Rhetorica ad Herennium 376081672X, 9783760816722

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German, Latin Pages [424] Year 1994

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Rhetorica ad Herennium
 376081672X, 9783760816722

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SAMMLUNG TUSCULUM

Herausgegeben von Gerhard Fink, Manfred Fuhrmann, Fritz Graf, Erik Hornung, Rainer Nickel

RHETORICA AD HERENNIUM Lateinisch-deutsch

Herausgegeben und übersetzt von Theodor Nüßlein

ARTEMIS & WINKLER

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Rhetorica ad Herennium: lateinisch - deutsch / hrsg. und übers, von Theodor Nüsslein. Düsseldorf; Zürich: Artemis und Winkler, 1994,1998 (Sammlung Tusculum) ISBN 3-7608-1672-X NE: Nüsslein, Theodor [Hrsg.]

2. Auflage © 1994, 1998 Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf/Zürich Alle Rechte, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks, der fotomechanischen und elektronischen Wiedergabe, vorbehalten. Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg Printed in Germany ISBN 3-7608-1672-X

INHALT

DE R A T I O N E D I C E N D I A D C. H E R E N N I U M DIE RHETORIK AN H E R E N N I U S Liber Liber Liber Liber

primus / Buch 1 secundus / Buch II tertius / Buch III quartus / Buch IV

6 48 126 182

Einführung I. II. III. IV. V.

Die griechisch-römische Rhetorik bis zur Rhetorica ad Herennium Die Rhetorica ad Herennium: Autor, Adressat, Titel des Werkes Inhalt, Sprache und Stil, Aufbau Ciceros De inventione und die Rhetorica ad Herennium Zur Uberlieferungsgeschichte und Textgestaltung . Anmerkungen zur Einführung

Anmerkungen Buch Buch Buch Buch

zum

335 336 351

357 363 374 380

Verzeichnis der in der Schrift verwendeten schen und juristischen Fachtermini

Literaturauswahl

328 330

Text

I II III IV

Fundstellenverzeichnis

322

rhetori-

der exornationes / figurae...

407 417 419

DE R A T I O N E D I C E N D I A D C. H E R E N N I U M

LIBER

PRIMUS

Etsi negotiis familiaribus inpediti vix satis otium studio suppeditare possumus, et id ipsum, quod datur otii, libentius in philosophia consumere consuevimus, tarnen tua nos, C. Herenni, voluntas commovit, ut de ratione dicendi conscriberemus, ne aut tua causa noluisse aut fugisse nos laborem putares. Et eo studiosius hoc negotium suscepimus, quod te non sine causa velle cognoscere rhetoricam intellegebamus; non enim parum in se habet fructus copia dicendi et commoditas orationis, si recta intellegentia et definita moderatione animi gubernatur. Quas ob res ilia, quae Graeci scriptores inanis arrogantiae causa sibi assumpsere, reliquimus. Nam illi, ne parum multa scisse viderentur, ea conquisiverunt, quae nihil attinebant, ut ars difficilior cognitu putaretur; nos ea, quae videbantur ad rationem dicendi pertinere, sumpsimus. Non enim spe quaestus aut gloria commoti venimus ad scribendum quemadmodum ceteri, sed ut industria nostra tuae morem geramus voluntati.

Nunc, ne nimium longa sumatur oratio, de re dicere incipiemus, si te illud unum monuerimus, artem sine assiduitate dicendi non multum iuvare, ut intellegas hanc rationem praeceptionis ad exercitationem accommodari oportere.

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DIE R H E T O R I K A N H E R E N N I U S

BUCH I

Durch häusliche Verpflichtungen in Anspruch genommen, kann ich kaum genügend freie Zeit für Studien aufbringen, und was mir an freier Zeit bleibt, widme ich gewöhnlich lieber der Philosophie; trotzdem hat mich dein Wunsch, mein lieber Gaius Herennius, veranlaßt, ein Werk über die Technik der Rede 1 zu verfassen, sollst du doch nicht glauben, ich hätte es entweder deinetwegen nicht tun wollen oder wäre vor der Anstrengung geflohen. Und dieser Aufgabe habe ich mich um so eifriger unterzogen, als ich bemerkte, daß du nicht ohne Grund dich in der Redekunst unterrichten lassen möchtest: Denn einen nicht geringen Gewinn bringen die Fülle des Ausdrucks und die Gewandtheit der Rede mit sich, wenn sie von rechtem Verstand und klar begrenzter Mäßigung des Herzens gelenkt werden. Deswegen habe ich das, was griechische Schriftsteller2 aus eitler Anmaßung sich zu eigen gemacht haben, weggelassen. Denn um nicht den Eindruck zu erwecken, sie wüßten viel zu wenig, sind sie auch Fragen nachgegangen, die nicht zum Thema gehörten, damit ihre Kunst für um so schwieriger gehalten würde; ich aber habe nur das aufgenommen, was etwas zur Technik der Rede beizutragen schien. Denn nicht Aussicht auf materiellen Gewinn 3 oder Ruhm veranlaßte mich zu schreiben, wie die übrigen Schriftsteller, sondern ich wollte durch meine Bemühung deinem Wunsch entsprechen. Nun aber will ich, damit sich meine Worte nicht allzu sehr in die Länge ziehen, über unser Thema sprechen, dir aber zuvor noch das eine zu bedenken geben, daß die theoretische Unterweisung ohne beständige Ausdauer nicht viel nützt; daraus magst du erkennen, daß diese Art der Anleitung auf Übung ausgerichtet sein muß. 4

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LIBER

I

Oratoris officium est de iis rebus posse dicere, quae res ad usum civilem moribus ac legibus constitutae sunt, cum assensione auditorum, quoad eius fieri poterit.

II 2

Tria sunt genera causarum, quae recipere debet orator: demonstrativum, deliberativum, iudiciale. Demonstrativum est, quod tribuitur in alicuius certae personae laudem aut vituperationem. Deliberativum est in consultatione, quod habet in se suasionem et dissuasionem. Iudiciale est, quod positure) est in controversia, quod habet accusationem aut petitionem cum defensione. N u n c quas res oratorem habere oporteat, docebimus, deinde quo m o d o has causas tractari conveniat, ostendemus. Oportet igitur esse in oratore inventionem, dispositionem, elocutionem, memoriam, pronuntiationem. Inventio est excogitatio rerum verarum aut veri similium, quae causam probabilem reddunt. Dispositio est ordo et distributio rerum, quae demonstrat, quid quibus locis sit collocandum. Elocutio est idoneorum verborum et sententiarum ad inventionem adcommodatio. Memoria est firma animi rerum et verborum et dispositionis receptio. Pronuntiatio est vocis, vultus, gestus moderatio cum venustate. Haec omnia tribus rebus assequi poterimus, arte, imitatione, exercitatione.

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BUCH

I

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Aufgabe des Redners ist es, über die Angelegenheiten sprechen zu können, welche um der Wohlfahrt der Bürger willen durch Sitten und Gesetze festgelegt sind, und zwar mit der Zustimmung der Zuhörer, soweit diese erlangt werden kann. 5 Es gibt drei Arten von Fällen, derer sich der Redner annehmen muß: die darlegende, die beratende, die gerichtliche Art. 6 Die darlegende Art ist diejenige, welche zum L o b oder Tadel einer bestimmten Person angewendet wird. Die beratende Art kommt bei der Beratschlagung vor; sie schließt die Rede dafür und die Rede dagegen ein. Die gerichtliche Art ist diejenige, die auf Streit beruht und die eine Anklage in Kriminal- oder eine Klage in Zivilangelegenheiten ebenso wie eine Verteidigung umfaßt. N u n will ich dartun, welche Fähigkeiten ein Redner besitzen muß, danach zeigen, auf welche Art und Weise die genannten Fälle zu behandeln sind. Der Redner muß also verfügen über die Fähigkeit der Auffindung des Stoffes, der Anordnung des Stoffes, der stilistischen Gestaltung des Stoffes, des Sicheinprägens, des Vortrages. 7 Die Auffindung des Stoffes ist das Erfinden wahrer oder wahrscheinlicher Tatsachen, die den Fall glaubhaft machen sollen. Die Anordnung des Stoffes ist das Ordnen und Verteilen der Einzelpunkte; sie macht kenntlich, was an welchem Platze anzuordnen ist. Die stilistische Gestaltung des Stoffes ist die zur Stoffauffindung passende Anwendung geeigneter Wörter und Sätze. Das Sicheinprägen ist das feste geistige Erfassen der Gegenstände, der Worte und der Gliederung. Der Vortrag ist der maßvoll abgestufte, anmutig feine Einsatz von Stimme, Mienenspiel und Gebärden. All die genannten Fähigkeiten können wir durch drei Mittel gewinnen: durch theoretische Unterweisung, Nachahmung und Übung. 8

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LIBER

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Ars est praeceptio, quae dat certam viam rationemque dicendi. Imitatio est, qua inpellimur cum diligenti ratione, ut aliquorum similes in dicendo valeamus esse.

Exercitatio est assiduus usus consuetudoque dicendi. Quoniam demonstratum est, quas causas oratorem recipere quasque res habere conveniret, nunc, quemadmodum ad rationem possint officia oratoris adcommodari, dicendum videtur. Inventio in sex partes orationis consumitur: exordium, narrationem, divisionem, confirmationem, confutationem, conclusionem. Exordium est principium orationis, per quod animus auditoris vel iudicis constituitur et apparatur ad audiendum. Narratio est rerum gestarum aut proinde ut gestarum expositio. Divisio est, per quam aperimus, quid conveniat, quid in controversia sit, per quam exponimus, quibus de rebus simus dicturi. Confirmatio est nostrorum argumentorum expositio cum asseveratione. Confutatio est contrariorum locorum dissolutio. Conclusio est artificiosus terminus orationis. Nunc, quoniam una cum oratoris officiis, quo res cognitu facilior esset, producti sumus, ut de orationis partibus loqueremur et eas ad inventionis rationem accommodaremus, de exordio primum dicendum videtur.

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II

Die theoretische Unterweisung ist die Anleitung, die einen sicheren Weg und eine sichere Technik der Rede vermittelt. Die Nachahmung ist das Mittel, durch das wir mit gewissenhafter Überlegung dazu gebracht werden, daß wir irgendwelchen Männern beim Reden ähnlich zu sein vermögen. Die Übung ist die beharrliche Beschäftigung und der beständige Umgang mit dem Reden. Da also dargelegt ist, welche Fälle der Redner übernehmen und welche Fähigkeiten er besitzen muß, muß nun wohl gesagt werden, wie die Aufgaben des Redners mit dem methodischen Verfahren passend verbunden werden können. Die Auffindung des Stoffes erstreckt sich auf sechs Teile der Rede: die Einleitung, die Darlegung des Sachverhaltes, die Gliederung des Stoffes, die Begründung, die Widerlegung, den Schluß. 9 Die Einleitung ist der Beginn der Rede, wodurch der Zuhörer oder Richter in die Bereitschaft zuzuhören versetzt wird. Die Darlegung des Sachverhaltes ist die Schilderung von Ereignissen, die wirklich oder angeblich geschehen sind. Die Gliederung des Stoffes ist der Teil der Rede, durch den wir eröffnen, worin Übereinstimmung besteht, was umstritten ist, und durch den wir darlegen, über welche Punkte wir sprechen wollen. Die Begründung ist die nachdrückliche Schilderung der Gründe, die für uns sprechen. Die Widerlegung ist die Entkräftung der gegnerischen Beweispunkte. Der Schluß ist das kunstvoll gestaltete Ende der Rede. Da ich nun im Zusammenhang mit den Aufgaben des Redners, damit der Gegenstand um so leichter verständlich ist, dahin gelangt bin, über die Teile der Rede zu sprechen und diese Teile mit der Lehre von der Auffindung des Stoffes in Beziehung zu setzen, muß wohl zuerst über die Einleitung gesprochen werden. 10

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LIBER

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Causa posita, quo commodius exordiri possimus, genus causae est considerandum. Genera causarum sunt quattuor: honestum, turpe, dubium, humile. Honestum causae genus esse putatur, cum aut id defendimus, quod ab omnibus defendendum videtur, aut id obpugnamus, quod ab omnibus videtur obpugnari debere, ut pro viro forti, contra parricidam. Turpe genus intellegitur, cum aut honesta res oppugnatur aut defenditur turpis. Dubium genus est, cum habet in se causa et honestatis et turpitudinis partem. Humile genus est, cum contempta res affertur.

Cum haec ita sint, conveniet exordiorum rationem ad causae genus accommodari. Exordiorum duo sunt genera: principium, quod Graece prooemium appellatur, et insinuano, quae ephodos nominatur. Principium est, cum statim auditoris animum nobis idoneum reddimus ad audiendum. Id sumitur, ut attentos, ut dociles, ut benivolos auditores habere possimus. Si genus causae dubium habebimus, a benivolentia principium constituemus, ne quid ilia pars turpitudinis nobis obesse possit. Sin humile genus erit causae, faciemus attentos. Sin turpe causae genus erit, insinuat o n e utendum est, de qua posterius dicemus, nisi quid nacti erimus, qua re adversarios criminando benivolentiam capere possimus. Sin honestum causae genus erit, licebit recte vel uti vel non uti principio. Si uti volemus, aut id oportebit ostendere, qua re causa sit honesta, aut breviter, quibus de rebus simus dicturi exponere. Sin principio uti nolemus, ab lege, ab scriptura aut ab aliquo firmis-

BUCH

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Nachdem der Fall festgelegt ist, müssen wir, damit wir um so angemessener beginnen können, die Art des Falles betrachten. Es gibt vier Arten von Fällen: die ehrenvolle, verwerfliche, unentschiedene und unbedeutende.11 Als ehrenvolle Art des Falles gilt, wenn wir entweder das verteidigen, was wohl von allen verteidigt werden muß, oder das bekämpfen, was wohl von allen bekämpft werden muß, so wie wir uns für einen Helden, aber gegen einen Vatermörder einsetzen. Als verwerfliche Art wird verstanden, wenn entweder eine ehrenvolle Angelegenheit bekämpft oder eine verwerfliche verteidigt wird. Die unentschiedene Art liegt vor, wenn der Fall etwas an Ehrenhaftigkeit und ebenso an Verwerflichkeit in sich birgt. Die unbedeutende Art liegt vor, wenn eine nicht beachtenswerte Angelegenheit vorgebracht wird. Da dem so ist, wird es angemessen sein, das Verfahren bei den Einleitungen der Art des Falles anzupassen. Es gibt zwei Arten von Einleitungen: die Vorrede, die auf Griechisch prooimion heißt, und die Einschmeichelung, die den griechischen Namen ephodos trägt.12 Eine Vorrede liegt vor, wenn wir sofort den Zuhörer in die geeignete innere Verfassung versetzen, uns zuzuhören. Diese Art der Einleitung legt man so an, daß man aufmerksame, daß man belehrbare, daß man wohlwollende Zuhörer haben kann.'3 Wenn wir die unentschiedene Art eines Falles haben, werden wir die Vorrede auf das Wohlwollen ausrichten, damit der hierin enthaltene Teil Verwerflichkeit uns nicht schaden kann. Ist es aber die unbedeutende Art eines Falles, werden wir die Zuhörer aufmerksam machen. Ist es aber die verwerfliche Art eines Falles, muß man die Einschmeichelung anwenden, über die ich später sprechen werde,'4 es sei denn, wir finden eine Möglichkeit, Wohlwollen erhaschen zu können, indem wir die Gegenpartei beschuldigen. Ist es aber nun die ehrenvolle Art eines Falles, können wir - in jedem Fall richtig - eine Vorrede anwenden oder nicht. Wollen wir sie anwenden, dann müssen wir entweder darlegen, weshalb der Fall ehrenvoll ist,

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simo nostrae causae adiumento principium capere oportebit.

Q u o n i a m igitur docilem, benivolum, attentum auditorem volumus habere, quo m o d o quidque confici possit, aperiemus. Dociles auditores habere poterimus, si summam causae exponemus et si attentos eos faciemus; nam docilis est is, qui adtente vult audire. Attentos habebimus, si.pollicebimur nos de rebus magnis, novis, inusitatis verba facturos aut de rebus his, quae ad rem publicam pertineant, aut ad eos ipsos, qui audient, aut ad deorum inmortalium religionem; et si rogabimus, ut attente audiant; et si numero exponemus res, quibus de rebus dicturi sumus. Benivolos auditores facere quattuor modis poterimus: ab nostra, ab adversariorum nostrorum, ab auditorum persona, ab rebus ipsis. A nostra persona benivolentiam contrahemus, si nostrum officium sine arrogantia laudabimus aut in rem publicam quales fuerimus aut in parentes aut in amicos aut in eos ipsos, qui audient, aliquid referemus, dum haec omnia ad eam ipsam rem, qua de agitur, sint accommodata. Item si nostra incommoda proferemus, inopiam, solitudinem, calamitatem; et si orabimus, ut nobis sint auxilio, et simul ostendemus nos in aliis spem noluisse habere. A b adversariorum persona benivolentia captabitur, si eos in odium, in invidiam, in contemptionem adducemus. In odium rapiemus, si quid eorum spurce, superbe, perfidiose, crudeliter, confidenter, malitiose, flagitiose factum proferemus. In invidiam trahemus, si vim, potentiam, factionem,

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oder kurz schildern, worüber wir sprechen wollen. Wollen wir aber keine Vorrede anwenden, so müssen wir mit einem Gesetz, einer Urkunde oder einem sehr beweiskräftigen Beleg für unseren Fall beginnen. Da wir nun also den Zuhörer belehrbar, wohlwollend und aufmerksam haben wollen, werde ich eröffnen, wie man diese Einstellungen erzielen kann. Belehrbar können wir die Zuhörer haben, wenn wir den Hauptpunkt des Falles kurz schildern und wenn wir sie aufmerksam machen; denn belehrbar ist, wer aufmerksam zuhören will. Aufmerksam werden wir sie haben, wenn wir ankündigen, wir wollten über bedeutende, neuartige, ungewöhnliche Angelegenheiten sprechen oder über Punkte, die den Staat berühren oder die Zuhörer selbst oder die Verehrung der unsterblichen Götter; und schließlich wenn wir die Themen Punkt für Punkt aufzählen, über die wir sprechen wollen. Wohlwollend können wir die Zuhörer auf vier Arten machen: indem wir von unserer eigenen Person, von der Gegenpartei, von den Zuhörern, von den Tatsachen selbst ausgehen. Ausgehend von unserer eigenen Person werden wir Wohlwollen gewinnen, wenn wir unsere Pflichterfüllung ohne Anmaßung loben oder irgendwie erwähnen, wie wir uns dem Staat oder unseren Eltern oder den Zuhörern gegenüber verhalten haben, soweit dies alles zu der Angelegenheit, um die es geht, gehört. Ebenso wenn wir unsere Beschwernisse anführen, Not, Vereinsamung, Unglück; 1 ' und wenn wir darum bitten, die Zuhörer möchten uns helfen, und gleichzeitig darlegen, wir hätten unsere Hoffnung auf niemanden anders setzen wollen. Ausgehend von der Gegenpartei wird Wohlwollen erlangt, wenn wir diese dem Haß, der Mißgunst, der Verachtung aussetzen. Dem Haß geben wir sie preis, wenn wir irgendeine schmutzige, hochmütige, treulose, grausame, unverschämte, boshafte oder lasterhafte Tat von ihnen anführen. In Mißgunst zerren wir sie, wenn wir die Gewalt-

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divitias, incontinentiam, nobilitatem, clientelas, hospitium, sodalitatem, affinitates adversariorum proferemus et his adiumentis magis quam veritate eos confidere aperiemus. In contemptionem adducemus, si inertiam, ignaviam, desidiam, luxuriam adversariorum proferemus.

Ab auditorum persona benivolentia colligetur, si res eorum fortiter, sapienter, mansuete, magnifice iudicatas proferemus; si, quae de iis existimatio, quae iudicii expectatio sit, aperiemus. A rebus ipsis benivolum efficiemus auditorem, si nostram causam laudando tollemus, adversariorum per contemptionem deprimemus. Deinceps de insinuationibus dicendum est. Tria sunt tempora, quibus principio uti non possumus, quae diligenter sunt consideranda: aut cum turpem causam habemus, hoc est, cum ipsa res animum auditoris a nobis alienat; aut cum animus auditoris persuasus esse videtur ab is, qui ante contra dixerunt; aut cum defessus est eos audiendo, qui ante dixerunt. Si causa turpitudinem habebit, exordiri poterimus his rationibus: rem, non hominem, hominem, non rem spectari oportere; non piacere nobis ipsis, quae facta dicantur ab adversariis, et esse indigna aut nefaria; deinde cum diu rem auxerimus, nihil simile a nobis factum ostendemus; aut aliquorum iudicium de simili causa aut de eadem aut de minore aut de maiore proferemus, deinde ad nostram

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tätigkeit, den Reichtum, die persönliche Macht, die einflußreiche Parteistellung, den Eigennutz, die vornehme Herkunft, die Klienten, die Gastfreunde, die Bekannten und Verwandten unserer Gegner anführen und eröffnen, daß sie mehr auf solche Stützen als auf die Wahrheit vertrauen. Der Verachtung setzen wir sie aus, wenn wir die Trägheit, mangelnde Tatkraft, den Müßiggang und die Verschwendungssucht unserer Gegner anführen. Ausgehend von den Zuhörern gewinnen wir Wohlwollen, wenn wir Angelegenheiten anführen, die von ihnen mutig, weise, milde, hochherzig beurteilt wurden; und wenn wir darlegen, welche Meinung über sie besteht und welche Erwartung man an ihr Urteil knüpft. Ausgehend von den Tatsachen werden wir den Zuhörer wohlwollend machen, wenn wir unsere Sache lobend hervorheben, die der Gegner durch Verächtlichmachen niederdrücken. Im folgenden muß über die Einschmeichelungen gesprochen werden.' 6 Es gibt drei Gelegenheiten, in denen wir die Vorrede nicht anwenden können; diese müssen genau betrachtet werden: Entweder wenn wir einen verwerflichen Fall haben, d. h. wenn die Sache selbst den Zuhörer uns entfremdet; oder wenn der Zuhörer eingenommen erscheint von denen, die zuvor dagegen gesprochen haben; oder wenn er davon ermüdet ist, daß er denen zuhörte, die vorher gesprochen haben. Wenn der Fall Verwerflichkeit enthält, 17 können wir auf folgende Arten beginnen: Man müsse auf den Sachverhalt, nicht auf den Menschen oder man müsse auf den Menschen, nicht auf den Sachverhalt blicken; auch wir billigten nicht, was nach Aussage der Gegenpartei geschehen sei, es sei empörend oder frevelhaft; wenn wir dann die Sache lange übertrieben haben, werden wir darlegen, daß nichts Ähnliches von uns getan worden sei; oder wir werden das Urteil irgendwelcher Männer über einen ähnlichen Fall oder einen gleichen oder über einen unbedeutenderen oder bedeutenderen anführen, dann werden wir uns Schritt für Schritt unserem Fall nähern und dessen Ähnlichkeit vorbringen. Ebenso

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causam pedetemptim accedemus et similitudinem conferemus. Item si negabimus nos de adversariis aut de aliqua re dicturos, et tamen occulte dicemus interiectione verborum. Si persuasus auditor fuerit, id est, si oratio adversariorum fecerit fidem auditoribus - neque enim non facile scire poterimus, quoniam non sumus nescii, quibus rebus fides fieri soleat - ergo si fidem factam putabimus, his rebus nos insinuabimus ad causam: de eo, quod adversarii firmissimum sibi adiumentum putarint, primum nos dicturos pollicebimur; aut ab adversarii dicto exordiemur, et ab eo maxime, quod ille nuperrime dixerit; aut dubitatione utemur, quid potissimum dicamus aut cui loco primum respondeamus, cum admiratione.

Si defessi erunt audiendo, ab aliqua re, quae risulti movere possit, ab apologo, fabula veri simili, immutatione, depravatatione, inversione, ambiguo, suspicione, inrisione, stultitia, exsuperatione, collatione, litterarum mutatione, praeter expectationem, similitudine, novitate, historia, versu, ab alicuius interpellatione aut adrisione; si promiserimus aliter ac parati fuerimus, nos esse dicturos; nos non eodem modo, ut ceteri soleant, verba facturos; quid alii soleant, quid nos facturi simus, breviter exponemus.

Inter insinuationem et principium hoc interest: Principium eius modi debet esse, ut statim apertis rationibus, quibus praescripsimus, aut benivolum

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werden wir vorgehen, wenn wir behaupten, wir wollten nicht über die Gegenpartei oder über irgendeinen anderen Punkt sprechen, und dennoch versteckt darüber sprechen, indem wir Hinweise einschieben. Wenn der Zuhörer schon gewonnen ist,' 8 d. h. wenn die Rede der Gegenpartei bei den Zuhörern Glauben erweckt hat - und das können wir nämlich unschwer erkennen, da wir ja genau wissen, wodurch man gewöhnlich Glauben erweckt - wenn wir also meinen, daß Glaube erweckt wurde, werden wir uns folgendermaßen an den Fall heranmachen: Wir werden ankündigen, daß wir zunächst über den Punkt sprechen werden, den die Gegenpartei für ihren stärksten Beweis hält; oder wir werden mit einem Ausspruch der Gegenpartei beginnen, und zwar vorzüglich mit einem, den sie ganz am Schluß getan hat; oder wir werden Zweifel 19 vorbringen darüber, was wir vor allem sagen sollen oder auf welchen Punkt wir zuerst antworten sollen; dabei werden wir unsere Verwunderung zum Ausdruck bringen. Wenn die Zuhörer vom Zuhören ermüdet sind, beginnen wir mit etwas, das Lachen erregen kann, 20 mit einer allegorischen Erzählung, einer wahrscheinlich klingenden erdichteten Erzählung, einer Vertauschung, einer Entstellung, einer ironischen Spottrede, einer Zweideutigkeit, einer Verdächtigung, einer Verspottung, einer Albernheit, einer Übertreibung,21 einem Gleichnis, einer Vertauschung der Buchstaben, mit etwas Unerwartetem, mit einer Analogie, einer Überraschung, einer geschichtlich beglaubigten Erzählung, einem Vers, mit einem Zwischenruf oder dem beifälligen Lächeln von jemandem. Wenn wir etwas versprochen haben, beginnen wir mit dem Hinweis, wir wollten anders sprechen, als wir uns vorbereitet haben; wir wollten nicht ebenso formulieren, wie es die übrigen Redner gewöhnlich tun; was andere gewöhnlich tun, was wir dagegen machen, das werden wir kurz darlegen. Zwischen der Einschmeichelung und der Vorrede besteht folgender Unterschied: 22 Die Vorrede muß von der Art sein, daß wir sofort unverhohlen mit den Mitteln, wie wir sie

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aut attentum aut docilem faciamus auditorem; at insinuatio eiusmodi debet esse, ut occulte per dissimulationem eadem ilia omnia conficiamus, ut ad eandem commoditatem in dicendi opere venire possimus. Verum hae tres utilitates tametsi in tota oratione sunt conparandae, hoc est, ut auditores sese perpetuo nobis adtentos, dociles benivolos praebeant, tamen id per exordium causae maxime conparandum est. N u n c , ne quando vitioso exordio utamur, quae vitia vitanda sint, docebo. In exordienda causa servandum est, ut lenis sit sermo et usitata verborum consuetudo, ut non adparata oratio videatur esse. Vitiosum exordium est, quod in plures causas potest adcommodari, quod vulgare dicitur. Item vitiosum est, quo nihilo minus adversarius potest uti, quod commune appellatur; item illud, quo adversarius ex contrario poterit uti. Item vitiosum est, quod nimium apparate verbis conpositum est aut nimium longum est, et quod non ex ipsa causa natum videatur, ut proprie cohaereat cum narratione, et quod neque benivolum neque docilem neque adtentum facit auditorem. D e exordio satis erit dictum: deinceps ad narrationem transeamus. Narrationum tria genera sunt. U n u m est, cum exponimus rem gestam et unum quidque trahimus ad utilitatem nostram vincendi causa, quod pertinet ad eas causas, de quibus iudicium futurum est. Alterum genus est narrationis, quod intercurrit nonnumquam aut fidei aut criminationis aut trans-

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oben beschrieben haben, den Zuhörer wohlwollend, aufmerksam oder belehrbar machen; dagegen muß die Einschmeichelung von der Art sein, daß wir versteckt durch Verstellung eben dies alles bewirken, daß wir zur gleichen günstigen Ausgangslage bei unserer Redetätigkeit gelangen können. Wenn wir uns diese drei Vorteile auch in der ganzen Rede verschaffen müssen, d. h. wenn die Zuhörer sich uns gegenüber ununterbrochen als aufmerksam, belehrbar, wohlwollend erweisen, so muß das dennoch durch die Einleitung der Rede am meisten vorbereitet werden. Nun will ich, damit wir nicht einmal eine fehlerhafte Einleitung anwenden, darauf hinweisen, welche Fehler zu vermeiden sind 23 . Bei der Einleitung der Rede muß man darauf achten, daß die Sprache schlicht und einfach und der Gebrauch der Wörter gewöhnlich ist, daß die Rede nicht eigens vorbereitet erscheint. Fehlerhaft ist eine Einleitung, die man auf mehrere Fälle anwenden kann; man nennt sie allgemein. Ebenso ist diejenige fehlerhaft, die die Gegenpartei genauso gut anwenden kann; sie heißt die gemeinsame; ebenso die, welche die Gegenpartei in gegensätzlicher Form anwenden kann. Ebenso ist die Einleitung fehlerhaft, welche aus allzu gewählten Worten besteht oder welche allzu lang ist; und welche nicht in der Weise aus dem Fall hervorgegangen zu sein scheint, daß sie ganz eng mit der Darlegung des Sachverhaltes zusammenhängt; und welche den Zuhörer weder wohlwollend noch belehrbar noch aufmerksam macht. Uber die Einleitung ist genug gesagt; nun will ich zur Darlegung des Sachverhaltes übergehen. Es gibt drei Arten von Darlegungen des Sachverhaltes:24 Die eine ist, wenn wir den Sachverhalt, so wie er sich ereignete, darlegen und dabei jeden einzelnen Punkt zu unserem Vorteil heranziehen, um unserer Sache zum Siege zu verhelfen; diese Art eignet sich für die Fälle, die vor Gericht entschieden werden. Die zweite Art der Darlegung des Sachverhaltes ist diejenige, die manchmal vorkommt, wenn es darum geht, Vertrauen zu gewinnen, einen anzuschuldigen,

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itionis aut alicuius apparationis causa. Tertium genus est id, quod a causa civili remotum est, in quo tamen exerceri convenit, quo commodius illas superiores narrationes in causis tractare possimus.

Eius narrationis duo genera sunt, unum quod in negotiis, alterum quod in personis positum est. Id quod in negotiorum expositione positum est, tres habet partes: fabulam, historiam, argumentum. Fabula est, quae ñeque veras ñeque veri similes continet res, ut eae sunt, quae tragoediis traditae sunt. Historia est gesta res, sed ab aetatis nostrae memoria remota. Argumentum est ficta res, quae tamen fieri potuit, velut argumenta comoediarum.

Illud genus narrationis, quod in personis positum est, debet habere sermonis festivitatem, animorum dissimilitudinem: gravitatem, lenitatem, spem, metum, suspicionem, desiderium, dissimulationem, misericordiam, rerum varietates, fortunae commutationem, insperatum incommodum, subitam laetitiam, iucundum exitum rerum. Verum haec in exercendo transigentur. Illud, quod ad veritatem pertinet, quomodo tractari conveniat, aperiemus. Tres res convenit habere narrationem, ut brevis, ut dilucida, ut veri similis sit; quae quoniam fieri oportere scimus, quemadmodum faciamus, cognoscendum est. Rem breviter narrare poterimus, si inde incipiemus narrare, unde necesse erit, et si non ab ultimo initio repetere volemus, et si summatim, non parti-

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einen Übergang zu ermöglichen oder auf irgendeinen Punkt hinzuarbeiten. Die dritte Art ist diejenige, die mit einer gerichtlich-politischen Rede nichts zu tun hat, in der sich zu üben aber dennoch lohnt, damit wir um so angemessener die vorher genannten Darlegungen des Sachverhaltes in Reden handhaben können. Von dieser Darlegung des Sachverhaltes gibt es zwei Arten: die eine, die auf Handlungen, die andere, die auf Personen beruht. Diejenige, welche auf der Darlegung von Handlungen beruht, hat drei Arten: die erdichtete Erzählung, die geschichtlich beglaubigte Erzählung, die erfundene Erzählung. 2 ' Die erdichtete Erzählung ist diejenige Erzählung, die weder wahre noch wahrscheinliche Geschehnisse enthält, nach Art der Erzählungen, welche in Tragödien überliefert sind. Die geschichtlich beglaubigte Erzählung ist ein wirklich geschehenes Ereignis, das aber von unserer Zeit weit entfernt liegt. Die erfundene Erzählung ist ein ersonnenes Geschehen, das sich aber dennoch wirklich hätte ereignen können, wie z. B. der Inhalt von Komödien. Die Art der Darstellung des Sachverhaltes, die auf Personen beruht, muß eine geistreiche Anmut der Ausdrucksweise besitzen, eine differenzierende Schilderung der Charaktere, 26 Ernst, Sanftheit, Hoffnung, Furcht, Mißtrauen, Sehnsucht, Heuchelei, Mitleid, wechselvolle Ereignisse, Umschwung des Schicksals, unerwarteten Schaden, plötzliche Freude, willkommenen Ausgang der Ereignisse. Aber dies wird durch die Ü b u n g zustande gebracht. Wie das zu behandeln ist, was sich auf die Wahrheit bezieht, will ich nun darlegen. Drei Eigenschaften soll die Darlegung des Sachverhaltes haben, sie soll kurz, sie soll deutlich, sie soll wahrscheinlich sein; 27 da wir ja wissen, daß diese Eigenschaften notwendig sind, müssen wir in Erfahrung bringen, wie wir das erreichen. Einen Sachverhalt können wir kurz darlegen, wenn wir die Darlegung erst mit dem Punkt beginnen, wo es nötig ist; und wenn wir nicht mit dem frühesten Beginn einsetzen;

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culatim narrabimus, et si non ad extremum, sed usque eo, quo opus erit, persequemur, et si transitionibus nullis utemur, et si non deerrabimus ab eo, quod coeperimus exponere, et si exitus rerum ita ponemus, ut ante quoque quae facta sint, sciri possint, tametsi nos reticuerimus: quod genus, si dicam me ex provincia redisse, profectum quoque in provinciam intellegatur. Et omnino non modo id, quod obest, sed etiam id, quod neque obest neque adiuvat, satius est praeterire. Et ne bis aut saepius idem dicamus, cavendum est; etiam ne id quod semel supra diximus, deinceps dicamus, hoc modo:

Athenis Megaram vesperi advenit Simo: Vbi advenit Megaram, insidias fecit virgini: Insidias postquam fecit, vim in loco adtulit.

Rem dilucide narrabimus, si ut quicque primum gestum erit, ita primum exponemus et rerum ac temporum ordinem conservabimus, ut gestae res erunt aut ut potuisse geri videbuntur: hie erit considerandum, ne quid peturbate, ne quid contorte, ne quid ambigue dicamus, ne quam in aliam rem transeamus, ne ab ultimo repetamus, ne longe persequamur, ne quid, quod ad rem pertineat, praetereamus; et si sequemur ea, quae de brevitate praecepta sunt; nam quo brevior, eo dilucidior et cognitu facilior narratio fiet. Veri similis narratio erit, si, ut mos, ut opinio, ut natura postulat, dicemus, si spatia temporum, personarum dignitates, consiliorum rationes, locorum

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und wenn wir nur nach Hauptpunkten, nicht in Einzelheiten berichten; und wenn wir das Geschehen nicht bis zum äußersten Punkt, sondern nur so weit, wie nötig, verfolgen; und wenn wir keine Ubergänge anwenden und nicht von dem Thema abweichen, das darzulegen wir begonnen haben; und wenn wir die Ergebnisse des Geschehens so schildern, daß die Zuhörer auch das wissen können, was vorher geschehen ist, selbst wenn wir darüber geschwiegen haben: So soll z. B., wenn ich sage, ich sei aus der Provinz zurückgekehrt, daraus entnommen werden, daß ich auch in die Provinz abgereist bin. Und überhaupt ist es besser, nicht nur das zu übergehen, was schadet, sondern auch das, was nicht schadet, aber auch nicht nützt. Und wir müssen uns davor hüten, das nämliche zweimal oder noch öfter zu sagen; auch davor, etwas, was wir erst kurz zuvor gesagt haben, gleich wieder zu sagen, wie z. B. auf folgende Weise: Von Athen kam Simo am Abend nach Megara. Sobald er nach Megara gekommen war, lauerte er dem Mädchen auf. Nachdem er ihm aufgelauert hatte, tat er ihm an Ort und Stelle Gewalt an. 28 Den Sachverhalt legen wir deutlich dar,29 wenn wir das, was zuerst geschehen ist, auch zuerst behandeln und eine sachliche und die zeitliche Reihenfolge einhalten, wie die Ereignisse eintraten oder wie sie dem Anschein nach eintreten konnten. Hierbei muß man darauf achten, daß wir nichts Verworrenes, nichts Verdrehtes, nichts Zweideutiges sagen, daß wir nicht auf ein anderes Thema übergehen, daß wir nicht ganz von Anfang an beginnen, daß wir nicht weit ausgreifen, daß wir nicht etwas, was zum Thema gehört, übergehen; und wenn wir die Vorschriften befolgen, die über die Kürze erlassen wurden; denn je kürzer, desto deutlicher und leichter verständlich wird die Darlegung des Sachverhaltes ausfallen. Wahrscheinlich ist die Darlegung des Sachverhaltes,30 wenn wir sprechen, wie es die Sitte, wie es die allgemeine Meinung, wie es die Natur fordert, wenn Zeitraum, Rang und Charakter der Personen, die Motive für ihr Vorhaben,

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opportunitates constabunt, ne refelli possit aut temporis parum fuisse aut causam nullam aut locum idoneum non fuisse aut homines ipsos facere aut pati non potuisse. Si vera res erit, nihilominus haec omnia narrando conservanda sunt, nam saepe Veritas, nisi haec servata sint, fidem non potest facere: sin erunt ficta, eo magis erunt conservanda. De is rebus caute confingendum est, quibus in rebus tabulae aut alicuius firma auctoritas videbitur interfuisse.

Adhuc quae dicta sunt arbitror mihi constare cum ceteris artis scriptoribus, nisi quia de insinuationibus nova excogitavimus, quod earn soli praeter ceteros in tria tempora divisimus, ut plane certain viam et perspicuam rationem exordiorum haberemus. Nunc, quod reliquum est - quoniam de rerum inventione disputandum est, in quo singulare consumitur oratoris artificium - dabimus operam, ut nihilominus industrie quam rei utilitas postulabit quaesisse videamur - si prius pauca de divisione causarum dixerimus. Causarum divisio in duas partes distributa est. Primum perorata narratione debemus aperire, quid nobis conveniat cum adversariis, si ea, quae utilia nobis erunt, convenient, quid in controversiis relinquatur, hoc modo: „Interfectam esse ab Oreste matrem convenit mihi cum adversariis; iurene fecerit et licueritne facere, id est in controversia".

Item e contrario: „Agamemnonem esse a Clyte-

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die günstige Lage des Ortes übereinstimmen, damit man nicht dagegen vorbringen kann, es sei zu wenig Zeit gewesen oder es habe keinen Anlaß dazu gegeben oder der Ort sei nicht geeignet gewesen oder die Menschen selbst hätten es nicht tun oder geschehen lassen können. Wenn der Sachverhalt wahr ist, muß man trotzdem dies alles bei der Darlegung desselben beobachten; denn oft kann auch die Wahrheit, wenn diese Punkte nicht beachtet sind, keinen Glauben erwecken; sind sie aber erdichtet, dann muß man diese Punkte um so mehr beobachten. Bei denjenigen Geschehnissen muß man vorsichtig mit Ersinnen sein, in denen schriftliche Dokumente oder irgendeine sehr angesehene Persönlichkeit, so wie es scheint, eine Rolle gespielt haben. Was bisher gesagt wurde, stimmt, glaube ich, mit den übrigen Verfassern eines Lehrwerkes überein, außer daß ich bezüglich der Einschmeichelungen neue Gesichtspunkte ausfindig gemacht habe, indem ich allein sie anders als die übrigen Redelehrer in drei Gelegenheiten eingeteilt habe, um einen ganz sicheren Weg und eine klare Methode der Einleitung zu haben. 3 ' Nun will ich - da ja über die Auffindung des Stoffes zu sprechen ist, worauf eine einzigartige Kunstfertigkeit des Redners verwendet wird - mich im übrigen bemühen, mit ebenso großem Eifer, wie ihn der Nutzen der Sache erfordert, die weiteren Fragen zu untersuchen - aber vorher muß ich einiges über die Gliederung des Stoffes sagen. Die Gliederung des Stoffes 32 ist in zwei Teile eingeteilt. Zuerst müssen wir durch eine Darlegung des Sachverhaltes sichtbar machen, worüber wir mit der Gegenpartei übereinstimmen, wenn in Punkten, die für uns nützlich sind, Ubereinstimmung besteht, und worüber die Meinungen gegensätzlich sind, z . B . auf folgende Weise: „Daß die Mutter von Orestes getötet wurde, darin stimme ich mit der Gegenpartei überein. O b Orest das mit Recht getan hat oder überhaupt tun durfte, darüber sind wir gegensätzlicher Meinung." 33 Ebenso vom gegenteiligen Standpunkt aus: „Daß Agamem-

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mestra occisum confitentur; cum id ita sit, me ulcisci parentem negant oportuisse". Deinde, cum hoc fecerimus, distributione uti debemus. Ea dividitur in duas partes, enumerationem et expositionem. Enumeratione utemur, cum dicemus numero, quot de rebus dicturi sumus. Earn plus quam trium partium numero constare non oportet; nam et periculosum est, ne quando plus minusve dicamus, et suspicionem adfert auditori meditationis et artificii, quae res fidem abrogat orationi. Expositio est, cum res, quibus de rebus dicturi sumus, exponimus breviter et absolute. N u n c ad confirmationem et confutationem transeamus. Tota spes vincendi ratioque persuadendi posita est in confirmatione et in confutatione. N a m cum adiumenta nostra exposuerimus contrariaque dissoluerimus, absolute nimirum munus oratorium confecerimus. Utrumque igitur facere poterimus, si constitutionem causae cognoverimus. Causarum constitutiones alii quattuor fecerunt; noster doctor tres putavit esse, non ut de illorum quicquam detraheret inventione, sed ut ostenderet id, quod oportuisset simpliciter ac singulari m o d o docere, illos distribuisse dupliciter et bipertito. Constitutio est prima deprecatio defensoris cum accusatoris insimulatione coniuncta. Constitutiones itaque, ut ante diximus, tres sunt: coniecturalis, legitima, iuridicialis.

Coniecturalis est, cum de facto controversia est, hoc modo: „Aiax in silva, postquam resciit, quae fecisset per insaniam, gladio incubuit. Ulixes inter-

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non von Klytaimnestra getötet wurde, geben sie zu; trotzdem behaupten sie, ich hätte den Vater nicht rächen dürfen." Dann müssen wir, wenn wir dies getan haben, eine Einteilung34 vornehmen. Diese wird in zwei Arten aufgeteilt: die Aufzählung und die Schilderung. Die Aufzählung 35 wenden wir an, wenn wir aufzählen, über wieviel Punkte wir sprechen wollen. Sie darf nicht mehr als drei Punkte enthalten; denn es besteht die Gefahr, daß wir zuviel oder zuwenig sagen; und das erweckt beim Zuhörer den Verdacht eines geschickt gewählten Kunstgriffes; das aber nimmt der Rede ihre Glaubwürdigkeit. Um eine Schilderung handelt es sich, wenn wir die Punkte, über die wir sprechen wollen, kurz und bündig schildern. Jetzt will ich zur Bekräftigung und Widerlegung übergehen. Die ganze Hoffnung auf einen Sieg und die ganze Möglichkeit zu überzeugen beruht auf der Bekräftigung und Widerlegung. Denn wenn wir die Punkte entkräftet haben, haben wir unsere Aufgabe als Redner ohne Zweifel erfüllt. Beides können wir also tun, wenn wir die Begründungsform des Streitfalles kennen. Andere Redelehrer haben vier Begründungsformen von Streitfällen gebildet. Mein Lehrer glaubte, es seien nur drei,' 6 nicht um von deren Erfindung etwas zu nehmen, sondern um zu zeigen, daß diese das, was sie hätten einfach und auf eine einzige Art hätten lehren müssen, doppelt und zweigeteilt aufgeteilt haben. Die Begründungsform ist die erste Abwehr der Anklage durch den Verteidiger, verbunden mit einer Beschuldigung des Anklägers. Es gibt also, wie oben gesagt, drei Begründungsformen: die auf einer Vermutung beruhende, die auf einer gesetzlichen Bestimmung beruhende und die auf Rechtfertigungsgründen beruhende. Um eine auf Vermutung beruhende Begründungsform handelt es sich,37 wenn über die Tat gegensätzliche Meinungen bestehen, z. B. auf folgende Weise: „Aiax stürzte sich in einem Wald, nachdem es ihm bewußt geworden war, was er im Wahnsinn angerichtet hatte, ins Schwert. Ulixes kommt

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venit, occisum conspicatur, corpore telum cruentum educit. Teucer intervenit; cum fratrem occisum, inimicum fratris cum gladio cruento videat, capitis arcessit". Hie quoniam coniectura verum quaeritur, de facto erit controversia et ex eo constitutio causae coniecturalis nominatur. Legitima est constitutio, cum in scripto aut e scripto aliquid controversiae nascitur. Ea dividitur in partes sex: scriptum et sententiam, contrarias leges, ambiguum, definitionem, translationem, ratiocinationem.

Ex scripto et sententia controversia nascitur, cum videtur scriptoris voluntas cum scripto ipso dissentire, hoc modo: Si lex sit, quae iubeat eos, qui propter tempestatem navim reliquerint, omnia perdere, eorum navim ceteraque esse, si navis conservata sit, qui remanserint in navi. Magnitudine tempestatis omnes perterriti navim reliquerunt, in scapham conscenderunt - praeter unum aegrotum; is propter morbum exire et fugere non potuit. Casu et fortuitu navis in portum incolumis delata est; illam aegrotus possedit. Navim petit ille, cuius fuerat. Haec constitutio legitima est ex scripto et sententia.

Ex contrariis legibus controversia constat, cum alia lex iubet aut permittit, alia vetat quippiam fieri, hoc modo: Lex vetat eum, qui de pecuniis

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dazu, erblickt den Getöteten und zieht die blutige Waffe aus dem Leichnam. Da kommt Teucer dazu; als er den getöteten Bruder und den Feind des Bruders mit dem Schwert sieht, bringt er ihn wegen eines Kapitalverbrechens vor Gericht."' 8 Hier wird durch einen mutmaßlichen Schluß die Wahrheit gesucht. Uber die Tat bestehen gegensätzliche Meinungen; deshalb nennt man sie die auf Vermutung beruhende Begründungsform. Um eine auf einer gesetzlichen Bestimmung beruhende Begründungsform handelt es sich, 3 ' wenn über den Inhalt eines Schriftstückes oder aus den Konsequenzen, die sich aus dem Inhalt des Schriftstückes ergeben, eine Streitfrage entsteht. Diese Begründungsform wird in sechs Arten unterteilt: Widerspruch zwischen Wortlaut und Sinn, gegensätzliche Gesetze, Zweideutigkeit, Begriffsbestimmung, Ablehnung, 40 Schlußfolgerung. Aus dem Widerspruch zwischen Wortlaut und Sinn entsteht eine Streitfrage, wenn die Absicht des Verfassers und der Wortlaut selbst voneinander abzuweichen scheinen, z. B. auf folgende Weise: Angenommen, es gibt ein Gesetz, das festlegt, daß diejenigen, welche wegen eines Sturmes ihr Schiff verließen, alle Rechtsansprüche darauf verlieren, das Schiff aber und alles übrige, falls das Schiff gerettet wurde, denen gehören soll, die auf dem Schiff geblieben sind. Durch die Heftigkeit eines Sturmes in heftigen Schrecken versetzt, haben nun alle das Schiff verlassen und sind in ein Rettungsboot gestiegen - außer einem einzigen Kranken; dieser konnte wegen seiner Krankheit das Schiff nicht verlassen und fliehen. Durch einen glücklichen Zufall trieb das Schiff in einen Hafen; der Kranke hat es in seinen Besitz genommen. Der, dem es gehört hatte, beansprucht das Schiff. 4 ' Dies ist eine auf einer gesetzlichen Grundlage beruhende Begründungsform aufgrund des Widerspruches zwischen Wortlaut und Sinn. Auf gegensätzlichen Gesetzen beruht eine Streitfrage, wenn das eine Gesetz etwas anordnet oder gestattet, das andere es verbietet, z. B. auf folgende Weise: Ein Gesetz

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repetundis damnatus sit, in contione orationem habere: altera lex iubet augurem in demortui locum qui petat, in contione nominare. Augur quidam damnatus de pecuniis repetundis in demortui locum qui petat nominavit; petitur ab eo multa.

Constitutio legitima ex contrariis legibus. Ex ambiguo controversia nascitur, cum res unam sententiam scripta, scriptum duas aut plures sententias significat, hoc modo: Paterfamilias cum filium heredem faceret, testamento vasa argentea uxori legavit: „Filius heres meus, uxori meae XXX pondo vasorum argenteorum dato, quae volet". Post mortem eius vasa pretiosa et caelata magnifice petit mulier. Filius se, quae ipse volet, in XXX pondo ei debere dicit. Constitutio est legitima ex ambiguo.

Definitione causa constat, cum in controversia est, quo nomine factum appelletur. Ea est huiusmodi: Cum Lucius Saturninus legem frumentariam de semissibus et trientibus laturus esset, Quintus Caepio, qui per id temporis quaestor urbanus erat, docuit senatum aerarium pati non posse largitionem tantam. Senatus decrevit, si earn legem ad populum ferat, adversus rem publicam videri eum facere. Saturninus ferre coepit, collegae intercedere. Ille nihilominus sitellam detulit. Caepio, ut ilium contra intercedentibus collegis, ad-

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verbietet, daß einer, der wegen Gelderpressungen verurteilt ist, in einer Volksversammlung eine Rede hält.42 Ein anderes Gesetz ordnet an, daß der Augur in der Volksversammlung einen namentlich nennt, der sich anstelle eines Verstorbenen bewirbt. 43 Ein wegen Gelderpressungen verurteilter Augur hat einen Bewerber anstelle eines Verstorbenen benannt; seine Bestrafung wird beantragt. Das also ist eine auf einer gesetzlichen Bestimmung beruhende Begründungsform aufgrund gegensätzlicher Gesetze. Aus einer Zweideutigkeit entsteht eine Streitfrage, wenn über einen Sachverhalt eindeutig geschrieben, ein Schriftstück aber zwei oder mehrere Deutungen ermöglicht, z. B. auf folgende Weise: Als ein Familienvater seinen Sohn zum Haupterben einsetzte, hat er seiner Ehefrau Silbergefäße vermacht: „Mein Erbe soll meiner Ehefrau Silbergefäße im Gewicht von 30 Pfund geben, je nach Wunsch." 44 Nach seinem Tode verlangt die Frau wertvolle prächtig getriebene Gefäße. Der Sohn sagt, er müsse ihr nur Gefäße im Gewicht von 30 Pfund geben, je nachdem wie er selbst wolle. Dies ist eine auf einer gesetzlichen Bestimmung beruhende Begründungsform, wobei der Wortlaut zwei Deutungen zuläßt. Auf einer Begriffsbestimmung beruht ein Streitfall, wenn umstritten ist, mit welcher Bezeichnung eine Tat benannt werden soll. Ein solcher Fall ist z. B. der folgende: Als Lucius Saturninus ein Getreidegesetz einbringen wollte, wonach ein Scheffel nur 5/6 As kosten sollte, wies Qu. Caepio, der zu dieser Zeit Stadtquästor war, den Senat darauf hin, daß die Staatskasse eine so großzügige Schenkung nicht tragen könne. Der Senat erklärte, wenn er dieses Gesetz vor das Volk bringe, dann tue er das seiner Auffassung nach gegen das Staatsinteresse. Saturninus stellte den Antrag. Seine Amtskollegen erhoben Einspruch, er ließ trotzdem eine Abstimmung herbeiführen. Sobald Caepio sah, daß jener gegen den Einspruch seiner Amtskollegen den Antrag gegen das Staatsinteresse einbrachte, begann er

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versus rem publicam vidit ferre, cum viris bonis impetum facit, pontes disturbai, cistas deicit, inpedimento est, quo setius feratur: accersitur Caepio maiestatis. Constitutio legitima ex definitione. Vocabulum enim definitur ipsum, cum quaeritur, quid sit minuere maiestatem. Ex translatione controversia nascitur, cum aut tempus differendum aut accusatorem mutandum aut iudices mutandos reus dicit. Hac parte constitutionis Graeci in iudiciis, nos in iure plerumque utimur. In iudiciis tamen nonnihil utimur, ut hoc modo:

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Si quis peculatus accusatur, quod vasa argentea publica de loco privato dicatur sustulisse, possit dicere, cum definitione sit usus, quid sit furtum, quid peculatus, secum furti agi, non peculatus oportere. Haec partitio legitimae constitutionis his de causis raro venit in iudicium, quod in privata actione praetoriae exceptiones sunt et a causa cadit, qui egit, nisi habuit actionem, et in publicis quaestionibus cavetur legibus, ut ante, si reo commodum sit, iudicium de accusatore fiat, utrum illi liceat accusare necne.

E x ratiocinatione controversia constat, cum res

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sine propria lege venit in iudicium, quae tamen ab

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zusammen mit loyalen Bürgern einen gewaltsamen Angriff; er zertrümmert die Zugangsstege 4 S zu den Abstimmungsplätzen, wirft die Stimmkästen um und verhindert so die weitere Abstimmung. Caepio wird wegen Verletzung der Staatshoheit belangt. 46 Das ist eine auf einer gesetzlichen Bestimmung beruhende Begründungsform aufgrund einer Begriffsbestimmung. Der Begriff nämlich selbst wird bestimmt, wenn man fragt, was es heiße, die Staatshoheit zu untergraben. Aus der Ablehnung 4 7 entsteht eine Streitfrage, wenn der Angeklagte sagt, der Termin müsse verschoben oder der Ankläger oder die Richter müßten ausgetauscht werden. Diese Art der Begründungsform wenden die Griechen in den Gerichtsverhandlungen, wir meistens nur im Vorverfahren an. In Hauptverhandlungen wenden wir sie dennoch bisweilen an, wie z . B . auf folgende Weise: Wenn jemand der Veruntreuung öffentlicher Gelder4® angeklagt wird, weil er Silbergefäße aus öffentlichem Besitz von einem nichtöffentlichen Ort entwendet haben soll, könnte er sagen, nachdem er eine Begriffsbestimmung dessen, was Diebstahl und was Veruntreuung öffentlicher Gelder sei, vorgelegt hat, gegen ihn müsse wegen Diebstahles, nicht wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder Klage erhoben werden. Diese Form der auf einer gesetzlichen Grundlage beruhenden Begründungsform des Streitfalles findet aus folgenden Gründen selten Anwendung in einer Gerichtsverhandlung, weil bei einer Privatklage Einwendungen des Prätors gegen den Kläger möglich sind 49 und der Kläger den Prozeß verliert, wenn er nicht das Recht zur Klage besaß, und bei öffentlichen gerichtlichen Untersuchungen durch gesetzliche Bestimmungen sichergestellt wird, daß vorher, wenn es für den Angeklagten vorteilhaft ist, eine Untersuchung über den Ankläger durchgeführt wird, ob es ihm gestattet ist anzuklagen oder nicht. Aus einer Schlußfolgerung besteht ein Streitfall, 50 wenn eine Angelegenheit ohne eigene gesetzliche Bestimmung vor Gericht kommt, welche dennoch von anderen Gesetzen

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aliis legibus similitudine quadam aucupatur. Ea est huiusmodi: Lex: Si furiosus existet, adgnatum gentiliumque in eo pecuniaque eius potestas esto. Et lex: Qui parentem necasse iudicatus erit, ut is obvolutus et obligatus corio devehatur in profluentem. Et lex: Paterfamilias uti super familia pecuniave sua legaverit, ita ius esto. Et lex: Si paterfamilias intestatus moritur, familia pecuniaque eius agnatum gentiliumque esto. Malleolus iudicatus est matrem necasse. Ei damnato statim folliculo lupino os obvolutum est et soleae ligneae in pedibus inductae sunt et in carcerem ductus est. Qui defendebant eum, tabulas in carcerem adferunt, testamentum ipso praesente conscribunt, testes recte adfuerunt; de ilio supplicium sumitur. Ii, qui heredes erant testamento, hereditatem adeunt. Frater minor Malleoli, qui eum obpugnaverat in eius periculo, suam vocat hereditatem lege agnationis. Hic certa lex in rem nulla adfertur et tarnen multae adferuntur, ex quibus ratiocinatio nascitur, quare potuerit aut non potuerit iure testamentum facere. Constitutio légitima ex ratiocinatione.

Cuiusmodi partes essent legitimae constitutionis, ostendimus: nunc de iuridiciali constitutione dicamus.

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durch eine gewisse Ähnlichkeit erfaßt wird. Ein derartiger Streitfall ist z. B. der folgende: Ein Gesetz bestimmt: Wenn einer wahnsinnig wird, soll die Verfügungsgewalt über ihn und sein Vermögen seinen Agnaten und Gentilen zufallen.' 1 Ein anderes Gesetz bestimmt: Wer wegen Vatermordes verurteilt ist, soll eingehüllt und in eine Tierhaut gebunden in ein fließendes Gewässer geworfen werden.' 2 Ein weiteres Gesetz bestimmt: Wie ein Familienvater über seine Hausgemeinschaft und über sein Vermögen testamentarisch verfügt hat, so soll es Recht sein.53 Wieder ein anderes Gesetz bestimmt: Wenn ein Familienvater ohne testamentarische Verfügung stirbt, soll seine Hausgemeinschaft und sein Vermögen seinen Agnaten und Gentilen zufallen.' 4 Malleolus" ist schuldig gesprochen worden, seine Mutter getötet zu haben. Ihm wurde sofort nach seiner Verurteilung das Gesicht mit einem Wolfspelz verhüllt und hölzerne Sandalen wurden ihm über die Füße gezogen, und er wurde in das Gefängnis gebracht. Seine Verteidiger bringen Schreibtafeln in das Gefängnis und verfassen in seiner Gegenwart ein Testament, Zeugen waren vorschriftsmäßig anwesend; dann wird er hingerichtet. Die durch das Testament bestimmten Erben treten das Erbe an. Der jüngere Bruder des Malleolus, der gegen ihn aufgetreten war in dessen Prozeß, beansprucht das Erbe für sich aufgrund der gesetzlichen Bestimmung über die Blutsverwandtschaft von Vaters Seite. Hier wird kein bestimmtes Gesetz für den Sachverhalt angeführt und dennoch werden viele angeführt, aus denen die Schlußfolgerung gezogen wird, weshalb der Genannte ein Testament rechtmäßig verfassen konnte oder nicht. Es liegt also eine auf einer gesetzlichen Bestimmung beruhende Begründungsform aufgrund einer Schlußfolgerung vor. Welcher Gestalt die Arten der auf einer gesetzlichen Bestimmung beruhenden Begründungsformen sind, habe ich gezeigt. Nun will ich über die auf Rechtfertigungsgründen beruhende Begründungsform sprechen.



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Iuridicialis constitutio est, cum factum convenit, sed iure an iniuria factum sit, quaeritur. Eius constitutionis partes duae sunt, quarum una absoluta, altera adsumptiva nominatur.

Absoluta est, cum id ipsum, quod factum est, ut aliud nihil foris adsumatur, recte factum esse dicemus; ea est eiusmodi: Mimus quidam nominatim Accium poetam conpellavit in scaena. C u m eo Accius iniuriarum agit. Hie nihil aliud defendit nisi licere nominari eum, cuius nomine scripta dentur agenda.

Adsumptiva pars est, cum per se defensio infirma est, sed adsumpta extraria re conprobatur. A d sumptivae partes sunt quattuor: concessio, remotio criminis, translatio criminis, conparatio.

Concessio est, cum reus postulat ignosci. Ea dividitur in purgationem et deprecationem. Purgatio est, cum consulto negat se reus fecisse. Ea dividitur in inprudentiam, fortunam, necessitatemi fortunam, ut Caepio ad tribunum plebis de exercitus amissione; inprudentiam, ut ille, qui de eo servo, qui dominum occiderat, supplicium sumpsit, cui frater esset, antequam tabulas testamenti aperuit, cum is servus testamento manu missus esset; necessitudinem, ut ille, qui ad diem commeatus non venit, quod aquae se interclusissent.

Deprecatio est, cum et peccasse se et consulto fecisse confitetur, et tamen postulat, ut sui mise-

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Die Begründungsform beruht auf Rechtfertigungsgründen,' 6 wenn Übereinstimmung über die Tat besteht, aber in Frage steht, ob sie zu Recht oder ungerechterweise begangen wurde. Von dieser Begründungsform gibt es zwei Arten, deren eine in sich vollständig, die andere an sich unvollständig genannt wird. In sich vollständig ist sie, wenn wir sagen, die Tat selbst sei, ohne daß von außen etwas anderes dazugenommen wird, rechtmäßig geschehen, z . B . folgendermaßen: Ein Schauspieler hat auf der Bühne den Dichter Accius namentlich genannt. Gegen ihn klagt Accius wegen Beleidigung. Dieser bringt zu seiner Verteidigung nichts anderes vor, als daß es erlaubt sei, denjenigen namentlich zu nennen, unter dessen Namen ihm Manuskripte zur Aufführung gegeben würden 57 . Die an sich unvollständige Art liegt vor, wenn die Verteidigung von sich aus zu schwach ist, jedoch gebilligt wird, wenn etwas von außen dazugenommen wurde. An sich unvollständige Arten gibt es vier: das Zugeständnis, die Zurückweisung, die Ablehnung der Schuld, die vergleichsweise Gegenüberstellung. Ein Zugeständnis' 8 liegt vor, wenn der Angeklagte um Verzeihung bittet. Es wird unterteilt in Entschuldigung und Abbitte. Eine Entschuldigung liegt vor, wenn der Angeklagte leugnet, die Tat absichtlich begangen zu haben. Sie wird unterteilt in Unkenntnis, Zufall, Unvermeidlichkeit: Zufall, wie sich z. B. Caepio 59 bei den Volkstribunen wegen des Verlustes seines Heeres entschuldigte; Unkenntnis, wie z. B. jener Mann, der den Sklaven, welcher seinen Herrn, dessen Bruder jener Mann war, getötet hatte, mit dem Tode bestrafte, bevor er das Testament öffnete, nach dem dieser Sklave freigelassen war; 60 Unvermeidlichkeit, wie z. B. jener Soldat, der am Ende seines Urlaubes nicht zurückkam, weil Hochwasser ihm den Weg versperrt habe. 6 ' Eine Abbitte liegt vor, 62 wenn der Angeklagte zugibt, strafbar gehandelt und dies absichtlich getan zu haben, und

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reatur. H o c in iudicio fere non potest usu venire, nisi quando pro eo dicimus, cuius multa recte facta extant, hoc m o d o - in loco communi per amplificationem iniciemus: „ Q u o d s i hoc fecisset, tamen ei pro pristinis beneficiis ignosci conveniret, verum nihil postulat ignosci". Ergo in iudicium non venit; at in senatum aut ante inperatorem et consilium talis causa potest venire.

Ex translatione criminis causa constat, cum fecisse nos non negamus, sed aliorum peccatis coactos fecisse dicimus: ut Orestes, cum se defendit, in matrem confert crimen. Ex remotione criminis causa constat, cum a nobis non crimen, sed culpam ipsam amovemus et vel in hominem transferimus vel in rem quampiam conferimus. In hominem transfertur, ut si accusetur is, qui Publium Sulpicium se fateatur occidisse, et id iussu consulum defendat et eos dicat non m o d o inperasse, sed rationem quoque ostendisse, quare id facere liceret. In rem confertur, ut si quis ex testamento quod facere iussus sit, ex plebis scito vetetur. Ex conparatione causa constat, cum dicimus necesse fuisse alterutrum facere, et id, quod fecimus, satius fuisse facere. Ea causa huiusmodi est: C . Popilius, cum a Gallis obsideretur neque fugere ullo m o d o posset, venit cum hostium ducibus in conlo-

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dennoch bittet, die Richter möchten Mitleid mit ihm haben. Dies kann vor Gericht fast überhaupt nicht vorkommen, außer wenn wir für einen Mann sprechen, von dem viele rechtliche Taten bekannt sind, wie z. B. auf folgende Weise wir werden als einen Gemeinplatz mit Hilfe einer Steigerung einfügen: „Wenn er dies getan hätte, müßte man ihm dennoch in Anbetracht seiner früheren Verdienste verzeihen; er verlangt aber überhaupt keine Verzeihung." Also kommt so etwas nicht vor Gericht; aber vor den Senat, vor den Befehlshaber und vor den Kriegsrat63 kann ein solcher Fall kommen. Auf einer Ablehnung der Schuld beruht ein Rechtsfall, wenn wir nicht leugnen, die Tat begangen zu haben, aber behaupten, wir hätten sie gezwungen durch die Vergehen anderer getan, wie z. B. Orestes, wenn er sich verteidigt, indem er die Schuld auf seine Mutter schiebt/ 4 Auf einer Zurückweisung der Schuld beruht ein Rechtsfall, wenn wir von uns nicht die vorgeworfene Tat, aber die Schuld selbst zurückweisen und sie entweder einem Menschen zuschieben oder auf irgendeinen Sachverhalt übertragen. Einem Menschen wird sie zugeschoben, wenn z . B . der, welcher gesteht, den Publius Sulpicius getötet zu haben, angeklagt wird und sich dagegen mit dem Befehl der Konsuln verteidigt und sagt, diese hätten ihm das nicht nur befohlen, sondern ihm auch die Begründung dafür aufgezeigt, warum es erlaubt sei, dies zu tun. 65 Auf einen Sachverhalt wird sie übertragen, wenn z. B. jemandem das, was zu tun ihm durch ein Testament befohlen wurde, durch einen Volksbeschluß verboten wird. Auf einer vergleichsweisen Gegenüberstellung beruht ein Rechtsfall, wenn wir sagen, es sei notwendig gewesen, das eine oder das andere zu tun, und es sei besser gewesen, das zu tun, was wir getan haben. Ein Fall dieser Art ist z. B. der folgende: Als C. Popilius von den Galliern belagert wurde und auf keine Weise fliehen konnte, trat er mit den Führern der Feinde in eine Unterredung ein; von dieser ging er mit

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ita discessit, ut inpedimenta relinqueret, educeret. Satius esse duxit amittere inquam exercitum. Exercitum eduxit, inreliquit; accersitur maiestatis.

Quae constitutiones et quae constitutionum partes sint, videor ostendisse. N u n c quo m o d o eas et qua via tractari conveniat, demonstrandum est, si prius aperuerimus, quid oporteat ab ambobus in causa destinari, quo ratio omnis totius orationis conferatur.

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Constitutione igitur reperta statim quaerenda ratio est. Ratio est, quae causam facit et continet defensionem hoc m o d o - ut docendi causa in hac potissimum causa consistamus: Orestes cum confiteatur se occidisse matrem, nisi adtulerit facti rationem, pervertet defensionem. Ergo adfert earn, quae nisi intercederei, ne causa quidem esset: „lila enim", inquit, „patrem meum occiderat". Ergo, ut ostendi, ratio ea est, quae continet defensionem, sine qua ne parva quidem dubitatio potest remorari damnationem.

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Inventa ratione firmamentum quaerendum est, id est quod continet accusationem, quod adfertur contra rationem defensionis, de qua ante dictum est. Id constituetur hoc modo: C u m usus fuerit Orestes ratione hoc pacto: „Iure occidi, illa enim patrem meum occiderat", utetur accusator firmamento, hoc modo: ,,At non abs te occidi neque indamnatam poenas pendere oportuit."

Ex ratione defensionis et ex firmamento accusationis iudicii quaestio nascatur oportet, quam nos

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dem Bescheid weg, er müsse den Troß zurücklassen, dürfe aber das Heer wegführen. Für besser hielt er es, den Troß zu verlieren als das Heer. Er führte das Heer weg und ließ den Troß zurück; er wird wegen Verletzung der Staatshoheit belangt. 66 Welche Begründungsformen und welche Arten von Begründungsformen es gibt, glaube ich gezeigt zu haben. N u n muß ich dartun, auf welche Weise und nach welcher Methode man sie behandeln soll; vorher will ich eröffnen, was von beiden Parteien in einem Rechtsstreit festgesetzt werden soll, worauf die Begründung der ganzen Rede ausgerichtet ist. Wenn also die Begründungsform gefunden ist, muß sofort die Begründung gesucht werden. Die Begründung ist es, die einen Streitfall ausmacht und die Verteidigung beinhaltet, wie z. B. auf folgende Weise - um zu belehren, will ich gerade bei diesem Fall stehen bleiben: Orestes gesteht, die Mutter getötet zu haben; wenn er nicht eine Begründung für die Tat vorbringt, wird er seine Verteidigung zunichte machen. Also bringt er eine vor; würde diese nicht dazukommen, würde es nicht einmal einen Streitfall geben. „Die Mutter hatte nämlich", sagt er, „meinen Vater getötet." 6 7 Also ist, wie ich gezeigt habe, die Begründung das, was die Verteidigung beinhaltet; ohne sie kann nicht einmal ein geringes Zaudern die Verurteilung aufschieben. Wenn die Begründung gefunden ist, muß ein Beweis gesucht werden, d. h. etwas, was die Anklage aufrechterhält, was gegen die Begründung der Verteidigung vorgebracht wird, über die vorher gesprochen wurde. Er wird sich z. B. auf folgende Weise darstellen: Wenn Orestes die Begründung auf folgende Art vorgebracht hat: „Mit Recht habe ich getötet; jene hatte nämlich meinen Vater getötet", wird der Ankläger den Beweis auf folgende Art vorbringen: „Aber trotzdem hätte sie nicht von dir getötet und ohne Urteil bestraft werden dürfen." 6 8 Aus der Begründung der Verteidigung und aus dem Beweis der Anklage muß sich eine Untersuchung vor

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iudicationem, Graeci crinomenon appellant. Ea constituetur ex coniunctione firmamenti et rationis defensione, hoc modo: C u m dicat Orestes se patris ulciscendi matrem occidisse, rectumne fuerit sine iudicio a filio Clytemestram occidi.

Ergo hac ratione iudicationem reperire convenit: reperta iudicatione omnem rationem totius orationis eo conferri oportebit. In omnibus constitutionibus et partibus constitutionum hac via iudicationes reperientur, praeterquam in coniecturali constitutione; in ea nec ratio, qua re fecerit, quaeritur, fecisse enim negatur: nec firmamentum exquiritur, quoniam non subest ratio. Quare ex intentione et infitiatione iudicatio constituitur, hoc modo:

Intentio: „Occidisti Aiacem". Infitiatio: „ N o n occidi". Iudicatio: „Occideritne?" Ratio omnis utriusque orationis, ut ante dictum est, ad hanc iudicationem conferenda est. Si plures erunt constitutiones aut partes constitutionum, iudicationes quoque plures erunt in una causa, sed omnes simili ratione reperientur. Sedulo dedimus operam, ut breviter et dilucide, quibus de rebus adhuc dicendum fuit, diceremus. N u n c quoniam satis huius voluminis magnitudo crevit, commodius est in altero libro de ceteris rebus deinceps exponere, ne qua propter multitudinem litterarum possit animum tuum defatigatio retardare. Si qua tardius haec, quam studes, absolventur, cum rerum magnitudini turn nostris quo-

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Gericht ergeben, die wir strittigen Punkt, die Griechen crinomenon nennen.69 Diese wird sich ergeben aus der Verbindung des Beweises und der Begründung der Verteidigung, z.B. auf folgende Weise: Wenn Orestes sagt, er habe die Mutter getötet, um den Vater zu rächen, so besteht die Frage, ob es rechtens war, daß Klytaimnestra ohne Gerichtsverfahren getötet wurde. Also soll man auf diese Weise den strittigen Punkt finden; ist er gefunden, muß man die gesamte Begründung der ganzen Rede darauf ausrichten. Bei allen Begründungsformen bzw. Arten der Begründungsformen werden auf diesem Wege die strittigen Punkte gefunden werden, außer bei der auf einer Vermutung beruhenden Begründungsform;70 bei dieser wird weder eine Begründung für die Tat gesucht - die Tat wird nämlich geleugnet - noch macht man einen Beweis ausfindig, da es ja keine Begründung gibt. Deshalb besteht der strittige Punkt aus der Beschuldigung und dem Leugnen, wie z. B. auf folgende Weise: Beschuldigung: „Du hast Ajax getötet." Leugnen: „Ich habe ihn nicht getötet." Strittiger Punkt: „Hat er ihn getötet?" Die gesamte Begründung beider Reden muß, wie vorher gesagt, auf diesen strittigen Punkt gebracht werden. Wenn es mehrere Begründungsformen oder Arten von Begründungsformen gibt, wird es auch mehrere strittige Punkte in einem Streitfall geben, aber alle werden auf ähnliche Weise gefunden werden. Ich habe mich eifrig bemüht, kurz und klar über die Punkte zu sprechen, über die bisher zu sprechen war. Da nun der Umfang dieser Schrift genügend angewachsen ist, ist es zweckmäßiger, in einem weiteren Buch die übrigen Punkte der Reihe nach darzulegen, damit keine Ermüdung wegen der Menge der Worte deinen Geist hemmen kann. Wenn dieses Werk langsamer, als ich möchte, fertig wird, so mußt du das dem Umfang der Thematik, besonders aber meiner sonstigen Inanspruchnahme zuschreiben. Aber

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que occupationibus adsignare debebis. Verumtamen maturabimus, et quod negotio deminutum fuerit, exaequabimus industria, ut pro tuo in nos officio et nostro in te studio munus hoc adcumulatissume tuae largiamur voluntati.

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trotzdem werde ich mich beeilen und was an Arbeitszeit durch andere Aufgaben geschmälert ist, durch Fleiß ausgleichen, damit ich gemäß deiner Zuvorkommenheit und meiner Zuneigung zu dir mit dieser Aufgabe in höchstem Maße deinem Wunsch entspreche.

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SECUNDUS

In primo libro, Herenni, breviter exposuimus, quas causas recipere oratorem oporteret et in quibus officiis artis elaborare conveniret et ea officia qua ratione facillime consequi posset. Verum, quod neque de omnibus rebus simul dici poterat et de maximis rebus primum scribendum fuit, quo cetera tibi faciliora cognitu viderentur, ita nobis placitum est, ut ea, quae difficillima essent, potissimum conscriberemus. Causarum tria genera sunt: demonstrativum, deliberativum, iudiciale. Multo difficillimum iudiciale est; ergo id primum absolvemus. Hoc et priore libro egimus, cum de oratoris officiis quinque tractaremus. Quorum inventio et prima et difficillima est. Ea quoque nobis erit hoc libro propemodum absoluta; parvam partem eius in tertium volumen transferemus.

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De sex partibus orationis primum scribere incepimus: in primo libro locuti sumus de exordio, narratione, divisione, nec pluribus verbis quam necesse fuit, nec minus dilucide, quam te velle existimabamus; deinde coniuncte de confirmatione et confutatione dicendum fuit. Quare genera constitutionum et earum partes aperuimus; ex quo simul ostendebatur, quomodo constitutionem et partem constitutionis causa posita reperiri oporteret.

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Deinde docuimus, iudicationem quemadmodum quaeri conveniret; qua inventa curandum, ut

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Im i.Buch, mein lieber Herennius, habe ich kurz dargelegt, welche Fälle der Redner übernehmen muß, 1 mit welchen Aufgaben seiner Kunst er sich beschäftigen soll 2 und auf welche Weise er diese Aufgaben am leichtesten erfüllen kann. 3 Aber weil nicht über alle Punkte gleichzeitig gesprochen werden konnte und über die wichtigsten zuerst geschrieben werden mußte, damit dir das übrige um so leichter erkennbar schien, beschloß ich, in erster Linie über die schwierigsten Fragen zu schreiben. Es gibt drei Arten von Redeanlässen, die darlegende Art, die beratende Art und die gerichtliche Art. Weitaus die schwierigste ist die gerichtliche Art: Also will ich sie als erste behandeln. In diesem und dem vorausgehenden Buch habe ich darüber geschrieben, als ich die fünf Aufgaben des Redners untersuchte. Von diesen ist die Auffindung des Stoffes die erste4 und schwierigste. Auch sie wird von mir in diesem Buch so ziemlich ganz behandelt; nur kleine Teile von ihr verlege ich in das 3. Buch.' Uber die sechs Teile der Rede schrieb ich zuerst. Im 1. Buch sprach ich über die Einleitung, die Darlegung des Sachverhaltes, die Gliederung des Stoffes, 6 und zwar mit nicht mehr Worten, als nötig war, und nicht weniger klar, als du nach meiner Meinung wolltest. Danach mußte ich zusammenhängend über die Bekräftigung und Widerlegung sprechen. Deshalb habe ich die Gattungen der Begründungsformen und deren Arten erläutert; 7 hieraus ging zugleich hervor, auf welche Weise man eine Begründungsform und die Art einer Begründungsform bei einem gegebenen Fall finden müsse. Danach habe ich vorgetragen, wie man den strittigen Punkt suchen soll; ist dieser gefunden, müsse man dafür



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omnis ratio totius orationis ad earn conferatur. Postea admonuimus esse causas conplures, in quas plures constitutiones aut partes constitutionum adcommodarentur. Reliquum videbatur esse, ut ostenderemus, quae ratio posset inventiones ad unam quamque constitutionem aut partem constitutionis adcommodare, et item quales argumentationes, quas Graeci epicheremata appellant, sequi, quales vitari oporteret; quorum utrumque pertinet ad confirmationem et ad confutationem. Deinde ad extremum docebimus, cuiusmodi conclusionibus orationum uti oporteat, qui locus erat extremus de sex partibus orationis. Primum ergo quaeremus, quemadmodum quamque causam tractari conveniat, et nimirum coniecturalem earn, quae difficillima est, potissimum consideremus. In causa coniecturali narratio accusatoris suspiciones interiectas et dispersas habere debet, ut nihil actum, nihil dictum, nusquam ventum aut abitum, nihil denique factum sine causa putetur. D e fensoris narratio simplicem et dilucidam expositionem debet habere cum adtenuatione suspicionis. Huius constitutionis ratio in sex partes est distributa: probabile, conlationem, signum, argumentum, consecutionem, adprobationem. H o r u m unum quodque quid valeat, aperiemus.

Probabile est, per quod probatur expedisse reo peccare et ab simili turpitudine hominem numquam afuisse. Id dividitur in causam et in vitam.

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sorgen, daß die gesamte Begründung der ganzen Rede darauf ausgerichtet ist.8 Sodann habe ich daran erinnert, daß es mehrere Fälle gibt, auf die mehrere Begründungsformen oder Arten von Begründungsformen angewendet würden.9 Noch schien übrig, daß ich darlege, welche Methode die Auffindung des Stoffes jeder einzelnen Begründungsform oder der Art der Begründungsform anpassen könne,10 und ebenso, welche Beweisführungen, die die Griechen epicheremata nennen, man einschlagen," welche man meiden12 müsse; beides gehört zur Bekräftigung und Widerlegung. Dann werde ich schließlich dartun, welcherlei Redeschlüsse man anwenden muß.'3 Dies war der letzte Abschnitt über die sechs Teile der Rede. Zuerst also werde ich fragen, wie man jeden Fall behandeln soll, und natürlich will ich den auf einer Vermutung beruhenden, der der schwierigste ist, zuerst behandeln. In einem auf einer Vermutung beruhenden Fall muß die Darlegung des Sachverhaltes durch den Ankläger eingeflochtene und eingestreute Verdächtigungen enthalten, so daß der Glaube erweckt wird, nichts sei getan, nichts gesagt worden, an keinen Ort sei man gekommen, von keinem weggegangen, überhaupt sei schließlich nichts geschehen ohne Grund. Die Darstellung des Sachverhaltes durch den Verteidiger muß eine einfache und klare Schilderung bieten, verbunden mit einer Abschwächung des Verdachtes. Die Methode dieser Begründungsform ist in sechs Arten eingeteilt: den Wahrscheinlichkeitsbeweis, den Beweis durch Vergleichen, den sachlichen Beweis, den Beweis durch Uberführen, den Beweis aus den Folgen, den Beweis durch Zustimmung.14 Was jeder von diesen Beweisen vermag, werde ich eröffnen. Der Wahrscheinlichkeitsbeweis ist der Beweis, durch den wahrscheinlich gemacht wird, daß das Fehlverhalten dem Angeklagten einen Nutzen gebracht habe und daß der Angeklagte sich niemals von einer ähnlichen schändlichen Tat ferngehalten hat. Dieser Beweis wird unterteilt in die Betrachtung der Veranlassung und des Vorlebens.

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Causa est ea, quae induxit ad maleficium commodorum spe aut incommodorum vitatione, cum quaeritur, num quod commodum maleficio appetierit, num honorem, num pecuniam, num dominationem, num aliquam cupiditatem aut amoris aut eiusmodi libidinis voluerit explere aut num quod incommodum vitarit: inimicitias, infamiam, dolorem, supplicium. Hie accusator in spe commodi cupiditatem ostendet adversarii, in vitatione incommodi formidinem augebit. Defensor autem negabit fuisse causam, si poterit, aut earn vehementer extenuabit; deinde iniquum esse dicet omnes, ad quos aliquid emolumenti ex aliqua re pervenerit, in suspicionem malefici devocari.

Deinde vita hominis ex ante factis spectabitur. Primum considerabit accusator, num quando simile quid fecerit. Si id non reperiet, quaeret, num quando venerit in similem suspicionem, et in eo debebit esse occupatus, ut ad eam causam peccati, quam paulo ante exposuerit, vita hominis possit adcommodari, hoc modo: Si dicet pecuniae causa fecisse, ostendet eum semper avarum fuisse, si honoris, ambitiosum; ita poterit animi vitium cum causa peccati conglutinare. Si non poterit par vitium cum causa reperire, reperiat dispar. Si non poterit avarum demonstrare, demonstret conruptorem, perfidiosum; si quoquo modo poterit, denique aliquo aut quam plurimis vitiis contaminabit personam; deinde qui illud fecerit tam nequiter,

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Die Veranlassung' 5 ist das, was veranlaßt zu einer schlechten Tat durch die Hoffnung auf Vorteile oder das Vermeidenwollen von Nachteilen, wenn man untersucht, ob der Angeklagte irgendeinen Vorteil durch die Tat angestrebt hat, ob eine Ehrenstelle, ob Geld, ob eine beherrschende Stellung; ob er das Verlangen nach Liebe oder einer derartigen Leidenschaft stillen wollte; ob er einen Nachteil vermeiden wollte: Feindschaft, Schande, Schmerz, Strafe. Hier wird der Ankläger bei der Aussicht auf einen Vorteil die Begierde des Prozeßgegners deutlich zeigen, beim Vermeidenwollen eines Nachteiles seine Furchtsamkeit hervorkehren. Der Verteidiger aber wird abstreiten, daß es eine Veranlassung gegeben habe, wenn er kann, oder diese mit Nachdruck abschwächen; dann wird er sagen, es sei unbillig, daß alle, denen irgendein Nutzen aus irgendeiner Angelegenheit zufällt, in den Verdacht gebracht werden, eine schlechte Tat begangen zu haben. Hierauf betrachtet man das Vorleben des Angeklagten aufgrund früherer Taten.' 6 Zuerst wird der Ankläger betrachten, ob er schon einmal etwas Ähnliches getan hat. Wenn er nichts findet, wird er fragen, ob er schon einmal in einen ähnlichen Verdacht geraten sei; und dabei wird er seine ganze Aufmerksamkeit darauf richten müssen, daß zu der Veranlassung für das Vergehen, die er kurz zuvor dargetan hat, das Vorleben des Angeklagten in Beziehung gebracht werden kann, z. B. auf folgende Weise: Wenn er sagt, er habe die Tat wegen Geld begangen, wird er zeigen, daß er immer habgierig gewesen sei, wenn wegen einer Ehrenstelle, ehrgeizig; so kann er einen Charakterfehler mit der Veranlassung für ein Vergehen eng verbinden. Kann er keinen zu der Veranlassung passenden Fehler finden, mag er einen unpassenden finden. Kann er den Angeklagten nicht als habgierig zeigen, mag er ihn als Verführer, als Wortbrüchigen zeigen; wenn er es nur irgendwie fertigbringt, wird er ihn schließlich mit irgendeinem oder mit möglichst vielen Lastern besudeln. Hierauf wird er sagen, man brauche sich nicht zu wundern, daß einer, der in jenem Falle so nichtsnut-

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eundem hunc tam perperam fecisse non esse mirandum. Si vehementer castus et integer existimabitur adversarius, dicet facta, non famam spectari oportere; ilium ante occultasse sua flagitia; se planum facturum ab eo maleficium non abesse. Defensor primum demonstrabit vitam integram, si poterit: id si non poterit, confugiet ad inprudentiam, stultitiam, adulescentiam, vim, persuasionem; quibus de rebus vituperatio eorum, quae extra id crimen erunt, non debeat adsignari. Sin vehementer hominis turpitudine inpedietur et infamia, prius dabit operam, ut falsos rumores dissipatos esse dicat de innocente, et utetur loco communi rumoribus credi non oportere. Sin nihil eorum fieri potest, utatur extrema defensione: dicat non se de moribus eius apud censores, sed de criminibus adversariorum apud iudices dicere.

Conlatio est, cum accusator id, quod adversarium fecisse criminatur, alii nemini nisi reo bono fuisse demonstrat, aut alium neminem potuisse perficere nisi adversarium, aut eum ipsum aliis rationibus aut non potuisse aut non aeque commode potuisse aut eum fugisse alias rationes commodiores propter cupiditatem. H o c loco defensor demonstret oportet aut aliis quoque bono fuisse aut alios quoque id, quod ipse insimuletur, facere potuisse.

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zig gehandelt habe, nun auch eine so unrechte Tat begangen habe. Wird der Prozeßgegner für völlig lauter und unantastbar gehalten, wird der Ankläger sagen, man müsse seine Taten, nicht seinen Ruf in Augenschein nehmen; jener habe vorher seine Freveltaten verheimlicht; er werde offenlegen, daß von dem Angeklagten eine schlechte Tat nicht so weit entfernt sei. Der Verteidiger wird zuerst des Angeklagten unantastbares Vorleben nachweisen, wenn er kann; kann er das nicht, wird er seine Zuflucht nehmen zu dessen Unbesonnenheit, Torheit, Jugend, zu Gewalt und Überredung; darüber (muß man vorsichtig sprechen und so, daß es unserer Sache dienlich ist; außerdem werden wir sagen, wenn es um ein Verbrechen gehe, gehöre es nicht zur Sache, sein Vorleben und seinen Charakter ihm vorzuwerfen, weil dem Angeklagten nicht das) zum Vorwurf gemacht werden dürfe, was nichts mit dieser Anschuldigung zu tun hat.' 7 Wenn er aber durch den schändlichen Lebenswandel und durch dessen schlechten Ruf arg behindert wird, wird er sich vorher Mühe geben zu betonen, daß falsche Gerüchte ausgestreut seien über einen rechtschaffenen Mann; und er wird den Gemeinplatz anbringen, man dürfe Gerüchten keinen Glauben schenken. Kann aber nichts davon geschehen, mag er die letzte Möglichkeit der Verteidigung anwenden: Er soll sagen, er spreche nicht über den Charakter des Angeklagten vor Zensoren, sondern über die Anschuldigungen der Gegenpartei vor Richtern. 18 Ein Beweis durch Vergleichen 19 ist es, wenn der Ankläger nachweist, daß die Tat, deren er den Prozeßgegner beschuldigt, für niemanden sonst als für den Angeklagten von Vorteil gewesen sei, oder daß kein anderer als der Prozeßgegner sie vollbringen konnte, oder daß dieser selbst mit anderen Mitteln sie überhaupt nicht oder nicht gleich vorteilhaft vollbringen konnte, oder daß ihm andere vorteilhaftere Mittel entgangen seien wegen seiner Gier. In diesem Falle muß der Verteidiger nachweisen, daß entweder die Tat auch anderen von Vorteil gewesen ist oder daß auch andere die Tat, deren gerade der Angeklagte beschuldigt werde, begehen konnten.

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Signum est, per quod ostenditur idonea perficiendi facultas esse quaesita. Id dividitur in partes sex: locum, tempus, spatium, occasionem, spem perficiendi, spem celandi.

Locus quaeritur, Celebris an desertus, semper desertus an turn, cum id factum sit, fuerit in eo loco solitudo, sacer an profanus, puplicus an privatus fuerit; cuiusmodi loci adtingant; num, qui est passus, perspectus aut exauditus esse possit. H o r u m quid reo, quid accusatori conveniat, perscribere non gravaremur, nisi facile quivis causa posita posset iudicare. Initia enim inventionis ab arte debent proficisci, cetera facile conparabit exercitatio.

Tempus ita quaeritur: quid anni, qua hora noctu an interdiu - et qua die, quota hora factum esse dicatur, et cur in eiusmodi temporibus. Spatium ita considerabitur: satisne longum fuerit ad earn rem transigendam, scieritne satis ad id perficiendum spatii futurum; nam parvi refert satis spatii fuisse ad id perficiendum, si id ante sciri et ratione provideri non potuit. Occasio quaeritur idoneane fuerit ad rem adoriendam an alia melior, quae aut praeterita sit aut non expectata. Spes perficiendi ecqua fuerit, spectabitur hoc modo: si, quae supra dicta sunt, signa concurrent, si praeterea ex altera parte vires, pecunia, consilium, scientia, apparatio videbitur fuisse, ex altera

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Ein sachlicher Beweis 2 0 ist derjenige Beweis, durch den gezeigt wird, daß eine passende Gelegenheit zur Durchführung der Tat gesucht wurde. Dieser wird eingeteilt in sechs Arten: Ort, Zeitpunkt, Zeitraum, günstige Gelegenheit, Aussicht auf erfolgreiche Durchführung, Aussicht auf Verheimlichung. Bei der Prüfung des Ortes fragt man, ob er belebt oder verlassen, ob immer verlassen oder nur damals, als die Tat geschah, ob an dem O r t Menschenleere herrschte, ob er für religiöse Zwecke geweiht war oder weltlichen diente, ob er öffentlich oder in Privatbesitz war; was für Orte angrenzen; ob das Opfer der Tat gesehen oder gehört werden konnte. Was von diesen Umständen dem Angeklagten, was dem Ankläger förderlich ist niederzuschreiben, wäre mir nicht zuviel, wenn es nicht jedermann nach Festsetzung des Streitfalles leicht beurteilen könnte. 21 Denn nur der Beginn der Auffindung des Stoffes muß von theoretischer Unterweisung ausgehen; das übrige wird leicht die Übung bringen. Der Zeitpunkt wird folgendermaßen geprüft: Zu welcher Jahreszeit, zu welcher Stunde - bei Nacht oder während des Tages - , an welchem Tage, zur wievielten Stunde 22 soll die Tat geschehen sein und warum zu diesem Zeitpunkt. Der Zeitraum wird folgendermaßen in die Überlegung einbezogen: ob er lang genug war, um die Tat zu verüben, ob der Täter wußte, daß die Zeit zur Ausführung der Tat reichen werde; denn es ist von geringer Bedeutung, daß die Zeit genügte, um die Tat auszuführen, wenn man das nicht im voraus wissen und vorausplanen konnte. Die günstige Gelegenheit wird dahingehend geprüft, ob sie geeignet war, um die Sache in Angriff zu nehmen, oder ob eine andere besser gewesen wäre, die aber schon vergangen war oder mit der man nicht mehr rechnete. O b eine Aussicht auf erfolgreiche Durchführung bestand, wird man auf folgende Weise betrachten: Wenn die oben genannten sachlichen Beweise zusammenpassen, wenn außerdem auf der einen Seite Kräfte, Geld, planmäßige Überlegung, Kenntnis, Vorbereitung vorhanden zu sein



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parte inbecillitas, inopia, stultitia, inprudentia, inapparatio demonstrabitur fuisse; qua re scire poterit, utram diffidendum an confidendum fuerit.

Spes celandi quae fuerit, quaeritur ex consciis, arbitris, adiutoribus, liberis aut servis aut utrisque. Argumentum est, per quod res coarguitur certioribus argumentis et magis firma suspicione. Id dividitur in tempora tria: praeteritum, instans, consequens. In praeterito tempore oportet considerare, ubi fuerit, ubi visus sit, quicum visus sit, num quid appararit, num quem convenerit, num quid dixerit, num quid habuerit de consciis, de adiutoribus, de adiumentis; num quo in loco praeter consuetudinem fuerit aut alieno tempore. In instanti tempore quaeretur, num visus sit, cum faciebat, num qui strepitus, clamor, crepitus exauditus, aut denique num quid aliquo sensu perceptum sit, aspectu, auditu, tactu, odoratu, gustatu; nam quivis horum sensus potest conflare suspicionem. In consequenti tempore spectabitur, num quid re transacta relictum sit, quod indicet aut factum esse maleficium aut ab quo factum sit. Factum esse, hoc modo: si tumore et livore decoloratum corpus est mortui, significai eum veneno necatum. A quo factum sit, hoc modo: si telum, si vestimentum, si quid eiusmodi relictum aut si vestigium repertum fuerit, si cruor in vestimentis, si in eo

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scheinen, auf der anderen Seite Schwäche, N o t , Torheit, Unbesonnenheit, fehlende Vorbereitung erwiesenermaßen vorhanden waren; daraus wird man erkennen können, ob der Angeklagte dem Erfolg mißtrauen mußte oder ob er darauf vertrauen konnte. Welche Aussicht auf Verheimlichung bestand, wird aufgrund der Mitwisser, Zeugen, Helfer ermittelt, Freier oder Sklaven oder beider. Ein Beweis durch Uberführung ist der Beweis, durch den der Sachverhalt in hellem Licht gezeigt wird durch sicherere Beweise und durch einen noch gefestigteren Verdacht. Dieser Beweis wird eingeteilt in drei Zeitstufen: die Zeit vor der Tat, die Zeit während der Tat, die Zeit nach der Tat. 23 Bei der Zeit vor der Tat muß man in Betracht ziehen, wo der Angeklagte sich aufhielt, wo er gesehen wurde, mit wem er gesehen wurde, ob er irgendwelche Vorbereitungen traf, ob er jemanden aufsuchte, ob er sich zu etwas äußerte, ob er Mitwisser, Helfer, Hilfsmittel um sich hatte; ob er sich an einem Ort entgegen seiner sonstigen Gewohnheit aufhielt oder zu ungewöhnlicher Zeit. Bei der Zeit während der Tat wird man untersuchen, ob er gesehen wurde, während er die Tat beging, ob Lärm, Schreien, Krach gehört wurde oder ob man schließlich etwas mit irgendeinem Sinnesorgan wahrnahm durch Sehen, Hören, Berühren, Riechen, Schmecken; denn ein jeder dieser Sinne kann einen Verdacht verdichten. Bei der Zeit nach der Tat wird man beobachten, ob etwas nach Vollendung der Tat zurückgelassen wurde, was darauf hinweist, daß ein Verbrechen verübt oder von wem es verübt wurde. Daß es verübt wurde, erkennt man z. B. auf folgende Weise: Wenn die Leiche des Toten aufgedunsen und blau verfärbt ist, zeigt dies an, daß er durch Gift getötet wurde. Von wem es verübt wurde, erkennt man z. B. auf folgende Weise: Wenn eine Waffe, wenn ein Kleidungsstück, wenn irgend etwas derartiges zurückgelassen wurde oder wenn eine Fußspur des Angeklagten gefunden wurde; wenn Blut an seinen Kleidern hängt; wenn er nach dem Geschehen an

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loco conprehensus aut visus, transacto negotio, quo in loco res gesta dicitur. Consecutio est, cum quaeritur, quae signa nocentis et innocentis consequi soleant. Accusator dicet, si poterit, adversarium, cum ad eum ventum sit, erubuisse, expalluisse, titubasse, inconstanter locutum esse, concidisse, pollicitum esse aliquid; quae signa conscientiae sint. Si reus horum nihil fecerit, accusator dicet eum usque adeo praemeditatum fuisse, quid sibi esset usu venturum, ut confidentissime resisterei et responderet; quae signa confidentiae, non innocentiae sint. Defensor, si pertimuerit, magnitudine periculi, non conscientia peccati se commotum esse dicet; si non pertimuerit, fretum innocentia negabit esse commotum.

Adprobatio est, qua utimur ad extremum, confirmata suspicione. Ea habet locos proprios atque communes. Proprii sunt ii, quibus nisi accusator nemo potest uti, et ii, quibus nisi defensor nemo potest uti. Communes sunt, qui alia in causa ab reo, alia ab accusatore tractantur.

In causa coniecturali proprius locus accusatoris est, cum dicit malorum misereri non oportere et cum auget peccati atrocitatem. Defensoris proprius locus est, cum misericordiam captat et cum accusatorem calumniari criminatur. Communes loci sunt cum accusatoris turn defensoris abs testibus contra testes, abs quaestioni-

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dem Ort ergriffen oder gesehen wurde, an dem die Tat verübt worden sein soll. Ein Beweis aus den Folgen liegt vor, wenn man fragt, welche Zeichen für Schuld und Unschuld zu folgen pflegen. Der Ankläger wird sagen, wenn möglich, der Prozeßgegner sei, als man zu ihm gekommen sei, errötet, erblaßt, habe gestammelt, unsicher gesprochen, sei zusammengebrochen, habe etwas versprochen; dies seien Zeichen eines schlechten Gewissens. Hat der Angeklagte nichts davon getan, wird der Ankläger sagen, dieser habe in solchem Maße im voraus überlegt, was auf ihn zukommen werde, daß er sich sehr selbstbewußt widersetzte und antwortete; das seien Zeichen von dreistem Selbstbewußtsein, nicht von Unschuld. Der Verteidiger wird, wenn sein Mandant Furcht erkennen läßt, sagen, er werde durch die Größe der Gefahr, nicht durch das Bewußtsein einer Schuld erregt; läßt er keine Furcht erkennen, wird er sagen, er sei in festem Vertrauen auf seine Unschuld nicht erregt. Ein Beweis durch Zustimmung ist die Beweisführung, die wir erst ganz am Ende anwenden, wenn unsere Vermutung erhärtet ist. Dieser Beweis beinhaltet Sonder- und Gemeinplätze. 24 Sonderplätze sind diejenigen, die niemand außer dem Ankläger, oder diejenigen, die nur der Verteidiger anwenden kann. Gemeinplätze sind diejenigen, die in dem einen Prozeß vom Angeklagten, in einem anderen vom Verteidiger gehandhabt werden. In einem auf Vermutung beruhenden Prozeß ist es ein Sonderplatz für den Ankläger, wenn dieser sagt, man dürfe mit Übeltätern kein Mitleid haben, und wenn er die Schrecklichkeit des Verbrechens aufbauscht. Ein Sonderplatz für den Verteidiger ist es, wenn er auf Mitleid aus ist und den Ankläger beschuldigt, er verleumde. Gemeinplätze des Anklägers und besonders des Verteidigers sind das Heranziehen von Zeugen und das Widerlegen von Zeugen, das Heranziehen von Untersuchungsergebnissen und das Widerlegen von Untersuchungsergebnissen, die unter Folter gewonnen wurden, 2 ' das Heranziehen von

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bus contra quaestiones, ab argumentis contra argumenta, ab rumoribus contra rumores. A testibus dicemus secundum auctoritatem et vitam testium et constantiam testimoniorum; contra testes secundum vitae turpitudinem, testimoniorum inconstantiam; si aut fieri non potuisse dicemus aut non factum esse, quod dicant, aut scire illos non potuisse aut cupide dicere et argumentari. Haec et ad inprobationem et ad interrogationem testium pertinebunt. A quaestionibus dicemus, cum demonstrabimus maiores veri inveniendi causa tormentis et cruciatu voluisse quaeri et summo dolore homines cogi, ut quicquid sciant, dicant. Et praeterea confirmatior haec erit disputano, si quae dicta erunt, argumentando isdem viis, quibus omnis coniectura tractatur, trahemus ad veri similem suspicionem; idemque hoc in testimoniis facere oportebit. Contra quaestiones hoc modo dicemus: primum maiores voluisse certis in rebus interponi quaestiones, cum, quae vere dicerentur, sciri, quae falso in quaestione pronuntiarentur, refelli possent, hoc modo: quo in loco quid positum sit, et si quid esset simile, quod videri aut aliquo simili signo percipi posset; deinde dolori credi non oportere, quod alius alio recentior sit in dolore, quod ingeniosior ad comminiscendum, quod denique saepe scire aut suspicari possit, quid quaesitor velit audire; quod cum dixerit, intellegat sibi finem doloris futurum. Haec disputano conprobabitur, si refel-

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Beweisen und das Widerlegen von Beweisen, das Heranziehen von Gerüchten und das Widerlegen von Gerüchten. 26 Zeugen ziehen wir heran, indem wir von dem anerkannten Vorleben der Zeugen und der Beständigkeit ihrer Zeugenaussage sprechen. Beim Widerlegen von Zeugen von ihrem schimpflichen Vorleben und der Unbeständigkeit ihrer Zeugenaussagen; wenn wir sagen, es habe nicht geschehen können oder sei nicht geschehen, was sie behaupteten, oder sie hätten es nicht wissen können oder sie sprächen oder führten Beweise leidenschaftlich und parteiisch. Dies wird auch zum Mißbilligen und zum Verhör der Zeugen gehören. Untersuchungsergebnisse, die unter Folter gewonnen wurden, werden wir heranziehen, indem wir darauf hinweisen, daß unsere Vorfahren, um die Wahrheit herauszubekommen, unter Folterqualen Untersuchungen durchführen und die Verhörten durch äußersten Schmerz zwingen ließen, alles zu sagen, was sie wüßten; und außerdem wird diese unsere Erörterung besser gesichert sein, wenn wir die Aussagen, indem wir auf den nämlichen Wegen Beweise anführen, aus denen ein mutmaßlicher Schluß gezogen wird, zu einer wahrscheinlichen Vermutung zusammenziehen; genau das gleiche wird man bei Zeugenaussagen tun müssen. Untersuchungsergebnisse, die unter Folter gewonnen wurden, widerlegen wir auf folgende Weise: Erstens hätten die Vorfahren nur in unzweifelhaften Angelegenheiten Untersuchungen stattfinden lassen, wenn man wahrheitsgemäße Aussagen als solche erkennen, falsche Aussprüche während der Untersuchung widerlegen konnte, z . B . auf folgende Weise: An welchen Ort etwas gelegt sei, oder wenn es etwas Ähnliches war, was man sehen oder durch irgendein ähnliches Zeichen wahrnehmen konnte; weiterhin dürfe man einer unter Schmerz gemachten Aussage nicht glauben, weil der eine kräftiger im Ertragen von Schmerzen sei als der andere, weil geschickter beim Erfinden, weil er schließlich oft wissen oder vermuten könne, was der Untersuchungsrichter hören wolle; wenn er dies aussage, wisse er, daß dann der Schmerz ein Ende nehme. Diese Erörterung wird

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lemus, quae in quaestionibus erunt dicta probabili argumentatione; idque partibus coniecturae, quas ante exposuimus, facere oportebit. A b argumentis et signis et ceteris locis, quibus augetur suspicio, dicere hoc modo convenit: C u m multa concurrant argumenta et signa, quae inter se consentiant, rem perspicuam, non suspiciosam videri oportere. Item plus oportere signis et argumentis credi quam testibus: haec enim eo m o d o exponi, quo modo re vera sint gesta, testes corrumpi posse vel pretio vel gratia vel metu vel simultate. Contra argumenta et signa et ceteras suspiciones dicemus hoc modo: si demonstrabimus nullam rem esse, quam non suspicionibus quivis possit criminari; deinde unam quamque suspicionem extenuabimus et dabimus operam, ut ostendamus nihilo magis in nos earn quam in alium quempiam convenire; indignum facinus esse sine testibus coniecturam et suspicionem firmamenti satis habere.

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A b rumoribus dicemus, si negabimus temere famam nasci solere, quin subsit aliquid; et si dicemus causam non fuisse, quare quispiam confingeret et comminisceretur; et praeterea, si ceteri falsi soleant esse, argumentabimur hunc esse verum. Contra rumores dicemus primum, si docebimus multos esse falsos rumores, et exemplis utemur, de quibus falsa fama fuerit; et aut inimicos nostros aut homines natura malivolos et maledicos confin-

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Zustimmung finden, wenn wir die während der Untersuchung gemachten Aussagen in einer glaubhaften Beweisführung zurückweisen; dies muß man durch die Arten der Schlußfolgerung, die ich oben dargelegt habe, 17 tun. Unter Heranziehung von Beweisen durch Uberführung, von sachlichen Beweisen und von den übrigen Gemeinplätzen, durch die die Vermutung gesteigert wird, kann man auf folgende Weise sprechen: Wenn viele Beweise durch Überführung und sachliche Beweise zusammenkämen, die untereinander übereinstimmten, müsse die Angelegenheit klar erwiesen, nicht auf Vermutungen beruhend erscheinen. Ebenso müsse man Beweisen durch Uberführung und sachlichen Beweisen mehr glauben als Zeugen; diese Beweise würden nämlich ebenso vorgelegt, wie das Geschehen sich in Wirklichkeit ereignet habe; Zeugen aber könnten bestochen werden durch Geld, Gunst, Furcht, Feindschaft. Zur Widerlegung von Beweisen durch Überführung, von sachlichen Beweisen und von den übrigen Vermutungen werden wir auf folgende Weise sprechen: Wenn wir darauf hinweisen, daß es nichts gebe, was nicht durch Vermutungen einem jeden zur Last gelegt werden könne; dann werden wir jede einzelne Vermutung abschwächen und uns Mühe geben zu zeigen, daß sie um nichts mehr auf uns als auf jeden beliebigen anderen zutreffe; es sei ein nichtswürdiges Vorgehen, ohne Zeugen einen mutmaßlichen Schluß und eine Vermutung als genügend beweiskräftig zu nehmen. Gerüchte werden wir heranziehen, wenn wir behaupten, ein Gerede entstehe gewöhnlich nicht, ohne daß etwas zugrunde liege; und wenn wir sagen, es habe keinen Grund gegeben, warum jemand es erfinde und ausdenke; und außerdem, wenn die übrigen Gerüchte gewöhnlich falsch seien, werden wir beweisen, daß das vorliegende wahr sei. Zur Widerlegung von Gerüchten werden wir erstens sprechen, wenn wir darauf hinweisen, daß viele Gerüchte falsch sind, und wenn wir Beispiele anführen von Personen, über die ein falsches Gerücht herrschte; und wenn wir sagen, daß unsere Feinde oder von Natur aus böswillige und schmäh-

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xisse dicemus; et aliquam confictam fabulam in adversarios adferemus, quam dicamus omnibus in ore esse, aut verum rumorem proferemus, qui illis aliquid turpitudinis adferat, neque tarnen ei rumori nos fidem habere dicemus, ideo quod quivis unus h o m o possit quamvis turpem de quolibet rumorem proferre et confictam fabulam dissipare. Verumtamen si rumor vehementer probabilis esse videbitur, argumentando famae fidem poterimus abrogare.

Q u o d et difficillima tractatu est constitutio coniecturalis et in veris causis saepissime tractanda est, eo diligentius omnes eius partes perscrutati sumus, ut ne parvula quidem titubatione aut offensatione inpediremur, si ad hanc rationem praeceptionis adsiduitatem exercitationis adcommodassemus. N u n c ad legitimae constitutionis partes transeamus. C u m voluntas scriptoris cum scripto dissidere videbitur, si a scripto dicemus, his locis utemur: secundum narrationem primum scriptoris conlaudatione; deinde scripti recitatione; deinde percontatione, scirentne adversarii id scriptum fuisse in lege aut testamento aut stipulatione aut quolibet scripto, quod ad earn rem pertinebit; deinde conlatione, quid scriptum sit, quid adversarii se fecisse dicant, quid iudicem sequi conveniat, utrum id, quod diligenter perscriptum sit, an id, quod acute sit excogitatum; deinde ea sententia, quae ab adversariis sit excogitata et scripto adtributa contemnetur et infirmabitur. Deinde quaeretur, quid periculi fuerit, si id voluisset adscribere, aut num po-

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süchtige Menschen das Gerücht erdichtet hätten; und wir werden entweder irgendein erdichtetes Gerede gegen die Gegenpartei anführen, das, wie wir sagen, in aller Munde sei, oder ein auf Wahrheit beruhendes Gerücht vorbringen, das jener irgendwie Schande bringt, aber wir werden sagen, daß wir diesem Gerücht trotzdem keinen Glauben schenken, weil doch jeder beliebige Mensch jedes beliebige Gerücht über jeden beliebigen vorbringen und ein erdichtetes Gerede ausstreuen kann. Wenn aber das Gerücht ganz und gar glaubhaft zu sein scheint, werden wir durch logische Beweisführung dem Gerede seine Glaubwürdigkeit nehmen können. Weil die auf einer Vermutung beruhende Begründungsform am schwierigsten zu behandeln ist und in wirklichen Fällen28 am häufigsten behandelt werden muß, habe ich um so sorgfältiger alle ihre Arten untersucht, damit wir nicht durch ein noch so geringes Schwanken oder einen noch so geringen Mißgriff gehindert werden, wenn wir nur dieser theoretischen Anleitung beständige Übung angefügt haben. Nun will ich zu den Arten der auf einer gesetzlichen Bestimmung beruhenden Begründungsform übergehen. Wenn die Absicht des Verfassers mit dem Wortlaut in Widerspruch zu stehen scheint, werden wir, wenn wir vom Wortlaut ausgehen, die folgenden Gemeinplätze anführen: 29 Unmittelbar nach der Darlegung des Sachverhaltes eine lobende Erwähnung des Verfassers; dann einen Vortrag des Wortlautes; hierauf die Frage, ob die Gegenpartei genau wisse, daß dies der Wortlaut sei in dem Gesetz oder Testament oder Vertrag oder sonstigen Schriftstück, das für diese Angelegenheit in Frage kommt; dann eine vergleichende Gegenüberstellung dessen, wie der Wortlaut sei und was die Gegenpartei getan zu haben sage, was davon der Richter berücksichtigen solle; entweder das, was sorgfältig niedergeschrieben sei, oder das, was man sich scharfsinnig ausgedacht habe; dann wird der Sinn, der von der Gegenpartei ausgedacht und dem Schriftstück untergeschoben wurde, zurückgewiesen und entkräftet. Dann wird man fragen,

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tuerit perscribere. Deinde a nobis sententia reperietur et causa proferetur, quare id scriptor senserit, quod scripserit; et demonstrabitur scriptum illud esse dilucide, breviter, commode, perfecte, cum ratione certa. Deinde exempla proferentur, quae res, cum ab adversariis sententia redderetur et voluntas adferretur, ab scripto potius iudicatae sint. Deinde ostendetur, quam periculosum sit ab scripto recedere. Locus communis est contra eum, qui, cum fateatur se contra quod legibus sancitum aut testamento perscriptum sit, fecisse, tamen facti quaerat defensionem.

A b sententia sic dicemus: Primum laudabimus scriptoris commoditatem atque brevitatem, quod tantum scripserit, quod necesse fuerit; illud, quod sine scripto intellegi potuerit, non necessarium scribendum putarit. Deinde dicemus calumniatoris esse officium verba et litteras sequi, neclegere voluntatem. Deinde id, quod scriptum sit, aut non posse fieri aut non lege, non more, non natura, non aequo et bono posse fieri, quae omnia noluisse scriptorem quam rectissime fieri nemo dicet; at ea, quae a nobis facta sint, iustissime facta. Deinde contrariam sententiam aut nullam esse aut stultam aut iniustam aut non posse fieri aut non constare cum superioribus et inferioribus sententiis aut cum iure communi aut cum aliis legibus communibus aut cum rebus iudicatis dissentire. Deinde exemplorum a volúntate et contra scriptum iudicatorum enumeratio, deinde legum et stipulationum

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welche Gefahr bestanden hätte, wenn der Verfasser dies hätte dazuschreiben wollen, oder ob es nicht deutlich hätte niedergeschrieben werden können. Dann wird von uns ein Sinn gefunden und der Grund dafür vorgebracht werden, warum der Verfasser auch das meinte, was er schrieb; und man wird deutlich machen, daß der Wortlaut klar, kurz und bündig, angemessen, vollständig, mit einer bestimmten Absicht gewählt sei. Dann bringt man Beispiele vor, welche Angelegenheiten, obwohl von der Gegenpartei der Sinn und die Absicht angeführt wurden, eher nach dem Wortlaut entschieden wurden. Dann zeigt man, wie gefährlich es sei, vom Wortlaut abzuweichen. Dies ist ein Gemeinplatz gegen den, der, obwohl er zugibt, gegen die Verfügungen von Gesetzen oder die Bestimmungen eines Testaments gehandelt zu haben, dennoch eine Rechtfertigung für seine Handlungsweise sucht. Vom Sinn ausgehend werden wir folgendes sagen: Zuerst loben wir des Verfassers angemessene und prägnante Ausdrucksweise, daß er nur so viel geschrieben habe, wie nötig gewesen sei; was man auch ohne schriftliche Niederlegung habe verstehen können, habe er nicht unbedingt niederschreiben zu müssen geglaubt. Dann sagen wir, es sei die Aufgabe eines Rechtsverdrehers, sich an Worte und Buchstaben zu halten, den Sinn aber nicht zu beachten. Dann: Der Wortlaut könne überhaupt nicht in die Tat umgesetzt werden oder wenigstens nicht im Einklang mit Gesetz, Sitte, Natur, Billigkeit und Redlichkeit; 30 niemand wird behaupten, der Verfasser habe nicht gewollt, daß dies alles möglichst richtig verwirklicht werde; unsere Taten aber seien völlig gerecht gewesen. Weiterhin sei ein gegensätzlicher Sinn überhaupt nicht möglich oder er sei töricht, ungerecht oder könne nicht durch eine Handlung verwirklicht werden oder er stimme nicht überein mit vorausgehenden oder folgenden Sinnesäußerungen oder er stehe im Widerspruch zum allgemein gültigen Recht 31 oder zu anderen allgemein gültigen Gesetzen oder zu vorliegenden Urteilen. Hierauf zählen wir beispielhafte Rechtsfälle auf, die gemäß der

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breviter exscriptarum, in quibus intellegatur scriptorum voluntas, expositio. Locus communis contra eum, qui scriptum recitet et scriptoris voluntatem non interpretetur. C u m duae leges inter se discrepant, videndum est primum, num quae obrogatio aut derogatio sit, deinde utrum leges ita dissentiant, ut altera iubeat, altera vetet, an ita, ut altera cogat, altera permittat. Infirma enim erit eius defensio, qui negabit se fecisse, quod cogeretur, cum altera lex permitteret: plus enim valet sanctio permissione. Item ilia defensio tenuis, est, cum ostenditur id factum esse, quod ea lex sanciat, cui legi obrogatum aut derogatum sit, id quod posteriore lege sancitum sit esse neclectum. C u m haec erunt considerata, statim nostrae legis expositione, recitatione, conlaudatione utemur. Deinde contrariae legis enodabimus voluntatem et earn trahemus ad nostrae causae commodum. Dein de iuridiciali absoluta sumemus rationem iuris et quaeremus partes iuris, utrocum faciant; de qua parte iuridicialis posterius disseremus.

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Si ambiguum esse scriptum putabitur, quod in duas aut plures sententias trahi possit, hoc m o d o tractandum est: primum sitne ambiguum, quaerendum est, deinde q u o m o d o scriptum esset, si id, quod adversarii interpretantur, scriptor fieri voluisset ostendendum est; deinde id, quod nos interpretemur, et fieri posse et honeste, recte, lege, more, natura, bono et aequo fieri posse; quod ad-

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Absicht und gegen den Wortlaut entschieden wurden, dann stellen wir Gesetze oder knapp formulierte Verträge vor, bei denen man die Absicht der Verfasser erkennt. Das ist ein Gemeinplatz gegen den, der nur den Wortlaut vorliest und die Absicht des Verfassers nicht deutet. Wenn zwei Gesetze zueinander im Widerspruch stehen, muß man zuerst sehen, ob eines ganz oder teilweise aufgehoben wurde; dann, ob die Gesetze nicht in der Weise übereinstimmen, daß das eine befiehlt, das andere verbietet, oder in der Weise, daß das eine zwingend vorschreibt, das andere freistellt. Wenig wirksam nämlich wird dessen Verteidigung sein, der behauptet, er habe nicht getan, was ihm zwingend vorgeschrieben worden sei, weil ein anderes Gesetz es freistelle; größere Wirkung hat nämlich die Verordnung als das Freistellen. Ebenso ist jene Verteidigung schwach, wenn man darlegt, diese Tat sei verübt worden, weil sie ein Gesetz verordne, das völlig oder teilweise abgeschafft worden sei; was durch ein späteres Gesetz verordnet worden sei, sei nicht beachtet worden. Wenn dies in Erwägung gezogen ist, werden wir sofort das Gesetz, das für uns spricht, darlegen, vortragen und lobend hervorheben. Dann werden wir die Absicht des gegensätzlichen Gesetzes entknoten und zum Vorteil für unseren Fall auslegen. Dann werden wir von der auf Rechtfertigungsgründen beruhenden, in sich abgeschlossenen Begründungsform die Begründung der Rechtsbestimmung nehmen und die Teile der Rechtsbestimmung dahingehend untersuchen, zu wessen Vorteil sie sind; über diese Art der auf Rechtfertigungsgründen beruhenden Begründungsform will ich weiter unten sprechen. 32 Wenn man ein Schriftstück für zweideutig hält, weil es in zwei- oder mehrfachem Sinn gedeutet werden kann, muß man es auf folgende Weise behandeln: Zuerst muß man untersuchen, ob es überhaupt zweideutig ist; dann muß man darlegen, wie sein Wortlaut wäre, wenn der Verfasser die Deutung der Gegenpartei beabsichtigt hätte; dann ist zu zeigen, daß unsere Deutung durchführbar ist, und zwar ehrenhaft, rechtmäßig, gemäß dem Gesetz, der Sitte, der Natur,

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versarli interpretentur, ex contrario; nec esse ambigue scriptum, cum intellegatur, utra sententia vera sit. Sunt, qui arbitrentur ad hanc causam tractandam vehementer pertinere cognitionem amphiboliarum eam, quae ab dialecticis proferatur. Nos vero arbitramur non modo nullo adiumento esse, sed potius máximo inpedimento. Omnes enim illi amphibolias aucupantur, eas etiam, quae ex altera parte sententiam nullam possunt interpretari. Itaque et alieni sermonis molesti interpellatores et scripti cum odiosi tum obscuri interpretes sunt; et dum caute et expedite loqui volunt, infantissimi reperiuntur. Ita dum metuunt in dicendo, ne quid ambiguum dicant, nomen suum pronuntiare non possunt. Verum horum pueriles opiniones rectissimis rationibus, cum voles, refellemus. In praesentiarum hoc intercedere non alienum fuit, ut huius infantiae garrulam disciplinam contemneremus.

Cum definitione utemur, primum adferemus brevem vocabuli definitionem, hoc modo: „Maiestatem is minuit, qui ea tollit, ex quibus rebus civitatis amplitudo constat. Quae sunt ea, Q. Caepio? Suffragia populi et consilium magistratus. Nempe igitur tu et populum suffragio et magistratum Consilio privasti, cum pontes disturbasti." Item ex contrario: „Maiestatem is minuit, qui amplitudinem civitatis detrimento: aerarium enim conservavi, libidini malorum restiti, maiestatem omnem interire non passus sum."

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auf gute und gerechte Weise; 33 die Deutung der Gegenpartei bewirke das Gegenteil; und das Schriftstück sei gar nicht zweideutig, da man erkenne, welcher Sinn der richtige sei. Manche vertreten die Meinung, zur Verhandlung dieses Falles gehöre zwingend die Kenntnis doppelsinniger Wendungen, die von den Dialektikern vorgetragen wird. 3 4 Ich aber bin der Meinung, daß diese keineswegs hilfreich, sondern eher sehr hinderlich ist. Denn diese Männer machen nach allen doppelsinnigen Wendungen Jagd, auch nach diesen, die nach einer zweiten Deutung keinen Sinn ergeben können. Deshalb sind sie lästige Störer einer fremden Rede und verhaßte und vor allem unverständliche Erklärer einer Schrift; und während sie vorsichtig und wortgewandt sprechen wollen, erweisen sie sich als der Sprache überhaupt nicht mächtige kleine Kinder. Während sie so beim Sprechen fürchten, etwas Zweideutiges zu sagen, können sie ihren eigenen Namen nicht aussprechen. Deren noch kindliche Meinungen nun will ich, wenn du es wünschst, mit den treffendsten Begründungen zurückweisen. Für den Augenblick war es nicht unangebracht, diese Zwischenbemerkung zu machen, um die geschwätzige Lehre dieses Kindergartens zunichte zu machen. Wenn wir eine Begriffsbestimmung anwenden, werden wir zuerst eine knappe Begriffsbestimmung des Wortes anführen, z. B. auf folgende Weise: „Die Staatshoheit schmälert, wer die Faktoren beseitigt, aus denen das hohe Ansehen des Staates besteht. Was sind das nun für Faktoren, Quintus Caepio? Das Stimmrecht des Volkes und das Beratungsrecht der Behörde. So hast du also das Volk des Stimmrechtes und die Behörde ihres Beratungsrechtes 35 beraubt, indem du die Zugangsstege zu den Abstimmungsbezirken zerstörtest." Ebenso argumentiert man vom gegensätzlichen Standpunkt aus: „Die Staatshoheit schmälert, wer dem hohen Ansehen des Staates einen Schaden zufügt. Ich fügte keinen Schaden zu, sondern verhinderte einen Schaden; ich bewahrte nämlich die Staatskasse, widersetzte mich der Gier der Schlechten, ließ nicht zu, daß die gesamte Staatshoheit untergehe." 3 6

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Primum igitur vocabuli sententia breviter et ad utilitatem causae adcommodate describetur; deinde factum nostrum cum verbi descriptione coniungetur: deinde contrariae descriptionis ratio refelletur, si aut falsa erit aut inutilis aut turpis aut iniuriosa: id quoque ex iuris partibus sumetur de iuridiciali absoluta, de qua iam loquemur.

Quaeritur in translationibus primum, num aliquis eius rei actionem, petitionem aut persecutionem habeat, num alio tempore, num alia lege, num alio quaerente aut agente. Haec legibus et moribus, aequo et bono reperiuntur; de quibus dicetur in iuridiciali absoluta.

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In causa ratiocinali primum quaeretur, ecquid in rebus maioribus aut minoribus aut similibus similiter scriptum aut iudicatum sit; deinde utrum ea res similis sit ei rei, qua de agitur, an dissimilis; deinde utrum consulto de ea re nihil scriptum sit, quod noluerit cavere, an quod satis cautum putarit propter ceterorum scriptorum similitudinem.

D e partibus legitumae constitutionis satis dictum est; nunc ad iuridicialem revertemur.

Absoluta iuridiciali constitutione utemur, cum ipsam rem, quam nos fecisse confitemur, iure factam dicemus, sine ulla adsumptione extrariae de-

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Zuerst umschreibt man also kurz und dem Nutzen für den Fall angemessen den Sinn eines Wortes; dann verbindet man unsere Handlungsweise mit der Umschreibung des Wortes; dann widerlegt man die Erklärung der gegenteiligen U m schreibung, wenn dies falsch oder unnütz oder schimpflich oder widerrechtlich ist. Das nimmt man aus den Bestimmungen des Rechts, die sich auf einen auf Rechtfertigungsgründen beruhenden, in sich abgeschlossenen Fall beziehen; darüber werde ich noch sprechen. 37 Bei Ablehnungen untersucht man zuerst, ob jemand in einer Angelegenheit das Recht zur Anklage, zur Klage in Privat- oder Zivilprozessen oder überhaupt zur gerichtlichen Verfolgung hat' 8 oder ob der Prozeß zu einem anderen Zeitpunkt, nach einem anderen Gesetz, vor einem anderen Untersuchungsrichter geführt werden müsse. Dies findet man heraus aufgrund von Gesetzen und Sitten, nach den Bestimmungen des Gerechten und Guten; davon werde ich bei dem auf Rechtfertigungsgründen beruhenden, in sich abgeschlossenen Fall sprechen. 39 In einem auf einer Schlußfolgerung beruhenden Fall 40 wird man zuerst untersuchen, ob nicht etwa für bedeutendere oder geringfügigere oder ähnliche Angelegenheiten eine ähnliche schriftliche Fixierung oder ein ähnliches Urteil vorliegt; dann, ob diese Angelegenheit tatsächlich mit dieser Angelegenheit, um die es geht, Ähnlichkeit zeigt oder nicht; dann, ob absichtlich zu der vorliegenden Angelegenheit nichts schriftlich niedergelegt wurde, weil der Gesetzgeber dazu nichts anordnen wollte oder weil er glaubte, es sei genügend angeordnet wegen der Ähnlichkeit der übrigen Schriftstücke. Über die Arten der auf einer gesetzlichen Bestimmung beruhenden Begründungsform ist genug gesagt; jetzt werde ich zu der auf Rechtfertigungsgründen beruhenden zurückkehren. 4 ' Die in sich abgeschlossene, auf Rechtfertigungsgründen beruhende Begründungsform 4 2 wenden wir an, wenn wir sagen, die Tat selbst, die wir zugeben, sei mit Recht gesche-

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fensionis. In ea convenit quaeri, iurene sit factum. De eo causa posita dicere poterimus, si ex quibus partibus ius constet cognoverimus. Constat igitur ex his partibus: natura, lege, consuetudine, iudicato, aequo et bono, pacto.

Natura ius est, quod cognationis aut pietatis causa observatur, quo iure parentes a liberis et a parentibus liberi coluntur.

Lege ius est id, quod populi iussu sanctum est; quod genus, ut in ius eas, cum voceris.

Consuetudine ius est id, quod sine lege aeque ac si legitimum sit usitatum est; quod genus, id quod argentario tuleris expensum, ab socio eius recte petere possis. Iudicatum est id, de quo sententia lata est aut decretum interpositum. Ea saepe diversa sunt, ut aliud alio iudici aut praetori aut consuli aut tribuno plebis placitum sit; et fit, ut de eadem re saepe alius aliud decreverit aut iudicarit, quod genus: M. Drusus praetor urbanus, quod cum herede mandati ageretur, iudicium reddidit, Sex. Iulius non reddidit. Item: C. Caelius iudex absolvit iniuriarum eum, qui Lucilium poetam in scaena nominatim laeserat, P. Mucius eum, qui L. Accium poetam nominaverat, condemnavit.

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hen, ohne daß wir eine von außen hinzukommende Verteidigung dazunehmen. Dabei soll man untersuchen, ob die Tat wirklich mit Recht geschehen ist. Darüber können wir nach Festlegung des Falles sprechen, wenn wir erkannt haben, aus welchen Arten das Recht besteht. Es besteht also aus den folgenden Arten: der Natur, einem Gesetz, einer Gewohnheit, einem Gerichtsentscheid, dem Rechten und Billigen, einem Vertrag.43 Auf der Natur beruht das Recht, 44 das um verwandtschaftlicher Beziehung oder um der Liebe zu nahestehenden Mitmenschen willen eingehalten wird, aufgrund dessen die Eltern von den Kindern und von den Eltern die Kinder geachtet werden. Auf einem Gesetz beruht das Recht, 45 das durch einen Beschluß des Volkes festgesetzt ist, z . B . von der Art: Man soll sich dem Gericht stellen, wenn man vor Gericht geladen wird. 46 Auf Gewohnheit beruht das Recht, 47 das ohne ein Gesetz ebenso angewendet wird, als ob es auf einer gesetzlichen Bestimmung beruhe, z. B. von der Art, daß man die Summe, die man einem Geldwechsler ausgezahlt hat, von dessen Teilhaber zurecht zurückfordern kann. Ein Gerichtsentscheid ist der Fall, 48 worüber ein Urteil gefällt oder eine Entscheidung abgegeben wurde. Diese Gerichtsentscheide sind oft voneinander abweichend, wenn z. B. ein Richter, Prätor, Konsul, Volkstribun dieses beschlossen hat, ein anderer etwas anders; so kommt es, daß über dieselbe Angelegenheit oft der eine dies, der andere jenes entschieden und geurteilt hat, z. B. von der Art: Der Stadtprätor M. Drusus gestattete eine gerichtliche Untersuchung, weil gegen einen Erben wegen eines nicht erfüllten Auftrages des Testamentes Klage erhoben wurde, Sex. Iulius gestattete sie nicht. 49 Ebenso: Der Richter C. Caelius sprach den von der Anklage der Beleidigung frei, der den Dichter Lucilius auf der Bühne namentlich gekränkt hat, P. Mucius verurteilte den, der den Dichter L.Accius namentlich genannt hatte. 50



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Ergo, quia possunt res simili de causa dissimiliter iudicatae proferri, cum id usu venerit, iudicem cum iudice, tempus cum tempore, numerum cum numero iudiciorum conferemus.

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Ex aequo et bono ius constat, quod ad veritatem et utilitatem communem videtur pertinere; quod genus, ut maior annis L X et cui morbus causa est, cognitorem det. Ex eo vel novum ius constituí convenit ex tempore et ex hominis dignitate.

Ex pacto ius est, si quid inter se pepigerunt, si quid inter quos convenit. Pacta sunt, quae legibus observanda sunt, hoc modo: „Rem ubi pagunt, orato; ni pagunt, in comitio aut in foro ante meridiem causam coniciunto". Sunt item pacta, quae sine legibus observantur ex conventu, quae iure praestari dicuntur.

His igitur partibus iniuriam demonstran, ius confirmari convenit, id quod in absoluta iuridiciali faciundum videtur. C u m ex conparatione quaeretur, utrum satius fuerit facere id, quod reus dicat se fecisse, an id, quod accusator dicat oportuisse fieri, primum quaeri conveniet, utrum fuerit utilius ex contentione, hoc est utrum honestius, facilius, conducibilius. Deinde oportebit quaeri, ipsumne oportuerit

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Da also Sachverhalte vorgebracht werden können, die in einem ähnlichen Fall unähnlich entschieden wurden, vergleichen wir, wenn dieser Fall wirklich eintritt, Richter mit Richter, Zeitumstände mit Zeitumständen, die Anzahl der gerichtlichen Entscheidungen mit der Zahl anderer Entscheidungen. Auf dem Rechten und Billigen beruht das Recht' 1 , welches zur Wahrheit und dem allgemeinen Nutzen etwas beizutragen scheint, z. B. von der Art: Ein Mann, der über 60 Jahre alt ist und wegen Krankheit entschuldigt ist, mag einen Stellvertreter vor Gericht benennen. Daraus kann man sogar ein neues Recht festsetzen aufgrund der Zeitumstände und der Würde eines Menschen. Auf einer Verabredung beruht das Recht,' 2 wenn Parteien eine Verabredung getroffen haben, wenn zwischen ihnen etwas vereinbart wurde. Es gibt Verabredungen, die aufgrund von Gesetzen zu beachten sind, wie z. B. auf folgende Weise: „Wenn sie (die Parteien) eine Sache gütlich beilegen, soll er (der Prätor) dazu sprechen; kommt es nicht zur Beilegung, sollen sie (die Parteien) im Comitium oder auf dem Forum die Sache am Vormittag verhandeln." 53 Ebenso gibt es formlose Abreden, die ohne gesetzliche Bestimmungen beachtet werden aufgrund einer Vereinbarung; von ihnen heißt es, man müsse aufgrund des honorischen Rechts für sie eintreten.' 33 Mit diesen Arten also kann man das Unrecht zeigen, das Recht stärken, was man, wie es scheint, in einem in sich abgeschlossenen, auf Rechtfertigungsgründen beruhenden Fall tun muß. Wenn man aufgrund einer vergleichsweisen Gegenüberstellung54 untersucht, ob es besser gewesen sei, das zu tun, was der Angeklagte nach seiner eigenen Aussage tat, oder das, was nach Aussage des Anklägers hätte getan werden müssen, wird man zuerst untersuchen müssen, welche Handlungsweise aufgrund eines Vergleiches nützlicher, d. h. welche ehrenhafter, leichter durchzuführen, zweckdienlicher sei. Danach muß man untersuchen, ob der Täter selbst

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iudicare, utrum fuerit utilius, an aliorum fuerit utilius statuendi potestas. Deinde interponetur ab accusatore coniectura, qua re putetur non ea ratione factum esse, quo melius deteriori anteponeretur, sed dolo malo negotium gestum de aliqua probabili causa. Ab defensore contra referetur argumentatio coniecturalis, de qua ante dictum est. Deinde quaeretur, potueritne vitari, ne in eum locum veniretur.

His sic tractatis accusator utetur loco communi in eum, qui inutile utili praeposuerit, cum statuendi non habuerit potestatem. Defensor contra eos, qui aequum censeant rem perniciosam utili praeponi, utetur loco communi per conquestionem; et simul quaeret ab accusatoribus, ab iudicibus ipsis, quid facturi essent, si in eo loco fuissent; et tempus, locum, rem, deliberationem suam ponet ante oculos.

Translatio criminis est, cum ab reo facti causa in aliorum peccatum transfertur. Primum quaerendum est, iurene in alium crimen transferatur; deinde spectandum est, aeque magnum sit illud peccatum, quod in alium transferatur, atque illud, quod reus suscepisse dicatur; deinde, oportueritne in ea re peccare, in qua alius ante peccarit; deinde, oportueritne iudicium ante fieri; deinde, cum factum iudicium non sit de ilio crimine, quod in alium transferatur, oporteatne de ea re iudicium fieri, quae res in iudicium non venerit. Locus communis

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beurteilen durfte, welche Handlungsweise nützlicher war, oder ob andere die Berechtigung hatten, das Nützlichere festzustellen." Dann wird vom Ankläger eine Vermutung vorgebracht, wodurch die Meinung erweckt werden soll, die Tat sei nicht in der Absicht ausgeführt worden, daß etwas Besseres dem Schlechteren vorgezogen werde, sondern mit schlechter Heimtücke sei eine Handlung vollzogen worden aus irgendeinem glaubhaften Grunde. Vom Verteidiger wird dagegen die auf einer Vermutung beruhende Beweisführung vorgebracht werden. Danach soll man untersuchen, ob sich vermeiden ließ, daß man in eine solche Lage kam. Wenn diese Punkte auf diese Art behandelt sind, wird der Ankläger einen Gemeinplatz anwenden gegen den, der das Unnütze dem Nützlichen vorgezogen hat, obwohl er nicht die Berechtigung hatte, das festzulegen. Der Verteidiger wird gegen die, welche es für recht halten, etwas Schädliches dem Nützlichen vorzuziehen, einen Gemeinplatz in Form einer Wehklage anwenden; und zugleich wird er die Ankläger und die Richter selbst fragen, was sie hätten tun wollen, wenn sie in dieser Lage gewesen wären, und er wird ihnen die Zeitumstände, die örtlichen Verhältnisse, die Sachlage und seine Überlegung vor Augen stellen. Eine Ablehnung der Schuld liegt vor,' 6 wenn vom Angeklagten die Ursache für die Tat auf eine Verfehlung anderer Menschen übertragen wird. Zuerst muß man untersuchen, ob mit Recht die Schuld auf einen anderen übertragen wird; dann muß man darauf sehen, ob jene Verfehlung, die auf einen anderen übertragen wird, gleich groß ist wie jene, die der Angeklagte begangen haben soll; dann, ob er sich in der Sache verfehlen durfte, in der vorher sich schon ein anderer verfehlte; dann, ob schon vorher eine gerichtliche Entscheidung hätte gefällt werden müssen; dann, wenn keine gerichtliche Entscheidung über die Schuld gefällt wurde, die auf einen anderen übertragen wird, ob über diese Sache eine gerichtliche Entscheidung gefällt werden darf, welche noch nicht zu einer gerichtlichen Entscheidung vorgelegt wurde. 57 Ein Gemeinplatz des Anklägers wird gegen den gerichtet

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accusatoris contra eum, qui plus censeat vim quam iudicia valere oportere. Et ab adversariis percontabitur accusator, quid futurum sit, si idem ceteri faciant, ut de indemnatis supplicia sumant, quod eos idem fecisse dicant. Q u i d , si ipse accusator idem facere voluisset? Defensor eorum peccati atrocitatem proferet, in quos crimen transferet; rem, locum, tempus ante oculos ponet, ut ii, qui audient, existiment aut non potuisse aut inutile fuisse rem in iudicium venire.

Concessio est, per quam nobis ignosci postulamus. Ea dividitur in purgationem et deprecationem. Purgatio est, cum consulto a nobis factum negamus. Ea dividitur in necessitudinem, fortunam, inprudentiam. D e his partibus primum ostendendum est: deinde ad deprecationem revertendum videtur. Primum considerandum est, num per culpam ventum sit in necessitudinem. Deinde quaerendum est, quo m o d o vis illa vitari potuerit ac levari. Deinde is, qui in necessitudinem causam conferet, expertusne sit, quid contra facere aut excogitare posset. Deinde, num quae suspiciones ex coniecturali constitutione trahi possint, quae significent id consulto factum esse, quod necessario cecidisse dicitur. Deinde, si maxime necessitudo quaepiam fuerit, conveniatne earn satis idoneam causam putari.

Si autem inprudentia reus se peccasse dicet, primum quaeretur, utrum potuerit scire an non potuerit; deinde utrum data sit opera, ut sciretur, an

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sein, der die Meinung vertritt, Gewalt müsse die Oberhand gewinnen über Gerichtsentscheide. Und die Gegenpartei wird der Ankläger danach ausfragen, was denn geschehen wird, wenn die übrigen ebenso handeln, daß sie nämlich Leute, die von keinem Gericht verurteilt sind, eigenmächtig bestrafen, weil sie behaupten, diese hätten dasselbe getan. Was wäre, wenn der Ankläger selbst dasselbe hätte tun wollen? Der Verteidiger wird die Schrecklichkeit der Verfehlung derjenigen vorbringen, auf die er die Sache überträgt: Die Sachlage, die örtlichen und die zeitlichen Verhältnisse wird er vor Augen stellen, damit die Zuhörer zu der Meinung gelangen, es sei nicht möglich oder es sei unnütz gewesen, die Angelegenheit zu einer gerichtlichen Entscheidung vorzulegen.' 8 Ein Eingeständnis der Schuld ist e s , " wodurch wir Verzeihung für uns verlangen. Es wird eingeteilt in Entschuldigung und Abbitte. Eine Entschuldigung ist es, wenn wir leugnen, etwas mit Absicht getan zu haben. Diese wird eingeteilt in die Entschuldigung wegen Zwanges, Zufalles, Unkenntnis. Über diese Arten muß ich zuerst sprechen; dann kann ich auf die Abbitte eingehen. Zuerst muß man in Betracht ziehen, ob man durch eigene Schuld in Zwang geriet. 60 Dann muß man untersuchen, auf welche Weise jene zwingende Kraft hätte vermieden oder gemindert werden können. Danach, ob derjenige, welcher die Ursache für sein Handeln auf Zwang schiebt, versucht hat, was er dagegen tun oder ausdenken konnte. Danach, ob man irgendwelche Verdachtsmomente aufgrund der auf Vermutung beruhenden Begründungsform heranziehen kann, die deutlich machen, daß die Tat mit Absicht ausgeführt wurde, die angeblich unter Zwang geschah. Dann, wenn auf jeden Fall irgendein Zwang vorlag, ob man ihn für einen wirklich hinreichenden Entschuldigungsgrund halten darf. Sagt der Angeklagte aber, er habe aus Unkenntnis gefehlt,61 soll man zuerst untersuchen, ob er in Unkenntnis sein konnte oder nicht; dann, ob er sich bemühte, Kenntnis

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non; deinde, utrum casu nescierit an culpa. Nam qui se propter vinum aut amorem aut iracundiam fugisse rationem dicet, is animi vitio videbitur nescisse, non inprudentia; quare non inprudentia se defendet, sed culpa contaminabit personam. Deinde coniecturali constitutione quaeretur, utrum scierit an ignoraverit, et considerabitur, satisne inprudentia praesidii debeat esse, cum factum esse constet.

C u m in fortunam causa conferetur et ea re defensor ignosci reo dicet oportere, eadem omnia videntur consideranda, quae de necessitudine praescripta sunt. Etenim omnes hae tres partes purgationis inter se finitimae sunt, ut in omnes eadem fere possint adcommodari. Loci communis in his causis: accusatoris contra eum, qui, cum peccasse confiteatur, tamen oratione iudices demoretur; defensoris de humanitate, misericordia: voluntatem in omnibus rebus spectari convenire; quae consulto facta non sint, ea fraudi esse non oportere. Deprecatione utemur, cum fatebimur nos peccasse neque id inprudenter aut fortuito aut necessario fecisse dicemus et tamen ignosci nobis postulabimus. Hic ignoscendi ratio quaeritur ex his locis: si plura aut maiora officia quam maleficia videbuntur constare; si qua virtus aut nobilitas erit in eo, qui supplicabit; si qua spes erit usui futurum, si sine supplicio discesserit; si ipse ille supplex mansuetus et misericors in potestatibus ostendetur fuisse; si ea, quae peccavit, non odio neque crudelitate, sed officio et recto studio commotus fecit; si

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zu gewinnen oder nicht; dann, ob er durch Zufall in Unkenntnis war oder durch eigene Schuld. Denn wer behauptet, er habe wegen Trunkenheit, Liebesleidenschaft oder Jähzorn nicht mehr vernünftig überlegen können, der scheint wegen eines Charakterfehlers nichts gewußt zu haben, und nicht aus Unkenntnis; deshalb wird er sich nicht mit Unkenntnis entschuldigen können, sondern mit Schuld beflecken. Dann wird man aufgrund der auf Vermutung beruhenden Begründungsform untersuchen, ob er etwas wußte oder in Unkenntnis war, und man wird in Betracht ziehen, ob die Unkenntnis genügend Schutz bieten kann, wenn die Tat feststeht. Wenn die Ursache für das Handeln auf einen Zufall geschoben wird 6 2 und der Verteidiger sagt, deswegen müsse dem Angeklagten verziehen werden, muß man ebenso die Anleitungen alle in Betracht ziehen, die zum Zwang gegeben wurden. Denn alle diese drei Arten der Entschuldigung sind untereinander verwandt, so daß man auf alle fast die gleichen Regeln anwenden kann. Gemeinplätze 6 ' in diesen Fällen sind: Für den Ankläger gegen den, der zugibt, sich verfehlt zu haben, aber dennoch durch Reden die Richter hinhält; für den Verteidiger über Menschlichkeit, Mitleid: 6 4 Man müsse bei allen Handlungen auf die Absicht sehen; was nicht absichtlich geschehen sei, dem dürfe man auch keine schlechte Absicht zuschreiben. Die Abbitte verwenden wir, 6s wenn wir zugeben, uns verfehlt zu haben, und nicht sagen, wir hätten aus Unkenntnis, aus Zufall oder aus Zwang 6 6 so gehandelt; aber dennoch werden wir Verzeihung für uns verlangen. Diese Art der Verzeihung sucht man aus folgenden Punkten: Wenn mehr oder bedeutendere Verdienste als schlechte Taten vorzuliegen scheinen; wenn irgendeine Tüchtigkeit oder Vortrefflichkeit dem zu eigen ist, der um Gnade bittet; wenn eine Aussicht besteht, es werde von Vorteil sein, wenn er ohne Strafe davonkommt; wenn man darauf hinweist, jener Bittsteller sei milde und mitleidsvoll 67 bei der Ausübung von Macht gewesen; wenn er seine Verfehlungen nicht aus Haß

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tali de causa aliis quoque ignotum est; si nihil ab eo periculi nobis futurum videbitur, si eum missum fecerimus; si nulla aut a nostris civibus aut ab aliqua civitate vituperatio ex ea re suscipietur.

Loci communis: de humanitate, fortuna, misericordia, rerum commutatione. His locis omnibus ex contrario utetur is, qui contra dicet, cum amplificatione et enumeratione peccatorum. Haec causa iudicialis fieri non potest, ut in libro primo ostendimus, sed, quod potest vel ad senatum vel ad consilium venire, non visa est supersedenda.

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C u m a nobis crimen removere volemus, aut in rem aut in hominem nostri peccati causam conferemus. Si causa in hominem conferetur, quaerendum erit primum, potueritne tantum, quantum reus demonstrabit is, in quem causa conferetur; et quonam m o d o aut honeste aut sine periculo potuerit obsisti; si maxime ita sit, num ea re concedi reo conveniat, quod alieno inductu fecerit. Deinde in coniecturalem trahetur controversiam et edisseretur, num consulto factum sit. Si causa in rem quandam conferetur, et haec eadem fere et omnia, quae de necessitudine praecepimus, consideranda erunt.

Q u o n i a m satis ostendisse videmur, quibus argumentationibus in uno quoque genere causae iudicialis uti convenir«, consequi videtur, ut doceamus, quemadmodum ipsas argumentationes ornate et absolute tractare possimus. N a m fere non difficile est invenire, quid sit causae adiumento, difficillimum vero est in ventum expolire et expe-

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und nicht aus Grausamkeit beging, sondern aus Pflichteifer und richtigem Streben; wenn aus einem solchen Grund auch schon anderen verziehen wurde; wenn von ihm uns anscheinend keine Gefahr droht, wenn wir ihn freilassen; wenn uns daraus von unseren Mitbürgern oder irgendeiner anderen Bürgerschaft kein Tadel entstehen wird. Gemeinplätze sind: Über die Menschlichkeit, das Schicksal, das Mitleid, die wechselvollen Verhältnisse. Diese Gemeinplätze wird im gegensätzlichen Sinne der anwenden, der dagegen spricht, wobei er die Verfehlungen noch steigert und aufzählt. Dieser Fall kann nicht vor Gericht eintreten, wie ich im ersten Buch gezeigt habe, 68 aber weil er vor dem Senat oder einer Ratsversammlung eintreten kann, glaubte ich ihn nicht aussparen zu dürfen. Wenn wir die Anschuldigung von uns zurückweisen wollen, schieben wir die Veranlassung für unsere Verfehlung auf einen Umstand oder auf einen Menschen. 69 Wird die Veranlassung auf einen Menschen geschoben, muß man zuerst untersuchen, ob der, auf den die Veranlassung geschoben wurde, so großen Einfluß hatte, wie der Angeklagte darlegt; und auf welche Weise man ehrenvoll oder ohne Gefahr Widerstand leisten konnte; ist dies ganz und gar der Fall, ob man dem Angeklagten deshalb verzeihen dürfe, weil er auf fremden Antrieb hin gehandelt hat. Dann wird man die Sache auf einen Streitfall, der auf einer Vermutung beruht, hinauslaufen lassen und ausführlich erörtern, ob die Tat absichtlich geschah. Wird die Veranlassung auf einen Umstand geschoben, muß man etwa dasselbe und alles, was ich über den Zwang als Anleitung gegeben habe, 70 in Betracht ziehen. Da ich nun genügend dargelegt zu haben glaube, welche Beweisführungen man in jeder einzelnen Art eines Gerichtsfalles anwenden soll, scheint zu folgen, daß ich lehre, wie wir die Beweisführungen selbst kunstvoll und vollständig handhaben können. 7 ' Denn es ist nicht gerade schwierig, einen Gedanken zu finden, der unsere Sache unterstützt; sehr schwierig ist es aber, den gefundenen Gedanken auszumalen

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dite pronuntiare. Haec enim res facit, ut neque diutius, quam satis sit, in eisdem locis commoremur, nec eodem identidem revolvamur, neque inchoatam argumentationem relinquamus, neque incommode ad aliam deinceps transeamus. Itaque hac ratione et ipsi meminisse poterimus, quid quoque loco dixerimus, et auditor cum totius causae tum unius cuiusque argumentationis distributionem percipere et meminisse poterit. Ergo absolutissima et perfectissima est argumentatio ea, quae in quinque partes est distributa: propositionem, rationem, rationis confirmationem, exornationem, conplexionem. Propositio est, per quam ostendimus summatim, quid sit, quod probari volumus. Ratio est, quae causam demonstrat veram esse, quam intendimus, brevi subiectione.

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Rationis confirmatio est ea, quae pluribus arguments conroborat breviter expositam rationem. Exornatio est, qua utimur rei honestandae et conlocupletandae causa, confirmata argumentatione. Conplexio est, quae concludit breviter, conligens partes argumentationis. Hisce igitur quinque partibus ut absolutissime utamur, hoc modo tractabimus argumentationem: Causam ostendemus Ulixi fuisse, quare interfecerit Aiacen. Inimicum enim acerrimum de medo tollere volebat, a quo sibi non iniuria summum periculum metuebat. Videbat illo incolumi se incolumem non futurum; sperabat illius morte se salutem sibi conparare; consueverat, si iure non

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und gewandt vorzutragen. Diese Fähigkeit nämlich bewirkt, daß wir nicht länger, als genug ist, bei denselben Punkten verweilen und nicht immer wieder zu derselben Stelle zurückkommen, nicht eine begonnene Beweisführung wieder fallen lassen und nicht in unpassender Art nacheinander zu einer anderen übergehen. Deshalb können wir nur auf diese Weise auch selbst im Gedächtnis behalten, was wir an jeder Stelle gesagt haben, und der Zuhörer kann die Einteilung der ganzen Rede, besonders jeder einzelnen Beweisführung erfassen und im Gedächtnis behalten. Also ist diejenige Beweisführung am vollständigsten und vollkommensten, die in fünf Teile eingeteilt ist: die Themaangabe, die Begründung, die Bekräftigung der Begründung, die Ausschmückung, die Zusammenfassung. 7 2 Die Themaangabe 7 3 ist der Teil, wodurch wir summarisch darlegen, was wir glaubhaft machen wollen. Die Begründung ist der Teil, der den Fall, auf den wir abzielen, als wahr darstellt, wobei wir eine kurze Erklärung hinzufügen. Die Bekräftigung der Begründung ist der Teil, welcher durch noch mehr Beweise die kurz auseinandergesetzte Begründung verstärkt. Die Ausschmückung ist der Teil, den wir anwenden, um der Angelegenheit mehr Ansehen zu verschaffen und sie zu bereichern; sie folgt nach der Bekräftigung der Begründung. Die Zusammenfassung 7 4 ist der Teil, welcher einen kurzen Abschluß bildet, wobei er die einzelnen Teile der Beweisführung zusammennimmt. U m also diese fünf Teile vollständig und erschöpfend anzuwenden, handhaben wir die Beweisführung, z. B. auf folgende Weise: 75 „Wir werden darstellen, daß Ulixes einen Grund hatte, den Aiax zu töten. 76 Er wollte nämlich seinen erbittertsten Feind beseitigen, von dem ihm, wie er nicht zu Unrecht fürchtete, höchste Gefahr drohte. 7 7 Er sah, daß er nicht wohlbehalten sein werde, solange jener wohlbehalten sei; er hoffte, durch den Tod jenes Mannes sich Rettung zu verschaffen; er war

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potuerat, iniuria quavis inimico exitium machinari, cui rei mors indigna Palamedis testimonium dat. Ergo et metus periculi hortabatur eum interimere, a quo supplicium verebatur, et consuetudo peccandi maleficii suscipiendi removebat dubitationem. Omnes enim cum minima peccata cum causa suscipiunt, tum vero ilia, quae multo maxima sunt maleficia, aliquo certo emolumento inducti suscipere conantur. Si multos induxit in peccatum pecuniae spes, si conplures se scelere contaminarunt imperii cupiditate, si multi leve conpendium fraude maxima commutarunt, cui mirum videbitur istum a maleficio propter acerrimam formidinem non temperasse? Virum fortissimum, integerrimum, inimicitiarum persequentissimum, iniuria lacessitum, ira exsuscitatum homo timidus, nocens, conscius sui peccati, insidiosus inimicum incolumem esse noluit: Cui tandem hoc mirum videbitur? Nam cum feras bestias videamus alacres et erectas vadere, ut alteri bestiae noceant, non est incredibile putandum istius quoque animum ferum, crudelem atque inhumanum cupide ad inimici perniciem profectum, praesertim cum in bestiis nullam neque bonam neque malam rationem videamus, in isto plurimas et pessumas rationes semper fuisse intellegamus.

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Si ergo pollicitus sum me daturum causam, qua inductus Ulixes accesserit ad maleficium, et si inimicitiarum acerrimam rationem et periculi metum intercessisse demonstravi, non est dubium, quin confiteatur causam malefici fuisse."

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gewohnt, wenn er es nicht mit rechten Mitteln konnte, mit jedem beliebigen unrechten Mittel einem Feind den Untergang zu bewirken; dafür gibt der unverdiente Tod des Palamedes ein Zeugnis ab. 78 Also ermunterte ihn auch die Furcht vor einer Gefahr, den Mann zu beseitigen, von dem er selbst den Tod fürchtete, und seine Gewöhnung an Vergehen drängte sein Bedenken gegen eine schlechte Tat zurück. 79 Alle Menschen nämlich begehen ganz kleine Vergehen, wenn ein Grund dazu vorhanden ist, besonders aber versuchen sie, wenn sie irgendein sicherer Vorteil dazu veranlaßt, auch die allerschlimmsten Untaten zu vollbringen. Wenn viele Menschen die Aussicht auf Geld zu einem Vergehen verleitete, wenn sich mehr Menschen mit einem Verbrechen befleckten aus Herrschsucht, wenn viele einen geringen Gewinn gegen einen ganz schlimmen Betrug eintauschten, wem erscheint es da verwunderlich, daß dieser Mann da wegen der schlimmsten Furcht nicht von einer schlechten Tat ließ? Einen so heldenhaften, untadeligen, in seiner Feindschaft unbeugsamen, durch ein Unrecht gereizten, von Zorn entflammten Mann wollte der ängstliche, ruchlose, seines Vergehens sich bewußte, heimtückische Mensch beseitigen; daß sein schärfster Feind unversehrt sei, wollte der unredliche Mann nicht. Wem erscheint dies schließlich verwunderlich? Denn da wir die wilden Tiere feurig und aufgerichtet einherschreiten sehen, damit sie einem anderen Tier schaden, muß man es nicht für unglaublich halten, daß auch dieses Mannes wilder, grausamer, unmenschlicher Sinn gierig auf das Verderben seines Feindes aus war, zumal wir bei den wilden Tieren überhaupt keine von der Vernunft gelenkte Überlegung, weder eine gute noch eine schlechte, sehen, dieser Mensch aber, wie wir erkennen, immer sehr viele ganz schlechte Überlegungen hatte. 80 Wenn ich also angekündigt habe, ich würde die Ursache angeben, aus der heraus Ulixes zu der schlimmen Tat schritt, und wenn ich gezeigt habe, daß bitterste Feindschaft und Furcht vor Gefahr dazukamen, muß man zweifellos zugeben, 81 daß ein Grund für die böse Tat bestand." 82

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Ergo absolutissima est argumentatio ea, quae ex quinqué partibus constat, sed ea non semper necesse est uti. Est, cum conplexione supersedendum est, si res brevis est, ut facile memoria conprehendatur; est, cum exornatio praetermittenda est, si parum locuples ad amplificandum et exornandum res videtur esse. Sin et brevis erit argumentatio et res tenuis aut humilis, tum et exornatione et conplexione supersedendum est. In omni argumentatione de duabus partibus postremis haec, quam exposui, ratio est habenda. Ergo amplissima est argumentatio quinquepertita; brevissima est tripertita; mediocris, sublata aut exornatione aut conplexione, quadripertita. D u o genera sunt vitiosarum argumentationum: unum, quod ab adversario reprehendí potest, id quod pertinet ad causam: alterum, quod, tametsi nugatorium est, tamen non indiget reprehensionis. Quae sint, quae reprehensione confutari conveniat, quae tacite contemni atque vitari sine reprehensione, si exempla subiecero, intellegere dilucide poteris. Haec cognitio vitiosarum argumentationum duplicem utilitatem adferet. N a m et vitare in argumentatione vitium admonebit et ab aliis non vitatum commode reprehendere docebit.

Quoniam igitur ostendimus perfectam et plenam argumentationem ex quinqué partibus constare, in una quaque parte argumentationis quae vitia vitanda sunt, consideremus, ut ipsi ab his vitiis recedamus ac adversariorum argumentationes hac praeceptione in omnibus partibus temptare et ab aliqua parte labefactare possimus.

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Also ist die Beweisführung die vollständigste, die aus fünf Teilen besteht; aber man muß diese nicht immer anwenden. Dies ist der Fall, wenn man auf die Zusammenfassung verzichten kann, falls die Sache kurz ist, so daß sie leicht im Gedächtnis behalten wird; dies ist der Fall, wenn man die Ausschmückung übergehen kann, falls die Sache zu wenig ergiebig erscheint zum Hervorheben und Ausschmücken. Falls aber die Beweisführung kurz und die Sache dürftig und unbedeutend ist, dann kann man auf die Ausschmückung und Zusammenfassung verzichten. Bei jeder Beweisführung muß man hinsichtlich der beiden letzten Teile die Methode anwenden, die ich auseinandergesetzt habe. Also ist die ausführlichste Beweisführung die fünfteilige, die kürzeste die dreiteilige; die Mitte bildet die vierteilige, wenn entweder die Ausschmückung oder die Zusammenfassung ausgelassen ist. 83 Es gibt zwei Arten von fehlerhaften Beweisführungen: 8 4 die eine, welche vom Gegner widerlegt werden kann - eine Widerlegung, die sich auf den Fall bezieht - , die andere, welche, obwohl sie unnütz ist, dennoch keiner Widerlegung bedarf. Welches die Beweisführungen sind, die man durch eine Widerlegung bestreiten soll, über welche man sich stillschweigend ohne Widerlegung hinwegsetzen und welche man vermeiden soll, kannst du klar erkennen, wenn ich Beispiele anführe. Dieses Erkennen fehlerhafter Beweisführungen bringt einen doppelten Nutzen. Denn es wird dazu ermahnen, einen Fehler in der Beweisführung zu vermeiden, einen von anderen nicht vermiedenen Fehler in geeigneter Weise zu widerlegen. D a ich nun dargelegt habe, daß eine vollkommene und vollständige Beweisführung aus fünf Teilen besteht, 8 ' will ich in Betracht ziehen, welche Fehler man bei jedem einzelnen Teil der Beweisführung vermeiden muß, damit wir selbst uns von diesen Fehlern fernhalten und die Beweisführungen der Gegenpartei, gestützt auf diese Anleitung, in allen Teilen prüfen und in irgendeinem Teil erschüttern können.

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Expositio vitiosa est, cum ab aliqua aut a maiore parte ad omnes confertur id, quod non necessario est omnibus adtributum; ut si quis hoc modo exponat: „Omnes, qui in paupertate sunt, malunt maleficio parare divitias quam officio paupertatem tueri". Si quis hoc m o d o exposuerit argumentationem, ut non curet quaerere, qualis ratio aut rationis confirmatio sit, ipsam facile reprehendemus expositionem, cum ostendemus, quod in aliquo paupere inprobo sit, in omnes pauperes id falso et iniuria conferri.

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Item vitiosa expositio est, cum id, quod raro fit, fieri omnino negatur, hoc modo: „ N e m o potest uno aspectu neque praeteriens in amorem incidere". N a m cum nonnemo devenerit in amorem uno aspectu, et cum ille neminem dixerit, omnino nihil differt raro id fieri, dummodo aliquando fieri aut posse m o d o fieri intellegatur.

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Item vitiosa expositio est, cum omnis res ostendemus nos collegisse et aliquam rem idoneam praeterimus, hoc modo: „ Q u o n i a m igitur hominem occisum constat esse, necesse est aut a praedonibus aut ab inimicis occisum esse aut abs te, quem ille heredem testamento ex parte faciebat. Praedones in ilio loco visi numquam sunt; inimicum nullum habebat: relinquitur, si neque a praedonibus neque ab inimicis occisus est, quod alteri non erant, alteros non habebat, ut abs te sit interemptus". N a m in huiuscemodi expositione reprehensione utemur, si quos praeter eos, quos ille dixerit, potuisse suscipere maleficium ostenderimus;

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Die Themaangabe ist fehlerhaft, wenn von irgendeinem oder auch von dem größeren Teil auf alle eine Behauptung übertragen wird, die nicht zwingend auf alle zutrifft; wie wenn man z. B. auf folgende Weise das Thema angibt: „Alle, die in Armut leben, wollen lieber durch eine schlechte Tat Reichtum erwerben als durch Pflichterfüllung ihre Armut ertragen." Wenn jemand auf diese Weise das Thema für seine Beweisführung angibt, daß er nicht darauf achtet zu untersuchen, wie die Begründung oder die Bekräftigung der Begründung dafür ist, widerlegen wir leicht die Themaangabe selbst, indem wir nachweisen, daß eine Eigenschaft, die irgendein schlechter armer Mensch hat, fälschlich und zu Unrecht auf alle Armen übertragen wird. 86 Ebenso ist die Themaangabe fehlerhaft, wenn man behauptet, daß das, was selten vorkommt, überhaupt nicht vorkommt, z. B. auf folgende Weise: „Niemand kann durch einen einzigen Blick und auch nicht im Vorübergehen in Liebe verfallen." 87 Denn wenn der eine oder der andere schon durch einen einzigen Blick in Liebe geraten ist, und wenn nun der Redner gesagt hat, das treffe für niemanden zu, macht es überhaupt keinen Unterschied, daß dies nur selten vorkommt, wenn man nur erkennt, daß es manchmal vorkommt oder auch nur vorkommen kann. Ebenso ist die Themaangabe fehlerhaft, wenn wir darlegen, wir hätten alle Punkte gesammelt, und irgendeinen geeigneten Punkt übergehen, 88 z. B. auf folgende Weise: „Da nun also feststeht, daß der Mann getötet wurde, muß er entweder von Räubern oder von Feinden getötet worden sein oder von dir, den er in seinem Testament zum Teilerben machte. Räuber wurden an jenem Ort niemals gesehen, einen Feind hatte er nicht: So bleibt nur, wenn er weder von Räubern noch von Feinden getötet wurde, weil es die ersteren nicht gab, von den letzteren er keine hatte, daß er von dir umgebracht wurde." Denn bei einer derartigen Themaangabe verwenden wir eine Widerlegung, wenn wir nachweisen, daß außer den Personen, die jener nannte, irgendwelche andere das Verbrechen vollbringen konnten; 8 ' so werden

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velut in hoc exemplo, cum dixerit necesse esse aut a praedonibus aut ab inimicis aut a nobis occisum esse, dicemus potuisse vel a familia vel a coheredibus nostris. C u m hoc m o d o illorum conlectionem disturbaverimus, nobis latiorem locum defendendi reliquerimus. Ergo hoc quoque vitandum est in expositione, ne quando, cum omnia collegisse videamur, aliquam idoneam partem reliquerimus.

Item vitiosa expositio est, quae constat ex falsa enumeratione, si, cum plura sunt, pauciora dicamus, hoc modo: „Duae res sunt, iudices, quae omnes ad maleficium inpellant: luxuries et avaritia", „ Q u i d amor?" inquiet quispiam, „quid ambitio? quid inreligio? quid metus mortis? quid imperii cupiditas? quid denique alia permulta?" Item falsa enumeratio est, cum pauciora sunt et plura dicimus, hoc modo: „Très res sunt, quae omnes homines sollicitent: metus, cupiditas, aegritudo". Satis enim fuerat dixisse metum, cupiditatem, quoniam aegritudinem cum utraque re coniunctam esse necesse est.

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Item vitiosa expositio est, quae nimium longe repetitur, hoc modo: „ O m n i u m malorum stultitia est mater atque materies. Ea parit inmensas cupiditates. Inmensae porro cupiditates infinitae, inmoderatae sunt. Hae pariunt avaritiam. Avaritia porro hominem ad quodvis maleficium inpellit. Ergo avaritia inducti adversarii nostri hoc in se facinus admiserunt". Hic id, quod extremum dictum est, satis fuit exponere, ne Ennium et ceteros poetas imitemur, quibus hoc m o d o loqui concessum est:

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wir in unserem Beispiel, wenn er sagt, er wurde unbedingt von Räubern, Feinden oder von uns getötet, erwidern, der Mord könne auch von jemandem aus der Hausgemeinschaft oder von Miterben verübt worden sein. Wenn wir auf diese Weise die Zusammenstellung der Gegenpartei durcheinanderbringen, werden wir für uns eine breitere Grundlage der Verteidigung lassen. Also muß man auch dies bei der Themaangabe meiden, daß wir nicht, wenn wir alles zusammengestellt zu haben glauben, irgendeinen passenden Gesichtspunkt nicht berücksichtigt haben. Ebenso ist die Themaangabe fehlerhaft, welche aus einer falschen Aufzählung besteht, wenn wir entweder weniger Punkte nennen, auch wenn es mehr sind, z. B. auf folgende Weise: „Zwei Dinge sind es, ihr Herren Richter, die alle Menschen zu einem Verbrechen verleiten: Verschwendungssucht und Habsucht." 90 - „Wie steht es mit der Liebesleidenschaft?" wird da jemand einwenden, „wie mit dem Ehrgeiz? Wie mit der Gottlosigkeit? 9 ' Wie mit der Todesfurcht; Wie mit der Herrschsucht? Wie schließlich mit sehr vielen anderen Veranlassungen?" Ebenso falsch ist eine Aufzählung, wenn es weniger Punkte gibt und wir mehr nennen, z. B. auf folgende Weise: „Es gibt drei Dinge, die alle Menschen beunruhigen, Furcht, Begierde und Kummer." Es hätte genügt, Furcht und Begierde zu nennen, da ja Kummer notwendigerweise beiden verbunden ist. Ebenso ist die Themaangabe fehlerhaft, die allzuweit hergeholt ist, z. B. auf folgende Weise: „Aller Übel Mutter und Urstoff 92 ist die Torheit. Sie gebiert unermeßliche Leidenschaften. Unermeßliche Leidenschaften sind weiterhin unbegrenzt, unmäßig. Diese gebären die Habsucht. Die Habsucht verleitet weiterhin den Menschen zu jedem beliebigen Verbrechen. Also hat unsere Gegenpartei aus Habsucht diese Untat auf sich geladen." 93 Hier hätte es genügt, das zuletzt Gesagte anzuführen, damit wir nicht Ennius und die übrigen Dichter nachahmen, denen man zugesteht, auf diese Weise zu sprechen:

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Utinam ne in nemore Pelio securibus Caesae accidissent abiegnae ad terram trabes, Neve inde navis inchoandi exordium Cepisset, quae nunc nominatur nomine Argo, quia Argivi in ea delecti viri Vecti petebant pellem inauratam arietis Colchis, inperio regis Peliae, per dolum: Nam numquam era errans mea domo efferret pedem. Medea animo aegro, amore saevo saucia. Nam hie satis erat dicere, si id modo, quod satis esset, curarent poetae: Utinam ne era errans mea domo efferret pedem. Medea animo aegro, amore saevo saucia. Ergo hac quoque ab ultimo repetitione in expositionibus magnopere supersedendum est. N o n enim reprehensione sicut aliae conplures, sed sua sponte vitiosa est. Vitiosa ratio est, quae ad expositionem non est adcommodata vel propter infirmitatem vel propter vanitatem. Infirma ratio est, quae non necessario ostendit ita esse, quemadmodum expositum est, velut apud Plautum: Amicum castigare ob meritam noxiam Inmune est facinus, verum in aetate utile Et conducibile. Haec expositio est. Videamus, quae ratio adferatur: Nam ego hodie amicum meum Concastigabo pro commerita noxia. Ex eo, quod ipse facturus est, non ex eo, quod fieri convenit, utile quid sit, ratiocinatur.

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O wären doch niemals in dem Wald Pelion von Äxten gefällte Fichtenstämme auf die Erde gefallen, und hätte nicht dort das Schiff seinen Anfang genommen, das jetzt Argo genannt wird, weil auf ihm auserlesene Männer aus Argos fuhren und das goldene Fell des Widders in Kolchis holen wollten, auf Befehl des Königs Pelias, durch eine List; denn niemals würde meine Herrin umherirrend ihren Fuß aus ihrem Haus weglenken, Medea mit krankem Gemüt, von wilder Liebe verwundet. 94 Denn hier hätte genügt zu sagen, wenn nur die Dichter auf das allein bedacht wären, was genügen würde: O würde doch meine Herrin nicht umherirrend ihren Fuß aus ihrem Haus weglenken, Medea mit krankem Gemüt, von wilder Liebe verwundet. Also muß man auch dieses Herholen der Gedanken vom Uranfang an bei Themaangaben auf jeden Fall unterlassen. Denn eine solche Themaangabe ist nicht erst durch die Widerlegung wie andere, sondern sie ist schon von sich aus fehlerhaft. Eine Begründung ist fehlerhaft, die der Themaangabe nicht angemessen ist entweder wegen ihrer Unzulänglichkeit oder wegen ihrer Gehaltlosigkeit. Unzulänglich ist die Begründung, die nicht zwingend nachweist, daß der Sachverhalt so ist, wie in der Themaangabe dargestellt wurde, wie z . B . bei Plautus:« Einen Freund zurechtzuweisen wegen einer Schuld, die er auf sich geladen hat, ist eine Aufgabe, die nichts einbringt, aber zur rechten Zeit ist es nützlich und zuträglich. Dies ist die Themaangabe. Wollen wir sehen, welche Begründung vorgebracht wird: Denn' 6 ich werde heute meinen Freund zurechtweisen für eine Schuld, die er auf sich geladen hat. Aus dem, was er selbst tun wird, nicht aus dem, was getan werden soll, folgert der Sprecher, was nützlich sei.

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Vana ratio est, quae ex falsa causa constat, hoc modo: „Amor fugiendus non est, nam ex eo verissima nascitur amicitia". Aut hoc modo: „Philosophia vitanda est, adfert enim socordiam atque desidiam". N a m hae rationes nisi falsae essent, expositiones quoque earum veras esse confiteremur. Itemque infirma ratio est, quae non necessariam causam adfert expositionis, velut Pacuvius: Fortunam insanam esse et caecam et brutam perhibent philosophi Saxoque instare in globoso praedicant volubili: Id quo saxum inpulerit Fors, eo cadere Fortunam autumant. Caecam ob earn rem esse iterant, quia nil cernat, quo sese adplicet; Insanam autem aiunt, quia atrox, incerta instabilisque sit. Brutam, quia dignum atque indignum nequeat internoscere. Sunt autem alii philosophi, qui contra Fortuna negant Ullam esse miseriam, sed temeritate omnia regi autumant. Id magis veri simile esse usus reapse experiundo edocet. Velut Orestes modo fuit rex, factust mendicus modo. Naufragio nempe re ergo id aut Forte aut Fortuna optigit? N a m hie Pacuvius infirma ratione utitur, cum ait verius esse temeritate quam fortuna res geri. N a m utraque opinione philosophorum fieri potuit, ut is, qui rex fuisset, mendicus factus esset.

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Gehaltlos ist die Begründung, die aus einem falschen Grund besteht, z. B. auf folgende Weise: „Vor der Liebe soll man nicht fliehen; denn aus ihr erwächst die echteste Freundschaft." 97 Oder auf folgende Weise: „Die Philosophie soll man meiden; denn sie verursacht Sorglosigkeit und Untätigkeit."' 8 Denn wenn diese Begründungen nicht falsch wären, würden wir zugeben, daß auch die Themaangaben dazu richtig sind. Ebenso ist die Begründung unzulänglich, die einen nicht zwingenden Grund für die Themaangabe anführt, wie z. B. Pacuvius" sagt: Daß das Schicksal unsinnig, blind und stumpf ist, geben die Philosophen an und sie verkünden, daß es auf einer rollenden Steinkugel stehe; 100 und wohin die Kugel der Zufall treibt, dahin falle auch das Schicksal, behaupten sie. Blind sei es deshalb, wiederholen sie, weil es nicht sehe, wohin es sich wende; unsinnig aber sei es, sagen sie, weil es schrecklich, unsicher und unbeständig sei; stumpf, weil es nicht zwischen würdig und unwürdig unterscheiden könne. Es gibt aber andere Philosophen, die im Gegensatz dazu leugnen, durch das Schicksal entstehe eine elende Lage; durch die Willkür werde alles regiert, behaupten sie. Daß dies wahrscheinlicher sei, lehrt die Gewohnheit durch die Erfahrung selbst. So war z. B. Orest eben noch König, und bald wurde er zum Bettler. Durch einen Schiffbruch geschah dies freilich, widerfuhr es ihm durch einen Zufall oder das Schicksal? Denn hier wendet Pacuvius eine unzulängliche Begründung an, wenn er sagt, es entspreche mehr der Wahrheit, daß die Geschehnisse durch die Willkür als durch das Schicksal gelenkt würden. Denn nach beiden Ansichten der Philosophen konnte es geschehen, daß der, welcher König war, zum Bettler wurde.

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Item infirma ratio est, quae videtur pro ratione adferri, sed idem dicit, quod in expositione dictum est, hoc modo: „Magno malo est hominibus avaritia, idcirco quod homines magnis et multis incommodis conflictantur propter inmensam pecuniae cupiditatem". N a m hie aliis verbis idem per rationem dicitur, quod dictum est per expositionem.

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Item infirma ratio est, quae minus idoneam, quam res postulat, causam subicit expositioni, hoc modo: „Utilis est sapientia, propterea quod qui sapientes sunt, pietatem colere consuerunt". Item: „Utile est amicos veros habere: habeas enim, quibuscum iocari possis". N a m in huiusmodi rationibus non universa neque absoluta, sed extenuata ratione expositio confirmatur.

Item infirma ratio est, quae vel alii expositioni potest adeommodari, ut facit Pacuvius, qui eandem adfert rationem, quare caeca, eandem, quare bruta fortuna dicatur. In confirmatione rationis multa et vitanda in nostra et observanda in adversariorum oratione sunt vitia proptereaque diligentius consideranda, quod adeurata confirmatio rationis totam vehementissime conprobat argumentationem. Utuntur igitur studiosi in confirmanda ratione duplici conclusione, hoc modo: Iniuria abs te adficior indigna, pater; N a m si inprobum esse Crespontem existimas,

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Ebenso ist die Begründung unzulänglich, wenn man scheinbar etwas als Begründung anführt, aber nur genau dasselbe sagt, was in der Themaangabe gesagt wurde, z. B. auf folgende Weise: „Ein arges Übel für die Menschen ist die Habgier, deswegen weil die Menschen mit großen und vielen Nachteilen sich herumschlagen wegen ihrer unermeßlichen Geldgier." Denn hier wird mit anderen Worten dasselbe in der Begründung gesagt, was schon in der Themaangabe gesagt wurde. Ebenso ist die Begründung unzulänglich, welche einen weniger geeigneten Beleg für die Themaangabe, als es die Sache erfordert, erklärend hinzufügt, z. B. auf folgende Weise: „Nützlich ist die Weisheit, deswegen weil diejenigen, die weise sind, gewöhnlich auch Frömmigkeit pflegen." Ebenso: „Es ist nützlich, wahre Freunde zu besitzen; man hat nämlich jemanden, mit dem man scherzen kann." Denn in derartigen Begründungen wird die Themaangabe nicht durch eine umfassende und vollständige, sondern eine geschmälerte Begründung bekräftigt. Ebenso ist die Begründung unzulänglich, welche man auch einer anderen Themaangabe anpassen kann, wie es Pacuvius tut, der dieselbe Begründung dafür anführt, warum man das Schicksal blind, dieselbe, warum man es stumpf nennt. 101 Bei der Bekräftigung der Begründung muß man viele Fehler in unserer eigenen Begründung meiden und viele in der Begründung der Gegenpartei beobachten und deswegen um so sorgfältiger in Betracht ziehen, weil eine genaue Bekräftigung der Begründung die ganze Beweisführung auf das nachdrücklichste glaubhaft macht. Die eifrig Bemühten wenden also bei der Bekräftigung der Begründung eine doppelte Schlußfolgerung 102 an, z. B. auf folgende Weise: Mir wird von dir ein unverdientes Unrecht zugefügt, Vater; denn falls du den Crespontes für einen unredlichen Mann hältst,

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C u r me huic locabas nuptiis? Sin est probus, C u r talem invitam invitum cogis linquere? Q u a e hoc modo concludentur, aut ex contrario convertentur aut ex simplici parte reprehendentur. Ex contrario, hoc modo: Nulla te indigna, nata, adficio iniuria. Si probus est, te locavi; sin est inprobus, Divortio te liberabo incommodis. Ex simplici parte reprehendentur, si ex duplici conclusione alterutra pars diluitur, hoc modo: N a m si inprobum esse Crespontem existimas, C u r me huic locabas nuptiis? Duxi probum; Erravi; post cognovi et fugio cognitum. Ergo reprehensio huiusmodi conclusionis duplex est; acutior ilia superior, facilior haec posterior ad excogitandum. Item vitiosa confirmatio est rationis, cum ea re, quae plures res significat, abutimur pro certo unius rei signo, hoc modo: „Necesse est, quoniam pallet, aegrotasse" aut „Necesse est peperisse, quoniam sustinet puerum infantem". N a m haec sua sponte certa signa non habent, si non cetera quoque similia concurrunt; quod si concurrunt, nonnihil illiusmodi signa adaugent suspicionem.

Item vitiosum est quom vel in alium vel in eum ipsum, qui dicit id, quod in adversarium dicitur,

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warum gabst du dann mich ihm zur Frau? Falls er aber redlich ist, warum zwingst du mich, ihn gegen meinen und seinen Willen zu verlassen?103 Schlußfolgerungen, die auf diese Weise gezogen werden, kehrt man entweder ins Gegenteil um oder man widerlegt sie aufgrund einer einzigen Wendung. 104 Durch Umkehrung ins Gegenteil, z. B. auf folgende Weise: Ich füge dir kein unverdientes Unrecht zu, Tochter. Falls er redlich ist, gab ich dich ihm zur Frau; falls er aber unredlich ist, werde ich dich durch eine Scheidung von Ungemach befreien. Aufgrund einer einzigen Wendung widerlegt man, wenn man von der doppelten Schlußfolgerung den einen oder anderen Teil entkräftet, z. B. auf folgende Weise: Denn falls du den Crespontes für unredlich hältst, warum gabst du mich ihm zur Frau? Ich heiratete einen redlichen Menschen. Ich habe mich geirrt. Später erkannte ich ihn und ich fliehe vor dem, den ich erkannt habe. Also ist die Widerlegung einer derartigen Schlußfolgerung doppelt; scharfsinniger ist die erstere, leichter auszudenken die letztere. Ebenso ist die Bekräftigung der Begründung fehlerhaft, wenn wir eine Sachlage, die mehr Umstände bezeichnet, fälschlich anwenden als sicheres Zeichen eines einzigen Umstandes, 105 z. B. auf folgende Weise: „Er muß notwendigerweise krank gewesen sein, weil er ja bleich ist"; oder: „Sie muß notwendigerweise Mutter geworden sein, weil sie ja einen Säugling ernährt." 106 Denn diese Umstände bieten von sich aus keine sicheren Anzeichen, wenn nicht noch andere ähnliche Umstände dazukommen; wenn sie dazukommen, fördern derartige Zeichen nicht unwesentlich eine Vermutung. Ebenso ist fehlerhaft, was entweder auf einen anderen oder den selbst, der es sagt - was er eigentlich gegen einen

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potest convenire, hoc modo: „Miseri sunt, qui uxores ducunt." - ,,At tu duxisti alteram". Item vitiosum est id, quod vulgarem habet defensionem, hoc m o d o : „Iracundia deductus peccavit aut adulescentia aut amore". Huiusmodi enim deprecationes si probabuntur, inpune maxima peccata dilabentur. Item vitiosum est, quom id pro certo sumitur, quod inter omnes constat, quod etiam nunc in controversia est, hoc modo: „ E h o tu, dii, quibus est potestas motus superum atque inferum, Pacem inter sese conciliant, conferunt concordiam." N a m ita pro suo iure hoc exemplo usum Thesprotum Ennius induxit, quasi iam satis certis rationibus ita esse demonstrasset. Item vitiosum est, quod iam quasi sero atque acto negotio dici videtur, hoc modo: „In mentem mihi si venisset, Quirites, non commisissem, ut in hunc locum res veniret; nam hoc aut hoc fecissem, sed me tum haec ratio fugit."

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Item vitiosum est, quom id, quod in aperto delicto positum est, tarnen aliqua levi tegitur defensione, hoc modo: C u m te expetebant omnes, florentissimo Regno reliqui; nunc desertum ab omnibus Summo periclo sola ut restituam paro.

Item vitiosum est, quod in aliam partem ac dietum sit potest aeeipi. Id est huiusmodi, ut si quis

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Gegner sagt - zutreffen kann, 107 z. B. auf folgende Weise: „Unglücklich sind Männer, wenn sie geheiratet haben." „Aber du hast auch geheiratet." 108 Ebenso ist fehlerhaft, was eine weit verbreitete Verteidigung nach sich zieht, z. B. auf folgende Weise: „Aus Jähzorn hat er sich vergangen oder wegen seiner Jugend oder aus Liebe." 1 0 9 Wenn man nämlich derartige Abbitten billigt, läßt man die schlimmsten Vergehen straflos hingehen. Ebenso ist es fehlerhaft, wenn man als sicher annimmt, was unter allen feststeht, was aber jetzt noch umstritten ist, z. B. auf folgende Weise: „Achtung, du da: Die Götter, in deren Macht das Beben des Himmels und der Erde liegt, schließen Frieden untereinander, vereinbaren Eintracht." Denn so ließ Ennius 110 zu seiner eigenen Rechtfertigung dieses Beispiel den Thesprotus anführen, als ob er schon genügend durch sichere Begründungen erwiesen hätte, daß es so sei. Ebenso ist fehlerhaft, was man gewissermaßen zu spät und wenn die Aufgabe schon durchgeführt ist, zu sagen scheint, z . B . auf folgende Weise: 111 „Wenn es mir in den Sinn gekommen wäre, Quiriten, hätte ich nicht zugelassen, daß die Sache an diesen Punkt kam, denn ich hätte dieses oder jenes getan; aber damals entging mir diese Überlegung." Ebenso ist es fehlerhaft, wenn man das, was auf einem offenkundigen Fehler beruht, dennoch durch irgendeine unbedeutende Verteidigung deckt, 112 z . B . auf folgende Weise: Damals als alle deine Gunst erstrebten, verließ ich dich in deinem blühenden Reich; jetzt wo du von allen im Stich gelassen wirst, mache ich mich ganz allein unter größter Gefahr daran, dich wieder in deine frühere Stellung einzusetzen." 3 Ebenso ist fehlerhaft, was in einem anderen Sinn verstanden werden kann, als es gesagt wurde." 4 Dies ist ein derarti-

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potens ac factiosus in contione dixerit: „Satius est uti regibus quam uti malis legibus". Nam et hoc, tametsi rei augendae causa potest sine malitia dici, tarnen propter potentiam eius, qui dicit, non dicitur sine atroci suspicione.

Item vitiosum est falsis aut vulgaribus definitionibus uti. Falsae sunt huiusmodi, ut si quis dicat iniuriam esse nullam, nisi quae ex pulsatione aut convicio constet. Vulgares sunt, quae nihilominus in aliam rem transferri possunt, ut si quis dicat: „Quadruplator, ut breviter scribam, capitalis est; est enim inprobus et pestifer civis". Nam nihilo magis quadruplatoris quam furis, quam sicarii aut proditoris attulit definitionem.

Item vitiosum est pro argumento sumere, quod in disquisitione positum est, ut si quis quem furti arguat et ita dicat, eum esse hominem inprobum, avarum, fraudulentum; ei rei testimonium esse, quod sibi furtum fecerit. Item vitiosum est controversiam controversia dissolvere, hoc modo: „Non convenit, censores, istum vobis satis facere, quod ait se non potuisse adesse ita, ut iuratus fuerit. Quid? si ad exercitum non venisset, idemne tribuno militum diceret?" Hoc ideo vitiosum est, quia non expedita aut iudicata res, sed inpedita et in simili controversia posita exempli loco profertur.

Item vitiosum est, cum id, de quo summa controversia est, parum expeditur et, quasi transactum

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ger Fehler, wie wenn ein mächtiger Mann, der viele Anhänger hat, in der Volksversammlung sagte: „Es ist besser, Könige zu haben als schlechte Gesetze." Denn diese Äußerung, auch wenn sie, um eine Sache zu steigern, ohne schlechte Absicht gemacht werden kann, kann wegen der Macht des Sprechers nicht ohne schrecklichen Verdacht getan werden. Ebenso ist es fehlerhaft, falsche oder weitverbreitete Begriffsbestimmungen anzuwenden.' 1 ' Falsch sind Begriffsbestimmungen von der Art, wenn man z. B. sagen wollte, es gebe kein Unrecht, außer dem, das aus Schlagen und Schimpfen besteht." 6 Weitverbreitet sind Begriffsbestimmungen, die nichtsdestoweniger auf eine andere Sache übertragen werden können, wenn man z. B. sagen wollte: „Er ist, um es kurz zu schreiben, ein berufsmäßiger Angeber todeswürdiger Verbrechen; er ist nämlich ein unredlicher und verderblicher Mitbürger." Denn man hat keinesfalls mehr die Begriffsbestimmung eines berufsmäßigen Angebers angeführt als die eines Diebes, Mörders oder Verräters. Ebenso fehlerhaft ist es, als Beweis zu nehmen, was noch im Stadium der Untersuchung liegt; wie wenn jemand einen des Diebstahls beschuldigt und sagt, dieser sei ein ruchloser, habgieriger, betrügerischer Mensch; dafür diene als Zeugnis, daß er ihn bestohlen h a b e . " 7 Ebenso ist es fehlerhaft, eine Streitfrage durch eine Streitfrage zu widerlegen," 8 z. B. auf folgende Weise: „Es ist nicht in Ordnung, ihr Herren Zensoren, daß dieser da sich damit vor euch rechtfertigt, daß er sagt, er habe nicht anwesend sein können, wozu er sich durch einen Eid verpflichtet habe. Wie? Wenn er nicht zum Heer gekommen wäre, würde er dasselbe zum Militärtribun sagen?" Diese Beweisführung ist deshalb fehlerhaft, weil kein schon abgemachter oder entschiedener Sachverhalt, sondern ein ungeklärter und auf einer ähnlichen Streitfrage beruhender als Beispiel vorgebracht wird. Ebenso ist es fehlerhaft, wenn man den Punkt, um den in erster Linie eine Streitfrage geht, zu wenig klärt und, als ob

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sit, relinquitur, hoc modo: Aperte fatur dictio, si intellegas: Tali dari arma, qualis qui gessit fuit, Iubet, potiri si studeamus Pergamum. Q u e m ego me profiteor esse; me est aecum frui Fraternis armis mihique adiudicarier, Vel quod propinquus vel quod virtute aemulus. Item vitiosum est ipsum sibi in sua oratione dissentire et contra atque ante dixerit dicere, hoc modo: „ Q u a causa accusem hunc?" Tum id exputando evolvere: „ N a m si veretur, quid eum accuses qui est probus? Sin inverecundum animi ingenium possidet, Q u i d autem eum accuses, qui id parvi auditum aestimet?" N o n incommoda ratione videtur sibi ostendisse, quare non accusaret. Q u i d postea? quid ait?

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„ N u n c ego te ab summo iam detexam exordio." Item vitiosum est, quod dicitur contra iudicis voluntatem aut eorum, qui audiunt, si aut partes, quibus illi student, aut homines, quos illi caros habent, laedantur aut aliquo eiusmodi vitio laeditur auditoris voluntas. Item vitiosum est non omnis res confirmare, quas pollicitus sis in expositione. Item verendum est, ne de alia re dicatur, cum

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er schon abgehandelt wäre, beiseite läßt, z. B. auf folgende Weise: Offen sagt der Ausspruch, wenn du ihn verstehst: Einem Mann befiehlt er die Waffenrüstung zu geben, der so ist wie der war, welcher sie trug, Wenn wir danach streben, uns Pergamons zu bemächtigen. Daß ich dieser bin, verkünde ich deutlich: Mir steht es zu, die Waffenrüstung des Bruders zu tragen und daß sie mir zuerkannt wird, entweder weil ich sein Blutsverwandter bin oder weil ich ihm in der Tapferkeit nacheifere." 9 Ebenso fehlerhaft ist es, sich selbst in seiner eigenen Rede zu widersprechen und anderes zu sagen, als man vorher gesagt hat, z. B. auf folgende Weise: „Warum soll ich diesen Mann anklagen?" Dann wird der Gedanke durch eine genaue Erwägung weiter entwickelt: „Denn wenn er Achtung empfindet, warum sollte man einen anklagen, der anständig ist? Wenn er aber eine Gesinnung hat, die vor nichts Achtung empfindet, warum sollte man ihn aber anklagen, der wenig darauf gibt, wenn er dies hört?" In einer nicht unangebrachten Begründung glaubt er deutlich gemacht zu haben, warum er nicht anklagt. Was aber weiter? Was sagt er? „Jetzt werde ich dich bloßstellen ganz von Anfang an." 120 Ebenso ist eine Aussage fehlerhaft, die gegen die Gesinnung des Richters oder der Zuhörer gerichtet ist, wenn dadurch die Partei, zu der jene neigen, oder Menschen, die sie für teuer halten, verletzt werden oder durch irgendeinen derartigen Fehler die Gesinnung eines Zuhörers verletzt wird. 121 Ebenso ist es fehlerhaft, nicht alle Punkte zu bekräftigen, von denen man es in der Themaangabe versprochen hat.122 Ebenso muß man sich davor hüten, über einen anderen

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alia de re controversia sit; inque eiusmodi vitio considerandum est, ne aut ad rem addatur quid aut quippiam de re detrahatur aut tota causa mutata in aliam causam derivetur; uti apud Pacuvium Zethus cum Amphione, quorum controversia cum de musica inducta sit, disputatio in sapientiae rationem et virtutis utilitatem consumitur.

Item considerandum est, ne aliud accusatoris criminatio contineat, aliud defensoris purgatio purget, quod saepe consulto multi ab reo faciunt angustiis causae coacti; ut si quis, cum accusetur ambitu magistratum petisse, ab inperatoribus saepe numero dicat apud exercitum se donatum esse. H o c si diligenter in oratione adversariorum observaverimus, saepe deprehendemus eos et in eius modi deprehensione ostendemus eos de re quod dicant non habere.

Item vitiosum est artem aut scientiam aut studium quodpiam vituperare propter eorum vitia, qui in eo studio sunt; veluti qui rhetoricam vitupérant propter alicuius oratoris vituperandam vitam. Item vitiosum est ex eo, quia perperam factum constet esse, putare ostendi a certo homine factum esse, hoc modo: „Mortuum deformatum, tumore praeditum, corpore decoloratum constat fuisse; ergo veneno necatus est". Deinde si sit usque in eo occupatus, ut multi faciunt, venenum datum, vitio non mediocri conflictetur. N o n enim factumne sit, quaeritur, sed a quo factum sit.

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Punkt zu sprechen als über den, um den die Streitfrage geht; 12 ' bei einem derartigen Fehler muß man in Betracht ziehen, daß nicht zur behandelten Sache irgendein Punkt hinzugefügt wird oder davon weggenommen wird oder der ganze Fall in veränderter Form zu einem anderen Fall umgeleitet wird, so wie es bei Pacuvius Zethius und Amphion tun, deren Streit über die Musik im Verlauf der Erörterung auf den Wert der Weisheit und den Nutzen der Tugend gerichtet wird. 124 Ebenso ist in Betracht zu ziehen, daß die Anschuldigung des Anklägers nicht etwas anderes zum Inhalt hat als die Entschuldigung, die der Verteidiger vorbringt, was oft viele absichtlich zum Vorteil des Angeklagten tun, wenn die Mißlichkeit des Falles dazu zwingt, so z. B. wenn jemand, der angeklagt wird, er habe mit unrechtmäßigen Mitteln ein Amt erschlichen, sich damit verteidigt, er sei von militärischen Befehlshabern oft vor dem Heer beschenkt worden. Wenn wir darauf in der Rede der Gegenpartei sorgfältig achten, werden wir sie oft dabei ertappen und durch ein derartiges Ertappen zeigen, daß sie über die Sache, um die es geht, nichs zu sagen haben. Ebenso ist es fehlerhaft, Kunst, Wissenschaft oder irgendeine Neigung zu tadeln wegen der Fehler derer, die dieser Neigung nachgehen, wie es z. B. die Leute tun, die die Redekunst tadeln wegen des tadelnswerten Lebenswandels irgendeines Redners. 12 ' Ebenso ist es fehlerhaft, aufgrund der Tatsache, daß bekanntermaßen eine unrechte Tat begangen wurde, zu glauben, man könne nachweisen, diese Tat sei von einem bestimmten Menschen begangen worden, z. B. auf folgende Weise: „Daß der Tote entstellt, aufgedunsen und verfärbt, seine Körperfarbe verändert war, steht fest; also wurde er durch Gift getötet." Wenn er weiterhin sich nur damit beschäftigt, wie es viele tun, daß ihm Gift gegeben wurde, schlägt er sich mit einem nicht geringen Fehler herum. Denn nicht ob die Tat begangen wurde, wird untersucht, sondern von wem sie begangen wurde.

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Item vitiosum est in conparandis rebus alteram rem efferre, de re altera mentionem non facere aut neglegentius disputare; ut si cum conparetur, utrum satius sit populum frumentum accipere an non accipere, quae commoda sint in altera re vera curet enumerare, quae in altera incommoda et quae velit depressa, praetereat aut ea, quae minima sint, dicat. Item vitiosum est in rebus conparandis necesse putare alteram rem vituperare, cum alteram laudes, quod genus, si quaeratur, utris maior honor habendus sit, Albensibus an Vestinis Pennensibus, quod rei publicae et populo Romano profuerint, et is, qui dicat, alteros laedat. N o n enim necesse est, si alteros praeponas, alteros vituperare: fieri enim potest, ut, quom alteros magis laudaris, aliquam alteris partem laudis adtribuas, ne cupide depugnasse contra veritatem puteris.

Item vitiosum est de nomine et vocabulo controversiam struere, quam rem consuetudo optime potest iudicare; velut Sulpicius, qui intercesserat, ne exulis, quibus causam dicere non licuisset, reducerentur, idem posterius inmutata voluntate, cum eandem legem ferret, aliam se ferre dicebat propter nominum commutationem; nam non exules, sed vi eiectos se reducere aiebat. Proinde quasi id fuisset in controversia, quo illi nomine appellarentur a populo Romano aut proinde quasi non omnes, quibus aqua et igni interdictum est, exules appellentur. Verum illi fortasse ignoscimus, si cum causa fecit; nos tamen intellegamus vitiosum esse intendere controversiam propter nominum mutationem.

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Ebenso ist es fehlerhaft, beim Vergleich von Sachverhalten den einen hervorzuheben, den anderen nicht zu erwähnen oder zu gleichgültig darüber zu sprechen; 126 wie wenn z. B. vergleichend gegenübergestellt wird, ob es besser sei, daß das Volk Getreide erhalte oder nicht erhalte, und jemand gewissenhaft und genau aufzählt, welche Vorteile in der einen Möglichkeit liegen, dabei aber übergeht, welche Nachteile in der anderen Möglichkeit liegen und welche er abgeschwächt haben möchte, oder nur die unbedeutendsten davon nennt." 7 Ebenso ist es fehlerhaft, beim Vergleich von Sachverhalten es für unumgänglich zu halten, den einen Sachverhalt zu tadeln, während man den anderen lobt. Ein Beispiel dafür ist: Wenn gefragt wird, wem größere Ehre zu erweisen sei, den Albensern oder Pennensischen Vestinern, dafür daß sie dem Staat und dem römischen Volk nützten, 128 und der Redner die einen davon beleidigt. Es ist nämlich nicht nötig, wenn man die einen bevorzugt, die anderen zu tadeln; es ist nämlich möglich, wenn man die einen mehr lobt, auch den anderen ein gewisses Maß an Lob zuzuerkennen, damit man nicht den Eindruck erweckt, man kämpfe mit Leidenschaft entschieden gegen die Wahrheit. Ebenso ist es fehlerhaft, auf eine Benennung oder auf ein Wort eine Streitfrage aufzubauen, ein Punkt, den am besten Übung beurteilen kann. 129 So hatte z. B. Sulpicius ursprünglich Einspruch dagegen erhoben, daß Verbannte, denen es nicht erlaubt war, sich vor Gericht zu verteidigen, zurückgeführt wurden; später änderte er seine Meinung und sagte, als er genau dasselbe Gesetz beantragte, sein Antrag ziele auf etwas anderes wegen einer Änderung der Benennungen; denn er sagte, er führe nicht Verbannte, sondern gewaltsam Ausgestoßene zurück. 130 Als ob darüber ein Streit gewesen wäre, mit welchen Benennungen jene Leute zu bezeichnen seien, oder als ob nicht alle Menschen, die geächtet sind, Verbannte genannt würden. Aber vielleicht sehen wir es jenem Redner nach, wenn er aus gutem Grunde so vorging; wir aber wollen erkennen, daß es fehlerhaft ist, einen Streit anzufangen wegen abweichender Benennungen.

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Quoniam exornatio constat ex similibus et exemplis et rebus iudicatis et amplificationibus et ceteris rebus, quae pertinent ad exaugendam et conlocupletandam argumentationem, quae sint his rebus vitia, consideremus. Simile vitiosum est, quod de aliqua parte dissimile est nec habet parem rationem conparationis aut sibi ipsi obest, qui adfert. Exemplum vitiosum est, si aut falsum est, ut reprehendatur, aut inprobum, ut non sit imitandum, aut maius aut minus, quam res postulat. Res iudicata vitiose proferetur, si aut dissimili de re proferetur, aut de ea re, qua de controversia non est, aut inproba, aut eiusmodi, ut aut plures aut magis idoneae res iudicatae ab adversariis proferri possint. Item vitiosum est id, quod adversarii factum esse confiteantur, de eo argumentari et planum facere factum esse; nam id augeri oportet. Item vitiosum est id augere, quod convenit docere, hoc modo: ut si quis quem arguat hominem occidisse et, antequam satis idoneas argumentationes attulerit, augeat peccatum et dicat nihil indignius esse quam hominem occidere. Non enim utrum indignum sit an non, sed factumne sit quaeritur. Conplexio vitiosa est, quae non, ut quidque primum dictum est, primum conplectitur, et quae non breviter concluditur, et quae non ex enumeratione certum et constans aliquid relinquit, ut intellegatur, quid propositum in argumentatione sit, quid deinde ratione, quid confirmatione, quid tota argumentatione demonstratum.

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D a nun die Ausschmückung aus Gleichnissen, Beispielen, richterlichen Vorentscheidungen, Steigerungen und den übrigen Mitteln besteht, die darauf abzielen, die Beweisführung zu verstärken und zu bereichern, wollen wir betrachten, welche Fehler es dabei gibt. Ein Gleichnis ist fehlerhaft, das in irgendeiner Hinsicht nicht paßt und das keine angemessene Durchführung des Vergleiches aufweist oder das demjenigen selbst schadet, der es anführt. 131 Ein Beispiel ist fehlerhaft, wenn es entweder falsch ist, so daß es widerlegt wird, oder wenn es verwerflich ist, so daß man es nicht nachahmen darf, oder wenn es bedeutender oder unbedeutender ist, als es die Sache verlangt. 1 ' 2 Eine richterliche Vorentscheidung bringt man fehlerhaft vor, wenn man sie von einem unähnlichen Fall vorbringt oder von einem Fall, worüber es keinen Streit gibt, oder von einem verwerflichen Fall oder von einem derartig gelagerten Fall, daß dazu mehr oder zutreffendere richterliche Vorentscheide von der Gegenpartei vorgebracht werden können.' 3 3 Ebenso ist es fehlerhaft, für eine Tat, die die Gegenpartei zugibt, Beweise anzuführen und deutlich zu machen, daß sie verübt wurde; denn diese Tat muß nur vergrößert dargestellt werden. 1 3 4 Ebenso ist es fehlerhaft, das vergrößert darzustellen, was man erst nachweisen soll, 1 3 ' wie z. B. auf folgende Weise: Wenn man einen beschuldigt, einen Menschen getötet zu haben, und bevor man genügend treffende Beweise angeführt hat, das Verbrechen vergrößert darstellt und sagt, nichts sei empörender als einen Menschen zu töten. Es fragt sich nämlich nicht, ob die Tat empörend ist oder nicht, sondern nur, ob sie begangen wurde. Eine Zusammenfassung ist fehlerhaft, die nicht zuerst zusammenfaßt, was zuerst gesagt wurde, und die nicht kurz und bündig abgeschlossen wird,' 3 6 und die nicht von der Aufzählung ein bestimmtes und feststehendes Ergebnis hinterläßt, so daß man erkennt, was in der Beweisführung angekündigt, was dann in der Begründung, was in der Bekräftigung, was in der ganzen Beweisführung dargelegt wurde.

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Conclusiones, quae apud Graecos epilogi nominantur, tripertitae sunt. Nam constant ex enumeratione, amplificatione et conmiseratione. Quattuor locis uti possumus conclusionibus: in principio, secundum narrationem, secundum firmissimam argumentationem, in conclusione. Enumerado est, per quam colligimus et commonemus, quibus de rebus verba fecerimus, breviter, ut renovetur, non redintegretur oratio: et ordine, ut quicque erit dictum, referemus, ut auditor, si memoriae mandaverit, ad idem, quod ipse meminerit, reducatur. Item curandum est, ne aut ab exordio aut narratione repetatur orationis enumerado. Ficta enim et dedita opera conparata oratio videbitur esse artificii significandi, ingenii venditandi, memoriae ostendendae causa. Quapropter initium enumerationis sumendum est a divisione. Deinde ordine breviter exponendae res sunt, quae tractatae erunt in confirmatione et confutatione.

Amplificatio est res, quae per locum communem instigationis auditorum causa sumitur. Loci communis ex decern praeceptis commodissume sumentur adaugendi criminis causa. Primus locus sumitur ab auctoritate, cum commemoramus, quantae curae ea res fuerit diis inmortalibus aut maioribus nostris, regibus, civitatibus, nationibus, hominibus sapientissimis, senatui; item maxime, quo modo de his rebus legibus sanctum sit. Secundus locus est, cum consideramus, illae res, de quibus criminamur, ad quos pertineant: utrum ad omnes, quod atrocissimum est, an ad superio-

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Die Schlüsse, die bei den Griechen e p i l o g i heißen, sind dreigeteilt.137 Denn sie bestehen aus der Aufzählung, der Steigerung und der Erregung von Mitleid. An vier Stellen der Rede können wir Schlüsse anwenden: in der Vorrede, nach der Darlegung des Sachverhaltes, nach der kräftigsten Beweisführung, am Redeschluß. Die Aufzählung' 38 ist eine Möglichkeit, wodurch wir die Punkte zusammenfassen und in Erinnerung bringen, worüber wir gesprochen haben, und zwar nur kurz, damit die Rede ins Gedächtnis zurückgerufen, nicht wiederholt wird; und wir bringen die einzelnen Punkte in der Reihenfolge vor, in der sie gesagt wurden, damit der Zuhörer, wenn er sie sich eingeprägt hat, zu denselben Punkten zurückgeführt wird, an die er sich selbst erinnert. Ebenso ist darauf zu achten, daß die Aufzählung nicht bis zur Einleitung oder bis zur Darlegung des Sachverhaltes zurückführt. Nur erfunden und unter großer Mühe vorbereitet'39 scheint so eine Rede zu sein mit dem Ziel, seine Kunstfertigkeit zu zeigen, seinen Geist zur Schau zu stellen, seine Gedächtniskraft sehen zu lassen. Deswegen darf die Aufzählung erst bei der Gliederung des Stoffes einsetzen. Danach muß man der Reihe nach kurz die Punkte darlegen, die in der Bekräftigung und Widerlegung behandelt wurden. Die Steigerung'40 ist das Mittel, welches mit Hilfe eines Gemeinplatzes zur Anstachelung der Zuhörer angewandt wird. Gemeinplätze nimmt man sehr vorteilhaft aus zehn Anleitungen,'4' um die Anschuldigung zu vergrößern. Der erste Gemeinplatz wird von einem Vorbild hergenommen, wenn wir erwähnen, wie sehr sich um diese Angelegenheit die unsterblichen Götter oder unsere Vorfahren, Könige, Staaten, Völkerschaften, die weisesten Männer, der Senat gekümmert haben; ebenso vor allem, wie darüber gesetzliche Bestimmungen getroffen worden seien. Der zweite Gemeinplatz ist,' 42 wenn wir in Betracht ziehen, gegen wen sich die Taten richten, deretwegen wir Anklage erheben; ob gegen alle, was das Furchtbarste ist; ob gegen Höhergestellte, wozu die gehören, von denen man die

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res, quod genus ii sunt, a quibus auctoritatis locus communis sumitur, an ad pares, hoc est in isdem partibus animi, corporis, fortunarum positos, an ad inferiores, qui his omnibus rebus antecelluntur. Tertius locus est, quo percontamur, quid sit eventurum, si omnibus idem concedatur, et ea re neglecta ostendemus, quid periculorum atque incommodorum consequatur. Quartus locus est, quo demonstratur, si huic sit remissum, multos alacriores ad maleficia futuros, quos adhoc expectatio iudicii remoratur. Quintus locus est, per quem ostendimus, si sententia aliter iudicatum sit, nullam rem fore, quae non commodum iudicium corrigere possit. Q u o in loco non incommodum erit uti ceterarum rerum conparatione, ut ostendamus alias res posse aut vetustate sedari aut Consilio corrigi, huius rei aut leniendae aut corrigendae nullam rem adiumento futuram.

Sextus est locus, quom ostendimus et consulto factum et dicimus voluntario facinori nullam esse excusationem, inprudentiae et iustam deprecationem paratam. Septimus locus est, quo ostendimus taetrum facinus, crudele, nefarium, tyrannicum esse: quod genus iniuria mulierum aut earum rerum aliquid, quarum rerum causa bella suscipiuntur et cum hostibus de vita dimicatur. Octavus locus est, quo ostendimus non vulgare, sed singolare esse maleficium, spurcum, nefarium, inusitatum; quo maturius et atrocius vindicandum est.

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Gemeinplätze des Vorbildes hernimmt; oder gegen Gleichgestellte, d. h. gegen Menschen, die in denselben Verhältnissen des Geistes, des Körpers, des äußeren Besitzes stehen; 143 oder gegen Niedrigergestellte, die in all diesen Beziehungen übertroffen werden. Der dritte Gemeinplatz ist der,' 4 4 durch den wir fragen, was geschähe, wenn allen dasselbe erlaubt würde; und wenn dies zu wenig beachtet wird, weisen wir darauf hin, welche Gefahren und Nachteile die Folgen davon wären. Der vierte Gemeinplatz ist der, 145 durch den dargetan wird, wenn man diesem seine Tat hingehen ließe, würden viele mit größerem Eifer Freveltaten begehen, welche bis jetzt noch die Erwartung eines Gerichtsverfahrens zurückhält. Der fünfte Gemeinplatz ist der,' 4 6 durch den wir nachweisen, falls durch einen Spruch anders geurteilt worden sei, werde es nichts geben, was das nicht angemessene Urteil in Ordnung bringen könne. Bei diesem Gemeinplatz ist es nicht unvorteilhaft, einen Vergleich mit sonstigen Fällen anzustellen, um nachzuweisen, daß in anderen Fällen die Angelegenheit durch das Alter beigelegt oder durch Einsicht verbessert werden könne; um aber in unserer Angelegenheit eine falsche Entscheidung abzumildern oder zu verbessern, dazu helfe kein Mittel. Der sechste Gemeinplatz ist es,' 4 7 wenn wir nachweisen, die Tat sei mit Absicht begangen worden, und wenn wir sagen, für eine freiwillige Tat gebe es keine Entschuldigung und nur für eine unbeabsichtigte Handlung stehe eine gerechtfertigte Abbitte zu Gebote. Der siebte Gemeinplatz ist der,' 48 durch den wir nachweisen, es sei eine garstige, grausame, frevelhafte, tyrannische Tat; dazu gehört etwa die Vergewaltigung von Frauen oder etwas derartiges, um dessetwillen man Kriege beginnt und mit den Feinden um das Uberleben kämpft. Der achte Gemeinplatz ist der, 149 durch den wir nachweisen, das Verbrechen sei nicht gewöhnlich, sondern einzigartig, unflätig, frevelhaft, ganz ungewöhnlich; deswegen müsse man es um so geschwinder und grimmiger ahnden.

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Nonus locus est, qui constat ex peccatorum conparatione, quasi cum dicemus maius esse maleficium stuprare ingenuum quam sacrum legere, quod alterum propter egestatem, alteram propter intemperantem superbiam fiat. Decimus locus est, per quem omnia, quae in negotio gerundo acta sunt quaeque rem consequi soient, exponemus acriter et criminose et diligenter, ut agi res et geri negotium videatur rerum consequentium enumeratione. Misericordia commovebitur auditoribus, si variam fortunarum commutationem dicemus, si ostendemus, in quibus commodis fuerimus quibusque incommodis simus, conparatione; si quae nobis futura sint, nisi causam optinuerimus, enumerabimus et ostendemus; si supplicabimus et nos sub eorum, quorum misericordiam captabimus, potestatem subiciemus: si, quid nostris parentibus, liberis, ceteris necessariis casurum sit propter nostras calamitates, aperiemus et simul ostendemus illorum nos sollicitudine et miseria, non nostris incommodis dolere; si de dementia, humanitate, misericordia nostra, qua in alios usi sumus, aperiemus; si nos semper aut diu in malis fuisse ostendemus; si nostrum fatum aut fortunam conqueremur; si animum nostrum fortem, patientem incommodorum ostendemus futurum. Conmiserationem brevem esse oportet, nihil enim lacrima citius arescit. Fere locos obscurissimos totius artificii tractavimus in hoc libro: quapropter huic volumini modus hie sit: reliquas praeceptiones, quoad videbitur, in tertium librum transferemus. Haec si, ut conquisite conscripsimus, ita tu diligenter fueris consecutus, et nos industriae fructus ex tua con-

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Der neunte Gemeinplatz ist der,' 50 der aus einem Vergleich von Verfehlungen besteht, beispielsweise wenn wir sagen, es sei ein schlimmeres Verbrechen, einen Freigeborenen zu schänden als ein geweihtes Gut zu entwenden, weil das letztere aus Not verübt wurde, das erste aber aus unbeherrschtem Hochmut. Der zehnte Gemeinplatz ist der, 1 ' 1 durch den wir alles, was bei der Durchführung der Tat geschah, und was gewöhnlich auf die Sache folgt, scharfsinnig, vorwurfsvoll und gewissenhaft darlegen, so daß man sieht, wie die Sache betrieben und die Tat durchgeführt wurde, wobei man die daraus folgenden Ereignisse aufzählt. Mitleid 1 ' 2 erregt man bei den Zuhörern, wenn wir den verschiedenartigen Wechsel des Schicksals ansprechen; wenn wir durch Vergleich nachweisen, in welch glücklicher Lage wir waren und in welch unglücklicher wir jetzt sind; 1 ' 3 wenn wir aufzählen und nachweisen, was uns bevorsteht, wenn wir den Prozeß nicht gewinnen; wenn wir uns aufs Flehen verlegen und uns der Macht derer unterwerfen, deren Mitleid wir erlangen wollen; wenn wir offen darlegen, was unseren Eltern, Kindern und übrigen Verwandten zustoßen wird wegen unseres Unglücks, 1 ' 4 und wenn wir zugleich nachweisen, uns bereite deren Kummer und Unglück, nicht unsere eigene Unbill Schmerz; wenn wir die Milde, Menschlichkeit und das Mitleid offen darlegen, welche wir anderen erwiesen haben; wenn wir nachweisen, daß wir immer oder lange in schlimmen Verhältnissen gelebt haben; wenn wir unser Geschick oder Schicksal beklagen; wenn wir darauf hinweisen, daß unser Herz tapfer und ausdauernd im Unglück sein werde. Die Erregung von Mitleid muß kurz sein; denn nichts trocknet schneller als eine Träne. 1 " Beinahe die dunkelsten Stellen der ganzen Redekunst habe ich in diesem Buch behandelt; deswegen soll diese Schriftrolle hier beendet sein. Die übrigen Anleitungen werde ich, soweit es richtig erscheint, in ein drittes Buch verlegen. Wenn du das ebenso gewissenhaft befolgst, wie ich es mit strenger Auswahl niedergeschrieben habe, werde ich den

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scientia capiemus, et tute nostrani diligentiam laudabis tuaque perceptione laetabere: tu scientior eris praeceptorum artificii, nos alacriores ad reliquum persolvendum. Verum haec futura satis scio, te enim non ignoro. Nos deinceps ad cetera praecepta transeamus ut, quod libentissime faciamus, tuae voluntati rectissime morem geramus.

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Lohn für meinen Fleiß aus deinem Einverständnis gewinnen, und du wirst meine Gewissenhaftigkeit loben und wirst dich über deine Erkenntnis freuen. Du wirst reicher an Wissen in den Vorschriften der Redekunst sein, ich werde mit größerem Eifer darangehen, das zu vollenden, was noch übrig ist. Aber daß es so kommen wird, weiß ich genau; ich kenne dich nämlich sehr gut. So will ich ohne Unterbrechungen zu den übrigen Anleitungen übergehen, um mit größter Freude deinem ganz richtigen Wunsch zu willfahren.

LIBER TERTIUS Ad omnem iudicialem causam quemadmodum conveniret inventionem rerum adcommodari, satis abundanter, ut arbitror, superioribus libris demonstratum est. Nunc earum rationem rerum inveniendarum, quae pertinebant ad causas deliberativas et demonstrativas, in hunc librum transtulimus, ut omnis inveniundi praeceptio tibi quam primum persolveretur. Reliquae quattuor partes erant artificii. De tribus partibus in hoc libro dictum est: dispositione, pronuntiatione, memoria. De elocutione, quia plura dicenda videbantur, in quarto libro conscribere maluimus, quem, ut arbitror, tibi librum celeriter absolutum mittemus, ne quid tibi rhetoricae artis deesse possit. Interea prima quaeque et nobiscum, cum voles, et interdum sine nobis legendo consequere, ne quid inpediare, quin ad hanc utilitatem pariter nobiscum progredi possis. Nunc tu fac attentum te praebeas; nos proficisci ad instituta pergemus. Deliberationes partim sunt eiusmodi, ut quaeratur, utrum potius faciendum sit, partim eiusmodi, ut, quid potissimum faciendum sit, consideretur. Utrum potius, hoc modo: Kartago tollenda an relinquenda videatur. Quid potissimum, hoc pacto: ut si Hannibal consultet, quom ex Italia Kartaginem arcessatur, an in Italia remaneat, an domum redeat, an in Aegyptum profectus occupet Alexandriam.

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Auf welche Weise man bei jeder Gerichtsrede mit der A u f f i n d u n g des Stoffes vorgehen soll, ist, wie ich glaube, in den vorausgehenden Büchern ausführlich genug dargelegt worden. N u n habe ich die Methode der A u f f i n d u n g des Stoffes, die zu den beratenden und darlegenden Reden gehört, auf dieses Buch übertragen, 1 damit die ganze Anleitung zur Auffindung des Stoffes möglichst bald für dich abgeschlossen werde. Übrig bleiben noch vier Teile des Lehrgebäudes. Von drei Teilen wird in diesem Buch gesprochen: der Anordnung des Stoffes, 2 dem Vortrag 3 und dem Sicheinprägen. 4 Uber die stilistische Gestaltung wollte ich, da darüber wohl mehr gesagt werden muß, lieber im 4. Buch schreiben,5 dieses werde ich schnell abschließen und dir schicken, damit dir nichts von dem rhetorischen Lehrwerk fehlt. Inzwischen magst du die jeweils vorausgehenden mit mir, wenn du willst, als auch bisweilen ohne mich lesend durchgehen, damit du nicht irgendwie darin behindert wirst, zu diesem Nutzen auf gleicher Stufe mit mir fortzuschreiten. Nun erweise dich als aufmerksam; ich will fortfahren in den Unterweisungen. Beratende Reden 6 sind teils von der Art, daß man fragt, welche von zwei Handlungen man eher ausführen soll, teils von der Art, daß man in Betracht zieht, welche Handlung man am ehesten ausführen soll. Welche von zwei Handlungen eher, wie z. B. auf folgende Weise: O b man Karthago beseitigen oder bestehen lassen soll. 7 Welche am ehesten, z. B. auf folgende Art: Wenn Hannibal überlegt, wenn er aus Italien nach Karthago zurückgeholt wird, ob er in Italien bleiben, ob er nach Hause zurückkehren, ob er nach Ägypten aufbrechen und Alexandria besetzen soll.8

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Item deliberationes partim ipsae propter se consultandae sunt, ut si deliberei senatus, captivos ab hostibus redimat an non; partim propter aliquam extraneam causam veniunt in deliberationem et consultationem, ut si deliberet senatus bello Punico, solvatne legibus Scipionem, ut eum liceat ante tempus consulem fieri; partim et propter se sunt deliberandae et magis propter extraneam causam veniunt in consultationem, ut si deliberet senatus bello Italico, sociis civitatem det an non.

In quibus causis rei natura faciet deliberationem, omnis oratio ad ipsam rem adcommodabitur; in quibus extranea causa conficiet deliberationem, in his ea ipsa causa erit adaugenda aut deprimenda. O m n e m orationem eorum, qui sententiam dicent, finem sibi conveniet utilitatis proponere, ut omnis eorum ad earn totius orationis ratio conferatur. Utilitas in duas partes in civili consultatione dividitur: tutam, honestam. Tuta est, quae conficit instantis aut consequentis periculi vitationem qualibet ratione. Haec distribuitur in vim et dolum, quorum aut alteram separatine aut utramque sumemus coniuncte. Vis decernitur per exercitus, classes, arma, tormenta, evocationes hominum et alias huiusmodi res. Dolus consumitur in pecunia, pollicitatione, dissimulatione, maturatione, mentitione et ceteris rebus, de quibus magis idoneo tempore loquemur, si quando de re militari aut de administratione rei p. scribere velimus. Honesta res dividitur in rectum et laudabile.

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Ebenso müssen beratende Reden teils selbst ihrer selbst wegen genau überlegt werden, z. B. wenn der Senat berät, ob er die Gefangenen von den Feinden loskaufen soll oder nicht;9 teils kommen sie wegen irgendeiner außerhalb liegenden Ursache zur Beratung und Überlegung, z. B. wenn der Senat im Punischen Krieg berät, ob er Scipio von gesetzlichen Bindungen lösen soll, damit er vor der festgesetzten Zeit Konsul werden könne; 10 teils müssen sie ihrer selbst wegen beraten werden und kommen noch mehr wegen einer außerhalb liegenden Ursache zur Beratung, z. B. wenn der Senat im italischen Krieg berät, ob er den Bundesgenossen das Bürgerrecht verleihen soll oder nicht.11 In den Fällen, in denen die Sachlage eine beratende Rede bewirkt, wird man die ganze Rede auf die Sachlage selbst ausrichten; in den Fällen aber, in denen eine außerhalb liegende Ursache die beratende Rede zustande bringt, in diesen wird man eben diese Ursache vergrößern oder niederhalten müssen. Die ganze Rede derer, die ihre Meinung vortragen, muß sich den Nutzen 12 zum Ziele setzen, so daß der gesamte Aufbau ihrer Rede darauf hinstrebt. Der Nutzen wird bei einer öffentlichen Belange betreffenden Überlegung in zwei Arten unterteilt: Sicherheit und Ehrenhaftigkeit. Sicher ist der Nutzen, der bewirkt, daß eine schon vorhandene oder noch bevorstehende Gefahr auf jede beliebige Art und Weise vermieden wird. Dieser wird eingeteilt in Gewalt und List, von denen wir entweder eine getrennt oder beide zusammen in Anspruch nehmen. Die Gewalt wird verliehen durch Heere, Flotten, Waffen, Geschütze, das Aufgebot von Männern und andere derartige Vorkehrungen. Die List wird ausgeübt durch Geld, Versprechung, Vorstellung, Beschleunigung, Lüge und die übrigen Mittel, über die ich zu geeigneter Zeit sprechen werde, wenn ich einmal über Kriegsführung oder die Staatsverwaltung schreiben werde.' 3 Das Ehrenhafte wird unterteilt in das Richtige und Lobenswerte.

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Rectum est, quod cum virtute et officio fit. Id dividitur in prudentiam, iustitiam, fortitudinem, modestiam. Prudentiae est calliditas, quae ratione quadam potest dilectum habere bonorum et malorum. Dicitur item prudentia scientia cuiusdam artificii et appellatur prudentia rerum multarum memoria et usus conplurium negotiorum. Iustitia est aequitas ius uni cuique rei tribuens pro dignitate cuiusque. Fortitudo est rerum magnarum adpetitio et rerum humilium contemptio et laboris cum utilitatis ratione perpessio. Modestia est in animo continens moderatio cupiditatum. Prudentiae partibus utemur in dicendo, si commoda cum incommodis conferemus, cum alterum sequi, vitare alterum cohortemur; aut si qua in re cohortabimur aliquid, cuius rei aliquam disciplinam poterimus habere, quo modo aut qua quidque ratione fieri oporteat; aut si suadebimus quippiam, cuius rei gestae aut praesentem aut auditam memoriam poterimus habere; qua in re facile id, quod velimus, exemplo allato persuadere possumus.

Iustitiae partibus utemur, si aut innocentium aut supplicium misereri dicemus oportere; si ostendemus bene merentibus gratiam referri convenire; si demonstrabimus ulcisci male meritos oportere; si fidem magnopere censebimus conservandam; si leges et mores civitatis egregie dicemus oportere servari; si societates atque amicitias studiose dicemus coli convenire; si quod ius in parentis, deos, patriam natura conparavit, id religiose colendum

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Richtig 14 ist, was mit Tugend und Pflichtgefühl getan wird. Es wird unterteilt in Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Selbstbeherrschung. 1 ' Klugheit ist die Schlauheit, welche nach einer bestimmten Überlegung eine Wahl treffen kann zwischen Gut und Böse. Ebenso nennt man Klugheit die Kenntnis einer gewissen Kunstfertigkeit; als Klugheit bezeichnet man das Festhalten vieler Dinge im Gedächtnis und die Beherrschung mehrerer Tätigkeiten.' 6 Die Gerechtigkeit ist die Billigkeit, die jedem einzelnen sein Recht zuteilt je nach dem Verdienst eines jeden.' 7 Die Tapferkeit ist das Streben nach Großem und das Verachten von Niedrigem und das Erdulden von Mühe im Hinblick auf den Nutzen. 18 Die Selbstbeherrschung ist eine Mäßigung, die die Begierden im Herzen beherrscht.' 9 Die Gesichtspunkte der Klugheit wenden wir in der Rede an, wenn wir Vorteile mit Nachteilen vergleichen, wenn wir dazu auffordern, das eine zu erstreben, das andere zu vermeiden; oder wenn wir in irgendeiner Angelegenheit, in der wir einige Kenntnis haben können, irgendwie dazu auffordern, auf welchem Weg oder auf welche Weise etwas geschehen müsse; oder wenn wir zu einem Vorhaben raten, von dessen Durchführung wir entweder aus eigener Anschauung oder vom Hörensagen Kenntnis haben können; dabei können wir leicht zu dem, was wir wollen, überreden, indem wir ein Beispiel anführen. Die Gesichtspunkte der Gerechtigkeit wenden wir an, wenn wir sagen, man müsse sich der Schuldlosen oder der demütig Bittenden erbarmen; wenn wir darauf hinweisen, man müsse denen, die sich Verdienste erworben haben, Dank abstatten; wenn wir darlegen, man müsse die bestrafen, die sich schuldig gemacht haben; wenn wir die Meinung vertreten, ein Versprechen müsse unter allen Umständen gehalten werden; wenn wir sagen, die Gesetze und Sitten 20 des Staates müßten genau beachtet werden; wenn wir sagen, Bündnisse und Freundschaften müßten mit Eifer gepflegt werden; wenn wir darlegen, das Recht, welches die Natur den Eltern, den Göttern, dem Vaterland gegenüber geschaf-

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demonstrabimus; si hospitia, clientelas, cognationes, adfinitates caste colenda esse dicemus; si nec pretio nec gratia nec periculo nec simultate a via recta ostendemus deduci oportere; si dicemus in omnibus aequabile ius statui convenire. His atque huiusmodi partibus iustitiae si quam rem in condone aut in Consilio faciendam censebimus, iustam esse ostendemus, contrariis iniustam. Ita fiet, ut isdem locis et ad suadendum et ad dissuadendum simus conparati.

Sin fortitudinis retinendae causa faciendum esse dicemus, ostendemus res magnas et celsas sequi et appeti oportere; et item res humiles et indignas viris fortibus viros fortes propterea contemnere oportere nec idoneas dignitate sua iudicare. Item ab nulla re honesta periculi aut laboris magnitudine deduci oportere; antiquiorem mortem turpitudine haberi; nullo dolore cogi, ut ab officio recedatur; nullius pro rei veritate metuere inimicitias; quodlibet pro patria, parentibus, hospitibus, amicis, iis rebus, quas iustitia colere cogit, adire periculum et quemlibet suscipere laborem.

Modestiae partibus utemur, si nimias libidines honoris, pecuniae, similium rerum vituperabimus; si unam quamque rem certo naturae termino definiemus; si, quoad cuique satis sit, ostendemus, nimium progredi dissuadebimus, modum uni cuique rei statuemus.

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fen hat, müsse gewissenhaft gepflegt werden; wenn wir sagen, Gastfreundschaften, Klientelschaften, Blutsverwandtschaften und Verwandtschaften durch Heirat müßten uneigennützig gepflegt werden; wenn wir darauf hinweisen, man dürfe sich durch keine Belohnung, durch keine Gunst, durch keine Gefahr und durch keine Feindschaft vom rechten Weg abbringen lassen; wenn wir sagen, in allen Bereichen müsse gleiches Recht festgelegt werden. Wenn wir in einer Volksoder Ratsversammlung die Meinung vertreten, mit diesen oder derartigen Gesichtspunkten der Gerechtigkeit müsse eine Angelegenheit durchgeführt werden, weisen wir darauf hin, daß sie gerecht, wenn mit gegensätzlichen Gesichtspunkten, daß sie ungerecht ist. Das Ergebnis wird dann sein, daß wir mit denselben Gemeinplätzen dazu gerüstet sind, dafür und dagegen zu sprechen. Wenn wir aber sagen, etwas müsse getan werden, um die Tapferkeit zu wahren, werden wir darauf hinweisen, man müsse große und erhabene Ziele verfolgen21 und anstreben; und ebenso, daß tapfere Männer niedrige und tapferer Männer unwürdige Ziele deswegen verachten und ihrer Würde nicht für angemessen halten müßten. Ebenso dürfe man sich von keiner ehrenhaften Sache durch die Größe der Gefahr oder Anstrengung abbringen lassen; der Tod müsse höher stehen als die Schande; durch keinen Schmerz dürfe man gezwungen werden, vor der Pflichterfüllung zurückzuweichen; für die Wahrheit dürfe man in keiner Angelegenheit Anfeindungen fürchten; für das Vaterland, die Eltern, die Gastfreunde, die Freunde, für die Dinge, welche die Gerechtigkeit zu pflegen zwingt, müsse man jegliche Gefahr auf sich nehmen und sich jeglicher Anstrengung unterziehen. Die Gesichtspunkte der Selbstbeherrschung wenden wir an, wenn wir übertriebenes Verlangen nach Ehre, Geld und ähnlichem tadeln; wenn wir jede einzelne Sache durch die sichere Grenze der Natur beschränken; wenn wir darauf hinweisen, wie weit einem jeden etwas genügen müsse, und davon abraten, allzu weit zu gehen, und wenn wir jeder einzelnen Sache ein Maß setzen.

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Huiusmodi partes sunt omnibus verbis adtenuandae, si ab his dehortabimur, ut haec adtenuentur, quae demonstravi. Nam nemo erit, qui censeat a virtute recedendum; verum aut res non eiusmodi dicatur esse, ut virtutem possimus egregiam experiri, aut in contrariis potius rebus quam in his virtus constare ostendatur. Item, si quo pacto poterimus, quam is, qui contra dicet, iustitiam vocabit, nos demonstrabimus ignaviam esse et inertiam ac pravam liberalitatem; quam prudentiam appellant, ineptam et garrulam et odiosam scientiam esse dicemus; quam ille modestiam dicet esse, earn nos inertiam et dissolutam neglegentiam esse dicemus; quam ille fortitudinem nominarit, earn nos gladiatoriam et inconsideratam appellabimus temeritatem.

Laudabile est, quod conficit honestam et praesentem et consequentem commemorationem. Hoc nos non eo separavimus, quod partes virtutum, quae subiciuntur sub vocabulum recti, hanc honestam commemorationem dare non soleant, sed quamquam ex recto laudabile nascitur, tamen in dicendo seorsum tractandum est hoc ab ilio: neque enim solum laudis causa rectum sequi convenit, sed si laus consequitur, duplicatur recti adpetendi voluntas. Cum igitur erit demonstratum rectum esse, laudabile esse demonstrabimus aut ab idoneis hominibus - ut si qua res honestiori ordini placeat, quae a deteriore ordine inprobetur - aut quibus sociis aut omnibus civibus, exteris nationibus, posterisque nostris. Cum huiusmodi divisio sit locorum in consultatione, breviter aperienda erit totius tractatio causae.

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Derartige Gesichtspunkte müssen mit allen Worten abgeschwächt werden, wenn wir vor alledem warnen, damit diejenigen Gesichtspunkte abgeschwächt werden, welche ich oben dargelegt habe. 22 Denn es wird niemanden geben, der die Meinung vertritt, man dürfe von der Tugend abweichen; aber man mag entweder sagen, die Angelegenheit sei nicht von der Art, daß man eine herausragende Tugend erkennen kann, oder man weise darauf hin, die Tugend sei eher in den gegenteiligen Eigenschaften vorhanden als in diesen. Ebenso werden wir, wenn wir irgendwie können, darlegen, daß die Eigenschaft, die der gegnerische Redner Gerechtigkeit nennt, Feigheit sei, Trägheit und verkehrte Freigebigkeit; wir werden sagen, die Eigenschaft, die er Klugheit nennt, sei abgeschmacktes, geschwätziges und widerwärtiges Besserwissen; die Eigenschaft, die er Selbstbeherrschung nennt, werden wir Trägheit und gleichgültige Nachlässigkeit nennen; die er als Tapferkeit benennt, werden wir als gladiatorenmäßige, unbesonnene Tollkühnheit bezeichnen. 23 Lobenswert ist, was eine ehrenhafte Erwähnung in der Gegenwart und in der Zukunft bewirkt. Dies habe ich nicht deswegen getrennt, weil die Teile der Tugenden, die dem Wort „das Richtige" untergeordnet werden, 24 diese ehrenhafte Erwähnung nicht hervorzurufen pflegten, sondern obwohl aus dem Richtigen das Ehrenhafte hervorgeht, muß dennoch in einer Rede das letztere vom ersten getrennt behandelt werden. Denn das Richtige soll man nicht nur um des Lobes willen verfolgen, aber wenn Lob dazukommt, wird der Wunsch, das Richtige zu erstreben, verdoppelt. Wenn wir also dargelegt haben, daß etwas richtig ist, werden wir darlegen, daß es lobenswert ist, indem wir entweder von geeigneten Menschen ausgehen - z.B. wenn eine Sache einem höher geachteten Stand gefällt, die von einem niedrigeren Stand nicht gebilligt wird - oder von irgendwelchen Bundesgenossen oder von allen Mitbürgern, auswärtigen Nationen und unseren Nachkommen. Da eine derartige Einteilung der Einzelpunkte in der Beratung vorliegt, muß die Behandlung des ganzen Falles kurz erörtert werden.

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Exordiri licebit vel a principio vel ab insinuatione vel isdem rationibus, quibus in iudiciali causa. Si cuius rei narratio incidet, eadem ratione narrari oportebit. Quoniam in huiusmodi causis finis est utilitas et ea dividitur in rationem tutam atque honestam, si utrumque poterimus ostendere, utrumque pollicebimur nos in dicendo demonstraturos esse; sin alteram, quod dicturi sumus, ostendemus. At si nostram rationem tutam esse dicemus, divisione utemur in vim et consilium. Nam quod in docendo rei dilucide magnificandae causa dolum appellavimus, id in dicendo honestius consilium appellabimus. Si rationem nostrae sententiae rectam esse dicemus et omnes partes recti incident, quadripertita divisione utemur: si non incident, quot erunt, tot exponemus in dicendo.

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Confirmatione et confutatione utemur nostris locis, quos ante ostendimus, confirmandis, contrariis confutandis. Argumentationis artificiose tractandae ratio de secundo libro petetur.

Sed si accident, ut in consultatione alteri ab tuta ratione, alteri ab honesta sententia sit, ut in deliberatione eorum, qui a Poeno circumsessi deliberant, quid agant, qui tutam rationem sequi suadebit, his locis utetur: Nullam rem utiliorem esse incolumitate; virutibus uti neminem posse, qui suas rationes in tuto non conlocarit; ne deos quidem esse auxilio is, qui se inconsulto in periculum mittant; honestum nihil oportere existimari, quod non saluterei pariat.

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Die Einleitung darf man gestalten entweder in Form der Vorrede oder der Einschmeichelung 2 ' oder auf dieselbe Weise wie in der Gerichtsrede. Wenn die Darlegung irgendeines Sachverhaltes hinzukommt, darf man diesen in derselben Weise darlegen. Da ja in derartigen Fällen das Ziel der Nutzen ist und dieser in Sicherheit und Ehrenhaftigkeit unterteilt wird, 26 werden wir, wenn wir auf beides hinweisen können, versprechen, daß wir in der Rede beides darlegen werden; wenn aber nur auf das eine davon, werden wir nur auf das hinweisen, was wir sagen werden. Aber wenn wir sagen, daß es uns um die Sicherheit gehe, werden wir die Unterteilung in Gewalt und überlegende Planung anwenden. Denn was ich bei der Belehrung, um die Sache deutlich herauszustellen, als List bezeichnet habe, das werde ich bei der Rede als überlegende Planung bezeichnen. Wenn wir sagen, die Begründung unserer Meinung sei richtig, und alle Gesichtspunkte des Richtigen vorkommen, wenden wir die vierfache Teilung an; wenn sie nicht vorkommen, werden wir nur so viele in der Rede darstellen, wie es sind. Die Bekräftigung und Widerlegung wenden wir an bei der Bekräftigung unserer Gesichtspunkte, auf die wir vorher hingewiesen haben, und bei der Widerlegung der gegensätzlichen Gesichtspunkte. Die Methode der kunstvollen Durchführung der Beweisführung wird dem 2. Buch entnommen. 27 Aber wenn der Fall eintritt, daß bei einer Überlegung der eine bei seiner Meinungsäußerung von der Sicherheit, der andere von der Ehrenhaftigkeit ausgeht, so wie bei der Beratung derer, welche, da sie von den Puniern eingeschlossen sind, beraten, was sie tun sollen, 28 wird der, welcher rät, die Sicherheit zu verfolgen, folgende Gesichtspunkte anwenden: Nichts sei nützlicher als die Unversehrtheit; Tugenden könne niemand zur Entfaltung bringen, der seine Überlegungen nicht auf Sicherheit gründe; nicht einmal die Götter brächten denen Hilfe, die sich unbedacht in Gefahr stürzten; für ehrenhaft dürfe man nichts halten, was nicht Wohlergehen bewirke.

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Q u i tutae rei praeponet rationem honestam, his locis utetur: Virtutem nullo tempore relinquendam: vel dolorem, si is metuatur, vel mortem, si ea formidetur, dedecore et infamia leviorem esse; considerare, quae sit turpitudo consecutura - at non inmortalitatem neque aeternam incolumitatem consequi, nec esse exploratum ilio vitato periculo nullum in aliud periculum venturos; virtute vel ultra mortem proficisci esse praeclarum; fortitudini fortunam quoque esse adiumento solere; eum tute vivere, qui honeste vivat, non qui in praesentia incolumis, et eum, qui turpiter vivat, incolumem in perpetuum esse non posse.

Conclusionibus fere similibus in his et in iudicialibus causis uti solemus, nisi quod his maxime conducit quam plurima rerum ante gestarum exempla proferre. N u n c ad demonstrativum genus causae transeamus. Quoniam haec causa dividitur in laudem et vituperationem, quibus ex rebus laudem constituerimus, ex contrariis rebus erit vituperatio conparanda. Laus igitur potest esse rerum externarum, corporis, animi. Rerum externarum sunt ea, quae casu aut fortuna secunda aut adversa accidere possunt: genus, educatio, divitiae, potestates, gloriae, civitas, amicitiae, et quae huiusmodi sunt et quae his contraria. Corporis sunt ea, quae natura corpori adtribuit commoda aut incommoda: velocitas, vires, dignitas, valetudo et quae contraria sunt. Animi sunt ea, quae Consilio et cogitatione nostra constant: prudentia, iustitia, fortitudo, modestia et quae contraria sunt.

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Wer der Sicherheit die Ehrenhaftigkeit vorzieht, wendet folgende Gesichtspunkte an: Von der Tugend dürfe man sich zu keiner Zeit lossagen; entweder Schmerz, wenn man sich davor fürchtet, oder der Tod, wenn man vor diesem Angst hat, falle weniger ins Gewicht als Schmach und Schande; man ziehe in Betracht, welcher Schimpf folgen werde - aber Unsterblichkeit und ewige Unversehrtheit würden nicht folgen, und es sei auch nicht ermittelt, daß man, wenn man jene Gefahr vermieden habe, in keine andere Gefahr geraten werde; durch Tugend sogar über den Tod hinauszugehen sei prächtig; die Tapferkeit werde gewöhnlich auch vom Glück unterstützt; 2 ' der lebe in Sicherheit, welcher ehrenhaft lebt, und nicht der, welcher im Augenblick unversehrt ist, und andererseits könne der, welcher schimpflich lebt, nicht auf Dauer unversehrt sein. Den Schluß gestalten wir in diesen Reden gewöhnlich fast ähnlich wie in Gerichtsreden, 30 abgesehen davon, daß es für diese Reden sehr zuträglich ist, möglichst viele Beispiele aus bisherigen Geschehnissen anzuführen. Nun will ich zur darlegenden Redegattung 3 ' übergehen. Da ja diese Rede in Lob und Tadel unterteilt ist, muß die tadelnde Rede aus den gegensätzlichen Punkten dazu gebildet werden, aus denen wir die Lobrede zusammenstellen. Das Lob kann also äußere Umstände, den Körper und den Geist betreffen. 32 Zu den äußeren Umständen zählt man das, was durch Zufall oder Schicksal günstig oder ungünstig ausfallen kann: Herkunft, Erziehung, Reichtum, Macht, Ruhm, Bürgerrecht, Freundschaften und dergleichen und die Nachteile, die im Gegensatz dazu stehen. Zu den körperlichen Eigenschaften zählt man die Vorteile und Nachteile, die die Natur dem Körper zugeteilt hat: Schnelligkeit, Kraft, würdevolles Auftreten, Gesundheit und die Gegensätze dazu. Zu den geistigen Eigenschaften zählt man, was auf unserer Überlegung und unserem Denken beruht: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Selbstbeherrschung und die Gegensätze dazu.33

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Erit igitur haec confirmatio et confutatio nobis in huiusmodi causa. Principium sumetur aut ab nostra aut ab eius, de quo loquemur, aut ab eorum, qui audient, persona aut ab re. Ab nostra, si laudabimus: aut officio facere, quod causa necessitudinis intercedati aut studio, quod eiusmodi virtute sit, ut omnes commemorare debeant velie, aut quod rectum sit aut ex aliorum laude ostendere, qualis ipsius animus sit. Si vituperabimus: aut merito facere, quod ita tractati sumus; aut studio, quod utile putemus esse ab omnibus unicam malitiam atque nequitiam cognosci; aut quod placeat ostendi, quod nobis displiceat ex aliorum vituperatione.

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Ab eius persona, de quo loquemur, si laudabimus: vereri nos, ut illius facta verbis consequi possimus; omnes illius virtutes praedicare oportere; ipsa facta omnium laudatorum eloquentiam anteire. Si vituperabimus, ea, quae videmus contraria paucis verbis commutatis dici posse, dicemus, ut paulo supra exempli causa demonstratum est. Ab auditorum persona, si laudabimus: quoniam non apud ignotos laudemus, nos monendi causa pauca dicturos; aut si erunt ignoti, ut talem virum velint cognoscere, petemus; quoniam in eodem virtutis studio sint, apud quos laudemus, atque ille, qui laudatur, fuerit aut sit, sperare nos facile iis, quibus velimus, huius facta probaturos.

Contraria vituperatio: quoniam norint, pauca

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Damit wird sich also unsere Bekräftigung und Widerlegung in einer derartigen Rede beschäftigen. Die Vorrede geht aus entweder von unserer Person, von der Person dessen, über den wir sprechen, von den Zuhörern oder von der Sache. 34 Ausgehend von unserer Person, wenn wir loben, sagen wir: Wir handelten aus Pflichtgefühl, weil eine persönliche Verbindlichkeit dazukomme; oder aus gutem Eifer, weil der Mann, für den wir sprechen, eine derartige Tugend besitze, daß alle bereit sein müßten, sie ins Gedächtnis zurückzurufen; oder weil es richtig sei, durch das Lob für andere darzutun, wie unsere eigene Meinung sei. Wenn wir tadeln, sagen wir: Wir handelten berechtigterweise, weil wir so behandelt worden seien; oder aus gutem Eifer, weil wir es für nützlich hielten, daß von allen die einzigartige Bosheit und Nichtswürdigkeit erkannt werde; oder weil wir es gut fänden darzutun, was wir am Tadel anderer nicht gut fänden. Ausgehend von der Person dessen, über den wir sprechen, sagen wir, wenn wir loben: Wir fürchteten, daß wir mit Worten nicht an seine Taten heranreichten; alle müßten seine Vorzüge preisen; seine Taten stünden über der Beredsamkeit aller Lobredner. Wenn wir tadeln, sagen wir, was, wie wir sehen, durch die Änderung weniger Worte in gegensätzlicher Absicht gesagt werden kann; das habe ich einige Zeilen weiter oben als Beispiel dargelegt. Ausgehend von den Zuhörern sagen wir, wenn wir loben: Da wir ja nicht vor Leuten, die sich nicht auskennen, eine Lobrede hielten, wollten wir nur weniges sagen, um sie daran zu erinnern; oder wenn sie sich wirklich nicht auskennen, werden wir sie auffordern, sie möchten bereit sein, einen solchen Mann kennenzulernen; da ja die Zuhörer, vor denen wir die Lobrede hielten, ebenso nach Tugend strebten wie der Mann, der gelobt wird, danach gestrebt habe oder strebe, hofften wir, wir könnten denen, um die es uns geht, dessen Taten beifallswert erscheinen lassen. Der Tadel wird im Gegensatz dazu folgendermaßen lau-

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de nequitia eius dicturos, quod si ignorent, petemus, ut cognoscant, uti malitiam vitare possint; quoniam dissimiles sint, qui audiant, atque ille, qui vituperatur, eos illius vitam vehementer inprobaturos. A b rebus ipsis: incertos esse, quid potissimum laudemus; vereri ne, cum multa dixerimus, plura praetereamus; et quae similes sententias habebunt; quibus sententiis contraria sumuntur a vituperatione. Principio tractato aliqua harum, quas ante commemoravimus, ratione, narratio non erit ulla, quae necessario consequatur; sed si qua incident, quom aliquod factum eius, de quo loquemur, nobis narrandum sit cum laude aut vituperatone, praeceptio narrandi de primo libro repetetur.

Divisione hac utemur: exponemus, quas res laudaturi sumus aut vituperaturi; deinde, ut quaeque, quove tempore res erit gesta, ordine dicemus, ut, quid quamque tute cauteque egerit, intellegatur. Sed exponere oportebit animi virtutes aut vitia; deinde commoda aut incommoda corporis aut rerum externarum, quomodo ab animo tractata sint, demonstrare. Ordinem hunc adhibere in demonstranda vita debemus:

A b externis rebus: genus, in laude: quibus maioribus natus sit; si bono genere, parem aut excelsiorem fuisse; si humili genere, ipsum in suis, non in maiorum virtutibus habuisse praesidium; in vitu-

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ten: D a sie ja Bescheid wüßten, wollten wir nur wenig über seine Nichtswürdigkeit sagen; wenn sie nicht Bescheid wissen, werden wir sie auffordern, sich Kenntnisse zu verschaffen, um seiner Schlechtigkeit ausweichen zu können; da ja die Zuhörer dem, der getadelt werde, unähnlich seien, würden sie seinen Lebenswandel heftig mißbilligen. Aber wenn wir von der Sache selbst ausgehen, sagen wir: Wir seien unschlüssig, was wir vor allem loben sollten; wir fürchteten, obwohl wir viel gesagt hätten, noch mehr zu übergehen, und wir sprechen Gedanken aus, die einen ähnlichen Sinn haben. Gegensätzliche Gedanken hierzu führt man bei einer tadelnden Rede an. Ist die Vorrede durchgeführt auf irgendeine von den Arten, die ich oben erwähnt habe, so wird es nicht eine Darlegung des Sachverhaltes sein, die notwendigerweise folgt; aber wenn eine Darlegung des Sachverhaltes ansteht, da wir über eine Tat dessen, über den wir sprechen, berichten müssen, verbunden mit L o b oder Tadel, entnimmt man die Anleitung zur Darlegung des Sachverhaltes dem i.Buch.» Die Gliederung des Stoffes 3 6 wenden wir folgendermaßen an: Wir stellen fest, welche Punkte wir loben oder tadeln werden; dann werden wir der Reihe nach sagen, wie und zu welchem Zeitpunkt sich jeder einzelne Vorgang abspielte, damit man erkennt, was und wie umsichtig und vorsichtig er es getan hat. Aber man wird seine charakterlichen Vorzüge oder Fehler vorstellen müssen; dann muß man darlegen, wie seine körperlichen Vor- oder Nachteile oder die Vor- oder Nachteile der äußeren Umstände von seinem Charakter beeinflußt wurden. Bei der Darlegung seines Lebensweges müssen wir die folgende Reihenfolge einhalten: Ausgehend von den äußeren Umständen erwähnen wir seine Herkunft - in einer Lobrede, von welchen Vorfahren er abstammt; ist er von guter Herkunft, sagen wir, er sei seinen Vorfahren ebenbürtig oder überrage sie; ist er von niederer Herkunft, sagen wir, er habe Schutz gefunden in seinen eigenen Vorzügen, nicht in denen der Vorfahren. In

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peratione: si bono genere, dedecori maioribus fuisse; si malo, tamen his ipsis detrimento fuisse. Educatio in laude: bene et honeste in bonis disciplinis per omnem pueritiam educatum; in vituperatione: inde se retraxisse aperte.

A corporis commodis: natura si sit dignitas atque forma, laudi fuisse earn, non quemadmodum ceteris detrimento atque dedecori; si vires atque velocitas egregia, honestis haec exercitationibus et industriis dicemus conparata; si valetudo perpetua, diligentia et temperantia cupiditatum. In vituperatione, si erunt haec corporis commoda, male his usum dicemus, quae casu et natura tamquam quilibet gladiator habuerit; si non erunt, praeter formam omnia ipsius culpa et intemperantia afuisse dicemus.

Deinde revertemur ad extraneas res, et in his animi virtutes aut vitia, quae fuerint, considerabimus; divitiae an paupertas fuerit, et quae potestates, quae gloriae, quae amicitiae, quae inimicitiae, et quid fortiter inimicitiis gerundis fecerit; cuius causa susceperit inimicitias; qua fide, benivolentia, officio gesserit amicitias; in divitiis qualis aut paupertate cuiusmodi fuerit; quemadmodum habuerit in potestatibus gerundis animum. Si interierit, cuiusmodi mors eius fuerit, cuiusmodi res mortem eius sit consecuta.

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einer tadelnden Rede sagen wir, wenn er von guter Herkunft ist, er habe seinen Vorfahren Schande gemacht; ist er von schlechter Herkunft, sagen wir, sogar diesen Vorfahren habe er geschadet. Was die Erziehung angeht, so sagen wir in einer Lobrede, er sei gut und ehrenhaft, in guten Wissenszweigen die ganze Jugend hindurch erzogen worden. In einer tadelnden Rede sagen wir, er habe sich offenkundig davon zurückgezogen. Ausgehend von körperlichen Vorzügen sagen wir: Wenn er von Natur aus eine würdige Erscheinung und Schönheit besitzt, diese bringe ihm Ehre, nicht wie den übrigen Schaden und Schande; besitzt er Kraft und herausragende Schnelligkeit, werden wir sagen, diese habe er durch ehrenhafte Übungen und Fleiß erworben; besitzt er beständige Gesundheit, durch Gewissenhaftigkeit und Beherrschung der Begierden. In einer tadelnden Rede werden wir sagen, wenn diese körperlichen Vorzüge vorhanden sind, er habe schlechten Gebrauch von diesen Vorzügen gemacht, die er zufällig und von Natur aus besessen habe wie jeder beliebige Gladiator; sind sie nicht vorhanden, werden wir sagen, außer Schönheit hätten ihm alle Vorzüge durch seine eigene Schuld und Unbeherrschtheit gefehlt. Dann kehren wir zu den äußeren Umständen zurück und dabei werden wir die charakterlichen Vorzüge oder Fehler, die vorhanden sind, betrachten; ob Reichtum oder Armut vorhanden war, welche Machtstellung, welcher Ruhm, welche Freundschaft, welche Feindschaft, und was er Tapferes vollbracht habe, indem er Feindschaften ausfocht; um wessen willen er Feindschaften auf sich genommen habe; mit welcher Zuverlässigkeit wohlwollender Gesinnung und Pflichttreue er Freundschaften gepflegt habe; wie er sich im Reichtum beziehungsweise auf welche Art er sich in Armut verhalten habe; welche Gesinnung er bei der Ausübung von Macht gehabt habe. Wenn er gestorben ist, von welcher Art sein Tod gewesen und welches Ereignis auf seinen Tod gefolgt sei.

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Ad omnes autem res, in quibus animus hominis maxime consideratur, illae quattuor animi virtutes erunt adcommodandae; ut, si laudemus, aliud iuste, aliud fortiter, aliud modeste, aliud prudenter factum esse dicamus; si vituperabimus, aliud iniuste, aliud inmodeste, aliud ignave, aliud stulte factum praedicemus. Perspicuum est iam nimirum ex hac disposinone, quemadmodum sit tractanda tripertita divisio laudis et vituperationis, si illud etiam adsumpserimus, non necesse esse nos omnes has partes in laudem aut in vituperationem transferre, propterea quod saepe ne incidunt quidem, saepe ita tenuiter incidunt, ut non sint necessariae dictu. Quapropter eas partes, quae firmissimae videbuntur, legere oportebit. Conclusionibus brevibus utemur, enumeratione ad exitum causae; in ipsa causa crebras et breves amplificationes interponemus per locos communis. Nec hoc genus causae eo, quod raro accidit in vita, neglegentius commendandum est: neque enim id, quod potest accidere, ut faciundum sit aliquando, non oportet velie quam adcommodatissime posse facere; et si separatim haec causa minus saepe tractatur, at in iudicialibus et in deliberativis causis saepe magnae partes versantur laudis aut vituperationis. Quare in hoc quoque causae genere nonnihil industriae consumendum putavimus. Nunc, absoluta a nobis difficillima parte rhetoricae, hoc est inventione perpolita atque ad omne causae genus adcommodata, tempus est ad ceteras partes proficisci. Deinceps igitur de dispositione dicemus.

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Zu allen Umständen aber, in denen die Gesinnung eines Menschen am meisten in Betracht gezogen wird, muß man jene erwähnten Charaktertugenden in Beziehung setzen, in der Weise, daß wir, wenn wir loben, sagen, das eine sei gerecht, anderes tapfer, anderes beherrscht, anderes klug getan worden; wenn wir tadeln, werden wir erklären, das eine sei ungerecht, anderes unbeherrscht, anderes feige, anderes töricht getan worden. 3 7 Klar ersichtlich ist schon ohne Zweifel aus dieser Anordnung, wie die dreigeteilte Gliederung des Stoffes in der Lobrede und tadelnden Rede durchzuführen ist,' 8 wenn wir dazu auch noch berücksichtigen, daß wir nicht notwendigerweise alle diese Gesichtspunkte auf eine Lobrede und tadelnde Rede übertragen müssen, deswegen weil sie oft nicht einmal zutreffen und oft nur so wenig zutreffen, daß es nicht notwendig ist, sie zu erwähnen. Deswegen muß man die Gesichtspunkte auswählen, die als die beweiskräftigsten erscheinen. Den Schluß 39 halten wir kurz, wir verwenden eine Aufzählung am Ende der Rede; in die Rede selbst flechten wir häufige, kurze Steigerungen ein mit Hilfe von Gemeinplätzen. 40 Aber man darf diese Redegattung, deswegen weil sie im Leben selten vorkommt, nicht weniger sorgfältig anempfehlen; denn man muß sehr wohl den Wunsch haben, auch das, was man nur hie und da tun muß, möglichst angemessen zu tun; und wenn auch diese Rede für sich getrennt weniger oft gehalten wird, kommen doch in Gerichts- und beratenden Reden oft große Abschnitte von L o b und Tadel vor. Deshalb muß man, wie ich glaube, 4 ' auch für diese Redegattung nicht unerheblichen Fleiß aufbringen. 42 D a ich nun den schwierigsten Teil der Redekunst, d. h. die durchgefeilte und für jede Redegattung passende Auffindung des Stoffes, erschöpfend behandelt habe, ist es an der Zeit, zu den übrigen Teilen weiterzugehen. Der Reihenfolge nach werde ich also jetzt über die Anordnung des Stoffes sprechen. 43

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Q u o n i a m dispositio est, per quam ilia, quae invenimus, in ordinem redigimus, ut certo quicque loco pronuntietur, videndum est, cuiusmodi rationem in disponendo habere conveniat. Genera dispositionum sunt duo: unum ab institutione artis profectum, alterum ad casum temporis adcommodatum. Ex institutione artis disponemus, cum sequemur earn praeceptionem, quam in primo libro exposuimus, hoc est, ut utamur principio, narratione, divisione, confirmatione, confutatione, conclusione, et hunc ordinem, quemadmodum praeceptum est ante, in dicendo sequamur. Item ex institutione artis non modo totas causas per orationem, sed singulas quoque argumentationes disponemus, quemadmodum in libro secundo docuimus, id est in expositionem, rationem, confirmationem rationis, exornationem, conclusionem.

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Haec igitur duplex dispositio est: una per orationes, altera per argumentationes, ab institutione artis profecta. Est autem alia dispositio, quae, cum ab ordine artificioso recedendum est, oratoris iudicio ad tempus adcommodatur; ut si ab narratione dicere incipiamus aut ab aliqua firmissima argumentatione aut litterarum aliquarum recitatione; aut si secundum principium confirmatione utamur, deinde narratione; aut si quam eiusmodi permutationem ordinis faciemus; quorum nihil, nisi causa postulat, fieri oportebit. N a m si vehementer aures auditorum obtunsae videbuntur atque animi defatigati ab adversariis multitudine verborum, commode poterimus principio supersedere et exordiri causam aut a narratione aut aliqua firma argumenta-

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Da ja die Anordnung des Stoffes die Tätigkeit ist, durch die wir den aufgefundenen Stoff in eine Reihenfolge bringen, damit jeder Punkt an einer bestimmten Stelle vorgetragen wird, muß man darauf sehen, welches Verfahren man bei der Anordnung nehmen soll. Es gibt zwei Arten der Anordnung: die eine, welche von der Lehre der Kunst ausgeht, und die andere, welche dem Zeitumstand angepaßt ist.44 Ausgehend von der Lehre ordnen wir den Stoff an, wenn wir uns an die Anleitung halten, die ich im 1. Buch dargelegt45 habe, d. h. daß wir Vorrede, Darlegung des Sachverhaltes, Gliederung, Bekräftigung, Widerlegung, Schluß anwenden und diese Reihenfolge, wie sie oben vorgeschrieben ist, in der Rede einhalten. Ebenso werden wir, ausgehend von der Lehre der Kunst, nicht nur den ganzen Streitfall über die Rede verteilt anordnen, sondern auch die einzelnen Beweise, wie ich im 2. Buch gelehrt habe; 46 d. h. in die Schilderung, in die Begründung, die Bekräftigung der Begründung, die Ausschmückung, den Schluß. Diese Anordnung ist also eine doppelte: die eine über die Rede verteilt, die andere nur über die Beweisführung; sie geht von der Lehre der Kunst aus. Es gibt aber auch eine andere Anordnung, welche, wenn man von der kunstgemäßen Reihenfolge abweichen muß, nach dem Urteil des Redners an die Zeitumstände angepaßt wird; z. B. wenn wir unsere Rede mit der Darstellung des Sachverhaltes beginnen oder mit irgendeiner sehr kräftigen Beweisführung oder dem Vorlesen irgendeines Schriftstükkes; oder wenn wir unmittelbar nach der Vorrede erst die Bekräftigung bringen, danach die Darlegung des Sachverhaltes; oder wenn wir eine andere derartige Änderung der Reihenfolge vornehmen; davon darf aber nichts geschehen, wenn es nicht der Fall erfordert. Denn wenn die Ohren der Zuhörer schon völlig betäubt scheinen und ihre Sinne erschöpft von den Prozeßgegnern durch eine Fülle von Worten, können wir uns zweckmäßigerweise über die Vorrede hinwegsetzen 47 und die Rede entweder mit der Darlegung des Sachverhaltes beginnen oder mit irgendeiner kräfti-

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tione. Deinde, si c o m m o d u m erit, quod non semper necesse est, ad principii sententiam reverti licebit. Si causa nostra magnam difficultatem videbitur habere, ut nemo aequo animo principium possit audire, ab narratione cum inceperimus, ad principii sententiam revertemur. Si narratio est parum probabilis, exordiemur ab aliqua firma argumentatione. His commutationibus et translationibus saepe uti necesse est, cum ipsa res artificiosam dispositionem artificiose commutare cogit.

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In confirmatione et confutatione argumentationum dispositionem huiusmodi convenit habere: firmissimas argumentationes in primis et in postremis causae partibus conlocare; mediocris et neque inutiles ad dicendum neque necessarias ad probandum, quae, si separatim ac singulae dicantur, infirmae sint, cum ceteris coniunctae firmae et probabiles fiunt, interponi oportet. N a m et statim re narrata expectat animus auditoris, si qua re causa confirmari possit - quapropter continuo firmam aliquam oportet inferre argumentationem - et quoniam nuperrime dictum facile memoriae mandatur, utile est, cum dicere desinamus, recentem aliquam relinquere in animis auditorum bene firmam argumentationem. Haec dispositio locorum, tamquam instructio militum, facillime in dicendo, sicut ilia in pugnando, parere poterit victoriam. Pronuntiationem multi maxime utilem oratori dixerunt esse et ad persuadendum plurimum valere. N o s quidem unum de quinque rebus plurimum posse non facile dixerimus; egregie magnam esse utilitatem in pronuntiatione audacter confirmaverimus. N a m commodae inventiones et concin-

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gen Beweisführung. Darauf kann man, wenn es zweckmäßig ist, was aber nicht immer notwendig ist, auf einen Gedanken für die Vorrede zurückkommen. Wenn unser Fall eine große Schwierigkeit in sich zu bergen scheint, so daß keiner mit Gleichmut die Vorrede hören könnte, dann beginnen wir mit der Darlegung des Sachverhaltes und kommen dann auf einen Gedanken für die Vorrede zurück. Ist die Darlegung des Sachverhaltes zu wenig glaubhaft, dann beginnen wir mit einer kräftigen Beweisführung. Diese Veränderungen und Umstellungen muß man oft notgedrungen vornehmen, wenn die Sache selbst dazu zwingt, die kunstvolle Anordnung kunstvoll zu verändern. Bei der Bekräftigung und der Widerlegung der Beweise soll man folgende Anordnung einhalten: Die kräftigsten Beweise soll man in die ersten und letzten Teile der Rede setzen; mittelmäßige Beweise, die wohl nicht unnütz für die Rede, aber auch nicht zwingend notwendig sind, um einen Nachweis zu liefern, welcher jeder für sich und einzeln angeführt schwach, mit anderen Beweisen verbunden aber kräftig und glaubhaft sind, muß man dazwischenstellen. 48 Denn sofort nachdem der Sachverhalt dargelegt ist, wartet der Zuhörer darauf, ob die Sache auf irgendeine Art begründet werden kann - deswegen muß man unmittelbar darauf einen kräftigen Beweis vorbringen - , und da man sich ja das erst ganz am Ende Gesagte leicht einprägt, ist es nach der übrigen Rede nützlich, wenn wir aufhören zu sprechen, in den Herzen der Zuhörer einen neuen, recht kräftigen Beweis zu hinterlassen. Diese Anordnung der Punkte vermag ebenso wie die Aufstellung der Soldaten sehr leicht bei der Rede, so wie jene im Kampfe, den Sieg zu verschaffen. Daß der Vortrag 49 für den Redner am meisten nützlich ist und am meisten zur Überredung beiträgt, haben schon viele gesagt. Ich nun möchte nicht so leichthin sagen, daß eine von den fünf Fähigkeiten des Redners am meisten vermag; daß aber ein ausnehmend großer Nutzen auf dem Vortrag beruhe, möchte ich kühn behaupten. 50 Denn eine passende Auffindung des Stoffes, eine kunstgerechte stilistische

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nae verborum elocutiones et partium causae artificiosae dispositiones et horum omnium diligens memoria sine pronuntiatione non plus quam sine his rebus pronuntiatio sola valere poterit. Quare, et quia nemo de ea re diligenter scripsit - nam omnes vix posse putarunt de voce et vultu et gestu dilucide scribi, cum eae res ad sensus nostros pertineret - et quia magnopere ea pars a nobis ad dicendum conparanda est, non neglegenter videtur tota res consideranda. Dividitur igitur pronuntiatio in vocis figuram et in corporis motum. Figura vocis est ea, quae suum quendam possidet habitum, ratione et industria conparatum.

Ea dividitur in très partes: magnitudinem, firmitudinem, mollitudinem. Magnitudinem vocis maxime conparat natura; nonnihil auget, sed maxime conservât cura. Firmitudinem vocis maxime conparat cura; nonnihil adauget et maxime conservât exercitatio declamationis. Mollitudinem vocis, hoc est, ut eam torquere in dicendo nostro commodo possimus, maxime faciet exercitatio declamationis. Quapropter de magnitudine vocis et firmitudinis parte, quoniam altera natura paritur, altera cura conparatur, nihil nos adtinet commonere, nisi ut ab iis, qui non inscii sunt eius artificii, ratio curandae vocis petatur. De ea parte firmitudinis, quae conservatur ratione declamationis, et de mollitudine vocis, quae maxime necessaria est oratori, quoniam ea quoque moderatione declamationis conparatur, dicendum videtur. Firmam ergo maxime poterimus in dicendo vocem conservare, si quam maxime sedata et de-

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Gestaltung der Worte, eine kunstvolle Anordnung der Teile der Rede und ein gewissenhaftes Sicheinprägen von alledem ohne den Vortrag kann nicht mehr erreichen als der Vortrag allein ohne diese Fähigkeiten. Weil niemand darüber sorgfältig geschrieben hat' 1 - denn alle glaubten, man könne nicht klar genug über Stimme, Mienen- und Gebärdenspiel schreiben, da diese Dinge zu unseren Sinnen gehören - und weil wir mit viel Mühe diesen Teil für das Halten von Reden bereitstellen müssen, muß man, so scheint es, deswegen die ganze Sache sehr sorgfältig betrachten. Der Vortrag wird also eingeteilt in die Gestaltung der Stimme und die Haltung des Körpers.' 2 Die Gestaltung der Stimme besteht darin, daß sie eine bestimmte, ihre eigene Beschaffenheit besitzt, erworben durch Überlegung und Fleiß. Sie wird in drei Arten unterteilt: Umfang, Stärke und Geschmeidigkeit.53 Den Umfang der Stimme verschafft am meisten die Natur; ein wenig fördert, aber am meisten erhält ihn die Pflege. 54 Die Stärke verschafft am meisten die Pflege; ein wenig fördert und am meisten erhält sie die Übung des Vortrages. Die Geschmeidigkeit der Stimme, d.h. die Fähigkeit, sie beim Sprechen zu unserem Vorteil drehen und wenden zu können, wird am meisten die Übung des Vortrages55 bewirken. Deswegen gehört es nicht zu meiner Aufgabe, über den Umfang der Stimme und über einen Teil der Stärke Anweisungen zu geben, da ja der eine Teil von der Natur hervorgebracht, der andere durch die Pflege verschafft wird; ich will nur darauf hinweisen, daß man sich von den Männern, die sich in dieser Kunst sehr gut auskennen, die Methode erwerben soll, wie man die Stimme pflegen kann.' 6 Über den Teil der Stärke, der durch einen wohlüberlegten Vortrag bewahrt wird, und über die Geschmeidigkeit der Stimme, die für den Redner äußerst notwendig ist, da ja auch diese durch die Modulation des Vortrages erworben wird, muß ich wohl sprechen. Eine starke Stimme also können wir, wenn wir eine Rede halten, am meisten bewahren, 57 wenn wir die Vorrede mit

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pressa voce principia dicemus. N a m laeditur arteria, si, antequam voce leni permulsa est, acri clamore conpletur. Et intervallis longioribus uti conveniet; recreatur enim spiritu vox et arteriae reticendo adquiescunt. Et in continuo clamore remittere et ad sermonem transire oportet; commutationes enim faciunt, ut nullo genere vocis effuso in omni voce integri simus. Et acutas vocis exclamationes vitare debemus; ictus enim fit et vulnus arteriae acuta atque attenuata nimis adclamatione, et qui splendor est vocis, consumitur uno clamore universus. Et uno spiritu continenter multa dicere in extrema convenit oratione; fauces enim calefiunt et arteriae conplentur et vox, quae tractata varie est, reducitur in quendam sonum aequabilem atque constantem.

Q u a m saepe rerum naturae gratia quaedam iure debetur, velut accidit in hac re! N a m quae dicimus ad vocem servandam prodesse, eadem attinent ad suavitudinem pronuntiationis, ut, quod nostrae voci prosit, idem voluntati auditoris probetur. Utile est ad firmitudinem sedata vox in principio; quid insuavius quam clamor in exordio causae? Intervalla vocem confirmant; eadem sententias concinniores divisione reddunt et auditori spatium cogitandi relinquunt. Conservât vocem continui clamoris remissio; et auditorem quidem varietas maxime delectat, cum sermone animum retinet aut exsuscitat clamore. Acuta exclamatio vocem volnerat; eadem laedit auditorem: habet enim quiddam inliberale et ad muliebrem potius vociferationem quam ad virilem dignitatem in dicendo

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einer möglichst gedämpften und verhaltenen Stimme sprechen. Denn die Luftröhre wird verletzt, wenn sie, noch bevor sie von sanfter Stimme berührt ist, von einem scharfen, vollen Tone erfüllt wird. Und wir sollen längere Pausen einlegen; die Stimme erholt sich nämlich durch das Atemholen, und die Luftröhre ruht durch das Schweigen aus. Und man muß bei einem dauernden vollen Ton nachlassen und zum Gesprächston übergehen; Abwechslungen bewirken nämlich, daß wir, ohne daß wir mit einer bestimmten Stimmfärbung verschwenderisch umgehen, in jeder Stimmführung bei voller Kraft sind. Auch schrille Ausrufe müssen wir meiden; es bildet sich nämlich ein Stich und eine Verletzung der Luftröhre durch einen schrillen und gellend hohen Ausruf, und der ganze vorhandene Glanz der Stimme wird durch einen einzigen Schrei aufgebraucht.' 8 Und in einem Atemzug ohne Unterbrechung viel zu sagen empfiehlt sich erst am Ende der Rede; 59 die Kehle nämlich wird warm, die Luftröhre und die Stimme, die in verschiedener Weise behandelt wurde, wird auf einen bestimmten gleichmäßigen und beständigen Klang zurückgeführt. Wie oft verdankt man mit Recht der natürlichen Beschaffenheit der Dinge eine gewisse Anmut, wie z. B. in diesem Falle! Denn was, wie ich sage, zum Erhalten der Stimme nützlich ist, das trägt ebenso zur Lieblichkeit des Vortrages bei, so daß das, was für unsere Stimme nützlich ist, ebenso dem Willen des Hörers entspricht. Nützlich für die Stärke ist eine gedämpfte Stimme in der Vorrede. 60 Was ist unangenehmer als der volle Ton in der Einleitung? Pausen kräftigen die Stimme; ebenso machen sie die Sätze durch die Trennung harmonischer und lassen dem Zuhörer Zeit zum Nachdenken. Die Stimme bewahrt eine Unterbrechung des ununterbrochen vollen Tones, und den Hörer erfreut natürlich die Abwechslung am meisten, wenn sie durch den Gesprächston die Aufmerksamkeit erhält oder durch den vollen Ton erregt. Ein schriller Ausruf verletzt die Stimme; ebenso kränkt er den Zuhörer; er birgt nämlich etwas Unfreies in sich und paßt eher zum Gekreisch von

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adcommodatum. In extrema oratione continens vox remedio est voci. Quid? haec eadem nonne animum vehementissime calefacit auditoris in totius conclusione causae? Quoniam res igitur eaedem vocis firmitudini et pronuntiationis suavitudini prosunt, de utraque re simul erit in praesentia dictum, de firmitudine, quae visa sunt, de suavitudine, quae coniuncta fuerunt; cetera suo loco paulo post dicemus. Mollitudo igitur vocis, quoniam omnis ad rhetoris praeceptionem pertinet, diligentius nobis consideranda est. Earn dividimus in sermonem, contentionem, amplificationem. Sermo est oratio remissa et finitima cottidianae locutioni. Contentio est oratio acris et ad confirmandum et ad confutandum adcommodata. Amplificatio est oratio, quae aut in iracundiam inducit aut ad misericordiam trahit auditoris animum. Sermo dividitur in partes quattuor: dignitatem, demonstrationem, narrationem, iocationem. Dignitas est oratio cum aliqua gravitate et vocis remissione. Demonstratio est oratio, quae docet remissa voce, quomodo quid fieri potuerit aut non potuerit. Narratio est rerum gestarum aut proinde ut gestarum expositio. Iocatio est oratio, quae ex aliqua re risum pudentem et liberalem potest conparare.

Contentio dividitur in continuationem et in distributionem. Continuatio est orationis enuntiandae acceleratio clamosa. Distributio est in contentione oratio frequens cum raris et brevibus intervallis acri vociferatione.

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Weibern als zum würdigen Auftreten eines Mannes bei einer Rede. Am Ende der Rede ist eine zusammenhängende Stimmführung heilsam für die Stimme. Wieso? Erwärmt nicht gerade diese das Gemüt des Zuhörers am wirksamsten am Schluß der Rede? 61 Da nun also dasselbe für die Stärke der Stimme und die Gefälligkeit des Vortrages nützlich ist, ist im Augenblick für beides gleichzeitig etwas gesagt worden - über die Stärke, was richtig erschien, über die Gefälligkeit, was damit verbunden war; das übrige werde ich an geeigneter Stelle wenig später sagen.62 Die Geschmeidigkeit der Stimme also muß ich um so gewissenhafter betrachten, da sie ja ganz Gegenstand der Anleitung eines Lehrers der Redekunst ist. Wir teilen sie ein in den ruhigen Gesprächston, die leidenschaftliche Rede 6 ' und den steigernden Ton. Der ruhige Gesprächston ist die gelassene und der alltäglichen Sprechweise nahekommende Rede. Die leidenschaftliche Rede ist eine heftige Redeweise, passend für die Bekräftigung und Widerlegung. Der steigernde Ton ist eine Redeweise, die den Zuhörer zu einem Zornesausbruch verleitet oder zum Mitleid bringt. Der Gesprächston wird eingeteilt in vier Arten: die würdige Darstellung, 64 die Schilderung, die Darlegung, die scherzhafte Darstellung. Die würdige Darstellung ist eine Redeweise mit einiger Feierlichkeit und Gelassenheit der Stimme. Die Schilderung ist eine Redeweise, die mit gelassener Stimme belehrt, wie etwas geschehen konnte oder nicht geschehen konnte. Die Darlegung ist eine Angabe wirklicher Geschehnisse oder solcher in der Weise, als ob sie wirklich geschehen wären. 6 ' Die scherzhafte Darstellung ist eine Redeweise, welch aus irgendeinem Sachverhalt ein sittsames und anständiges Lachen hervorbringen kann. 66 Die leidenschaftliche Rede wird eingeteilt in den ununterbrochenen Vortrag67 und den abgehackten Vortrag. 68 Der ununterbrochene Vortrag ist eine Beschleunigung des Redevortrages in schreiendem Ton. Der abgehackte Vortrag ist eine häufig angewandte Redeweise bei der leidenschaftlichen

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Amplificatio dividitur in cohortationem et conquestionem. Cohortatio est oratio, quae aliquod peccatum amplificans auditorem ad iracundiam adducit. Conquestio est oratio, quae incommodorum amplificatione animum auditoris ad misericordiam perducit. Quoniam igitur mollitudo vocis in tres partes divisa est et eae partes ipsae sunt in octo partes alias distributae, harum octo partium, quae cuiusque idonea pronuntiatio sit, demonstrandum videtur. Sermo cum est in dignitate, plenis faucibus quam sedatissuma et depressissuma voce uti conveniet, ita tarnen, ut ne ab oratoria consuetudine ad tragicam transeamus. Cum autem est in demonstratione, voce paulolum attenuata, crebris intervallis et divisionibus oportet uti, ut in ipsa pronuntiatione eas res, quas demonstrabimus, inserere atque insecare videamur in animis auditorum. Cum autem est sermo in narratione, vocum varietates opus sunt, ut, quo quidque pacto gestum sit, ita narrari videatur. Strenue quod volumus ostendere factum, celeriuscule dicemus; at aliud otiose, retardabimus. Deinde modo acriter, tum clementer, maeste, hilare in omnes partes commutabimus ut verba item pronuntiationem. Si qua inciderint in narrationem dieta, rogata, responsa, si quae admirationes, de quibus nos narrabimus, diligenter animum advertemus, ut omnium personarum sensus atque animos voce exprimamus.

Sin erit sermo in iocatione, leviter tremebunda voce, cum parva significatione risus, sine ulla su-

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Rede mit einzelnen, kurzen Pausen in schrillem, kreischendem Ton. Der steigernde Ton wird eingeteilt in das Anfeuern und die Wehklage. Das Anfeuern ist die Redeweise, die dadurch, daß sie irgendein Vergehen steigernd schildert, den Zuhörer zu einem Zornesausbruch veranlaßt. Die Wehklage ist die Redeweise, welche durch die steigernde Schilderung von Unglücksfällen den Zuhörer zum Mitleid bringt. 6 ' Da nun also die Geschmeidigkeit der Stimme in drei Arten eingeteilt ist und diese Arten selbst wieder in acht andere Arten unterteilt sind, muß wohl dargelegt werden, welche von diesen acht Arten die geeignete Vortragsweise für jeden einzelnen Fall ist. Wenn der ruhige Gesprächston sich in würdiger Darstellung bewegt, soll man mit voller Kehle mit möglichst gedämpfter und verhaltener Stimme sprechen, jedoch in der Form, der man nicht von der Art eines Redners in die eines Schauspielers gerät. 70 Wenn er sich aber in der Schilderung bewegt, muß man mit etwas dürftiger Stimme, häufigen Pausen und Absätzen sprechen, damit man schon in der Vortragsart die Punkte, die man schildert, in die Herzen der Hörer einzupflanzen und hineinzuschneiden scheint. Wenn sich aber der Gesprächston in einer Darlegung bewegt, sind Abwechslungen der Stimmlage nötig, damit man ebenso darzulegen scheint, wie das einzelne Geschehen abgelaufen ist. Was wir als eine entschlossene Tat kennzeichnen wollen, werden wir ein wenig rascher vortragen; aber bei einem anderen ruhigen Geschehen werden wir etwas langsamer sprechen. Dann werden wir bald heftig, dann sanft, traurig oder heiter in alle Richtungen ebenso wie die Worte so auch den Vortrag umwandeln. Wenn in der Darlegung Aussprüche, Fragen, Antworten vorkommen, wenn irgendwelche Ausrufe der Verwunderung, die wir darlegen, dann achten wir sorgfältig darauf, das Empfinden und die Gesinnung aller Personen durch die Stimme auszudrücken. Wenn aber der ruhige Gesprächston sich in der scherzhaften Darstellung bewegt, muß man mit leichtem Schwingen

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spicione nimiae cachinnationis leniter oportebit ab sermone serio torquere ad liberalem iocum vocem.

Cum autem contendere oportebit, quoniam id aut per continuationem aut per distributionem faciendum sit, in continuatione, adaucto mediocriter sono vocis, verbis continuandis vocem quoque iungere oportebit et torquere sonum et celeriter cum clamore verba conficere, ut vim volubilem orationis vociferatio consequi possit; in distributione vocis ab imis faucibus exclamationem quam clarissimam adhibere oportet, et quantum spatii in singulas exclamationes sumpserimus, tantum in singula intervalla spatii consumere iubemur.

In amplificationibus cum cohortatione utemur voce attenuatissima, clamore leni, sono aequabili, commutationibus crebris, maxima celeritate; in conquestione utemur voce depressa, inclinato sono, crebris intervallis, longis spatiis, magnis commutationibus. De figura vocis satis dictum est; nunc de corporis motu dicendum videtur. Motus est corporis gestus et vultus moderatio quaedam, quae pronuntianti conveniat. Convenit igitur in vultu pudorem et acrimoniam esse, in gestu nec venustatem conspiciendam nec turpitudinem esse, ne aut histriones aut operarii videamur esse. Ad easdem igitur partes, in quas vox est distributa, motus quoque corporis ratio videtur esse adcommodanda. Nam si erit sermo cum dignitate, stantis in vestigio levi dexterae motu loqui oportebit, hilaritate, tristitia, mediocritate vultus ad sermonis sententias

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in der Stimme, verbunden mit einer geringen Andeutung eines Lächelns, ohne den Schein eines übertriebenen lauten Lachens, die Stimme sanft vom ernsten Gesprächston zu einem feinen Scherz 7 ' lenken. Wenn man aber leidenschaftlich reden muß, so kann man dies ja entweder durch einen ununterbrochenen oder durch einen abgehackten Vortrag tun; beim ununterbrochenen Vortrag muß man nach mäßigem Anschwellen des Klanges der Stimme durch ununterbrochen fortlaufende Worte auch die Stimme verbinden und den Klang lenken und rasch mit vollem Ton die Worte zu Ende führen, damit mit der wandelbaren Kraft der Rede unser Stimmaufwand Schritt halten kann. Beim abgehackten Vortrag muß man aus tiefster Kehle einen möglichst klaren Ausruf hervorholen, und wir sind aufgefordert, ebenso viel Zeit, wie wir für die einzelnen Ausrufe verwenden, auch für die einzelnen Pausen zu verwenden. Beim steigernden Ton sprechen wir, wenn es ums Anfeuern geht, mit schneidender Fistelstimme, gemäßigtem vollen ton, gleichbleibendem Klang, häufigen Veränderungen, größter Beschleunigung. Beim Wehklagen sprechen wir mit verhaltener Stimme, wechselndem Klang, häufigen Pausen, langen Absätzen, großen Stimmveränderungen. Uber die Gestaltung der Stimme ist genug gesagt; nun muß wohl über die Haltung des Körpers gesprochen werden. 72 Die Haltung ist eine gewisse Beherrschung des Gebärdenund Mienenspiels, welche zum Vortragenden passen soll. In der Miene soll also Ehrgefühl und Energie zu erkennen sein, in der Gebärde soll man weder übertriebene Anmut noch Häßlichkeit erblicken, 73 damit wir nicht den Eindruck von Schauspielern oder Tagelöhnern erwecken. An die Teile also, in welche die Stimme eingeteilt wurde, muß wohl auch die Lehre von der Haltung des Körpers angeglichen werden. Denn wenn der ruhige Gesprächston mit würdiger Darstellung angewandt wird, muß man in aufrechter Haltung sprechen mit einer leichten Bewegung der rechten Hand,

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adcommodata. Sin erit in demonstratione sermo, paulolum corpus a cervicibus demittemus; nam est hoc a natura datum, ut quam proxime tum vultum admoveamus ad auditores, si quam rem docere eos et vehementer instigare velimus. Sin erit in narratione sermo, idem motus poterit idoneus esse, qui paulo ante demonstrabatur in dignitate. Sin in iocatione, vultu quandam debebimus hilaritatem significare sine commutatione gestus.

Sin contendemus per continutationem, brachio celeri, mobili vultu, acri aspectu utemur; sin contendo fiet per distributionem, porrectione perceleri brachii, inambulatione, pedis dexteri rara subplausione, acri et defixo aspectu uti oportet.

Sin utemur amplificatione per cohortationem, paulo tardiore et consideratiore gestu conveniet uti, similibus ceteris rebus atque in contentione per continuationem. Sin utemur amplificatione per conquestionem, feminis plangore et capitis ictu, nonnumquam sedato et constanti gestu, maesto et conturbato vultu uti oportebit. N o n sum nescius, quantum susceperim negotii, qui motus corporis exprimere verbis et imitari scriptura conatus sim voces. Verum nec hoc confisus sum posse fieri, ut de his rebus satis commode scribi posset, nec, si id fieri non posset, hoc, quod feci, fore inutile putabam, propterea quod hic admonere voluimus, quid oporteret; reliqua trademus exercitationi. H o c tamen scire oportet pro-

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wobei Heiterkeit, Trauer in der Miene und die Mitte dazwischen an die ausgesprochenen Gedanken angeglichen sind. Wenn sich aber der ruhige Gesprächston in einer Schilderung bewegt, bewegen wir den Körper vom Nacken an ein wenig vor; denn diese Haltung ist gegeben, damit wir unsere Miene möglichst nahe den Zuhörern zuwenden, wenn wir ihnen einen Sachverhalt klar machen und sie heftig anstacheln wollen. Wenn sich aber der ruhige Gesprächston in einer Darlegung bewegt, kann die nämliche Haltung geeignet sein, welche kurz vorher bei der würdigen Darstellung geschildert wurde. Wenn aber in einer scherzhaften Darstellung, dann müssen wir durch das Mienenspiel eine gewisse Heiterkeit anzeigen ohne Veränderung des Gebärdenspiels. Wenn wir aber leidenschaftlich reden in einem ununterbrochenen Vortrag, bewegen wir die Arme schnell, das Mienenspiel behende, den Blick heftig. Wenn aber die leidenschaftliche Rede in einem abgehackten Vortrag abläuft, muß man den Arm sehr rasch vorstrecken, hin- und hergehen, ab und zu mit dem rechten Fuß aufstampfen, heftig und unbeweglich in eine Richtung blicken. Wenn wir aber den steigernden Ton in Form des Anfeuerns anwenden, empfiehlt sich ein etwas langsameres und überlegteres Gebärdenspiel, die übrigen Dinge aber ähnlich wie bei der leidenschaftlichen Rede in ununterbrochenem Vortrag. Wenn wir aber den steigernden Ton in Form des Wehklagens anwenden, so muß man auf die Schenkel klatschen, 74 gegen den Kopf schlagen, das Gebärdenspiel muß mitunter gemäßigt und beständig, die Miene traurig und verstört sein. Ich bin mir wohl bewußt, welch große Aufgabe ich übernommen habe, da ich versuchte, die Haltungen des Körpers mit Worten auszudrücken und die Stimmlagen durch eine schriftliche Darlegung nachzuahmen. Nun, ich vertraute nicht darauf, daß man darüber angemessen genug schreiben kann, glaubte aber auch nicht, daß, wenn das unmöglich ist, was ich unternahm, nutzlos sein werde, deswegen weil ich hier nur soweit ermahnen wollte, wie nötig; das übrige über-

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nuntiationem bonam id perficere, ut res ex animo agi videatur. N u n c ad thesaurum inventorum atque ad omnium partium rhetoricae custodem, memoriam, transeamus. Memoria utrum habeat quiddam artificiosi an omnis ab natura proficiscatur, aliud dicendi tempus magis idoneum dabitur. N u n c proinde atque constet in hac re multum valere artem et praeceptionem, ita de ea re loquemur. Placet enim nobis esse artificium memoriae; quare placeat alias ostendemus; in praesentia cuiusmodi sit ea, aperiemus. Sunt igitur duae memoriae: una naturalis, altera artificiosa. Naturalis est ea, quae nostris animis insita est et simul cum cogitatione nata; artificiosa est ea, quam confirmât inductio quaedam et ratio praeceptionis. Sed qua via in ceteris rebus ingenii bonitas imitatur saepe doctrinam, ars porro naturae commoda confirmât et auget, item fit in hac re, ut nonnumquam naturalis memoria, si cui data est egregia, similis sit huic artificiosae, porro haec artificiosa naturae commoda retineat et amplificet ratione doctrinae.

Quapropter et naturalis memoria praeceptione confirmanda est, ut sit egregia, et haec, quae doctrina datur, indiget ingenii. Nec hoc magis aut minus in hac re quam in ceteris artibus fit, ut ingenio doctrina, praeceptione natura nitescat. Quare et illis, qui natura memores sunt, utilis haec erit institutio, quod tute paulo post poteris intellegere: et si

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lasse ich der Übung. Dies muß man jedoch wissen, daß ein guter Vortrag es bewirkt, daß der Anschein erweckt wird, die Rede komme aus dem innersten Herzen. 75 Jetzt will ich zur Schatzkammer 76 der aufgefundenen Gedanken und zum Hüter aller Teile der Redekunst übergehen, zum Sicheinprägen.77 O b das Sicheinprägen etwas Kunstvolles an sich hat oder ob es ganz von natürlicher Veranlagung ausgeht, darüber zu sprechen wird sich eine andere geeignetere Gelegenheit bieten. Nun will ich darüber so sprechen, als ob es feststünde, daß hierbei Kunst und Anleitung viel erreichen. Ich bin nämlich der Meinung, daß es eine Gedächtniskunst gibt; warum ich der Meinung bin, will ich ein andermal zeigen; 78 im Augenblick will ich mich nur dazu äußern, von welcher Art das Sicheinprägen ist. Es gibt also zwei Arten des Sicheinprägens: das eine ist von Natur aus gegeben, das andere künstlich erworben. Natürlich ist dasjenige, das uns eingepflanzt ist und gleichzeitig mit der Denkkraft entsteht; künstlich erworben ist dasjenige, welches eine gewisse Einführung und methodische Anleitung stärkt. Aber auf dem gleichen Weg, wie in den übrigen Dingen eine gute Begabung oft die Belehrung ersetzt, die Kunst weiterhin die Vorteile der Natur stärkt und vermehrt, 79 so geschieht es auch hier, daß nämlich manchmal das natürliche Sicheinprägen, wenn es jemandem in herausragendem Maße gegeben ist, diesem künstlich erworbenen ähnlich ist und weiterhin dieses künstlich erworbene die Vorteile der Natur beibehält und durch methodische Lehre steigert. Deswegen muß das natürliche Sicheinprägen durch Anleitung gestärkt werden, damit es herausragend ist, und dieses, das durch die Lehre gegeben wird, bedarf der Begabung. Und dies trifft in diesem Falle nicht mehr oder nicht weniger zu als in den übrigen Künsten, daß nämlich erst durch Begabung die Lehre und erst durch die Anleitung die Natur in vollem Glänze erstrahlt. Deswegen wird auch für jene, die sich etwas von Natur aus gut einprägen können, diese

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illi, freti ingenio, nostri non indigerent, tamen iusta causa daretur, quare iis, qui minus ingenii habent, adiumento velimus esse. N u n c de artificiosa memoria loquemur.

Constat igitur artificiosa memoria locis et imaginibus. Locos appellamus eos, qui breviter, perfecte, insignite aut natura aut manu sunt absoluti, ut eos facile naturali memoria conprehendere et amplecti queamus: ut aedes, intercolumnium, angulum, fornicem et alia, quae his similia sunt. Imagines sunt formae quaedam et notae et simulacra eius rei, quam meminisse volumus; quod genus equi, leonis, aquilae memoriam si volemus habere, imagines eorum in locis certis conlocare nos oportebit. N u n c cuiusmodi locos invenire et quo pacto reperire et in locis imagines constituere oporteat, ostendemus. Quemadmodum igitur qui litteras sciunt, possunt id, quod dictatum est, eis scribere et recitare, quod scripserunt, item qui nemonica didicerunt, possunt, quod audierunt, in locis conlocare et ex his memoriter pronuntiare. N a m loci cerae aut cartae simillimi sunt, imagines litteris, dispositio et conlocatio imaginum scripturae, pronuntiatio lectioni.

Oportet igitur, si volumus multa meminisse, multos nobis locos conparare, ut in multis locis multas imagines conlocare possimus. Item putamus oportere ex ordine hos locos habere, ne quando perturbatione ordinis inpediamur, quo setius, quoto quoquo loco libebit, vel ab superiore vel ab

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Unterweisung von Nutzen sein, was auch du sicher sehr bald erkennen kannst; 8 0 und wenn jene, im Vertrauen auf ihre Begabung, meine Anweisung nicht bräuchten, wäre dennoch ein hinreichender Grund gegeben, warum ich die, welche weniger begabt sind, unterstützen will. So werde ich jetzt von dem künstlich erworbenen Sicheinprägen sprechen. Das künstlich erworbene Sicheinprägen beruht also auf Orten und Bildern. Orte nennen wir etwas, was kurz, vollkommen, auffallend entweder von der Natur oder von Hand vollendet wurde, so daß wir es leicht durch das nützliche Sicheinprägen erfassen und behalten können: z. B. ein Gebäude, den Raum zwischen zwei Säulen, einen Winkel, ein Gewölbe und anderes diesen ähnliches. Bilder sind gewisse Formen, Merkmale und Abbilder des Gegenstandes, an den wir uns erinnern wollen; wenn wir beispielsweise die Erinnerung an ein Pferd, einen Löwen, einen Adler festhalten wollen, müssen wir die Bilder von diesen an bestimmte Orte festsetzen. N u n will ich darauf hinweisen, welcher Art Orte man auffinden, wie man sie ausfindig machen und an den Orten die Bilder ansetzen muß. Wie also diejenigen, welche die Buchstaben kennen, das, was vorgesprochen wurde, mit ihrer Hilfe niederschreiben und vorlesen können, was sie niedergeschrieben haben, so können ebenso diejenigen, welche die Regeln der Gedächtniskunst gelernt haben, das, was sie gehört haben, an Orte festsetzen und von diesen Orten her aus dem Gedächtnis vortragen. Denn die Orte sind einer Wachstafel 81 und einem Blatt Papier sehr ähnlich, die Bilder den Buchstaben, die Einteilung und Anordnung der Bilder der Schrift, der Vortrag dem Lesen. Wir müssen also, wenn wir uns an vieles erinnern wollen, uns viele Orte zurechtlegen, damit wir an vielen Orten viele Bilder festsetzen können. Ebenso, glaube ich, muß man diese Orte der Reihe nach zur Verfügung haben, damit wir nicht durch ein Durcheinanderbringen der Reihenfolge daran gehindert werden, die Bilder von jedem beliebigen Ort

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inferiore parte, imagines sequi et ea, quae mandata locis erunt, videre et proferre possimus; nam ut, si in ordine stantes notos quomplures viderimus, nihil nostra intersit, utrum ab summo an ab imo an ab medio nomina eorum dicere incipiamus, item in locis ex ordine conlocatis eveniet, ut in quamlibebit partem quoque loco lubebit, imaginibus commoniti, dicere possimus id, quod locis mandaverimus. Quare placet et ex ordine locos conparare. Locos, quos sumpserimus, egregie commeditari oportebit, ut perpetuo nobis haerere possint; nam imagines, siculi litterae, delentur, ubi nihil utimur; loci, tamquam cera, remanere debent. Et ne forte in numero locorum falli possimus, quintum quemque placet notari; quod genus si in quinto loco manum auream conlocemus, si in decumo aliquem notum, cui praenomen sit Decumo; deinde facile erit deinceps similis notas quinto quoque loco conlocare.

Item commodius est in derelicta quam in celebri regione locos conparare, propterea quod frequentia et obambulatio hominum conturbat et infirmât imaginum notas, solitudo conservât intégras simulacrorum figuras. Praeterea dissimilis forma atque natura loci conparandi sunt, ut distincte interlucere possint; nam si qui multa intercolumnia sumpserit, conturbabitur similitudine, ut ignoret, quid in quoque loco conlocarit. Et magnitudine modica et mediocris locos habere oportet: nam et praeter modum ampli vagas imagines reddunt et nimis angusti saepe non videntur posse capere imaginum conlocationem.

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aus entweder von vorne oder von hinten aufzuzählen und das, was den Orten zugeschrieben ist, zu sehen und auszusprechen; denn wie es für uns nicht wichtig ist, wenn wir mehrere Bekannte in einer Reihe stehen sehen, ob wir von oben oder von unten oder von der Mitte an beginnen ihre Namen zu nennen, wird es ebenso bei Orten, die der Reihenfolge nach festgesetzt sind, der Fall sein, daß wir in jeder beliebigen Richtung an jedem beliebigen Ort, von Bildern erinnert, das nennen können, was wir den Orten zugeschrieben haben. Deshalb, glaube ich, muß man die Orte der Reihe nach zurechtlegen. Die Orte, die wir genommen haben, müssen wir uns ganz besonders einprägen, damit sie uns für immer im Gedächtnis haften können; denn die Bilder werden wie die Buchstaben zerstört, sobald wir keinen Gebrauch davon machen; die Orte müssen, wie die Wachstafel, erhalten bleiben. Und damit wir uns nicht zufällig in der Zahl der Orte täuschen können, empfiehlt es sich, jeden fünften Ort besonders zu kennzeichnen; z. B. von der Art, wenn wir am fünften Ort eine goldene Hand festsetzen, am zehnten Ort einen Bekannten, der mit Vornamen Decumus heißt; dann wird es leicht sein, der Reihe nach ähnliche Merkmale an jedem fünften Ort festzusetzen. Ebenso ist es vorteilhafter, die Orte in einer verlassenen Gegend zurechtzulegen als in einer vielbesuchten, deswegen weil eine große Anzahl und das viele Hin- und Hergehen von Menschen verwirrt und die Merkmale der Bilder abschwächt, die Einsamkeit dagegen die Gestalten der Abbilder unangetastet erhält. Außerdem muß man Orte zurechtlegen, die nach ihrem natürlichen Aussehen unähnlich sind, damit sie in ihrem Unterschied auffallen können; denn wenn jemand viele Räume zwischen zwei Säulen genommen hat, wird er durch die Ähnlichkeit verwirrt, so daß er nicht weiß, was er an jedem Ort festgesetzt hat. Und man muß mäßig große und gewöhnliche Orte haben; denn außergewöhnlich weite Orte bewirken undeutliche Bilder, und allzu enge Orte scheinen oft die Festsetzung der Bilder nicht ermöglichen zu können.

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Tum nec nimis inlustris nec vehementer obscuros locos habere oportet, ne aut obcaecentur tenebris imagines aut splendore praefulgeant. Intervalla locorum mediocria placet esse, fere paulo plus aut minus pedum tricenum; nam ut aspectus item cogitatio minus valet, sive nimis procul removeris sive vehementer prope admoveris id, quod oportet videri.

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Sed quamquam facile est ei, qui paulo plura noverit, quamvis multos et idoneos locos conparare, tamen si qui satis idoneos invenire se non putabit, ipse sibi constituât quam volet multos licebit. C o gitatio enim quamvis regionem potest amplecti et in ea situm loci cuiusdam ad suum arbitrium fabricari et architectari. Quare licebit, si hac prompta copia contenti non erimus, nosmet ipsos nobis cogitatione nostra regionem constituere et idoneorum locorum commodissimam distinctionem conparare. D e locis satis dictum est; nunc ad imaginum rationem transeamus. Quoniam ergo rerum similes imagines esse oportet et ex omnibus verbis nosmet nobis similitudines eligere debemus, duplices igitur similitudines esse debent, unae rerum, alterae verborum. Rerum similitudines exprimuntur, cum summatim ipsorum negotiorum imagines conparamus; verborum similitudines constituuntur, cum unius cuiusque nominis et vocabuli memoria imagine notatur. Rei totius memoriam saepe una nota et imagine simplici conprehendimus, hoc modo, ut si accusator dixerit ab reo hominem veneno necatum et hereditatis causa factum arguerit et eius rei multos

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Weiterhin darf man weder zu sehr erleuchtete noch stark verdunkelte Orte haben, damit die Bilder weder durch die Dunkelheit verdunkelt werden noch durch den Glanz hervorleuchten. Die Zwischenräume zwischen den Orten sollen nach meiner Meinung mäßig groß sein, etwa ein wenig mehr oder weniger als dreißig Fuß; denn wie die Sehkraft, so ist auch die gedankliche Vorstellungskraft weniger stark, wenn man das, was man sehen soll, allzu weit wegrückt oder heranrückt. Aber obwohl es für den, der ein wenig mehr kennt, leicht ist, noch so viele geeignete Orte zurechtzulegen, so mag dennoch einer, wenn er nicht glaubt, genügend geeignete zu finden, für sich selbst beliebig viele zusammenstellen. Die gedankliche Vorstellungskraft nämlich kann jede beliebige Gegend umfassen und in ihr die Lage eines gewissen Ortes nach ihrem Gutdünken schaffen und aufbauen. Deswegen dürfen wir, wenn wir mit dem vorliegenden verfügbaren Vorrat nicht zufrieden sind, für uns selbst durch unsere gedankliche Vorstellungskraft eine Gegend zusammenstellen und die vorteilhafteste Verteilung geeigneter Orte zurechtlegen. Uber die Orte ist genug gesagt; jetzt will ich zur Lehre von den Bildern übergehen. Da nun also den Vorgängen die Bilder ähnlich sein müssen und wir aus allen Vorgängen für uns Ähnlichkeiten auswählen müssen, müssen also die Ähnlichkeiten doppelt sein, zum einen mit den Vorgängen, zum anderen mit den Worten. 82 Ähnlichkeiten mit den Vorgängen werden zum Ausdruck gebracht, wenn wir insgesamt für die Handlungen selbst Bilder zurechtlegen; Ähnlichkeiten mit den Worten werden aufgestellt, wenn die Erinnerung an jede einzelne Benennung und jedes einzelne Wort durch ein Bild kenntlich gemacht wird. Die Erinnerung an den ganzen Vorgang halten wir oft durch ein einziges Kennzeichen und ein einfaches Bild fest, z. B. auf folgende Weise, wenn der Ankläger sagt, von dem Angeklagten sei ein Mensch mit Gift getötet worden, und

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dixerit testes et conscios esse; si hoc primum, ut ad defendendum nobis expeditum sit, meminisse volemus, in primo loco rei totius imaginem conformabimus: aegrotum in lecto cubantem faciemus ipsum ilium, de quo agetur, si formam eius detinebimus; si eum non agnoverimus, aliquem aegrotum non de minimo loco sumemus, ut cito in mentem venire possit, et reum ad lectum eius adstituemus, dextera poculum, sinistra tabulas, medico testiculos arietinos tenentem. H o c m o d o et testium et hereditatis et veneno necati memoriam habere poterimus.

Item deinceps cetera crimina ex ordine in locis ponemus; et, quotiescumque rem meminisse volemus, si formarum dispositione et imaginum diligenti notatione utemur, facile ea, quae volemus, memoria consequemur.

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C u m verborum similitudines imaginibus exprimere volemus, plus negotii suscipiemus et magis ingenium nostrum exercebimus. Id nos hoc m o d o facere oportebit: lam domum itionem reges Atridae parant.

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U n o in loco constituere oportet manus ad caelum tollentem Domitium, cum a Regibus Marciis loris caedatur - hoc erit „lam domum itionem reges": in altero loco Aesopum et C i m b r u m subornari, ut ad Iphigeniam, in Agamemnonem et Menelaum - hoc erit „Atridae parant". H o c m o d o omnia verba erunt expressa. Sed haec imaginum conformatio tum valet, si naturalem memoriam exsuscitaverimus hac notatione, ut versu posito

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ihn beschuldigt, die Tat sei um einer Erbschaft willen begangen worden, und weiterhin sagt, dafür gebe es viele Zeugen und Mitwisser. Wenn wir uns daran zuerst erinnern wollen, damit es uns für die Verteidigung dienlich sei, werden wir am ersten Ort ein Bild des ganzen Vorganges gestalten; wir werden den Menschen selbst, um den es geht, uns krank im Bett liegend vorstellen, wenn wir sein Aussehen festhalten; wenn wir ihn nicht kennen, werden wir irgendeinen Kranken, und zwar nicht aus dem niedrigsten Stande, nehmen, damit er uns schnell in den Sinn kommen kann, und wir werden den Angeklagten an sein Bett stellen, wie er in der Rechten den Giftbecher, in der Linken das Testament und am Ringfinger 8 ' die Hoden eines Widders* 4 hält. Auf diese Weise können wir die Erinnerung an Zeugen, die Erbschaft und den durch Gift Getöteten behalten. Ebenso werden wir die übrigen Beschuldigungen nacheinander der Reihe nach an ihre Orte stellen; und sooft wir uns an einen Vorgang erinnern wollen, werden wir, wenn wir eine sorgfältige Einteilung der Gestalten und Kennzeichnung der Bilder vornehmen, leicht das, was wir wollen, in der Erinnerung wiedererlangen. Wenn wir Ähnlichkeiten von Worten durch Bilder ausdrücken wollen, nehmen wir mehr Arbeit auf uns und üben unseren Geist mehr. Das müssen wir z. B. auf folgende Weise tun: U n d schon für die Heimkehr die Könige, die Atriden sich rüsten. 8 ' An den ersten Ort sollen wir Domitius stellen, wie er die Hände zum Himmel hebt, während er von den Reges Marcii mit Riemen geschlagen wird 8 6 - das bedeutet: „Und schon für die Heimkehr der Könige"; an den zweiten Ort den Aesopus und den Cimber, 8 7 wie sie sich, wie zur Iphigenie, für die Rolle des Agamemnon und Menelaus vorbereiten das bedeutet: „die Atriden sich rüsten". Auf diese Weise sind alle Worte ausgedrückt. Aber diese Formung von Bildern hat erst dann einen Wert, wenn wir das natürliche Erinnerungsvermögen durch diese Beschreibung anregen,

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ipsi nobiscum primum transeamus bis aut ter eum versum, deinde turn imaginibus verba exprimamus. H o c modo naturae subpeditabit doctrina. N a m utraque altera separata minus erit firma, ita tamen, ut multo plus in doctrina atque arte praesidii sit. Q u o d docere non gravaremur, ni metueremus, ne, cum ab instituto nostro recessissemus, minus commode servaretur haec dilucida brevitas praeceptionis. N u n c , quoniam solet accidere, ut imagines partim firmae et acres et ad monendum idoneae sint, partim inbecillae et infirmae, quae vix memoriam possint excitare, qua de causa utrumque fiat considerandum est, ut cognita causa, quas vitemus et quas sequamur imagines, scire possimus.

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Docet igitur nos ipsa natura, quid oporteat fieri. N a m si quas res in vita videmus parvas, usitatas, cottidianas, meminisse non solemus, propterea quod nulla nova nec admirabili re commovetur animus; at si quid videmus aut audimus egregie turpe, inhonestum, inusitatum, magnum, incredibile, ridiculum, id diu meminisse consuevimus. U t quod recens audivimus aut audimus, obliviscimur plerumque; quae acciderunt in pueritia, meminimus optime saepe; nec hoc alia de causa potest accidere, nisi quod usitatae res facile e memoria elabuntur, insignes et novae diutius manent in animo.

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Solis exortus, cursus, occasus nemo admiratur, propterea quia cottidie fiunt; at eclipsis solis mirantur, quia raro accidunt, et solis eclipsis magis mirantur quam lunae, propterea quod hae crebriores sunt. Docet ergo se natura vulgari et usitata re

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dadurch daß wir nach Festlegung des Verses diesen Vers erst selbst für uns zwei- oder dreimal durchgehen und dann erst durch Bilder die Worte ausdrücken. Auf diese Weise wird die Lehre die Natur unterstützen. Denn beide sind für sich genommen weniger stark, aber dennoch in der Weise, daß die Lehre und theoretische Unterweisung viel mehr Unterstützung bietet. Diese Lehre darzulegen würde ich mich nicht weigern, wenn ich nicht fürchtete, die klare Kürze der Anleitung würde weniger vorteilhaft eingehalten werden, wenn ich von meinem Vorhaben abwiche. D a es ja gewöhnlich vorkommt, daß Bilder teils stark und lebhaft und geeignet sind, um die Erinnerung wachzurufen, teils hinfällig und schwach und kaum die Erinnerung anregen können, muß nun in Betracht gezogen werden, aus welchem Grunde beides geschieht, damit wir, nachdem der Grund erkannt ist, wissen können, welche Bilder wir meiden und welchen wir folgen sollen. Uns lehrt also die Natur selbst, was getan werden muß. Denn wenn wir im Leben unbedeutende, gewöhnliche, alltägliche Dinge sehen, prägen wir uns diese gewöhnlich nicht ein, deswegen weil unser Sinn durch keine neuartige und bewundernswerte Sache beeindruckt wird; aber sehen oder hören wir etwas ausnehmend Schändliches, Unehrenhaftes, Ungewöhnliches, Bedeutendes, Unglaubliches, Lächerliches, so prägen wir uns dies gewöhnlich für lange ein. Aber was wir jüngst gehört haben oder hören, vergessen wir meistens; was sich in unserer Kindheit ereignet hat, das prägen wir uns oft am besten ein; und das kann aus keinem anderen Grund vorkommen als deswegen, weil gewöhnliche Vorkommnisse leicht aus der Erinnerung entschlüpfen, auffällige und neuartige länger im Sinn haften. Der Sonne Aufgang, Lauf, Untergang bewundert niemand, deswegen weil sie täglich geschehen; 88 aber eine Sonnenfinsternis bewundert man, weil sie selten vorkommt, und Sonnenfinsternisse bewundert man mehr als Mondfinsternisse, deswegen weil letztere häufiger sind. Die Natur lehrt also, daß sie durch ein alltägliches und gewöhnliches Ereig-

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non exsuscitari, novitate et insigni quodam negotio commoveri. Imitetur ars igitur naturam, et, quod ea desiderat, inveniat, quod ostendit, sequatur. Nihil est enim, quod aut natura extremum invenerit aut doctrina primum: sed rerum principia ab ingenio profecta sunt, exitus disciplina conparantur. Imagines igitur nos in eo genere constituere oportebit, quod genus in memoria diutissime potest haberi. Id accidet, si quam maxime notatas similitudines constituemus; si non mutas nec vagas, sed aliquid agentes imagines ponemus; si egregiam pulcritudinem aut unicam turpitudinem eis adtribuemus; si aliquas exornabimus, ut si coronis aut veste purpurea, quo nobis notatior sit similitudo; aut si quam rem deformabimus, ut si cruentam aut caeno oblitam aut rubrica delibutam inducamus, quo magis insignita sit forma; aut si ridiculas res aliquas imaginibus adtribuemus; nam ea res quoque faciet, ut facilius meminisse valeamus. Nam quas res veras facile meminimus, easdem fictas et diligenter notatas meminisse non difficile est. Sed illud facere oportebit, ut identidem primos quosque locos imaginum renovandarum causa celeriter animo pervagemus.

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Scio plerosque Graecos, qui de memoria scripserunt, fecisse, ut multorum verborum imagines conscriberent, uti, qui ediscere vellent, paratas haberent, ne quid in quaerendo consumèrent operae. Quorum rationem aliquot de causis inprobamus: primum, quod in verborum innumerabili multitudine ridiculum sit mille verborum imagines conparare. Quantulum enim poterunt haec valere, cum ex infinita verborum copia modo aliud, modo aliud

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nis nicht angeregt, durch die Neuartigkeit und ein geradezu auffallendes Geschehen aber beeindruckt wird. Die Kunst soll also die Natur nachahmen89 und das herausfinden, wonach die Natur sich sehnt, und sich dem anschließen, was die Natur zeigt. Es gibt nämlich nichts, was entweder die Natur als letztes gefunden hat oder die Lehre als erstes; aber ihren Anfang nahmen die Geschehnisse von der natürlichen Veranlagung, die Ergebnisse werden durch Unterweisung bereitet. Bilder müssen wir also in der Art festlegen, die man am längsten in der Erinnerung behalten kann. Das wird der Fall sein, wenn wir ausnehmend bemerkenswerte Ähnlichkeiten festlegen; wenn wir nicht stumme und unbestimmte Bilder, sondern solche, die etwas in Bewegung bringen, hinstellen; wenn wir ihnen herausragende Schönheit oder einzigartige Schändlichkeit zuweisen; wenn wir irgendwelche Bilder ausschmücken wie mit Kränzen oder einem Purpurkleid, damit die Ähnlichkeit für uns um so bemerkenswerter sei; oder wenn wir sie durch etwas entstellen, z. B. eine blutige oder mit Schmutz beschmierte oder mit roter Farbe bestrichene Gestalt einführen, damit diese um so hervorstechender sei, oder irgendwelche lächerliche Züge den Bildern verleihen; denn auch dies wird bewirken, daß wir sie uns leichter einprägen können. Denn die Dinge, welche wir uns leicht einprägen, wenn sie echt sind, prägen wir uns auch unschwer ein, wenn sie erdacht und sorgfältig gekennzeichnet sind. Aber es wird nicht zu vermeiden sein, daß wir immer wieder die jeweils ersten Plätze schnell für uns durchgehen, um die Bilder ins Gedächtnis zurückzurufen. Ich weiß, daß die meisten Griechen, die über das Sicheinprägen geschrieben haben,' 0 es unternahmen, die Bilder für viele Wörter zu beschreiben, damit diejenigen, die lernen wollten, sie schon vorbereitet hätten, um keine Mühe auf das Suchen verwenden zu müssen. Deren Verfahren mißbillige ich aber aus einer Reihe von Gründen: Erstens, weil es bei der Unzahl von Wörtern lächerlich ist, die Bilder von 1000 Wörtern bereitzustellen. Wie wenig nämlich kann das bewirken, wenn wir uns aus einer unbegrenzten Menge von

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nos verbum meminisse oportebit? Deinde cur volumus ab industria quemquam removere, ut, ne quid ipse quaerat, nos illi omnia parata atque quaesita tradamus? Praeterea similitudine alia alius magis commovetur. Nam ut saepe, formam si quam similem cuipiam dixerimus esse, non omnes habemus adsensores, quod alii videtur aliud, item fit in imaginibus, ut, quae nobis diligenter notata sit, ea parum videatur insignis aliis. Quare sibi quemque suo commodo convenit imagines conparare. Postremo praeceptoris est docere, quemadmodum quaeri quidque conveniat et unum aliquod aut alteram, non omnia, quae eius generis erunt, exempli causa subicere, quo res possit esse dilucidior; ut quom de prooemiis quaerendis disputamus, rationem damus quaerendi, non mille prooemiorum genera conscribimus, item arbitramur de imaginibus fieri convenire. Nunc ne forte verborum memoriam aut nimis difficilem aut parum utilem arbitrere et ipsaram rerum memoria contentus sis, quod et utiliores sint et plus habeant facultatis, admonendus es, quare verborum memoriam non inprobemus. Nam putamus oportere eos, qui velint res faciliores sine labore et molestia facere, in rebus difficilioribus esse ante exercitatos. Nec nos hanc verborum memoriam inducimus, ut versus meminisse possimus, sed ut hac exercitatione illa rerum memoria, quae pertinet ad utilitatem, confirmetur, ut ab hac difficili consuetudine sine labore ad illam facultatem transire possimus. Sed cum in omni disciplina infirma est artis praeceptio sine summa adsiduitate exercitationis, tum vero in nemonicis minimum valet doctrina, nisi industria, studio, labore, diligentia conproba-

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Wörtern bald das eine, bald das andere Wort einprägen müssen? Zweitens: Warum wollen wir jemanden vom Fleiß abbringen, um ihm, damit er nicht selbst etwas sucht, alles vorbereitet und ausgesucht zu übergeben? Außerdem wird der eine durch diese, ein anderer durch jene Ähnlichkeit mehr angeregt. Denn wie uns oft, wenn wir sagen, eine Gestalt sei jemandem ähnlich, nicht alle zustimmen, weil der eine diese, der andere jene Vorstellung hat, so geschieht es auch bei den Bildern: Was für uns sorgfältig gekennzeichnet ist, das scheint anderen zu wenig auffallend. Deshalb soll jeder zu seinem eigenen Vorteil Bilder zusammenstellen. Schließlich ist es die Aufgabe des Lehrers zu lehren, auf welche Weise man etwas suchen soll, und das eine oder das andere, nicht alles, was von dieser Art ist, als Beispiel anzufügen, damit die Sache um so klarer sein kann. Wenn wir beispielsweise über das Suchen des Stoffes für Vorreden sprechen, geben wir die Methode an, ihn zu suchen, und beschreiben nicht tausend Arten von Vorreden; ebenso, glaube ich, muß es bei den Bildern geschehen. Damit du nun nicht etwa das Einprägen von Wörtern für allzu schwierig oder zu wenig nützlich hältst und mit dem Einprägen von den Sachverhalten selbst zufrieden bist, weil diese nützlicher seien und es dazu mehr Möglichkeiten gebe, mußt du darauf aufmerksam gemacht werden, warum ich das Einprägen von Wörtern nicht mißbillige. Denn ich glaube, diejenigen, die etwas Leichteres ohne Anstrengung und Last tun wollen, müssen sich vorher in Schwierigerem geübt haben. Und ich führe dieses Sicheinprägen von Wörtern nicht ein, damit wir uns Verse einprägen können, sondern damit durch diese Übung jenes Sicheinprägen von Sachverhalten, das zum Nutzen beiträgt, geübt wird, auf daß wir von dieser schwierigen Gewöhnung ohne Anstrengung zu jener Fähigkeit übergehen können. Doch in jedem Falle ist eine Anleitung der theoretischen Unterweisung ohne dauernde und beständige Übung unwirksam, besonders aber in der Gedächtniskunst vermag die Lehre nur ganz wenig, wenn sie nicht durch Fleiß, Eifer,

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tur. Quam plurimos locos ut habeas et quam maxime ad praecepta adcommodatos curare poteris; in imaginibus conlocandis exerceri cottidie convenit. N o n enim, sicut a ceteris studiis abducimur nonnumquam occupatione, item ab hac re nos potest causa deducere aliqua. Numquam est enim, quin aliquid memoriae tradere velimus et turn maxime cum aliquo maiore negotio detinemur. Quare, cum sit utile facile meminisse, non te fallit, quod tantopere utile sit, quanto labore sit adpetendum; quod poteris existimare utilitate cognita.

Pluribus verbis ad earn te adhortari non est sententia, ne aut tuo studio diffisi aut minus, quam res postulat, dixisse videamur. De quinta parte rhetoricae deinceps dicemus, tu primas quasque partes in animo frequenta et, quod maxime necesse est, exercitatione confirma.

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Anstrengung und Sorgfalt bestätigt wird. Daß du möglichst viele Orte und zu den Anleitungen möglichst passende hast, dafür kannst du sorgen; im Anordnen von Bildern sollst du dich täglich üben. Denn nicht ebenso wie wir von den übrigen geistigen Übungen manchmal durch irgendeine Beschäftigung abgelenkt werden, kann uns davon irgendein Grund abhalten. Immer ist nämlich ein Anlaß gegeben, daß wir irgend etwas unserem Gedächtnis einprägen wollen, und dann ganz besonders, wenn wir durch irgendeine bedeutendere Aufgabe in Anspruch genommen werden. Da es deshalb nützlich ist, sich etwas leicht einzuprägen, entgeht es dir nicht, mit welcher Anstrengung man das anstreben muß, was so nützlich ist; das kannst du beurteilen, wenn du den Nutzen erkannt hast. Mit noch mehr Worten dich dazu zu ermuntern ist nicht meine Absicht, damit ich nicht den Eindruck erwecke, ich hätte deinem Eifer mißtraut oder weniger gesagt, als die Sache fordert.' 1 Über den fünften Teil der Redekunst will ich im folgenden sprechen. Du aber setze dich mit den ersten Teilen eingehend in deinem Herzen auseinander und - was am meisten notwendig ist - befestige sie durch Übung.

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Quoniam in hoc libro, Herenni, de elocutione conscripsimus et, quibus in rebus opus fuit exemplis uti, nostris exemplis usi sumus et id fecimus praeter consuetudinem Graecorum, qui de hac re scripserunt, necessario faciundum est, ut paucis rationem nostri consilii demus. Atque hoc nos necessitudine facere, non studio, satis erit signi, quod in superioribus libris nihil neque ante rem neque praeter rem locuti sumus. Nunc, si pauca, quae res postulat, dixerimus, tibi id, quod reliquum est artis, ita uti instituimus, persolvemus. Sed facilius nostram rationem intelleges, si prius, quid illi dicant, cognoveris.

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Conpluribus de causis putant oportere, cum ipsi praeceperint, quo pacto oporteat ornare elocutionem, unius cuiusque generis ab oratore aut poeta probato sumptum ponere exemplum. Et primum se id modestia commotos facere dicunt, propterea quod videatur esse ostentatio quaedam non satis habere praecipere de artificio, sed etiam ipsos videri velie artificiose gignere exempla; hoc est, inquiunt, ostentare se, non ostendere artem. Quare pudor in primis est ad eam rem inpedimento, ne nos solos probare, nos amare videamur. Etenim cum possimus ab Ennio sumere aut a

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Da ich ja in diesem 1 Buch, mein Herennius, über die stilistische Gestaltung des Ausdrucks geschrieben und in den Punkten, wo es nötig war, Beispiele anzuführen, eigene Beispiele angeführt habe und dies gegen die Gewohntheit der Griechen tat, die darüber schrieben, ist es notwendig, daß ich mit einigen Worten eine Rechtfertigung für meine Absicht gebe. Und daß ich dies notwendigerweise tue, nicht aus eigener Neigung, das wird genügend dadurch angezeigt, daß ich in den vorausgehenden Büchern nichts vor der Behandlung des eigentlichen Themas und nichts, was mit dem Thema nichts zu tun hatte, sagte.2 Wenn ich nun das Wenige, das die Sache fordert, gesagt habe, werde ich dir das, was von der theoretischen Unterweisung noch aussteht, so wie ich es mir vorgenommen habe, vorlegen. Aber du wirst mein Vorgehen leichter verstehen, wenn du vorher erfährst, was jene Griechen sagen.3 Aus mehreren Gründen glauben sie, man müsse, während sie selbst nur eine Anleitung gegeben hätten, auf welche Art man den Ausdruck schmücken müsse, ein Beispiel für jede einzelne Art anführen, das einem anerkannten Redner oder Dichter entnommen sei.4 Und zuerst, sagen sie, täten sie dies aus Bescheidenheit, deswegen weil es geradezu Prahlerei zu sein scheine, sich nicht damit zu begnügen, Anleitungen über das Lehrgebäude zu geben, sondern den Anschein erwecken zu wollen, man schaffe selbst kunstvoll die Beispiele; dies bedeutet, sagen sie, sich selbst zur Schau zu stellen, nicht die Kunst zu zeigen. Deshalb ist vor allem das Schamgefühl dafür hinderlich, damit wir nicht den Anschein erwecken, wir ließen nur uns allein gelten, wir liebten nur uns. 5 In der Tat, wenn wir von Ennius ein Beispiel nehmen oder von Gracchus 6 eines

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Gracco ponere exemplum, videtur esse adrogantia ilia relinquere et ad sua devenire. Praeterea exempla testimoniorum locum optinent. Etenim, quod admonuerit et leviter fecerit praeceptio, exemplo sicut testimonio, conprobatur. Non igitur ridiculus sit, si quis in lite aut in iudicio domestico testimonio pugnet? Ut enim testimonium, sic exemplum rei confirmandae causa sumitur. Non ergo oportet hoc nisi a probatissimo sumi, ne, quod aliud confirmare debeat, egeat ipsum confirmationis. Etenim necesse est aut se omnibus anteponant et sua maxime probent aut, si alia probant, a probatissimis poetis sumpta sint. Si se omnibus anteponant, intolerabili arrogantia sunt; si quos sibi praeponant et eorum exempla suis exemplis non putant praestare, non possunt dicere, quare sibi illos anteponant.

Quid? ipsa auctoritas antiquorum non cum res probabiliores turn hominum studia ad imitandum alacriora reddit? Immo erigit omnium cupiditates et acuit industriam, cum spes iniecta est posse imitando Gracci aut Crassi consequi facultatem.

Postremo hoc ipsum summum est artificium res varias et dispares in tot poematis et orationibus sparsas et vage disiectas ita diligenter eligere, ut unum quodque genus exemplorum sub singulos artis locos subicere possis. Hoc si industria solum fieri posset, tamen essemus laudandi, cum talem laborem non fugissemus; nunc sine summo artificio non potest fieri. Quis est enim, qui non sum-

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anführen können, erscheint es als Anmaßung, jene Beispiele zu übergehen und sich den eigenen zuzuwenden. Außerdem nehmen Beispiele die Stelle von Belegen ein.7 Das nämlich, wozu die Anleitung ermahnt und was sie leicht anführt, wird durch ein Beispiel wie durch einen Beleg bestätigt. Würde sich einer also nicht lächerlich machen, wenn er bei einem Streit oder vor Gericht 8 mit einem eigenen, von ihm geschaffenen Beispiel kämpfte? Wie nämlich ein Beleg, so wird auch ein Beispiel genommen, um einen Sachverhalt zu bekräftigen. Man darf dieses also nur aus einer sehr anerkannten Schrift entnehmen, damit nicht das, was etwas anderes bekräftigen soll, selbst einer Bekräftigung bedarf. In der Tat müssen diese Leute sich vor alle stellen und am meisten ihre eigenen Werke anerkennen oder, wenn sie andere anerkennen, müssen diese von den anerkanntesten Dichtern genommen sein. Wenn sie sich vor alle anderen stellen, sind sie unerträglich anmaßend; wenn sie aber irgendwelche Männer über sich stellen und trotzdem nicht glauben, daß deren Beispiele ihre eigenen Beispiele übertreffen, dann können sie nicht sagen, warum sie jenen Männern den Vorzug vor sich selbst geben. Wie? Macht das Ansehen der alten Schriftsteller allein nicht den Sachverhalt glaubwürdiger und besonders den Eifer der Menschen, sie nachzuahmen, nicht feuriger? Sicher weckt es das Verlangen aller und schärft ihren Fleiß, wenn die Hoffnung eingeflößt ist, man könne durch Nachahmung' die Fähigkeit eines Gracchus oder Crassus 10 erreichen. Schließlich ist dies selbst die höchste Kunst, verschiedene und ungleiche in so vielen Dichtungen und Reden verstreute und planlos verteilte Dinge so sorgfältig aufzuzählen, daß man jede einzelne Art von Beispielen den einzelnen Punkten der theoretischen Unterweisung unterordnen kann. Wenn dies nur mit Fleiß durchgeführt werden könnte, müßte man uns trotzdem loben, weil wir vor einer solchen Anstrengung nicht geflohen seien; nun kann es aber nicht ohne die höchste Kunst durchgeführt werden. Denn wo findet

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me cum tenet artem, possit ea, quae iubeat ars, de tanta et tarn diffusa scriptura notare et separare? Ceteri cum legunt orationes bonas aut poemata, probant oratores et poetas neque intellegunt, qua re commoti probent, quod scire non possunt, ubi sit nec quid sit nec quo modo factum sit id, quod eos maxime delectet; at is, qui et haec omnia intellegit et idonea maxime eligit et omnia in arte maxime scribenda redigit in singulas rationes praeceptionis, necesse est eius rei summus artifex sit. H o c igitur ipsum maximum artificium est in arte sua posse et alienis exemplis uti.

Haec illi cum dicunt, magis nos sua auctoritate commovent quam veritate disputationis. Illud enim veremur, ne cui satis sit ad contrariam rationem probandam, quod ab ea steterint ii, qui et inventores huius artificii fuerint et vetustate iam satis omnibus probati sint. Q u o d s i illorum auctoritate remota res omnes volent cum re conparare, intellegent non omnia concedenda esse antiquitati.

Primum igitur, quod ab eis de modestia dicitur, videamus, ne nimium pueriliter proferatur. N a m si tacere aut nihil scribere modestia est, cur quicquam scribunt aut locuntur? Sin aliquid suum scribunt, cur, quo setius omnia scribant, inpediuntur modestia? Q u a s i si quis ad Olympia cum venerit cursum et steterit, ut emittatur, inpudentis dicat esse illos, qui currere coeperint, ipse intra carce-

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sich einer, der, wenn er die Theorie nicht in höchstem Maße beherrscht, das, was die Theorie anordnet, aus den so umfangreichen und zerstreuten Schriften aufzeichnen und absondern kann? Wenn die übrigen gute Reden oder Dichtungen lesen, heißen sie Redner und Dichter gut, ohne zu erkennen, aus welchem Grund sie sie gutheißen, 11 weil sie nicht wissen können, wo das steht, noch was es sei, noch auf welche Weise das gestaltet wurde, was sie am meisten erfreut; aber derjenige, welcher dies alles erkennt und das Geeignete vor allem auswählt und alles, was in einer theoretischen Unterweisung vor allem geschrieben werden muß, auf die einzelnen Gesichtspunkte der Anleitung zurückführt, der muß der höchste Künstler in diesem Bereich sein.12 Dies also ist selbst das höchste Lehrgebäude, in seiner eigenen Lehre etwas fertig zu bringen und fremde Beispiele zu verwenden. Wenn jene13 dies sagen, beeindrucken sie uns mehr durch ihr Ansehen als durch die Wahrheit der Erörterung. Ich fürchte nämlich, es könnte einem, um das gegenteilige Verfahren gutzuheißen, schon die Tatsache genügen, daß diejenigen dieses Verfahren angewandt haben, die die Erfinder dieser Kunst waren und schon wegen des Alters von allen gutgeheißen wurden. Wenn man aber ihr Ansehen beiseite gesetzt hat und Sachverhalt mit Sachverhalt vergleicht, wird man erkennen, daß man nicht alles dem Alter zugestehen darf. Zuerst also wollen wir sehen, ob das, was von ihnen über die Bescheidenheit gesagt wird,' 4 nicht allzu kindisch vorgebracht wird. Denn wenn Schweigen oder Nichts-Schreiben Bescheidenheit ist, warum schreiben oder sprechen sie dann überhaupt etwas? Wenn sie aber etwas Eigenständiges schreiben, warum werden sie dann durch ihre Bescheidenheit daran gehindert, alles zu schreiben? Das ist ebenso, wie wenn jemand zu den Olympischen Spielen gekommen ist, um am Wettlauf teilzunehmen, und nun startbereit dasteht und diejenigen unverschämt nennt, die schon zu laufen begonnen haben, während er innerhalb der Schranken

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rem stet et narret aliis, quomodo Ladas aut Boiscus Sicyonius cursitarint, sie isti, cum in artis curriculum descenderunt, illos, qui in eo, quod est artificii, elaborent, aiunt facere inmodeste, ipsi aliquem antiquum oratorem aut poetam laudant aut scripturam, sic ut in stadium rhetoricae prodire non audeant. N o n ausim dicere, sed tarnen vereor, ne, qua in re laudem modestiae venentur, in ea ipsa re sint inpudentes. „ Q u i d enim tibi vis?" aliquis inquiat. „Artem tuam scribis; gignis novas nobis praeeeptiones; eas ipse confirmare non potes; ab aliis exempla sumis. Vide, ne facias inpudenter, qui tuo nomini velis ex aliorum laboribus libare laudem." N a m si eorum volumina prehenderint antiqui oratores et poetae et suum quisque de libris sustulerit, nihil istis, quod suum velint, relinquatur.

„ A t exempla, quoniam testimoniorum similia sunt, item convenit ut testimonia ab hominibus probatissimis sumi". Primum omnium exempla ponuntur hie non confirmandi neque testificandi causa, sed demonstrandi. N o n enim, cum dicimus esse exornationem, quae verbi causa constet ex similiter desinentibus verbis, et ponimus hoc exemplum a Crasso: „quibus possumus et debemus", testimonium conlocamus, sed exemplum. H o c interest igitur inter testimonium et exemplum: exemplo demonstratur id, quod dicimus, cuiusmodi sit; testimonio esse illud ita, ut nos dicimus, confirmatur. Praeterea oportet testimonium cum re convenire; aliter enim rem non potest confirmare. A t id, quod illi faciunt, quom re non convenit. Q u i ita?

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stünde und anderen erzählte, wie Ladas und Boiscus aus Sikyon' 5 gelaufen seien, so behaupten diese da, wenn sie in die Rennbahn der Kunst hinabgestiegen sind, diejenigen, welche sich in dem abmühen, was zur Kunst gehört, handelten unbescheiden, selbst aber loben sie irgendeinen früheren Redner oder Dichter oder eine alte Schrift, so als ob sie nicht wagten, in den Wettstreit der Rhetorik vorzutreten. Ich möchte es eigentlich nicht wagen zu sagen, aber dennoch fürchte ich, daß diese gerade darin, worin sie auf die Jagd nach dem Lobe der Bescheidenheit gehen, unverschämt sind. „Was fällt dir ein?" könnte jemand sagen. „Du schreibst deine eigene Kunst; du schaffst neue Vorschriften für uns; diese kannst du selbst nicht bekräftigen; von anderen nimmst du Beispiele. Sieh zu, daß du nicht unverschämt handelst, da du deinem eigenen Namen aus den Mühen anderer Lob weihen möchtest." Denn wenn die alten Redner und Dichter die Schriftrollen dieser Leute nähmen und jeder sein geistiges Eigentum aus den Büchern entfernte, bliebe diesen da nichts übrig, was sie für sich beanspruchen möchten.' 6 „Aber da ja die Beispiele den Belegen ähnlich sind, soll man sie wie die Belege von den anerkanntesten Menschen nehmen." Zuallererst werden Beispiele angeführt, nicht um etwas zu bekräftigen und zu belegen, sondern um etwas zu schildern.' 7 Wenn ich nämlich sage, eine Ausschmückung sei es, die beispielsweise aus ähnlich auslautenden Wörtern' 8 bestehe, und wenn ich folgendes Beispiel des Crassus anführe: „Dadurch sind wir befähigt und genötigt",' 9 so setze ich das nicht als Beleg, sondern als Beispiel. Folgender Unterschied besteht also zwischen einem Beleg und einem Beispiel: Durch das Beispiel wird dargelegt, von welcher Art das ist, was wir sagen; durch den Beleg wird bekräftigt, daß es so ist, wie wir sagen.20 Außerdem muß der Beleg zum Sachverhalt passen; andernfalls kann er nämlich den Sachverhalt nicht bekräftigen. Aber das, was jene Leute tun, paßt nicht zum Sachverhalt. Wie kommt das? Weil sie versprechen, sie schrieben eine

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Quia pollicentur se artem scribere et exempla proferunt ab iis plerumque, qui artem nescierunt. Tum quis est, qui possit id, quod de arte scripserit, conprobare, nisi aliquid scribat ex arte? Contraque faciunt, quam polliceri videntur. Nam cum scribere artem instituunt, videntur dicere se excogitasse, quod alios doceant; cum scribunt, ostendunt nobis, quid alii excogitarint. „At hoc ipsum difficile est", inquiunt, „eligere de multis." Quid dicitis difficile, utrum laboriosum an artificiosum? Si laboriosum, non statim praeclarum. Sunt enim multa laboriosa, quae si faciatis, non continuo gloriemini; nisi etiam, si vestra manu fabulas aut orationes totas transscripsissetis, gloriosum putaretis. Sin istud artificiosum egregium dicitis, videte, ne insueti rerum maiorum videamini, si vos parva res sicuti magna delectabit. Nam isto modo selegere rudis quidem nemo potest, sed sine summo artificio multi.

Quisquis enim audivit de arte paulo plus, in elocutione praesertim, omnia videre poterit, quae ex arte dicentur, facere nemo poterit nisi eruditus. Ita ut si de tragoediis Ennii velis sententias eligere aut de Pacuvianis periodos, sed si, quia piane rudis id facere nemo poterit, cum feceris, te litteratissimum putes, ineptus sis, propterea quod id facile faciat quivis mediocriter litteratus, item si, cum de orationibus aut poematis elegeris exempla, quae certis signis artificii notata sunt, quia rudis id nemo facere possit, artificiosissime te fecisse putes, erres,

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Anleitung zur Kunst, und die Beispiele meistens aus den Autoren anführen, die eine Anleitung zur Kunst nicht kannten. Weiterhin, wer könnte das, was er über die Kunst geschrieben hat, bestätigen, wenn er nicht etwas gemäß dieser Kunst schreibt? 21 U n d sie handeln im Gegensatz zu dem, was sie zu versprechen scheinen. Denn wenn sie sich entschließen, ein Lehrwerk zu schreiben, erwecken sie den Anschein, sie hätten sich ausgedacht, was sie andere lehren; wenn sie schreiben, zeigen sie das auf, was sich andere ausgedacht haben. „Aber gerade das ist schwierig", sagen sie, „aus vielen auszuwählen." Was ihr schwierig nennt, ist das mühsam oder kunstvoll? Wenn es mühsam ist, ist es nicht sogleich vortrefflich. Es gibt nämlich viel Mühsames, dessen man sich nicht unmittelbar darauf rühmt, wenn man es tut; es sei denn, man würde es auch für ruhmvoll halten, wenn man mit eigener Hand ganze Schauspiele oder Reden abgeschrieben hat. 22 Wenn ihr aber dies für eine herausragende Kunst haltet, seht zu, daß ihr nicht den Anschein erweckt, ihr wäret nicht vertraut mit bedeutenderen Aufgaben, wenn euch eine unbedeutende Aufgabe ebenso Freude macht wie eine bedeutende. Denn auf diese Weise auswählen kann zwar kein ganz ungebildeter Mensch, aber viele können es ohne die höchste Kunst. Jeder nämlich, der von der Lehre ein wenig mehr gehört hat, zumal was die stilistische Gestaltung angeht, wird alle Wendungen sehen können, die entsprechend der Lehre gebildet werden; formen kann sie nur der Fachkundige. Angenommen, du wolltest aus den Tragödien des Ennius Sentenzen oder aus denen des Pacuvius Perioden auswählen, aber weil dies kein ganz und gar ungebildeter Mensch kann, hieltest du dich für literarisch sehr gebildet, wenn du es getan hast; da wärest du wohl albern, deswegen weil das jeder beliebige einigermaßen Gebildete leicht fertigbringt; ebenso angenommen, du hast aus Reden oder Dichtungen Beispiele ausgewählt, welche durch bestimmte Kennzeichen der Kunst ausgezeichnet sind; wenn du dann glaubst, weil dies kein Ungebildeter tun kann, du hättest es mit größtem

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propterea quod isto signo videmus te nonnihil scire, aliis signis multa scire intellegemus. Quod si artificiosum est intellegere, quae sint ex arte scripta, multo est artificiosius ipsum scribere ex arte. Qui enim scribit artificióse, ab aliis commode scripta facile intellegere poterit; qui eliget facile, non continuo commode ipse scribet. Et si est máxime artificiosum, alio tempore utantur ea facúltate, non tum, cum parere et ipsi gignere et proferre debent! Postremo in eo vim artificii consumant, ut ipsi ab aliis potius eligendi quam aliorum boni selectores existimentur.

Contra ea, quae ab iis dicuntur, qui dicunt alienis exemplis uti oportere, satis est dictum. Nunc quae separatim dici possint, consideremus. Dicimus igitur eos, cum ideo, quod alienis utantur, peccare, tum magis etiam delinquere, quod a multis exempla sumant. Sed de eo, quod postea diximus, antea videamus. Si concederem aliena oportere adsumere exempla, vincerem unius oportere, primum quod contra hoc nulla staret illorum ratio. Licet enim eligerent et probarent quemlibet, qui sibi in omnes res subpeditaret exempla, vel poetam vel oratorem, cuius auctoritate niterentur. Deinde interest magni eius, qui discere vult, unum omnia an omnia neminem, sed aliud alium putet consequi posse. Si enim putabit posse omnia penes unum consistere, ipse quoque ad omnium nitetur facultatem. Si id desperarit, in paucis se exercebit; ipsis enim contentus erit, nec mirum, cum ipse

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Kunstverstand getan, so dürftest du irren, deswegen weil wir wohl an diesem Zeichen sehen, daß du einiges weißt, aber erst an anderen Zeichen erkennen werden, daß du viel weißt. Wenn es ein Zeichen von Kunstverstand ist zu erkennen, was gemäß der Lehre geschrieben ist, so verrät es viel mehr Kunstverstand, selbst gemäß der Lehre zu schreiben. Wer nämlich mit Kunstverstand schreibt, kann das von anderen treffend Geschriebene leicht erkennen; wer leicht auswählt, schreibt nicht unmittelbar danach treffend. U n d wenn dies vor allem ein Zeichen von Kunstverstand ist, soll man diese Fähigkeit zu einem anderen Zeitpunkt anwenden, nicht dann, wenn man schöpferisch tätig sein und selbst etwas schaffen und hervorbringen muß. Schließlich sollen die Leute darin die Kraft ihrer Kunstfertigkeit erschöpfen, daß man sie eher selbst dafür geeignet hält, daß man aus ihnen auswählen kann, als für gute Auswähler aus anderen. Gegen die Argumente, die von denen vorgebracht werden, die sagen, man müsse fremde Beispiele anführen, ist genug gesagt. N u n wollen wir in Betracht ziehen, was unabhängig davon gesagt werden kann. 23 Ich behaupte also, daß diese schon deshalb einen Fehler begehen, weil sie fremde Beispiele anwenden, noch mehr aber machen sie falsch, weil sie von vielen die Beispiele entnehmen. 24 Aber das, was ich zuletzt gesagt habe, will ich zunächst näher betrachten. Wenn ich zugeben würde, daß man fremde Beispiele übernehmen muß, würde ich mich mit der Meinung durchsetzen, man dürfe sie nur von einem einzigen übernehmen; denn dagegen würde erstens kein Verfahren von diesen Leuten stehen. Sie mögen nämlich jeden beliebigen auswählen und gut heißen, der ihnen für alle Punkte Beispiele zur Verfügung stellt, entweder einen Dichter oder Redner, auf dessen Ansehen sie sich stützen. Weiterhin ist es für den, der lernen will, sehr wichtig, ob er glaubt, daß einer alles erfassen kann oder alles niemand oder jeder etwas anderes. Wenn er nämlich glaubt, daß alle Fertigkeiten bei einem einzigen liegen, wird er sich auch um Fähigkeit in allem bemühen. Wenn er daran verzweifelt, wird er

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praeceptor artis omnia penes unum reperire non potuerit. Allatis igitur exemplis a Catone, a Graccis, a Laelio, a Scipione, Galba, Porcina, Crasso, Antonio, ceteris, item sumptis aliis a poetis et historiarum scriptoribus, necesse erit eum, qui discet, putare ab omnibus omnia, ab uno pauca vix potuisse sumi.

Quare unius alicuius esse similem satis habebit, omnia, quae omnes habuerint, solum habere se posse diffidet. Ergo inutile est ei, qui discere vult, non putare unum omnia posse. Igitur nemo in hanc incideret opinionem, si ab uno exempla sumpsissent. Nunc hoc signi est ipsos artis scriptores non putasse unum potuisse in omnibus elocutionis partibus enitere, quoniam neque sua protulerunt neque unius alicuius aut denique duorum, sed ab omnibus oratoribus et poetis exempla sumpserunt. Deinde, si quis velit artem demonstrare nihil prodesse ad dicendum, non male utatur hoc adiumento, quod unus omnis artis partes consequi nemo potuerit. Quod igitur iuvat eorum rationem, qui omnino improbent artem, id non ridiculum est ipsum scriptorem artis suo iudicio conprobare? Ergo ab uno sumenda fuisse docuimus exempla, si semper aliunde sumerentur.

Nunc omnino aliunde sumenda non fuisse sic intellegemus. Primum omnium, quod ab artis scriptore adfertur exemplum, de eius artificio debet esse. Non ut si quis purpuram aut aliud

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sich in wenigem üben; damit allein wird er zufrieden sein, und das ist nicht verwunderlich, da der Lehrer der Kunst selbst nicht alles bei einem finden konnte. Hat man also Beispiele von Cato, den Gracchen, von Laelius, Scipio, Galba, Porcina, Crassus, Antonius 25 und den übrigen Rednern beigebracht, hat man ebenso andere von Dichtern und Geschichtsschreibern entnommen, wird der Lernende notwendigerweise glauben, von allen habe alles, von einem einzigen kaum weniges entnommen werden können. Deshalb wird er sich damit begnügen, einem einzigen ähnlich zu sein,26 sich aber nicht zutrauen, alle Vorzüge, die alle besessen haben, allein besitzen zu können. Also ist es für den, der lernen will, nicht nützlich zu glauben, ein einziger könne nicht alles.27 Folglich würde niemand in diese Ansicht geraten, wenn man von einem einzigen die Beispiele entnommen hätte. N u n ist ein Zeichen dafür, daß die Verfasser eines Lehrwerkes selbst nicht glaubten, ein einziger habe in allen Teilen der stilistischen Gestaltung sich in vollem Glänze zeigen können, die Tatsache, daß sie weder ihre eigenen Beispiele vorbrachten noch Beispiele von einem einzigen oder schließlich von zweien, sondern von allen Rednern und Dichtern Beispiele entnahmen. Wenn weiterhin einer zeigen wollte, daß die theoretische Unterweisung nichts nütze zum Reden, könnte er nicht ungeschickt zur Unterstützung seiner These die Tatsache anführen, daß kein einziger alle Teile der Lehre erfassen konnte. Ist es also nicht lächerlich, daß der Verfasser eines Lehrwerkes selbst diejenige Meinung durch sein eigenes Urteil als richtig bestätigt, die das Vorgehen derer stützt, die die theoretische Unterweisung überhaupt nicht gelten lassen?28 Also müßten Beispiele - so habe ich gelehrt - einem einzigen entnommen werden, wenn man sie von woandersher nehmen soll. Daß sie aber überhaupt nicht von woandersher entnommen werden sollen, werden wir auf folgende Weise erkennen. Vor allem muß das Beispiel, das vom Verfasser eines Lehrwerkes angeführt wird, aus seiner eigenen Kunstschöp-

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quippiam vendens dicat: „Sume a me, sed huius exemplum aliunde rogabo tibique ostendam". Sic mercem ipsi qui venditant, aliunde exemplum quaeritant mercis, acervos se dicunt tritici habere, eorum exemplum pugno non habent, quod ostendant. Si Triptolemus, cum hominibus semen largiretur, ipse ab aliis id hominibus mutuaretur, aut si Prometheus, cum mortalibus ignem dividere vellet, ipse a vicinis cum testula ambulans carbunculos corrogaret, ridiculus videretur. Isti magistri, omnium dicendi praeceptores, non videntur sibi ridicule facere, cum id, quod aliis pollicentur, ab aliis quaerunt? Si qui se fontes maximos penitus absconditos aperuisse dicat et haec sitiens quom maxime loquatur neque habeat, qui sitim sedet, non rideatur? Isti cum non m o d o dominos se fontium, sed se ipsos fontes esse dicant et omnium rigare debeant ingénia, non putant fore ridiculum, si, cum id polliceantur, arescant ipsi siccitate? Chares ab Lysippo statuas facere non isto m o d o didicit, ut Lysippus caput ostenderet Myronium, brachia Praxitelea, pectus Polycletium, sed omnia coram magistrum facientem videbat, ceterorum opera vel sua sponte poterat considerare. Isti credunt eos, qui haec velint discere, alia ratione doceri posse commodius!

Praeterea ne possunt quidem ea, quae sumuntur ab aliis, exempla tam esse adcommodata ad artem, propterea quod in dicendo leviter unus quisque locus plerumque tangitur, ne ars appareat, in praecipiendo expresse conscripta ponere oportet ex-

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fung stammen. Nicht wie wenn einer, der ein Purpurkleid oder irgend etwas anderes verkauft, sagte: „ N i m m es von mir, aber das Muster dafür, das ich dir zeigen kann, werde ich mir woandersher erbitten." So sagen diejenigen, die ihre Ware selbst verkaufen, woandersher aber irgendein Muster für ihre Ware herbeizubringen suchen, sie hätten haufenweise Weizen, ein Muster davon aber haben sie nicht in der Hand, das sie zeigen könnten. 29 Wenn Triptolemos, als er den Menschen den Samen schenken wollte, 30 ihn erst selbst von anderen Menschen geliehen hätte, oder wenn Prometheus, als er den Sterblichen das Feuer zuteilen wollte, erst selbst bei den Nachbarn mit einer Scherbe herumgegangen wäre und sich Kohlen zusammengebettelt hätte, wäre er lächerlich erschienen. Diese Schulmeister da, die Redelehrer aller, bilden sich ein, sich nicht lächerlich zu machen, wenn sie das, was sie den einen versprechen, von anderen erbitten? Wenn einer behauptet, er habe sehr reiche, ganz verborgene Quellen entdeckt, und dies sagt, während er sehr durstig ist und keine Möglichkeit hat, seinen Durst zu stillen, dürfte der nicht verlacht werden? Wenn diese Leute da sich nicht nur die Herren der Quellen, sondern die Quellen selbst nennen 3 ' und es für ihre Schuldigkeit halten, die Begabungen aller zu bewässern, glauben sie dann nicht, es werde lächerlich sein, wenn sie vor Trockenheit ausdörren, während sie das versprechen? Chares 5 2 lernte von Lysipp die Bildhauerkunst nicht auf die Weise, daß ihm Lysipp einen Kopf des Myron, Arme des Praxiteles, einen Brustkorb des Polyklet zeigte, sondern er sah mit eigenen Augen, wie der Meister dies alles schuf; die Werke der übrigen konnte er wohl von sich aus betrachten. 33 Diese Leute da aber glauben, diejenigen, die diese unsere Kunst lernen wollen, könnten durch eine andere Methode vorteilhafter unterwiesen werden. Außerdem können die Beispiele, welche von anderen entnommen werden, nicht einmal so sehr zur theoretischen Unterweisung passen, deswegen weil beim Sprechen jeder einzelne Punkt meistens nur leicht berührt wird, damit die Lehre nicht durchscheint, bei der Anleitung man aber

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empia, uti in artis formam convenire possint; et post in dicendo, ne possit ars eminere et ab omnibus videri, facultate oratoris occultatur. Ergo etiam ut magis ars cognoscatur, suis exemplis melius est uti. Postremo haec quoque res nos duxit ad hanc rationem, quod nomina rerum Graeca, quae vertimus, ea remota sunt a consuetudine. Quae enim res apud nostros non erant, earum rerum nomina non poterant esse usitata. Ergo haec asperiora primo videantur necesse est idque fiet rei, non nostra difficultate. Reliquum scripturae consumetur in exemplis; haec aliena si posuissemus, factum esset, ut, quod commodius esset in hoc libro, id nostrum non esset, quod asperius et inusitatius, id proprie nobis adtribueretur. Ergo hanc quoque incommoditatem fugimus. His de causis, cum artis inventionem Graecorum probassemus, exemplorum rationem secuti non sumus. Nunc tempus postulai, ut ad elocutionis praecepta transeamus.

Bipertita igitur erit nobis elocutionis praeceptio. Primum dicemus, quibus in generibus semper omnis oratoria elocutio debeat esse; deinde ostendemus, quas res semper habere debeat. Sunt igitur tria genera, quae genera nos figuras appellamus, in quibus omnis oratio non vitiosa consumitur: unam gravem, alteram mediocrem, tertiam extenuatam vocamus. Gravis est, quae constat ex verborum gravium levi et ornata constructione. Mediocris est, quae constat ex humiliore neque tamen ex infima et pervulgatissima verborum dignitate. Attenuata est, quae demissa est

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anschaulich beschriebene Beispiele anführen muß, damit sie zur Form der Lehre gut passen können; und später bei der Rede wird die Lehre durch die Fähigkeit des Redners verborgen, 3 4 damit sie nicht herausstechen und von allen gesehen werden kann. Also ist es auch besser, eigene Beispiele zu verwenden, damit die Lehre mehr erkannt wird. Schließlich hat mich zu diesem Vorgehen auch die Tatsache geführt, daß die Ausdrücke, mit welchen ich griechische Benennungen übertrage, vom alltäglichen Sprachgebrauch abweichen. Für Sachverhalte nämlich, die es bei meinen Landsleuten nicht gab, konnten auch keine Benennungen im Gebrauch sein. Also müssen diese Benennungen zuerst ziemlich spröde erscheinen, und dies geschieht durch die schwierige Sachlage, nicht durch meine Schuld. 3 ' Der übrige Teil meiner Schrift wird auf Beispiele verwendet; hätte ich hierbei fremde Beispiele angeführt, so wäre dabei herausgekommen, daß das, was an diesem Buch vorteilhafter ist, nicht mein Eigentum wäre, was aber allzu spröde und ungewöhnlich ist, mir als mein Eigentum zuerkannt würde. Also suchte ich auch diesem Nachteil zu entgehen. Aus diesen Gründen folgte ich, obwohl ich die Auffindung der Lehre durch die Griechen für richtig hielt, ihrem Verfahren bei den Beispielen nicht. N u n erfordert es die Zeit, daß ich zu den Vorschriften der stilistischen Gestaltung übergehe. Zweigeteilt also wird für mich die Lehre von der stilistischen Gestaltung sein. Zuerst werde ich sagen, in welche Arten sich jede rednerische Gestaltung immer gliedern muß; 3 6 dann werde ich dartun, welche Eigenschaften sie immer besitzen muß. 3 7 Es gibt nun drei Arten, welche ich als Stilarten 38 bezeichne, in welchen sich jede nicht fehlerhafte Rede erschöpft: die eine nennen wir die erhabene, die zweite die gemäßigte, die dritte die schlichte. 39 Erhaben ist der Stil, der aus der geschliffenen und schmuckvollen Verbindung erhabener Worte besteht. Gemäßigt ist der Stil, der aus eindrucksvollen Worten besteht, die wohl etwas niedriger, aber nicht ganz gewöhnlich und gemein sind. Schlicht ist der Stil,

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usque ad usitatissimam puri consuetudinem sermonis. In gravi consumetur oratio figura, si quae cuiusque rei poterunt ornatissima verba reperiri, sive propria sive extranea, unam quamque in rem adcommodabuntur, et si graves sententiae, quae in amplificatione et conmiseratione tractantur, eligentur, et si exornationes sententiarum aut verborum, quae gravitatem habebunt, de quibus post dicemus, adhibebuntur. In hoc genere figurae erit hoc exemplum: „ N a m quis est vestrum, iudices, qui satis idoneam possit in eum poenam excogitare, qui prodere hostibus patriam cogitarit? quod maleficium cum hoc scelere conparari, quod huic maleficio dignum supplicium potest inveniri? In iis, qui violassent ingenuum, matremfamilias constuprassent, puisassent aliquem aut postremo necassent, maxima supplicia maiores consumpserunt; huic truculentissimo ac nefario facinori singularem poenam non reliquerunt. A t q u e in aliis maleficiis ad singulos aut ad paucos ex alieno peccato iniuria pervenit, huius sceleris qui sunt adfines, uno Consilio universis civibus atrocissimas calamitates machinantur. O feros animosi o crudeles cogitationes! o derelictos homines ab humanitate! Q u i d agere ausi sunt aut cogitare possunt? quo pacto hostis revulsis maiorum sepulcris, deiectis moenibus, ovantes inruerent in civitatem; quo m o d o deum templis spoliatis, optimatibus trucidatis, aliis abreptis in servitutem, matribusfamilias et ingenuis sub hostilem libidinem subiectis urbs acerbissimo concidat incendio conflagrata; qui se non putant id, quod

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der herabgesenkt ist bis zum allgemein üblichen Gebrauch der reinen Umgangssprache. Im erhabenen Stil erschöpft sich eine Rede, wenn man die schmuckvollsten Worte, die man für jeden einzelnen Sachverhalt finden kann, in der eigentlichen oder uneigentlichen Bedeutung, auf jeden einzelnen Sachverhalt anwendet und wenn man erhabene Begriffe, die man bei der Steigerung und dem Erregen von Mitleid handhabt, auswählt und wenn man die Ausschmückungen von Begriffen oder Worten, welche Erhabenheit in sich bergen und über die ich später sprechen werde, 4 0 zur Geltung bringt. Für diese Stilart dient das folgende Beispiel: 4 1 „Wer von euch, ihr Herren Richter, könnte eine genügend angemessene Strafe für den ausdenken, der den Gedanken hegte, das Vaterland den Feinden zu verraten? Welche Freveltat könnte mit diesem Verbrechen verglichen, welche dieser Freveltat angemessene Strafe könnte gefunden werden? 4 2 Gegen diejenigen, welche einen Freigeborenen mißhandelten, eine Frau schändeten, jemanden mißhandelten oder schließlich töteten, wandten unsere Vorfahren die härtesten Strafen an; aber für diese so furchtbare und verbrecherische Tat hinterließen sie keine einzelne Strafe. 43 Und außerdem wirkt sich bei anderen Freveltaten ein Unrecht, das aus einem fremden Vergehen entspringt, nur auf einzelne oder wenige Personen aus; wer sich aber an diesem Verbrechen beteiligt, führt durch einen einzigen Plan gegen alle seine Mitbürger zusammen das schrecklichste Unheil im Schilde. O was für eine wilde Gesinnung! O was für grausame Gedanken! O was für völlig entmenschte Menschen! Was zu tun haben sie gewagt oder was können sie ersinnen? Auf diese Weise würden die Feinde die Gräber der Vorfahren durchwühlen, die Mauern einreißen und jubelnd in die Stadt eindringen; auf diese Art würden die Göttertempel geplündert, die Edelsten niedergemetzelt, andere in die Sklaverei weggeschleppt, Frauen und Freigeborene der Willkür der Feinde ausgeliefert, und die Stadt würde in einer schrecklichen Feuersbrunst in sich zusammenstürzen; diese Leute

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voluerint, ad exitum perduxisse, nisi sanctissimae patriae miserandum scelerati viderint cinerem. N e q u e o verbis consequi, iudices, indignitatem rei; sed neglegentius id fero, quia vos mei non egetis. Vester enim vos animus amantissimus rei publicae facile edocet, ut eum, qui fortunas omnium voluerit prodere, praecipitem proturbetis ex ea civitate, quam iste hostium spurcissimorum dominatu nefario voluerit obruere." In mediocri figura versabitur oratio, si haec, ut ante dixi, aliquantulum demiserimus neque tamen ad infimum descenderimus, sic: „Quibuscum bellum gerimus, iudices, videtis: cum sociis, qui pro nobis pugnare et imperium nostrum nobiscum simul virtute et industria conservare soliti sunt. H i cum se et opes suas et copiam necessario norunt, tum vero nihilominus propter propinquitatem et omnium rerum societatem, quid omnibus rebus populus Romanus posset, scire et existimare poterant. Hi, cum deliberassent nobiscum bellum gerere, quaeso, quae res erat, qua freti bellum suscipere conarentur, cum multo maximam partem sociorum in officio manere intellegerent, cum sibi non multitudinem militum, non idoneos inperatores, non pecuniam publicam praesto esse viderent, non denique ullam rem, quae res pertinet ad bellum administrandum? Si cum finitumis de finibus bellum gererent, si totum certamen in uno proelio positum putarent, tamen omnibus rebus instructiores et apparatiores venirent; nedum illi imperium orbis terrae, cui imperio omnes gentes, reges, nationes partim vi, partim voluntate consenserunt, cum aut armis aut liberalitate a populo Romano superati essent, ad se

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glauben nicht, das, was sie wollten, ganz zu Ende geführt zu haben, wenn sie nicht die beklagenswerte Asche des heiligsten Vaterlandes gesehen haben. Ich kann nicht mit Worten, ihr Herren Richter, die Niedertracht des Verhaltens zum Ausdruck bringen; aber ziemlich gelassen ertrage ich dies, weil ihr mich dazu nicht braucht. Denn euer das Vaterland brennend liebendes Herz wird euch leicht lehren, den, der das Glück aller verraten wollte, jäh aus der Stadt fortzujagen, welche jener Kerl unter der verbrecherischen Gewaltherrschaft der abscheulichsten Feinde begraben wollte." 44 Im gemäßigten Stil bewegt sich eine Rede, wenn wir, wie oben gesagt,45 dies ein klein wenig herabsenken, ohne trotzdem zu einem ganz niedrigen Ton herabzusteigen, z.B.: 46 „Mit was für Leuten wir Krieg führen, ihr Herren Richter, seht ihr: Mit Bundesgenossen, die es gewohnt waren, für uns zu kämpfen und unser Reich zugleich mit uns mit Tapferkeit und Tatkraft zu erhalten. Diese kennen notwendigerweise sich, ihre Macht und ihre Truppenstärke, besonders aber konnten sie wegen ihrer Nachbarschaft und der Verbindung in allen Dingen um so mehr wissen und einschätzen, was das römische Volk in allen Bereichen vermöge. Als diese überlegten, gegen uns Krieg zu führen, welches war da, frage ich, der Umstand, im Vertrauen auf den sie den Krieg zu unternehmen versuchten, da sie doch bemerkten, daß weitaus der größte Teil der Bundesgenossen ihre Verpflichtungen einhielten; da sie doch sahen, daß ihnen keine große Zahl von Soldaten, keine geeigneten Feldherren, keine öffentlichen Gelder zur Verfügung stünden, und schließlich nichts, was zur Kriegsführung hilfreich ist? Wenn sie mit ihren Nachbarn Krieg wegen der Grenzen führten, wenn sie glaubten, der ganze Streit werde mit einer einzigen Schlacht entschieden, kämen sie dennoch in jeder Beziehung besser gerüstet und vorbereitet; geschweige denn, daß sie versuchten, mit so geringen Kräften die Herrschaft über den Erdkreis, 47 mit welcher alle Völker, Könige und Nationen teils durch Gewalt gezwungen, teils freiwillig einverstanden waren, wenn sie entweder durch Waffengewalt oder durch edle

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transferre tantulis viribus conarentur. Quaeret aliquis: ,Quid? Fregellani non sua sponte conati sunt?' Eo quidem isti minus facile conarentur, quod illi quemadmodum discessissent videbant. Nam rerum inperiti, qui unius cuiusque rei de rebus ante gestis exempla petere non possunt, ii per inprudentiam facillime deducuntur in fraudem; at ii, qui sciunt, quid aliis acciderit, facile ex aliorum eventis suis rationibus possunt providere. Nulla igitur re inducti, nulla spe freti arma sustulerunt? Quis hoc credet, tantam amentiam quemquam tenuisse, ut imperium populi Romani temptare auderet nullis copiis fretus? Ergo aliquid fuisse necessum est. Quid aliud, nisi id, quod dico, potest esse?"

In adtenuato figurae genere, id est, quod ad infimum et cottidianum sermonem demissum est, hoc erit exemplum: „Nam ut forte hie in balneas venit, coepit, postquam perfusus est, defricari; deinde, ubi visum est, ut in alveum descenderet, ecce tibi iste de traverso: ,Heus', inquit ,adolescens, pueri tui modo me pulsarunt; satis facias oportet.' Hie, qui id aetatis ab ignoto praeter consuetudinem appellatus esset, erubuit. Iste clarius eadem et alia dicere coepit. Hie vix: ,Tamen', inquit, ,sine me considerare.' Tum vero iste clamare voce ista, quae vel facile cuivis rubores eicere posset: ,Ita petulans es atque acer, ut ne ad solarium quidem, ut mihi videtur, sed pone scaenam et in eiusmodi locis exercitatus sis.' Conturbatus est adolescens; nec mirum, cui etiam nunc pedagogi lites ad oriculas versarentur inperito huiusmodi conviciorum. Ubi enim iste

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Freizügigkeit vom römischen Volk besiegt waren, auf ihre Seite zu bringen. Nun wird jemand fragen: ,Wie? Haben es die Fregellaner nicht von sich aus versucht?' 48 Doch sie würden es gewiß um so weniger leicht versuchen, als sie sahen, wie es für die Fregellaner ausgegangen war. Denn die Unerfahrenen, die nicht für jeden einzelnen Fall Beispiele früherer Ereignisse erlangen können, lassen sich durch ihre Unkenntnis sehr leicht zu einem Irrtum verleiten; aber die, welche wissen, was anderen widerfuhr, können leicht aus dem Geschick anderer für ihre eigenen Vorhaben Vorkehrungen treffen. Haben sie also ohne eine Veranlassung, ohne Vertrauen auf eine Aussicht die Waffen erhoben? Wer wird dies glauben, daß jemanden ein solcher Wahnsinn erfaßte, daß er es wagte, die Herrschaft des römischen Volkes zu bedrohen, ohne daß er auf irgendwelche Machtmittel vertrauen konnte? Also muß irgend etwas vorhanden gewesen sein. Was anderes als das, was ich sage, könnte es sein?" Für die schlichte Stilart, d. h. für die, welche zur niedrigsten und alltäglichsten Umgangssprache herabgesenkt ist, dient das folgende Beispiel: 49 „Denn sobald dieser hier ins Bad gekommen ist, ließ er sich, nachdem er abgespült war, abreiben; dann als er beschloß, ins Wasserbecken hinabzusteigen, da schau, da schreit ihn dir unvermutet der da an: ,He, junger Mann, deine Sklaven haben mich eben geschlagen; du mußt mich dafür entschädigen.' Der junge Mann, der - was in seinem Alter ungewöhnlich war - von einem Unbekannten angeredet wurde, wurde rot. Der da sprach noch lauter das nämliche und ähnliches. Der junge Mann spricht mit Mühe: d e n noch laß' mich überlegen.' Da aber schreit der da mit einer solchen Stimme, die sehr leicht jedem beliebigen die Schamröte ins Gesicht treiben könnte: ,Du bist so frech und heftig, daß du nicht einmal bei der Sonnenuhr, 50 wie mir scheint, sondern hinter der Bühne und an anderen Orten dich geübt hast.' Der junge Mensch ist verwirrt; das ist nicht verwunderlich, da ihm auch jetzt noch die Streitreden des Pädagogen um seine Ohrchen schwirrten und er derartiges Ge-

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vidisset scurram exhausto rubore, qui se putaret nihil habere, quod de existimatione perderet, ut omnia sine famae detrimento facere posset?"

Igitur genera figurarum ex ipsis exemplis intellegi poterunt. Erit enim et adtenuata verborum constructio quaedam et item alia in gravitate, alia posita in mediocritate.

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Est autem cavendum, ne, dum haec genera consectemur, in finituma et propinqua vitia veniamus. N a m gravi figurae, quae laudanda est, propinqua est ea, quae fugienda; quae recte videbitur appellari, si sufflata nominabitur. N a m ita ut corporis bonam habitudinem tumor imitatur saepe, item gravis oratio saepe inperitis videtur ea, quae turget et inflata est, cum aut novis aut priscis verbis aut duriter aliunde translatis aut gravioribus, quam res postulai, aliquid dicitur, hoc modo:

„ N a m qui perduellionibus venditat patriam, non satis subplicii dederit, si praeceps in Neptunias depultus erit lacunas. Poenite igitur istum, qui montis belli fabricatus est, campos sustulit pacis." In hoc genus plerique cum declinantur et ab eo, quo profecti sunt, aberrarunt, specie gravitatis falluntur nec perspicere possunt orationis tumorem. Q u i in mediocre genus orationis profecti sunt, si pervenire eo non potuerunt, errantes perveniunt ad confine genus eius generis, quod appellamus fluctuans, eo quod fluctuat hue et illuc nec potest confirmate ñeque viriliter sese expedire. Id est eiusmodi: „Socii nostri cum belligerare nobiscum vellent, profecto ratiocinati essent etiam

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schimpfe nicht gewohnt war. Wo nämlich hätte dieser arme Kerl auch einen Tagedieb gesehen, dem die Schamröte genommen war, der also glaubte, er besäße nichts, was er von seinem Ansehen verlieren könne, so daß er alles ohne Schaden für seinen Ruf tun könne?" 5 ' Also können die Stilarten aus den Beispielen selbst erkannt werden. Es geht nämlich gewissermaßen um einen schlichten Aufbau der Worte, und ebenso einen anderen, beruhend auf Erhabenheit, einen anderen, beruhend auf Gemäßigtheit. Man muß sich aber davor hüten, daß man, während man auf diese Arten aus ist, in naheliegende und verwandte Fehler gerät. 52 Denn dem erhabenen Stil, der lobenswert ist, ist der verwandt, den man meiden soll; dieser scheint richtig bezeichnet zu werden, wenn man ihn schwülstig nennt. Denn so wie eine gute körperliche Verfassung oft eine Geschwulst nachahmt, ebenso erscheint als erhabene Rede den Unerfahrenen oft die, welche schwülstig und aufgeblasen ist, wenn etwas durch neugebildete oder durch altertümliche Wörter, durch Wörter, die schroff woandersher übertragen oder erhabener sind, als es die Sache erfordert, gesagt wird, 55 wie z. B. auf folgende Weise: „Denn wer sein Vaterland durch Hochverrat feilbietet, nimmt nicht genügend Strafe auf sich, wenn er jählings in die Abgründe Neptuns hinabgestoßen wird. Bestraft also den da, der Berge des Krieges gezimmert und die Ebenen des Friedens beseitigt hat." 5 4 Wenn sehr viele dieser Gattung zuneigen und von dem Weg, den sie eingeschlagen hatten, abgekommen sind, werden sie durch den Schein der Erhabenheit getäuscht und können den Schwulst der Rede nicht durchschauen. Wer auf die gemäßigte Art der Rede aus war, gelangt, wenn er nicht dahin gelangen konnte, auf seinem Irrweg zu einer daran grenzenden Art, die wir die schwankende 55 nennen, weil sie hin und her schwankt und sich nicht kräftig und mannhaft entwickeln kann. Sie ist z . B . folgendermaßen: 5 6 „Wenn unsere Bundesgenossen mit uns Krieg führen wollten, hätten sie in der Tat

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atque etiam, quid possent facere, si quidem sua sponte facerent et non haberent hinc adiutores multos, malos homines et audaces. Solent enim diu cogitare omnes, qui magna negotia volunt agere." N o n potest huiusmodi sermo tenere adtentum auditorem; diffluit enim totus neque quicquam conprehendens perfectis verbis amplectitur. Q u i non possunt in ilia facetissima verborum attenuatione commode versari, veniunt ad aridum et exangue genus orationis, quod non alienum est exile nominari, cuiusmodi est hoc: „ N a m istic in balineis accessit ad hunc; postea dicit: ,Hic tuus servus me pulsavit.' Postea dicit hie illi: ,Considerabo.' Post ille convicium fecit et magis magisque praesente multis clamavit." Frivolus hie quidem iam et inliberalis est sermo; non enim est adeptus id, quod habet attenuata figura, puris et electis verbis conpositam orationem. O m n e genus orationis, et grave et mediocre et adtenuatum, dignitate adficiunt exornationes, de quibus post loquemur; quae si rarae disponentur, distinctam, sicuti coloribus, si crebrae conlocabuntur, oblitam reddunt orationem. Sed figuram in dicendo commutari oportet, ut gravem mediocris, mediocrem excipiat attenuata, deinde identidem commutentur, ut facile satietas varietate vitetur. Quoniam quibus in generibus elocutio versari debeat dictum est, videamus nunc, quas res debeat habere elocutio commoda et perfecta. Quae maxime admodum oratori accommodata est, tres res in se debet habere: elegantiam, conpositionem, dignitatem.

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immer wieder überlegt, was sie tun könnten, wenn sie es ja von sich aus täten und hier nicht viele Helfer hätten, schlechte und verwegene Menschen. Es pflegen nämlich alle lange nachzudenken, die bedeutende Unternehmungen durchführen wollen." Eine derartige Redeweise kann den Zuhörer nicht aufmerksam erhalten; sie zerfließt nämlich und drückt nicht zupackend mit vollkommenen Worten aus. Wer sich nicht in jener so ansprechenden Schlichtheit der Worte bewegen kann, gerät zur trockenen und blutlosen Redeart, die nicht unzutreffend saft- und kraftlos genannt werden könnte, z. B. folgendermaßen: „Denn dort im Bad kam einer auf diesen zu. Darauf sagt er: ,Dieser dein Sklave hat mich geschlagen.' Darauf sagt dieser zu jenem: ,Ich werde es überlegen.' Dann veranstaltete jener ein Geschimpfe und schrie mehr und mehr in Gegenwart von vielen." 57 Armselig ist freilich diese Redeweise und gemein; sie hat nämlich nicht das erreicht, was der schlichte Stil besitzt, eine aus einfachen und ausgewählten Worten zusammengesetzte Rede. Jeder Redegattung, der erhabenen, gemäßigten und schlichten, verleihen die Ausschmückungen, über die ich später sprechen werde,' 8 Würde; wenn diese selten verteilt werden, machen sie die Rede deutlich und bestimmt wie durch Farben, werden sie aber häufig gesetzt, beschmutzt. Aber man muß die Stilart beim Sprechen wechseln, damit auf die erhabene die gemäßigte folgt, auf die gemäßigte die schlichte, und daß dann wieder ebenso gewechselt wird, 59 damit leicht eine Ubersättigung vermieden wird durch Abwechslung. Da nun gesagt ist, in welchen Arten sich die stilistische Gestaltung bewegen muß, wollen wir jetzt sehen, welche Eigenschaften eine treffende und vollkommene stilistische Gestaltung besitzen muß. Welche am meisten in vollem Maße dem Redner angepaßt ist, diese muß drei Eigenschaften in sich bergen: die Gewähltheit, die gehörige Anordnung, die würdige Darstellung. 60

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Elegantia est, quae facit, ut unum quidque pure et aperte dici videatur. Haec distribuitur in Latinitatem et explanationem. Latinitas est, quae sermonem purum conservai ab omni vitio remotum. Vitia in sermone, quo minus is Latinus sit, duo possunt esse: soloecismus et barbarismus. Soloecismus est, cum in verbis pluribus consequens verbum superiori non accommodatur. Barbarismus est, cum verbum aliquod vitiose effertur. Haec qua ratione vitare possimus, in arte grammatica dilucide dicemus.

Explanatio est, quae reddit apertam et dilucidam orationem. Ea conparatur duabus rebus, usitatis verbis et propriis. Usitata sunt ea, quae versantur in sermone et consuetudine cottidiana; propria, quae eius rei verba sunt aut esse possunt, qua de loquemur. Conpositio est verborum constructio aequabiliter perpolita. Ea conservabitur, si fugiemus crebras vocalium concursiones, quae vastam atque hiantem orationem reddunt, ut haec est: Bacae aeneae amoenissime inpendebant; et si vitabimus eiusdem litterae nimiam adsiduitatem, cui vitio versus hie erit exemplo: - nam hie nihil prohibet in vitiis alienis exemplis uti: O Tite, tute, Tati, tibi tanta, tyranne, tulisti! et hie eiusdem poetae: . . . quicquam quisquam, quemque quisque conveniat, neget; et si eiusdem verbi adsiduitatem nimiam fugiemus, eiusmodi:

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Die Gewähltheit ist die Eigenschaft, die bewirkt, daß jeder einzelne Punkt rein und offen gesagt zu werden scheint. Sie wird unterteilt in den reinen lateinischen Ausdruck und die Deutlichkeit. 61 Der reine lateinische Ausdruck ist die Eigenschaft, die die Sprache rein erhält, entfernt von jedem Fehler. Fehler in der Sprache, durch welche diese weniger rein lateinisch ist, können zwei auftreten: die grammatisch unrichtige Verbindung und der Barbarismus. 62 Eine grammatisch unrichtige Verbindung liegt vor, wenn bei mehreren Wörtern das folgende nicht dem vorhergehenden angepaßt wird. Ein Barbarismus liegt vor, wenn ein Wort fehlerhaft hervorgebracht wird. Auf welche Weise wir diese Fehler vermeiden können, werde ich in der Sprachlehre deutlich sagen. 6 ' Die Deutlichkeit ist die Eigenschaft, die die Rede klar und deutlich macht. Sie wird durch zwei Dinge bewirkt, durch gebräuchliche und zutreffende Worte. Gebräuchlich sind die Worte, welche in der täglichen Umgangssprache vorkommen; zutreffend die, welche die Worte für die Sache sind oder sein können, über die wir sprechen. 64 Die gehörige Anordnung ist die gleichmäßig ausgefeilte Verbindung von Wörtern. Diese wird bewahrt, wenn wir das häufige Zusammentreffen von Vokalen 6 ' vermeiden, welches eine Rede plump und klaffend macht, wie in folgendem Beispiel: Eherne Beeren hingen sehr anmutig herein, 66 und wenn wir die übertriebene Wiederholung desselben Buchstaben meiden, 67 ein Fehler, für den folgender Vers als Beispiel dient - denn hier hindert nichts daran, in fremden Fehlern Beispiele anzuführen: 68 O Titus, du da Tatius, du ertrugst so großes, du Tyrann: 6 ' und folgender Vers des nämlichen Dichters: Wer wird wohl, was alle Welt für wahr hält, wegleugnen? 70 und wenn wir die übertriebene Wiederholung desselben Wortes71 vermeiden, z. B. folgendermaßen:

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Nam cuius rationis ratio non extet, ei Rationi ratio non est fidem habere; et si non utemur continenter similiter cadentibus verbis, hoc modo: Flentes, plorantes, lacrimantes, obtestantes...; et si verborum transiectionem vitabimus, nisi quae erit concinna, qua de re posterius loquemur; quo in vitio est Coelius adsiduus, ut haec est: In priore libro has res ad te scriptas, Luci, misimus, Aeli. Item fugere oportet longam verborum continuationem, quae et auditoris aures et oratoris spiritum laedit. His vitiis in conpositione vitatis reliquum operae consumendum est in dignitate. Dignitas est, quae reddit ornatam orationem varietate distinguens. Haec in verborum et in sententiarum exornationes dividitur. Verborum exornatio est, quae ipsius sermonis insignita continetur perpolitione. Sententiarum exornatio est, quae non in verbis, sed in ipsis rebus quandam habet dignitatem.

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Repetitio est, cum continenter ab uno atque eodem verbo in rebus similibus et diversis principia sumuntur, hoc modo: „Vobis istuc adtribuendum est, vobis gratia est habenda, vobis ista res erit honori." Item: „Scipio Numantiam sustulit, Scipio Kartaginem delevit, Scipio pacem peperit, Scipio civitatem servavit." Item: „Tu in forum prodire, tu lucem conspicere, tu in horum conspectum venire conaris? audes verbum facere? audes quicquam ab istis petere? audes supplicium deprecari? Quid est, quod possis

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Denn eine Berechnung, die unberechenbar ist, in Rechnung zu ziehen, ist unberechnet; 72 und wenn wir nicht ununterbrochen Wörter mit ähnlicher Endung verwenden, 73 wie auf folgende Weise: Flennende, plärrende, weinende, inständig flehende ...; 7 4 und wenn wir ein Versetzen der Wörter vermeiden, außer es ist kunstvoll angeordnet, worüber ich später sprechen werde; 7 ' bei diesem Fehler ist Caelius 7 6 beharrlich, wie der folgende Satz zeigt: Im vorhergehenden Buch habe ich dir einen Bericht über diese Ereignisse, mein Lucius geschickt, mein Aelius. Ebenso muß man eine ununterbrochene Folge von Wörtern meiden, da sie die Ohren des Zuhörers ebenso wie den Atem des Redners schädigt. Wenn wir diese Fehler bei der Anordnung vermieden haben, bleibt noch übrig, Mühe auf die würdige Darstellung zu verwenden. Die würdige Darstellung ist es, die die Rede kunstvoll macht, 77 indem sie sie durch Abwechslung ausschmückt. Diese wird in Ausschmückung von Worten und Gedanken 7 8 unterteilt. Die Ausschmückung von Worten ist diejenige, welche auf einer außerordentlichen Ausfeilung der bloßen Rede beruht. Die Ausschmückung von Gedanken ist diejenige, welche nicht in den Worten, sondern in den Inhalten selbst eine gewisse würdige Darstellung besitzt. Eine Wiederholung 79 liegt vor, wenn mit einem und demselben Wort bei ähnlichen und verschiedenen Sachverhalten der Anfang gebildet wird, z . B . auf folgende Weise: „Euch muß man dieses zuschreiben, euch muß man dankbar sein, euch wird dies zur Ehre gereichen." Ebenso: „Scipio beseitigte Numantia, Scipio zerstörte Karthago, Scipio schaffte Frieden, Scipio rettete den Staat." 8 0 Ebenso: „ D u versuchst auf das Forum zu gehen, du versuchst das Tageslicht zu erblicken, du versuchst diesem unter die Augen zu treten? Wagst du es, ein Wort zu sprechen? Wagst du es, diese um etwas zu bitten? Wagst du es, um Gnade zu flehen? Was ist es, was du zu deiner Verteidi-

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defendere? quid est, quod tibi concedi putes oportere? Non ius iurandum reliquisti? non amicos prodidisti? non parenti manus adtulisti? non denique in omni dedecore volutatus es?" Haec exornatio cum multum venustatis habet tum gravitatis et acrimoniae plurimum. Quare videtur esse adhibenda et ad ornandam et ad exaugendam orationem. Conversio est, per quam non, ut ante, primum repetimus verbum, sed ad postremum continenter revertimur, hoc modo: „Poenos populus Romanus iustitia vicit, armis vicit, liberalitate vicit." Item: „Ex quo tempore concordia de civitate sublata est, libertas sublata est, res publica sublata est." Item: ,,C. Laelius homo novus erat, ingeniosus erat, doctus erat, bonis viris et studiis amicus erat: ergo in civitate primus erat." Item: „Nam cum istos, ut absolvant te, rogas, ut peiurent, rogas, ut existimationem neglegant, rogas, ut leges populi Romani tuae libidini largiantur, rogas." Conplexio est, quae utramque conplectitur exornationem, et hanc et quam ante exposuimus, ut repetatur idem verbum saepius et crebro ad idem postremum revertamur, hoc modo: „Qui sunt, qui foedera saepe ruperunt? Kartaginienses. Qui sunt, qui crudele bellum gesserunt? Kartaginienses. Qui sunt, qui Italiani deformaverunt? Kartaginienses. Qui sunt, qui sibi postulant

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gung vorbringen könntest? Was ist es, was man dir nach deiner Meinung zugestehen müßte? Hast du nicht einen Eid mißachtet? Hast du nicht Freunde verraten? Hast du nicht Hand an deinen Vater gelegt? Hast du dich schließlich nicht in jeder Schande gewälzt?" 81 Diese Ausschmückung birgt viel Anmut in sich, besonders aber Feierlichkeit und Energie; deshalb soll man sie, wie es scheint, anwenden, um die Rede zu schmücken und zu verstärken. Die Umkehrung 82 ist es, durch die wir nicht, wie oben, das erste Wort wiederholen, sondern zum letzten in einem fort ununterbrochen zurückkehren, z. B. auf folgende Weise: „Die Punier hat das römische Volk durch seine Gerechtigkeit besiegt, hat sie durch Waffen besiegt, hat sie durch edle Gesinnung besiegt." Ebenso: „Seitdem die Eintracht aus der Bürgerschaft beseitigt wurde, wurde die Freiheit beseitigt, wurde das Staatswesen beseitigt." Ebenso: „C. Laelius 8 ' war ein aufstrebender Mann, ein begabter Mann, ein gebildeter Mann, ein tüchtigen Männern und guten Bestrebungen freundlich gesinnter Mann; folglich war er im Staate der erste Mann." Ebenso: „Denn wenn du diese darum bittest, dich freizusprechen, bittest du sie, einen Meineid zu schwören, bittest du sie, die öffentliche Meinung zu mißachten, bittest du sie, die Gesetze des römischen Volkes deiner Zügellosigkeit preiszugeben." 84 Die Umfassung 8 ' ist das Stilmittel, welches beide Ausschmückungen umfaßt, die, die ich eben, und die, die ich vorher dargelegt habe, daß dasselbe Wort öfter wiederholt wird und wir häufig zu eben diesem Wort am Ende des Satzes zurückkehren, z. B. auf folgende Weise: „Wer sind die Leute, die Bündnisse oft gebrochen haben? - Die Karthager. Wer sind die Leute, die einen grausamen Krieg geführt haben? - Die Karthager. Wer sind die Leute, die Italien verwüstet haben? - Die Karthager. Wer sind die

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ignosci? Kartaginienses. Videte ergo, quam conveniat eos inpetrare." Item: „ Q u e m senatus damnarit, quern populus Romanus damnarit, quem omnium existimatio damnarit, eum vos sententiis vestris absolvatis?" Traductio est, quae facit, uti, cum idem verbum crebrius ponatur, non m o d o non offendat animum, sed etiam concinniorem orationem reddat, hoc pacto: „ Q u i nihil habet in vita iucundius vita, is cum virtute vitam non potest colere." Item: „ E u m hominem appellas, qui, si fuisset homo, numquam tarn crudeliter hominis vitam petisset. A t erat inimicus. Ergo inimicum sic ulcisci voluit, ut ipse sibi reperiretur inimicus." Item: „Divitias sine divitis esse; nam si voles divitias cum virtute conparare, vix satis idoneae tibi videbuntur divitiae, quae virtutis pedisequae sint." Ex eodem genere est exornationis, cum idem verbum ponitur m o d o in hac, m o d o in altera re, hoc modo: „ C u r earn rem tam studiose curas, quae tibi multas dabit curas?" Item: „ N a m amari iucundum sit, si curetur, ne quid insit amari." Item: „Veniam ad vos, si mihi senatus det veniam." In his quattuor generibus exornationum, quae adhuc propositae sunt, non inopia verborum fit, ut ad idem verbum redeatur saepius; sed inest festivitas, quae facilius auribus diiudicari quam verbis demonstrari potest.

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Leute, die für sich Verzeihung verlangen? - Die Karthager. Seht also zu, wie es zustande kommen kann, daß sie es erreichen!" 86 Ebenso: „Wen der Senat verurteilt hat, wen das Volk verurteilt hat, wen die Meinung aller verurteilt hat, den möchtet ihr durch euer Votum freisprechen?" Die Wiederholung ist das Stilmittel, welches bewirkt, daß, wenn dasselbe Wort öfter gesetzt wird, es nicht nur keinen Anstoß erregt, sondern die Rede sogar kunstvoller angeordnet macht, z. B. auf folgende Art: „Wer im Leben nichts Angenehmeres hat als das Leben, der kann sein Leben nicht in sittlicher Vollkommenheit führen."' 7 Ebenso: „Den nennst du einen Menschen, der, wenn er ein Mensch gewesen wäre, niemals so grausam einem Menschen nach dem Leben getrachtet hätte. Aber er war ein Feind. Folglich wollte er sich so an einem Feind rächen, daß er selbst als sein eigener Feind erfunden wurde." 88 Ebenso: „Den Reichtum lasse dem Reichen; denn wenn du Reichtum mit Tugend vergleichen willst, wird dir der Reichtum kaum geeignet genug erscheinen, der Diener der Tugend zu sein." 89 Zur selben Art von Ausschmückung gehört es, wenn dasselbe Wort bald in dieser, bald in einer anderen Bedeutung gesetzt wird, 90 z. B. auf folgende Weise: „Warum sorgst du so eifrig für die Sache, die dir viele Sorgen bringen wird?" Ebenso: „Denn geliebt zu werden, mag angenehm sein, wenn man dafür sorgt, daß nichts Bitteres dabei sei." Ebenso: „Ich werde zu euch kommen, wenn mir der Senat Nachsicht schenkt." 91 Bei diesen vier Arten von Ausschmückungen, die bisher angeführt wurden, 92 geschieht es nicht durch den Mangel an Wörtern, daß man öfter auf dasselbe Wort zurückkommt; aber es liegt eine Anmut darin, die leichter durch die Ohren unterschieden als durch Worte gezeigt werden kann.

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Contentio est, cum ex contrariis rebus oratio conficitur, hoc pacto: „Habet adsentatio iucunda principia, eadem exitus amarissimos adfert." Item: „Inimicis te placabilem, amicis inexorabilem praebes." Item: „In otio tumultuaris; in tumultu es otiosus; in re frigidissima cales, in ferventissima friges; tacito cum opus est, clamas; ubi loqui convenit, obmutescis; ades, abesse vis; abes, reverti cupis; in pace bellum quaeritas, in bello pacem desideras; in contione de virtute loqueris, in proelio prae ignavia tubae sonitum perferre non potes."

Hoc genere si distinguemus orationem, et graves et ornati poterimus esse. Exclamatio est, quae conficit significationem doloris aut indignationis alicuius per hominis aut urbis aut loci aut rei cuiuspiam conpellationem, hoc modo: „Te nunc adloquor, Africane, cuius mortui quoque nomen splendori ac decori est civitati. Tui clarissimi nepotes suo sanguine aluerunt inimicorum crudelitatem." Item: „Perfidiosae Fregellae, quam facile scelere vestro contabuistis, ut, cuius nitor urbis Italiam nuper inlustravit, eius nunc vix fundamentorum reliquiae maneant." Item: „Bonorum insidiatores, latrocinio vitam innocentissimi cuiusque petistis; tantamne ex iniquitate iudiciorum vestris calumniis adsumpsistis facultatem?" Hac exclamatione si loco utemur, raro, et cum

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Eine Antithese 93 liegt vor, wenn die Rede aus gegensätzlichen Ausdrücken zusammengesetzt wird, z. B. auf folgende Art: „Die Schmeichelei hat einen angenehmen Beginn, ebendieselbe bringt ein ganz bitters Ende." Ebenso: „Feinden erweist du dich versöhnlich, Freunden unerbittlich." Ebenso: „In der Ruhe bist du in Unruhe, in der Unruhe bist du ruhig; in einer sehr frostigen Angelegenheit glühst du, in einer sehr heißen Angelegenheit bleibst du kalt; 94 wenn Schweigen nötig ist, schreist du, wo man sprechen muß, verstummst du; bist du anwesend, willst du abwesend sein; bist du abwesend, möchtest du zurückkehren; 95 im Frieden suchst du Krieg, im Krieg sehnst du dich nach Frieden; in der Heeresversammlung sprichst du von Tapferkeit, in der Schlacht kannst du vor Feigheit den Schall der Trompete nicht ertragen." 96 Wenn wir durch diese Art der Rede Abwechslung verleihen, können wir feierlich und ebenso kunstvoll sein. Der Ausruf ist das Stilmittel, welches die Bezeichnung irgendeines Schmerzes oder irgendeiner Empörung bewirkt durch das Anreden eines Menschen, einer Stadt, eines Ortes oder irgendeiner Sache, z. B. auf folgende Weise: „Dich spreche ich nun an, Africanus, dessen Name auch nach dem Tod dem Staat Glanz und Zierde verleiht. Deine hochberühmten Enkel 97 haben mit ihrem eigenen Blut die Grausamkeit der Feinde genährt." Ebenso: „Treuloses Fregellae,' 8 wie leicht bist du durch deine Freveltat dahingesunken, so daß von der Stadt, deren Glanz noch vor kurzem Italien erleuchtete, nun kaum die Reste der Grundmauern erhalten sind." Ebenso: „Ihr Verräter der Gutgesinnten, 99 durch Raub trachtet ihr gerade den Rechtschaffensten nach dem Leben; eine solche Fähigkeit habt ihr euch aufgrund der Ungerechtigkeit der Gerichte für eure Schurkerei angemaßt?" Wenn wir diesen Ausruf an geeigneter Stelle verwenden, nur selten, und wenn es die Bedeutung der Sache zu fordern

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rei magnitudo postulare videbitur, ad quam volemus indignationem animum auditoris adducemus. Interrogatio non omnis gravis est neque concinna, sed haec, quae, cum enumerata sunt ea, quae obsunt causae adversariorum, confirmât superiorem orationem, hoc pacto: „ C u m igitur haec omnia faceres, diceres, administrares, utrum animos sociorum ab re publica removebas et abalienabas an non? Et utrum aliquem exornari oportuit, qui istaec prohiberet ac fieri non sineret an non?" Ratiocinatio est, per quam ipsi a nobis rationem poscimus, quare quicque dicamus, et crebro nosmet a nobis petimus unius cuiusque propositionis explanationem. Ea est huiusmodi: „Maiores nostri si quam unius peccati mulierem damnabant, simplici iudicio multorum maleficiorum convictam putabant. Q u o pacto? Quoniam quam inpudicam iudicarant, ea veneficii quoque damnata existimabatur. Q u i d ita? Quia necesse est earn, quae suum corpus addixerit turpissimae cupiditati, timere multos. Q u o s istos? Virum, parentes, ceteros, ad quos videt sui dedecoris infamiam pertinere. Q u i d postea? Q u o s tantopere timeat, eos necesse ut quoquo m o d o possit veneficio petat. C u r ? Quia nulla potest honesta ratio retinere earn, quam magnitudo peccati facit timidam, intemperantia audacem, natura mulieris inconsideratam. Quid? Veneficii damnatam quid putabant? Inpudicam quoque necessario. Quare? Q u i a nulla facilius ad id maleficium causa quam turpis amor et intemperans libido commovere potuit; turn cuius mulieris animus esset corruptus, eius corpus castum esse non putaverunt. Quid? in viris idemne hoc observabant? Minime. Q u i d ita? Quia viros ad unum quodque maleficium singulae cupiditates inpellunt, mulieris ad omnia maleficia cupiditas una ducit."

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scheint, werden wir den Hörer zu jeder beliebigen Entrüstung veranlassen. Die rhetorische Frage 100 ist nicht in jedem Fall feierlich und kunstvoll, aber diese ist es, welche, wenn das aufgezählt ist, was der Sache der Gegner entgegensteht, den vorherigen Teil der Rede bekräftigt, z.B. auf folgende Weise: „Indem du dies alles tatest, sagtest und durchführtest, wolltest du dadurch die Gesinnung der Bundesgenossen dem Staate entfremden und abspenstig machen oder nicht? Und mußte da einer ausgerüstet werden, der dies verhinderte und nicht geschehen ließ oder nicht?" 101 Die Überlegung' 02 ist das Stilmittel, durch welches wir selbst von uns Rechenschaft darüber fordern, warum wir etwas sagen, und häufig von uns die Erklärung einer jeden einzelnen Behauptung verlangen. Sie istz. B. folgendermaßen: „Wenn unsere Vorfahren eine Frau wegen eines einzelnen Vergehens verurteilten, glaubten sie, sie sei durch das eine Urteil vieler Freveltaten überführt. Warum? Eine Frau, die sie als unzüchtig verurteilt hatten, die hielt man auch wegen Giftmischerei für verurteilt. 103 Wieso das? Weil diejenige, die ihren Körper der schändlichsten Leidenschaft preisgegeben hat, viele fürchten muß. Wen denn? Ihren Mann, ihre Eltern und die übrigen, welche, wie sie sieht, die Schmach ihrer Schande berührt. Was weiter? Wen sie so sehr fürchtet, wünscht sie notwendigerweise zu töten. Wieso? Weil keine ehrenhafte Überlegung diejenige zurückhalten kann, welche die Größe ihres Verbrechens furchtsam, ihre Unbeherrschtheit kühn, die weibliche Natur unüberlegt macht. Wie? Was hielten sie von einer Frau, die wegen Giftmischerei verurteilt war? Sie hielten sie gezwungenermaßen auch für unzüchtig. Weshalb? Weil keine Ursache leichter zu dieser Freveltat verleiten konnte als schändliche Liebe und unbeherrschte Leidenschaft; weiterhin glaubten sie, der Körper einer Frau, deren Geist verdorben sei, könne nicht rein sein. Wie? Beobachteten sie bei den Männern genau dasselbe? Keineswegs. Wieso das? Weil die Männer zu jeder einzelnen Freveltat eine einzige Leidenschaft veranlaßt."

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Item: „Bene maiores hoc conparaverunt, ut neminem regem, quem armis cepissent, vita privarent. Q u i d ita? Q u i a quam nobis fortuna facultatem dedisset, iniquum erat in eorum supplicium consumere, quos eadem fortuna paulo ante in amplissimo statu conlocarat. Q u i d , quod exercitum contra duxit? Desino meminisse. Q u i d ita? Quia viri fortis est, qui de victoria contendant, eos hostes putare; qui vieti sunt, eos homines iudicare, ut possit bellum fortitudo minuere, pacem humanitas augere. Et ille, si vicisset, num idem fecisset? N o n profecto tarn sapiens fuisset. C u r igitur ei parcis? Quia tantam stultitiam contemnere, non imitari consuevi."

Haec exornatio ad sermonem vehementer accommodata est et animum auditoris retinet attentum cum venustate sermonis tum rationum expectatione.

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Sententia est oratio sumpta de vita, quae aut quid sit aut quid esse oporteat in vita, breviter ostendit, hoc pacto:

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„Difficile est primum virtutes revereri, qui semper secunda fortuna sit usus." Item: „Liber is est existimandus, qui nulli turpitudini servit." Item: „Egens aeque est is, qui non satis habet, et is, cui satis nihil potest esse." Item: „ O p t i m a vivendi ratio est eligenda; earn iucundam consuetudo reddet." Huiusmodi sententiae simplices non sunt inprobandae, propterea quod habet brevis expositio, si rationis nullius indiget, magnam delectationem. Sed illud quoque probandum est genus sententiae, quod confirmatur subiectione rationis, hoc pacto:

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Ebenso: „Gut haben unsere Vorfahren dies eingerichtet, daß sie keinen König, den sie mit Waffengewalt gefangen hatten, des Lebens beraubten. 104 Wieso das? Weil es unrecht wäre, die Macht, die uns das Schicksal gegeben hatte, zur Hinrichtung derer anzuwenden, welche ebendasselbe Schicksal kurz vorher in den höchsten Rang versetzt hatte. Wie ist es aber damit, daß er ein Heer gegen uns führte? Ich denke nicht mehr daran. Wieso das? Weil es sich für einen tapferen Mann gehört, die für Feinde zu halten, die um den Sieg kämpfen, die aber besiegt sind, als Menschen zu beurteilen, damit die Tapferkeit dem Krieg Einhalt tun, die Menschlichkeit den Frieden gedeihen lassen kann. 10 ' Aber jener hätte, wenn er gesiegt hätte, etwa das nämliche getan? In der Tat wäre er nicht so weise gewesen. Warum also schonst du ihn? Weil ich gewohnt bin, eine solche Torheit zu verachten, nicht nachzuahmen." Diese Ausschmückung paßt vorzüglich zum Gesprächston106 und sie erhält die Aufmerksamkeit des Zuhörers durch die Anmut der Sprache, besonders durch die Erwartung von Begründungen. Ein Sinnspruch 107 ist ein aus dem Leben genommener Ausspruch, der kurz zeigt, was im Leben der Fall ist oder sein müßte, z.B. auf folgende Art: „Für den ist es schwer, die Tugenden nicht zu achten, welcher immer im Glück gelebt hat." Ebenso: „Für frei ist der zu halten, welcher keiner Schimpflichkeit Sklave ist."108 Ebenso: „Bedürftig ist ebenso der, welcher nicht genug hat, wie der, welchem nichts genügen kann." 10 ' Ebenso: „ Die beste Lebensweise soll man auswählen; sie wird die Gewöhnung angenehm machen." 110 Einfache Sinnsprüche von dieser Art soll man nicht mißbilligen, deswegen weil eine kurze Angabe, wenn sie keiner Begründung bedarf, großes Vergnügen bereitet. Aber auch die folgende Art von Sinnsprüchen ist zu billigen, die durch die Hinzufügung einer Begründung bekräftigt wird, wie z. B. auf folgende Art:

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„Omnes bene vivendi rationes in virtute sunt conlocandae, propterea quod sola virtus in sua potestate est, omnia praeter earn subiecta sunt sub fortunae dominationem." Item: „ Q u i fortunis alicuius inducti amicitiam eius secuti sunt, hi, simul ac fortuna dilapsa est, devolant omnes. C u m enim recessit ea res, quae fuit consuetudinis causa, nihil superest, quare possint in amicitia teneri." Sunt item sententiae, quae dupliciter efferuntur. Hoc modo sine ratione: „Errant, qui in prosperis rebus omnis impetus fortunae se putant fugisse; sapienter cogitant, qui temporibus secundis casus adversos reformidant." C u m ratione, hoc pacto: „ Q u i adulescentium peccatis ignosci putant oportere, falluntur, propterea quod aetas ilia non est inpedimento bonis studiis. A t ii sapienter faciunt, qui adulescentes maxime castigant, ut, quibus virtutibus omnem tueri vitam possint, eas in aetate maturissima velint conparare."

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Sententias interponi raro convenit, ut rei actores, non vivendi praeceptores videamur esse. C u m ita interponentur, multum adferent ornamenti. Necesse est enim conprobet earn tacitus auditor, cum ad causam videat adcommodari rem certam, ex vita et moribus sumptam.

Contrarium est, quod ex rebus diversis duabus alteram breviter et facile confirmât, hoc pacto: „Nam qui suis rationibus inimicus fuerit semper, eum quomodo alienis rebus amicum fore speres?"

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„Alle Möglichkeiten eines guten Lebens müssen auf der Tugend begründet werden, deswegen weil die Tugend allein auf sich selbst beruht, alles außer ihr aber der Herrschaft des Schicksals unterworfen ist." 111 Ebenso: „Diejenigen, die wegen des äußeren Glücks von irgend jemandem dessen Freundschaft angestrebt haben, eilen alle davon, sobald das Glück sich zerstreut hat. Wenn nämlich das gewichen ist, was die Ursache für den freundschaftlichen Umgang war, bleibt nichts übrig, weshalb sie in ihrer Freundschaft erhalten werden könnten."" 2 Ebenso gibt es Sinnsprüche, die in doppelter Form angeführt werden. Auf folgende Weise z . B . ohne Begründung: „Die irren, welche im Glück glauben, sie seien allen Angriffen des Schicksals entgangen; weise denken die, welche in glücklichen Zeiten Unglücksfälle fürchten."" 3 Mit Begründung, z. B. auf folgende Art: „Die glauben, man müsse Jugendlichen ihre Vergehen verzeihen, täuschen sich, deswegen weil jenes Alter für gute Bestrebungen nicht hinderlich ist. Im Gegensatz dazu handeln diejenigen weise, welche die Jugendlichen am meisten zurechtweisen, damit sie willens sind, sich die Tugenden in frühester Jugend anzueignen, durch welche sie ihr ganzes Leben erhalten können."" 4 Sinnsprüche soll man nur selten einfügen, damit wir den Eindruck erwecken, Sachwalter des Falles, nicht Lehrer für das Leben zu sein. Wenn sie auf diese Weise eingefügt werden, bringen sie viel stilistischen Schmuck. Notwendigerweise billigt einen Sinnspruch der Zuhörer in seinem Inneren ohne Worte, wenn er sieht, daß auf den vorliegenden Fall eine Maxime angewendet wird, die dem Leben und der Sittlichkeit entnommen ist." 5 Der Gegensatz 116 ist das Stilmittel, welches von zwei verschiedenen Sachverhalten den einen kurz und leicht bekräftigt, z. B. auf folgende Art: „Denn wie könnte man hoffen, daß der, welcher seinen eigenen Überlegungen gegenüber immer feindlich eingestellt war, freundlich gegenüber fremden Angelegenheiten sein wird?" 117

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Item: „Nam quern in amicitia perfidiosum cognoveris, eum quare putes inimicitias cum fide habere posse? Aut qui privatus intolerabili superbia fuerit, eum commodum et cognoscentem sui fore in potestate qui speres, et qui in sermonibus et conventu amicorum verum dixerit numquam, eum sibi in contionibus a mendacio temperaturum?"

Item: „Quos ex collibus deiecimus, cum his in campo metuimus dimicare? Qui cum plures erant, paris nobis esse non poterant, hi, postquam pauciores sunt, metuimus, ne sint superiores?" Hoc orationis genus breviter et continuatis verbis perfectum debet esse; et cum commodum est auditu propter brevem et absolutam conclusionem, turn vero vehementer id, quod opus est oratori, conprobat contraria re, et ex eo, quod dubium non est, expedit illud, quod est dubium, ut aut dilui non possit aut multo difficillime possit. Membrum orationis appellatur res breviter absoluta sine totius sententiae demonstratione, quae denuo alio membro orationis excipitur, hoc pacto: „Et inimico proderas..." Id est unum, quod appellamus membrum; deinde hoc excipiatur oportet altero: „ . . . et amicum laedebas." Ex duobus membris suis haec exornatio potest constare; sed commodissima et absolutissima est, quae ex tribus constat, hoc pacto: „Et inimico proderas et amicum laedebas et tibi non consulebas." Item: „Nec rei publicae consuluisti nec amicis profuisti nec inimicis restitisti."

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Ebenso: „Denn wieso könnte man glauben, daß der, welchen man in der Freundschaft als unredlich erkannt hat, Feindschaften redlich durchführen kann? Oder wie könnte man hoffen, daß der, welcher als Privatmann unerträglich hochmütig war, bei der Ausübung eines Amtes zugänglich sein und seine Grenzen erkennen werde, und daß der, welcher in privaten Gesprächen und im Umgang mit Freunden niemals die Wahrheit sagte, sich in öffentlichen Reden der Lüge enthalten werde?" Ebenso: „Welche wir von Hügeln hinabgeworfen haben, mit denen fürchten wir in der Ebene zu kämpfen? Die uns nicht gewachsen sein konnten, als sie zahlenmäßig überlegen waren, deren Überlegenheit fürchten wir, nachdem sie zahlenmäßig unterlegen sind?" Diese Art der Ausschmückung muß gedrängt und in ununterbrochen aufeinander folgenden Worten durchgeführt sein; und sie ist angenehm anzuhören wegen der kurzen und bündigen Schlußfolgerung, vor allem aber macht sie durch das Gegenteil das glaubhaft, was der Redner braucht, und ausgehend von dem, was nicht zweifelhaft ist, entwikkelt sie das, was zweifelhaft ist, so daß es nicht oder nur ganz schwer widerlegt werden kann. Glied der Rede 1 ' 8 nennt man einen kurz und bündig dargelegten Gedanken ohne Darstellung des ganzen Satzes, der wieder in einem anderen Glied der Rede festgesetzt wird, z. B. auf folgende Art: „Und du nütztest dem Feinde . . . " Dies ist das eine, das wir Glied nennen; darauf muß dieses durch ein anderes fortgesetzt werden: „.. .und du verletztest den Freund." Aus zwei Gliedern kann diese Ausschmückung bestehen, aber ganz abgerundet und abgeschlossen ist die, welche aus dreien besteht," 9 z . B . auf folgende Art: „Dem Feinde nütztest du, den Freund verletztest du, für dich sorgtest du nicht."' 2 0 Ebenso: „Weder für den Staat hast du gesorgt noch den Freunden hast du genützt noch den Feinden hast du dich widersetzt."

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Articulus dicitur, cum singula verba intervallis distinguentur caesa oratione, hoc modo: „Acrimonia, voce, vultu adversarios perterruisti." Item: „Inimicos invidia, iniuriis, potentia, perfidia sustulisti." Inter huius generis et illius superioris vehementiam hoc interest: illud tardius et rarius venit, hoc crebrius et celerius pervenit. Itaque in ilio genere ex remotione brachii et contortione dexterae gladius ad corpus adferri, in hoc autem crebro et celeri corpus vulnere consauciari videtur.

Continuatio est densa frequentano verborum cum absolutione sententiarum. Ea utemur commodissime tripertito: in sententia, in contrario, in conclusione. In sententia hoc pacto: ,,Ei non multum potest obesse fortuna, qui sibi firmius in virtute quam in casu praesidium conlocavit." In contrario hoc modo: „ N a m si qui spei non multum conlocarit in casu, quid est, quod ei magnopere casus obesse possit?" In conclusione hoc pacto: „ Q u o d s i in eos plurimum fortuna potest, qui suas rationes omnes in casum contulerunt, non sunt omnia committenda fortunae, ne magnam nimis in nos habeat dominationem." In his tribus generibus ad continuationis vim adeo frequentatio necessaria est, ut infirma facultas oratoris videatur, nisi sententiam et contrarium et conclusionem frequentibus efferat verbis; sed

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Ein kleines Satzglied 12 ' nennt man es, wenn einzelne Worte nur durch Pausen getrennt werden in gestoßener Rede,122 z.B. auf folgende Weise: „Durch Schärfe, Stimme, Miene hast du die Gegner eingeschüchtert." Ebenso: „Die Feinde hast du durch Mißgunst, Unrecht, Macht, Treulosigkeit beseitigt." Zwischen der Stärke dieser Art und der vorher genannten besteht folgender Unterschied: Die erstgenannte kommt langsamer und seltener, die letztgenannte kommt häufiger und schneller zur Geltung. Deshalb scheint es, als ob bei der ersten Art aus einem Schwünge des Armes und einer Drehung der Hand heraus das Schwert in den Körper gestoßen, bei der letzteren aber der Körper von häufigen und schnell zugefügten Wunden stark verletzt würde. 123 Die Fortführung 124 ist eine dichte Häufung von Worten, verbunden mit einer Vervollständigung der Bedeutungen. Wir wenden sie am vorteilhaftesten in dreifacher Weise an: beim Sinnspruch, beim Gegensatz und bei der Schlußfolgerung.125 Bei einem Sinnspruch, z.B. auf folgende Art: „Dem kann das Schicksal nicht viel schaden, welcher für sich einen stärkeren Schutz in der Tugend als im Zufall gelegt hat." 126 Bei einem Gegensatz, z. B. auf folgende Weise: „Denn wenn einer nicht viel Hoffnung auf den Zufall gesetzt hat, wie ist es dann möglich, daß ihm der Zufall sehr schaden kann? Bei einer Schlußfolgerung, z. B. auf folgende Art: „Wenn nun das Schicksal am meisten gegen die ausrichtet, die alle ihre Überlegungen auf den Zufall gerichtet haben, darf man nicht alles dem Schicksal überlassen, damit es nicht eine allzu große Macht über uns hat." 127 In diesen drei Arten ist für die Wirkung der Fortführung ein häufiger Gebrauch von Worten so notwendig, daß die Fähigkeit des Redners schwach erscheinen könnte, wenn er nicht einen Sinnspruch, einen Gegensatz oder eine Schlußfolgerung durch eine Häufung von Worten hervorhöbe;

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alias quoque nonnumquam non alienum est, tametsi necesse non est, eloqui res aliquas per huiusmodi continuationes. Conpar appellatur, quod habet in se membra orationis, de quibus ante diximus, quae constent ex pari fere numero syllabarum. Hoc non denumeratione nostra fiet - nam id quidem puerile est - , sed tantum adferet usus et exercitatio facultatis, ut animi quodam sensu par membrum superiori referre possimus, hoc modo:

„In proelio mortem parens obpetebat, domi filius nuptias conparabat; haec omina gravis casus administrabant." Item: „Illi fortuna dedit felicitateli), huic industria virtutem conparavit." In hoc genere saepe fieri potest, ut non piane par numerus sit syllabarum et tamen esse videatur, si una aut etiam altera syllaba est alterum brevius aut si, cum in altero plures sunt, in altero longior aut longiores, plenior aut pleniores syllabae erunt, ut longitudo aut plenitudo harum multitudinem alterius adsequatur et exaequet. Similiter cadens exornatio appellatur, cum in eadem constructione verborum duo aut plura sunt verba, quae similiter isdem casibus efferantur, hoc modo: „Hominem laudem egentem virtutis, abundantem felicitatis?" Item: „Huic omnis in pecunia spes est, a sapientia est animus remotus; diligentia conparat divitias, neglegentia corrumpit animum et tamen, cum ita vivit, neminem prae se ducit hominem." Similiter desinens est, cum, tametsi casus non

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aber auch in anderen Fällen ist es manchmal nicht unangebracht, wenn auch nicht notwendig, irgendwelche Sachverhalte mit Hilfe derartiger Fortführungen auszusprechen. Silbengleichheit128 nennt man das Stilmittel, welches in sich die Glieder der Rede birgt - oben habe ich von ihnen gesprochen' 29 die aus fast der gleichen Zahl von Silben bestehen. Diese kommt nicht zustande, indem wir abzählen - denn das wäre freilich kindisch - , sondern soweit wird es die Gewohnheit und Übung der Fähigkeit bringen, daß wir gewissermaßen durch ein inneres Gespür ein gleiches Glied dem vorangehenden anfügen können, z. B. auf folgende Weise: „In der Schlacht suchte der Vater den Tod, zu Hause bereitete der Sohn die Hochzeit vor; diese Vorzeichen brachten schweres Unglück."' 3 0 Ebenso: „Jenem gab das Schicksal Glück, diesem bereitete der Fleiß Tüchtigkeit."'5' Bei dieser Art kann es oft vorkommen, daß die Zahl der Silben nicht vollkommen gleich ist und dennoch es zu sein scheint, 1 ' 2 falls ein Glied um eine oder auch eine zweite Silbe kürzer ist, oder falls, wenn in einem Glied mehr Silben sind, im anderen Glied eine längere Silbe oder längere Silben, eine vollere Silbe oder vollere Silben vorkommen, so daß die Länge oder Fülle dieser Silben die Menge der Silben des anderen Satzgliedes erreicht und ausgleicht. Endungsangleichung' 33 nennt man eine Ausschmückung, wenn bei der nämlichen Verbindung von Wörtern zwei oder mehr Wörter vorhanden sind, die ähnlich mit den nämlichen Fällen herausgehoben werden, z. B. auf folgende Weise: „Einen Menschen soll ich loben, der der Tugend entbehrt, das Glück im Uberfluß besitzt?" Ebenso: „Für diesen beruht alle Hoffnung auf dem Geld, von der Weisheit ist sein Sinn abgekehrt; mit Genauigkeit erwirbt er Reichtümer, mit Gleichgültigkeit verdirbt er sein Herz, und dennoch, während er so lebt, schätzt er keinen Menschen höher ein als sich.'" 3 4 Eine Auslautsangleichung' 3 ' liegt vor, wenn die Aus-

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insunt in verbis, tarnen similes exitus sunt, hoc pacto: „Turpiter audes facere, nequiter studes dicere; vivis invidiose, delinquis studiose, loqueris odiose." Item: „Audaciter territas, humiliter placas." Haec duo genera, quorum alteram in exitu, alteram in casu similiter versatur, inter se vehementer conveniunt; et ea re, qui his bene utuntur, pleramque simul ea conlocant in isdem partibus orationis. Id hoc m o d o facere oportet: „Perditissima ratio est amorem petere, pudorem fugere, diligere formam, neglegere famam." Hie et ea verba, quae casus habent, ad casus similes, et ilia, quae non habent, ad similes exitus veniunt. Adnominatio est, cum ad idem verbum et nomen acceditur cum mutatione vocum aut litterarum, ut ad res dissimiles similia verba adeommodentur. Ea multis et variis rationibus conficitur. Adtenuatione aut conplexione eiusdem litterae, sic: „Hie qui se magnifice iactat atque ostentat, veni t, ante quam Romam venit." Et ex contrario: „Hie, quos homines alea vincit, eos ferro statim vincit." Productione eiusdem litterae, hoc modo: „Hinc avium dulcedo ducit ad avium." Brevi tate eiusdem litterae, sic: „ H i c , tametsi videtur esse honoris cupidus, tarnen non tantum curiam diligit quantum Curiam."

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gänge, auch wenn die Fälle der Wörter nicht die gleichen sind, dennoch ähnlich sind, z. B. auf folgende Art: „Schändlich wagst du zu handeln, nichtswürdig bemühst du dich zu sprechen! du lebst voll Neid, du vergehst dich voll Eifer, du sprichst voll Haß." Ebenso: „Kühn erschreckst du, unterwürfig versöhnst du."' 3 « Diese zwei Arten, deren eine im Ausgang, die andere im Kasus Ähnlichkeit aufweist, stimmen untereinander stark überein; und deswegen setzen sie diejenigen, die sie gut anwenden, meistens gleichzeitig an dieselben Stellen der Rede. Das muß z. B. auf folgende Weise geschehen: „Eine ganz verderbliche Art ist es, Liebe zu erstreben, vor der Ehrbarkeit zu fliehen, zu lieben die Schönheit, zu mißachten den guten Ruf." Hier kommen die Wörter, welche Kasusendungen haben, zu ähnlichen Kasusendungen, und die, welche keine haben, zu ähnlichen Ausgängen. Ein Anklang 137 liegt vor, wenn man auf dasselbe Wort und dieselbe Benennung' 38 kommt unter Veränderung der Aussprache oder von Buchstaben, so daß auf unähnliche Dinge ähnliche Worte angewandt werden. Er wird auf verschiedene Arten bewerkstelligt. Durch Abschwächung oder Verschmelzung' 39 desselben Buchstabens, z. B. so: „Dieser, der sich großmächtig brüstet und zur Schau stellt, wird verkauft, bevor er nach Rom gekommen ist." Und im Gegensatz dazu: „Dieser besiegt die Menschen sogleich mit dem Schwert, die er mit dem Würfelspiel fesselt."' 40 Durch Dehnung desselben Buchstabens, z. B. auf folgende Weise: „Von hier zieht ihn der süße Gesang der Vögel zu unwegsamem Gelände."' 4 ' Durch Verkürzung desselben Buchstabens, z. B. so: „Auch wenn dieser nach Ehre strebt, liebt er die Kurie nicht so sehr wie Curia.'" 4 2

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Addendis litteris, hoc pacto: „Hie sibi posset temperare, nisi amori mallet ottemperare." Demendis nunc litteris, sic: „Si lenones vitasset tamquam leones, vitae tradidisset se." Transferendis litteris, sic: „Videte, iudices, utrum homini navo an vano credere malitis." Commutandis, hoc modo: „Deligere oportet, quem velis diligere." Hae sunt adnominationes, quae in litterarum brevi commutatione aut produetione aut transiectione aut aliquo huiusmodi genere versantur. Sunt autem aliae, quae non habent tarn propinquam in verbis similitudinem et tarnen dissimiles non sunt; quibus de generibus unum est huiusmodi: „Quid veniam, qui sim, quem insimulem, cui prosim, quae postulem, brevi cognoscetis." Nam hie est in quibusdam verbis quaedam similitudo non tarn adfectanda quam illae superiores, sed tarnen adhibenda nonnumquam. Alterum genus huiusmodi: „Demus operam, Quirites, ne omnino patres conscripti circumscripti putentur." Haec adnominatio magis accedit ad similitudinem quam superior, sed minus quam illae superiores, propterea quod non solum additae, sed uno tempore demptae quoque litterae sunt. Tertium genus est, quod versatur in casuum commutatione aut unius aut plurium nominum. Unius nominis, hoc modo: „Alexander Macedo summo labore animum ad virtutem a pueritia confirmavit. Alexandri virtutes per orbem terrae cum laude et gloria vulgatae sunt.

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Durch das Hinzufügen von Buchstaben, z. B. auf folgende Art: „Dieser könnte sich beherrschen, wenn er nicht lieber der Liebe gehorchen wollte." 1 4 3 N u n durch das Wegnehmen von Buchstaben, z. B. so: „Hätte er Kuppler ebenso gemieden wie Löwen, hätte er sein Leben erhalten."' 4 4 Durch das Umstellen von Buchstaben, z. B. so: „Seht zu, ihr Herren Richter, ob ihr einem rührigen Mann eher glauben wollt oder einem Windbeutel." Durch das Verändern von Buchstaben, z. B. auf folgende Weise: „Auswählen kann man, wen man lieben will.'" 4 5 Dies sind Anklänge, die auf einer kurzen Veränderung von Buchstaben, auf einer Umstellung oder irgendeiner derartigen Art beruhen. Es gibt aber auch andere, die keine so nahe Ähnlichkeit in den Wörtern haben und dennoch nicht unähnlich sind; von diesen Arten ist eine folgendermaßen: „Weshalb ich komme, wer ich bin, wen ich beschuldige, wem ich nütze, was ich verlange, werdet ihr bald erfahren." 1 4 6 Denn hier soll man bei gewissen Wörtern eine gewisse Ähnlichkeit zwar nicht so sehr wie bei den obigen anstreben, aber trotzdem soll man sie bisweilen anwenden. Eine andere derartige Art: „Wollen wir uns Mühe geben, Quiriten, daß man die Senatoren nicht gänzlich für umstrickt hält!"' 4 7 Dieser Anklang kommt mehr an die Ähnlichkeit heran als der eben angeführte, aber weniger als die weiter oben genannten, deswegen weil Buchstaben nicht nur hinzugefügt, sondern gleichzeitig auch welche weggenommen sind. Eine dritte Art ist die, welche in der Veränderung der Fälle eines oder mehrerer Eigennamen besteht.' 48 Eines Namens, z. B. auf folgende Weise: „Der Makedone Alexander kräftigte unter größter Anstrengung sein Herz zur Tapferkeit von Kindheit an. Alexanders Vorzüge wurden über den Erdkreis mit L o b und

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Alexandrum omnes maxime metuerant, idem plurimum dilexerunt. Alexandra si vita data longior esset, trans Oceanum Macedonum transvolassent sarisae." Hie unum nomen in c o m m u t a t o n e casuum volutatum est. Plura nomina casibus conmutatis hoc modo facient adnominationem: „Tiberium Graccum rem publicam administrantem prohibuit indigna nex diutius in ea commorari. Gaio Gracco similis occisio est oblata, quae virarci patriae amantissimum subito de sinu civitatis eripuit. Saturninum fide captum malorum perfidiae scelus vita privavit. Tuus, o Druse, sanguis domesticos parietes et vultum parentis aspersit. Sulpicio, cui paulo ante omnia concedebant, eum brevi spatio non m o d o vivere, sed edam sepeliri prohibuerunt". Haec tria proxima genera exornationum, quorum unum in similiter cadentibus, alteram in similiter desinentibus verbis, tertium in adnominationibus postitum est, perraro sumenda sunt, cum in veritate dicimus, propterea quod non haec videntur reperiri posse sine elaboratione et sumptione operae; eiusmodi autem studia ad delectationem quam ad veritatem videntur adcommodatiora. Quare fides et gravitas et severitas oratoria minuitur his exornationibus frequenter conlocatis et non m o d o tollitur auctoritas dicendi, sed offenditur quoque in eiusmodi oratione, propterea quod est in his lepos et festivitas, non dignitas neque pulcritudo. Quare quae sunt ampia atque pulcra, diu piacere possunt; quae lepida et concinna, cito satietate adficiunt aurium sensum fastidiosissimum. Q u o m o d o igitur, si crebro his generibus utemur,

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Ruhm verbreitet. Alexander fürchteten alle sehr, ebenso liebten sie ihn am meisten. Wäre Alexander ein längeres Leben beschieden gewesen, wären die Lanzen der Makedonen über den Erdkreis geeilt."' 49 Hier ist ein einziger Name bei der Veränderung der Fälle hin- und hergewendet. Mehrere Namen bilden durch eine Veränderung der Fälle auf folgende Weise einen Anklang: „Tiberius Gracchus, der den Staat verwaltete, hinderte der unverdiente Tod daran, länger darin zu verweilen. Dem Gaius Gracchus wurde ein ähnlicher Untergang zuteil, der diesen Mann von glühender Vaterlandsliebe plötzlich aus dem Herzen der Bürgerschaft riß. Den Saturninus, der wegen seiner Treue zu schlechten Männern gefangen wurde, beraubte ein gegen die Treue verstoßendes Verbrechen des Lebens. Dein Blut, Drusus, hat die Wände des Hauses und das Antlitz des Vaters bespritzt. Dem Sulpicius, dem sie kurz vorher alles anvertrauen wollten, verweigerten sie kurz darauf nicht nur das Leben, sondern auch die Bestattung." 1 ' 0 Diese drei zuletzt genannten Arten von Ausschmückungen, 1 ' 1 deren eine auf Endungsangleichungen, die andere auf Auslautsangleichungen und die dritte auf Anklängen beruht, soll man nur sehr selten hernehmen, wenn man in einem tatsächlichen Fall spricht, deswegen weil es den Anschein hat, sie könnten nicht aufgefunden werden ohne Anstrengung und einen Aufwand an Mühe; 1 ' 2 derartige Mühen aber scheinen sich mehr zur Ergötzung als zur tatsächlichen Anwendung zu eignen. 1 ' 3 Deshalb wird die Zuverlässigkeit, Feierlichkeit und Strenge der Rede gemindert durch diese Ausschmückungen, wenn sie häufig gesetzt sind, und nicht nur die Gültigkeit des gesprochenen Wortes wird beseitigt, sondern man erregt auch Anstoß bei einer derartigen Rede, deswegen weil diese Ausschmückungen Anmut und Zierde, aber nicht Würde und Schönheit besitzen. Deshalb kann lange gefallen, was erhaben und schön ist; was aber nur anmutig und kunstvoll ist, bewirkt schnell durch Ubersättigung im Gehörsinn größten Überdruß. 1 ' 4 Wie wir also, wenn wir diese Arten häufig anwenden, uns an einer kindi-

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puerili videbimur elocutione delectari, item, si raro interseremus has exornationes et in causa tota varie dispergemus, commode luminibus distinctis inlustrabimus orationem. Subiectio est, cum interrogamus adversarios aut quaerimus ipsi, quid ab illis aut quid contra nos dici possit, deinde subicimus id, quod oportet dici aut non oportet aut nobis adiumento futurum sit aut illis obfuturum sit e contrario, hoc modo: „ Q u a e r o igitur, unde iste tam pecuniosus factus sit. A m p l u m Patrimonium relictum est? A t patris bona venierunt. Hereditas aliqua venit? N o n potest dici, sed etiam a necessariis omnibus exheredatus est! Praemium aliquod ex lite aut iudicio cepit? N o n m o d o id non fecit, sed etiam insuper ipse grandi sponsione victus est! Ergo, si his rationibus locupletatus non est, sicut omnes videtis, aut isti domi nascitur aurum aut, unde non est licitum, pecunias cepit."

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Item: „Saepe, iudices, animum adverti mukös aliqua ex honesta re, quam ne inimici quidem criminari possint, sibi praesidium petere. Q u o r u m nihil potest adversarius facere. N a m utrum ad patris sui virtutem confugiet? A t eum vos iurati capite damnastis. A n ad suam revertetur antiquam vitam alicubi honeste tractatam? N a m hic quidem ante oculos vestros q u o m o d o vixerit, scitis omnes. A n cognatos suos enumerabit, quibus vos conveniat commoveri? A t hi quidem nulli sunt. Amicos proferet? A t nemo est, qui sibi non turpe putet istius amicum nominari."

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Item: „Credo, inimicum, quem nocentem putabas, in iudicium adduxisti? N o n , nam eum indem-

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sehen stilistischen Gestaltung zu ergötzen scheinen, so verschönern wir ebenso in angemessener Weise durch richtig verteilte Glanzlichter die Rede, wenn wir diese Ausschmükkungen nur selten einfügen und auf den ganzen Fall mannigfaltig verbreiten. Ein Einwand 1 " liegt vor, wenn wir die Gegner befragen oder uns selbst fragen, was von ihnen oder was gegen uns gesagt werden kann; dann bringen wir das als Einwand, was gesagt werden muß oder nicht muß, ob es nun für uns hilfreich ist oder denen dagegen schadet, z. B. auf folgende Weise: „Ich frage also, woher dieser da so vermögend wurde. Wurde ein bedeutendes väterliches Erbe hinterlassen? Aber der Besitz des Vaters wurde verkauft. Kam irgendeine Erbschaft zustande? Das kann man nicht sagen, sondern er wurde sogar von allen Verwandten enterbt. Erhielt er irgendeine Belohnung aus einem Streitfall oder aus einem Gerichtsentscheid? 1 ' 6 Nein, weit davon entfernt, sondern darüber hinaus verlor er noch eine teure Bürgschaft.' 57 Wenn er also auf diese Arten nicht reich wurde, wie ihr alle seht, so wächst ihm zu Hause Gold oder er hat Geld von woher genommen, wo es nicht erlaubt ist." Ebenso: „Oft, ihr Herren Richter, habe ich beobachtet, daß viele aus einem ehrenhaften Umstand, aus dem nicht einmal Feinde einen Vorwurf machen könnten, für sich Schutz suchen. Davon kann mein Gegner nichts vorbringen. Denn wird er zur Tugend seines Vaters Zuflucht nehmen? Aber den habt ihr Geschworenen zum Tode verurteilt. Oder wird er auf seinen früheren in Ehren verbrachten Lebensabschnitt zurückkommen? Denn wie dieser hier vor euren Augen gelebt hat, wißt ihr alle. Oder wird er seine Verwandten aufzählen, durch deren Erwähnung ihr beeindruckt werden sollt? Aber es gibt ja gar keine. Wird er Freunde anführen? Aber es gibt doch niemanden, der es nicht für eine Schande für sich hielte, der Freund dieses Mannes da genannt zu werden." Ebenso: „Vermutlich hast du deinen Feind, den du für schuldig hieltest, vor Gericht gebracht? Nein, denn du hast

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natum necasti. Leges, quae id facere prohibent, veritus es? A t ne scriptas quidem iudicasti. C u m ipse te veteris amicitiae commonefaceret, commotus es? A t nihilominus, sed etiam studiosius occidisti. Q u i d ? cum tibi pueri ad pedes volutarentur, misericordia motus es? A t eorum patrem crudelissime sepultura quoque prohibuisti."

Multum inest acrimoniae et gravitatis in hac exornatione, propterea quod, cum quaesitum est, quid oporteat, subicitur id non esse factum. Quare facillime fit, ut exaugeatur indignitas negotii.

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Ex eodem genere, ut ad nostram quoque personam referamus subiectionem, sic: „ N a m quid me facere convenit, cum a tanta Gallorum multitudine circumsederer? A n dimicarem? A t cum parva manu tum prodiremus; locum quoque iniquissimum habebamus. Sederem in castris? A t neque subsidium, quod expectarem, habebamus, neque erat, qui vitam produceremus. Castra relinquerem? A t obsidebamur. Vitam militum neglegerem? A t obsidebamur. Vitam militum neglegerem? A t eos videbar ea accepisse condicione, ut eos, quoad possem, incolumis patriae et parentibus conservarem. Hostium condicionem repudiarem? A t salus antiquior est militum quam inpedimentorum." Eiusmodi consequuntur identidem subiectiones, ut ex omnibus ostendi videatur nihil potius, quam quod factum sit, faciundum fuisse. Gradatio est, in qua non ante ad consequens verbum descenditur, quam ad superius ascensum est, hoc modo: „ N a m quae reliqua spes manet libertatis, si illis

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ihn, ohne daß er verurteilt war, getötet. Hast du die Gesetze, die eine solche Tat verhindern, gefürchtet? Aber du hast sie nicht einmal als geschrieben angesehen. Als er selbst dich an eure frühere Freundschaft erinnerte, wurdest du da gerührt? Aber keineswegs, sondern du tötetest ihn mit noch größerer Leidenschaft. Weiter! Als sich seine Kinder dir zu Füßen warfen, wurdest du da von Mitleid gerührt? Aber ihrem Vater hast du mit größter Grausamkeit sogar die Bestattung verweigert." " s8 Viel Energie und Feierlichkeit birgt diese Ausschmückung in sich, deswegen weil unmittelbar nachdem man gefragt hat, was sich gehöre, der Einwand vorgebracht wird, dies sei nicht geschehen. Dadurch wird sehr leicht bewirkt, daß das Empörende der Tat verstärkt wird. Von der nämlichen Art ist, um den Einwand auch auf die eigene Person zu beziehen, 1 ' 9 das folgende Beispiel: „Denn was hätte ich tun sollen, da ich von einer solchen Menge Gallier umzingelt war? Hätte ich kämpfen sollen? Aber dann hätten wir nur mit einer kleinen Schar vorrücken können; auch hatten wir sehr ungünstiges Gelände. Hätte ich im Lager sitzen bleiben sollen? Aber wir hatten keine Hilfstruppen, auf die ich hätte warten können, und es gab keine Möglichkeit, wie wir das Leben länger erhalten konnten. Hätte ich das Lager verlassen sollen? Aber wir wurden doch belagert. Hätte ich das Leben der Soldaten geringschätzen sollen? Aber ich glaubte sie unter der Bedingung erhalten zu haben, daß ich sie, so gut ich konnte, dem Vaterland und ihren Eltern unversehrt erhielt. Hätte ich die Bedingung der Feinde zurückweisen sollen? Aber die Rettung der Soldaten ist wichtiger als die des Trosses." 160 Derartige Einwände führen immer wieder zu dem Ergebnis, daß man aufgrund aller Umstände zu zeigen scheint, daß man nichts Besseres hätte tun können, als was getan wurde. Die Steigerung' 61 ist das Stilmittel, bei welchem man nicht eher zum folgenden Wort übergeht, als man auf das vorausgehende zurückgegriffen hat, z. B. auf folgende Weise: „Denn was für eine Hoffnung auf Freiheit bleibt übrig,

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et quod übet, licet, et quod licet, possunt, et quod possunt, audent, et quod audent, faciunt, et quod faciunt, vobis molestum non est?" Item: „ N o n sensi hoc et non suasi; neque suasi et non ipse facere coepi; neque facere coepi et non perfeci; neque perfeci et non probavi."

Item: „Africano virtutem industria, virtus gloriam, gloria aemulos conparavit." Item: „Imperium Graeciae fuit penes Atheniensis; Atheniensium potiti sunt Spartiatae; Spartiatas superavere Thebani; Thebanos Macedones vicerunt, qui ad imperium Graeciae brevi tempore adiunxerunt Asiam bello subactam." Habet in se quendam leporem superioris cuiusque crebra repetitio verbi, quae propria est huius exornationis. Definitio est, quae rei alicuius proprias amplectitur potestates breviter et absolute, hoc modo: „Maiestas rei publicae est, in qua continetur dignitas et amplitudo civitatis." Item: „Iniuriae sunt, quae aut pulsatione corpus aut convicio auris aut aliqua turpitudine vitam cuiuspiam violant." Item: „ N o n est ista diligentia, sed avaritia, ideo quod diligentia est accurata conservano suorum, avaritia iniuriosa adpetitio alienorum." Item: „ N o n est ista fortitudo, sed temeritas, propterea quod fortitudo est contemptio laboris et periculi cum ratione utilitatis et conpensatione commodorum, temeritas est cum inconsiderata

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wenn denen, was ihnen beliebt, erlaubt ist, und sie, was erlaubt ist, können, und was sie können, wagen, und was sie wagen, tun, und was sie tun, euch nicht lästig ist?" 1 6 2 Ebenso: „Nicht bemerkt habe ich das und nicht dazu geraten; nicht dazu geraten habe ich und es nicht selbst begonnen; nicht begonnen habe ich es und nicht zu Ende geführt; nicht zu Ende geführt habe ich es und nicht gutgeheißen." 1 ^ Ebenso: „Dem Africanus verschaffte seine Energie Tüchtigkeit, seine Tüchtigkeit Ruhm, sein Ruhm Neider."' 6 4 Ebenso: „Die Herrschaft über Griechenland lag bei den Athenern; über die Athener gewannen die Spartaner die Macht; die Spartaner unterlagen den Thebanern; über die Thebaner siegten die Makedonen, welche ihrer Herrschaft in Griechenland in kurzer Zeit Asien, das sie im Krieg unterworfen hatten, hinzufügten." Einen gewissen Reiz birgt in sich die häufige Wiederholung des jeweils vorausgehenden Wortes, die für diese Ausschmückung eigentümlich ist. Die Begriffsbestimmung 1 6 ' ist das Stilmittel, welches die irgendeiner Sache eigentümlichen Eigenschaften kurz und bündig umfaßt, z. B. auf folgende Weise: „Die Hoheit des Staates ist der Begriff, in dem die Würde und die Erhabenheit einer Bürgschaft enthalten ist." 1 6 6 Ebenso: „Ungerechte Ubergriffe sind die Handlungen, die entweder durch Schlagen den Körper oder durch Schmähung die Ohren oder durch irgendeine schändliche Tat das Leben von irgend jemandem verletzen." 1 6 7 Ebenso: „Dies ist keine Umsicht, sondern Habgier, deshalb weil Umsicht die genaue Bewahrung des eigenen Besitzes, Habgier das ungerechte Streben nach fremdem Besitz ist." Ebenso: „Dies ist nicht Tapferkeit, sondern Tollkühnheit, deshalb weil Tapferkeit die Geringschätzung von Mühe und Gefahr, verbunden mit einer vernünftigen Abschätzung des Nutzens und einer Abwägung der Vorteile, ist, Tollkühnheit dagegen ein gladiatorenmäßiges Aufsichnehmen von Gefah-

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dolorum perpessione gladiatoria periculorum susceptio." Haec ideo commoda putatur exornatio, quod omnem rei cuiuspiam vim et potestatem ita dilucide proponit et breviter, ut neque pluribus verbis oportuisse dici videatur neque brevius potuisse dici putetur. Transitio vocatur, quae cum ostendit breviter, quid dictum sit, proponit item brevi, quid consequatur, hoc pacto: „In patrem cuiusmodi fuerit, habetis; nunc parens qualis extiterit, considerate."

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Item: „Mea in istum beneficia cognoscitis; nunc q u o m o d o iste mihi gratiam retulerit, accipite." Proficit haec aliquantulum exornatio ad duas res: nam et, quid dixerit, commonet et ad reliquum conparat auditorem. Correctio est, quae tollit id, quod dictum est, et pro eo id, quod magis idoneum videtur, reponit, hoc pacto: „ Q u o d s i iste suos hospites rogasset, immo innuisset modo, facile hoc perfici posset." Item: „ N a m postquam isti vicerunt atque adeo vieti sint, - earn q u o m o d o victoriam appellem, quae victoribus plus calamitatis quam boni dederit?" Item: „ O virtutis comes, invidia, quae bonos sequeris plerumque atque adeo insectaris!" C o m m o v e t u r hoc genere animus auditoris. Res enim communi verbo elata tantummodo dicta videtur; ea post ipsius oratoris correctionem magis idonea fit pronuntiatione. „ N o n igitur satius esset", dicet aliquis, „ab initio, praesertim cum seri-

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ren, verbunden mit einem unüberlegten Erdulden von Schmerzen." 168 Diese Ausschmückung wird deshalb für vorteilhaft gehalten, weil sie den ganzen Sinn und die ganze Bedeutung eines jeden beliebigen Ausdrucks so klar und kurz darlegt, daß weder der Anschein erweckt wird, man hätte es mit mehr Worten sagen müssen, noch der Glaube entsteht, man hätte es kürzer sagen können. Ubergang 169 nennt man das Stilmittel, welches kurz zeigt, was bisher gesagt wurde, und ebenso in Kürze darlegt, was folgt, z. B. auf folgende Art: „Nun habt ihr erfahren, wie er sich gegenüber seinem Vater verhalten hat; jetzt betrachtet auch, wie er als Vater gewesen ist.'" 7 0 Ebenso: „Meine Wohltaten diesem Menschen gegenüber erkennt ihr; nun vernehmt, wie er mir Dank abstattete." Einen gewissen Vorteil bringt diese Ausschmückung in zweierlei Hinsicht; denn sie ruft das in Erinnerung zurück, was der Redner gesagt hat, und bereitet den Zuhörer auf das Folgende vor. Die Berichtigung' 71 ist das Stilmittel, welches aufhebt, was gesagt wurde, und an seine Stelle das setzt, was geeigneter erscheint, z . B . auf folgende Art: „Wenn nun dieser seine Gastfreunde gebeten, ja ihnen nur einen Wink gegeben hätte, so könnte dies leicht durchgeführt werden." Ebenso: „Denn nachdem diese gesiegt haben oder besser besiegt worden sind - wie könnte ich nämlich das einen Sieg nennen, was den Siegern mehr Unglück als Gutes gebracht hat?" Ebenso: „O Begleiter der Tugend, Neid, der du den Tüchtigsten meistens folgst oder sie vielmehr verfolgst." 172 Durch diese Art wird der Zuhörer beeindruckt. Denn der durch ein gewöhnliches Wort hervorgehobene Sachverhalt scheint nur ziemlich obenhin gesagt; nach der Berichtigung durch den Redner selbst wird er passender vorgetragen. „Wäre also nicht besser", wird man sagen, „von Anfang an,

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bas, ad optimum et lectissimum verbum devenire?" Est, cum non est satius, si commutatio verbi id erit demonstratura, eiusmodi rem esse, ut, cum earn communi verbo appellaris, levius dixisse videaris, cum ad electius verbum accedas, insigniorem rem facias. Q u o d s i continuo venisses ad id verbum, nec rei nec verbi gratia animadversa esset.

Occultatio est, cum dicimus nos praeterire aut non scire aut nolle dicere id, quod nunc maxime dicimus, hoc modo: „ N a m de pueritia quidem tua, quam tu omnium intemperantiae addixisti, dicerem, si hoc tempus idoneum putarem; nunc consulto relinquo; et illud praetereo, quod te tribuni rei militaris infrequentem tradiderunt; deinde quod iniuriarum satis fecisti L. Labeoni, nihil ad hanc rem pertinere puto. H o r u m nihil dico; revertor ad illud, de quo iudicium est."

Item: „ N o n dico te ab sociis pecunias cepisse; non sum in eo occupatus, quod civitates, regna, domos omnium depeculatus es; furta, rapinas omnes tuas omitto." Haec utilis est exornatio, si aut rem, quam non pertineat aliis ostendere occulte admonuisse prodest, aut longum est aut ignobile, aut planum non potest fieri, aut facile potest reprehendi, ut utilius sit occulte fecisse suspicionem, quam eiusmodi intendisse orationem, quae redarguatur.

Disiunctio est, cum eorum, de quibus dicimus,

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zumal wenn man schreibt, auf das beste und gewählteste Wort zu kommen?" In gewissen Fällen nicht, wenn nämlich das Abändern eines Wortes deutlich machen wird, daß der Sachverhalt derartig ist, daß man nämlich, wenn man ihn mit einem gewöhnlichen Wort bezeichnet, den Eindruck erweckt, ziemlich Unbedeutendes gesagt zu haben, wenn man aber auf ein recht ausgewähltes Wort kommt, den Sachverhalt bedeutsamer macht. Wäre man aber sofort auf dieses Wort gestoßen, so wäre weder die besondere Bedeutung des Sachverhaltes noch die des Wortes bemerkt worden. Eine Ubergehung 173 liegt vor, wenn wir sagen, wir übergingen oder wüßten nicht oder wollten nicht das sagen, was wir nun gerade erst recht sagen, z. B. auf folgende Weise: „Denn über deine Jugend, die du der Zügellosigkeit in jeder Beziehung verschrieben hast, würde ich natürlich jetzt sprechen, wenn ich diese Gelegenheit für geeignet hielte; nun lasse ich sie absichtlich unerwähnt. Und ich übergehe auch, daß die Tribunen dich als nachlässig im Militärdienst geschildert haben. Daß du weiterhin dem L. Labeo Ungerechtigkeiten in Hülle und Fülle zugefügt hast, gehört, glaube ich, nicht hierher. Davon sage ich nichts; ich kehre zu dem zurück, worum sich die Gerichtsverhandlung dreht.'" 74 Ebenso: „Ich sage nicht, daß du von den Bundesgenossen Geld genommen hast; nicht damit beschäftige ich mich, daß du Bürgerschaften, Reiche, die Häuser aller ausgeplündert hast; deine Diebstähle und Raubzüge lasse ich alle unerwähnt." Diese Ausschmückung ist nützlich, wenn es nichts zur Sache beiträgt, andere offen auf das hinzuweisen, woran im verborgenen erinnert zu haben nützlich ist, oder wenn es zu weit führen würde oder zu unbekannt wäre oder wenn es nicht ganz deutlich gemacht oder zurückgewiesen werden kann; so ist es nützlicher, einen Verdacht im Verborgenen erregt als die Rede auf etwas gerichtet zu haben, was widerlegt wird. 175 Eine Absonderung' 76 liegt vor, wenn von den Punkten,

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aut utrumque aut unum quodque certo conciuditur verbo, sic: „Populus Romanus Numantiam delevit, Kartaginem sustulit, Corinthum disiecit, Fregellas evertit. Nihil Numantinis vires corporis auxiliatae sunt, nihil Kartaginiensibus scientia rei militaris adiumento fuit, nihil Corinthis erudita calliditas praesidii tulit, nihil Fregellanis morum et sermonis societas opitulata est." Item: „Formae dignitas aut morbo deflorescit aut vetustate extinguitur." Hic utrumque, in superiore exemplo unam quamque rem certo verbo concludi videmus. Coniunctio est, cum interpositione verbi et superiores partes orationis conprehenduntur et inferiores, hoc modo: „Formae dignitas aut morbo deflorescit aut vetustate." Adiunctio est, cum verbum, quo res conprehenditur, non interponimus, sed aut primum aut postremum conlocamus. Primum, hoc pacto:

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„Deflorescit formae dignitas aut morbo aut vetustate." Postremum, sie: „Aut morbo aut vetustate formae dignitas deflorescit." Ad festivitatem disiunetio est adposita, quare rarius utemur ea, ne satietatem pariat; ad brevitatem coniunctio, quare saepius adhibenda est. Hae tres exornationes de simplici genere manant. Conduplicatio est quom ratione amplificationis aut commiserationis eiusdem unius aut plurium verborum iteratio, hoc modo:

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über die wir sprechen, entweder beide oder jeder einzelne mit einem bestimmten Verbum schließt, z. B. so: „Das römische Volk hat Numantia zerstört, Karthago vertilgt, Korinth zertrümmert, Fregellae vernichtet. Nichts haben den Numantinern ihre Körperkräfte geholfen, nichts hat den Karthagern ihre Kriegskunst genützt, nichts hat den Korinthern ihre gerissene Schlauheit an Schutz gebracht, nichts hat den Fregellanern 177 die Gemeinschaft der Sitten und der Sprache an Beistand gebracht." Ebenso: „Außere Schönheit verblüht entweder durch Krankheit oder erlöscht durch das Alter."' 7 8 Hier schließen, wie wir sehen, beide Teile, in dem vorausgehenden Beispiel jeder einzelne Teil mit einem bestimmten Verbum. Eine Verbindung' 79 liegt vor, wenn durch die Zwischenstellung des Verbums die vorausgehenden Teile der Rede umfaßt werden und die folgenden, z. B. auf folgende Weise: „Äußere Schönheit verblüht entweder durch Krankheit oder durch das Alter.'" 8 0 Ein Anschluß' 8 ' liegt vor, wenn wir das Verbum, durch das ein Sachverhalt umfaßt wird, nicht dazwischenstellen, sondern entweder an den Anfang oder an den Schluß stellen. An den Anfang, z . B . auf folgende Art: „Es verblüht äußere Schönheit entweder durch Krankheit oder durch das Alter." An den Schluß, z. B. so: „Entweder durch Krankheit oder durch das Alter verblüht äußere Schönheit." Zur anmutigen Darstellung ist die Absonderung gesetzt; deswegen verwenden wir sie seltener, damit sie nicht Übersättigung bewirkt;' 82 zur kurzen Darstellung der Zusammenschluß; deswegen kann er häufiger angewandt werden. Diese drei Ausschmückungen entspringen aus einer einzigen Art. Eine Wiederholung' 83 ist die Wiederaufnahme eines und desselben Wortes oder mehrerer Wörter mit der Absicht der Steigerung oder der Erregung von Mitleid, z. B. auf folgende Weise:

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„Tumultus, Gai Gracce, tumultus domesticos et intestinos conparas." Item: „Commotus non es, cum tibi pedes mater amplexaretur, non es commotus?" Item: „Nunc audes etiam venire in horum conspectum, proditor patriae? Proditor, inquam, patriae, venire audes in horum conspectum?" Vehementer auditorem commovet eiusdem redintegratio verbi et vulnus maius efficit in contrario causae, quasi aliquod telum saepius perveniat in eandem partem corporis. Interpretatio est, quae non iterans idem redintegrat verbum, sed id commutat quod positum est alio verbo, quod idem valeat, hoc modo: „Rem publicam radicitus evertisti, civitatem funditus deiecisti." Item: „Patrem nefarie verberasti, parenti manus scelerate attulisti." Necessum est eius, qui audit, animum commoveri, cum gravitas prioris dicti renovatur interpret a t i o n verborum. Commutatio est, cum duae sententiae inter se discrepantes ex transiectione ita efferuntur ut a priore posterior contraria priori proficiscatur, hoc modo: „Esse oportet, ut vivas, non vivere, ut edas." Item: „Ea re poemata non facio, quia cuiusmodi volo, non possum, cuiusmodi possum, nolo." Item: „Quae de ilio dicuntur, dici non possunt, quae dici possunt, non dicuntur."

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„Aufruhr, Gaius Gracchus, Aufruhr im eigenen Land und im Innern des Staates erregst du!" Ebenso: „Wurdest du nicht von Rührung ergriffen, als deine Mutter dir die Füße umschlang, wurdest du da nicht von Rührung ergriffen?" 184 Ebenso: „Nun wagst du es noch, diesen unter die Augen zu treten, du Vaterlandsverräter? Du Vaterlandsverräter, sage ich, wagst es, diesen unter die Augen zu treten?" Heftig erregt den Zuhörer die Wiederaufnahme ein und desselben Wortes, und eine tiefere Wunde schlägt sie beim Prozeßgegner, als ob irgendeine Waffe öfter denselben Körperteil träfe. Eine Erklärung 18 ' ist das Stilmittel, welches bei der Wiederholung nicht dasselbe Wort wiederaufnimmt, sondern das Wort, das gesetzt ist, mit einem anderen vertauscht, welches das nämliche bedeutet, z. B. auf folgende Weise: „Den Staat hast du an seiner Wurzel vernichtet, das Gemeinwesen hast du bis auf die Fundamente niedergerissen." Ebenso: „Den Vater hast du in nichtswürdiger Weise geschlagen, an den, dem du das Leben verdankst, hast du in verbrecherischer Weise Hand angelegt." Der Zuhörer muß innerlich ergriffen werden, wenn die volle Bedeutung des vorausgehenden Ausspruches durch die Erklärung der Worte ins Gedächtnis zurückgerufen wird. Eine Umstellung' 86 liegt vor, wenn zwei untereinander widersprüchliche Gedanken durch eine Versetzung so herausgestellt werden, daß der zweite, zum ersten gegensätzliche Gedanke aus dem ersten hervorgeht, z . B . auf folgende Weise: „Man muß essen, um zu leben, nicht leben, um zu essen."' 87 Ebenso: „Deswegen verfasse ich keine Gedichte, weil ich Gedichte von der Art, wie ich möchte, nicht fertigbringe, wie ich sie aber fertigbringe, nicht möchte."' 8 8 Ebenso: „Was über jenen Mann gesagt wird, kann nicht gesagt werden, was aber gesagt werden kann, wird nicht gesagt."

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Item: „Poema loquens pictura est, pictura taciturn poema debet esse." Item: „Si stultus es et ea re taces, sapiens es; si sapiens es et tamen taces, stultus es." N o n potest dici, quin commode fiat, cum contrariae sententiae relatione verba quoque convertantur. Plura subiecimus exempla, ut, quoniam difficile est hoc genus exornationis inventu, dilucidum esset, ut, cum bene esset intellectum, facilius in dicundo inveniretur. Permissio est, cum ostendemus in dicundo nos aliquam rem totam tradere et concedere alicuius voluntati, sic: „ Q u o n i a m omnibus rebus ereptis solum mihi superest animus et corpus, haec ipsa, quae mihi de multis sola relieta sunt, vobis et vestrae condono potestati. Vos me vestro, quo pacto vobis videbitur, utamini atque abutamini licebit, inpunite in me quidlibet statuite; dicite, atque obtemperabo." H o c genus tametsi alias quoque nonnumquam tractandum est, tamen ad misericordiam commovendam vehementissime est adcommodatum. Dubitatio est, cum quaerere videtur orator, utrum de duobus potius aut quid de pluribus potissimum dicat, hoc modo: „ O f f u i t eo tempore plurimum rei p. consulum sive stultitiam sive malitiam dicere oportet sive utrumque." Item: „Tu istud ausus es dicere, h o m o omnium mortalium - quaero, quonam te digno moribus tuis appellem nomine". Expeditio est, cum rationibus conpluribus enumeratis, quibus aliqua res aut fieri aut non fieri potuerit, ceterae tolluntur, una relinquitur, quam nos intendimus, hoc modo:

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Ebenso: „Ein Gedicht ist ein sprechendes Gemälde, ein Gemälde ein stummes Gedicht."' 89 Ebenso: „Wenn man dumm ist und deswegen schweigt, ist man weise. Wenn man weise ist und trotzdem schweigt, ist man dumm." Man kann nicht behaupten, daß es nicht vorteilhaft wirkt, wenn beim Vorbringen eines gegensätzlichen Gedankens auch die Worte umgekehrt werden. Ich habe mehr Beispiele angeführt, damit diese Art der Ausschmückung ganz klar werde, da es ja schwierig ist, sie aufzufinden; wenn man sie gut verstanden hat, findet man sie leichter auf beim Reden. Eine Anheimstellung liegt vor, wenn wir beim Reden darauf hinweisen, daß wir etwas ganz dem Willen von jemandem überlassen, z. B. so: „Da mir ja alles entrissen ist und mir nur noch Leib und Leben bleibt, überlasse ich eben das, was mir von vielem als einziges übrig geblieben ist, ganz euch und eurer Verfügungsgewalt. Ihr dürft mich, wie es euch gut dünkt, gebrauchen und mißbrauchen; bestimmt ungestraft über mich, was euch beliebt; sprecht, und ich werde gehorchen." Wenn diese Art manchmal auch in anderem Zusammenhang anzuwenden ist, so eignet sie sich am besten dazu, Mitleid zu erregen. Ein Zweifel' 90 liegt vor, wenn der Redner sich zum Schein fragt, welches Wort von zweien er eher oder welches von mehreren er am ehesten nennen solle, z. B. auf folgende Weise: „Zu jener Zeit schadete dem Staat am meisten der Konsuln - soll man es Dummheit oder Schlechtigkeit oder beides nennen."' 9 ' Ebenso: „Du wagst es, dies zu sagen, du von allen Menschen der aller... - ich frage mich, mit welchem Namen, der zu deinem Charakter paßt, ich dich denn anreden soll."' 92 Eine Aussonderung' 93 liegt vor, wenn nach Aufzählen mehrerer Möglichkeiten, wie etwas hätte durchgeführt oder nicht durchgeführt werden können, die übrigen ausgesondert werden und nur die übrigbleibt, auf welche wir zielen, z. B. auf folgende Weise:

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„Necesse est, cum constet istum fundum nostrum fuisse, ostendas te aut vacuum possedisse, aut usu tuum fecisse, aut emisse, aut hereditate tibi venisse. Vacuum, cum ego adessem, possidere non potuisti; tuum etiam usu fecisse non potes; emptio nulla profertur; hereditate tibi me vivo mea pecunia venire non potuit: relinquitur ergo, ut me vi de meo fundo deieceris."

Haec exornatio plurimum iuvabit coniecturalis argumentationes. Sed non erit, tamquam in plerisque, ut, cum velimus, ea possimus uti; nam facere non poterimus, nisi ipsa negotii natura dabit facultatem.

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Dissolutum est, quod coniunctionibus verborum e medio sublatis, separatis partibus effertur, hoc modo: „Gere morem parenti, pare cognatis, obsequere amicis, obtempera legibus." Item: „Descende in integram defensionem, noli quicquam recusare, da servos in quaestionem, Stüde verum in venire."

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Hoc genus et acrimoniam habet in se et vehementissimum est et ad brevitatem adcommodatum. Praecisio est, cum dictis quibusdam reliquum, quod coeptum est dici, relinquitur inchoatum, sic: „Mihi tecum par certatio non est, ideo quod populus Romanus me - nolo dicere, ne cui forte adrogans videar; te autem saepe ignominia dignum putavit."

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„ D a feststeht, daß dieses Grundstück mir gehörte, muß du gezwungenermaßen beweisen, daß du es als ein herrenloses in Besitz genommen oder durch das Gewohnheitsrecht in deinen Besitz gebracht oder es gekauft oder durch eine Erbschaft erhalten hast. Als herrenlos konntest du es nicht in Besitz nehmen, da ich da war; durch das Gewohnheitsrecht kannst du es auch nicht in deinen Besitz gebracht haben; von einem Kauf wird nichts vorgebracht; durch eine Erbschaft konnte dir, solange ich lebe, mein Vermögen nicht zufallen. Es bleibt also nur die Möglichkeit, daß du mich gewaltsam von meinem Grund und Boden vertrieben hast." Diese Ausschmückung hilft am meisten bei Beweisführungen, die auf Vermutungen beruhen. Aber es ist nicht möglich, wie bei den meisten Ausschmückungen, sie immer anzuwenden, wenn wir wollen; denn wir können es nicht tun, wenn nicht die Art des Vorganges selbst die Möglichkeit dazu gibt. Eine unverbundene Ausdrucksweise 1 9 4 ist diejenige, welche nach Beseitigung der Wortverbindungen 19 s in getrennten Teilen hervogehoben wird, z . B . auf folgende Weise: „Willfahre dem Vater, füge dich den Verwandten, folge den Freunden, gehorche den Gesetzen!" Ebenso: „Entschließe dich zu einer unanfechtbaren Verteidigung, weise nichts zurück, liefere deine Sklaven zum peinlichen Verhör aus, bemühe dich, die Wahrheit zu finden!" Diese Art birgt Energie in sich, ist sehr lebhaft und ist geeignet zur Kürze. Das Abbrechen eines Gedankens 1 9 6 liegt vor, wenn nach einigen Worten der übrige Gedankengang, den man auszusprechen begonnen hat, unvollendet bleibt, z. B. so: „Zwischen mir und dir gibt es keinen ausgeglichenen Wettkampf, deshalb weil das römische Volk mich - ich will nicht weitersprechen, um niemandem anmaßend zu erscheinen; dich aber hielt es oft einer schimpflichen Behandlung würdig." 1 9 7

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Item: „Tu ista nunc audes dicere, qui nuper alienae domi - non ausim dicere, ne, cum te digna dicerem, me indignum quippiam dixisse videar."

Hic atrocior tacita suspicio quam diserta explanatio facta est. Conclusio est, quae brevi argumentatione ex iis, quae ante dicta sunt, aut facta conficit, quod necessario consequatur, hoc modo: „Quodsi Danais datum erat oraculum non posse capi Troiam sine Philoctetae sagittis, hae autem nihil aliud fecerunt nisi Alexandrum perculerunt, hunc extinguere, id nimirum capi fuit Troiam". Restant etiam decern exornationes verborum, quas idcirco non vage dispersimus, sed a superioribus separavimus, quod omnes in uno genere sunt positae. Nam earum omnium hoc proprium est, ut ab usitata verborum potestate recedatur atque in aliam rationem cum quadam venustate oratio conferatur. De quibus exornationibus nominatio est prima, quae nos admonet, ut, cuius rei nomen aut non sit aut satis idoneum non sit, earn nosmet idoneo verbo nominemus aut imitationis aut significationis causa: imitationis, hoc modo, ut maiores „vagire" et „mugire" et „murmurare" et „sibilare" appellarunt; significandae rei causa, sie: „Postquam iste in rem publicam fecit impetum, fragor civitatis inprimis est auditus." H o c genere raro est utendum, ne novi verbi adsiduitas odium pariat; sed si commode quis profe-

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Ebenso: „Du wagst dies zu sagen, der du erst neulich in einem fremden Haus - ich wage es nicht auszusprechen, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich hätte etwas gesagt, was meiner unwürdig ist, indem ich etwas sagte, was deiner würdig ist." 1 ' 8 Hier wurde eine unausgesprochene Vermutung unbarmherziger als eine beredte Darstellung. Die Schlußfolgerung 1 " ist das Stilmittel, welches in kurzer Beweisführung aus dem, was vorher gesagt wurde oder geschah, schließt, was notwendigerweise folgen wird, z. B. auf folgende Weise: „Wenn nun den Danaern das Orakel gegeben war, Troja könne nicht eingenommen werden ohne die Pfeile des Philoktet, diese aber nichts anderes bewirkten als den Alexander niederzuschmettern, dann bedeutete dessen Tod selbstverständlich die Einnahme Trojas." 200 Es bleiben noch zehn Ausschmückungen von Wörtern, die ich deshalb nicht planlos eingestreut, sondern von den vorausgehenden getrennt habe, weil alle auf einer einzigen Art beruhen. Denn ihnen allen ist eigen, daß eine Abweichung von der sonst üblichen Bedeutung der Wörter vorliegt und die Rede einen anderen Sinn erhält, was mit einem gewissen Reiz verbunden ist. 201 Von diesen Ausschmückungen ist die Benennung 202 die erste; sie ermahnt uns dazu, eine Sache, für die es keine oder keine genügend zutreffende Bezeichnung gibt, mit einem zutreffenden Wort zu benennen, um einen Laut nachzuahmen oder ein Bild zu kennzeichnen: Um einen Laut nachzuahmen, z. B. auf folgende Weise, wie unsere Vorfahren „schreien" 203 auch „muhen", „murren" und „zischen" nannten; um ein Bild zu kennzeichnen, z. B. so: „Nachdem dieser einen Angriff gegen den Staat unternommen hatte, hörte man vernehmlich ein Krachen 204 des Gemeinwesens." Diese Art soll man nur selten gebrauchen, damit nicht der ständige Gebrauch des neuen Wortes Widerwillen hervorruft, aber wenn man sie angemessen anwendet und nur sei-

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rat et raro, non modo non offendet novitate, sed etiam exornat orationem. Pronominatio est, quae sicuri cognomine quodam extraneo demonstrat id, quod suo nomine non potest appellari; ut si quis, cum loquatur de Graccis: ,,At non Africani nepotes", inquiet, „istiusmodi fuerunt." Item si quis de adversario cum dicat: „Videte nunc", inquit, „iudices, quemadmodum me Plagioxippus iste tractarit." H o c pacto non inornate poterimus et in laudando et in laedendo, in corpore aut animo aut extraneis rebus dicere, sicuti cognomen, quod pro certo nomine collocemus. Denominatio est, quae ab rebus propinquis et finitimis trahit orationem, qua possit intellegi res, quae non suo vocabulo sit appellata.

Id aut ab invento colligitur aut ab inventore conficitur; invento, ut si quis de Tarpeio loquens eum C a pitolinum nominet; inventore, ut si quis pro Libero vinum, pro Cerere frugem appellet; aut ab instrumento dominum, ut si quis Macedones appellarit hoc modo: „ N o n tam cito sarisae Graeciae potitae sunt", aut idem Gallos significans: „nec tam facile ex Italia materis Transalpina depulsa est"; aut id, quod fit ab eo, qui facit, ut si quis, cum bello velit ostendere aliquid quempiam fecisse, dicat: „Mars istuc te facere necessario coegit"; aut si quod facit ab eo, quod fit, ut cum desidio-

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ten, erregt sie gar keinen Anstoß durch das Ungewohnte, sondern schmückt vielmehr die Rede aus. 20 ' Die Namensersetzung 206 ist das Stilmittel, welches etwas wie mit einem nicht zu ihm gehörenden Beinamen vorstellt, was mit seinem eigentlichen Namen nicht benannt werden kann; wie wenn man, spräche man z. B. von den Gracchen, sagte: „Aber nicht die Enkel des Africanus waren von der Art." Ebenso wenn man sagt, wenn man von seinem Gegner spricht: „Seht nun, ihr Herren Richter, wie mich dieser Plagioxippus 207 behandelt hat." Auf diese Art können wir, sowohl wenn wir loben als auch wenn wir kränken, nicht schmucklos im Bereich des Körperlichen, des Geistigen und im nichtmenschlichen Bereich208 sprechen, so wie wir einen Beinamen an die Stelle des feststehenden Namens setzen.209 Die uneigentliche Benennung ist das Stilmittel, welches von naheliegenden, sinnverwandten Dingen einen Ausdruck herholt, durch welchen das Ding verstanden werden kann, ohne daß es mit seiner eigentlichen Bezeichnung benannt wäre. Dies führt man durch, indem man von dem Erfundenen ausgeht oder von dem Erfinder; von dem Erfundenen, z. B. wenn man vom Tarpeiischen Felsen spricht und ihn Capitolinus nennt; von dem Erfinder, wenn man statt Liber Wein, statt Ceres Getreide sagt; oder statt des Werkzeuges den Benützer, wenn man z. B. die Makedonen folgendermaßen bezeichnen wollte: „Nicht so schnell bemächtigten sich die makedonischen Lanzen 210 Griechenlands", oder ebenso die Gallier bezeichnete: „Nicht leicht wurde aus Italien die Transalpinische Lanze 211 vertrieben"; oder indem man das, was von dem ausgeht, der es bewirkt, nennt, wenn man z. B. darlegen will, daß jemand etwas durch Krieg bewirkt hat, und sagt: „Mars hat dich gezwungen, dies notgedrungen zu tun"; oder wenn man das, was bewirkt, nach dem, was bewirkt wird, benennt, z. B. wenn man die Kunst müßig nennt, weil

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sam artem dicimus, quia desidiosos facit, et frigus pigrum, quia pigros efficit. A b eo, quod continet id, quod continetur, hoc modo denominabitur: „Armis Italia non potest vinci nec Graecia disciplinis" - nam hie pro Graecis et Italis, quae continent, nominata sunt. A b eo, quod continetur, id, quod continet, ut si quis aurum aut argentum aut ebur nominet, cum divitias velit nominare. Harum omnium denominationum magis in praecipiendo divisio quam in quaerendo difficilis inventio est, ideo quod plena consuetudo est non m o d o poetarum et oratorum, sed etiam cottidiani sermonis huiusmodi denominationum. Circumitio est oratio rem simplicem adsumpta circumscribens elocutione, hoc pacto: „Scipionis Providentia Kartaginis opes fregit." N a m hie, nisi ornandi ratio quaedam esset habita, Scipio potuit et Kartago simpliciter appellari. Transgressio est, quae verborum perturbai ordinem perversione aut transiectione. Perversione, sic: „ H o c vobis deos inmortales arbitrar dedisse virtute pro vestra." Transiectione, hoc modo: „Instabilis in istum plurimum fortuna valuit. Omnes invidiose eripuit tibi bene vivendi casus facilitates." Huiusmodi transiectio, quae rem non reddit obscuram, multum proderit ad continuationes, de quibus ante dictum est; in quibus oportet verba sicuti ad poeticum quendam extruere numerum, ut perfecte et perpolitissime possint esse absolutae.

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sie die Menschen zu Müßiggängern macht, und die Kälte träge, weil sie die Menschen träge macht. Nach dem, was beinhaltet, wird das, was beinhaltet wird, auf folgende Weise benannt: „Durch Waffen kann Italien nicht besiegt werden, und Griechenland nicht in den Wissenschaften" - denn hier sind anstelle der Griechen und Italer die Gebiete bezeichnet, die diese beinhalten. Nach dem, was beinhaltet wird, wird das, was beinhaltet, benannt, wenn man z. B. Gold oder Silber oder Elfenbein nennt, wenn man Reichtum bezeichnen will. Für alle diese uneigentlichen Benennungen ist die Einteilung in eine Anleitung schwieriger als ihr Auffinden beim Suchen, deshalb weil der Gebrauch derartiger uneigentlicher Benennungen nicht nur bei Dichtern und Rednern, sondern auch in der alltäglichen Sprache häufig ist. Die Umschreibung 212 ist eine Ausdrucksweise, die einen einfachen Begriff durch Hinzunahme eines weiteren Ausdrucks umschreibt, z. B. auf folgende Art: „Scipios Umsicht brach die Macht Karthagos." Denn hier hätte man, wenn man nicht eine gewisse Rücksicht auf den Schmuck genommen hätte, einfach Scipio und Karthago sagen können. Die Versetzung213 ist das Stilmittel, welches die Reihenfolge der Wörter durcheinanderbringt durch Umdrehung 214 oder Umstellung. Durch Umdrehung, z . B . so: „Dies, glaube ich, haben euch die unsterblichen Götter gegeben für eure Tugend." 215 Durch Umstellung, z. B. auf folgende Weise: „Das unbeständige Schicksal richtete gegen diesen Mann sehr viel aus. Alle Möglichkeiten zu einem guten Leben entriß der schlimme Zufall in seinem Neid." 2 ' 6 Eine Umstellung dieser Art, die einen Sachverhalt nicht verdunkelt, nützt viel zu den Fortführungen, über die oben gesprochen wurde; 217 bei diesen muß man die Worte geradezu wie zu einem dichterischen Rhythmus anlegen, damit sie vollkommen und ganz und gar geglättet vollendet sein können. 2 ' 8

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Superlatio est oratio superans veritatem alicuius augendi minuendive causa. Haec sumitur separating aut cum conparatione. Separatim, sic:

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„Quodsi concordiam retinebimus in civitate, imperii magnitudinem solis ortu atque occasu metiemur." C u m conparatione aut a similitudine aut a praestantia superlatio sumitur. A similitudine, sic: „Corpore niveum ardorem adsequebatur." A praestantia, hoc modo: „Cuius ore sermo melle dulcior profluebat." Ex eodem genere est hoc: „Tantus erat in armis splendor, ut solis fulgor obscurior videretur." Intellectio est, cum res tota parva de parte cognoscitur aut de toto pars. De parte totum sic intellegitur: „ N o n illae te nuptiales tibiae eius matrimonii commonebant?" Nam hie omnis sanctimonia nuptiarum uno signo tibiarum intellegitur. De toto pars intellegitur, ut si quis ei, qui vestitum aut ornatum sumptuosum ostentet, dicat: „Ostentas mihi divitias et locupletes copias iactas." A b uno plura hoc modo intellegentur: „Poeno fuit Hispanus auxilio, fuit inmanis ille Transalpinus, in Italia quoque nonnemo sensit idem togatus." A pluribus unum sic intellegetur: „Atrox calamitas pectora maerore pulsabat; itaque anhelans ex imis pulmonibus prae cura spiritus ducebat."

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Die Übertreibung 21 ' ist eine Darstellung, die sich über die Wahrheit hinwegsetzt, um etwas zu steigern oder abzuschwächen. Man nimmt sie getrennt oder in Verbindung mit einem Vergleich. Getrennt, z. B. so: „Wenn wir die Eintracht in der Bürgerschaft erhalten, werden wir die Größe unseres Reiches durch den Auf- und Untergang der Sonne begrenzen." 220 In Verbindung mit einem Vergleich nimmt man sie von der Ähnlichkeit oder der Überlegenheit her. Von der Ähnlichkeit her, z . B . so: „Mit seinem Körper erreichte er schneeweißen Glanz." 221 Von der Überlegenheit her, z. B. auf folgende Weise: „Von seinem Mund floß die Rede süßer als Honig 2 2 2 ." Von derselben Art ist das folgende Beispiel: „Ein solch heller Glanz lag auf den Waffen, daß das Glänzen der Sonne dunkler erschien." Ein Inbegriff 223 liegt vor, wenn man die ganze Sache aus einem kleinen Teil erkennt oder aus dem Ganzen einen Teil. Aus einem Teil wird der Inbegriff z . B . so gebildet: „Haben jene Hochzeitsflöten 224 dich nicht an diese Ehe erinnert?" Denn hier wird die ganze Hochzeitsfeierlichkeit in dem einen Kennzeichen der Flöten mit inbegriffen. Von dem Ganzen wird ein Teil mit inbegriffen, wenn man z. B. zu jemandem, der aufwendige Kleidung oder aufwendigen Schmuck zur Schau stellt, sagt: „Du zeigst mir deinen Reichtum und du prahlst mit deinen reichen Schätzen." Ein Einziges bildet den Inbegriff von Mehrerem z. B. so: „Dem Punier kam der Spanier zu Hilfe, jener Transalpinische war schrecklich; auch in Italien war mancher Togaträger damit einverstanden." Mehreres bildet den Inbegriff von einem Einzigen z. B. so: „Furchtbares Unglück schlug die Herzen mit Trauer; deshalb schöpfte er Luft, vor Sorge aus den innersten Lungen Atem holend."

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Nam in superioribus plures Hispani et Galli et togati, et hie unum pectus et unus pulmo intellegitur; et erit illic deminutus numerus festivitatis, hic adauctus gravitatis gratia. Abusio est, quae verbo simili et propinquo pro certo et proprio abutitur, hoc modo: „Vires hominis breves sunt"; aut „parva statura"; aut „longum in homine consilium"; aut „oratio magna"; aut „uti pauco sermone". Nam hic facile est intellectu finitima verba rerum dissimilium ratione abusionis esse traducta.

Translatio est, cum verbum in quandam rem transferetur ex alia re, quod propter similitudinem recte videbitur posse transferri. Ea utimur rei ante oculos ponendae causa, sic: „Hic Italiani tumultus expergefecit terrore subito." Brevitatis causa, sic: „Recens adventus exercitus extinxit subito civitatem." Obscenitatis vitandae causa, sic: „Cuius mater cottidianis nuptiis delectatur." Augendi causa; sic: „Nullius maeror et calamitas istius explere inimicitias et nefariam crudelitatem saturare potuit." Minuendi causa, sic: „Magno se praedicat auxilio fuisse, quia paululum in rebus difficillimis aspiravit." Ornandi causa, sic: „Aliquando rei publicae rationes, quae malitia nocentium exaruerunt, virtute optimatium revirescent."

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Denn bei den vorausgehenden Beispielen sind mehrere Spanier, Gallier und Togaträger genannt, beim letzten Beispiel nur ein Herz und eine Lunge; und im ersten Falle ist die Zahl vermindert um der anmutigen Darstellung willen, im letzten Falle vergrößert um der Feierlichkeit willen. Die uneigentliche Bedeutung 225 ist das Stilmittel, welches ein ähnliches, naheverwandtes Wort verwendet anstelle des bestimmten, eigentlichen, z. B. auf folgende Weise: „Die Kräfte des Menschen sind kurz", oder „eine kleine Gestalt", oder „eine lange Einsicht besitzt der Mann", oder „eine große Rede", oder „eine geringe Redeweise verwenden". Denn hier erkennt man leicht, daß verwandte Wörter für unähnliche Sachverhalte durch die Möglichkeit der uneigentlichen Bedeutung übertragen sind. Eine Übertragung 226 liegt vor, wenn ein Wort auf einen gewissen Sachverhalt von einem anderen Sachverhalt übertragen wird, was wegen der Ähnlichkeit richtig übertragen scheint. Wir wenden sie an, um einen Sachverhalt klar vor Augen zu stellen, z. B. so: „Dieser Aufruhr weckte Italien auf durch den plötzlichen Schrecken." Um der Kürze willen, z. B. so: „Die jüngste Ankunft eines Heeres löschte plötzlich die Bürgerschaft aus." Um einen obszönen Ausdruck zu vermeiden, z. B. so: „Dessen Mutter hat Freude an täglicher Hochzeit." 2 2 7 Um etwas vergrößert darzustellen, z. B. so: „Niemands Trauer und Unglück konnte dessen Feindschaft befriedigen und seine nichtswürdige Grausamkeit sättigen." 228 Um etwas abzuschwächen, z. B. so: „Er rühmt sich sehr geholfen zu haben, weil er in einer sehr schwierigen Lage ein ganz klein wenig hilfreich hingehaucht hat." 229 Um zu schmücken, z. B. so: „Einmal werden die Verhältnisse des Staates, die durch die Schlechtigkeit von Übeltätern ausgetrocknet sind, durch die Tüchtigkeit der Optimaten wieder grünen."

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Translationem pudentem dicunt esse oportere, ut cum ratione in consimilem rem transeat, ne sine delectu temere et cupide videatur in dissimilem transcurrisse. Permutatio est oratio aliud verbis aliud sententia demonstrans. Ea dividitur in tres partes: similitudinem, argumentum, contrarium. Per similitudinem sumitur, cum translationes plures frequenter ponuntur a simili oratione ductae, sic: „Nam cum canes fungentur officiis luporum, cuinam praesidio pecua credemus?" Per argumentum tractatur, cum a persona aut loco aut re aliqua similitudo augendi aut minuendi causa ducitur, ut si quis Drusum Graccum Numitoremque obsoletum dicat. Ex contrario ducitur sic, ut si quis hominem prodigum et luxuriosum inludens parcum et diligentem appellet. Et in hoc postremo, quod ex contrario sumitur, et in ilio primo, quod a similitudine ducitur, per translationem argumento poterimus uti. Per similitudinem, sic: „Quid ait hie rex atque Agamemnon noster, sive, ut crudelitas est, potius Atreus?" Ex contrario, ut si quem impium, qui patrem verberarit, Aenean vocemus, intemperantem et adulterum Ippolitum nominemus. Haec sunt fere, quae dicenda videbantur de verborum exornationibus. Nunc res ipsa monet, ut deineeps ad sententiarum exornationes transeamus.

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Die Übertragung, sagt man, müsse bescheiden sein, 230 damit sie mit Überlegung auf ein recht ähnliches Gebiet übergehe und nicht der Eindruck entsteht, sie sei ohne Wahl unüberlegt und gierig auf ein unähnliches Gebiet übergesprungen. Die Vertauschung131 ist eine Ausdrucksweise, die etwas anderes mit Worten als dem Sinne nach aufzeigt. Sie wird in drei Arten eingeteilt: den Vergleich, den geschichtlichen Vergleich, den Gegensatz. Durch einen Vergleich nimmt man sie, wenn mehr Übertragungen häufig gesetzt werden, die man einer ähnlichen Redeweise entnommen hat, z.B. so: „Denn wenn die Hunde die Aufgabe von Wölfen erfüllen, wem werden wir dann die Herden zum Schutze anvertrauen?" Durch einen geschichtlichen Vergleich wird sie durchgeführt, wenn von einer Person oder einem Ort oder irgendeinem Ereignis ein Vergleich hergeleitet wird, um etwas zu verstärken oder abzuschwächen, z. B. wenn man den Drusus „Gracchus" und Numitor „besudelt" nennen wollte. 232 Vom Gegensatz 233 wird sie z. B. so hergeleitet, wenn man einen verschwenderischen und ausschweifenden Mann verspotten wollte und ihn sparsam und gewissenhaft nennt. Und in diesem letzten Beispiel, das von einem Gegensatz genommen wird, und im ersten, das von einem Gleichnis hergeleitet wird, können wir mittels einer Übertragung auch einen geschichtlichen Vergleich verwenden. Durch ein Gleichnis, z . B . so: „Was sagt dieser König, unser Agamemnon, oder eher, bei seiner Grausamkeit, unser Atreus?" 234 Von einem Gegensatz her, wenn man z . B . einen gewissenlosen Menschen, der seinen Vater geschlagen hat, Aeneas nennt, 23 ' einen unbeherrschten Ehebrecher als Hippolytus bezeichnet. 236 Dies sind etwa die Ausführungen, die über die Ausschmückungen der Worte gemacht werden mußten. Nun ermahnt mich das Thema selbst dazu, daß ich im folgenden zu den Ausschmückungen der Gedanken übergehe. 237

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Distributio est, cum in plures res aut personas negotia quaedam certa dispertiuntur, hoc modo:

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„ Q u i vestrum, iudices, nomen senatus diligit, hunc oderit necesse est; petulantissime enim semper iste obpugnavit senatum. Q u i equestrem locum splendidissimum cupit esse in civitate, is oportet istum maximas poenas dedisse velit, ne iste sua turpitudine ordini honestissimo maculae atque dedecori sit. Q u i parentis habetis, ostendite istius supplicio vobis homines impios non piacere. Q u i bus liberi sunt, statuite exemplum, quantae poenae sint in civitate hominibus istiusmodi conparatae."

Item: „Senatus est officium Consilio civitatem iuvare; magistratus est officium opera et diligentia consequi senatus voluntatem; populi est officium res optumas et homines idoneos maxime suis sententiis deligere et probare." Et: „Accusatoris officium est inferre crimina; defensoris diluere et propulsare; testis dicere, quae sciat aut audierit; quaesitoris est unum quemque horum in officio suo continere. Quare, L. Cassi, si testem, praeterquam quod sciat aut audierit, argumentan et coniectura prosequi patieris, ius accusatoris cum iure testimonii commiscebis, testis inprobi cupiditatem confirmabis, reo duplicem defensionem parabis."

Est haec exornatio copiosa. Conprehendit enim brevi multa, et suum cuique tribuens officium separatim res dividit plures. Licentia est, cum apud eos, quos aut vereri aut metuere debemus, tarnen aliquid pro iure nostro

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Eine Zerlegung 2 ' 8 liegt vor, wenn auf mehrere Sachen oder Personen gewisse bestimmte Tätigkeiten verteilt werden, 259 z . B . auf folgende Weise: „Wer von euch, ihr Herren Richter, den Namen Senat liebt, muß notwendigerweise diesen hassen; denn sehr frech hat dieser immer gegen den Senat angekämpft. Wer wünscht, daß der Ritterstand voll höchstem Glanz in der Bürgerschaft ist 24 °, muß wünschen, daß dieser sehr hart bestraft wird, damit er nicht durch seine Schamlosigkeit dem so ehrbaren Stande Schimpf und Schande bringt. Ihr, die ihr noch Eltern habt, zeigt durch die Bestrafung dieses Menschen hier, daß Menschen, die ihre Eltern nicht achten, euch mißfallen. Ihr, die ihr Kinder habt, setzt ein Beispiel dafür, wie harte Strafen in unserer Bürgerschaft für derartige Menschen bereitet sind." Ebenso: „Des Senats Pflicht ist es, durch einen Ratschluß die Bürgerschaft zu unterstützen; einer Magistratsperson Pflicht ist es, durch Tätigkeit und mit Gewissenhaftigkeit den Willen des Senats zu vollziehen; des Volkes Pflicht ist es, die besten Maßregeln und geeignetsten Männer durch seine Stimmabgabe auszuwählen und zu billigen." U n d ebenso: „Des Anklägers Pflicht ist es, Anklagen zu erheben; des Verteidigers Pflicht, sie zu entkräften und zurückzuweisen; des Zeugen Pflicht, zu sagen, was er weiß oder gehört hat; des Untersuchungsrichters Aufgabe ist es, einen jeden einzelnen von diesen auf seine Pflicht zu beschränken. Wenn du deshalb, L. Cassius, duldest, daß ein Zeuge über das hinaus, was er weiß oder gehört hat, Beweise vorbringt und einen mutmaßlichen Schluß zieht, vermischst du das Recht des Anklägers mit dem Zeugenrecht, stärkst die Begierde eines ruchlosen Zeugen, legst dem Angeklagten eine Verteidigung nach zwei Richtungen hin auf." 2 4 1 Diese Ausschmückung ist reich ausgestattet. Sie umfaßt nämlich in Kürze vieles, und indem sie jedem seine Pflicht zuteilt, teilt sie mehrere Sachverhalte getrennt für sich ein. Eine Freimütigkeit 242 liegt vor, wenn wir vor denen, die wir scheuen oder fürchten müßten, dennoch etwas für unser

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dicimus, quo eos aut quos ii diligunt aliquo in errato vere reprehendere videamur, hoc modo: „Miramini, Quirites, quod ab omnibus vestrae rationes deserantur? quod causam vestram nemo suscipiat? quod se nemo vestri defensorem profiteatur? Id tribuite vestrae culpae, desinite mirari. Q u i d est enim, quare non omnes istam rem fugere ac vitare debeant? Recordamini, quos habueritis defensores; studia eorum vobis ante oculos proponite; deinde exitus omnium considerate. Turn vobis veniet in mentem, ut vere dicam, neglegentia vestra sive ignavia potius illos omnes ante oculos vestros trucidatos esse, inimicos eorum vestris suffrages in amplissimum locum pervenisse." Item: „ N a m quid fuit, iudices, quare in sententiis ferundis dubitaveritis aut istum hominem nefarium ampliaveritis? non apertissimae res erant crimini datae? non omnes hae testibus comprobatae? non contra tenuiter et nugatorie responsum? Hie vos veriti estis, si primo coetu condemnassetis, ne crudeles existimaremini? D u m earn vitastis vituperationem, quae longe a vobis aberat, adfuturam earn invenistis, ut timidi atque ignavi putaremini. Maximas privatas et publicas calamitates accepistis; cum etiam maiores inpendere videantur, sedetis et oscitamini. Luci noctem, nocte lucem expectatis. Aliquid cottidie acerbi atque incommodi nuntiatur: et iam eum, cuius opera nobis haec accidunt, vos remoramini diutius et alitis ad rei publicae perniciem, retinetis, quoad potestis, in civitate!"

Eiusmodi licentia, si nimium videbitur acrimoniae habere, multis mitigationibus lenietur; nam

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Recht sagen, wodurch wir den Eindruck erwecken, wir würden sie oder diejenigen, die sie lieben, für irgendeinen Irrtum zu Recht tadeln, z. B. auf folgende Weise: „Ihr wundert euch, Quiriten daß von allen eure Pläne nicht mehr unterstützt werden, daß niemand eure Sache vertritt, daß niemand sich als euer Verteidiger bekennt? Schreibt das eurer eigenen Schuld zu, hört auf, euch zu wundern! Denn was ist der Grund dafür, daß nicht alle vor dieser Sache zurückweichen und sie meiden müßten? Erinnert euch daran, was für Verteidiger ihr schon hattet; stellt euch ihre Bestrebungen vor Augen; dann betrachtet das Ende von ihnen allen! Dann wird euch in den Sinn kommen, daß diese alle, um den richtigen Ausdruck zu gebrauchen, wegen eurer Gleichgültigkeit oder besser Feigheit vor euren Augen ermordet wurden, ihre Feinde aber durch eure Stimme auf die angesehensten Posten gelangten." 243 Ebenso: „Denn was war der Grund dafür, ihr Herren Richter, daß ihr bei der Stimmabgabe zaudertet oder das Urteil gegen diesen Verbrecher vertagtet? 244 Waren ihm nicht die offenkundigsten Verbrechen zum Vorwurf gemacht worden? Waren diese nicht alle durch Zeugenaussagen erwiesen? Wurde darauf nicht mit fadenscheinigen und läppischen Argumenten geantwortet? Da fürchtet ihr euch noch, für grausam gehalten zu werden, falls ihr ihn schon im ersten Verfahren verurteilt hättet? Während ihr diesen Vorwurf vermiedet, der weit und entfernt war, habt ihr euch dem zusätzlichen ausgesetzt, für ängstlich und feige gehalten zu werden. Sehr großes privates und öffentliches Unheil habt ihr erlitten; während noch größeres bevorzustehen scheint, sitzt ihr da und gähnt. Bei Tag wartet ihr auf die Nacht, nachts auf den Tag. Irgend etwas Bitteres und Bedrückendes wird täglich gemeldet; und den Mann, durch dessen Tätigkeit uns dieses widerfährt, laßt ihr noch länger hier, nährt ihn zum Verderben des Staates und haltet ihn, so gut ihr könnt, in der Bürgerschaft zurück!" 245 Wenn eine derartige Freimütigkeit allzu viel Schärfe zu besitzen scheint, wird sie durch vielerlei Besänftigungen

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continuo aliquid huiusmodi licebit inferre: „Hic ego virtutem vestram quaero, sapientiam desidero, veterem consuetudinem requiro", ut quod erit commotum licentia, id mitigetur laude, ut altera res ab iracundia et molestia removeat, altera res ab errato deterreat. Haec res, sicut in amicitia item in dicendo, si loco fit, maxime facit, ut et illi, qui audient, a culpa absint, et nos, qui dicimus, amici ipsorum et veritatis esse videamur.

Est autem quoddam genus in dicendo licentiae, quod astutiore ratione conparatur, cum aut ita obiurgamus eos, qui audiunt, quomodo ipsi se cupiunt obiurgari, aut id, quod scimus facile omnes audituros, dicimus nos timere, quomodo accipiant, sed tamen veritate commoveri, ut nihilo setius dicamus. H o r u m amborum generum exempla subiciemus; prioris, huiusmodi: „ N i m i u m , Quirites, animis estis simplicibus et mansuetis; nimium creditis uni cuique. Existimatis unum quemque eniti, ut perficiat, quae vobis pollicitus sit. Erratis et falsa spe frustra iam diu detinemini stultitia vestra, qui, quod erat in vestra potestate, ab aliis petere quam ipsi sumere maluistis." Posterioris licentiae hoc erit exemplum: „Mihi cum isto, iudices, fuit amicitia, sed ista tamen amicitia, tametsi vereor, q u o m o d o accepturi sitis, tamen dicam, vos me privastis. Q u i d ita? quia, ut vobis essem probatus, eum, qui vos obpugnabat, inimicum quam amicum habere malui." Ergo haec exornatio, cui licentiae nomen est, sicuti demonstravimus, duplici ratione tractabitur:

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gemildert; denn man kann unmittelbar etwas folgender Art einfügen: „Hier suche ich nach eurer Tüchtigkeit, sehne eure Weisheit herbei und forsche nach eurer früheren Lebensweise", damit das, was durch die Freimütigkeit aufgewühlt wurde, durch L o b wieder besänftigt wird, und damit so das eine von Zorn und Verärgerung fernhält, das andre vor einem Irrtum zurückschreckt. Dieses Vorgehen bewirkt ebenso wie in der Freundschaft auch in der Rede, wenn es an der richtigen Stelle angewendet wird, in höchstem Maße, daß die Hörer von Schuld freibleiben und wir, die wir sprechen, als Freunde der Hörer und der Wahrheit erscheinen. Es gibt aber noch eine Art von Freimütigkeit in der Rede, die mit noch schlauerem Vorgehen angewendet wird, wobei wir entweder den Zuhörern solche Vorwürfe machen, wie sie sich selbst wünschen, oder sagen, wir fürchteten zwar, wie sie, die Zuhörer, die Worte aufnähmen, die unseres Wissens alle anderen gerne hören, würden aber durch die Wahrheit dazu veranlaßt, diese Worte nichtsdestoweniger zu sprechen. 246 Für diese beiden Arten habe ich Beispiele angefügt; für die erstere folgender Art: „Allzu arglos und gutmütig seid ihr, Quiriten; allzusehr glaubt ihr einem jeden. Ihr seid der Meinung, jeder strenge sich an, das durchzuführen, was er euch versprochen hat. Ihr irrt euch und durch eine falsche Hoffnung laßt ihr euch in eurer Einfalt schon lange vergeblich hinhalten, die ihr es vorzogt, das, was in eurer eigenen Macht lag, von anderen zu erbitten, statt es selbst zu nehmen." 2 4 7 Für die zweite Art von Freimütigkeit gilt das folgende Beispiel: „Mit diesem Manne, ihr Herren Richter, hatte ich Freundschaft, aber dieser Freundschaft - obwohl ich fürchte, wie ihr es aufnehmen werdet, werde ich es dennoch sagen - habt ihr mich beraubt. Wieso das? Weil ich, um von euch anerkannt zu sein, den Mann, der gegen euch kämpfte, lieber zum Feind als zum Freund haben wollte." Also wird diese Ausschmückung, die Freimütigkeit heißt, wie dargelegt, auf zweifache Weise behandelt: mit Schärfe,

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acrimonia, quae, si nimium fuerit aspera, mitigabitur laude et adsimulatione, de qua posterius diximus, quae non indiget mitigationis, propterea quod imitatur licentiam et sua sponte se ad animum auditoris adcommodat. Deminutio est, quom aliquid inesse in nobis aut XXXVIII in iis, quos defendimus, aut natura aut fortuna aut industria dicemus egregium, quod, ne qua significetur adrogans ostentatio, deminuitur et adtenuatur oratione, hoc modo: „ N a m hoc pro meo iure, iudices, dico me labore et industria curasse, ut disciplinam militarem non in postremis tenerem." Hic si quis dixisset: „ut optime tenerem", tametsi vere dixisset, tamen adrogans visus esset. N u n c et ad invidiam vitandam et laudem conparandam satis dictum est. Item: „Utrum igitur causa avaritiae an egestatis accessit ad maleficium? Avaritiae? A t largissimus fuit in amicos; quod signum liberalitatis est, quae contraria est avaritiae. Egestatis? A t huic quidem pater - nolo nimium dicere - non tenuissimum Patrimonium reliquit." Hic quoque vitatum est, ne „magnum" aut „maximum" diceretur. H o c igitur in nostris aut eorum, quos defendemus, egregiis commodis proferundis observabimus. N a m eiusmodi res et invidiam contrahunt in vita et odium in oratione, si inconsiderate tractes. Quare quemadmodum ratione in vivendo fugitur invidia, sic in dicendo Consilio vitatur odium. Descriptio nominatur, quae rerum consequentium continet perspicuam et dilucidam cum gravitate expositionem, hoc modo:

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die, wenn sie allzu barsch ist, durch Lob gemindert wird und durch ein verstelltes Sich-Annähern, worüber ich zuletzt gesprochen habe, das keiner Milderung bedarf, deswegen weil es die Freimütigkeit nachahmt und ganz von selbst sich der Gesinnung des Zuhörers anpaßt. Eine Abschwächung 248 liegt vor, wenn wir sagen, wir oder diejenigen, die wir verteidigen, besäßen von Natur aus oder durch das Schicksal oder durch eigenen Fleiß eine herausragende Eigenschaft, die aber in der Rede abgeschwächt und vermindert wird, damit nicht eine anmaßende Prahlerei an den Tag gelegt wird, z. B. auf folgende Weise: „Denn dies sage ich mit gutem Recht, ihr Herren Richter, daß ich mit Mühe und Fleiß dafür gesorgt habe, daß ich die militärische Ausbildung nicht an die letzte Stelle stellte." Wenn man an dieser Stelle gesagt hätte: „daß ich sie bestens durchführte", hätte man wohl die Wahrheit gesagt, wäre aber anmaßend erschienen. Nun aber wurde genug gesagt, um Mißgunst zu vermeiden und Lob zu erwerben. Ebenso: „Kam er also aus Habsucht oder Not zu dem Verbrechen? Aus Habsucht? Aber er war doch sehr verschwenderisch gegen seine Freunde; dies ist ein Zeichen für Freigebigkeit, den Gegensatz zu Habgier. Aus Not? Aber ihm hat doch sein Vater - ich will nicht allzuviel sagen nicht gerade ein sehr geringes Vermögen hinterlassen." Auch hier wurde vermieden, es groß oder sehr groß zu nennen. Dies also werden wir beachten, wenn wir unsere eigenen herausragenden Vorzüge oder die derer, welche wir verteidigen, anführen. Denn derartige Eigenschaften ziehen im Leben Neid auf sich und in der Rede Haß, wenn man sie unüberlegt behandelt. Wie man deshalb im Leben durch Vernunft dem Neid entflieht, so meidet man in der Rede durch Überlegung den Haß. Schilderung149 wird das Stilmittel genannt, welches von den folgenden Ereignissen eine durchschaubare und klare Darstellung voller Feierlichkeit enthält, z . B . auf folgende Weise:

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„Quodsi istum, iudices, vestris sententiis liberaveritis, statim, sicut ex cavea leo emissus aut aliqua taeterrima belua soluta ex catenis, volitabit et vagabitur in foro, acuens dentes in unius cuiusque fortunas, in omnes amicos atque inimicos, notos atque ignotos incursitans, aliorum famam depeculans, aliorum caput obpugnans, aliorum domum ac omnem familiam perfringens, rem p. funditus labefactans. Quare, iudices, eicite eum de civitate, liberate omnes formidine; vobis denique ipsis consulite. N a m si istum inpunitum dimiseritis, in vosmet ipsos, mihi credite, feram et truculentam bestiam, iudices, inmiseritis."

Item: „Nam si de hoc, iudices, gravem sententiam tuleritis, uno iudicio simul multos iugulaveritis. Grandis natu parens, cuius spes senectutis omnis in huius adulescentia posita est, quare velit in vita manere, non habebit; fili parvi, privati patris auxilio, ludibrio et despectui paternis inimicis erunt obpositi; tota domus huius indigna concidet calamitate; at inimici, statim sanguinulentam palmam crudelissima victoria potiti, insultabunt in horum miserias et superbi a re simul et verbis invenientur."

Item: „Nam neminem vestrum fugit, Quirites, urbe capta quae miseriae consequi soleant: arma qui contra tulerunt, statim crudelissime trucidantur; ceteri, qui possunt per aetatem et vires laborem ferre, rapiuntur in servitutem, qui non possunt, vita privantur; uno denique atque eodem tempore domus hostili flagrant incendio, et quos

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„Wenn ihr nun diesen Mann, ihr Herren Richter, durch eure Stimmabgabe freisprecht, wird er sofort wie ein Löwe, der aus dem Käfig freigelassen, oder wie irgendein ganz scheußliches Untier, das aus den Ketten gelöst wurde, 2 ' 0 sich frech herumtreiben und auf dem Forum umherstreifen, 2 ' 1 seine Zähne schärfen gegen jedermanns Besitz, gegen alle Freunde und Feinde, Bekannte und Unbekannte losstürmen, den einen ihren guten Ruf rauben, anderen nach dem Leben trachten, anderen ihr Haus und ihre Hausgemeinschaft zerschmettern und den Staat in seinen Grundfesten zum Wanken bringen. Deshalb, ihr Herren Richter, werft ihn aus der Bürgerschaft hinaus; befreit alle von Furcht; sorgt schließlich für euch selbst. Denn wenn ihr diesen da ungestraft laufen laßt, dann laßt ihr gegen euch selbst, glaubt mir, ihr Herren Richter, ein wildes und grimmiges Untier los." Ebenso: „Denn wenn ihr über diesen Mann, ihr Herren Richter, ein hartes Urteil fällt, erdrosselt ihr durch diesen euren Urteilsspruch gleichzeitig viele andere: Sein hochbetagter Vater, dessen Hoffnung in seinem Alter ganz auf der Jugend von diesem beruht, wird keinen Grund mehr haben, warum er wünschen sollte, am Leben zu bleiben; seine kleinen Söhne werden, der Hilfe des Vaters beraubt, dem Spott und der Verachtung der Feinde ihres Vaters ausgeliefert sein; sein ganzes Haus wird unter dem unverdienten Unglück zusammenstürzen. Dagegen werden seine Feinde sofort, wenn sie die blutbeschmierte Siegespalme in dem allergrausamsten Sieg errungen haben, deren Unheil frech verhöhnen, und man wird sie hochmütig in ihrem Tun ebenso wie in ihren Worten finden." Ebenso: „Denn jeder von euch weiß, Quiriten, welches Unheil nach der Einnahme einer Stadt gewöhnlich folgt: Wer Waffen getragen hat, wird auf der Stelle auf das grausamste ermordet; die übrigen, die noch jung genug sind und die Kräfte besitzen, um Strapazen auf sich nehmen zu können, werden in die Sklaverei geschleppt, die es nicht können, denen wird das Leben genommen; im gleichen Augenblick schließlich lodern die Häuser durch die Brandstiftung der

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natura aut voluntas necessitudine et benivolentia coniunxit, distrahuntur; liberi partim e gremiis diripiuntur parentum, partim in sinu iugulantur, partim ante pedes constuprantur. Nemo, iudices, est, qui possit satis rem consequi verbis nec efferre oratione magnitudinem calamitatis."

Hoce genere exornationis vel indignatio vel misericordia potest commoveri, cum res conséquentes conprehensae universae perspicua breviter exprimuntur oratione. Divisio est, quae rem semovens ab re utramque absolvit ratione subiecta, hoc modo:

„Cur ego nunc tibi quicquam obiciam? Si probus es, non meruisti; si inprobus, non commovebere." Item: „Quid nunc ego de meis propriis meritis praedicem? Si meministis, obtundam; si obliti estis, cum re nihil egerim, quid est, quod verbis proficere possim?" Item: „Duae res sunt, quae possunt homines ad turpe conpendium commovere: inopia atque avaritia. Te avarum in fraterna divisione cognovimus; inopem atque egentem nunc videmus. Qui potes igitur ostendere causam maleficii non fuisse?" Inter hanc divisionem et illam, quae de partibus orationis tertia est, de qua in primo libro diximus secundum narrationem, hoc interest: illa dividit per enumerationem aut per expositionem, quibus de rebus in totam orationem disputatio futura sit;

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Feinde, und die Menschen, welche natürliche Bande und freier Wille in Blutsverwandtschaft und Zuneigung verbunden haben, werden auseinandergerissen; die Kinder werden teils aus dem Schoß ihrer Eltern gerissen, teils an deren Brust erdrosselt, teils vor ihren Füßen geschändet. Niemanden gibt es, ihr Herren Richter, der das Geschehen angemessen genug mit Worten schildern und die Größe des Unglücks in der Rede hervorheben könnte." 2 ' 2 Durch diese Art der Ausschmückung kann man Empörung oder Mitleid erregen, wenn die Folgen alle in gedrängter Form in einer deutlichen Rede zum Ausdruck gebracht werden. Eine Zerteilung 2 ' 3 ist das Stilmittel, welches einen Punkt vom anderen Punkt absondert und beide für sich behandelt unter Hinzufügung einer Begründung, z. B. auf folgende Weise: „Warum also sollte ich dir etwas vorwerfen? Wenn du rechtschaffen bist, hast du es nicht verdient; wenn nicht, wirst du dadurch nicht beeindruckt." 2 ' 4 Ebenso: „Warum soll ich nun meine Verdienste rühmen? Wenn ihr euch an sie erinnert, belästige ich euch nur damit; wenn ihr sie aber vergessen habt, was könnte ich dann, da ich durch die Tat nichts bewirkt habe, mit Worten erreichen?" Ebenso: „Es gibt zwei Dinge, die die Menschen zu schändlichem Gewinn verleiten können: N o t und Habsucht. 2 " Dich haben wir als habsüchtig erkannt bei der Erbteilung mit deinem Bruder; als notleidend und bedürftig sehen wir dich jetzt. Wie könntest du also beweisen, daß es keinen Grund für eine schlechte Tat gegeben hat?" Zwischen dieser Zerlegung und der Gliederung des Stoffes, welche von den Teilen der Rede der dritte ist - ich habe darüber im i . B u c h gleich nach der Darlegung des Sachverhaltes gesprochen 2 ' 6 - , besteht folgender Unterschied: Jene zuerst genannte gliedert durch Aufzählung oder durch eine Themaangabe die Punkte, die in der ganzen Rede erörtert werden sollen; diese letztgenannte entwickelt sich gleich auf

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haec se statim explicat et brevi duabus aut pluribus partibus subiciens rationes exornat orationem. Frequentatio est, cum res in tota causa dispersae coguntur in unum locum, quo gravior aut acrior aut criminosior oratio sit, hoc pacto:

„A quo tandem abest iste vitio? quid est, cur iudicio velitis eum liberare? Suae pudicitiae proditor est, insidiator alienae; cupidus, intemperans, petulans, superbus, inpius in parentes, ingratus in amicos, infestus cognatis, in superiores contumax, in aequos et pares fastidiosus, in inferiores crudelis, denique in omnis intolerabilis."

Eiusdem generis est ilia frequentatio, quae plurimum coniecturalibus causis opitulatur, cum suspiciones, quae separatim dictae minutae et infirmae erant, unum in locum coactae rem videntur perspicuam facere, non suspiciosam, hoc pacto:

„Nolite igitur, nolite, iudices, ea, quae dixi, separatim spectare; sed omnia colligite et conferte in unum locum. Si et commodum ad istum ex illius morte veniebat et vita hominis est turpissima, animus avarissimus, fortunae familiares attenuatissimae et res ista bono nemini praeter istum fuit, neque alius quisquam aeque commode neque iste aliis commodioribus rationibus facere potuit, neque praeteritum est ab isto quicquam, quod opus fuit; cum locus idoneus maxime quaesitus, turn occasio adgrediendi commoda, tempus adeundi opportunissimum, spatium conficiendi longissimum sumptum est, non sine maxima occultandi maleficii spe; et praeterea, ante quam occisus ho-

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der Stelle und, indem sie in Kürze den zwei oder mehr Teilen Begründungen hinzufügt, schmückt sie die Rede aus. Eine wiederholende Zusammenstellung 257 liegt vor, wenn Aussagen, die über die ganze Rechtssache zerstreut sind, an einer Stelle zusammengezogen werden, damit die Rede um so feierlicher, heftiger oder anklagender ist, z. B. auf folgende Art: „Mit welchem Laster schließlich hat dieser Mann da nichts zu tun? Was ist der Grund dafür, daß ihr ihn durch euren Urteilsspruch freisprechen wollt? Seine eigene Sittsamkeit gibt er preis, fremder Sittsamkeit stellt er nach; er ist gierig, unbeherrscht, frech, hochmütig; gegen seine Eltern ist er ehrfurchtlos, gegen Freunde undankbar, Verwandten begegnet er feindlich; trotzig ist er gegen Höhergestellte, schnöde gegen Gleichgestellte und Ebenbürtige, grausam gegen Niedrigere; kurz und gut, er ist gegen alle unerträglich." Von der nämlichen Art ist auch jene wiederholende Zusammenstellung, welche am meisten in Rechtsfällen, die auf einer Vermutung beruhen, Hilfe leistet, wenn Verdächtigungen, die getrennt genannt von geringer Wirkung und schwacher Kraft waren, an eine Stelle zusammengezogen den Sachverhalt klar durchschaubar und nicht nur verdächtig erscheinen lassen, 2 ' 8 z. B. auf folgende Art: 2 ' 9 „Betrachtet also, ihr Herren Richter, betrachtet, bitte, das, was ich gesagt habe, nicht jeweils für sich getrennt, sondern nehmt alles zusammen und bringt es auf einen Punkt. Wenn ein Vorteil für diesen da zustande kam aus dem Tode jenes Mannes; wenn das Vorleben des Angeklagten in größter Schande verlief, er sehr habsüchtig ist und sein Vermögen sehr geschmälert war; wenn dieses Ereignis niemandem Nutzen brachte außer diesem da; 260 und wenn kein anderer die Tat gleich günstig und wenn auch dieser da sie nicht unter anderen günstigeren Bedingungen ausführen konnte; wenn von diesem da nichts ausgelassen wurde, was nötig war; wenn ein sehr geeigneter Ort ausgesucht wurde, eine günstige Gelegenheit, um die Tat in Angriff zu nehmen, und der passendste Zeitpunkt, um sie anzugehen; wenn für die

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mo is est, iste visus est in eo loco, in quo est occisio facta, solus; paulo post in ipso maleficio vox illius, qui occidebatur, audita; deinde post occisionem istum multa nocte domum redisse constat; postero die titubanter et inconstanter de occisione illius locutum; haec partim testimoniis, partim quaestionibus argumentatis omnia conprobantur et rumore populi, quem ex argumentis natum necesse est esse verum: vestrum, iudices, est, his in unum locum collatis, certam sumere sententiam, non suspicionem maleficii. Nam unum aliquid aut alteram potest in istum casu cecidisse suspiciose; ut omnia inter se a primo ad postremum conveniant maleficio, necesse est; casu non potest fieri."

Vehemens haec est exornatio et in coniecturali constitutione causae ferme semper necessaria et in ceteris generibus causarum et in omni oratione adhibenda nonnumquam. Expolitio est, cum in eodem loco manemus et aliud atque aliud dicere videmur. Ea dupliciter fit: si aut eandem plane dicemus rem aut de eadem re.

Eandem rem dicemus non eodem modo - nam id quidem optundere auditorem est, non rem expolire - , sed commutate. Commutabimus tripliciter: verbis, pronuntiando, tractando.

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Durchführung der Tat ein sehr langer Zeitraum genommen wurde, nicht ohne die berechtigte Aussicht, das Verbrechen verborgen halten zu können; und außerdem wenn, bevor der Mann getötet wurde, dieser allein an dem Ort gesehen wurde, wo der Mord geschah; wenn kurz darauf während des Verbrechens selbst die Stimme dessen, der ermordet wurde, gehört wurde; wenn dann nach dem Mord dieser da mitten in der Nacht nach Hause zurückkehrte, wie feststeht; wenn er am folgenden Tag stockend und unsicher über die Ermordung des Mannes sprach; 26 ' wenn diese Einzelheiten alle teils durch Zeugenaussagen, teils durch bewiesene Untersuchungsergebnisse als richtig befunden werden und ebenso durch die Stimme des Volkes, die aus Beweisen sich bildet und deswegen notwendigerweise die Wahrheit wiedergibt, dann ist es eure Pflicht, ihr Herren Richter, aus diesen an eine Stelle zusammengefaßten Punkten die sichere Kenntnis und nicht nur einen Verdacht des Verbrechens herzuleiten. Denn das eine oder das andere könnte auf diesen da zufällig als Verdacht gefallen sein; daß aber alle Einzelheiten untereinander vom ersten bis zum letzten Punkt zu dem Verbrechen passen, ist ein zwingender Beweis; Zufall kann es nicht sein." Wirkungsvoll ist diese Ausschmückung und bei der auf Vermutung beruhenden Begründungsform eines Rechtsfalles fast immer notwendig, auch bei den übrigen Arten von Redeanlässen und in jeder Rede soll sie bisweilen angewendet werden. Eine Ausmalung262 liegt vor, wenn wir bei ein und demselben Punkte bleiben und trotzdem immer wieder etwas anderes zu sagen scheinen. Sie kommt auf zweifache Weise zustande: wenn wir entweder ein und dieselbe Sache lang und breit ausführen oder vom Umfelde ein und derselben Sache sprechen. Ein und dieselbe Sache führen wir nicht auf dieselbe Weise aus - denn das bedeutete dem Zuhörer lästig fallen, nicht einen Sachverhalt ausmalen - , sondern auf veränderte Art. Wir verändern auf dreifache Weise: in der Wortwahl, in der Vortragsart und in der Art der Erörterung.

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Verbis commutabimus, cum re semel dicta iterum aut saepius aliis verbis, quae idem valeant, eadem res proferetur, hoc modo: „ N u l l u m tantum est periculum, quod sapiens pro salute patriae vitandum arbitretur. C u m agetur incolumitas perpetua civitatis, qui bonis erit rationibus praeditus, profecto nullum vitae discrimen sibi pro fortunis rei publicae fugiendum putabit, et erit in ea sententia semper, ut pro patria studiose quamvis in magnam descendat vitae dimicationem." Pronuntiando commutabimus, si cum in sermone tum in acrimonia, tum in alio atque alio genere vocis atque gestus eadem verbis commutando pronuntiationem quoque vehementius inmutabimus. H o c neque commodissime scribi potest ñeque parum est apertum; quare non eget exempli.

Tertium genus est commutationis, quod tractando conficitur, si sententiam traiciemus aut ad sermocinationem aut exsuscitationem.

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Sermocinatio est - de qua planius paulo post suo loco dicemus, nunc breviter, quod ad hanc rem satis sit, attingemus - , in qua constituetur alicuius personae oratio adcommodata ad dignitatem, hoc m o d o ut, quo facilius res cognosci possit, ne ab eadem sententia recedamus:

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„Sapiens omnia rei publicae causa suscipienda pericula putabit. Saepe ipse secum loquetur: , N o n mihi soli, sed etiam atque adeo multo potius natus

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In der Wortwahl verändern wir, wenn ein und derselbe Sachverhalt, nachdem er einmal ausgesprochen ist, immer wieder mit anderen Worten, die genau dasselbe bedeuten, vorgetragen wird, z. B. auf folgende Weise: „Keine Gefahr ist so groß, der der Weise ausweichen zu dürfen glaubte, wenn es um das Wohl des Vaterlandes geht. Wenn es um die dauernde Unversehrtheit der Bürgerschaft geht, wird ein Mann, der mit guten Grundsätzen begabt ist, in der Tat nicht glauben, er dürfe vor einer Lebensgefahr zurückweichen, wenn es um das Glück des Staates geht, und er wird immer bei dem Entschluß verharren, für das Vaterland mit Begeisterung sich in einen auch noch so harten Kampf auf Leben und Tod einzulassen." 263 In der Vortragsart verändern wir, wenn wir erst in ruhigem Gesprächston, dann in heftiger Sprechweise, dann wieder in diesem und jenem Tonfall und mit diesem und jenem Gebärdenspiel ein und dasselbe mit Worten verändern und dadurch noch die Vortragsart recht wirkungsvoll abändern. Dies kann nicht ganz angemessen beschrieben werden und es ist auch offenkundig genug; deshalb bedarf es keines Beispieles. Es gibt eine dritte Art der Veränderung, die durch die Art der Erörterung durchgeführt wurde, wenn wir die Meinungsäußerung überleiten auf die Einführung eines Redenden oder die Aufmunterung. Die Einführung eines Redenden - darüber werde ich ausführlicher etwas weiter unten an geeigneter Stelle sprechen,264 jetzt will ich sie nur kurz berühren, soweit es für die vorliegende Erscheinung genügt - ist das Stilmittel, bei welchem die Rede irgendeiner Person, angeglichen an ihren Rang und Charakter, eingefügt wird, z.B. auf folgende Weise - damit der Sachverhalt um so leichter erkannt werden kann, will ich nicht von der nämlichen Aussage abweichen: „Der Weise glaubt, er müsse um des Staates willen alle Gefahren auf sich nehmen. 26 ' Oft spricht er bei sich selbst: ,Nicht für mich allein, sondern auch und noch viel mehr bin

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sum patriae; vita, quae fato debetur, saluti patriae

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potissimum solvatur. Aluit haec me; tute atque honeste produxit usque ad hanc aetatem; munivit meas rationes bonis legibus, optumis moribus, honestissimis disciplinis. Q u i d est, quod a me satis ei persolvi possit, unde haec accepi?' Exinde haec loquetur secum sapiens saepe: ,Ergo in periculis rei publicae nullum ipse periculum fugi.' "

Item mutatur res tractando, si traducitur ad exsuscitationem, cum et nos commoti dicere videamur et auditoris animum commovemus, sic: „ Q u i s est tam tenui cogitatione praeditus, cuius animus tantis angustiis invidiae continetur, qui non hunc hominem studiosissime laudet et sapientissimum iudicet, qui pro salute patriae, pro incolumitate civitatis, pro rei publicae fortunis quamvis magnum atque atrox periculum studiose suscipiat et libenter subeat? Equidem hunc hominem magis cupio satis laudare, quam possum; idemque hoc certo scio vobis omnibus usu venire." Eadem res igitur his tribus in dicundo commutabitur rebus: verbis, pronuntiando, tractando; sed tractando dupliciter: sermocinatione et exsuscitatione.

Sed de eadem re cum dicemus, plurimis utemur commutationibus. N a m cum rem simpliciter pronuntiarimus, rationem poterimus subicere; deinde dupliciter vel sine rationibus vel cum rationibus pronuntiare; deinde afferre contrarium - de quibus omnibus diximus in verborum exornationibus - ; deinde simile et exemplum - de quo suo loco plura dicemus - ; deinde conclusionem - de

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ich für das Vaterland geboren; mein Leben, das ich dem Geschick verdanke, soll in erster Linie für das Vaterland eingelöst werden. Dieses hat mich aufgezogen; in Sicherheit und in Ehren hat es mich bis zu meinem jetzigen Alter geleitet; geschützt hat es meine Grundsätze durch gute Gesetze, trefflichste Sitten und sehr ehrenhafte Lehren. Was gibt es da, was von mir ihm, von dem ich dies empfangen habe, hinreichend entrichtet werden könnte?' Alsdann spricht der Weise die folgenden Worte häufig bei sich: ,Also wich ich in Gefahren für den Staat selbst keiner Gefahr aus.'" Ebenso wird ein Sachverhalt durch die Art der Erörterung geändert, wenn er auf eine Ermunterung übergeleitet wird, da wir den Eindruck wecken, wir seien erregt, und wir erregen dadurch den Zuhörer, z. B. so: „Wer hat ein so geringes Denkvermögen, wessen Sinn wird von Neid so eng umzingelt gehalten, daß er nicht diesen Mann mit größtem Eifer lobt und für sehr weise hält, welcher für das Wohl des Vaterlandes, für die Unversehrtheit der Bürgerschaft, für das Glück des Staates eine so große und schreckliche Gefahr mit Begeisterung auf sich nimmt und sich ihr unterzieht? Ich für meine Person wünschte diesen Mann mehr gebührend zu loben, als ich kann; und ich weiß sicher, daß es euch allen ebenso ergeht." Ein und derselbe Sachverhalt wird also durch diese drei Möglichkeiten beim Sprechen verändert: durch die Wortwahl, durch die Vortragsart, und durch die Art der Erörterung; durch die Art der Erörterung aber in doppelter Form: durch die Einführung eines Redenden und durch die Aufmunterung. Aber wenn wir von ein und demselben Sachverhalt sprechen, 266 wenden wir sehr viele Veränderungen an. Denn wenn wir einen Sachverhalt in einfacher Form vorgetragen haben, können wir eine Begründung anfügen; dann können wir ihn in doppelter Form ohne oder mit Begründung vortragen; dann können wir einen Gegensatz anführen - über alle diese Möglichkeiten habe ich bei den Wortfiguren gesprochen; 267 dann einen Vergleich und ein Beispiel - dar-

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qua in secundo libro, quae opus fuerunt, diximus demonstrantes, argumentations quemadmodum concludere oporteat: in hoc libro docuimus, cuiusmodi esset exornatio verborum, cui conclusioni nomen est. Ergo huiusmodi vehementer ornata poterit esse expolitio, quae constabit ex frequentibus exornationibus verborum et sententiarum. H o c m o d o igitur Septem partibus tractabitur - sed ab eiusdem sententiae non recedemus exemplo, ut scire possis, quam facile praeceptione rhetoricae res simplex multiplici ratione tractetur: „Sapiens nullum pro re p. periculum vitabit, ideo quod saepe, cum pro re p. perire noluerit, necesse erit cum re p. pereat; et quoniam omnia sunt commoda a patria accepta, nullum incommodum pro patria grave putandum est. Ergo qui fugiunt id periculum, quod pro re p. subeundum est, stulte faciunt: nam neque effugere incommoda possunt et ingrati in civitatem reperiuntur. A t qui patriae pericula suo periculo expetant, hi sapientes putandi sunt, cum et eum, quem debent honorem rei p., reddunt et pro multis perire malunt quam cum multis.

Etenim vehementer est iniquum vitam, quam a natura acceptam propter patriam conservaveris, naturae, cum cogat, reddere, patriae, cum roget, non dare; et, cum possis cum summa virtute et honore pro patria interire, malle per dedecus et ignaviam vivere; pro amicis et parentibus et ceteris necessariis adire periculum, pro re p., in qua et

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über werde ich an geeigneter Stelle mehr sagen; 268 dann eine Schlußfolgerung - darüber habe ich im 2. Buch 2 6 ' gesagt, was nötig war, indem ich darlegte, wie man Beweisführungen zu Schlußfolgerungen bringen müsse; im vorliegenden Buch 270 habe ich gelehrt, von welcher Art die Ausschmückung der Worte sei, die die Bezeichnung Schlußfolgerung hat. Also kann eine derartige Ausmalung wirkungsvoll geschmückt sein, welche aus häufigen Ausschmückungen von Wörtern und Gedanken besteht. Auf diese Weise wird sie also in sieben Teilen durchgeführt - ich will dabei nicht von dem Beispiel mit dem nämlichen Gedanken abweichen, damit du wissen kannst, wie leicht mittels der Anleitung der Redekunst ein einfacher Sachverhalt auf vielfältige Weise dargestellt wird: 2 7 ' „Der Weise wird für den Staat keine Gefahr vermeiden, deswegen weil oft jemand, der nicht für den Staat zugrunde gehen wollte, notgedrungen mit dem Staat untergeht und weil ja alle Vorteile vom Vaterland empfangen sind und man keinen Nachteil, den man für das Vaterland in Kauf nimmt, für schwerwiegend halten darf. Diejenigen also, die dieser Gefahr ausweichen, der man sich für das Vaterland unterziehen muß, handeln töricht; denn sie können den Nachteilen nicht entkommen und werden darüber hinaus als undankbar gegen die Bürgerschaft befunden. Aber diejenigen, die Gefahren, die dem Vaterland drohen, durch eine Gefahr für sich auf sich ziehen, soll man für weise halten, weil sie dem Staat die Ehre erweisen, die sie schulden, und lieber für viele zugrunde gehen wollen als mit vielen. Und in der Tat ist es ganz und gar ungerecht, das Leben, das man von der Natur erhalten und wegen des Vaterlandes geschützt hat, der Natur zurückzugeben, wenn sie dazu zwingt, dem Vaterland aber nicht hinzugeben, wenn es darum bittet; und während man mit größtem Verdienst und größter Ehre für das Vaterland sterben könnte, es vorzuziehen, in Schande und Feigheit zu leben; für Freunde, Eltern und die übrigen Menschen, die einem nahestehen, sich einer

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haec et illud sanctissimum patriae nomen continetur, nolle in discrimen venire. Ita uti contemnendus est, qui in navigando navim quam se non mavult incolumem, item vituperandus, qui in rei p. discrimine suae plus quam communi saluti consulit. Navi enim fracta multi incolumes evaserunt; ex naufragio patriae salvus nemo potest enatare.

Q u o d mihi bene videtur Decius intellexisse, qui se devovisse dicitur et pro legionibus in hostis inmisisse medios. Amisit vitam, at non perdidit. Re enim vilissima caram et parva maximam redemit. Vitam dedit, accepit patriam; amisit animam, potitus est gloriam, quae cum summa laude prodita vetustate cottidie magis enitescit.

Q u o d s i pro re publica decere accedere periculum et ratione demonstratum est et exemplo conprobatum, ii sapientes sunt existimandi, qui nullum pro salute patriae periculum vitant." In his igitur generibus expolitio versatur; de qua producti sumus, ut plura diceremus, quod non modo, cum causam dicimus, adiuvat et exornat orationem, sed multo maxime per eam exercemur ad elocutionis facultatem. Quare conveniet extra causam in exercendo rationes adhibere expolitionis, in dicendo uti, cum exornabimus argumentationem, de qua re diximus in libro secundo.

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Commoratio est, cum in loco firmissimo, quo tota causa continetur, manetur diutius et eodem

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Gefahr auszusetzen, für den Staat, in dem dies alles und jener heiligste Begriff Vaterland enthalten ist, nicht in eine gefährliche Lage geraten zu wollen. Und wie der Mann Verachtung verdient, der, wenn er zur See fährt, nicht lieber sein Schiff unversehrt erhalten möchte als sich, so soll der getadelt werden, welcher in einer für den Staat gefährlichen Situation mehr auf seine eigene Rettung aus ist als auf die Rettung der Gemeinschaft. Einem Schiffbruch nämlich sind schon viele unversehrt entronnen; aus einem Schiffbruch des Vaterlandes aber kann niemand heil schwimmend entkommen. Dies scheint mir Decius 2 7 2 gut erkannt zu haben, der, wie man sagt, sich dem Opfertode weihte und sich an der Spitze der Legionen mitten in die Feinde stürzte. E r verlor sein Leben, aber er richtete es nicht unnütz zugrunde. Für ein völlig wertloses Gut nämlich erkaufte er ein wertvolles und für ein geringes das größte. Sein Leben gab er hin, er erhielt das Vaterland; er verlor die Lebenskraft, er erwarb sich Ruhm, der, unter höchster Anerkennung im Laufe der Jahre hervorgehoben, täglich mehr erstrahlt. Wenn nun also durch die Vernunft bewiesen und durch ein Beispiel bestätigt ist, daß man verpflichtet ist, für den Staat einer Gefahr entgegenzutreten, muß man diejenigen für weise halten, die für das Wohl des Vaterlandes keiner Gefahr aus dem Wege gehen." In diesen Arten also bewegt sich die Ausmalung; ich wurde veranlaßt, darüber mehr zu sagen, weil sie nicht nur, wenn wir eine Sache vor Gericht vertreten, unsere Rede unterstützt und ausschmückt, sondern weil wir uns durch sie in ganz besonderem Maße üben für die Geschicklichkeit im Ausdruck. Deshalb empfiehlt es sich, auch außerhalb von wirklichen Gerichtsreden beim Üben die Möglichkeiten der Ausmalung anzuwenden und sie bei wirklichen Reden zu verwerten, wenn wir die Beweisführung ausschmücken, über die ich im 2. Buch 2 7 3 geschrieben habe. Ein Verweilen 274 liegt vor, wenn man bei der wichtigsten Stelle, an der die ganze Sache zusammengefaßt wird, etwas

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saepius reditur. Hac uti maxime convenit et id est oratoris boni maxime proprium. N o n enim datur auditori potestas animum de re firmissima demovendi. Huic exemplum satis idoneum subici non potuit, propterea quod hic locus non est a tota causa separatus sicuti membrum aliquod, sed tamquam sanguis perfusus est per totum corpus orationis.

C o n t e n d o est, per quam contraria referuntur. Ea est in verborum exornationibus, ut ante docuimus, huiusmodi: „Inimicis te placabilem, amicis inexorabilem praebes." In sententiarum, huiusmodi: „Vos huius incommodis lugetis, iste rei publicae calamitate laetatur. Vos vestris fortunis diffiditis, iste solus suis eo magis confidit." Inter haec duo contentionum genera hoc interest: illud ex verbis celeriter relatis constat; hic sententiae contrariae ex conparatione referantur oportet. Similitudo est oratio traducens ad rem quampiam aliquid ex re dispari simile. Ea sumitur aut ornandi causa aut probandi aut apertius dicendi aut ante oculos ponendi. Et quomodo quattuor de causis sumitur, item quattuor modis dicitur: per contrarium, per negationem, per conlationem, per brevitatem. A d unam quamque sumendae causam similitudinis adcommodabimus singulos modos pronuntiandi. Ornandi causa sumitur per contrarium sic:

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länger stehen bleibt und wenn man öfter eben darauf zurückkommt. Es anzuwenden empfiehlt sich ganz besonders, und das ist ganz besonders das Merkmal eines guten Redners. Dem Zuhörer wird nämlich nicht die Möglichkeit gegeben, seine Aufmerksamkeit von einer sehr wichtigen Sache abzuwenden. Für dieses Stilmittel läßt sich kein hinreichend geeignetes Beispiel anfügen, deswegen weil diese Stelle nicht von der ganzen Rede getrennt ist wie irgendein Glied, sondern wie Blut den ganzen Körper der Rede durchdringt. 275 Die Antithese ist das Stilmittel, durch welches Gegensätze vorgetragen werden. Sie ist bei Ausschmückungen der Wörter, wie ich oben 2 7 6 zeigte, z . B . von folgender Art: „Feinden erweist du dich versöhnlich, Freunden unerbittlich." Bei Ausschmückungen der Gedanken z. B. von folgender Art: „Ihr trauert über das Unglück dieses Mannes, dieser da freut sich über das Unheil des Staates. Ihr mißtraut eurem Glück, dieser da vertraut allein dem seinen um so mehr." Zwischen diesen beiden Arten von Antithesen besteht folgender Unterschied: Die erstere besteht aus schnell vorgebrachten Worten; im zweiten Fall müssen gegensätzliche Gedanken zum Vergleich vorgebracht werden. Der Vergleich 277 ist eine Redeweise, welche etwas Ahnliches aus einem verschiedenen Gebiet auf irgendeinen Sachverhalt überträgt. Man nimmt ihn, um zu schmücken, um zu beweisen, um offener zu sprechen oder um etwas vor Augen zu stellen. Und wie man ihn aus vier Gründen nimmt, so spricht man ihn auf vier Weisen aus: durch einen Gegensatz, durch eine Verneinung, durch eine vergleichende Gegenüberstellung und durch Kürze. Nach jedem einzelnen Grund, einen Vergleich zu nehmen, richten wir die einzelnen Arten des Vortrages aus. U m zu schmücken, nimmt man ihn durch einen Gegensatz, z. B. so:

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„Non enim, quemadmodum in palaestra qui taedas candentes accipit, celerior est in cursu continuo quam ille, qui tradit, item melior inperator novus, qui accipit exercitum, quam ille, qui decedit; propterea quod defatigatus cursor integro facem, hic peritus imperator inperito exercitum tradit." Hoc sine simili satis plane et perspicue et probabiliter dici potuit hoc modo: „Dicitur minus bonos imperatores a melioribus exercitus accipere solere"; sed ornandi causa simile sumptum est, ut orationi quaedam dignitas conparetur. Dictum autem est per contrarium. Nam tum similitudo sumitur per contrarium, cum ei rei, quam nos probamus, aliquam rem negamus esse similem. Per negationem dicetur probandi causa hoc modo: „Neque equus indomitus, quamvis bene natura conpositus sit, idoneus potest esse ad eas utilitates, quae desiderantur ab equo; neque homo indoctus, quamvis sit ingeniosus, ad virtutem potest pervenire." Hoc probabilius factum est, quod magis est veri simile non posse virtutem sine doctrina conparari, quoniam ne equus quidem indomitus idoneus possit esse. Ergo sumptum est probandi causa, dictum autem per negationem; id enim perspicuum est de primo similitudinis verbo. Sumetur et apertius dicendi causa simile - dicitur per brevitatem - hoc modo: „In amicitia gerunda, sicut in certamine currendi, non ita convenit exerceri, ut, quoad necesse sit, venire possis, sed ut productus studio et viribus ultra facile procurras."

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„Denn nicht wie in der Palaestra einer, der das brennende Kienholz übernimmt, 2 7 8 den Lauf schneller fortsetzt als der, der es übergibt, ist auch der neue Feldherr, der das Heer übernimmt, besser als der, welcher abtritt; der Grund dafür ist, daß ein erschöpfter Läufer einem frischen die Fackel, hier aber ein erfahrener Feldherr einem unerfahrenen das Heer übergibt." Dies hätte auch ohne Vergleich genügend deutlich, klar und glaubhaft gesagt werden können auf folgende Weise: „Man sagt, daß gewöhnlich weniger tüchtige Feldherren das Heer von tüchtigeren übernehmen"; aber um zu schmücken, nahm man einen Vergleich, damit die Redeweise eine gewisse Würde erhält. Man sprach aber durch einen Gegensatz. Denn man nimmt dann einen Vergleich durch einen Gegensatz, wenn wir abstreiten, daß dem Sachverhalt, den wir beweisen, irgendein anderer Sachverhalt ähnlich sei. Durch eine Verneinung spricht man, um zu beweisen, z. B. auf folgende Weise: „Und ein ungezähmtes Pferd, mag es auch eine noch so gute natürliche Veranlagung besitzen, kann nicht geeignet sein zu den nützlichen Fähigkeiten, die man von einem Pferd verlangt; so kann auch ein ungebildeter Mensch, mag er auch noch so begabt sein, nicht zur sittlichen Vollkommenheit gelangen." 2 7 ' Diese Aussage ist beweiskräftiger gestaltet worden, weil es wahrscheinlicher ist, daß man sittliche Vollkommenheit nicht ohne Bildung erwerben kann, da ja nicht einmal ein ungezähmtes Pferd geeignet sein kann. Also nahm man den Vergleich, um zu beweisen, sprach aber durch eine Verneinung; das ist nämlich schon klar vom ersten Wort des Vergleiches an. Man nimmt den Vergleich auch, um etwas offener zu sagen man spricht durch Kürze - z. B. auf folgende Weise: „In der Freundschaft soll man sich, wie beim Wettlauf, nicht nur soweit trainieren, daß man gerade so weit kommen kann, wie nötig ist, sondern daß man, von Eifer und seinen Kräften nach vorne getrieben, leicht über das Ziel hinausläuft." 2 8 0

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Nam hoc simile est, ut apertius intellegatur mala ratione facere, qui reprehendant eos, qui, verbi causa, post mortem amici liberos eius custodiant, propterea quod in cursore tantum velocitatis in amico tantum benivolentia Studium esse oporteat, ut efferantur ultra finem. Dictum autem simile est per brevitatem. N o n enim ita, ut in ceteris rebus, res ab re separata est, sed utraeque res coniuncte et confuse pronuntiatae.

Ante oculos ponendi negotii causa sumetur similitudo - dicetur per conlationem - sic: „Uti citharedus cum prodierit optime vestitus, palla inaurata inductus, cum clamyde purpurea coloribus variis intexta et cum corona, magnis fulgentibus gemmis inluminata, citharam tenens exornatissimam auro et ebore distinctam, ipse praeterea forma et specie sit et statura adposita ad dignitatem, si cum magnam populo commorit iis rebus expectationem, repente silentio facto vocem mittat acerbissimam cum turpissimo corporis motu, quo melius ornatus et magis fuerit expectatus, eo magis derisus et contemptus eicitur; item, si quis in excelso loco et in magnis ac locupletibus copiis conlocatus fortunae muneribus et naturae commodis omnibus abundabit, si virtutis et artium, quae virtutis magistrae sunt, egebit, quo magis ceteris rebus erit copiosus et inlustris et expectatus, eo vehementius derisus et contemptus ex omni conventu bonorum eicietur."

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Denn dieser Vergleich ist gesetzt, damit man deutlicher einsieht, daß die mit schlechter Überlegung handeln, welche diejenigen tadeln, die beispielshalber nach dem Tod eines Freundes sich um dessen Kinder kümmern; denn ein Läufer muß so große Schnelligkeit, der Freund ein so großes Bemühen um eine gute Gesinnung besitzen, daß sie über das Ziel hinausgetragen werden. Ausgedrückt aber ist der Vergleich durch Kürze. Nicht in der Form nämlich ist, wie in den übrigen Fällen, der einen Sachverhalt vom anderen trennt, sondern beide Sachverhalte sind verbunden und ineinander verschlungen vorgetragen. Um ein Geschehen vor Augen zu stellen, nimmt man einen Vergleich - man spricht durch eine vergleichende Gegenüberstellung - z. B. so: „Wenn ein Kitharöde in den besten Kleidern auftritt, angetan mit einem golddurchwirkten Obergewand, in einem purpurnen Mantel nach griechischem Schnitt, in den verschiedenen Farben eingewebt sind, mit einer Krone, die von großen leuchtenden Edelsteinen blitzt, reich mit Gold verziert und mit Einlegearbeiten aus Elfenbein, er selbst außerdem durch Schönheit, Aussehen und Körperbau eine würdige Erscheinung, wenn dieser, nachdem er durch die genannten Erscheinungen eine große Erwartung beim Volk erregt hat, nun plötzlich, wenn Schweigen eingetreten ist, eine schrecklich abstoßende Stimme vernehmen läßt, verbunden mit einer ganz häßlichen Körperhaltung, dann wird er, je schöner er geschmückt war und je gespannter er erwartet wurde, desto mehr ausgelacht, verspottet und fortgejagt; ebenso wird ein Mann, der in hohem Range steht, dem bedeutende und reiche Mittel zur Verfügung stehen und der die Geschenke des Glücks und die Vorteile der Natur alle im Überfluß besitzt, wenn er also Mangel an Tugenden und an den Wissenschaften, die die Lehrmeisterinnen der Tugend sind, hat, dann wird er, je mehr er in den übrigen Dingen reich, angesehen und willkommen ist, um so heftiger ausgelacht, verspottet und aus jeder Gesellschaft tüchtiger Menschen fortgejagt."

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H o c simile exornatione utriusque rei, alterius inertiae alterius stultitiae simili ratione conlata, sub aspectus omnium rem subiecit. Dictum autem est per conlationem, propterea quod proposita similitudine paria sunt omnia relata.

In similibus observare oportet diligenter, ut, cum rem afferamus similem, cuius rei causa similitudinem adtulerimus, verba ad similitudinem habeamus adcommodata. Id est huiusmodi:

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„Ita ut hirundines aestivo tempore praesto sunt, frigore pulsae r e c e d u n t , . . . " - ex eadem similitudine nunc per translationem verba sumimus: „item falsi amici sereno vitae tempore praesto sunt; simul atque hiemem fortunae viderunt, devolant omnes." Sed inventio similium facilis erit, si quis sibi omnes res, animantes et inanimas, mutas et loquentes, feras et mansuetas, terrestris, caelestis, maritimas, artificio, casu, natura conparatas, usitatas atque inusitatas, frequenter ponere ante oculos poterit et ex his aliquam venari similitudinem, quae aut ornare aut docere aut apertiorem rem facere aut ponere ante oculos possit. N o n enim res tota totae rei necesse est similis sit, sed id ipsum, quod conferetur, similitudinem habeat oportet. Exemplum est alicuius facti aut dicti praeteriti cum certi auctoris nomine propositio. Id sumitur isdem de causis, quibus similitudo. Rem ornatiorem facit, cum nullius rei nisi dignitatis causa sumitur; apertiorem, cum id, quod sit obscurius, magis dilucidum reddit; probabiliorem, cum magis veri similem facit; ante oculos ponit, cum exprimit omnia perspicue, ut res prope dicam manu

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Dieser Vergleich stellt durch die Ausschmückung beider Sachverhalte, wobei die ähnliche Art der Unfähigkeit des einen mit der Dummheit des anderen verglichen wird, den Sachverhalt allen deutlich vor Augen. Ausgesprochen aber ist er durch eine vergleichende Gegenüberstellung, deswegen weil dadurch, daß ein Vergleich gesetzt ist, alles Gleiche vorgetragen wird. Bei Vergleichen muß man sorgfältig darauf achten, daß wir, wenn wir etwas Ähnliches anführen, die Worte dem ähnlichen Sachverhalt angepaßt haben, um dessentwillen wir den Vergleich angeführt haben. Das geschieht z. B. folgendermaßen: „Ebenso wie Schwalben zur Sommerzeit anwesend sind, von der Kälte vertrieben aber wegziehen, . . . " Aus eben demselben Sachverhalt nehmen wir nun durch Übertragung die Worte: „ebenso sind falsche Freunde zur heiteren Lebenszeit anwesend; sobald sie aber den Winter des Schicksals gesehen haben, fliegen sie alle davon." 281 Aber das Finden von Vergleichen ist leicht, wenn man sich alle Dinge, die belebten und leblosen, die stummen und sprachbegabten, die wilden und zahmen, die auf der Erde, am Himmel und im Meer, die durch Kunst, Zufall und Natur geschaffenen, die gewohnten und ungewohnten häufig vor Augen stellen und an diesen irgendeinen ähnlichen Sachverhalt erjagen kann, der die Angelegenheit zu schmükken, zu verdeutlichen, offenkundiger zu machen oder vor Augen zu stellen vermag. Denn nicht muß die eine Sache der anderen notwendigerweise ganz ähnlich sein, sondern nur der Punkt, der verglichen wird, muß Ähnlichkeit besitzen. Ein Beispiel 282 ist das Vorführen irgendeiner Tat, irgendeines Ausspruches aus der Vergangenheit, wobei ein bestimmter Urheber genannt wird. Man nimmt es aus dem nämlichen Grund wie den Vergleich. Es macht eine Sache geschmückter, wenn man es aus keinem anderen Grunde als um der würdigen Darstellung willen nimmt; offenkundiger, wenn es das, was zu dunkel ist, heller erscheinen läßt; glaubhafter, wenn es die Sache wahrscheinlicher macht; es stellt sie vor

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temptari possit. Unius cuiusque generis singula subiecissemus exempla, nisi et exemplum, quod genus esset in expolitione, demonstrassemus et causas sumendi in similitudine aperuissemus. Quare noluimus neque pauca, quominus intellegeretur, neque re intellecta plura scribere.

Imago est formae cum forma cum quadam similitudine conlatio. Haec sumitur aut laudis aut vituperationis causa. Laudis causa, sic: „Inibat in proelium corpore tauri validissimi, inpetu leonis acerrimi similis." Vituperationis, ut in odium adducat, hoc modo: „Iste, qui cottidie per forum medium tamquam iubatus draco serpit dentibus aduncis, aspectu venenato, spiritu rabido, circumspectans hue et illuc, si quem reperiat, cui aliquid mali faucibus adflare, ore adtingere, dentibus insecare, lingua aspergere possit." U t in invidiam adducat, hoc modo: „Iste, qui divitias suas iactans, sicut Gallus e Phrygia aut ariolus quispiam, depressus et oneratus auro clamat et delirat." U t in contemptionem, sic: „Iste, qui tamquam coclea abscondens et retentans sese tacitus quo m o d o totus, ut comedatur, aufertur." Effictio est, cum exprimitur atque effingitur verbis corporis cuiuspiam forma, quoad satis sit ad intellegendum, hoc modo:

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Augen, wenn es alles klar ausdrückt, so daß man die Sache sozusagen mit der Hand berühren kann. Ich hätte für jede einzelne Art je ein Beispiel angeführt, wenn ich nicht schon bei der Ausmalung gezeigt hätte, 28 ' von welcher Art das Beispiel ist, und die Gründe, es zu nehmen, nicht schon beim Vergleich eröffnet hätte. 284 Deshalb wollte ich nicht so wenig schreiben, daß man es nicht versteht, und nicht noch mehr, nachdem verstanden ist, worum es geht. Ein Bild 2 8 ' ist die vergleichende Gegenüberstellung einer Gestalt mit einer anderen, wobei eine gewisse Ähnlichkeit gegeben ist. Man nimmt es, um zu loben oder zu tadeln. U m zu loben, z. B. so: „Er ging in die Schlacht, wobei sein Körper dem des stärksten Stieres, sein Ungestüm dem des grimmigsten Löwen ähnlich war." 2 8 6 U m zu tadeln, und zwar um einen dem Haß auszuliefern, z. B. auf folgende Weise: „Dieser Mann da, der täglich über das Forum wie ein Drache mit einem K a m m kriecht mit gekrümmten Zähnen, giftigem Blick und wildem Feuerhauch und hierhin und dahin Ausschau hält, ob er nicht einen finde, dem er irgendein Unheil mit seinem Rachen zuschnauben, mit seinem Mund schlagen, mit seinen Zähnen einschneiden, mit seiner Zunge entgegenspritzen könne." 2 8 7 U m einen dem Neid auszuliefern, z. B. auf folgende Weise: „Dieser Mann da, der mit seinem Reichtum umherwirft wie Gallus aus Phrygien 288 oder irgendein Wahrsager, der, niedergedrückt und beladen mit Gold, schreit und sich verrückt gebärdet." Zum Verächtlichmachen, z. B. so: „Dieser Mann da, der wie eine Schnecke sich versteckt und sich schweigend zurückzieht, wenn man sie mit ihrem Haus ganz wegträgt, um sie zu verspeisen." Eine Schilderung des Äußeren 289 liegt vor, wenn man mit Worten jemands Gestalt ausdrückt und schildert, soweit es genügt, um sie zu erkennen, z. B. auf folgende Weise:

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„Hunc, iudices, dico, rubrum, brevem, incurvom, canum, subcrispum, caesium, cui sane magna est in mento cicatrix, si quo modo potest vobis in memoriam redire." Habet haec exornatio cum utilitatem, si quem velis demonstrare, tum venustatem, si breviter et dilucide facta est. Notatio est, cum alicuius natura certis describitur signis, quae, sicuti notae quaedam, naturae sunt adtributa; ut si velis non divitem, sed ostentatorem pecuniosi describere:

„Iste", inquies, „iudices, qui se dici divitem putat esse praeclarum, primum nunc videte, quo vultu nos intueatur. Nonne vobis videtur dicere: ,Darem, si mihi molesti non essetis?' Cum vero sinistra mentum sublevavit, existimat se gemmae nitore et auri splendore aspectus omnium praestringere. Cum puerum respicit hunc unum, quem ego novi - vos non arbitror - , alio nomine appellai, deinde alio atque alio. ,At eho tu', inquit, ,veni, Sannio, ne quid isti barbari turbent', ut ignoti, qui audient, unum putent selegi de multis: ei dicit in aurem, aut ut domi lectuli sternantur, aut ab avunculo rogetur Aethiops, qui ad balneas veniat, aut asturconi locus ante ostium suum detur, aut aliquod fragile falsae choragium gloriae conparetur. Deinde exclamat, ut omnes audiant: ,Videto, ut diligenter numeretur, si potest, ante noctem!' Puer, qui hanc bene naturam norit: ,Tu ilio plures mittas oportet', inquit, ,si hodie vis

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„Diesen Mann, ihr Herren Richter, meine ich, den mit dem roten Gesicht, mit kurzem Körperwuchs, mit dem grauen, etwas gekräuselten Haar, den blaugrauen Augen, der auf dem Kinn eine große Narbe hat, wenn ihr euch irgendwie an ihn erinnern könnt." Diese Ausschmückung bringt Nutzen, wenn man jemanden darstellen will, besonders aber Anmut, wenn sie kurz und klar gehalten ist. Eine Charakterisierung 2 9 0 liegt vor, wenn das Wesen irgendeines Menschen durch bestimmte Kennzeichen beschrieben wird, welche seinem Wesen wie bestimmte Brandmale aufgeprägt sind; wenn man z. B. jemanden beschreiben will, der nicht wirklich reich ist, aber seinen Besitz zur Schau trägt, könnte man sagen: „Dieser Mann da, ihr Herren Richter, der es für etwas Herrliches hält, für reich gehalten zu werden - seht nun zuerst, mit welcher Miene er euch anschaut. Scheint er nicht zu euch zu sagen: ,Ich würde euch gerne geben, wenn ihr mir nicht lästig wäret' ? Wenn er aber mit seiner Linken sein Kinn stützt, 2 ' 1 glaubt er durch den Glanz von Edelsteinen und das Leuchten von Gold die Blicke aller zu fesseln. Wenn er zu diesem seinem einzigen Diener zurückschaut, den ich kenne, 2 ' 2 - ihr, glaube ich, nicht - , spricht er ihn bald mit dem einen Namen an, dann mit einem anderen und wieder mit einem anderen. ,He, du da', sagt er, ,komm her, Sannio, 293 damit diese Barbaren da nichts durcheinanderbringen.' So sollen Zuhörer, die ihn nicht kennen, glauben, er wähle einen aus vielen aus. Ihm sagt er ins Ohr, entweder es sollten zu Hause die Speisesofas hingebreitet oder vom Onkel solle der Äthiopier 2 9 4 erbeten werden, der ins Bad kommen möge, oder dem Zelter aus Asturien 2 9 5 solle der Platz vor seinem Eingang gegeben werden oder sonst irgendein zerbrechlicher Bühnenapparat 2 9 6 für falschen Ruhm solle aufgerichtet werden. Dann ruft er aus, damit es alle hören: ,Er soll schauen, daß sorgfältig abgerechnet wird, möglichst noch vor Einbruch der Nacht!' Der Knabe, der dieses sein Wesen schon gut kennt, antwortet: ,Du mußt

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transnumerari.' ,Age', inquit, ,duc tecum Libanum et Sosiam.' ,Sane'. Deinde casu veniunt hospites homini, quos iste, dum splendide peregrinatur, invitarat. Ex ea re homo hercule sane conturbatur, sed tamen a vitio naturae non recedit. ,Bene', inquit, ,facitis, cum venitis, sed rectius fecissetis, si ad me domum recta abissetis.' ,Id fecissemus', inquiunt illi, ,si domum novissemus.' , A t istud quidem facile fuit undelibet invenire. Verum ite mequum!' Secuntur illi. Sermo interea huius consumitur omnis in ostentatione. Quaerit, in agris frumenta cuiusmodi sint; negat se, quia villae incensae sint, accedere posse nec aedificare etiamnunc audere; ,tametsi in Tusculano quidem coepi insanire et in isdem fundamentis aedificare.'

D u m haec loquitur, venit in aedes quasdam, in quibus sodalicium erat eodem die futurum; quo iste pro notitia domini aedium ingreditur cum hospitibus. ,Hic', inquit, ,habito.' Perspicit argentum, quod erat expositum, visit triclinium stratum, probat. Accedit servulus; dicit homini clare dominum iam venturum, si velit exire. ,Itane?' inquit; ,eamus, hospitis; frater venit ex Falerno: ego illi obviam pergam; vos hue decuma venitote.' Hospites discedunt. Iste se raptim domum suam conicit; illi decuma, quo iusserat, veniunt. Quaerunt hunc, reperiunt, domus cuia sit, in diversorium derisi conferunt sese.

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mehr Leute dorthin schicken, wenn du willst, daß heute fertig abgerechnet wird.' ,Wohlan', sagt er darauf, ,nimm den Libanus und Sosias mit dir.' ,Sehr wohl!' Dann kommen zufällig Freunde zu dem Mann, die er vor kurzem eingeladen hatte, als er auf Reisen sich prächtig gab. Dadurch wird der Mann bei Gott freilich verwirrt, aber dennoch weicht er nicht von dem Fehler seines Wesens ab. ,Ihr tut gut daran', sagt er, ,wenn ihr kommt, aber richtiger hättet ihr gehandelt, wenn ihr geradewegs zu mir nach Hause gegangen wärt.' ,Das hätten wir getan', antworten jene, ,wenn wir dein Haus kennen würden.' ,Aber es wäre freilich leicht gewesen, es aus allen beliebigen Richtungen kommend zu finden. Doch geht mit mir!' Jene folgen ihm. Das Gespräch dieses Mannes wird inzwischen ganz mit Prahlen bestritten. Er fragt, wie das Getreide auf seinen Feldern stehe; er behauptet, weil ja seine Landhäuser niedergebrannt seien, könne er nicht hinkommen und wage noch nicht, sie wieder aufzubauen,,wenngleich', wie er sagt, ,ich in meinem Tusculanum etwas Verrücktes tat und den Wiederaufbau auf den alten Fundamenten begann.' Während er das spricht, kommt er in ein gewisses Gebäude, in welchem am nämlichen Tage ein geselliges Gelage stattfinden sollte; dort tritt dieser da mit seinen Freunden ein, in Anbetracht dessen, daß er den Hausherrn kennt. ,Hier', sagt er,,wohne ich.' Er sieht nach dem Silbergeschirr, das bereitstand, besichtigt das zurechtgemachte Triclinium und billigt es. D a tritt ein kleiner Sklave zu ihm hin; er sagt dem Mann laut und deutlich, der Hausherr werde gleich kommen, er möge hinausgehen. ,Ja?' sagt er, ,gehen wir also, Freunde; mein Bruder kommt von seinem falernischen Landgut; ich will ihm entgegengehen; kommt ihr zur zehnte Stunde 297 wieder hierher.' Die Freunde gehen weg. Dieser da stürzt hastig nach Hause; jene kommen zur zehnten Stunde wieder an den Ort, wohin er sie geheißen hatte. Sie fragen nach diesem, finden heraus, wem das Haus gehört, und begeben sich unter Spott in ein Gasthaus.

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Vident hominem postridie, narrant, expostulate, accusant. A i t iste eos similitudine loci deceptos angiporto toto deerrasse; contra valetudinem suam ad noctem multam expectasse. Sannioni puero negotium dederat, ut vasa, vestimenta, pueros corrogaret. Servolus non inurbanus satis strenue et concinne conpararat. Iste hospites domum deducit; ait se aedes maximas cuidam amico ad nuptias commodasse. Nuntiat puer argentum repeti: pertimuerat enim, qui commodarat. ,Apage te', inquit, ,aedes commodavi, familiam dedi; argentum quoque vult? Tametsi hospites habeo, tamen utatur licet, nos Samiis delectabimur.' Q u i d ego, quae deinde efficiat, narrem? Eiusmodi est hominis natura, ut, quae singulis diebus efficiat gloria atque ostentatione, ea vix annuo sermone enarrare possim."

Huiusmodi notationes, quae describunt, quid consentaneum sit unius cuiusque naturae, vehementer habent magnam delectationem; totani enim naturam cuiuspiam ponunt ante oculos aut gloriosi, ut nos exempli causa coeperamus, aut invidi, aut tumidi, aut avari, ambitiosi, amatoris, luxuriosi, furis, quadruplatoris; denique cuiusvis Studium protraili potest in medium tali notatione.

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Sermocinatio est, cum alicui personae sermo adtribuitur et is exponitur cum ratione dignitatis, hoc pacto:

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A m nächsten Tag sehen sie diesen Menschen; sie berichten, beschweren sich, klagen ihn an. Der da sagt, sie hätten sich wegen der Ähnlichkeit des Ortes getäuscht und um ein ganzes Nebengäßchen geirrt; 2 ' 8 er habe zum Schaden für seine Gesundheit bis spät in die Nacht auf sie gewartet. Seinem Burschen Sannio hatte er den Auftrag erteilt, Geschirr, Decken und Sklaven zusammenzuborgen; der nicht ungeschickte kleine Bursche hatte das alles recht tüchtig und zusammenpassend zusammengebracht. Dieser da führt die Freunde in sein Haus; er sagt, er habe sein größtes Haus einem Freund für eine Hochzeitsfeier überlassen. D a meldet sein Bursche, das Silbergeschirr werde zurückgefordert; der es verliehen, hatte es nämlich mit der Angst bekommen. ,Scher dich fort', sagt unser Mann, ,das Haus habe ich ihm anvertraut, mein Gesinde ihm gegeben; will er auch noch das Silbergeschirr? 2 " Auch wenn ich Gäste habe, mag er es trotzdem haben; wir werden mit Tongeschirr aus Samos 3 0 0 unsere Freude haben.' Was soll ich noch erzählen, was er danach noch fertigbringt? Von solcher Art ist das Wesen des Mannes, daß ich das, was er an einem Tag an Ruhmsucht und Prahlerei fertigbringt, kaum in einem ein ganzes Jahr dauernden Gespräch erzählen könnte." Derartige Charakterisierungen, welche beschreiben, was mit dem Wesen eines einzelnen Menschen im Einklang steht, haben etwas ungeheuer Ergötzliches an sich, sie stellen nämlich das ganze Wesen von jemandem vor Augen, entweder das eines Ruhmsüchtigen, wie ich ihn als Beispiel zu charakterisieren begann, oder eines neidischen, aufgeblähten oder habsüchtigen Menschen, eines ehrgeizigen Strebers, eines Buhlers, eines Verschwenders, eines Diebes, eines Wucherers; schließlich kann man die Vorliebe eines jeden durch eine solche Charakterisierung in den Mittelpunkt ziehen. Eine Einführung eines Redenden 3 0 1 liegt vor, wenn irgendeiner Person eine Rede in den Mund gelegt und diese unter Berücksichtigung des Ranges und Charakters dieser Person vorgetragen wird, z. B. auf folgende Art:

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„Cum militibus urbs redundaret et omnes timore obpressi domi continerentur, venit iste cum sago, gladio succinctus, tenens iaculum; quinque adulescentes hominem simili ornatu subsecuntur. Inrupit in aedes subito, deinde magna voce: ,Ubi est iste beatus', inquit, ,aedium dominus? quin mihi praesto fuit? Quid tacetis?' Hic alii omnes stupidi timore obmutuerunt. Uxor illius infelicissimi cum maximo fletu ad istius pedes abiecit sese. ,Per te', inquit ,et per ea, quae tibi dulcissima sunt in vita, miserere nostri; noli extinguere extinctos; fer mansuete fortunam; nos quoque beati; nosce te esse hominem.' At ille: ,Quin illum mihi datis ac vos auribus meis obplorare desinitis? Non abibit.'

Uli nuntiatur interea venisse istum et clamore maximo mortem minari. Quod simul ut audivit: ,Heus', inquit Gorgiae pedisequo puerorum, ,absconde pueros, defende, fac, ut incolumis sit adulescentia!' Vix haec dixerat, cum ecce iste praesto ,sedes', inquit, ,audax? Non vox mea tibi vitam ademit? Expíe meas inimicitias et iracundiam satura tuo sanguine.' Ille cum magno spiritu: ¡Verbera!' inquit, ne plane victus esset. ,Nunc video: iudicio mecum contendere non vis, ubi superari turpissimum et superare pulcherrimum est; interficere vis me. Occidar equidem, sed victus non peribo.' ,At in extremo vitae tempore etiam sententiose loqueris! Neque ei, quem vides dominari, vis supplicare!' Tum mulier: ,Immo iste quidem rogat et supplicai; sed tu, quaeso, commovere; et tu per deos', inquit, ,hunc examplexare. Dominus

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„Als die Stadt von Soldaten überquoll und sich alle von Furcht niedergeschlagen in ihren Häusern aufhielten, kam dieser da in einem Soldatenmantel 302 daher, das Schwert an der Seite, einen Wurfspieß in den Händen; fünf junge Menschen folgen dem Menschen in ähnlicher Rüstung. Plötzlich stürmt er in ein Haus und schreit dann mit lauter Stimme: ,Wo ist dieser wohlhabende Hausherr? Warum machte er mir nicht seine Aufwartung? Was schweigt ihr?' Da verstummten alle anderen verblüfft vor Furcht. Die Gattin jenes Unglücklichsten warf sich unter bitterlichstem Weinen diesem da vor die Füße. ,Bei dir selbst', sagte sie, ,und bei dem, was für dich das Süßeste im Leben ist, habe Erbarmen mit uns, vertilge nicht die schon Vertilgten,303 trage dein Glück gelassen; auch wir waren einmal glücklich; erkenne, daß du nur ein Mensch bist!' 304 Aber jener erwidert: ,Warum liefert ihr ihn mir nicht aus und hört nicht auf, mir die Ohren vollzujammern? Er wird nicht entkommen.' Inzwischen wird jenem Hausherrn gemeldet, dieser da sei gekommen und bedrohe ihn unter lautestem Geschrei mit dem Tode. Sobald er dies gehört, sagte er zu Gorgias, dem Diener305 seiner Kinder: ,Heda, verstecke die Kinder, verteidige sie und sieh zu, daß die Jugend unversehrt ist!' Kaum hatte er dies gesprochen, als dieser da auch schon bei ihm war und rief: ,Du sitzt noch da, du Verwegener? Hat dir nicht meine Stimme das Leben genommen? Befriedige meine Feindschaft und sättige meinen Zorn mit deinem Blute.' Jener erwiderte mit einem tiefen Seufzer, um nicht völlig besiegt zu sein:,Schlag zu! Nun sehe ich: Du willst nicht vor Gericht mit mir streiten, wo besiegt zu werden die größte Schande und zu siegen das Schönste ist; du willst mich einfach töten. Ich werde freilich fallen, aber nicht als Besiegter zugrunde gehen.' ,Noch im letzten Stündlein deines Lebens sprichst du in Sinnsprüchen! Willst du den, welchen du als den Herrscher siehst, nicht flehentlich bitten?' Da sagt die Frau: ,Nein, er bittet und fleht natürlich; doch du laß dich, bitte, erweichen; und du, bei den Göttern, umschlinge die Knie dieses Mannes! Er ist der Herr; er hat dich besiegt; besiege

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est; vicit hie te, vince tu nunc animum!' ,Quin desinis', inquit, ,uxor, loqui, quae me digna non sint? Tace et quae curanda sunt, cura! Tu cessas mihi vitam, tibi omnem bene vivendi spem mea morte eripere?' Iste mulierem reppulit ab se lamentantem; illi nescio quid incipienti dicere, quod dignum videlicet illius virtute esset, gladium in latere defixit." Puto in hoc exemplo datos esse uni cuique sermones ad dignitatem adcommodatos; id quod oportet in hoc genere conservare. Sunt item sermocinationes consequentes hoc genus: „Nam quid putamus illos dicturos, si hoc iudicaveritis? Nonne omnes hac utentur oratione?" - deinde subicere sermonem. Conformano est, cum aliqua, quae non adest, persona confingitur, quasi adsit, aut cum res muta aut informis fit eloquens et forma ei et oratio adtribuitur ad dignitatem adcommodata aut actio quaedam, hoc pacto: „Quodsi nunc haec urbs invictissima vocem mittat, non hoc pacto loquatur: ,Ego ilia plurimis tropeis ornata, triumphis ditata certissimis, clarissimis locupletata victoriis, nunc vestris seditionibus, o cives, vexor; quam dolis malitiosa Kartago, viribus probata Numantia, disciplinis erudita Corinthus labefactare non potuit, earn patimini nunc ab homunculis deterrumis proteri atque conculca« ?' "

Item: „Quodsi nunc Lucius ille Brutus reviviscat et hie ante pedes vestros adsit, non hac utatur

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nun du dich selbst!' ,Warum hörst du nicht auf, Frau', sagt er, ,Worte auszusprechen, die meiner nicht würdig sind? Schweig' und kümmere dich um das, was deine Aufgabe ist! 306 Und du zögerst, mir das Leben, dir aber jede Hoffnung auf ein gutes Leben durch meinen Tod zu entreißen?' Dieser da stieß die jammernde Frau von sich; jenem aber bohrte er, als er gerade etwas sagen wollte, was freilich seiner Mannhaftigkeit würdig gewesen wäre, das Schwert in die Seite." 307 Ich glaube, in dem vorliegenden Beispiel sind jeder einzelnen Person Worte in den Mund gelegt, die zu ihrem Rang und Charakter passen; darauf muß man bei dieser Art achten. Ebenso gibt es Überleitungen zu den Einführungen eines Redenden, z. B. von folgender Art: „Denn was werden jene wohl sagen, wenn ihr dieses Urteil fällt? Werden sie nicht alle die folgenden Worte verwenden?" - dann fängt man eine wörtliche Rede an. Eine Verkörperung 308 liegt vor, wenn eine nicht anwesende Person vorgespielt wird, als sei sie anwesend, oder wenn eine stumme oder gestaltlose Sache die Redegabe erhält, und ihr eine Rede, die zu ihrem Rang und Charakter paßt, oder irgendeine Handlung zugeschrieben wird, z. B. auf folgende Art: „Wenn nun diese gänzlich unbesiegte Stadt ein Wort von sich geben könnte, spräche sie nicht auf folgende Art: ,Ich, die ich mit sehr vielen Siegeszeichen geschmückt, reich an den sichersten Triumphen, bereichert mit den herrlichsten Siegen bin, werde, nun durch eure Zwistigkeit gequält, Bürger; ich, welche das arglistige und boshafte Karthago, das krafterprobte Numantia und das in den Wissenschaften unterrichtete Korinth nicht zum Wanken bringen konnte, soll nun mit eurer Duldung von den schlechtesten und erbärmlichsten Menschen 30 ' zertreten und zerstampft werden?'" Ebenso: „Wenn nun in diesem Augenblick der berühmte Lucius Brutus 310 wieder lebendig würde und euch hier vor

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oratione: ,Ego reges eieci, vos tyrannos introducitis; ego libertatem, quae non erat, peperi, vos partam servare non vultis; ego capitis mei periculo patriam liberavi, vos liberi sine periculo esse non curatis'?" Haec conformatio licet in plures res, in mutas atque inanimas transferatur. Proficit plurimum in amplificationis partibus et conmiseratione. Significatio est res, quae plus in suspicione relinquit, quam positum est in oratione. Ea fit per exsuperationem, ambiguum, consequentiam, abscisionem, similitudinem.

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Per exsuperationem, cum plus est dictum, quam patitur Veritas, augendae suspicionis causa, sic: „ H i c de tanto patrimonio tam cito testam, qui sibi petat ignem, non reliquit." Per ambiguum, cum verbum potest in duas pluresve sententias accipi, sed accipitur tamen in eam partem, quam vult is, qui dixit; ut de eo si dicas, qui multas hereditates adierit: „Prospice tu, qui plurimum cernis." Ambigua quemadmodum vitanda sunt, quae obscuram reddunt orationem, item haec consequenda, quae conficiunt huiusmodi significationem. Ea reperientur facile, si noverimus et animum adverterimus verborum ancipites aut multiplices potestates. Per consequentiam significatio fit, cum res, quae sequantur aliquam rem, dicuntur, ex quibus tota res relinquitur in suspicione; ut si salsamentari filio dicas: „Quiesce tu, cuius pater cubito se emungere solebat."

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die Füße träte, würde er dann nicht folgende Worte sprechen: ,Ich habe die Könige hinausgejagt; ihr führt Tyrannen herein. Ich habe die Freiheit, die es noch nicht gab, errungen; ihr wollt die erworbene nicht bewahren. Ich habe unter Lebensgefahr das Vaterland befreit; ihr sorgt nicht dafür, daß ihr ohne Gefahr frei s e i d ' ? " ' " Diese Verkörperung kann man auf noch mehr Dinge, stumme und leblose, übertragen. Sie bringt am meisten Vorteil in den Teilen, die der Steigerung und der Mitleidserregung dienen. 312 Die nachdrucksvolle Andeutung 3 ' 3 ist eine Äußerung, die mehr vermuten läßt, als in der Rede dargelegt ist. Sie wird bewerkstelligt durch eine Übertreibung, durch eine Zweideutigkeit, durch eine Folge, durch ein Abbrechen, durch ein Gleichnis. Durch eine Übertreibung, 3 ' 4 wenn man mehr sagt, als die Wahrheit duldet, um einen Verdacht zu vergrößern, z. B. so: „Dieser hat von dem so bedeutenden Erbe in so kurzer Zeit nicht einmal ein Gefäß behalten, um sich Feuer zu holen." 3 '' Durch eine Zweideutigkeit, wenn man ein Wort in zweifachem oder mehrfachem Sinn auffassen kann, aber dennoch nur in der Richtung auffaßt, die der Redner wünscht; wenn man z. B. von einem, der viele Erbschaften angetreten hat, sagt: „Sieh du dich vor, der du sehr viel bemerkst." 3 ' 6 Wie man Zweideutigkeiten meiden soll, die einen Ausspruch verdunkeln, so soll man ebenso die anstreben, welche eine derartige nachdrucksvolle Andeutung bewirken. Diese findet man leicht, wenn man die doppelten und mehrfachen Bedeutungen von Wörtern kennt und beachtet. Durch die Folge entsteht eine nachdrucksvolle Andeutung, wenn man Tatsachen nennt, die sich aus irgendeiner Tatsache ergeben, wodurch der ganze Sachverhalt verdächtig bleibt; z. B. wenn man zu dem Sohn eines Salzfischhändlers sagt: „ D u gib Ruhe, dessen Vater sich in den Ellenbogen zu schneuzen pflegte." 3 ' 7

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Per abscisionem, si, cum incipimus aliquid dicere, deinde praecidimus et ex eo, quod iam diximus, satis relinquitur suspicionis, sic: „Qui ista forma et aetate nuper alienae d o m i . . . nolo plura dicere." Per similitudinem, cum aliqua re simili aliata nihil amplius dicimus, sed ex ea significamus, quid sentiamus, hoc modo: „Noli, Saturnine, nimium populi frequentia fretus esse; inulti iacent Gracci." Haec exornatio plurimum festivitatis habet interdum et dignitatis; sinit enim quiddam tacito oratore ipsum auditorem suspicari. Brevitas est res ipsis tantummodo verbis necessariis expedita, hoc modo: „Lemnum praeteriens cepit, inde Thasi praesidium reliquit, post urbem Bithynam Cium sustulit, inde reversus in Hellespontum statim potitur Abydi." Item: „Modo consul quotannis, is deinde primus erat civitatis; tum proficiscitur in Asiam, deinde hostis est dictus, post imperator septimo factus est consul." Habet paucis conprehensa brevitas multarum rerum expeditionem. Quare adhibenda saepe est, cum aut res non egent longae orationis aut tempus non sinet commorari. Demonstratio est, cum ita verbis res exprimitur, ut geri negotium et res ante oculos esse videatur. Id fieri poterit, si, quae ante et post et in ipsa re facta erunt, conprehendemus, aut a rebus consequentibus aut circum instantibus non recedemus, hoc modo:

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Durch Abbrechen, 3 ' 8 wenn wir etwas zu sagen beginnen, dann aber unterbrechen und von dem, was wir schon gesagt haben, genug Verdacht bestehen bleibt, z. B. so: „Wer so schön und so jung ist und vor kurzem in einem fremden H a u s . . . mehr will ich nicht sagen." Durch einen Vergleich, 3 ' 9 wenn wir irgendeinen ähnlichen Sachverhalt angeführt haben, aber nichts weiter sagen, sondern nur durch diesen Sachverhalt andeuten, was wir meinen, z. B. auf folgende Weise: „Saturninus, 320 vertraue nicht zu sehr auf die zahlreiche Anhängerschaft im Volke; ungerächt liegen die Gracchen tot da.« Diese Ausschmückung bringt manchmal sehr viel Anmut und Würde mit sich; sie läßt nämlich den Zuhörer selbst etwas vermuten, ohne daß der Redner es ausspricht. Die Kürze 32 ' ist eine Äußerung, die nur mit den unbedingt notwendigen Worten gemacht wird, z. B. auf folgende Weise: „Lemnos eroberte er im Vorbeifahren, dann ließ er in Thasos eine Besatzung zurück, dann beseitigte er die bithynische Stadt Kios, dann kehrte er auf den Hellespont zurück und nahm sofort Abydos ein." 322 Ebenso: „Eben war er noch für ein Jahr Konsul; dann der Erste in der Bürgerschaft; dann bricht er nach Asien auf; hierauf wurde er zum Staatsfeind erklärt; später wurde er Oberbefehlshaber und zum siebten Mal Konsul." 323 Die Kürze, die sich auf wenige Worte beschränkt, ermöglicht die Entwicklung der Sachverhalte. Deshalb soll man sie oft anwenden, wenn die Verhältnisse keine lange Ausführung erfordern oder die Zeit nicht zu verweilen erlaubt. Eine anschauliche Schilderung 324 liegt vor, wenn ein Sachverhalt so mit Worten zum Ausdruck gebracht wird, daß der Eindruck entsteht, die Tat werde wirklich ausgeführt und die Sache spiele sich vor unseren Augen ab. Das kann man erreichen, wenn man das, was vor, nach und während des Ereignisses noch geschieht, zusammenfaßt oder die Folgen oder Begleitumstände nicht übergeht, z. B. auf folgende Weise: 325

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„Quod simul atque Graccus prospexit fluctuare populum verentem, ne ipse auctoritate senatus commotus sententia desisteret, iubet advocari contionem. Iste interea scelere et malis cogitationibus redundans evolat e tempio Iovis; sudans, oculis ardentibus, erecto capillo, contorta toga, cum pluribus aliis ire celerius coepit. Illi praeco faciebat audientiam; hie subsellium quoddam excors calce premens, dextera pedem defringit et hoc alios iubet idem facere. Cum Graccus deos inciperet precari, cursim isti impetum faciunt et ex aliis alii partibus convolant atque e populo unus: ,Fuge, fuge', inquit, ,Tiberi! N o n vides? Respice, inquarti!' Deinde vaga multitudo, subito timore perterrita, fugere coepit. At iste, spumans ex ore scelus, anhelans ex infimo pectore crudelitatem, contorquet brachium et dubitanti Gracco, quid esset, neque tamen locum, in quo constiterat, relinquenti percutit tempus. Ille, nulla voce delibans insitam virtutem, concidit tacitus. Iste viri fortissimi miserando sanguine aspersus, quasi facinus praeclarissimum fecisset, circum inspectans et hilare sceleratam gratulantibus manum porrigens, in templum Iovis contulit sese."

Haec exornatio plurimum prodest in amplificanda et conmiseranda re huiusmodi enarrationibus. Statuit enim rem totam et prope ponit ante oculos. Omnes rationes honestandae studiose collegimus elocutionis: in quibus, Herenni, si te diligentius exercueris, et gravitatem et dignitatem et suavitatem habere in dicundo poteris, ut oratorie

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„Sobald Gracchus vorhersah, daß das Volk schwanke aus Furcht, er könne durch den Einfluß des Senates von seiner Meinung abweichen, ließ er eine Volksversammlung einberufen. Dieser da326 eilt inzwischen, erfüllt von verbrecherischen und schlimmen Gedanken, aus dem Tempel Jupiters; schweißgebadet, mit glühenden Augen und gesträubten Haaren, 327 die Toga um den Arm gewunden, geht er, begleitet von mehreren anderen, schneller. Jenem versuchte der Herold Gehör zu verschaffen; dieser in seiner Kopflosigkeit tritt mit der Ferse auf eine Sitzbank, bricht mit der Rechten einen Fuß ab und heißt die anderen dasselbe tun. Als Gracchus zu den Göttern zu beten begann, stürzen diese da im Sturmschritt auf ihn los, und von allen Seiten eilen noch welche herbei, aber einer aus dem Volke rief: ,Fliehe, fliehe doch, Tiberius! Siehst du nichts? Blicke dich um, sage ich!' Hierauf ergriff die unstete Menge, von plötzlicher Furcht erfaßt, die Flucht. Aber dieser da, aus dem Munde ein Verbrechen schäumend, aus tiefster Brust Grausamkeit schnaubend, schwingt seinen Arm und durchstößt Gracchus, der noch im unklaren darüber ist, was geschieht, aber dennoch den Platz, wo er stand, nicht verließ, die Schläfe. Jener, mit keinem Laut die ihm angeborene Tapferkeit schmälernd, bricht schweigend zusammen. Der da, von dem nach Mitleid schreienden Blut des größten Helden bespritzt, blickt umher, als ob er die herrlichste Tat begangen hätte, streckt heiter denen, die ihn beglückwünschen, seine verbrecherische Rechte entgegen und begibt sich wieder in den Tempel Jupiters." Diese Ausschmückung ist von größtem Nutzen, wenn man durch derartige Erzählungen einen Sachverhalt steigert und Mitleid erregt. Sie stellt nämlich das ganze Geschehen fest und stellt es nahe vor die Augen. Alle Möglichkeiten, dem Ausdruck Glanz zu verleihen, habe ich eifrig gesammelt; 328 wenn du dich darin, mein Herennius, mit einiger Gewissenhaftigkeit übst, kannst du Feierlichkeit, Würde und Gefälligkeit in deiner Redeweise besitzen, so daß du klar sprichst, damit die Gedanken, die du

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plane loquaris, ne nuda atque inornata inventio vulgari sermone efferatur. Nunc identidem nosmet ipsi nobis instemus - res enim communis agitur - , ut frequenter et adsidue consequamur artis rationem studio et exercitatione; quod alii tribus de causis cum molestia maxime faciunt: aut si quicum libenter exerceantur, non habent, aut si diffidunt sibi aut nesciunt, quam viam sequi debeant; quae a nobis absunt omnes difficultates. Nam et simul libenter exercemur propter amicitiam, cuius initium cognatio facit, cetera philosophiae ratio confirmabit; et nobis non diffidimus, propterea quod et aliquantulum processimus et alia sunt meliora, quae multo intentius petimus in vita, ut, etiamsi non pervenerimus in dicendo, quo volumus, parva pars vitae perfectissimae desideretur; et viam, quam sequamur, habemus, propterea quod in his libris nihil praeteritum est rhetoricae praeceptionis.

Demonstratum est enim, quomodo res in omnibus generibus causarum invenire oporteat; dictum est, quo pacto eas disponere conveniat; traditum est, qua ratione esset pronuntiandum; praeceptum est, qua via meminisse possemus; demonstratum est, quibus modis perfecta elocutio conpararetur. Quae si sequimur, acute et cito reperiemus, distincte et ordinate disponemus, graviter et venuste pronuntiabimus, firme et perpetue meminerimus, ornate et suaviter eloquemur. Ergo amplius in arte rhetorica nihil est. Haec omnia adipiscemur, si rationes praeceptionis diligentia consequemur exercitationis.

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auffindest, nicht nackt und ohne Schmuck in gewöhnlicher Umgangssprache vorgebracht werden. Nun wollen wir immer wieder selbst in uns dringen - es geht nämlich um eine gemeinsame Sache -> unablässig und beständig durch eifrige Übung die Lehre der Kunst uns zu eigen zu machen; 32 ' dies tun andere unter Beschwernissen vor allem aus drei Gründen: Entweder haben sie niemanden, mit dem sie gerne üben möchten, oder sie haben kein Zutrauen zu sich selbst oder sie wissen nicht, welchen Weg sie einschlagen müssen; alle diese Schwierigkeiten sind uns fern. Denn erstens üben wir gerne gemeinsam wegen unserer Freundschaft, welche ihren Anfang in unserer Verwandtschaft hatte 330 und welche darüber hinaus unsere Beschäftigung mit Philosophie 331 festigt; zweitens haben wir nicht zu wenig Zutrauen zu uns selbst, deswegen weil wir schon einige Fortschritte erzielt haben und es noch anderes Besseres gibt, nach dem wir mit noch viel größerer Anspannung in unserem Leben streben, so daß, auch wenn wir in der Redekunst nicht an das gewünschte Ziel gelangen, nur ein kleiner Teil zu einem in allen Teilen vollkommenen Leben noch zu wünschen bliebe; 332 drittens kennen wir den Weg, den wir einschlagen wollen, deswegen weil in diesen Büchern nichts zu einer Anleitung zur Redekunst übergangen wurde. Es wurde nämlich dargelegt, wie man den Stoff in allen Redearten auffinden muß; es wurde gesagt, auf welche Art man den Stoff anordnen soll; es wurde überliefert, nach welcher Methode man den Vortrag zu gestalten hat; es wurde eine Anleitung gegeben, auf welchem Weg wir uns etwas einprägen können; es wurde dargelegt, auf welche Arten eine vollkommene stilistische Gestaltung erreicht wird. 333 Wenn wir uns daran halten, werden wir den Stoff scharfsinnig und schnell auffinden, deutlich und in gehöriger Ordnung anordnen, feierlich und reizvoll vortragen, fest und dauerhaft einprägen und voll Schmuck und angenehm sprechen. Also gibt es in der Redekunst nichts, was darüber hinausgeht. Dies alles erreichen wir, wenn wir die Lehren der Anleitung mit gewissenhafter Übung befolgen. 334

EINFÜHRUNG

Im ersten Buch von De oratore läßt Cicero den Lucius Licinius Crassus (140-91 v.Chr.), den bedeutendsten Redner seiner Zeit neben Marcus Antonius (143-87 v.Chr.), die einzigartige Bedeutung der Redekunst preisen. Am Schluß seiner Ausführungen wendet sich Crassus an seine jungen Zuhörer mit der Aufforderung: „Quam ob rem pergite, ut facitis, adulescentes, atque in id Studium, in quo estis, incumbite, ut et vobis honori et amicis utilitati et rei publicae emolumento esse possitis. - Setzt darum fort, ihr jungen Leute, was ihr tut, und konzentriert euch auf das Studium, in dem ihr steht, damit ihr etwas sein könnt, was euch Ehre, den Freunden Nutzen und dem Staat Vorteil bringt."' Als Cicero diese Worte dem L. Licinius Crassus in den Mund legte, mag er auch an seine eigene Jugend und Ausbildung zum Redner gedacht haben und daran, wie bestimmend der Einfluß des Crassus auf die Wahl seiner Lehrer und seines Lehrplans war, nachdem sein Vater mit ihm und seinem Bruder Quintus nach Rom übergesiedelt war, um seinen Söhnen die bestmögliche Ausbildung zu ermöglichen. Dabei spielte natürlich auch die Schulung durch einen Rhetor eine wichtige Rolle. „Von der Art der technischen Unterweisung" aber, „die der junge Cicero genossen hat, gibt das anonyme Lehrbuch, das dem Herennius gewidmet war, die anschaulichste Vorstellung. Es ist ja, wie der Verfasser am Anfang ausdrücklich hervorhebt, mit Rücksicht auf die römische Praxis angelegt."2 Diese Schrift ist neben Ciceros De inventione das älteste erhaltene Lehrbuch der Rhetorik in lateinischer Sprache3 und das älteste erhaltene lateinische Prosawerk des 1. Jahrhunderts v. Chr. Die erste lateinische Schrift zur Rhetorik überhaupt verfaßte M.Porcius Cato (234-149 v.Chr.). Aus

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seinem Buch De oratore ad Marcum filium sind aber nur Fragmente erhalten, so die berühmten Kernsätze: Rem tene, verba sequentur und Orator est, Marce fili, vir bonus dicendi peritus. Den ersten lateinischen rhetorischen Werken ging eine lange blühende und fruchtbare Tradition der Redekunst und Theorie der Rhetorik in Griechenland voraus.4

I. Die griechisch-römische Rhetorik bis zur Rhetorica ad Herennium Als die eigentlichen Gründer der Rhetorik als einer lehrund erlernbaren Techrte gelten die Syrakusaner K O R A X UND TEISIAS (5.Jh. v.Chr.). Für die vielen vermögensrechtlichen Auseinandersetzungen vor Gericht, die nach dem Sturz der Tyrannis (467 v. Chr.) anstanden, entwickelten sie eine erfolgversprechende Rede- und Argumentationstechnik. Von Sizilien ins griechische Mutterland wurde die Rhetorik von dem Sophisten G O R G I A S VON L E O N T I N O I (ca. 480-ca. 380 v.Chr.) gebracht. 427 führte er eine Gesandtschaft seiner Heimatstadt in Athen an, die Hilfe gegen Syrakus erbat (Thuk. 3,86). Dann war er als Redner ständig auf Reisen; auch in Delphi und Olympia trat er auf. Dabei erwarb er sich ein ungeheures Vermögen. Gorgias war wohl der erste, der Wirkungsmöglichkeit und Wirkungsweise des gesprochenen Wortes durchdachte. Er gewann die Uberzeugung, daß jede Rede die vom Redner beabsichtigte Wirkung erzielen könne, wenn sie nur die Affekte der Zuhörer anspreche. Diesem Ziel diente in erster Linie die stilistische Gestaltung. So wurde Gorgias zum Schöpfer einer Kunstprosa und rhetorischen Stilistik, zum Begründer der Figurenlehre; die sog. gorgianischen Figuren (rogyieia ayrniaxa) waren ganz auf die Empfänglichkeit der griechischen Zuhörer für Klangwirkungen ausgerichtet, wurden aber von seinen Nachfolgern eher gemieden als nachgeahmt, um nicht

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323

durch allzu häufige Anwendung Überdruß bei den Zuhörern zu bewirken. Auf

PROTAGORAS VON ABDERA

(ca.485-415

v.Chr.)

wird das Axiom zurückgeführt: „TÖV fiTtco Äöyov xgeittü) jtoieiv - die schwächere Sache zur stärkeren machen"; es war auch für die übrigen SOPHISTEN oberstes Ziel jeder Rede, wurde aber schon zu seinen Lebzeiten ob seines moralischen Relativismus heftig diskutiert und kritisiert. Wie Gorgias führte auch Protagoras das Leben eines umherreisenden Lehrers der Redekunst. Sein berühmter subjektivistisch-relativistischer homo mensura-Saxz zieht die Summe aus der ganzen sophistischen Aufklärung des 5.Jahrhunderts. Die weitaus berühmteste Rhetorikschule in Athen gründete der Gorgias-Schüler ISOKRATES (436-338 v.Chr.). Zunächst war er als Logograph tätig. Etwa von 390 v. Chr. an leitete er dann seine eigene Schule. Für seine Lehre beanspruchte er den Namen iplAoaocpia, worunter er allerdings anders als Piaton und Aristoteles etwas sehr Praktisches verstand. Mit seinem am sog. gesunden Menschenverstand ausgerichteten Erziehungsprogramm wollte er seine Schüler befähigen, erfolgreich zu handeln und das Leben zu meistern. Damit vertrat Isokrates aber nicht den ethischen Relativismus der Sophisten, Nutzen und sittlicher Wert waren für ihn identisch; wer nach wahrem Nutzen strebt, verwirklicht zugleich auch das Gute. Sein Bildungsprogramm ist in seiner programmatischen Schrift „Korea TCÖV aocpiarajv Gegen die Sophisten" aus den achtziger Jahren niedergelegt. Einerseits wendet sich Isokrates gegen die „eristischen streitbaren" Philosophen (die Schüler des Sokrates, besonders Piaton), denen er einen ethischen Rigorismus vorwirft, der für die Auseinandersetzung mit der „schlechten Welt" untauglich sei; andererseits grenzt er seine Ziele gegen eine auf das Formale beschränkte rhetorische Unterweisung für angehende Politiker und Prozeßredner ab. Isokrates wollte sich verstanden wissen „als Mann der Mitte, des common sense, der weder allzu hohen ethischen Maßstäben noch dem

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entgegengesetzten Extrem, dem baren Utilitarismus, die Hand bietet und den die eigenen Erfolge nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Lehrbarkeit enge Grenzen gesetzt sind."' Mit P L A T O N (427-347 v. Chr.) stand Isokrates von der genannten (nur veröffentlichten, nicht gehaltenen) Rede „Gegen die Sophisten" an in lebenslanger Auseinandersetzung. Vor allem aber wandte sich Platon wie sein Lehrer Sokrates gegen die Sophisten. Für diese war die Rhetorik „gewissermaßen das Krisenmanagement, ihr Rezept für ein möglichst vergnügliches Uberleben."6 Sie hielten nämlich die geistige Krise, die durch den Verlust der Tradition entstanden war, für einen unabänderlichen Dauerzustand; daraus entstand ihr Skeptizismus und Relativismus. Philosophen wie Platon dagegen wollten anstelle der verlorenen Tradition ein neues Wertsystem schaffen, an dem sich der Einzelne und die Gemeinschaft orientieren konnten. Besonders in dem Dialog „Gorgias" wandte sich Platon gegen den Mißbrauch der Rhetorik durch die Sophisten. Die Rhetorik - so lehrte er - sei keine wirkliche, auf Prinzipien beruhende Wissenschaft, sie vermittle nur Routine. Im „Phaidros" argumentierte er etwas feiner und differenzierter. Er wandte sich nicht gegen die Rhetorik als solche, sondern nur gegen ihre gegenwärtige, von den Sophisten verfälschte Form. Im wesentlichen stellte er drei Forderungen an die Redner: Eine Rede müsse auf Wahrheit beruhen anstatt sich mit Wahrscheinlichkeit zu begnügen; der Redner müsse psychologische Kenntnisse besitzen; eine Rede müsse ein organisches Ganzes bilden. Wahres Wissen von den Dingen vermittle aber nur die Philosophie; die Rhetorik sei lediglich eine aus Erfahrung hervorgehende Fertigkeit. Das bedeutendste aller existierenden Lehrbücher über unseren Gegenstand verfaßte A R I S T O T E L E S (384-322 v. Chr.) mit seiner drei Bücher umfassenden „Rhetorik". Das Werk ist nach den wichtigsten eqja - officia eines Redners eingeteilt. Buch 1 und 2 behandeln die Auffindung der Hauptgesichtspunkte für die argumentatio (eugeoig - inventio),

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325

Buch 3 die sprachlich-stilistische Gestaltung - elocutio) und die Gliederung des Stoffes (TCti;is - dispositio). Buch i ist in sich dreigeteilt: In den ersten beiden Teilen behandelt Aristoteles die Affekte, die Emotionen, die der Redner beim Zuhörer weckt, und die typischen Verhaltensweisen, die „Charaktere". Der dritte Teil enthält die allgemeine Beweislehre: Es gibt „untechnische" und „technische" Beweise (ctTEXvoL und e v t e x v o i j u a r e i g ) . Die eigentliche Form eines „technischen", rhetorischen Beweises ist das ¿vihj|ir]|xa, die rhetorische Schlußfolgerung. Dazu spielen Ethos und Pathos der Darstellung eine wichtige Rolle; die Rhetorik baut also auf Ethik, Dialektik und Psychologie auf. Wie Piaton faßte auch Aristoteles die Rhetorik nicht als Wissenschaft auf, sondern als ein auf Wirkung bedachtes Vorgehen, als eine formale Disziplin, der man aber ihre moralische Indifferenz nicht, wie es Piaton tat, zum Vorwurf machen dürfe. 338 V. Chr. besiegte Philipp von Makedonien bei Chaironeia die Athener und Thebaner. Griechenland verlor endgültig seine Freiheit, und die politische Beredsamkeit in Griechenland erlosch für immer. So wurde auch die nacharistotelische Theorie der Beredsamkeit weithin unpolitisch. Dagegen rückte die Beschäftigung mit der Stilistik und der Gerichtsrede mehr in den Mittelpunkt. Stilistische Probleme wurden vor allem in der peripatetischen Schule erörtert. So betrieb vor allem Theophrast (371-ca. 287 v.Chr.), angeregt durch seinen Lehrer Aristoteles, intensive stilistische Studien. Die Theorie des Aristoteles von den Stilqualitäten (dosrai tfjg AE^ecoq - virtutes dicendi) entwickelte er weiter zu den vier Forderungen nach Sprachrichtigkeit ('E/.Är|Vio(X05 - Latinitas), Deutlichkeit (a«(pf|vei« - perspicuitas), Angemessenheit ( j i q e j i o v - aptum) und Redeschmuck (xöoH05 - ornatus). Auch zu der Lehre von den drei Stilarten (xaQaxxfjoEg Xe|e(05 - genera elocutionis) wurde er wohl von Aristoteles angeregt. Eine Monographie Theophrasts „Uber den Stil" ist verloren. Der dritte große Systematiker nach Aristoteles und Theo-

326

EINFÜHRUNG

phrast war H E R M A G O R A S VON TEMNOS (2. Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr.). Von seinem nach dem Urteil Ciceros (Brut. 2,63) und Tacitus (dial. 19,3) ungewöhnlich langweiligen Werk teyvai ^T|xooixai ist nichts erhalten. Wegen seiner übersichtlichen Anlage wurde es aber zur Grundlage des Rhetorikunterrichts in Rom; sein Einfluß auf die römische Rhetorik war sehr groß. Vieles von ihm ging in die ersten lateinischen Kompendien der Rhetorik, die Rhetorica ad Herennium und Ciceros De inventione ein. Hermagoras war der Begründer der Stasis-Lehre.7 Nach ROM gelangte die Rhetorik im 2.Jahrhundert v. Chr. zusammen mit der übrigen griechischen Bildung. In dem langen Zeitraum nach Aristoteles und Theophrast waren sich Philosophie und Rhetorik nähergekommen. Nicht nur von der Schule des Aristoteles, sondern auch von den Akademikern und besonders den Stoikern wurde rhetorisches Rüstzeug vermittelt. Indem die Stoiker das Wahrheitsmoment wieder mehr betonten, verliehen sie der Rhetorik einen stärkeren ethischen Akzent. Zuerst wurde die Rhetorik in Rom natürlich von griechischen Redelehrern und Philosophen vermittelt; es gab aber noch keine öffentlichen Rhetorenschulen, sondern nur Hausunterricht in den gehobenen Kreisen. Wie die übrige Bildung auch, stieß die Rhetorik zunächst auf entschiedenen Widerstand der konservativen Kreise. So kennen wir einen Senatsbeschluß aus dem Jahre 161 v.Chr., durch den der Prätor M.Pomponius aufgefordert wird, Philosophen und Rhetoren aus Rom zu verweisen.8 Die Ausweisung der sog. Philosophengesandtschaft 15 5 v. Chr. richtete sich auch gegen Rhetoren. Durch die von den Gracchen ausgelösten innenpolitischen Auseinandersetzungen wurde die Nachfrage nach rhetorischem Unterricht aber immer größer. So begründete bald nach Beginn des 1.Jahrhunderts v.Chr. der Freigelassene L.PLOTIUS G A L L U S (vor 120-nach 56 v.Chr.), einer der ersten professionellen rhetores Latini, in Rom eine Rhetorenschule, in der ausschließlich in lateinischer Sprache unterrichtet wurde.9 Diese Neuerungen - Latein statt Griechisch und

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327

kommerzieller (sicher billigerer) Schulbetrieb statt des (teuren) Privatunterrichtes für die Söhne der Oberschicht erschienen konservativen Kreisen verdächtig und gefährlich. So erließen die Censoren des Jahres 92 v. Chr., L. Licinius Crassus und Cn. Domitius Ahenobarbus, das berühmte Edikt gegen die rhetores Latini.10 Es war in erster Linie gegen Plotius gerichtet. Dieser wollte „auf direktem Weg, d. h. in einer an der Praxis orientierten Ausbildung, in möglichst kurzer Zeit . . . den Schülern eine Beherrschung der Technik der Beredsamkeit... vermitteln." 11 Er machte lateinische Redeübungen heimisch und stellte neben die Beispiele aus Mythos und griechischer Geschichte auch Beispiele aus dem römischen Bereich.12 Er verzichtete ganz auf philosophische Bildung und vermittelte „eine auf Äußerlichkeiten besonders erpichte rhetorische Theorie".' 3 Statt des herkömmlichen mehrjährigen tirocinium fori bot er „eine Art von Schnellkurs" an.'4 Daraus erklärt sich die große Abneigung, die Männer wie Crassus gegen Plotius und die rhetores Latini insgesamt empfanden. In dem berühmten Exkurs zur Einheit von Rhetorik und Philosophie im dritten Buch von De oratore (3, 52-143) begründet Crassus, warum er das Edikt erlassen hat: „...ingenia (sc. adulescentium) obtundi nolui, conroborari impudentiam". Die Schule der rhetores Latini sei ein impudentiae ludus (3,93 f.). 1 ' Wie erfolgreich das Edikt des Jahres 92 war, wissen wir nicht genau. Jedenfalls scheint das Vorbild des Plotius sich erst nach 40 Jahren wirklich durchgesetzt zu haben. Kurz nach dem Edikt des Jahres 92 v. Chr. verfaßte der Redner M. A N T O N I U S , den Cicero neben L. Licinius Crassus als den bedeutendsten Redner der marianisch-sullanischen Epoche bezeichnet,16 ein sehr kurzes Werk De ratione dicendi, einen libellus sane exilis.'7 Zwischen den Jahren 90 und 80 v. Chr. erschienen noch andere mehr allgemein gehaltene Handbücher über die Rhetorik. Und im Jahre 86 v. Chr. begann der Autor der Rhetorica ad Herennium mit der Arbeit an seinem Werk.18

3i8

EINFÜHRUNG

II. Die Rhetorica ad Herennium: Autor, Adressat, Titel des Werkes Wer dieser Autor war, wissen wir nicht. Jahrhundertelang war auch das Werk unbekannt. Erstmals erwähnt wird es von Hieronymus (348-430 n. Chr.); er bezeichnet die Schrift als ein Werk Ciceros. In der Apologia adversus Rufini libros (402 n. Chr.) gibt er den Rat: „Lege ad Herennium Tullii libros, lege rhetoricas eius."'9 In den Handschriften wurde die Rhetorica ad Herennium im Anschluß an Ciceros De inventione gesetzt und deshalb im 12. Jahrhundert Rhetorica Secunda, später Rhetorica Nova genannt.20 Bis zum 1 j.Jahrhundert galt die Autorschaft Ciceros als unbestritten. Erst 1491 hat Raphael Regius entschieden bestritten, daß Cicero der Autor der Rhetorica ad Herennium sein könne.21 Dieser Meinung haben sich nahezu alle späteren Herausgeber angeschlossen (vgl. Literaturauswahl 1). Nach dem heutigen Stand der Forschung ist es unbestritten, daß die Rhetorica ad Herennium nicht von Cicero geschrieben wurde. Die Frage, wer der Autor gewesen sei, kann nicht beantwortet werden. 1553 stellte Petrus Victorinus die These auf, der Verfasser der Rhetorica ad Herennium sei ein gewisser Cornificius gewesen.22 Es handelt sich dabei vielleicht um den Volkstribunen des Jahres 69 v. Chr. Q. Cornificius. Diese These aufgenommen und verteidigt haben in neuerer Zeit besonders W. Kroll und G. Calboli. 2 ' Gegen die These wandten sich vor allem F. Marx, J. Brzoska, C. Koehler, H. Caplan und G. Achard.24 Die Befürworter der Autorschaft des Cornificius stützen sich in erster Linie auf die Tatsache, daß Quintilian wiederholt aus dem Werk eines Cornificius zitiert und diese Zitate dem Wortlaut der Rhetorica ad Herennium entsprechen.2' Es ist aber auffällig, daß alle Zitate sich nur auf die §§19-35 ur| d 47-67 von Buch IV der Rhetorica ad Herennium beziehen. Diese Beschränkung läßt sich damit erklären, daß von einem Cornificius nur ein Werk über die

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329

Figuren bekannt ist; in diesem Bereich mag er sich auf die Rhetorica ad Herennium gestützt haben. Cicero und Cornificius scheiden als Verfasser also aus. Den Namen des Autors kennen wir, wie gesagt, nicht. Aus bestimmten Hinweisen und Tendenzen läßt sich lediglich ein sehr allgemeines und unbestimmtes Bild von seiner Person gewinnen.26 Im letzten Kapitel der Schrift nennt er sich einen cognatus des Empfängers C. Herennius.27 Er war sicher älter als Herennius und dürfte zwischen 125 und 115 v. Chr. geboren sein. Am häufigsten erwähnt er den Volkstribun des Jahres 88 P. Sulpicius Rufus, dessen Familie er wohl sehr gut kannte.28 Wahrscheinlich von Hause aus Angehöriger des ordo equester, dann Senator, war er unter Marius politisch aktiv und stand um 90 v. Chr. auf der Seite des Sulpicius. Er hatte begonnen, die Ämterlaufbahn zu durchlaufen, war aber noch nicht bis zur Prätur gelangt. 84-83 übte er kein Amt aus; er widmete sich seinen negotia19, beschäftigte sich mit Philosophie und schrieb unser Handbuch. Auch beabsichtigte er, ein Werk über die memoria und eines zur Grammatik zu schreiben.30 Desgleichen kündigte er Werke über de re militari aut de administratione reip. an. 3 ' Sicher hatte er die in seinen Kreisen übliche Ausbildung erhalten. Er konnte Griechisch und besaß philosophische Kenntnisse. In der Rhetorik vertrat er die Linie der rhetores Latini, d.h. er vermittelte als einer der ersten die Lehren der Griechen in lateinischer Sprache. Sein Lehrer könnte L. Plotius Gallus gewesen sein.32 Ob man in der Rhetorica ad Herennium eine eindeutige politische Tendenz erkennen kann, ist in der Forschung umstritten. Sicher war der Autor, genauso wie der Adressat, ein Parteigänger des Marius, aber daraus ist nicht ohne weiteres abzuleiten, daß er in dem vorliegenden Handbuch politische Propaganda betrieb.33 Freilich könnte man aus vielen Beispielen aus der jüngsten römischen Geschichte, die er zur Veranschaulichung seiner Lehre anführt, schließen, er vertrete eine eindeutige populäre Linie. Aber wenn auch eine Reihe von Beispielen in ihrer Tendenz als antioptimatisch

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33°

erscheinen, so läßt sich in der Rbetorica ad Herennium keine zu einseitige politische Ausrichtung erkennen. Denn die Beispiele sind, wie J. von Ungern-Sternberg, 1973, nachweist, nicht zum Zwecke politischer Propaganda vom Autor selbst gestaltet, sondern wegen sprachlicher Gesichtspunkte aus tatsächlich in jüngster Zeit gehaltenen Reden ausgewählt.34 Vom Empfänger der Schrift ist uns außer dem Namen ebenfalls nichts bekannt.35 Er bat wohl als sehr junger Mann den wesentlich älteren cognatus um ein Handbuch der Rhetorik, da es seit dem Edikt von 92 v. Chr. keinen Unterricht der rhetores Latini mehr gab. Die gens Herennia stand ebenso wie der unbekannte Autor mit Marius in Verbindung. Vielleicht verschwanden Autor und Adressat während der Herrschaft Sullas. Das Werk blieb jedenfalls fast 500 Jahre unbekannt.'6 Auch den Originaltitel kennen wir nicht. In der Einleitung (1,1) schreibt der Autor: „.. .ut de ratione dicendi conscriberemus." So mag er seinem Werk den gleichen Titel gegeben haben wie M. Antonius. Heute nennen wir den Autor den Auetor ad Herennium und seine Schrift gewöhnlich die Rbetorica ad Herennium.

III.

Inhalt, Sprache und Stil, Aufl>au

Die Rbetorica ad Herennium ist ein Lehrbuch, „das einen ersten theoretischen Uberblick über das System des Faches geben soll",38 ein Kompendium, in dem das gesamte System der Rhetorik, wie es sich zu Beginn des 1. Jahrhunderts v. Chr. herausgebildet hatte, möglichst umfassend und vollständig zu Studienzwecken dargestellt werden sollte. Der Autor hatte nicht die Absicht und nicht den Ehrgeiz, einen Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion über die Entwicklung der Rhetorik in den vorausgehenden Jahrhunderten zu liefern oder das System weiterzuentwickeln und neue Aspekte aufzuzeigen. Seine Schrift stellt eine Synthese der

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33 1

verschiedenen rhetorischen Strömungen bis zu seiner Zeit dar; Namen früherer Theoretiker und Systematiker, etwa Gorgias, Aristoteles, Hermagoras, nennt er nirgends; gleichwohl sind verschiedene Strömungen der bisherigen rhetorischen Theorie in sein Werk eingeflossen, „die verschiedensten, unabhängig voneinander konzipierten Lehren" sind „unorganisch ineinandergeschachtelt". 39 Um den breit und divergierend sich verästelnden Stoff in ein klares, übersichtliches System zu fassen, wendet er vor allem drei methodische Hilfsmittel an: er teilt ein, er stellt parallelgeordnete Begriffe gegenüber und er definiert. 40 „Die Definition . . . findet sich so häufig, daß sie mit den Einteilungen zusammen das Gepräge des Werkes, die schulmeisterliche Trokkenheit und pedantische Starre der Darstellung, bestimmt." 4 1 Trockenheit, pedantische Starre u. ä.: Solche Charakterisierungen erscheinen recht abwertend, aber anders, als dargestellt, wäre es dem Verfasser, dem Fuhrmann am Ende seiner Analyse immerhin „frisches Temperament" bescheinigt (S. 58), wohl schwerlich gelungen, das ganze System der Rhetorik zu ordnen und darzustellen. Auch in der Terminologie konnte er nicht frei auswählen und variieren, sondern mußte die von seinem Lehrer gewählten lateinischen Begriffe für die bekannten griechischen Termini verwenden. 42 Das Kompendium besteht aus vier unterschiedlich langen Büchern: Buch I: 27 Buch II: 50 Buch III: 40 Buch I V : 69

Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel

(ca. 23 (ca.46 (ca. 34 (ca. 87

Teubner-Seiten) Teubner-Seiten) Teubner-Seiten) Teubner-Seiten).

Besonders Buch IV fällt in seinem Umfang stark aus dem Rahmen; es war daher in drei volumina aufgeteilt, weshalb in manchen Handschriften fälschlicherweise ein fünftes und sechstes Buch angenommen wurden (Buch V ab 4,19, Buch VI ab 4,47); daß aber Uber nicht unbedingt mit Volumen gleichzusetzen ist, zeigt auch Plinius der Jüngere, ep. III

33 2

EINFÜHRUNG

5,5, wo er über die Werke seines Onkels berichtet: „studiosi tres (sc. libri) in sex Volumina propter amplitudinem divisi."4> Das gesamte Werk ist gemäß den fünf officia oratoris teilt: 1. mventio 2. dispositio 3. pronuntiatio 4. memoria 5. elocutio

einge-

1,5-3,15 3,16—18 3,19-27 3,28-40 4,1-68.

Der Autor hält sich also ab 3,19 nicht an die - auch 1,3 genannte - natürliche Reihenfolge; die elocutio, die fast die Hälfte des Werkes umfaßt, setzt er absichtlich an den Schluß; 44 warum er aber auch memoria und pronuntiatio umstellt, scheint unbegründet. Neben dieser „Grobgliederung" sind auch andere Gesichtspunkte der Anordnung zu erkennen, und besonders am Anfang des Werkes ist zunächst nur schwer auszumachen, nach welchem Ordnungssystem der Autor vorgeht. Nach dem Prooemium (1,1) werden die genera causarum genannt (1,2), dann die Officio. Oratoris aufgezählt und die beiden Methoden gezeigt, die der rhetorische Unterricht anwendet (1,3). In 1,4 werden die sechs partes orationis vorgestellt, da im folgenden die inventio nach diesen Redeteilen gegliedert ist. Im Zusammenhang mit der inventio für das exordium kommt der Autor auf das genus honestum, turpe, dubium und humile zu sprechen (1,5); denn je nach dem genus causae muß der Redner eine andere Taktik im exordium verfolgen (i,6ff.). In den folgenden Kapiteln handelt der Autor die weiteren Teile der Gerichtsrede ab: narratio ( 1 , 1 2 - 1 6 ) , divisio (1,17), confirmatio und confutatio ( 1 , 1 8 - 2 , 4 6 ) , conclusio (2,47-2,50). Der Abschnitt über die confirmatio und confutatio ist deswegen so unverhältnismäßig umfangreich, weil hier eine ausführliche Statuslehre eingefügt ist. (Statt status wird nur der Begriff constitutio gebraucht.)

EINFÜHRUNG

333

Im ersten Teil von Buch III wird die inventio für das genus deliberativum (3,2-9) und das genus demonstrativum (3,10-15) behandelt, wobei jeweils zunächst verschiedene loci für die confirmatio-confutatio vorgestellt (3>3~7a; 3,10) und anschließend die übrigen Redeteile kurz behandelt werden ( 3 , 7 b - i o ; 3 , 1 1 - 1 5 ) , soweit noch etwas gesagt werden muß, was nicht schon zum genus iudiciale ausgeführt wurde. N a c h der kurzen Lehre von der dispositio (3,16-18) unterteilt der A u t o r die Ausführungen zur pronuntiatio (3,19-27) in die figura vocis (3,19—25) und den motus corporis (3,26-27). D i e figura vocis ist nochmals unterteilt in magnitudo vocis (3,20), firmitudo vocis (3,20-22) und mollitudo vocis (3,23-25). Zwischen die Lehre von der memoria (3,28-40) und der elocutio (4,11-68) ist zu Beginn des vierten Buches eine ausführliche Polemik zu der Frage eingeschoben, woher der Redner die exempla nehmen solle (4,1-10). Bei der elocutio behandelt der A u t o r zunächst die drei Stilarten ( 4 , 1 1 - 1 6 ) : die figura gravis ( 4 , 1 1 - 1 2 ) , die figura mediocris (4,13) und die figura adtenuata (4,14), sowie die jeder Stilart eigentümlichen vitia: das genus sufflatum, das genus dissolutum und das genus exile (aridum et exsangue) (4,15-16). Mit 4,17 beginnt die ausführliche Figurenlehre. Alle exornationes müssen den Grundprinzipien dienen, die der Autor in 4,17 erläutert: elegantia (Latinitas und explanatio), conpositio und dignitas. Vor allem der dignitas dienen die Wortfiguren - verborum exornationes (4,19-46) und Sinnfiguren sententiarum exornationes (4,47-68). Z u den verborum exornationes zählt der A u t o r auch die Tropen, die er 4,42-4,46 behandelt. Jedes Buch wird mit einem Prooemium bzw. einer kurzen Zusammenfassung und Uberleitung begonnen und beendet. Im ersten und letzten Kapitel (1,1 und 4,69) wendet sich der Autor besonders nachdrücklich an C . Herennius.

334

EINFÜHRUNG

Der Aufbau der Schrift im Überblick: 1.1 1.2

Prooemium tria genera causarum: demonstrativum, deliberativum, iudiciale i ,3 officia oratoris; die Ausbildung erfolgt durch ars, imitatio, exercitatio 1.4 partes orationis 1.5 quattuor genera causarum: honestum, turpe, dubium, humile 1,6-3,15 inventio 1,6-2,50 im genus iudiciale 1,6 - 1 , 1 1 exordium 1,12—1,16 narratio 1,17 divisio 1,18-2,46 confirmatio, confutatio; Statuslehre 1,18 constitutio coniecturalis 1 , 1 9 - 1 , 2 3 constitutio legitima 1 , 2 4 - 1 , 2 5 constitutio iuridicialis 1 . 2 6 - 1 , 2 7 allgemeine Lehren zu den Status 2,1 - 2 , 2 6 Beweistopik zu den Status 2.27-2,46 V partes argumentationis: propositio, ratio, rationis confirmatio, exornatio, conplexio 2,47-2,50 conclusio 3,2 - 3 , 9 im genus deliberativum 3.10—3,15 im genus demonstrativum 3,16-3,18 dispositio 3,19—3,27 pronuntiatio 3,19-3,25 figuravocis 3,26-3,27 motus corporis 3,28-3,40 memoria 4,1 —4,10 Prooemium: Keine fremden, sondern nur eigene exempla! 4,11-4,68 elocutio 4.11-4,14 genera figurarum 4 , 1 1 - 4 , 1 2 figura gravis 4'13 figura mediocris 4,14 figura adtenuata 4 , 1 5 - 4 , 1 6 vitia: figura gravis - genus sufflatum

335

EINFÜHRUNG

figura mediocris - genus dissolutum figura adtenuata - genus exile 4,17-4,68 Figurenlehre 4,17-18

Grundprinzipien: elegantia, dignitas

conpositio,

4,19-46 verborum exornationes 4,19-41 eigentliche Wortfiguren 4,42-46 Tropen 4,47-68 sententiarum exornationes 4,69 Schlußwort; Zusammenfassung

IV.

Ciceros De inventione und die Rhetorica ad Herennium45 Etwa gleichzeitig mit der Rhetorica ad Herennium entstand Ciceros erste rhetorische Schrift Rhetorici libri oder De inventione."'6 Wie in Abschnitt II dargelegt, hielt man lange Zeit fälschlicherweise Cicero für den A u t o r beider Schriften. A b e r nicht nur wegen der Frage nach dem Autor, sondern vor allem wegen der vielen inhaltlichen und sprachlichen Parallelen und Ubereinstimmungen in beiden Schriften spielt in der wissenschaftlichen Diskussion bis heute die Frage eine wichtige Rolle, in welchem Verhältnis die beiden Schriften zueinander stehen. 47 Nachdem Cicero als Verfasser der Rhetorica ad Herennium endgültig ausgeschieden war, wurden im wesentlichen folgende Thesen vertreten: 48 1. D e r A u t o r der Rhetorica ad Herennium hat Ciceros De inventione benützt. 2. Cicero hatte bei der Abfassung von De inventione die Rhetorica ad Herennium vor Augen. 3. Die Ubereinstimmungen in den beiden Schriften sind dadurch bedingt, daß beide Verfasser von demselben römischen Rhetoriklehrer unterrichtet wurden.

336

EINFÜHRUNG

4. F.Marx, 1894, stellte den bisherigen Thesen eine recht komplizierte Hypothese gegenüber: a. Zwei griechische Rhetoren verfaßten je eine Techne. b. Zwei römische Rhetoren übersetzten je eine dieser griechischen Vorlagen ins Lateinische. c. Einer dieser Rhetoren unterrichtete Cicero, der andere den Auetor ad Herennium. Die „Autorität von Marx" ließ zunächst eine weitere Diskussion verstummen.49 Schließlich aber gewann These 3 wieder größere Zustimmung. So kommt J. Adamietz, i960, zu folgendem Ergebnis (S. 94ff.): These 1 und 2 scheiden aus, d. h. „beide Schriften leiten sich aus einer gemeinsamen Quelle her" (S. 95), und zwar aus einer lateinischen, welche vermutlich nichts weiter als die Ubersetzung einer griechischen Techne war. Deren Verfasser scheint ein griechischer Rhetor gewesen zu sein, der mit der aristotelischen Einteilung in die drei genera causarum das System des Hermagoras verband.50 Außer dieser angenommenen (Haupt-)Quelle verwendeten Cicero und unser Autor sicher noch weitere (Neben-) Quellen; damit läßt sich erklären, daß die beiden Autoren an verschiedenen Stellen voneinander abweichen.'1

V. Zur

Überlieferungsgeschichte und Textgestaltung

Die Rhetorica ad Herennium ist in sehr vielen Handschriften überliefert.'2 Diese Uberlieferung ist „in großem Maße verdorben" und geht auf einen „eminent fehlerhaften" Archetypus zurück.53 So ist es recht schwierig und nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung vielfach nicht möglich, mit letzter Sicherheit festzustellen, wie der Originaltext der Schrift wirklich lautete. Die erste kritische Ausgabe in neuerer Zeit verdanken wir

EINFÜHRUNG

337

C. L. Kayser ( 1 8 5 4 ) . 5 4 Kayser nahm drei Überlieferungsklassen (= familiae) an und faßte diese drei familiae in zwei Überlieferungszweigen zusammen: erste und zweite familia = 1. Überlieferungszweig; dritte familia = 2 . Überlieferungszweig. Als Grundlage für seine Textgestaltung benützte er hauptsächlich die erste familia. Die zweite und dritte Familie betrachtete er als das Ergebnis der Emendationstätigkeit zweier mittelalterlicher Gelehrter, wobei die zweite Familie für ihn lediglich ein überarbeiteter Zweig der ersten Familie war. Die wissenschaftliche Diskussion wurde fortgeführt von C. F. Halm, L. Sprengel, J. Simon und W. Friedrich." Zehn Jahre später erschien dann die bedeutende wissenschaftliche Ausgabe von Friedrich Marx, auf der bis heute alle Ausgaben unserer Schrift gründen.' 6 In den Prolegomena der Editio Maior stellt Marx die Überlieferungsgeschichte sehr ausführlich und gründlich dar. Er teilt die Handschriften in zwei Überlieferungsklassen ein: 1. M (Mutiii; 9 . / i o . J h . ) ; dazu gehören fünf Handschriften, in denen allen der Anfang der Schrift (1,1-6) fehlt (mutilus verstümmelt): H = Herbipolitanus («j./io.Jh.); P. = Parisinus 7 7 1 4 ( 9 . Jh.); jt = Parisinus recentior 7 2 3 1 ( 1 2 . Jh.); B = Bernensis 433 ( 9 - / 1 0 . Jh.); C = Corbeiensis oder Petropolitanus F vel 8 (9-/io.Jh.). Diese Klasse M stellte Marx an die Stelle der ersten und zweiten familia Kaysers, wobei er die zweite familia dann ganz verwarf (in der Editio Minor wird sie nicht einmal mehr erwähnt).' 7 Die Codices seiner zweiten Klasse, die Marx E nennt (Expleti; explere - vervollständigen, ergänzen: alle Codices dieser Klasse enthalten den Anfang der Schrift), stammen aus dem 12./1 j.Jahrhundert: b = Bambergensis 4 2 3 MV 8 ( 1 2 . Z 1 3 . J h . ) ; 1 = Leidensis Gronovianus 2 2 ( 1 2 . Z 1 3 . J h . ) ; d = Darmstadiensis 2 2 8 3 ( 1 2 . Z 1 3 . Jh.); p = Parisinus 7 6 9 6 ( 1 2 . Jh.); v = Vossianus 1 0 3 ( 1 2 . Z i 3 .Jh.).

EINFUHRUNG

33»

Sie gehen nach Marx auf einen im 12. Jahrhundert wahrscheinlich in Italien gefundenen „ C o d e x Integer" zurück. In der Editio Minor, 1923, S. X X V I I I stellt Marx die von ihm erarbeitete Überlieferungsgeschichte in folgendem Stemma vor: x

C

X mutilili supptetus I ex integro btdy

Nach den Ausgaben von Marx ist die wissenschaftliche Diskussion zur Uberlieferungsgeschichte der Rhetorica ad Herennium lange Jahre ganz verstummt. H. Caplan und G . Calboli 58 legen ihren Ausgaben den Text der Editio Minor von Marx zugrunde. Zweifel an der vollen Gültigkeit der Thesen von Marx äußerte zuerst K. Manitius. 59 Er stellte fest, daß eine rhetorische Beispielsammlung aus dem 1 i.Jahrhundert, die Rhetorimachia des Anselm von Besäte, Beispiele aus den Anfangskapiteln der Rhetorica ad Herennium enthält. Also müsse es in dieser Zeit schon eine vollständige Ausgabe der Rhetorica ad Herennium gegeben haben, die anders als die Mutiii von Marx auch den Anfang der Schrift enthalten habe. Diese „scharfsinnige Erschließung von Manitius" greift

EINFÜHRUNG

339

A . Stückelberger auf. 60 Er ergänzt die These von Manitius durch den für die weitere Diskussion der Uberlieferungsgeschichte entscheidenden Hinweis, daß zur secunda familia Kaysers (1854) zwei vollständige Herenniushandschriften aus dem 10./11. Jahrhundert gehört hätten, die aber Marx „als völlig wertlos erklärt und bei der Darlegung seiner Theorie unbegreiflicherweise einfach totgeschwiegen" habe. Es seien „die ältesten vollständigen Herenniushandschriften", nämlich F = Frisingensis 203 = Monacensis 6403 (um 1000 n . C h r . ) und A = Bambergensis 420 (10.Jh.). Neben diese beiden Codices stellt Stückelberger den C o d e x Vadianus 313 = V aus der St. Galler Stadtbibliothek, den Kayser unter den 91 in seiner Ausgabe aufgeführten Handschriften nicht erwähnt habe; entstanden ist V ebenso wie F um das Jahr 1000. Die Codices A , F, V faßt Stückelberger zur Gruppe I (Integri; integer - unversehrt) zusammen und untersucht das Verhältnis des Vadianus zu F und A und die Beziehungen dieser G r u p p e I zu den Gruppen M und E. D e r G r o p p e l rechnet er noch den cod. e = Emmeranus E 59 = Monacensis 14436 (11.Jh.) zu. Er k o m m t zu dem Ergebnis, daß die Gruppe I „ z w a r mit den Mutiii näher verwandt", daß sie „im übrigen aber weniger verdorben und lückenhaft als M und weniger interpoliert als E " sei; somit dürfe sie „bei einer künftigen Textgestaltung einen wohlbegründeten Anspruch auf Berücksichtigung erheben". (S. 228) Diese Forderung Stückelbergers erfüllt Calboli, wie oben gesagt, in seiner Ausgabe nicht. N a c h dem Urteil von K . Zelzer 61 hat er in bezug auf die Uberlieferungsgeschichte „an jedem Problem vorbeigesehen . . . , er nennt zwar Stückelbergers Aufsatz, druckt aber Marx' Text mit all seinem Klammerwerk ohne Bedenken ab". (S. 192, A n m . 16) Zelzer selbst versucht, die Klassentrennungen in der Uberlieferungsgeschichte bereits in der Antike anzusiedeln und von daher der G r o p p e l den ihr gebührenden Platz in der Textüberlieferang zuzuweisen. Er muß aber erkennen, daß seine „retractatio auf halbem Wege" schließe und die

340

EINFÜHRUNG

Hoffnung, „einen wesentlichen Schritt zur Klärung der Uberlieferungsgeschichte des Herenniustextes voranzukomm e n " , sich vorläufig nicht erfüllt habe; es sehe fast so aus, „als brächte derzeit jeder zusätzlich betrachtete ältere C o d e x mehr Probleme als er lösen k ö n n t e " . Auf jeden Fall aber seien „weder I noch E als erst früh- oder hochmittelalterlich entstandene Textklassen anzusehen" (S. 210). „Nach U b e r windung der Marxschen Handschriftenrestriktion", resümiert er, „wird man ein wesentlich breiteres Textfundament herstellen können, das wahrscheinlich . . . eher in der R i c h tung der I E - Ubereinstimmung liegen w i r d . " (S. 211) E b e n s o wie K . Zelzer hatte auch M . Spallone die Arbeit Stückelbergers fortgesetzt. 6 2 G . Achard zeigt in seiner zweisprachigen Ausgabe die Uberlieferungsgeschichte genau auf 6 ', wobei er neben Marx auch alle neueren Untersuchungen zugrunde legt. N o c h nicht einbeziehen konnte er die Dissertation von A. Hafner, die 1987 in Zürich vorgelegt wurde/ 4 Hafner unterscheidet zwei Etappen in der bisherigen Diskussion zur Überlieferungsgeschichte unseres Autors: 1. Von Kayser (1854) bis Marx (1894); die zweite Etappe begann erst 1956 mit dem Beitrag von Manitius. Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen könne die einzige gesicherte Voraussetzung sein, daß sich die erhaltenen Handschriften in drei Klassen einordnen ließen: 1. Klasse: H , P, B , C (9.Jh.); 2. Klasse: A , F, V, M ( = L bei Zelzer); 3. Klasse ( = Expleti von Marx): b, 1, d. Statt der Bezeichnungen M (= Mutiii), I (= Integri) und E (= Expleti) führt Hafner, wie üblich, griechische Buchstaben für den Archetypus ( 0 ) und die Hyparchetypi ( a , ß, y) ein (S. 28). Anhand der genannten 11 Codices, die auch in der bisherigen Forschung im Vordergrund standen, sucht H a f ner die überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhänge zu klären. Auf ihrer Basis gestaltet er ein Stemma (S. 174), in dem er neben der auf © zurückgehenden Hauptüberlieferung noch eine von 0 unabhängige Nebenüberlieferung annimmt (gestrichelte Linien):

EINFÜHRUNG

341

Die Überlieferungsgeschichte der Rhetorica ad Herennium stellt Hafner folgendermaßen dar (S. 195-197): „Die Tradition des auct. ad Her. ist vom Archetypus 0 abhängig. Er war z.T. unleserlich geschrieben, an vielen Stellen korrupt und lückenhaft und enthielt vermutlich Glossen, die in seinen Abschriften weiter tradiert wurden. Auf © geht einerseits der Hyparchetypus a zurück, wobei man zwischen © und a eine westgotische bzw. entsprechend beeinflusste Vorstufe ansetzen muss. In a fehlten die Anfangskapitel 1 , 1 - 1 , 8 des Werkes. Auf a geht einerseits (doch wohl eher indirekt als direkt) Würzburg M. p. misc. f. 2 (saec. IX m e d ; H), andererseits Paris B. N. Lat. 7714 (saec. IXV4, Corbie; P) zurück, wobei zwischen a und P mindestens eine weitere Handschrift anzunehmen ist. H und P repräsentieren am ehesten den Zustand des Hyparchetypus a. Von dem zwischen a und P anzusetzenden Codex stammt eine weitere Handschrift ab, die nachher als Vorlage für die

34 2

EINFÜHRUNG

älteste erhaltene Abschrift des auct. ad Her. diente, nämlich für Bern 433 (saec. IX2/4, Loiregebiet; B). B ist ausserdem Zeuge von eifriger Emendationstätigkeit und Textvergleichung (u. a. mit de inv.), welche man aus guten Gründen Lupus von Ferneres bzw. seinem Kreis zuschreiben kann. D a B selber keine der für Lupus typischen Korrekturen und Rasuren aufweist, hat Lupus bzw. sein Kreis vermutlich die Vorlage von B zu emendieren versucht. Diese Vorlage oder eine weitere Abschrift davon bildete später die Grundlage für ß i . A u f © geht ein weiterer Zweig der Uberlieferung zurück, den wir ß nennen. Zwischen ß, dessen Heimat Frankreich ist, und © muss eine irische Vorstufe angesetzt werden; ferner weisen Spuren auf möglichen angelsächsischen bzw. Einfluss des Corbie ab-Types hin. Diese Vorstufe stellte im übrigen eine um vieles sorgfältigere Abschrift von © dar als diejenige, welche die a-Tradition begründet hat. Annehmen darf man auch, dass in ihr an einigen Stellen, für welche a und ß eine Korruptel in © bezeugen, bereits Konjekturen bzw. Lesevarianten in der Form von Glossen interlinear gesetzt waren. Gegen Ende des 9. Jh. wurde aus diesem C o d e x (möglicherweise kam er zu diesem Zeitpunkt von den Britischen Inseln nach Frankreich) der Hyparchetyp ß kopiert, wobei insulare bzw. irische Abbreviaturen übernommen wurden. Spätestens bei dieser Gelegenheit wurde der Text aus Cic. de inv. interpoliert, und Textverderbnisse wurden (manchmal etwas hilflos) korrigiert; die entsprechenden Emendationen wurden z . T . direkt in den Text, z . T . wieder in Form von Interlinearglossen aufgenommen. Mit Hilfe von ß sowie einer B nahe verwandten Handschrift wurde (sicher in Frankreich) der kontaminierte C o d e x ß i geschaffen und mit ihm eine Tradition begründet, welche Cic. de inv. und auct. ad Her. vereinigt. Altester Zeuge von ß i und diesem zeitlich sehr nahestehend ist Leningrad F. V. Lat. Class. 8 (saec. I X '/4, Corbie; C ) . Wegen der großen zeitlichen Distanz dürfte dagegen St. Gallen (Stadtbibliothek) Vadianus 313 (saec.

EINFÜHRUNG

343

XI m e d -; St. Gallen; V ) eher durch die Vermittlung weiterer Exemplare von ß i abhängig sein. Im übrigen ist davon auszugehen, daß beim Vergleich von ß mit der Handschrift, die B nahe stand, Lesarten, wie sie B bezeugt, in ß Aufnahme fanden, ß bot ferner nach dem Zeugnis von B 2 A F M ein Inhaltsverzeichnis des Werkes. Von ß wurde außer ß i eine weitere Kopie hergestellt, die wir ß2 genannt haben. A u f sie gehen Bamberg Class. 29 (saec. X 3 / 3 _ I °°°, Deutschland; A ) die in B ergänzten Anfangskapitel (saec. X / X I ; B2) und München C l m 6403 (saec. X e x '; Freising, teilweise in Ostfrankreich geschrieben; F) zurück, wobei für B 2 A gegenüber F ein weiterer C o d e x anzusetzen ist. Ein dritter Traditionszweig von ß schliesslich wird durch Florenz. Laur. Plut. 51.10 (saec. XI 2 ( 5 ) / e x Süditalien (Monte Cassino?); M) bezeugt, der im Besitze des Klosters Monte Cassino gewesen ist. Angesichts der zeitlichen Distanz ist für M eine direkte Abhängigkeit von ß wieder eher auszuschliessen. Vor allem V, aber auch M weisen im übrigen für die von ihnen repräsentierten Zweige auf Einflüsse von mittelalterlicher Korrekturtätigkeit hin (Vergleich mit Codices der a - G r u p p e , Vergleich der beiden Traditionsstränge). Ferner lassen sich in V und M an einigen Stellen nicht selbstverständliche Emendationen von Korruptelen nachweisen. Diese legen es nahe, auf den Einfluß einer von 0 unabhängigen Tradition zu schließen, die aber nur rudimentär war. Denkbar ist, daß in einer Handschrift der a-Klasse, die möglicherweise mit H verwandt war, aus dieser Tradition in Form von Glossen (oder durch Auskratzen der ursprünglichen Lesart) Korrekturen angebracht und so diese Nebenüberlieferung begründet wurde. A u s einem Vergleich der ß-Zeugen ergibt sich ferner, dass schon sehr früh eine äußerst eifrige Emendationstätigkeit und das Vergleichen von Handschriften des auct. ad Her. eingesetzt hat. Diese haben ihren Niederschlag in den durch alle ß-Codices gut bezeugten Interlinearglossen (Lesarten der a-Klasse, Konjekturen zu Korruptelen in der a-Klasse, Erklärung von Wörtern usw.) gefunden. Das übereinstimmende Zeugnis

344

EINFÜHRUNG

der ß-Handschriften zeigt, dass diese Glossentradition mindestens teilweise bereits auf ß zurückgeht. Noch vor dem 12. Jh. muß ein Codex entstanden sein, in welchem die durch V und M repräsentierten Textüberlieferungszweige zusammengefaßt wurden, wobei man eine M ähnliche Handschrift als Grundlage benutzte. Abkömmling dieser Verschmelzung ist der Codex y, der aus der Ubereinstimmung von Bamberg Class. 22 (saec. X I I e x , Deutschland; b), Leiden Gronovianus 22 (saec. X I I ; 1) und Darmstadt 2283 (saec. X I I 2 , Deutschland?; d) erschlossen werden kann. Zwischen der oben erwähnten Verschmelzung der Traditionszweige und der Niederschrift von y lassen sich mindestens zwei Stufen mittelalterlicher Emendationstätigkeit erkennen, deren zeitliche Abfolge nicht mehr präzise bestimmt werden kann: zum einen muss ein genauer Vergleich zwischen der ß-Tradition und einer a-Handschrift, die H außerordentlich nahestand, erfolgt sein. Dieser Vergleich, den wir Diaskeuasie genannt haben, führte zur Aufnahme von Lesarten der a-Gruppe, ferner zu weiteren Interpolationen sowie z.T. richtigen, z.T. falschen Konjekturen an Stellen, in denen 0 nach dem Zeugnis von a und ß eine Korruptel aufwies. Da in y ebenfalls nicht selbstverständliche Emendationen geboten werden, aber in grösserem Umfang als in V und M, muss auch eine genaue Berücksichtigung der oben erwähnten Nebenüberlieferung eingeflossen sein. Neben diesen Vergleichen hat auch ein solcher mit A bzw. einem A verwandten Codex seinen Niederschlag in y gefunden. In der y-Gruppe gehen im übrigen bl gegenüber d auf einen gemeinsamen Ahnen zurück, der jünger als y ist und eine weitere Stufe der Depravation des Textes durch Interpolation darstellt. Abschliessend sei noch einmal darauf hingewiesen, dass y zwar ein aufgrund der Ubereinstimmungen von bld erschliessbarer Codex ist, dass er aber nur eine von vielen möglichen Momentaufnahmen in der Überlieferungsgeschichte unseres Textes darstellt, mit der wir uns heute vor

EINFÜHRUNG

345

allem deswegen beschäftigen müssen, da Marx die Codices b, 1 und d zu den Hauptvertretern seiner E-Klasse gemacht hat. Genaueren Aufschluss über die Entwicklungen in der Uberlieferung des auct. ad Her. seit Ende des 11. Jh. könnte nur eine Untersuchung weiterer jüngerer Handschriften ergeben." Wichtige Ergebnisse der Untersuchung Hafners sind, daß es den von Marx rekonstruierten C o d e x Integer nicht gegeben hat und daß die Uberlieferung der Rhetorica ad Herennium viel korrupter sein könnte als bisher angenommen (S. 160). Der Wert von y sei erheblich eingeschränkt, da y kein Hyparchetypus im strengen Sinne, sondern von ß und besonders V und M abhängig sei (S. 349); es sei lediglich eine „mögliche Momentaufnahme eines langen Prozesses, auf die wir z. Zt. durch Marxens Auswahl der Codices b, 1, und d fixiert sind" (S. 351). Die auf y zurückgehenden Handschriften seien aber weiterhin beizuziehen, da in sie eine sorgfältigere Auswertung der Nebenüberlieferung eingeflossen sei als in V und M (S. 350). Hafner betont, daß seine Untersuchung keinen abschließenden Charakter haben könne, da er nur die genannten 11 Codices ausgewählt habe (S. 43), hält aber eine Neuedition der Rhetorica ad Herennium aufgrund seiner Untersuchungsergebnisse für dringend nötig; hierzu sei es aber notwendig, weitere Handschriften vor allem des 11. und frühen 12. Jahrhunderts zu kollationieren und nach ihrem Platz im Stemma zu fragen (S. 350). Diese Aufgabe kann die vorliegende Ausgabe nicht leisten. Zugrunde gelegt wurde ihr der lateinische Text von G . Achard. A n allen Stellen, die Hafner untersucht (S. 199-230; S. 245-346), wurden die Lesarten geprüft. In der folgenden Übersicht werden die Textstellen aufgeführt, an denen wir uns für andere Lesarten als Achard entschieden haben.

346

EINFÜHRUNG G . ACHARD

1,3

adorationem

1,10

imitatione depravata

i, 11

nimium apparatis verbis

1,15

ne quid contorte, ne quid nove, ne quid ambigue

1,23

paterfamilias intestato

2.2

quae prima quaeque difficillima est unum quidque quid

2.3 2,7

et qua die, qua noctis bora

2.20

conicito praestare

2.21

2,28

2,33

ab accusatore suspicio ex constitutione coniectura sed in eo dolo contra refellatur Ratio est, quae causa demonstrat verum esse id, quod intendimus eos, quos conlegerit

TUSCULUM

ad rationem (Hafner S. 200 ff.) immutatione, depravatone (Hafner S. 203 ff.) nimium apparate verbis (Hafner S. 2 1 1 ) ne quid contorte, ne quid ambigue (Hafner S. 248 ff.) paterfamilias intestatus (Hafner S. 254) quae difficillima est (Hafner S . 2 5 7 f . ) unumquodquequod (HafnerS. 212) et qua die, quota bora (Hafner S. 261 ; 2. Anm. 22 zu 2,7) coniciunto (s. Anm. 53 zu 2,20) praestari (s. Marx, 1923, S.42) ab accusatore coniectura (Hafner S. 267ff.) sed dolo contra referetur Ratio est, quae causam demonstrat veram esse, quam intendimus (Stückelberger, 1965,8.127) eos, quos dixerit (Hafner S.274f.)

EINFÜHRUNG

347

G . ACHARD

TUSCULUM

2,34

Non enim reprehensionis eget sicut aliae conplures, sua sponte

2,46

ex exemplis et amplificationibus et rebus iudicatis

2,48

si semel aliter iudicatum sit quae incommodo mederi aut erratum iudicum corrigerepossit

2,50

tu diligenter et nobiscum et sine nobis considerabis disciplinant [scientiam]

Non enim reprehensione sicut aliae conplures, sed sua sponte (Hafner S. 216) ex exemplis et rebus iudicatis et amplificationibus (Hafner S. 279) si sententia aliter iudicatum sit (Hafner S. 205 ff.) quae non commodum iudicium corrigere possit (Hafner S. 205 ff.) tu diligenter fueris consecutus (Hafner S. 28off.) disciplinam

3,4 3.6

3.7

3.8

3.11 3.12 3,20 3,26

sunt virtutis amplificandae, si suadebimus, adtenuandae separavimus a recto, non quod hae quattuorpartes hanc honestatis commemorationem si alterum erimus demonstraturi, simpliciter, quid dicturi sumus omnes homines illius virtutes qui vituperatur, sperare eos conservât accuratio quaeprobabiliora reddit ea, quae pronuntiantur

sunt omnibus verbis adtenuandae (Hafner S. 282 f.) separavimus, quod partes virtutum (Hafner S. 283 f.) hanc honestam commemorationem sin alterum, quod dicturi sumus (Hafner S. 28 j) omnes illius virtutes (Hafner S. 287) qui vituperatur, eos (Hafner S. 28 7 ff.) conservât cura (Hafner S. 291) quae pronuntianti conveniat (Hafner S. 292^)

34

8

3,35 4,2

EINFÜHRUNG G . ACHARD

TUSCULUM

Itaque quas res ante ora videmus ut ne nos solos

At quod recens audivimus (Hafner S. 294) ne nos solos (Hafner S. 298) nos amare videamur (Hafner S. 298)

nos amare, alios contemnere et deridere videamur Id enim, quod domesticis testimoniis

4,6 4,16

4.18

4.19

aut negent optima esse exempla, quae a probatissimis oratoribus aut poetis Quid ita? appellamus dissolutum, quod est sine nervis et articulis, ut hoc modo appellem fluctuans constructio, quae facit omnespartes orationis aequabiliter perpolitas quid est, quod audeas postulare? quid est, quod tibi libertas sublata est, fides sublata est, amicitia sublata est, respublica sublata est

4.20

divitis esse; tu vero virtutem praefer vitiis; nam si

4,23

Quare necesse est?

Etenim quod (Hafner S. 298 f.) domestico testimonio (Hafner S. 298 f.) aut si aliaprobant, aprobatissimis poetis (Hafner S. 301 ff.) Qui ita? (Hafner S. 362, Anm. 79) appellamus fluctuans (Hafner S. 4iéf.)

constructio aequabiliter perpolita (Hafner S. 311 ff.) quid est, quod tibi (Hafner S. 312) libertas sublata est, res publica sublata est (Hafner S. 312) divitis esse; nam si (Hafner S. 312 f.) Cur? (Hafner S. 314)

EINFÜHRUNG G . ACHARD

4.27

Continuatio est densa et continens frequentano

4.28

in exitus, alterum in casus similitudine versatur

4,31

rei publicae amantissimum perfidia per scelus

4.34

inimicissimum

4.35

dilucide proponit et explicat breviter Modo in patriam ... nunc in parentes Si stultus es, ea re taces; non tarnen si taces, ea re stultus es

4.39

4.40 4.41 4.42

tuum etiam nunc usu fecisse nonpotes nisi nobis ipsa negotii natura „rudere" quis eo utatur et raro

4.44 4.45

niveum candorem, aspectu igneum ardorem Ea sumitur

4.46

funguntur

349

TUSCULUM

Continuatio est densa frequentatio (Hafner S.316) in exitu, alterum in casu similiter versatur (HafnerS. 3i6f.) patriae amantissimum (HafnerS. 222f.) perfidiae scelus (Hafner S. 320) iniquissimum (Hafner S. 3 2$) dilucide proponit et breviter (Hafner S. 325) Inpatrem ... nunc parens (Hafner S. 326f.) Si stultus es et ea re taces, sapiens es; si sapiens es et tarnen taces, stultus es (Hafner S . 3 2 7 f f . ) tuum etiam usu fecisse nonpotes (Hafner S. 328) nisi ipsa negotii natura (Hafner S. 329) „vagire" (Hafner S.329f.) quis prof erat et raro (Hafner S. 224) niveum ardorem (Hafner S.33I) Ea utimur (Hafner S.33I) fungentur (Hafner S.225)

35°

4,47 4,53

4,57 4,60

4,65

4,68

EINFÜHRUNG

G . ACHARD

TUSCULUM

quoinam pecuaria senatus et populi voluntatem opus fuit ad maleficium, neque factum, quodopus non fuit; et cum locus occultandi et perficiendi maleficii et cum pro amicis ... adire periculum velis velocitatis esse oporteat, ut efferatur ultra finem, in amico tantum benevolentiae, ut ultra quam quod amicus sentire possit, procurrat amicitiae studio corona aurea ut incolumis ad adulescentiam perducas gerbera", inquit, „ne plane victus essem. Nunc video: hostis et exul est dictus

cuinam (Hafner S. 225) pecua (Hafner S. 225) senatus voluntatem (Hafner S. 332f.) opus fuit; cum locus (Hafner S . 3 3 7 f f . ) occultandi maleficii (HafnerS. 340) pro amicis ... adire periculum (Hafner S. 342 f.) velocitatis, in amico tantum benivolentiae et Studium esse oporteat, ut efferantur ultra finem (Hafner S. 343 f.)

corona (Hafner S. 344) ut incolumis sit adulescentia (Hafner S. 345) „Verbera!" inquit, ne plane victus esset, „nunc video: (Hafner S. 345) hostis est dictus (Hafner

s. 3 4 5 f.)

351

Anmerkungen zur Einführung 1 . Cic. de or. 1,34 - Ubersetzung von H.Merklin 2. H. Rahn: Cicero und die Rhetorik. Rivista Ciceroniana 1, 1959, iof. Rahn zitiert aus Rhet. ad Her. 1 , 1 : Quas ob res illa, quae .., morem geramus voluntati. 3. Zum Titel der Schrift s. S. 330. Zur Datierung äußert sich ausführlich Achard, 1989, VI ff. (Lit.ausw. 1); vgl. Anm. 18. (Zur Zitierweise: Von den in die Literaturauswahl aufgenommenen Veröffentlichungen wird nur der Name des Autors und das Erscheinungsjahr genannt.) - Zum Verhältnis der Rhet. ad Her. und De inventione s. Einführung IV (S. 335 f.) 4. Der folgende knappe Uberblick über die Entwicklung der Rhetorik bis zum Erscheinen der Rhetorica ad Herennium beschränkt sich auf die Theorie der Redekunst, die xiyyr\ ¿r|ioßiJtfj, ars oratoria. Die „praktische" Redekunst, also politische Reden, Reden vor Gericht usw. wird ganz ausgeklammert; so werden Männer wie z.B. Perikles oder Demosthenes nicht erwähnt. Durch diese Beschränkung soll natürlich nicht verkannt werden, daß Theorie und Praxis sich nicht unabhängig voneinander entwickelten, sondern sich gegenseitig ergänzten und befruchteten. Am deutlichsten erscheint diese enge Verzahnung bekanntlich im Werk Ciceros. 5. Fuhrmann, 1984, 27 (Lit.ausw. 2,1) 6. Fuhrmann, 1984, 30 (Lit.ausw. 2,1) 7. Der Auetor ad Herennium räumt der Stasislehre einen breiten Raum ein (2,18 ff.). 8. Der Wortlaut des Senatsbeschlusses lautete: ... M. Pomponius senatum consuluit. Quod verba facta sunt de philosophis et rhetoribus, de ea re censuerunt, ut M. Pomponius praetor animadverteret curaretque, uti ei e re publica fideque sua videtur, uti Romae ne essent (Sueton, De rhetoribus 1). 9. Seneca Rhet. contr. 2, praef. 5: nam primus omnium Latinus rhetor Romae fuit puero Cicerone Plotius. - Quint, inst. 2,4,42: Latinos vere praeeeptores extremis L. Crassi temporibus coepisse Cicero auetor est, quorum insignis maxime Plotius fuit. (Quintilian bezieht sich auf einen von Sueton, De grammaticis et rhetoribus 26, erwähnten Brief Ciceros.) 10. Den Wortlaut des Edikts überliefert ebenfalls Sueton, De grammaticis et rhetoribus 16: Cn. Domitius Ahenobarbus et L. Licinius Crassus censores ita edixerunt: Renuntiatum est nobis esse

352

ANMERKUNGEN

homines, qui novum genus disciplinae instituerunt, ad quos iuventus in ludum conveniat; eos sibi nomen imposuisse Latinos rhetores. Ibi homines adulescentulos dies totos desidere. Maiores nostri quae liberos suos discere et quos in Ittdos itare vellent instituerunt. Ha.ec nova, quae praeter consuetudinem ac morem maiorum fiunt, neque placent neque recta videntur. Quapropter et iis, qui eos ludos habent, et iis, qui eo venire consuerunt, videtur faciundum, ut ostenderemus nostram sententiam nobis non placere. - Auch Tac. dial. 35,1 berichtet von diesem Edikt; er nennt die Rhetorenschule wie Cic. de or. 3,94 (ut ait Cicero) ludum impudentiae. - Zur Bedeutung dieses Edikts s. P. L. Schmidt, 1975 (Lit.ausw. 2,3). Im folgenden stütze ich mich auf diesen Aufsatz, in dem sich der Verf. kritisch mit der These von Marx, 1894 (Lit.ausw. 1) auseinandersetzt, das Edikt des Jahres 92 sei eine „antipopulare Maßnahme prohellenischer Optimaten" gewesen (S. 187^). 1 1 . Schmidt, 1975, 208 (Lit.ausw. 2.3) 12. Vgl. die Beispiele aus der römischen Geschichte in der Rhet. ad Her., z.B. die Zerstörung von Fregellae 125 v.Chr. (z.B. 4,22.37). 1 3 . Schmidt, 1975, 208 14. Schmidt, 1975, 210 15. Vgl. Anm. 10: Tac. dial. 35,1 16. de or. 1,38 u. ö. 1 7 . Cic. Brut. 163 18. Achard, 1989, VI (Lit.ausw. 1) nennt als termini post quos den Tod des Sulpicius 88 v.Chr. (vgl. Rhet. ad Her. 1.25) und den Amtsantritt des Marius, als dieser 86 v. Chr. zum siebten Mal Konsul wurde (vgl. Rhet. ad Her. 4,68). Der Entstehungszeitraum - zwischen Mitte 86 und Anfang 82 - könne noch etwas mehr präzisiert werden: Nach den notwendigen Vorarbeiten - Stoffsammlung usw. - sei die Niederschrift des Handbuches 84 begonnen und 83 beendet worden; wegen des Einfalls Sullas in Italien und Rom und der Herrschaft Sullas habe es aber nicht veröffentlicht werden können (S.XIIf.). 19. Zitiert nach Achard, 1989 XIV (Lit.ausw. 1). Mit rhetoricae ist De inventione gemeint. Auch in den Commentarii in Abdiam schreibt Hieronymus die Rhetorica ad Herennium Cicero zu (... tarn de libris ad Herennium quam de rhetoricis (sc. libris = De inventione)). 20. s. Caplan, 1954, VIII (Lit.ausw. 1).

ZUR 21. R . R e g i u s : Utrum inscribatur.

an

353

EINFÜHRUNG rhetorica

ad Herennium

Ciceroni

falso

Venetiis 1491.

22. P. V i c t o r i n u s : Variarum

lectionum

libri XXV.

Florentiae 1553

23. K r o l l in: P h i l o l o g u s 89, 1934 (Lit.ausw. 2.3) ders. in: G l o t t a 22, 1934 (Lit.ausw. 2.2) ders. in: P h i l o l o g u s 90, 1935 ( L i t . a u s w . 2 . 2 ) C a l b o l i , 1963 (Lit.ausw. 2.3) - In der E i n f ü h r u n g der A u s g a b e v o n 1969 (Lit.ausw. 1; „ C o r n i f i c i ( ! ) R h e t o r i c a . . . ) stellt C a l boli seine T h e s e dar (S. 3—11). A u c h in V e r ö f f e n t l i c h u n g e n nach 1969 äußert er sich w i e d e r h o l t z u unserer Schrift. 24. M a r x , 1894, P r o l e g o m e n a L X X I I (Lit.ausw. 1) - B r z o s k a : R E I V 1900, 1605 ff.: C o r n i f i c i u s - K o e h l e r , 1909 (Lit.ausw. 2.3) A c h a r d , 1989 X V I I f f . : L ' a t t r i b u t i o n à C o r n i f i c i u s (Lit.ausw. 1) 25. C a p l a n , 1954, I X f f . u n d A c h a r d , 1989, X V I I f f . (Lit.ausw. 1) nennen die Stellen bei Q u i n t i l i a n u n d in der Rhetorica

ad

He-

rennium. 26. Vgl. A c h a r d , 1989, X X I f f . : L a personnalité de l'auteur (Lit. ausw. 1). 27. . . .propter

amicitiam,

cuius initium

cognatio facit

(4,69).

28. 1,25; 2,45 u. ö. 29. negotiis familiaribus

inpediti

(1,1)

30. 3,28; 4,17 3 i - 3.3 32. noster Freund

doctor

(1,18) k a n n bedeuten, d a ß L . P l o t i u s G a l l u s der

des A u t o r s

und

des A d r e s s a t e n

C . Herennius

war.

A c h a r d , 1989, X X I V f . (Lit.ausw. 1) w e i s t auch darauf hin, daß die B e z e i c h n u n g doctor

statt magister

G r a m . r h e t . 26 als hordearius

auf den nach

Sueton,

b e z e i c h n e t e n Plotius z u t r e f f e . A u f

Plotius geht w o h l auch die A n s i c h t z u r ü c k , d a ß der R e d n e r die Beispiele selbst e r f i n d e n müsse ( R h e t . ad H e r . 4 , 1 - 1 0 ) . Z u anderen T h e s e n , w e r der L e h r e r unseres A u t o r s g e w e s e n sein k ö n n t e , s. A c h a r d , 1989, 2 2 9 - 2 3 3 : A p p e n d i x I: A p r o p o s du „ d o c t o r " (Lit.ausw. 1). A c h a r d spricht sich eindeutig f ü r Plotius aus. 33. M a r x ,

1894,

Prolegomena

CXLVIIff.

(Lit.ausw. 1)

vertritt

n a c h d r ü c k l i c h die T h e s e , der A u t o r sei g e n a u s o w i e sein L e h r e r P l o t i u s ein entschiedener G e g n e r der O p t i m a t e n g e w e s e n . W i derlegt w u r d e M a r x v o n G e i z e r , 1962 (Lit.ausw. 2.3); s. d a z u auch Trillitzsch,

1968,

151—153

(Lit.ausw.

2.3

zu

Calboli,

1963). 34. J. v. U n g e r n - S t e r n b e r g , 1973 (Lit.ausw. 2.3) stützt seine T h e s e

354

ANMERKUNGEN

auf ausgewählte Stellen des 4. Buches (4,31.46.48.49.67). - In den ersten Kapiteln des 4. Buches vertritt unser Autor zwar die Meinung, der Verfasser eines Lehrbuches dürfe nur selbstgestaltete Beispiele verwenden, aber er selbst bringt eine ganze Reihe von Beispielen aus der griechischen und römischen Literatur - nicht nur, um vitia zu demonstrieren. 35. Im „Kleinen Pauly", Bd. II, Stuttgart 1967, Sp. 1061 werden 15 Träger des Namens Herennius aus republikanischer Zeit genannt. Zu Nr. 4 heißt es: „ C . H . , Anhänger populärer Tendenzen und Freund des unbekannten Schriftstellers, der ihm um 8 5 die Rhetorik ad Herennium widmete..." Achard, 1989, 235f. Appendix II: A propos du destinataire (Lit.ausw. 1) stellt fest, daß von den fünf bekannten Trägern des Namens Gaius Herennius in der 1. Hälfte des 1. Jahrhunderts lediglich ein General in der Armee des Sertorius als Empfänger unseres Werkes in Frage komme. Aber auch diese Hypothese bleibt unbewiesen. 36. Nach Achard, 1989, X X X I V (Lit.ausw. 1) lebten die drei Schriftsteller, die die Rhetorica ad Herennium zuerst erwähnten, im Osten: Hieronymus in Antiochien, Priscian in Konstantinopel, Rufinus in Jerusalem. So könnte das Werk in Syrien und Palästina zuerst wieder aufgetaucht sein. 37. Eingehend analysiert wird die Rhetorica ad Herennium von Fuhrmann, i960 (Lit.ausw. 2.3). Aufbauskizzen finden sich u. a. in Adamietz, i960, 14 (Lit.ausw. 2.3) und Fuhrmann, 1984, 4f. (Lit.ausw. 2.1) 38. Fuhrmann, i960, 58 (Lit.ausw. 2.3) 39. Fuhrmann, i960, 42 (Lit.ausw. 2.3) 40. nach Fuhrmann, i960, 47ff. (Lit.ausw. 2.3); Einteilung z. B. 1,7: Ea (= distributio) dividitur in duas partes, enumerationem et expositionem; Gegenüberstellung von Begriffen z.B. 1 , 1 1 : Int er insinuationem et principium hoc interest ...; Definition z.B. 1,6: Principium est, cum 41. Fuhrmann, i960, 52 (Lit.ausw. 2.3). An anderer Stelle (S. 42) sagt Fuhrmann, das System wirke „mit seinen minutiösen und gekünstelten Unterscheidungen pedantisch und doktrinär und breitet über das Ganze ermüdende Starre". 42. Vgl. dazu Anm.65ff., bes. 67, 68, 70 u. Rhet. ad Her. 4,10 u. Anm. 3 5 dazu. 43. Nach Marx, 1894 IVff. (Lit.ausw. 1). 44. De elocutione quia plura dicenda videhantur in quarto lihro conscrihere voluimus (3,1)

ZUR

EINFÜHRUNG

355

45. So lautet der Titel der Dissertation von Adamietz, i960 (Lit. ausw. 2.3). 46. Adamietz, i960, y i . (Lit.ausw. 2.3) vermutet aufgrund autobiographischer Äußerungen Ciceros, bes. Brut. 308, als Entstehungszeitraum für De inventione die Jahre 86-84 v - Chr. - Zur Datierung der Rbetorica ad Herennium s. A n m . 18. 47. Inhaltlich entspricht Ciceros De inventione dem Abschnitt über die inventio in der Rhetorica ad Herennium (1,1-3,15). Solange Cicero auch als Autor der Rhetorica ad Herennium galt, konnte diese Schrift, da in ihr auch die anderen officia des Redners behandelt werden, als eine erweiterte Neufassung von De inventione gelten (vgl. o. S. 328 und A n m . 19). 48. Nach Adamietz, i960, 2ff. (Lit.ausw. 2.3) 49. Adamietz, i960, 6 (Lit.ausw. 2.3) - A u c h für die Textüberlieferung galt Marxens Position sehr lange als unumstößlich gültig (s. Abschnitt V, dazu A n m . 51 u. 52). 50. Z u Aristoteles und Hermagoras vgl. Abschnitt I. Vgl. dazu auch Barwick, 1965, 65 (Lit.ausw. 2.3): „So waren in der Topik des griechischen Rhetors, von dem Cicero in den Rhet. 1.1 und der A a H abhängen, zwei verschiedene rhetorische Systeme miteinander verquickt: das hermagoreische und das peripatetisch-akademische." 51. Die Annahme, daß Cicero und der Autor unserer Schrift von demselben römischen Gewährsmann abhängen, der wiederum eine griechische Quelle bearbeitet hat, wird bestätigt von Barwick, 1965 (Lit.ausw. 2.3). Abweichungen in beiden Schriften erklärt Barwick damit, daß der Auetor ad Herennium die gemeinsame Quelle an verschiedenen Stellen weniger genau wiedergibt (S. 71). - Fragen, die Ciceros Jugendschrift allein betreffen, werden hier nicht erörtert. 52. Winterbottom, Texts and Transmission, S. 99 spricht von „innumerable (or at least innumbered) complete manuscripts" (zitiert nach Hafner, 1989, 79, A n m . 1 (Lit.ausw. 2.3)). Nach Caplan, 1954, X X X V (Lit.ausw. 1) sind es „more than a hundred". 53. Hafner, 1989, 348 (Lit.ausw. 2.3). 54. Kayser, 1854 (Lit.ausw. 1) - Bei der Darstellung der bisherigen wissenschaftlichen Diskussion zur Uberlieferungsgeschichte und Textgestaltung folge ich vorwiegend Hafner, 1989, 6ff. (Lit.ausw. 2.3) 55. C . Halm: Zur Textkritik der Rhetorik ad Herennium, in: Rh. Mus. 15, 1860, $36-573; L.Sprengel: Die Interpolation in der

356

56. 57.

58. 59. 60. 61. 62. 63. 64. 65. 66.

67. 68.

69. 70. 71.

ANMERKUNGEN

Rhetorik ad Herennium, in: Rh. Mus. 16, 1861, 3 9 1 - 4 1 3 ; J.Simon: Die Handschriften der Rhetorik an Herennius. Progr. Schweinfurt 1862/63. Schweinfurt 1863 und: Progr. Schweinfurt 1863/64. Schweinfurt 1864; W. Friedrich: Teubner Leipzig 1884. Marx, 1894 und 1923 (Lit.ausw. 1). Nach Hafner, 1989, 17 (Lit.ausw. 2.3) bedeutet das Verdrängen der zweiten familia Kaysers einen wissenschaftlichen Rückschritt. Marx habe versucht, die Thesen seiner Vorläufer „eklektisch zu vereinen und möglichst widerspruchsfrei unter einen Hut zu bringen". Deshalb findet es Hafner „merkwürdig, daß trotzdem die meisten Autoren bis heute immer noch ein Verdienst sehen, wo keines vorhanden ist". Caplan, 1954; Calboli, 1969 (Lit.ausw. 1) Manitius, 1956 (Lit.ausw. 2.3) Stückelberger, 1965 (Lit.ausw. 2.3) Zelzer, 1982 (Lit.ausw. 2.3) Spallone, 1980 (Lit.ausw. 2.3) Achard, 1989 (Lit.ausw. 1) Hafner, 1989 (Lit.ausw. 2.3) Fuhrmann, i960 (Lit.ausw. 2.3); auch die folgenden Zitate stammen aus dieser Untersuchung. Teilweise ist dies nur möglich auf Kosten einer „geschliffenen" Ubersetzung; aber „die schulmeisterliche Trockenheit und pedantische Starre der Darstellung" (Fuhrmann) kann und soll auch in der deutschen Fassung spürbar sein. s. die Zusammenstellung doppel- und mehrdeutiger Begriffe bei Fuhrmann, i960, 53, Anm.6 (Lit.ausw. 2.3) In der Rhetorica ad Herennium werden genus und pars als „Klassifikationsbegriffe" verwendet, genus charakterisiert die „Unterbegriffe einer Einteilung", der Bedeutungsumfang von pars ist größer. Bisweilen werden die beiden Begriffe als Synonyma verwendet. Ebenso verfährt Cicero in De inventione; 1,42 definiert er: Genus est, quod partes aliquas amplectitur, ut cupiditas. Pars est, quae subest generi, ut amor, avaritia (nach Fuhrmann, i960, 48 ff. u. 63 ff. [Lit.ausw. 2.3]) Vgl. Anm. 68 Zum Gebrauch der Substantive nomen, verbum, vocabulum s. Fuhrmann, i960, 54 (Lit.ausw. 2.3). Zusätzlich zu den in die Literaturauswahl aufgenommenen Titeln wird besonders auf die Literaturverzeichnisse in Achard, 1989, L X X I X f f . , und Fuhrmann, 1984 u. 1990 5 , 153ff. verwiesen.

ANMERKUNGEN ZUM TEXT

Buch I 1. de ratione dicendi war vielleicht der ursprüngliche Titel der Schrift (s. Einführung, S. 330). 2. Welche Graeci scriptores gemeint sind, ist ungewiß. Vgl. die Polemik des Auetor gegen die griechische Lehre von den exempla zu Beginn von Buch IV. 3. Vgl. dazu: Th. Birt: Verlag und Schriftstellereinnahmen im Altertum, in: Rhein. Museum 72/1917.18, 3 1 2 ! : „Besonders Schulbücher mußten massenhaft gekauft werden; ohne das kein Schulbetrieb; und dasselbe gilt von den Lehrbüchern des Rhetorikunterrichts; auch sie brachten viel Geld ein, und zwar auch dem Autor selbst." 4. Wie wichtig Ausdauer und Übung sind, betont der Auetor auch am Ende der Schrift: . . . si te diligentius exercueris; ... ut frequenter et adsidue consequamur artis rationem studio et exercitatione (4,69). 5. Diese Definition des oratoris officium ist von Hermagoras übernommen; vgl. Sex. Empiricus, Adv. Rhet. 62 und Cic. inv. i,6, wo zwischen officium und finis unterschieden wird. 6. Die Einteilung in die drei genera causarum geht nach Cic. inv. 1,7 auf Aristoteles zurück (rhet. 1,3 [1358b]), ist aber wohl noch älter. 7. Vor Aristoteles wurden nur drei officio, oratoris behandelt: inventio, dispositio, elocutio; Aristoteles betonte auch die Wichtigkeit des Vortrages, entwickelte aber noch keine Theorie derpronuntiatio (s. rhet. 3,1 [1403b]). Zum vierten officium oratoris erhob wahrscheinlich Theophrast die pronuntiatio (s. Diogenes Laertius 5,48). -

35«

8.

9.

10.

11.

12.

13.

ANMERKUNGEN

Wann genau die memoria in der hellenistischen Rhetorik als fünftes officium dazukam, wissen wir nicht (s. Anm. 77 zu 3,28). - An anderen Stellen spricht der Auetor statt von officia von res rbetoricae (3,1.15.28; ebenso Cic. inv. 1,9). - Das stoische Schema war: inventio, elocutio, dispositio, pronuntiatio (s. Diogenes Laertius 7,43). - Die hier gegebene übliche Reihenfolge hält der Auetor teilweise nicht ein (s. 3,1 und Einführung, S. 332). - Vgl. 3,19 und Anm. 50 dazu. Vgl. die gebräuchliche Dreiheit: Naturanlage (cpvoig, natura), Theorie, Praxis. Zur Bedeutung der imitatio s. bes. Cic. de or. 2,89 ff. Aristoteles teilt die partes orationes ein in Einleitung, Darlegung des Sachverhaltes, Beweisführung, Schluß (rhet. 3,13 [14141 ff.]). Vgl. Cic. inv. 1,19; de or. 1,43; 2,80 u. ö. Vgl. die Definitionen der partes orationis in Ciceros De inventione: exordium (1,2), narratio (1,27), partitio (= divisio) (1,31), confirmatio (1,34), reprehensio (= confutatio) (1,78), conclusio (1,98). Cicero faßt die Definitionen der einzelnen partes nicht zusammen, sondern stellt sie jeweils an den Anfang der Behandlung eines jeden Redeteiles. Diese quattuor genera causarum sind nicht zu verwechseln mit den tria genera causarum in 1,2 (vgl. Einführung, S. 336). Cicero unterscheidet wie die meisten Theoretiker quinque genera causarum: honestum, admirabile, humile, aneeps, obscurum. Seine Definition zum genus obscurum lautet: in quo aut tardi auditores sunt aut difficilioribus ad cognoscendum negotiis causa est implicata (inv. 1,20). Zu prineipium und insinuatio vgl. Cic. inv. 1,20; zu prineipium - JiQOoißiov s. Arist. rhet. 3,14 (1414b); der Begriff wurde schon zu Beginn des 4. Jahrhunderts in diesem Sinne gebraucht. Vgl. - auch zu den folgenden Ausführungen - Cic. inv. 1,22 f.

ZU S E I T E 9 BIS 2 7

359

14. 1,9 ff. 15. Die Erregung von Mitleid (misericordia - oixmg, eXeog) hat ihren Platz vor allem in der conclusio (vgl. 16. Cicero beschränkt inv. 1,23 die Anwendung der insinuatio auf das admirabile genus causae. 1 7 . Vgl. Cic. inv. 1,24. 18. Vgl. Cic. inv. 1,25. 19. Zur dubitatio s. 4,40. 20. Vgl. dagegen 3,17. - Zur Bedeutung des Witzes und Humors in der antiken Rhetorik s. M . A . Grant: The Ancient Rhetorical Theories of the Laughable. Madison 1924 und W. Kroll, 1940, 1076f. (Lit.ausw. 2.1); vgl. auch die Zusammenfassung in Cic. de or. 2,248 ff. 2 1 . s. 4,67. 22. Die Unterscheidung (interest) ist eines der methodischen Hilfsmittel des Auetor (s. Einführung, S. 331 und Anm. 40 dazu). 23. Vgl. Cic. inv. 1,26. 24. Vgl. Cic. inv. 1,27; zur narratio s. K. Barwick, 1928 (Lit.ausw. 2.2). 25. Cic. inv. 1,27 gibt je ein Beispiel zu fabula, historia, argumentum. 26. Zu animorum dissimilitudo vgl. die Ausführungen zur notatio 4,63. 27. Vgl. Cic. inv. 1,28: ut brevis, ut aperta, ut probabilis sit. - Vgl. auch Quint, inst. 4,2,31 f. 28. Die jambischen Trimeter stammen vielleicht aus einer unbekannten Komödie des Plautus; vgl. Plaut, mil. 439: quae heri Athenis Ephesum adveni vesperi. 29. Vgl. Cic. inv. 1,29. 30. Vgl. Cic. inv. 1,29 f. 31. Auch Cicero will die insinuatio in den gleichen drei Fällen angewendet wissen wie der Auetor: Id autem tribus ex causis fit maxime, aber beschränkt auf das admirabile genus causae (inv. 1,23); vgl. oben Anm. 16. Der Auetor sieht sie offensichtlich für alle quattuor genera causarum

360

32. 33. 34. 35. 36.

37.

ANMERKUNGEN

vor (1,5; vgl. oben Anm. 11). Dadurch könnte seine Behauptung novo, excogitavimus, quod eam soli praeter ceteros in tria tempora divisimus erklärt werden (s. Caplan, 1954, XXIXf.). Auch in 1,1 und 4,1 betont der Auetor seine Eigenständigkeit. Die griechische Quelle, auf die die Lehre von den drei tempora bzw. causae für die insinuatio zurückgeht, kennen wir nicht. Vgl. Cic. inv. i,32f. (partitio). Man unterscheide die Stilfigur divido 4,52 und Anm. 253 dazu. Die Tat des Orestes war ein beliebtes Beispiel für die rhetorische Theorie; vgl. i , 2 j f . , Cic. inv. i,i8f. u.ö. Man unterscheide die distributio - abgehackter Vortrag 3,23 und die Stilfigur distributio - Zerlegung 4,47. Vgl. die enumeratio 2,47. Zu Beginn der ausführlichen Stasislehre, die auf Hermagoras zurückgeht, betont der Auetor den Unterschied zwischen alii und noster doctor (vgl. Einführung, S. 329 und bes. Anm. 32 dazu); vgl. Rhet. ad Her.: constitutio coniecturalis, legitima, iuridicialis; Cic. inv. i,ioff.: constitutio coniecturalis, definitiva, generalis, translativa. Die constitutio translativa hat nach Cic. inv. 1,16 Hermagoras eingeführt. In dem Begriff constitutio - avaraaig sind nach Caplan, 1954, 32, Anm. c zwei verschiedene Aussagen miteinander verbunden; er bezeichnet den Mittelpunkt der Beweisführung und bestimmt den Charakter des Falles. Zur Bedeutung von status und constitutio verweist Caplan a. a. O. auf A. O. L. Dieter: Speech Monographs 17,4 (1950), 345-69. Auch zum Unterschied zwischen Hermagoras und der Rhet. ad Her. führt Caplan a. a. O. mehrere Veröffentlichungen an, u. a. W. Kroll, 1940, 1090-95 (Lit.ausw. 2.1). Ciceros Stasislehre in De inventione 1 , 1 0 - 1 6 unterscheidet sich ebenfalls von der Darstellung des Auetor ad Herennium, der sich wohl der Lehre des Marcus Antonius (s. Einführung, S. 327) anschloß. Die Statuslehre wird nur auf das genus iudiciale angewendet. Vgl. Cic. inv. 1 , 1 1 .

ZU S E I T E 2 7 B i s 3 5

361

38. Das Thema ist griechisch und wurde sicher von einem rbetor Latinus übertragen. - In 2,28-30 wird die argumentado durchgeführt. 39. Vgl. Cic. inv. 1,17; Cicero nennt nur fünf Arten der scripti controversia. 40. Vgl. translatio criminis 1,24 und die Stilfigur der translatio 4,45. 41. Dieses Beispiel griechischen Ursprungs für eine controversia ex scripto et sententia führt auch Cic. inv. 1 , 1 5 3 f . an. 42. Das Gesetz des C. Servilius Glaucia de pecuniis repetundis ( 1 1 1 v.Chr.). 43. Das Gesetz des Cn. Domitius Ahenobarbus de sacerdotiis (104 v.Chr.), das von Sulla wieder abgeschafft wurde. 44. Vgl. Cic. inv. 2,116. - Subjekt zu volet kann filius oder uxor sein. 45. In den comitia mußten die Stimmberechtigten zur Abstimmung hintereinander über die pontes zu den saepta auf dem Campus Martius gehen. 46. Die lex frumentaria brachte Lucius Saturninus wahrscheinlich in seinem zweiten Tribunat 100 v. Chr. ein. Qu. Servilius Caepio wurde 99 v. Chr. maiestatis angeklagt, aber freigesprochen; vgl. 2,17 (vgl. Anm. 59 zu 1,24). 47. Caplan, 1954,39, Anm. d führt Literatur zur fraws/aizo an. Vgl. Cic. inv. 1,10 und 2,57-61. 48. Zu peculatus publicus s. Th. Mommsen: Römisches Strafrecht. Leipzig 1899, 764 ff. Vgl. Cic. inv. 1 , 1 1 , wo für und sacrilegus einander gegenübergestellt werden. 49. Die praetoriae exceptiones werden nach Caplan, 1954, 41, Anm. d. an dieser Stelle und in Cic. inv. 1,57 erstmals erwähnt; Caplan stützt sich u. a. auf L. Wenger: Institutionen des römischen Zivilprozessrechts. München 1925 (Englische Ubersetzung: New York 1940). 50. Vgl. Cic. inv. 2,148 f. und die Stilfigur der ratiocinatio 4> 2 3-

362

ANMERKUNGEN

5 1 . Zwölftafelgesetze 5,7a. 52. In Cic. inv. 2,148 fehlt diese Bestimmung; ob es ein solches Gesetz gab, ist umstritten. 53. Zwölftafelgesetze 5,3. 54. Vgl. Zwölftafelgesetze 5,4.5. 54. 101 v. Chr. wurde Malleolus als erster auf diese Art hingerichtet. Vgl. Cic. inv. 2,149: Quidam (!) iudicatus est parentem occidisse ...; vgl. auch Th. Mommsen (s. Anm.48), S. 9 2 1 - 9 2 3 . 56. Vgl. Cic. inv. 1 , 1 5 u. 2,69-73. 57. L. Accius ( 1 7 0 - c a . 86 v.Chr.); nominatim conpellare bedeutet: auf offener Bühne angreifen. Der Schauspieler wurde verurteilt (s. 2,19 und Anm. 50 dazu). 58. Vgl. 2,23.43. 59. Caepio, der Vater des in Anm. 46 genannten Mannes gleichen Namens, verursachte als Prokonsul 105 v. Chr. durch mangelhafte Zusammenarbeit mit seinem Kollegen Cn. Mallius - Grund: Hochmut gegenüber dem homo novus - die verheerende Niederlage des römischen Heeres gegen die Kimbern und Teutonen bei Arausio. Deshalb wurde ihm das prokonsularische imperium entzogen, und auf Veranlassung des Volkstribunen L. Cassius Longinus wurde er 104 v.Chr. aus dem Senat entfernt (vgl. Cic. Brut. 135). 103 v. Chr. wurde er wegen perduellio (Hochverrat) verurteilt. 60. Durch die manumissio wurde ein Sklave der potestas domini entzogen und mußte sich selbst vor Gericht verantworten. 61. Cicero nennt inv. 2,96 die nämliche Situation. 62. Vgl. Cic. inv. 2,104. 63. Caplan, 1954, 47, Anm. e: „Especially that of a magistrate"; Achard, 1989, 24, Anm. m plädiert für das con-

silium imperatoris. 64. Vgl. 1 , 1 7 und 1,26. 65. Zu Sulpicius Rufus s. Anm. 150 zu 4,31. 66. Vgl. Cic. inv. 2,72, w o C.Popilius nicht namentlich genannt wird. Nachdem L. Cassius Longinus 107

ZU SEITE 3 7 BIS 5 3

67. 68. 69. 70.

363

v. Chr. im Krieg gegen die Kimbern gefallen war, schloß der Legat C . Popilius Laena einen Vertrag mit den Feinden: Die Römer mußten Geiseln stellen und die Hälfte ihres Besitzes ausliefern. Deswegen wurde Popilius 106 v. Chr. von dem Volkstribunen C . Caelius Caldus angeklagt; er mußte ins Exil gehen. In 4,34 zitiert der Auetor aus seiner Verteidigungsrede. Vgl. 1 , 1 7 und 1,25. Vgl. Eur. Or. 538f. und El. 1244. Vgl. K. Barwick, 1965, 66ff. (Lit.ausw. 2,3): Das XQIVÖfievov (iudicatio) in den Rhet. 1.1. Ciceros und der RaH. Vgl. Cic. inv. 1,19.

Buch II 1. 2. 34. 5• 6. 7. 8. 9. 10. 11.

1,2 1,3a 1,3b Vgl. Cic. inv. 1,9: prineeps omnium

partium.

3.2-15 1,4-17 1,18-25 1,26-27 1,27 2,3-26 2,27-30

12. 2,31-46 !3- 2.47-5° 1 4 . Cicero unterscheidet inv. 2 , 1 6 ex causa, ex persona, ex facto ipso (Motiv, Täter, Tat). Von diesen Faktoren leitet er den Wahrscheinlichkeitsbeweis her (inv. 2,i7ff.; 2 , 1 7 - 1 8 : causa; 2 , 2 8 - 3 7 : persona; 2 , 3 8 - 5 1 : factum). 1 5 . Von Cicero wird die causa in impulsio und ratiocinatio unterteilt (inv. 2 , 1 7 f.). 16. Vgl. zum folgenden Cic. inv. 2,3 2 ff.

364

ANMERKUNGEN

17. Zwischen persuasionem; quibus und vituperano nehmen die Herausgeber eine Lücke an; Marx, 1894, ergänzt caute dicendum est et ad utilitatem nostrae causae adcommodate; et praeterea dicemus nihil attinere cum de crimine agatur vitam et mores eius vituperare propterea quod reo. (Die Ubersetzung dieser Textpassage ist zwischen Klammern gestellt.) 18. Ahnlich Gellius, noct. Att. 14,2,8. 19. Vgl. Cic. inv. 2,24. 20. Die Begriffe Signum (uqßSLOv) und argumentum (xexiifjQiov) werden nicht immer klar voneinander abgesetzt. Cicero schreibt inv. 1,48: Signum est, quod sub sensum aliquem cadit et quiddam significai, quod ex ipso profectum videtur, quod aut ante fuerit aut in ipso negotio aut post sit consecutum et tarnen indiget testimoni et gravioris confirmationis ut cruor, fuga, pallor, pulvis, et quae his sunt similia. In Cael. 22,53 gebraucht er den Begriff argumenta statt signa als Oberbegriff für causa, locus, facultas usw. (Vgl. W. Kroll: Rhetorica III: Quintilian und Severianus (Das 2 H M E I O N ) , in: Philol. 34/ J 934) 3347341) 21. Vgl. Cic. inv. 2,44. 22. Achard, 1989, 36 schreibt: et qua die (Genitiv!), qua noctis hora. Damit entfällt die Wiederholung qua hora ... quota hora, aber noctu an interdiu und qua die, qua noctis hora sagen ebenfalls zweimal das nämliche aus. 23. Cic. inv. 2,43 unterscheidet ante rem, in re, post rem. 24. Die Behandlung der loci communes geht zurück auf Protagoras und Gorgias (s. Einführung, S. 322) (Cic. Brut. 4éf.) In inv. 2,48 sagt Cicero: locus communis aut certae rei quandam continet amplificationem ... aut dubiae ...

25. Man unterscheide die iudicii quaestio 1,26. N u r Sklaven durften gefoltert werden. 26. „Untechnische" Mittel zur Beweisführung (mcrveig dze%voi). Aristoteles nennt fünf: Gesetze, Zeugenaussagen, Verträge, Aussagen unter Folter, Aussagen unter Eid (rhet. 1,2 [1355b] und 1,15 [1375a]).

ZU SEITE 5 5 BIS 75

365

27.2,3-8 28. verae causae im Unterschied zu Schulübungen - exercitationes (vgl. 4,58 causam dicimus - extra causam in exercendo). 29. Vgl. Cic. inv. 2,125. 30. Vgl. 2,i9f.: Grundlagen des ins. 3 1 . ius commune - xoivdv öixatov ist das ungeschriebene Recht; es entspricht dem ius gentium - im Unterschied zum positiven Recht (ius civile) (s. Anm. 44 zu 2,19); vgl. Arist. rhet. 1,10 (1368b); 1 , 1 3 (1373b); 1,15 (1375a) und Cic. off. 3,69. 32. 2,I9f. 33. Vgl. die Definition von honesta res und rectum 3,3. 34. dialectici sind die Philosophen, die die Wahrheit durch Fragen und Antwort (öiaXeyea&ai) ermitteln möchten. Für Piaton war die Dialektik die einzige legitime Methode des Philosophierens. Später setzte man Dialektik mit Logik gleich. Die Epikureer lehnten die Dialektik ab; die Stoiker wurden von ihren Kritikern Dialektiker genannt (Cic. fin. 2,i7f.). Cicero versteht unter Dialektikern keine bestimmte Schule, sondern eine Methode des Philosophierens, von der nur die Epikureer ausgeschlossen sind, (nach H. Dörrie in: Der Kleine Pauly, Bd. I, 1964, 1509 (Lit.ausw. 2,1). 35. consilium steht hier in seiner ursprünglichen Bedeutung wie consulere Cic. rep. 2,31. 36. Das Beispiel bezieht sich auf die Auseinandersetzung zwischen Saturninus und Caepio, die auch 1,21 angeführt wird (vgl. Anm. 45 u. 46 zu 1,21). 37- 2 , i ? f . 38. actio, petitio, persecutio beinhalten die Möglichkeiten, seine Rechte vor Gericht geltend zu machen (vgl. Caplan, 1954, 88 f., Anm. c, wo auf weitere Literatur verwiesen wird, Calboli, 1969, 23 5 f. und Achard, 1989, 49, Anm. 54). 39. 2,19 f. 40. D . h . wenn für den zu behandelnden Fall keine eigene

}66

ANMERKUNGEN

gesetzliche Bestimmung vorliegt und man deshalb aus Gerichtsentscheiden in ähnlichen Fällen Schlußfolgerungen ableiten muß. 41. Vgl. 1,24. 42. Vgl. Cic. inv. 1,14 und 2,69. 43. Vgl. Cic. inv. 2,160 ff. Cicero beginnt seine Ausführungen folgendermaßen: Iustitia est habitus animi communi utilitate conservata suam cuique tribuens dignitatem. Eius initium est ab natura profectum; deinde quaedam in consuetudinem ex utilitatis ratione venerunt; postea res et ab natura profectas et ab consuetudine probatas legum metus et religio sanxit (2,160). N a c h Caplan, 1954, 9of., A n m . b , der sich u.a. auf J.Stroux stützt (Literaturangaben s. a . a . O . ) , hatte die rhetorische Theorie einen wesentlichen Einfluß auf die römische Rechtswissenschaft, war aber trotz ihres Nutzens für die Plädoyers der patroni nicht von wirklicher Bedeutung für die Rechtsprechung in einem konkreten Fall. Caplan weist auch darauf hin, daß in der Aufzählung der partes iuris durch den Auetor die edicta und responsa prudentium unerwähnt bleiben. Z u m philosophischen Hintergrund des ius verweist Caplan auch auf W. Kroll, 1935, 2 1 1 - 2 1 5 (Lit.ausw.2,2). 44. (pvaig; vgl. Cic. inv. 2,67. Natura ius entspricht dem ius gentium - nicht identisch mit dem „Völkerrecht" - , im Unterschied zum ius civile; es ist für alle Menschen, nicht nur die cives Romani bindend (vgl. Gaius, inst. 1,1). D e r Begriff „Naturrecht" ist griechischen Ursprungs; ihm steht das „positive Recht" gegenüber (vgl. A n m . 31 zu 2,14). 45. vößog; vgl. Gaius, inst. 1,3: Lex est, quod populus iubet atque constituit. - Neben den leges rogatae, den v o m Volk beantragten Gesetzen, gab es auch leges datae, G e setze, die ein Magistrat kraft seines imperium einbringen konnte, nachdem ihn das Volk oder der Senat dazu ermächtigt hatte. 46. Zwölftafelgesetze 1,1.

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BIS 8 3

367

47. avvfj'd'eia; vgl. Cic. inv. 2,65. Das „Gewohnheitsrecht" spielte in der gerichtlichen Praxis kaum eine Rolle. 48. nexQLjxevov. 49. M. Livius Drusus: praetor urbanus 115 v.Chr.; Sex. Iulius Caesar: praetor urbanus 123 v.Chr. 50. C. Caelius war vor 103 v.Chr. iudex. P.Mucius Scaevola war wahrscheinlich 136 V. Chr. iudex; vgl. 1,24 und Anm. 57 dazu. Die mimi gebrauchten gerne ioci illiberales; Lucilius durfte z.B. die Dichter Accius und Pacuvius angreifen, wehrte sich aber gegen Angriffe auf seine Person. 51. xaÄdv xai öixaiov, emeixeg, i'oov. Der Begriff aequum et bonum wird hier erstmals in der römischen Literatur verwendet; bonum beinhaltet auch bona fides. Der philosophische Begriff ist griechischen Ursprungs, die Erläuterung ist der römischen Rechtspraxis entnommen (vgl. F. Pringsheim: Bonum et aequum, in: Sav. Zeitschrift 52/1932, 78-155). 52. awakkayfia. 53. Zwölftafelgesetze 1,6-9 (Übersetzung von R. Düll, München 19765 Tusculum); die Lesart coniciunto statt conicito wird von den Herausgebern der Zwölftafelgesetze bevorzugt. 53a. Die pacta ... legibus observanda genossen Rechtsschutz aufgrund des ius civile, die pacta ... sine legibus aufgrund des ius honorarium. (Diesen Hinweis verdanke ich Prof. Dr. M. Fuhrmann.) 54. Hier beginnt die Darstellung der adsumptiva pars der iuridicialis constitutio (vgl. i,24f.). Vgl. Cic. inv. i,yiil. 55. Vgl. die Definition von utilitas 3,3. 56. Vgl. 1,25 und Cic. inv. 2,78ff. (relatio criminis). - Vgl. Anm. 47 zu 1,22. 57. Vgl. Cic. inv. 2,82ff. 58. Vgl. Cic. inv. 2,84 ff. 59. Vgl. Cic. inv. 2,94 ff. 60. Vgl. Cic. inv. 2,98 ff. 61. Vgl. Cic. inv. 2,95.

3 68

ANMERKUNGEN

62. Vgl. Cic. inv. 2,96 (casus ... fortunae

vis).

63. Vgl. Cic. inv. 2,101 f. 64. Z u m locus communis der misericordia s. 2,26 u. bes. 2,50. 65. Vgl. Cic. inv. 2,106. 66. Vgl. 1,19: casu et fortuitu. 67. Die Verbindung mansuetus et misericors ist recht gebräuchlich in der lateinischen Literatur, z . B . Cic. Mur. 41,90; Sali. Cat. 54,2. 68. 1,24; vgl. Cic. inv. 2,105. 69. Vgl. Cic. inv. 2,86-94, w o die remotio criminis ebenfalls in alium (= in hominem) aut in aliud (= in rem) unterteilt ist; außerdem unterscheidet Cicero noch zwischen causa und res ipsa. 70. 2,23 71. inventio und tractatio (xgfjoig, e^egyaoia) ergänzen sich gegenseitig; vgl. Cic. de or. 2,120 und 2,176: . . . id inventum tractare. 72. Vgl. 2,2 argumentationes - Cic. inv. 1,67 teilt die argumentatio per ratiocinationem ein in propositio, propositionis approbatio, assumptio, assumptionis approbatio, complexio; vorher (inv. i,57ff.) stellt er dar, daß manche Theoretiker die argumentatio dreifach, andere fünffach einteilen; 1,61 berichtet er, daß die fünffache Einteilung auf Aristoteles zurückgeht. Das Enthymema des Aristoteles (rhetorischer Vernunftschluß, abgeleitet von wahrscheinlichen Prämissen) aber enthielt zwei Prämissen und die Schlußfolgerung; das Epicheirema (dialektischer Beweis; vgl. A n m . 34 zu 2,16) umfaßte normalerweise vier Prämissen; es entwickelt sich w o h l unter stoischem Einfluß. Theophrast führte es möglicherweise als erster in die Rhetorik ein. (s. W. Kroll: Das Epicheirema, in: Sitzungsber. A k a d . der Wissensch, in Wien [Philos.-histor. Kl.] 2/1936, 216; vgl. auch A n m . 116 zu 4,25) N a c h Caplan, 1954, 107, A n m . b ist es zweifelhaft, ob in der praktischen Redekunst die argumentatio in der hier dargestellten Form häufig durchgeführt wurde; vgl. 2,30,

ZU

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BIS 9 7

369

w o auch eine tripertita oder quadripertita argumentatio für möglich gehalten wird. Vgl. auch A n m . 116 zu 4,25. 73. Im folgenden schreibt der Auetor expositio statt propositio. 74. Vgl. die Stilfigur conplexio 4,20. 75. Vgl. Cic. inv. 1,68. 76. propositio; das Thema wurde bereits 1,18 behandelt (s. A n m . 38 zu 1,18). 77. ratio. 78. Odysseus haßte den weisen Palamedes, weil dieser seinen geheuchelten Wahnsinn entlarvt hatte, als Agamemnon und Menelaos für den Trojanischen Krieg warben. Odysseus rächte sich an ihm, indem er eine Bestechung des Palamedes durch Priamos fingierte; Palamedes wurde gesteinigt (vgl. die verlorenen Dramen des Sophokles „ D e r wahnsinnige Odysseus" und „Palamedes" und die „Verteidigung des Palamedes" von Gorgias). 79. 80. 81. 82. 83. 84.

85.

86. 87.

88. 89. 90.

91.

rationis confirmatio. exornatio. confiteatur: Passiv. conplexio. Vgl. Cic. inv. i , 7 o f f . ; vgl. A n m . 72 Schluß. Hier fehlt eine Uberleitung wie z . B . 1,11.17; 2,27. Cicero behandelt die vitiosae argumentationes im Zusammenhang mit der reprebensio - confutatio inv. 1,78 ff. 2,28-30 Vgl. Cic. inv. 1,80. Vgl. denselben Wortlaut Cic. inv. 1,80. Das Zitat stammt aus einer Verteidigungsrede des C . Scribonius C u r i o (praetor 121 v.Chr.). Vgl. Cic. inv. 1,84. Vgl. Cic. inv. 1,85. Vgl. die Aussagen Catos bei Livius, ab urbe condita 34,4,1 ff. (Weitere Beispiele bei Caplan, 1954, 116, A n m . b) Marx, 1894, und Caplan, 1954, bevorzugen die Lesart religio.

37°

ANMERKUNGEN

92. mater atque materies: Alliteration. 93. Eine in Rhetorenschulen und popularphilosophischen Abhandlungen oft gebrauchte Aussage; vgl. Sali. Cat. 10. 94. Die Worte spricht Medeas Amme am Anfang von Medea Exul des Ennius, einer Adaption der Medea des Euripides. 95. Trinummus 23 ff. 96. Nur wenn nam mit „denn, nämlich" übersetzt wird, ist der Vorwurf, hier liege eine falsche Schlußfolgerung vor, berechtigt; nam steht aber vor allem in umgangssprachlichem Gebrauch auch im Sinne von „zum Beispiel, also, daher", um einen allgemeinen Ausspruch durch ein einzelnes Beispiel zu erläutern (s. Georges, Lat.-dt. Handwörterbuch). In Cic. inv. 1,95 wird das Plautuszitat ebenfalls in mißverständlicher Weise angeführt. 97. Arist. rhet. 2,24,5 (1401b) führt als Beispiel für eine falsche Schlußfolgerung die Behauptung an, Liebende brächten dem Staat Nutzen, da die Liebe des Harmodios und Aristogeiton den Tyrann Hipparchos vertrieben habe. 98. Auch in einem Beispiel in 2,43 wird die Frage nach dem Wert der Philosophie gestellt (s. Anm. 124 zu 2 >43)99. Pacuvius (220 - vor 130 v.Chr.) wird außerdem 2,37.43; 4,7 zitiert. Aus welchem seiner Stücke die Verse stammen, wissen wir nicht. 100. Oft wird Fortuna-Tyche auch mit einem Steuerruder oder Füllhorn dargestellt; man denke auch an die rota Fortunae (z.B. in den Carmina Burana). 1 0 1 . 2,36 102. ötXrjfifxa; vgl. die divisio 4,51 und die complexio Cic. inv. 1,45. 103. Diese und die folgenden Senare stammen von Ennius oder wurden aus einer griechischen Rhetorenschule, die den Crespontes des Euripides zitierte, ins Lateinische übertragen.

ZU SEITE 97 BIS 1 1 3

371

104. Vgl. Cic. inv. 1,83. Das hier von Cicero angeführte Beispiel wird in Rhet. ad Her. 2,42 genannt. 105. Vgl. Cic. inv. 1,81. 106. Ahnliche Beispiele in Arist. rhet. 1,2 (1357b). 107. Vgl. Cic. inv. 1,90: commune est ... 108. Dieser Wortwechsel könnte aus einer Komödie stammen oder aus der Medea des Ennius. 109. Vgl. 2,24. 1 1 0 . Wahrscheinlich im Thyestes. in. Vgl. Cic. inv. 1,90. 1 1 2 . Vgl. Cic. inv. 1,90. 1 1 3 . Wahrscheinlich aus der Medea des Pacuvius; Medea spricht zu Aeetes. 1 1 4 . Vgl. Ciceros Darstellung des ambiguum inv. 1,88. 1 1 5 . Vgl. Cic. inv. 1,91. Die vulgares definitiones stellen dieselbe Art vitium dar wie die letzte infirma ratio 2.37- _ 1 1 6 . Vgl. die Definition von iniuria in 4,35. 1 1 7 . Vgl. Arist. rhet. 2,24 (1401b): „ . . . nicht jeder Schurke ist ein Dieb, aber jeder Dieb ist ein Schurke". 1 1 8 . Vgl. das letzte vitium in 2,39. 1 1 9 . Vielleicht aus dem Armorum iudicium des Accius: Aiax spricht mit Agamemnon über die Waffen des Achilles. 120. Dieses Fragment aus einer Tragödie eines unbekannten Autors war ein beliebtes Beispiel für Rhetoriker, z. B. Cic. inv. 1,83. 1 2 1 . Vgl. Cic. inv. 1,92. 122. Vgl. Cic. inv. 1,94. 123. Vgl. Cic. inv. 1,94. 124. In der Antiopa des Pacuvius streiten die Zwillinge Zethius und Amphion: Zethius wendet sich gegen die Liebe seines Bruders zur Musik und preist das Leben der Bauern und Soldaten an. Die Trennung der música von der sapientia entspricht römischer Ansicht. 125. Vgl. Cic. inv. 1,94. Dieses Argument nicht ad rem, sondern ad hominem wurde häufig gegen die Rede-

372

ANMERKUNGEN

kunst selbst vorgebracht; vgl. Plato, Gorgias 457a und Quint, inst. 1 2 , 1 , 3 2 . 1 2 6 . Vgl. Cic. inv. 1,94. In der narratio ist dieses Vorgehen aber nicht fehlerhaft (vgl. Cic. inv. 1,30). 1 2 7 . Dieses und die folgenden Beispiele beziehen sich auf das genus deliberativum. 1 2 8 . Das Beispiel handelt vom bellum Marsicum 91/90 v. Chr. Von den Marsi, einem mittelitalischen Volk, ging der Widerstand gegen Rom aus. Alba Fucens, eine Stadt im Gebiet der Aequi an der Grenze zu den Marsi, wurde zum municipium erhoben, weil es zu Rom stand; auch Pinna (Penna) hielt als einzige Stadt der Vestini zu Rom. 1 2 9 . Der Auetor unterscheidet immer zwischen verbum und res (vgl. 3,3); zu den Begriffen nomen, verbum, vocabulum s. Fuhrmann, i960, 54 (Lit.ausw. 2.3). 1 3 0 . Sulpicius (s. Anm. 1 5 0 zu 4 , 3 1 ) wollte die aufgrund der lex Varia aus dem Jahre 90 v. Chr. wegen ihrer Haltung im bellum Marsicum (s. Anm. 128) Verbannten im Jahre 88 zunächst wieder zurückführen. Warum er dann seine Meinung änderte, ist nicht ganz klar. 1 3 1 . Vgl. Cic. inv. 1,82. 1 3 2 . Vgl. Arist. rhet. 2,25 (1403a). 1 3 3 . Vgl. Cic. inv. 1,82. 1 3 4 . Vgl. Cic. inv. 1,92. 1 3 5 . Vgl. Cic. inv. 1,92; vgl. auch die Ausführungen zur amplificatio 2,47 ff. 1 3 6 . Vgl. Cic. inv. 1,67: breviter exponitur. 1 3 7 . epilogi = èjziXoyoï. Vgl. Cic. inv. 1,98 über die conclusio am Ende der Rede: Conclusio ... habet partes très: enumerationem, indignationem, conquestionem. Nach Arist. rhet. 3 , 1 9 ( 1 4 1 9 b ) hat die conclusio vier Aufgaben: 1. Den Hörer für sich gewinnen und gegen den Gegner stimmen, 2. steigern bzw. abschwächen, 3. Emotionen wecken, 4. zusammenfassen. Die Dreiteilung geht auf Isokrates und Hermagoras zurück. 3,16 nennt der Auetor auch den fünften Teil der argumen-

ZU S E I T E I I 5 BIS

138.

139. 140.

141. 142. 143. 144. 145. 146. 147. 148. 149. 150. 151. 152.

123

373

tatio (vgl. 2,28): conclusio (statt conplexio); vgl. auch die Stilfigur der conclusio 4,41. Vgl. Cic. part. or. 59 und Quint, inst. 6,1,1. Vgl. die enumeratio als eine Möglichkeit der distributio 1,7 und die frequentatio 4,52. Vgl. 4,10: .. .ne possit ars eminere und Anm. 34 dazu. Durch die amplificatio soll beim Hörer indignatio erweckt werden. Vgl. 3,24: Amplificatio dividitur in cohortationem et conquestionem. Vgl. zu den loci communes 2,9 und Anm. 24 dazu. Cic. inv. 1,100-105 zählt 15 loci communes auf. Vgl. Cic. inv. 1,101. Vgl. 3,10. Vgl. Cic. inv. 1,101; 2,100 und Kants kategorischen Imperativ. Vgl. Cic. inv. 1,102. Vgl. Cic. inv. 1,102. Vgl. Cic. inv. 1,102. Vgl. Cic. inv. 1,102. Vgl. Cic. inv. 1,103. ävTiJtagaßokrj - vgl. Cic. inv. 1,104. Vgl. das Beispiel für die figura gravis 4,12. Vgl. Cic. inv. 1,104 ur| d Anm. 249 zu 4,51. Vgl. Ciceros ausführliche Darstellung inv. 1,106-109, wo 16 loci communes für die conquestio aufgezählt werden; vgl. Anm. 141.

153- Vgl. Cic. part. or. 57. 153. Quint, inst. 6,1,18 bietet ähnliches für den Ankläger an. 154. Nach Cic. inv. 1,109 geht das Sprichwort auf den Rhetor Apollonios (2.Jh. v.Chr. - nicht Apollonios Molon!) zurück.

374

ANMERKUNGEN

Buch III 1 . 3,2-9 und 3 , 1 0 - 1 6 2. 3,16-28 34. 5. 6. 7.

8.

9.

10.

11.

3.19-27 3,28-40 Z u r Änderung der Reihenfolge s. Einführung, S. 332. genus deliberativum; vgl. oben causae deliberativae. C a t o Maior: Ceterum censeo Carthaginem esse delendam. P. Scipio Nasica vertrat die Meinung, Karthago müsse verschont werden (Plutarch, M . C a t o 27). 203 v. Chr. wurde Hannibal von seinen Landsleuten aufgefordert, nach Afrika zurückzukehren. N a c h A p pian, Hannibal 7,58 fürchtete er sich vor der Treulosigkeit und Undankbarkeit der Karthager. So erschien ihm Alexandria als ein sicherer Zufluchtsort vor den Römern und Karthagern. In anderen antiken Quellen wird nichts von diesen Überlegungen Hannibals berichtet. Livius, A b urbe condita 22,60 ff. überliefert die suasoria nach der Niederlage bei Cannae 216 v. Chr. Sie wird auch erwähnt in Cic. de or. 3,109 und off. 1,40 und 3,119. P. C . Scipio Aemilianus Africanus Numantinus wurde 147 v. Chr. auf Wunsch des Volkes gegen den Widerstand des Senats zum Konsul gewählt, o b w o h l er das gesetzliche Mindestalter noch nicht erreicht hatte, und erhielt den Oberbefehl in Afrika. 90 v. Chr. beantragte L. Iulius Caesar, allen Bürgerschaften in Italien das römische Bürgerrecht zu verleihen, die sich nicht gegen Rom erhoben hatten; im folgenden Jahr wurde die lex Plautia Papiria verabschiedet, nach der allen Personen das Bürgerrecht verliehen wurde, die 1. in einer mit Rom verbündeten Stadt in Italien wohnten, 2. sich dauernd in Italien aufhielten, 3. sich innerhalb von 16 Tagen um das Bürgerrecht bewarben. Diese Bestimmung wurde propter extraneam causam erlassen, bedeutete aber propter se eine grundlegende Ä n derung.

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375

1 2 . Vgl. Cic. inv. 2 , i j 6 f f . Cicero nennt als fims des genus deliberativum: et honestatem et utilitatem (inv. 2,156). Für den Auetor ist die honestas ein Teil der utilitas (s. die folgenden Ausführungen). - In de orat. 2,335 wird v o m möglichen Gegensatz zwischen utilitas und honestas gesprochen. - Die Stoiker hielten einen Konflikt zwischen utilitas und honestas für unmöglich (s. Cic. off. 3,9ff.). 1 3 . O b der Auetor ein solches Buch schrieb, wissen wir nicht; er kündigte auch ein Werk über die memoria (3,28) und eine ars grammatiea an (4,17; vgl. Einführung, S. 329). 1 4 . Im Unterschied zu ius (2,19). 1 5 . Die sog. Kardinaltugenden Piatons: ooepia / (pQÖvr}oig, öixmoavvr], ävögeia, owepQoervvr} (s. Piaton, Politeia 4,428 ff.). Cicero übersetzt oojcpQOOVvr) mit temperantia; die modestia ist eine pars davon (inv. 2,164; ' n v 2 , 1 5 9 f f . werden die vier virtutes dargestellt). 1 6 . Vgl. 3,4 und Cic. inv. 2,160. 1 7 . Vgl. 3,4 und Cic. inv. 2,160. Ch. Perelman: Uber die Gerechtigkeit. München 1967, 14 ff. gibt „einige Beispiele von den geläufigsten Konzeptionen der Gerechtigkeit, deren unvereinbaren Charakter man sogleich erkennen wird: 1. Jedem das Gleiche. 2. Jedem gemäß seinen Verdiensten. 3. Jedem gemäß seinen Werken. 4. Jedem gemäß seinen Bedürfnissen. 5. Jedem gemäß seinem Rang. 6. Jedem gemäß dem ihm durch das G e setz Zugeteilten". 1 8 . Vgl. 3,5; 4,35 und Cic. inv. 2,163. 1 9 . Vgl. 3,5 und Cic. inv. 2,164; s - A n m . 15. 20. Vgl. 1,2 und 2,19. 2 1 . sequi: hier Passiv. 2 2 . 3,4.5 2 3 . Vgl. 4,35: Non est ista fortitudo, sed temeritas ...; Quint, inst. 9,3,65 bezeichnet diese Form der definitio als distinetio - JtagaöiaaroXrj. - Z u r Gegenüberstellung von virtutes und vitia vgl. Thukydides 3,82 und Sali. Cat. 5 2 , 1 1 .

376 24. 25. 26. 27. 28.

29. 30. 31.

32.

33. 34. 35. 36. 37. 38. 39. 40. 41. 42. 4344.

ANMERKUNGEN

Rechtfertigung der 3,3 getroffenen Einteilung. Vgl. i,6ff., bes. 1 , 1 1 . Vgl. 3,3 und Anm. 12 dazu. 2,28 ff. Vgl. Cic. inv. 2,171, wo eine suasoria der Einwohner von Casilinum in Kampanien während der Belagerung durch Hannibal 216 v.Chr. als Beispiel angeführt wird. Vgl. Fortes fortuna adiuvat! Vgl. 2,47-50. Zu den exempla vgl. 4,62 und Anm. 282 dazu. Vgl. Cic. inv. 2,177 ff. Wie das genus deliberativum wird auch das genus demonstrativum im Vergleich zum genus iudiciale, welches am leichtesten in Regeln systematisiert werden konnte, nur sehr knapp und skizzenhaft behandelt. Anders als im genus deliberativum und genus iudiciale war das Ziel des Redners hier nicht, eine Entscheidung herbeizuführen, sondern nur laudare bzw. vituperare. Die Stoiker nannten diese Redegattung yevog EyxüJfiiaoTixöv; dem entspräche genus laudativum (s. Quint, inst. 3,3,14 und 3,4,12). - Vgl. 3,15. Diese Einteilung ist platonisch und aristotelisch; s. z. B. Plato, Gorgias 177c und Arist. eth. Nie. 1,8 (1098b) (weitere Stellen bei Caplan, 1954, 174, Anm. a). Vgl. 3,3 und Anm. 15 dazu. Vgl. 1 , 6 - 1 1 und 3,7; die insinuatio fehlt im genus demonstrativum; vgl. Anm. 12 und 31 zu Buchl. 1,12-16 Vgl. 1,17. Vgl. 3,3 und 3,10. Vgl. 3,10. Vgl. 2,47-50 und 3,10. Vgl. 2,9ff. (loci communes) und 3,23 (amplificatio). putavimus (Achard); putemus (Marx, Caplan, Calboli). Vgl. Anm. 31 zu 3,10. 3>!6-i8; vgl. 1,3 und 3,1 ab institutione artis = ordo artificiosus (Sulpicius Victor); ad causam temporis adeommodatum = ordo naturalis

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377

(Sulpicius Victor); vgl. 3,16 (Ende). Eine Theorie der dispositio entwickelten bereits Korax und Teisias (s. Einführung, S. 322). 45-1.4 46. 2,28; expositio -propositio, conclusio = complexio in 2,28 (vgl. Anm. 135 zu 2,28). 47. In 1,10 rät der Auetor, in diesem Falle die insinuatio anzuwenden und die Zuhörer zum Lachen zu bringen. 48. Nach Quint, inst. 5,12,14 ist dies die „homerische Anordnung" (nach Horn. Ii. 4,297-299). 49. Ohne Ubergang beginnt die Darstellung der pronuntiatio/actio. Zur Reihenfolge der V officio, oratoris (hier: res) s. 3,1 und Einführung, S. 332. 50. Es gab keinen Redner und keinen Theoretiker, der diese Meinung nicht vertrat; für Demosthenes z. B. nahm die actio die erste, zweite und dritte Stelle ein (Cic. Brut. 142); vgl. auch Quint, inst. 11,3,2; 11,3,5-7. 5 1 . Vgl. Anm. 7 zu 1,3. 52. Die Einteilung stammt wahrscheinlich von Theophrast. Zur vocis figura s. Cic. de or. 3,213-227; or. 55-60; Quint, inst. 11,3,14-65. 53. Aristoteles unterteilt in ixeye&og, agpovia, pv&fiög (rhet. 3,4 [1403b]). 54. cura beinhaltet ebenso Methoden der Rhetorik, Musik, Schauspielkunst wie diätetische und medizinische Behandlungen. 55. Der Begriff declamatio wird an dieser Stelle erstmals in der lateinischen Literatur erwähnt. 56. Diese Gesangs- und Sprachlehrer nannte man phonasci. 57. Vgl. Cic. de or. 3,227 und Quint, inst. 11,3,48 ff. 58. Diese Anweisung gab die Schule von Rhodos gegen den Asianismus. 59. Vgl. Cic. Brut. 34. 60. Vgl. 3,21; in 3,22 wiederholt sich der Auetor teilweise. 61. Vgl. Cic. de or. 3,181. 62. Unmittelbar danach (3,23-25).

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ANMERKUNGEN

63. In Cic. off. 1,132 bedeuet sermo das Gespräch, contentio die öffentliche Rede. 64. Vgl. die Definition der dignitas 4,18. 65. Vgl. dieselbe Definition der narratio in 1,4. 66. Die iocatio gehört zum sermo (vgl. A n m . 63). Vgl. auch Arist. eth. Nie. 4,14 (1128), w o zwischen feinem Witz und gemeiner Possenreißerei unterschieden wird. 67. Vgl. die Stilfigur continuatio 4,27. 68. Vgl. distributio - Einteilung 1,17 und die Stilfigur distributio 4,47. 69. Z u r amplificatio s. 2,48, zur misericordia 2,50; s. auch 4,11 (gravis figura), 4,38 (conduplicatio), 4,51 (descriptio) und 4,66 (conformatio). 70. Z u r pronuntiatio des Redners im Unterschied zu der des Schauspielers s. 3,26; Cic. de or. 1,251 u . ö . ; Quint, inst. n,3,57.i8iff. 71. Vgl. A n m . 66. 72. 3,26f. Die vollständigste Darstellung des motus corporis in der antiken Rhetorik findet sich Quint, inst. 11,3. 73. Das Prinzip des JTQSJTOV geht auf Theophrast zurück. Vgl. auch Quint, inst. 11,3,57.181. 74. Z u dieser üblichen Gestik s. Cic. Brut. 278 und Quint, inst. 11,3,123. 75. Ähnlich Cic. de or. 2,189 u n d Quint, inst. 6,2,26. 76. Vgl. Cic. de or. 1,18: Quid dicam de thesauro rerum omnium memoria? 77. 3,28-40. Die Erfindung einer Mnemotechnik wird Simonides von Kos (geb. ca. 557/56 v.Chr.) zugeschrieben (Cic. de or. 2,351); auch die Sophisten beschäftigten sich damit, aber lange Zeit wurde sie nicht als eigenes officium oratoris dargestellt (s. A n m . 7 zu 1,3). Die Darstellung des Auetors ist die älteste erhaltene. Ausführlich wird die antike Mnemotechnik außerdem behandelt in Cic. de or. 2,350—360 und Quint, inst. 11,2,1 — 51. (Weitere Literaturangaben s. Caplan, 1954, 204f., A n m . b und Achard, 1989, 113, A n m . 82).

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78. Ob der Auetor jemals darüber schrieb, ist unbekannt; vgl. 3,3 und 4,17. 79. Ein häufig dargestellter Gemeinplatz (vgl. z.B. Plato, Phaedrus 26$d; Cic. de or. 1 , 1 1 3 f£.; Hör. ars p. 408-411). 80. 3,36 81. Zu diesem Vergleich s. Plato, Theaet. 191 cd; Cic. de or. 2,360. 82. Vgl. Cic. inv. 1,9: memoria est firma animi remm ac verborum pereeptio. 83. Nach Macrobius, sat. 7,i3,7f. führt ein Nerv vom Herzen zum vierten Finger der linken Hand (digitus medicinalis). 84. Die testiculi arietini dienten als Geldbeutel (Bestechung der Zeugen!?). 85. Jambischer Senar aus einer unbekannten Tragödie Iphigenia? (s. u.) - oder vom Auetor selbst geformt. 86. Die Szene ist sicher vom Auetor selbst erfunden: Die Reges Marcii gehörten der angesehenen gens Marcia an; die angesehene plebejsche gens Domitia war ebenfalls recht bekannt. 87. Clodius Aesopus war der größte tragische Schauspieler in der 1.Hälfte des 1.Jahrhunderts v.Chr.; Cimber wird sonst nicht erwähnt. 88. Vgl. Lucr. nat. rer. 2,1037^ 89. Gemeinplatz in vielen Philosophenschulen (Stellenangaben bei Caplan, 1954, 22of., Anm. a und Achard, 1989, 122, Anm. 101). 90. Es ist unbekannt, welche Autoren gemeint sind (vgl. Anm. 77). 91. Wieweit die Theorie der memoria von den antiken Rednern in der Praxis angewandt wurde, wissen wir nicht. Zu modernen Methoden der Mnemotechnik, die von der antiken Theorie inspiriert wurden, s. J. Cousin (Hrsg.): Quintilien, Institution oratoire, Bd. VI, Paris 1980, 212.

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ANMERKUNGEN

Buch IV 1 . Anders als bei den Büchern I—III stellt der Auetor dem Buch IV eine ausführliche Vorrede voran (4,1-10), in der er seine These rechtfertigt, der Verfasser eines rhetorischen Lehrwerkes müsse die exempla für seine Lehre selbst bilden und dürfe sie nicht - wie die Griechen lehren - ab oratore aut poeta probato entnehmen. - Allerdings führt der Auetor selbst immer wieder exempla aus griechischen und römischen Dichtern und Rednern an. Diese Vorrede ist folgendermaßen gegliedert: 4 , 1 - 3 werden die Gründe genannt, die die Griechen für ihr Verfahren anführen: 1. modestia undpudor (4,1.2): 2. die exempla dienen als testimonia vor Gericht (4,2); 3. es ist ein summum artificium, die passenden Beispiele aus Dichtern und Rednern auszuwählen (4,3). 4 , 4 - 7 widerlegt der Auetor die genannten Argumente; 4,7-10 werden weitere Gründe für die Verwendung eigener Beispiele dargestellt. K. Barwick, 1961 (Lit.ausw. 2.3) weist nach, daß sich die Polemik des Auetor nicht gegen die Graeei allgemein richtet, sondern allein gegen Hermagoras (s. Einführung, S. 326; vgl. die Polemiken Cic. inv. 1,8 und 1,12-14). Außerdem ist die Vorrede nicht die eigene Leistung des Auetor, sondern er hat sie der ihm und Cicero gemeinsamen Quelle entnommen (s. Einführung, S. 335 f.). Dieser griechische Rhetor - Cicero und der Auetor benützten die lateinische Ubersetzung - wandte sich gegen Hermagoras. 2. ante rem - in einem Prooemium; praeter rem - in einem Exkurs (vgl. die in Anm. 1 genannten Polemiken gegen Hermagoras in Cic. inv. 1,8 und 1,12-14). 3- 4»i-3 4. In den folgenden Kapiteln sind häufig Beispiele aus Reden und Dichtungen miteinander verbunden. 5. Vgl. Hör. ars p. 444. 6. Ennius und Gracchus dienten auch Crassus als Beispiele (s. Cic. de or. 1,154).

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7. Vgl. die Definition des exemplum 4,5 und 4,62 und Arist. rhet. 2,20 (1394a). 8. Iis und iudicium bedeuten möglicherweise das Verfahren in iure und apud iudicem (Calboli, 1969, 275). 9. Zur imitatio vgl. 1,3; 4,7.9. 10. Vgl. Anm. 6. 1 1 . Vgl. die gleiche Feststellung Cic. or. 173. 1 2 . Vgl. Cic. Brut. 190; 199 ff. u. ö. 1 3 . = Graeci (d.h. Hermagoras; vgl. Anm. 1). 14. s. 4,1. 1 5 . Ladas war ein gefeierter spartanischer Läufer, Olympiasieger, dem Myron (5.Jh.) eine Statue errichtete; Boiscus ist sonst unbekannt (der Text ist korrupt). 1 6 . Vgl. Hör. epist. 1,3,15 ff. und Phaedrus, fab. Aesopi i>3-

17. N u r scheinbarer Widerspruch zu 4,57 exemplo conprobatum: Hier ist das literarische Exempel gemeint, dessen Aufgabe das demonstrare ist; die Aufgabe des exemplum in 4,57 ist das confirmare; die letzte Art exemplum. ist auch in 3,9 gemeint: quam plurima rerum ante gestarum exempla proferre. 18. Zur Figur similiter desinens s. 4,28. 19. Zitat aus der berühmten Rede des L. Licinius Crassus i. J . 106 v. Chr., als er sich für den Gesetzesantrag des Q. Servilius Caepio einsetzte, die Gerichtsbarkeit wieder den Senatoren zurückzugeben (vgl. Cic. de or. 1,225). 20. Vgl. 4,2 und Anm. 7. 2 1 . Vgl. Cic. inv. 1,8: verum oratori mínimum est de arte loqui, quod hic (= Hermagoras) fecit, multo máximum ex arte dicere, quod eum (= Hermagoras) minime potuisse omnes videmus; vgl. Anm. 1. 22. Vgl. fabula (nv&og) 1,10; 1 , 1 3 ; 2,12. Das Abschreiben war Aufgabe von Sklaven, den scribae librarii. 23. 4 , 7 - 1 0 (vgl. Anm. 1). Nach der confutatio (4,4-7) folgt die confirmatio (Achard, 1989, 133, Anm. 22). 24. Nach Korax sollten die Beispiele nur aus einer Quelle

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ANMERKUNGEN

genommen werden. Beispiele aus vielen Quellen anzuführen, war peripatetische Praxis. Vgl. die Würdigung der genannten Männer in Cic. Brut. 63 ff., 293 ff. (Cato), 103 f., 296 (Ti. Sempronius Gracchus), 125^, 296 (C.Sempronius Gracchus), 82ff., (C. Laelius, P. Cornelius Scipio Aemilianus, Ser. Sulpicius Galba), 95f. (M.Aemilius Lepidus Porcina), 139ff. (M. Antonius, L. Licinius Crassus). Cicero plädiert ebenfalls dafür, nur einem Mann nachzueifern (de or. 2,90); Quintilian ist im Anschluß an den Rhetor Seneca für die Nachahmung mehrerer Vorbilder (inst. 10,2,23). non putare = putare non; vgl. die Sentenz Non omnia possumus omnes. Vielleicht Anspielung auf die Auseinandersetzungen zwischen Philosophen und Rhetoren (z. B. Piaton); die drei Philosophen der sog. Philoscphengesandtschaft des Jahres 15 5 v. Chr. waren alle gegen die Rhetorik. Plutarch, Demosth. 23. Vgl. Ov. met. 5,646ff. Eine häufig gebrauchte Metapher, z. B. Piaton, polit. 485c!; Quint, inst. 10,1,46. Bildhauer (um 300 v. Chr.), Schüler des Lysipp, der den „Koloß von Rhodos" geschaffen haben soll (Plin. nat.h. 34,41,44). Vergleiche zwischen der Rhetorik und Plastik sind häufig, z.B. Cic. inv. 2,1; Brut. 70. Eine weitverbreitete Forderung der antiken Rhetorik; vgl. 1,17; 2,47; 4,32; Cic. inv. 1,25 (Ende). (Weitere Belegstellen bei Caplan, 1954, 2jof., Anm. a) Der Auetor ist sich der Sprödigkeit und sprachlichen Dürre, die seine Ausführungen auf weite Strecken kennzeichnen, bewußt (vgl. Einführung, S. 331); möglicherweise sind diese Bemerkungen aber der lateinischen Quelle unserer Schrift entnommen (vgl. Anm. 1 zu 4,1). 4,11-16 4,17-18

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38. figurae - xaQaHTfjçeç; die Stilfiguren ( o x W a r a ) nennt der Auetor gewöhnlich exornationes (4,18). 39. Die erste erhaltene Einteilung in drei genera dicendi/ figurae. Cicero formuliert de or. 3,177: Itaque tum graves sumus, tum subtiles, tum medium quiddam tenemus; de or. 3,199 spricht er von einer oratio plena quaedam, sed tarnen teres, et tenuis, non sine nervis ac viribus, et ea, quae partieeps utriusque generis quadam medioeritate laudatur; or. 69 heißt es: Sed quot officia oratoris, tot sunt genera dicendi: subtile in probando, modicum in delectando, vehemens in flectendo. Brut. 201 nennt er nur zwei genera: unum attenuate presseque, alterum sublate ampleque (Hervorhebungen durch den Herausgeber). Wahrscheinlich geht die Dreiteilung auf Theophrast zurück (Literaturangaben bei Caplan, 1954, 2 5 2 f., Anm. c). Auch bei der Behandlung der exornationes (4,17 ff.) kommt der Auetor wiederholt auf die drei Stilarten zu sprechen. 40. 4,19ff.; zu den exornationes, die sich besonders für die figura gravis eignen, s. 4,19.21.22.32.39.41. 41. Eine amplificatio criminis in der conclusio einer Anklagerede. 42. Vgl. Cic. Verr. 2,2,16,40. 43. Vgl. den neunten locus communis in 2,49. 44. Eine sprachliche Analyse des exemplum s. Caplan, 1954, 2j6f., Anm. b und Achard, 1989, 140, Anm. 46. (Beide Autoren stützen sich auf J. Marouzeau, Traité de stylistique appliqué du Latin, Paris 1935, 181 bzw. 1954, 194 f.) - Vgl. auch das dritte Beispiel für die descriptio 4.5 1 45- 4.11 46. Das Beispiel ist der rationis confirmatio (vgl. 2,28) der Rede entnommen, mit der der Volkstribun Qu. Varius Hybrida 90 v. Chr. seinen Gesetzesantrag (lex Varia de maiestate) begründete, wonach diejenigen angeklagt werden sollten, die Bundesgenossen gegen Rom aufwiegelten (also genus deliberativum). 89 v. Chr. wurde Q.

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ANMERKUNGEN

Varius Hybrida selbst nach dieser lex verurteilt. O b der Wortlaut der tatsächlich gehaltenen Rede entnommen ist oder v o m Auetor für dieses exemplum geformt wurde, wissen wir allerdings nicht. Erste Erwähnung eines Imperium, orbis terrae. Fregellae, eine alte Latinerkolonie in Mittelitalien, wurde wegen Widerstandes gegen Rom 125 v . C h r . erobert und zerstört; an seiner Stelle gründeten die Römer die Bürgerkolonie Fabrateria N o v a ; vgl. auch 4,22 und 4>3 7Das folgende Beispiel ist eine narratio, ein Teil des sermo (s. 3,23). Die Sonnenuhr auf dem Forum war ein beliebter Treffpunkt zum Plaudern. In seiner sprachlichen Analyse hebt Marouzeau (s. A n m . 44) besonders die umgangssprachlichen Merkmale hervor (vgl. Caplan, 1954, 2Ö2f., A n m . b). 4,15 f. Verstöße gegen das ngenov (vgl. 3,26; 4,16.17.22). In seiner sprachlichen Analyse hebt Marouzeau (s. A n m . 44) besonders Archaismen, dichterische Formen, Metaphern usw. hervor (vgl. Caplan, 1954, 264 f., A n m . c). Vgl. Hör. ars p. 26t. Z u m historischen Hintergrund dieses exemplum vgl. A n m . 46 zu 4,13. Vgl. 4,14 und A n m . 49 dazu. Marouzeau (s. A n m . 44) analysiert auch dieses Beispiel sprachlich (vgl. Caplan, 1954, 266ff., A n m . d ) . 4,18 ff. tractatio; vgl. 2,27 und A n m . 71 dazu. Modifizierung des Schemas Theophrasts: 'EkXr)vioß6g (Spracheinheit; vgl. Latinitas); oacprjveia (Deutlichkeit); jiqsjiov (Angemessenheit); xazaaxevr) (Redeschmuck), unterteilt in ¿Kkoyf] övofidzüjv (Wortwahl), äg/iovia (kunstvolle Anordnung), axfjfiara (Stilfiguren). 'EXkr\VLOfiög und aatpfjveia werden durch elegantia erfaßt;

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für JZQEJTOV fehlt eine Entsprechung; agfxovia = conpositio; xaxaaxevrj, wiedergegeben durch dignitas, ist auf die Stilfiguren beschränkt. (Nach Caplan, 1954, 268f., Anm. e) s. Anm. 60. soloecismus et barbarismus (Fremdwörter aus dem Griechischen) wurden von den Stoikern unterschieden (s. Diog. Laert. 7,192; Quint, inst. i , 5 , j f f . und i,5,34ff.). Früheste Erwähnung einer ars grammatica in Rom. Ob der Auetor ein solches Werk schrieb, ist nicht bekannt (vgl. 3,23 und 3,28). Vgl. Cic. de or. 3,149. Hiatus (avyxgovmg qxßvqevTwv) (hiare, hiuleus, -a, -um); vgl. Cic. or. 150: ...ne extremorum verborum cum insequentibus primis concursus aut hiulcas voces efficiat aut asperas. Quint, inst. 9,4,33: .. .tum vocalium concursus; qui cum accidit, hiat et intersistit et quasi laborat oratio. In der heftigen Rede kann der Hiat aber auch positiv wirken. In der deutschen Ubersetzung kann die jeweilige Stilqualität der folgenden Beispiele nicht erkannt werden; Caplan, 1954, und teilweise Achard. 1989, setzen die Ubersetzungen deshalb nur in die Fußnoten. Übertriebene Anwendung der Alliteration. Vgl. Prooemium 4 , 1 - 1 0 . Häufig verwendetes Zitat aus den Annalen des Ennius. Es ist unbekannt, aus welchem Stück des Ennius das Zitat stammt. Der Text ist verdorben; Marx, 1894, schreibt: quiquam quiequam quemquam, quemque quisque conveniat, neget. Die Ubersetzung ist übernommen aus: Kuchtner, 1911 (Lit.ausw. 1). Caplan, 1954, 272f., Anm. b übersetzt unter Einbeziehung eines möglicherweise vorausgehenden cum debere carnufex: Da der Schurke leugnet, daß irgend jemand irgendwem irgend etwas verdankt, verklagt wer auch immer wen auch immer (quisque = quicumque im alten Latein). traduetio; s. 4,20.

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ANMERKUNGEN

Jambischer Senar im Stil des Ennius (Marx, 1894, 118). Homoioptoton; s. 4,28. Spondeischer Hexameter, vielleicht von Ennius. Hyperbaton; s. 4,44. L. Coelius Antipater widmete nach 12 v.Chr. die 7 Bücher bellum Punicum dem L. Aelius Stilo. Nach Cic. Brut. 230 versprach er in der Vorrede zu Buch I, er werde das Hyperbaton nur wenn nötig anwenden. Das Zitat stammt aus der Vorrede zum II. Buch. (Die „normale" Wortstellung wäre: In priore libro, Lud Aeli, bas res scriptas ad te misimus.) Zu dignitas s. Anm. 60 zu 4,17. Neben dignitas bewirken auch gravitas und suavitas eine ornata oratio (s. 4,69; vgl. Cic. inv. 2,49). verborum exomationes: 4,19-46; sententiarum exornationes: 4,47-68. Zum Begriff exomationes s. Anm. 38 zu 4,11. Erfinder einer Figurenlehre war Gorgias (s. Einführung, S. 322). Die folgende Darstellung der Figurenlehre ist die älteste erhaltene, bietet aber noch keine vollständige Systematik wie die Ausführungen Quintilians (inst. 8 und 9, bes. 9,1,1 ff.). Dort ist auch der Unterschied zwischen Wort- und Gedankenfiguren am besten dargestellt. Die Trennungslinie zwischen Tropen (4,42-46) und Figuren und zwischen Wort- und Gedankenfiguren wurde nicht immer scharf gezogen. Anapher; vgl. conversio (4,19), conplexio (4,20) und conduplicatio (4,38). Vielleicht aus der Leichenrede für P. Scipio Aemilianus Africanus Numantinus (gest. 129 v.Chr.). Vgl. Cic. de or. 2,226. Epipher; s. Anm. 79. C. Laelius der Ältere (ca. 235-ca. 160 v.Chr.), der Freund des älteren Scipio; sein Sohn (ca. 190-nach 129) war kein homo novus mehr. Eine freie Wiedergabe aus der Rede des Aischines (390/ 89-ca. 315 v. Chr.), des Gegenspielers des Demosthenes (384-322), gegen Ktesiphon.

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85. s. Anm. 79; vgl. conplexio als Teil der argumentativ 2,28 und adtenuatione aut conplexione eiusdam litterae 4,29. 86. Das nämliche Beispiel zitiert Quintilian inst. 9,3,31 für die repetitio. Es stammt möglicherweise aus einer Debatte zwischen Cato Maior und P. Scipio Nasica (vgl. Anm. 7 zu 3,2). 87. Alexander Numenii (1. Hälfte 2.Jh. v.Chr.), jtegi oxnndrav 3,37 88. Möglicherweise aus der Auseinandersetzung um die Ermordung des Sulpicius (vgl. Anm. 150 zu 4,31). 89. Stoischer Gedanke. 90. contraria significatio (dvravdxAaaig, öiaqpopa) Gebrauch eines Wortes in verschiedener Bedeutung; verwandt mit der adnominatio 4,29. 91. Vgl. Inschrift aus Pompeji (CIL 4,4971). 92. 4,19-21 93. Vgl. 4,58 und Anm. 276 dazu sowie das contrarium 4>25-

94. In der Literatur häufig verwendete Antithese (z. B. Hör. ars p. 465). 95. Vgl. Hör. serm. 2,7,28. 96. Vgl. Hör. sat. 1 , 1 , 1 - 3 . 97. Die Gracchen. 98. Vgl. 4,13 und Anm. 48 dazu. 99. Vielleicht sind „Viertelerschleicher" - quadruplatores bzw. delatores, indices angesprochen, d.h. diejenigen, die sich durch Anschuldigung vor Gericht den vierten Teil der Strafe oder des Vermögens des Beschuldigten erschlichen. 100. = rogatio (Cic. de or. 3,203). 1 0 1 . Das exemplum ist vielleicht der Rede des Q. Varius Hybrida 90 v. Chr. entnommen (s. 4,13 und Anm. 46 dazu). 102. Vgl. Cic. de or. 3,207: sibi ipsi responsio. Man unterscheide die ratiocinatio (ovXXoytouög) in der legitima constitutio (1,23) und die Figur der subiectio (4,33 f.; vgl. Anm. 155 zu 4,33 und Anm. 253 zu 4,61). 103. Dasselbe Argument bei Sen. Rhet. contr. 7,3 (18),6;

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ANMERKUNGEN

Quintilian schreibt es dem älteren C a t o zu 104.

105. 106. 107.

108. 109. 110. 111. 112.

113. 114. 115. 116.

117. 118.

(inst.

5>n>39)Das trifft z. B. auf den letzten Makedonenkönig Perseus (179-168 v. Chr.) und den Numiderkönig Syphax (203 v. Chr. von den Römern gefangengenommen), aber nicht auf Jugurtha (nach 160-104 v - Chr.) zu. Vgl. Cic. off. 1,35ff.; Verg. Aen. 6,853 u - ° Vgl. 3,23. Die yvcójU?; wird in Arist. rhet. 2,21 ( 1 3 9 4 3 - 1 3 9 5 ^ behandelt; Quint, inst. 9,3,98 schließt die sententia von den Figuren aus. Vgl. auch 4,27. Stoischer Gedanke. Epikureischer Gedanke. D e m Pythagoras zugeschriebener Gedanke. Stoischer Gedanke; vgl. 4,27. In der Komödie häufig geäußerter Gedanke; vgl. auch Caes. B . C . 3,104,1. Vgl. das Distichon: Donec eris sospes, multos numerabis amicos; / témpora si fuerint nubila, solus eris (Ov. trist. 1,95f.). Stoischer Gedanke; vgl. Cic. Tusc. 3,14,29. Vgl. Terenz, Adelphoe. Vgl. Arist. rhet. 2,21 (1395b). Vgl. contentio 4,21 und 4,58. Bei Aristoteles ist das Enthymema ein Bestandteil der argumentado (vgl. A n m . 72 zu 2,28); vgl. Quint, inst. 5,10,2: Sunt enim, qui illud prius epichirema dicant, pluresque invenías in ea opinione, ut id demum, quod pugna constat, enthymema accipi velint, et ideo illud Cornificius (= Auetor ad Herennium - A n m . des H r s g J contrarium appellat. Vgl. Isoer. Callim. 56; Hör. sat. 2,3,i9ff. Die drei folgenden Figuren membrum, articulus, continuatio beziehen sich auf die Satzperiode; membrum und articulus bezeichnen ursprünglich Teile des menschlichen Körpers; in die Rhetorik kamen die Begriffe über die Musik. Vgl. die Darstellung bei Arist. rhet. 3,9 (i409aff.). Z u den lateinischen Begriffen s. Cic. or. 211: ... illa quae nescio cur Graeci xößßaTa et xmXov

ZU S E I T E 2 2 3

BIS

231

389

nominant, nos non recte incisa (= articulas - Anm. des Hrsg.) et membra dicamus. Quint, inst. 9,3,9 8 übernimmt membrum und articulus nicht in die Liste der Figuren. 1 1 9 . Trikolon. 120. Caplan, 1954, 294, Anm. b weist darauf hin, daß dieses und die folgenden Beispiele jeweils mit einem Ditro-

chäus ( - " - - ) enden: consulebas - restitisti-(per-)

terrui-

sti - sustulisti - conlocavi - (ab-)esse possit - contulerunt - (domi-)nationem (vgl. z . B . B.F. Crusius, Römische Metrik. Eine Einführung, München 1955, 135). 1 2 1 . Vgl. Anm. 1 1 8 .

122. caesa oratione: Vgl. Cic. or. 211: incisum (s. Anm. 118). 1 2 3 . Vergleiche zwischen Redner und Kämpfer sind nicht selten, z . B . Cic. de or. 1,242 u.ö.

124. Vgl. die continuado, eine Art der contentio 3,23. Vgl.

Cic. or. 204: ... quem Graeci jzepioöov, nos tum ambitum tum circuitum tum comprehensionem aut continuationem aut circumscriptionem dicimus. 125. sententia s. 4,24; contrarium s. 4,25; conclusio s. 4,41. 126. Vgl. Anm. 107 und m zu 4,24. 1 2 7 . Ähnlich wie in 4,24 stoischer Gedanke. - Die Periode besteht aus vier membra (vgl. 4,26 und Anm. 1 1 8 dazu), der nach der antiken Rhetorik höchstzulässigen Zahl (s. Cic. or. 222 und Quint, inst. 9,4,125).

128. conpar, similiter cadens, similiter desinens (4,28), adno-

129. 130. 131. 132.

minatio (4,29) und contentio (4,21) gehören zu den sog. Gorgianischen Figuren (s. Einführung, S. 322). 4,26 Drei membra aus je sieben Silben. Zwei membra aus je 12 Silben. Caplan, 1954, 299, A n m . c und Achard, 1989, 162, Anm. 145 verweisen auf die von Cicero bevorzugte

Klausel éssé videätür (vgl. Anm. 120 zu 4,26). 1 3 3 . 4,18 und 4,32 äußert sich der Auetor kritisch zur übertriebenen Anwendung dieser Figur. Vgl. Anm. 128.

134. diligentia ...,

neglegentia . . . : Vgl. Ter. Andria 20 f.

neclegentiam ... diligentiam.

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ANMERKUNGEN

135. Vgl. Anm. 128. Caplan, 1954, 300, Anm. b verweist zum Homoioptoton und Homoioteleuton auf K. Polheim, Die lateinische Reimprosa, Berlin 1925, 161 ff. und 463 ff. 136. In den beiden Beispielen entsprechen sich Adverbien und Verbalformen. 137. Vgl. 4,21 (Anfang) und Anm. 90 dazu. - Durch mutatio vocum wird die adnominatio bewirkt in den Beispielen 1-4, durch mutatio litterarum in den Beispielen 5-8. In de or. 2,256 führt Cicero Beispiele an, in denen Cato durch eine mutatio litterarum Wortwitze bewirkt, z. B. nobiliorem - mobiliorem. 138. Zur Bedeutung von verbum, nomen, vocabulum vgl. 2,45; 3,33 und Fuhrmann, i960, 54 (Lit.ausw.2,3). 139. Vgl. conplexio als Teil der argumentatio 2,28 und die Figur conplexio 4,20. 140. vincit = vinciit (Archaismus). 1 4 1 . Das nämliche Wortspiel verwendet Verg. Georg. 2,328: avia tum resonant avibus virgulta canoris. Quint. 9,3,69-71 führt dieses Zitat zusammen mit dem Wortspiel amori - amari 4,21 als nicht nachahmenswerte Beispiele an; er nennt es ein Beispiel für die traductio des Cornificius (= Auetor ad Herennium) (vgl. 4,20). 142. Hss.-Gruppe M: Curiam meretricem. Vgl. die kritischen Äußerungen Quintilians zu diesen vier Arten der adnominatio (inst. 1,5,6.38ff.). 143. Ein Wortspiel durch ein Verbum simplex und compositum ebenso bei Plaut. Stich. 399. 144. Wortspiel mit den nämlichen Wörtern bei Tertullian, apol. 50,12. 145. Die Aufforderung, man solle erst urteilen und erst dann lieben, und nicht umgekehrt, begegnet häufig, z.B. Cic. Lael. 85, Sen. ep. 3,2 u.ö. 147. Vgl. 4,29 temperare ... obtemperare und Anm. 143 dazu. Nach Quint, inst. 9,3,72 ist die Wirkung eines solchen Wortspieles trivial (vgl. Anm. 141).

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391

148. Polyptoton. 149. Der Eigenname Alexander steht in jedem Satz am Anfang in einem anderen Kasus. Im folgenden Beispiel stehen verschiedene Eigennamen in verschiedenen Fällen am Satzanfang. 150. Zu diesem exemplum vgl. v. Ungern-Sternberg, 1973, 1 5 2 - 1 5 7 (Lit.ausw. 2,3). In dem stilistisch anspruchsvollen Abschnitt einer Rede, „die etwa bei der Wiedereinsetzung einer demokratischen Regierung im Jahre 86 .. gehalten wurde" (F. Münzer in: RE XIII, 1926, 880) wird der gewaltsame Tod der fünf großen Volkstribune Ti. und C. Gracchus, L. Appuleius Saturninus, M. Livius Drusus und P. Sulpicius Rufus dargestellt. Ti. Gracchus wurde 133 v. Chr., sein Bruder Gaius 121 v. Chr. ermordet. Saturninus wurde von Cicero als seditiosorum omnium ... eloquentissimus bezeichnet (Brut. 224). Er war Anhänger des Marius und bekleidete 103 und 100 v.Chr. das Volkstribunat. Zunächst arbeitete Marius, der 100 v. Chr. zum sechsten Mal Konsul war, mit ihm zusammen. Aber dann ließ er ihn und andere Anhänger fallen und den Notstand erklären (senatus consultum ultimum). Saturninus ergab sich ihm gegen Zusicherung der fides publica, wurde aber nach seiner Wahl zum Volkstribun für das folgende Jahr im Dezember 100 v. Chr. gefangen und in der Kurie ermordet. Drusus, ein bedeutender Vertreter der Nobilität, wurde von Th. Mommsen „Gracchus der Aristokratie" genannt. Im Jahre 91 v. Chr. trat er das Volkstribunat als Vorkämpfer der Senatspartei an in der Absicht, die schwebenden innenpolitischen Fragen zu lösen; u. a. forderte er das Bürgerrecht für alle italienischen Bundesgenossen. Der Senat erklärte die von ihm eingebrachten Gesetze für ungültig. Die Ermordung des Drusus in seinem Haus auf dem Palatin wurde zum Anlaß für den Bundesgenossenkrieg. - vultum parentis: Wohl die Büste seines Vaters.

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151. 152. 153.

154. 155.

156. 157.

158.

ANMERKUNGEN

Sulpicius, ebenfalls Angehöriger einer patrizischen gens, hat 91 v. Chr. zum engsten Freundeskreis des Drusus gehört, dessen Politik er fortsetzte. 88 v. Chr. wurde er Volkstribun. Um seine Ziele zu erreichen, verbündete er sich offenbar mit Marius. Bei der Eroberung Roms durch Sulla konnte er sich zunächst retten. Er wurde aber, nachdem er auf die Proskriptionslisten gesetzt war, von einem Sklaven verraten und ermordet. Sein Kopf wurde an den rostra auf dem Forum zur Schau gestellt (vgl. das Ende Ciceros). - Zur Verweigerung der Bestattung vgl. z. B. Soph. Antigone. - Der Sklave wurde auf Befehl Sullas freigelassen (vgl. 1,25 u. Anm. 60 zu 1,24) und vom Tarpejischen Felsen gestürzt. - Auch von anderen Autoren werden die fünf Volkstribune als exempla angeführt, z. B. Cic. harusp. resp. 41 u. 43, wo allerdings Drusus nicht genannt wird. - Vgl. Anm. 243 zu 4,48 und 307 zu 4,65. 4,28-31 Zur Notwendigkeit der dissimulatio artis vgl. 1,17; 2,47; 4,10 und Anm. 34 dazu. D. h. die drei Stilfiguren eignen sich eher für das genus demonstrativum als für das genus iudiciale (vgl. Cic. or. 38 u. 84; Quint, inst. 8,3,12). Vgl. Cic. de or. 3,97ff.; or. 150. Nach Quint, inst. 9,3,98 gehört die subiectio zu den sententiarum exornationes (vgl. Anm. 169 zu 4,35 und 173 zu 4,37). Die Figur der subiectio ist zu unterscheiden von der ratiortis subiectio 2,28 und 4,24. Im Unterschied zur ratiocinatio (4,23) richtet sich die subiectio auch an die adversarii. Zu den praemia vgl. Cic. inv. 2,110. Zum Unterschied von Iis und iudicium s. Anm. 8 zu 4,2. Die sponsio in einem Zivilprozeß war die gegenseitige Verpflichtung der beiden Parteien, daß der Verlierer dem Gewinner eine gewisse Summe zu zahlen hatte. Möglicherweise Anspielung auf die Ermordung des Sulpicius (vgl. 1,25 und Anm. 150 zu 4,31).

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BIS 2 4 7

393

159. Vgl. Anm. 102 zu 4,23: ratiocinatio. 160. Verteidigung des C. Popilius; vgl. Anm. 66 zu 1,25. 1 6 1 . Zusammen mit den Figuren der repetitio, conversio, conplexio, traductio und der contraria significatio (4,19-21; s. Anm. 90 zu 4,21) bildet die gradatio ein vollständiges System der Wiederholung. 162. Vgl. Cic. Quinct. 94. 163. Nach Quint, inst. 9,3,55 ist dieses Beispiel eine Nachahmung von Demosth. cor. 179; vgl. auch Augustinus, Confessiones 7,10: O aeterna veritas et vera Caritas et cara aeternitas! 164. Dasselbe Beispiel s. Quint, inst. 9,3,56. 165. Quint, inst. 9,3,91 rechnet die finitio nicht zu den Figuren. - Vgl. 1,19.21; 2,17, wo die definitio der legitima constitutio zugeordnet ist. 166. Vgl. 1,21 und 2,17. 167. Zur iniuria im römischen Recht s. Th. Mommsen, Römisches Strafrecht, 1899, 784-808. 168. Vgl. 3,6 und Anm. 23 dazu. 169. NachCaplan, 1954,317^,Anm.everbindetdietransitio die Funktionen der enumeratio und expositio (1,17; 2,47 und Anm. 136 dazu). Nach Quint, inst. 9,3,98 ist die transitio wie die subiectio (vgl. 4,33 und Anm. 155 dazu) und die occultatio (4,37) eine sententiarum exornatio. 170. Vgl. Demosth. cor. 268. 1 7 1 . Zu verschiedenen Arten der correctio s. Calboli, 1969, 356. 1 7 2 . sequeris - insectaris: insectari ist das Verbum frequentativum zu insequi. - Vgl. Vellerns 1,9,6: eminentis fortunae comes invidia und Hör. serm. 3,3,13: invidiam placare paras virtute relicta? Auch die occultatio zählt Quint, inst. 9,3,98 zu den sententiarum exornationes (vgl. Anm. 155 zu 4,33 und 169 zu 4,35). Vgl. die Figur der praecisio 4,41. 174. Wir wissen nicht, wer der Sprecher und der Angesprochene ist; auch L. Labeo ist sonst unbekannt. Ebenso verhält es sich mit dem folgenden Beispiel.

394

ANMERKUNGEN

175- Vgl. Quint, inst. 9,2,75. 1 7 6 . Quint, inst. 9,3,64 nennt diese und die beiden folgenden Figuren adeo ... vulgaria, ut sibi artem figurarum adserere non possint. 1 7 7 . s. Anm. 48 zu 4,13. 178. Vgl. Isoer. Ad Demonicum 6 und Ov. ars am. 2,113. Vgl. Anm. 176 zu 4,37. 179. Man unterscheide die coniunctio verborum (ovvöeofKig) 4,41. 180. Vgl. Anm. 178 zu 4,37. 1 8 1 . Vgl. Anm. 176 zu 4,37. 182. Vgl. 4,16. 183. Vgl. die ähnlichen Figuren der repetitio (4,19), conversio (4,19) u n d complexio

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187. 188. 189. 190.

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(4,20); v g l . C i c . d e o r . 3,206;

or. 135; Quint, inst. 9,3,28: adiectio. Möglicherweise wieder bezogen auf die Ermordung des Sulpicius (vgl. 1,25 und Anm. 150 zu 4,31). Auch die interpretatio ist nach Quint, inst. 9,3,98 eine sententiarum exornatio (vgl. Anm. 155 zu 4,33 und Anm. 169 zu 4,3 5). Man unterscheide von der Stilfigur die commutationes in der dispositio (3,17), die commutatio vocis (3,25) und die commutatio gestus (3,26). Dem Sokrates zugeschriebene Aussage; vgl. Gellius, n. a. 9,2,7 u. ö. Dem Aristarchos von Samothrake (1. Hälfte 2.Jh. v. Chr.) zugeschriebene Aussage. Dem Simonides (6.Jh. v.Chr.) zugeschrieben; vgl. Hör. ars p. 361: ut pictura poesis. Nach Quint, inst. 9,3,88 kann die dubitatio den verborum exornationes oder den sententiarum exornationes zugeordnet werden. Vgl. Demosth. cor. 20. Vgl. Demosth. cor. 22. In anderen antiken Abhandlungen zur Rhetorik wird die expeditio nicht zu den Stilfiguren gerechnet, sondern als argumentorum genus ex remotione (Quint.)

ZU SEITE 247 BIS 257

194.

195. 196.

197. 198. 199. 200.

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203. 204.

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dargestellt; vgl. Arist. rhet. 2,23 (1398a); Cic. inv. 1,45 (enumeratio); Quint, inst. 5,10,66 ff.; 7,1,31 ff. Man unterscheide das dissolutum genus orationis (4,16). Arist. rhet. 3,12 (1413b) empfiehlt diese Figur nur für Gerichtsreden. Vgl. Anm. 179 zu 4,38. Vgl. die occultatio (4,37). Andere lateinische Bezeichnungen für die Aposiopese sind reticentia (Cic. de or. 3,205), obticentia, Interruptio (Quint, inst. 9,2,54). Vgl. Demosth. cor. 3. Vgl. Demosth. cor. 129. Vgl. 4,27. Alexander = Paris; Philoktet hatte vom sterbenden Herakles dessen Bogen mit den Giftpfeilen erhalten. Auf dem Weg nach Troja hatten ihn die Griechen wegen einer stinkenden Wunde auf Lemnos zurückgelassen. Im zehnten Kriegsjahr wird geweissagt, ohne den Bogen des Herakles könne Troja nicht erobert werden. Darauf holen Odysseus und Diomedes den Philoktet nach Troja (vgl. Sophokles, Philoktet). Gemeint sind die Tropen; den Begriff tropus verwendet der Auetor nicht. Vgl. Quint, inst. 8,6,1: Tropus est verbi vel sermonis a propria significatione in aliam cum virtute mutatio. Die Unterscheidung zwischen Tropen (TQÖJIOI) und Figuren (o^^uara) ist nach Cic. Brut. 69 griechischen Ursprungs. Noch zur Zeit Quintilians wurde zwischen Tropen und Figuren nicht scharf unterschieden (vgl. Quint, inst. 9,1,1-9). Zur Onomatopoiie vgl. die Aussagen Caesars nach Gellius, n. a. 1,104; Cic. de or. 3,152ff.; or. 68 und 81; Hör. ars p. 46ff. und ep. 2 , 2 , 1 1 9 - 1 2 1 und Quint, inst. 1,5,71 ff.; 8,3,35-37; 8,6,31 f. Die Bildung von Neologismen wird für Gerichtsreden wenig empfohlen. vagire - schreien (von kleinen Kindern und Tieren). fragor - Krachen, Prasseln, Getöse sc. einstürzender Häuser, des Donners, des Meeres (Georges); vgl. naufragia rei publicae (Cic. Sest. 15).

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ANMERKUNGEN

205. Vgl. Anm. 202. 206. Vgl. die permutatio per argumentum (4,46). 207. Nach Georges: „Ausschläger" („vielleicht anspielender Name auf den Redner L. Philippus"). Der Name könnte aus lat. plaga - Schlag und griech. xö tjüpoc; - das Schwert zusammengesetzt sein; vgl. „Hau-degen"; Caplan, 1954, 335 übersetzt „Swaschbuchler"; Achard, 1989, 182: „Coup-Fourree". 208. Vgl. 3,10: rerum externarum, corporis, animi. 209. pro certo nomine collocemus: pronominatio. 210. Vgl. 4,31. 211. Vgl. Caes. B. G. 1,26,3. 212. Die fehlerhafte Periphrase ist nach Quint, inst. 8,6,61 die jtEQioookoyCa. 213. Vgl. verborum transiectio (4,18). 214. Vgl. Quint, inst. 8,6,65. 215. virtüte pro vesträ (Klausel) statt pro vestra virtute. 216. Getrennt sind instabilis fortuna und omnes facultates; fortünä välüit und casüs fäcültätes sind beliebte Klauseln; vgl. Anm. 120 zu 4,26. 217- 2,47 218. Von den attizistischen Rhetorikern wurden die Lehren zum Rhythmus nicht als Teil des regulären curriculum gelehrt (vgl. Cic. de or. 3,188). Der Auetor erwähnt in 4,18 den Rhythmus nicht ausdrücklich. Hier steht er jedoch unter asianischem Einfluß. Cic. or. 229 warnt vor einer zu offensichtlichen Umstellung von Wörtern nur um des Rhythmus willen. Zum Rhythmus in Poesie und Prosa äußert er sich auch de or. 1,151 und or. 187«. 219. Arist. rhet. 3,11 (1413a) betont, daß die Hyperbel ob ihrer großen Heftigkeit mehr zu jungen als zu alten Menschen passe; er subsumiert sie unter die Metapher. 220. In 4,19 führt der Auetor ebenfalls ein exemplum an, das die Notwendigkeit der concordia im Staate betont. 221. Vgl. Horn. IL 1,104 u -ö. 222. Vgl. Horn. II. 1,249 (bezogen auf Nestor).

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223. Vgl. Cic. de or. 3,168. 224. Zu tibiae s. K. Schlesinger, The greek aulos, a study of its mechanism and of its relation to the modal system of ancient greek music, London 1939. 225. Vgl. Cic. de or. 3,169; nach or. 94 rechnet Aristoteles die abusio der translatio (s. u.) unter. Der Auetor beschränkt die abusio auf Adjektive; vgl. die folgenden Beispiele. 226. Man unterscheide die translatio der legitima constitutio 1,22 und die translatio criminis 2,22. Vgl. zur Metapher Arist. rhet. 3,2 (i40jaff.); Cic. de or. 3,155; or. 92; Quint, inst. 8,6,4 u - Zum Unterschied zwischen abusio und translatio s. Anm. 225. Die translatio ist nicht zu vermengen mit der im nächsten Kapitel dargestellten permutatio. 227. Vgl. Demosth. cor. 129 und Plaut. Cist. 43. 228. Vielleicht wieder bezogen auf die Ermordung des Sulpicius (vgl. 1,25 und Anm. 1,50 zu 4,31). 229. Vgl. Cic. leg. agr. 2,5,13; Quint, inst. 8,4,28 zitiert diese Stelle für die ratio minuendi. 230. Ähnlich Arist. rhet. 3,2 (1405a); Cic. de or. 3,165; fam. 16,17,1; Quint, inst. 8,3,37 usw. 231. Vgl. Anm. 226. Statt mit permutatio wird der griechische Begriff gewöhnlich mit inversio ins Lateinische übertragen; vgl. Quint, inst. 8,6,44: Allegoria, quam inversionem interpretantur ... 232. Der Text ist hier verdorben; Caplan, 1954, 344 schreibt: Drusum Graccum nitorem obsoletum und faßt Graccum als Gen. Plur. auf; seine Ubersetzung lautet: „faded reflection of the Gracchi" - ein verblaßtes Spiegelbild der Gracchen. - Vgl. die pronominatio 4,42. 233. Vgl. Quint, inst. 8,6,54ff.: ironia, illusio. 234. Atreus, der Vater des Agamemnon, ermordet mit seinem Bruder Thyestes zusammen seinen Stiefvater. Später schlachtet er die Kinder des Thyestes und setzt sie ihrem Vater zum Mahle vor. Aigisthos, der Sohn des Thyestes, erschlägt Atreus.

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ANMERKUNGEN

235. Aeneas wurde als pius bezeichnet wegen seiner pietas dem Vater Anchises gegenüber. 236. Hippolytos widersteht dem Versuch seiner Stiefmutter Phaedra, ihn zu verführen; vgl. Euripides, Hippolytos und Seneca, Phaedra. 237. 4,47-68 238. Vgl. distributio - Einteilung (1,27) und distributio abgehackter Vortrag (3,23) und die divisio (4,51). 239. Vgl. 1,13: duo genera narrationis: in negotiis und in personis. 240. Aufgrund der lex Plautia iudiciaria 90/89 v. Chr. wurden die iudices aus dem Senatoren- und Ritterstand ausgewählt. Seit 82/81 v.Chr. konnten die equites nicht mehr zu iudices bestimmt werden (lex Cornelia). 241. Dieses exemplum ist der Verteidigungsrede des L. Licinius Crassus für die Vestalin Licinia entnommen (Ende 114/113 v.Chr.). L. Cassius Longinus Ravella, 127 v.Chr. Konsul, 125 v.Chr. Censor, der quaesitor in diesem Prozeß, führte gerichtliche Untersuchungen stets nach dem Grundsatz Cui bono? durch. 242. Cicero nennt die Figur vox libera (de or. 3,205; vgl. or. 138: ut liberius quid audeat). Nach Quint, inst. 9,2,27 und 9,3,99 gehört die oratio libera nicht zu den Figuren. 243. Nach Calboli, 1969, 398 schließt dieses exemplum an das letzte exemplum in 4,31 an (s. Anm. 150 zu 4,31). 244. Die ampliatio, die Vertagung des Urteils durch den Gerichtsvorsitzenden, erfolgte, wenn die Richter erklärten: non liquet; die Formel war: Amplius (sc. cognoscendum). Die lex Acilia repetundarum (123/122 v. Chr.) suchte Mißbrauch zu unterbinden. 245. Zur Textgestaltung verweist Achard, 1989, 192, Anm. 276 auf P. Hamblenne, Notes de lecture, in: Latomus 1973, 385 f. 246. Vgl. Plato, Phaedo 91b und den von Cervantes dem Aristoteles zugeschriebenen Satz: Amicus Plato, sed magis amica veritas.

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247. Vielleicht ein Fragment aus der Rede des C. Gracchus De legibus promulgatis (122 v.Chr.) (vgl. F.Ellendt in: Meyer-Dübner: Orat. Rom. fragm., 1842,235). 248. Vgl. Cic. part. or. 22; Quint, inst. 10,1,12 u. ö. 249. Vgl. die demonstratio 4,68 und die consequentium frequentatio in Cic. part. or 55; vgl. Quint, inst. 9,2,4off. - Vgl. den zehnten locus communis für die amplificatio 250. Ein häufig angewandter Vergleich, z. B. Arist. rhet. 3,3 (1406b); Cic. Cat. 2,1. 251. Vgl. Cic. Sex. Rose. Am. 135: ...passim per forum volitet... und das zweite Beispiel in 4,62. 252. Der Redner spricht seine Zuhörer zuerst als Quirites, am Ende als iudices an. - Vgl. das exemplum für die figura gravis 4,12. Zu der Schilderung der Greuel nach Einnahme einer Stadt s. Horn. II. 9,591 ff. und die Worte Caesars in Sali. Cat. 51,9. 253. Vgl. die duplex conclusio 2,38, die ratiocinatio 4,23 und die distributio 4,47. Cicero formuliert de or. 3,207: in distributissupposita ratio. Quint, inst. 9,3,93 bezweifelt, ob distributis subiecta ratio eine Stilfigur (schema) sei. Man unterscheide die causarum divisio 1,17 (vgl. unten). 254. Vgl. Cic. inv. 1,45 (complexio). 255. Vgl. 4,50: causa avaritiae an egestatis. 256. 1,17 257. Vgl. die enumeratio 2,47 und Quint, inst. 9,2,103: consummatio. 258. Vgl. Cic. part. or. 40. 259. Das folgende Beispiel ist eine „wiederholende Zusammenstellung" in einer causa coniecturalis nach den 2,3 ff. zusammengestellten Prinzipien. 260. Vgl. die Ausführungen zur conlatio 2,6 und Quint, inst. 7,2,42-44. 261. Vgl. 2,8: In consequenti tempore ... 262. s. Calboli, 1969, 406-408. Durch die expolitio wird ein bestimmter Gedanke nach bestimmten Regeln in allen Einzelheiten entwickelt.

400 263. 264. 265. 266. 267. 268. 269. 270. 271.

272.

273. 274. 275.

276.

ANMERKUNGEN

Vgl. Arist. eth. N i c o m . 1169a 19 und Cic. off. 1,57. 4,65 Das ist die quaestio infinita ({teerig); s. Quint, inst. 3,5,5 ff. Vgl. 4,54. Vgl. 4,25 f.. 4,59-62 2,47 ff. 4,41 Vgl. die Durchführung der argumentatio in fünf Schritten 2,28ff.; die Durchführung der expolitio ist freier. Das folgende Beispiel ist das älteste erhaltene für die expolitio; es ist in den 4,56 genannten Schritten durchgeführt: simplex - XQeia\ knapp formulierte Behauptung; rationes - amai: Begründungen; duplex: weitere Behauptung; rationes: Begründungen dazu; contrarium - ex zov ¿vavriov: Begründung v o m G e gensatz her; simile - ex JiagaßoXfjg: Begründung durch einen Vergleich; exemplum - ex KaQaöeiyfiäTOJV: Begründung durch ein historisches Beispiel; conclusio - eniKoyoq-. Schluß. Der Opfertod des P. Decius Mus 304 v. Chr. gegen die Latiner und/oder seines Sohnes 295 v . C h r . gegen die Samniten war ein beliebtes historisches Beispiel für Vaterlandsliebe; vgl. 4,62. 2,28. 47ff. Vgl. Arist. rhet. 3,17 (1418a); Cic. de or. 3,202; Quint, inst. 9,2,4 usw. Besonders bei der Behandlung der Stilarten sind Vergleiche mit dem Körper des Menschen häufig; Einzelheiten und Belege s. Caplan, 1954, 347f-, A n m . e. 4,21; die alten Rhetoriker bezeichneten die contentio entweder als verborum exornatio oder als sententiarum exornatio; der Auetor rechnet sie zu beiden Gruppen.

ZU S E I T E 2 8 5

BIS 3 0 1

401

277. Die similitudo wird mit den beiden folgenden Figuren exemplum und imago (4,62) in der nacharistotelischen Rhetorik gewöhnlich zu einer Trias zusammengefaßt. In Cic. inv. 1,49 sind imago, collatio und exemplum Unterteilungen zum comparabile - öfioCwoig; vgl. auch Cic. de or. 3,205; or. 138; Quint, inst. 8,3,72ff. u. ö.; vgl. auch die Wortfiguren translatio 4,45 und permutatio 4,46. Vergleiche sind erfunden, könnten aber aus dem wirklichen Leben stammen (vgl. Anm. 282 zu 4,62). 278. In Athen wurde an bestimmten Festen ein Fackellauf (kafwaör]ÖQOiiia) zu Fuß oder zu Pferd veranstaltet. 279. Vgl. Xen. mem. 4,1,3 und Quint, inst. 5 , n , 2 4 f f . 280. Vgl. Cic. Lael. 58. 281. Zu dem sprichwörtlichen Gedanken vgl. Plaut. Stich. 520-522 u. ö.; vgl. Anm. 1 1 2 zu 4,24. 282. Vgl. Anm. 277 zu 2,59. Die exempla sind geschichtlichen Ereignissen entnommen (im Unterschied zur similitudo; vgl. Anm. 277 zu 4,59). Arist. rhet. 2,20 (1393a) unterscheidet der Geschichte entnommene und erfundene Beispiele, wozu auch die Fabeln zu rechnen sind. Für den Auetor haben die exempla die Funktion der Ausschmückung (2,46) und des Beweises (3,4; vgl. auch 4,5): exempla ponuntur hic non confirmandi neque testificandi causa, sed demonstrandi. 283- 4>57 284. 4,59 285. Vgl. Anm. 277 zu 4,59. Vgl. Arist. rhet. 3,4 (1406bff.); Cic. inv. 1,49; Quint, inst. 5,1,24 u. ö. 286. Vgl. Arist. rhet. 3,4 (1406b), bezogen auf Achilles (Horn. IL 20,164). 287. Vgl. 4,51 und Anm. 251 dazu. 288. Die Eunuchpriester der phrygischen Kybele hießen Galloi. 289. Eine in der Komödie beliebte Figur, z. B. Ter. Hec. 439-441. Quint, inst. 9,3,99 schließt die effictio ebenso wie die folgenden notatio von den Figuren aus.

402

ANMERKUNGEN

290. Diese exornatio wurde von Theophrast entwickelt und von Lysias, Plautus und Terenz bevorzugt. Cic. de or. 3,204 nennt sie morum ac vitae imitatio. 291. Vgl. Plaut, mil 209: columnam mento suffigit suo. 292. Vgl. die ähnliche Erzählung bei Athenaeus 6,230. 293. sannio - Grimassenschneider, Hanswurst (vgl. Cic. de or. 2,251). Für einen verna - Haussklaven ist dieser Name also unpassend. Die isti barbari sind niedrigergestellte Sklaven. 294. Vgl. Theophr. char. 21,4 und O v . Pont. 1,1,47. 295. Z u dieser Pferderasse s. Plin. n. h. 8,166. 296. xogayiov. Alle Requisiten usw., die zu einer Theateraufführung nötig sind. 297. C a . 16 U h r wurde die cena, die Hauptmahlzeit, eingenommen; vgl. Mart. 4,8,7. 298. Vgl. Plaut. Pseud. 960-962. 299. Vgl. Plaut. Asin. 444 ff. 300. A u f samischem Tongeschirr wurde das D e k o r von Metallgefäßen nachgeahmt, es war aber von geringerem Wert. 301. Vgl. 4,55. Quint, inst. 9,2,29 verbindet die sermocinatio und die im nächsten Kapitel dargestellte conformatio zu einer Figur: fictiones personarum. 302. Das sagum ist das Zeichen für Krieg wie die toga Zeichen für Frieden. 303. In griechischen Tragödien häufig verwendete Wendungen, z . B . Eur. Andr. 892f.; Eur. Ale. 1065; Soph. Ant. 1030; s. außerdem O v . Pont. 4,16,51. 304. Vgl. Isoer. Demon. 21; Soph. O e d . C o l . 567ff. usw. 305. D e r pedisequus „folgt auf dem Fuße". 306. Vgl. Horn. Ii. 6,490: Hektor zu Andromache. 307. Das Beispiel bezieht sich wahrscheinlich wieder auf den Tod des Sulpicius (vgl. A n m . 150 zu 4,31). Auf ihn könnte auch sententiose loqueris (s. o.) zutreffen; Cic. Brut. 203 nennt ihn einen tragicus orator; s. auch Cic. Brut. 205. 308. Vgl. Cic. de or. 3,205; or. 138; Quint, inst. 9,2,9-37

ZU S E I T E 3 0 3

309. 310. 311.

312. 313.

314. 315.

316.

317.

318. 319. 320. 321.

BIS 3 I 5

403

(vgl. Anm. 301); andere lateinische Begriffe sind fictio personarum, personarum ficta inductio, deformatio, effiguratio. homunculus: Deminutiv in peiorativem Sinne. L. Iunius Brutus, der legendäre Begründer der Republik und des Konsulats; vgl. Tac. ann. 1,1,1. Die beiden exempla für die conformatio spiegeln die Agitation plebeischer Politiker gegen die Nobilität wider. Achard, 1989, 221, Anm. 347 verweist auf ähnlich empörte Worte des C. Memmius im Jahre 1 1 1 v. Chr. (s. Sali. Jug. 31,2) und des Volkstribunen des Jahres 73 C. Licinius Macer (s. Sali. hist. 3,48). Vgl. 2,48-50. Nach Caplan, 1954, 400, Anm. c ist die significatio mehr ein Tropus als eine Figur. Quint, inst. 8,3,83 unterscheidet zwei Arten, 1. die significatio, die mehr andeutet, als ausgesprochen wird, 2. die significatio, die auch meint, was nicht gesagt wird. Vgl. superlatio 4,44. Das Beispiel könnte aus der Rede stammen, die L. Licinius Crassus 91 v.Chr. gegen M. Iunius Brutus hielt, der sein Vermögen verschleudert hatte (vgl. Cic. de or. 2,223-226). Vgl. Quint, inst. 6,3,47ff. Der juristische t.t. cernere hereditatem bedeutet: eine Erbschaft annehmen. (In der deutschen Ubersetzung ist die Zweideutigkeit nicht zu erkennen.) Eine gängige Redensart, um auf niedrige Herkunft hinzuweisen; vgl. z. B. Sueton, vita Horatii 1,1, vom Vater des Dichters. Vgl. praecisio 4,41. Vgl. 4,59-61. Vgl. Anm. 150 zu 4,31. Vgl. Cic. de or. 3,202: distincte concisa breviter und percursio. Quint, inst. 9,3,99 rechnet die ßga'/vXoyia nicht zu den Figuren; inst. 9,3,50 behandelt er sie als eine Form des Asyndeton.

ANMERKUNGEN

4°4

322. A u f w e l c h e s historische Ereignis sich dieses Beispiel b e z i e h t , ist u n k l a r u n d umstritten. In der Literatur genannt w u r d e n u. a. die E x p e d i t i o n Philipps V. v o n M a k e d o n i e n 202-200 v. C h r . u n d das V o r g e h e n des L u cullus gegen Mithridates 85/84 v . C h r . M ö g l i c h e r w e i s e ahmte der Auetor

auch D e m o s t h . Phil. 3,27 nach. ( L i -

teraturangaben u n d weitere E i n z e l h e i t e n s.

Caplan,

1954, 404^, A n m . a u n d A c h a r d . 1989, 223, A n m . 358). 323. E i n d e u t i g auf M a r i u s b e z o g e n : 1 0 7 - 1 0 0 v. C h r . w u r d e er sechsmal K o n s u l ; 100 v. C h r . w a r er der primus

civi-

tatis; 99 v. C h r . reiste er nach A s i e n ins freiwillige Exil; nach der A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit Sulla z u m

Staats-

feind erklärt, f l o h er nach A f r i k a ; M i t t e 87 v. C h r . kehrte er nach Italien z u r ü c k u n d erhielt das p r o k o n s u larische imperium;

f ü r 86 v. C h r . w u r d e er z u m siebten

M a l z u m K o n s u l gewählt, starb aber im Januar. - In den R h e t o r e n s c h u l e n w u r d e n gerne Beispiele aus d e m L e b e n des Marius g e n o m m e n ; vgl. Sen. R h e t . contr. 1,15 u n d Val. M a x . 6,9,14. 324. Vgl. A n m . 2 4 9 z u 4 , 5 1 ; andere lateinische B e g r i f f e f ü r diese Figur sind: evidentia, subiectio

repraesentatio,

sab

oculos

(vgl. C i c . de or. 3,202; Q u i n t inst. 8,3,61 f.;

9,2,40 usw.). 325. D a s f o l g e n d e Beispiel ist eine parteiische S c h i l d e r u n g der E r m o r d u n g des T i . G r a c c h u s d u r c h P. C o r n e l i u s Scipio N a s i c a Serapio im Jahre 133 v . C h r . ; es ist w a h r scheinlich einer controversia

u m dieses Ereignis ent-

n o m m e n ; vgl. auch die D a r s t e l l u n g des Plutarch, T i . Gr. i 7 f f . 326. P. C o r n e l i u s Scipio N a s i c a Serapio. 327. Vgl. C i c . Verr. 2,5,62,161. Q u i n t , inst. 9,2,40 zitiert diese C i c e r o - S t e l l e als exemplum

f ü r die evidentia

(vgl.

A n m . 324). 328. B e g i n n der z u s a m m e n f a s s e n d e n S c h l u ß b e m e r k u n g . 329. Vgl. 1,1 und A n m . 4 d a z u . 330. Vgl. E i n f ü h r u n g , S. 330. 331. Vgl. 1,1.

ZU S E I T E 3 1 5 BIS 3 1 9

405

332. Der Epikureer Philodemos aus Gadara (1.Jh. v.Chr.), dessen Werke durch die Papyrusfunde in Herculaneum wieder zugänglich gemacht werden können, sagt in seiner Schrift Jtegi ÖTjTooixfjq 1,250, die Redekunst bringe keinen Nutzen für ein glückliches Leben. 333- Vgl. Einführung, S. 333. 334. Vgl. die Schlußbemerkung des Dionysios von Halikarnassos, De compositione verborum 26.

4°7 VERZEICHNIS DER VERWENDETEN RHETORISCHEN UND JURISTISCHEN FACHTERMINI

„Der Verfasser der Rhetorik ad Herennium hat sich . . . nicht bemüht, die Begriffe seines Lehrgebäudes mit einer präzisen Terminologie logisch korrekt zu klassifizieren; . . . eine große Anzahl von Ausdrücken leistet doppelte oder gar dreifache Arbeit und bezeichnet mehrere teils einander sehr ähnliche, teils recht verschiedene Gegenstände der rhetorischen Theorie." 6 ' Trotz dieses „schweren methodischen Fehlers", der sicher darauf zurückzuführen ist, daß „das System aus heterogenen, niemals aufeinander abgestimmten Elementen künstlich zusammengesetzt ist" und der Autor der Rhetorica ad Herennium bzw. sein römischer Lehrer die griechische Terminologie teilweise ungeschickt übersetzte, soll versucht werden, in der deutschen Ubersetzung eine möglichst eindeutige und einheitliche Terminologie zu verwenden.66 In der folgenden Ubersicht werden die unterschiedlichen deutschen Bedeutungen eines mehrdeutigen lateinischen Begriffs durch einen Strichpunkt getrennt, z. B. commutatio und translatio (criminis).67

abscisio - Abbrechen (mitten in der Rede); vgl. praecisio abusio (xaTdxCTOig) - Katachrese, uneigentliche Bedeutung acrimonia - heftige Sprechweise; Schärfe, Energie actionem habere - das Recht zur Klage besitzen actio privata - Privatklage adiunctio (¿ite^r)Y|iivov) - Anschluß adnominatio (jtaQC>vo|iaaia - Paronomasie) - Anklang, Wortspiel adprobatio (ßeßaicooig) - Beweis durch Zustimmung adsimulatio - verstelltes Sichannähern (des Redners an die Meinung der Zuhörer) adtenuata vox - Fistelstimme adtenuatio - Abschwächung; schlichter Ton der Darstellung

40 8

VERZEICHNIS

ambiguum (djicpißoXia) - Zweideutigkeit ampbibolia - doppelsinnige Wendung amplificatio (aüi;T]ai5, öeivcoaig) - Steigerung, steigernder Ton apologus (anökoyog) - allegorische Erzählung argumentativ (¿ruxeigrma) - Beweis(-führung) argumentum (iOTÖfreong, Jt^äana) - erfunden Erzählung, Inhalt; (xex(iriQiov) - Beweis durch Uberführung; (Beweis durch einen) geschichtlichen Vergleich ab argumentis - das Heranziehen von Beweisen contra argumenta - das Widerlegen von Beweisen ars (TEXVTI) - theoretische Unterweisung, Lehrwerk, Theorie, Lehre artis scriptor - Verfasser eines Lehrwerkes articulus (xö(i|ia) - kleines Satzglied artificium - Lehrgebäude, Kunst, Kunstschöpfung artificium memoriae - Gedächtniskunst, Mnemotechnik attentus (jiQOcrexTixöc;) - aufmerksam barbarismus (ßaQßaotaiiög) - falsches Sprechen, Barbarismus (vgl. Latinitas) benivolus (eövoug) - wohlwollend brevitas (ßQax^Xoyia) - Kürze causa (aixia) - Veranlassung; Fall, Streitfall; Rede (vor Gericht) causa cadere - den Prozeß verlieren causam conicere - die Sache verhandeln causam obtinere - den Prozeß gewinnen circumitio (itepicppaoig - Periphrase) - Umschreibung clamor - voller Ton cognitor - Stellvertreter (vor Gericht) collatio - Gleichnis commoditas orationis — Gewandtheit der Rede commoditas in dicendi opere - günstige Ausgangslage bei der Redetätigkeit commoratio (¿junovri, öiatQißri) - Verweilen (bei einem wichtigen Gegenstand) commutatio - Stimmveränderung; (dvTi(iEtaßoX.r|) - Umstellung (der Worte) concessio (at)YYvwilrl) - Eingeständnis concinnus - kunstgerecht, harmonisch, kunstvoll angeordnet conclusio (¿itO-oyog) - Schluß; (tr)i|)i5) - Wiederholung (desselben Wortes am Anfang des folgenden Satzes)

DER confirmatio

FACHTERMINI

4O9

(maxig, xaxaaxEufi) - Bekräftigung

conformatio

( j i @ o a i o j i o j t o i i a , e i ö w X o i t o u a , = personificatio

- Per-

sonifizierung) - Verkörperung confutatio

(jticrug, a v a a x E U f j ) - W i d e r l e g u n g

coniectura

( a r o x a a n ö g ) - mutmaßlicher Schluß

coniecturam

tractare - einen m u t m a ß l i c h e n S c h l u ß z i e h e n

coniecturalis

(constitutio)

(oxo^ctonög ( a x ä a i g ) ) - auf einer V e r m u -

tung beruhend coniunctio

(i^ettyna, auve^EDYnevov - Z e u g m a ) - V e r b i n d u n g

coniunctio

verborum

conlatio

(oi)VÖ£(T|J.og) - W o r t v e r b i n d u n g

(01)7x51015) -

B e w e i s d u r c h Vergleichen,

G e g e n ü b e r s t e l l u n g , Vergleich (= conmiseratio

vergleichende

conparatio)

( o t x x o g , eXeog) - E r r e g e n v o n Mitleid

conpar (ioöxcoXov - I s o k o l o n , J t d g i o o v , j i a p i o c o o i g ) - Silbengleichheit (der Satzglieder) conparatio

( ä v x i o r a a i g ) - v e r g l e i c h s w e i s e G e g e n ü b e r s t e l l u n g ; (01)7-

XjHCJig) - Vergleich (= conplexio

conlatio)

(ejucpogä) - Z u s a m m e n f a s s u n g (= conclusio);

(cruiutXoxii

- S y m p l o k e , xoivöxr|g) - U m f a s s u n g (= V e r b i n d u n g v o n A n a pher und Epipher) conplexio

eiusdem

litterae

(cru0TO^ij) -

Verschmelzung

(=

con-

tractio) conpositio

(cto|iovia, a w ö s a i g ) - g e h ö r i g e A n o r d n u n g

conquestio

- Wehklagen

per conquestionem consecutio consequens

(|iExä xö JTQäyna)

consequentia constitutio

- in F o r m einer W e h k l a g e

(aunjtxü>(j,a) - B e w e i s aus d e n F o l g e n _

Z e i t nach der Tat

(¿itaxoXouÖEOig) - F o l g e (causae)

(onöoxaoLg; = status) - B e g r ü n d u n g s f o r m (des

Streitfalles) (vgl. A n m . 36 z u B u c h I) constructio

(verborum)

(avvft'Eaig) - V e r b i n d u n g

consuetudo

(verborum,

sermonis

contendere

- leidenschaftlich reden

contentio

(b/aywvioc,

u. ä.) (cruvrjftEict) - G e b r a u c h

>.0705) - leidenschaftliche R e d e ; (otvxidEcng,

dvxi^EXOv) - A n t i t h e s e ex contentione continuatio

(= ex conparatione)

- a u f g r u n d eines Vergleiches

- u n u n t e r b r o c h e n e r V o r t r a g ; (ji£Qio8og) - F o r t f ü h r u n g

continuitas

(verborum)

- ununterbrochene Folge

contractio:

s. conplexio

eiusdem

contrarium satz

litterae

(xMcag, £v{hj|IR|na, oyj\\ia EX TOO ¿ v a v x i o u ) - G e g e n -

410

VERZEICHNIS

conversio (dvrtoTQoepfj, ¿ititpoga - Epipher) - Umkehrung (vgl. repetitio) correctio (¿Ju6iö(r9u>aig, ¿itavög'&Maig) - Berichtigung declamatio - Vortrag definitio (ö'oog, 6pia|iög) - Begriffsbestimmung deliberatio - beratende Rede deliberativum genus (auußoiAeuTixöv yevog) - beratende Gattung (der Rede) deminutio (dvxevavxicoaig, XITÖTT|g - Litotes) - Abschwächung demonstratio (b/äQ^eux, ötaiüncooLg, uJtOTUJKuaig) - anschauliche Schilderung demonstrativum genus (¿mÖEixtixdv yivog) - darlegende Gattung (der Rede) denominatio (|i£Tom.D|ievov) - aufgelöste, unverbundene Redeweise dissuasio - Rede dagegen distinguere - ausschmücken distributio (öicaQEcrig, |i£Qio|iög) - Zerlegung; Einteilung; abgehackter Vortrag divisio (öiaCoeaig) - Gliederung des Stoffes; (jtpoxaTaaxeuT), JTQOEXÖEOig, jtQoaajTÖÖojaig, öiArpiiaTov) - Zerteilung (vgl. distributio) docilis (Ei!|ia#f|g) - belehrbar doctrina - Lehre dubitatio (('mooia, 8iaitöpr)aig) - Zweifel dubium (genus causae) (dnq)iöo|ov (axf||.ia lOTofteaewg)) - unentschieden effictio (xagaxTripionög, Eixovia(iög) - Schilderung des Äußeren

DER F A C H T E R M I N I

4II

elegantia (¿n^oyri) - Gewähltheit elocutio (ppdoic, io(J.r|VEia) - stilistische Gestaltung des Stoffes, Stil; Ausdruck enumeratio (dva^vriaic, ävaxeipa/.aiwaig) - Aufzählung exceptio - Einwendung gegen den Kläger exemplum (itaoäÖEi/Yl-i«) - Beispiel exercitatio (yu|ivaaia) - Ü b u n g exile (aridum et exsangue) (genus) ( | T } Q Ö V x a i t a j t e i v ö v (yivog}) trocken und blutleer exclamatio (ditooTQoepfi, ¿xcpcövriatg, ay_£T/.iaa|i6q) - Ausruf exordium (jtgöXoyog, jtQooijiiov) - Einleitung exornatio (itpofriaEiog äjx6ÖEii;ig) - Ausschmückung exornationes sententiarum (axnnaxa ö i a v o i a g ) - Sinnfiguren (s. figurae) exornationes verborum (axfj|xaxa XÖ;EU)g) - Wortfiguren (s. figurae) expeditio - Aussonderung explanatio (aacp^vgia) - Deutlichkeit expolitio (xQEia) - Ausmalung expositio - Schilderung; (= propositio) - Themaangabe exsuperatio (jtX.E0va0(j,ög, ujteQßoXfj) - Übertreibung (= superlatio) exsuscitatio (dvöcrtaaig) - Aufmunterung extenuata (figura) (io^vög ( x a ö a x T 1 i e } ) ~ schlicht fabula (11M05) - erdichtete Erzählung; (ÖQäjxa) - Schauspiel festivitas - Anmut, anmutige Darstellung figura (oxf|(xa) - Redefigur; (xagaxxfig) - Stilart (= genus dicendi) figura vocis (xöjiog xfjg cpwvfjg) - Gestaltung der Stimme figurae sententiarum (o^rinaxa ö i a v o i a g ) - Sinnfiguren (s. exornationes) figurae verborum (axf)M.axa Xi^erog) - Wortfiguren (s. exornationes) firmamentum (ai'xiov) - Beweis firmitudo (vocis) - Stärke frequentatio ( o w a f t p o i a n o g ) - wiederholende Zusammenstellung (der über die ganze Rede zerstreuten Hauptpunkte) genus - Gattung, Art 6 8 genera causarum (yEvr] TÜJV Xöycov xöüv ¿r|xooixräv iOToftgoECDV (1,5) - Arten von Fällen genera dicendi (xaQaxxfjQsg) - Stilarten gestus - Gebärde(-nspiel) gradatio - Klimax) - Steigerung

(1,2);

cr/jjnaxa

412

VERZEICHNIS

gravis (figura) / grave (genus dicendi) (nEyaXojTQErtfig, äöpög (xagaxTrjQ)) - erhaben(-er) Stil gravitas - Feierlichkeit bistoria (iatogia) - geschichtlich beglaubigte Erzählung honestum (genus causae) ( E V Ö O ^ O V (oxfjfia imoftEaEWc;)) - ehrenvoll humile (genus causae) (aöo^ov (axfjliaiOTodEaEtos))- unbedeutend imago (Ebttöv) - Bild imagines (EiöcoXa) - Bilder imitatio (n(|iriai5) - Nachahmung immutatio (äM.T]YOQia) - Vertauschung (der Ausdrücke) (= permutatio) inclinatus sonus s. sonus indignatio (jicr&og) - Empörung infitiatio (dmöcpaotg) - Leugnen inrisio - Verspottung insinuatio (ECpoSog) - Einschmeichelung (wörtlich: Eingang auf gekrümmtem Weg) instans (Ä^ia tcb npaynaxi) - Zeit während der Tat institutio artis - Lehre der Kunst institutum - Unterweisung intellectio (ovvExöoxii - Synekdoche, pars pro toto) - Inbegriff intentio (xatäcpaoig) - Beschuldigung interpretatio (auvam)|iLa) - Erklärung (eines Ausdrucks durch den folgenden) interrogatio (¿QÜRCT)|xa, Eptimiorig) - (rhetorische) Frage inventio (Eugeoig) - Auffindung des Stoffes inversio - ironische Spottrede iocatio - scherzhafte Darstellung iudicatio (xQivöfiEVov) - strittiger Punkt iudicatum - Gerichtsentscheid iudiciale genus (öixavixöv YEVOC;) - gerichtliche Gattung (der Rede) iuridicialis (constitutio) (öixaioXoyiKÖv (yEVog)) - auf Rechtfertigungsgründen beruhend Latinitas ('EMoyvianö?) reiner lateinischer Ausdruck (vgl. barbarismus) legitima (constitutio) (vo(ilkt| (0x6015) ~ a u f einer gesetzlichen Bestimmung beruhend

DER

FACHTERMINI

413

lenis (sermo) - schlicht licentia (jtaQQT)a(a) - Freimütigkeit locus communis (xöitog xoivög) - Gemeinplatz locus proprius - Sonderplatz magnitudo (vocis) - Umfang mediocris (figura) ((iEaog (xagajttfjQ)) - gemäßigt membrum (xöjXov) - Satzglied; Glied (der Rede) memorem esse - sich gut einprägen können memoria (nvfinT]) - das Sicheinprägen mnemonicon ((Wjiiovixöv) - Gedächtniskunst; Plural: Regeln der Gedächtniskunst moderatio (declamationis) - Modulation moderatio (gestüs et vultüs) - Beherrschung mollitudo (vocis) - Geschmeidigkeit motus corporis (xivriaig xoü acofiatog) - Haltung des Körpers narratio (öifj'yriai.s) - Darlegung des Sachverhaltes natura (cptiaig) - Natur(-anlage) negatio (cmöqpaoig) - Verneinung nominatio (dv0|KXX0jraiCa) - Benennung notatio (f|'9ojtoiia) - Charakterisierung novitas - Überraschung occultatio (jtaQdXgiApig, ctvxitpacng = praeteritio) - Übergehung officium oratoris (epyov xoü prjxoQog) - Aufgabe des Redners pars - Art, Teil, Gesichtspunkt 6 ' permissio (¿mtponfi) Anheimstellung permutatio (dX.Xr]YOgia - Allegorie) - Vertauschung (der Ausdrücke) persecutionem habere - das Recht zur gerichtlichen Verfolgung haben perversio (crvaaxQO