mimicked the agitated or excited utterances of someone in WKHWKURHVRIWKRVHHPRWLRQV´ %DUEDUD5XVVDQR+DQQLQJ0XVLFDQGWKH$UWVLQ Tim Carter & John Butt (Ed.), The Cambridge History of the Seventeenth Century Music, Cambridge 2005, S. 111-131, hier 119.) 56 | A.A.O., S. 122. 57_ࡐ:HPLJKWGRHYHQEHWWHUWRFDOOLWWKH&DUWHVLDQSHULRGDIWHU5HQp'HVFDUWHV ² WKHSKLORVRSKLFDOIRXQGHURIHPSLULFDOVFLHQFHZKRVHH[WUHPH PLQG²PDWWHUGXDOLVPPDGHSRVVLEOHWKHLGHDRIREMHFWLYHNQRZOHGJHDQGUHSUHsentation. A great deal of music between 1600 and 1750 seeks to represent objects (including objectified emotions) rationally and systematically and accurately, DQG WR IRUPXODWH UXOHV IRU GRLQJ VR 7KH SULQFLSOH RI  ¶REMHFWLYH· PXVLFDO UHSUHVHQWDWLRQWKDWFRXOGEHIRUPXODWHGDV´GRFWULQHµZDVDYHU\LPSRUWDQWLGHDDWWKLV WLPH´7DUXVNLQDD26I

Die Tücken des Binären

Der Geist des mechanistischen Weltbildes hat seinen Niederschlag nicht nur in der theoretischen Reflexion des Rhythmus, sondern auch ganz direkt in der metrischen Organisation der Barockmusik gefunden. Der Tendenz zur rhythmischen Freisetzung wurde ja eine andere entgegengesetzt, die auf die metrische Regelmäßigkeit ausgerichtet war.: sie kam zustande durch die zunehmende Verbreitung des Taktstrichs58 sowie durch die Einbürgerung in der Kunstmusik des vom Tanz geforderten Druckakzents, der „sich das ganze Stück hindurch im gleichen Abstand“ wiederholte59. Dieses regelmäßige Metrum, eine stetige Dirigierbewegung des Taktschlages, wurde damals „Tempo de la mano“ genannt. Es wurde „um 1600 dem […] ‚tempo de l’affetto‘, das heißt einem gelegentlichen accelerando oder ritardando, oder einer Aufführungspraxis ‚senza battuta‘ entgegengesetzt.“60 Diese auffällige Dichotomie von Metrum und Rhythmus erklärt Barbara Zuber mit außermusikalischen Zusammenhängen: Der Rhythmus verkörpere „die Vorstellung einer intensiven, affektgefühlten Zeit, deren Qualität vom Wissen um die Endlichkeit menschlichen Daseins, auch von der Instabilität der Welt geprägt ist“61; im neu ausgerichteten Metrum träte dagegen die Nachwirkung der „Verregelung durch die Uhr, die als Mittel profunder Kontrolle und sozialer Abstimmung die Zeit von den menschlichen Ereignissen ablöste“62 zutage; in seinem fast maschinenartigen Charakter äußert sich ganz deutlich der Geist des mechanistischen Weltbildes.63 Die oben angeführten Erwägungen aus Tausend Plateaus über die Verhältnisse von Rhythmus und Maß besagen unzweideutig, dass Deleuze diese Dichotomie 58_2EZRKOGHU7DNWVWULFKࡐLPDXVJHKHQGHQ-DKUKXQGHUWNHLQHVZHJVLPPHU YRUKDQGHQ´LVWLVWࡐGDV%HZXVVWVHLQYRQ7DNWHLQKHLWHQVSlWHVWHQVVHLWGHUHUVWHQ Hälfte des 16. Jahrhunderts belegt; […] 1698 bringt Treiber die ungeradtaktigen Instrumentalritornelle zu den geradtaktigen Gesangsstrophen in ein exakt proSRUWLRQDOHV 9HUKlOWQLV >«@´ :HUQHU %UDXQ 'HXWVFKH 0XVLNWKHRULH GHV  %LV 17. Jahrhunderts, 2. Teil: Von Calvisius bis Mattheson (Geschichte der Musiktheorie, Band 8, Teilband 2), Darmstadt 1994, S. 349.) 59 | Heinrich Besseler, Das musikalische Hören der Neuzeit, in: ders., Aufsätze zur Musikästhetik und Musikgeschichte. Leipzig 1978, S. 104-173, hier 122f. 60 | Barbara Zuber, Con tutte le passioni. Musikalische Zeitgestaltung und Affekttempo in Monteverdis Lamento della Ninfa, in: Richard Klein, Eckehard Kiem und Wolfram Ette (Hg.): Musik in der Zeit. Zeit in der Musik, Weilerswist 2000, S. 259-286, hier 260. 61 | A.a.O., S. 266. 62 | A.a.O., S. 264. 63_$OH[DQGUH .R\Up HUNOlUW GLH YHUlQGHUWH =HLWYRUVWHOOXQJHQ PLW DNWXHOOHQ %HGUIQLVVH YRQ 0HFKDQLN XQG 6HHIDKUW YJO $OH[DQGUH .R\Up 'X PRQGH GH O·j SHXSUqV j O·8QLYHUV GH OD SUpFLVLRQ LQ GHUV eWXGHV G·KLVWRLUH GH OD SHQVpH philosophique, Paris 1972, S. 341-362.)

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der Barockmusik kaum übersehen konnte. In seine Allegorie des zweigeschossigen Hauses wäre es allerdings schwer einzubeziehen, denn beide Polen der Dichotomie sind zeitlich ausgedehnt. Zwar lässt sich der „affektgefühlte“ Rhythmus als ein ganz „faltenartiges“ Phänomen erblicken, aber das „verregelte“ Metrum ähnelt weder dem Körper noch der Seele (geschweige denn der Monade). Außerdem hat dieses Metrum sehr wenig gemeinsam mit der „Offenheit“, „Unklarheit“ und den anderen sinnlichen Assoziationen, die das Bild der endlosen barocken Falte rein assoziativ mit sich führt, sondern lässt sich eher als etwas „Lineares“, „Klares“ und „Vielfältiges“ – d.h. eher „Renaissanceartiges“ wahrnehmen. Die Darstellung der metrischen Spezifität der Barockmusik würde demnach das Bild dieses Zeitalters gefährden, das Deleuze so sorgfältig im Laufe seines Buches aufbaut. Denn das tatsächliche Metrum der Barockmusik war der Vermeidung von scharfen Winkeln, geraden Linien, deutlichen Rahmen und Grenzen und der Neigung zur fließenden Bewegung, die Deleuze so wichtig sind, diametral entgegengesetzt; wenn es überhaupt mit einer Falte verglichen werden kann, dann wäre es eher die „feste, polygonale, unflexible geometrische Falte Uccellos“64. Auf das frühere metrische System der Renaissancemusik, das mehr irrationale Verhältnisse enthielt, würde das Deleuzesche Bild des Barocks eigentlich deutlich besser passen.65 Das neue regelmäßige Metrum hat sein Korrelat auch im formalen Bau der meisten Werke des musikalischen Barocks. Die neue Art von Takt mit Druckakzenten bildet Zweier- und Vierergruppen, was sowohl in Tanzliedern als auch in Instrumentalsätzen zur Regel wird. Was die Sache für das Deleuzesches Bild des Barocks besonders prekär macht, ist die entscheidende Rolle Descartes’ als Entdecker, der in seinem Compendium musicae (Leitfaden der Musik) den geordneten Periodenbau schildert. Descartes hatte offenbar beobachtet, dass die Tanzmusik sich vielfach symmetrisch aus je zwei Takten aufbaut, mit einem halben Schluss im Takt 4 und einem vollen in Takt 8. Es ist erstaunlich, dass schon 1618 ein Theoretiker den Satzbau auf achttaktige Gruppen im Sinne der Klassik zurückführen will.66 Im Compendium erscheint bereits das Proportionsideal 1:2:4:8:16:32:64, obwohl es der hohen Kunst vorläufig noch widerspricht.67 Nun erinnern wir uns daran, dass Deleuze Descartes anhand der Wölfflinschen verallgemeinernden binären Oppositionen als rückschrittlich darstellt, als 64 | Deleuze, Die Falte, a.a.O., S. 60. 65 | Vgl. Carl Dahlhaus, Die Tactus- und Proportionslehre des 15. bis 17. Jahrhunderts, in: Frieder Zaminer (Hg.), Hören, Messen und Rechnen in der frühen Neuzeit (Geschichte der Musiktheorie, Bd. 6), Darmstadt 1987. S. 352f. 66 | Besseler, a.a.O., S. 125. 67 | Heinrich Besseler, Singstil und Instrumentalstil in der Europäischen Musik, in: ders., Aufsätze zur Musikästhetik und Musikgeschichte, a.a.O., S. 80-103, hier 93.

Die Tücken des Binären

jemanden, dessen Denkweise noch der Tradition der Renaissance verhaftet ist. Descartes nämlich denke „linear“, „flächenhaft“, „geschlossen“ und „klar“ – das heißt nicht „barock“ (wahrscheinlich ganz im Stil eines Staatsapparats), was Deleuze den Anlass gibt, ihn schon am Anfang des Buches anzugreifen: „Jeder Etage entspricht genau ein Labyrinth: das Labyrinth des Kontinuums in der Materie und deren Teilen, das Labyrinth der Freiheit in der Seele und ihren Prädikaten. Wenn Descartes sie nicht auflösen konnte, dann weil er das Geheimnis des Kontinuums auf geradlinigen Wegen und das der Freiheit in einer Geradheit der Seele aufsuchte, und dabei die Neigung der Seele ebenso wie die Krümmung der Materie mißachtete.“68 Und: „Wölfflin hat dieses [für den Barock kennzeichnende] Fortschreiten des Lichts, das wächst und schrumpft und sich durch Grade vermittelt, in seiner Konsequenz verstanden. Es ist die Relativität der Klarheit (wie auch der Bewegung), die Untrennbarkeit des Klaren und des Dunklen, die Auslöschung des Umrisses, kurz, der Gegensatz zu Descartes, der ein Mann der Renaissance blieb, unter dem doppelten Gesichtspunkt einer Physik des Lichts und einer Logik der Idee.“69 Und nun stellt es sich heraus, dass gerade mit diesem überholten „geradlinigen“ Denken (oder gar dank seiner) Descartes der erste war, der die metrisch-rhythmische Umwälzung des neuen Zeitalters erkannt und reflektiert hat. Man kann dieses Phänomen als musikalische Äußerung des „klassizistischen Barocks“ sehen, wie Arnold Hauser es tut, aber im Unterschied zur bildenden Kunst trat es nicht nur im Werk eines Komponisten oder im Schaffen einer tonkünstlerischen Richtung der Epoche zutage, sondern überall, in fast allen Musikarten und Musikgattungen jener Zeit.

6. D ESCARTES

UND DAS

Z EITMASS

DER

M USIK

Dieser „quadratische Periodenbau“ mit seinem „Akzentstufentakt“ ist – zumindest für einen modernen Musikhörer – leichter zu erfassen als die zeitlichen Proportionen der Renaissancemusik. Im Compendium musicae betont Descartes ausdrücklich, dass allzu komplizierte rhythmische Proportionen den Zuhörer ermüden würden.70 Seine scheinbar hedonistische Einstellung zur Musik („Der Zweck des

68 | Deleuze, Die Falte, S. 11f. 69 | A.a.O., S. 57. 70_ࡐ(LQ *HJHQVWDQG ZLUG YRP 6LQQ OHLFKWHU HUIDVVW MH JHULQJHU GLH 9HUVFKLHdenheit der Teile ist. […] Bei den die Sinne betreffenden Gegenständen ist dem Gemüte das nicht sehr angenehm, was von den Sinnen allzu leicht oder allzu schwer erfasst wird, sondern das, was gerade so leicht ist, dass das natürliche Verlangen, mit dem die Sinne an die Gegenstände herangehen, völlig befriedigt

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Tones ist […] zu erfreuen und […] ergötzlich [zu] sein“71) mag zu dem Fehlschluss führen, dass er für eine rhythmisch primitive Musik plädiert, die vom Zuhörer so wenig geistigen Aufwand wie möglich voraussetzt (wie ein Militärmarsch). In der Tat aber dienen bei ihm die tanzartige Regelmäßigkeit und die Quadratstruktur als Voraussatzungen dafür, dass man Musik über längere Strecken auffassen kann: ࡐ$XVGLHVHQEHLGHQ$UWHQGHU=DKOHQYHUKlOWQLVVHVLQGGLHEHLGHQ7DNWDUWHQLQGHU Musik entstanden, nämlich durch Teilung in drei oder zwei Zeiten. Diese Einteilung wird markiert durch Schlag oder den sog. Niederschlag, was zur Unterstützung unserer Einbildungskraft geschieht. Dadurch können wir alle Taktglieder einer Melodie leichter erfassen und uns durch das unter ihnen bestehende Verhältnis erfreuen. Dieses Verhältnis aber wird sehr weise unter den Melodiegliedern gewahrt, dass es unsere Aufnahmefähigkeit unterstützen kann, und zwar derart, dass, während wir das Ende des Taktes noch weiter hören, wir uns des Anfangs und den übrigen Melodie erinnern. Das geschieht, wenn die ganze Melodie aus 8, 16, 32 oder 64 oder mehr Taktgliedern besteht und dass natürlich alle Teilungen im doppelten Verhältnis fortschreiten. Dann nämlich, während wir die ersten beiden Glieder hören, fassen wir sie gleich als eines auf und wenn wir das dritte hören, verbinden wir noch dieses mit den ersten beiden so, dass ein dreifaches Verhältnis entsteht. Hernach, während wir das vierte hören, verbinden wir es mit dem dritten so, dass wir sie gleich als eines auffassen, darauf verbinden wir wiederum die beiden ersten mit den beiden letzten so, dass wir alle vier Glieder so gut als eines auffassen. Und so geht unsere Einbildungskraft fort bis zum Schluss, wo schließlich die ganze Melodie als eine aus mehreren Gliedern ]XVDPPHQJHVHW]WH(LQKHLWDXIJHQRPPHQZLUG´ 72

Das heißt, dass diese Taktarten und formalen Teilungen die Wahrnehmung des Zuhörers so anregen, dass er fähig wird, durch die Einbildungskraft musikalisch vorauszuahnen und das schon Gehörten im Gedächtnis zu behalten. Durch diese Descartesschen Erwägungen scheinen schon die Husserlschen Begriffe der „Retention“ und „Protention“ durch, die er am Beispiel der Musik vorgeführt hat,73 und Descartes fungiert überraschenderweise als einer der Vorläufer einer Phänomenologie der Musik. Laut Descartes dienen unterschiedliche Taktarten und Zeitmaße auch dazu, den Zuhörer in verschiedene Stimmungen zu versetzen. Man würde erwarten, ZLUGXQGDXFKJHUDGHVRVFKZLHULJGDVVHVGHQ6LQQQLFKWHUPGHW´ 5HQDWXV Descartes, Musicae Compendium / Leitfaden der Musik, Darmstadt 1992, S. 5) 71 | A.a.O., S. 3. 72 | A.a.O., S. 7. 73 | Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, Hamburg 2013.

Die Tücken des Binären

dass jetzt seine mechanistische Weltanschauung zutage tritt: „Was aber die verschiedenen Gemütszustände betrifft, welche die Musik durch die verschiedenen Zeitmaße in uns erregen, sage ich im allgemeinen, dass ein langsames Tempo in uns träge Empfindungen hervorruft, wie Mattigkeit, Traurigkeit, Furcht, Hochmut; das schnellere hingegen lebhafte wie Freude usw. […] Eine genauere Untersuchung dieser Materie hängt von einer sorgfältigen Kenntnis der Leidenschaften der Seele ab.“74 Am Ende des Leitfadens streift er dieses Thema noch einmal: „Und nun müsste allerdings folgen, dass ich besonders von den einzelnen Gemütsbewegungen handle, die durch die Musik hervorgerufen werden können, und ich müsste zeigen, durch welche Stufen, Konsonanten, Zeitmaße und Ähnlichem jene erregt würden, aber damit würde ich das Vorhaben des Leitfadens überschreiten.“75 Diese beiden Zitate zeigen ganz klar, dass Descartes davor zurückgescheut hat, die Wirkung der Musik auf die Seele genauer in den Blick zu nehmen, obwohl er sie für erörterungsbedürftig hielt. 1618, als 22Jähriger, fühlte er sich offensichtlich im Bereich der Leidenschaften noch nicht kompetent genug. Als er sich dem Thema der Leidenschaften am Ende seines Lebens schließlich entsprechend gewappnet zuwandte, bliebt nun aber der Bezug auf Musik ausgeklammert. Was hat ihn davon ferngehalten? Auch wenn Musikhistoriker Descartes gern als „geistiges Fundament“ der mechanistischen Auffassung vieler Komponisten und Musiktheoretiker des Barocks anführen, hat er selbst auf dem Weg vom Leitfaden zu den Leidenschaften der Seele die Annahme weitgehend preisgegeben, dass eine direkte Wechselbeziehung zwischen musikalischen Ausdrucksmitteln und Gemütsbewegungen existiert. 1630 bekennt er seinem Freund, dem Musiktheoretiker Marin Mersenne: „Ich kenne keine Eigenschaften der Konsonanzen, die den Leidenschaften entsprächen.“76 Diese Skepsis geht allerdings über die Konsonanzen hinaus: Descartes meint, eine und dieselbe Melodie könne einen Zuhörer zum Tanzen anregen, den anderen hingegen in Trauer versetzen, weil die beiden von ihrer Lebenserfahrung her mit derselben Melodie unterschiedliche Assoziationen verbinden.77 Brigitte van Wymeersch erklärt diese Wende zum Subjektivismus damit, dass er schon bei der Darlegung seiner Dichotomie von „geistigen oder denkenden Dinge[n] […], welche zur Seele oder zur denkenden Substanz gehören“, und 74 | Descartes, a.a.O., S. 9. 75 | A.a.O., S. 69. 76_ࡐ-H QH FRQQDLV SRLQW GH TXDOLWpV DX[ FRQVRQDQFHV TXL UpSRQGHQW DX[ SDVVLRQV´5HQp'HVFDUWHV/HWWUHj0HUVHQQHGXPDUV]LWLHUWQDFK%ULJLWWH 9DQ :\PHHUVFK 'HVFDUWHV HW O·pYROXWLRQ GH O HVWKHWLTXH PXVLFDOH 6SULPRQW 1999, S. 144 (hier und im Folgenden meine Übersetzung, A.J-G.). 77 | Descartes, Lettre à Mersenne du 30 janvier 1630, zitiert nach: Wymeersch, a.a.O., S. 132.

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„körperlichen Dinge[n]“, „die zur ausgedehnten Substanz d.h. zu dem Körper“ gehören, eingeräumt hat, dass es außerdem die Dinge gibt, die „sich nicht bloß auf die Seele und nicht bloß auf den Körper“ beziehen, sondern „von der ewigen und innigen Verbindung der Seele mit dem Körper herkommen“.78 Da Descartes darunter die Töne sowie „die Erregungen oder Gefühle der Seele“79 zählt, ergänzt van Wymeersch seine Liste durch die fehlende musikalische Emotion: „Sie veredelt die Sinne, sie hat eine physiologische Grundlage, aber sie ist von einer einfachen Empfindung zu unterscheiden. Sie hängt in der Tat von einer ‚Disposition des Gehirns‘ ab, einem körperlichen Gedächtnis, das durch die persönliche Geschichte seiner Besitzer geprägt ist.“80 Im Leitfaden macht Descartes zwar keine ausdrückliche Unterscheidung zwischen Metrum und Rhythmus und begnügt sich nur mit einem allgemeineren Terminus – „mensura“ (Zeitmaß). Aber seine späteren Gedanken über die Wahrnehmung der musikalischen Harmonie geben uns Gründe zu mutmaßen, dass er, wenn er dieses Problem behandelt hätte, Metrum und damit zusammenhängend Satzbau einerseits und Rhythmus andererseits zwei ganz verschiedenen Sparten der Wahrnehmung zugeordnet hätte würde. In Bezug auf die musikalische Harmonie hat Descartes die Vollkommenheit und die Schönheit voneinander getrennt: Sie seien nicht mehr unzertrennliche Verbündete, sondern gehörten von nun an zwei verschiedenen Registern an, nämlich demjenigen des Verstandes („raison“) und demjenigen der Leidenschaften („passions“).81 In seinen Briefe an Mersenne unterscheidet er zwischen der Vollkommenheit, Sanftheit und Einfachheit („simplicité, douceur et perfection“) der Konsonanz, einerseits, und ihrer angenehmen Qualität („la qualité agréable“) andererseits. Letztere nämlich lasse sich nicht objektiv feststellen, und falle in den Bereich des Geschmacks, der seinerseits von der Individualität des Zuhörers abhänge.82 Vollkommenheit der Harmonie impliziert bei Descartes möglichst einfache Zahlenverhältnisse. Aus dem gleichen Grunde kann man den achttaktigen Satzbau mit seinem tanzartigen Metrum als „vollkommen“ betrachten, als eine 78_5HQp'HVFDUWHV'LH3ULQ]LSLHQGHU3KLORVRSKLH+DPEXUJ6 79 | Ebd. 80_ࡐ/·pPRWLRQ PXVLFDOH HVW XQH GH FHV ªFKRVH© HOOH UHOqYH GHV VHQV HOOH D XQHEDVHSK\VLRORJLTXHPDLVHOOHHVWVHGLIIpUHQFLHG·XQHVLPSOHVHQVDWLRQ(OOH GpSHQGHQHIIHWG·XQHªGLVSRVLWLRQGHQRWUHFHUYHDX©G·XQHPpPRLUHGXFRUSV FRQVWLWXpHSDUO·KLVWRLUHSHUVRQHOOHGHFKDFXQ´:\PHHUVFKDD26 81_ࡐ'pVRUPDLVXQVRQSRXUUDrWUHSK\VLTXHPHQWSDUIDLWVDQVSRXUDXWDQWrWUH DSSUpFLpSDUODVXMHW3HUIHFWLRQHWEHDXWpQHVHURQWSOXVLQGLVVRFLDEOHPHQWOLpHV PDLV YRQW DSSDUWHQLU j GHX[ UHJLVWUHV GLIIpUHQWV FHOXL GH OD UDLVRQ HW FHOXL GHV passions.” A.a.O., S. 131. 82 | A.a.O., S. 132.

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eingeborene Idee, die durch „sens commun“ eingeschätzt werden könnte. Individuelle rhythmische Vorgänge der verschiedenen Musikwerke werden dagegen immer individuell, je nach persönlicher Erfahrung, erlebt und eingeschätzt. Demgemäß würde der achttaktige Satzbau mit seinem tanzartigen Metrum eher der Ebene des Verstands, der individuelle rhythmische Vorgang der Ebene der Seele („registre de passions“) angehören.

7. VERSÖHNUNG

MIT

L EIBNIZ

Es ist schon allein wegen eines Mangels an Quellen unmöglich, die Ansichten zur Musik von Descartes denjenigen von Leibniz angemessen gegenüberzustellen: Leibniz hat bekanntlich kein Musiktraktat hinterlassen, und viele seiner wichtigen Aussage über Musik sind in seinen Handschriften verstreut, die immer noch nicht zusammengefasst wurden.83 Diejenigen, die doch überliefert sind, beziehen sich zumeist auf die Zahlensymbolik und die pythagoreisch-harmonikale Tradition und haben nichts mit musikalischem Metrum oder Rhythmus zu tun, mit einer bekannten Ausnahme: „Die Musik entzückt uns, obschon ihre Schönheit in nichts anderem als in der Entsprechung von Zahlen und der uns unbewußten Zählung besteht, welche die Seele an den in gewissen Intervallen zusammentreffenden Schlägen und Schwingungen der tönenden Körper vornimmt. Die Freuden, die das Auge an den Proportionen findet, sind gleicher Art, und auch die der übrigen Sinne werden von ähnlichen Dingen herrühren, obwohl wir sie nicht so deutlich erklären können.“84 Wir finden hier im Grund nichts, das der Descartesschen „hedonistischen“ Einstellung grundsätzlich widerspricht: Die Ähnlichkeit mit dem Anfang des Leitfadens ist kaum zu leugnen. Aber die wirklich erstaunlichen Affinitäten kommen zutage, wenn man die musikästhetischen Erwägungen von Descartes mit den Leibnizschen metaphorischen Darlegungen zu den komplexen Ideen vergleicht, die ja den Ausgangspunkt des Buches von Deleuze bilden. Leibniz sprach dort von zwei Arten der Falte, die den Empfang der neuen Information determinieren: von derjenigen, welche die angeborenen Kenntnisse repräsentiert, und derjenigen, welche die Eindrücke der zuvor wahrgenommenen Bilder bewahrt. Auch bei Descartes geht es einerseits um einen „sens commun“, der die Vollkommenheit wahrnehmen lässt, andererseits aber um eine individuelle Erfahrung und ein persönliches Gedächtnis, die nie „commun“ sein können; die Musik würde immer durch die 83 | Vgl. Rudolf Haase, Leibniz und die Musik. Ein Beitrag zur Geschichte der harmonikalen Symbolik, Hommerich 1963. 84 | Gottfried Wilhelm Leibniz, Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade, §17, in: ders., Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade; Monadologie, Hamburg 1956, S. 23.

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beiden Ebenen zugleich wahrgenommen. Zweifellos wäre die Leibnizsche Allegorie der Falte allzu für Descartes „verfeinert“, dessen Denkstil in der Tat eher „geradlinig“ erscheint. Als wesensverwandt erweist sich nicht die Falte selbst, sondern die Phänomene, die sie repräsentiert.

ࡐ( 17:('(5  2'(5 ´ 67$77 * /(,&+*(:,&+7 Gilles Deleuze hat den Rhythmus in der Barockmusik vor allem deshalb nicht behandelt, weil dies ihn zwangsläufig zum Zugeständnis nötigen würde, dass Descartes das Wesen der Barockmusik im Grunde gut erfasst hat. Ein solches Zugeständnis fiele ihm offensichtlich schwer, weil er von vornherein Descartes als Gegner hinstellt und zu zeigen versucht, dass dieser – im Gegensatz zu Leibniz – keine Sensibilität für die Kunstentwicklung seiner Zeit hatte. Tatsächlich aber erweist sich Descartes, was die Musik anbetrifft, als besonders hellsichtig, weil er die weitere Entwicklung der Barockmusik vorausgesehen hat, während Leibniz mit seiner schon im 17. Jahrhundert nostalgischen Anhänglichkeit an den Pythagoreismus eher rückschrittlich wirkt. Deleuze ist hier seinen eigenen ideologischen Voraussetzungen zum Opfer gefallen: Auch im Buch über den Barock ging es ihm vor allem darum, Vorgänger des „rhizomatischen Denkens“ auszumachen, und nicht darum, die kulturellen Phänomene jener Zeit in ihrer Vielseitigkeit darzustellen. Dass er Descartes als ein echt barocken Denker nicht akzeptieren konnte, hatte zur Folge, dass er über die entscheidenden Merkmale der barocken Musik hinweggehen musste: nicht nur über ihren allgegenwärtigen „quadratischen“ Satzbau, sondern auch über die rationale Systematik, mit welcher die barocken Komponisten von Monteverdi zu Bach auch mit chaotischen Gemütszuständen umgegangen sind. Deleuze’ Tendenz, seine „Vorgänger“ und „Gegner“ einander entgegenzusetzen, führte zu seinem Rückgriff auf binäre Oppositionen, die er in Bezug auf die barocke Kunst von Heinrich Wölfflin entlehnt hat. Infolge dessen wird dem Schräge und Gekrümmten der Vorzug vor allem Geradlinigen und Quadratischen gegeben, was die Theorie nicht überzeugender macht. Auch wenn Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus in vielen Fällen ganz deutlich die eine Seite der anderen vorziehen (z.B. den glatten Raum dem gekerbten Raum), war es hier ihre gespannte Koexistenz und nicht ihre Gegenüberstellung, die so plausibel wirkte. Zwar liegt Leibniz dem rhizomatischen Denken gewiss näher als Descartes. Aber die Entgegensetzung von Leibniz und Descartes anhand der Wölfflinschen Oppositionen erweist sich in Bezug auf die Musik als besonders unplausibel. Erstens verfällt Deleuze manchmal selbst in Cartesianismus (wie in seiner Betrachtung der Verhältnisse zwischen Harmonie und Melodie) und zweitens erweisen sich bei genauerer Betrachtung die Ansichten der beiden barocken Philosophen im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung als miteinander vereinbar.

Die Tücken des Binären

In Tausend Plateaus haben Deleuze und Guattari die Verhältnisse von „Klassik“ (als Symbol der Ordnung) und „Barock“ (als Symbol des Chaos) als beständiges Zusammenspiel und Wechselwirkung geschildert, und mit einem solchen flexibleren Ansatz und dem dabei verwendetem Begriffsapparat könnten viele Dichotomien der Barockmusik gut beschrieben werden.85 Wenn Deleuze und Guattari schreiben, es sei „niemals gelungen, eine klare Grenze zwischen Barock und Klassik zu ziehen. In der Tiefe der Klassik dröhnt der gesamte Barock“86, so besagt dies, dass diese zwei keineswegs historisch aufeinander gefolgt sind, sondern dass sie eine untrennbare Synthese bilden. Wenn man von den Deleuzeschen Voraussetzungen aus den Begriff der Balance überhaupt bemühen kann, so ist es an diesem Punkt. Man muss dieses Gleichgewicht ähnlich verstehen wie die Symmetrie bei John Dewey, die zwei „entgegenwirkende Energien darstellt“87, die sie ins Gleichgewicht bringt, ohne dass der Kampf und die Spannung dabei verschwände. In Die Falte aber hat Deleuze diese Idee entschieden abgelehnt. Als Ergebnis bekommen wir plötzlich „a simple and mechanical establishment of homologies“88 im Stil der alten Ideologiekritik (oder Geistesgeschichte), anstatt eines Nebeneinanders sehen wir ein Nacheinander, an Stelle eines „und“ tritt unzweideutig ein „entweder-oder“. Nachdem der Begriff des Gefüges preisgegeben wurde, erweist sich der Deleuzesche Barock als hypostasierte Einheit.

9. M USIK

ALS NOMADISCHE

KUNST

Nach meiner Kritik der Deleuzeschen Methodologie in Die Falte möchte ich zum Schluss kurz zur Rhythmustheorie aus Tausend Plateaus zurückkehren, um darüber nachzudenken, welche Anregungen aus ihr gewonnen werden können, wenn man nach Zusammenhängen zwischen innermusikalischen Strukturen und weite85_ࡐ7KHUH ZHUH FHQWULSHWDO IRUFHV WKDW KHOG SLHFHV WRJHWKHU VXFK DV RVWLQDWR basses, underlying harmonic patterns, recurring tutti sections; and centrifugal forces that pushed them apart, such as the improvisational impulse behind a stream of fantasy-like sections in a toccata or canzona, or the expansion of a series of such divergent sections into the separate movements of a sonata. Eventually, such antipodal elements were acknowledged and codified into pairs of contrasting pieces: toccata and fugue, allemande and courante, sarabande and gigue, RUHYHQ²LQYRFDOPXVLF²UHFLWDWLYHDQGDULD7KHGLFKRWRP\EHWZHHQRUGHUDQG disorder, control and freedom, is also mirrored in the architectural forms of the FHQWXU\ DQG LQ WKHLU DQFLOODU\ PDQLIHVWDWLRQV VXFK DV ODQGVFDSH GHVLJQ´ +DQning, a.a.O., S. 116) 86 | Deleuze u. Guattari, Tausend Plateaus, a.a.O., S. 460f. 87 | John Dewey, Kunst als Erfahrung, Frankfurt/M 1988, S. 208. 88 | Jameson, a.a.O., S. 191.

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rem kulturellen Kontext, nach einer produktiven Brücke zwischen der immanenten und außermusikalischen Analyse sucht, ohne auf oberflächliche Homologien zwischen beiden zurückgreifen zu müssen. Eine der auffälligen Neuigkeiten der noologischen Analyse besteht im immer wieder bemühten Modell des Bauwerkes, welches in gewissem Sinne sogar statt der Philosophie als geistiger Unterbau fungiert.89 Deleuze und Guattari gehen so weit, dass sie die Metallurgie und das Schmieden als paradigmatisches Beispiel der „nomadischen Kunst“ nennen, was zunächst merkwürdig scheinen mag, da diese Tätigkeiten eher eine sesshafte Lebensweise voraussetzen. Der nomadische Charakter aber kommt nicht durch die Verortung der Tätigkeit oder ihre Situierung im Raum zum Vorschein, sondern durch die Eigenschaften des Arbeitsmaterials: „Metal is […] seen as matter par excellence […]. Metalworking is necessarily something more than a technique; it is a relationship to the singularities, the contingent ‚events‘ of raw material. And the blacksmith must somehow ‚follow‘ those contingencies – it is in that sense that he is more nomadic than other kinds of workers. Nomadism, in other words, is the process of following contingencies, events of matter.“90 Man darf hinzufügen, dass Nomadismus sich damit auch als rein rhythmische Tätigkeit erweist, denn laut Deleuze und Guattari begleitet der Rhythmus eine Veränderung des Sachverhalts oder ein Ereignis: „[E]r verknüpft kritische Momente, oder er verknüpft sich mit dem Übergang von einem Milieu in ein anderes. […] Er ändert die Richtung.”91 Der Zusammenhang zwischen dem Rhythmus und der Materialität lässt sich anhand der Musik vorführen, wenn man sich daran erinnert, dass schon viele antike Musiktheoretiker einen beweglichen Körper für den Stoff der Musik hielten. Bei Aristeides Quintilianus z.B. „der Rhythmus bzw. das Rhythmische in allen seinen anthropologischen Bedingtheiten“ erweist sich „als wesentliches Bindeglied zwischen Körper (als Stoff) und Musik […]“92 . Demzufolge scheint es nicht verwunderlich, dass Deleuze und Guattari die Affinität zwischen der Musik und Metallurgie gerade im Bereich ihres Stoffs und seiner Bearbeitung erblicken: „Wenn die Metallurgie eine tiefe Beziehung zur Mu89_1RRORJLH ࡐLV RUJDQL]HG DURXQG D VLPSOH FKHFNOLVW« GHULYH>G@« QRW GLUHFWO\ from philosophical thought but from various kinds of engifneering: the building of the great cathedrals by journeymen, as opposed to the codification of building PHWKRGVDQGHQJLQHHULQJVWDQGDUGVLPSRVHGODWHURQE\WKH6WDWH>«@´ -DPHVRQ a.a.O., S. 192) 90 | Ebd. 91 | Deleuze u. Guattari, Tausend Plateaus, a.a.O., S. 427. 92_$OEUHFKW 5LHWKPOOHU ࡐ6WRII GHU 0XVLN LVW .ODQJ XQG %HZHJXQJ´ LQ +DQV Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt/M 1988, S. 51-62, hier 59.

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sik hat, dann wegen einer Tendenz beider Künste, jenseits von getrennten Formen eine kontinuierliche Formentwicklung, jenseits von Variablen eine kontinuierliche Variation der Materie in Gang setzen: eine erweiterte Chromatik trägt zugleich die Musik und die Metallurgie.“93 Als eine nomadische Kunst erscheint die Musik auch deswegen, weil sie durch den Rhythmus den Raum und (somit neue Orte) einzurichten und anzueignen ermöglicht (der „sesshafte“ Staatsapparat ist dagegen viel weniger auf eine solche Kunst angewiesen). Das Ritornell ist für Deleuze und Guattari nicht nur ein musikalischer Refrain, sondern auch der Gesang eines Vogels sowie die Verhaltensmuster verschiedener Tiere, die zur Markierung eines Territoriums dienen: „Die Territorialisierung kommt durch den expressiv gewordenen Rhythmus oder durch qualitativ gewordene Bestandteile des Milieus zustande. Die Markierung eines Territoriums ist dimensional, aber nicht als Maß, sondern als Rhythmus.“94 Die „kritische Distanz“, die die Bedeutung der barocken Tänze ausmacht, ist eine der vielen in Tausend Plateaus eingeführten Beispiele eines Rudimentes tierischen Verhaltens. Deswegen spielt bei Deleuze und Guattari das „Tier-Werden“ eine so wichtige Rolle im Musikschaffen.95 Kehren wir nun zu den binären Oppositionen zurück, und zwar zum in Tausend Plateaus vielfach eingesetzten Hjelmslevschen Modell, in dem jede der beiden Ebenen sich wiederum in Substanz und Form spaltet. Der Rhythmus lässt sich auf der Ausdrucksebene platzieren, insofern er offensichtlich als ein Mittel fungiert, das Milieu durch die periodische Wiederholung zu codieren, und der Code ist seinerseits ein Äquivalent des Ausdrucks; der Strom befindet sich dann auf der Inhaltsebene. Dies erschließt plötzlich die Möglichkeit, auf die energetische Musikpsychologie zurückzugreifen, denn auch wenn sie nicht von „Energie“ sprechen, kann man die Rhythmustheorie von Deleuze und Guattari ohne große Vorbehalte nicht nur als vitalistisch, sondern auch als energetisch bezeichnen. Natürlich ist die energetische Musikbetrachtung in der Musikanalyse immer noch nicht vollständig etabliert, weil sie keine ausreichend präzise Beschreibung der musikalischen Tatsachen gewährleistet. Aber wenn wir ein Musikphänomen als ein vielschichtiges Gefüge, als eine einzigartige Konstellation von Strom und Code betrachten würden, kann sie für eine der Ebenen in Anspruch genommen werden, während die anderen Ebenen mit Methoden angegangen werden können, die wiederum ihnen angemessen sind. Im diesen Fall würde es sich eher um eine Multidisziplinarität als um eine Interdisziplinarität handeln, wo die metaphorische allgemeine Beschreibung mit sehr präzisen Analysen der formalen Strukturen koexistieren könnte. Wenn wir dann beispielsweise das Monteverdische System der Affektdarstellung nähmen, könnten wir den Rhythmus auf zwei Ebenen zugleich 93 | Deleuze u. Guattari, Tausend Plateaus, a.a.O., S. 568. 94 | A.a.O., S. 430. 95 | Vgl. Anm. 47.

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sehen: Er wäre dann nicht nur die Form (ein Element der Form) des Codes (des Ausdrucks), sondern auch die Form des Stroms (des Inhalts). Im ersten Fall ginge es um einen konkreten empirischen musikalischen Vorgang; im zweiten Fall um eine durch die Verinnerlichung des außermusikalischen Objektes hervorgerufene seelische Bewegung (Energie), die schon in eine klare geistige Vorstellung (Organisation) noch ohne musikalische Verkörperung ausgeformt wurde (die Fragwürdigkeit der Annahme, der Komponist drücke seine Gefühle aus, lassen wir jetzt ausgeklammert). Im jeden Fall scheinen einige von Deleuze’ Begriffen nicht nur für dieses Problem, sondern auch viele andere Problemfelder der Musik(geschichte) als vielversprechende Angebote, obwohl es ihm selbst nicht gelungen ist, die metrische-rhythmische Organisation und andere wichtige Eigenschaften der Barockmusik zu begreifen.

Kulturen des musikalischen Rhythmus Steffen A. Schmidt

Rhythmus : JULHFK‫ض‬ѭѡѥٌ ς ࡐ*HVWDOW´ࡐ2UGQXQJ´

D IVERSITÄT Von dem einen musikalischen Rhythmus zu sprechen, der alle Phänomene auf eine einheitliche Formel bringen würde, dürfte ein ideologisches Unterfangen sein. Allein auf mess- und zählbare Einheiten zu verweisen, indem auf den griechischen Ursprung des Gliederns verwiesen wird, erscheint reduziert.1 Das Denken und Praktizieren von Rhythmus setzt sich zusammen aus theoretischen Modellen, ästhetischen Vorentscheidungen, aus historischen Prozessen. Allein die drei Stränge, die den musikalischen Rhythmus im Abendland maßgeblich bestimmten, lassen sich in ihrer Geschichte kaum auf einen Nenner bringen. Dabei war als erster Strang die mathematische Proportionslehre der Intervalle (Pythagoras) stets eher auf Grössenverhältnisse gerichtet als auf zeitliche Prozesse. Das mag ein Grund sein, warum im Rhythmus die Tendenz vorherrscht, zeitliche Phänomene zu verräumlichen, ein Denken, das erst durch Bergsons „Erlebniszeit“ ernsthaft in Frage gestellt wurde.2 Seit der griechischen Antike bildet das Versmaß die vielleicht wichtigste rhythmische Grundlage und es wurde in den folgenden Jahrhunderten immer wieder aus der Sprache hergeleitet und auf die Musik übertragen. Die ersten rhythmischen Modi der polyphonen Musik des 11. Jahrhunderts entsprechen dem Jambus, 1 | Vgl. die neueren Publikationen von Petersen und Götte: Ulli Götte, Weltsprache Rhythmus. Gestalt und Funktion in der Musik des Abendlandes und außereuropäischer Kulturen, Wilhelmshaven 2011; Peter Petersen, Musik und Rhythmus. Grundlagen, Geschichte Analyse, Mainz 2010. 2 | Henri Bergson, Zeit und Freiheit (1888), Frankfurt/M 1989.

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Daktylus etc. Die Vermutung aber, dass Rhythmus in einer zusammenhängenden Trias von Klang, Gebärde und Silbe verankert war, wie die Theorie von Aristoxenos mit der Auffassung des Rhyhmizoumenon nahelegte, stand in der rhythmischen Überlieferung seit dem Mittelalter kaum noch zur Diskussion.3 So kam es zu einer Abkoppelung von sprachlich geprägter musikalischer Rhythmik auf der einen Seite, einer tänzerisch orientierten auf der anderen. In verschiedenen historischen Epochen wurde mal der eine, dann der andere Einfluss stärker rezipiert. Die musikalische Klassik, die Französische Lullys ebenso wie die Wiener Mozarts, scheint eben darin klassisch zu sein, dass sie Sprache und Tanz im musikalischen Rhythmus gleichermaßen reflektierte in Gestalt metrischer Symmetrie. Indem die Tanzkunst selbst einem rhetorischen Ideal huldigte und die achttaktige Periode zum syntaktisch verbindlichen Modell erhob, trafen sich die Entwicklungen in Form einer Synthese, um in der Romantik erneut auseinander zu fallen.4 Eine reine Autonomie des musikalischen Rhythmus zu suchen, dürfte schwer fallen, denn stets werden für die Musik Einflüsse von außen geltend gemacht, die sich in den Proportionen, in prägnanten Motiven oder Gesten spiegeln. Auch der Numerus wäre eine Entlehnung aus der Mathematik. Umgekehrt diente die Melodie als rhythmisch zeitliches Phänomen auch anderen Künsten und der Philosophie, um zeitliche Wahrnehmungen und Phänomene überhaupt bestimmen zu können. Die Innovationen auf den Gebieten der abstrakten Malerei, des Tanzes und des Films zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind ohne Bezugnahme auf das Paradigma des musikalischen Rhythmus kaum denkbar. Im Bereich der Phänomenologie wurde das melodisch Rhythmische eingehend analysiert von Edmund Husserl, der daraus die Begriffe der Protention und der Retention ableitete; Henri Bergson diente der zeitliche Ablauf der Melodie als Beweis für eine qualitative Zeit (temps durée), die sich nicht durch quantitative Zeitteilungen (temps espace) ermitteln lässt. Hier aber war es in erster Linie die Melodie selbst, die Träger des Zeitlichen war; der Rhythmus war nur ein Teilphänomen und wurde nicht eigens thematisiert. Das Fehlen einer grundlegenden musikalischen Rhythmustheorie wurde oft beklagt. Kreiert und kritisiert wurde immer wieder die seit dem 18. Jahrhundert entstandene Taktlehre, die den Dauernwerten nur wenig Beachtung schenkte, sondern sich lediglich auf Probleme metrischer Akzentgebung und Fragen der Symmetrie, bzw. des Gleichgewichts konzentrierte; auch hier die Tendenz also, Rhythmus aus verräumlichter Proportion herleiten zu wollen. So noch die Lehre der musikalischen Rhythmik und Metrik von Hugo Riemann, die als letzter Ver-

3 | Wilfried Neumaier, Antike Rhythmustheorien, Amsterdam 1989; für die Musik: Wilhelm Seidel, Über Rhythmustheorien der Neuzeit, Bern 1975. 4 | Betty Bang Mather, Dance Rhythms of the French Baroque, Indianapolis, Bloomington 1987.

Kulturen des musikalischen Rhythmus

such eine umfassende Theorie zu etablieren versuchte.5 Der Versuch scheiterte. Zu formalistisch und eurozentrisch erschien die Auffassung, musikalische Gedanken müssten sich auf eine metrische Symmetrie beziehen lassen. Durch die Entwicklungen der damals gegenwärtigen Musik, musikalische Prosa bei der 2. Wiener Schule, metrische Asymmetrie bei den folkloristischen Strömungen, wuchernde Synkopen im Jazz, wurde die Taktrhythmik ohnehin obsolet. Taktstriche waren keine Garanten mehr für Akzente, sondern nur noch Orientierungshilfen im wogenden, zur Formlosigkeit tendierenden musikalischen Verlauf, einem „Ocean of Sounds“.6 Auf den Beginn des 20. Jahrhunderts fallen auch die Neuerungsbestrebungen einer gänzlich anderen Auffassung des Rhythmus, nämlich als performativer Akt. Sie berühren sich mit den Ansätzen Bergsons und einer Lebensphilosophie, die nicht zwischen Theorie und Praxis trennen wollte. Untersuchungen aus der Anthropologie, namentlich Karl Büchers zu „Arbeit und Rhythmus“, dienten als Grundlage für eine Theorie, nach der der Rhythmus die Grundlage kreativen Schaffens sei.7 Die Entstehung der Rhythmik von Jaques-Dalcroze, der Eurythmie durch Steiner, das pädagogische Wirken Orffs und vieler Anderer, fällt in diese Zeit.8 Diese Auffassung stellte eine Revolution im musikalischen Denken dar, denn bis dahin galt die Harmonik und Melodik als das Zentrum der Tonkunst. Der Rhythmus war lediglich als Medium der Klangbewegung angesehen, dem kein spezieller Eigenwert zukommt, lediglich, dass die musikalischen Gedanken in einer einfachen und verständlichen Rhythmik zu formulieren seien. Dass dem Rhythmus ein Eigenwert zugesprochen wurde, war vergleichbar mit der später auftauchenden Medientheorie M. McLuhans.9 So berührt sich Simon Rattles Aussage von „Rhythm is it“ mit „The medium is the message“, wobei in dem „it“ noch weit mehr verborgen liegen dürfte (s.u.). Strawinskys kühne Proportionsexperimente im „Sacre“ (1913/14) sowie das Denken von John Cage waren gleichermaßen auf das Medium ausgerichtet und stellten den Rhythmus in den Vordergrund. Bei Cage war es eine auf das Wesentliche sich besinnende Konzeption, dass die Gliederung von Klang und Stille auf der Zeit basiere und damit durch den Rhythmus definiert ist. Die zeitliche Identität von 4’33 stellt ein Novum dar, indem das Stück

5 | Hugo Riemann, System der musikalischen Rhythmik und Metrik, Leipzig 1903. 6 | David Toop, Ocean of Sounds, London 1995. 7 | Karl Bücher, Arbeit und Rhythmus, Leipzig 1896, 6. Auflage 1924. 8 | Steffen A. Schmidt, Die Aufwertung des Rhythmus i.d. Neuen Musik des frühen 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M 2000; ebenso Stephanie Jordan, Moving Music, London 2000, S. 20ff. 9 | Marshall McLuhan, Understanding Media (dt.: Die magischen Kanäle, 1968), New York 1964.

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den Zeitraum fixiert und damit jene Exaktheit verlangt, die sonst den Tonhöhen zugeschrieben wird. Schließlich wurde in Folge der Differenzierungen und Erweiterungen hinsichtlich eines philosophischen Zeitdenkens durch poststrukturale Ansätze u.a. bei Barthes und Deleuze der Rhythmus zum ästhetischen Prinzip erhoben, das ebenso die gestische Qualität berücksichtigte – bei Barthes im Begriff der Chora – wie die bis dahin nur unzureichend analysierte Dauernqualität - bei Deleuze in der Analyse verschiedener Geschwindigkeiten, die sich auf Theorien von Messiaen und Boulez stützen konnte.10 Der historische Abriss und die Skizze zu unterschiedlichen Hörkulturen mögen genügen, um das Vorhandensein unterschiedlicher rhythmischer Kulturen nachgewiesen zu haben. Ähnlich wie Adorno einst von Hörertypen ausging, ließen sich rhythmische Kulturen zusätzlich differenzieren, die einem normativen Begriff, der lediglich nur noch bloße Fiktion einer nicht existierenden Einheit dokumentieren, dafür aber die Machtinteressen einflussreicher Gruppierungen spiegeln würde, vorbeugen könnte.11 1. Besonders populär und einflussreich ist die rhythmische Kultur der Marschmusik, die in archaischen Stammesriten wurzeln mag und ihre sprichwörtliche Schlagkraft durch den gemeinsamen Kampfgeist gewinnt. Aus ihr würden sich zahllose Formen der Unterhaltungsmusik ableiten, wie auch generell die ins Friedliche gewendete Tanzmusik. Ihr zentrales strukturales Kennzeichen ist die Herrschaft des Pulses in periodischer Wiederkehr, die ein gemeinsames Marschieren, Springen und Tanzen ermöglicht. Grundlage ist die Körperbewegung, das Gehen („Tempo giusto“). 2. Damit verbunden, aber nicht gleichzusetzen, wäre die an der Sprache orientierte Rhythmik, die durchaus Schwankungen des Pulses zulässt und als subjektiven Ausdruck, als Expressivität überhaupt gelten lässt („Parlando rubato“ im weiteren Sinn). Dies wäre die seit der Renaissance bestehende Tradition der klassischen Musik, deren Verfechter die wortgewandten Humanisten wie Adorno sind. Die Popmusik, indem sie dem gleichmäßigen Puls selbst in den expressiven Balladen huldigt und Ritardandi nur in Ausnahmesituationen gewährt, verbindet Sprache und Körper nach dem Paradigma des Marsches und kann daher nicht als subjektive Musik – auch wenn sie sich so gibt – angesehen werden. Adornos Argumentation, so altbacken sie anmutet, bleibt hier äußerst stichhaltig. HipHop und elektronische Beats mögen noch so cool erscheinen, ihr Korsett mechanischer 10 | Roland Barthes, rasch, in: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt/M 1991, S. 309; Deleuze / Guattari, 1000 Plateaus (1988), Berlin 1992; vgl. St. A. Schmidt, Schnitt und Strom, in: Musik und Ästhetik, 3. Jg, Heft 9, Jan. 1999, S. 71. 11 | Th. W. Adorno, Typen musikalischen Verhaltens, in: Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt/M 1974.

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Periodizität legen sie bislang nicht ab; wollen sie auch nicht, denn das Liebäugeln mit der mächtigen Gruppe der Marschmusik, ihre immense Verbreitung selbst in intellektuellen Kreisen, die meinen, dass sie anders denken, ist groß.12 3. Die mathematische Dimension des Rhythmischen, wie sie am häufigsten bei Komponisten und Professoren, aber auch bei findigen Bastlern anzutreffen ist, spiegelt die größten Möglichkeiten auf dem Gebiet. Als ein formales Spiel kann sich nach Maßgabe von Komplexität und klanglichem Kalkül ein ewiger Fortschritt manifestieren, der allerdings hinsichtlich performativer Qualitäten, wie sie sich im Begriff von Barthes’ Chora ereignen, steril bleibt. 4. Als archaisch und innovativ zugleich hat sich seit dem frühen 20. Jahrhundert der ethnische Begriff des Rhythmus etabliert. Er spiegelt sich in den Entwicklungen des Jazz ebenso wie in der – teils sehr verflachten – Weltmusik. Gegenüber der mathematischen Rhythmuskultur besteht der große Vorteil, dass er performativ überzeugend gestaltet ist, und der Popmusik hat er voraus, dass er mathematisch innovativ sein kann. Nicht umsonst fußten Strawinskys und Bartoks rhythmische Experimente auf der Volksmusik. Im Zeitalter der Globalisierung ist für den ethnischen Rhythmusbegriff eine wichtige Zukunftsfunktion zu prognostizieren, um regionale Besonderheiten nicht nur zu erhalten, sondern ihnen innovatives Potential abzugewinnen, die die globale Kultur aus dem Einheitsbrei marktwirtschaftlicher Verordnung und dem Zwang zur Massentauglichkeit herausheben könnte. 5. Schließlich gibt es noch die phänomenologisch geprägte Rhythmuskultur, die den Rhythmus nicht aus einem festgefügten Raster von Kriterien gewinnt, sondern als Experimentieren der Wahrnehmung und der Wirklichkeit begreift. Wirklichkeit entsteht nicht nur durch Vorhandenes und kulturell Erlerntes, sondern auch durch Reflektieren, durch das Spiel eines neuen Zusammensetzens, eines Bewusstwerdens von Wahrnehmungsmechanismen, die in theoretischen Modellen als Selbstverständliches verschwiegen bleiben. Seit der Erkenntnis, dass der Rhythmus eines Vorgangs letztlich vom Betrachter abhängt – erstmals wohl formuliert im 18. Jahrhundert in Sulzers Handbuch der Theorie der schönen Künste – wonach beim Hören von Regentropfen der Hörer selbst einen Rhythmus konstituiert , hat sich eine Anzahl von Reflektionen angesammelt, die den Horizont stetig erweiterten.13 Debussy sprach am Beispiel von R. Strauss von „rhythmischem Kolorit“.14 Dahlhaus hatte in einem Aufsatz darauf aufmerksam gemacht, dass Rhythmus auf allen musikalischen Ebenen stattfinden kann, bzw. alle Ebenen am Zustandekommen des Rhythmus beteiligt sind. Diese Untersuchungen wurden von H.E. Smither, der sich auf Bergson bezog, gestützt. Schließlich hatte, ebenso 12 | M. J. Butler, Unlocking the Groove, Indiana 2006. 13 | Artikel Rhythmus (J.A.P. Schulz), in: Johann G. Sulzer, Theorie der schönen Künste, Leipzig 1792-1794. 14 | Vgl. Deleuze bei Schmidt, Schnitt und Strom, a.a.O.

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an Bergson orientiert, Deleuze im Rahmen seiner Filmtheorie von der kosmischen Erweiterung der Ensembles gesprochen und damit eine maximale Entgrenzung vorgenommen, die es ermöglicht, auf dem Weg der Reflexion zu einer kosmischen Dimension vordringen zu können, die seit Beginn des Rhythmusdenkens intuitiv immer von Bedeutung war und in einzelnen Momenten zu einer Verschmelzung von Individuum und Kosmos führen kann.15 Für die gegenwärtige Musikwissenschaft steht der Rhythmus in verschiedener Hinsicht im Mittelpunkt. Besonders hervorzuheben ist, dass er wie kaum ein anderer ‚Parameter‘ zwischen Komposition und Interpretation vermittelt. 16 Während die Tonhöhe weitgehend festgeschrieben ist, besteht beim Rhythmus ein Spielraum, der offener ist als die Tonhöhenkomposition, aber weitaus präziser als etwa Tempo und Dynamik. Für eine Wissenschaft musikalischer Performativität sind hier wahre Fundgruben gegeben, die der Ausarbeitung harren. Im Folgenden geht es weniger um den performativen Aspekt des Rhythmus, als vielmehr um die Beleuchtung ästhetischer Hintergründe, die oftmals auf ein ursprüngliches rekurrieren. Rhythmus wird in vielen Phänomenen mit einem Ursprünglichen zusammengedacht. Dies dürfte verschiedenen Ursachen geschuldet sein: 1. Mit der Vorstellung, dass Rhythmus als primäres Material von Musik gedacht wird; Melodie ohne Rhythmus gibt es nicht, Rhythmus ohne Melodie schon. Diese Auffassung, auch wenn sie unscharf ist, wurde u.a. von Bartók und Dahlhaus vertreten, so dass Rhythmus als musikalisch Ursprüngliches gedacht werden kann und wird; 2. wurde mit Aufkommen der Musikethnologie die Komplexität des Rhythmischen in archaischen Gesellschaften beobachtet und mit der Reduktion in der klassischen Musik zugunsten der Entwicklung der Harmonik abgeglichen. Die Anwesenheit des autonom Rhythmischen (und nicht nur in medialer Funktion der Klangübertragung) verbürgte eine Form des Ursprünglichen, das durch Zivilisation verdrängt wurde. Strawinskys Le sacre du printemps (1913/14) wurde genau zu dieser kulturtheoretischen Chiffre. 3. Abgeleitet von der Tätigkeit des Schlagens erweist sich Rhythmus als vorsemantisch in der Unterscheidung von Ereignis und Stille und kann als Urform von Bedeutung im Sinne des „Etwas“ gelten, ohne dies genauer zu bezeichnen. Der Schlag, der Akzent, ist gewissermaßen Bedeutungsträger, bevor sich die Bedeutung überhaupt konstituiert. 15 | Vgl. Deleuze bei Schmidt, Schnitt und Strom, a.a.O. 16 | Beim Rhythmus lässt sich nicht vom Parameter sprechen, da er als Schnittpunkt musikalischer Ereignisse zwischen den Parametern vermittelt. Daher ist Rhythmusanalyse keinesfalls auf abstrakte Zeitgliederungen beschränkt. S. dazu genauer Steffen A. Schmidt, Die Aufwertung des Rhythmus i.d. Neuen Musik des frühen 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M 2000.

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Aspekt Nr. 3 erweist sich mit Nr. 1 verwandt, indem der musikalische Zusammenhang auf den sprachlich semantischen Kontext erweitert wird. Im Zentrum sollen drei verschiedene „Urszenen“ des rhythmisch Ursprünglichen stehen, die die ästhetischen Hintergründe der drei Aspekte beleuchten sollen.

I. S CHLAGEN: F ILM / R HYTHMUS Die Differenzierung rhythmischer Kulturen würde es ermöglichen, mehrere Perspektiven zuzulassen, was angesichts des changierenden Begriffs zwischen abstraktem Numerus einerseits und der performativen gestischen Qualität auf der anderen Seite dem umfassenden Phänomen entgegen käme. Dies wäre umso erforderlicher, da sich mittlerweile gerade beim Rhythmus auch multimediale Spielarten etabliert haben, die das Zusammenwirken verschiedener rhythmischer Ebenen ausgesprochen reizvoll und gewinnbringend erscheinen lassen. Anhand eines Beispiels möchte ich versuchen, den Faden eines multimedialen Rhythmus im Film aufzunehmen. Mit dem Zusammenwirken von Film und Musik wurde eine neue Stufe intermedialer Beziehung erreicht, die derzeit in Gestalt der Filmmusik ebenso wie in digitalen Hypertexten die wohl einflussreichste Sphäre des Rhythmischen bezeichnet. Daher soll ein Beispiel aus dem Film den Umgang mit Musik demonstrieren. Das Beispiel ist Kubricks Verwendung der Zarathustra-Musik von R. Strauss in 2001 – A Space Odyssee.17 Die Analyse wird zeigen, wie das Spiel von Geschwindigkeiten und Akzenten zu einer bedeutsamen Zeitgestalt von Erkenntnis und ästhetischer Erfahrung führt. Es knüpft ganz direkt an die Methode an, die ich bereits 1999 in „Schnitt und Strom“ entwickelt habe als ein Zusammenwirken von Gleichgewicht und Geschwindigkeit, das eine prozessuale Balance konstituiert. Dort wurde es an autonomer Musik (Beethoven) entwickelt. Hier soll es bei multimedialer Gestaltung überprüft werden. In erster Linie geht es um das Zusammenwirken von Klang, Bild und Schnittrhythmus. Die kurze 21-taktige Passage der Zarathustra-Fanfare wird von Kubrick mit 17 Schnitten versehen, die sehr ungleich verteilt sind. Die Passage setzt ein mit dem Schnitt vom Monolithen und der hervortretenden Sonne auf den Affen. Während der Einleitungstakte besteht Bewegung im Bild: der Affe spielt mit dem Knochen und entwickelt das Schlagen, wobei er seinen Kopf hin und her wiegt und die Geräusche der Knochen zu hören sind. (T. 1-13). In dieser Zeit findet ein Crescendo der Schlagbewegung statt, die in T. 14 zum weiten Ausholen für den großen Schlag und zur Ausblendung der Geräusche führt. Der Film schneidet auf den ausholenden Arm in Zeitlupe. Auftaktig geht der Schnitt auf die Ausgangseinstellung (etwas näher) und weiter unten auf Höhe des Aufpralls). Takt 15 wird zum 1. Mal ein Sync Point zwischen Musik (hauptbetonte Takteins: harmonischer Sprung 17_=X.XEULFNV)LOPYJO0&KLRQ.XEULFN¶V&LQHPD2G\VVH\/RQGRQ

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nach F in die Subdominante) und Schlagaufprall inszeniert, der in T. 16 (1. Zählzeit, Motivbeschleunigung) wiederholt wird, zunächst nieder- dann auftaktig. Mit T. 17 erfolgt die Anweisung der Partitur „immer breiter“, während der Film eine massive Beschleunigung des Filmschnitts beschreibt. Je langsamer die Musik wird, sie erreicht in T. 19 den Höhepunkt als klanglichen Stillstand im Fortissimo, desto mehr steuert der Filmschnitt beschleunigend dagegen. Allein in den Takten 19 und 20 befinden sich 7 Filmschnitte. Am deutlichsten erscheint die Inszenierung des 1. Schlags als Sync Point in T. 14/15, da es sich hier um eine Urszene der Erkenntnis handelt. Es ist der Moment der Erfindung des Werkzeugs und dem Vorsprung durch Technik. Diese anthropologische Urszene korrespondiert mit der musikalischen Urszene der einsetzenden 4 Takte auf dem tiefen Grundton C, zu der Norman Del Mar schrieb: „Das über vier langsame Takte gehaltene tiefe C hat etwas vom Ursprung aller Dinge...“ (Eulenburg Partitur, Vorwort XVI). Interessant ist, dass die beiden Takte auch für den musikalischen Satzbau den zentralen Ereignischarakter tragen. Nach den Wiederholungen von Naturtonmotiv und Dur/Moll-Fanfare mit anschließenden Pauken tritt mit T. 15 der erste harmonische Wechsel mit triumphaler Wirkung ein, worauf eine Motivbewegung einsetzt, die einen melodischen Zug steigernd in Gang setzt und die Pauke motivisch eliminiert. Nicht zufällig korrespondieren Musik und Film an diesen Stellen sehr synchron, nachdem die vorangegangenen und folgenden Schlagakzente sich außerhalb der Synchronizität befanden und eher zufällig synkopisch erschienen. Der Film scheint demnach die Musik in ihrem Satzbau und der daran gekoppelten Expressivität genau zu beleuchten, ja, zu interpretieren. So ist der Schnitt (Nr. 3) auf das fallende Tapir in T. 17 auf Zählzeit 4 mit der einsetzenden Pauke synchron geführt. Ab diesem Moment beschleunigt der Schnittrhythmus und wirkt der musikalischen Anweisung des „immer breiter“ stetig entgegen. Kubricks Beispiel zeigt ein äußerst ausgeklügeltes Verfahren eines Bild- und Schnittverfahrens, das den Mythos um den „Temp Track“ (die Musik war als Platzhalter für eine spätere Komposition Alex Norths vorgesehen, verblieb dann aber im Film) mehr als rechtfertigt, da es sich hier um eine, in ihrer Komplexität vielleicht einmalige - Form der audiovisuellen Komposition handelt im Sinne einer Ausbalancierung von Geschwindigkeiten. Diese Ausbalancierung besteht in einer Einleitung (T. 1-14), die nur lose, mehr inhaltlich, aufeinander bezogen ist (Ursprung aller Dinge). Einem Mittelteil, bei dem die Sync Points Ereignischarakter gewinnen, schließlich die Gegensteuerung der musikalischen Verlangsamung durch schnitttechnische Beschleunigung. Die Schlussgeste des Affen, den Knochen in den Himmel zu werfen, bereitet dabei die spätere spektakuläre Schnittszene vor, bei der der Knochen sich ins Raumschiff, musikalisch von Zarathustra zur blauen Donau, verwandeln wird: Aus dem Schlagen des Affen wird die Beherrschung des Blauen Donau-Planten, des gesamten Weltalls.

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Im Anschluss an die Theorie aus „Schnitt und Strom“ zum musikalischen Rhythmus kann das rein musikalische Modell nun erweitert werden auf audiovisuelles Terrain, indem Gleichgewicht und Geschwindigkeit und die Ebene einer rhythmischen Geschwindigkeit an diesem filmischen Beispiel wiederum erfahrbar wird im Zusammenwirken auditiver – musikalischer – und visueller – filmischer – Parameter. An die Theorie von Deleuze aus Kino I (1. Bergson-Kommentar) anknüpfend, müssten verschiedene Modi der Bewegung unterschieden werden, wie sie in unten stehender Tabelle aufgeführt werden: Für die Musik sind dies die Taktebene, die Akzentebene (inkl. Harmonische Wechsel ), die Motivebene, die Tempoebene und die Instrumentation; für den Film die Bildebene, die Bewegung im Bild und der Schnitt sowie die Verknüpfung der Bilder durch den Schnitt (Einstellungswechsel).18 Tatsächlich scheint es sich hier um die Urszene des Rhythmus zu handeln, um die rhythmische Bewegung als bewusster Vorgang. In höchster Genauigkeit werden das Ausholen (Auftakt, Stille, Einatmen etc.) und der Aufprall (Niedertakt) in Szene gesetzt, wobei besonders auffällig ist, dass die deutlichsten Sync Points des Zerschmetterns (der maximale Akzent, dessen Geräusch durch Klang ersetzt ist) nur an zwei Punkten gesetzt wird. Genau diese zwei Punkte erzeugen die zeitliche Relation, die für den Begriff des Rhythmus unabdingbar ist. R. Strauss / S. Kubrick: Also sprach Zarathustra (1896) / 2001 – A Space Odyssee (1968), TC 14:40-16:15 T. 14

15

16

17

18

19-21

C-F Kadenz

Motiv-Beschleunigung, Melodie

Motiv-Verlangsamung

Dehnung

Höhepunkt Stillstand

(immer breiter)

Dominantische Wendung

Tonika

Schnitt 3/4

Schnitt 5-8

Schnitt 9-17

Arm, Affe (Gesicht close), Skelettschädel

Arm, Schädel, Tapir im schnellen Wechsel

Musik Letzter Naturmotivton c’’ Film (Schnitt, Bild, Bewegung) Schnitt 1

Schnitt 2 zurück (Untenansicht), auftaktig

Close up Arm (Zeitlupe)

Schlag mit Knochen (Zeitlupe)

Schlag mit Knochen

Fallendes Tapir

Auf-abwärts-Bewegung

Abwärts, Sync point 1 Aufprall

Abwärts, Sync point 2 + 3 (auftaktig)

Untergeordneter Sync point mit Pauke

18 | Gilles Deleuze, Kino I, Frankfurt/M 1989, S. 26.

Generelle Explosion Zersplitterung

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II. S CHLAG

UND

H ERZ

Kubricks Videoclip bzw. Verfilmung von Zarathustra legt den Ursprung des ekstatischen Schlagens dar als Urszene der Menschwerdung. In ihr enthalten sind Technik, Lust an der Gewalt als Ursache-Wirkung, die zu einer Ekstase führt und schließlich das Gefühl der Überlegenheit bedingt. Und die Verfilmung beinhaltet auch eine emphatische Darstellung einer rhythmischen Performance. Auch wenn sie nicht live und musikalisch ist, so drückt sie doch umso mehr das energetische Potential aus, hier durch den Zusammenhang von Gewalt, Erkenntnis und Ekstase ebenso schockierend wie faszinierend. An Roland Barthes anknüpfend möchte ich eine andere Urszene des Rhythmus aufzeigen, die den Ursprung der musikalischen Neuzeit markiert. Gemeint ist der Übergang mittelalterlicher Mensuralrhythmik und einem starren Tactus-Begriff zur modernen Taktrhythmik und einer verstärkt subjektiven Tempogebung, die auf die Darstellung von Gefühlen abheben. In Monteverdis „seconda prattica“ wurde in erster Linie die Behandlung der Dissonanzen diskutiert. Die Entwicklungen der Rhythmik und Metrik blieben weitgehend unbeachtet, sieht man von Überlegungen Vincenzo Galileis ab, den Zusammenhang von Musik und Rede, bzw. gesprochener Sprache herzustellen, die in Anweisungen etwa Frescobaldis in der Vorrede zu den Toccaten reflektiert sind. Aber Musik ist nicht einfach eine Sprache, sondern ein mehrschichtiger Verlauf in der Gleichzeitigkeit. In dieser Zeit um und nach 1600 entsteht der Generalbass. Zwar wird durch die Tonalität eine übergeordnete Einheitlichkeit geschaffen, dabei bleiben die Funktionen von Stimmverläufen wie Bass- und Melodielinie als klanglich unterschiedene Gleichzeitigkeit vorhanden. Das Tanzlied (Frottola etc.) gewinnt an ästhetischer Gültigkeit. Die musikalischen Abläufe gliedern sich in Tempoeinheiten, deren Übergang nicht durch den Tactus proportional gewährleistet ist. Das große Rätselraten der richtigen Tempogebung beginnt.19 Die Ableitung aus den Tanzsätzen und aus dem Vorbild der Rede münden in die musikalische Rhetorik des Satzbaus. Das Subjekt des Interpreten tritt in den Vordergrund, gekoppelt mit der Figur des Virtuosen. Die zeitlichen Beziehungen der Formteile sind Ergebnis eines musikalischen Gefühls, das gleichsam den Affekt repräsentiert. Erregung und Entspannung sind gemäß körperlicher Zustände gestaltet, diese wiederum auch nach den Zeichen, die der Körper repräsentiert. Zusammengefasst könnte man sagen, dass die Musik nicht auf eine Klangrede verweist, wie es den Humanisten in Anbetracht des Leitmediums Sprache lieb gewesen wäre, sondern auf jenes Organ, das als der Erregung empfänglich ausgewiesen wurde: das Herz: „Non è di gentil’ cuore, che non arde d’ amore“, heißt es bei Monteverdi, fast als Devise oft wiederholt, um vermutlich das emotionale Leben und Erleben

19 | Vgl. z.B. Irmgard Herrmann-Bingen, Tempobezeichnungen, Tutzing 1959.

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den Vorstellungen des „Gentiluomo“ anzupassen.20 Der menschliche Puls in seinen Schwankungen der Erregung wird in musikalischer Übertragung zum Repräsentanten der Tempogebung. Und wie Riemann es noch um 1900 formulierte, setzt sich der Herzschlag des musikalischen Werks an die Stelle des Hörers. Der Hörer erfährt sich kraft der kardiogenen Repräsentation in sein eigenes Utopisches Selbst, dem er nun lauscht. Erregung und Entspannung werden kraft der mimetischen Funktion des Organs, des Organischen insgesamt, als eigener Zustand erfahren und können, aufgrund der Zeichenlosigkeit, des reinen Signikfikantsprinzips (Barthes, ebd.), auf eigene Erlebnisse übertragen werden. Die Musik wird zum intimen Gesprächspartner, ja fast zum körperlichen Gegenüber. Und so konnte Schopenhauer in der Musik dem eigenen Willen lauschen, der die geheimsten Regungen unter dem Begriff des Gefühls zusammenfasst.21 Die musikalische Erfahrung der Neuzeit, von Monteverdi und der modernen Taktrhythmik, bis Schopenhauer, Nietzsche und Roland Barthes, ist geprägt durch ein „KörperHören“, das sich vor allem der kardiogenen Mimesis verdankt.22 Tanz und Sprache sind Sekundanten, die der musikalischen Körperkunst assistieren, um dem Hörenden eine Selbsterfahrung zu ermöglichen, die es bis dahin nicht gab. Die Musik wird damit zum Mittler zwischen den anderen Künsten und zu anderen Medien insgesamt. Heutzutage wird in der Dauerberieselung mit taktbetonter Hintergrundsmusik (von leichter Klassik bis Muzak) diese besondere musikalische Qualität genutzt, um selbst in unwirtlichsten Räumen wie Supermärkten einen Bezug über den Körper herzustellen. Sogar Kubrick schafft es mittels Zarathustra, den Affen als unseren realen Vorfahren erscheinen zu lassen, indem er eine ekstatische Innenschau des Schlagens ermöglichte. Dieser letzte Abschnitt ist sehr spekulativ formuliert und bedarf gründlicher historischer und theoretischer Erforschung. Aber sind die angeführten Indizien nicht Grund genug anzunehmen, dass Musik seit der frühen Neuzeit eine expressive Innovation durchlaufen hat, die die Introspektion ermöglichte und woraus sie im ästhetischen Ränkespiel der Künste zur „wahrsten“ Kunst arrivieren konnte, indem sie die allgegenwärtige platte Metapher einlöste, „Mittlerin zwischen Herz und Hirn“ (nach dem Text von Thea von Harbou am Ende von F. Langs „Metropolis“) zu sein? Wenn dem so wäre, dann könnte ein großes Arbeitsgebiet gegenwärtiger Klangforschung nicht der reine Ton an sich, sondern das Spannungsverhältnis von Körper und Klang sein. Auf dem Gebiet der Emotionsforschung werden derzeit Wege beschritten, die in diese Richtung weisen, allerdings auf rein systematischer 20 | Baldassare Castiglione, Il libro del corteggiano, Venedig 1528. 21 | Artur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I (1819, 3. Aufl. 1859), Stuttgart 1990, S. 374. 22 | Zum Begriff KörperHören vgl. Steffen A. Schmidt, Musik der Schwerkraft, Berlin 2012.

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Ebene.23 Musikgeschichte und –theorie müssten hier Perspektiven aufzeigen, die eben das besagte Spannungsverhältnis von Körper, physiologisch und psychologisch, und seine Beziehung zum Klang entlang des historischen Materials thematisieren. Herztöne etwa besitzen eine einschlägige rhythmisch motivische Substanz, die sich im Volkslied (Auftaktquarte) und Generalbass ebenso fühlbar gemacht hat wie in gegenwärtigen Grooves der Electronic Beats. Die klangliche Erforschung der Herztöne wäre daher ein Desiderat, das die historische Linie des „KörperHörens“ von der frühen Neuzeit bis heute gegenwärtig machen würde. Sie ließe Verbindungen knüpfen zwischen sich fremd gegenüber stehenden Rhythmuskulturen vom Marsch bis zur Arithmetik und würde dem Rhythmus im Rahmen musiktheoretischer Begrifflichkeit und Reflexion Raum geben zur angemessenen Entfaltung.

III. VERMITTLUNG

DURCH

M USIK

UND

TANZ

Es dürfte nicht zu viel spekuliert sein, dass Vermittlungsprojekte wie „Rhythm is It“ von diesen Vorstellungen zehren. Der Versuch des Projekts mit Fokus auf dem Rhythmus dürfte also sein, hier durch Tanz und Musik den eigenen Körper zu hören, zu spüren und diesen einerseits an junge, meist in irgendeiner Hinsicht vernachlässigte, Menschen durch Tanz zu delegieren, wie umgekehrt den imaginären Körper der musikalischen Erfahrung, der durch einseitige Musiksystematik zur bloßen Rechenaufgabe verkommt, für das Konzertpublikum wiederzugewinnen. Ein Projekt, das den Begriff einer umfassenden Musiké nach antikem Vorbild – also der Wiedergewinnung von Sprache, Tanz und Gesang wiedergewinnen möchte. Eine Musiké allerdings, die von ganz anderen Prämissen ausgeht und die die Entwicklungen rhythmischen Denkens des 20. Jahrhunderts spiegeln. Der performative Aspekt fußt dabei historisch auf den zuvor erwähnten Bewegungen der Rhythmik zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Musik soll nicht nur gehört, sondern auch interaktiv körperlich erfahren werden, durch den Tanz, der mit der Musik durch Rhythmus verbunden ist. Die Erfahrung wiederum verweist in ihrem „it“ auf ein vorbewusstes, ekstatisches. In der Dokumentation des Projekts spricht Rattle von der Wahrnehmung des Rhythmus, die sich in der ältesten Hirnregion des Menschen abspielt.24 Sie sei ein Erbe der Echsen. Der Dirigent verweist damit auf einen vorbewussten Raum, der in poststrukturaler Terminologie mit dem Begriff der Chora korrespondieren würde. Emphatisch folgt dann der Satz „Rhythm is IT“, mit Akzentuierung auf 23 | K. Scherer und K. R. Zentner, Emotional Effects of Music: Production Rules, in: P. N. Juslin und J. A. Sloboda (Hg.), Music and Emotion: Theory and Research, 6²2[IRUG 24 | Vgl. auch die aktuelleren Ausführungen etwa von Phillip Ball, The Music Instinct, London 2010.

Kulturen des musikalischen Rhythmus

dem „Es“, bei dem zu fragen wäre, ob es mit dem „Es“ Freuds zusammenhängt und in dieser Bedeutung Auskunft geben könnte über die Verbindung von Rhythmuswahrnehmung, musikalischem Ausdruck und Erziehung. „Es gibt zwei Wege, auf denen der Inhalt des Es ins Ich eindringen kann. Der eine ist der direkte, der andere führt über das Ichideal, und es mag für manche seelische Tätigkeiten entscheidend sein, auf welchem der beiden Wege sie erfolgen. Das Ich entwickelt sich von der Triebwahrnehmung zur Triebbeherrschung, vom Triebgehorsam zur Triebhemmung. An dieser Leistung hat das Ichideal, das ja zum Teil eine Reaktionsbildung gegen die Triebvorgänge des Es ist, seinen starken Anteil. Die Psychoanalyse ist ein Werkzeug, welches dem Ich die fortschreitende Eroberung des Es ermöglichen soll.“25 Das Es weist eine un- bzw. vorbewusste Struktur auf, die den Trieb selbst bezeichnet und mit den Instanzen des ich und Über-Ich in Konflikt tritt. Ebenso nimmt der Rhythmus diese Funktion ein und erfüllt ein vorsemiotisches (der Melodie, analog zum musikalisch Bewussten, vorgelagert). Indem die Rhythmusstruktur unmittelbar auf den Körper trifft (Barthes‘ zweite Semiotik) und durch Tanz zum Ausdruck gebracht wird, der Tanz aber durch die Disziplin und Körpererfahrung von LehrerInnen vermittelt wird, erfolgt eine Nachstellung der Konstellation Es (Strawinskys Werk als Chiffre des musikalischen Rhythmus, dieser als Triebgehorsam), Ich, als Wahrnehmungsinstanz der SchülerInnen, und Über-Ich in der Vermittlung durch LehrerInnen (Triebhemmung, bzw. –kanalisierung). Das Erwachsenwerden besteht in der - gelungenen - Amalgamierung zwischen ÜberIch und Es, das den Raum des eigenen Trieberlebens mit den Werten der Gesellschaft durch das Musikwerk und den Tanz mehr und mehr ineinander vermittelt. Ich würde behaupten, dass sich im ästhetischen Hintergrund dieses Projekts drei wichtige Aspekte zeigen, die bereits im Vorfeld angesprochen wurden. Erstens steht hinter der Auffassung des Projekts eine von Schopenhauer stammende Metaphysik der Instrumentalmusik, wonach es möglich ist, durch Musik dem eigenen Willen zu lauschen. Dieser Wille aber ist nicht mehr derjenige von Beethovens IX. Sinfonie, die Schopenhauer als Vorbild diente, ihre melodisch motivische Kraft, sondern dem ihr vorgelagerte rhythmische Wucht, das analog dem Willen vorgelagert ist, das Unbewusste. Indem Strawinskys Sacre es ermöglicht, mit dem eigenen unbewussten Willen zu kommunizieren, wird es zur Chiffre des „Es“, das Unbewusste des Triebes also, das durch die Musik hör- und erfahrbar wird, vor allem durch die Wahrnehmung des Rhythmus. Rhythmus wird hier angelehnt an die präsemiologische Chora, die in Form des Akzentuierens und Schlagens bei Barthes und Kristeva im Anschluss an Lacan sich ins Begehren transformiert.26 Aber dieses Begehren erweist sich nicht als ein Individuelles des Subjekts (wie bei 25 | Sigmund Freud, Das Ich und das Es (1923), http://www.psychanalyse.lu/ Freud/FreudIchEs.pdf, (24.5.2013, 11:10), S. 25. 26 | Christian Kupke (Hg.), Trieb und Begehren, Berlin 2006.

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Kubrick), sondern dem kollektiven Wir entsprechend, wie es in Konzerten der Popmusik zelebriert wird und ein kollektives dionysisches Hören erzeugt. Die rhythmische Funktion besteht nicht nur in der Entdeckung des Willens / Triebes, sondern auch in der einigenden Funktion gesellschaftlicher Gruppen. Hatte Beethoven das prominenteste Symbol der Vereinigung durch die volksliedhafte Melodie in der IX. Sinfonie für das 19. Jahrhundert formuliert, so zeichnet sich für das 20. und 21. Jahrhundert die Vorherrschaft des Rhythmischen ab. Mit ihm sollen Gefühle der Isolation aufgehoben, der eigene Wille in kollektiver Zusammenarbeit erfahren und das Begehren produktiv kanalisiert werden. Im Vermittlungsprojekt setzen sich Musik und Tanz in die modifizierte Funktion einer innovativen Psychoanalyse. Anstelle diskursiver Reflexion traumatischer Erlebnisse des Einzelnen treten Selbsterfahrungen wahrnehmungserweiternder Klang- und Körperbewegung in der Gemeinschaft. Das Hören findet nicht in der „Andacht“ Herders statt, sondern im körperlich rhythmischen Vollzug, der tatsächlich eine physisch erlebbare Erweiterung erzeugt. Der geschilderte psychokulturelle Vorgang scheint auch der eigentliche Inhalt des Projekts zu sein, nämlich die Introjektion des gesellschaftlichen Kommunikations- und Leistungsprinzips über das ekstatische „Es“-Dispositiv von Tanz und Musikrhythmus mit den Individuen der SchülerInnen, deren Ich-Instanzen vermeintlich instabil sind. Die Urkraft des Rhythmischen fungiert hier als „Es“, um durch den Erziehungsprozess das „Über-Ich“ mit dem „Es“ in Einklang zu bringen und das Ich zu stärken. Musikalische Ekstaseerfahrung im Rhythmus (Es) wird einerseits ermöglicht und anschließend kanalisiert in eine – vermeintlich produktive – gesellschaftlich wertvolle Ressource. Wichtig wäre zu verfolgen, inwieweit diese Methode über Musik und Tanz die Möglichkeit bietet, Sozialisierungen und Resozialisierungen stattfinden zu lassen und dabei schließlich noch ermöglicht, der Urszene menschlicher Wahrnehmungswerdung beizuwohnen, um damit das Sein und Werden des Menschen als Spezies nicht in Form abstrakten Wissens nachzuvollziehen, sondern über den Modus ästhetischer (Selbst-) Erfahrung durch rhythmische Bewegung. Nach „Rhythm is it“ mussten die Philharmoniker eine weitere kollektive Selbsterfahrung, einen „Trip“ machen (Trip to Asia). Auffällig ist die psychedelische Anspielung beider Projekte, die sich aber nun im neuen Jahrtausend (Jahrhundert) mit dem Denken der Förderer wie Mercedes Benz und Deutsche Bank in Einklang bringen lässt und nicht eine Gegenkultur aufbaut wie die Hippies um Timothy Leary in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Musik und Tanz arrivieren damit zu Werkzeugen, die die Gesellschaft vom Bewusstsein bis zum vorbewussten Körperwissen auf subliminalen Ebenen prägen. Es lohnt sich, daran weiter zu arbeiten, um die durchaus einflussreichen Waffen des ästhetischen, friedlich hegemonialen Diskurses in Form energetischer Mobilisierung sinnvoll zu nutzen. Und dafür steht heute in der Musik die rhythmische Ebene ein wie keine andere.

Rhythmus und Geste, oder Metaphysics in Mecklenburgh Street Christian Grüny

1. M ETAPHYSIK

CUM GRANO SALIS

ࡐ6RWKDWJHVWXUHQRWPXVLFQRWRGRXUZRXOGEHDXQLYHUVDOODQJXDJHWKHJLIWRI WRQJXHVUHQGHULQJYLVLEOHQRWWKHOD\VHQVHEXWWKHÀUVWHQWHOHFK\WKHVWUXFWXUDO UK\WKP´ 1

Diese Worte, die James Joyce sein Alter Ego Stephen Dedalus im Ulysses sprechen lässt, deuten eine sehr weitreichende Theorie an, die hier in extremer Verdichtung vorgebracht wird: Zuerst einmal die Behauptung, dass überhaupt von einer universalen Sprache gesprochen werden kann, und zwar von einer solchen, die sich auf die Geste zurückführen lässt. Der neutrale Singular – „gesture“ – ermöglicht eine unmittelbare Beiordnung von Geste und Musik. Der Begriff der Geste scheint so weniger eine kommunikative Einheit als vielmehr eine eigenständige Sphäre – das Gestische – zu beschreiben, die sich von Musik und Sprache abgrenzen lässt, ohne ganz von ihnen getrennt zu sein. Bei aller konzeptuellen Eigenständigkeit scheint dieses Gestische aber doch auf die anderen Artikulationsmedien angewiesen, denn es ist die Sprache im engeren Sinne, in und an der es sich zeigen soll. Was es offenbart, ist gerade nicht der Sinn, der als Oberflächenphänomen abqualifiziert wird, sondern etwas Tieferliegendes, das mit Aristoteles’ Entelechie zusammengebracht wird. Die erste Vollendung, die erste Form, an der alle anderen partizipieren und auf der sie aufbauen, ist also gestisch, oder besser: Sie ist das Gestische, das noch einmal näher als strukturell und rhythmisch qualifiziert bzw. mit dem Rhythmischen identifiziert wird. Indem wir uns diesem Gestisch-Rhythmischen zuwenden, scheinen wir unmittelbar mit der 1 | Stephen Dedalus in James Joyce, Ulysses, London u.a., S. 564.

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tiefsten Schicht von Bedeutung und Artikulation zu tun zu haben, in der auch das Auditive und das Visuelle nicht mehr klar getrennt werden können. Nun wird der Satz im Buch in einem sehr speziellen Kontext ausgesprochen: Stephen ist Anfang zwanzig, er ist hochintelligent und -gebildet und auf intellektuellem Gebiet von keinerlei Selbstzweifeln geplagt, persönlich aber in einer tiefen Krise. Beispiele seiner Theorien, die immer aufs Ganze gehen, bekommen wir sowohl im Portrait of the Artist as a Young Man als auch in früheren Kapiteln des Ulysses vorgeführt, und insofern ist der verdichtete Satz keine wirkliche Überraschung. Jetzt aber ist es Nacht, Stephen und sein Kommilitone Lynch sind betrunken und gehen durch das Dubliner Rotlichtviertel. Die Szenerie ist bevölkert von grotesken, deformierten, zwergwüchsigen Gestalten und von Figuren des Romans, die eigentlich nicht dort sein können, und wird zunehmend surrealer. Auf eine unvermittelte Frage von Lynch, die suggeriert, dass wir es mit der Fortsetzung einer vorher begonnenen Unterhaltung zu tun haben, die uns allerdings entgangen ist – „So that?“ –, äußert Stephen, sich beiläufig nach hinten umblickend, den zitierten Satz, in den bereits mit der beiläufigen Benennung des Geruchs eine (vielleicht durch die Umgebung nahegelegte) Brechung eingebaut ist. Lynch kommentiert: „Pornosophical philotheology. Metaphysics in Mecklenburgh street!“2 Der Kontext der Äußerung und der Spott des Freundes depotenzieren die groß daherkommende Mikrotheorie. Dennoch wäre es meines Erachtens zu kurz gegriffen, sie als ironisch vorgeführte Karikatur zu verabschieden. Was aber deutlich wird, ist die Distanz, die Joyce zur Überschwänglichkeit seiner frühen Jahre einnimmt und die ihn erst recht von allen späteren Advokaten von Rhythmus als Urprinzip des Universums entfernt. In dieser Distanz möchte ich auch meinen Beitrag verstanden wissen. Es mag sein, dass die Versuchung der Überschwänglichkeit bereits allein in der Kopplung von Rhythmus und Geste liegt, die sich immer wieder in den unterschiedlichsten Kontexten findet. Wenn ich ihr gelegentlich nachgeben und gar bei Motiven landen sollte, die den Metaphysikverdacht auf sich ziehen, so möge es im Sinne von Joyce als Metaphysik cum grano salis – in Mecklenburgh Street – verstanden werden. Ich werde im folgenden zuerst versuchen, den Begriff der Geste näher zu bestimmen, um von ihm aus die Frage nach einer theoretischen Fassung des (musikalischen) Rhythmus anzugehen. Es kommt mir dabei auf einige Grundbestimmungen des Gestischen an, die ich hier produktiv machen werde. Dabei werde ich auf ein Beispiel zurückgreifen, das Bewegungskunst (warum ich nicht Tanz sage, wird sich vielleicht noch zeigen) und Musik auf besonders prägnante Weise miteinander verklammert.3 2 | Ebd. 3 | Teile des Folgenden finden sich ausgeführt im dritten Kapitel von Christian Grüny, Kunst des Übergangs. Philosophische Konstellationen zur Musik, Weilerswist 2014.

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2. KONTINUIERLICHE M ODULATION Gehen wir vom alltäglichen Verständnis von Gesten aus: Eine Geste ist eine prägnante körperliche Bewegung, die in einem kommunikativen Kontext erscheint. So klar diese Bestimmung wirkt, so viele Abgrenzungs- und Kategorisierungsfragen provoziert sie, und zwar im Wesentlichen in drei Richtungen: erstens im Hinblick auf andere körperliche Bewegungen, die keine Gesten sind – etwa weil sie nicht prägnant oder nicht kommunikativ sind –, zweitens im Hinblick auf unterschiedliche Typen von Gesten je nach ihrer kommunikativen Funktion und drittens im Hinblick auf die Dimensionen, die im Hinblick auf die einzelne Geste unterschieden werden können. Auch wenn alle diese Fragen ihre Berechtigung haben, möchte ich doch hier im Sinne der Sache ein möglichst inklusives Verständnis des Gestischen vorschlagen, das sich am Ende noch von der Grundbestimmung der Körperlichkeit ablösen lässt. Aber gehen wir zuerst die in Frage stehenden Unterscheidungen nacheinander durch. Man wird geneigt sein, nicht jede körperliche Betätigung als gestisch zu bezeichnen. Das Gehen, das Greifen nach einer Tasse oder einem Stift, das Niesen, das Reiben einer schmerzenden Stelle sind zuerst einmal nicht gestisch, wenn der Begriff überhaupt einen differenzierenden Sinn haben soll. David Lidov benennt sogar innerhalb dessen, was musikalischen Ausdruck finden kann, zahlreiche nicht gestische körperliche Phänomene – Gestikulieren, zweckgerichtete Bewegung, räumliche Bewegung, Vokalisieren, Atmen, Symptome und Haltung – und zielt so auf das Gestische in der Musik als sehr spezifische Erscheinung.4 Weitere Differenzierungen lassen sich innerhalb des Gestischen aufmachen, wie es etwa David McNeill tut: Er unterscheidet zwischen ikonischen, metaphorischen, skandierenden („beats“), deiktischen und emblematischen Gesten (wobei letztere eine besondere Rolle spielen), also etwa dazwischen, eine Handlung gestisch-ikonisch zu imitieren, den Sprachrhythmus gestisch zu unterstützen, auf etwas zu zeigen oder ein Victory-Zeichen zu machen.5 Und schließlich lässt sich in Bezug auf eine einzelne Geste zwischen dem reinen physischen Bewegungsvollzug und dem Gehalt oder Sinn unterscheiden. Während die ersten Abgrenzungsversuche alltagspraktisch offenbar guten Sinn machen, ist die letzte Unterscheidung so geläufig wie problematisch. Für meine Zwecke möchte ich sie allerdings allesamt in Frage stellen und von einem deutlich umfassenderen Verständnis des Gestischen ausgehen. Im Hintergrund stehen dabei die Positionen von John Dewey, Susanne K. Langer und, mit Einschränkun4 | Vgl. David Lidov, Emotive Gesture in Music and its Contraries, in: Anthony Gritten u. Elaine King (Hg.), Music and Gesture, Aldershot 2006, S. 24-44, hier 30ff. 5 | Vgl. David McNeill, Hand and Mind: What Gestures Reveal About Thought, Chicago 1992, S. 56ff., 75ff.

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gen, Nelson Goodman. Schließlich werde ich mich auf den Entwicklungspsychologen Daniel N. Stern beziehen. Nehmen wir als Ausgangspunkt das Gehen, das unmittelbaren Niederschlag in der Musik gefunden hat: Andante bedeutet bekanntlich „gehend“. Gehen wir vom alltäglichen leiblichen Verhalten aus, so wird man das Gehen in der Tat kaum als gestisch bezeichnen; von meiner Eingangsdefinition aus gesehen fehlen ihm zwei Eigenschaften: die Prägnanz und der kommunikative Kontext. Es ist aber ebenso leicht zu sehen, dass es nur einer kleinen Blickwendung bedarf, um dies zu verändern. Auch und gerade dem unbewussten, nicht ausdrücklich vorgeführten Gehen eignet ein Ausdrucksmoment, das sich sofort zeigt, sobald es als solches angesehen wird – sobald es in einen kommunikativen Kontext gerückt wird. Mit Ausdruck ist hier nicht emotionale Expressivität gemeint, sondern lediglich die sehr spezifische Weise, es zu vollziehen, den Stil, wenn man so will, der aber auch nicht affektiv neutral ist. Das Ausdrucksmoment findet sich unvermeidlich auch dort, wo Gehen als Bestimmung einer musikalischen Gestaltung fungiert. Hier, wo es als bloßer Modus räumlicher Fortbewegung keine Rolle mehr spielen kann, tritt genau dieses Moment hervor, und andante ist keine reine Tempobezeichnung, sondern die Beschreibung einer sehr prägnanten Vollzugsform – eines bestimmten Gestus, der hier nicht einfach auftaucht, sondern dargestellt wird. Das Gleiche gilt letztlich für alle anderen Bewegungstypen, die Lidov vom Gestischen abgrenzt: Sobald sie in das Kraftfeld musikalischer Darstellung geraten und insofern ausdrücklich werden, werden sie gestisch. Wenn das aber so ist, gibt es keine gestische Neutralität, sondern ein je unterschiedlich akzentuiertes gestisches Geschehen von wechselnder Gestalt und Prägnanz. Dies gilt nicht nur innerhalb der Musik, sondern ebenso in alltäglichen Vollzügen: Auch hier kann jede leibliche Bewegung als Moment in einem Strom gestischer Kontinuität angesehen werden. Was wie der einigermaßen forcierte Blick des Graphologen oder Physiognomikers wirken mag, der hinter jeder Regung eine Bedeutung oder die Offenbarung eines inneren Wesens vermutet, ist der Modus der Weltauffassung des sehr kleinen Kindes. Dazu später mehr. Die unterschiedlichen Typen von Gesten, die McNeill unterscheidet, provozieren ihrerseits sofort die Frage, ob sie in der Musik Darstellung finden: Gibt es musikalische Embleme, Ikone und Deiktika? Es lässt sich zeigen und wurde auch vielfach gezeigt, dass man in der Tat von solchen musikalischen Einzelgesten ausgehen kann, und zwar innerhalb von bestimmten, mehr oder weniger kodifizierten musikalischen Systemen ; das ist aber hier nicht mein Punkt.6 Entscheidend ist vielmehr, dass derartige gestische Zeichen lediglich intermittierend auftauchen 6 | Für die Barockzeit vgl. Rolf Dammann, Der Musikbegriff im deutschen Barock, Laaber 31995; für die Oper des 19. Jahrhunderts Mary Ann Smart, Mimomania. Music and Gesture in Nineteenth-Century Opera, Berkeley 2005; bei der Wiener Klassik ansetzend, aber in größerer systematischer Allgemeinheit Robert S.

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und wir es, mit Tibor Kneif gesprochen, mit einem „Agglomerat von Zeicheninseln und tragendem Artefakt“7 zu tun haben. Bezeichnenderweise fehlt aber in McNeills Typologie der Gesten jene kontinuierliche Gestizität, von der ich hier ausgehen möchte. Exemplifizieren lässt sie sich an den Gesten, mit denen das Sprechen begleitet wird, auch wenn sie nicht darauf reduziert werden kann: Hier haben wir eine ähnliche Situation wie die von Kneif beschriebene, wo explizit zeichenförmige Gesten von einem Strom getragen werden, dem diese Explizitheit fehlt, der aber gegliedert und signifikant ist. Wenn sich ein Forscher wie McNeill diesem Strom zuwendet, so von Anfang an unter der Perspektive seiner Unterteilung und Kategorisierung; seine Leitfragen sind entsprechend „(a) is the movement a symbol? and (b) what type of symbol is it?“8 Dass diese Perspektive legitim und produktiv ist, versteht sich von selbst, dennoch lässt sie etwas aus, nämlich eben jene kontinuierliche Modulation, die kein neutraler Träger von Zeicheninseln ist. Gesture in Joyces Sinne ist nicht das Repertoire an Einzelgesten mit mehr oder weniger fixierter Bedeutung, sondern eben jene Modulation.9 Es gibt zwei Punkte, die im Hinblick auf diesen Strom gestischer Modulation festgehalten werden müssen: zum einen sein kontinuierlicher Charakter, zum anderen die Tatsache, dass er als Kopplung von Physis und Bedeutung nicht gut beschrieben ist. Um dies kurz zu erläutern, möchte ich auf Henri Bergson und Maurice Merleau-Ponty zurückgreifen. Bergson ist bekannt als Theoretiker der durée, der Dauer, und als Kritiker einer verräumlichenden Auffassung der Zeit. Nun verortet Bergson sein Gegenmodell in einer inneren Erfahrung, die qualitativ grundlegend anders organisiert sei als die Außenwelt, an deren traditionellem Bild ansonsten kaum gerüttelt wird. Diese Einschränkung ist weder nötig noch

Hatten, Interpreting Musical Gestures, Topics, and Tropes. Mozart, Beethoven, Schubert, Bloomington u. Indianapolis 2004. 7 | Tibor Kneif, Anleitung zum Nichtverstehen eines Klangobjekts, in: Peter Faltin u. Hans-Peter Reinecke, Musik und Verstehen. Aufsätze zur semiotischen Theorie, Ästhetik und Soziologie der musikalischen Rezeption, Köln 1973, S. 148-169, hier 167. 8 | McNeill, Hand and Mind, a.a.O., S. 77. 9 | Justin London geht auf ein solches kontinuierliches Geschehen ein und verbindet es sogar mit dem Rhythmus, allerdings bezieht er es fast ausschließlich auf körperliche Rhythmen und hier auf das Gehen, wobei es ihm vor allem um das Tempo geht. Am Ende werden von dort her gar bestimmte Musikstücke als unrhythmisch und damit letztlich nicht-musikalisch erklärt (vgl. Justin London, Musical Rhythm: Motion, Pace and Gesture, in: Gritten u. King, Music and Gesture, a.a.O., S. 126-141). Eine größere Distanz zu dem, was hier versucht werden soll, lässt sich kaum denken.

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auch besonders plausibel, wie bereits Merleau-Ponty gezeigt hat 10; viel eher als mit unterschiedlichen ontologischen Sphären haben wir es mit verschiedenen Auffassungen zu tun, und es erscheint plausibel, dass man ein Phänomen wie das Gestische ohne Rückgriff auf die durée überhaupt nicht verstehen kann. Bergsons entscheidender Punkt sind die Kontinuität und die Offenheit, ohne die Bewegung nicht gedacht werden kann, wenn man ihre zeitliche Form nicht durchstreichen will. Christopher Hasty hat dies, wie mir scheint, als einer der ersten auch für die musikalische Theorie ernst genommen und daraus die Konsequenzen gezogen.11 Bewegung läßt sich zwar abstraktiv in Phasen zerlegen, ist aber nicht aus ihnen zusammengesetzt. Sie muss als kontinuierlich gedacht werden, als Übergehen nicht von einem Punkt zu einem anderen, sondern als irreduzible Prozesshaftigkeit oder Übergängigkeit, gegenüber derer alle Punkte und Zwischenstationen abgeleitet sind. In diese Übergängigkeit ist auch das Bewegte selbst mit einbegriffen: „Es gibt Bewegungen, aber es gibt keinen unveränderlichen trägen Gegenstand, der sich bewegt: die Bewegung schließt also nicht etwas ein, was sich bewegt.“12 Auch hier radikalisiert Merleau-Ponty den Gedanken, indem er ihn auf die erscheinende Welt als solche anwendet. Statt von einem Agglomerat von Gegenständen auszugehen, die in einem zweiten (logischen) Schritt bewegt sein können oder auch nicht, wird auch hier die Bewegung selbst zum Ausgangspunkt: „Wollen wir das Phänomen der Bewegung ernstnehmen, so müssen wir eine Welt denken, die nicht allein aus Dingen, sondern aus reinen Übergängen besteht.“13 Damit ist offenbar nicht gemeint, dass überhaupt nicht mehr von Dingen gesprochen werden kann, sondern lediglich, dass wir die Bewegung nicht als Akzidenz an einer primär erst einmal unbewegten Substantialität denken können, sondern die Dinge mitsamt ihrer Bewegung oder besser als Bewegte in den Blick nehmen müssen. Merleau-Ponty zieht daraus die Konsequenz, sie weniger nach einer Menge von Eigenschaften als nach ihrem „Stil“ zu klassifizieren, also nach der Art, wie sie sich verhalten.14 Es ist offensichtlich, wie nahe an der Musik dieses Verständnis ist. Wenn wir dies nun auf reale körperliche Gesten anwenden, so hat ergibt sich eine deutliche Verschiebung. Es geht nicht mehr um die faktisch zu konstatierende räumliche Veränderung, sondern um eine Modulation, die von der Hand ausgeführt wird, aber nicht an sie als physische Entität gebunden ist. Die Hand ist das Medium ihrer Realisierung, das nicht widerstandslos und transparent ist, aber auch nicht kausal für sie verantwortlich. Man kann die Geste verkleinern, vergrö10 | Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 321f., Fn. 46. 11 | Vgl. Christopher Hasty, Meter as Rhythm, New York u. Oxford 1997. 12 | Henri Bergson, Die Wahrnehmung der Veränderung, in: ders., Denken und schöpferisches Werden, Hamburg 1993, S. 149-179, hier 167. 13 | Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 320. 14 | Ebd.

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ßern oder in ein anderes Medium übertragen; diese Übertragung ist aber gerade keine Realisierung einer unabhängig bestehenden Bedeutung vermittels einer je anderen Materialität, sondern sie ist die Transposition in ein anderes Medium, die sie weder zu einer anderen macht noch unverändert lässt. Ohne Medium, also ohne jegliche Realisierung, als reine Bedeutung sozusagen, gibt es sie nicht. Erläutern möchte ich dies mit einem Konzept von Daniel N. Stern, das mir in unserem Zusammenhang besonders produktiv erscheint. Stern spricht von elementaren gestisch-energetischen Verlaufsformen oder Intensitätskurven, die die erste Gliederung der Weltauffassung des Säuglings sind und die er etwas unglücklich „Vitalitätsaffekte“, später „forms of vitality“ nennt.15 Früher als das Wer oder das Was geht es um das Wie des dem Kind begegnenden und mit ihm vollzogenen Geschehens, um seine alles durchdringende Gestizität. Hier findet sich eine elementare Gliederung nach Intensitätsdifferenzen, die immer auch eine affektive Dimension haben – heftige, sanfte, stürmische, träge Weisen etwa des Aufgehobenwerdens, wobei die Adjektive nur sehr grobe Annäherungen an die tatsächliche Qualität sind. Die Vitalitätsaffekte umschreiben weniger eine Phase als eine Sphäre der Erfahrung, die auch später noch als Möglichkeit erhalten bleibt und die nicht auf ein Repertoire von bestimmten Formen festgelegt ist. Allerdings ist sie offen für die zunehmende Artikulation und Ausdifferenzierung solcher Formen, ohne je auf sie reduzierbar zu sein. Dabei ist es zwar nicht bedeutungslos, aber auch nicht entscheidend, mit welchem Körperteil die Geste ausgeführt wird oder ob sie lediglich einen stimmlichen Verlauf umschreibt; am Ende wird die Bewegtheit der Dinge der Welt insgesamt in diesen Kategorien wahrgenommen. Damit sind wir genau bei Robert Hattens basaler Definition des Gestischen als „significant energetic shaping through time“16, von der er in seinem Buch über Gesten in der Musik ausgeht und die wir so in einem weiteren Kontext verorten konnten. Die Frage ist dann nicht, ob wir es jeweils wirklich mit einer signifikanten energetischen Form zu tun haben – es ist kritisch eingewendet worden, dass man bei einer solchen Ausdehnung des Begriffs des Gestischen ja auch den vorbeifahrenden Zug und den einen Abhang herunterrollenden Stein so beschreiben müsste17 –, sondern ob sich das uns jeweils Begegnende so auffassen, mit Gewinn so beschreiben und so darstellen lässt. Und das gilt mit Sicherheit auch für Zug und Stein.

15 | Vgl. Daniel N. Stern, Die Lebenserfahrung des Säuglings, Berlin 1992. S. 79ff.; ders., Forms of Vitality. Exploring Dynamic Experience in Psychology, the Arts, Psychotherapy, and Development, Oxford 2010, S. 17, Fn. 1. 16 | Hatten, Interpreting Musical Gestures, Topics, and Tropes, a.a.O., S. 95. 17_9JO (OYLUD 3DQDLRWLGL ࡐ=ZLVFKHQ *HIKO XQG ,OOXVLRQ 'LH ,PPDQHQ] GHU PXVLNDOLVFKHQ %HGHXWXQJ EHL 6XVDQQH . /DQJHU´ LQ 0XVLN  bVWKHWLN   (2009), S. 59-73, hier 70.

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3. KOMPLEMENTÄRE B ETRACHTUNGEN Interessant ist nun, dass alle der zitierten Autoren eine enge Verbindung von Gestischem und Rhythmischem in Anspruch nehmen, ja die beiden ähnlich wie Joyce bisweilen gleichzusetzen scheinen. Das Paradigma ist sowohl für Bergson als auch für Merleau-Ponty die Melodie: Um deutlich zu machen, dass die durée als Gegenbegriff zur verräumlichten Zeit nicht auf eine unterschiedslose, ungegliederte Einheit hinausläuft, beschreibt Bergson sie als Struktur, deren Momente als „sich gegenseitig durchdringend und sich wie die Töne einer Melodie untereinander organisierend“18 gedacht werden müssen; Merleau-Ponty spricht ganz in diesem Sinne von der „melodische[n] Einheit meiner Verhaltensweisen“19. Wenn es um die innere Struktur dieser Organisiertheit geht, so greift Bergson auf den Rhythmus zurück, etwa wenn er bemerkt, „dass die Töne untereinander eine Komposition eingegangen sind und nicht durch ihre Quantität als solche wirkten, sondern durch die Qualität, die ihre Quantität aufwies, d.h. durch die rhythmische Organisation ihres Ganzen“20. Umgekehrt beschreibt Hugo Riemann, um in den musiktheoretischen Kontext zu blicken, das „Rhythmizomenon“, das „allein für den Ausbau einer wirklich höheren Lehre vom Rhythmus brauchbare[] Element“21, als „Melodiebruchstück, das für sich eine kleinste Einheit von selbständiger Ausdrucksbewegung bildet, die einzelne Geste des musikalischen Ausdrucks“22 . Rhythmus wird hier nicht von einer gegebenen zeitlichen Ordnung her verstanden, die in der Regel als regelmäßige Abfolge von Ereignissen aufgefasst wird, sondern als Gliederungsform von Kontinuität, deren Regelmäßigkeit nicht von vornherein vorausgesetzt ist, sondern sich erweisen muss bzw. auf dem Spiel steht. Als solche ist Rhythmus eine elementare Form von Sinn, wenn wir diesen Begriff in jenem weiten Sinne verstehen, den etwa Merleau-Ponty ihm gegeben hat, nämlich als Gliederung oder Ordnungsform, die insofern „verstanden“ werden kann, als sie orientiert ist und man sich in ihr und anhand ihrer orientieren kann. Rhythmisches und Gestisches verhalten sich hier genau komplementär zueinander; wenn man diese Komplementarität auf den Punkt bringen wollte, könnte man sagen, dass man jenen organisierten Zusammenhang aus der Perspektive seiner Kontinuität in den Blick nimmt, wenn man ihn als gestisch, und auf seine Diskontinuität fokussiert, wenn man ihn als rhythmisch beschreibt. Der Unterschied der Betrachtungsweisen ist nicht der zwischen unterschiedsloser Kontinuität und Gegliedertheit, sondern zwischen zwei komplementären Perspektiven auf seine 18 | Bergson, Zeit und Freiheit, a.a.O., S. 81. 19 | Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 82. 20 | Bergson, Zeit und Freiheit, a.a.O., S. 81. 21 | Hugo Riemann, System der musikalischen Rhythmik und Metrik, Leipzig 1903, S. VIII. 22 | A.a.O., S. 14.

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Gliederung oder Artikulation. Dabei ist gleichzeitig klar, dass diese Perspektiven nicht verabsolutiert werden dürfen, weil sie sonst die gegenseitige Vermittlung von „Schnitt und Strom“, wie es Steffen Schmidt in einer treffenden, an die Aristotelische Zeittheorie erinnernden Formulierung zusammenfasst, aus dem Blick verlieren.23 Wenn aber Rhythmisches und Gestisches nur zwei Perspektiven auf dasselbe darstellen, so müsste das bisher Ausgeführte auch auf den Rhythmus anwendbar sein. Um dies genauer in den Blick zu bekommen, möchte ich an dieser Stelle auf das angekündigte Beispiel zurückkommen: auf Both sitting duet von Jonathan Burrows und Matteo Fargion. Auch wenn Burrows Tänzer ist und das Stück in der Regel in Tanzkontexten gezeigt wird, ist es meines Erachtens weniger ein Tanzstück als eine musikalische Darstellung im Gestisch-Visuellen (und Fargion ist ursprünglich Komponist). Entsprechend soll seine Beschreibung einen Beitrag zu einer theoretischen Fassung des musikalischen Rhythmus liefern. Notentext und vorab gegebene Taktschemata, die in der Regel den Ausgangspunkt bilden, stehen damit nicht zur Verfügung. Daraus ergibt sich eine Verfremdung, die meines Erachtens neue Perspektiven eröffnet.24 Die Grundkonstellation des Stückes ist denkbar einfach und wird durch den Titel bereits deutlich beschrieben: Burrows und Fargion sitzen leger gekleidet nebeneinander auf einer leeren Bühne auf zwei einfachen Stühlen, und das ganze Stück spielt sich, von zwei kurzen Ausnahmen abgesehen, im Sitzen auf diesen Stühlen ab. Was sie aufführen, ist ein komplexes Geflecht von Bewegungen, die fast ausschließlich auf Hände und Arme begrenzt sind und die konsequent frontal dargeboten werden.25 Die Suggestion kommunikativer Gesten, die sich dadurch ergibt, wird konsequent unterlaufen, und von wenigen Momenten abgesehen, in denen eine derartige Bedeutungshaftigkeit aufblitzt, sind die Bewegungen ausschließlich durch ihre formale Qualität motiviert und leiten aus ihr ihre Zusammenhänge ab. Dieter Schnebels Charakterisierung der Musik, die er als Einwand gegen Adornos These einer Sprachähnlichkeit der Musik formuliert hat, kann als treffende Beschreibung der Organisationsprinzipien des Stückes

23 | Vgl. Steffen A. Schmidt, Schnitt und Strom. Ansätze zu einer integralen Funktionstheorie des musikalischen Rhythmus, in: Musik & Ästhetik 3, 9 (1999), S. 58-72. 24 | Eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Stück bildet das Vorspiel von Grüny, Kunst des Übergangs, a.a.O. 25 | Die gefilmte Version, die sich auf Burrows YouTube-Seite findet, ist genau aus diesem Grund schwierig: Sie arbeitet mit mehreren Kameras, und wechselt immer wieder die Perspektive, so dass sich der stabile Rahmen, der für die Rezeption des Stückes essentiell ist, nicht dauerhaft etablieren kann. Vgl. www.youtube.com/user/jonathanburrowsinfo#p/u.

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dienen: Periodik, Wiederholung und Abweichung.26 Alle Momente manifester gestischer Bedeutsamkeit, auch die in den Assoziationen der Betrachter liegenden, werden in diese Organisation integriert und dadurch tendenziell neutralisiert. Die Gestaltung findet statt auf der Ebene des Stromes gestischer Modulation, die sich nicht auf eine Bedeutungen festlegen lässt, ohne aber frei von Bedeutsamkeit zu sein. Das Spiel der einander aufgreifenden, kontrapunktierenden, wiederholenden und verschiebenden Bewegungen gewinnt dabei eine derartige ästhetische Schlüssigkeit, dass es über den recht langen Zeitraum des Stückes (etwa vierzig Minuten) zu tragen und den Betrachter zu faszinieren vermag. Die Komplementarität von Geste und Rhythmus ist im Falle von Both sitting duet so augenfällig, dass sie beinahe trivial erscheint; es kommt nun darauf an, wie wir sie beschreiben und theoretisch fassen. Vielleicht sollte man mit einer ganz einfachen Frage beginnen: Was tun wir eigentlich, wenn wir dieses Geschehen als rhythmisch auffassen, was zweifellos der Fall ist? Es ist nicht sonderlich schwierig, den kontinuierlichen gestischen Strom in einzelne Figuren zu zerlegen, denn diese Gliederung wird von den beiden selbst mit einiger Deutlichkeit angeboten, indem die Hände immer wieder in die gestische Nullposition auf den Oberschenkeln zurückkehren. Die jeweilige Länge der einzelnen Gesten von einem Ruhepunkt zum nächsten ergibt eine recht klare erste Gliederung, die in etwa musikalischen Motiven entspräche und die durch die Verschiebungen und Variationen zwischen den beiden verkompliziert wird. Aber das ist natürlich nicht alles. Man könnte nun sagen, dass wir es hier mit einem der musikalischen Bewegung genau komplementären Fall zu tun haben: Eine Melodie ist nicht reduzierbar auf eine Folge von tonalen Atomen, sondern stellt eine melodische Bewegung dar – das ist immer wieder zu recht festgehalten worden. Dennoch aber besteht sie aus Tönen, die nicht abstraktiv durch künstliche Schnitte in ein Kontinuum gewonnen werden müssen, sondern als solche vorliegen. Das Glissando als scheinbar unmittelbareres Äquivalent der Geste ist tatsächlich musikalisch kaum brauchbar, weil es ins Diffuse abgleitet. Während wir also bei Both sitting duet die Aufgabe haben, Schnitte legen zu müssen, geht es bei einer melodischen Bewegung eher darum, den Schritt von der Diskretheit der Töne zur Kontinuität der Geste zu vollziehen. Aber, und das ist wichtig, dies sind in erster Linie theoretische Probleme: Für die Alltagspraxis ist weder das eine noch das andere eine Schwierigkeit. Der Ansatz bei der Diskontinuität, die Schwierigkeiten 26 | Vgl. Dieter Schnebel, Der Ton macht die Musik, oder: Wider die Versprachlichung! Überlegungen zu Periodik, Abweichung und Wiederholung, in: ders., AnVFKOlJH²$XVVFKOlJH7H[WH]XU1HXHQ0XVLN0QFKHQ6'LHVRziale Dimension, die mit der realen Interaktion von zwei offenbar freundschaftlich miteinander verbundener Männer zu tun hat, wird hier ganz ausgeblendet; vgl. dazu Valerie Briginshaw, Difference and Repetition in Both sitting duet, in: Topoi 24 (2005), S. 15-28.

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der Unterscheidung von Rhythmus und Metrum, die Frage nach der Reduktion von Rhythmus auf die reine Einteilung der Zeit – all das ist aus musikalischen Rhythmustheorien bekannt und bekanntermaßen problematisch. An dieser Stelle soll der Ausgangspunkt mit Burrows und Fargion ausdrücklich auf der anderen Seite liegen, um von dort aus auf die Musik zu blicken. Ich hatte die Geste eingangs als prägnante Bewegung in einem kommunikativen Kontext beschrieben. Der Kontext ist durch die Präsentation des Geschehens als künstlerische Darstellung in einem entsprechenden Zusammenhang gegeben, in dem jede beliebige Regung eines der Protagonisten zuerst einmal als Darstellung ihrer selbst und insofern als explizite Geste aufgefasst werden wird. Der Begriff der Prägnanz ist noch erklärungsbedürftig und verspricht weiteren Aufschluss für unsere Fragestellung. Als theoretisches Konzept hat er seinen Ursprung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, auf die wir uns hier beziehen können. Ansatzpunkt für Cassirer ist die Frage, „wie aus bloßem bedeutungsfremdem Dasein etwas wie Bedeutung ‚wird‘“27, und die symbolische Prägnanz besetzt hier die entscheidende Vermittlungsposition, durch die die ganze Frage verschoben wird. Der radikale Kategorienwechsel, den die Gegenüberstellung von bloßem Dasein und Bedeutung suggeriert, wird durch die Genealogie der Bedeutung unterlaufen, die gleichzeitig die beiden Pole des reinen, sinnfremden Daseins und der idealen Bedeutung als solche in Frage stellt und damit für eine Auseinandersetzung mit dem Gestischen unmittelbar anschlussfähig erscheint. Aufschlussreich ist, dass Cassirer die Rede vom „Werden“ der Bedeutung in Anführungszeichen setzt: Es ist eben nicht so, dass ein zuerst Bedeutungsfremdes sich in einem zweiten Schritt verwandelt oder eine neue Schicht der Bedeutungshaftigkeit erhält. Was hier an Prägnanz gewinnt, ist von vornherein in der Sphäre des Sinns beheimatet. Der Begriff selbst verkoppelt Wahrnehmung und Zeichenhaftigkeit zu einer Einheit, und Cassirer erläutert ihn als Situation, in der die Wahrnehmung selbst „eine Art von geistiger ‚Artikulation‘ gewinnt – die, als in sich gefügte, auch einer bestimmten Sinnfügung angehört“28. Dabei hält er sich diesseits einer expliziten Symbolfunktion, wie sie etwa mit den emblematischen Gesten gegeben ist, und der starren Bindung an reale Körperbewegungen. Wäre das Gestische tatsächlich „a movement of part of the body, for example a hand or the head, to express an idea or meaning“29, wäre der Versuch, es für eine Bestimmung des musikalischen Rhythmus zu mobilisieren, einigermaßen abwegig. Cassirers Begriff der symbolischen Prägnanz bietet eine Möglichkeit, diesseits dessen anzusetzen, indem sie 27 | Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, Oxford 21954, S. 227. 28 | A.a.O., S. 235. 29_0DUF /HPDQ X 5ROI ,QJH *RG¡\ :K\ 6WXG\ 0XVLFDO *HVWXUHV" LQ GLHV (Hg.), Musical Gestures. Sound, Movement, and Meaning, New York u. London 2010, S. 3-11, hier 5.

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das Gestische nicht in die reale Bewegung eines Körperteils und eine ausgedrückte Bedeutung auseinanderfallen lässt. Wenn wir nicht lediglich neue kategorialen Grenzen ziehen, sondern sie tatsächlich als solche in Frage stellen wollen, müssen wir hier unterschiedliche Aggregatzustände der Prägnanz mit fließenden Übergängen annehmen. Gehen wir von den Aktivierungs- und Intensitätskonturen der Sternschen Vitalitätsaffekte aus, so haben wir ein Geschehen vor uns, das bereits auf markante Weise in sich gegliedert ist, aber noch keine stabilen Prägnanzen im Sinne identifizierbarer Formen ausgebildet hat. Es ist aber bereits im Sinne von Hattens Bestimmung ein „significant energetic shaping“, insofern ihm Bedeutsamkeit zukommt: Es ist hochrelevant und gegliedert, wobei diese Gliederung vorerst nur im Einzelnen nachzuvollziehen ist, ohne eine weitergehende Strukturierung anzubieten. Man könnte es mit einer vollständig unbekannten Musik vergleichen, die eine deutlichere Artikulation nahelegt, uns für den Moment aber ausschließlich Spezifisches bietet. Die Arbeit des Kindes – und des Hörers – ist es nun, Stabilität und Ordnung in diese ständige Neuformung zu bringen und so die Welt auf elementare Weise zu gliedern. Hier kommt Prägnanz im engeren Sinne zum Tragen: als deutliches Aufscheinen von etwas in sich Gegliedertem im Strom der Artikulation, das in Bezug auf Ähnlichkeit und Differenz zu anderem befragt werden kann und insofern die Frage nach Wiederholung und Abweichung erst ins Spiel bringt. Erst allmählich sondern sich Einheiten aus diesem Strom ab, die als einzelne Gesten im Plural angesprochen werden können. Die Prägnanz wird dabei sozusagen von zwei Seiten hergestellt und gestützt: einmal über die Intensitätsprofile, die den Gesten als solchen eignen, zum anderen aber auch gerade über die Bezüge zu anderem, Gleichem, Ähnlichem, Verschiedenem, Abweichendem, Gegensätzlichem etc., in denen sich das Einzelne profiliert. Die „Sinnfügung“, von der Cassirer spricht, ist ein weiterer Schritt in diesem Strukturierungsprozess, der die Bezüge explizit macht, jenem Einzelnen einen eindeutigen Ort in diesem Gefüge zuweist und es dadurch noch einmal deutlicher: prägnanter bestimmt. Cassirers Begriff der Prägnanz bewahrt uns davor, die Komplementarität von melodischer und körperlicher Geste in Richtung genau gegenteiliger Prozesse zuzuspitzen und der Synthese des Diskontinuierlichen eine Analyse des Kontinuierlichen gegenüberzustellen. Prägnanzbildung ist weder das eine noch das andere. Weder ist die melodische Folge zuerst eine Aneinanderreihung von Einzeltönen, um dann zu einer Melodie synthetisiert zu werden, noch ist die tänzerische Geste eine reine Kontinuität, die auf Unterteilung wartet, um Differenziertheit zu gewinnen; in beiden Fällen ist die Gliederung, die Artikulation das Erste, auf dessen Hintergrund so etwas wie symbolische Prägnanz überhaupt erst denkbar ist. Die ersten prägnanten Figuren, die sowohl innerhalb des unbekannten Musikstücks als auch in Both sitting duet auftauchen werden, sind Motive – Riemanns „Rhythmizomena“. Von hier aus kann man nun in zwei Richtungen gehen: einmal in die innere Gliederung, auf der das Spiel von Prägnanzen in systematischen oder

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protosystematischen Kontexten noch einmal auftaucht, und zum anderen in Richtung auf übergreifende Regelmäßigkeit. Im ersten Fall stellen sich in bezug auf die körperliche Geste nun doch andere Probleme als im Falle der musikalischen, die aber dennoch Aufschluss auch für die Musik versprechen: Die Suche nach einer inneren Gliederung scheitert, wenn sie nach Elementen sucht, die den Tönen entsprächen. Allerdings kann man von Stütz- und Ruhepunkten sprechen, die zwar nicht als Elemente vorliegen, sich aber dem Blick nahelegen, der die Gesten auf ihre innere rhythmische Gliederung ansieht. Sie sind aber nicht das einzige Gliederungsmoment: Die einzelnen Motive in ihren komplexen räumlichen Verläufen haben Schwünge, Beschleunigungen, Verlangsamungen, Richtungswechsel und Wendepunkte, und alle dies sind Momente ihres spezifischen Rhythmus. Manche beinhalten Skandierungen in McNeills Sinne, regelrechte beats, aber nicht alle. Andere, die die größte Nähe zu pragmatischen Bewegungen zu halten scheinen, haben eine Art Erfüllungspunkt, etwa eine Geste, die scheinbar etwas vom Boden aufhebt. Unabhängig davon ist aber ihnen allen eine innere Gegliedertheit eigen, die sich sowohl an die Wendepunkte als auch an die relativen Geschwindigkeiten und Schwünge davor und danach anheftet. Wir finden hier zahlreiche Bestimmungen wieder, die wir aus Beschreibungen musikalischer Rhythmen kennen, aber sie setzen erst auf der Ebene der artikulierten Motive an; die darunterliegende Ebene der Folge von Tönen mit unterschiedlichen Zeitwerten gibt es nicht, also auch keine mathematische Kalkulation zeitlicher Verhältnisse. Es hat hier keinerlei Anhalt, jene zyklische Folge von Schlägen mit unterschiedlicher Valenz anzunehmen, die klassische Theorien des Metrums postulieren. Hasty hat gezeigt, dass es in der notwendigen Konsequenz solcher Modelle liegt, die Schläge als ausdehnungslose Punkte zu konzeptualisieren, wie es von einigen Theoretikern auch explizit festgehalten wird: „Time-spans have durations, then, and beats do not.“30 Im Falle von Tönen wird Punktualität zumindest durch die Anschläge suggeriert, auch wenn sie durch die notwendige zeitliche Erstreckung jedes, auch des kürzesten Klanges dementiert wird. Bei Both sitting duet wäre ein zugrundeliegendes System von Punkten radikal heterogen zu dem, was wir zu sehen bekommen; es gibt nicht einmal erklingende Musik in diesem Stück, an die man sich halten könnte. Bei Thrasybulos Georgiades findet sich eine für unsere Zwecke aufschlussreiche Bestimmung, die er auf die griechische Musik mit ihrer „Quantitätsrhythmik“ bezieht und ausdrücklich von unserer abendländischen Musiktradition abgrenzt. Dort findet, so Georgiades, das gesamte rhythmische Geschehen auf einer Ebene statt, weil es allein durch die Quantität der sprachlichen Silben bestimmt ist: „[H]ier liegen zugrunde nicht untereinander gleich entfernte Punkte als bloße Abgrenzungen der Zeiteinheit, sondern die Dauer der Zeiteinheit selbst, die erfüllte 30 | Fred Lerdahl u. Ray Jackendoff, A generative theory of tonal music, Cambridge, MA u. London 1983, S. 18; vgl. Hasty, Meter as Rhythm, a.a.O., S. 16ff.

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Zeit.“31 Während dies wie eine gute Beschreibung von Both sitting duet wirkt, gibt es keinen Anhalt dafür, die Gegenbestimmung einer leeren Zeit – einer Zeit, die durch ein Raster von Punkten gebildet wird, die selbst keine Ausdehnung und insofern keine eigene klangliche Realität haben, aber die Zahl der zu vergebenden Notenwerte und die Akzentverteilung regeln – auf das Stück anzuwenden. Was bei Georgiades als Unterschied zweier höchst unterschiedlicher Traditionen daherkommt – Quantitätsrhythmik vs. Akzentmetrik – , kann ebensosehr als Differenz zwischen unterschiedlichen theoretischen Zugängen zum Rhythmus aufgefasst werden: Die große Frage ist, ob wir von einem leeren, aber bereits vorstrukturierten Raum ausgehen wollen, in den dann Reales eingefüllt wird, oder ob wir von der Wirklichkeit des tatsächlich Erklingenden und insofern immer von einer erfüllten Zeit ausgehen und von dort aus fragen, wie das Erklingende sich organisiert. Meines Erachtens weist Both sitting duet in seiner offensichtlichen Musikalität darauf hin, dass wir letzteren Weg gehen sollten, und zwar auch für die Musik. Interessanterweise benutzen auch Burrows und Fargion Partituren, die vor ihnen auf dem Boden liegen. Der Komponist Fargion notiert hier metrische Werte und Figuren, die aber eher die Form von einzelnen rhythmischen Zellen annehmen als die eines durchgängigen Rasters; der Tänzer Burrows zählt Wiederholungen und wählt sprachliche Anweisungen, die eher als Erinnerungsstütze dienen als eine wirkliche Notation zu bilden.32 Aber selbst wenn wir es mit einer voll ausformulierten Partitur zu tun hätten, würde dies für eine Beschreibung des tatsächlichen Geschehens nicht wirklich weiterhelfen, denn es bliebe immer noch die Frage nach der Umsetzung. Insgesamt erscheint mir eine theoretische Beschreibung des musikalischen Rhythmus ausgehend vom notierten Takt in etwa so produktiv wie eine Aufarbeitung des Tonsystems, die von der Tatsache ausgeht, dass die Töne alle schön aufgereiht auf dem Klavier daliegen. Der Takt ist nicht weniger ein zu Erklärendes als die Töne, auch wenn beide in der Praxis vorausgesetzt werden können mögen. Und dies weist uns wiederum auf das konkrete Geschehen und damit auf die erfüllte Zeit der sich ereignenden Gesten zurück. So unplausibel die Supposition eines metrischen Rasters erscheint, so sehr sperren sich die gestischen Gestaltungen auch gegen eine andere, in der Musik geläufige Reduktion: diejenige auf eine eindimensionale Abfolge von Einsätzen und Dauern. Verflacht man das rhythmische Profil auf diese Weise, geht der größte Teil der Gliederung mit verloren. Ein Bogen mit einem bestimmten Geschwindigkeitsprofil wird zu einer bloßen Zeitlänge, und spezifische Bezüge und Abweichungen bestimmter gestischer Formen zueinander werden unsichtbar. Sie sind es aber, die den Rhythmus des Stückes entscheidend prägen. Es ist leicht zu sehen, dass für die Musik dasselbe gilt. Im Falle tonaler melodischer Gliederung kommt zusätzlich 31 | Thrasybulos Georgiades, Der griechische Rhythmus. Musik, Reigen, Vers und Sprache, Tutzing 1977, S. 28. 32_=XVHKHQXQWHUKWWSZZZMRQDWKDQEXUURZVLQIRVFRUH"LG  W FRQWHQW

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dazu noch die Dimension der Harmonik hinzu, die ebenfalls zum rhythmischen Profil beiträgt. Tilgt man all dies, so suggeriert dies eine klare Trennung von Form und Inhalt, die gut zum Grundkonzept einer leeren, mit Klangmaterial zu füllenden Zeit passt: Die leere Zeit wird mit einem metrischen Raster versehen, in das dann Ereignishülsen gefüllt werden, die aber immer noch rein in Bezug auf ihre zeitliche Abfolge und Dauer, also rein formal bestimmt sind. Die Betrachtung des musikalischen Rhythmus hat dann schon alles, was sie braucht. Dass diesen Abfolgen schließlich in eine weitere Dimension ausgreifende konkrete Ereignisse, sozusagen Inhalte zugeordnet werden, geht sie nichts mehr an. An Both sitting duet kann man sehen, dass ein solch abstraktives Vorgehen mit der Musik nicht mehr viel zu tun hat.

4. VERFORMTE WELLEN Bei all dem war bisher nur die Rede von den rhythmisch-gestischen Gestalten in ihrer konkreten Bestimmtheit, aber nicht von jenem Moment, das vielfach fast synonym mit dem Rhythmischen gebraucht wird: der Regelmäßigkeit. Die traditionellen Rhythmustheorien haben auf die Frage nach der Regelmäßigkeit eine relativ einfache Antwort: Sie wird durch eben jene metrische Zyklizität gewährleistet. Das metrische Raster mit seiner Verteilung von Schlägen und Betonungen bildet die Regel, die für die Regelmäßigkeit der Oberfläche sorgt, die sich damit letztlich als Regelhaftigkeit herausstellt. Hasty schlägt als Alternative dazu einen einzigen Mechanismus vor, der der Prozesshaftigkeit und Offenheit der (musikalischen) Zeit Rechnung trägt und so etwas wie Regelmäßigkeit möglich macht – die Projektion –, und bricht so radikal mit dieser traditionellen Konzeption des Metrums. Letztlich formuliert er damit eine inhaltlich gehaltvolle Ausfaltung der Husserlschen Protention, die in dessen eigener Zeittheorie lange ein Schattendasein gefristet hatte.33 Ich möchte an dieser Stelle ausgehend von Both sitting duet etwas anders ansetzen, wobei ich Hastys Kritik an den vorliegenden Rhythmustheorien vollkommen teile. Als gemeinsame Grundlage kann vielleicht Susanne K. Langers Bestimmung von Rhythmus als Prozess des „setting up of new tensions by the resolution of former ones“34 gelten. 33 | Dass sich dies in den Bernauer Manuskripten ändert und wie die dort immer noch nur skizzenhaft vorgeschlagene Konzeption für eine theoretische Aufarbeitung der Zeitlichkeit von Bild und Musik nutzbar gemacht werden kann, habe ich an anderer Stelle zu zeigen versucht: Vgl. Christian Grüny, Schwierige Gegenwart. Zur Zeitlichkeit von Bild und Musik, in: Emmanuel Alloa (Hg.), Erscheinung und Ereignis. Zur Zeitlichkeit des Bildes, München 2013, S. 39-70. 34 | Susanne K. Langer, Feeling and Form. A theory of art developed from Philosophy in a New Key, New York 1953, S. 126.

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Ausgangspunkt kann dabei die Erscheinung sein, bei der die Regelmäßigkeit durchbrochen wird, die aber gerade deswegen auf sie angewiesen ist: die Synkope. Metrum und Synkope sind korrelative Begriffe. Eine Synkope wird klassischerweise beschrieben als Akzent, der der eigentlichen metrischen Akzentverteilung zuwiderläuft und daher zu ihr in Spannung gerät. Man sieht, dass diese Beschreibung auf die Annahme von mehreren Ebenen angewiesen ist, in die das rhythmisch-metrische Geschehen aufgliedert werden kann bzw. aus denen es sich zusammensetzt. Die Oberflächenebene und die tiefere metrische Ebene geraten, so die Rekonstruktion, in einen Konflikt, der in einer momenthaften Spannung resultiert, die aber gleich wieder aufgehoben wird. Hasty weist zu recht darauf hin, dass von einer solchen Interaktion nur die Rede sein kann, wenn beide Ebenen real sind, das Metrum also gerade nicht als abstraktes Raster gedacht wird; ein solches könnte mit den konkreten Klangereignissen nicht interagieren. Zu einer Spannung zwischen beiden kann es nur kommen, wenn sie beide tatsächlich erscheinen.35 Nun kann man dieses Problem unterschiedlich lösen; Maury Yeston etwa geht in Anlehnung an Heinrich Schenker von Vorder-, Mittel- und Hintergrund aus und verlegt damit das Metrum in eine strukturelle Tiefe, statt es in die Abstraktion abzuschieben. Damit produziert er nun allerdings ein weiteres Artefakt, nämlich eine Konzeption der Oberflächenebene als „long, complex, and uninterpreted summation of all its attacks, durations, and rests“36. Eine solche uninterpretierte Gleichgültigkeit wurde noch von niemandem gehört und kann von niemandem gehört werden. Sie wird denn auch eher als logische Notwendigkeit verteidigt als in irgendeiner Weise nachgewiesen. Als genau dies erscheint sie mir auch: als logisches Konstrukt von genau der gleichen Art wie die abstrakte Ordnung der metrischen Regelhaftigkeit. Insgesamt erscheint es mir nicht triftig, dass aus logischen Gründen die Existenz mehrerer Ebenen postuliert werden müssen. Es geht davon aus, dass von einer Spannung nur dann gesprochen werden kann, wenn mindestens zwei unterschiedliche Instanzen vorliegen, die vollständig ausformuliert sind bzw. als für sich genommen integral und vollständig rekonstruiert werden können. Diesem Argument liegt wiederum die Vorstellung eines Primats von Entitäten vor ihrer Interaktion und Bewegung zugrunde. Ich würde eine zumindest skizzenhafte Rekonstruktion metrischer Regelmäßigkeit versuchen, die solche Konstrukte vermeidet und sich stattdessen ganz auf einer Ebene hält. Die Spannung, die durch die Synkope markiert wird, ist letztlich das Prinzip des Rhythmus überhaupt, und sie ist der Ausgangspunkt seiner Rekonstruktion. Sie findet auf der einen, einzigen musikalischen Ebene statt, die weder Oberfläche noch Tiefe ist.

35 | Vgl. Hasty, Meter as Rhythm, a.a.O., S. 15. 36 | Maury Yeston, The Stratification of Musical Rhythm, New Haven u. London 1976, S. 37.

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Bei dem zu Unrecht nur wenig rezipierten Musiktheoretiker Viktor Zuckerkandl findet sich ein traditionsreiches Bild, das mir dies gut zu beschreiben scheint und auch mit dem Gestischen als Ausgangspunkt zusammengeht: das der Welle. Das Bild der Welle macht, besser als das des Pulses, deutlich, dass wir es mit einer Kontinuität zu tun haben, mit einem spezifischen Verlauf. Die Welle lässt sich nicht in Punkte unterteilen, denen ein spezifisches, relational bestimmtes metrisches Gewicht zugemessen wird, sondern weist Orte auf, die qualitativ durch „die Richtung ihres Bewegungsimpulses“37 bestimmt sind. Sie ist kein Maß, sondern ein kontinuierlich gestalteter Verlauf, auch wenn an sie ein Maß angelegt werden kann. Gegenüber dem Schema des metrischen Rasters soll das Bild der Welle eine Organisationsform illustrieren, die gerade nicht auf einer anderen Ebene liegt als die erklingenden rhythmischen Gestalten, sondern eine weitere Integrationsstufe der klanglichen Ereignisse darstellt – eine Form der Prägnanz, die größere Stabilität als die je spezifischen rhythmischen Figuren gewinnt. Vom Bild der Welle ausgehend wäre eine Synkope eine Art Erhöhung, die an einer anderen Stelle als am höchsten Punkt jener Welle stattfindet und diese sozusagen charakteristisch verformt. Man findet auch bei Zuckerkandl Stellen, die die Unterscheidung zweier Ebenen suggerieren, etwa in Formulierungen wie derjenigen, „der Boden, auf den die Töne fallen“, sei „selbst in Wellen bewegt“38. Nimmt man das Bild der Welle aber ernst, so wird deutlich, dass Welle und Töne, Metrum und Rhythmus auf derselben Ebene liegen. Man könnte sie vielleicht als unterschiedliche Integrationsstufen desselben beschreiben, die aufeinander angewiesen sind und nie getrennt voneinander auftreten. Es gibt diese Welle nicht abseits real erklingender Folgen von Tönen, auch wenn sie nicht in ihnen aufgeht; sie ist ein emergentes Phänomen der klanglichen Bewegung. Das hat sie mit den einzelnen rhythmischen Figuren und Motiven gemeinsam: Die Töne und ihr Zusammenhang bestimmen sich jeweils gegenseitig. Im Herkunftsbereich der Metapher gesprochen: Eine Welle ist nicht eine zweite Entität neben dem Wasser, das Wasser selbst ist in Wellen bewegt. Auch wenn man eine recht genaue Vorstellung hat, was Zuckerkandl mit einem „Spiel der Töne mit der Welle“39 meint, kann es ein solches Spiel doch so wenig geben wie ein Spiel des Wassers mit der Welle. Die Formulierung weist auf den scheinbar paradoxen Tatbestand hin, dass dieselben Klänge, die sich in Form einer Welle ordnen, diese Ordnung gleichzeitig subvertieren, verformen und stören – und zwar in jedem Fall. Musikalische Regelmäßigkeit („Takt“ oder „Metrum“) unterscheidet sich von einer bloßen Wiederholung des Gleichen genau dadurch, dass sie ständig bestritten oder vielleicht besser in Spannung versetzt wird. Man 37 | Viktor Zuckerkandl, Die Wirklichkeit der Musik. Der musikalische Begriff der Außenwelt, Zürich 1963, S. 165. 38 | A.a.O., S. 160. 39 | A.a.O., S. 164.

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muss es vielleicht so formulieren: Klangliche Gestalten bilden gestische Formen von sehr unterschiedlicher Gestalt, die sich in der Musik unserer Tradition in der Regel zu einer mehr oder weniger stabilen Welle einschwingen, ohne dabei in einer reinen gleichmäßigen Oszillation aufzugehen. Aber auch in den Fällen, in denen eine solche Welle nicht oder nur intermittierend erscheint oder sich fortwährend verschiebt, haben wir es mit rhythmischen Phänomenen zu tun. Der Begriff der Synkope ist hier insofern zentral, als er sich von zwei Seiten betrachten lässt: Auf der einen Seite scheint die Synkope angewiesen auf das Metrum, und zwar als Durchbrechung einer Regelmäßigkeit, die diese voraussetzt, und wäre damit ein sekundäres Phänomen; auf der anderen Seite könnte sie als Ausgangspunkt rhythmischer Organisation oder dessen Spur in einer bereits weitgehend regelmäßig schwingenden Form angesehen werden. Die Synkope ist der Inbegriff der rhythmischen Spannung, die auf Auflösung drängt, und damit analog der Dissonanz im harmonischen Bereich. Das rhythmische Grundphänomen ist nicht die widerstandslose Welle, sondern das in sich gespannte Ereignis, das einen Bezug zu seinem Vorgänger herstellt und eine Erwartung in Bezug auf seinen Nachfolger aufbaut, ganz im Sinne der oben zitierten Charakterisierung Langers oder, in John Deweys Worten: „Denn wann immer jeder Schritt vorwärts gleichzeitig eine Summierung und Erfüllung dessen, was vorausgeht, darstellt, und jedwede Anhäufung die Erwartung spannungsreich vorwärts treibt, sprechen wir von Rhythmus.“40 Vielleicht kann man sogar noch einen Schritt weiter gehen: Es ist die Spannung selbst, das Grundphänomen der Gespanntheit auf eine Ordnung hin, die ganz unterschiedliche Formen annehmen kann und vielleicht endlos aufgeschoben bleibt.41 Ob diese Spannung auch in dauerhafter Abwesenheit manifester Regelmäßigkeit aufrecht erhalten werden kann, hat im Musikalischen ebenso mit den Musikern wie mit den Hörern zu tun. Von ihr, und nicht vom Metrum, kann man tatsächlich sagen, sie sei „the matrix out of which rhythm arises“42, wobei das Verständnis, das Grosvenor und Cooper hier vertreten, vollständig auf den Kopf gestellt wird. Das Ende der Musik würde dann von zwei komplementären Extremen markiert: einmal vom spannungslosen Nebeneinander, das auf den vollständigen Zerfall hinausläuft, zum anderen von der ebenso spannungslosen rigiden Regelmäßigkeit. Ob sie taktgebunden oder rhythmisch „frei“ ist, die Musik hält sich zwischen diesen Extremen auf.

40 | John Dewey, Kunst als Erfahrung, Ffm 1980, S. 200; vgl. dazu prägnant den Text von Christopher Hasty in diesem Band. 41_'LFNLQVRQ VSULFKW KLHU LQ JDQ] lKQOLFKHU :HLVH YRQ ࡐWHQVLW\´ YJO *HRUJH Sherman Dickinson, Aesthetic Pace in Music, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism XV, 3 (1957), pp. 311-321). 42 | Grosvenor W. Cooper u. Leonard B. Meyer, The Rhythmic Structure of Music, Chicago 1960, S. 96.

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Rhythmus ist so verstanden ein in sich gespanntes sich Ordnen einer Form, was sehr nahe an dem ursprünglichen griechischen Begriff des rhythmós ist, wie ihn Émile Benveniste herausgearbeitet hat, eine sich ereignende Form.43 Paradigmatisch dafür ist weniger der Schlag der Trommel als die Bewegungen des Dirigenten. Diese komplizierte Form der schwingenden Bewegung ist eine sehr spezifische, komplexe gestische Verlaufsform. Die rhythmische Gespanntheit ist letztlich nichts anderes als die Spannung des Gestischen, und sie bildet die Grundlage dafür, eine tatsächliche Ordnung des Erklingenden auszumachen – und sei es als immer wieder durchkreuzte.

5. S CHLUSS Ich habe meinen Text begonnen mit einer starken These, die schon im Kontext ihrer Formulierung den Metaphysikverdacht auf sich gezogen hat. Gestizität, die sofort mit Rhythmus und Struktur identifiziert wird, soll als universale Sprache verstanden werden. Auch wenn es ausdrücklich nicht die Musik ist, die Joyce’ Protagonist hier ins Zentrum rückt, habe ich versucht, rhythmische Verhältnisse anhand der Musik zu rekonstruieren, wobei deutlich geworden sein dürfte, dass die Bestimmungen der gestischen Prägnanz, der Welle und der Gespanntheit nicht auf die Musik beschränkt werden können; das Beispiel, auf das ich mich bezogen habe, entstammte schließlich nicht eigentlich der Musik. Mit Bergson, Merleau-Ponty und Stern wurde auf einer recht tiefen Ebene zeitlicher Organisiertheit angesetzt, die nicht auf künstlerische Gestaltungen beschränkt ist, auch wenn sie hier in besonderer Deutlichkeit zutage tritt, vielleicht am prägnantesten in der Musik. Am Ende soll wenigstens kurz die Frage angerissen werden, womit wir es nun eigentlich zu tun haben, wenn wir von gestisch-rhythmischen Verhältnissen sprechen. Bergson wollte seine Rekonstruktion nicht verräumlichter Zeitlichkeit als Beschreibung innerer Erfahrung verstanden wissen; mit Merleau-Ponty konnte dies auf „äußere“ Phänomene ausgeweitet werden. Dennoch bleibt deutlich, dass es nicht um eine für sich bestehende, objektive Welt geht, sondern wir uns weiterhin im Bereich der Erfahrung bewegen. Nun hat das Motiv des Rhythmischen auch darüber hinaus Anwendung gefunden; sowohl Dewey als auch Langer binden ihre Diskussion des Rhythmus im Ästhetischen zurück an biologische Verhältnisse: „The principle of rhythmic continuity is the basis of that organic unity which gives permanence to living bodies – a permanence that […] is really a pattern of changes.“44 Vom Tag-Nacht-Rhythmus über Atmung und Herzschlag bis zu 43_9JO ePLOH %HQYHQLVWH 'HU %HJULII GHV ࡐ5K\WKPXV´ XQG VHLQ VSUDFKOLFKHU Ausdruck, in: ders., Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, München 1974, S. 363-374. 44 | Langer, Feeling and Form, a.a.O, S. 127.

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zellulären Prozessen ist die Rhythmizität als Bedingung und Organisationsweise des Lebens erforscht worden,45 wobei die Gefahr droht, aus diesen Beobachtungen normative Folgerungen für die Ästhetik abzuleiten (was man Dewey und Langer wohlgemerkt nicht vorwerfen kann). Man kann wohl sagen, dass je tiefer man ansetzt und je weiter die Kreise sind, die eine Behandlung des Rhythmus zieht, die Gefahr des Überschwangs um so mehr wächst; den Gipfel bildet hier sicher Ludwig Klages, bei dem es schließlich heißt: „Das gesamte erscheinende Weltall ist ein rhythmischer Sachverhalt.“46 Insgesamt waren die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts deutlich metaphysikanfälliger als die heutige Gegenwart und gern bereit, zu den von Joyce ironisierten ganz großen Würfen auszuholen. Scheinbar in die gleiche Richtung geht auch wenige Jahre später Richard Hönigswald: „Der Rhythmus muß aus ‚allem‘ herausgeholt und in ‚alles‘ hineingelegt werden können.“47 Tatsächlich meint er etwas anderes, an das sich auch heute noch produktiv anschließen lässt. Er fährt fort: „Allem sich zeitlich Erstreckenden muß somit die ‚Tendenz‘ zum Rhythmus innewohnen, oder vielleicht kritischer: An alles sich in zeitlicher Erstreckung Darbietende muß das Kriterium der Rhythmizität anzulegen sein, alles zeitlich Dimensionierte unter der Voraussetzung, dass es rhythmisiert sei, betrachtet und unter dem Gesichtspunkt dieser Voraussetzung ‚verstanden‘ werden.“48 Diese Position verhält sich agnostisch bezüglich der Frage, ob das ganze Weltall rhythmisch „ist“; sie hält lediglich fest, dass die Art und Weise, in der wir uns auf zeitliche Prozesse beziehen, diese als rhythmisch auffasst, und dass diese Auffassung nicht als Zurichtung eines für sich genommen neutralen Ablaufs gefasst werden muss. Vermutlich sind nicht alle dieser Rhythmen angemessen als gestisch zu beschreiben, und es erscheint sinnvoll, dann doch primär von menschlichen Ausdrucksformen auszugehen – ohne hier von vornherein eine allzu strikte Grenze zu ziehen. Die Musik ist insofern etwas Besonderes, als sie die rhythmische Gestaltung zeitlicher Prozesse nicht nur beiläufig betreibt, sondern ins Zentrum rückt und explizit macht und dadurch für die zeitliche Organisiertheit jeglicher Erfahrung sensibilisieren kann. Dass Joyces Stephen Dedalus von einer universalen Sprache spricht, kann man vielleicht so übersetzen: Gestisch-rhythmische Organisation ist das Grundprinzip 45 | Willard L. Koukkari u. Robert B. Sothern (Hg.), Introducing Biological Rhythms. A Primer on the Temporal Organization of Life, with Implications for Health, Society, Reproduction and the Natural Environment, New York 2006. 46 | Ludwig Klages, Handschrift und Charakter. Gemeinverständlicher Abriß der graphologischen Technik, in: ders., Sämtliche Werke Bd. 7, Bonn: Bouvier 1968, S. 285-540, hier 329. 47 | Richard Hönigswald, Vom Problem des Rhythmus. Eine analytische Betrachtung über den Begriff der Psychologie, Leipzig u. Berlin 1926, S. 37. 48 | Ebd.

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jeglicher menschlichen Äußerung, und in ihr finden alle Ausdrucksformen nicht nur ihren Ausgangspunkt, sondern auch den tiefsten Grund ihres Verständnisses. Dann aber stehen sie alle in einem elementaren Verhältnis zueinander, angesichts dessen man von einer universalen Übersetzbarkeit zu sprechen geneigt ist.49 An dieser Stelle kann, bei aller inhaltlichen Nähe, vom hier Ausgeführten aus widersprochen werden: Auch wenn Rhythmizität das sein mag, was die Erfahrung im ganzen prägt hat und alle ihre Ausdrucksformen insofern in den Horizont der Vergleichbarkeit rückt, so ist ihr Prinzip doch gerade nicht das Allgemeine, Übersetz- und Vergleichbare: Rhythmus als sich ereignende Form beschreibt das jeweils Spezifische. Die Pointe der Universalität des Rhythmus ist das Zerbrechen oder, weniger pathetisch, die unabsehbare Differenzierung des Universalen. Und auch wenn die beiden Orte nur wenige Hundert Meter voneinander entfernt sind, sind wir damit eher auf dem Weg zur Mecklenburgh Street als im Trinity College.

49 | Vgl. mit großer Skepsis vor vorschnellen Verallgemeinerungen und Universalisierungen Bernhard Waldenfels, Vom Rhythmus der Sinne, in: ders., Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Ffm 1999, S. 53-85.

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Typen posttonaler Rhythmik Claus-Steffen Mahnkopf Musik ist, dank der Reproduktionsmedien, heutzutage ein für Milliarden von Menschen alltäglicher existentieller Lebensbegleiter, und zwar weltweit und diesseits von ideologischen Differenzen. Vor allem die populäre Musik hat sich in diesem Sinne durchgesetzt. Es sind zwei Gründe, warum dieser Erfolg möglich wurde. Zum einen der Klang, die schiere Möglichkeit, die Stille zu übertönen – das scheint ein weitverbreitetes Bedürfnis zu sein. Zum anderen die Vorherrschaft des Rhythmischen in dieser Musik vor allen anderen musikalischen Eigenschaften wie Form, Melodik und Harmonik. Die von der westlichen Welt kommende populäre Musik im 20. und 21. Jahrhundert zeichnet sich vor allen anderen – geschichtlichen und geographischen – Typen von Musik durch den Einsatz des Schlagzeugs aus, welches den Grundschlag, den Beat, das Metrum, den Rhythmus über das hinaus, was an der Musik an und für sich rhythmisch ist, noch eigens betont. Rhythmik ist somit ebenfalls ein elementares Bedürfnis. Sonst hätte sich dieser Einzelaspekt von Musik nicht derart verselbständigt. Freilich hat sich dieser Mainstream auf eine sehr einseitige Rhythmik konzentriert, den gleichbleibenden zweiwertigen Beat, das Bumbum, das wie eine Ticktack-Uhr den Verlauf der Zeit selbst eigens markiert. Eins-zwei, eins-zwei, eins-zwei – und das verlängert bis in die Unendlichkeit – ist offenkundig das alles vorherrschende rhythmische Prinzip, dem gegenüber alles Höherstufige: ungerade Unterteilungen, Unregelmäßigkeiten, Mehrfachschichtung, syntaktische Hierarchien, Agogik, mithin lebendige Mikrorhythmik verdrängt, marginalisiert, ja weitgehend vergessen wird.1 Der folgende Beitrag möchte einige Modelle für die ganze Komplexität des Rhythmischen in der Musik aufzeigen, und zwar in der Geschichte wie in der sogenannten neuen Musik. Er bezieht sich auf einige Aspekte (im weitesten Sinne) atonaler Rhythmik, wie sie sich in notationellen Problemen ausdrücken. Unsere These ist, dass es ein internes Verhältnis zwischen verschiedenen Typen rhythmischen Denkens und der Art und Weise gibt, wie dieses sich in der Notation niederschlägt; dabei ist Notation sowohl als die Fixierung einer Autoreninten1 | Vgl. hierzu die wichtige Studie von Eske Bockelmann, Im Takt des Geldes. Zur Genese modernen Denkens, Springe 2004.

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tion und damit einer bestimmten kompositorischen Denkhaltung als auch als die Anweisung an den Interpreten zu verstehen, Rhythmik im entsprechenden Sinne zu realisieren. Notation ist, wenn sie glückt, somit das Zeichensystem, das einen spezifischen musikalischen Sinn zwischen dem Kunstwerk und der aktualen Realisation definiert. Aus dem Pluralismus der rhythmischen Optionen des 20. Jahrhunderts seien drei – prominente – Typen herausgegriffen. Was hier infolge des der neuen Musik eigenen reflexiven und experimentellen Wesens thematisiert und – durchaus im Sinne einer Vereinseitigung – auf den Punkt gebracht wird, greift auf einige Spuren zurück, welche die Bewältigung avancierter Probleme in der tonalen Ära hinterließ. Mit Beispielen aus ihr sei an diese erinnert. Bsp. 1: Prélude des Premier Livre de Pièce de Clavecin von Jean-Philippe Rameau, Anfang

Das Prélude des Premier Livre de Pièce de Clavecin von Jean-Philippe Rameau (Bsp. 1) ist „senza misura“ komponiert. Wo Taktstriche fehlen, könnten die weitgehend regelmäßigen Ganzenoten als Orientierung fungieren, gäbe es nicht Irregularitäten und Inkonsistenzen – wie der zehn Achtel umfassende Oktavgang innerhalb von nur acht Achteln, die von der in der rechten Hand angezeigten Ganzenote (a) vorgegeben werden, wie die Gleichzeitigkeit von Ganzenote und zwei Vierteln (b) –, die indizieren, dass die Rhythmik insgesamt, d.h. die rhythmischen Gestalten der jeweiligen morphologischen Gruppen, frei, „inegal“ auszuführen sind. In der Cavatina aus Beethovens Streichquartett op. 130 findet sich eine Stelle, die berühmt ist, weil sie mit „Beklemmt“ überschrieben ist. Über regelmäßiger 9/8-Begleitung tastet sich die Linie der Ersten Violine in Synkopen und quartolisierten Melodiefetzen vorwärts (Bsp. 2). Man spürt genau, wie Beethoven versucht, eine Artikulation gegen die Strenge und Wohlgeordnetheit des Taktschemas zu finden.

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Bsp. 2: aus Ludwig van Beethoven, Streichquartett op. 130, Cavatina

Bsp. 3: Frédéric Chopin, Nocturne op. 9 Nr. 1, Beginn

In Chopins Klavierwerk begegnet man immer wieder rhythmischen Figuren mit relativ komplizierten numerischen Unterteilungen, die für ihre Zeit exzeptionell waren. Bsp. 3 zeigt den Beginn des Nocturne op. 9 Nr. 1, in dem über fließenden Achteln in einer 11:6-Proportion die Melodie der ersten beiden Takte variiert wird. Eine solche Notation ist avanciert. Hinzu tritt – und dies ist nicht notiert, aber intendiert –, dass jede Stimme agogisch, d.h. mit kleineren flexiblen Binnentemposchwankungen, also „rubato“ zu spielen ist. Was Rameau durch „senza misura“ für die Dauer eines ganzen Präludiums anstrebt, wiederholt sich in diesem Beispiel bei einem Phrasenabschnitt. Notierte man, was ein Chopininterpret faktisch spielt, man käme zu einem Resultat, das den Vergleich mit den rhythmisch kompliziertesten Partituren der Gegenwart nicht zu scheuen braucht.

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Wie sehr mitunter Komponisten an die Grenzen des notationell Üblichen, ja Möglichen, weil vom Taktsystem Vorgegebenen, gleichsam anrennen, beweist eine Fußnote aus Wagners Siegfried-Partitur, die sich auf die Stimme des Waldvogels am Ende der Zweiten Szene des II. Akts bezieht. „Die vorangehenden 9 Achtel sollen als 3 Triolen auf die ersten zwei Drittheile des Taktes in der Weise genommen werden, dass der Gesang mit der letzten Note des Tacktes jedesmal genau auf das dritte Theil desselben fällt; ebenso gilt diess bei dem folgenden 4/4 Takt, wo die 3 ersten Viertel als Triolen zu zwei ersten Takttheilen des begleitenden 9/8 stimmen sollen.“ Das grenzt an Unverständlichkeit. Ein Blick in die Partitur (Bsp. 4a) klärt nicht vollends auf, weil Wagner im besagten 4/4-Takt – dieser bleibt in Wahrheit das, was er auch zuvor war, nämlich ein 3/4-Takt – die rhythmischen Verhältnisse, berechnet man sie genau, falsch setzt. Bsp. 4b zeigt die Bereinigung dieses Fehlers und zugleich eine ‚moderne‘ Umschrift mit sekundärer x-tolen-Klammerung, die Wagner zu seiner Zeit noch nicht zur Verfügung stand. Bsp. 4a: Richard Wagner, aus Siegfried, 2. Szene des III. Akts

Bsp. 4b: moderne Umschrift

Bewegten sich die vorangehenden Beispiele strikt im Rahmen einer tonalen Rhythmik, gegen welche sie gleichwohl aufbegehren, so eröffnet die A-Tonalität – mithin der Wegfall einer metrischen Ordnung, der sich alle Parameter der tonalen Grammatik unterzuordnen hatten – die Durchforschung des Felds des Möglichen prinzipiell nach allen Richtungen. Dabei gibt es im 20. Jahrhundert zwei gegensätzliche Tendenzen. In der einen wird der Rhythmus immer genauer, in der anderen immer freier notiert, was im letzteren Falle bis zu seiner völligen Unbestimmtheit führen kann. Was dies für das komplexe Geflecht des Rhythmus insgesamt bedeutet – dazu zählen auch Form, Syntax, Metrum, Puls, Unterteilungen

Typen posttonaler Rhythmik

aller Art, aber auch das Tempo –, führte an dieser Stelle zu weit. Statt dessen seien drei Grundtypen exakter Notation – space notation und indeterminierte Rhythmik seien ausgeklammert – in phänomenologischer Absicht angesprochen, die zugleich drei Typen des musikalischen Denkens in Rhythmen darstellen. Diese sind irregulärer Puls (1), Denken in reinen Dauerwerten (2) und mensural-proportionale Notation (3). Bsp. 5: Beginn der Danse sacrale aus Le Sacre du Printemps von Igor Strawinsky

1) Wie raffiniert die Rhythmik der tonalen Ära auch immer war, das Metrum und damit der Puls war in jedem Stück fast wie selbstverständlich vorgegeben und für die Dauer des Stück gleichbleibend. Es bedurfte schon außergewöhnlicher Umstände – wie etwa in Tristans Fieberwahn mit seinem Zweier- und Dreier-Einheiten abwechselnden 5/4-Takt –, wenn die Konstanz des Pulses unterbrochen werden sollte.2 Strawinsky brach – wie kein zweiter – mit solcher Regelmäßigkeit. Le Sacre 2 | Ein anderes Beispiel ist der erste Satz aus Beethovens Fünfter Symphonie. 'DMHGHU7DNWHLQHP6FKODJHQWVSULFKW DEHULQ+DOEHQ]XGLULJLHUHQ OLHJW² DQDORJ GHQ6WUDZLQVN\EHLVSLHOHQ ² HLQH $GGLWLRQ YRQ (LQ]HOZHUWHQ YRU GLH VLFK GXUFKGLHPRWLYLVFKH(QWZLFNOXQJ]X7DNWJUXSSHQ²XQGGDVKHL‰WLQGLHVHP)DOO ]XPHWULVFKHQ3KlQRPHQHQ²DOOHUHUVWNRQILJXULHUHQ+LHUOLHJWHLQIUKHUZHQQ nicht der erste Fall für eine rhythmisch-metrische Ordnung vor, die nicht durch die Taktvorschrift gesetzt ist, sondern sich erst durch den konkreten musikalischen Verlauf definiert: sich entwickelnd und individuierend. Das heißt aber auch und in Analogie zu Strawinsky, dass Beethoven irreguläre Taktgruppierungen zu komponieren vermag, die in einem ansonsten zweiwertigen Metrum unmöglich wären. Bewusstseinsgeschichtlich ist der erste Satz der Fünften aus zwei Gründen exzeptionell: Die Zeitstruktur, die einst einem a priori gegebenen metrischen Muster überantwortet war, wird aus subjektiver Freiheit buchstäblich komponiert,

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du Printemps ist ein frühes und berühmtes Beispiel für eine Regelmäßigkeit gerade nicht gestattende Rhythmik. Beispiel 5 ist ein Exzerpt des Beginns der Danse sacrale.3 Deutlich erkennbar ist die fast von Takt zu Takt wechselnde Taktvorschrift, deren Schriftbild sich bereits oberflächlich betrachtet von der Tradition absetzt. Wir erkennen beim zu dirigierenden Puls von Achteln (das Tempo lautet: 126 Achtel pro Minute) Takte mit unterschiedlicher Länge in Achteln – zwei Achtel und ein Achtel – sowie, und das ist in diesem Zusammenhang wichtiger, Takte unterschiedlicher Länge auf Sechzehntelbasis berechnet: nämlich Takte mit 3 und später 5 Sechzehnteln. Diese Takte werden bewusst unsystematisch durchmischt, so dass sich kein übergeordnetes Metrum mit einer dann gewissermaßen großräumigen Regelmäßigkeit einstellen kann. Die Morphologie dieses verzerrten und körperlich aufgeheizten Tanzes zeigt mit den Bassakzenten auf der Eins der Takte, den Bläsereinwürfen und der antiphonischen Reaktion der Streicher übertrieben starke Synkopeneffekte, die derart vorherrschen, dass man von Synkopen im traditionellen Sinne nicht mehr sprechen kann, die ja Akzente gegen einen gleichbleibenden Grundakzent bedeuten. Strawinsky hingegen strebt bewusst eine kalkulierte Unberechenbarkeit auf seiten des Hörers an: Die Eins ist zwar mitunter betont; wie lange der Takt dauert, wie viele ‚Gegenakzente‘ folgen werden, entzieht sich jedoch der hörenden Antizipation. Statt dessen wird der Hörer mit unterschiedlichen Taktlängen und damit mit unterschiedlichen Innenfüllungen konfrontiert. Dabei muss er mit etwas rechnen, was in der Tradition eigentlich ausgeschlossen war, nämlich dem, was man die Wirkung des halben bzw. anderthalbmal so langen Schlags nennen könnte. Ein 3/16-Takt bedeutet nämlich angesichts des Tempos nicht, dass der Dirigent nun einen Dreier schlägt, sondern diese Taktvorschrift ist in Wirklichkeit ein rhythmisches Phänomen, nämlich ein Schlag, der, bezogen auf die Grundeinheit eines Achtels, um die Hälfte länger ist. Bewusst sind die Takte mit Sechzehntelangaben (d.h. mit einem oder mehreren Achteln plus ein halbes Achtel) gleichsam zufällig verstreut, so dass die ungleichen Pulslängen körperlich als Ruck und Stoß unausweichlich hörbar und erlebbar werden. Strawinskys Prinzip ist dabei, um zusammenzufassen, die Addition auf metrischer Ebene, die Aneinanderreihung ungleicher Einheiten (Taktlängen) bei gleichbleibendem, durchlaufendem Grundwert, der kleiner ist als der Schlag (hier das Sechzehntel). Das zweite Strawinsky-Beispiel zeigt die Überlagerung verschiedener regelmäßiger und unregelmäßiger metrischer Muster: Ziffer 10 und 11 aus der Marche du Soldat der Histoire du Soldat. Drei Linien sind übereinandergelagert: a) die Melodie in wechselnden Takten (3/8, 2/4, 3/4 in Durchmischung), zum anderen entstehen dabei rhythmisch-metrische Phänomene, die erst in der QHXHQ²DWRQDOHQ²0XVLNP|JOLFKVHLQZHUGHQ 3 | Für eine ausführliche Analyse der Rhythmik dieses Werks vgl. Pierre Boulez, Strawinsky bleibt, in: ders., Anhaltspunkte. Essays, Kassel 1979.

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b) regelmäßige Begleitfiguren in den Streichern von der Länge von 4 Achteln (als handelte es sich um einen 2/4-Takt), c) im Schlagwerk Figuren von 7 bzw. 8 Achteln Länge mit folgendem Schema: (6) 7 7 8 8 7 7 8 8 7 7, wobei die Orientierung erschwert wird, weil mit einer um die ersten beiden Achtel verkürzten Achtergruppe (6) begonnen wird. Beispiel 6 zeigt die rhythmische Schichtung. Bsp. 6: Igor Strawinsky, Histoire du Soldat, Marche du Soldat, Ziffer 10 und 11

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Bsp. 7: Olivier Messiaen, Mode de valeurs et d’intensités, Beginn

2) Additives Denken – in Reinkultur und gleichsam systematisiert – liegt dem ersten seriellen Werk zugrunde, der Mode de valeurs et d’intensités von Olivier Messiaen (Bsp. 7). Das Material dieses Klavierstücks, das aufgrund seiner Dreistimmigkeit konsequent auf drei Systemen notiert ist, besteht aus drei Modi, die je aus den 12 verschiedenen Tönen in fixierten Oktavlagen bestehen. Abweichend von der Zwölftontechnik der Wiener Schule gibt es keine Transpositionen und Spiegelungen. Die Töne sind an ihren Registerort, nicht aber an eine starre Reihenfolge gebunden. Diese Fixierung des Tonhöhenparameters an Ortspunkten des Klangraums verführte Messiaen zur konsequenten Ausweitung der Fixierungsidee auf die übrigen Parameter, nämlich auf die Lautstärken (intensités) – deren sieben – und auf die Artikulationen (attaques) – deren zwölf. Des weiteren festzustellen und in unserem Zusammenhang relevant ist die Fixierung einer jeweiligen exakten Dauer eines jeden Tones, die für jedes Auftreten im Stück unverändert bleibt. Gemäß der Zwölfzahl addiert Messiaen Zweiunddreißigstel, Sechzehntel und Achtel zu Dauern (mit 1 bis 12 von ihnen), die er innerhalb der drei Modi den Tönen zuordnet, so dass nun jeder Ton durch die vier Parametern gleichsam individualisiert, mit einem eigenen Gepräge versehen wird. Diese Konstanz allein mag hierbei die innere Einheit des Stücks gewährleisten, die trotz des dreistimmigen cantus-firmus-Charakters wohl eher eine klanglich-harmonische ist. Von Rhythmus im traditionellen Sinne kann nicht gesprochen werden, auch nicht im Sinne des Strawinsky-Beispiels, das in seiner Hierarchie noch vergleichsweise traditionell ist. Das Metrum bei Messiaen entfällt komplett – die Taktstriche dienen nur der Orientierung beim Spielen. Akzentbildungen und hierarchische Unterteilungen sind somit nicht möglich. Der ‚Rhythmus‘, oder was als solcher erscheint, ist nichts als die Abfolge, also die trennende Addition von reinen Dauern, die für sich stehen, weil die Dauereigenschaft an den Ton im Sinne einer Individuierungsinstanz gebunden ist. Zwei Dauern folgen zwar zwangsläufig aufeinander, wollen aber nicht – wie sonst bei Rhythmen im traditionellen Sinne – als Zusammengehöriges, als Gestalt, als kleines Motiv verstanden werden. Messiaen komponiert die rhythmische Utopie, dass der Interpret und wohl auch der Hörer ein sensibilisiertes Gehör

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für den Eigenwert einer Dauer gewinnen möge – so wie uns dies im Bereich der Diastematik (zumal bei Intervallen) geläufig ist. Ob dies wirklich gelingt oder der Hörer nicht doch wieder, zumal im mehrstimmigen Satz, nach übergeordneten Zusammenhängen, nach kleinen rhythmischen Keimen, die sich in der Diagonale ergeben, sucht, scheint mir eine müßige Frage zu sein. Die Erfahrung der Dauer, die Messiaen am Anfang des seriellen Denkens gleichsam in Reinform vorführt, ist ein unverzichtbarer Bestandteil der weiteren musikalischen Entwicklung geworden, auf die die Komponisten ganz unterschiedlich reagierten. Bsp. 8: aus dem Virelai „Je prend d’amour noriture“

3) Der dritte Typus ist der eines ‚fortgeschrittenen‘ mensural-proportionalen Denkens, das heute von der komplexistischen Musik gepflegt wird.4 Dessen Tradition reicht bis in die ars nova zurück, die die Mensuralnotation entwickelte, deren Prinzip darin besteht, zeitliche Einheiten als teilbar und deren Teile als wiederum 4 | Vgl. Claus-Steffen Mahnkopf, Complex Music: Attempt at a Definition, in: ders. HW DO +J  3RO\SKRQ\  &RPSOH[LW\  1HZ 0XVLF DQG $HVWKHWLFV LQ WKH VW Century, vol. 1), Hofheim 2002.

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teilbar zu betrachten. Mensuren werden in bestimmten Proportionen unterteilt, und deren Unterteilungen sind wiederum in bestimmten Proportionen unterteilbar. Der Regelfall ging von zwei- und dreifachen Unterteilungen aus (sowie deren Multiplikationen: vier-, sechs-, acht- und neunfache). Die ars subtilior, die avantgardistische Spätphase der ars nova, befleißigte sich, mittels notationeller Sondersysteme, auch anderer Proportionen (x:y), denen, zumindest in der Theorie, keine Grenzen gesetzt wurden. Das Virelai Je prend d’amour noriture5 aus dem zypriotisch-französischen Repertoire der ars subtilior ist ein Muster- und zugleich Ausnahmebeispiel für solche ‚hybride‘ Proportionen, zumal wenn sie in folgender Massierung auftreten: 9:8 (bezogen auf die heutige Achtelnote), 4:3 (bezogen auf die heutige Achtelnote), 3:2 (bezogen auf die heutige Achtelnote), 3:2 (bezogen auf die heutige Sechzehntelnote), 5:3 (bezogen auf die heutige Achtelnote), 5:3 (bezogen auf die heutige Viertelnote), 5:4 (bezogen auf die heutige Sechzehntelnote), 7:4 (bezogen auf die heutige Sechzehntelnote), 3: 4 (bezogen auf die heutige Achtelnote), 7:6 (bezogen auf die heutige Sechzehntelnote), 5:4 (bezogen auf die heutige Achtelnote), 5:3 (bezogen auf die heutige Sechzehntelnote)6 (Bsp. 8 zeigt eine Umschrift des Cantus in den Takten 13-34). Auffällig ist dabei, dass der anonyme Komponist das „tempus imperfectum cum prolatione perfecta“ (es entspricht dem heutigen 6/8-Takt) unterläuft, indem er es zuweilen als „tempus perfectum cum prolatione imperfecta“ (entspricht dem heutigen 3/4-Takt) behandelt, ja vor irregulären Neueinteilungen (4/8 + 8/8) nicht zurückschreckt. Bsp. 9: aus der Ballade „Puis que amé sui doulcement“

5_,Q &00  &RUSXV 0HQVXUDELOLV 0XVLFDH    7KH &\SULRW)UHQFK 5HSHUWRU\RIWKH0DQXVFULSW7RULQR%LEOLRWHFD1D]LRQDOH-,, 9ROXPH,9 9LUHODLV and Rondeaux), Richard H. Hoppin (Hg.), Rome: America Institute of Musicology 1963, S. 53 f. 6 | Die Proportion 8:9 (bezogen auf die heutige Achtelnote) kommt im weiteren Verlauf dieser Virelai vor.

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Was einem agogisch auskomponierten Melisma gleicht, wird in seiner Kompliziertheit („Subtilität“) erst im polyphonen Kontext der anderen Stimmen vollends verständlich. Beispiel 9 zeigt einen Ausschnitt aus der Ballade Puis que amé sui doulcement.7 Die strukturelle Nähe zur neuen Musik nach 1945 wird sichtbar: Denn das Prinzip mehrfacher proportionaler Unterteilungen von als solche definierten Zeiteinheiten liegt allen komplizierteren x-tolen-Klammerungen in neuester Musik zugrunde.8 An meiner eigenen kompositorischen Arbeit seien abschließend einige Aspekte einer solchen Rhythmuskonzeption erläutert. Bsp. 10: Claus-Steffen Mahnkopf, La terreur d’ange nouveau9, T 1

Beispiel 10 zeigt den ersten Takt des Flötenstücks La terreur d’ange nouveau (aus dem Angelus-Novus-Zyklus), das weitgehend aus verschiedenen motivartigen Figuren besteht, deren einige in diesem ersten Takt vorkommen: t Figur 5: gleiche, schnelle, repetitive Impulse mit einem oder mehreren Tönen, t Figur 1: längerer Ton, der sehr leise beginnt, stark crescendiert und von zwei kurzen Tönen beantwortet wird, t Figur 3: zickzackförmig mit weiten Sprüngen, t Figur 7: Triolenkette, t Figur 11: Figur mit n Tönen mit besonderer Spieltechnik (Flatterzunge, Crescendo und Übergang von luftigem zu normalem Ton). Die Verteilung der Figuren auf die Takte und deren relative Länge (d.h. auch: Anzahl der Töne) werden von strengen numerischen Prozessen bestimmt, die an dieser Stelle nicht interessieren. Im Kontext unserer Ausführungen ist entscheidend, dass die Figuren aufgrund ihrer Morphologie bereits eine bestimmte 7_,Q&00 &RUSXV0HQVXUDELOLV0XVLFDH  7KH&\SULRW)UHQFK5HSHUWRU\ RI WKH 0DQXVFULSW 7RULQR %LEOLRWHFD 1D]LRQDOH -,,  9ROXPH ,,,  %DOODGHV  Richard H. Hoppin (Hg.), Rome: American Institute of Musicology 1963, S. 43 f. 8 | Aber auch schon bei Ives, Skrjabin, Strawinsky und Berg. 9 | Abbildung der Beispiele 10-12: © Musikverlag Hans Sikorski GmbH & Co KG, Hamburg.

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Rhythmik nahelegen. Figur 7 beispielsweise besteht aus Triolen, die von kürzeren Pausen abgesetzt sind, was zu einer doppelten Triolisierung führt. Die beiden Großklammern (7:6 und 5:3) werden von der Überlegung geleitet, wie ein Takt mit relativ vielen Schlägen flexibilisiert werden kann. Bestimmte Klammerungen ergeben sich aus agogischen Gründen (die erste Figur, eine Quintole, wird, da sie aus fünf Tönen besteht, nochmals quintolisiert, damit sie etwas rascher ausfällt), bestimmte Klammern (etwas die Großquintole unter 7:3 sowie die 5:3-Klammer und die Großtriole unter der 5:3-Klammer auf den letzten drei Schlägen) dienen dazu, die einzelnen Figuren bzw. Figurgruppen rhetorisch mit ausreichend langen Pausen voneinander abzusetzen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die komplexe Proportionierung das Ergebnis mehrerer rhythmischer Aspekte ist: der Eigenmorphologie der Figuren, von Agogik, Impulsschwankungen im Takt und der Figurgruppierung. Wird ein solcher Takt einmal mechanisch perfekt, etwa von einem Computer, ausgeführt, so klingt er bezeichnenderweise nicht künstlich, starr und mechanisch, sondern ‚natürlich‘ und musikalisch. Die komplexe Notation führt somit gerade nicht, wie häufig missverstanden, zu einem ‚technischen‘ Ergebnis, sondern zu einem, auf das auch Chopins Beispiel abzielt: zu zeitlicher Biegsamkeit trotz der Prägnanz der Eigenrhythmik der Figuren. Der Interpret, der sich, im Laufe der Einstudierung, jenem ‚perfekten‘ Ideal annähert, indem die beschriebenen Schichten und Aspekte rekonstruiert werden und dabei deren Sinn erfasst wird, wird zwangsläufig zu einem individuellen, leicht abweichenden Ergebnis gelangen. Das ist aber intendiert – wie bei aller interpretierten und nicht nur realisierten Musik. Geht es diesem Beispiel um das nur approximativ erreichbare Ideal einer verlustfreien Umsetzung aller rhythmischen Informationen, so zeigen die beiden folgenden Beispiele, wie dies genau konterkariert werden kann. Beide Beispiele stammen aus jenen zwei Stücken, die in einem zyklischen Zusammenhang mit dem Flötenstück stehen: Sie arbeiten mit den gleichen oder ähnlichen Figuren und sind nach den gleichen numerischen Prinzipien gebaut. Bsp. 11: Claus-Steffen Mahnkopf, Le rêve d’ange nouveau, Takt 106/107

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Beispiel 11 zeigt eine Kombination einer exakten, ‚komplexen‘ Rhythmusnotation mit deren Gegenteil: Die klein gedruckten Noten sind ‚frei‘ zu nehmen, einmal so schnell als möglich (durchgestrichener Balken), das andere Mal in ‚persönlicher‘ Rhythmik, um einen in sich reichen und individuellen Pedalklang aufzubauen.10 Bsp. 12: Claus-Steffen Mahnkopf, La vision d’ange nouveau, Takt 48

Eine der Ideen des Cellostücks La vision d’ange nouveau ist die Notation von bis zu drei Ebenen und somit bis zu drei rhythmisch simultanen Schichten.11 Jede Schicht ist in sich hoch individuiert (man vergleiche in Bsp. 12 die obere und untere Linie) und wird immer dann unterbrochen, wenn in einer der beiden anderen Schichten ein neuer Ton erscheint, zugunsten dessen die gerade erklingende verlassen wird (es sei denn, reale Zweistimmigkeit ist vorgesehen); angezeigt wird die Unterbrechungstechnik mit den vertikalen Hälsen, die wie Vorschlagsnoten aussehen. Da die Schichten untereinander in einem ‚irrationalen‘ Verhältnis stehen, ist das rhythmische Gesamtresultat nicht in einer Linie notierbar und auch nicht exakt zu antizipieren; denn die Sprünge gehen mitunter so schnell vonstatten, dass die individuelle Spielerreaktion bzw. die gerade vorgeschriebene Spieltechnik, mithin pragmatische Aspekte, den realen rhythmischen Verlauf bestimmen, wenn auch auf der Grundlage des Notierten bzw. von der Maxime seiner utopisch perfekten Umsetzung. Dieser Fall von Rhythmusnotation ist meinem Verständnis nach dekonstruktiv.12 Jede Schicht wird von dem zugleich Notierten zerstört, aber nicht gänzlich, 10_9JO6RSKLH0D\XNR9HWWHU'LH6LQQOLFKNHLWGHVࡐ6LULGHILQLHUH'ULWWH 0RGHUQH´ ² ࡐZlKOH 0DKQNRSI´ LQ )HUGLQDQG =HKHQWUHLWHU +J  'LH 0XVLN YRQ Claus-Steffen Mahnkopf, Hofheim 2012. 11_9JO)UDQNOLQ&R[ࡐ/DYLVLRQG¶DQJHQRXYHDX´E\&ODXV6WHIIHQ0DKQNRSILQ Zehentreiter (Hg.), Die Musik von Claus-Steffen Mahnkopf (Anm. 10). 12 | Vgl. Claus-Steffen Mahnkopf, Der Strukturbegriff der musikalischen Dekonstruktion, in: ders., Die Humanität der Musik. Essays aus dem 21. Jahrhundert, Hofheim 2007.

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eher fragmentiert, so dass sie bruchstückhaft (je nach morphologischem Profil der einzelnen Linien) zumindest durchscheint. Und zugleich entsteht eine übergeordnete, neue, vierte rhythmische Linie, die insofern virtuell ist, als sie nicht notierbar ist und doch im exaltierten Versuch des Spielers, allen Linien gleichermaßen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, zu expressiver Präsenz gelangt. Stellt die komplexe Rhythmik, die im späten Mittelalter bereits früh ausgereift war, zunächst einen Versuch dar, in strikter Atonalität ein Äquivalent für die Mehrschichtigkeiten der tonalen Rhythmik zu kreieren und dabei die agogischen, interpretativ flexibilisierenden Aspekte (wie die Beispiele von Rameau bis Wagner gezeigt haben) zu ‚retten‘, so ist sie – am Beginn des 21. Jahrhunderts – an einen Punkt später Vollendung gelangt, der seinerseits nur noch in dekonstruktiver Absicht überboten werden kann. Dann aber kommen – hinterrücks – Aspekte wieder ins Spiel, die wir aus der indeterminierten, aleatorischen Notationspraxis kennen, freilich ohne deren Moment der Beliebigkeit und mangelnden Spezifikation übernehmen zu müssen. * Nun könnte man die hier skizzierten rhythmischen Phänomene als Ausdruck von hochspezialisierten musikalischen Kulturen betrachten, als Extrempositionen, die es zwar auch gibt, die aber an den eingangs angeführten existentiellen Bedürfnissen des – weidlich Musik konsumierenden – Menschen von heute vorbeigeht. Das wäre aber zu kurz gedacht. Abgesehen davon, dass Chopin, Wagner und der Sacre von Strawinsky feste Größen der Kultur sind, die sehr alte Musik immer stärker geschätzt wird und auch die neue Musik vermehrt Neugierde auf sich zieht, wäre es eine fatale Fehleinschätzung, solche – zugegebenermaßen anspruchsvolle – Rhythmik als eine bloß abstrakte Möglichkeit zu betrachten. Denn all diese Rhythmik ist gleichfalls Ausdruck des Menschen, seiner Existenz, seines Körpers, seines Zeitempfindens, ja seiner Rhythmik. Betrachtet man die Rhythmik der menschlichen Existenz außerhalb der Musik, sprich in Sport, Lebensführung, Körperverhalten, Intimleben, Spiel usw., dann wird nachgerade deutlich, dass der zweiwertige Beat, das Bumbum, das heute in Techno und der über Metronombändern synchronisierten Popmusik seinen elementarsten, man kann auch sagen: primitivsten Ausdruck erfährt, geradezu eine Verdinglichung des Menschen und seiner Ausdrucksmöglichkeiten darstellt: dessen Reduktion auf eine ziemlich einfache Maschine.

Phänodramen oszillierender Membranen Inge Hinterwaldner

E INLEITUNG: R HYTHMUS

UND

WELLEN

Der Linguist Émile Benveniste zeigt sich unzufrieden mit der verbreiteten Interpretation, die für Rhythmus die griechische Wortwurzel ‚fließen‘ angibt und dabei die Wortbedeutung auf die ‚regelmäßige Bewegung der Wellen‘ zurückführt. Seiner Meinung nach lässt sich eine semantische Verbindung nicht nachweisen und daher war es seiner Meinung nach „nicht bei der Betrachtung des Wellenspiels am Strande, daß der primitive Hellene den ‚Rhythmus‘ entdeckt hat, wir sind es im Gegenteil, die eine Metapher benutzen, wenn wir heute vom Rhythmus der Wellen sprechen.“1 Die Schriften analysierend kommt Benveniste zum Schluss, dass der Naturphilosoph Demokrit (5. Jh. v. Chr.) damit eine besondere Art der Form meint, die auf Entitäten passt, welche in Abhängigkeit der Anordnung ihrer Teilchen flexibel sind. Das ‚Fließen‘ scheint unter dem Vorzeichen seines atomistischen Materialismus das geeignetste Wort gewesen zu sein, „um ‚Dispositionen‘ oder ‚Formen‘ ohne Festigkeit oder natürliche Notwendigkeit, Resultate einer immer der Veränderung unterworfenen Anordnung zu beschreiben.“2 Quasi als Illustration für ein permanentes Umsortieren von ‚Atomen‘ kann hier eine Klangfigur (Abb. 1) dienen, die nie zur Ruhe kommt, d.h. ständig eine multipolare Stabilisierung aktualisiert und nur bei bestimmten Frequenzen und Materialien gegeben ist. Man erkennt in der Fotografie noch, wo sich kleine Wirbelbildungen ergaben. „Interessant ist die Erscheinung, bei denen der Sand nicht ruhig liegen bleibt, sondern entlang der Knotenlinien ständig wandert und strömt. Hier bleibt, 1 _ePLOH%HQYHQLVWH'HU%HJULIIGHVࡏ5K\WKPXV¶XQGVHLQVSUDFKOLFKHU$XVGUXFN in: ders., Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, München 1974, S. 363374; hier: S. 373; vgl. auch S. 364. 2 | A.a.O., S. 371.

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wie bei den Wellen eines Flusses, trotz ständigen Wechsels und Weiterfließens der Substanz eine konstante Form bestehen. […] Der Vergleich von strömenden Formen und ruhenden enthüllt das Unregelmäßige, aber auch Dynamische des einen Formtyps, welchem eine eher streng-geometrische Ordnung im anderen Fall gegenübersteht.“3 Abb. 1 (l.): Alexander Lauterwasser: Ständig strömende Form, 1999. Abb. 2 (r.): Alexander Lauterwasser: ‚Ruhende‘ Klangfigur, 1999.

Quelle: Alexander Lauterwasser, Wasser Klang Bilder. Die schöpferische Musik des Weltalls, Aarau 2002, S. 48, Abb. 18 (Abb. 1) und Abb. 16 (Abb. 2). Photo und Copyright Alexander Lauterwasser www.wasserklangbilder.de

Im Vergleich mit Abbildung 2 wird deutlich, dass wir es mit zwei verschiedenen Arten von Klangfiguren zu tun haben. Letztere beschrieb erstmals der romantische Naturforscher Ernst Florens Friedrich Chladni (1756-1827) u.a. in seinen Schriften „Entdeckungen über die Theorie des Klanges“ (1787) und „Die Akustik“ (1802). Durch seine Experimente, bei denen er eine bestreute Metallplatte mit einem Violinbogen in Schwingung versetzte und damit ertönen ließ, gelangte Chladni schließlich zu Berühmtheit, weil sich dadurch ungeahnte Formationen offenbarten. Er inspirierte damit Generationen von Wissenschaftlern nach ihm. Dazu zählt auch der Dornacher Arzt Hans Jenny (1904-1972), der zeitgemäß mit einer elektroakustischen Zurüstung experimentierte. Ihm nachfolgend führt Alexander Lauterwasser bis heute die Systematisierung der Klangfiguren fort. Eine Detailaufnahme aus dem Fundus Jennys (Abb. 3) vermag das permanente fließende Umhergleiten der Körnchen (Lykopodium, 8500 Hertz) ebenso anzudeuten. Wir sehen, dass an den Enden der Bögen jeweils Bärlappsporen abfließen 3 | Alexander Lauterwasser, Wasser Klang Bilder. Die schöpferische Musik des Weltalls, Aarau 2002, S. 48.

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und ins Innere der Nachbarbögen münden. So speisen sich die Konfigurationen gegenseitig und weisen auch innerhalb ihres Hufeisenbogens einen Fluss von der Mitte zu den Seiten hin auf. Der Bewegung nach kreisen die Partikel in Ovalen, auch wenn im Visuellen andere Strukturen dominieren. Jenny interessierte sich insbesondere für die Stadien zwischen den eigentlichen Klangfiguren: „Es treten Strömungen auf, der Sand wird fließend forttransportiert. Dabei besteht die Ordnung der Schwingungsfelder insofern weiter, als der Verlauf dieser Sandströme parallelisiert und im Gegensinn vor sich geht.“4 Der Wechsel von einer Ordnung zur nächsten wird später noch einmal aufgegriffen. Abb. 3: Hans Jenny: Lykopodium auf vibrierender Platte (25 x 33 cm; 0,5 mm Dicke), Frequenz 8500 Hertz. Detail.

Quelle: Hans Jenny, Kymatik. Wellenphänomene und Schwingungen, Baden/ München 2009, S. 28, Abb. 25.

Kehren wir zu Benvenistes Ausführungen zurück. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die Wortendung –(θ)μός [tmos], was ‚abstrakten‘ Wörtern eine spezielle Konnotation verleiht: „Sie gibt nicht die Vollendung des Begriffs an, sondern die besondere Modalität seiner Vollendung, so wie sie sich der Anschauung darbietet.“5 4 | Hans Jenny, Kymatik. Wellenphänomene und Schwingungen, Baden/München 2009, S. 20. 5_ePLOH%HQYHQLVWH'HU%HJULIIGHVࡏ5K\WKPXV¶XQGVHLQVSUDFKOLFKHU$XVGUXFN a.a.O., S. 370.

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Somit „bezeichnet ῥυθμός [rhytmos] nach den Kontexten, in denen das Wort auftritt, die Form in dem Augenblick, in dem sie angenommen wird durch das, was beweglich, bewegend, flüssig ist, die Form von dem, was keine organische Konsistenz besitzt: es paßt zu dem pattern eines flüssigen Elements […]. […] Es ist die improvisierte, momentane und veränderliche Form.“6 Die Welle könnte somit zumindest eine solche dynamische Form darstellen, wenn man Chladnis Definition dazu liest: „Die Welle ist kein Körper, sondern nur die Form einer Gesammtheit von Flüssigkeitstheilchen, in welcher sich successiv andere Theile vereinen, vorn eintretend und hinten austretend; sie ist also nur ein Fortrücken dieser Form.“7 Vor diesem Hintergrund scheint zum Thema Rhythmus nichts so gut zu passen, wie Anwendungen, in denen das akustische Signal ein fluides Medium in Wallung versetzt. Auch die künstlerischen Klanginstallationen, um die es im Folgenden geht, weisen eine ostentative temporale Komponente auf, wie es für einen musikalisch-zeitlichen Rhythmus unabdingbar ist. Zudem nimmt das Auf und Ab an der in diesen Beispielen vorkommenden Wasseroberfläche eine Gestalt an, die den Kunsthistorikern des 19. Jahrhunderts besonders prädestiniert schien, für einen visuellen Rhythmus zu stehen. Sie entfalteten das Konzept an Bilderrahmen8 oder noch öfter an Ornamentbändern und hoben dabei den organischen Schwung9 bzw. die Bewegungsevokation hervor – dies alles vereint der damit paradigmatisch angesehene so genannte ‚Wellenzug‘ bzw. die ‚Wellenlinie‘. Schließlich ergibt sich über das Fließen (im oben angeführten Sinne) etymologisch eine gewisse Plausibilität. 6_ePLOH%HQYHQLVWH'HU%HJULIIGHVࡏ5K\WKPXV¶XQGVHLQVSUDFKOLFKHU$XVGUXFN a.a.O., S. 370-371. 7 | Ernst Florens Friedrich Chladni, Wellenlehre, auf Experimente gegründet, oder über die Wellen tropfbarer Flüssigkeiten, mit Anwendung auf die Schall- und Lichtwellen, in: Archiv für die gesammte Naturlehre, Vol. 7, Nr. 1, Nürnberg 1826, S. 45-91; hier: S. 51. Es bedürfte an dieser Stelle eine genauere Untersuchung, ob nicht doch eine wesentliche Differenz vorliegt in dem Sinne, dass Demokrit von einer veränderlichen Form bei gleichen Atomen spricht und bei Chladni eine gleiche Form bei je anderen Atomen die Rede ist. 8 | Gottfried Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Aesthetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde, Bd. 1, Frankfurt am Main 1860, S. XXVII. 9 | Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, München 1911, bes. S. 71, 77-79; ders., Formprobleme der Gotik, München 1911; ders., Entstehung und Gestaltungsprinzipien der Ornamentik, in: Bericht des Kongresses für Aesthetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Berlin 7.-9.10.1913, Stuttgart 1914, S. 222-231, bes. S. 228. Vgl. auch Willy Drost, Die Lehre vom Rhythmus in der heutigen Ästhetik der bildenden Künste, Leipzig-Gautzsch 1919, S. 47, 53, 65.

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Nun hat der Vorsokratiker natürlich nicht das letzte Wort zum Rhythmuskonzept gesprochen. Von seinem beweglichen Formkonzept, das auf der Umsortierung von Atomen beruht, werden wir über Denker des 20. Jahrhunderts zu einer Auffassung zu kommen, wo der Rezipient die Instanz des Umsortierens ist.

D IE MULTIMEDIALEN K LANGINSTALLATIONEN ࡐ2 1'8/$7,21 ´ 81' ࡐ( $57+ ´ Bei der Arbeit „Ondulation“ (2002) von Thomas McIntosh, Emmanuel Madan und Mikko Hynninen (Abb. 4) handelt es sich um eine zeitbasierte Komposition für Klang, Wasser und Licht. Das Kollektiv, das auch unter dem Namen Plumbing for Beginners agiert, beschreibt seine Arbeit als ‚temporäre Skulptur‘. Sie besteht aus einem niedrigen, ca. 5 cm tief mit milchig gefärbtem Wasser bedeckten Becken. Bei variablen Maßen von bis zu 10 x 6 Metern benötigt man 2500 Liter Wasser, wobei das Wasser abfließen kann und ein unsichtbarer geschlossener Kreislauf dadurch gegeben ist, dass es eine konstante Wasserzuspeisung gibt. Unterhalb des mit einer weißen Plane abgedeckten Bereichs beherbergt das Bassin eine Audioanlage samt drei Lautsprechern (vgl. Abb. 5). In genau bestimmten Abständen zum Pool befinden sich circa 20 computergesteuerte Bühnenscheinwerfer. Eine hohe weiße Wand hinterfängt eine Längsseite des Beckens und dient als Projektionsfläche für die dezent farbene Illumination. Die gesamte Anlage befindet sich in einem halbdunklen Raum, sodass das Lichtspiel, das von den Lampen sowohl direkt als auch über eine Reflexion der Wasseroberfläche auf die Wand fällt, auch gut zur Geltung kommt. Die Beleuchtung taucht die Anlage mal großflächiger in ein diffuses warmes Dämmerlicht, oder schlägt – präzise wie ein Skalpell, so Nicolas Mavrikakis, – gleißend fokussierte Schneisen. Die Impulse der Tonquellen setzen das Wasser in Bewegung. Wenn in Bezug auf Klangkunst der Ton als „Form schaffendes Material“10 vorgestellt wird, ist dies sicher nicht immer so wörtlich gemeint, wie bei einer Übersetzung der longitudinalen Schall- in transversale Wasserwellen, oder in anderen Worten, von einem Vor und Zurück entlang der Ausbreitungsrichtung zu einem orthogonal dazu verlaufenden Auf und Ab.11 In Abhängigkeit vom Ton als Stimulans, ruht die Wasseroberfläche manchmal fast, dann wieder sprudelt sie förmlich. Solange Licht auf sie trifft, fungiert sie wiederum als flüssiger Spiegel und lässt über die Reflexionen auf der Projektionsfläche helikale Kurven leichtfüßig

10 | Bernhard Leitner, Sound:Space, Ostfildern 1998, S. 23. 11 | Donald Hall, Musikalische Akustik, Mainz 1997, S. 24, zit. n. Alexander Lauterwasser, Wasser Klang Bilder. Die schöpferische Musik des Weltalls, Aarau 2002, S. 28.

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tänzeln. „Jeder Klang findet seinen Ausdruck in Licht und Raum zugleich“12, als Kräuselwellen und Lichtarabesken.13 „Ondulation“ erzeugt über sparsame Mittel eine meditative, kontemplative Stimmung. Es handle sich um eine Fusion von Sinneserfahrungen, so McIntosh.14 Abb. 4: Thomas McIntosh, Emmanuel Madan, Mikko Hynninen: Ondulation, 2002. Installationsansicht.

4XHOOH6WLOODXVGHP«@´ 9JO Ernst Meumann, Untersuchungen zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus, in: Philosophische Studien, Vol. 10, 1894, S. 294-322 und 393-430, hier: S. 258.) =XP 6FKOLFKWHQ GHV 6WUHLWHV ]ZLVFKHQ GHQ 7KHRULHQ ² ZREHL HU VLFK DXFK DXI 0HXPDQQ EH]LHKW ² VHW]W .XUW .RIIND VHLQH H[SHULPHQWHOOH 6WXGLH LQ GHU HU LQ %H]XJDXIGLHELOGHQGH.XQVW]XP6FKOXVVNRPPWࡐ:LUPVVHQKLHUGDUDXIYHUzichten, […] Anwendungen auf den Rhythmus in den verschiedenen Künsten zu machen. Nur das eine sei bemerkt, daß nach dem Ergebnis dieser Studie von einem Rhythmus in den Raumkünsten in demselben Sinne wie in der Dichtkunst und Musik gesprochen werden kann. Konnten doch als sensorische Unterlagen von Gruppenbildungen und als Ausgangspunkt jener inneren Tätigkeit, die den Akzent und damit den Rhythmus bedingt, außer motorischen und akustischen Eindrücken und unabhängig von ihnen auch rein optische Eindrücke dienen. In den Raumkünsten finden wir dies z. B. verwirklicht bei der Wiederholung eines Ornaments in großer Ausdehnung. Das Auge schweift daran entlang und trifft immer von neuem dieselben Formen, dadurch wird dann der Rhythmus ausgelöst.

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sen47 „eine gewisse Skepsis, ob die Kategorie Rhythmus für die Bildende Kunst anwendbar sein könne. Denn in Kunst und Architektur handelte es sich um starre, nicht in Bewegung befindliche Objekte, die keinerlei periodische Zeitlängen markieren können.“48 Eine geänderte Auffassung von Sehen als sukzessives Schauen war für die Umdeutung des Begriffs im 19. Jahrhundert ausschlaggebend, so Anke Te Heesen. Ein zeitliches Nacheinander in der Rezeption einkalkulierend, begannen Kunsthistoriker wie August Schmarsow, Alois Riegl und Heinrich Wölfflin den Rhythmus auch auf einen simultanen Bestand zu beziehen.49 Der Philosoph und Psychologe Friedrich Jodl „definiert den Rhythmus […] als eine ‚Ordnung und Gliederung mannigfaltiger su[cc]essiver Eindrücke, welche die Zusammenfassung derselben erleichtert und als Ordnung eines sinnlich Mannigfaltigen Interesse erweckt, ohne zu ermüden‘50 und ist der Meinung, daß räumliche Gebilde [d.h. die Baukunst, IH] wohl zu ‚einer geordneten Sukzession von mannigfaltigen Oder aber die Ornamente können selbst etwas Bewegliches an sich haben und dadurch noch direkter das Mitmachen veranlassen, wie Wellenzüge. Da aber ein solches rhythmisches Ornament im allgemeinen nur einen Teil des Gesamtkunstwerkes ausmacht, so ist auch nicht zu erwarten, daß der Rhythmuseindruck von EHVRQGHUHU/HEKDIWLJNHLWVHLQZLUG´ .XUW.RIIND([SHULPHQWDO8QWHUVXFKXQJHQ zur Lehre vom Rhythmus, Diss. Uni Berlin, in: Zeitschrift für Psychologie, Vol. 52, 1909, S. 1-109, hier: S. 108-109). Allerdings leitet er diese Aussage von einer Versuchsreihe ab, in der ein blaues rundes Licht in unterschiedlichen Zeitintervallen aufleuchtete. Damit ist es zwar ein optisches Signal, aber ein manifest zeitlich organisiertes. Es kann bezweifelt werden, ob Koffka damit Meumann von der Eignung der Kategorie des Rhythmus für die Raumkünste überzeugt hätte. 47_(XJHQ3HWHUVHQ5K\WKPXV $EKDQGOXQJHQGHU.|QLJOLFKHQ*HVHOOVFKDIW der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, NV, Vol. 16, Nr. 5), Berlin 1917. 48 | Vgl. Anke Te Heesen, Das Muster als materialer Rhythmus, in: Barbara Naumann (Hg.), Rhythmus. Spuren eines Wechselspiels zwischen Künsten und Wissenschaften, Würzburg 2005, S. 261-277; hier: S. 269. 49 | Anklänge dafür findet man schon bei Friedrich Wilhelm Schelling: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, Philosophie der Kunst (aus dem handschriftlichen Nachlaß), in: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Sämmtliche Werke, Bd. 5, 1802. 1803, Stuttgart/Augsburg 1859, S. 353-736, hier: S. 590, § 115. Auch -RKDQQ)ULHGULFK+HUEDUWIRUPXOLHUWHGLH,GHHGHUࡐ6XN]HVVLRQLP$XIIDVVHQGHV 5lXPOLFKHQ´ LP 5DKPHQ VHLQHU 'LVNXVVLRQ ]XP 5K\WKPXV XQG ]XU 6\PPHWrie: vgl. Johann Friedrich Herbart: Einleitung in die Ästhetik; besonders in ihren wichtigsten Teil, die praktische Philosophie, in: Johann Friedrich Herbart, Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie [1813], Hamburg 1993, S. 130-180; hier: S. 160-161. 50 | Friedrich Jodl, Lehrbuch der Psychologie, Stuttgart 1896, S. 409.

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Eindrücken, zu einer regelmäßigen Wiederkehr optischer Erlebnisse‘ Anlaß geben können.“51 Willy Drost, dessen Wortlaut hier wiedergegeben wird, kritisiert Jodls Rhythmuskonzept als zu weit gefassten, einer brauchbaren Spezifik beraubten, vagen Sammelbegriff. Abb. 13: Finnbogi Pétursson: Earth, 2008. Installationsansicht Ars Electronica 2010.

Quelle: Archiv der Autorin. Courtesy of the artist and i8 Gallery, Reykjavik.

Zeitlicher Rhythmus. In „Earth“ liegt aber nicht nur ein rein optischer Rhythmus mit Reihung und Richtungstendenz vor, sondern er wird von einer expliziten Sukzession begleitet. Diese weitere Periodizität manifestiert sich in größeren Intervallen und ergibt sich aus den Arbeitszeiten der Oszillatoren. Um dies zu erfahren, ist es nötig, sich bereits länger aufzuhalten. Die Wellen ebben häufig fast ab, was in ein balancierendes Wabern mündet, bis dann der nächste Oszillator die Tätigkeit aufnimmt und von seiner Warte aus deutlichere Markierungen über das ganze Becken schickt (Abb. 13). Mit einer längeren Verweildauer erkennt man im Anund Ausschalten der Oszillatoren einen Wechselgang jenseits einer mechanischen Gleichförmigkeit, einen zeitlichen Rhythmus. Die choreographierte Abfolge muss man sich merken oder über ausgedehnte Observationszeiten verinnerlichen. Die Aktivitätskonstellation der Oszillatoren (Mitte [m], links [l], rechts [r], keiner [x]) wechselt alle zwei Minuten, wobei eine Abfolge folgendermaßen aussehen kann: m+l, l, l+r, r, x, l, l+r, r, x, m, m+l, l, x, m, m+r, r, usw. Zu keiner Zeit sind alle drei Impulsgeber aktiv. Für „Earth“ gilt ein für Klanginstallationen generelles Charakteristikum, nämlich, dass sie von langer Dauer sind. Die Soundinstallation allge51 | Willy Drost, Die Lehre vom Rhythmus in der heutigen Ästhetik der bildenden Künste, a.a.O., S. 11.

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mein „währt länger als ein Besucher verweilen könnte und entzieht sich wegen ihrer Veränderung in der Zeit der abschließenden Wahrnehmung.“52 Manche setzen die Eigenheit, dass die zeitliche Ausdehnung vom Rezipienten nicht erfasst werden kann, als Kernbestimmung für die Gattung.53 Dennoch ist es für den Künstler Pétursson zentral, dass man sich eine Weile auf das Gegebene einlässt, denn das „Werk zeigt nie ein stehendes Bild, es ist immer in Bewegung“.54 Darüber hinaus beträgt der Zyklus bei „Earth“ nur etwa 26 Minuten, was das Publikum allerdings nicht weiß, und eine Wiederholung auch sicher nicht sogleich als solche erkennt. Raumzeitlicher Rhythmus. Die Wellen schwärmen aus, okkupieren Raum, kollidieren, gehen unter. Im Detail entwickelt sich das von fern global überschaubare und tendenziell gemächlichere Szenarium zu einem spannenden Tauziehen um Pulsations- und Formdominanzen (Abb. 14). Die flächigen Einheiten mutieren ohne Unterlass zu ständig neuen als kurzzeitig prägnant erfahrenen Strukturen: Wellenberge verengen oder dehnen sich und werden dann durchkreuzt, was sie kapselt und abgeschlossene Kämmerchen bilden lässt. Manchmal hat man den Eindruck, es handelt sich um geflochtene Netze, deren Seile unterschiedlich gezwirbelt sind. Mal meint man durch einen Maschenzaun zu blicken, bei dem die Verknüpfungen als helle Punkte hervorstechen. Dann wieder herrscht eine Streifenbildung vor und man interpretiert die hellen Bereiche als hervorragende dünne glatte Stege, was sich dann zerschlägt, sobald sie sich zu eigenwilligen gerüschten Bändern verbreitern. Dies alles wechselt nicht allmählich und ruhig, sondern geht mit einem permanenten Schaukeln einher. Im Detail ist zu keiner Zeit dieselbe Situation gegeben, die Muster ändern sich ständig, und diese Änderung ist das interessante dieser Form.

52 | Volker Straebel, Zur frühen Geschichte und Typologie der Klanginstallation, LQ 8OULFK 7DGGD\ +J  .ODQJNXQVW  0XVLN.RQ]HSWH 6RQGHUEDQG  0QFKHQ 2008, S. 24-46; hier: S. 43. 53 | Vgl. Wolfgang Heiniger, Der komponierte Besucher. Über Zeitperspektiven in .ODQJLQVWDOODWLRQHQLQ8OULFK7DGGD\ +J .ODQJNXQVW 0XVLN.RQ]HSWH6RQderband), München 2008, S. 85-98; hier: S. 86. 54 | Gunnar Kristjánsson, Ein Klangbild des Jetzt. Gunnar Kristjánsson im GeVSUlFK PLW )LQQERJL 3pWXUVVRQ LQ .XQVW XQG .LUFKH RHNXPHQLVFKH =HLWVFKULIW für Architektur und Kunst, Vol. 68, Nr. 1, September 2006, S. 30-32; hier: S. 30. ,P (QJOLVFKHQ KHL‰W HV ࡐDV WKH ZRUN QHYHU VKRZV D FRQVWDQW LPDJH EXW UDWKHU FRQVWDQWPRYHPHQW´

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Abb. 14: Finnbogi Pétursson: Earth, 2008. Installationsansicht Ars Electronica 2010. Detailansichten der Projektionswand.

Quelle: Archiv der Autorin. Courtesy of the artist and i8 Gallery, Reykjavik.

Im Detail offenbart sich eine Vielfalt, die man erst bändigen muss, womit der raumzeitliche Rhythmus angesprochen ist, der den Rezipienten in stärkerem Maße fordert. Ungeachtet dessen, dass sich im ganzen Feld bereits Wellenzüge durchgittern, identifiziert man unwillkürlich an bestimmten Stellen ‚Treffpunkte‘ von spezifischen Wellenfronten, von denen aus die ‚Verbindungen‘ quasi als wabenförmige ‚Pärchen‘ in eine dritte Richtung davonziehen. In der Imagination individuiert man die jeweils temporär dominanten Bewegungsrichtungen, was für den Moment ein Strukturieren im Flächigen bedeutet. Dies trifft sich mit folgender Aussage Helblings: „Wenn aber Rhythmus sich dadurch definiert, daß er ordnet und sich als ordnendes Moment zu erkennen gibt, läßt sich das so verstehen, daß er – im Unterschied zum Geordneten – unterwegs ist und bleibt: immer mit Herstellung und Darstellung bestimmter Verhältnisse beschäftigt und immer auch in der Lage, diese Verhältnisse wieder neu zu entwerfen, seinem Ordnen ein anderes Ziel zu setzen. Zum Rhythmus gehört ein gewisses Maß an Widerruflichkeit, an Bereitschaft zum Widerstand gegen sich selbst; solange er wirkt, sind Wandlun-

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gen möglich“55. Dem Ordnen ein anderes Ziel setzen, das bedeutet auf „Earth“ bezogen, immer wieder neue Bewegungs- und Richtungstendenzen auszumachen, sobald sich die Situation soweit verändert hat, dass dem vordem Gefundenen der Boden entzogen ist. Für die rhythmische Gliederung ist die Imagination der Rezipienten unabkömmlich, setzt aber auch ein paar Merkmale der betreffenden Phänomene voraus. Als konstitutiv nennt Helbling ein Moment der Wiederholung: „Rhythmus wird glaubwürdig, wo er nicht zufällig wirkt.“56 Es darf aber auch nicht ein zu zielgerichteter Verlauf sein, damit das Primat des ‚Unterwegsseins‘ nicht vergessen wird.57 Zugleich aber soll es sich nicht um die Repetition des absolut Uniformen handeln, sondern muss eine Abweichung einbegreifen 58, damit ist eine Differenz zu ‚Takt‘ angesprochen. Diese Ansicht teilt er beispielsweise mit Helmuth Plessner, welcher von ‚regelmäßiger Unregelmäßigkeit‘ spricht, oder – zeitlich gewendet – von ‚Unstetigkeit im Stetigen‘ bzw. von relativer Variierbarkeit der Periode.59 Für Helbling liegt darin auch ein Moment 55 | Hanno Helbling, Rhythmus: ein Versuch, a.a.O., S. 18. Koffka separiert die bildhaften Assoziationen vom eigentlichen Rhythmuserleben, er deklariert sie als ࡐ%HJOHLWHUVFKHLQXQJHQ´ (LQH VHLQHU 9HUVXFKVSHUVRQHQ ࡐ0L‰ + GLH VHKU PXsikalisch ist und Musik studierte, hatte folgende Entwicklung: Beim ersten Male ²7HPSRѫ²KDWWHVLH]XQlFKVWGLHVWDUNH$VVR]LDWLRQDQHLQ*HZLWWHUXQG GDGXUFKDQLKUH+HLPDWࡏ'DQQZXUGHHVGXQNHO¶XQGQXQWUDWHLQHDQGHUH$VVR]LDWLRQDXIQlPOLFKࡏ,FKVDKMHPDQGYRUPLUWDQ]HQHUWDQ]WH]HLWOLFKJOHLFKPl‰LJ ²SXUHO\LQWLPH²DEVROXWUK\WKPLVFKPLWGHP(UVFKHLQHQGHU/LFKWHU¶(VKDWWH nichts mit der Farbe des Lichts zu tun. Dabei waren keine akustischen Assoziationen. Hier ist wohl durch die Lichter schon ein Anlaß zum Rhythmus gegeben, der aber erst auf dem Wege der Assoziation zum Ausdruck gelangt. Ich würde daher dies Erlebnis noch nicht als ein vollgültiges Rhythmuserlebnis auffassen, um so PHKUDOVGDVIROJHQGHDXFKIUPHLQH$QVLFKWVSULFKW´ .XUW.RIIND([SHULPHQtal-Untersuchungen zur Lehre vom Rhythmus, Diss. Uni Berlin (Betreuung: Carl Stumpf, Gestalttheorie), in: Zeitschrift für Psychologie, Vol. 52, 1909, S. 1-109; hier: S. 21; vgl. ferner S. 53 und 69.) 56 | Hanno Helbling, Rhythmus: ein Versuch, Frankfurt am Main 1999, S. 13. 57 | Vgl. Christa Brüstle/Nadia Ghattas/Clemens Risi/Sabine Schouten, Zur Einleitung. Rhythmus im Prozess, a.a.O., S. 16. 58 | Edith Anna Kunz/Roger W. Müller Farguell, Einleitung, in: Colloquium Helveticum, Nr. 32: Rhythmus, Bern/Fribourg 2001, S. 13-17; hier: S. 15. Hanno Helbling, Rhythmus als offene Form, in: Colloquium Helveticum, Nr. 32: Rhythmus, Bern/Fribourg 2001, S. 19-29. 59 | Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Menschen. EinleiWXQJ LQ GLH SKLORVRSKLVFKH $QWKURSRORJLH  *HVDPPHOWH 6FKULIWHQ %G   KJ v. Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker, Frankfurt am Main 1981, S. 178.

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der Gefährdung.60 In Bezug auf die Musik schreibt er, was wir auf die zeitbasierten Klanginstallationen übertragen können: „Rhythmisches Geschehen setzt erst ein, wo Ordnung unter Druck gerät, wo sich das Feste dem Beweglichen aussetzt und dieses an jenem einen Widerstand findet. Am vernehmbarsten in der Synkope, wo ein Gegentakt gegen den Grundtakt anrennt: der Ausgang dieses Treffens wird sich entscheiden; inzwischen bildet und ballt sich eine rhythmische Spannung.“61 In den vorgestellten Beispielen zeigt sich alles an jeder Stelle ein wenig anders und da es zudem im ständigen Übergang begriffen ist, erweist sich das Prekäre an der Unsicherheit, ob es uns gelingt, immer wieder ein nächstes Bewegungsmuster zu isolieren. Wo ist das Problem? Dies leisten wir doch quasi automatisch!, könnte man einwenden. So einfach scheint es trotzdem nicht zu sein: Zwar sehen wir bei „Earth“, wie sich zwei gegenläufige Ketten aneinander reiben, wie eine Sechserformation einen Reigentanz vollführt oder dass manche Stränge flatterhaft oder flagellationsartig ‚hinüberlangen‘. Dies gelingt schon, aber vielleicht nicht immer, weil nicht schnell genug. Vielleicht hat man eine mögliche Formation übersprungen. Dadurch, dass der Wechsel der Phänomene ohne Unterlass vonstatten geht und für uns nicht innehält, ist die Sortierung zeitkritisch. Als Rezipient ist man hier gut beschäftigt. Es ist aber auch reizvoll, dass man nicht entscheiden kann, wie erfolgreich man Gliederungen vornimmt, weil kein Maß hierfür existiert. Jeder findet darin seinen eigenen Rhythmus. Die meisten Rhythmuskonzepte gehen von einer engen Verbindung von Sinnesangebot mit Psychologie und Wahrnehmungsphysiologie des Rezipienten aus, was automatisch eine ‚weichere‘ Kategorisierung bedeuten dürfte: Der Rhythmus besitzt einen Spielraum. Bei der Verschränkung mehrerer Rhythmen – die sich aus verschiedenen Sinnesmodalitäten ergeben können – oder auch über die Unterschiede je nach Entfernung und Verweildauer der Rezeption – ist ihr Verhältnis zueinander je individuell zu bestimmen.62

60 | Vgl. Hanno Helbling, Rhythmus: ein Versuch, a.a.O., S. 29. 61 | A.a.O., S. 33-34. 62_0HLQ'DQNJHKWDQGLH.QVWOHU7KRPDV0F,QWRVKXQG)LQQERJL3pWXUVVRQ die sich in Interviews zu ihren Arbeiten geäußert haben, sowie an Hans H. Diebner und Christoph Podak für wertvolle Hinweise und Informationen.

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Henri Matisse, Jazz und der Rhythmus des Lesens Martin Sundberg

Only Connect! E.M. F ORSTER Jazz est un rythme et une signification. H ENRI M ATISSE

Eigentlich sollte es denkbar einfach sein: Das Werk Jazz (1947) von Henri Matisse ist ein Buch und somit sowohl räumlich als auch zeitlich geordnet.1 Durch das Blättern beim Lesen ergibt sich zwangsläufig ein Rhythmus. Der Inhalt, die schwarze Schreibschrift und die farbigen Scherenschnitte, ist dem Rhythmus des Buches untergeordnet. Als Buchleser weiss man, wo Anfang und Ende sind, die geordnete Folge ist leicht zu verstehen. Demnach sollte auch Jazz leicht zu beschreiben und erinnern sein. Doch das Buch entpuppt sich als Herausforderung und verlangt nach einer genaueren Auseinandersetzung, deren Zeitlichkeit sich von dem eines linearen Lesens unterscheidet. Die Art der Herausforderung, so möchte dieser Text aufzeigen, lässt sich näher beschreiben und verstehen, wenn man sich genauer mit dem Rhythmus des Buches auseinandersetzt. Es soll diskutiert werden, welche Rolle der Rhythmus spielt, wie er von zentralem Einfluss auf den Prozess des Lesens und Betrachtens ist, und wie Matisse mit Hilfe des Rhythmus die Erwartungen des Lesers unterläuft und herausfordert. Dabei ist vor allem zu beachten, dass der Leser es in diesem Buch mit einer Arbeit aus dem Spätwerk von Matisse zu tun hat, das in sich viele verschiedene Aspekte vereint. Sie sind eng mit dem, was Matisse mit Rhythmus gemeint hat, verbunden, etwa – und vor allem – das Dekorative. Die damit zusammenhängenden Implikationen sollen im Folgenden die Deutung des Buches Jazz leiten. Der Begriff Rhythmus spielt in vielerlei Hinsicht eine wichtige Rolle in Henri Matisse’ Schriften und Werken und so vergleicht er etwa die Malerei mit Musik: 1 | Henri Matisse, Jazz, Paris 1947.

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ࡐ3RXUPRLOHVXMHWG·XQWDEOHDXHWOHIRQGGHFHWDEOHDXRQWODPrPHYDOHXURX SRXUOHGLUHSOXVFODLUHPHQWDXFXQSRLQWQ·HVWSOXVLPSRUWDQWTX·XQDXWUHVHXOH FRPSWHODFRPSRVLWLRQOHSDWURQJpQpUDO/HWDEOHDXHVWIDLWGHODFRPELQDLVRQ GHVXUIDFHVGLIIpUHPPHQWFRORUpHVFRPELQDLVRQTXLDSRXUUpVXOWDWGHFUpHUXQH expression. De la même facon que dans une harmonie musicale chaque note est une partie de tout, ainsi souhaitai-je que chaque couleur eût une valeur contribuWLYH8QWDEOHDXHVWODFRRUGLQDWLRQGHU\WKPHVFRQWU{OHVHWF·HVWDLQVLTXHO·RQ peut transformer une surface qui apparaît rouge-vert-bleu-noir en une autre qui DSSDUDvWEODQFEOHXURXJHYHUWF·HVWODPrPHWDEOHDXODPrPHVHQVDWLRQSUpVHQWpHGLIIpUHPPHQWPDLVOHVU\WKPHVRQWFKDQJp´ 2

In dieser Untersuchung sind drei Aspekte entscheidend: Erstens denkt man im Buch Jazz sofort an den Musikstil. Zweitens kann man in der Buchform von einem Leserhythmus sprechen, der durch die spezielle Abfolge, dem Verhältnis von Seite, Doppelseite und Ganzes, geordnet wird. Drittens, schließlich, ist Rhythmus eng mit Matisse’ Interesse für das Dekorative verbunden – der Rhythmus ist ein zentrales Moment des Arrangements der dekorativen Bilder – und aus dieser leitet sich seine Ästhetik ab. Diese drei Gebiete – Musik, Buch und Dekoration – sind in seinem Oeuvre eng miteinander verwoben und ist besonders in Jazz prägnant. Der Titel des Buches ist der deutlichste Anknüpfungspunkt an die Musik, da in den Bildern motivisch gesehen offensichtlich keine Verbindungen bestehen. Zunächst hatte Matisse die Idee, das Buch Le cirque zu nennen und die meisten Bildtitel und -motive knüpfen an eine Zirkuswelt an.3 Keiner der Titel bietet musikalische Anspielungen. Dennoch wird näher vom Verhältnis zur Musik zu reden sein. Als Buch betrachtet bietet sich der Rhythmusbegriff an. Dem Buchkünstler Ward Tietz folgend kann man von einem „interpretativen Rhythmus“ sprechen, was gerade in Maler- und Künstlerbüchern hilfreich ist, um die verschiedenen Ebenen – etwa Bild und Wort – miteinander zusammenzudenken, statt zu trennen.4 Wichtig erscheint es, das Buch Jazz als Ganzes zu behandeln und zu verstehen. In den meisten Analysen werden Bild und Text getrennt betrachtet und biografisch in Ma-

2 | Henri Matisse, Modernisme et tradition (1935), in: Matisse, Écrits et propos sur O·DUW'RPLQLTXH)RXUFDGH +J 3DULV  6I 3_6R NDQQ GLH 'RSSHOVHLWH  PLW GHP 7H[W ࡐFLUTXH´ DOV JHSODQWHU 7LWHO JHsehen werden. Zirkusverbindungen stellen z.B. Le clown (S. 6), Les codomas (S.  XQG/·DYDOHXUGHVDEUHV 6 KHU=XU7LWHOZDKOYHUJOHLFKH5LYD&DVWOHPDQ Introduction, in Henri Matisse. Jazz, New York 1992, S. X. Siehe auch Pierre Schneider, Matisse, Paris 1992 (1984), S. 666. 4_:DUG 7LHW] $UWLVWV· %RRNV %HWZHHQ 9LHZLQJ DQG 5HDGLQJ LQ -RXUQDO RI $UWLVWV·%RRNVQU6YJO67LHW]EH]LHKWVLFKQLFKWDXI0DWLVVH· Jazz, sondern explizit auf Künstlerbücher.

Henri Matisse, Jazz und der Rhythmus des Lesens

tisse’ Werk verortet, ohne dass diese Interdependenzen zur Sprache kommen. Beim Rhythmus des Lesens geht es vor allem darum, das Buch als Ganzes zu verstehen und die Teile zu verbinden. Nach Tietz sind Lesen und Sehen gegenläufige Bewegungen, die von unterschiedlichen Polen ausgehen und die sich in einer Synthese vereinigen.5 Entsprechend lässt sich argumentieren, dass in Matisse’ dekorativer Bildwelt das Ganze Vorrang vor dem Teil hat. So schreibt etwa Gottfried Boehm: ࡐ(QWVFKHLGHQGLVWDEHUGLH/HQNXQJGHU$XIPHUNVDPNHLWDXIGLHYLHU%LOGUlQGHU die primäre und blitzartig vollzogene Wahrnehmung der Fläche als einer Ganzheit. Sie trägt einen Rhythmus zur Schau, der definitionsgemäß auf einer übergreifenden Ordnung beruht: Das einzelne Element ist nicht Rhythmus, es hat teil an ihm, ordnet sich ein. An den Rändern entscheidet sich nicht nur, was wir sehen und was nicht, von dort her bestimmt sich vor allem die Art und Weise, wie das %LOGDOV%LOGGDVKHL‰WDOVHLQH(LQKHLWYRULKUHQ7HLOHQZDKUJHQRPPHQZLUG´ 6

Matisse entwickelt ein Bildgefüge das sich nicht teilen lässt, ohne dass das Bild verloren ginge. Mit anderen Worten: Matisse arrangiert die Dinge so im Bild, dass ein bedeutungsvolles Gefüge entsteht, dessen Struktur aus dem Dekorativen entwickelt wird und nicht nur bedeutungsloses Dekor darstellt (obzwar Schmuck als Teil des Motives vorkommt). Dieses kann nicht entfernt werden, sondern wirkt subkutan und bestimmt das Bild als ganzes. Mit dem Dekorativen verbunden sind Begriffe wie Rhythmus, Rahmung, Repetition, ebenso wie Figur-Grund, Balance und Harmonie. Auf die Bedeutung wird im Folgenden noch näher einzugehen sein.

DAS B UCH Als der Verleger Tériade Matisse aufsuchte um mit ihm ein Buch zu verlegen, hatte der Künstler schon einige Bücher gestaltet, etwa Poésies (Stéphane Mallarmé, 1932), Ulysses (James Joyce, 1935) und Pasiphaë (Henry de Montherlant, 1944).7 In der Tradition der französischen Malerbücher war es üblich, dass ein Verleger 5 | A.a.O., S. 17. 6 | Gottfried Boehm, Ausdruck und Dekoration. Henri Matisse auf dem Weg zu sich selbst, in: Pia Müller-Tamm (Hg.), Henri Matisse. Figur, Farbe, Raum, Ostfildern-Ruit 2005, S. 277-289. Siehe S. 278f. 7 | Zu den Büchern, zur Vorgeschichte und Entwicklung von Jazz siehe SchneiGHU6=XP9HUKlOWQLVYRQ0DWLVVHXQG7pULDGHVLHKH+DUULHWW:DWWV7pULade, his Artists and Architects of the Book, in Stefan Soltek und Harriett Watts +J 'HU.QVWOHUDOVRIIHQHV%XFK7pULDGHOLYUHVG·DUWLVWHDXVGHP0DOHUEXFKkabinett der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Frankfurt 2001, S. 10-45.

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einen Künstler bittet, einen berühmten Text zu illustrieren. Seit den von Ambroise Vollard verlegten Büchern, etwa Paul Verlaines Parallèlement (1900), illustriert von Pierre Bonnard, spielen die Malerbücher eine wichtige Rolle.8 Es war eine geeignete Kunstform, mit exklusiven Auflagen ein größeres Publikum zu erreichen, als dies mit Originalwerken möglich war. Gleichzeitig ging man keine Risiken ein, sondern bat angesehene Künstler, Texte namhafter Autoren zu illustrieren. Henri Matisse kann also auf eine fünfzigjährige französische Tradition zurückblicken, als er Jazz in Angriff nimmt. Einerseits reiht er sich in diese Tradition ein – es ist ein opulent gestaltetes, exklusives und limitiertes Werk entstanden – andererseits weicht er auch dezidiert ab, indem er z.B. nicht einen bekannten Text illustriert, sondern eigene Texte eigens für das Buch schreibt und außerdem diesen Beitrag handschriftlich in das Buch einbezieht, eine Entscheidung, die erst nach dem Entstehen der Bilder gefallen ist.9 Die Originalausgabe besteht aus einer Mappe, in die 41 Folioblätter (zusammen 164 Seiten), die etwa 42 x 32 cm messen, lose eingelegt sind.10 Die Foliobögen sind als Stapel geordnet. Auf den Titelseiten findet sich der Titel Jazz in zwei unterschiedlichen Schreibweisen: einerseits in ineinander verschachtelten Majuskeln, andererseits im Schreibstil mit ausholenden Schnörkeln des Buchstaben „J“ sowie dem „z“ am Ende.11 Zur Schreibweise des Titels notiert der Kunsthistoriker Pierre Schneider: „‚Jazz’ permet ce qu’interdisait ‚cirque’: un tracé fluide, continu, arabesque, proche parent de ces paraphes abstraits qui font leur apparition dans le Ronsard et dont il couvre page après page des carnets d’étude pour son livre de

8 | Zur Tradition der Malerbücher (kurz: aufwendig produzierte Bücher, namhafte Künstler und Autoren von einem Verleger zusammengeführt) und ihrer Bedeutung im Verhältnis zu Künstlerbüchern (ab den 1960er Jahren entstandene Bücher, die oft von Künstlern im Selbstverlag unter größtmöglicher Kontrolle produziert wurden und in ihrer Gestalt mit der Buchform als solcher umgehen), siehe etwa Riva &DVWOHPDQ $ &HQWXU\ RI $UWLVWV· %RRNV 1HZ RQ@WDOH´²ࡐRQ´LVWPLW+LOIH HLQHVࡐ9´DQGHUULFKWLJHQ6WHOOHHLQJHIJW 34 | Tietz, S. 22.

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Grunde, sondern ebenfalls den Textseiten. Die Schrift wird so behandelt wie ein Bild und ist von ähnlichen Richtlinien geleitet. Eine Annäherung findet sich in den Bildern. Das Ziel ist die Einheit des Buches und das Verbinden von Bild und Text zu einem dekorativen Gesamtwerk. Der Rhythmus findet sich sowohl in der Buchform, die den Prozess des Lesens und Sehens des Buches als Ganzes leitet, als auch im Text und im Bild aufgegriffen, sozusagen den Lesefluss fördernd. Der Leserhythmus ist dominant und prägt das Arrangement der Einzelseite und der Doppelseite. Zeitlichkeit Beim Lesen/Betrachten eines Buches, argumentiert Ward Tietz, eignet man sich einen interpretativen Rhythmus an; man passt sich dem Buch an.35 In einem Buch wie Jazz wird hingegen der Leserhythmus durch das Einfügen der Bilder unterbrochen. Text und Bild fordern unterschiedliche Aufmerksamkeiten und der Wechsel fordert den Leser heraus. In Jazz muss man sich allerdings fragen, ob nicht auch die Textseiten ähnlich verstanden werden wie die Bildseiten. Die oft wenigen Worte auf wenigen Zeilen, die visuell bedachte Gestaltung der Schrift sowie das Verwenden schriftgleicher Arabesken als Markierungen, tragen dazu bei, den Text visuell zu erfassen. Zusammen mit dem Format des Buches und dem damit erschwerten Blättern kommt so in Jazz kein rascher Fluss zustande – der Leser kann das Buch als materielles Objekt nicht ausblenden. Das bedeutet nicht, dass das Lesen aufgegeben wird, sondern eher, dass das Erfassen des Textes heruntergeschraubt wird und um ein Bildsehen erweitert wird. Letztendlich nähern sich Text und Bild an. Die bunten Farbflächen unterscheiden sich jedoch erheblich vom Schwarzweiß der Textseiten. Das beachtliche Format von Jazz verhindert ein schnelles Blättern und ein schnelles Orientieren durch Hin- und Herblättern. Die Seiten fallen schwer und müssen sorgfältig einzeln geblättert werden. So hat Matisse bei der Wahl des Formats darauf geachtet, dass der Leser sich ganz und gar auf das Buch einlassen muss. Jazz erlaubt keine Beschäftigung nebenbei. So erschließt sich das Buch nur langsam. Einen Überblick zu erhalten ist mühselig und bedarf einer längeren Auseinandersetzung. Das bringt den Moment des Erinnerns ins Spiel, ein für Tietz zentraler Punkt in seiner Diskussion um Künstlerbücher. Je komplexer die Struktur und die Verschränkung von Sehen und Lesen sei, desto schwieriger wird es, das Buch zu erinnern.36 Zwar bietet der Inhalt des Textes nicht viel Widerstand, die Bilder erscheinen auch vereinfacht, aber das Zusammenspiel und die Struktur des Buches stellen sich als komplexes Gefüge dar. Viele Verbindungen werden erst im Vergleich deutlich: So die Wiederholung der Formen oder die Verwendung von Figur und Rest. Dies erfordert Zeit und stellt das Erinnern auf die Probe. 35 | A.a.O., S. 18. 36 | Ebd.

Henri Matisse, Jazz und der Rhythmus des Lesens

An dieser Stelle zeigt sich eine weitere Funktion der Leerseiten: Sie stellen nicht nur Intervalle dar, sondern sie verdeutlichen die Struktur, sie bieten nicht nur den Raum, sich auf die Bilder vorzubereiten, sondern ebenso einen Ort des Erinnerns und Besinnens. Als Leser/Betrachter findet man hier einen Ort der Reflektion. Matisse schafft keinen kontinuierlichen Rhythmus, sondern einen abwechslungsreichen, spannungsvollen. Der interpretative Rhythmus passt sich nach einer Weile der Struktur dieses Buches an. Auch wenn Spannungen erzeugt werden, kann der Leser dennoch einen Zusammenhang erkennen. Die Pausen verdeutlichen die Zeitstruktur des Buches und stellen einen Unterschied zwischen der Raumordnung der Bilder und der Zeitordnung des Textes dar. Sie funktionieren also auch als Bindeglieder zwischen den Teilen und halten das Buch als Ganzes zusammen. In Jazz verbindet sich eine Zeit- und Raumordnung zu einem Ganzen, das eine Zeit des Blätterns erfordert, um als Raum des Bildes und Textes erlebt zu werden. Letztendlich kann ein interpretativer Rhythmus gewährleistet werden, der es dem Leser ermöglicht, Jazz als Gesamtkunstwerk zu begreifen, in dem unterschiedliche Ebenen verbunden werden und im Zusammenspiel Sinn ergeben. Das für Matisse zentrale Moment des Arrangements überträgt sich in diesem Buch auf das Zusammenspiel der Seiten, der Seitenabfolge, auf Bilder und Texte und schließlich auf das Buch als Objekt. So kann der Leser sich an ein Gesamtwerk erinnern.

Z WISCHEN K RISTALLISATION

UND I MPROVISATION

Am Ende von Jazz reflektiert Henri Matisse über das Buch und über die Beweggründe, weshalb er dem Buch diese Variation von Text und gouaches découpées gegeben hat. Matisse schreibt: ࡐ-D]] &HV LPDJHV DX[ WLPEUHV YLIV  YLROHQWV VRQW YHQXHV GH FULVWDOOLVDWLRQV GH VRXYHQLUV GX FLUTXH GH FRQWHV SRSXODLUHV RX GH YR\DJH -·DL IDLW FHV SDJHV G·pFULWXUHVSRXUDSDLVHUOHVUpDFWLRQVVLPXOWDQpHVGHPHVLPSURYLVDWLRQVFKURPDWLTXHVHWU\WKPpHVSDJHVIRUPDQWFRPPHXQࡏIRQGVRQRUH·TXLOHVSRUWHOHV HQWRXUHHWSURWqJHDLQVLOHXUVSDUWLFXODULWpV´ 37

Mehrere zentrale Punkte sind schon angesprochen worden, aber dieses Zitat soll zum Schluss nochmals die leitenden Begriffe aufnehmen und zusammenbringen. Es geht um Kristallisation und Improvisation – und in der Verlängerung um deren Verhältnis zum Dekorativen, dessen Merkmale bereits in Begriffen wie „rythmées“ und „fond“ mitschwingen.

37 | Matisse, Jazz, S. 141f.

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Es ist zu vermuten, dass Matisse Kristallisation und Improvisation zusammenbringt, weil es eine Form der Rechtfertigung des Titels Jazz bedeutet, auf den sonst nicht im Buch eingegangen wird. Der Musikstil, der gerade durch die Improvisation seine Eigenart gewinnt, findet keinen konkreten Eingang, wie der Zirkus oder die Reise. Mit Kristallisation bezeichnet Matisse den Prozess des Erinnerns, der in eine starke, feste Struktur und Form mündet. Der Vergleich knüpft an sein künstlerisches Verfahren während dieser Jahre an. Im Alter kann er seiner zeichnenden Hand und seinem Auge vertrauen und mit der Schere Bilder schaffen, die sozusagen nicht rückgängig zu machen sind.38 Dieser Prozess des Ausschneidens und Klebens ist natürlich metaphorisch gemeint, denn betrachtet man die gouaches découpées näher, so werden etwa Überlagerungen deutlich, die zeigen, dass das Bild nicht unumstößlich ist (ein Moment, das in den Reproduktionen leider kaum noch zu sehen ist). Ähnlich, aber bei weitem nicht so ausgeprägt – und das ist vielleicht der Grund des Vergleichs mit der Kristallisation – wie in seiner Malerei überarbeitet Matisse seine Bilder und geht immer wieder mit neuen Veränderungen an sie heran. Der Prozess steht im Vordergrund und der Weg wird offengelegt oder zumindest nicht vollständig kaschiert.39 Improvisation und Kristallisation können im Verhältnis zur Technik auch so verstanden werden, dass sich im Buch die verfestigte Aufzeichnung der Improvisationen der gouaches découpées findet. Während des Schaffens gab es noch Möglichkeiten der Veränderung, die dann im veröffentlichten Buch nicht mehr vorhanden sind. Zunächst erscheint die harte, kristalline Form der Erinnerung konträr der Improvisation zugeordnet zu sein. Improvisation bezeichnet bei Matisse die kontinuierliche Arbeit, die nicht einem von vornherein festgelegten Ziel folgt, sondern sich unter der Hand leiten lässt, um ein Ergebnis zu erzielen, das seinen ästhetischen Vorstellungen entspricht. Es geht bei Matisse nicht um ein spontanes, willkürliches Schaffen, sondern der Prozess ist stets von den dekorativen Werten geleitet. Der bereits angesprochene Begriff des Arrangements fasst diesen Prozess gut, denn er impliziert auch das Arbeiten mit Mitteln die bekannt sind und die angeordnet werden. Die Anordnung selbst ist flexibel, verfolgt werden allerdings die Ziele der Harmonie und spannenden Balance. Die Improvisation, so Matisse im obigen Zitat, fordert einen Grund, den „fond sonore“, also etwa eine Hintergrundkulisse, ein Hintergrundrauschen. Matisse benötigt also Orientierungspunkte, zu denen er sich verhalten kann und muss. Ein solcher Bezug ist die Vertikale, die in Jazz angesprochen wird und die sich im Falz wiederfindet.

38 | Schneider deutet das Ausschneiden noch stärker, als ein Abwenden von der Tradition der Malerei seit der Renaissance. Schneider, S. 664. 39 | Matisse hatte einen ausgeprägten Willen den Arbeitsprozess zu dokumentieren und dem Publikum durch fotografische Bildserien zugänglich zu machen. So verwundert es nicht, dass Spuren nicht immer gut kaschiert werden.

Henri Matisse, Jazz und der Rhythmus des Lesens

Matisse benutzt diese Bezugspunkte jedoch, um sie zu unterlaufen, zu hinterfragen. Dadurch erreicht er die spannungsgeladene Balance, um die es ihm geht. Er darf sich nicht auf die Kristallisation allein verlassen, sondern benötigt stets den Moment der Ungewissheit. In seiner Kunst hat Matisse dieses Ziel von Anfang an durch den Weg des Dekorativen verfolgt. Auf unterschiedliche Weise hat er sich den Bildfindungen genähert, stets von einer dekorativen Logik geleitet.40 Matisse’ Arbeit und Fokus auf das Dekorative ist als ein Entwickeln des Bildes aufbauend auf einer ornamentalen Struktur zu charakterisieren. Sie beschreibt die Bedingtheit des Bildes, die spannungsgeladene Balance, die unter anderem durch das Arbeiten mit der Figur-Grund-Beziehung entsteht. Matisse schafft eine Situation des Entweder-Oder, so dass die Form entweder als Figur oder als Grund erlebt wird. Er unterscheidet sehr deutlich zwischen ihnen – die Trennschärfe ist sehr wichtig – aber als Betrachter steht man immer vor der Wahl, wie ein Bild zu deuten ist. Die Teile werden so arrangiert, dass dieses scharfe Wechselspiel möglich ist und außerdem einen solchen Einfluss auf die Bildstruktur ausübt, dass es als maßgeblich bezeichnet werden muss. Ferner erlaubt dies Matisse, das gesamte Bild zu bedenken und als Einheit zu behandeln, also ein Arrangement statt einer Komposition im klassischen kunsthistorischen Sinn mit einer vorher festgelegten Form, die dazu dient, ein narratives Zentrum zu untermauern und hervorzuheben. Dies würde ebenso dem musikalischen Unterschied zwischen Jazz und klassischer Musik entsprechen. In den Übertragungen der gouaches découpées in Jazz hat man es mit Bildern zu tun, deren Zentrum ein Mittel zum Zweck ist. Gerade im Buch mit seinem rhythmisch wiederkehrenden Falz findet sich ein Zentrum, das von Matisse umspielt wird. Er nutzt den Falz um sein Bild darum herum zu spinnen. Mit anderen Worten, Matisse hebt nicht das Zentrum hervor, sondern das von ihm arrangierte Beziehungsgeflecht. Die Umkehrungen zwischen Figur und Grund sind deshalb so wichtig, weil sie aufzeigen, dass in der Kunst von Henri Matisse die Dekoration und das Dekorative als bildkonstitutionelle Elemente behandelt werden und nicht als ein schmückendes Addendum, das für den Inhalt und letztendlich für das Verstehen des Bildes sinnlos wäre. Durch das Fokussieren auf die dekorative Struktur gelingt es Matisse, ein anderes Bildverständnis zu entwickeln, das einer Aufwertung der tiefen Oberfläche gleichkommt. Hier spielt auch die Improvisation eine Rolle, denn wir haben es nicht mit bestimmten Kompositionen zu tun, sondern mit sich entwickelnden, arrangierten 40 | Eine zentrale Position nimmt der Teppich ein, der zudem eine Verbindung zum Orient darstellt, dessen Einfluss sich sogar im Buch Jazz bemerkbar macht. =X0DWLVVHXQGGHP(LQIOXVVGHV2ULHQWVVLHKH6FKQHLGHUV.DSLWHO/DUpYpODWLRQ GH O·2ULHQW 6  ]X 0DWLVVH XQG GHU 7H[WLONXQVW LP $OOJHPHLQ VLHKH Hillary Spurling, Material World: Matisse, His Art and His Textiles, in Ann Dumas (Hg.), Matisse, His Art and His Textiles. The Fabric of Dreams, London 2004, S. 14-33.

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Bildern. Kontinuität und eine gewisse Struktur, etwa die „fond sonore“, sind als Reste notwendig, um einen Zusammenhalt zu gewährleisten. Die gesetzten Akzente und Bezüge schaffen Verbindungen und die Unterlage für das Erleben eines Rhythmus, der den Leser durch das Buch geleitet ohne sich aufzudrängen. Die Improvisation ist geprägt durch ihr Entstehen in der Gegenwart. Hier findet man eine Zeitlichkeit vor, die sich in ständiger Bewegung und Veränderung befindet. Im Gegensatz hierzu beschreibt Matisse mit dem Begriff der Kristallisation eine Form des Erinnerns, eine Verfestigung der Gedanken, Ideen und Beobachtungen der Vergangenheit. Diese Zeiten stehen gegeneinander und werden in Jazz verbunden. Wenn man an die Beschreibung von Rhythmus als „organisierte Zeit“ denkt, eröffnet sich hier die Möglichkeit einer Verbindung. Mit dem Rhythmus, betrachtet als Schlüsselmoment der ornamentalen Struktur, findet sich hier ein wichtiges Bindeglied. Die Schärfe knüpft an die Kristallisation an, die balancierte Bewegung hingegen ist der Improvisation verbunden. Matisse nähert die Gegensätze einander an und erreicht es, die Spannung zu halten um sie dadurch für die Bildstruktur fruchtbar zu machen.41

41 | Mein herzlicher Dank gilt Petra Bopp, Martin Kirves und Christian Spies für kritisch-konstruktive Kommentare und Anregungen.

Rhythmusexperimente – Halt und Bewegung Christopher Hasty Die Ästhetik leidet an einer einschneidenden Dualität. Sie bezeichnet zum einen die Theorie des

Empfindungsvermögens als Form möglicher Erfahrung; zum anderen die Theorie der Kunst als Re-

flexion der wirklichen Erfahrung. Damit die beiden Richtungen, die beiden Sinngehalte zusammenfinden, müssen die Bedingungen der Erfahrung über-

haupt zu Bedingungen der wirklichen Erfahrung werden; dann erscheint das Kunstwerk wirklich als Experimentieren.

Gilles Deleuze1

Im folgenden Text möchte ich eine umfassende Konzeption von Rhythmus als Form dauerhafter Aufmerksamkeit vorschlagen, in der Festhalten und Bewegen zusammenkommen – Festhalten gegenwärtiger oder stattfindender Ereignisse und Bewegung zwischen ihnen. Eine solche radikal verzeitlichte Rhythmuskonzeption setzt auf Komplexität und Kontinuität (oder Fließen) und versucht die Setzung zeitenthobener Gegenstände und Schemata zu vermeiden. Rhythmus ist insofern schwer greifbar, als er Fragen von Zeitlichkeit und Prozesshaftigkeit nicht zur Ruhe kommen lässt und auf das Paradox kontinuierlicher Abfolge führt. Mein Ausgangspunkt ist der Vorschlag, die Frage nach dem Rhythmus als Möglichkeit zu sehen, zeitliche Erfahrung jeglicher Art auf neue Weise zu denken, sei sie auditiv oder visuell, „ästhetisch“ im eigentlichen Sinne oder nicht. Wenn Rhythmus als Verlaufsform von Aufmerksamkeit begriffen wird, ist es nicht zwingend, bestimmte Modi der Aufmerksamkeit als rhythmischer anzusehen als andere. Die Malerei ist dann nicht unbedingt weniger rhythmisch als die Musik, oder ein „freier“ Rhythmus weniger rhythmisch als ein gebundener. Dies wird auf eine eher techni1 | Gilles Deleuze, Logik des Sinns, Frankfurt am Main 1993, S. 318.

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sche und theoretische Frage führen, den Versuch nämlich, zwei für den Rhythmus scheinbar zentrale Begriffe neu zu bestimmen: Wiederholung und Maß. Bislang waren diese Begriffe mit einer statischen und mechanistischen Auffassung von Rhythmus assoziiert – Wiederholung derselben unveränderten Sache oder Quantität, an die eine vorgegebene und ebenso unveränderte Einheit von außen als Maß angelegt wird. Ich möchte diese Begriffe auf eine Weise transformieren, die sie mit einem dynamischen, zeitlichen Verständnis von Rhythmus vereinbar macht, das Spontaneität und Kreativität Rechnung trägt. Als Orientierung sei hinzugefügt, dass der Hintergrund für diese Diskussion ein gewöhnlich als „Prozessphilosophie“ bezeichnetes Denken ist, und dass ich hier besonders durch die Arbeiten von James, Bergson, Deleuze und Gendlin beeinflusst bin, deren Gemeinsamkeit in einem experimentellen Verständnis von Erfahrung besteht. Die zu Beginn zu führende theoretische Diskussion möchte ich als Experiment verstehen, als Experiment mit dem Begriff des Rhythmus, in dem ich Vorstellungen von Wiederholung und „innerem Maß“ als Möglichkeiten erprobe, über Übergang und Vergehen (passage) nachzudenken; darüber hinaus soll „Erprobung“ auch als Weise vorgeschlagen werden, mit dem Übergang zu denken. Der Begriff des Experiments ist zentral für mein Argument. Die lateinischen Lehnworte „Experiment“ und „Erfahrung“ (experience) verweisen auf Versuch und Risiko (verwandt ist periculum) und haben auf diese Weise etwas mit der Spontaneität und Kreativität des Rhythmus gemeinsam. Der Rest des Textes erprobt die so erarbeiteten theoretischen Kategorien in Begegnungen mit Musik, Dichtung und Malerei, die wiederum Experimente mit dem Sinn und dem Gefühl für Rhythmus und mit seiner Produktion darstellen. Wie können wir zum Rhythmus von Artefakten in der komponierten Musik, der Dichtung und der Malerei vorstoßen, die vollständig fixiert erscheinen (factum – hergestellt, auf magische Weise mit der List und der Kunstfertigkeit der ars ein für allemal festgehalten) und dennoch immer wieder neue Erfahrungen ermöglichen, die selbst komplex, vielfältig, irreduzibel zeitlich und veränderlich sind? Meine Lösung wird es hier sein, das Sinnliche miteinzubeziehen, indem ich den Leser auffordere, sein Hören, Sagen und Sehen zu erproben – es immer wieder zu erproben, nicht um die Perfektion einer Eindeutigkeit zu erreichen, sondern mit dem Ziel eines Experimentierens und Risikos, in dem das Lernen ein Vergessen einschließen mag und in dem es wichtiger ist, lebendig zu sein als recht zu haben. Sich auf diese Weise der Empirie zuzuwenden ist nicht ohne Risiko; es ist eine Wendung zur Unvollkommenheit des Mehrdeutigen, ein Versuch ohne die Gewissheit eines sicheren Ergebnisses, auf das sich alle vorweg und unabhängig davon, was die Sache tatsächlich ergibt, einigen können. Diese Experimente werden Gelegenheiten dafür sein, mit der Kunst über den Rhythmus nachzudenken, Abläufe, die vollzogen und befragt werden können. Wenn diese Übung erfolgreich ist, wird sie weitere Fragen aufwerfen und weitere Experimente erfordern. Auch wenn ich Beispiele aus der europäisch-amerikanischen „Hochkunst“ gewählt habe

Rhythmusexperimente

(Werke von Haydn, Feldman, Keats und Stein), ist mein Ansatz nicht auf derartige Fälle beschränkt. Die Geschichte des Experiments der ästhetischen Moderne, die auf diese Weise aufscheint, ist nur eine der unzähligen Geschichten, die ausgehend vom Rhythmus erzählt werden könnten.

I. Ich beginne mit der Frage, warum Rhythmus überhaupt wichtig ist und was für einen Ertrag wir von der Frage nach dem Rhythmus erwarten können. Meine Antwort wäre, dass Rhythmus insofern bedeutsam ist, als er uns dazu herausfordert, die Probleme von Zeitlichkeit und Vergehen zu bedenken, und zwar nicht als bloße Abstraktion, sondern als gefühlte Wirklichkeit. Man könnte sagen, dass Rhythmus der tatsächliche Gang der Dinge in seinem Vollzug ist, und zwar ein gefühlter Vollzug – ein Fühlen oder Spüren von Veränderung und Differenz. Indem Rhythmus uns auf das weist, was sich tatsächlich ereignet, beinhaltet er in jedem Fall Bewegung, Veränderung, andauernde Aktivität. Abseits des zeitlichen Vergehens kann Rhythmus nicht gedacht werden. Es gibt keinen angehaltenen Rhythmus, keinen Rhythmus ohne Veränderung, keinen zeitlosen Rhythmus und keinen augenblickshaften Rhythmus. Was Rhythmus den Motiven von Bewegung, Veränderung, Prozess und Aktivität hinzufügt, ist der Fokus auf das Moment von Wiederholung und Differenz im Entstehen sich voneinander abhebender Ereignisse, deren Entstehen selbst greifbar oder fühlbar ist – Ereignisse, die ineinander aufgehen oder auseinander hervorgehen, in die Aufmerksamkeit oder aus ihr hinaustreten, die sich entwickeln, anhalten, sich unterbrechen, ersterben, beschleunigen, verlangsamen (wie viele rhythmische Dimensionen könnte man benennen?). Kurz, Rhythmus weist auf einen sinnlichen oder gefühlten Ablauf (course of events). Ereignisse müssen unterschieden (also unterschiedlich gemacht) werden und gleichzeitig einen Fluss oder Ablauf erzeugen, in dem Differenz im Verlauf entsteht. Es gibt keinen Rhythmus ohne Artikulation oder Differenz und keinen Rhythmus ohne Kontinuität oder Fluss, in dem Differenz gerade aus dem Prozess des Verbindens hervorgeht. Und noch einmal, die Artikulation und Fluss des Rhythmischen finden in der Erfahrung oder dem Gefühl statt. Das Gefühl in den Rhythmus einzubeziehen heißt, ihn als ästhetische Kategorie zu sehen. Als solche beinhaltet er Wert und Intensität – so können Dinge etwa als mehr oder weniger rhythmisch betrachtet werden; wo weniger Aufmerksamkeit, weniger Sorgfalt ist, wo es weniger auf die Dinge anzukommen scheint, gibt es weniger Rhythmus. Und wenn wir den Begriff des Ästhetischen in einem weiten Sinne von aisthesis als Spüren oder Wahrnehmen fassen, kann das Ästhetische und Rhythmische weit über das im eigentlichen Sinne Künstlerische oder Artifizielle hinausgehen. Alles Leben kann auf die eine oder andere Art als rhythmisch verstanden werden.

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Die Herausforderung, um die es mir dabei geht, ist, Rhythmus als die kontinuierliche Erzeugung neuer gefühlter Ereignisse zu denken. Diese Formulierung verbindet Kontinuität und Artikulation (Artikulation als Unterscheidung, die zu einer Vielzahl von Ereignissen führt) in einem Schema, das die kategoriale Trennung von Teil und Ganzem, Einheit und Vielheit, zusammen und getrennt unterläuft. Die Worte „Erzeugung“ und „neu“ verweisen auf Prozesshaftigkeit – „Erzeugung“ als ein Wachsen oder Werden von Kontinuität und „neu“ als Fokus auf das, was jetzt ins Sein tritt. „Die kontinuierliche Erzeugung neuer gefühlter Ereignisse“ umgeht, wenigstens für den Moment, die geläufige Identifikation von Rhythmus mit Regelmäßigkeit oder Periodizität. Die Vielfalt von Erfahrungen, die wir „rhythmisch“ nennen können, kann die Wiederkehr von etwas beinhalten, das als dieselbe Dauer, dieselbe Form, dasselbe Muster identifiziert werden kann, aber sie muss dies nicht. Man denke etwa an die Falten im Gewand der Madonna, die Linie, die Klee „Spazieren führt“, „freie Verse“ oder den „freien Rhythmus“ der „taktfreien“ Alep-Sektion südindischer Musik, den Taksim der arabischen Musik, Gregorianische Choräle oder zeitgenössische Musik ohne Puls oder klare Wiederholung wie Morton Feldmans Last Pieces oder Lachenmanns Grido. Weiterhin hängt das Rhythmische nicht unbedingt von scharf artikulierten Wechseln ab, die unabhängig von der Frage der Wiederholung auf klare, messbare und als solche identifizierbare Dauern, Formen oder Muster führen würden; Beispiele wären Farbmodulationen ohne Umrisslinie, die durchgängigen Gesten eines Tanzes, die Fluidität einer Konversation, eine Teezeremonie, Musik ohne klare Sektions- oder Ereignisgrenzen – Situationen, in denen eine Sache nahtlos in eine andere übergeht. Sind diese Beispiele notwendigerweise weniger rhythmisch als andere, regelmäßigere oder klarer unterteilte Prozesse, oder könnten sie ebenso rhythmisch sein, wenn auch auf andere Weise? Die Bezeichnung „frei“ im Fall musikalischer oder poetischer Rhythmen impliziert eine Bestimmung eines solchen Rhythmus als exzentrisch – also als Abweichung von einer regelmäßigen, deterministischen Wiederholung, die die Voraussetzungen für einen Rhythmus im eigentlichen Sinne erfüllt. Dass das Wort „Rhythmus“ hier noch als „frei“ bestimmt werden muss, zeigt deutlich, wie zentral oder prototypisch das Gleichmaß als Grundeigenschaft ist.2 Aber wir müssen 2 | Rhythmus als „strenge“ Regelmäßigkeit ist also die unmarkierte, dominante Form, die die Komplexität des „freien“ Rhythmus verdrängt. Die Strenge der

„strengen“ Regelmäßigkeit ist die eines schlichten quantitativen oder auf Einheiten gegründeten Maßes. Die Komplexität des „freien“ Rhythmus ist die anregende Feingliedrigkeit vieler (vielleicht unzählbar vieler) Faktoren, die in einer

Hier-und-jetzt-Situation zusammenwirken. Wir können daher bei „freien Rhythmen“ und „freien Versen“ an eine Freiheit von einengender Regelmäßigkeit denken, nicht aber an Freiheit von den unbegrenzten und unbegrenzt komplexen

Bedingungen des Kontexts. Der Dichter T.S. Eliot hat dies prägnanter formuliert:

Rhythmusexperimente

hier nicht haltmachen und Regelmäßigkeit als solche (Isochronie bzw. klare Maßeinheiten und abstrakte Wiederholung von Mustern) zur entscheidenden Bestimmung von Rhythmus erheben und damit mehr oder weniger rhythmisch mit mehr oder weniger regelmäßig identifizieren, und nicht beispielsweise mit mehr oder weniger intensiv oder mitreißend. Gerade weil Rhythmus nun aber normalerweise Wiederholung und Maß impliziert, müssen wir, um eine angemessen weite Bestimmung zu erreichen, trotzdem ein Verständnis dieser Kategorien entwickeln, das die Kreativität oder Spontaneität von Rhythmus in all seinen Formen nicht aufs Spiel setzt. Wir werden so geläufige Auffassungen von Rhythmus zurückweisen müssen, in denen die Wiederholung einer Einheit in Zeit oder Raum als Anlass genommen wird, aus dem Verlauf bzw. der Situiertheit auszusteigen, um ein äußerliches Maß anzulegen oder Repräsentationen zu bilden. Ironischerweise ist Rhythmus in seiner engsten und geläufigsten Bedeutung periodischer Wiederholung zum Inbegriff von Immobilität geworden. Die Zeit, die von Einheiten der Dauer gemessen wird, ist so eine imaginäre, synoptische Zeit, die niemals vergeht. Man denke an das Bild des Zeitstrahls, wo die Einheiten in einer fixierten Ordnung von links nach rechts vorliegen und sich einer unbegrenzten Vergleichbarkeit darbieten. Mit einem solchen Schema können wir den Blick nach vorn und nach hinten wenden, wie und wann wir wollen, wir können messen und dieses Segment mit jenem vergleichen. Die lineare Zeit ist eine Zeit, über die wir nachdenken können, jenseits einer Zeit oder eines Geschehen, das nicht stillsteht. Nun steht aber in der Zeit nichts still. Eine Messung von außen ist auf etwas angewiesen, das hier und dort, in Vergangenheit und Zukunft identisch bleibt – z.B. ein (Maß-)Stab für „Raum“ und eine Uhr für „Zeit“. Letztlich brauchen wir sogar nur den Maßstab – lineare Zeit ist, wie Bergson gezeigt hat, bereits verräumlicht. Im engsten Sinne benennt „Rhythmus“ die endlose Wiederholung desselben, insbesondere die Wiederholung reiner Zeiteinheiten. Selbst dort, wo Wiederholung die reine Einheit in Richtung komplexerer Muster oder Proportionen überschreitet, ist es immer noch die Einheit, auf die es ankommt. Indem ein solches enges Verständnis sich ein Zeitquantum als Einheit oder Identität vorstellt (oder als Muster und Verhältnis von Einheiten), die als dieselben wiederholt werden können, reduziert es Rhythmus auf schlichte numerische Anzahl. Was aus dieser Reduktion herausfällt, ist wirkliche Zeit, wirkliches Geschehen; wir haben es mit einer Reduktion der Komplexitäten des wirklichen Geschehens zu tun – der Komplexitäten von Kontext, Situation und Umständen, die ein Ereignis wirklich und gegenwärtig sein lassen. Die reale Zeit als Vergehen ist genau das, was nicht noch einmal dasselbe sein kann – die Dinge verändern sich. Ein Verlauf führt von einem zum anderen, nicht zum selben; oder wenn es ein Verlauf innerhalb „des„[S]o-called vers libre which is good is anything but free.“ (T.S. Eliot, Reflections on Vers Libre, in: ders., Selected Prose, hg. v. John Hayward, London 1952, S. 86-91, hier 87.)

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selben“ Ereignisses ist, verändert, wächst und entwickelt sich dieses Ereignis. Und zum Maß: Wie können wir wissen, ob das eine dasselbe ist wie das andere, wenn es wirkliches Vergehen gibt und Zeitdifferenz; wie können wir uns außerhalb der Zeit stellen, um zu messen? Wie können wir den Rhythmus anhalten, um ihn zu definieren, zu beschreiben oder zu analysieren? Was angehalten werden kann, sind logische Formen, Schemata, Konzepte – Dinge also, die notwendigerweise eindeutig statt mehrdeutig sind. Wir können problemlos vom Vergehen absehen, wenn wir die Dinge mit Begriffen festnageln wollen, die auf Unbewegtheit oder veränderungsloses Beharren setzen – Begriffe wie Form, Struktur, Schema, Information oder Ideologie. Ich möchte mit dieser Kritik nicht bestreiten, dass logische Formen nützliche Hilfsmittel sind, Hilfsmittel aber, die sich in ihrer Nützlichkeit erschöpfen – wann und für was sie nützlich sind, ist wiederum eine zeitliche, rhythmische Frage, die die Formen selbst überschreitet.3 Wenn wir von künstlerischen Produktionen als Repräsentationen sprechen, also als Trägern von Form und Struktur, sprechen wir von zeitenthobenen Abstraktionen. Aber die Welt hält nicht an. Solche Repräsentationen würden selbst dann gleich bleiben, wenn die zahllosen Dinge sich unterscheiden, die sie repräsentieren sollen. Aber nochmals, die Dinge bleiben niemals gleich, und Rhythmus ist eine Möglichkeit, mit Beweglichkeit zu rechnen und die Differenzen der tatsächlichen Vielheit wertzuschätzen. Damit kann Rhythmus als Werkzeug der Kritik an der Abstraktheit von Repräsentationen dienen. Rhythmus kann eine Erinnerung daran sein, dass dieses tatsächliche Hier und Jetzt wirklich ist und keine bloße Erscheinung wirklicherer Dinge – dafür allerdings muss Rhythmus in einem weiten Sinne verstanden werden, der Platz für Spontaneität, Fluss, und Wert lässt. Damit sind ein aktives Vergehen und ein aktives (An-)Dauern, in dem Dinge entstehen, zentral für den Rhythmus. Abkürzend können wird diesen weiten Sinn von Rhythmus eine prozesstheoretische Auffassung des Rhythmus nennen, um ihn von der engeren und geläufigeren substanztheorischen Auffassung abzugrenzen.4 Substanzen sind in diesem 3 | Ich werde in diesem Text notgedrungen mit Konzepten und logischen Formen arbeiten, mit dem Ziel allerdings, auf das hinzuweisen, was die logische

Form überschreitet. Ich bin hier Eugene Gendlin verpflichtet, der ausführlich über

die Möglichkeit und die Notwendigkeit geschrieben hat, sich zwischen dem Logischen und dem mehr als Logischen hin und her zu bewegen; vgl. etwa Thinking

Beyond Patterns: Body, Language, and Situations, in: Bernard den Ouden u. Mar-

cia Moen (Hg.), The Presence of Feeling in Thought, New York 1991, S. 25-151; auch unter http://www.focusing.org/tbp.html.

4 | Zu diesen beiden Perspektiven vgl. Nicholas Rescher, Process Metaphysics,

Albany 1996. In Alfred North Whiteheads Prozessphilosophie finden sich weitere Unterscheidungen, die die geläufige Gegenüberstellung eines substantiellen

Objekts und eines wahrnehmenden Subjekts unterlaufen: „Die Substanzphiloso-

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Sinne diskrete, umgrenzte Dinge, die letztlich voneinander isoliert sind. In der geläufigen substanztheoretischen Auffassung von Rhythmus sind Wiederholung und Maß die entscheidenden Charakteristika. Getrennten, voneinander unabhängigen Substanzen, die linear miteinander verkettet sind, wird derselbe Inhalt zugesprochen, indem die Eigenschaften gemessen werden, die sie gemeinsam haben. Die substanztheoretische Auffassung konzentriert sich ausschließlich auf Wiederholung und Maß und entzieht so Spontaneität, Fluss und Wert der Denkbarkeit. Wenn also auch zugestanden wird, dass Wiederholung und Maß wichtige Kategorien für den Rhythmus sind, müssen wir diese Begriffe auf eine Weise bestimmen, die das Vergehen anerkennt. Damit können wir sie vor einer substantialistischen Verleugnung des zeitlichen Vergehens bewahren.

II. Ich möchte ein Experiment machen, in dem ich das Wort „Wiederholung“ nicht als Wiederkehr einer unveränderten quantitativen oder qualitativen Einheit begreife, sondern als Weise des Nachdenkens über Artikulation, namentlich die Artikulation sukzessiver Ereignisse als kontinuierliche Aktivität. In diesem Experiment soll Wiederholung im allgemeinsten Sinne auf das Auftauchen oder Werden neuer Ereignisse verweisen, abseits von der Frage, was für Eigenschaften sie gemeinsam haben. Event (Ereignis) ist von e-venire abgeleitet, was wörtlich „herauskommen“ bedeutet. Wenn wir genau hinhören, macht uns diese Bedeutung auf den vektoralen, bewegten Charakter von Ereignissen aufmerksam. Das neue Ereignis setzt sich vom alten ab, unterscheidet sich von ihm. In der Wiederholung kommt etwas wieder. Man könnte sagen, dass in der Wiederholung dieselbe Sache wieder kommt; aber wir sollten nicht vorschnell annehmen, dass wir wissen, was „dieselbe“ hier bedeutet. Für den Moment möchte ich mich auf das „wieder“ (again) konzentrieren. Das altenglische ongean bedeutete so etwas wie „auf... zu“, „im Austausch für“ oder „gegen“, ähnlich dem deutschen „entgegen“: „wieder“ / „wider“. „Wieder“ als „gegen“, einem Gegenstand entgegenstehend, scheint gut zu einer substantialistischen, representationalistischen Auffassung von ursprünglich getrennten, voneinphien setzen ein Subjekt voraus, das einmal auf ein Datum trifft und einmal auf ein Datum reagiert. Die organistische Philosophie geht von einem Datum aus, das

mit Empfindungen verbunden wird und in zunehmendem Maße die Einheit eines

Subjekts erreicht. Aber im Zusammenhang mit dieser Lehre wäre ‚Superjekt‘ ein

besserer Terminus als ‚Subjekt‘.“ (Alfred N. Whitehead, Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt a. M. 1979, S. 290). Für eine Weiterentwicklung

dieses Gedankens vgl. Christopher Hasty, Rhythmicizing the Subject, in: Lawrence Bernstein (Hg.), Musical Implications: Studies in Honor of Eugene Narmour, Hillsdale 2014 (i.E.).

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ander abgegrenzten Dingen zu passen. Um dies in Richtung Prozesshaftigkeit zu wenden, können wir Ereignis eher als Objektivieren oder Objektwerden begreifen, als Heraustreten aus dem Vergehen als artikulierte Sache, als ein „Dies“, hier und jetzt. Dieses tritt heraus gegenüber dem, was vorher da war – einem „Das“. Oder sollten wir den Gegenstand als objektiviert denken, als das vergangene „Jenes“, gegenüber dem das neue Ereignis hervortritt? Wie auch immer wir uns entscheiden, die Herausforderung aus der Perspektive des Prozesses wird es sein, diesen Angelpunkt, diese Artikulation als Verbinden und nicht als Trennen zu begreifen. Die Aufgabe ist es, das „Dies“ und das „Jenes“ in eine komplexe gegenseitige Beziehung einzufügen, in der sie Momente eines kontinuierlichen Werdens sind, eines „Werden[s] der Kontinuität“5. Wiederholung fügt dem Ereignis Abfolge hinzu – etwas Neues kommt wieder, gegen etwas anderes, wodurch dieses andere zum vergangenen wird. „Wieder“ spricht also von zeitlicher Abfolge, einem Übergang von einem zu einem anderem, einem Neuen. Das Neue ist gegenwärtig im Sinne des Werdens, des Stattfindens, sich Veränderns, eines Seins, das noch unvollständig, unbestimmt ist. Das Alte ist vergangen, geworden, bestimmt. Rhythmus ist damit Sukzession – verstanden nicht als Linie oder serielle Ordnung, sondern als Prozess, in dem Neues in die Welt kommt. Wiederkommen ist ein Heraustreten als Ereignis, ein sich Ereignen. In diesem Sinne könnte Sukzession als Prozedieren oder Emanation verstanden werden. Rhythmus ist eine Komplexität von Abfolgen. Vieles findet „zur gleichen Zeit“ statt – Ereignisse innerhalb von Ereignissen, sich abstimmend oder entgegensetzend, sich überschneidend, durcheinander, sich an die Erfordernisse des Moments anpassend, Ereignisse, die eine Konzentration auf dieses oder jenes oder eine Zerstreuung, ein aus dem Blick Verlieren von diesem oder jenem erfordern mögen. Wie genau Dinge ins Sein kommen, wie Ereignisse hervortreten, ist stets eine empirische Frage. Es geschieht fortwährend etwas: Dieser Schlag folgt jenem Schlag, dieser Gedanke folgt jenem Gedanken, diese Geste folgt jener Geste. Dabei bereitet dieser Schlag, dieser Gedanke, diese Geste in irgendeiner Weise den nächsten bzw. die nächste vor. An diesen Beispielen kann man sehen, dass „dieses“ und „jenes“ unterschiedlich leicht zu spezifizieren sind; es gibt unendlich viele Unterschiede und Grade der Artikulation. Die Aufeinanderfolge in einem Puls mag sehr klar und deutlich artikuliert sein, ebenso wie die korrespondierende Geste – ein Klatschen, ein Schritt. Die Aufeinanderfolge von Gedanke auf Gedanke ist 5 | Diese Formulierung stammt von Whitehead: „Wenn wir aber zugestehen, dass

‚etwas wird‘, […] gibt [es] zwar ein Werden der Kontinuität, aber keine Kontinuität des Werdens.“ (Whitehead, Prozeß und Realität, a.a.O., S. 87) Kontinuität ist nichts vorab Gegebenes im Sinne einer Beziehung, einer Struktur oder einer regelbasierten „Transformation“. Kontinuität wird von Moment zu Moment neu erzeugt.

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nicht gleichermaßen klar. Auch in den Gesten des Zeichnens, Malens, Schreibens oder Komponierens gibt es einen Rhythmus. Diese Tätigkeiten bedürfen keiner Unterteilungen oder Schnitte, die das Neue auf einen Schlag vom Alten abtrennen. Dennoch tritt Neues hervor und ist überdies sehr genau zeitlich eingepasst – Dinge geschehen gerade jetzt, und wenn sie nicht gerade jetzt geschähen, wären sie andere Dinge. Nun mag man fragen, warum all dies Rhythmus genannt werden soll. Dehnt das nicht die Bedeutung des Wortes allzu weit? Aber was für ein anderes Wort haben wir, um die zeitliche Passung, die Koordination und das Einstimmen aufeinander folgender Ereignisse zu benennen? Rhythmus kann einige schwierige Fragen aufwerfen. Wenn Rhythmus von dieser Koordination und diesem Einstimmen handelt, wirft er dabei die Frage auf, wie Ereignisse sich miteinander verbinden oder aufeinander abstimmen, um einen Fluss entstehen zu lassen, der mehr oder weniger intensiv erfahren und wertgeschätzt wird. Wenn Ereignisse sich mehr oder weniger deutlich voneinander unterscheiden müssen, damit wir von einem zum nächsten fortschreiten können, wie können sie im Verlauf „zusammengehalten“ werden? Sind sie voneinander unterschieden, ehe sie kontinuierlich werden? Oder wenn das Vergehen gerade kein Festhalten, sondern eine Bewegung ist, können wir dann nicht eher sagen, dass Ereignisse sich erst im Übergang voneinander unterscheiden? Mit Vergehen (passage) meine ich die kontinuierliche Bewegung des Aufbruchs ins Neue, eine Bewegung oder einen Übergang in der Artikulation des Neuen. Damit es Artikulation geben kann, muss ein Unterschied zwischen einem und einem anderen bestehen. Aber ein solcher Unterschied muss nicht Getrenntheit bedeuten. Artikulation kann auch als Verbinden gedacht werden,6 und 6 | Artikulation leitet sich von articulis, Gelenk, her. William James verwendet die Metapher des „Gelenks“ (joint), wo er für die Kontinuität der Erfahrung argu-

mentiert: „The transition between the thought of one object and the thought of

another is no more a break in the thought than a joint in the bamboo is a break in the wood.“ (The Principles of Psychology, Bd. 1, Harvard 1981, S. 233f. (Kap.

9: The Stream of Thought)) James vertritt hier die Vorstellung einer artikulierten

Kontinuität, die aus dem Blick gerät, wenn wir uns auf „Inhalte“ des Denkens

beziehen, als seine sie substantielle Dinge. In seinen Principles of Psychology

ringt er mit ganz ähnlichen Phänomenen wie denen, die ich „Halt“ (holding) und „Bewegung“ (moving) nenne; er bemüht hier die bei Erscheinen des Buches 1890

noch unsichere Unterscheidung von „resting places“ oder „substantial parts“ als

Objekte oder Dinge und „places of flight“ oder „transitive parts“ als Relationen.

Seine Rede von Teilen, Orten, Objekten und Relationen steht in deutlicher Spannung zum „stream of thought“ und der Vorstellung des Flusses. James’ Behandlung von Geschwindigkeiten der Veränderung in „The Stream of Thought“ lässt sich auf die Diskussion von Geschwindigkeit beziehen, die ich weiter unten führen werde.

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zwar nicht als Verbinden von zuvor gegebenen Teilen, sondern als Verbinden, das Differenz oder Verschiedenheit als Vervielfältigung und nicht als Teilung produziert – Artikulation als Multiplikation, Synthesis, Wachstum. Wenn das neue Ereignis hervortritt, von wo tritt es hervor? Es kann nur aus der Welt kommen, in die es kommt, eine Welt, die selbst mit dem Auftauchen des Neuen verändert wird. Von daher müssen wir das sich Ereignen nicht von der Trennung oder der Sonderung von Teilen denken. Man könnte sagen, dass etwas, das hervortritt (sich ereignet, Ereignis wird), etwas mit sich bringt, dass das Neue etwas vom Alten mit sich nimmt, indem es aus dem Alten hervorgeht, dass etwas vom Alten ins Neue kommt, nun aber als neu, nicht als das, was es vorher war. Wenn das Alte die Welt ist, in die hinein das Neue kommt, dann ist, auch wenn es eine Teilung gibt, dieses Gewordene nicht abseits der Welt situiert, die es erbt, mit der es lebt und die es verändert. Mein Ziel bis hier war es, die Wiederholung des Rhythmus von der Frage der Selbigkeit als „dasselbe noch einmal“ zu trennen – eine Selbigkeit der Dauer, der Quantität, der Qualität, der Form, des Rasters, oder was wir sonst als Maß annehmen können. Diese Neudefinition von Wiederholung ermöglicht eine rhythmische Ereignishaftigkeit, die nicht auf Periodizität oder Regelmäßigkeit als Wiederkehr desselben beschränkt sein muss – das selbe Maß an Dauer (Isochronie), dieselbe Form oder dasselbe Muster von Dauern oder Formen. Und dennoch schließt Rhythmus tatsächlich die Wiederholung von Dauer, Quantität, Muster, Form, Qualität, also all jenem ein, das in einem neuen Ereignis wieder erscheinen kann. Indem wir uns auf das sich Ereignen konzentrieren, stellen wir die Frage, wie eine solche Wiederholung stattfinden kann. Wir werden fragen müssen, wie alte Qualitäten in einem neuen, gegenwärtig erscheinenden Ereignis wieder auftauchen können. Damit ist nicht die Frage gemeint, was zwei oder mehr Dinge gemeinsam haben oder in was für einem Verhältnis zueinander sie stehen. Ereignisse sind keine voneinander getrennten, autonomen, selbstbestimmten Dinge, die zum Zwecke des Vergleichs nebeneinander gehalten werden können. Dasjenige, das vergangen ist, ist bestimmt (determined), ein determinatum, terminiert, indem es zu dem geworden ist, was es ist. Das Gegenwärtige ist im Werden begriffen und wird schließlich selbst bestimmt oder vergangen sein und den Prozess des Werdens hinter sich lassen. Gegenwart und Vergangenheit können außerhalb des Vergehens nicht verglichen oder gegenübergestellt werden. Die Frage nach der Wiederholung fragt nach einer (sich nicht mehr ereignenden) Vergangenheit, die in eine (sich ereignende) Gegenwart kommt bzw. nach einer (sich von einer Vergangenheit aus ereignenden) Gegenwart, die diese Vergangenheit in sich aufnimmt. Wir können dies als Teilhabe eines Ereignisses an seiner Vergangenheit denken und nicht als Unterteilung, in der voneinander getrennte, unvergängliche Objekte Eigenschaften gemeinsam haben. In der substanztheoretischen Perspektive sind Dinge zuerst einmal als selbstgenügsame, umgrenzte Entitäten voneinander getrennt. Danach ist Artikulation

Rhythmusexperimente

eine Grenze, die trennt, und nicht ein Verbinden, das heilt oder ganz macht. Die Grenze ist der Autonomie oder Identität der Dinge wesentlich. Diese umgrenzten, wesentlich voneinander getrennten Dinge können voneinander nur durch ihre gegenseitigen Beziehungen wissen. Relationen (relatus, zurück getragen) sind Rückgänge, die jene Grenzen überqueren, die die Dinge voneinander trennen. „Zurück“ ist hier eine räumliche Kategorie – nicht zurück in der Zeit (wie sollte das auch gehen?) –, aber in einem zweidimensionalen Raum. Relationen sind wie kleine Boten, die zwischen den begrenzten Substanzen kommunizieren, zu denen sie gehören. Relationen sind mit der Währung der Eigenschaften erreichte Vermittlungen, Eigenschaften, die die Substanz besitzt, die ihr angehören. Substanztheoretisch betrachtet sind Relationen äußerlich – sie wirken außerhalb der von ihnen verbundenen Dinge. Wenn Rhythmus nun aber von Verstrickung und Beteiligung handelt, von einer Vorwärtsbewegung in eine neue Erfahrung hinein, ist eine solche Äußerlichkeit fehl am Platz, denn es gibt keinen Ort außerhalb des Vergehens. Wenn die Relation eine äußerliche ist, müssen die Relata dem Vergehen enthoben sein, als Dinge, deren Trennung ihrer Beziehung vorausgeht. Auch wenn nichts außerhalb des zeitlichen Vergehens ist, können wir uns dennoch eine zeitlose Welt getrennter, sich wechselseitig ausschließender, äußerlich aufeinander bezogener Gegenstände denken, die vollständig geformt sind und geduldig darauf warten, dass wir ihre Beziehungen zur Kenntnis nehmen. Weil unsere Kenntnisnahme notwendigerweise zeitlich ist, werden solche Gegenstände auch uns äußerlich sein (wie sie in uns hineinkommen, muss ein Geheimnis bleiben). Nun können wir tatsächlich Vergleiche und Messungen anstellen. Im Fall einer äußeren Messung gehen wir so vor, dass wir eine Maßeinheit erfinden, die der Zeit entzogen ist, indem sie dieselbe bleibt – bespielsweise ein Meter oder eine Minute. Wenn wir aber nicht so tun, als stünden wir außerhalb von Zeit und Ereignis, wird das Maßnehmen von innen geschehen müssen – im Inneren des neuen Ereignisses, während es sich seiner Umgebung anpasst und sich auf die Welt einstimmt, in die es kommt. Dieses innere Maß wäre ein gegenwärtiges Ereignis, das sich selbst formt, indem es seine Umgebung zur Kenntnis nimmt oder fühlt – oder, wie wir auch sagen könnten, Maß an der Welt nimmt, in die es kommt (eine Welt, die weitgehend vergangen ist). Ohne diese Welt wäre das Ereignis undenkbar – es gäbe nichts, aus dem es hervorgehen könnte. Die Welt, aus der es kommt, ist die Welt, an deren Erschaffung es beteiligt ist. Dieses (gegenwärtige, fortlaufende) sich Ereignen macht sich selbst aus einer ihm gegebenen (vergangenen) Welt. Und was es da macht, werden zukünftige Ereignisse auf Gedeih und Verderb als Ausgangspunkt nehmen müssen, eine Welt der Möglichkeit (Öffnung) oder Enttäuschung (Schließung) für Nachfolger, die daraus machen werden, was sie können. In diesem Abenteuer der Welterzeugung kann es keine Trennung, keine absolute Autonomie geben. Wenn also im Hervortreten von Ereignissen Qualitäten, Formen, Muster, Gefühle etc. wiederholt werden, werden sie im neuen Ereignis so wiederholt, wie dieses seinen Vorgängern Rechnung tragen kann. Etwas zu wiederholen, sich im Erzeugen

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von Ähnlichkeit und Differenz auf etwas zu beziehen, ist ein Tun. Das neue, jetzt stattfindende Ereignis ist aktiv; das nun vergangene ist dies nicht mehr. Prozesstheoretisch betrachtet wären alle Relationen innere, und noch mehr – sie wären kreativ. Der alten Auffassung zufolge erlauben Relationen ihren Trägern (Dingen, Substanzen), voneinander getrennt zu bleiben. In der prozesstheoretischen Sicht, die ich hier vertrete, wird das Ereignis durch ein aktives Maßnehmen konstituiert, zu dem gemacht, was es ist. Sein komplexer Charakter ist nicht einfach etwas, das es mit einem anderen Ereignis gemeinsam hat; er ist das Ereignis, genau so und keinem anderen gleich. Statt einen Vergleich zwischen zwei Ereignissen anzustellen, können wir sagen, dass der Vergleich im Hervorbringen des neuen Ereignisses liegt. Es gibt zahllose Weisen, auf die Qualitäten oder Quantitäten wiederholt werden können, um Erfahrungsereignisse zu bilden. So ist etwa in der visuellen Sphäre das schnelle Überfliegen eines Gemäldes – sich an eine herausgehobene Stelle halten, indem man wiederholt, sich wegbewegt, zurückkehrt, schließlich seltener zurückkehrt und sich allmählich anderen Dingen zuwendet – Teil des Sehens z.B. von diesem Grün im Kontrast zu diesem Blau, von der Form, die sich aus ihrer Entgegensetzung ergibt, dem Eindruck von Tiefe im Blau, das sich gegenüber dem Grün zurückzieht, und der Art, wie diese Tiefe uns gegenüber einem tieferen Horizont situiert. Vielleicht hält das Sehen/Denken inne und reflektiert über Stil, Technik, Narration, Geschichte. Derartige Fragen entspringen dem Sehen und früheren Gedanken und führen zu Gedankengängen, die möglicherweise die Art des Sehens verändern. Inmitten dieser Komplexität ereignen sich Ähnlichkeiten und Kontraste vermittels von zahlreichen gemessenen Wiederholungen, die ständig neu hervorgebracht werden, da sie die tatsächlich eintretenden Ereignisse bilden. Ähnlichkeiten und Unterschiede sind nicht vorgefertigt wie in substanztheoretischer Sicht; sie werden vollbracht, ständig neu erzeugt. In der Wiederholung sind die Eigenschaften niemals genau die selben. Die Vorstellung eines inneren Maßnehmens macht es möglich, Artikulation und Kontinuität zu verstehen. Wenn Wiederholung die Diskontinuität der Abfolge ist, in der neue Ereignisse sich in ihrem eigenen Werden verfestigen und sich von einer Vergangenheit abtrennen, die sie gerade dadurch vergehen lassen, dass sie sich als etwas Neues darstellen, so bildet ihr notwendiger Bezug zu ihrer Vergangenheit (und bis zu einem gewissen Grade auch zu ihrer Zukunft) gerade ihre Verbindung zu jener Vergangenheit (und Zukunft), eine Verbindung, die nichts von Trennung weiß. Ereignisse sind nicht wirklich voneinander getrennt. Wie unsere intuitiven Vorstellungen von Rhythmus es nahelegen, sind Artikulation und Fluss keine Gegensätze. So wie es Grade der Rhythmizität gibt (Dinge können mehr oder weniger rhythmisch sein, so wie sie mehr oder weniger intensiv, interessant, mitreißend sein können), gibt es Grade der Kontinuität. Wenn Kontinuität in diesem Sinne Beteiligtsein und noch mehr das Auffassen einer bedeutenden, stützenden Vergangenheit ist, so kann dies auf relativ oberflächliche oder tiefe, einfache oder

Rhythmusexperimente

komplexe, leichte oder anspruchsvolle Weise geschehen. Wo die Beteiligung nur oberflächlich ist, kann die Sache vage und ohne wesentliche Neuheit sein. Wo weniges im Spiel ist, sind die Dinge weniger bedeutsam, oder, wie man sagen könnte, es steht weniger auf dem Spiel. Ohne eine ausreichende Empfindung von Kontrast kann es sein, dass das neue Ereignis nicht klar artikuliert ist. Worum es mir hier geht, ist, dass ein hoher Grad an Kontinuität (als Verbindung) deutliche Artikulation und klare Details ermöglicht. Nicht nur sind Artikulation und Fluss keine Gegensätze, sie verstärken sich gegenseitig. Wenn man es so denkt, sieht man, dass die Makro- und die Mikroebene, Ganzes und Teil, Weite und Einzelheit nicht gegeneinander ausgespielt werden müssen. Tatsächlich bin ich der Auffassung, dass es in komplexen Erfahrungen eine Mischung aus Verbindung und Verbindungslosigkeit geben muss und dass diese Mischung instabil ist, und zwar vielleicht gerade in jenen Erfahrungen, die wir „rhythmisch“ nennen. Diese Differenz lässt Vordergrund und Hintergrund erscheinen und ermöglicht die Wahrnehmung von Tiefe. Die Verteilung oder Balance von Verbundenheit kann sich stetig verändern, was nichts anderes heißt, als dass Fokussieren, neu Fokussieren und den Fokus Aufgeben allesamt Teil des rhythmischen Prozesses sind. Ich habe vorgeschlagen, Wiederholung im basalsten Sinne als sukzessive Formierung von Ereignissen zu verstehen und Maß vom Ereignis her als die qualitative Dimension der Wiederholung bzw. als das „Wie“ ihrer Formierung. Diese Neubestimmung wirft zahlreiche Fragen auf, die hier nur teilweise beantwortet werden können: Fragen nach Unterschieden im Umfang von Ereignissen, in ihrer Modalität, ihrer Hierarchie und ihrer Überschneidung und nach dem Erbe einer Vergangenheit, die jenseits der direkten Abfolge liegt. Um den rhythmischen Prozess genauer zu untersuchen, wird sich der folgende Teil dieses Textes Beispielen aus der Musik, der Dichtung und der Malerei zuwenden, wofür das skizzierte Verständnis von Wiederholung und Maß den Hintergrund bilden wird.

III. Mein erstes Beispiel ist der Beginn des zweiten Satzes von Haydns „Sonnenaufgangsquartett“, op. 76, Nr. 4 (Abb. 1). Ich möchte mich hier auf einen bestimmten Aspekt der Musik konzentrieren, nämlich das Messen von Dauer angesichts von Ereignissen, die sich auf ihre unmittelbaren Vorgänger beziehen. Dieses Maßnehmen wird für gewöhnlich als „Metrum“ bezeichnet und vom Rhythmus durch seine deterministische Regelmäßigkeit unterschieden – eine vorgegebene, zeitlose Ordnung, die man sich als Raster vorstellt, in das ein weniger regelmäßiger sogenannter „Rhythmus“ eingefügt wird. Ich möchte mich hier nicht mit der Inkohärenz dieser Entgegensetzung aufhalten, aber doch festhalten, dass Metrum als Raster eben jenes künstliche äußerliche Maß der Substanzontologie ist, nach

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der Dinge durch autonome Einheiten gemessen werden können.7 Aus einer Prozessperspektive ist Metrum inneres Maß, ein Wiederholen von Vorgängern, ein Wiederholen aber, das uns ständig ins Neue führt. Abb. 1

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Kadenz

Dauer ist eins der zahllosen Felder der Wiederholung. Sie ist die Empfindung oder das Messen des „Wie lange?“, kein Zählen von Einheiten. Da in einer wirklichen Situation alle relevanten Bereiche zusammenwirken, muss die Konzentration auf Dauer hier als Abkürzung, ja als Abstraktion verstanden werden. Tonqualität, Tonhöhe, Stufe, Harmonie, Kontur, Klangfarbveränderung – die unzähligen qualitativ/quantitativen Bereiche, die wir benennen könnten – können alle mit ins Spiel kommen. Sie sind nicht voneinander getrennt – in einem musikalischen Ablauf (passage) hören wir die Dauer nicht unabhängig von den tatsächlichen Er7 | Vgl. dazu Christopher Hasty, Meter as Rhythm, Oxford 1997.

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eignissen, die dauern und zahlreiche weitere Eigenschaften mit sich bringen, etwa Kontur oder Harmonie. Wie sich die verschiedenen Qualitäten im Hören verteilen, wie deutlich sie wahrgenommen werden, wie sie einander verstärken oder abschwächen, das sind Fragen, die auf die tatsächliche Komplexität der Erfahrung und die Begrenztheit der Analyse weisen. Analyse ist Begrenzung – Analyse (analyein) ist eine Lockerung der Kontinuität, ein Verlust der Verbindung, eine Entfremdung von Teil und Ganzem, ein Abstraktwerden, eine Art Ent-Rhythmisierung. Aber Analyse kann auch als Experiment fungieren, als ausprobierendes Zerlegen, bei dem neue Ereignisse, neue Erfahrungen gemacht und gegen die alten gehalten und an ihnen gemessen werden können (und ein solches Experiment wird einen eigenen Rhythmus erzeugen). So lange uns diese Begrenzung bewusst ist, können wir das Experiment für welchen Zweck auch immer einsetzen. Wir gehen angemessen mit unserer Analyse um, wenn wir ihren Zwecken Rechnung tragen und ihren möglichen Folgen. „Rechnung tragen“ kann als jene Art des inneren Maßnehmens verstanden werden, das ich skizziert habe. So betrachtet kann unsere Analyse eines ästhetischen Objekts vieles Unterschiedliche leisten. Sie kann weiter in die Spekulation führen, auf neue Fragen, deren Gegenstand die Veränderungen alter Begriffe oder das Erzeugen neuer Bedeutungen mit alten Begriffen sein kann. Oder wir können aus unserem Exil in den analytischen Verwüstungen zum Sinnlich-Empirischen zurückkehren, in einer neuen Erfahrung unseres nun wieder ganzen ästhetischen Objekts, und zwar mit dem Wissen, dass diese neue Erfahrung im Guten wie im Schlechten davon geprägt sein wird, dass wir uns zuvor auf entfremdete Teile konzentriert haben. Nicht jede Analyse lässt diese Möglichkeit offen. Eine solche Erneuerung, die die Sache selbst verändert, kann es nur geben, wenn jene analytischen Teile selbst sinnlich sind und so auf unsere sinnliche/ästhetische Erfahrung zurückwirken können. Unsere reduktive Konzentration kann somit Ereignisse erzeugen, die, einmal vergangen, zukünftige Beschäftigungen mit einem ästhetischen Objekt beeinflussen können, neue Ereignisse, die vergangenen Erfahrungen Rechnung tragen. Auf diese Weise kann Analyse ein Mittel des Lernens bzw., um den zeitlichen/ vektoralen Charakter eines Lernens zu betonen, dessen Maß neue Erfahrung ist, ein Lernen von sein. Um dem Sinnlichen so nahe wie möglich zu bleiben, können wir dieses Experiment, diese Analyse beginnen, indem wir uns mehrere Male eine Aufnahme oder mehrere Aufnahmen der ersten Phrase (ca. 30-35 Sekunden) anhören, ohne in die Partitur zu blicken.8 Ich möchte in dieses mehrmalige Hören insofern eingreifen, als ich Sie bitte, auf das Erscheinen zweier Ereignisse zu achten: die langen, angehaltenen Klänge (Quinten und Dezimen), mit denen jene zwei größere Ereignisse 8 | Die Aufnahmen den Kuijken Quartetts (Dennon CO-18045-46) und des Kodály

Quartetts (Naxos 8.550129) sind gut zu bekommen und bilden stilistisch einen deutlichen Kontrast.

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enden, mit denen die Phrase anfängt. Beobachten Sie, wie lang jene Klänge sind, ehe das folgende Ereignis beginnt; erscheint diese Länge gerade richtig, oder ist das neue Ereignis zu früh oder zu spät, und wenn letzteres, wie früh oder spät? In jedem Fall werden Sie das Maßnehmen hören, oder besser Sie werden es vollziehen, indem Sie die Ereignisse hervorbringen. (Oder erzeugen die Ereignisse, das Maßnehmen umgekehrt Sie?) Je genauer Sie darauf achten, desto schärfer werden Sie Dauer empfinden. In der Partitur habe ich die Fermaten in den Takten 2 und 4 markiert. Diese weisen die Musiker darauf hin, die Klänge länger zu halten, als die Notation vorschreibt. Wie lang genau, müssen sie selbst entscheiden. An dieser Stelle können wir ein Maßnehmen beobachten, das sich auf ein Gefühl gründen muss. Tatsächlich ist jedes Maßnehmen auf ein Gefühl gegründet, aber wir vergessen dies nur zu leicht, wenn wir glauben, dass die Notation die Dauer bereits festgelegt hat, dass das Maß als Raster vorgegeben ist und so die Zukunft auf magische Weise vorherbestimmt und dem Vollzug der Gegenwart seine Lebendigkeit nimmt. Wenn das Halten des Klangs in der ersten Fermate als neues, zweites Ereignis empfunden wird – ein zweites Anfangen (secundus, folgend) –, dann muss die Dauer, die es verspricht, unter anderem die Dauer berücksichtigen, die ihr vorausgeht und nun vergangen ist. Dieses neue Geschöpf hat nur seinen unmittelbaren Vorgänger, an den es sich halten kann, um seine eigene Dauer festzulegen. Die Notation weist nun aber in eine ganz andere Richtung – den Anfang eines neuen Maßnehmens vor der Fermate, eine Artikulation bzw. ein Neueinsetzen, auf die der Taktstrich verweist. Die metrische Notation kann bei all ihrem praktischen Wert nur die Pseuoabfolge dauerfreier Einheiten zeigen und Anweisungen geben, wie diese zu zählen sind. Als ich vor einigen Jahren mit dem Ying Quartett gearbeitet habe, habe ich sie gefragt, ob sie diese Eröffnung ebenso hören, wie ich es hier vorgeschlagen habe – also als neues Ereignis, das mit der Fermate beginnt und das Äquivalent von vier Viertelschlägen andauert, oder besser: das seine Dauer von dem vorangegangenen Ereignis (welches „vier Noten“ lang ist) erbt. Ihre Antwort kam ohne zu zögern und lautete etwa: „Nein – es ist im Dreivierteltakt notiert, und so spielen wir es natürlich auch.“ Ich habe sie dann gebeten, es noch einmal zu spielen, und der Bratschist änderte seine Meinung. Er hatte das Gefühl, dass der gehaltene Klang die Dauer nachvollzieht, die ihm unmittelbar vorherging. Nach einem weiteren Versuch sahen auch die anderen Musiker, dass sie es von Anfang an als impliziten Zweiertakt gespielt und empfunden hatten, ohne weiter darüber nachzudenken – und sicher ohne zu zählen. Man kann mehreres aus dieser Geschichte lernen: erstens, dass die Notation als Raster und eine notationsbasierte Theorie uns blind für die komplexere Wirklichkeit der Erfahrung machen können; zweitens, dass die Formierung von Dauer ein Prozess der Ereignisformation ist. Wie lange soll die Fermate gehalten werden? Wann das neue Ereignis beginnen? Wenn die Zeit gekommen ist, weder zu früh noch zu spät. Dieses präzise Timing gründet sich auf einem genauen Gefühl dafür, was gerade eben gespielt worden ist und was diese

Rhythmusexperimente

Entscheidung für folgende Ereignisse bedeuten könnte. Erfahrene Musiker wissen, dass Timing entscheidend ist und dass der Rhythmus dieser Eröffnung den gesamten Rest der Aufführung beeinflussen wird, zum Guten oder Schlechten. Alles ist wichtig, und alles, was zusammenwirken kann, wirkt zusammen. Indem mit dem musikalischen Verlauf immer mehr an Kontext erscheint, kann dieses Mehr auf die jeweilige Formierung von Ereignissen einwirken. So kann etwa genaue Aufmerksamkeit auf das Spüren der Dauer der ersten Hälfte der Phrase (eines ersten Ereignisses) die Beschaffenheit des Nachfolgers, der zweiten Hälfte, intensivieren. Am Ende der Phrase erscheint der notierte Dreivierteltakt. Aber es gibt keinen genauen Punkt, wann dies geschieht. Wir sind mit der Überschneidung kleinerer Ereignisse, die Teil eines größeren, komplexen Ereignisses sind, nahtlos von einem Maßnehmen in ein anderes geglitten. Das Ganze ist ein phantasievolles Stück Musik, das die Bewegung zum Ende der Phrase auf unerwartete Weise beschleunigt und intensiviert; es beinhaltet eine Art Magie, einen Taschenspielertrick – wie kommen wir auf einmal in den Dreiertakt? Alles trägt zu genau dieser Wendung bei, all jenes, das wir Harmonie, Melodie, Kontrapunkt, Kontur, Artikulation nennen. Harmonisch wird beispielsweise die Funktion „Vorbereitung der Dominante“ (F-Ab-C) verlängert, aufgeschoben von Takt 4 bis zu ihrer Auflösung in der hochkonventionellen kadenziellen Dominante in Takt 7, die wiederum in Takt 8 zur Tonika aufgelöst wird.9 Man achte auch darauf, dass die Beschleunigung auf den Schluss hin mit etwas überblendet wird, das zu einem drängenden Verweis auf den Anfang der zweiten Phrase in Takt 9 zugespitzt werden kann, einem zweiten Ereignis auf dieser sich neu formierenden „Ebene“ der Dauer. In Takt 7 beschleunigen die letzten drei (Achtel-)Noten der ersten Geige auf den Abschluss der Tonika Eb in Takt 8 hin, und die Bewegung setzt sich mit dem hohen Achtel-Arpeggio zur Einführung der neuen Phrase fort, die ihre Eigenheit entwickelt, indem sie an der ersten Phrase in allen relevanten Details Maß nimmt. Die Musiker des Kuijken Quartetts haben sich hier entschieden, die Intensität dieses Verweises zu verstärken, indem sie die Aufmerksamkeit auf die um eine Oktave erhöhte Wiederkehr der Töne D-Eb-G-Bb in Takt 8 lenken. Dieses kleine Detail hat Auswirkungen darauf, wie die neue Phrase sich entfaltet, und was aus dieser Phrase wird, hat Auswirkungen auf ihre Nachfolger. In anderen Interpretationen geht dieses Detail verloren. Stattdessen wird der Anfang des Taktes (Eb, Takt 8) betont und der Rest der angekündigten Dauer von Takt 8 eher entspannt ausgefüllt; auch dies ist ein Verweis nach vorn, der aber weniger intensiv und konzentriert ist. Ich weise auf diese Behandlung von Details hin, um deutlich zu machen, was für 9 | Mit der „Funktion der Vorbereitung der Dominante“ meine ich eine Verengung des tonalen Potentials in Richtung der folgenden (zukünftigen) Dominante; mit

„Dominante“ meine ich ein verstärktes Potential zu einer folgenden „Tonika“, die

als Abschluss einer tonalen Bewegung fungieren kann, weil sie kein besonderes

Potential hat (also sich zu jeder anderen Harmonie oder Tonstufe bewegen kann).

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unerschöpfliche Möglichkeiten die Partitur der Aufführung für die Konstruktion musikalischer Bedeutung lässt. Das Haydn-Stück bietet zahllose Gelegenheiten der Wiederholung und ein hohes Maß an Rasterung und Wiederholung im herkömmlichen Sinne. Das ist typisch für den Stil, den Haydn geerbt und in veränderter Form an seine jüngeren Zeitgenossen weitergegeben hat. Auch wir als Hörer und Musiker erben Stil durch zahlreiche (wiederholte) Begegnungen mit Musik. Stil ist nichts anderes als eine Wiederholung, die Übernahme und Neuheit einschließt und die in ihrer tatsächlichen Praxis vielleicht selbst rhythmisch genannt werden kann. Ein neues Ereignis greift immer auf einen riesigen Fundus vergangener Erfahrung zurück. Wenn wir es stets mit Abfolge zu tun haben, es also keine Lücken im Ablauf gibt, in denen die Zeit anhält, bilden sich Ereignisse immer aus ihren direkten Vorgängern. Was aber als direkt oder unmittelbar gilt, hängt vom Kontext ab. Unmittelbarkeit mag hier sehr eng sein. So kann sich etwa ein zweites Ereignis, das mit der Fermate in Takt 2 einsetzt, auf die unmittelbare Vergangenheit des direkt davor Erklungenen konzentrieren (angefangen bei Takt 1). Takt 8 nimmt Maß an Takt 7, seinem direkten Vorgänger. Und trotzdem nimmt der Anfang von Takt 9 die Gesamtheit der Takte 1-8 als direkten Vorgänger. In diesem Kontext hat Takt 8 keine unmittelbare Relevanz für das neue Phrasenereignis, die davon abgelöst wäre, dass er die Fortsetzung der ersten Phrase ist, die erst dann wirklich zu einer Phrase wird, wenn sie in der Gegenwart ihres Nachfolgers, der zweiten Phrase, vergangen ist. Das Erscheinen der neuen Phrase in Takt 9 wahrzunehmen bedeutet, diesen neuen Anfang (oder Neuansatz) als Nachfolger der ersten Phrase in ihrer Gesamtheit aufzufassen, nicht als Nachfolger von Takt 8. Was für Takt 9 in diesem Kontext am bedeutsamsten ist, ist Takt 1, in Bezug auf den er neu ansetzt (diesmal höher und in der zweiten Geige). Und dennoch können wir gleichzeitig in Takt 8 eine Bewegung auf einen neuen Anfang zu spüren. Wiederum können wir dies je nach dem Spiel der Musiker und unserer Aufmerksamkeit mehr oder weniger deutlich wahrnehmen. Die Ereignishierarchie ist in ständiger Veränderung begriffen, indem unser Fokus sich verschiebt, um mit der Komplexität des Geschehens mitzuhalten oder sich von ihr zurückzuziehen. In der Tat könnte man diese Verschiebungen der Unmittelbarkeit oder Relevanz als die „Metrik“ einer solchen Hierarchie begreifen. Ich habe mich auf die unmittelbare Folge als Kontext neuer Ereignisse beschränkt, weil wir in dieser unmittelbaren Folge den andauernden rhythmischen Fluss am deutlichsten spüren, aber die Sukzession ist offensichtlich komplizierter, wenn es Schwerpunktverschiebungen zwischen den unterschiedlichen Ebenen gibt, die unter Umständen nicht vollständig miteinander koordiniert sind. Es mag Überlappungen geben, Zerstreuung, Neufokussierungen, die zu Diskontinuität führen, Ereignisse können miteinander um Aktualisierung konkurrieren, etwas, dem wir folgen, kann verschwinden, etwas anderes wie aus dem Nichts auftauchen und doch vielleicht schon dagewesen, aber unserer Aufmerksamkeit bisher entgangen sein. Überdies kann ein neues Ereignis an einer entfernteren Vergangen-

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heit Maß nehmen, nicht bloß an einem unmittelbar vorhergehenden Ereignis, das durch seine Gegenwart zur Vergangenheit wird. Die wiederholten Experimente im Hören der Eröffnung des Adagios werden zu einem gewissen Grad den Gang des je neuen Hörens und letztlich das Hören des gesamten Stückes verändern. Das Maß dieser Veränderung ist es, die ein gegenwärtiges Hören zu dem macht, was es ist. Jene vergangenen Erfahrungen, die jetzt keine Dauer mehr haben und sich mit einer generellen Vergangenheit verbinden, sind nichts als das, was in einem neuen Werden relevant werden kann, sie sind potentiell/virtuell oder sie sind gar nichts. Und was hier auftauchen kann, schließt so bemerkenswerte rhythmische Ereignisse wie Musikstücke ein, die als Gelegenheiten zum Hören verstanden werden können. Im Falle des Anfangs des Adagios könnten wir fragen, welches Ereignis durch den Klang zu Vergangenheit und dadurch relevant für das Maßnehmen dieses Klanges wird, oder auch, welche Ebene der Ereignishierarchie der Anfang der Musik einnimmt. Wenn diese in etwa gleichbedeutenden Fragen nur schwer zu beantworten sind, mag dies daran liegen, dass der Anfang des Stückes sich von der äußeren Ereigniswelt abtrennt, um seine eigene Welt spezifischer Relevanzen zu entwickeln. (Diese Welt vorzeitig anzuhalten, etwa um die erste Phrase zu isolieren, kann als verstörender Bruch empfunden werden.) In diesem Fall wäre der unmittelbare Vorgänger – etwa unser vorheriger Gedankengang, der etwas mit der Erwartung zu tun hatte, Klänge zu hören, und damit mit erhöhter Aufmerksamkeit – nahtlos mit einer tieferen Vergangenheit verwoben, die all das beinhaltet, was nun auf das Hören einwirken kann. Welches Ereignis wird durch den Anfang des Klangs beendet? Die Ankunft von Klang beendet unser Warten darauf, aber sie beendet nicht all das, was davor geendet hat. Die Vergangenheit war niemals gegenwärtig (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind ontologische, nicht chronologische Unterscheidungen). Die Vergangenheit als solche ist ein riesiger Fundus potentieller Relevanzen, der keine Dauer hat – etwa die eigene Vertrautheit mit diesem Stil oder dieser Art von Musik, wobei „diese Art“ in Wirklichkeit genau das ist, was hier und jetzt relevant gesetzt wird. Das Haydn-Stück zeigt uns eine tiefe und relativ klar artikulierte Ereignishierarchie und eine kontinuierliche, sich ständig verändernde Reproduktion zeitlicher Länge oder Dauer (Metrum). Präzise und komplexe Artikulation wird durch mehrere Kunstgriffe erreicht, die typisch für diesen Stil sind. Die Reproduktion von Dauer (wie lange?) macht die Formation von Ereignissen vor allem im Bereich von etwa einer halben Sekunde bis zu mehreren Sekunden möglich. Diese Art des Maßnehmens ist auf die Zukunft, auf das Ende orientiert, ein Empfinden dafür, wie lange das gegenwärtige Ereignis andauern wird und wann ein Nachfolger erscheinen mag. Wenn das gegenwärtige Ereignis seine bestimmte Dauer in seinem eigenen Werden von seinem Vorgänger erbt, kann es (können wir) das Nahen eines Endes oder ein Knappwerden der Zeit spüren. Dieses Maßnehmen erhöht auch das Potential für ein neues Ereignis. Wenn die Zeit knapp wird, sind wir bereit für ein neues Ereignis und schnell dabei, einen Hinweis darauf anzunehmen, wenn er

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zur richtigen Zeit kommt. Eine solche Sensibilität und Schnelligkeit der Reaktion ist es, was ich oben als präzise Artikulation bezeichnet habe. Komplexität kann durch Bewegung und Anpassung innerhalb mehrerer Ebenen von Ereignisformation (der „metrischen Hierarchie“) erreicht werden. Um größere Ereignisse wie Phrasen, Perioden und Abschnitte (allesamt schwer zu greifende Kategorien, die sich auf die Komplexität, Vielfalt und Beweglichkeit der Formation von Ereignissen beziehen) zu artikulieren oder zu erzeugen, gibt es in diesem Stil zwei weitere wichtige Techniken: 1) die tonale Kadenz, die das bevorstehende Ende eines Ereignisses zu erkennen gibt, „bevor“ ein nachfolgendes erscheint, und 2) ein Wiederansetzen, also das Wiederauftauchen eines früheren Einsetzens, mit dem unmittelbar das Erscheinen eines neuen Ereignisses und damit das Ende des vorhergehenden angezeigt werden kann. Kadenzen sind interessanterweise hochgradig konventionalisiert. Sie sind Formeln, mit denen angezeigt wird, dass etwas zu Ende geht, und als Formeln haben sie sich als ziemlich robust erwiesen. Auch wenn sie sich über die Jahrhunderte verändert haben, haben diese Formen verglichen mit anderen Merkmalen der Musik eine bemerkenswerte Beständigkeit bewiesen. Anders als andere Figuren der „klassischen“ Musik, die auf Spezifität und Besonderheit zielen und mit denen sich dieses spezielle Stück von allen anderen abheben soll, sind Kadenzfiguren außerordentlich uncharakteristisch und unoriginell. An ihren Kadenzen wird man eine bestimmte Komposition kaum erkennen können. Vielleicht weist die Konventionalität und Beständigkeit der tonalen Kadenz auf die Schwierigkeit hin, das zu Ende Gehen zu greifen. Wann ist etwas je wirklich vorbei? In Wirklichkeit ist etwas nicht eher vorbei, als bis sich etwas anderes als neues Ereignis behauptet hat, auch wenn dieses andere nur ein allmähliches Nachlassen des Interesses am Alten und ein Warten auf das Neue ist. Es kann dauern, bis ein neues Ereignis als neues erscheint, bis es sich vom alten gelöst hat. Artikulation muss und kann nicht „augenblicklich“ oder unzeitlich sein; sie muss kontinuierlich sein und sowohl ein Anfangen als auch ein Enden einschließen. Dass innerhalb eines Ereignisses spürbar wird, dass es enden wird, kann die Bereitschaft für oder das Warten auf ein neues Ereignis verstärken, oder auch die Bereitschaft dafür oder das Warten darauf, dass die Herrschaft dessen nachlässt, was schließlich zu einem vergangenen Ereignis werden wird. Gegen Ende eines Musikstücks werden vielfach besondere Maßnahmen ergriffen, um das Nachlassen der Herrschaft des Stücks anzuzeigen oder vorzubereiten (etwa Codas oder Codettas). Die andere (und, wie sich zeigt, zweite) Technik, auf die ich hinweisen möchte, zeigt einen Anfang an, und zwar schnell und deutlich und mit je spezifischen Mitteln – genau diese Figur für dieses Stück hier. Dieser Hinweis erscheint im neuen Ereignis als ein Neu- oder Wiederansetzen. Das neue Ereignis fängt auf die gleiche Weise an wie ein Vorgänger, mit einer charakteristischen und wiedererkennbaren Figur. Anders als in der Kadenzformel liegt die Betonung hier in der kontextgebundenen Besonderheit. Im Allgemeinen führt Wiedererscheinen ten-

Rhythmusexperimente

denziell zur Objektivierung, aber im Fall des Neueinsetzens ist die Wiederkehr explizit als Anfang markiert. Die Funktion des Anfangs ist etwas, das das neue Ereignis von Anfang an von einem oder mehreren Vorgängern erbt, insofern es ein neuer Anfang ist. In deutlichem Kontrast zum Haydn vermeidet Morton Feldmans De Kooning (1963) einen gleichmäßigen metrischen Puls und jeden Hinweis auf eine konventionelle Kadenz oder eine „thematische“ Wiederkehr, die auf ein Neueinsetzen hinweisen würde. Abb. 2b zeigt den Anfang von Feldmans Partitur. (2a ist eine Reduktion der ersten Phrase auf zwei Systeme, die die Tonhöhenkontur deutlicher macht.) Die Formierung von Ereignissen erscheint hier beweglicher. Die Länge der einzelnen Klänge ist nicht durch die Notation festgelegt. Was die Partitur angibt, ist die Abfolge (gestrichelte Linien) und Gleichzeitigkeit (durchgezogene vertikale Linien) von Klängen. Die Länge einiger perkussiver Klänge (die hohen Klaviertöne eingeschlossen) und die Pizzicati der Saiteninstrumente werden von den Musikern nicht direkt bestimmt; sie hängen vom Instrument und der Energie des Anschlags ab. Die horizontale graphische Distanz zwischen Noten bezeichnet keine Zeitlänge (wie an den gleich weit voneinander entfernten Fermaten zu sehen ist). Den Spielanweisungen zufolge sollen die Klänge leise und mit minimalem Anschlag produziert werden, und jedes Instrument soll dann einsetzen, „when the preceding sound begins to fade“10. Wie in Feldmans Musik insgesamt wirft die Notation Fragen bezüglich der Interpretation auf, die zum Nachdenken über rhythmische Möglichkeiten anregen. Mit diesem Stück zu experimentieren bedeutet auch, mit den vielen Fragen zu experimentieren, die die Notation aufwirft.

Ex. 2 Feldman, De Kooning Abb. 2a

a)

a)

& ?



b)



c)



d)

e)

f)

œ

U

œ bœ

g)

U





h)

bœ bœ

i)

mmmmm

10 | Keine der Aufnahmen, die ich kenne, nimmt diese Anweisung wörtlich – oftmals sind Pausen eingeschaltet. Es sollte festgehalten werden, dass eine solche

stille Passage Teil der Dauer des Ereignisses ist, dass Stille mit anderen Worten die Dauer fortsetzen kann, die der Klang begonnen hat.

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Abb. 2b

b)

?

f)



sord.

HN.

PERC.

PN.

& &

&

?

sord.

VC.

a)

C.a.

d)

U

b b) œ

mmmmm

b h) œ

Rg.

G.T.

2 #œ

œ

i)

œ bœ

œ bœ

C.a.



? sord.

VN.



1# œ

Rg.



# œœ

Cel.

c)

·œ

e)

U



·œ

g)

·œ

·œ U



·œ

Jeder der aufeinander folgenden Töne, sei es der eines einzelnen Instruments oder der Zusammenklang mehrerer Instrumente, artikuliert ein neues Ereignis (selbst wenn es einige Überlappungen gibt). Die Entscheidung, wie lange ein Ton gehalten und wann der nächste begonnen werden soll, liegt bei den Musikern und dem Dirigenten. Jeder Musiker hat die Partitur vor sich und kann so mit oder ohne Leitung des Dirigenten entscheiden, wann er oder sie spielen will. Wann und wie zu spielen ist, ist eine Gefühlssache und gründet sich im Kontext, dem, was jetzt geschieht, im Lichte (nach dem Maß) dessen, was bereits geschehen ist. Timing verlangt hier nach einer Genauigkeit, die einem intensiven Hören auf den genau richtigen Moment entspringt. Eine relativ lange Dauer (die Stille einschließen mag) kann als Entspannung, als Bruch in der Dynamik oder als Gelegenheit zum Schließen wahrgenommen werden. Eine relativ kurze Dauer kann dem Nachfolgenden eine gewisse Dringlichkeit verleihen, wenn dieses „zu früh“ erscheint. In jedem Fall fordern die Unterschiedlichkeit der Klänge, die Ruhe und die extreme Langsamkeit dazu auf, den Details erhöhte Aufmerksamkeit zu widmen. Wenn jeder Klang ein neues Ereignis ist, wie können größere Ereignisse entstehen? Es muss solche größeren Ereignisse geben; die Erinnerung wird schließlich nicht mit jedem neuen Klang ausgelöscht. Auch wenn die Welt der Ereignisse sich hier sehr deutlich von der des Haydn-Stücks unterscheidet, muss sie nicht weniger rhythmisch sein. Wie sie diesen Rhythmus gestalten, ist eine Herausforderung für die Musiker, die nach einem ständigen Experimentieren mit den Möglichkeiten der Ereignisformierung. Die Ergebnisse dieses Experimentierens können in den Aufnahmen gehört werden. Ich würde auf zwei Aufnahmen zurückgreifen, die gut zu bekommen sind: die des New Millenium Ensemble (Koch 3-7466-2) und des Ensemble Recherche (Kairos/WDR25-27). Beide Aufnahmen beginnen damit, dass

Rhythmusexperimente

sie die nummerierten Gleichzeitigkeiten als Möglichkeit nutzen, Ereignisse auf der Ebene der „Phrase“ zu gestalten. Es gibt Stellen, an denen offensichtlich ein Dirigent nötig ist, um die durch durchgezogene vertikale Linien markierten gleichzeitigen Einsätze zu koordinieren. Tatsächlich werden diese Einsätze im Konzert deutlich markierte visuelle Ereignisse sein. Mit dem Fortgang des Stücks wird diese Lösung weniger und weniger möglich, und andere Möglichkeiten der Ereignisformation zeigen sich. Solche Veränderungen des musikalischen Verhaltens in größerem Maßstab führen zu Ereignissen auf der Ebene von „Abschnitten“. So leitet etwa Nr. 16 eine neue Musik ein (oder: wird sie eingeleitet haben), die sich aus vier Phrasen zusammensetzt, die wiederum durch vier lange Pausen getrennt sind, in denen der Dirigent den Takt auf je unterschiedliche Weise und in verschiedenen Tempi schlagen muss – eine Art visuelle Musik (wir können Ereignisse in Rasterung, Dauer und Geschwindigkeit sehen). An den jeweiligen Enden der ersten und der vierten Phrase erklingen im Piano übereinstimmende hohe C# im Doppeloktavabstand, ein Klang, der uns bereits von den markanten Bbs im Doppeloktavabstand bekannt ist, die das Ende der ersten Phrase des Abschnitts ankündigen können, der in Abb. 2 als Ereignis h bezeichnet ist. (Im Übrigen wird das Zentrum dieses größere Ereignisses durch das erste Wiedererscheinen des Trommelwirbels gebildet, der am Anfang des Stücks erklingt; von Nr. 20 bis zum Ende des Stücks ist der Trommelwirbel ein ständiges Element der Textur.) Keiner der größeren Abschnitte ist deutlich abgegrenzt bzw. artikuliert. So schließt z.B. der Anfang von Nr. 16 in vielerlei Hinsicht an das Vorhergehende an, und nichts an Nr. 17 kündigt einen neuen Abschnitt an. Wir gleiten nahtlos in neue Verhaltensweisen. Selbst auf der Mikroebene kann etwas von diesem Gleiten gehört werden. Wenn wir nun zur ersten Phrase zurückkehren, die das Ensemble Recherche mit einer langen Pause nach dem Trommelwirbel deutlich markiert, können wir dem Verlauf dieses Ereignisses genauer nachgehen. Abb. 2a ist eine Reduktion auf zwei Systeme, die die aufsteigende und fallende Kontur dieses Ereignisses zeigt. Man kann sagen, dass sein Ende durch die eindringliche Doppeloktave im Piano (h), mit der die Musik zum hohen Register des Anfangs zurückkehrt (und die vom Ensemble Recherche auffallend früh gespielt wird), und insbesondere durch den Wirbel auf der großen Trommel (i), dem ersten Erscheinen eines nicht tonhöhenindefiniten Schlaginstruments, vorbereitet (oder vorbereitet worden sein) wird.11 Aber nochmals, ein Ende ist nicht von einem neuen Anfang zu trennen. Die Sache hätte sich anders entwickeln können – eine Reihe von Trommelwirbeln hätte eine neue Phrase einleiten können, die mit der großen Trommel beginnt, 11 | Als Experiment möchte ich den Leser darum bitten, genau auf die Höhe des Trommelwirbels am Ende der (angeblichen) Phrase zu achten. Kann es als übereinstimmend mit der Tonhöhe des vorangegangenen Cellotons (F#) gehört wer-

den? Wenn das so ist, wird sich der Eindruck einer Tonhöhe einstellen, die von dem früheren Celloereignis geerbt oder an ihm gemessen wird.

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oder das erste Ereignis fortsetzen können (wie am Ende des Stücks, bei Nr. 32). Die aktive Nichtrealisierung einer solchen Möglichkeit kann die tatsächliche Artikulation der Passage verstärken (so dass etwa der neue Klang des Trommelwirbels gerade nicht ein Ende, sondern einen Anfang markiert, sobald ein wirklicher neuer Anfang erscheint). In der New Millenium-Aufnahme gibt es nur eine sehr kurze Pause vor Nr. 1, aber auch hier kann das Einsetzen einer neuen Phrase wahrgenommen werden. Vielleicht trägt dazu auch das innere Maß eines auffallenden Rückbezugs zur ersten Phrase bei. Die zweite Phrase beginnt mit einem G# des Horns und endet mit einer Abwärtsbewegung zum F# im Cello. Wenn man genau achtgibt, kann man diese Bewegung als umgekehrte Antwort auf den Aufstieg von F# zu G# in der Mitte der ersten Phrase hören, der einen Richtungswechsel markiert hat; außerdem fungiert das lange F# mit der Fermate als inneres Aufhören oder Pause, und das G# markiert eine Art Anfang (eine Rückkehr zum schnelleren Eingangstempo und eine Rückkehr zu den Tonklassen der ersten beiden Klänge G#/Ab).12 Diese Umkehrung oder auch diesen Reim kann man in der Aufnahme 12 | Da G# und Ab die selbe (enharmonisch äquivalente) Tonhöhe darstellen,

stellt sich die Frage, was wir mit dem Unterschied in der Notation anfangen sollen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Crotales (G#) und das Klavier (Ab) nicht genau übereinstimmen – ein Klavierstimmer wird sich kaum für diesen Satz

Crotales interessieren. In jedem Fall haben die Spieler keinen Einfluss auf die

Stimmung bzw. „Intonation“. Wenn diese Instrumente nicht genau aufeinander

abgestimmt sind und wir sehr genau zuhören, kann es sein, dass wir einen Tonhö-

henunterschied wahrnehmen, der durch den Unterschied der „Klangfarbe“ (was selbst die Zusammenfassung komplexer Tonhöhendifferenzen zu einer einzigen

Kategorie ist) noch verstärkt wird. Das folgende harmonische A der Geige (Ereignis c) legt einen Halbtonschritt sowohl von G# wie von Ab nahe. G# und Ab

benennen auf jedem Instrument dieselbe Tonhöhe, können aber auch auf die Möglichkeit hinweisen, einen Unterschied zu hören. Die mögliche Neuheit des dritten Klangs (die sich gerade daraus ergibt, das man den ersten beiden Rech-

nung trägt, an ihnen Maß nimmt) wäre dann keine Veränderung der Tonhöhe, sondern eine Veränderung dessen, was die Tonhöhe ist, eine Verschiebung der Kategorie der Tonhöhe. Wie wird der Geiger auf die ersten beiden Ereignisse

reagieren, um richtig zu intonieren? Ich vermute, dass der Geiger das künstliche harmonische A auf der D-Seite spielen wird, was ihm eine sehr genaue Kontrolle

über die Tonhöhe gibt, die den Schlaginstrumenten und dem Klavier fehlt. Wie auch immer diese Sache für die Musiker und die Hörer ausgehen wird, die beständige Frage nach der Intonation stellt sich bereits ganz am Anfang des Stücks.

So fragt sich, wie Hornist, Geiger und Cellist (die alle die Tonhöhe kontrollieren, bestimmen können, für sie verantwortlich sind) zusammenstimmen werden, wenn

sie sehr genau hinhören, wie es Feldmans Technik nahelegt. Was bedeutet Intonation oder „Tonhöhe“ hier? Dies sind nur einige der vielen Fragen, die Feldmans

Rhythmusexperimente

des Ensemble Avantgarde (Wergo 6273-2), wo sich kein Bruch mit Nr. 1 findet, überaus deutlich hören; tatsächlich überschneiden sich hier der Trommelwirbel und der Einsatz von Horn und Geige bei Nr. 1. Wenn wir zu einer noch kleinformatigeren Ereignisebene übergehen, können wir die Frage stellen, wie aufeinander folgende Klänge gemeinsam ein Maß zeitlicher Länge bilden können. In der Abfolge von Klangereignissen (von Einsatz zu Einsatz) wird die zeitliche Dauer eines vergangenen Ereignisses seinem Nachfolger als Maß (länger/kürzer/gleich lang) übertragen. Die Frage ist folgende: Nimmt ein drittes Ereignis lediglich an seinem unmittelbaren Vorgänger Maß oder an einem größeren Ereignis? So beginnt z.B. im Haydn-Stück der fünfte Ton ein Ereignis, das sein Maß von den vier vorausgegangenen Tönen erhält und nicht von dem vorhergehenden vierten Ton. Es ist dieser Rückgriff, der den fünften Ton zum Anfang eines zweiten größeren Ereignisses macht. In De Kooning müssten wir etwa fragen, ob das dritte, in den Beispielen mit c bezeichnete Ereignis, lediglich an b oder an der längeren Dauer a-b Maß nimmt. Bei diesem Tempo und in dieser Umgebung von Verschiebung in der Klangfarbe und dem Register, wo sich die Klänge überdies überschneiden können, ist diese Frage nur schwer mit Sicherheit zu beantworten. Wie können wir das wissen? Es gibt allerdings einen verlässlichen, wenn auch schwierigen Test: die Möglichkeit, die Empfindungen „stark“ und „schwach“ zu unterscheiden – oder, wie ich eher sagen würde, „Anfang“ und „Erweiterung“, Begriffe, die keine dynamische oder agogische „Betonung“ implizieren. Diese Unterscheidung ist in der meisten Musik allgegenwärtig, auch wenn sie oft subtil ist, insbesondere im Falle länger angehaltener Klänge wie in De Kooning. Man braucht oft besondere Aufmerksamkeit, um den Unterschied deutlich wahrzunehmen, aber diese Aufmerksamkeit wird immer durch gesteigerte rhythmische Involviertheit aufgewogen. Als Experiment sollte es möglich sein, b als Fortsetzung des größeren (aus zwei Klängen bestehenden) Ereignisses zu empfinden, das mit a begonnen Komposition/Notation aufwirft. Wir haben es mit einer experimentellen Musik zu tun, die überkommene Kategorien oder Hörgewohnheiten in Frage stellen kann

(Feldman spricht von einer Arbeit „zwischen den Kategorien“). Aber Gewohnheiten stellen sich schnell ein. Ich kann berichten, dass ich anfänglich mehrfach die Verschiebung von a nach b sehr deutlich als Veränderung der Tonhöhe

wahrgenommen habe und beim Einsatz der Geige (c) eine deutliche Verwirrung

bzw. Verschiebung des kategorialen Rahmens empfunden habe. Nun, wo ich dies nach weiteren Hörversuchen niederschreibe, kann ich diesen Unterschied nicht

mehr klar ausmachen und die provokative Verschiebung nicht mehr empfinden.

Es scheint, als ob ich beim Lernen des „Halbtonschrittes“ (G#/ Ab nach A) eine

subtilere und eindringlichere Unterscheidung verloren hätte. In dieser Verluster-

fahrung liegt für mich eine wichtige Erinnerung daran, wie der Ertrag des Lernens durch ein Über-Lernen zunichte gemacht werden kann, dass Maß und Rückbezug das Rhythmische nicht unbedingt verstärken.

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hat, oder b als Nachschlag oder „schwache“ Zählzeit und dann c als „stark“ oder als neuen Anfang. Wenn dies gelingt, könnte d die Fortsetzung von c sein; aber das mit einer Fermate versehene d bricht das Versprechen einer Fortsetzung, wird zu einem neuen Anfang und unterbricht vorläufig das Erscheinen einer neuen „metrischen“ Ebene. Wenn d sehr lange angehalten wird, wie es angesichts des langen Nachhalls des Glockenklangs wahrscheinlich ist, wird es für e nicht die Möglichkeit der Fortsetzung bieten, und überdies würde auch die Länge von e (ebenfalls mit einer Fermate) das Gefühl von Kontinuität blockieren. Wir sind nun zweifelsfrei im Bereich von Einzelklangereignissen. Ab f können sich auch wieder Ereignisse aus zwei Klängen ergeben, die allerdings einige Beweglichkeit (d.h. Umhören während des Erklingens) aufweisen. Wenn man mit beiden Aufnahmen oder auch nur mit einer von ihnen experimentiert, zeigt sich die Beweglichkeit dieser Musik selbst auf dieser Mikroebene. Ich möchte betonen, dass die Subtilität und Veränderbarkeit einer solchen Formierung von Ereignissen nichts mit Trivialität zu tun hat. Tatsächlich ist diese Beweglichkeit für die vorsichtige Aufhebung der Phrase als Ereignis verantwortlich. Außerdem lädt die Aufforderung, Unterscheidungen von Anfänglichkeit und Erweiterung zu empfinden, dazu ein, die eigene Sensibilität zu steigern und sich tiefer auf die Musik einzulassen. So wie die Maler, die Feldman inspiriert haben (Giotto und Cézanne ebenso wie De Kooning), an den Gegebenheiten des Wahrnehmungsapparats und den Sehgewohnheiten ansetzend mit neuen Weisen des Sehens experimentiert haben, hat Feldman ständig mit dem Hören experimentiert. Ich habe auf all diese Details hingewiesen, um den Einfallsreichtum seiner Musik und ihre intensive Rhythmizität zu zeigen. Diese Musik als weniger rhythmisch als das Haydn-Stück anzusehen wäre eine Verarmung des Begriffs des Rhythmischen. Sicher, das Messen zeitlicher Dauer ist nur eine Dimension von Rhythmus, aber für das Hören und die körperliche Bewegung kann es entscheidend sein. Auch wenn es in De Kooning auf einer Ebene oberhalb der Einzelklangereignisse oft wenig deutlich ist, ist solches Messen entscheidend dafür, Unterschiede in der metrischen Dauer wahrzunehmen und Artikulationsmöglichkeiten zu eröffnen, wenn es kein gemeinsames Maß der Dauer gibt. Da ein internes oder „subjektives“ Maß von Moment zu Moment unter dem Druck der Vergangenheit und der unmittelbaren Situation erzeugt wird, in die es kommt, kann ein neues Selbst nicht vorgegeben sein oder auf einem unzeitlichen Vergleich beruhen.13 Im Bereich der zeitlichen Dauer sind die Möglichkeiten eines solchen Messens höchst unterschiedlich. Differenzen gefühlter Dauer, die unterschiedliche Größenverhältnisse beinhalten („Zeitlängen“), unterscheiden sich qualitativ. Geht eine Zeitspanne über wenige Sekunden hinaus, verblasst die lebendige Konkretheit oder Greifbarkeit der Dauer. So mag uns z.B. ein neuer Abschnitt von zwanzig Sekunden kurz erscheinen, wenn 13 | Zur Entwicklung von Subjektivität und Maß aus einer zeitlichen, von Whitehead inspirierten Perspektive vgl. Hasty, Rhythmicizing the Subject, a.a.O.

Rhythmusexperimente

ihm ein Abschnitt vorausgeht, der zwei Minuten gedauert hat, oder es mag sein, dass ein dritter Abschnitt unserem Gefühl nach zu früh einsetzt, wie eine Unterbrechung. Aber dieses Gefühl unterscheidet sich von demjenigen, demzufolge ein dritter Schlag überstürzt erscheinen mag, wenn er einige Hundertstelsekunden kürzer ist als ein erster und zweiter. Unser (menschlicher) Wahrnehmungsapparat hat seine eigenen Rhythmen, die unsere Auffassung und unser Vermögen begrenzen, zeitliche Dauer festzuhalten. Dennoch kann die Wahrnehmung durch experimentelle kulturelle Praktiken wie Kunst oder Ritual gedehnt werden. Ich würde vermuten, dass unsere besondere Sensibilität für zeitliche Dauer mit unseren motorischen Fähigkeiten zusammenhängt. Unsere Fähigkeit, eine Dauer zu „erfassen“, sie aufzunehmen, so dass sie zu einem Maß für eine nachfolgende werden kann, kann nicht von unserem Körper und der leiblichen Umgebung getrennt werden, in der wir uns mit unseren Beinen, Armen, Händen und Fingern bewegen und handeln. Wir müssen ein Gefühl dafür haben, wann wir uns rühren müssen, um einen Gegenstand zu fangen oder ihm auszuweichen oder wie wir unsere Schritte setzen. All dies sind nach vorn orientierte Handlungen, die uns weiter in die Erfahrung hinein führen, und sie sind in der vergangenen Erfahrung gegründet, der unmittelbaren Erfahrung des vorigen Schrittes (wie auch immer wir „Schritt“ bestimmen wollen) und der Vergangenheit unserer Fähigkeiten, unseres Körpers, unserer Kultur, unserer Spezies, die gemeinsam mit unserer Lebenswelt unsere Welt bilden, eine Welt, die immer die gleiche und immer neu ist.

IV. Wenn wir uns nun von der Musik der Dichtung zuwenden, treffen wir auch hier auf ein Messen zeitlicher Dauer, nun aber in der Form von Sprachereignissen, Ereignissen, die die Zunge hervorbringt. Hier müssen wir nicht länger auf Aufnahmen oder Aufführungen anderer zurückgreifen. Wir können selbst lesen – laut lesen, mit dem Klang experimentieren; oder wir können innerlich experimentieren, uns in der Stille den Klang vorstellen. Ich würde vorschlagen, in den folgenden Experimenten laut zu lesen, da hier die Klangbilder primär und am deutlichsten geformt werden, mit Zunge und Mund und Hals und Lungen. Die gesprochene Sprache und besonders die sprachliche Interaktion ist auf mehreren Ebenen sehr genau zeitlich abgestimmt oder abgemessen.14 Gesprochene Poesie ist im allge14 | Phonologen haben eine ganze Anzahl von Ebenen der Isochronie identifiziert; vgl. etwa Elizabeth Couper-Kuhlen, English Speech Rhythm: Form and Function in Everyday Verbal Interaction, Amsterdam 1993. Ein besonders überzeugendes Beispiel ist die zeitliche Abstimmung beim Turntaking im Gespräch, wo die Gesprächspartner ihre Einsätze genau abstimmen, um sich an die Dauer der letzten Äußerung des jeweils anderen anzupassen. Es ist wichtig festzuhalten,

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meinen sehr viel langsamer als informelles Sprechen, also Sprache, die nicht ad verbum wiederholt werden können soll. Wenn es hinreichend verlangsamt wird, wird das Sprechen von Poesie zu einem Intonieren. Noch weiter verlangsamt wird es zum Lied. Einen Vokal für eine Sekunde oder mehr zu halten führt zur Produktion eines Tons, einem Eingangstor zum Singen. Versuchen Sie etwa, „Oh“ zu intonieren, und verlängern Sie den Vokal, bis er eine feste Tonhöhe erreicht. Sicher, Musik (insbesondere Instrumentalmusik, die mit Fingern und Händen gemacht wird) kann sehr schnelle Ereignisfolgen beinhalten. Aber Musik kann auch sehr viel längere messbare zeitliche Dauern erzeugen, als es die Sprache kann. So kann das Adagio bei Haydn den Eindruck einer zweiten Phrase (ca. 15 Sekunden) erzeugen, die der ersten ziemlich genau entspricht. Und De Kooning gibt uns Einzelklangereignisse von langer Dauer, auch wenn es auf der Ebene der Phrasen sehr locker geknüpft ist. Die Sprache, auch die poetische Sprache, die über das Maß der normalen Sprache hinaus verlangsamt und gemessen ist, kann Dauer nicht auf die gleiche Weise festhalten wie die Musik. Dichtung, sei sie niedergeschrieben oder nicht, ist die Gestaltung sprachlicher Artefakte, um mit der Herstellung und Wiederherstellung von Ereignissen zu experimentieren, die alle Bereiche der Sprache einbeziehen, darunter jene, die wir phonologisch, syntaktisch und semantisch nennen. Poetischer Rhythmus ist die Aufführung von Poesie, die tatsächliche Schöpfung von Ereignissen, die untrennbar von Klang (gesprochen oder vorgestellt) und zeitlicher Dauer ist. Alles, was in das poetische Ereignis eingeht, ist mit dem poetischen Rhythmus verbunden, was heißt, das dieser nicht von Klang, Syntax und Semantik getrennt werden kann. Länge und Betonung ohne Klang und Bedeutung sind kein Rhythmus und sicher keine Sprache – sie sind eine reine Abstraktion. Beispiel 3 zeigt die erste Strophe der „Hymn to Pan“ aus John Keats’ Endymion, in der drei Symbole dazu verwendet werden, Ereignisse zu markieren: |, \ und /. Diese Zeichen zeigen zwei Ereignisebenen. Die primäre Unterscheidung ist die zwischen der vertikalen Linie, die das größere Ereignis oder die höhere Ebene symbolisiert, und den schrägen Linien, die eine Erweiterung dieses größeren Ereignisses markieren. Das Zeichen | soll sich also über \ und / erstrecken bzw. diese enthalten. Die Unterscheidung zwischen vertikal und schräg ist quantitativ, nicht qualitativ oder „stark“ gegenüber „schwach“ bzw. „betont“ gegenüber dass „genaue“ oder „objektive“, also mit einer Uhr messbare Isochronien im Eng-

lischen nicht nachgewiesen worden sind. Stattdessen bezeichnen die Forscher ihre Isochronien als „subjektiv“, da sie von den Probanden und ihren Beobachtern gleichermaßen deutlich empfunden werden. Isochronie und Subjektivität als

spontane und sich von Zeit zu Zeit und von Person zu Person verändernde, aber

auch austausch- und verhandelbare Phänomene zu begreifen, ist eine komplexere und realistischere Auffassung zeitlicher Dauer als die schlichten Abstraktionen „objektiver“, auf die Uhr bezogener Messung.

Rhythmusexperimente

„unbetont“. Die Markierungen bezeichnen die im fünfhebigen Jambus stehenden Zeilen des Gedichts als Zeilen mit fünf Schlägen. Ein Schlag sollte hier, wie jedes andere Ereignis, als kontinuierliches Werden begriffen werden, das sich zu einer bestimmten, determinierten Dauer ereignet. Auch hier bedeutet determiniert (von de-terminare) vergangen, vergangen in der Gegenwart von etwas Nachfolgendem und vermittels der Folge Maß für dieses Nachfolgende. Die schrägen Linien bezeichnen Artikulationen, die nicht enden, sondern das bereits in Gang begriffene Werden fortsetzen. Die Richtung der Neigung verweist auf die Orientierung der Erweiterung und damit auf eine deutlicher qualitative Unterscheidung (auch wenn Qualität und Quantität in diesem System einander nicht scharf entgegengesetzt sind). Die nach vorn geneigten Linien bezeichnen eine Anakrusis bzw. einen Auftakt – ein Vorausweisen auf den den nächsten Schlag; hier liegt unser Interesse darin, wie viel Zeit wir vor dem nächsten Schlag haben. Im Fall der rückwärts geneigten Linien geht es darum, wie viel Zeit bleibt, um die gegenwärtige Dauer zu vollenden, nicht darum, wie viel Zeit wir haben, um uns auf die nächste vorzubereiten. Sowohl \ als auch / sind Fortführungen, aber in diesem Bezeichnungssystem ist / die „markierte“ Form, die als „Anakrusis“ spezifiziert wird, während \ schlicht als „Erweiterung“ bezeichnet wird.15 In Abb. 3 fällt die große Vielfalt der einzelnen Bezeichnungen auf, was in starkem Kontrast zum Schema „fünfhebiger Jambus“ steht, das in jeder Zeile genau gleich ist (aber natürlich liegt der fünfhebige Jambus nicht in jeder oder auch nur irgendeiner Zeile – er ist eine auf Einheiten gegründete Abstraktion). Alle Zeilen dieser Strophe (mit zwei Ausnahmen), können als fünfhebiger Jambus bezeichnet werden, aber nur die Zeilen 2 und 4 zeigen dasselbe Markierungsmuster, und selbst diese beiden Zeilen unterscheiden sich rhythmisch-metrisch recht stark. Abb. 3 – Keats „Hymn to Pan“ aus Endymion16 /

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O thou! whose mighty palace-roof doth hang /

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/ |

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/

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\

From jagged trunks, and overshadoweth \

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(1)

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Eternal whispers, glooms, the birth, life, death, /

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\

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\

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\

\

Of unseen flowers in heavy peacefulness, –

15 | Eine genauere Beschreibung dieser Zeichen und der Wiedergabe oder Messung zeitlicher Dauer allgemein findet sich in Meter as Rhythm, a.a.O.

16 | John Keats, Endymion, in: Keats’s Poetry and Prose, ausgewählt und herausgegeben v. Jeffrey N. Cox, New York 2009, S. 148-239, hier 154.

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Who lovest to see the hamadryads dress /

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(5)

\

Their ruffled locks where meeting hazels darken, – /

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\

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\

And through whole solemn hours dost sit, and hearken \

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\ | / |

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The dreary melody of bedded reeds, /

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In desolate places, where dank moisture breeds /

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\

The pipy hemlock to strange overgrowth, /

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\

| \ |

Bethinking thee, how melancholy loath /

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\

|| |

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(11)

Thou wast to lose fair Syrinx, – do thou now, /

/

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/

/

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\

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By thy love’s milky brow, /

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/

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\ (|) /

By all the trembling mazes that she ran, |

\

/

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Hear us, great Pan!

(15)

Abb. 4a-c zeigen Lesarten zunehmender Tiefe. Ich möchte den Leser auffordern, sie auszutesten. Abb. 4a führt schlicht den angeblichen fünfhebigen Jambus vor. Die Abstände zwischen kurzen (S: short) und langen (L: long) Segmenten sollen ihre relative Dauer darstellen. Dieses Beispiel sollte mit gleichbleibendem Tempo gelesen werden, sowohl im Hinblick auf die Schläge (|) als auch auf die Auftakte (/). Wir haben hier eine strenge Isochronie und eine Verteilung auftaktiger (jambischer) Erweiterungen, die Phonologie, Syntax und Semantik ignorieren und damit verletzen. In Abb. 4b zeigt sich ein komplexeres Muster, das auf die Komplexitäten der Sprache achtet. Die Abfolge der Schläge hält die Isochronie nahezu ein, aber die zeitliche Verteilung der Erweiterungen (\ und /) ist variabel und erlaubt ein hohes Maß an zeitlichem Experimentieren (probieren Sie es aus), ein Experimentieren, das 4a verbietet. In Abb. 4c führt die größere Aufmerksamkeit auf den Kontext bzw. die Interaktion einer Vielzahl von Ebenen zu einem noch einmal komplexeren Rhythmus, einem freieren, kreativeren Rhythmus. Mit „frei“ und „kreativ“ meine ich hier, dass er sich innerhalb einer größeren Bandbreite von Bedingungen bewegt und damit tiefere, fundiertere Entscheidungen erlaubt. Freiheit und Kreativität verweisen auf Komplexität, Feingliedrigkeit, Tiefe – nicht Freiheit von Bedingungen, sondern Freiheit, eine Vielzahl von Bedingungen zu messen, je mehr, desto besser (wenn auch anspruchsvoller und riskanter). Hier sollte sich das

Rhythmusexperimente

Experimentieren nicht so schnell erschöpfen wie im Fall von 4b, und man sollte deutlich mehr Möglichkeiten finden, die Potentiale der Zeile auszutesten. Ich würde ein recht langsames Tempo vorschlagen, zumindest anfangs, so dass mehr Zeit für feinere Unterschiede bleibt. Abb. 4 a) /

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O thou! S L

/

|

/

whose migh.

|

/

ty pa.

S L

|

/

lace -roof

S L

|

doth hang

S L

S L

|------------------|------------------|------------------|------------------|------------------

b) /

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O thou! S L

/

|

\

S

S

L

| \

whose migh.ty

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pa.lace-

/

-roof

S L

|

doth hang

L

S

L

|------------------|------------------|------------------|------------------|------------------

c) /

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O thou! S L

/

whose S

|

\

S

L

migh.ty

| \

|

pa.lace-roof

S L

L

/

|

doth hang S

L

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Im Falle von 4c sind die fünf Schläge einer Zeile in einem bestimmten Sinne vollständig isochron, wenn wir „iso“, „gleich“, auf angemessene Weise verstehen, nämlich ein „Gleiches“, dessen Messung vermittels eines Gefühls für die „gegenwärtige“ Situation geschieht, in der die mehr oder weniger unmittelbare oder „nahe“ Vergangenheit das Erscheinen des gegenwärtigen Ereignisses informiert. In Abb. 4a habe ich einen Vortrag beschrieben, in dem die ersten drei Schläge beschleunigen, was soviel heißt wie dass vier Schläge hier gleich, aber schneller sind. Dabei wird sich Ihr Vortrag natürlich (ebenso wie meiner) von Fall zu Fall unterscheiden, und zwar möglicherweise auf eine Weise, die nichts mit meinen Markierungen zu tun hat. Diese sind in jedem Fall unpräzise oder grob genug (wie alle derartigen Symbolisierungen), um eine große Bandbreite von Ausführungen zu erlauben. Aber statt mich auf diese Unterschiede zu konzentrieren, möchte ich eine Gemeinsamkeit hervorheben, die aus einer tief sedimentierten Vergangenheit rührt, eine Gemeinsamkeit, die uns gerade etwas erfreulich Konkretes liefert, etwas Greifbares, mit dem man arbeiten kann, das anregend auf unser Experimentieren wirkt, auf unsere Suche nach einer neuen, lebendigen Erfahrung der Gegenwart, die auf alle Quellen zurückgreift, die ihr zugänglich sind.

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Die Lesart, auf die ich in Abb. 4c hinweise, gründet sich im Zusammenwirken zahlreicher Faktoren. Syntaktisch ist „whose“ eine Eröffnung oder Frage, die „roof“ schließlich beantwortet; die Beschleunigung auf „roof“ hin hält diese Sequenz zusammen. Darüber hinaus drängt uns „whose“ über „roof“ hinaus, indem es fragt: „whose mighty palace-roof“ tut genau was? Wir können bei „palace-roof“ nicht anhalten. Somit ist „doth hang“ gefordert, um das Ereignis dieser Zeile abzuschließen. Dabei ist natürlich „O thou!“ der Provokateur des Ganzen, der syntaktisch die ganze Strophe hindurch wirksam bleibt, die im Übrigen bemerkenswerterweise ein einziges Satzereignis bildet. (In dieser invocatio wird „O thou!“ gehalten, bis schließlich der Gott Pan beim Namen genannt wird.) Auf phonologischer Ebene sollte man auf die Bewegung im Mund von hinten nach vorne hören, von einem dunklen „whose“ zu einem sehr hellen „palace“ – und dann plötzlich zurück nach hinten zu „roof“ und noch weiter zurück über „doth“ zur endgültigen Dunkelheit von „hang“. Dieses Verb „hang“ mit seiner intensiven und höchst anregenden Anmutung zieht sich noch hinüber die nächste Zeile, in das damit verbundene Verb „and overshadoweth“, noch weiter zu „eternal whispers, glooms…“ und immer weiter in einem zwingenden Rhythmus. Wir können die Dunkelheit, die „hangs“ erreicht, leiblich fühlen, und wir finden dieses Gefühl belohnt durch ein Maßnehmen, das uns zu neuen und intensiven Erfahrungen wachsender Dauer und Tiefe führt. Versuchen Sie, diese Entwicklung zu hören/spüren, indem sie die Strophe aussprechen. Das ist keine leichte Aufgabe. Um diesen gigantischen Satz mit all seinen Windungen und Wendungen festzuhalten, bedarf es großer Konzentration, und dies wird, wenn man es ernsthaft versucht, immer wieder scheitern oder nur teilweise glücken – wie es jedem Versuch gehen wird, einen so komplexen Text, sei er poetisch oder musikalisch, zur Aufführung zu bringen. Eben dies ist die Herausforderung, die der Rhythmus demjenigen bietet, der Artefakte am Leben halten will. Das nächste dichterische Beispiel, das sich vom ersten deutlich unterscheidet, stellt eine größere Herausforderung dar, da diese Art der Dichtung noch weit mehr Möglichkeiten des Vortrags lässt als das Gedicht von Keats, etwa so wie das Stück von Feldman gegenüber demjenigen von Haydn. In Gertrude Steins Tender Buttons ist das „metrische Raster“, das Hebungen (beats) auftauchen lässt, intermittierend und flüchtig. Während Dauer bzw. zeitliche Gestaltung vielfach eine ähnliche Bandbreite an Möglichkeiten des Vortrags offenlassen wie bei den meisten Prosatexten, sind Semantik und Syntax (und ihr Zusammenwirken) auf eine Weise offen, die die Konventionen poetischer oder prosaischer Sprache auf beinahe schockierende Weise verletzt, zumindest 1912. Besonders die semantischen Innovationen haben die Kritiker beschäftigt – was nicht weiter überraschend ist, weil „Bedeutung“ so oft mit Semantik identifiziert und als (externe) Symbolisierungsbeziehung zwischen Typen von Gegenständen und sprachlichen Zeichen oder ihren „Inhalten“ verstanden wird. Stein hatte eine intellektuelle Abneigung gegen solche Abstraktionen, ähnlich wie James und Bergson und viele andere Vertreter

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der ästhetischen Moderne. In Tender Buttons thematisiert sie diese Abneigung, indem sie Konventionen des Schreibens kritisiert und neue Arten des lesenden Spürens erfindet. Ähnlich wie De Kooning fordert Tender Buttons wiederholtes Experimentieren ohne sichere Anleitung durch den Text und die Konventionen des Schreibens. Derridas auf Mallarmé bezogene Beobachtung passt auch auf Stein und Feldman: „The labor of writing […] catches our attention and forces us, since we are unable to go beyond it with a simple gesture in the direction of what it ‚means‘, to stop short in front of it or to work with it.“17 Nebenher und ohne Geduld gelesen mag diese Dichtung auf empörende Weise sinnlos erscheinen, als sei sie überhaupt keine Dichtung, und den Leser ratlos lassen. Aber ihre Sonderbarkeit kann auch als Einladung verstanden werden, uns in genauer, wiederholter Lektüre mit ihr zu beschäftigen, was eine Fülle von immer wieder neuem Sinn ergibt. Seine Sensibilität mit diesem Text zu erproben, verlangt Ausdauer und den Versuch, eine sprachliche Welt, die unvermeidlich alle unsere Sinne und Vermögen einbezieht, möglichst weit auszuschöpfen. Stein beschreibt das Verfassen von Tender Buttons als „my first conscious struggle with the problem of correlating sight, sound and sense and eliminating rhythm“18. Wie ist das zu verstehen? Wie es mit Interpretationen nun einmal so ist, kann ich nur spekulieren. Wenn dies tatsächlich ein Problem war, mit dem sie gekämpft hat, so hat sie dennoch einen Text produziert, der einen bemerkenswerten rhythmischen Erfindungsreichtum aufweist. Um überhaupt sinnvoll zu sein, muss Tender Buttons laut oder still gelesen/gehört werden – wie sie sagt, sollte der Klang nicht abgeschwächt, sondern auf irgendeine Weise mit Sehen und Sinn verschmolzen werden. Vielleicht bedeutete „Rhythmus“ für Stein die mensurale Regelmäßigkeit einer konsequenten Vier- oder Fünfhebigkeit. Es gibt in Tender Buttons Stellen, an denen „Isochronie“ – Puls – nicht vermieden werden kann, andere Stellen, wo sie naheliegend, aber unsicher ist, und auch Stellen, wo sie vollständig verschwinden kann. Mit „rhythmischem Erfindungsreichtum“ meine ich die Komplexität und Vielgestaltigkeit von Situationen, die Stein geschaffen hat – etwa Situationen, die Tempowechsel beinhalten (im Allgemeinen wirkt eine gefühlte Isochronie wie eine Verlangsamung und der Verlust eines klaren Pulses wie eine rasche Vorwärtsbewegung, eine Suche nach einer Rast, die uns erlauben würde, das Gedankenereignis zusammenzuhalten – wenn er zu lange andauert, verlieren wir den Gedanken), Situationen, die eine feingliedrige Ordnung beinhalten, de17 | Jacques Derrida, Mallarmé, in: ders., Acts of Literature, hg. v. Derek Attridge, New York u. London 1992, S. 110-126, hier 114.

18 | Aus der Einleitung eines Wiederabdrucks von Tender Buttons (fünfzehn Jahre nach der Fertigstellung) in Transition 14 (1928), S. 13. Stein fährt fort: „[N]ow I

am trying grammar and eliminating sight and sound.“ Wie wir noch sehen werden,

hat sie derartige Experimente bereits in Tender Buttons angestellt – Experimente, die meines Erachtens nicht anders als rhythmisch genannt werden müssen.

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ren Ausarbeitung Übung verlangt, und Situationen, die lange, hypnotische „Wiederholungen“ einschließen, die nirgends hinzuführen scheinen, bis sie schließlich durch allmähliche oder plötzliche Veränderung aufgelöst werden. Diese „Typen“ erschöpfen Steins Erfindungsreichtum bei weitem nicht, aber sie können auf eine Möglichkeit hinweisen, den Rhythmus in ihren Arbeiten ernstzunehmen und zu sehen, was für sie und ihre Leser dabei auf dem Spiel steht. Mit einem Katalog von Erfindungstypen zu arbeiten könnte insofern lehrreich sein, als es eine Art sein könnte, diese anspruchsvolle Dichtung zu schätzen und lesen zu lernen. Das ist es aber nicht, was ich hier tun werde; stattdessen möchte ich in einer Analyse einiger Abschnitte mit dem Begriff der „Geschwindigkeit“ experimentieren, und zwar im Hinblick auf einen Übergang in die bildende Kunst, einen Übergang, der möglicherweise Steins „Problem“ mit dem Rhythmus aufklären kann. Ich wähle Geschwindigkeit unter anderem deswegen als Kategorie, weil sie mit Aktivität und zeitlicher Gestaltung zu tun hat. Auch hier wird das langsame und sorgfältige Lesen aus Tender Buttons, sei es laut oder still, Entscheidungen verlangen, wie und wann etwas ausgesprochen werden soll. Lediglich die Worte anzusehen wird uns nicht in die Dichtung hineinbringen. Hier ist der Anfang der Sammlung: OBJECTS A CARAFE, THAT IS A BLIND GLASS. A kind in glass and a cousin, a spectacle and nothing strange a single hurt color

and an arrangement in a system to pointing. All this and not ordinary, not unordered in not resembling. The difference is spreading.19

Exegeten von Tender Buttons und ihre Leser haben es hier mit dem Problem textlicher Unbestimmtheit in extremer Form zu tun. Der größte Teil dieses Werkes widersetzt sich der Paraphrase vollständig.20 Jeder Versuch, eine Art Botschaft festzuhalten, wird ein bloßer Versuch bleiben, ein Experiment ohne klares Resultat, das nach mehr verlangt. Tender Buttons mit Lust und dem Wunsch nach Verstehen zu lesen ist gleichbedeutend damit, eine Welt der Wiederholung und des Einfallsreichtums zu betreten und darauf zu vertrauen, dass es etwas zu verstehen oder zu begreifen gibt, auch wenn dieses Begreifen flüchtig bleibt. Man hat 19 | Gertrude Stein, Tender Buttons: Objects, Food, Rooms, New York 1970, S. 9.

20 | Für eine hilfreiche Diskussion des oben zitierten Anfangs von Tender Buttons

vgl. Marjorie Perloff, Of Objects and Readymades: Gertrude Stein and Marcel Duchamp, in: Forum for Modern Language Studies 32/2, 1996, S. 137-154, und

Sara J. Ford, Gertrude Stein and Wallace Stevens: The Performance of Modern Consciousness, London 2002.

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die Wahl dazwischen, mit Sicht, Klang und Sinn, aber ohne nach Antworten zu suchen, einfach weiterzulesen, oder anzuhalten, zu wiederholen, sich irritieren zu lassen und auszuprobieren. Als Anfang möchte ich eine Reihe von Beobachtungen und Fragen verfolgen, die sich daraus ergeben, dass man „carafe“ festhält und sich durch die Passage fortbewegt, die auf „carafe“ folgt und es in einem gewissen Sinne fortsetzt. Eine Karaffe ist, könnte man sagen, eine Art Behälter aus Glas (etwas, durch das oder mit dem man sieht – aber „blind“ behindert oder verhindert das Sehen), der eine Flüssigkeit beinhalten kann (Wasser oder „Weiß-“ oder Rotwein), die an sich nicht diese Form hätte. Aber was für ein „an sich“ ist das? Hat eine Flüssigkeit eine Form, kann eine Form sich verändern? Besitzt „carafe“ eine Form? „Carafe“ hat die Anmutung und den Klang (und tatsächlich auch die Etymologie) eines exotischen (persischen, arabischen) Wortes – nicht eine Vase oder Flasche und noch weniger ein Krug (wie in Wallace Stevens’ Anecdote of the Jar) oder eine griechische Urne. Diese wenigen Bedeutungen (von den flüchtigen Anklängen an Stevens und Keats einmal abgesehen) könnten die scheinbare Harmlosigkeit des Zeichens „carafe“ als ein An-sich nahelegen, als Menge von Eigenschaft, die „carafe“ definieren (definire, zu Ende bringen) würde, ganz unabhängig von einer konkreten Situation, in der „carafe“ gelesen/gehört/gesprochen wird – eine Situation, die im andauernden Prozess der Bedeutungsproduktion „lokalisiert“ ist. Tatsächlich aber haben Sie gerade der Produktion einer Bedeutung beigewohnt, einer Produktion, die unser eigenes Tun keineswegs harmlos sein lässt. Stein liebt es, mit ihrem Leser zu arbeiten, und viele Leser haben diese Arbeit gern und mit Genuss auf sich genommen. Die Arbeit ist immer damit verbunden, ein Zeichen oder Symbol (etwa „carafe“) versuchsweise und mit einer Offenheit für Abenteuer und Experiment zu befragen. Abseits einer solchen Begegnung – liegt nichts. Worauf Stein darüber hinaus immer wieder hinweist, ist, dass das wiederholte Aussprechen eines solchen Klangzeichens die heilsame Wirkung hat, den Klang vom Semantischen im eigentlichen Sinne zu befreien. Ich sage heilsam, weil man an solchen Übungen oder Experimenten etwas über Bedeutung sehen kann: Semantische Bedeutung wird entleert, wenn das Zeichen für sich isoliert wird, und im Verlauf dessen zeigt sich eine neue, klangliche Bedeutung. Wenn wir von Bedeutung sprechen, gibt es kein „an sich“. Mit „Bedeutung“ meine ich hier nichts äußerliches wie eine stabile Wörterbuchbedeutung oder eine Proposition, auf die wir uns als dieselbe beziehen können und die dieselbe bleibt, um jedes einzelne Sagen/Hören zu kontrollieren. Bedeuten heißt intendieren (intendere, anspannen oder auch ausstrecken), sich weiter und weiter in der Erfahrung und im Denken bewegen, ausprobieren, welche Fertigkeiten, Gewohnheiten, Hintergründe, Lebensformen wir auch immer ins Spiel bringen können – ein sich Ausbreiten von Differenz. „Carafe“ soll sich weiterbewegen, selbst vergessen werden, was insofern leicht fällt, als es sich von vornherein nie ganz zu einem Gegenstand verfestigt.

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„THAT IS“ ist mehrdeutig: Entweder es heißt „d.h.“, „mit anderen Worten“, und führt eine Stellvertretung oder Äquivalenz zu BLIND GLASS ein, oder es ist eine Verbindung von Pronomen und Kopula, die CARAFE und GLASS im Sinne einer Wesensaussage verbindet: Eine Karaffe ist eine Art blindes Glas. Das Verhältnis von Benennen und Sein (d.h. und an sich) ist eine zentrale Frage in Tender Buttons (und, wie wir wissen, auch für das traditionelle philosophische Denken!). Was ist der Unterschied zwischen diesen beiden Bedeutungen, auf welche Weise werden sie vielfach einander angeglichen oder verwechselt? Man achte vor allem auf den Unterschied im konkreten Aussprechen dieser beiden Varianten und darauf, wie man von der einen zur anderen kommt (ein wenig wie bei einem Necker-Würfel). Der Unterschied in Klang und Timing ist subtil, kann aber nicht vom Unterschied in der empfundenen Bedeutung getrennt werden.21 Stellen wir uns vor, über den Unterschied nachzudenken, ohne unser Bedeutungsgefühl ins Spiel zu bringen – dies würde nicht zu einem Sinn, sondern zu Unsinn führen. Diesen Unterschied fühlend auszuloten, frischt unser Denken auf und bringt es in Fühlung mit seinem Gegenstand. Natürlich muss man sich nicht in dieses subtile Spiel der Differenz von „THAT IS“ hineinbegeben, aber Stein gibt uns die Gelegenheit, einen Unterschied zu hören und zu bedenken, der, wie uns zunehmend klar wird, für sie sehr wichtig war (Tender Buttons kann als Kritik des „d.h.“ verstanden werden).22 Es geht mir hier darum, dass Festhalten, Zurückgehen, Verlangsamen Möglichkeiten sind, mit dieser Dichtung zu arbeiten. Natürlich gehen wir trotzdem weiter. Im Weiterlesen finden wir mehr heraus (z.B. über Glas, Behälter, Farben, Flüssigkeit...), aber dabei stellen sich weitere Fragen. Sind es andere Fragen oder die gleichen, oder beides, oder keins von beiden? Tatsächlich dehnt sich die Differenz in der Produktion von Bedeutung (in der Erfahrung) immer weiter aus.23 21 | Zur empfundenen oder erfahrenen Bedeutung vgl. Eugene Gendlin, Experiencing and the Creation of Meaning, Evanston 1997.

22 | Könnte die Zeichensetzung uns dazu bringen, schlicht „d.h.“ zu lesen/hören?

Aber warum steht das Komma dann vor dem „THAT IS“ und nicht danach? Je

länger wir darüber nachdenken, desto mehr werden wir festgehalten (ein- und nicht ausgeladen).

23 | Wie Perloff festhält, beschreibt „the difference is spreading“ das ganze Gedicht. Und es hat einen ziemlich markanten Auftritt – eine nackte, feststellende Aussage (im present progressive) mit zwei klaren Hebungen und unserer ersten

Kopula, kurz und kompakt verglichen mit den vorhergehenden Wendungen und damit, das Ende des ersten „button“ bildend, ein Ereignis, das im Gedächtnis

behalten werden will. Darüber hinaus bemerkt Perloff, das Stein „anticipates the postmodern turn toward decentering and dispersal“: „Long before Jacques Derrida defined differance as both difference and deferral of meaning, Stein had expressed this profound recognition.“ (Perloff, Of Objects and Readymades, a.a.O.,

S. 150) Eine deutlichere Übereinstimmung besteht sicher mit James und White-

Rhythmusexperimente

Stein spricht von und aus der Fluidität und der unauslotbaren Komplexität einer Welt, die sich ereignet, also noch nicht bestimmt und beendet sein muss, um lebendig zu sein. Ein Ereignis ist zu Ende, wenn es objektiviert wird, von einem Nachfolger zur Vergangenheit gemacht, der seinen Vorgänger als Objekt ansehen kann – ein Objekt für ein neues Subjekt. Nur: Wie von „all dem“ sprechen? Jedes Wort, jede Wendung ist in ihrem Gelesen-/Gesagtwerden von großer Fluidität und Komplexität. Können wir aus all dem hinaustreten, um es zu repräsentieren oder zu beschreiben? Wir können es versuchen, aber die Beschränkungen und Einseitigkeiten können dabei höchst schmerzlich sein – es gibt immer ein Ja, aber es gibt so viel mehr, das nicht in die Rechnung eingeht. Was ist mit diesem oder jenem, das auch gesagt und eingeschlossen werden müsste? Wie können wir mit den Einschränkungen und Hinzufügungen je an ein Ende kommen? Stein tut nicht so, als bliebe sie stehen, um die Dinge festzunageln. Ihr langes Prosagedicht umkreist das Problem wieder und wieder, entschlossen, nicht der Versuchung eines vorschnellen Halts nachzugeben, und hält uns dabei doch immer wieder an und fest mit endlosen Fragen. Diese Entschlossenheit zeugt von großer Disziplin und verlangt bisweilen ein extremes Maß an Unsinn. Manchmal begegnen uns Versuchungen in Form von Propositionen, aber auch diese sind ausreichend unklar und karg, um uns bei der Stange zu halten. Gefährlich wird es, wenn auch nur der leiseste Anschein von Pedanterie oder Philosophie wahrnehmbar wird. Dort, wo Stein mit dieser Versuchung kokettiert, verdeckt sie dies meist mit Unsinn. Nehmen wir etwa diese Passage vom Ende des Textes: The care with which the rain is wrong and the green is wrong and the white is

wrong, the care with which there is a chair and plenty of breathing. The care with which there is incredible justice and likeness, all this makes a magnificent asparagus, and also a fountain. 24

Das plötzliche Auftauchen von „a magnificent asparagus“ empfinde ich als erfreulich respektlose Erinnerung daran, dass dieses Schreiben/Lesen bedeutet, die Dinge offen und sich vom Schein des Apodiktischen fern zu halten. Wenn das so ist, kann „and also a fountain“ uns an die spielerische Ernsthaftigkeit dieses Schreibens erinnern und uns dazu auffordern, diesen „herrlichen Spargel“ beispielsweise nicht mehr horizontal zu sehen, erniedrigt zum Nahrungsmittel, sondern aufrecht in seinem grünen Wachstum, ein sprudelnder Quell, so mächtig wie die Sorgfalt, die eine Komplexität und einen Überfluss jenseits des Benennens von Teilen oder Qualitäten bestätigt, eine Fülle, in der es RAUM (einen Ort, einen Stuhl) für die Fülle des Lebens gibt, ein Reichtum des Atmens und Sagens mit unserem Atem/ head, deren Denken Stein besonders bewunderte. Aus der jüngeren Zeit wäre Deleuze (der sich auf James und Whitehead bezieht) ein passenderer Vergleich. 24 | Stein, Tender Buttons, a.a.O., S. 78.

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Leben. Natürlich ist das nur eine dürftige Paraphrase – wo sonst könnte uns der Spargel noch hinführen? Ziel wäre allerdings eine Paraphrase in Bewegung, motiviert durch den Versuch, mit einem Text zu denken, dessen „mit“ gerade nach einem Denken „jenseits“, „darüber hinaus“ verlangt, also einem Denken, das nicht bei einem fiktiven „idealen Leser“ (der natürlich immer der Schreibende selbst ist) endet oder in der leblosen Proklamation eines Experten, der für alle sprechen könnte. Aber wozu die Anstrengung? Warum sollte man es auf sich nehmen, an all dem zu arbeiten? Nur weil etwas uns hineinzieht; vielleicht könnte man von einem Köder sprechen. Der Reiz, sich einer solchen Arbeit zu widmen, kann aus einer List entspringen (man denke an einen Fischköder) oder aus einer Verlockung (man denke an Eros). Steins handwerkliche Fähigkeiten unterscheiden sich nicht grundsätzlich von denen verwandter Dichter. Jeder noch so kleine Abschnitt, jedes Ereignis (auf welcher „Ebene“ auch immer), zeigt, wenn man sich ihm hörend widmet, eine immense Sorgfalt in seinem Zusammenwirken mit allem anderen, das wichtig oder bedeutungsvoll sein könnte. Diese Sorgfalt drückt sich in einem großen Erfindungsreichtum aus, einem der Kennzeichen großer Kunst. Jedes bewegliche Teil ist unverbraucht und auf eine Weise neu gebildet, die für Intensität, Besonderheit und Neuheit sorgt. Verantwortlich dafür ist eine tiefgehende Wiederholung, ein Erinnern dessen, was bisher in diesem Werk bzw. dieser Welt gedacht/gesagt/ geschrieben worden ist.25 So vieles kehrt hier wieder und wieder, zyklisch und recycled: Farbe(n), Ort(e), seltsame kleine Gegenstände (z.B. Heftzwecken). Aber es kommt noch vieles mehr zurück: Ideen, Beinahe-Propositionen, Formen, Muster. All dies reichert sich immer mehr an. Alles, was „wieder“ kommt, kommt „wieder“ durch Virtualität, die kreative Fortdauer der Vergangenheit in die Gegenwart. Stein beschreibt und zeigt den Wert einer Wiederholung jenseits der Aufzählung. Da dies bisher in der Literatur weitgehend ausgespart worden ist, möchte ich besondere Aufmerksamkeit auf die zeitliche Gestaltung des Sagens lenken, die ganz offensichtlich zentral für Steins Technik und auch für den starken Reiz ihrer (wenn nicht jeder) Dichtung ist. Es ist nicht wirklich überraschend, dass „Rhythmus“ in diesem engen Sinne im Fall von Tender Buttons kaum zur Kenntnis genommen worden ist. Wenn Rhythmus und insbesondere poetischer Rhythmus – also der Rhythmus, der Poesie von Prosa unterscheidet – sich auf die Iteration traditioneller Versfüße (Jambus, Trochäus etc.) beschränkt, schreibt Stein keine Poesie im eigentlichen Sinne, sondern bestenfalls eine hybride Prosadichtung. Allerdings ist 25 | „Then we have insistence insistence that in its emphasis can never be repea-

ting, because insistence is always alive and if it is alive it is never saying anything. In the same way because emphasis can never be the same not even when it is

most the same that is when it has never been taught.“ (Gertrude Stein, Portraits

and Repetition, in: dies., Lectures in America, New York 1935, S. 165-206, hier 171)

Rhythmusexperimente

freier Vers bei all seiner Freiheit doch Vers.26 Die entscheidende Differenz liegt in der Notation. Tender Buttons ist nicht orthographisch in Zeilen, also Markierungen für den Vortrag gegliedert. Aber warum sollte Stein ihren Lesern auch eine solche Beschränkung auferlegen? Warum nicht die Möglichkeit dafür offenhalten, dass es immer noch Ereignisse von der Länge der traditionellen Zeile gibt, es aber dem Leser überlassen, sich wahrnehmend einzulassen, zu experimentieren und nach solchen und anderen Ereignissen zu suchen? Warum sollte „Zeile“ so einfach sein? Im Übrigen: Ist Rhythmus in einem weiten Sinne weniger offen oder weniger wichtig als jene vage, „Semantik“ genannte Sache, die ihre Interpreten so fasziniert hat? Und ist Rhythmus, wenn man ihn so versteht, je von der Semantik getrennt? Die Zeile zu tilgen, um auf die Beweglichkeit von Ereignissen hinzuweisen, könnte eine Art sein, den Rhythmus zu intensivieren statt ihn zu abzuschwächen, und überdies sind Steins zwei Satzzeichen, Komma und Punkt, brauchbare und zuverlässige Leitfäden für den Vortrag. Vom Sagen her (und nicht von der Notation) ist Tender Buttons nicht kategorial freier als freier Vers (und wo sollten wir die Grenze ziehen?). Dennoch gibt es zahlreiche Passagen, die sich unterschiedlich weit an die relativ chaotische Welt der Prosodie der Alltagssprache annähern, in der sich alles schnell bewegt, schneller als die wohlgesetzten Ereignisse des dichterischen Rituals, das ein angehaltenes („geschrieben“ oder nicht) Artefakt ist, das wiederholt werden kann – angehalten, um als Experiment wiederholt zu werden, als etwas, mit dem wieder und wieder gearbeitet werden kann. Tatsächlich bieten Steins zahlreiche rhythmische Experimente in Tender Buttons Gelegenheit für Veränderungen der Geschwindigkeit – etwa eine Bewegung von einer klaren Abfolge von Hebungen mit wenigen Erweiterungen hin zu einer weniger klaren oder variableren Erscheinung von Hebungen mit zahlreichen Erweiterungen, also von einem verlangsamten, wohlgesetzten Rhythmus, den die dichterische Komposition möglich macht, zu dem weniger vorsichtig gesetzten Rhythmus der spontanen Sprache. Natürlich liegt es am Leser, solche Unterscheidungen zu treffen, aber die Abwesenheit von Zeile und Kontext gibt ihm eine Menge, mit dem er arbeiten kann. Die Freiheit, zeitlichen Sinn zu produzieren, kann nicht von der Freiheit getrennt werden, semantischen Sinn zu produzieren. Nehmen wir noch einmal den Anfang, diesmal in rhythmischer Notation (Abb. 5). Abb. 5 |

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1. A kind in glass and a cousin

(\) 4+4 syllables

26 | Man könnte sagen, dass „freier Vers“ nicht frei von Maß ist, sondern eine Freiheit des Messens bietet – in all seinen Dimensionen.

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2. a spectacle and nothing strange / |

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4+4 syllables \

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3. a single hurt color and an arrangement in a system to pointing. (/ |

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6+12 syllables

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4. All this and not ordinary, (/ |

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5. not unordered in not resembling. /

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6. The difference is spreading. Ein Cousin (eine Art (kind) lebender Verwandter) ist kein Fremder; eine Art „in“, nicht „von“ Glas. Verletzt (hurt) als einzelne Farbe (a single color), gegen andere? „Farbe“ ist ein klassisches Beispiel einer Qualität, die als Eigenschaft, als Besitz eines freistehenden Gegenstandes verstanden wird (einer zudem sekundären Qualität). „Arrangement“, „System“ – dies sind archetypische Weisen des Klassifizierens; „zu Zeigen“ (to pointing), nicht „des Zeigens“. „All dies“ – was ist „dies“? „Nicht ungeordnet“, „nicht gewöhnlich“, „nicht gleichend/ähnelnd“ (not unordered, not ordinary, not resembling) – gleichend wird hier identifiziert (auf die Weise, wie man einen Verbrecher identifiziert) mit einer basalen und auf basale Weise einschränkenden, ausschließenden (vielleicht patriarchalischen) „Ordnung“. Das lateinische ordo ist der Ausgangspunkt des Gedankens der unzeitlichen Linie: Ursprünglich mit der Weberei verbunden (ordiri, die Kettfäden zum Weben anlegen), bewegt ordo sich hin zu Reihe und Rangordnung aller möglichen Formen von Kategorisierung (für gewöhnlich hierarchisch: die Ordnung der Ritter, Engel, gesellschaftlicher Klassen im Allgemeinen), von dort zu „geordneter“ Nachfolge, zur Regel, der Regel oder Regelmäßigkeit des Gebräuchlichen, Gewöhnlichen. Der Unterschied breitet sich aus (nicht in einer ordentlichen Linie, aber auch nicht ungeordnet oder formlos), um Raum oder besser Platz zu schaffen, der in Tender Buttons insgesamt, vor allem in ROOMS, erforscht wird.

In diesem Beispiel habe ich eine Analyse der Betonungen versucht und den Zeilenwechsel dazu eingesetzt, auf einige syntaktische Gliederungen hinzuweisen. Wenn man damit experimentiert, dies zu sprechen, hört man, wie kleine, subtile Unterschiede in der zeitlichen Gestaltung und der Gewichtung das Verstehen prägen – oder wie umgekehrt subtile Unterschiede des Verständnisses den Vortrag prägen. Wenn im tatsächlichen Vortrag eine solche Wechselseitigkeit beobachtet werden

Rhythmusexperimente

kann, ist das ein starker Hinweis darauf, dass „Klang“ und „Sinn“ niemals wirklich voneinander geschieden sind. Die Symbole für Anfang (|) und Erweiterung (\ und /) sind recht grob und sagen wenig über die tatsächliche Zeitlichkeit. (Wir könnten eine Notation entwickeln, die feinere Unterscheidungen erlaubt.) Aber sie können doch auf einige Unterschiede hinweisen, die den Gang des Vortragens beeinflussen. Beachten Sie etwa, dass die ersten beiden „Zeilen“ und die letzte dem Vortrag weniger Alternativen bieten als die anderen. Die letzte, zwei Hebungen umfassende Zeile, eine Feststellung (allerdings mit einem Prädikat im present progressive), steht im Kontrast zu dem vorhergehenden. Andererseits kann sie auch so gehört werden, dass sie sich als eine Art Endreim auf ihren Vorgänger bezieht (in Klang und Sinn von diesem „gemessen“): „in not resembling“ – „the difference is spreading“. Ich habe bereits auf die Möglichkeit größerer (längerer) Hebungen in dem ersten Zeilen-Ereignis hingewiesen, eine Möglichkeit, die sich auf ihre verschiedenen Parallelismen beziehen würde. Die in Klammern gesetzte Erweiterung (\) ist still und könnte als „motivierte Pause“ gelten, eine Pause, deren Timing auf das unmittelbar vergangene Ereignis, die vorgängige große Hebung antwortete. Die zweite, parallele Wendung wird nicht durch ein Komma beendet. Das könnte ein Hinweis dafür sein, eine deutlich kürzere Pause im Übergang zur dritten, längeren und komplexen Wendung zu machen, die zu einer gewissen Dringlichkeit und Beschleunigung auffordert, um sie im Griff zu halten. Man beachte, dass die Zusammensetzungen mit „and“ 4+4 Silben in den ersten beiden Wendungen (mit der Gelegenheit für eine kleine Pause nach „spectacle“) und 6+12 in der dritten ergeben. Wie auch immer wir dies aussprechen, die Entscheidung wird einen Unterschied fürs Sagen/Hören und in Bezug auf den Sinn machen. A CENTER IN A TABLE, das Ende des zweiten Abschnitts, FOOD, bietet ein elaborierteres und augenfälligeres Experiment mit Ausweitung bzw. Anreicherung in jedem seiner Absätze oder Strophen: A CENTER IN A TABLE It was a way a day, this made some sum. Suppose a cod liver a cod liver is an oil,

suppose a cod liver oil is tunny, suppose a cod liver oil tunny is pressed suppose a cod liver oil tunny pressed is china and a secret with a bestow a bestow reed, a reed to be a reed to be, in a reed to be.

Next to me next to a folder, next to a folder some waiter, next to a foldersome waiter and re letter and read her. Read her with her for less. 27

Hier dehnen sich die Komposita sukzessive weiter aus und verschieben die nächste Hebung mit jeder Stufe weiter nach hinten: „a cod liver“ – „a cod liver oil“ – „a 27 | Stein, Tender Buttons, a.a.O., S. 58f

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cod liver oil tunny“ – „a cod liver oil tunny pressed“.28 Man beachte auch, wie die Serie anfängt, wie das erste Kompositum „cod liver“ einen plötzlichen Bruch in den jambischen Strom einführt, der ihm vorausgeht. Meine Notation in Abb. 6 zeigt, wie diese Ausweitung in einer langen, dem gewöhnlichen Sprechen angeglichenen Phrase kulminiert, die sich einer ganzen Bandbreite unterschiedlicher, mit syntaktisch-semantischen Unterscheidungen zusammenhängenden Vortragsmöglichkeiten öffnet. Abb. 6 A CENTER IN A TABLE /

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It was a way a day, this made some sum. /

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Suppose a cod liver a cod liver a cod liver is an oil, / |

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suppose a cod liver oil is a tunny, \ \ \

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suppose a cod liver oil is tunny pressed \ \ \ \ \

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suppose a cod liver oil tunny pressed is china and a secret with a bestow a bestow |

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reed, a reed to /

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be a reed to be, in a reed to be. /

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Next to me next to a folder,

28 | Der „compound stress“-Regel zufolge erhält der am weitesten „links“ stehen-

de betonbare Vokal die Betonung („Betonung“ hier verstanden als Anfang einer reproduzierbaren zeitlichen Länge) (vgl.

Noam Chomsky u. Morris Halle The

Sound Pattern of English, New York 1968, S. 17.)

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next to a folder some waiter, |

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next to a foldersome waiter and re |

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letter and read her. |

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Read her with her for less.

Meine Markierungen (die, noch einmal, auf eher grobe Weise eine Möglichkeit des Aussprechens unter anderen nahelegen) maximieren den Aufschub und die Möglichkeit von Beschleunigung, indem sie eine lange Reihe auftaktiger Verzögerungen hin zu dem späten „be“ vorschlagen. Das nächste Absatz-Ereignis, das das dreifache Ende seines Vorgängers aufgreifen könnte, führt durch einen Rückgriff auf die homophonen Wortspiele des Anfangs („away“/„a way“ und „some“/ „sum“) eine neue Erweiterung ein, neue Möglichkeiten für „some“ (das Suffix „-some“) und „reed“ („read“). Was fangen wir mit „re“ an? Handelt es sich um ein abgebrochenes (möglicherweise unsicheres) „reed“/„read“? Ist es ein etymologisch motivierter Präfix „re-“? Wenn das so ist, markiert jenes „re-“ eine Rückkehr, ein rückgängig Machen oder eine Intensivierung, Steigerung?29 (Vgl. das kurz zuvor aufgetauchte „re-“ in EATING, einige Buttons früher.) Und ist es nicht vielleicht so, dass jetzt, wo wir ans Ende dieses Buttons kommen, auch „liver“ wiederaufgenommen werden könnte, nämlich wenn wir „Read her“ lesen. War dies das „re“, das wir gerade eben gelesen haben, nur ohne das „her“? Schließlich haben wir nun „her“ – „Read her with her“. Und wenn wir „Read her with her for less“ lesen, können wir nicht sehen, dass „Read her“ ohne „her“ „reader“, also „Leser“ sein könnte? Angesichts dieses neuen Sinns sollten wir zurückdenken. Wenn „reader“ „read her“ sein/werden könnte, was ist mit „letter“, „waiter“, „folder“, „liver“ oder „CENTER“, oder gar „TENDER“? Vielleicht sollte ich eher nicht „vielleicht“ schreiben. Indem wir in Tender Buttons eine derartige Kunstfertigkeit finden, könnten wir darauf vertrauen, dass es noch eine Menge mehr zu finden gibt; und Vertrauen ist unabdingbar dafür, Kunst 29 | Es ist vielfach auf Steins intensive Beschäftigung mit der Etymologie hingewiesen worden; vgl. etwa Allegra Stewart, Getrude Stein and the Present, Harvard 1967. Für eine Ausarbeitung von Stewarts Ansatz, die auch eine anregende etymologische Deutung von „CARAFE“ enthält, vgl. Michael Edward Kaufmann, Gertrude Stein’s Re-Vision of Language and Print in „Tender Buttons“, in: Journal of Modern Literature 15/4 (1989), S. 447-460.

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(oder irgendetwas anderes) ernst zu nehmen. Wir können nun darauf vertrauen/ daran glauben, dass alles, was bedeutsam sein könnte, eine Bedeutung annehmen wird, wenn wir es nur ausprobieren. Wenn bedeutsam Sein („caring“) das Werden von Bedeutung ist, dann gibt es in diesem Sagen, diesem Ausprobieren, wie zu sprechen wäre, kein Ende des Bedeutens. Die Bedeutung muss nicht unbedingt durch ein wiederholtes Lesen/Aussprechen dieses Abschnitts abgeschwächt werden. Noch einmal, Wiederholung als genau Identisches führt zu Leblosigkeit, Abstumpfung, Anästhesie. Aber Wiederholung auf unsere re-formulierte Weise, als Experiment auf der Suche nach Verstehen und Wachstum durch Erfahrung, führt zu einer Steigerung von Lebendigkeit und Sensibilität bzw. Empfindung (aisthesis), die nicht anders sein kann als neu.30 Diese Steigerung wird durch Tun, Übung (practice) erreicht, die Übung des am Leben Bleibens, eine Übung, die die Kunst in ihren vielen Formen pflegen kann – schließlich brauchen wir alle etwas, das wir üben können. „Üben“ zielt, wie jeder Praktiker weiß, immer und ausschließlich auf Zuwachs – auf ein Wachstum von Fertigkeit/Verständnis/Kompetenz – und wird mit der Aussicht auf eine neue Aufführung unternommen. Wozu sonst die Anstrengung? Steins Praxis, ihre Übung ist recht aggressiv, aber trotzdem lustvoll in ihrem Anspruch, sie arbeitet hart daran, nicht pedantisch zu werden. Werden diese Ansprüche sich lohnen? Das (all das) hängt davon ab, was aus ihnen gemacht werden kann. Das nächste Beispiel, der letzte Absatz/die letzte Strophe von ORANGE IN (origin, Ursprung?), drei Buttons vor A CENTER IN A TABLE, versetzt uns in eine andere Rhythmuswelt. Hier findet sich ein expliziter Eintritt in das neue Experiment, ein wiederholtes (ausgespucktes, „excreant“) Sagen, das eine neue (neuartige) Arbeit des Aussprechens erfordert: …real is, real is only, only excreate, only excreate a no since.

(1) A no, (2) a no since, (3) a no since when, (4) a no since when sense, (5) a no since when since a no since when sense, (6) a no sense, (7) a no since when

since, (8) a no since, (9) a no, (10) a no since a no since, (11) a no since, (12) a no since. 31

Ich habe die aufeinander folgenden, durch Kommata markierten Ereignisse hier nummeriert. Auch hier gibt es Ausweitung/Anreicherung. Aber es gibt auch mit Ereignis Nr. 6 (das die Erweiterung anhält) ein Wiederansetzen und damit das Entstehen eines neuen, zweiten (größeren, durchbrochenen) Ereignisses. Der Leser 30 | „Existing as a human being, that is being listening and hearing is never repetition. It is not repetition if it is that which you are actually doing because each

time the emphasis is different […].“ (Stein, Portraits and Repetition, a.a.O., S. 179 (meine Hervorhebung))

31 | Stein, Tender Buttons, a.a.O., S. 58.

Rhythmusexperimente

möge dies einige Male aussprechen, um seine Beweglichkeit auszutesten. Entscheidend ist hier die jeweilige Entscheidung, „sense“ oder „since“ zu hören.32 Schnelles, konzentriertes Sprechen mag hier die interessantesten Ergebnisse zeitigen, indem man das Sagen unter ein wenig performativen Druck setzt und so eine Abwägung abbricht, mit der wir in einem Nachdenken über... steckenblieben. Auf der anderen Seite kann uns ein verlangsamtes/ausgedehntes und experimentelles Nachdenken über... zu einer Praxis führen, die ein performatives Aussprechen stark beschleunigt, wenn wir den Komplexitäten des Wahrnehmens Rechnung tragen, die unser Sagen unweigerlich beeinflussen. Solches ausgedehntes oder temporär gehaltenes Nachdenken über... könnte sich z.B. mit der Frage von Sinn und Unsinn oder mit „since“ beschäftigen, das ein Adverb sein kann, das „unmittelbar danach“, „von damals bis jetzt“, „anschließend“ oder „später“ bedeuten kann, oder eine Präposition („seit“) oder eine Konjunktion („da“ bzw. „weil“). Ein solches Nachdenken über... wird den Gang des folgenden Aussprechens unweigerlich beeinflussen. Ist eine solche Veränderung die Ursache des Sagens, weil es ihm vorherging (und bis jetzt anhält), oder ist all dies eine Möglichkeit, Kausalität neu zu denken? Wenn wir die auf eine Weise denken, die unser alltägliches Verständnis von Kausalität in Frage stellt, muss dies kein Unsinn sein. Aber Sinn muss nicht so gewichtig sein. Steins Erfindungsreichtum liegt darin, dass sie mit vielen unterschiedlichen Dingen arbeitet, anhand derer wir unseren Vortrag gestalten könnten. So kann zum Beispiel die Eröffnung von SALAD DRESSING AND AN ARTICHOKE, die auf ORANGE IN folgt (Abb. 7) an einen Kinderreim erinnern und so das Gefühl eine rhythmischen Verschiebung verstärken, wenn „in the red stranger“ die Erwartung des Pulses überschreitet. Plötzlich kann es so anfühlen, als ob diese Überflutung außer Kontrolle gerät. Man versuche, den Kinderreim33 einige Male zu sprechen, bevor man sich an dieser Passage versucht.

32 | Mit Entscheidung (decision: de-cisio) meine ich stets im Prozess getroffe-

ne Wahl, ein Abschneiden anderer Möglichkeiten – keine reflexive Entscheidung „über“ etwas, die sich außerhalb des Sehens und Sagens situiert.

33 | Der Reim wird den deutschen Lesern nicht unbedingt geläufig sein; er lautet:

Pease pudding hot, Pease pudding cold, 




Some like it hot, some like it cold,




Pease pudding in the pot – nine days old. Some like it in the pot – nine days old. (A.d.Ü.)

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Abb. 7 SALAD DRESSING AND AN ARTICHOKE | |

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Please pale hot,

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please cover rose,

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please acre in the red stranger, please butter all

the beefsteak with regular feel faces.

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Pease porridge hot,

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Please porridge cold,

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Please porridge in the pot nine days old. 34

Man kann sagen, dass Tender Buttons vom Philosophischen bis zum „bloß“ Spielerischen reicht. Aber ist diese Entgegensetzung produktiv? Wenn wir uns die Zeit nehmen, an unserem Aussprechen/Hören zu arbeiten, sind Denken und Spielen nicht voneinander getrennt. In einem bestimmten Sinne ist es eine Verlangsamung, wenn man sich diese Zeit nimmt – ein langsameres Sagen oder ein Halten in der Wiederholung.35 Ein schlichtes Durch-Lesen ist weitaus schneller und hat viele Vorteile. Sich durch den Text zu bewegen kann höchst anregend sein und erscheint weniger anstrengend. Aber die Anstrengung des Anhaltens (im Klang und/oder der Wiederholung) hat ihre eigene Art der Schnelligkeit und ihren eigenen Lohn. In ihrem Essay „Composition as Explanation“ schreibt Stein, dass sie um die Zeit von Tender Buttons herum „was groping toward a continuous present, a using everything as a beginning again and again and then everything being alike then everything very simply everything was naturally simply different […]“36. Man kann sagen, dass diese andauernde Gegenwart eine Art Fokus auf das momenthafte Erscheinen oder die Ereignishaftigkeit darstellt, ein Sein „im Moment“ und in der rhythmischen Erneuerung des Moments. Das kann eine künstlerische Disziplin, eine künstlerische Übung sein. Und (sich) auf diese Weise Zeit zu lassen, kann sehr schnell erscheinen, schneller als die gesprochene Sprache, so schnell wie das Denken. Überdies kann im Experimentieren und dem aufmerksamen Üben die Sensibilität erhöht und angeregt werden. Und selbst wenn das Denken als ein Nachden34 | Stein, Tender Buttons, a.a.O., S. 58.

35 | Steins Betonung des Sehens und ihr Widerstand gegen das „Singen“ deuten

auf eine sehr schnelle Ausführung des Visuellen hin, aber auch auf das Anhalten

und Wiederholen, das verlangt ist, wenn man sich bei dem Bild – etwa einem Gemälde – aufhält.

36 | Gertrude Stein, Composition as Explanation (1925), in: Ulla Dydo (Hg.), A Stein Reader, Evanston 1993, S. 495-503, hier 500f.

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ken über... umherschweift und den Kontakt zum bewussten Sagen verliert, kann es dennoch in der Dichtung gegründet sein und zu einem schnelleren, volleren, lebendigeren Sagen oder Denken zurückkehren. Keats könnte recht haben, dass selbst wenn wir „on the viewless wings of Poesy“ fliegen, wir uns dennoch mit „the dull brain that perplexes and retards“37 zufrieden geben müssen, einem abstumpfenden, schweren Denken, das sich in Gewohnheiten und Blockaden verfängt; aber die „poetische“ Übung jeder Art kann Hirn und Körper in Bewegung versetzen.

V. Wenn wir uns nun der visuellen Welt der Malerei zuwenden, wo werden wir Ereignisse und Übergänge finden? Eine bemalte Oberfläche, die in sich mehr oder weniger unverändert ist, wird unserem sich verändernden Blick dargeboten. (Wie unähnlich/ähnlich ist dies einer Partitur oder einem geschriebenen/gedruckten Text?) Aber natürlich ist der ruhige Gegenstand selbst nicht das, was wir sehen, und wir sehen es nicht auf einen Schlag. Je länger und aufmerksamer wir hinsehen, desto mehr sehen wir. Wir sehen Bilder, mehr oder weniger klar und deutlich, Dinge, die wir nur im Blick halten können, indem wir immer wieder neue Akte des Sehens vollziehen. Wenn das Sehen Akte der Wiederholung und Erneuerung einschließt, dann ist der Prozess des Sehens rhythmisch im weiten Sinne des Wortes. Tatsächlich können wir ein Gemälde nur im Blick halten, indem wir uns bewegen, indem wir erkunden und denken, also durch eine ereignishafte Aktivität, die wir uns nicht weniger rhythmisch vorstellen dürfen als den Versuch, den Komplexitäten eines musikalischen oder sprachlichen Ablaufs zu folgen. Auseinandersetzungen mit der bildenden Kunst verorten Rhythmus typischerweise in kompositionellen Elementen – in Pinselstrichen, Mustern, in Gegenständen eher als im Prozess. Derlei Dinge sind wichtig – wir können mit ihnen sehen (so wie wir mit den Worten und Klängen in Poesie und Musik hören können). Aber wenn Rhythmus von der Ereignishaftigkeit und dem andauernden Lauf der Dinge handelt, muss der visuelle Rhythmus in der Erfahrung gesucht werden, denn es ist die Erfahrung, in der Ereignisse hervorgebracht werden. Die Eigentümlichkeit daran, mit einem unbewegten Bild wie einem Gemälde zu arbeiten, liegt darin, dass die Ereignishaftigkeit hier scheinbar unsichtbar bleiben mag. Es kann sein, dass der Gegenstand uns derartig fesselt, dass wir die permanente kreative Arbeit aus dem Blick verlieren, mit der wir es im Blick halten, indem wir mit ihm sehen, denken, fühlen. Das „mit“ ist hier im Sinne eines Mittels zu verstehen: Wir sehen/denken/ fühlen/nehmen wahr vermittels des gemalten Bildes, mit dem Artefakt als Vehikel – und natürlich mit unseren Körpern (die Augen eingeschlossen). 37 | John Keats, Ode to a Nightingale, in: Keats’s Poetry and Prose, a.a.O., S. 457-462, hier 458.

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Die Frage nach dem Rhythmus für die bildende Kunst als ereignishaft/andauernd/erfahren zu öffnen (eine Öffnung für das Visuelle als etwas, das tatsächlich stattfindet) mag besonders dann problematisch erscheinen, wenn wir Rhythmus als etwas zu denken gewöhnt sind, das der Einförmigkeit eines „objektiven“ (determinierten, quantifizierten, abstrakten) Musters bedarf, etwas, das gezählt werden und bei dem man darauf zählen kann, dass es sich nicht verändert. Was sich tatsächlich ereignet bzw. verändert, ist das Sehen (nicht der Sehende oder das Gesehene abgelöst vom Sehen). Für das Sehen mag der Gegenstand, das Was, weniger problematisch erscheinen als für Musik und Dichtung. Aber es kann so erscheinen, als ob das Wie unsichtbar würde – wie können wir wissen, wie wir sehen sollen, wie können wir wissen, dass wir auf die richtige Weise gesehen haben? Geschriebene Musik und geschriebene Dichtung scheinen uns durch Markierungen unterschiedlicher Dimension (Worte, Zeilen, Strophen; Noten, Takte, doppelte Taktstriche, Abschnittsbezeichnungen...), die von links nach rechts, von oben nach unten angeordnet sind, zu sagen, was wir sagen und spielen müssen. Überdies scheinen uns diese Markierungen zu sagen, wann wir etwas zu sagen und zu spielen haben. Aber man muss sich daran erinnern, dass die Notation von Sprache und Musik unbewegt ist; es gibt in ihr keine menschliche Bewegung. Wenn Sprache und Musik in Bewegung sind, dann nur, weil wir uns bewegen – und es steht uns (im Rahmen bestimmter gesellschaftlicher und kultureller Beschränkungen) frei, dies beliebig oft zu wiederholen. Auf ganz ähnliche Weise bewegen wir uns beim Sehen in einem visuellen Schauspiel. Aber wir erhalten keine schriftlichen Anweisungen, wie wir uns zu bewegen haben. Auch erfahren unsere Bewegungen selbst keine (sichtbare und hörbare) Darstellung wie im Falle von Musik und Sprache, wo dies auf ein geteiltes Verständnis verweisen kann („Ja genau, so muss es klingen, so muss man sich bewegen, spielen, sprechen!“). Auch das Gemälde als Artefakt, als gemachtes Ding, das in seiner eigenen Materialität ruht, ist unbewegt; im Gemalt-worden-Sein liegt keine menschliche Bewegung. Stattdessen sind wir es, die wir uns nach unserem Ermessen bewegen. Malerei ist eine Weise, das Denken zu konzentrieren oder zu fokussieren, die uns ein unbewegtes Artefakt darbietet, zu dem wir immer wieder zurückkehren können, ein komplexes (abgegrenztes, strukturiertes) Etwas, mit dem wir denken und das wir erkunden können, wobei wir unserem Denken Zeit lassen müssen. Da das Gemälde uns keine vorgeschriebene Abfolge von Ereignissen bietet, steht es uns frei, unsere eigene Abfolge und Ordnung zu kreieren, und diese Abfolge kann sehr schnell sein – so schnell wie das Denken. Dadurch kann die Malerei als besonders intellektuelle Kunstform erscheinen. Ein Aspekt dieser großen Geschwindigkeit ist die komplexe Bewegung unserer Augen, wenn sie das Bild aufnehmen und sich bei ihm aufhalten – die Sakkaden. Diese zwanzig bis zweihundert Millisekunden dauernden Augenbewegungen liegen weit unter der Schwelle bewusster

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Wahrnehmung.38 Sicher, das menschliche Ohr verfügt über ein unglaublich feines Unterscheidungsvermögen, was Unterschiede der Tonhöhe und der zeitlichen Gestaltung angeht. Aber Hören ist recht passiv und hat wenig Möglichkeiten der aktiven Erkundung. Unsere Ohren sind fixiert, wir können sie nicht wie unsere Augen oder wie die Ohren anderer Säugetiere bewegen – natürlich können wir unseren Kopf bewegen, aber wie langsam. Das Hören nimmt auf, was uns umgibt, vieles gleichzeitig Geschehende – nicht wie das Sehen, das sich spezialisiert, indem es den größten Teil der Umgebung ausblendet, um Dinge festzuhalten, bei ihnen einzurasten (Katze jagt Maus – alles andere huscht vorüber). In der sakkadischen Bewegung geht es darum, die Welt zu erkunden. Sie ist ein strukturiertes Abtasten, das in seinem Vollzug und Nachvollzug der visuellen Erscheinung ereignishaft und rhythmisch ist. Die Erscheinung, das Bild hält nur deswegen unsere Aufmerksamkeit, weil wir uns (unsere Köpfe, unsere Augen, unseren Geist) bewegen. Ein weiterer Aspekt dieser Geschwindigkeit ist der besonders leichte Zugang des Sehens zum Denken – ein Denken mit... und ein Nachdenken über... Vielleicht sind es die Geschwindigkeit des sakkadischen Wahrnehmens und die Wiederholung des Festhaltens, das sich Aufhalten bei einem Bild, das „dasselbe“ bleiben kann, die diesen Zugang ermöglichen. Vielleicht rührt die Nähe von Sehen und Denken gegenüber Hören und Sprechen auch von der Unabhängigkeit von den größeren Muskelgruppen her, die in der Musik und der Sprache gebraucht werden – Finger, Hände, Arme, Zunge, Lippen, Lunge. Auf der anderen Seite sollten die derartige Grenzen, die die Künste voneinander trennen, nicht allzu scharf gezogen werden. Wenn die Malerei durch die Geschwindigkeit und Beweglichkeit der Ereignisse charakterisiert werden kann, können Musik und Dichtung vielleicht nach Möglichkeiten suchen, ihre eigene Ereignishaftigkeit zu beschleunigen bzw., um Walter Paters Satz umzukehren, den Möglichkeiten der Malerei nachstreben.39 In ihren Experimenten mit Musik und Dichtung ließen sich Feldman und Stein von der Arbeit zeitgenössischer Maler inspirieren und schufen Werke, die, wie ich zu zeigen versucht habe, eine neue Art des Hörens und des Ausprobierens verlangen, die eine 38 | Die Geschwindigkeit hängt hier zusammen mit dem unterhalb der Wahrnehmungsschwelle befindlichen oder „vorbewussten“ Charakter dieser subtilen und

auf subtile Weise kontextsensitiven (d.h. nicht stumpf mechanistischen) Bewegungen, die eine komplexe Erscheinung und unsere Aufmerksamkeit (was vielleicht dasselbe ist) halten können. Vgl. dazu etwa Evgenia Hristova u. Maurice

Grinberg, Time Course of Eye Movements during Painting Perception, in: Boricho Kokinov, Annette Karmiloff-Smith u. Nancy J. Nersessian (Hg.), European Perspectives on Cognitive Science, Sofia 2011.

39 | In Paters Buch über die Renaissance findet sich der berühmte Satz „All art constantly aspires to the condition of music.“ (Walter Pater, „The School of Giorgione”, in: ders., The Renaissance. Studies in Art and Poetry, Oxford u. New York 1986, S. 83-98, hier 86) (A.d.Ü.)

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Geschwindigkeit oder Beweglichkeit beinhalten, die sich aus dem Verweilen beim Gegenstand ergibt.40 Beide verlangen eine Verlangsamung, ein sich Zeit Nehmen, um mit Klang und Sprache zu arbeiten, was paradoxerweise auf eine Beschleunigung hinausläuft. Indem wir beispielsweise ein „that is“ anhalten und es mit wiederholtem Denken/Sagen erproben – und wie ich zu zeigen versucht habe, sind Denken und Sagen untrennbar –, wird unser Spielraum größer und größer; und wir finden an diesem schmalen Ort mehr Raum, als wir uns in unserer prosaischen Eile hätten träumen lassen. Feldmans extreme Langsamkeiten zu hören befreit uns von den Ablenkungen der gewöhnlichen Ereigniswelt, in der immer die Gefahr besteht, dass unsere Entscheidungen für uns getroffen werden; nun habe wir Zeit, zu wiederholen und selbst Maß zu nehmen. Von den Musikern verlangen Feldmans enigmatische Komposition und ihre Notation, dass jede Entscheidung in einer unsicheren „unmittelbaren Gegenwart“ erwogen werden will. Von den Hörern verlangt die fragile Unbestimmtheit der Ereignisse ein ungewöhnlich dichtes Hören. Es ist, als ob die Verlangsamung eine subtile, beschleunigte, vielleicht kontemplative Aufmerksamkeit für den Rhythmus der mit dem Hören und Sagen verbundenen Wahrnehmung befördert. Bedeutet das, dass Stein und Feldman uns eine neue Welt bieten, besser als die alte? Natürlich nicht. Was es lediglich bedeutet, ist, dass die alte Welt z.B. von Haydn und Keats für uns nicht länger auf die gleiche Weise funktionieren mag wie für ihre Zeitgenossen. Vielleicht erforderten auch Haydn und Keats, als sie selbst neu waren, eine Aufmerksamkeit, die über die Jahre abgestumpft ist. Die Empfindungswelt hat sich verändert, und vielleicht finden wir in dieser neuen Welt auch in den Artefakten, die Haydn und Keats uns hinterlassen haben, neue Möglichkeiten. Analog zum Experimentieren mit Musik und Dichtung möchte ich nun zumindest kurz andeuten, wie ein Experimentieren mit Malerei aussehen könnte. Ich möchte hier die Richtung ändern und mich auf eine bemerkenswerte Reihe von Experimenten mit zwei Landschaften von Poussin, Paysage par temps calme und Paysage avec un homme effrayé par un serpent, beziehen. Durchgeführt und aufgezeichnet wurden diese Experimente von dem Kunsthistoriker T.J. Clark über einen Zeitraum von neun Monaten, während er im Residence-Programm am Getty Museum war.41 Clark hält seine beinahe täglichen Auseinandersetzungen mit diesen Gemälden fest, betrachtet sie in unterschiedlichen Lichtverhältnissen und aus verschiedenen Entfernungen. Die Niederschrift kehrt wieder und wieder zu den gleichen Stellen zurück. Mit zunehmender Vertrautheit versucht Clark in seinem Schreiben Aspekte seiner diversen Erfahrungen mit den Bildern und seines sich vertiefenden und manchmal auch widersprüchlichen Verständnisses zurück-

40 | Für Stein war das der Kubismus, für Feldman der abstrakte Expressionismus.

41 | Vgl. T.J. Clark, The Sight of Death: An Experiment with Art Writing, Yale 2006 (Yale UP).

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zugewinnen. In diesen Gemälden betreten wir weniger einen Raum als eine Welt des Ortes, voll der Orte, topoi, die wir immer wieder erkunden können. Diese Details oder Punkte sind Orte, an denen Clarks Aufmerksamkeit eine zeitlang betrachtend festgehalten wurde, ehe sie weiterzieht; man könnte sagen, dass sie auf diese Weise einen Gedankengangs erinnernd aufzeichnen. Diese Form von Halt und Bewegung ist die Formierung von Ereignissen. Die mit dem Gemälde beschäftigte Aufmerksamkeit ist in einem präzisen Sinne rhythmisch – artikuliert, skandiert durch aufeinander folgende (sich überschneidende, ineinander verschachtelte) Ereignisse, die auf reale Potentiale im Objekt antworten, ganz ähnlich wie die Beschäftigung mit einem Musikstück oder einer Dichtung eine spezifische Antwort auf das Potential seiner Komposition bzw. die Aktualisierung dieses Potentials darstellt. Clark hält fest, dass sein Verständnis der Bilder nicht ohne seine täglichen rhythmischen Besuche und Erkundungen hätte erreicht werden können. Seine Bemerkung, dass das Gemälde jeden Tag mit Sonnenaufgang und Sonnenuntergang lebt und stirbt, Tag für Tag der Dunkelheit entrissen wird, erinnert uns nebenbei daran, dass wir in rhythmischen Übergängen leben und dass die Welt menschlicher Kultur sich in rhythmischen Übergängen erhält, auch wenn sie selbst vorübergehen und sich von Generation zu Generation verändern. In seinem stets reflexiven Schreiben macht sich Clark über viele Dinge Gedanken: über sein Sehen, die Arbeit anderer Wissenschaftler, das Feld der Kunstkritik, die Geschichte und die Welt von Poussins Zeitgenossen. Das Buch ist voller Gedanken über den Prozess des Erkundens/Entdeckens (der unendlich ist), und lädt den Leser ein, daran teilzunehmen, indem er ihm die Freiheit gibt, sich selbst einem solchen (unendlichen) Erkunden/Entdecken zu widmen. Clarks Eintrag vom 15. März stellt eine der ausdauerndsten und aufschlussreichsten Diskussionen seines Entdeckungsprozesses dar. Er denkt hier über die Rückkehr zu einem bestimmten Detail in einem Augenblick günstiger Beleuchtung und einer besonderen, aus unzähligen Betrachtungen gespeisten Offenheit nach: „After a minute or two I see something in Snake that seems to me fundamental, which I’d not properly seen before: that light is flooding along the channel of the

stream… flooding and illuminating the banks of red earth… so that the man in blue is running into an incandescent tunnel. […] I didn’t grasp the effect fully until now; partly because the effect is so subtle, even if strong and consistent once seen. And it changes other things: I now see […].“42

Und auf den folgenden zwei Seiten beschreibt Clark, was er nun gesehen hat, und macht sich am Schluss Gedanken über das Erscheinen einer neuen Weise des Sehens: „Why was an awareness like this one so long in coming? Not just because the behavior is subtle, I think, but because it is threaded into such a complex weave of 42 | A.a.O., S. 160.

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effects – perceptually, semantically.“43 Schließlich wendet er sich früheren Betrachtungen zu und beendet seinen Katalog vorgestellter vergangener Eindrücke mit „And so on“. Wo hört die Auseinandersetzung auf? Sie kann nur aufhören, indem man sie beendet. „None of these readings or half-readings was wrong, and they will no doubt reas-

sert themselves once the shock of this new ‚seeing as‘ has worn off. They are already doing so. The new aspect will complicate the picture’s ethic, not cut a

clear swathe through it. Isn’t what we mean by complexity in an artwork bound

up with precisely this kind of experience – seeing an aspect, seeing its semantic charge, then seeing how the aspect and the charge are inseparable from many

other vectors in the representation, and must never have been separable – would not have taken the form they do if they had not always been in play with other networks, other analogies, other modes of apprehensions?“44

Clark sieht und wiederholt diese Bilder immer wieder von Neuem. Er sieht dieselben „Repräsentationen“ auf neue Weise, jede neue Betrachtungen gemessen an vergangenen Betrachtungen in einem fortwährenden Gang des Betrachtens, der nie aufhört. Eine solche Betrachtung schließt ein Halten ein, das „lang“ genug ist, damit Dinge auftauchen können, Ereignisse, in denen ein bestimmter Aspekt in den Fokus tritt – was in diesem Fall insofern ein besonderer Fokus ist, als er im Hinblick auf das Schreiben und sicherlich auch zum Wieder-lesen und Neu-schreiben gehalten wird. Dieser analytische Stil gründet sich im Sinnlichen und kann auf diese Weise wieder in das ästhetische Erfahrungsexperiment eingespeist werden – Clarks eigenes oder das des Lesers. Wie oben bemerkt kann die Analyse so ein Mittel des Lernens von... sein, das den zeitlichen/vektoriellen Charakter des jeweiligen Hier und Jetzt hervorhebt und das in neuer Erfahrung gemessen wird (und warum sollte ein solches Lernen nicht „rhythmisch“ genannt werden). Wenn sie ihm genug Vertrauen und Enthusiasmus entgegenbringen, um mit ihm zu experimentieren, könnten die Leser von Clarks Experimenten aufmerksam und sich an ihn anlehnend etwas von dem neu sehen, was Clark gesehen hat (sogar in den recht dürftigen photographischen Reproduktionen), und mancherlei „Hinsichten“ in ihre eigenen Betrachtungen übertragen. Es ist nicht wirklich überraschend, dass das Wort „Rhythmus“ in Clarks Diskussion nicht vorkommt. Wenn der Sinn für zeitliche Dauer im Messen von Ereignissen ein wesentlicher Aspekt des Rhythmischen ist, kann Malerei nicht wirklich rhythmisch sein. Nun habe ich ein allgemeineres Verständnis von Rhythmus als Problem und Einladung vorgeschlagen, über und mit der Ereignishaftigkeit der real stattfindenden Erfahrung nachzudenken (ohne dass „Rhythmus“ unbedingt 43 | A.a.O., S. 162.

44 | A.a.O., S. 163.

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benannt werden müsste). Ich habe die Position vertreten, dass Rhythmus in Musik und Dichtung weit mehr umfasst als ein Vererben zeitlicher Dauer, das in jedem Fall nur in relativ kleinformatigen Ereignissen („measures“, Takte) deutlich wahrgenommen werden kann – im Falle der Dichtung noch deutlich kleiner als in der Musik. Quantität ist nur ein Aspekt zeitlicher Dauer. Sicherlich „haben“ (sogar für die Teilchenphysiker, wenn auch nicht für ihre Vorgänger) alle Ereignisse eine Dauer. Diese Formulierung ist aber insofern irreführend, als sie suggeriert, Dauer wäre eine Eigenschaft, die substantiell gedachten Ereignissen zukommt. Wenn Ereignisse als Prozesse betrachtet werden, könnten wir „Dauer“ (duration) im prozesshaften Sinne als nominalisiertes Verb betrachten – Dauer als den Akt des Andauerns. Von hier aus könnten wir sagen, dass Ereignisse Dauer sind – ein gradueller Prozess des „Aushärtens“ oder „Erstarrens“ (von durare) zu jenen Ereignissen, die am Ende stehen. Sich Ereignen oder Dauern wären dann Halt und Bewegung zugleich bzw. Halt durch Bewegung. Ich habe ausgeführt, das Halt und Bewegung den Rhythmus der Erfahrung bilden. Wie diese beiden (Artikulation und Fluss, Dauer und Sukzession) zusammen gedacht werden können, ist und bleibt problematisch.45 „Halt“ scheint getrennte Dinge oder Aspekte zu benennen, die für eine Zeit auseinandergehalten werden. Aber gleichzeitig muss das Anhalten eine Bewegung in der Formierung (im Generieren oder Regenerieren) des Gehaltenen sein, das der gesamten Situation Rechnung trägt, eine Situation, die sich überdies fortwährend verändert. Dieses Problem (problema, nach vorn Werfen) regt zum Weiterdenken an. Die verschiedenen Begriffe, die ich vorgeschlagen habe (allen voran „Wiederholung“ und „Maß“) können ebenso als Einladungen verstanden werden, mit ihnen und über sie hinaus zu denken. Auch wenn dies die Sache sehr weit dehnen mag, habe ich den Versuch unternommen, diese Problematisierung unter dem Banner „des Rhythmischen“ stattfinden zu lassen – als Experiment.

Übersetzt von Christian Grüny

45 | Andere Begriffe stoßen, je nach ihrer spezifischen Metaphorizität, auf andere Weise auf dasselbe Problem: die als Substantive oder transitiv gedachten

„Teile“ von James’ Bewusstseinsstrom, die Objekte und Subjekte/Superjekte von

Whiteheads Prozessphilosophie, Gendlins Stattfinden (occuring) und Implizieren

(implying), in denen Objekte „gehalten“ werden und Verhalten „sequenziert“ wird.

Tatsächlich können Begriffe und die metaphorische Arbeit, die sie jeweils verlan-

gen, selbst als eine Art von Halt und Bewegung verstanden werden.

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Zu den Autorinnen und Autoren

Grüny, Christian, studierte Philosophie und Linguistik in Bochum, Prag und Berlin. Promotion 2003 an der Ruhr-Universität Bochum zur Phänomenologie des Schmerzes, Habilitation 2011 an der Universität Witten/Herdecke mit einer Arbeit zur Musikphilosophie. 2008-2014 Juniorprofessor für Philosophie an der Universität Witten/Herdecke, zur Zeit am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt. Publikationen zur Ästhetik, Musikphilosophie, Bildtheorie, Symboltheorie, Phänomenologie. Hasty, Christopher, studierte Komposition in Freiburg und Yale und promovierte in Musiktheorie an der Yale University. Seit 2002 lehrt er als Inhaber der Walter W. Naumburg-Professur für Musik an der Harvard University Musiktheorie und ist darüber hinaus tätig als Komponist. Hasty gehörte der Redaktion des Journal of Music Theory und des Music Theory Spectrum an und ist Mitglied des Beirats von Music Analysis. Forschungsschwerpunkte sind Analyse und Theorie der Musik des 16.-20. Jahrhunderts aus der Perspektive von Prozess und Erfahrung, zu denen zahlreiche Publikationen vorliegen. Aktuelle Forschungen beschäftigen sich mit der Prozessphilosophie, Prosodie in der Dichtung und der ökologischen und post-kognitiven Psychologie. Hinterwaldner, Inge, ist Wissenschaftliche Assistentin für neuere und neueste Kunstgeschichte an der Universität Basel. Nach dem Studium der Kunstgeschichte, Archäologie und Geschichte an der Universität Innsbruck promovierte sie 2009 zu interaktiven Computersimulationen. Anschließend Co-Leiterin der interdisziplinären Forschungsgruppe „Bild und Modell“ innerhalb des NFS Bildkritik eikones an der Universität Basel. 2013 Vertretungsprofessur am Institut für Philosophie und Kunstwissenschaft (IPK), Leuphana Universität Lüneburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Interaktivität und Temporalität in den Künsten, computerbasierte Kunst und Architektur, Verflechtungen von Künsten und Wissenschaften seit dem 19. Jahrhundert. Jakobidze-Gitman, Alexander, absolvierte ein Klavierstudium am Moskauer Tschaikowski-Konservatorium und das Postgraduate-Studium an der Royal

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Zu den Autorinnen und Autoren

Academy of Music London. Anschließend studierte er Kulturanthropologie und Kunstwissenschaften an der Russischen Staatsuniversität für Geisteswissenschaften. 2009 promovierte er am Russischen Staatlichen Filminstitut, wo er danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war. 2012 kam er als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdiensts an die Universität Witten/Herdecke; dort arbeitet er seit April 2013 am Lehrstuhl für Phänomenologie der Musik. Mahnkopf, Claus-Steffen, studierte Komposition, Musiktheorie, Klavier, Musikwissenschaft, Philosophie und Soziologie, unter anderem bei Brian Ferneyhough, Klaus Huber und Jürgen Habermas, und promovierte in Philosophie. Seit 1984 internationale Preise und Anerkennungen, darunter Gaudeamus-Prize, Stuttgarter Kompositionspreis, Ernst von Siemens-Förderpreis, Villa Massimo. Seit 2005 Professor für Komposition an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig. Herausgeber der Zeitschrift Musik & Ästhetik, Autor von über 140 Aufsätzen und zahlreicher Bücher. Umfangreiches Werk in allen Gattungen, aufgeführt von renommierten Klangkörpern (z. B. Ensemble Modern), wichtige Aufträge (z. B. Salzburger Festspiele), zahlreiche Porträtkonzerte weltweit. Hauptwerke: Rhizom, Medusa, Kammerzyklus, Angelus Novus, Hommage à György Kurtág, Hommage à Thomas Pynchon, Prospero’s Epilogue, humanized void, voiced void, Hommage à Daniel Libeskind. www.claussteffenmahnkopf.de Nanni, Matteo, studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Romanistik in Cremona und Freiburg i. Br. Nach der Promotion in Philosophie und Musikwissenschaft war er 2004-10 wissenschaftlicher Assistent in Freiburg i. Br. und Basel, wo er seit 2009 Mitglied des Direktoriums des NFS Bildkritik eikones und seit 2011 Assistenzprofessor für Musikwissenschaft an der Universität Basel ist. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Musikästhetik, Musikgeschichte des Mittelalters und des 20. Jh. sowie Theorie der musikalischen Notenschrift. Er hat zu Komponisten des 20. Jh. (Luigi Nono, Luciano Berio, Karlheinz Stockhausen), zur Frage nach dem Verhältnis von Musik und Bild sowie zur Theorie, Hermeneutik und Analyse der Musik des 14. Jh. und zur Musik und Kulturgeschichte in der Zeit des Basler Konzils veröffentlicht. Schmidt, Steffen A., studierte Musikwissenschaften, Semitische Sprachen und Italienisch. Er ist künstlerisch als Pianist, Komponist und Performer tätig. Einer Promotion zum Rhythmus in der Neuen Musik folgte die Habilitation an der Universität Witten/Herdecke zum Verhältnis von Musik und Tanz. Seit 2004 lebt er in Zürich, wo er am Institute for Cultural Studies in the Arts an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) lehrt. Im Jahr 2011 als artist in lab tätig am Centre hospitalier universitaire vaudois CHUV in Lausanne.

Zu den Autorinnen und Autoren

Schmitt, Jean-Claude‚ ist directeur d’études an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS), wo er seit 1992 die Forschungsgruppe zur historischen Anthropologie des Mittelalters leitet. Auslandsaufenthalte führten ihn u.a. an die Humboldt-Universität Berlin, an das Wissenschaftskolleg Berlin, an das Warburg Institute in London, an das Institute for Advanced Study in Princeton, an die University of California Los Angeles und ans Getty Research Institute. 2003 erhielt er die Silbermedaille des CNRS und 2008 den Reimar Lüst-Preis der Alexander von Humboldt-Stiftung. Seine zahlreichen Veröffentlichungen zur Sozialgeschichte des Mittelalters wurden bisher in 15 Sprachen übersetzt. Sundberg, Martin, studierte Kunstwissenschaft und Literaturgeschichte in Lund und Stockholm. 2005 Promotion in Kunstgeschichte über die Konstruktion der Künstlerrolle und intermediale Beziehungen im Werk des schwedischen Künstlers Jan Håfström. 2006-2009 Forschungsassistent am Moderna Museet in Stockholm. Betreuung der Forschungsprojekte zur Geschichte des Museums 1958-2008, zu Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts, und zu Fragen bezüglich Repräsentation und Region in schwedischen Museen. 2010-2013 Postdoktorand im NFS Bildkritik eikones an der Universität Basel mit einem Forschungsprojekt zu Ornamenttheorie und dem Teppichparadigma in der modernistischen Malerei. Seit 2014 Kurator am Malmö Konstmuseum. Weitere Forschungsschwerpunkte zu Künstlerbüchern und der skandinavischen Kunst des 19. Jahrhunderts.

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Edition Kulturwissenschaft Regula Valérie Burri, Kerstin Evert, Sibylle Peters, Esther Pilkington, Gesa Ziemer (Hg.) Versammlung und Teilhabe Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste Mai 2014, 344 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2681-0

Rainer Guldin Politische Landschaften Zum Verhältnis von Raum und nationaler Identität Oktober 2014, 298 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2818-0

Thomas Kirchhoff (Hg.) Konkurrenz Historische, strukturelle und normative Perspektiven Januar 2015, ca. 360 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2589-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Edition Kulturwissenschaft Inga Klein, Sonja Windmüller (Hg.) Kultur der Ökonomie Zur Materialität und Performanz des Wirtschaftlichen September 2014, 308 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2460-1

Gudrun M. König, Gabriele Mentges, Michael R. Müller (Hg.) Die Wissenschaften der Mode Dezember 2014, ca. 190 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-8376-2200-3

Elisabeth Mixa, Sarah Miriam Pritz, Markus Tumeltshammer, Monica Greco (Hg.) Un-Wohl-Gefühle Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten Januar 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2630-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Edition Kulturwissenschaft Lydia Maria Arantes, Elisa Rieger (Hg.) Ethnographien der Sinne Wahrnehmung und Methode in empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschungen November 2014, ca. 300 Seiten, kart., z.T. farb. Abb., ca. 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2755-8

Elisabeth Gülich, Gabriele Lucius-Hoene, Stefan Pfänder, Elke Schumann (Hg.) Wiedererzählen Formen und Funktionen einer kulturellen Praxis Mai 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2851-7

Michael Bachmann, Asta Vonderau (Hg.) Europa – Spiel ohne Grenzen? Zur künstlerischen und kulturellen Praxis eines politischen Projekts

Nikolas Immer, Mareen van Marwyck (Hg.) Ästhetischer Heroismus Konzeptionelle und figurative Paradigmen des Helden

Dezember 2014, ca. 270 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2737-4

2013, 462 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2253-9

Brage Bei der Wieden Mensch und Schwan Kulturhistorische Perspektiven zur Wahrnehmung von Tieren September 2014, 332 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2877-7

Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels Szenen des Virtuosen Dezember 2014, ca. 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1703-0

Uta Fenske, Walburga Hülk, Gregor Schuhen (Hg.) Die Krise als Erzählung Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne 2013, 370 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1835-8

Yuichi Kimura, Thomas Pekar (Hg.) Kulturkontakte Szenen und Modelle in japanisch-deutschen Kontexten Dezember 2014, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 36,99 €, ISBN 978-3-8376-2739-8

Alfrun Kliems Der Underground, die Wende und die Stadt Poetiken des Urbanen in Ostmitteleuropa November 2014, ca. 372 Seiten, kart., ca. 37,99 €, ISBN 978-3-8376-2574-5

Eva Kreissl (Hg.) Kulturtechnik Aberglaube Zwischen Aufklärung und Spiritualität. Strategien zur Rationalisierung des Zufalls 2013, 584 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,90 €, ISBN 978-3-8376-2110-5

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Christian Grüny, Matteo Nanni (Hg.) Rhythmus – Balance – Metrum

Edition Kulturwissenschaft | Band 30

Christian Grüny, Matteo Nanni (Hg.)

Rhythmus – Balance – Metrum Formen raumzeitlicher Organisation in den Künsten

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