Religiöse Netzwerke: Die zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden [1. Aufl.] 9783839427583

Religious plurality through migration: comparative analyses of migrant communities.

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German Pages 272 Year 2015

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Religiöse Netzwerke: Die zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden [1. Aufl.]
 9783839427583

Table of contents :
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis
Vorwort
Religiöse Netzwerke: Die zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden
Die zivilgesellschaftlichen Potentiale tamilischer Hindu-Tempel
Die zivilgesellschaftlichen Potentiale von thailändisch-buddhistischen Zentren
Die zivilgesellschaftlichen Potentiale koreanischer Freikirchen
Die zivilgesellschaftlichen Potentiale mennonitischer Gemeinden russlanddeutscher Aussiedler
Die zivilgesellschaftlichen Potentiale der Syrisch-Orthodoxen Kirche
Die zivilgesellschaftlichen Potentiale der yezidischen Community
Die zivilgesellschaftlichen Potentiale von Moscheevereinen
Die zivilgesellschaftlichen Potentiale von neo-muslimischen Akteuren
Die zivilgesellschaftlichen Potentiale von interreligiösen (Dialog-)Initiativen
Zivilgesellschaftliche Potentiale im Vergleich
Autorinnen und Autoren

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Alexander-Kenneth Nagel (Hg.) Religiöse Netzwerke

Kultur und soziale Praxis

2014-11-24 08-34-06 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 022e383221731066|(S.

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4) TIT2758.p 383221731074

2014-11-24 08-34-06 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 022e383221731066|(S.

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4) TIT2758.p 383221731074

Alexander-Kenneth Nagel (Hg.)

Religiöse Netzwerke Die zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden

2014-11-24 08-34-06 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 022e383221731066|(S.

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Die Nachwuchsforschergruppe »Religion vernetzt. Zivilgesellschaftliche und wirtschaftliche Potentiale religiöser Vergemeinschaftung« wird gefördert vom Ministerium für Innovation, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2758-9 PDF-ISBN 978-3-8394-2758-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2014-11-24 08-34-06 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 022e383221731066|(S.

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Inhalt

Abkürzungsverzeichnis | 7 Vorwort | 9 Religiöse Netzwerke: Die zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden

Alexander-Kenneth Nagel | 11 Die zivilgesellschaftlichen Potentiale tamilischer Hindu-Tempel

Sandhya Marla-Küsters | 37 Die zivilgesellschaftlichen Potentiale von thailändisch-buddhistischen Zentren

Ann-Kathrin Wolf | 59 Die zivilgesellschaftlichen Potentiale koreanischer Freikirchen

Sabrina Weiß | 77 Die zivilgesellschaftlichen Potentiale mennonitischer Gemeinden russlanddeutscher Aussiedler

Frederik Elwert | 99 Die zivilgesellschaftlichen Potentiale der Syrisch-Orthodoxen Kirche

Ulf Plessentin | 117 Die zivilgesellschaftlichen Potentiale der yezidischen Community

Thorsten Wettich | 147 Die zivilgesellschaftlichen Potentiale von Moscheevereinen

Piotr Suder | 165 Die zivilgesellschaftlichen Potentiale von neo-muslimischen Akteuren

Karin Mykytjuk-Hitz | 191

Die zivilgesellschaftlichen Potentiale von interreligiösen (Dialog-)Initiativen

Nelly C. Schubert | 215 Zivilgesellschaftliche Potentiale im Vergleich

Alexander-Kenneth Nagel/Ulf Plessentin | 243 Autorinnen und Autoren | 267

Abkürzungsverzeichnis

ACK ACM AGUM AMBD AmF AMG AWO BFF BFmF BFP BVFG DBU DITIB Diyanet DRK EA EKD EKiR EKvW IGMG IHV IS/ISIS KEK

Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland e.V. African Christian Mission Arbeitsgemeinschaft zur geistlichen Unterstützung in Mennonitengemeinden Arbeitsgemeinschaft der Mennonitischen Brüdergemeinden in Deutschland Aktionsbündnis muslimischer Frauen e.V. Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden in Deutschland Arbeiterwohlfahrt Bündnis für Bonn Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen e.V. Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (kurz: Bundesvertriebenengesetz) Deutsche Buddhistische Union e.V. Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. (Diyanet İşleri Türk İslam Birliği) Präsidium für Religionsangelegenheiten (Diyanet İşleri Başkanlığı) Deutsches Rotes Kreuz Evangelische Allianz Evangelische Kirche in Deutschland Evangelische Kirche im Rheinland Evangelische Kirche von Westfalen Islamische Gemeinschaft Millî Görüş e.V. Islamische Hochschulvereinigung Islamischer Staat bzw. Islamischer Staat im Irak und der Levante (Organisation) Konferenz Europäischer Kirchen

8 | R ELIGIÖSE N ETZWERKE KNCC LTTE MINA MTB ÖRK RAA REMID SOKAD VEM VIKZ ZMD ZOCD

The National Council of Churches in Korea Liberation Tigers of Tamil Eelam Muslimisches Frauenbildungszentrum e.V. Müslüman Türkler Birliği Ökumenischer Rat der Kirchen Regionale Arbeitsstellen zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst e.V. Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochien in Deutschland Vereinte Evangelische Mission Verband der Islamischer Kulturzentren e.V. Zentralrat der Muslime in Deutschland e.V. Zentralrat Orientalischer Christen in Deutschland e.V.

Vorwort

Ein thailändisch-buddhistischer Tempel in Dortmund teilt sich ein ehemaliges römisch-katholisches Kirchenareal mit einer serbisch-orthodoxen Gemeinde. In Bonn schließen sich Moscheevereine unterschiedlicher Herkunft und Verbandszugehörigkeit zu einer politischen Partei zusammen, und in Duisburg setzt sich eine Moscheegemeinde für den Erhalt einer christlichen Kirche ein. Das Bundeskanzleramt lädt den Erzbischof der Syrisch-Orthodoxen Kirche in Deutschland und Vertreter yezidischer Dachverbände zum Gespräch ein, und in Hamm ist das jährliche Tempelfest der tamilischen Hindus zu einer Touristenattraktion geworden, über die bundesdeutsche Medien zur besten Sendezeit berichten. Diese Beispiele machen deutlich: Religiöse Migrantengemeinden sind keine abgekapselten kulturellen Enklaven, sondern untereinander und mit anderen gesellschaftlichen Institutionen auf verschiedenste Art und Weise vernetzt. Dennoch überwiegt in der Religionsforschung und Migrationssoziologie bislang ein eher isolationistischer und kartographischer Blick: Religiöse Migrantenorganisationen erscheinen als Punkte auf Karten und stehen dabei exemplarisch für eine Zunahme religiöser Vielfalt in den letzten 50 Jahren. In diesem Band soll es, um im Bild zu bleiben, weniger um die Punkte gehen, als um die Verbindungslinien, die sich zwischen ihnen und anderen religiösen und nichtreligiösen Zusammenschlüssen der Aufnahmegesellschaft ziehen lassen. Getreu dem Motto, „das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“, fragen wir nach der Vernetzung und den Angeboten religiöser Migrantengemeinden und betrachten sie als zivilgesellschaftliche Potentiale. Mit dieser potentialorientierten Perspektive auf Religionsgemeinschaften adressiert der Band eine doppelte Leerstelle in öffentlichen und akademischen Debatten über Religion und Migration: Wo Zuwanderung als Ressource thematisiert wird, z.B. als Humankapital im Kontext von Arbeitsmigration, bleiben religiöse und kulturelle Aspekte häufig außen vor. Wo aber religiöse Migrantengemeinden thematisiert werden, kommen sie zumeist als gesellschaftliche Heraus-

10 | R ELIGIÖSE N ETZWERKE forderung in den Blick und werden als „Parallelgesellschaften“ oder „ethnische Kolonien“ skeptisch beäugt oder aber als kulturelles „Refugium“ geduldet. Der vorliegende Band kehrt diesen Blick um und fragt nach den zivilgesellschaftlichen Potentialen religiöser Gemeinschaften, d.h. nach ihrer Fähigkeit zur Selbstorganisation und ihrer öffentlichen Orientierung. Aber darf man eine so unverhohlen funktionalistische Frage eigentlich noch stellen angesichts von cultural turn und der eifrigen ethnologischen Zerlegung noch der kleinsten Kollektivkategorien in individuelle Bedeutungskonstruktionen? Man darf. Man muss, wenn man die Debatte über Religion und Migration nicht den Feuilletons und der eingefahrenen Front zwischen Multikulturalisten und Assimilationisten überlassen will. Der akademische Wertbezug dieses Bandes besteht ganz klar darin, Antworten auf die Frage nach der gesellschaftlichen Nützlichkeit religiöser Migrantengemeinden zu geben. Dabei ist die analytische Akzentverschiebung von einer defizitorientierten hin zu einer potentialorientierten Sichtweise allerdings prinzipiell von der gesellschaftspolitischen Position zu unterscheiden, Religion als solche sei gut und müsse im Migrationszusammenhang besonders gefördert werden. Die folgenden Beiträge und Überlegungen sind das Ergebnis einer mehrjährigen und intensiven gemeinsamen Forschungstätigkeit im Rahmen der NRWNachwuchsforschergruppe „Religion vernetzt. Zivilgesellschaftliche und wirtschaftliche Potentiale religiöser Vergemeinschaftung“ (2009-2014). Ein besonderer Dank gilt daher zunächst allen Mitgliedern der Nachwuchsgruppe sowie den assoziierten Beiträgern dafür, dass sie sich auf ein integrales Analysemodell eingelassen haben. Dank gebührt auch Ulf Plessentin für das kundige Fachlektorat und seinen unverzichtbaren Überblick über die Beiträge als inhaltliches Gesamtensemble. Schließlich, aber nicht zuletzt, danke ich Sascha Wajerski für die große Geduld und Genauigkeit bei der Redaktion des Bandes. Institutionell wäre unsere Arbeit nicht möglich gewesen ohne die großzügige finanzielle Unterstützung des Ministeriums für Innovation, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen und der Ruhr-Universität Bochum. Bochum, im Oktober 2014 Alexander-Kenneth Nagel

Religiöse Netzwerke: Die zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden A LEXANDER -K ENNETH N AGEL 1

D IE D EBATTE : R ELIGIÖSE M IGRANTENGEMEINDEN ZWISCHEN „P ARALLELGESELLSCHAFT “ UND „B RÜCKENORTEN “ Die religiöse Vielfalt in Europa und Deutschland hat in den letzten Jahrzehnten durch Arbeits- und Fluchtmigration neue Dimensionen erreicht. Anwerbeabkommen mit Ländern wie der Türkei, Marokko oder Tunesien sowie die Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen aus Sri Lanka oder Ex-Jugoslawien haben zu einer Zunahme nichtchristlicher Religionsgemeinschaften geführt. Laut einer Zahlensammlung des Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienstes stellen sunnitische Muslime mit gut 2,5 Mio. Personen die größte der zugewanderten Religionsgruppen dar. Dabei ist der Ausdruck „Gruppe“ insofern irreführend, als hinter dieser Zahl verschiedene, meist landsmannschaftlich organisierte Verbände stehen. So gibt es neben den drei großen türkischen Verbänden – Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB), Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) und Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) – auch nordafrikanisch und bosnisch geprägte Moscheevereine, die alle der sunnitischen Traditionslinie des Islam angehören. Im Unterschied dazu ha-

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Ich danke Ulf Plessentin für ausführliche Gespräche und wertvolle Hinweise zum Netzwerkmodell. Seine Vorschläge und Ideen sind an verschiedenen Stellen in diese Einleitung eingeflossen und haben sie entscheidend bereichert.

12 | A LEXANDER-K ENNETH N AGEL ben die ca. 500.000 Aleviten in aller Regel einen gemeinsamen türkischen Migrationshintergrund. Schiiten bilden unter den Muslimen in Deutschland mit 225.000 Anhängern eine klare Minderheit. Nach den Muslimen folgen orthodoxe Christen mit knapp 1,2 Mio. Anhängern aus unterschiedlichen Herkunftsländern, wobei die 450.000 Angehörigen der Griechisch-Orthodoxen Kirche die größte Einzelgruppe stellen. Im Unterschied dazu sind verhältnismäßig wenige Juden, Buddhisten oder Hindus nach Deutschland zugewandert: Bei den knapp 200.000 Juden handelt es sich überwiegend um sogenannte Kontingentflüchtlinge aus den Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion. Die 140.000 Buddhisten mit Migrationshintergrund (die ca. 130.000 zum Buddhismus konvertierten Deutschen sind hier nicht berücksichtigt) kommen in der Regel aus Vietnam oder Thailand und ein großer Teil der ca. 90.000 Hindus sind tamilische Bürgerkriegsflüchtlinge aus Sri Lanka.2 Für die allerwenigsten Zuwanderer3 war Religion ein zentrales Motiv für die Aus- bzw. Einwanderung. Dies und die vorherrschende Sicht der Aufnahmegesellschaft auf „Gastarbeiter“ als Arbeitskräfte und volkswirtschaftliche Ressource führten dazu, dass das religiöse und kulturelle Leben der Migranten lange Zeit unbeachtet blieb. Diese Situation hat sich in den letzten 10 bis 15 Jahren deutlich verändert: Zum einen scheint Religion im öffentlichen Bewusstsein im Zuge globaler religiöser Erneuerungsbewegungen und Konflikte wieder an Bedeutung gewonnen zu haben, zum anderen suchen religiöse Migrantengemeinden in Deutschland und Europa verstärkt „Wege aus der Unsichtbarkeit“ (Luchesi 2003). Das augenfälligste Beispiel für diese Entwicklung ist sicherlich die Errichtung repräsentativer Moscheen, Tempel und Stupas (vgl. Baumann/Zanetti 2008). Dabei stehen diese Gebäude für eine zunehmende Institutionalisierung re-

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Daten zur Mitgliedschaft in bzw. Zugehörigkeit zu religiösen Migrantengemeinden sind schwierig zu erheben, da sie in der amtlichen Statistik nicht auftauchen. Wo Mitgliedszahlen vorliegen, sind diese teilweise wenig aussagekräftig, da häufig nur das Familienoberhaupt formell als Mitglied geführt wird, auch wenn die ganze Familie am Gemeindeleben teilnimmt. Die o.a. Angaben stammen aus einer Datensammlung des Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienstes (REMID), vgl. http://remid.de/info_zahlen/ vom 23.07.2014.

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In diesem Band wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum verwendet. Damit wird nicht die männliche Form als allgemeingültige Form verstanden, sondern vielmehr ein Verständnis der generischen Form als geschlechtsunspezifisch angestrebt. Die generische Form wird nicht verwendet, wenn das Geschlecht analytisch von Bedeutung ist. In diesem Fall wird spezifisch von weiblichen oder männlichen Zuwanderern gesprochen.

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ligiöser Migrantengemeinden sowie für ihre Fähigkeit, sowohl Menschen als auch Geld zu mobilisieren. Es handelt sich zumeist nicht um reine Sakralbauten, sondern um multifunktionale Zentren, die Raum für ein breites religiöses und kulturelles Bildungs- und Beratungsangebot und Knotenpunkte für Kontakte mit der Mehrheitsgesellschaft bieten. Die neue öffentliche Sichtbarkeit religiöser Vielfalt, sei es in Form von Bauten, politischen Teilhabeansprüchen oder religiöser Lebensführung (Kleidung, Speisegebote), hat sich in der öffentlichen Meinung und auch in der akademischen Debatte in unterschiedlichen Deutungsmustern niedergeschlagen. Ein verbreitetes Bild für religiöse Migrantengemeinden in der öffentlichen Diskussion ist das der „Parallelgesellschaft“. Der Begriff suggeriert eine hermetisch abgeschlossene Gruppe, die zwar innerhalb der territorialen, aber außerhalb der sozialen und kulturellen Ordnung der Aufnahmegesellschaft besteht, ohne in eine produktive und auf sozialen Austausch bedachte Beziehung mit ihr zu treten. Sozialwissenschaftliche Versuche, aus der Metapher ein Analysekonzept zu machen, definieren Parallelgesellschaften im Wesentlichen über drei Kriterien: Homogenität im Inneren, Abschottung nach außen sowie die „nahezu komplette Verdopplung der mehrheitsgesellschaftlichen Institutionen“ (Halm/Sauer 2006: 18). Das Verdienst solcher Ansätze liegt darin, Auseinandersetzungen über Religion und Integration zu versachlichen und in der Folge Alltagserfahrungen von Fremdheit und Befremden empirisch relativieren zu können. Zugleich besteht allerdings eine gewisse Gefahr, dass sie ein gesellschaftspolitisches Gefährdungsszenario in Gestalt akademischer Sprachbilder fortschreiben. Beispiele dafür sind die Rede von ethnischen und religiösen Gemeinschaften als „Mobilitätsfalle“ (klassisch Wiley 1967; Esser 1985: 487f.) oder „ethnischen Kolonien“ (Heckmann 1992: 97; Ceylan 2006). In beiden Fällen handelt es sich um abgemilderte Variationen des Parallelgesellschaftsthemas, insoweit sie von klaren, wenn auch prinzipiell durchlässigen Grenzen zwischen Migrantencommunities und der Aufnahmegesellschaft ausgehen. Dabei bringt der Ausdruck „Mobilitätsfalle“ die Befürchtung auf den Punkt, dass ethnische Ökonomien sowie kultur- oder schichtspezifische Normen (z.B. Geschlechterrollen) zwar prinzipiell Gelegenheitsstrukturen für die Beteiligten darstellen, aber auch ihre Chancen auf sozialen Aufstieg gefährden und Erfolge im allgemeinen Bildungsund Erwerbssystem schmälern können. Auch das Bild der „ethnischen Kolonie“ schließt teilweise an die Debatte über Parallelgesellschaften an. Friedrich Heckmann bezeichnet mit Koloniebildung „die freiwillige Aufnahme oder Weiterführung innerethnischer Beziehungen. Anders als beim Ghetto, in dem räumliche Integration und soziale Organisierung durch Zwang zusammenfallen, ist die Entwicklung eines sozial-

14 | A LEXANDER-K ENNETH N AGEL kulturellen Eigensystems der Minderheit nicht notwendig mit der Existenz segregierter […] Wohnbezirke verbunden“ (Heckmann 1992: 98). Der Ausdruck „Kolonie“ zeigt hier eine Vergemeinschaftung ethnischer oder religiöser Minderheiten an, die sich gegenüber der Mehrheitsgesellschaft sozial und kulturell, aber nicht unbedingt räumlich (Segregation) und strukturell (Institutionenverdopplung) abgrenzen.4 Entsprechend betont Rauf Ceylan gegenüber anderen Sozialformen wie Ghetto und Enklave die prinzipielle Offenheit der ethnischen Kolonie: „Für die einen erfüllt sie eine wichtige Funktion im Integrationsprozess, andere dagegen erkennen desintegrative Elemente, die zur Entwicklung einer Parallelgesellschaft beitragen“ (Ceylan 2006: 52). Dabei ist die Integrationsleistung ethnischer Kolonien oft eng mit einem Phasenmodell der Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft verknüpft. Zu Beginn, so die These, können ethnische und religiöse Gemeinschaften ihre Mitglieder bei der Eingliederung in die Aufnahmegesellschaft unterstützen. Sie fungieren als „kulturelle Refugien“ (ebd.: 78) und mobilisieren tätige Hilfe in praktischen Angelegenheiten, etwa bei Behördengängen. Im weiteren Verlauf komme es dann durch den Generationswechsel und Eheschließungen über die Gemeinschaft hinaus zu einer zunehmenden Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft in sozialer, ökonomischer und kultureller Hinsicht. Dieses Verlaufsschema geht zurück auf den sogenannten „Race-RelationCycle“, der bereits in den 1960er-Jahren von den amerikanischen Stadtforschern Robert Park und Ernest Burgess formuliert worden ist (Park/Burgess 1969). Die beiden Autoren unterscheiden idealtypisch fünf Entwicklungsphasen ethnischer Kolonien und interethnischer Beziehungen, namentlich Kontakt, Wettbewerb, Konflikt, Akkommodation und Assimilation. Auch wenn dies nicht der Ort für eine ausführliche Wiedergabe und Würdigung der einzelnen Phasen ist, bleibt grundsätzlich festzuhalten: Ethnische und religiöse Vergemeinschaftung wird hier als eine Art Durchgangsstadium zwischen Ankunft und Aufgehen in der Mehrheitsgesellschaft verstanden. Wettbewerb und Konflikt sind zentrale Mechanismen für Annäherung und der Zielzustand ist die vollumfängliche Angleichung an die Aufnahmegesellschaft. Religions- und Kulturwissenschaftler haben dieses Konzept v.a. für seine Geradlinigkeit und seinen einseitigen Fokus auf Assimilation kritisiert. Der Religionswissenschaftler Martin Baumann schlägt vor, die strukturelle und die kul-

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Dabei hat der Begriff einen polemischen, ja sogar zynischen Unterton, zumal im Bild der Kolonisierung der Aufnahmegesellschaft durch Migration Ängste vor „Überfremdung“ genährt und die Machtverhältnisse zwischen Mehrheit und Minderheit auf eigenartige Weise verkehrt werden.

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turelle Dimension sozialer Integration getrennt voneinander zu betrachten und „sich von der landläufigen Vorstellung zu lösen, dass eine gesellschaftliche Integration nur mittels sozioökonomischer und kulturell-religiöser Assimilation möglich sei“ (Baumann 2004: 26). Vielmehr könne die Pflege und Bewahrung der Herkunftskultur dauerhaft zur Ressource für die strukturelle Integration in das Bildungs- und Erwerbssystem des Aufnahmelandes werden: „Erst das Wissen und die Sicherheit eigener Stärke ermöglicht, den eigenkulturellen Rückzugsort und ‚Schonraum‘ zu verlassen und aus selbstsicherer Position sich den Anforderungen der Aufnahme- bzw. Residenzgesellschaft zu stellen“ (ebd.: 27). So verstanden sind kulturelle Selbstvergewisserung im Allgemeinen und religiöse Selbstorganisation im Besonderen geradezu Ermöglichungsinstanzen für sozioökonomische und politische Teilhabe in der Aufnahmegesellschaft. Baumanns Verständnis von Diaspora-Integration scheint das Modell der Parallelgesellschaft auf den Kopf zu stellen. Die religiöse und ethnische Vergemeinschaftung ist nicht nur nicht hinderlich für einen produktiven Austausch mit dem Aufnahmeland, sondern geradezu die Voraussetzung dafür. Zugleich kann man in der Rede vom „Rückzugsort“ oder „Schonraum“ Anklänge eines defizitorientierten Denkmodells erkennen, das in Debatten über Parallelgesellschaften und ethnische Kolonien in weiten Teilen prägend ist: Migranten erscheinen hier als entwurzelte und verschüchterte Wesen, die die Aufnahmegesellschaft als Zumutung und Überforderung erleben. Religiöse Migrantengemeinden erfüllen in diesem Fall in erster Linie eine psychohygienische Funktion – ihre zahlreichen konkreten Unterstützungs-, Bildungs- und Beratungsangebote sowie ihre Vernetzung über die Eigengruppe hinaus werden dabei tendenziell ausgeblendet. Religionssoziologische Studien haben schon seit Längerem auf das brückenbildende Sozialkapital (vgl. Wuthnow 2002: 670) und die sozialintegrativen Potentiale von Religionsgemeinschaften hingewiesen (vgl. Pickel 2014: 53). Daran knüpft Baumann an, wenn er in einem neueren Aufsatz den Wandel religiöser Immigrantengruppen „von Gegenorten zu neuen Brücken- und Heimatorten“ untersucht (Baumann 2015, i.E.). Die Beiträge im vorliegenden Band nehmen diesen Faden auf und analysieren religiöse Migrantengemeinden mit Blick auf ihre Vernetzung nach außen und ihre Unterstützungsangebote nach innen. Sie legen dabei eine potential- und beziehungsorientierte Perspektive zugrunde, die im folgenden Abschnitt genauer erläutert wird.

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D IE P ERSPEKTIVE : R ELIGIÖSE M IGRANTENGEMEINDEN ALS ZIVILGESELLSCHAFTLICHE R ESSOURCE Die Forschungsfrage des vorliegenden Bandes lässt sich wie folgt auf den Punkt bringen: Welche zivilgesellschaftlichen Potentiale bieten religiöse Migrantengemeinden und wie gestalten sich diese Potentiale vor dem Hintergrund religiöser Vorstellungen und anderer Einflussfaktoren? Diese Perspektive schließt an die o.a. Debatten an, insoweit sie programmatisch auf die produktiven Beiträge und Leistungen von Religionsgemeinschaften für moderne Gemeinwesen hin orientiert ist. Dabei ist die positive Akzentsetzung in der Fragerichtung als Korrektiv gegen die mehr oder weniger ausdrückliche Defizitorientierung der bisherigen Diskussion zu verstehen und nicht als normatives Bekenntnis für mehr Religion in einem postsäkularen Sinne. Im Folgenden gilt es zunächst, die Kernbegriffe „religiöse Migrantengemeinden“ und „zivilgesellschaftliche Potentiale“ zu klären und zu operationalisieren. Religiöse Migrantengemeinden bezeichnen in diesem Band Zusammenschlüsse bzw. Gruppen von Menschen mit Migrationshintergrund, die in erster Linie auf geteilten religiösen Sinnzusammenhängen beruhen. Diese Gruppen lassen sich in verschiedene Richtungen abgrenzen: •

Migration: Religiöse Migrantengemeinden unterscheiden sich von anderen religiösen Gemeinschaften dadurch, dass die Mehrheit ihrer Angehörigen einen Migrationshintergrund aufweist. Das schließt nicht aus, dass im Einzelfall auch Menschen ohne Migrationsgeschichte (z.B. Ehepartner oder Konvertiten) aktiv am Gemeindeleben teilnehmen können und dabei wichtige Brückenfunktion in Richtung der Aufnahmegesellschaft übernehmen.



Religion: Religiöse Migrantengemeinden unterscheiden sich von anderen Formen der Migrantenselbstorganisation durch ihre primäre Ausrichtung auf religiöse Lebensführung, etwa religiöse Erziehung oder gemeinsame Rituale und Feste. Im Unterschied zu anderen Einrichtungen wie Kaffeehäusern oder Kulturvereinen haben Religionsgemeinschaften nicht nur das Diesseits im Blick, sondern sind ihrem Selbstverständnis nach auch auf das jenseitige Heil ihrer Mitglieder hin orientiert.



Gemeinde: Religiöse Migrantengemeinden unterscheiden von lediglich individuellen Formen der religiösen Betätigung und Selbstvergewisserung im Migrationskontext durch einen höheren Grad der wechselseitigen Bezogenheit und Verbindlichkeit. Der Ausdruck Gemeinde soll dabei ein Element re-

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ligiöser Vergemeinschaftung anzeigen, das über einen bloßen Zweckverband hinausgeht und mit spezifischen, oft theologisch verankerten, Vertrauensund Verpflichtungsbeziehungen verbunden ist. In diesem weiten Verständnis ist der Begriff nicht auf christliche Gemeinden beschränkt. Auch die Rede von den zivilgesellschaftlichen Potentialen religiöser Migrantengemeinden verweist auf eine komplexe und teils schillernde Debatte und soll im Folgenden genauer erläutert werden. Dies ist nicht der Ort für eine ausführliche Abhandlung über das Konzept der Zivilgesellschaft oder seine Ideengeschichte (vgl. dazu Klein 2001), das Ziel ist vielmehr, aus einer kursorischen Zusammenschau neuerer Überblicksbeiträge empirisch anschlussfähige Ansatzpunkte für die zivilgesellschaftlichen Potentiale von Religionsgemeinschaften zu gewinnen. Mit Frank Adloff ist unter Zivilgesellschaft zunächst „die plurale Gesamtheit der öffentlichen Assoziationen, Vereinigungen und Zusammenkünfte“ zu verstehen, „die auf dem freiwilligen Zusammenhandeln der Bürgerinnen und Bürger beruhen“ (Adloff 2005: 8). Der zivilgesellschaftliche Bereich ist darüber hinaus „unabhängig vom staatlichen Apparat […] und wirtschaftlichen Profitinteressen“, aber auch von der Privatsphäre (ebd.). Parallel dazu lässt sich Zivilgesellschaft mit Dieter Gosewinkel als ein „Raum sozialen Handelns“ verstehen, der zwischen Staat, Wirtschaft und dem privaten Bereich angesiedelt ist: „Dieser Zwischen-Raum […] ist der Ort, an dem freie Assoziationen in besonderer Verdichtung und Intensität das soziale und politische Handeln prägen. Er zeichnet sich durch ein besonders hohes Maß gesellschaftlicher Selbstorganisation aus“ (Gosewinkel 2010: Ziffer 7). Einer solchen „bereichsbezogenen“ Begriffsbestimmung stellt Gosewinkel in der Folge „handlungsbezogene Definitionen“ von Zivilgesellschaft gegenüber. Im Zentrum stünden hier „normative Grundannahmen über die Qualität sozialen Handelns bzw. eines gesellschaftlichen Zusammenhangs“ und mithin ein bestimmter „Kanon von Werthaltungen und Verhaltensmodi“ als Kennzeichen von Zivilität (ebd.: Ziffer 8-9). Wo aber bleibt die Religion? Für Gosewinkel gehört es zu den „offenkundigen Blindstellen des theoretischen Konzepts Zivilgesellschaft, […] die Rolle der Religion in der Begründung und Praxis zivilgesellschaftlicher Organisationsformen übergangen und unterbewertet“ zu haben (ebd.: Ziffer 17). Manuel Borutta verweist in diesem Zusammenhang sogar auf eine „säkularistische Norm“, welche analytische und normative Verständnisse von Zivilgesellschaft gleichermaßen prägt und dabei „den Blick auf die enge Verflechtung und positive Beziehung von Religion und Zivilgesellschaft“ verstellt (Borutta 2005: 2). Für ihn wird Religion zivilgesellschaftlich dann relevant, wenn sie aus eigener Kraft „intermediäre Organisationen“ ausformt, die im weiteren Sinne „gemeinwohl-

18 | A LEXANDER-K ENNETH N AGEL orientiert“ sind (ebd.: 3). Das normative zivilgesellschaftliche Potential religiöser Gemeinschaften beurteilt Borutta ambivalent: „Religion kann zivilgesellschaftliche Strukturen und Kulturen der Zivilität bekämpfen […], indem sie sich gegen Pluralismus und Toleranz wendet und Gewalt predigt. Sie kann indes auch das Gegenteil intendieren und bewirken“ (ebd.: 9). Auch wenn bereichsbezogene Definitionsansätze die Eigenständigkeit einer zivilgesellschaftlichen religiösen Sphäre gegenüber von Staat und Markt hervorheben, so ist doch gerade in korporativen Staaten, die auf eine weitreichende Einbindung religiöser Verbände setzen, die Abgrenzung zwischen zivilgesellschaftlichen und staatstragenden religiösen Strukturen oft unklar. In diesem Zusammenhang hat der Zeithistoriker Paul Nolte für die Bundesrepublik Deutschland drei Phasen der Staatsnähe bzw. -ferne religiöser Gemeinschaften unterschieden (vgl. Nolte 2014): Die erste Phase in den 1950er und 1960er Jahren ist geprägt durch die starke Einbeziehung der beiden großen Kirchen in das staatliche Gefüge (vgl. ebd.: 138). Diese „traditionelle“ Phase geht im Zuge der kulturellen Umbrüche nach 1968 in eine „Bewegungsphase“ über: „Politische Aktion und soziales Engagement und kulturelle Erneuerung verlagern sich tendenziell aus der staatlichen Sphäre in jene der Gesellschaft“ (ebd.: 141). Dadurch kommt es zwar einerseits zur Auflösung traditioneller konfessioneller Milieus, andererseits treiben „religiöse Motive und Lebenshaltungen […] den kulturellen Wandel jener Jahre entscheidend mit voran“ (ebd.: 142f.). Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs wird die Bewegungsphase schließlich durch eine „postsäkulare“ bzw. „multireligiöse“ Phase abgelöst. Die Zivilgesellschaft gilt nunmehr „weniger als Ort des Protests und des Konfliktes zwischen Bürgern und Staat […], sondern als ein Aushandlungsraum der Identitäten verschiedener Gruppen, die dennoch ihr friedliches Zusammenleben organisieren wollen“ (ebd.: 147). Die Beiträge in diesem Band knüpfen an diese Überlegungen an, indem sie die Rolle religiöser Migrantengemeinden bei der Aus- und Mitgestaltung der religiös und weltanschaulich pluralen Zivilgesellschaft untersuchen. Die Aushandlung kollektiver Identitäten, etwa im Rahmen interreligiöser Dialoge, ist aus unserer Sicht nur ein Teil einer umfassenderen Beziehungsarbeit dieser Gemeinden. Aus den konzeptionellen Debatten über Religion und Zivilgesellschaft ergeben sich dabei verschiedene empirische Anschlussstellen. Dazu gehört zum einen die Fähigkeit religiöser Migrantengemeinden zu Selbstorganisation und sozialer Mobilisierung sowie zum anderen die Ausbildung und praktische Entfaltung eines öffentlichen Bewusstseins, bis hin zu einer substantiellen Gemeinwohlorientierung. Die zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden werden im Folgenden durch zwei zentrale Analysedimensionen operationalisiert: Ange-

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bote und Vernetzungen. Angebote umfassen soziale Dienstleistungen, die durch Migrantengemeinden für ihre Mitglieder, aber auch darüber hinaus offeriert werden, etwa im Bereich Bildungs-, Jugend- oder Seniorenarbeit. Diese Angebote haben ihr Gegenstück in öffentlich geförderten Wohlfahrtsleistungen des Sozialstaats oder gesellschaftlicher Verbände und ergänzen oder entlasten diese. Vernetzungen beziehen sich auf Interaktionen mit anderen religiösen und nichtreligiösen Akteuren der Aufnahmegesellschaft und ihre soziale Einbettung über den eigenen Gemeindezusammenhang hinaus. Dabei ist der zivilgesellschaftliche Kontext durchaus nicht nur national zu verstehen: Auch grenzüberschreitende Beziehungen, etwa Entwicklungs- oder Nothilfe, können als Beitrag zu einer transnationalen Zivilgesellschaft verstanden werden. In den o.a. Definitionsversuchen wurden v.a. die Fähigkeit zur Selbstorganisation sowie die öffentliche, d.h. über private und kollektive Partikularinteressen hinausgehende, Orientierung hervorgehoben. Daraus ergibt sich, dass nicht alle Beziehungen, die wir vorfinden, als zivilgesellschaftliche Potentiale gleichermaßen ersichtlich und bedeutsam sind. Als zivilgesellschaftliche Potentiale im engeren Sinne betrachten wir zunächst Unterstützungsbeziehungen und Kooperationen zwischen einer Gemeinde und anderen religiösen und nichtreligiösen Akteuren der Aufnahmegesellschaft, da sich hier sowohl die Fähigkeit zur Selbstorganisation als auch die Gemeinwohlorientierung zeigt. Relevant sind ferner Unterstützungsleistungen innerhalb von Gemeinden, die entweder informell ‚unter dem Dach‘ (z.B. Kreditvergabe, praktische oder seelsorgerliche Lebenshilfe) oder als regelmäßiger strukturierter Dienst der Gemeinde für ihre Mitglieder erbracht werden (z.B. Rechtsberatung, Hausaufgabenhilfe). In diesem Fall besteht das zivilgesellschaftliche Moment zum einen in der tätigen Selbstorganisation und Ressourcenmobilisierung sowie in der potentiellen Entlastung der Aufnahmegesellschaft von bestimmten Kosten der Zuwanderung. Erläuterungsbedürftig sind hingegen Fälle, in denen die Angehörigen sich primär für ihre Gemeinde engagieren (Mitgliedsbeiträge, Spenden, Dienstleistungen, Ehrenamt), etwa zur Alimentierung religiöser Spezialisten oder zum Unterhalt oder dem Ausbau von Räumlichkeiten. Zum einen deutet eine solche Bündelung von Ressourcen auf die kollektive Handlungsfähigkeit und damit auf die Selbstorganisationskraft einer Gemeinde hin, die per se als zivilgesellschaftliches Potential gelten kann (s.o.). Zum anderen ist der Ausbau der personellen oder räumlichen Infrastruktur regelmäßig mit einer Ausweitung von Angeboten nach innen und Vernetzungen nach außen verbunden, wenn etwa repräsentative Moscheen oder Tempel zu Begegnungszentren und Orten der Kultur- und Jugendarbeit werden.

20 | A LEXANDER-K ENNETH N AGEL Analog dazu stellen interne Angebote, die in erster Linie der religiösen Kulturpflege dienen (Religionsunterricht, Sprachkurse, Volkstanzkurse, Weitergabe von Brauchtum) nicht automatisch ein zivilgesellschaftliches Potential dar. Unstrittig ist auch in diesem Fall die Fähigkeit zur Selbstorganisation, die ein strukturiertes Bildungsangebot erst möglich macht. Aber wie verhält es sich mit der öffentlichen Orientierung? Zunächst könnte man mit Baumann argumentieren, dass die Bewahrung der Herkunftskultur eine Voraussetzung für strukturelle Integration darstellt und dass darin bereits ein prinzipieller öffentlicher Nutzen religiöser Migrantengemeinden besteht (s.o.). Darüber hinaus können die genannten Angebote und Aktivitäten eine Außenwirkung entfalten, wenn sie auch von Externen in Anspruch genommen werden oder aber Vernetzungsinitiativen ermöglichen (Schmitt 2003: 359). Um die zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden angemessen erfassen und einordnen zu können, basieren alle Beiträge in diesem Band auf einer Netzwerk-Perspektive auf Religion und Migration, die sich an drei spezifischen Forschungsstrategien festmachen lässt (vgl. Nagel 2012): 1. Blick auf die Mesoebene: Nachdem frühere Studien Religion im Migrationskontext v.a. als persönliche Identitätsressource (Mikroebene) oder gesellschaftlichen Integrationsfaktor (Makroebene) behandelt haben, liegt das Augenmerk in diesem Band auf religiösen Migrantengemeinden als Gruppen (vgl. Pries/Sezgin 2010). Wir betrachten diese Gemeinden als Beziehungsräume und Kontaktzonen, in denen religiöse Vorstellungen und Normen von Hilfeleistung und gutem Miteinander in Unterstützungsangebote und Vernetzungen mit der Aufnahmegesellschaft umgesetzt werden. 2. Integrales Netzwerkmodell: Unser empirisches Hauptaugenmerk liegt weniger auf bestimmten Eigenschaften religiöser Migrantengemeinden (Größe, Alter, Verbandszugehörigkeit) als auf den Beziehungen, die sie nach innen und nach außen stiften, kultivieren oder auch verhindern. Entsprechend basieren alle Studien dieses Bandes auf dem gleichen qualitativen Netzwerkmodell, das auf der systematischen Unterscheidung und Klassifikation von Beziehungskontexten, Beziehungsinhalten und Beziehungsarrangements sowie inneren und äußeren Einflussfaktoren für das Beziehungsspektrum beruht (siehe Modell im folgenden Abschnitt). 3. Vergleichsdesign: Der vorliegende Band ist das Ergebnis eines jahrelangen, kooperativen Forschungsprozesses im Rahmen der NRW-Nachwuchsforschergruppe „Religion vernetzt. Zivilgesellschaftliche und wirtschaftliche

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Potentiale religiöser Vergemeinschaftung“ am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) der Ruhr-Universität Bochum. Zugrunde liegt ein religionsvergleichendes Fallstudiendesign, das unterschiedliche Religionsgemeinschaften (Islam, Christentum, Hinduismus, Buddhismus, Yezidentum) und Herkunftsregionen umfasst (Osteuropa, Balkan, Nordafrika, Naher Osten, Südasien, Südostasien und Ostasien). Die Fallstudien sind zum größten Teil in fortlaufendem Austausch miteinander entstanden und ermöglichen auf diese Weise komparative Einsichten zum Beziehungsspektrum verschiedener Migrantengemeinden und relevanten internen und externen Einflussfaktoren. In diesem Abschnitt ging es darum, die potential- und beziehungsorientierte Forschungsperspektive des vorliegenden Bandes zu beschreiben und einzuordnen. Die zentrale konzeptionelle Herausforderung unserer Arbeit bestand darin, das allgemeine Forschungsprogramm in ein konkretes Analysemodell zu übersetzen. Die verschiedenen Dimensionen dieses Modells werden im Folgenden genauer erläutert.

D AS M ODELL : D IMENSIONEN RELIGIÖSER N ETZWERKE Um die zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Gemeinschaften differenziert bestimmen zu können, basieren alle Beiträge auf einem einheitlichen netzwerkanalytischen Modell. Die Netzwerkanalyse beschreibt soziale Wirklichkeit durch Beziehungen, die ihrerseits durch Knoten und Kanten gekennzeichnet sind. Dabei stehen die Knoten in der Regel für die beteiligten Akteure und die Kanten für die Inhalte, Richtung und Intensität ihrer Beziehungen (vgl. Knoke/Kuklinski 1982: 9ff.; Scott 2003: 2ff.). Das netzwerkanalytische Modell dieses Bandes basiert auf der systematischen Unterscheidung von Beziehungskonstellationen und -kontexten sowie Beziehungsinhalten und -arrangements. Konstellationen & Kontexte Für die Analyse der Netzwerke religiöser Migrantengemeinden lassen sich auf der Ebene der Knoten die folgenden Beziehungskonstellationen unterscheiden: 1. Beziehungen zwischen Individuen, die im Rahmen der Gemeinde stattfinden bzw. von dieser ermöglicht werden, z.B. Unterstützungsleistungen der Mitglieder untereinander.

22 | A LEXANDER-K ENNETH N AGEL 2. Beziehungen zwischen Individuen und der Gemeinde, etwa strukturierte Unterstützungsleistungen und Angebote der Gemeinde für bedürftige Einzelpersonen, aber auch die Mobilisierung von Ressourcen zur Finanzierung der Gemeindearbeit und Infrastruktur (Geistliche, Räumlichkeiten etc.). 3. Beziehungen zwischen Gruppen, etwa die politische Zusammenarbeit mehrerer Gemeinden, Kontakte zu staatlichen Stellen oder punktuelle Unterstützungen (Spenden, Fürsprache) für die Belange anderer Gemeinden. Diese Unterscheidung soll deutlich machen: Auch wenn Beziehungen im Einzelfall immer konkreten Personen zugerechnet werden können, ist die Rolle bzw. Position der beteiligten Akteure zu beachten. Hier ist idealtypisch zwischen Agency „unter dem Dach“ und „im Namen von“ religiösen Migrantengemeinden zu unterscheiden. Im ersten Fall steht die persönliche Dimension der Beziehung im Vordergrund, im zweiten Fall fungieren Personen als Vermittler zwischen Gruppen. Die Frage, ob z.B. ein religiöser Funktionsträger als einfacher Angehöriger oder im Namen einer Gemeinde spricht, ist von hoher praktischer Relevanz, wenn es etwa darum geht, adäquate Ansprechpartner zu ermitteln. Allerdings kann hier nicht einfach das hierarchisch strukturierte Organisationsmodell der Amtskirchen zugrunde gelegt werden.5 Neben der Unterscheidung dieser Beziehungskonstellationen ist empirisch v.a. der Beziehungskontext bedeutsam. Der Kontext gibt die Reichweite einer Beziehung zwischen dem Nahraum der Eigengruppe, anderen religiösen Traditionslinien oder Religionen sowie nichtreligiösen Institutionen der Aufnahmegesellschaft an. Im Einzelnen lassen sich vier Dimensionen unterscheiden:

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Zwar haben wir im Regelfall religiöse Funktionsträger als Repräsentanten ihrer Gemeinde betrachtet. In einigen Fällen stellte sich allerdings die Frage, wie mit der individuellen Dignität religiöser Virtuosen umzugehen ist (etwa im Fall buddhistischer Mönche oder erbcharismatisch Begabter bei den Yeziden). Hier war im Einzelfall zu begründen, warum der religiöse Spezialist als Individuum und nicht als Vertreter der Gemeinde fungiert. Ähnlich verhält es sich bei sozialen Dienstleistungen. Unstrittig ist, dass soziale Dienste und Wissenstransfer einzelnen Akteuren zugutekommen, zu klären ist aber im Einzelfall, ob der „Sender“ eine andere Einzelperson oder die Gemeinde als Gruppe ist. Ein Indikator dafür ist der Grad der Institutionalisierung eines Unterstützungsangebotes: je ehrenamtlicher, spontaner, niedrigschwelliger und fallbezogener die Hilfe, desto „individueller“, je alimentierter, regelmäßiger und allgemeiner das Angebot, desto „kollektiver“.

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1. Eine Beziehung ist innerreligiös, wenn sie innerhalb einer Religionsgemeinschaft (z.B. ein gegebener Moschee- oder Tempelverein) oder aber innerhalb einer Traditionslinie stattfindet (z.B. ein gemeinsames Fest verschiedener buddhistischer Gruppen der Waldmönchtradition). 2. Von einem intrareligiösen Kontext sprechen wir, wenn sich eine Beziehung über zwei Traditionslinien innerhalb einer Religion hinweg erstreckt. Diese Traditionslinien können auf einem theologischen Selbstverständnis beruhen (z.B. Katholiken vs. Protestanten), aber auch auf unterschiedliche landsmannschaftliche Traditionen (türkische vs. arabische Muslime), unterschiedliche Generationen oder die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Dachverbänden zurückgehen. So wäre ein Wissenstransfer zwischen verschiedenen DITIB-Gemeinden zum Thema Moscheebau innerreligiös, da er sich innerhalb einer verbandlichen Traditionslinie bewegt. Eine gemeinsame Liste von DITIB- und VIKZ-Vereinen für einen Integrationsrat wäre hingegen ein Beispiel für intrareligiöse politische Zusammenarbeit auf der kommunalen Ebene. 3. Als interreligiös bezeichnen wir Beziehungen zwischen Gemeinden unterschiedlicher Religionen. Dazu gehören alle Formen der strukturierten interreligiösen Arbeit von der Dialogveranstaltung über Friedensgebete bis hin zu gemeinsamen Festen. Aber auch ein spontaner oder kursorischer Austausch fällt in diese Kategorie. Ein Beispiel dafür sind wechselseitige Besuche zwischen einer serbisch-orthodoxen Gemeinde und einem thailändischbuddhistischen Tempel, die sich ein Grundstück in einem Gewerbegebiet teilen. 4. Außerreligiös schließlich sind Beziehungen zwischen einer Religionsgemeinschaft und einer Organisation oder Gruppe, die sich nicht als religiös definiert. Beispiele wären etwa die Bauvoranfrage eines Moscheevereins beim Bauamt, die Kooperation von christlichen Gemeinden mit der Kommunalpolitik für lokale Feste sowie die religiöse Aufklärungsarbeit yezidischer Gemeinden in staatlichen Schulen. Inhalte Die genannten Konstellationen und Kontexte erfassen v.a. formale Eigenschaften einer Beziehung. Zentral für unsere Fragestellung sind aber insbesondere die Inhalte der Beziehungen religiöser Migrantengemeinden. Beziehungsinhalte be-

24 | A LEXANDER-K ENNETH N AGEL schreiben die Art bzw. Qualität der Beziehung zwischen zwei Knoten (vgl. Knoke/Kuklinski 1982: 15ff.). Sie lassen sich zudem über den Austausch bzw. die Weitergabe bestimmter Ressourcen oder Kapitalsorten bestimmen (vgl. Esser 2000: 213ff.). 1. Kontaktpflege umfasst Aufwendungen für den Aufbau oder die Erhaltung des sozialen Kapitals einer Gruppe. Darunter fallen nach innen alle Angebote zur Vergemeinschaftung vom unspezifischen Gemeindekaffee oder der Teestube im Moscheeverein (vgl. Ceylan 2006) bis zu verschiedenen Frauen-, Männer- und Jugendkreisen. Nach außen umfasst Kontaktpflege z.B. Vertrauensarbeit im Quartier, Adressentausch, Small-Talk, mündliche und schriftliche Einladungen sowie gegenseitige Besuche. 2. Transfer von Geld und Gütern umfasst die Übertragung von ökonomischem Kapital wie Geld, Titeln und Vermögensgegenständen. Beispiele sind Geldund Sachspenden, etwa die Überlassung einer Buddhafigur von einem thailändisch-buddhistischen Tempel an ein lokales Museum oder die finanzielle Beteiligung einer Moscheegemeinde an einer multireligiösen Kapelle. 3. Wissenstransfer umfasst die Weitergabe von kulturellem Kapital in Form von kognitivem Struktur-, Prozess- oder Handlungswissen. Dabei sind religiöse (Religionsunterricht bzw. -unterweisung, Liturgiesprache, Rituale etc.) und säkulare Wissensbestände zu unterscheiden (Nachhilfe für die Schule, Übersetzungen, Rechts- und Sozialberatung, Ämterhilfe). 4. Soziale Dienste umfassen die Mobilisierung von Humankapital, also die Erbringung von Leistungen, die bestimmte Fähigkeiten oder Kompetenzen erfordern, aber nicht primär auf den Austausch von Wissen angelegt sind. Beispiele sind helfende Tätigkeiten, etwa im Bereich Altenhilfe oder Jugendarbeit, Haushaltshilfe sowie die Mitarbeit bei Veranstaltungen und dem Bau bzw. der Instandhaltung von Gemeindestruktur. 5. Öffentliche Fürsprache umfasst die Übertragung von symbolischem Kapital in Form affirmativer Sprechakte und diskursiver Unterstützung. Im Vordergrund stehen hier öffentliche Äußerungen, durch die ein Akteur (in der Regel als Repräsentant einer Organisation) sich hinter einen anderen Akteur (in der Regel eine bestimmte Gemeinde) stellt, so dass dieser von seiner Reputation profitieren kann. Beispiele sind positive Einlassungen christlicher Vertreter

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zum Bau einer repräsentativen Moschee oder muslimische Anwaltschaft gegen die Schließung einer Kirche.6 6. Interessenvertretung bezieht sich auf die Bündelung und politische Aktivierung von institutionellem bzw. politischem Kapital und umfasst alle Versuche der Einflussnahme auf Entscheidungsprozesse in übergeordneten (externen oder internen) Zusammenhängen.7 Beispiele sind die kommunalpolitische Zusammenarbeit unterschiedlicher muslimischer Vereine sowie die Lobbyarbeit der Syrisch-Orthodoxen Kirche in Deutschland für die Aufnahme von christlichen Flüchtlingen aus Syrien und dem Nordirak. 7. Seelsorge umfasst persönliches Empowerment durch die Vermittlung von Trost, Selbstwertgefühl, Nähe und Vertrauen, etwa im Rahmen informeller Krisengespräche und freundschaftlicher Unterstützung (soziales Kapital). Sie umfasst weiterhin Formen der religiösen Beratung, die religiös begründetes Handlungswissen mit konkreten Weisungen oder Ratschlägen zur Lebensführung verbindet (religiöses kulturelles Kapital). Beispiele sind Fatwas zum Umgang mit bestimmten Herausforderungen der Migrationssituation oder die Unterweisung durch buddhistische Mönche. 8. Religiöse Heilung umfasst schließlich rituelle oder spirituelle Techniken (religiöses kulturelles Kapital) zur Beseitigung von körperlichem oder psychischem Schmerz und Krankheit. Beispiele sind gemeinschaftliche Formen des „Gesundbetens“, wie sie v.a. in freikirchlichen Gemeinden verbreitet sind, aber auch Formen der Krankensalbung und Segnung sowie therapeutische Rituale zur Traumabewältigung, etwa im Fall der Yeziden oder der tamilischen Hindus.

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Öffentlichkeit wird hier weit verstanden als „im Beisein relevanter Dritter“, etwa im Rahmen einer Veranstaltung oder Rede, aber auch im Zusammenhang eines Berichts, Presseartikels oder offenen Briefs. Andererseits ist die bloße Gewährung von Publicity (etwa durch lokale Medien) noch keine Fürsprache.

7

Laut Esser stellen institutionelles und politisches Kapital auf „die kooperativen Folgen einer gelungenen Institutionalisierung“ ab. Diese bestehen für das institutionelle Kapital in der Teilhabe von Organisationen an den institutionell gerahmten Ergebnissen bestimmter Aushandlungsprozesse und für das politische Kapital in der „Wahrnehmung und Durchsetzung der Interessen im politischen Raum“ (Esser 2000: 232ff.).

26 | A LEXANDER-K ENNETH N AGEL Arrangements Neben diesen Inhalten oder Qualitäten lässt sich das Beziehungsspektrum religiöser Migrantengemeinden auch durch formale Kriterien wie Intensität, Vielschichtigkeit, Dauer und Wert- oder Zweckorientierung bestimmen. Das Zusammenwirken dieser Kriterien bezeichnen wir als Beziehungsarrangement. Ein Maß für die Intensität ist typischerweise der Umfang oder die Menge ausgetauschter Ressourcen, seien es Geld, Informationen oder soziale Dienste. Aber auch symbolische Interventionen wie öffentliche Fürsprache oder Interessenvertretung können unterschiedlich intensiv ausfallen und von kursorischen Anregungen bis zu Lobeshymnen und ausgeprägtem Lobbyismus reichen. Ungeachtet der Intensität kann eine Beziehung zwischen religiösen Migrantengemeinden und anderen Akteuren kurz- oder langfristig angelegt sein (Dauer) und sich auf unterschiedliche Beziehungsinhalte erstrecken (Multiplexität). In dem Maße, wie ein Austausch zwischen religiösen Migrantengemeinden und anderen religiösen oder nichtreligiösen Gruppen intensiv, dauerhaft und multiplex ist, sprechen wir von einer Kooperation. Dabei kann das kollektive Handeln im Sinne des o.a. normativen Verständnisses von Zivilgesellschaft an geteilten Normen und Werten orientiert sein oder aber als Mittel zur Erreichung bestimmter Gruppeninteressen betrachtet werden. Im Anschluss an diese Überlegungen lassen sich idealtypisch vier Varianten von Kooperation unterscheiden, die in der folgenden Tabelle zusammengestellt sind: zweckgebunden

wertgebunden

langfristig

strategische Allianz

Partnerschaft

kurzfristig

Projekt

Ad-hoc-Aktivität

1. Strategische Allianzen bezeichnen eine dauerhafte Zusammenarbeit, die zweckgebunden ist und in der Regel auf Komplementarität und Interessenkonvergenz beruht. Ein Beispiel ist eine Allianz von Religionsgruppen für politische Lobbyarbeit (vgl. das religionsübergreifende Aktionsbündnis Pro Reli beim Volksentscheid Ethikunterricht Berlin 2009). 2. Partnerschaften hingegen beziehen sich auf eine dauerhafte Zusammenarbeit, die auf ähnlichen Zielen und/oder Werten beruht und in der Regel mehrdimensional ist, also über einen bestimmten strategischen Zweck hin-

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ausgehen. Ein Beispiel sind langfristig angelegte interreligiöse Initiativen wie Nachbarschaftstreffs. 3. Projekte bezeichnen thematisch und zeitlich eingegrenzte Formen der Zusammenarbeit, die in der Regel zweckgebunden und nicht auf Dauer gestellt sind. Ein Beispiel sind interreligiöse Stadteilfeste. 4. Ad-hoc-Aktivitäten schließlich sind gekennzeichnet durch kurzfristige Mobilisierung und den Rückgriff auf geteilte Werte. Beispiele wären Gegendemonstrationen gegen xenophobe Bewegungen wie PRO NRW oder interreligiöse Trauerzeremonien nach Naturkatastrophen oder Unglücksfällen. Der Erkenntniswert der hier präsentierten Unterscheidung zwischen Beziehungskonstellationen, -kontexten, -inhalten und -arrangements liegt in erster Linie in der Möglichkeit einer differenzierten netzwerkförmigen Beschreibung der zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden. Um allerdings die Frage zu beantworten, warum bestimmte Angebote oder Vernetzungen entstehen, müssen auch potentielle Einflussfaktoren identifiziert und dimensioniert werden. Das leistet der folgende Abschnitt.

E INFLUSSFAKTOREN Die zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden sind abhängig von einer Vielzahl an internen und externen, strukturellen und ideellen Einflussfaktoren. Interne Einflussfaktoren sind solche, die sich aus der Verfassung der Religionsgemeinschaften selbst ergeben, etwa ihre Migrationsgeschichte, Sozialstruktur, demographische Veränderungen und nicht zuletzt das theologische Selbstverständnis und sozialethische Normen.8 Externe Einflussfaktoren hingegen sind Bedingungen und Impulse aus der Umwelt religiöser Migrantengemeinden. Dazu gehören insbesondere rechtliche und politische Rahmenbedingungen des Aufnahmelandes sowie öffentliche Diskurse über bestimmte Immigrantengruppen. Darüber hinaus können sich aber auch transnationale Konstella-

8

Im Unterschied zur Engagementforschung, die den Fokus stark auf die intrinsischen Hintergründe des sozialen Engagements einzelner Personen richtet und persönliche Charakterzüge und Motivation erörtert, beziehen sich die Einflussfaktoren in diesem Band auf die religiöse Gruppe (Mesoebene) oder ihre soziokulturelle Umwelt (Makroebene).

28 | A LEXANDER-K ENNETH N AGEL tionen förderlich oder hinderlich auf die Angebote und Vernetzungen der Gemeinden auswirken. Im Forschungsprogramm des vorliegenden Bandes markieren Einflussfaktoren den Übergang von der deskriptiven Darstellung der Angebote und Vernetzungen religiöser Migrantengemeinden hin zu einer kausalen Analyse. Dabei geht es weniger um Erklärungen in einem strengen formalen Sinn als um ein interpretatives Verständnis der kausalen Mechanismen, welche die zivilgesellschaftlichen Potentiale dieser Gruppen befördern oder hemmen. Es ist davon auszugehen, dass in der Praxis unterschiedliche Einflussfaktoren zusammenwirken und das Beziehungsspektrum religiöser Migrantengemeinden in komplexer Art und Weise prägen. Aus diesem Grund werden im Folgenden relevante Einflussfaktoren systematisch unterschieden und in den einzelnen Beiträgen auf konkrete Angebote und Vernetzungen bezogen. Interne Einflussfaktoren Theologisches Selbstverständnis (intern/ideell): Religiöse Weltbilder und theologische Interpretationen in religiösen Migrantengemeinden können einen unmittelbaren Einfluss darauf haben, ob, wie und in welchem Umfang zivilgesellschaftliche Potentiale freigesetzt werden. Dazu können einerseits (im weiteren Sinne) ekklesiologische Vorstellungen von der religiösen Gemeinschaft und ihren Grenzen gehören: Welche sozialen Unterschiede werden nach innen hin theologisch konstruiert (z.B. Kastenwesen, Laien vs. Spezialisten)? Wie wird der Umgang mit dem religiösen oder nichtreligiösen Anderen geregelt (Mission, Toleranz, Ablehnung)? Wie wird die eigene Migrationserfahrung und Minderheitenposition religiös gedeutet und wie wirkt sich dieses kollektive Selbstbild auf die öffentliche Orientierung aus? Andererseits ist zu vermuten, dass die Angebote und Vernetzungen von Religionsgemeinschaften in hohem Maße durch das jeweilige religiöse Unterstützungsethos geprägt sind. Dazu gehören Fragen wie: Wer schuldet wem in welchem Maße welche Art von Hilfe? Sind Hilfeleistungen auf den Nahraum der Gemeinde beschränkt? Und: ist der Dienst am Anderen ggf. relevant für die Erlangung religiösen Heils? Migrationsgeschichte (intern/ideell; strukturell): Neben den im engeren Sinne religiösen Faktoren können sich auch die Migrationsgeschichte bzw. der Migrationsverlauf auf die zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden auswirken. Dies ist v.a. dann der Fall, wenn die Migration in Wellen mit klar begrenzten Kohorten verläuft, die sich kollektiv mit bestimmten geteilten Migrationserfahrungen identifizieren. Hier können insbesondere Erfahrungen

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der Ausgrenzung und Vertreibung als religiöse Minderheit in den Herkunftsländern zum Anlass religiöser Selbstorganisation im Aufnahmeland werden. Ein weiterer Aspekt sind erloschene Rückkehrhoffnungen aufgrund politischer Entwicklungen oder Entfremdung, die eine Ausweitung der religiösen und kulturellen Angebote sowie die Vernetzung mit der Aufnahmegesellschaft befördern können. Sozialstruktur (intern/strukturell): Mit der Migrationsgeschichte eng verbunden ist die Sozialstruktur religiöser Migrantengemeinden. Der sozioökonomische Handlungsspielraum und damit auch die Fähigkeit zur Selbstorganisation ergeben sich wesentlich aus dem Bildungs- und Erwerbsstatus der Gemeindemitglieder. Da der Großteil der Arbeitsmigranten in niedrigqualifizierten Bereichen tätig war und Fluchtmigranten durch die Nichtanerkennung ihrer Bildungsabschlüsse und ihren prekären Aufenthaltsstatus oft nur schlecht bezahlte Hilfstätigkeiten ausüben konnten, ist davon auszugehen, dass die meisten religiösen Migrantengemeinden finanziell schlecht ausgestattet waren oder sind. Auch mangelnde Sprachkenntnisse und die habituelle Zurückgenommenheit der ersten Generation können als strukturelle Hindernisse sozialer Teilhabe und Vernetzung gelten. Zugleich ergeben sich aus der sozioökonomischen Situation Bedürfnislagen, z.B. im Bereich der Bildungsförderung, Sozialberatung oder Arbeitsvermittlung, die in religiösen Migrantengemeinden aufgefangen werden. Demographischer Wandel (intern/strukturell): Neben der Sozialstruktur im engeren Sinne dürfte auch die demographische Zusammensetzung eine wichtige Rolle für die zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden spielen. Hier ist v.a. auf die unterschiedlichen Ressourcen und Bedürfnislagen der ersten und zweiten Generation hinzuweisen. Die zweite Generation ist in der Regel geprägt durch soziale und ökonomische Aufwärtsmobilität und eine Orientierung auf das Aufnahmeland, die sich auch in sehr guten Sprachkenntnissen und erweiterten Teilhabeansprüchen äußert. Daraus ergeben sich neue Vernetzungschancen, aber auch Anfragen an bestehende Angebote, die innerhalb der Gemeinde zu Generationskonflikten, bis hin zur Abspaltung, führen können. Externe Einflussfaktoren Rechtliche Rahmenbedingungen (extern/strukturell): Ein wesentlicher externer Einflussfaktor für religiöse Migrantengemeinden sind religionsrechtliche Bestimmungen des Aufnahmelandes. Sie definieren die organisatorische Verfassung sowie die juristische Anerkennung von Religionsgemeinschaften und sind

30 | A LEXANDER-K ENNETH N AGEL ihrerseits eng verknüpft mit unterschiedlichen nationalen oder regionalen religionspolitischen Regimen. Im korporatistischen deutschen System können sich religiöse Migrantengemeinden öffentlich-rechtlich als Körperschaft oder privatrechtlich als eingetragener Verein organisieren. In beiden Fällen sind Repräsentation und Dauer zentrale Strukturmerkmale. Die Übersetzung religiöser Hierarchien in ein Organigramm kann mittelfristig den Charakter religiöser Gemeinschaften verändern. Zugleich können religiöse Migrantengemeinden durch die neue Rechtsform ihre Selbstorganisationsfähigkeit erhöhen (etwa durch Mitgliedsbeiträge und Weisungsstrukturen) und neue Handlungsspielräume gewinnen (z.B. Religionsunterricht an staatlichen Schulen). Anreize und Gelegenheitsstrukturen (extern/strukturell): Neben den allgemeinen rechtlichen Rahmenbedingungen können sich die zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden auch an konkreten ökonomischen Anreizen und politischen Gelegenheitsstrukturen orientieren. Finanzielle Anreize wie staatliche Zuschüsse für die freie Wohlfahrtspflege, aber auch Ausschreibungen von Stiftungen und Verbänden können zu einer Ausweitung oder Veränderung der Angebote führen und nebenbei die außerreligiöse Vernetzung befördern. Darüber hinaus können politische Gelegenheitsstrukturen wie Integrationsräte (als Forum politischer Mitwirkung) oder Integrationsbüros (als administrativer Ansprechpartner) gezielt die Vernetzung religiöser Migrantengemeinden untereinander und in die Stadtgesellschaft hinein anregen. Organisationales Feld (extern/strukturell): Die Angebote und Vernetzungen religiöser Migrantengemeinden sind nicht zuletzt abhängig von ihrem organisationalen Feld, also von den religiösen Organisationen in ihrer Umwelt (vgl. DiMaggio/Powell 1991: 149). Christliche Migrationskirchen (und in gewissem Umfang auch andere Migrantengemeinden) können auf die vielfältige materielle und personelle Unterstützung der etablierten Kirchen und ihrer Wohlfahrtsverbände zurückgreifen und erhalten auf diese Weise einen strukturellen Integrationsvorsprung (vgl. Winterhagen/Trähnhardt 2012: 189f.). Auch muslimische Gemeinden müssen sich mittlerweile in einem komplexen Feld von Verbänden orientieren, die jeweils unterschiedliche zivilgesellschaftliche Potentiale akzentuieren. Darüber hinaus hat das organisationale Feld religiöser Migrantengemeinden aber auch eine transnationale Dimension. Sie stehen oft in regem Austausch mit religiösen Organisationen und Autoritäten im Herkunftsland oder an anderen Diaspora-Standorten (vgl. Lauser/Weißköppel 2008; Nagel 2013). Daraus können sich spezifische Angebote ergeben, etwa im Bereich der Not- und Entwicklungshilfe.

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Öffentliche Diskurse (extern/ideell): Neben Bestimmungen, Anreizen und dem organisationalen Feld dürfte auch die öffentliche Meinung einen Einfluss auf die Angebote und Vernetzung religiöser Migrantengemeinden haben. Dies zeigte sich besonders deutlich nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und der darauf folgenden Legitimationskrise des Islam in Europa: Muslimische Migrantengemeinde sahen sich weit stärker als zuvor in der Pflicht, inter- und außerreligiöse Netzwerke zu kultivieren, um der wahrgenommenen Observanz und Skepsis der Aufnahmegesellschaft zu begegnen. Dieser Gefährdungsdiskurs gegenüber dem Islam ist zugleich eng verbunden mit einem Bild von Europa als „christlichem Abendland“, deren Ideengeschichte bis in die Romantik und darüber hinaus zurückreicht. Daraus ergibt sich zugleich ein Affinitätsdiskurs, der christlichen Migrantengemeinden eine prinzipielle Ähnlichkeit und Übereinstimmung mit den Werten der Aufnahmegesellschaft bescheinigt. Schließlich mag im Einzelfall auch eine pauschal positive Wahrnehmung vorherrschen, etwa mit Blick auf asiatische Religionen, welche die zivilgesellschaftlichen Potentiale beeinflusst und die wir als Exotisierungsdiskurs bezeichnen.

D ER B AND : AUFBAU

UND

G EBRAUCH

Im Folgenden wird das oben ausgeführte Netzwerkmodell in Fallstudien zur Anwendung gebracht. Die meisten Fallstudien beziehen sich auf ethnoreligiöse Gruppen, etwa tamilische Hindus (Sandhya Marla-Küsters), thailändische Buddhisten (Ann-Kathrin Wolf), koreanische Freikirchen (Sabrina Weiß), russlanddeutsche Mennoniten (Frederik Elwert), syrisch-orthodoxe Christen (Ulf Plessentin) sowie Yeziden (Thorsten Wettich). Für muslimische Migranten bietet sich angesichts der zahlreichen unterschiedlichen Herkunftsregionen der ethnoreligiöse Zuschnitt weniger an. Hier unterscheiden wir stattdessen zwischen Moscheegemeinden (Piotr Suder), die für einen klassischen ortsgemeindlichen Modus religiöser Vergemeinschaftung stehen, sowie sogenannten Neo-Muslimen (Karin Mykytjuk-Hitz), die sich als translokale und themenbezogene Gruppen formieren. Dabei tragen beide Fallstudien auch unterschiedlichen Migrationshintergründen Rechnung. Die abschließende Fallstudie zu interreligiösen Initiativen (Nelly C. Schubert) geht dann vollends über einzelne Migrantengruppen hinaus und legt den Fokus auf institutionalisierte Formen interreligiöser Vernetzung. Eine vergleichende Reflexion zu den Fallstudien (Nagel/Plessentin) rundet den Band ab. Die Auswahl der Fallstudien ergibt sich wesentlich aus Schwerpunktsetzungen im Rahmen der NRW-Nachwuchsforschergruppe „Religion vernetzt. Zivil-

32 | A LEXANDER-K ENNETH N AGEL gesellschaftliche und wirtschaftliche Potentiale religiöser Vergemeinschaftung“ und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. So stellen insbesondere jüdische Migrantengemeinden und muttersprachliche Gemeinden in der römischkatholischen Kirche empfindliche Desiderate dar. Nichtsdestotrotz eröffnet das Fallspektrum eine beachtliche komparatistische Breite, etwa mit Blick auf unterschiedliche religiöse Traditionsgeflechte (Buddhismus, Christentum, Hinduismus, Islam, Yeziden), ihre internen Differenzierungen sowie unterschiedliche Herkunftsländer und Migrationskontexte. Alle Beiträge beruhen auf eigenständigen empirischen Erhebungen. Dabei können die Erhebungsmethoden sowie Art und Umfang des Datenmaterials differieren. Als primäre Datenquelle dienen offene und teilstandardisierte Interviews, teilweise in Verbindung mit Netzwerkkarten. Darüber hinaus werden auch schriftliche Dokumente, Webauftritte sowie die Medienberichterstattung zu einzelnen Gruppen herangezogen, um ein möglichst umfassendes Bild zu erhalten. Die Datenauswertung orientiert sich an etablierten Herangehensweisen der Inhaltsanalyse (vgl. Gläser/Laudel 2004) sowie der qualitativen Netzwerkanalyse (vgl. Holstein/Straus 2006). Das o.a. Netzwerkmodell steht dabei im Zentrum der thematischen Codierung. Das Hauptaugenmerk unserer Erhebung lag auf der Untersuchungsregion Nordrhein-Westfalen. Entsprechend zielen die einzelnen Beiträge nicht darauf ab, eine deutschlandweite und erschöpfende Bestandsaufnahme zum Migrationsverlauf oder Integrationserfolg der jeweiligen Untersuchungsgruppe zu bieten. Der Fokus liegt vielmehr auf der systematischen Beschreibung ihrer Angebote und Vernetzungen sowie auf einem vertieften Verständnis der internen und externen Einflussfaktoren für ihre zivilgesellschaftlichen Potentiale. Aus Gründen der Lesbarkeit und Vergleichbarkeit folgen alle Beiträge dem gleichen Gliederungsschema: Im ersten Abschnitt wird jeweils der Hintergrund der Untersuchungsgruppe erläutert. Dazu gehören neben Ausführungen zur Migrationsgeschichte auch Hinweise auf relevante Forschungsliteratur. Im zweiten Abschnitt wird dann das Beziehungsspektrum anhand des gemeinsamen Netzwerkmodells beschrieben und mit Fallgeschichten illustriert. Der dritte Abschnitt ist den Einflussfaktoren gewidmet, die im konkreten Fall wirksam werden, und im vierten Abschnitt nehmen die Autoren eine vergleichende Positionsbestimmung ihrer Untersuchungsgruppe im Gesamtkontext des Bandes vor. Diese dezentrale Vergleichsperspektive wird im vergleichenden Schlusskapitel des Gesamtbandes aufgenommen und weitergeführt.

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Die zivilgesellschaftlichen Potentiale tamilischer Hindu-Tempel S ANDHYA M ARLA -K ÜSTERS

H INTERGRUND Der Bürgerkrieg in Sri Lanka (1983-2009) ist die Ursache für die Einwanderung nahezu aller in Deutschland lebenden sri-lankisch-tamilischer Hindus. Nur wenige Tamilen gelangten vor den 1980er Jahren, etwa im Zuge der Arbeitsmigration, von Sri Lanka nach Deutschland. Im Jahre 1978 lebten lediglich 1300 srilankische Staatsbürger in der BRD (vgl. Baumann 2003: 41). Aufgrund des Bürgerkriegs und im Zuge von Kettenmigration, wie z.B. durch die klassische Form des Familiennachzugs, stieg diese kleine sri-lankische Population durch die wachsende Zahl der Asylbewerber in den kommenden Jahren rasant an (vgl. ebd.). Seit nunmehr drei Jahrzehnten sind schätzungsweise eine halbe Million tamilische Flüchtlinge aus Sri Lanka nach Kanada (ca. 250.000) in westeuropäische Länder (ca. 200.000) und andere Regionen weltweit emigriert (vgl. Baumann/Salentin 2006: 297).1 In der Bundesrepublik leben, dem Mikrozensus 2011 zufolge, inzwischen rund 68.000 Menschen mit sri-lankischem Migrationshintergrund. Das Statistische Bundesamt erhebt keine Zahlen zur Ethnizität und der Religionszugehörigkeit. Es wird jedoch geschätzt, dass etwa 90 Prozent der srilankischen Einwanderer Tamilen (ca. 61.200) und rund 70 Prozent Hindus sind (vgl. Wilke 2013a: 376). Diesen Schätzungen zufolge leben mindestens 43.000 tamilische Hindus aus Sri Lanka in Deutschland.

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Allein zwischen 1980 und 1990 sind etwa 30 Prozent der tamilischen Gesamtbevölkerung Sri Lankas vor dem singhalesisch-tamilischen Konflikt und politischer Verfolgung in die Diaspora geflohen (vgl. Baumann 2003: 44).

38 | S ANDHYA M ARLA -KÜSTERS Bereits in den Jahren vor der Eskalation des singhalesisch-tamilischen Konflikts auf Sri Lanka 1983 beantragten erste hinduistische Tamilen Asyl in Deutschland. In der Regel waren dies junge Männer im Alter von 16 bis 30 Jahren. Unter diesen Männern waren sowohl Studenten, die von ihren wohlhabenden Familien zum Studieren nach Deutschland geschickt wurden, da Tamilen der Zugang zu Universitäten auf Sri Lanka erschwert wurde, als auch Männer, die mit der Hoffnung auf bessere Arbeitsmöglichkeiten kamen. Viele Männer flohen jedoch auch aufgrund der Befürchtung, wegen regierungskritischen Aktivitäten verhaftet zu werden bzw. um einer Zwangsrekrutierung der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) – der als Tamil Tigers bekannten paramilitärischen Organisation für die tamilische Unabhängigkeit – zu entgehen (vgl. Baumann 2003: 44-49). Im Laufe der 1980er und 1990er Jahre kam es verstärkt zu Familienzusammenführungen und zu Familiengründungen. Mit dem Zuzug der hinduistischen Ehefrauen wurde die tamilisch-hinduistische Kultur in Deutschland verstärkt etabliert. Nachdem in den ersten Ankunftsjahren die Anerkennungsquote für Asylsuchende aus Sri Lanka in Deutschland bei 90 Prozent gelegen hatte, veränderte sich die Situation nach 1985. Tamilen, die vor 1985 nach Deutschland eingereist waren, wurden in der Regel als politische Flüchtlinge anerkannt und ihnen wurde Asyl gewährt. Nach 1985 wurde es für tamilische Asylbewerber dann deutlich langwieriger, eine Aufenthaltsgenehmigung zu erlangen. Seit 2005 ist hingegen eine zunehmende Stabilisierung des Rechtsstatus von Tamilen erkennbar und immer mehr Tamilen wurden eingebürgert. Beschäftigt man sich mit Tamilen in Deutschland, stellt man rasch fest, dass in Nordrhein-Westfalen eine Sondersituation gegeben ist. Hier gibt es überdurchschnittlich viele Tamilen und eine besonders dynamische kulturellreligiöse Selbstorganisation. Tamilen aus Sri Lanka gelangten über das damals für sie noch visumsfreie Ost-Berlin per Transitvisum zunächst nach West-Berlin, reisten von dort per Zug weiter in Richtung Westdeutschland und gelangten so meist in westdeutsche Städte, wo sie Asyl beantragten (vgl. ebd.: 46). Mit der Zeit hat sich – trotz eines Verteilungsschlüssels – eine auffallende Ansiedlungsdichte in Nordrhein-Westfalen und insbesondere im Ruhrgebiet herausgebildet. Im Jahr 2011 lebten 51,5 Prozent der sri-lankischen Flüchtlinge in NordrheinWestfalen.2 Die Ursachen für diese geographische Konzentration hängen u.a. mit einer damals im Vergleich zu anderen Bundesländern liberaleren Rechtsprechung, einer zurückhaltenderen Abschiebepraxis und dem Nichtbestehen

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Statistisches Bundesamt: Vorläufige Ergebnisse des Mikrozensus 2011, Antwortschreiben vom 01.07.2013.

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räumlicher Mobilitätsbegrenzungen für Asylbewerber zusammen (vgl. ebd.: 50). Bereits in den 1980er Jahren etablierte sich zudem nach und nach eine bedarfsorientierte Infrastruktur, wie z.B. tamilische Geschäfte und erste hinduistische Tempel, die das Leben im Exil erleichterten. Die Ansiedlungsdichte von Tamilen und das Bedürfnis nach einer gelebten hinduistischen Gemeinschaft werden auch an der großen Anzahl hinduistischer Tempel in Nordrhein-Westfalen deutlich. Die Hälfte aller in Deutschland errichteter Hindu-Tempel befindet sich in Nordrhein-Westfalen. Nachdem im Jahr 1997 die Zusammensetzung der in Deutschland registrierten sri-lankischen Personen noch mit 63,5 Prozent männlich und 36,5 Prozent weiblich erfasst wurde, haben sich seit 2003 die Geschlechterverhältnisse angeglichen (vgl. Wilke 2013c: 132). Seit den 1980er Jahren und verstärkt in den 1990er Jahren kam es zu zahlreichen Familiengründungen. Es gibt heute viele Familien mit mindestens zwei Kindern, was auf eine breite zweite Generation hindeutet. Von den rund 68.000 in Deutschland wohnhaften Menschen mit srilankischer Migrationsgeschichte sind 41.000 selbst nach Deutschland immigriert. Rund 15.000 Personen der Auswanderungsgeneration wurden bereits eingebürgert. Etwa 27.000 der 68.000 Personen gehören der zweiten Migrantengeneration an, d.h. sie wurden in Deutschland geboren.3 Schätzungsweise 3000 der in Deutschland geborenen Kinder sri-lankischer Staatsangehörigkeit sind noch nicht eingebürgert worden. Bei dem Großteil von Tamilen auf Sri Lanka handelt es sich um Angehörige des sogenannten Shiva Siddhanta, einer hinduistischen Tradition des Shivaismus tamilischer Prägung. Auch die Mehrheit der nach Nordrhein-Westfalen eingewanderten Tamilen gehört dieser Tradition an. Eine Minderheit praktiziert dagegen den Virashaivismus (vgl. Wilke 2003: 131). Tamilische Hindus aus Sri Lanka bilden in religiöser Hinsicht also keine homogene Gruppe, gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie Shiva, einen der bekanntesten und populärsten Götter des Hinduismus, als zentrale Gottheit verehren. Das religiöse Erleben im Shiva Siddhanta zeichnet sich durch eine emotionale, intensive und unmittelbare Beziehung zu Shiva, weiblichen Hoch- und Lokalgottheiten, die jeweils als Shivas

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Es handelt sich hierbei um Zahlen des Mikrozensus, die sich aus Hochrechnungen von Stichproben ergeben. Die Zahlen sind also nicht exakt, das Statistische Bundesamt selbst spricht von einer „Unschärfe, die ein aus einer Zufallsstichprobe hochgerechnetes Ergebnis zwangsläufig hat“ (https://ergebnisse.zensus2011.de/docs/hinweis.html vom 01.08.2013). Zudem sind im August 2013 die Ergebnisse des Mikrozensus noch nicht vollständig veröffentlicht, so dass lediglich von Annäherungswerten ausgegangen werden kann.

40 | S ANDHYA M ARLA -KÜSTERS Gattin angesehen werden, oder anderen mit Shiva assoziierten Gottheiten (z.B. der elefantenköpfige Glücksgott Ganesha oder der tamilische Heldengott Murugan, beide in der hinduistischen Mythologie als Shivas Söhne bekannt) aus. Den Gefühlen wird u.a. in den Gesängen emotionaler Lobeshymnen, den sogenannten „Bhajan“, Ausdruck verliehen. Zu den wichtigsten allgemeinen Texten des Shiva Siddhanta zählen das Tirumurai, eine Hymnen- und Gedichtsammlung der Nayanars, und die 28 tantrischen Shiva-Agamas. Der Indologe und Religionswissenschaftler Axel Michaels ordnet die tamilische Glaubensform dem populären Shivaismus zu, der im Gegensatz zum sektiererischen Shivaismus vedisch-brahmanisch und volksreligiös beeinflusst sei (vgl. Michaels 1998: 237f.). In Nordrhein-Westfalen schlägt sich der shivaitische Glaube in einer Fülle an Tempeln nieder, die weiblichen Gottheiten geweiht sind, die sowohl vedischbrahmanisch als auch volksreligiös verehrt werden. Emotionale Beziehungen zu hinduistischen Gottheiten sind im tamilischen Hinduismus zentral. Gläubige Hindus gehen davon aus, dass die Götter sie bei Problemen unterstützen; in den Tempeln finden sie Trost und Halt. Weibliche Gottheiten werden im Gebet als „Mutter“ (amman oder amma) angesprochen. Viele tamilische Hindus beschreiben ihr Vertrauen in weibliche Gottheiten als ähnlich zum Vertrauen in die eigene Mutter. Deutlich wird hier das seelsorgerische Unterstützungspotential, das solch eine intime Beziehung mit sich bringen kann. Die intensiven Bindungen tamilischer Hindus aus Sri Lanka zu ihren Gottheiten bilden eine wesentliche Motivation zum Aufbau und zur Pflege religiöser Strukturen in NordrheinWestfalen. Tamilische Hindus aus Sri-Lanka unterscheiden sich in kultureller Hinsicht von tamilischen Hindus aus Südindien. In Deutschland bestehen nur in seltenen Fällen Kontakte zwischen diesen beiden Gruppen. Ursachen hierfür sind neben kulturellen Differenzen die verschiedenen Migrationsverläufe. Während Tamilen aus Südindien meist im Kontext der indischen Arbeitsmigration nach Deutschland gelangten, handelt es sich bei Tamilen aus Sri-Lanka um Flüchtlinge. Darüber hinaus bestehen sprachliche Unterschiede und das Kastensystem ist zudem anders strukturiert. Tamilen in Sri Lanka haben ein Ständesystem, das sich erheblich von dem Indien dominierenden Kastensystem unterscheidet. Die angesehene Kaste der Vellalar („Landwirt“) ist die verbreitetste Kaste in Sri Lanka. Während viele der ersten tamilischen Immigranten aus den wohlhabenden Grundbesitzerfamilien Sri Lankas stammen und der Kaste der Vellalar angehören, ist der Großteil der nach 1985 eingewanderten Flüchtlinge tendenziell den mittleren bis unteren Kasten und ökonomischen Schichten zuzurechnen (vgl.

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Wilke 2013c).4 Die Kastenzugehörigkeit verliert aber in den jüngeren Generationen an Bedeutung. Zum sri-lankisch-tamilischen Diaspora-Hinduismus in verschiedenen Ländern Europas sind – v.a. seit Beginn des 21. Jahrhunderts – einschlägige religions-, sozial- und erziehungswissenschaftliche Publikationen erschienen (vgl. Baumann/Luchesi/Wilke 2003; Luchesi 2008; Baumann 2009; Mahendrarajah 2010; Schalk 2010; Fibiger 2011; Somalingam 2012; Marla 2012; Marla 2013; Müller 2013; Wilke 2013a; Wilke 2013b). Erörtert wurden dabei verschiedene Phasen des Bürgerkriegs zwischen tamilischen Separatisten und dem srilankischen Militär. Ein Fokus lag hier auf den politischen Hintergründen des Konflikts sowie auf Diaspora-typischen Strategien der Erinnerungskultur und Vergangenheitsbewältigung (vgl. u.a. Schalk 2004; Schalk 2007; Mahendrarajah 2010; Schalk 2010; Brun/Van Heer 2011). Die Religionswissenschaftler Martin Baumann, Brigitte Luchesi und Annette Wilke gaben im Jahr 2003 den ersten Sammelband zu tamilischen Hindus in Kontinentaleuropa heraus, der mittlerweile als Standardwerk gilt. Darin wird u.a. deutlich, dass die Diaspora-Tempel viele erweiterte soziale Funktionen übernehmen. Wilke verdeutlicht in einem neueren Beitrag (vgl. Wilke 2013b) am Beispiel des Sri-Kamadchi-Ampal-Tempels im westfälischen Hamm-Uentrop – dem größten Hindu-Tempel Kontinentaleuropas – die beachtlichen gesellschaftspolitischen und sozio-religiösen Potentiale der Verehrungsstätten. Besonders unterstreicht sie die Funktion von Tempeln als dynamische „kulturelle Kontaktzonen“, an denen es zu vielfältigen Austauschprozessen zwischen der hindutamilischen Gemeinschaft und Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft kommt (ebd.: 15ff.). Skizziert wird insbesondere die vitale Rolle, die den Tempeln im Integrationsprozess von Tamilen in Nordrhein-Westfalen zukommt (vgl. ebd.: 48). So verweist Wilke auf die wachsende gesamtgesellschaftliche Anerkennung der tamilischen Gemeinschaft, die die Tempel mit sich bringen. Der vorliegende Artikel schließt an Wilkes Beobachtungen der Multifunktionalität von Tempeln in Nordrhein-Westfalen an und beleuchtet die zivilgesellschaftlichen Potentiale von tamilisch-hinduistischen Tempeln.

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Die Mehrheit der Tamilen in Deutschland stammt aus städtischen oder ländlichen Gegenden bei Jaffna. Die Eltern aller meiner Interviewpartner stammen aus den nördlichen und östlichen Regionen Sri Lankas, also (ursprünglich) tamilisch dominierten Gebieten der Insel.

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N ETZWERKE Die deutschlandweit rund 45 tamilischen Hindu-Tempel sind zentrale rituelle Verehrungsstätten hinduistischer Gottheiten. Jedoch erfüllen sie in der Migrationssituation darüber hinaus neue soziale Funktionen: Die Tempel sind beispielsweise Orte zur interreligiösen Kultur- und Wissensvermittlung zwischen den Generationen, sie dienen der Identitätsarbeit nach der Immigration, sind wichtig für die soziale inner- bzw. intrareligiöse Vernetzung der tamilischen Gemeinschaft und fungieren gleichzeitig als inter- und außerreligiöse kulturelle Kontaktzonen zwischen Aufnahmegesellschaft und der Migrantengemeinschaft. Es kann davon ausgegangen werden, dass die tamilischen Hindu-Tempel in Deutschland eine migrationsspezifische Funktionserweiterung erfahren haben, die auf die Bedürfnisse der Migranten-Community ausgerichtet ist. Im Folgenden wird zunächst auf die innerreligiöse Bedeutung von nordrhein-westfälischen Hindu-Tempeln eingegangen. Da nach wie vor der Großteil der in Nordrhein-Westfalen ansässigen tamilischen Hindus, sowohl der ersten als auch der zweiten Generation, zumindest gelegentlich einen oder mehrere Tempel aufsucht, stellen die hinduistischen Verehrungsstätten wesentliche soziale Anlaufstellen für nahezu die gesamte Community dar. Die Kontakte, die im Rahmen von Tempelaktivitäten gepflegt werden, sind vorwiegend, jedoch durchaus nicht ausschließlich, innerethnisch und innerreligiös. In diesem hinduistischen Traditionskontext werden Kontakte unter Menschen sri-lankisch-tamilischer Herkunft geknüpft. Über das gemeinsame rituelle Erlebnis in der Gruppe hinaus nutzen die tamilischen Tempelbesucher bei regulären Tempelbesuchen die Gelegenheit, um Small-Talk zu führen, Kontaktdaten auszutauschen und sich auch außerhalb des Tempels zu verabreden. In Interviews mit tamilischen Hindus der ersten Generation wurde deutlich, dass die verschiedenen Tempel insbesondere der Pflege von Kontakten dienen, die langfristig angelegt sind und beispielsweise in eine beruflichen Zusammenarbeit (Beispiel: Eröffnung eines tamilischen Lebensmittelladens) oder gemeinsame Freizeitaktivitäten (Beispiel: Gründung eines tamilischen Fußballteams) münden können. Die Kontaktpflege mit anderen Tamilen wird sowohl von der Auswanderungsgeneration als auch den in Deutschland aufgewachsenen Generationen gemeinhin als sehr wichtig für die eigene kulturelle Selbstverortung und die Orientierung in multikulturell geprägten Lebenswelten beschrieben. Einwanderer und junge Deutsche mit tamilischem Migrationshintergrund vernetzen sich über die Tempel innerhalb der eigenen sozialen Zusammenhänge. Die Tempel bieten ein starkes binnenintegratives Potential, das vielfach genutzt wird.

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In diesem Sinne werden Tempelbesuche von der zweiten Generation der Tamilen ebenfalls als Gelegenheit wahrgenommen, das innerreligiöse Netzwerk zu pflegen und darüber gegebenenfalls einen Heiratspartner kennenzulernen. In einem Gruppeninterview wurde von Angehörigen dieser Generation, die im Alter von 14 und 16 Jahren sind, betont, dass sie sich von den anderen Jugendlichen in der Tempelgemeinschaft teilweise besser verstanden fühlten als von ihren nicht-tamilischen Freunden in der Schule. Man könne sich über tamilische Musik, über kulturgebundene Konflikte im Elternhaus sowie traditionelle südasiatische Outfits austauschen und würde sich aufgrund geteilter Erfahrungen ohne Weiteres verstehen. Die Jugendlichen betonten, ihre religiösen Gefühle seien wichtig für die Tempelbesuche, sie freuten sich aber auch immer darauf, ihre Freunde zu treffen und neue Jugendliche aus der tamilischen Community kennenzulernen. Der innerethnische Freundeskreis dient als Rückzugsort, um migrationsbedingten Herausforderungen gerecht zu werden. Die Kontaktpflege ist die Basis für eine Reihe von sozialen Diensten, den Transfer von Gütern oder den Wissenstransfer zwischen Gemeindemitgliedern: Es ist üblich, sich vor oder nach den religiösen Zeremonien über die aktuelle persönliche oder familiäre Situation und Bedürfnislagen auszutauschen. Benötigt man einen Rat für bürokratische Vorgänge, einen Dolmetscher bei Behördengängen oder Arztbesuchen, sucht man nach einem Nachhilfelehrer für ein Kind, eine helfende Hand im Haushalt oder beim Umzug, so lassen sich innerhalb der hindu-tamilischen Community rasch soziale Dienste unentgeltlich mobilisieren. In der zweiten Migrantengeneration ist es beispielsweise verbreitet, sich gegenseitig Nachhilfe zu geben. Die Suche nach einem geeigneten Nachhilfelehrer beginnt häufig mit einem Gespräch unter Müttern während eines Tempelbesuchs: Wenn etwa ein Kind in Mathematik talentiert ist und ein anderes in diesem Fach Defizite aufweist, ist es üblich, diese Kinder als Lernpartner zusammenzubringen. Die Tempelbesuche werden auch als Gelegenheiten genutzt, sich auf der Muttersprache der ersten Generation zu unterhalten. Üblicherweise bereiten mehrere Frauen eine Mahlzeit vor, die im Anschluss an die Götterverehrung von den Tempelbesuchern gemeinsam verzehrt wird. Sowohl während des Kochens als auch während des anschließenden Essens, das an den rituellen Teil des Tempelbesuchs anschließt, tauschen sich die Anwesenden aus und können untereinander Hilfe vereinbaren. In der Regel werden die Speisen in den Tempelräumlichkeiten zubereitet. Die Verköstigung der Tempelbesucher und auch die Organisation des Essens können als sozialer Dienst von Gemeinschaftsmitgliedern für Gemeinschaftsmitglieder angesehen werden. Innerhalb der Tempel kann es auch zum Tausch von Speisen kommen, die zu Hause vorbereitet worden sind. So werden etwa aufwendige Speisen, die nach

44 | S ANDHYA M ARLA -KÜSTERS besonderen Reinheitsregeln zubereitet werden, in der Fastenzeit an Bedürftige oder ältere Personen verteilt – ein klassischer Fall eines innerreligiösen Transfers von Gütern. Solche Armenspeisungen für in Not geratene Mitglieder der Community sind im Tempel üblich. Im Anschluss an die Götterverehrung wird kostenlos eine warme Mahlzeit verteilt, die über Spenden finanziert wird. Laut Auskunft eines hauptamtlichen Tempelpriesters werden darüber hinaus in Krisenzeiten einzelne Familien unterstützt. In mehreren Fällen wurde im Tempel erfolgreich dazu aufgerufen, für notleidende Familien der Gemeinde Geld- und Sachspenden zu sammeln, ein typischer Transfer von Geld und Gütern. Tempel werden über Spenden finanziert. Allerdings gibt es für sie keine regelmäßigen Einnahmen, wie sie die Amtskirchen in Form von Kirchensteuern erhalten. Auch wenn der Großteil der Auswanderungsgeneration in schlecht bezahlten Berufsfeldern tätig ist, konnten seit den 1980er Jahren 45 Tempel in Deutschland errichtet werden. Beachtlich ist, dass diese allein durch Spendengelder finanziert wurden, was das Selbstorganisations- und Mobilisierungspotential der tamilischen Hindus verdeutlicht. Die Spenden werden während der Zeremonien im Tempel durch die Priester von den Anwesenden eingesammelt. Von den Spenden werden auch die Tempelpriester bezahlt. Der Tempelbesucher bekommt den Segen des Priesters und legt Geldmünzen oder kleine Scheine auf einen Teller. Es besteht auch die Möglichkeit, für einen zeremoniellen Teil der Götterverehrung zu spenden und dafür beispielsweise ein Tempelritual zu erhalten. Je nach Tempel variieren die Strategien der Spendeneinnahme. Während in manchen Tempeln wöchentliche Abgaben bei den Zeremonialhandlungen erhoben werden, kommt es in anderen Tempeln nur zu punktuellen Abgaben. Nicht ungewöhnlich ist beispielsweise, dass die Priesterfamilie im Tempel Utensilien für die Hausaltare verkauft oder zu besonderen biographischen Anlässen (z.B. zur Geburt) von den Gläubigen größere Spendensummen gezahlt werden. Über einen langen Zeitraum nicht zu spenden, kann in der Ritualgemeinschaft negativ auffallen – ebenso wird eine große Spendenbereitschaft positiv wahrgenommen. Ist bekannt, dass eine Familie in finanzieller Not ist, werden von dieser Familie in der Regel keine Spenden erwartet. Zwar gibt es keine feste Gemeinde in den Tempeln, aber die Beiträge der Gläubigen ermöglichen geregelte Spendeneinnahmen. Neben diesem Transfer von Geld engagieren sich viele Hindus auch durch soziale Dienste ehrenamtlich für den Aufbau und den Unterhalt des Tempellebens. Oftmals bieten Handwerker kostenlos ihre Dienste an oder Tontechniker helfen bei der Gestaltung von Tempelfesten. Eine wesentliche erweiterte soziale Funktion von Tempeln zeigt sich im Wissenstransfer zwischen der Auswanderungsgeneration und den Folgegeneratio-

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nen, also jenen Generationen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Die Tempel sind zentrale Stätten zur Vermittlung religiöser Wissensbestände und damit konstitutiv für das Fortleben des tamilisch geprägten Hinduismus, speziell in Nordrhein-Westfalen. Bereits im Kindesalter begleiten hindutamilische Kinder ihre Eltern in die Tempel und erleben den Tempelalltag als praktizierte Normalität. Einige Tempel bemühen sich gezielt darum, das religiöse Interesse von Kindern und jugendlichen Hindus zu fördern. So werden in Tempeln Angehörige der in Deutschland aufgewachsenen Generation dazu motiviert, sich als religiöse Ansprechpartner zu engagieren. Der Großteil der zweiten und dritten Migrantengeneration kennt Sri Lanka, die Heimat der Eltern, nur von kurzen Ferienaufenthalten. Die Tempel bieten gerade den in Deutschland geborenen Hindus mit tamilischem Migrationshintergrund eine Gelegenheit, die Kultur und Religion ihrer Eltern kennenzulernen. Sie werden zu Kontaktzonen zwischen den verschiedenen Generationen über den familiären Rahmen hinaus. Die Tempel sind Stätten der Traditionspflege und Binnenintegration, mit dem Ziel, das Verständnis für eine religiöse Lebensweise zu stärken und einer Entfremdung zwischen den unterschiedlichen Generationen vorzubeugen. Ein wichtiges Angebot ist in diesem Zusammenhang die Seelsorge. Tempelpriester werden zu Ansprechpartnern, beispielsweise in beruflichen Lebenskrisen oder bei psychischen bzw. physischen Erkrankungen. Die seelsorgerliche Tätigkeit besteht darin, Trost zu spenden und religiöse Lösungswege aus der Krise aufzuzeigen. Traumata, z.B. bedingt durch die Erfahrung des Bürgerkriegs und der Flucht, die Sehnsucht nach dem Herkunftsgebiet und andere Leiden werden so religiös thematisiert. Der hauptamtlich tätige Priester des Sri-KamadchiAmpal-Tempel in Hamm-Uentrop bietet darüber hinaus speziell eine Gefangenenseelsorge an (vgl. Wilke 2013b: 34). Inhaftierte werden besucht, um ihnen die Unterstützung des Tempels zu demonstrieren und eine religiös begleitete Reintegration nach der Haftentlassung vorzubereiten. In einem konkreten Fall half ein Tempelpriester einer Psychologin mit seinem kulturellen Hintergrundwissen bei der Therapie eines in die Psychiatrie eingelieferten Kindes, das zur tamilischen Hindu-Gemeinde gehört. Seine Aufgabe bestand auch darin, gemeinsam mit dem Kind zu beten. In diesem Fall – wie auch in anderen Fällen, in denen Kranke durch Priester betreut werden – übernimmt die Seelsorge eine zentrale Funktion für das persönliche Empowerment. Die Grenzen zwischen seelsorgerlicher Unterstützung und religiöser Heilung sind an dieser Stelle fließend. Zwischen den tamilischen Hindu-Tempeln gibt es sowohl Konkurrenz als auch Formen der innerreligiösen Kooperation. Da die Gläubigen nicht in feste Gemeindestrukturen eingebettet sind, wählen sie einen Tempel je nach Bedürf-

46 | S ANDHYA M ARLA -KÜSTERS nislage und Angeboten aus. Mit den Besuchern kommen wiederum die Spenden, die das Fortbestehen der Tempel garantieren. Entsprechend suchen die einzelnen Tempel nach einem bestimmten Profil bzw. Alleinstellungsmerkmalen, die ihnen eine Besucherschaft garantieren. Insbesondere bei großen Festen kommt es zur Kooperation zwischen den Tempeln einer religiösen Traditionslinie, auch wenn sie sonst meist unabhängig voneinander agieren. Wird über mehrere Tage eine Puja durchgeführt, werden beispielsweise Tempelpriester aus anderen Tempeln eingeladen, um die hinreichende rituelle Versorgung der Gottheiten zu garantieren. Der Großteil, jedoch nicht alle Tempel sind als Vereine eingetragen. Der Vereinsstatus bringt für die Tempel gewisse Vorteile mit sich, etwa die Befugnis, Prozessionen im öffentlichen Raum durchzuführen. Diese Prozessionen spielen im tamilischen Leben eine zentrale Rolle. Das größte Tempelfest deutschlandweit findet einmal jährlich auf dem Gelände des Hamm-Uentroper Tempels statt. An einem astrologisch errechneten Termin für den Höhepunkt des 14-tägigen Festes (es handelt sich stets um einen Sonntag) versammeln sich bis zu 20.000 Besucher aus unterschiedlichen Ländern Europas, v.a. Tamilen, aber auch zahlreiche Interessierte der deutschen Mehrheitsbevölkerung. Hier erhoffen sich die Gläubigen eine besondere Zuwendung ihrer Gottheiten; die Motivation zum Tempelbesuch steigt. Zudem werden die Feste als Gelegenheiten zur innerreligiösen transnationalen Vernetzung der verstreuten tamilischen Gemeinschaft genutzt. Interessanterweise gibt es im intrareligiösen Kontext nur wenige Kontakte und Vernetzungen zu anderen hinduistischen Gruppen. Neben den Tamilen von Sri Lanka leben in Deutschland Hindus aus Indien und Afghanistan. Die Gründe für die Eigenständigkeit und den geringen Austausch zwischen diesen HinduCommunities sind historischer, theologischer und sozioökonomischer Natur und werden im folgenden Abschnitt näher erörtert. Allerdings gibt es oft Kontakt und Austausch, teilweise auch Kooperationen mit Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft, die an traditionellen hinduistischen Praktiken wie dem Yoga interessiert sind und Gleichgesinnte suchen. Dabei fällt eine eindeutige Zuordnung schwer, da sich diese im Übergangsfeld zwischen den intra- und interreligiösen teilweise auch außerreligiösen Kontexten bewegen: Die Begeisterung vieler westeuropäisch sozialisierter Menschen an Indien, Yoga und spirituellen Glaubensformen führt zu einem Interesse an der hinduistischen Religionskultur, das auf die Offenheit der Hindu-Tempel trifft. Seit Oktober 2013 kommt es im HammUentroper Kamadchi-Tempel zu Kursen, innerhalb derer der Tempelpriester Grundlagen des vedischen Weltbilds vermittelt (religiöser Wissenstransfer). Die Initiative entstand im Austausch zwischen dem Tempel und einem YogaZentrum im westfälischen Beckum. Prinzipiell sind solche Kurse offen und wer-

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den in hohem Maße von deutschen Sinnsuchenden wahrgenommen, die den Tempel als authentischen Rahmen für die Auseinandersetzung mit hinduistischen Lehren betrachten. Das letztgenannte Beispiel zeigt exemplarisch, dass Tempel als potentielle inter- und außerreligiöse Kontaktzonen zu sehen sind, die neben vielen innerreligiösen Funktionen dem Austausch zwischen der Migrantencommunity und der Mehrheitsbevölkerung dienen. Aber auch außerhalb des Tempels bestehen interreligiöse Kontakte: So zeichnet sich die Religiosität tamilischer Hindus sowohl in Sri Lanka als auch in Deutschland durch eine ausgeprägte Offenheit gegenüber anderen Religionen aus. Vor allem mit dem römisch-katholischen Christentum gibt es in Nordrhein-Westfalen zahlreiche Berührungspunkte. Öffentlich wenig bekannt ist beispielsweise, dass Hindus oftmals Kirchen besuchen oder an christlichen Wallfahrten aktiv teilnehmen, ohne dass diese Aktivitäten als Widerspruch zur eigenen hinduistischen Zugehörigkeit gesehen werden. Fallgeschichte Die Aufgeschlossenheit gegenüber dem Christentum und aktive Teilnahme an christlichen Ritualen führt in Nordrhein-Westfalen interessanterweise zu öffentlichen Fürsprachen von Hindus für das Christentum. So engagieren sich Hindus für den Erhalt von lokalen Kirchen. Zwei Familien berichteten, dass sie nach ihrer Ankunft in Deutschland eine römisch-katholische Kirche regelmäßig besucht haben. Diese Kirche sollte nun geschlossen werden. Um sich gegen eine Schließung dieser Kirche auszusprechen, nahmen die hinduistischen Familien an mehreren Demonstrationen gegen die Schließung teil, die von Christen initiiert worden waren. Sie fühlten sich mit der Kirche und der Gemeinde verbunden, fühlten Dankbarkeit und wollten daher Solidarität mit der Kirchengemeinde und dem Christentum generell zeigen. Das prominenteste christlich-hinduistische Kontaktfeld in NordrheinWestfalen ist die sogenannte „Tamilenwallfahrt“ nach Kevelaer. Seit 1987 reisen Tamilen zum Marienwallfahrtsort am Niederrhein, um das Marienbildchen der Consolatrix Afflictorum (lat. Trösterin der Betrübten) zu betrachten, zu beten und sich mit anderen Tamilen zu treffen. Die Initiative ist auf die Aktivitäten der römisch-katholischen Seelsorge für Tamilen zurückzuführen. Inzwischen reisen bis zu 15.000 Tamilen einmal im Jahr nach Kevelaer; bei schätzungsweise 40-60 Prozent aller Besucher handelt es sich um Hindus.

48 | S ANDHYA M ARLA -KÜSTERS Weitere Konstellationen im interreligiösen bzw. auch außerreligiösen Kontext entstehen durch Besucher, die weniger ein spirituelles als ein allgemein religionskundliches Interesse am Hinduismus haben. Angehörige der Mehrheitsgesellschaft, die einer anderen oder keiner Religion angehören, werden in tamilischen Hindu-Tempeln meist ausdrücklich willkommen geheißen. Sie dürfen sowohl an regulären Tempelzeremonien als auch an den zahlreichen hinduistischen Feiertagen, die in Tempeln gefeiert werden, teilnehmen. Die Tempel bieten damit im regulären Alltag das Potential zum interreligiösen und außerreligiösen Austausch und werden über ihre Funktion als Ritualgebäude hinaus zu Kontaktorten zwischen der Migrantencommunity und der Mehrheitsgesellschaft. Durch diese Begegnungen werden auf beiden Seiten interkulturelle Kompetenzen gestärkt (vgl. Wilke 2013b). Da junge Tamilen der zweiten und dritten Generation im Alltag in kulturell und religiös vielfältigen Freundeskreisen interagieren, lässt sich regelmäßig beobachten, dass sie ihre nichthinduistischen Freunde mit in die Tempel nehmen, um ihnen ihre Kultur und Religion näherzubringen. Mitunter bringen tamilische Schüler auch ihre ganze Klasse zu einem Ausflug mit in einen Tempel. Das Miterleben der hinduistischen Ritual- und Festkultur ist eine Chance zu einem Rollentausch, bei dem Mitglieder der Hindu-Community zu religiösen Experten der Mehrheit werden, während ihre nichthinduistischen Besucher sich in die Lage einer Minderheitensituation versetzen können. Dieser Rollentausch birgt ein integratives Potential, das alle Beteiligten für kulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten sensibilisiert. Die Tempelbesuche werden folglich dazu genutzt, innerhalb der religiös heterogenen Freundeskreise ein Interesse am Hinduismus zu wecken und Wissen über hinduistische Vorstellungen zu verbreiten. Über einmalige Kontakte hinaus kommt es hin und wieder zur Zusammenarbeit zwischen den Tempeln und außerreligiösen Institutionen in Form verschiedener Projekte. Ein Beispiel dafür ist das vom Sri-Kamadchi-Ampal-Tempel geplante Kulturzentrum. Die Glaskuppel des Kulturzentrums soll von einer studentischen Architektengruppe der Rheinisch-Westfälisch Technischen Hochschule Aachen entworfen werden. Beim Tempeljahresfest des Hamm-Uentroper Tempels 2013 warben die Studierenden für Spenden zur Finanzierung der Glaskuppel. Vergleichbare Initiativen unterstreichen das Potential von Hindu-Tempeln als Kontaktzonen auch für außerreligiöse Akteure. Daneben kommt es im außerreligiösen Kontext regelmäßig zu öffentlichen Fürsprachen und direkten oder indirekten Geldtransfers, z.B. von Seiten der Kommunen. Die Unterstützung der Kommunen wird sichtbar, wenn sie gelegentlich anfallende Kosten erlassen oder vergünstigen, wie z.B. für die Straßenreinigung nach Tempelfesten. Ein konkretes Beispiel für eine öffentliche Für-

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sprache in Verbindung mit einem Transfer von Geld ereignete sich 2012 in Hamm-Uentrop: Nach einem Raubüberfall auf den dortigen Tempel, der erhebliche finanzielle Verluste mit sich brachte, kam es zu einem Besuch des Oberbürgermeisters der Stadt. Als Zeichen der Solidarität mit dem Tempelverein und der Priesterfamilie wurde bei einer öffentlichen Veranstaltung eine Geldspende der Stadt von 5000 Euro überreicht. Die Tempellandschaft in Nordrhein-Westfalen ist nur in Ansätzen zentralisiert. Einzig dem Hamm-Uentroper Tempelverein wurde 2013 der Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts eingeräumt. Auch wenn dieser Tempel nicht als Dachverband aller hinduistischen Tempel in Deutschland angesehen werden kann, ist seine zentrale Stellung für Entwicklungsprozesse des hiesigen Tempellebens unübersehbar. Aufgrund des großen Erfolgs des Tempels kommt ihm oftmals eine Vorbildfunktion zu. Wichtig für das Fortbestehen tamilischer Hindu-Tempel in Deutschland sind dabei auch Engagierte der Mehrheitsgesellschaft, die zumeist keine Hindus sind. Oftmals verfügen sie über bessere Ressourcen und Kontakte als die Mitglieder der tamilischen Community. Einzelne Akteuren können mitunter eine konstitutive Rolle für den Aufbau und den Erhalt von Tempeln spielen. So fungiert der Architekt des Hamm-Uentroper Tempels seit vielen Jahren als Berater für andere Tempelgroßbauprojekte und verzichtete regelmäßig auf sein Honorar. Als außerreligiöser Projektpartner vermittelt er den tamilischen Tempeln säkulares Wissen im Bereich Architektur und Bauvorschriften. Andere am Hinduismus interessierte Personen der Mehrheitsgesellschaft führen beispielsweise Gruppenführungen durch, die den Tempeln wiederum Geld einbringen. Üblicherweise gibt es in tamilischen Hindu-Tempeln einen Vorstand, der u.a. für die Finanzen des Tempels zuständig ist. Meist besteht der Vorstand aus Tamilen, im Fall des Hamm-Uentroper Tempels gibt es jedoch auch Mitglieder aus der Hammer Bevölkerung, die sich für das Tempelleben engagieren. Im Vorstand ist beispielsweise der Tempelarchitekt und in den Beirat wurden in der Planungsphase ein Steuerberater, eine Juristin, ein Pressesprecher und ein Verantwortlicher für Versicherungen aufgenommen. Einige, aber nicht alle, dieser nicht-tamilischen Beiratsmitglieder engagieren sich noch immer für die Belange des Tempels. Diese inter- bzw. außerreligiöse Allianz mit verschiedenen Akteuren der Stadtgesellschaft kann in Deutschland als einzigartig gelten. Das Interesse der Mehrheitsbevölkerung am Hinduismus sowie ihre Partizipationsmöglichkeiten in kleineren und unbekannteren Tempeln als dem HammUentroper Göttinnentempel wachsen jedoch zusehends.

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E INFLUSSFAKTOREN Das vorgenannte Beziehungsspektrum hindu-tamilischer Gemeinden in Deutschland hängt von verschiedenen Einflussfaktoren ab. Aufgrund des religiösen Selbstverständnisses und der Tradition gibt es im Hinduismus keine Gemeindestrukturen oder eine lokale „Heimatgemeinde“ mit festen Mitgliedschaftsverhältnissen und -beiträgen, wie sie etwa aus dem Christentum bekannt sind. Hindus spenden, wenn sie an einer Götterverehrung teilnehmen, und besuchen meist mehrere Tempel, die sie nach ihrem spezifischen Profil und Angebot auswählen. So ist etwa der Hanuman-Tempel in Castrop-Rauxel für seine heilende Wirkung, etwa bei Krankheiten oder in Erholungsphasen nach einer finanziellen oder persönlichen Krise, bekannt. Die bedarfsorientierte Wahl der Tempel führt zu einem Wettbewerbsverhältnis zwischen den verschiedenen Tempeln. Denn je mehr Personen einen Tempel besuchen, desto sicherer können laufende Kosten durch Spenden gedeckt und das Fortbestehen des jeweiligen Tempels gesichert werden. Darüber hinaus trägt das religiöse Selbstverständnis auch dazu bei, dass verschiedene hinduistische Traditionen ohne nennenswerten Austausch nebeneinander existieren. Aufgrund der shivaitischen Prägung des tamilischen DiasporaHinduismus, kommt es in Nordrhein-Westfalen kaum zu Berührungspunkten mit anderen hinduistischen Gruppierungen, etwa solchen, die aus der Republik Indien stammen. Die Ritualsprache in tamilischen Hindu-Tempeln ist Sanskrit, man unterhält sich jedoch auf Tamil, eine Sprache, die nur von einer kleinen Minderheit der indischen Immigranten in Deutschland, nicht aber von afghanischen oder nordindischen Hindus beherrscht wird. Neben der Sprache trennt die verschiedenen hinduistischen Gruppierungen in Deutschland auch die Ritualkultur. Beim Tempeljahresfest des Hamm-Uentroper Tempels kommt es beispielsweise zur Durchführung körperbezogener Gelübde, dazu gehören Piercing-Praktiken, die von den indischen Hindus als „unreine“ Rituale abgelehnt werden. Die Tatsache, dass sich die tamilische Community in Tempeln kaum mit der afghanischen und indischen mischt, ist somit Ausdruck der Vielfalt des Hinduismus. Innerhalb der einzelnen Gemeinschaften gibt es verschiedene religiöse Alltagskulturen, unterschiedliche Kasten, verschiedene Gebetstage und es wird Bezug auf unterschiedliche religiöse Schriften genommen. In Deutschland leben auch viele Tamilen aus Südindien, jedoch kommt es auch hier nur selten zu Kontakten zur tamilischen Community aus Sri Lanka. Grund hierfür ist neben eigenen religiösen Traditionen die regionale sozialstrukturelle Zusammensetzung, v.a. spielt jedoch der unterschiedliche Migrationsgrund eine wichtige Rolle dafür, dass die Gemeinschaften nur in seltenen Fällen

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aufeinandertreffen. Während die meisten Inder in Deutschland als Studenten im Zuge der Arbeitsmigration nach Deutschland immigrierten, handelt es sich beim Großteil der Tamilen aus Sri Lanka um Fluchtmigranten. Die Konsequenz ist, dass die Einwanderungsgeneration von Tamilen aus Indien und Sri Lanka sich in Deutschland in unterschiedlichen sozialen Lagen bzw. Milieus bewegen und es nur wenige Berührungspunkte gibt. Das religiöse Selbstverständnis bestimmt auch das große Interesse der Hindus am Christentum. Viele Strömungen des Hinduismus sind aufgrund ihrer polytheistischen Prägung (Verehrung mehrerer Götter) tendenziell inklusiv und können andere religiöse Inhalte gut aufnehmen. Das zeigt sich v.a. in der Integration von rituellen Elementen anderer Religionen. Auf Sri Lanka sind die Grenzen zwischen den Religionen durchaus fließend und auch nach der Migration werden Bräuche unterschiedlicher Religionen praktiziert: Die Teilnahme von Hindus an Marienwallfahrten in Deutschland und auch umgekehrt, die Teilnahme von Christen oder Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften an Tempel-Feierlichkeiten, ist dementsprechend in den Augen hinduistischer Gläubiger unproblematisch und vertraut, was die interreligiöse Vernetzung in der Aufnahmegesellschaft prinzipiell vereinfacht. Zudem hat die sozialstrukturelle Zusammensetzung der tamilischen Community eine Rückwirkung auf das religiöse Selbstverständnis und die Möglichkeiten der Vernetzung: Der demographische Wandel bringt es mit sich, dass die für hinduistische Traditionen charakteristische Kastenzugehörigkeit in der Generationenfolge an Bedeutung für die soziale Stellung verliert. Stattdessen gewinnen der Ausbildungsgrad und das Berufsprestige an Bedeutung. Der Großteil der in Deutschland aufgewachsenen Hindus lehnt das Kastensystem entschieden ab und votiert, im Gegensatz zu einem durch Geburt festgelegten Status, für die Selbstverantwortlichkeit der eigenen sozialen Position. Sie zeichnen sich durch einen im Elternhaus vermittelten hohen sozioökonomischen Aufstiegswillen aus und interagieren in kulturell und religiös gemischten Freundeskreisen. Die große Mehrheit verortet ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland. In dieser Generation haben Rückkehrhoffnungen keine besondere Bedeutung. Allerdings äußern gerade viele junge, in Deutschland ausgebildete Tamilen den Wunsch, sich mit ihren erworbenen Fähigkeiten für den Wiederaufbau tamilischer Siedlungen einsetzen zu wollen. Der Generationenwechsel von der ersten zur zweiten und von der zweiten zur dritten Migrantengeneration ist ein wesentlicher Einflussfaktor für die kulturell-religiöse Selbstorganisation hinduistischer Tamilen in Deutschland. Auch wenn das Interesse am kollektiven religiösen Leben in der Generationenfolge tendenziell abnimmt, gibt es eine Minderheit an religiös stark engagierten, in

52 | S ANDHYA M ARLA -KÜSTERS Deutschland aufgewachsenen Hindus. Sie unterhalten, wie der absolute Großteil tamilischer Hindus zweiter Generation, kulturell und religiös gemischte Freundeskreise und wirken oft genug als Brückenbauer zur Aufnahmegesellschaft. Gerade die jungen religiösen Hindus engagieren sich im interreligiösen Dialog und setzen sich für eine bessere Aufklärung über den Hinduismus ein, beispielsweise in der Schule. Die innerreligiöse Kontaktpflege und die damit verbundene Vernetzung unter tamilischen Hindus spielt eine so große Rolle, weil meist innerhalb der Gemeinschaft geheiratet wird. Dies gilt sowohl für die erste als auch für die zweite Migrantengeneration. Hierfür gibt es verschiedene Gründe. Aufgrund ihrer Diskriminierung auf Sri-Lanka, ist es ein verbreiteter Wunsch unter Tamilen, die Eigenständigkeit ihrer Volksgruppe zu erhalten. Eine andere Ursache ist die tamilisch-hinduistisch geprägte Lebensweise (etwa Ernährungskultur, religiöse Gepflogenheiten und die Kastenzugehörigkeit), die nach tamilischem Verständnis unter ähnlich sozialisierten Menschen besser aufeinander abstimmbar sei. Sri-lankische Tamilen in Deutschland bilden einerseits die Migrantengruppe mit den meisten innerethnischen Eheschließung und andererseits jene mit der höchsten Einbürgerungsquote (vgl. Salentin 2003; Alex 2006; Wilke 2013a). An dieser Konstellation wird deutlich, dass die Suche nach einem Heiratspartner mit den gleichen ethnischen, religiösen und kulturellen Wurzeln nicht mit einem Widerwillen zur Eingliederung in die Mehrheitsgesellschaft gleichzusetzen ist. Die häufige Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft ist ein Ausdruck des Wunsches nach rechtlicher und ökonomischer Gleichstellung sowie der Entscheidung, langfristig in Deutschland zu bleiben. Ein weiterer entscheidender Einflussfaktor ist die spezifische Migrationsgeschichte, die durch Flucht und Vertreibung gekennzeichnet ist. Durch die Erfahrung des Bürgerkriegs auf Sri Lanka sind posttraumatische Belastungsstörungen, Alkoholismus oder Depressionen in der tamilischen Community keine Seltenheit und betreffen nicht nur die Auswanderungsgeneration. Auch die Nachkommen der einstigen Immigranten sind als „Flüchtlingskinder“, wie sie sich teilweise selbst bezeichnen, von der politischen Spannungslage auf Sri Lanka betroffen. Viele Tempelpriester sehen sich als Ansprechpartner in Krisenzeiten und reagieren auf die individuelle Verarbeitung des Migrationsprozesses mit verschiedenen seelsorgerischen Angeboten. Die Errichtung von Tempeln und fakultativen tamilischen Schulen (der Unterricht findet samstags oder sonntags statt) in der Migrationssituation war äußerst wichtig für das Fortbestehen eines tamilischen Gemeinschaftsgefühls. Das kollektive Selbstbild als aktive und gebildete Volksgruppe konnte so kultiviert werden. Entsprechend kann im Generationenverlauf ein deutlicher Bildungsauf-

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stieg festgestellt werden, der den hohen Stellenwert von Bildung und Sekundärtugenden wie Fleiß in der tamilischen Community dokumentiert. Bedingt durch die Migration nach Deutschland waren Tamilen der ersten Generation gravierenden Einschränkungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt ausgesetzt. In Interviews wurde von tamilischer Seite betont, dass man auf dem Arbeitsmarkt am meisten gespürt habe, dass man „nicht deutsch“ sei. Diese „extremen Belastungssituationen“, denen ein Großteil der Auswanderungsgeneration zumindest zeitweise ausgesetzt gewesen war, hat das sozioökonomische Gefüge der tamilischen Community beeinflusst: Die in Sri Lanka erlernten Berufe wurden in Deutschland meist nicht anerkannt und folglich auch nicht mehr ausgeübt (vgl. Salentin 2003: 86). Der Großteil der ersten Generation übt daher un- oder angelernte Tätigkeiten aus. Dabei ist ein häufiger Wechsel von Beschäftigungsverhältnissen die Regel. Mehrere Familien haben eine oder mehrere Phasen der Arbeitslosigkeit (nach dem Asylverfahren eher selten langjährig) hinter sich (vgl. ebd.: 83). Typische ökonomische Nischen, die Tamilen erster Generation besetzen, liegen im Niedriglohnsektor etwa in der Gastronomie, im kleinen Einzelhandel (Kioske) und im Reinigungsgewerbe (vgl. ebd.). Tamilische Hindus sind wenig mit Gefährdungsdiskursen von Seiten der nichthinduistischen Mehrheitsgesellschaft konfrontiert. Die Zugänglichkeit der Tempel trifft auf ein wachsendes allgemeines Interesse der Mehrheitsbevölkerung am Hinduismus wie auch auf ein diffuses Interesse an indischer Spiritualität und exotischen Ritualpraktiken. Am Hinduismus Interessierte betrachten die Tempel und ihre Feste als Orte authentischer religiöser Praxis und Wissensvermittlung. Auch gibt es Besucher, die sich mit dem Hinduismus identifizieren und Feste aus religiösen Motiven aufsuchen. Dieses Interesse wird von Seiten der Tempel durch spezielle Angebote wie deutschsprachige Tempelführungen aufgenommen.

V ERGLEICH Die in diesem Band aufgeführten Migrantengemeinden teilen ein Erfahrungsspektrum, das Menschen ohne eine Migrationsgeschichte nicht aufweisen. Je nach spezifischen Migrationshintergründen, religiösen Organisationsstrukturen und Semantiken gibt es jedoch auch deutliche Differenzen. Während es sich bei den tamilischen Hindus um Polytheisten handelt, sind die in diesem Band erörterten Muslime und Christen aus verschiedenen Kirchen allesamt monotheistisch.

54 | S ANDHYA M ARLA -KÜSTERS Ähnlich wie thailändische Buddhisten (vgl. Ann-Kathrin Wolf) oder syrischorthodoxe Christen (vgl. Ulf Plessentin) werden Hindus in öffentlichen Diskursen in der Regel positiv wahrgenommen und erfreuen sich eines intrinsischen Interesses oder zumindest der gesellschaftlichen Akzeptanz seitens der Mehrheit der Bevölkerung. Dies beeinflusst auch Angebote der Unterstützung und Fürsprache von außerreligiösen Institutionen. Mit den aus der Osttürkei oder dem Nordirak stammenden Yeziden (vgl. Thorsten Wettich) und teilweise mit den syrisch-orthodoxen Christen haben die sri-lankischen Tamilen gemeinsam, dass ihre Migrationsgeschichte in einen Kontext politischer Diskriminierung und Verfolgung einzuordnen ist. Das Thema Traditionspflege und -vermittlung an nachfolgende Generationen ist in diesen Gemeinschaften besonders zentral und emotional aufgeladen. So kommt es sowohl bei den Tamilen als auch bei den Yeziden zu einer transnational organisierten Trauerarbeit, in der die erloschenen Rückkehrhoffnungen thematisiert werden. Religiöse Zusammenkünfte, beispielsweise bei lebenszyklischen Festen oder Feiertagen, sind ein wichtiger Teil dieser innerreligiösen Seelsorge. Sie werden als trostspendende Gelegenheiten wahrgenommen, die ein Gemeinschaftsgefühl stabilisieren und heilend auf traumatische Episoden der Immigration wirken können. Diesen drei Religionsgruppen ist gemein, dass sie in Deutschland auf prekäre rechtliche und soziale Situationen reagieren mussten, die sich aus dem Asylstatus ergaben. Deshalb und aufgrund der Situation der verbliebenden Gläubigen in den Herkunftsländern ist das Bedürfnis nach öffentlicher Fürsprache entsprechend ausgeprägt. Die religiöse Selbstorganisation ist in diesen Gemeinschaften ein Rückgrat, über das es zu einer gesamtgesellschaftlichen Anerkennung kommt. Im Gegensatz zu muslimischen Moscheevereinen (vgl. Piotr Suder) und christlichen Gemeinden, wie z.B. den russlanddeutschen Freikirchen (vgl. Frederik Elwert), haben Hindus bedingt durch das religiöse Selbstverständnis eine relativ diffuse Organisationsstruktur, die eine gerichtete generationsübergreifende Religionsvermittlung erschwert. Generell gibt es keinen hinduistischen Dachverband und keine institutionalisierten Formen der Kooperation zwischen den verschiedenen tamilischen Tempeln. Zahlreiche Moscheevereine dagegen sind in großen Dachverbänden organisiert, v.a. der eng mit der staatlichen Religionsbehörde in der Türkei (Diyanet) verbundenen Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB) sowie der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG). Im Gegensatz zu den Moscheevereinen können die Tempel einer generationsübergreifenden Religionspflege aktuell noch nicht gerecht werden. Während es für türkischstämmige Immigranten und ihre Nachkommen vielfältige Angebote und ausgebildete Ansprechpartner zur strukturierten Religionsvermitt-

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lung gibt, mangelt es bei tamilischen Hindus an derartigen Angeboten, insbesondere für die zweite Migrantengeneration. Weitere Differenzen sind in der Wissensvermittlung über den Hinduismus auszumachen: Während der Islam in den Schulen inzwischen thematisiert oder in Form von Religionsunterricht für junge Muslime unterrichtet wird, spielen Hindu-Traditionen eine untergeordnete Rolle. Auf diese Situation reagiert der Hamm-Uentroper Tempel aktuell: In dem Kulturzentrum sollen Religionsunterricht für in Deutschland aufgewachsene Hindus und andere Formate zur Religionsvermittlung angeboten werden. Es ist ebenso als eine Anlaufstelle für außerreligiöse Institutionen, aber auch Akteure anderer Religionen gedacht, um beispielsweise für christliche Religionslehrer Fortbildungen zum Hinduismus anzubieten. Die Tempel haben für die tamilischen Migranten in Deutschland eine besondere Bedeutung: sie dienen der Vernetzung und der Fortführung des Zusammengehörigkeitsgefühls einer transnational verstreuten Gruppe. Ausgehend von der Spendenbereitschaft tamilischer Hindus, den dynamischen Ausdifferenzierungsprozessen und den immer wieder stattfindenden Neugründungen kann resümiert werden, dass das hindu-tamilische Tempelleben in Deutschland von dem Wunsch nach einer Fortführung der hinduistischen Tradition unter den Bedingungen der Migration bestimmt ist. Die Tempel werden zu Orten des Austausches zwischen Tamilen, sie transzendieren ethnisch-religiöse Grenzen und bergen integratives Potential auch im Hinblick auf die Mehrheitsgesellschaft. Es kann davon ausgegangen werden, dass tamilische Hindus die religiös plurale Situation in Deutschland auch in Zukunft aktiv mitgestalten werden.

L ITERATUR Alex, Gabriele (2006): „Integration und Parallelgesellschaften“, in: Christiane Brosius/Urmila Goel (Hg.), masala.de. Menschen aus Südasien in Deutschland, Heidelberg: Draupadi, S. 16-26. Baumann, Martin (2003): „Von Sri Lanka in die Bundesrepublik: Flucht, Aufnahme und kulturelle Rekonstruktionen“, in: Baumann/Luchesi/Wilke, Tempel und Tamilen in zweiter Heimat, S. 41-74. Baumann, Martin/Luchesi, Brigitte/Wilke, Annette (Hg.) (2003a): Tempel und Tamilen in zweiter Heimat. Hindus aus Sri Lanka im deutschsprachigen und skandinavischen Raum, Würzburg: ERGON.

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Die zivilgesellschaftlichen Potentiale von thailändisch-buddhistischen Zentren A NN -K ATHRIN W OLF

H INTERGRUND Anders als im Fall des Islam handelt es sich beim Buddhismus nicht um eine Religion, die erst mit Migranten nach Deutschland gekommen ist. Stattdessen kann die buddhistische Tradition auf eine etwa 100jährige Geschichte in Deutschland zurückblicken, in der sie einige Transformations- und Formierungsprozesse durchlief. Ausgehend von einer vorgelagerten Rezeptionsgeschichte des Buddhismus, die v.a. vom Philosophen Arthur Schopenhauer begründet wurde, kam es zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Ausbildung erster buddhistischer Gemeinschaften. Dieser Umstand führte dazu, dass bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts buddhistische Traditionen in Deutschland ausschließlich von Deutschen geprägt wurden, die v.a. darum bemüht waren, einen „westlichen“ Buddhismus zu formen (vgl. Baumann 1995: 60).1 Erst ab den 1950er Jahren kamen vermehrt südasiatische Mönche nach Deutschland, um buddhistische Zentren zu gründen (vgl. ebd.: 75). Ihnen folgte, bedingt durch den Vietnamkrieg, Ende der 1970er Jahre eine Zuwanderungswelle von vietnamesischen Buddhisten, die bis heute die größte Gruppe von Buddhisten mit einem Migrationshintergrund bilden.2 Aus-

1

So ist das ausgewiesene Ziel der Deutschen Buddhistischen Union z.B. „die Entwicklung eines authentischen Buddhismus im Westen zu unterstützen und ihn zeitgemäß zu

vermitteln“

(http://www.buddhismus-deutschland.de/mitglied-werden/

vom

06.01.2014). 2

Vgl. Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst e.V. (REMID): http://www.remid.de/info_zahlen/ vom 14.02.2014.

60 | A NN -K ATHRIN W OLF gebildet hat sich somit zum einen eine große Vielfalt buddhistischer Traditionen in der religiösen Landschaft Deutschlands und zum anderen eine weitgreifende Diskussion zur Einordnung dieser Traditionen im Rahmen der Buddhismusforschung, die von einem Zwei-Buddhismen-Paradigma dominiert wird (vgl. etwa Prebish 1993; Numrich 2003). Im Zentrum dieses Ansatzes steht die Annahme, dass es zwei Arten von buddhistischen Traditionen im Westen gibt, auf der einen Seite diejenigen, die von konvertierten, zumeist westlichen Buddhisten, und auf der anderen Seite diejenigen, die von ethnischen, in westliche Länder migrierten Buddhisten geprägt und ausgeübt werden. Die Bezeichnungen dieser beiden Buddhismen variieren dabei und werden immer wieder kritisiert und diskutiert, ohne dass dabei jedoch eine wirkliche Alternative jenseits eines Dualismus aufgezeigt wird. Von den Eindrücken dieser Studie ausgehend soll im Folgenden eine Klassifikation nach Ethnien – wie Thai-Buddhisten, vietnamesischen Buddhisten, deutschen Buddhisten – angewendet werden, da diese von den buddhistischen Gruppen auch als Selbstbezeichnung verwendet wird. Der Fokus dieser Studie3 liegt auf thailändischen Buddhisten in NordrheinWestfalen. Innerhalb dieser Studie hat sich dabei eine zahlenmäßige Dominanz einer bestimmten Richtung in der thailändisch-buddhistischen Tradition herausgestellt, die im Verlaufe dieses Artikels noch näher beschrieben wird. Aus diesem Grund ist der Hinweis wichtig, dass die gewonnenen Erkenntnisse nicht ohne Weiteres auf andere buddhistisch-ethnische Migrantengemeinden bezogen werden können. In diesem Artikel wird unterschieden zwischen: Zentren, Gemeinden und Tempeln. Als „Zentren“ werden die jeweiligen vor Ort bestehenden, institutionalisierten Strukturen bezeichnet, während „Gemeinde“ sich im Allgemeinen auf die Gemeinschaft als solche bezieht. Der Begriff „Tempel“ wird nur für den thailändischen Kontext gebraucht, da der Begriff „Zentrum“ für die dort ansässigen Strukturen nicht passend ist. Die Vielfalt buddhistischer Traditionen in Deutschland spiegelt letztlich die allgemeine Diversität buddhistischer Traditionen im asiatischen Raum wider. Die übliche Einteilung in Theravāda-, Mahāyāna- und Vajrayāna-Buddhismus illustriert dabei nur einen Teil der innerbuddhistischen Vielfalt, da es innerhalb dieser Traditionen noch weitere zum Teil länderspezifische Ausdifferenzierun-

3

Der Studie liegen Leitfadeninterviews mit fünf unterschiedlichen thailändischbuddhistischen Gemeinschaften zugrunde. Die Interviews wurden primär mit dem jeweiligen Mönch des Zentrums geführt. Die Übersetzung übernahmen in allen Fällen Thailänder aus dem Umfeld der Zentren, die bei den Interviews anwesend waren. Unterbrechungen des Informations- und Kommunikationsflusses blieben dabei nicht aus.

T HAILÄNDISCH - BUDDHISTISCHE Z ENTREN

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gen gibt und sich in den einzelnen Ländern wiederum ebenfalls eine große Bandbreite unterschiedlicher buddhistischer Traditionen finden lässt. Die buddhistische Landschaft Thailands ist primär vom sogenannten Theravāda-Buddhismus geprägt. Das heutige Thailand lässt sich durch eine Dreiheit von Nation, Buddhismus und König charakterisieren. Seit 1902 gilt der Theravāda-Buddhismus in Thailand als Staatsreligion und ist eng verknüpft mit der Vorstellung, dass der König Beschützer und Wächter des Buddhismus ist (vgl. Freiberger/Kleine 2011: 76). Im Vordergrund der Theravādabuddhistischen Praxis und Identität steht dabei die klösterliche Institution des Saṅgha. Prinzipiell unterscheiden lassen sich im Bereich der religiösen Akteure zum einem die dem Saṅgha zugehörigen Mönche (bhikkhu) und die buddhistischen Laien (upāsaka), deren Gabenaustausch einen wichtigen, wenn nicht sogar den wichtigsten, Teil der Theravāda-buddhistischen religiösen Praxis ausmacht. Ergänzend finden sich weitere lokalspezifische Praktiken sowie traditionsinterne Ausdifferenzierungen. Zu nennen sind dabei etwa rituelle Zeichnungen (yantra), die Anrufung von Schutzgeistern sowie die Verwendung von Schutzamuletten bis hin zu Tätowierungen (vgl. ebd.: 78). Darüber hinaus existieren verschiedene Untergruppen (nikāya), die sich v.a. im 19. und 20. Jahrhundert ausgebildet haben. Die wichtigsten sind der Mahānikāya- und der Dhammayuttika-Nikāya, aber auch die Waldmönchtradition wurde zu dieser Zeit von Sri Lanka nach Thailand eingeführt und ist in beiden Nikāyas zu finden. In Abgrenzung zu den Stadt- bzw. Dorfmönchen zeichnet sich diese Waldmönchtradition jedoch durch eine Zurückgezogenheit von der Gesellschaft aus. In den 1970er Jahren entstanden zudem einige buddhistische Bewegungen, die auch die Laien einbeziehen, z.B. die Dhammakāya-Tradition, die v.a. für ihre Massenmeditationsveranstaltungen bekannt ist. Eine akademische Beschäftigung mit buddhistischen Migrantengemeinden in Deutschland ist selten.4 Zwar gibt es einige Publikationen, die sich mit dem Buddhismus in Deutschland auseinandersetzen, diese beziehen sich jedoch in erster Linie auf die Entwicklung eines deutschen, respektive westlichen Buddhismus oder aber auf Bilder bzw. die Rezeption des Buddhismus in der öffentlichen Wahrnehmung und im akademischen Bereich. Die Erforschung von bud-

4

Diese Tatsache ist v.a. bemerkenswert bei einem Blick auf die aktuellen Zahlen von REMID zum Buddhismus in Deutschland. Diese zeigen, dass die, wenn auch mittlerweile knappe, Mehrheit der Buddhisten in Deutschland einen Migrationshintergrund aufweisen können. So verzeichnet REMID für 2011 130.000 „deutsche“ Buddhisten und für 2010 140.000 Buddhisten mit einem Migrationshintergrund (vgl. http://www. remid.de/buddhismus/ vom 20.08.2014).

62 | A NN -K ATHRIN W OLF dhistischen Migrantengemeinden zentriert sich in erster Linie um bestimmte Gemeinden, die einer ethnischen Gruppe zugehörig sind, wie etwa vietnamesische (vgl. Baumann 2000) oder aber singhalesische Buddhisten (vgl. etwa Schmiedel 2000, 2001, 2003). Für Thailänder in Deutschland ergibt sich aus den Daten des Statistischen Bundesamtes (Destatis 2013) und der Forschung von Ruenkaew5, dass sie die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe aus Süd- und Südostasien nach den Vietnamesen bilden. Beachtet man die Zahlen von REMID zeigt sich ferner, dass sie auch die zweitgrößte buddhistische Migrationsgemeinschaft darstellen. Dabei lag der Frauenanteil zwischen den Jahren 2005 und 2012 konstant bei über 85 Prozent. Diese Daten stützen die Annahme von Ruenkaew, dass die Zuwanderung aus Thailand zum großen Teil durch Heiratsmigration bestimmt ist, ein Trend, der sich seit den 1970er Jahren beobachten lässt (vgl. Ruenkaew 2003: 87). Die besondere Konstellation binationaler Ehen hat, wie noch zu sehen sein wird, weitreichende Auswirkungen auf die zivilgesellschaftlichen Potentiale thailändisch-buddhistischer Zentren. So übernimmt etwa der deutsche Ehemann in vielen Fällen die Unterstützung bei Behördengängen, ein Angebot, welches im Fall vieler anderer Migrationsgemeinden durch die jeweiligen Zentren abgedeckt wird.

N ETZWERKE Im Fall thailändisch-buddhistischer Gemeinden lässt sich ein Transfer von Geld und Gütern v.a. auf der innerreligiösen6 Ebene zwischen Laien und Mönchen und im geringeren Umfang auch auf der inter- und außerreligiösen Ebene beobachten: Auf der innerreligiösen Ebene erhalten die Mönche eines thailändischbuddhistischen Zentrums Essens- und Sachspenden von den Laien7, die regel-

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Pataya Ruenkaew hat sich in ihrer Studie mit dem Aspekt der Heiratsmigration beschäftigt und diesen am Beispiel von mit Deutschen verheirateten Thailänderinnen in Deutschland näher untersucht.

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Innerreligiös bedeutet hier innerhalb der jeweiligen Tradition. Die thailändische Waldmönchtradition etwa stellt eine Tradition dar. Zentren, die dieser Tradition angehören, sind innerreligiöse vernetzt. Treten sie aber etwa in Kontakt mit einem Zentrum der Dhammakāya-Tradition, so ist dies als ein intrareligiöser Kontakt einzuordnen.

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Hierbei handelt es sich in erster Linie um thailändische Frauen. Die meisten von ihnen sind Buddhistinnen, jedoch gibt es vereinzelt auch einige, die (zumindest formal) Christinnen sind.

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mäßig das Zentrum aufsuchen. Die Ordensregeln verbieten den Mönchen, für sich selbst Essen zu beschaffen oder Güter zu erwerben. Aus diesem Grund sind sie auf die Spendengaben der Laien angewiesen. Eine tägliche Versorgung mit Essen wird für die Mönche üblicherweise durch eine Dienstverteilung unter den Anhängern gewährleistet. Jeden Tag kümmert sich eine andere Person des Zentrums um die Essensversorgung. An regelmäßig stattfindenden Feiertagen erhöht sich dabei die Anzahl der Spenden. Dann erhalten die Mönche Sachspenden etwa in der Form traditioneller Bekleidung, aber auch eine größere Menge an Essensspenden, die die Laien in ritualisierter Form in die Almosenschalen der Mönche legen. Darüber hinaus werden die Räumlichkeiten der Zentren über Geldspenden der Laien finanziert. Wie bereits deutlich wurde, sind sowohl die Mönche als auch die Zentren für die religiöse Praxis thailändischer Buddhisten bedeutsam. Durch Laienspenden wird eine Selbstversorgung der Zentren ermöglicht, auf die die Sprecher der Gemeinden immer wieder hinweisen. Diese Spenden geschehen auf freiwilliger Basis und ermöglichen den Zentren den Erwerb von Gebäuden oder aber religiösen Devotionalien wie etwa Buddhastatuen. In einem Zentrum der Dhammakāya-Tradition verwies man z.B. auf eine goldene Statue eines Dhammakāya-Lehrers, die kurz zuvor durch Spenden finanziert wurde. In einem Fall ermöglichte außerdem ein Laie die Unterbringung von Mönchen. So stellte ein thailändischer Hausbesitzer einen Dachboden für Mönche der Waldtradition zur Verfügung, bevor diese ein Zentrum mit eigenen Räumlichkeiten gründeten. Den Dachboden konnten sie etwa zehn Jahre lang für rituelle Zwecke benutzen, bis dieser zu klein wurde, weil immer mehr thailändische Buddhisten aus der gesamten Region sie besuchten. Mit den Spendengeldern konnte schließlich ein Haus gekauft werden. Die religiöse Praxis des Spendens akkumuliert mitunter einen Überschuss, der den thailändisch-buddhistischen Zentren in Deutschland einen hohen Grad an Selbstorganisation und -verwaltung ermöglicht. Auf inter- und außerreligiöser Ebene ist in erster Linie ein Transfer von Gütern von einzelnen thailändisch-buddhistischen Zentren an Individuen oder andere Organisationen zu verzeichnen. Ein Zentrum der Waldmönchtradition stellt etwa bei Bedarf notleidenden Menschen mit Migrationsgeschichte Nahrungsmittel zur Verfügung. Ein anderes Zentrum versorgt regelmäßig einen Mann aus der Umgebung mit Essen. In einem Fall kam es zu einer ungewöhnlichen Art des Transfers von Gütern: Ein thailändisch-buddhistisches Zentrum überließ einem religionsbezogenen, bischöflichen Museum eine Buddhastatue für den sich in der Dauerausstellung befindlichen Tisch der Religionen. Dieses Beispiel ist in der folgenden Fallgeschichte ausführlich dargestellt.

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Fallgeschichte Im April 2012 eröffnete im münsterländischen Telgte das Museum Religio, welches zuvor über viele Jahre als Heimat- und Krippenmuseum fungierte.8 Gegenwärtig widmet es sich in seinen Ausstellungen der religiösen Kultur. Neben der Vermittlung von lokaler religiöser, vorrangig christlicher Kultur und der Ausstellung des prominenten Telgter Hungertuchs von 1623 bildet der Tisch der Religionen einen wesentlichen Teil der Dauerausstellung. Auf diesem werden religiöse Symbole verschiedenster Glaubensgemeinschaften ausgestellt.9 Die auf dem Tisch befindliche Buddhastatue wurde dem Museum von einem thailändisch-buddhistischen Mönch geschenkt. Eine Mitarbeiterin des Museums stellte den Kontakt zu einem thailändisch-buddhistischen Zentrum in Dortmund her, durch den sich diese Schenkung ergab. Die Buddhastatue stammt aus Thailand und scheint sehr alt zu sein. Der Mönch brachte die Statue im Februar 2012 selbst zum Museum. Die Geste des Schenkens beschrieb der Mönch sowohl im Interview dieser Studie als auch gegenüber der Presse als etwas, was ihm viel Freude bereite und wofür er keine Gegenleistungen erwarte.10 Seelsorgerische Aktivitäten finden nur auf der innerreligiösen Ebene statt und stehen in enger Verbindung mit der bereits genannten Spendenpraxis, da Spenden und Seelsorge einen wichtigen Teil des Austauschverhältnisses zwischen Mönchen und Laien bilden. Innerhalb der Seelsorge geht es primär darum, dass der Mönch eine Art Lebensberatung gibt und den Menschen hilft ihr Leben zu bewältigen. Dies soll durch die Entwicklung einer bestimmten inneren Haltung erzielt werden, die zum einen durch die Vermittlung buddhistischer Lehren, zum anderen durch eine Schulung in der Praxis der Meditation erreicht werden soll. Auf die Frage hin, inwiefern thailändisch-buddhistische Zentren ihren Mitgliedern Unterstützungsleistungen zukommen lassen, verwies die Mehrheit der Mönche auf den geistigen bzw. geistlichen Charakter der Unterstützung. Der seelsorgerische Aspekt steht somit für Mönche in ihrer Beziehung zu den Laien und in der Funktion des Zentrums im Vordergrund. In einem Fall erklärte einer der befragten Mönche, dass das Zentrum durch diese geistliche Unterstützung den in Deutschland lebenden Thailändern dabei

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Vgl. http://www.museum-telgte.de/pages/geschichte.html vom 24.04.2014.

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Vgl. http://www.museum-telgte.de/pages/dauer.html vom 24.04.2014.

10 Vgl. http://www.museum-telgte.de/pages/weiter_top1.html vom 05.01.2014.

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helfe, sich an das Leben in Deutschland anzupassen. Diese Anpassung werde durch das Erlernen von Vergebung erreicht, die dazu führen soll, dass praktizierende Buddhisten auch in schwierigeren Situationen eine ruhige innere Haltung bewahren. Ein konkretes Feld, in welchem ein Mönch die Seelsorge als besonders wichtig erachtete, ist der Bereich der Sterbe- und Klagekultur. So erklärte er, dass die Meditation über die Vergänglichkeit allen Seins dabei helfen könne, den Verlust eines geliebten Menschen zu bewältigen.11 Ein individueller Wissenstransfer findet auf innerreligiöser Ebene v.a. unter den thailändischen Mönchen statt. Diese tauschen sich via Internet und zum Teil auf internationalen Versammlungen über theologische Fragen und die Situation von buddhistischen Zentren in Europa aus. Dabei geht es um Probleme bei der Einrichtung von neuen buddhistischen Zentren für Thailänder, um allgemeine Fragen, welche unterschiedlichen Zentren es gibt, und um generelle Vergleiche und Problemlösungen. In einem Zentrum der Waldmönchtradition gab es für die thailändischen Laien auch die Möglichkeit Hilfe beim Besuch von Ämtern u.Ä. durch andere Mitglieder des Zentrums zu erhalten. Außerdem wurden in einer kleinen Bibliothek des Zentrums Ratgeberwerke (etwa zur Bedienung von Textverarbeitungsprogrammen) in Thai zur Verfügung gestellt. Zudem findet ein intensiver Wissenstransfer auf der außerreligiösen Ebene statt. Dabei lassen sich im Wesentlichen drei Formen unterscheiden: Vortragseinladungen, Integrationsfeste und Besuche der Zentren durch Gruppen. So erhalten die Mönche eines Zentrums der Waldmönchtradition regelmäßig Einladungen zu Vorträgen von der Stadt oder aber auch von Krankenhäusern. Während es bei städtischen Einladungen v.a. darum geht, die interessierte Bevölkerung über die buddhistische Tradition zu informieren, stehen bei den Besuchen in Krankenhäusern seelsorgerische Ansätze im Vordergrund, in denen von Krankheiten betroffenen Menschen, die dies wünschen, vermittelt werden soll, wie sie am besten mit ihrer Krankheitssituation umgehen können. Ein anderes Zentrum nimmt regelmäßig an Integrationsfesten teil, die von der Stadt organisiert werden und in denen an Ständen über die jeweilige religiöse Tradition bzw. die dazugehörigen Organisationen informiert wird. Weiterhin sind auch immer wieder Schulklassen oder auch andere Gruppen zu Besuch, um Näheres über die dort praktizierte religiöse Tradition zu erfahren.

11 Dies spielt auf die vier großen Leiden (Geburt, Krankheit, Alter und Tod) an, denen der Mensch ausgesetzt ist und mit denen der Lebensgeschichte des Buddhas zur Folge dieser konfrontiert wurde, bevor er in die Hauslosigkeit auszog.

66 | A NN -K ATHRIN W OLF Insgesamt konnte in den thailändisch-buddhistischen Zentren in NRW ein Angebot sozialer Dienste kaum beobachtet werden. Im Fall eines Zentrums wird regelmäßig ein mobiler Konsularservice angeboten. Dabei stellt das Zentrum seine Räume zur Verfügung, in welchem das Königliche Thailändische Generalkonsulat Frankfurt a. M. seine Dienste anbieten kann. An einem festgesetzten Termin können thailändische Bürger, die nicht notwendigerweise mit dem Zentrum religiös verbunden sein müssen, den Service des Konsulats vor Ort nutzen. Angebote auf den Ebenen des säkularen Wissenstransfers und der sozialen Dienste scheinen jedoch im Allgemeinen aufgrund der Migrationssituation der meisten Thailänder eher weniger ausgeprägt zu sein. Dies lässt sich v.a. auf die Tatsache zurückführen, dass viele der weiblichen Mitglieder mit deutschen Männern verheiratet sind, wodurch viele Probleme, die mit der Migrationssituation in Verbindung stehen, bereits im Familienzusammenhang gelöst werden können oder gar nicht erst auftreten. Im Bereich der Kontaktpflege sind der Austausch von Mönchen innerhalb einer Tradition und die Vernetzung der einzelnen Zentren zu nennen. Für den Fokus auf die zivilgesellschaftlichen Potentiale erscheint es wichtig, dass auf der innerreligiösen Ebene, also innerhalb einer Traditionslinie, ein reger Mönchsaustausch stattfindet. Dies bedeutet konkret, dass Mönche, wenn irgendwo die Notwendigkeit besteht (etwa aufgrund von Personalmangel), zu bestimmten anderen Zentren der gleichen Tradition geschickt werden, um dort auszuhelfen oder auch an rituellen Rezitationen teilzunehmen. Dies geschieht regelmäßig, da aufgrund von Visabestimmungen nicht alle Mönche dauerhaft in Deutschland bleiben können, sondern diesen zumeist nur kurzfristige Aufenthalte gewährt werden. Da bestimmte Rituale erfordern, dass die beteiligten Mönche einem und demselben nikāya angehören, wird bei diesem Austausch auf eine einheitliche Tradition geachtet. Auch über diesen Mönchsaustausch hinaus scheinen zwischen den Zentren einer Traditionslinie Kontakte zu bestehen. Zumindest auf der Organisationsebene sind sich die Zentren der gleichen Tradition in NordrheinWestfalen und im gesamten Bundesgebiet untereinander bekannt: Bei der Frage nach Verbindungen und Kontakten zu anderen buddhistischen Zentren wurden zumeist solche genannt, die der gleichen Traditionslinie angehörten. Auf andere buddhistische Zentren, wie z.B. auf vietnamesisch oder westlich geprägte, wurde dagegen kaum verwiesen.

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Fallgeschichte Die innerreligiöse Vernetzung innerhalb einer Traditionslinie lässt sich exemplarisch an einem Mönch der Waldmönchtradition zeigen, der sich um eines der drei Zentren dieser Tradition in Nordrhein-Westfalen kümmert. Er tritt aber auch in den anderen beiden auf: Anlässlich des Kathina-Festes im Oktober war er zu Besuch in einem anderen Zentrum und rezitierte dort u.a. Texte zusammen mit anderen Mönchen innerhalb der Kathina-Zeremonie. Ferner teilte er sich in der Vergangenheit einen Bauwagen zusammen mit einem Mönch, der heute für das Waldmönch-Zentrum in Dortmund zuständig ist.12 Die Interessenvertretung für thailändisch-buddhistische Zentren findet sowohl im Rahmen intrareligiös organisierter Dachverbände als auch im interreligiösen Bereich statt. Auffällig ist dabei, dass unter den untersuchten Zentren eine Interessenvertretung im institutionalisierten Sinne tendenziell selten zu finden ist. Eines der untersuchten thailändisch-buddhistischen Zentren ist Mitglied in einem lokalen interreligiösen Arbeitskreis der Stadt, welcher über das entsprechende Ressort Integration der Stadtverwaltung organisiert wird. In diesem Rahmen findet auch die jährliche Ausrichtung eines Tags der Integration statt, an dem sich dieses Zentrum beteiligt. Eine andere Art der Interessenvertretung findet sich auf intrareligiöser Ebene in Form der Mitgliedschaft in der Deutschen Buddhistischen Union. Zwei der fünf untersuchten Zentren sind dort als Mitglieder gelistet. Die Deutsche Buddhistische Union (DBU) bildet den Dachverband für buddhistische Gemeinschaften in Deutschland. Die thailändisch-buddhistischen Zentren setzen sich innerhalb der DBU für ihre Interessen ein, während die DBU in der Öffentlichkeit für die Interessen der in Deutschland lebenden Buddhisten eintritt. Als Kriterien für eine Mitgliedschaft nennt die DBU folgende drei Punkte: Die „Anerkennung des Buddhistischen Bekenntnisses“, ein „mindestens dreijähriger Bestand der Gruppe“ und eine Größe von „mindestens zehn Mitglieder[n]“. Einige der ausgewiesenen Interessen des Dachverbands sind dabei die bereits erwähnte „Entwicklung eines authentischen Buddhismus“, aber auch die Durchführung von gemeinsamen Projekten sowie die Unterstützung der „Einheit des Buddhismus

12 Vgl. „Beiträge über Alltagsgeschichten von und über Thais in Deutschland vom 3.7.2000 - 31.12.2000“ unter: http://touristik.freepage.de/cgi-bin/feets/freepage_ext/ 41030x030A/rewrite/reichert/alltag-g-archiv.htm vom 24.04.2014

68 | A NN -K ATHRIN W OLF in Deutschland auf der Grundlage des gemeinsamen Bekenntnisses“ und eine kollektive Präsenz in der Öffentlichkeit.13 Neben der bereits dargestellten stark ausgeprägten innerreligiösen Vernetzung konnte auch ein Beispiel ausgemacht werden, in dem eine intrareligiöse Kooperation zwischen buddhistischen Zentren verschiedener Traditionsstränge stattfand. Anlass war eines der größeren monatlichen buddhistischen Feste, welches das betreffende Zentrum der thailändischen Waldmönchtradition zusammen mit anderen buddhistischen Gemeinden der Region ausrichtete. Dabei wurden nicht nur Rituale gemeinsam vollzogen, wie die Spendengabe an Mönche oder auch die rituelle Rezitationen, sondern es gab auch eine Kooperation der Gemeinschaften. Diese bestand in erster Linie in der Bündelung von Ressourcen, die sich in der Zurverfügungstellung von Räumlichkeiten und Infrastruktur durch das thailändische Zentrum äußerte. Den kleineren buddhistischen Gemeinden war es somit mit Hilfe des größeren thailändischen Zentrums möglich, ein großes gemeinsames Fest zu feiern. Diese zunächst als Ad-hoc-Aktivität einzuordnende gemeinschaftliche Betätigung birgt dabei tendenziell einen Grundstein für potentielle, zukünftige Partnerschaften (jenseits der DBU) unter buddhistischen Gemeinden.14 Zwei Beziehungsinhalte lassen sich im Fall thailändisch-buddhistischer Migrantengemeinden nicht direkt finden. Dies ist zum einen die öffentliche Fürsprache. Zwar kann das Vertretensein in Form einer Buddhastatue auf dem Tisch der Religionen eines christlich geführten Museums als öffentliche Fürsprache von Seiten dieser Institution gesehen werden, jedoch sind öffentliche Fürsprachen von Seiten der thailändisch-buddhistischen Zentren nicht zu finden. Dies lässt sich mit dem Wunsch nach Zurückgezogenheit erklären, der von einigen Mönchen formuliert wurde, die sich nicht in öffentliche Diskussionen „einmischen“ möchten. Zum anderen tritt auch die religiöse Heilung als Beziehungsinhalt in den untersuchten Fällen nicht auf, obwohl entsprechende Techniken in der Tradition bekannt sind. Zusammenfassend lässt sich in Bezug auf thailändisch-buddhistische Migrantengemeinden in Nordrhein-Westfalen ein hoher Grad an Selbstorganisation und Vernetzung erkennen.15 Tendenziell ist letztere jedoch, bis auf einige Aus-

13 http://www.buddhismus-deutschland.de/mitglied-werden/ vom 06.01.2014. 14 Hierbei sei noch hervorzuheben, dass es sich bei den beteiligten buddhistischen Gemeinschaften nicht ausschließlich um ethnische handelte, sondern auch um in erster Linie von Deutschen geprägte. 15 Auch wenn bestimmte Beziehungsinhalte in dieser Untersuchung nicht erhoben werden konnten, bedeutet dies nicht, dass sie im Kontext thailändisch-buddhistischer

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nahmen, ausschließlich innerhalb der jeweiligen Traditionen, also intern zwischen den Laien und Mönchen eines Zentrums, zu finden.

E INFLUSSFAKTOREN Auf der Ebene der Einflussfaktoren, die auf die Angebotsstrukturen und Vernetzungen der jeweiligen Zentren wirken, können für thailändisch-buddhistische Zentren in Nordrhein-Westfalen unterschiedliche Faktoren identifiziert werden. Zu nennen sind v.a. die religiöse Praxis, die in den Zentren ermöglicht wird, das im Westen vorherrschende positive Buddhismusbild sowie die theologische Ausrichtung in Form der thailändischen Waldmönchtradition, der die meisten Zentren in Nordrhein-Westfalen angehören. Weitere bedeutsame Einflussfaktoren sind die geographische Verteilung der thailändischen Buddhisten und das proportional häufige Auftreten binationaler Ehen mit Deutschen. Wie eingangs erwähnt, zentriert sich die religiöse Praxis der meisten thailändischen Buddhisten um das Austauschverhältnis zwischen Mönch und Laie. Laien spenden den Mönchen Essen, Kleidung und andere alltägliche Gebrauchsgegenstände. Als Gegenleistung erhält der Laie bei Bedarf geistliche Unterstützung und eine Art Lebensberatung, die letztlich auf der Vermittlung und der Einübung einer bestimmten inneren Haltung beruht. Der reziproke Austausch von Spenden und Seelsorge bildet einen Teil der religiösen Praxis. Teil dieses Austauschs sind außerdem, neben der Seelsorge, auch rituelle Dienste wie etwa pūjas, die wesentlich für die religiöse Praxis sind. Auch wenn diese rituellen Dienste in den Interviews nicht explizit erwähnt wurden, konnten sie jedoch beobachtet werden.16 Diese in der Tradition des Theravāda-Buddhismus bereits angelegte religiöse Praxis wird von den thailändischen Buddhisten in Deutschland weiterpraktiziert. Aufgrund der begrenzten Verfügbarkeit religiöser Spezialisten, in diesem Fall Mönche, sind die Zentren zum Teil darauf angewiesen, sich innerhalb ihrer Tradition zu vernetzen. Ohne diese Vernetzung und den damit ein-

Gruppen in Deutschland nicht auftreten, da Nordrhein-Westfalen einen höheren Anteil an Zentren der thailändischen Waldmönchtradition aufweist. Darüber hinaus kann es auch sein, dass einige der klassisch zu erwartenden Unterstützungsleistungen durch das Erhebungsraster gefallen sind, da sie von den Befragten als zu trivial angesehen wurden und daher keine Erwähnung fanden. 16 Dies ist vermutlich auf eine Projektionshaltung zurückzuführen, welche die interviewten Personen der Interviewerin gegenüber hatten.

70 | A NN -K ATHRIN W OLF hergehenden Austausch wäre eine Ausübung der religiösen Praxis für Laien nicht oder nur begrenzt möglich. In der wissenschaftlichen Literatur über den Buddhismus in Thailand wird auf die unterschiedlichen Aufgaben verwiesen, die diesen beiden Akteuren jeweils zugeordnet werden. So stellt es sich für Laien als wichtig dar, sich an die fünf Sittenregeln zu halten und durch gute Taten religiöses Verdienst zu sammeln, was zu einer besseren Wiedergeburt führen soll (vgl. Bunnag 2002: 196). Diese guten Taten schließen Gaben an die Mönche sowie Gaben an Buddha, etwa in Form von Blumen oder Kerzen, mit ein. Für Mönche hingegen steht das Studium von Pāli-Texten und das rituelle Meditieren im Vordergrund (vgl. ebd.: 201). In den geführten Interviews wurde betont, dass der Mönch auch den Laien darin unterweist, eine innere, ruhige Haltung aufzubauen sowie Güte und Mitleid zu spüren. Die Zentren dienen somit als eine Plattform, auf der diese religiöse Praxis ausgeübt werden kann. Sie sind in ihrer Funktionalität darauf ausgelegt, diese religiöse Praxis zu ermöglichen. Das Angebot der Seelsorge nimmt dabei eine zentrale Stellung ein, da es (als Teil dieser religiösen Praxis) das hauptsächliche Vermittlungsziel der Zentren bildet. Einen anderen wichtigen Einflussfaktor bildet das weitverbreitete positive Bild des Buddhismus, welches in der westlichen Wahrnehmung fest verankert ist. Im deutschen bzw. europäischen Raum lässt sich eine starke Tendenz beobachten, den Buddhismus im Allgemeinen als friedlich und tolerant anzusehen. In der Forschung wird dieses Bild eines gewaltlosen Buddhismus vornehmlich auf den Einfluss bekannter buddhistischer Persönlichkeiten zurückgeführt, wie etwa dem Dalai Lama, und auf die Versuche westlicher Praktizierender, Buddhismus von anderen Religionen abzugrenzen und diesen mehr als Spiritualität und weniger als Religion zu bezeichnen (vgl. Faure 2012: 257). Ideengeschichtlich kann diese Ansicht aber auch als ein Erbe der romantischen Interpretation des 19. Jahrhunderts angesehen werden, die unter Schopenhauer begann und sich bis ins 20. Jahrhundert in wissenschaftlichen Kreisen gehalten hat und Buddhismus mehr als eine passive und rationale Philosophie denn als Religion ansah (vgl. McMahan 2008: 11). Das gesteigerte Interesse an Buddhismus auch außerhalb explizit buddhistischer Kreise zeigt sich an dem Umstand, dass die Mönche der untersuchten Zentren vielfach um Vorträge gebeten wurden oder die Zentren von Gruppen besucht wurden. Interessanterweise gibt es weitaus mehr von deutschen als von ethnischen Buddhisten gegründete Zentren – inwieweit diese aber auf ein gleiches Echo stoßen, konnte nicht ermittelt werden. Das positive Bild des Buddhismus führt dazu, dass buddhistische Zentren im Allgemeinen von der Bevöl-

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kerung als weniger bedrohlich angesehen werden als z.B. muslimische Zentren. Folglich stehen auch ethnisch-buddhistische Zentren weniger unter dem Druck, sich aktiv nach außen öffnen und die Integration ihrer Mitglieder vorantreiben zu müssen. Im öffentlichen Verständnis wird Buddhismus darüber hinaus eng mit Meditation in Verbindung gebracht. Dies hat dazu geführt, dass Besuche buddhistischer Zentren und auch das allgemeine Interesse am Buddhismus vielfach durch ein Interesse an der Meditation begründet sind. Hervorzuheben ist hier, dass die Fokussierung auf Meditation als eine Praxis im Buddhismus ein modernes Phänomen darstellt und entgegen der allgemeinen Annahme im klösterlichen Leben nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat (vgl. Sharf 1995: 241). Im Fall der Waldmönchtradition, der die Mehrheit der thailändischen Mönche in Nordrhein-Westfalen angehört, stellt es sich allerdings so dar, dass eine soziale Zurückgezogenheit und die Fokussierung auf Meditation im Zentrum stehen. Die Waldmönchtradition stammt ursprünglich aus Sri Lanka und wurde im 19. Jahrhundert auch in Thailand institutionalisiert. In Abgrenzung zu den sogenannten Dorfmönchen (gāmavāsī) vertreten die Waldmönche (āraññavāsī) das Ideal des weltabgewandten Asketen. Dabei befindet sie sich in diesem Punkt in Übereinstimmung mit der weitverbreiteten Assoziation, dass ein wesentlicher Teil des Buddhismus das Meditieren sei. Diese Bestätigung des positiven Bildes führt dazu, dass westliche Vorstellungen über den Buddhismus in den jeweiligen Waldmönch-Zentren widergespiegelt werden und ein etwaiger Anpassungs- oder Transparenzdruck, durch die Gesellschaft, auf diese Zentren kaum ausgeübt wird. Für diese Studie relevant ist die Tatsache, dass drei der fünf untersuchten thailändisch-buddhistischen Zentren in Nordrhein-Westfalen sich zu eben jener thailändischen Waldmönchtradition zählen. In Anlehnung an das Ideal des weltabgewandten Asketen ist es dabei konsequent, dass bei den Mönchen der untersuchten Zentren eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der Öffentlichkeit zu beobachten ist, die sich am besten als abwartende Offenheit beschreiben lässt. Zwar wird betont, dass man anderen Gruppen, Institutionen und auch Menschen gegenüber offen sei – auf der anderen Seite wurde zumeist jedoch herausgestellt, dass eine Teilnahme etwa an städtischen Veranstaltungen nur auf Einladung erfolge und keine eigenen Initiativen in Bereich von nachbarschaftlichen Vernetzungen zu finden seien. Der Umstand, dass die untersuchten Gruppen vornehmlich der Tradition der Waldmönche angehören, die ein weltabgewandtes, asketisches Leben praktizieren und die Tatsache, dass sich die Zentren in Nordrhein-Westfalen auf den direkten Austausch zwischen Laien und Mönchen konzentrieren, erklärt, warum Unterstützungsleistungen, die außerhalb der traditionellen Mönch-Laien-

72 | A NN -K ATHRIN W OLF Beziehungen eingeordnet werden können – so wie sie in anderen buddhistischen Traditionslinien auch in Thailand vorkommen –, sich kaum finden lassen. Wie auch in den Interviews betont wurde, wird Unterstützung in erster Linie innerhalb der Mönch-Laien-Beziehung angesiedelt und zentriert sich somit auf den Aspekt der Seelsorge, welche von den Laien im Austausch von Essensgaben etc. bezogen wird. Einen weiteren Einflussfaktor stellt die geographische Verteilung der thailändischen Buddhisten in Nordrhein-Westfalen dar. Dadurch ist zu erklären, weshalb intensive Kontakte zwischen thailändisch-buddhistischen Zentren und anderen religiösen bzw. gesellschaftlichen Institutionen weniger häufig vorkommen und weniger intensiv sind. Diese geographische Verteilung ist an die Tatsache geknüpft, dass die jeweiligen Zentren ihre Mitglieder teilweise über große geographische Distanzen akquirieren. Eine feste Gemeindestruktur, wie sie beispielsweise in christlichen Kirchen zu finden ist, gibt es hier nicht. Unter den Nutzern der Einrichtung scheint eine gewisse Fluktuation vorzuherrschen. Dabei kann auch die besondere Attraktion einzelner Zentren eine Rolle spielen. So gibt es einige Buddhisten mit thailändischem Migrationshintergrund, die zwar in den Niederlanden wohnen, aber zu einem Zentrum im östlichen Ruhrgebiet fahren – als Begründung dafür wurde angeführt, dass ihnen das räumlich näher gelegene Zentrum im Vergleich nicht so gut gefiele. Ferner können Verbindungen zu einem bestimmten Zentrum auch sehr stark von persönlichen z.B. familiären Netzwerken abhängig sein, da Mitglieder zu einem guten Teil über Mundpropaganda gewonnen werden. Dabei werden Anfahrtswege von mehr als einhundert Kilometern in Kauf genommen. Insgesamt gilt, dass es in Deutschland (im Gegensatz zu Thailand) zu einer weiten lokalen Streuung der Laien kommt. Während in Thailand der nächste Tempel niemals weit entfernt ist und unmittelbar in das Alltagsleben integriert werden kann, ist es für die meisten thailändischen Buddhisten in Deutschland und Nordrhein-Westfalen nicht möglich, täglich oder mehrmals am Tag ein thailändisches Zentrum aufzusuchen. Die Kontaktaufnahme zu anderen Thailändern geschieht darüber hinaus in vielen Fällen über nachbarschaftlichen Austausch oder aber durch zufälligen Kontakt z.B. in asiatischen Lebensmittelgeschäften (vgl. Ruenkaew 2003: 301f.). Innerhalb dieser ohne die Mithilfe von thailändisch-buddhistischen Zentren aufgebauten Einrichtungen kann es auch zur Vermittlung von Dolmetscherdiensten kommen (vgl. ebd.). Somit sind die gesuchten unterstützenden Angebote und Vernetzungen zwar vorhanden, werden jedoch über andere Plattformen und Strukturen abgedeckt. Dies deckt sich auch mit den Befunden des vorliegenden Beitrags.

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Ein weiterer wichtiger Faktor für die Etablierung von Angeboten durch die thailändisch-buddhistischen Zentren und die Vernetzung der Mitglieder untereinander bzw. der Zentren mit anderen gesellschaftlichen Institutionen sind binationale Ehen. Die untersuchten thailändisch-buddhistischen Zentren haben einen hohen Anteil an weiblichen Mitgliedern. Viele von ihnen sind mit deutschen Männern verheiratet und somit zu einem gewissen Teil über familiäre Beziehungen bereits in die deutsche Gesellschaft integriert. In ihrer Studie „Heirat nach Deutschland“ beschäftigt sich Ruenkaew (2003) mit der Heiratsmigration und mit dem Leben von Thailänderinnen in Deutschland. Dabei nimmt sie auch Bezug auf die Netzwerke, die von Thailänderinnen in diesem Kontext aufgebaut werden. Prinzipiell werden bürokratische Angelegenheiten (Visa, Ämter, Finanzen) von den deutschen Ehemännern übernommen (vgl. ebd.: 300). An Ruenkaews Studie zeigt sich darüber hinaus, dass viele der Unterstützungsleistungen, die für Menschen mit Migrationshintergrund essentiell sind, nicht von religiösen, sondern z.B. familiären Strukturen abgedeckt werden. Die religiöse Orientierung der Angebote und die Binnenorientierung der Vernetzung lassen sich v.a. auf die Prominenz zweier Einflussfaktoren zurückführen: Die Angehörigkeit der Mehrheit der thailändisch-buddhistischen Zentren in Nordrhein-Westfalen zur Waldmönchtradition und die relative Verbreitung binationaler Ehen unter Thailändern. Thailändisch-buddhistische Zentren dienen somit in erster Linie den religiösen Bedürfnissen und weniger denen nach integrativ-unterstützenden Angeboten. Gerade im Hinblick auf das große Feld des Engagierten Buddhismus kann davon ausgegangen werden, dass sich in anderen Zentren durchaus klassische Unterstützungsleistungen finden lassen. Die zivilgesellschaftlichen Potentiale thailändisch-buddhistischer Zentren liegen zum einen in seelsorgerischen Angeboten zur Entlastung und Orientierung sowie in der Vernetzung mit der Aufnahmegesellschaft durch die sporadische Zusammenarbeit mit Schulen, Museen oder der Kommunalverwaltung.

V ERGLEICH In einem direkten Vergleich mit anderen religiösen Migrantengemeinden fällt auf, dass sowohl Buddhisten als auch Hindus (vgl. Sandhya Marla-Küsters) in der allgemeinen öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland grundsätzlich positiver betrachtet werden als etwa Muslime. Im Fall der aus Thailand zugewanderten Buddhisten lässt sich dieser Umstand auf verschiedene Faktoren zurückführen. Dazu gehört zunächst das bereits beschriebene allgemeine Bild vom Buddhismus als friedliche und nach innen gewandte spirituelle Denkschule. Diese

74 | A NN -K ATHRIN W OLF Exotisierung geht mit einer weit verbreiteten Faszination am Buddhismus einher, deren Ideengeschichte sich bis in die Romantik zurückverfolgen lässt und die im Gegensatz zu verbreiteten Gefährdungsdiskursen gegenüber dem Islam als politischer und übergriffiger Religion steht (vgl. Piotr Suder und Karin MykytjukHitz). Ein anderer Faktor mag in dem Umstand begründet liegen, dass ethnische Buddhisten, etwa thailändischer Herkunft, von der breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommen werden. Von eher punktuell auftretenden Vorurteilen gegenüber thailändisch-deutschen Ehen einmal abgesehen, spielen thailändische Buddhisten im öffentlichen Bewusstsein keine Rolle. Akteure aus dem Umkreis thailändisch-buddhistischer Zentren sind in interreligiösen Initiativen kaum zu finden und nehmen auch nicht aktiv an Integrationsdebatten teil (vgl. Nelly C. Schubert). Dies liegt zum einen daran, dass für ethnische Buddhisten (im Gegensatz zu Muslimen) eine Beteiligung an Integrationsdebatten zur Imagekorrektur nicht notwendig erscheint. Zum anderen spielen aber auch interne theologische Faktoren für die geringe Mitwirkung an öffentlichen Debatten oder interreligiösen Aktivitäten eine Rolle: Gerade von den in Nordrhein-Westfalen prominent vertretenen Mönchen der Waldmönchtradition wird eine relative Abgewandtheit von der Welt vorgezogen, die ihnen eine intensivere Ausübung ihrer religiösen Tradition ermöglicht. Auch in der religiösen Außenrepräsentation treten Buddhisten, die aus Thailand nach Deutschland zugewandert sind, in der Öffentlichkeit kaum in Erscheinung. Dies wiederum hängt v.a. mit der Tatsache zusammen, dass die Repräsentation des Buddhismus als auch das entsprechende Verbandswesen sehr stark in der Hand deutscher Buddhisten liegen und von diesen auch maßgeblich geprägt werden.17 Die Organisation einer religiösen Tradition im neuen Land durch die dort einheimische Bevölkerung teilen buddhistische Migrationsgemeinden mit christlichen Migrationsgemeinden, wie etwa den koreanischen Protestanten (vgl. Sabrina Weiß) und russlanddeutschen Mennoniten (vgl. Frederik Elwert), die sich beide in gewissen Maße auf vorhandene kirchliche Strukturen im Einwanderungsland beziehen können. Jedoch erhalten die thailändischen Buddhisten nicht im gleichen Maße Unterstützungsleistungen durch deutsche Buddhisten, wie es z.B. die syrisch-orthodoxen Christen durch die Römisch-Katholische Kir-

17 Ein kürzlich aufgetretenes Beispiel für diese Aufteilung ließ sich in einer Wissenschaftssendung beobachten. Ein Reporter interviewte religiöse Spezialisten unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften. Während die Vertreter des Islam und des Hinduismus einen Migrationshintergund hatten, wurde der Buddhismus von einer Deutschen vertreten.

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che erfahren (vgl. Ulf Plessentin). Generell befinden sich Buddhisten in Deutschland nicht in der gleichen Position wie die Amtskirchen und einige Freikirchen, denn sie sind noch nicht als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt. Im Gegensatz zu den meisten anderen in diesem Band untersuchten Gemeinden sind die Angebote, die von thailändisch-buddhistischen Zentren ausgehen, v.a. religiös. Dies liegt an der Migrationssituation vieler thailändischer Buddhistinnen, die einen deutschen Ehemann haben und somit viel weniger auf integrativ-unterstützende Angebote angewiesen sind. Trotz der damit einhergehenden strukturellen Situation haben die untersuchten thailändisch-buddhistischen Gemeinden eine eigene Infrastruktur aufgebaut, die es ihnen ermöglicht, in Deutschland Zentren zu bauen, die zum einen der religiösen Praxis dienen und zum anderen als gefragte Schnittstellen zur Aufnahmegesellschaft fungieren.

L ITERATUR Baumann, Martin (1995): Deutsche Buddhisten. Geschichte und Gemeinschaften, Marburg: Diagonal. Baumann, Martin (2000): Migration, Religion, Integration. Buddhistische Vietnamesen und hinduistische Tamilen in Deutschland, Marburg: Diagonal. Bunnag, Jane (2002): „‚Der Weg der Mönche und der Weg der Welt‘: Der Buddhismus in Thailand, Laos und Kambodscha“, in: Heinz Bechert/Richard Gombrich (Hg.), Buddhismus. Geschichte und Gegenwart, München: C.H. Beck, S. 190-211. Faure, Bernard (2012): „Buddhism and Violence“, in: Richard A. Orsi (Hg.), The Cambridge Companion to Religious Studies, Cambridge: Cambridge University Press. Freiberger, Oliver/Christoph Kleine (2011): Buddhismus. Handbuch und kritische Einführung, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht. McMahan, David L. (2008): The Making of Buddhist Modernism, Oxford: Oxford University Press. Numrich, Paul D. (2003): „Two Buddhisms Further Considered“, in: Contemporary Buddhism 4.1, S. 55-78. Prebish, Charles S. (1993): „Two Buddhisms Reconsidered“, in: Buddhist Studies Review 10.2, S. 187-206. Ruenkaew, Pataya (2003): Heirat nach Deutschland. Motive und Hintergründe thailändisch-deutscher Eheschließungen, Frankfurt a. M.: Campus.

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Die zivilgesellschaftlichen Potentiale koreanischer Freikirchen S ABRINA W EISS

H INTERGRUND Die Geschichte koreanischer Migrantenkirchen in Nordrhein-Westfalen setzt offiziell mit einem Ereignis ein, das sich im Jahr 2013 zum 50. Mal jährte: Im Jahr 1963 unterzeichnete die Bundesrepublik Deutschland mit Südkorea ein Abkommen, durch welches in den 1960er und 1970er Jahren 8000 koreanische Bergarbeiter nach Deutschland kamen. Die ersten koreanischen Arbeiter trafen am 23. Dezember 1963 über ein Pilotprojekt der Hamborner Bergbau AG (Duisburg) und des Eschweiler Bergwerks-Vereins (Aachen) im Ruhrgebiet ein, um im deutschen Bergbau tätig zu werden. Inoffiziell waren bereits seit 1959 koreanische Krankenschwestern und Pflegerinnen über private Initiativen nach Deutschland gekommen, da zum damaligen Zeitpunkt ein Pflegenotstand in den Krankenhäusern herrschte. Ihre inoffizielle Anwerbung wurde am 25. Juni 1970 in eine offizielle Anwerbung überführt. So nahmen in den 1960er und 1970er Jahren rund 18.000 koreanische Arbeitsmigranten eine Tätigkeit in Deutschland auf.1 Heute lässt sich anhand der Daten des Ausländerzentralregisters ablesen, dass derzeit 25.878 koreanische Staatsbürger in Deutschland leben.2 Davon sind

1

Für einen vertiefenden Einblick in die Migrationsgeschichte koreanischer Bergarbeiter, Krankenschwestern und Pflegerinnen siehe Shim 1974, Nestler-Tremel et al. 1985, Kim 1986, Lee 1991, Park/Fehling 2003 und Choi/Lee 2005.

2

Die Zahlenangaben können im Ausländerzentralregister unter „Ausländische Bevölkerung. Fachserie 1 Reihe 2 - 2013“ nachvollzogen werden. Online unter: https://

78 | S ABRINA W EISS 15.141 Personen Frauen. In Nordrhein-Westfalen leben rund 6100 Koreaner – im Vergleich zu anderen Bundesländern ist es das Bundesland mit der höchsten Anzahl koreanischer Staatsbürger. Aus dem Datensatz geht jedoch nicht ihre Religionszugehörigkeit hervor. Die Verteilung in Altersgruppen lässt Aussagen zur demographischen Struktur zu.3 Die Altersgruppe zwischen 25 und 45 Jahren ist vergleichsweise groß, weil sich darunter zum einen die Kinder und Enkel der angeworbenen Arbeitskräfte, zum anderen aber auch Geschäftsleute und koreanische Auslandsstudierende befinden, die für einen meist begrenzten Zeitraum von bis zu vier Jahren in Deutschland ansässig sind. Die Gesamtzahl der Koreaner blieb in den vergangenen Jahren relativ konstant, obwohl die koreanische Community zunehmend von Fluktuation durch Zu- und Abwanderung koreanischer Studierender und Geschäftsleute betroffen ist, während die Zahl der Arbeitsmigranten der ersten Generation stetig sinkt. Die sozioökonomische Situation koreanischer Migranten hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verbessert. Im Verlauf ihrer beruflichen Tätigkeit hatten sie die Möglichkeit, in höhere Positionen aufzurücken oder die Branchen zu wechseln und auf diese Weise einen sozialen und ökonomischen Aufstieg zu erzielen. Eine wichtige Rolle für die Aufwärtsmobilität koreanischer Migranten spielten auch die hohen Bildungsaspirationen für die Folgegeneration. So besuchte die Mehrheit der Kinder weiterführende Schulen und nahm anschließend ein Studium in Fächern wie Medizin, Jura oder Musik auf. Aus diesem Grund gelten koreanische Arbeitsmigranten und ihre Nachkommen in öffentlichen Debatten oft als Musterbeispiel für Integration, ein Umstand, der sich auf die Netzwerke koreanischer Freikirchen auswirkt. Die koreanischen Bergleute und Krankenschwestern begannen früh mit der ethnischen und religiösen Selbstorganisation in Form von Sportvereinen, politischen Interessensverbänden, Kulturvereinen, koreanischen Sprachschulen für Kinder und christlichen Gemeinden, die in Nordrhein-Westfalen stark vernetzt sind. Die Gründung von Vereinen, Gebetsgruppen und Migrantenkirchen spielte für ihre soziale Einbindung eine zentrale Rolle. Dort erfuhren sie gegenseitige Unterstützung in diesem für sie neuen und fremden Land. Zugleich konnten sie sich über neueste Entwicklungen in Korea austauschen, Gemeinschaft fernab der

www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Bevoelkerung/MigrationIntegration/A uslaendBevoelkerung.html vom 06.06.2014. 3

Sie zeigt, dass von den 25.878 in Deutschland lebenden Koreanern 4078 zwischen 0 und 20 Jahren, 20.576 zwischen 20 und 65 Jahren (wobei die Gruppe der 25-35Jährigen mit 7531 Personen am größten ist) und 1224 über 65 Jahre alt sind. Das Durchschnittsalter liegt bei etwa 34 Jahren.

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zurückgelassenen Familienverbände in Korea erleben und soziale Anerkennung durch die Ausübung prestigeträchtiger Posten (etwa als Kassenwart in einem Verein oder als Chorleiterin in einer Kirche) erfahren. Schon früh wurden auch Gebetsgruppen und Migrationskirchen verschiedener Konfession bzw. Denomination gegründet, die unabhängig voneinander waren. Dazu gehörten zum Ersten Migrantenkirchen evangelisch-reformierter Konfession, zum Zweiten evangelische Freikirchen und zum Dritten römisch-katholische Auslandsgemeinden. Koreanische Pfingstgemeinden und römisch-katholische koreanische Auslandsmissionen sind bis heute weniger häufig vertreten.4 Für die religiöse Selbstorganisation lassen sich drei Phasen identifizieren, in denen v.a. koreanisch-reformierte Gemeinden gegründet wurden. In der ersten Phase, die in den 1960er Jahren beginnt, fanden sich erste Gebetsgruppen zusammen. Sie wurde in der Regel von christlichen Laien organisiert und ihnen stand kein Pastor als religiöser Experte vor. Ab 1965 setzte im Ruhrgebiet dann die Gründung erster koreanischer Migrationskirchen ein. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) nahm Kontakt zum KNCC (The National Council of Churches in Korea) auf, um Seelsorge für koreanische Arbeitsmigranten mit evangelischer Konfession zu organisieren. Die zweite Phase beginnt in den 1970er Jahren und geht mit weiteren Kirchengründungen in ganz Nordrhein-Westfalen einher. Der Unterschied zur ersten Phase besteht darin, dass die Gemeinden nun stärker durch Priester angeleitet wurden und eine kirchenähnliche Struktur ausbildeten. Dazu gehören nicht nur römisch-katholische und evangelisch-reformierte Gemeinden, sondern auch koreanische Pfingst-, Baptisten- und Methodistengemeinden. Aufgrund von Auseinandersetzungen innerhalb der Gemeinden, z.B. durch Konflikte mit dem Pastor, spalteten sich einige Gemeinden, was zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung des Feldes führte. Die damit einhergehende Fragmentierung hat nach wie vor Folgen für die zivilgesellschaftlichen Potentiale koreanischer Gemeinden. In der dritten Phase, die in den 1990er Jahren beginnt, ist eine weitere Ausdifferenzierung der koreanischen Gemeindelandschaft zu beobachten. So können für Nordrhein-Westfalen über 30 koreanische Gemeinden unterschiedlicher Konfession verzeichnet werden. Die Mitgliederzahlen schwanken zwischen 15 und

4

Drei römisch-katholische koreanische Gemeinden gründeten sich 1971 in Berlin, Köln und Mainz. Die Pfarrer wurden und werden von der Römisch-Katholischen Kirche bezahlt und betreuten damals mehrere Standorte. Die Gemeindegründungen verliefen im Gegensatz zu evangelischen Gemeindegründungen nicht spontan, sondern wurden durch die Diözesen gesteuert. Im Jahr 1988 existierten bereits 21 römisch-katholische koreanische Gemeinden, von denen mehr als die Hälfte ihren Standort in NRW hatten.

80 | S ABRINA W EISS 400 Personen, was zur Folge hat, dass die Gemeinden über ihre konfessionellen Ausrichtungen hinaus auch deutlich unterscheidbare Strukturen aufweisen. Während die kleinen Gemeinden sehr familiär organisiert sind, haben die großen Gemeinden kirchenähnliche Strukturen ausgebildet.5 Sie verfügen in der Regel über einen Hauptpastor, Hilfspastoren, etwa für die Jugendarbeit, sowie verschiedene Verantwortliche für Finanzen, die Chorleitung, die Jugendarbeit, die Seniorengruppen und die Freizeitgestaltung. Zudem weisen diese Gemeinden ausdifferenzierte Mitgliederstrukturen auf. Nach wie vor bildet die erste Generation eine große Mehrheit, aber auch ihre Kinder und Enkelkinder sowie koreanische Auslandsstudierende und Geschäftsleute suchen Anschluss an die Gemeinden. In der Forschungsliteratur zu koreanischen Migrantenkirchen bzw. koreanischen Christen in Deutschland lassen sich zwei Themenfelder unterscheiden: Zunächst erschienen in den 1970er Jahren im Zuge der Einwanderung koreanischer Arbeitsmigranten soziologische und volkskundliche Publikationen zur Anpassung der Koreanern an die deutsche Gesellschaft. Diese wurden überwiegend von koreanischen Forschern verfasst, die über die Arbeits- und Lebensbedingungen ihrer Landsleute aufklären wollten.6 Der Aspekt der Religionszugehörigkeit wurde in diesen Arbeiten allenfalls zu statistischen Zwecken abgefragt. Dabei gaben v.a. die befragten koreanischen Krankenschwestern an, evangelisch zu sein. Erst in den 1980er und 1990er Jahren erschienen einige wenige Arbeiten zur koreanischen Interessenvertretung bzw. zu koreanischen Migrantenkirchen (vgl. Yoo 1981; An 1997). Diese geben einerseits einen Überblick über die Organisationsstrukturen, andererseits behandeln sie ausschließlich die Entwicklungsge-

5

Ein ähnliches Entwicklungsmodell für Migrantengemeinden wird von Karsten Lehmann beschrieben. Er differenziert zwischen Phasen früher Community-Kirchen, einer Phase der Etablierung und einer der zunehmenden Öffnung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft (vgl. Lehmann 2006).

6

Entsprechend der damaligen Diskussionen zur Akkulturation und Assimilation von Gastarbeitern und Migranten im Allgemeinen trugen die Forschungsarbeiten Titel wie „Sozio-kulturelle Anpassungsprobleme koreanischer Arbeitskräfte in Deutschland“ (Hwang 1973), „Aspekte der sozio-kulturellen Einordnung koreanischer Krankenpflegekräfte in Deutschland“ (Shim 1974), „Koreaner/innen in Deutschland. Eine Analyse zum Akkulturationsverhalten am Beispiel der Kleidung“ (Yoo 1981), „Sozialisationsprobleme koreanischer Kinder in der Bundesrepublik. Bedingungen und Möglichkeiten für eine interkulturelle Erziehung“ (Kim 1986) oder „Koreanischer Alltag in Deutschland“ (Lee 1991).

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schichte und Gemeindearbeit evangelischer koreanischer Migrantenkirchen. Die zivilgesellschaftlichen Potentiale sowie Unterstützungs- und Kooperationsbeziehungen lassen sich daraus allenfalls indirekt und vereinzelt ablesen. Beispielsweise zeigt sich, dass die reformierten koreanischen Gemeinden schon recht früh mit den evangelischen Landeskirchen kooperierten, um geeignete Räume und finanzielle Unterstützung zu erlangen. Auch die amerikanische Forschungsliteratur zu der vergleichsweise viel größeren koreanischen Community (v.a. in Los Angeles) nimmt weniger auf die in diesem Sammelband vorgestellten Interessen Bezug, sondern fokussiert ausführlich auf die theologischen, sozialen und strukturellen Abläufe und Zusammenhänge in koreanischen Migrantenkirchen der ersten und zweiten Generation (vgl. Kwon et al. 2001; Min 2002) und die Bedeutung der Kirchen für koreanische Migranten (vgl. Hurh et al. 1978; Choy 1979; Kim 1981; Hurh/Kim 1984; Choi 2003).7 Im folgenden Abschnitt werden die zivilgesellschaftlichen Potentiale koreanischer Migrantenkirchen im Hinblick auf verschiedene Angebote und Vernetzungen dargestellt. Während die Forschungsliteratur durchaus Aussagen zu den Angeboten für ihre eigenen Gemeindemitglieder macht (z.B. Seelsorge, gemeinschaftliches Essen oder Freizeitangebote), wurden die Außenbeziehungen bislang weniger beachtet. Koreanischen Migrantenkirchen wird mitunter der Vorwurf gemacht, sie würden sogenannte „ethnische Kolonien“ oder desintegrative „Parallelgesellschaften“8 bilden und „unter sich“ leben.9 Eine systematische Analyse des Beziehungsspektrums kann helfen, ein differenzierteres Bild koreanischer Migrantenkirchen zu erlangen.

7

Des Weiteren wurde die soziokulturelle Anpassung koreanischer Migranten an die US-amerikanische Gesellschaft untersucht (vgl. Hurh 1984) und umfangreicher zur Entwicklung der koreanischen Christen im Generationenverlauf geforscht (vgl. Kibria 1997; Chong 1998; Park 1999; Alumkal 1999, 2001; Kim/Pyle 2004; Ecklund 2006; Kim 2010a, 2010b). Insgesamt werden jedoch die Aspekte der Vernetzung und der zivilgesellschaftlichen Potentiale dieser Gemeinschaften außer Acht gelassen.

8

Diesen Vorwurf führt etwa You Jae Lee in einem Interview mit dem Mediendienst Integration zum Selbstverständnis der zweiten Generation an. Vgl. http://medien dienst-integration.de/artikel/interview-zum-anlass-des-50-jaehrigen-jubilaeums-desdeutsch-koreanischen-anwerbeabkommens.html vom 22.07.2014.

9

So der deutsch-koreanische Autor Martin Hyun, der zu Koreanern in Deutschland publiziert.

Vgl.

22.07.2014.

http://www.goethe.de/lhr/prj/daz/mag/mig/de10986481.htm

vom

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N ETZWERKE In Nordrhein-Westfalen sind derzeit 37 koreanische Migrationskirchen von OstWestfalen, über das Ruhrgebiet bis hin ins Rheinland in Klein- und Großstädten beheimatet.10 Die Gemeinden weisen sowohl untereinander als auch zur Aufnahmegesellschaft vielschichtige Beziehungen auf, die regelmäßig auch über die Konfessionsgrenzen hinausgehen. Drei Beziehungsinhalte sind für das Beziehungsspektrum koreanischer Migrantenkirchen durch ihre Kontinuität und Intensität besonders charakteristisch. Dazu gehört zunächst die inner- und intrareligiöse Kontaktpflege, die ihrerseits eng mit einem Transfer von Geld und Gütern verbunden ist. Zudem engagieren sich die Gemeinden auf unterschiedlichen Ebenen im Bereich Wissenstransfer und bieten eine Fülle von sozialen Diensten an, die in der Regel auf dem persönlichem Engagement der Gläubigen beruhen und sich in erster Linie an Gemeindemitglieder, aber auch darüber hinaus an die städtische Gemeinschaft richten. Diese drei Beziehungsinhalte werden im Folgenden an konkreten Beispielen genauer ausgeführt. Eine Form von inner- und intrareligiöser Beziehungspflege ist der Transfer von Geld und Gütern. Das grundlegende Moment der Kontaktpflege aller koreanischen Migrantenkirchen besteht darin, dass sie im intrareligiösen Rahmen zu anderen Gemeinden bzw. Kirchen Beziehungen unterhalten – etwa zu den evangelischen Landeskirchen, zu Freikirchen oder der Römisch-Katholischen Kirche in Deutschland. Diese Kontakte bilden das Fundament für weiterreichende Vernetzungen, die bisweilen in verschiedene Formen der Zusammenarbeit münden können. So mieten koreanische Migrantenkirchen häufig die Räume anderer christlicher Institutionen für ihre Aktivitäten an. Die dafür fällige Miete11 wird

10 Die angeführte Zahl beruht auf eigenen Erhebungen im Rahmen eines Dissertationsprojekts zum Wandel koreanischer Migrantenkirchen in Nordrhein-Westfalen. Es wird darauf hingewiesen, dass diese Zahl aufgrund von Kirchenspaltungen, Auflösungen oder Neugründungen kleiner Gemeinden steten Schwankungen unterworfen ist. Zudem wurden in die Erhebung nur diejenigen koreanischen Migrantenkirchen miteinbezogen, die über eigene Webseiten oder durch die Eintragung in öffentlichen Registern als eingetragene Vereine auf sich aufmerksam machen. Unberücksichtigt bleiben private Hausgemeinschaften, die nur schwer zu erfassen sind und über eine sehr geringe Anzahl an Gläubigen verfügen. 11 Die monatlich zu entrichtenden Mietbeträge schwanken. Von einem symbolischen Beitrag bis hin zu hohen Mietbeträgen, die durch Kollekten kaum aufgebracht werden können, stehen die koreanischen Migrantenkirchen vor unterschiedlichen finanziellen Herausforderungen. Mietpreiserhöhungen, Mitgliederschwund oder die Anmeldung

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ausschließlich durch Kollektenbeiträge und andere Spenden der Mitglieder finanziert. Weiterhin bestehen Mietverhältnisse im außerreligiösen Rahmen mit öffentlichen Einrichtungen wie z.B. Krankenhäusern. Eine Ausnahme bildet eine große Pfingstgemeinde in Düsseldorf, die ein Kirchengebäude erwerben konnte und dort selbst an eine lateinamerikanische Pfingstgemeinde Räumlichkeiten vermietet. Auch die Aufwendungen für den Pastor und seine Familie werden in der Regel von den Gemeinden selbst bestritten. Durch die Mietverhältnisse pflegen koreanische Gemeinden intrareligiöse Kontakte zur vermietenden Gemeinde oder Kirche. Daran anknüpfend können sich ein- bis zweimal jährlich stattfindende deutsch-koreanische Gottesdienste oder wechselseitige Einladungen zu Gastpredigten ergeben. Auf diese Weise stehen nicht nur die Pastoren oder Pfarrer als Vertreter ihrer Gemeinden in Kontakt, sondern auch die Gemeindemitglieder haben die Möglichkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen. Deutsche wie auch koreanische Pastoren berichten in diesem Zusammenhang, dass insbesondere zusätzliche Angebote wie etwa Gemeindefeste, Basare oder gemeinsame Essen im Rahmen deutsch-koreanischer Gottesdienste von den Gläubigen gut angenommen werden und sich als Institutionen der Kontaktpflege bewährt haben. Dabei basiert der intrareligiöse Austausch häufig auf folgender Arbeitsteilung: Während die deutschen Kirchen, Freikirchen oder öffentlichen Einrichtungen ihre Räumlichkeiten und andere Infrastruktur zur Verfügung stellen, bereiten die koreanischen Gemeinden landestypische Speisen für alle Teilnehmer zu. Bei solchen Veranstaltungen werden nicht nur informell Informationen über die jeweilige Kultur ausgetauscht und somit Vorbehalte oder Unwissen abgebaut, sondern auch Raum für Gespräche über weitere Projekte oder Kooperationen geboten. Allerdings sind Veranstaltungen wie ein gemeinsamer Basar oder ein Gemeindefest mit einem beträchtlichen Organisations- und Kostenaufwand für die oftmals kleinen koreanischen Gemeinden verbunden, so dass einige koreanische Pastoren solche Kontakte zwar gerne vertiefen würden, aber aufgrund des Aufwands den Kontakt auf wenige Treffen pro Jahr beschränken müssen. Die Kontaktaufnahme und -pflege zwischen koreanischen und deutschen Gemeinden sowie die Möglichkeit der Untervermietung kommen meistens über den Austausch der Pastoren untereinander zustande. Die folgende Fallgeschichte veranschaulicht diesen Zusammenhang exemplarisch:

von Eigenbedarf führen häufig dazu, dass sich die Gemeinden neue Räume suchen müssen.

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Fallgeschichte Ein deutscher und ein koreanischer Pastor zweier reformierter Gemeinden haben ein Sprachtandem gebildet. Der deutsche Pastor lernt Koreanisch und hält seitdem im deutsch-koreanischen Gottesdienst kurze Ansprachen auf Koreanisch, die von der koreanischen Gemeinde freundlich aufgenommen werden, und der koreanische Pastor vertieft seine Kenntnisse in der deutschen Sprache. Zugleich tauschen sie sich über theologische Inhalte, Konzepte der Gemeindeführung, Herausforderungen und mögliche zukünftige Projekte aus. Diese partnerschaftliche Zusammenarbeit auf der persönlichen Ebene zieht eine Ausweitung der intrareligiösen Kooperation zwischen den Gemeinden nach sich. So beteiligen sich Mitglieder beider Gemeinden an der hausmeisterlichen Betreuung der gemeinsam genutzten Kirche und dem dazugehörigen Gebäude. Die Arbeit wird ehrenamtlich von einer gemischten Männergruppe verrichtet. In Gemeindebriefen der deutschen Gemeinde wird auf die Zusammenarbeit mit der koreanischen Gemeinde Bezug genommen und die wechselseitigen Erfahrungen positiv geschildert. Zudem wurde im Rahmen eines Tandemtreffens beschlossen, dass die Jugendarbeit beider Gemeinden stärker miteinander verschränkt werden soll. So wirkten an einem Kinderbibeltag der deutschen Gemeinde koreanische Jugendliche mit. Ein deutscher Familienvater hat sich bereit erklärt, jeden Monat 50 Euro zu spenden, so dass einer Koreanerin für ihr Engagement in der Jugendarbeit ein kleines Honorar als Aufwandsentschädigung gezahlt werden kann. Zudem ergab sich auf Initiative des deutschen Pastors das Projekt, eine interkulturelle Kontaktstunde in einer benachbarten Schule einzurichten, um beispielsweise den deutschen Kindern die koreanische Nationalfahne zu erklären. Ein weiterer Aspekt beim Transfer von Geld und Gütern, der von allen koreanischen Gemeinden je nach ihrer Größe und der finanziellen Situation ihrer Mitglieder auf unterschiedliche Weise betrieben wird, sind die Spenden der Gemeinden. Je nach Anlass (z.B. für Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen, Anschaffung von Materialien oder die Planung von Ausflügen) werden innerhalb der Gemeinden Spenden gesammelt, die am Ende eines jeden Monats als Gesamtspendensumme in einem Gemeindegottesdienst bekannt gemacht werden. Die koreanischen Gemeindemitglieder entrichten den zehnten Teil des erwirtschafteten monatlichen Einkommens, um ihre Gemeinde zu unterstützen. Die Beiträge werden in Briefumschlägen öffentlich während des Gottesdienstes geleistet und unterliegen somit einer gewissen sozialen Kontrolle. Manche Mitglieder refor-

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mierter koreanischer Gemeinden haben in Interviews angegeben, dass sie zusätzlich noch die Kirchensteuer an die Landeskirchen entrichten, was sie als eine Doppelbelastung empfinden. Zudem werden Geldspenden der Mitglieder, die z.B. anlässlich der Tsunamikatastrophe in Thailand 2004 gesammelt wurden, intrareligiös zwischen den koreanischen Migrantenkirchen in Deutschland und christlichen Hilfsorganisationen in den Krisengebieten transferiert. Die Spendenbereitschaft ist mitunter so hoch, dass ein deutscher Pastor anmerkte, dass er sich ein ähnliches Spendenengagement auch von seinen Gemeindemitgliedern wünschte. Weiterhin wird an koreanische Missionsgruppen z.B. in Afrika Geld gesammelt. Eine koreanische Pfingstgemeinde spendet regelmäßig für die Missionseinsätze ihres Pastors in der Demokratischen Republik Kongo, der vor Ort mit einem kongolesischen Pastor der ACM (African Christian Mission) kooperiert. Insbesondere die größeren koreanischen Gemeinden sind in der Lage, regelmäßige Spenden für inneroder intrareligiöse Projekte oder Ereignisse aufzubringen. Die kleinen koreanischen Gemeinden mit 15 bis 30 Mitgliedern bündeln ihre finanziellen Ressourcen v.a. für den Erhalt ihrer Gemeinden. Ein Diskussionspunkt ist dabei der zu leistende Beitrag von (Auslands-)Studierenden, die über sehr wenig Geld verfügen. Um sie zu entlasten, wird von ihnen in manchen Gemeinden kein oder nur ein geringer Beitrag erwartet. Der zweite Beziehungsinhalt ist der inner- und intrareligiöse Wissenstransfer. Große koreanische Gemeinden können aufgrund höherer Kollekten- und Spendenbeiträge und ihrer ausdifferenzierteren Mitgliederstruktur unterschiedliche Angebote für alle Alters- und Statusgruppen in der Gemeinde anbieten. So gibt es nicht nur Kleinkind- und Kindergruppen, in denen auf Deutsch oder Koreanisch (in einigen Fällen auch in beiden Sprachen) Bibelunterricht erteilt oder Kindergottesdienst gefeiert wird, sondern auch Jugendgruppen, Treffen für Singles oder Ehepaare und Studierendengruppen, die in einigen Gemeinden zudem in koreanische Auslandsstudierende und Studierende der zweiten Generation aufgeteilt sein können. Die religiöse Erziehung der Kinder und Jugendlichen in den Gruppen wiederum ist für manche Eltern mit koreanischem Migrationshintergrund wichtig, weil sie einen Raum bietet, in dem die Kinder Koreanisch als Umgangssprache anwenden können, wenn sie keine koreanische Sprachschule besuchen. Für koreanische Auslandsstudierende, die zum Teil Familien in Deutschland gründen, und koreanische Geschäftsleute ist dieses Angebot ebenfalls attraktiv, weil sie mit ihren Kindern oftmals nur temporär in Deutschland bleiben und kein oder nur wenig Deutsch lernen. In den vorgestellten Gruppen für die Erwachsenen kann ein seelsorgerischer Austausch über die religiöse Lebensführung stattfinden. Zudem bringen sich die

86 | S ABRINA W EISS Mitglieder mit ihren fachlichen Fähigkeiten und ihrem Wissen in die Gruppen oder die Gemeinde ein und erfahren dafür Anerkennung. So ist in einer Pfingstgemeinde ein Jurist für die Abrechnung der Finanzen zuständig, in einer reformierten Gemeinde leitet ein studierter Germanist die PR-Arbeit. Im Fall einer reformierten koreanischen Migrantenkirche haben die deutschen Ehemänner die Gemeinde mit ihrem Wissen zum deutschen Finanzwesen beraten, als diese Probleme mit dem Finanzamt hatte. Insbesondere diejenigen koreanischen Migrantenkirchen, die an eine Mutterkirche in Korea angeschlossen sind (v.a. reformierte und charismatische Gemeinden), unterhalten zudem eine Reihe transnationaler Beziehungen. Einerseits sind die Pastoren häufig nur wenige Jahre in Deutschland in einer koreanischen Gemeinde als Haupt- oder Hilfspastor tätig, z.B. wenn sie an einer theologischen Fakultät an einer deutschen Universität oder kirchlichen Hochschule promovieren. Andererseits werden sowohl aus Korea als auch aus Missionsländern koreanische Gastprediger eingeladen, die in den Gemeinden oder bei Jugendworkshops von ihren Missionserfahrungen oder Projekten berichten. Darüber hinaus findet ein intrareligiöser Wissenstransfer und Geldtransfer im Rahmen von Kooperationen zwischen koreanischen reformierten Migrantenkirchen aus Aachen, Bochum, Bonn, Dortmund, Düsseldorf, Essen, Gelsenkirchen, Köln, Krefeld, Siegen und Wuppertal und den Evangelischen Landeskirchen von Westfalen (EKvW) und im Rheinland (EKiR) statt. Diese Zusammenarbeit besteht seit der Gründung der ersten reformierten koreanischen Gemeinden in Nordrhein-Westfalen und hat sich im Verlauf der Zeit gewandelt. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und ihre Mitgliederkirchen unterhalten nicht nur seit langer Zeit transnationale Kontakte zu den koreanischen Mutterkirchen, die Landeskirchen Westfalen und Rheinland haben außerdem bis vor wenigen Jahren die Pfarrstellen der reformierten koreanischen Migrantenkirchen bezuschusst. Dieser institutionalisierte Geldtransfer endete im Jahr 2008, seitdem beschränkt sich das Verhältnis auf Wissensaustausch und symbolische und administrative Unterstützung. Wenn etwa eine koreanische Migrantenkirche neue Räumlichkeiten sucht, dann bietet sich das Landeskirchenamt in Düsseldorf an, nach freien Räumen im eigenen Bestand zu suchen oder Informationen diesbezüglich weiterzuleiten. Im Rahmen von deutsch-koreanischen Kirchenkonsultationen, Tagungen und ökumenischen Begegnungen finden zudem regelmäßige Treffen in Korea und Deutschland statt. Regional vor Ort besteht seit einigen Jahren ein Kooperationsprogramm unter dem Titel „Kooperation zwischen deutsch- und fremdsprachigen Gemeinden“. Dieses Programm ist in den 1990er Jahren durch die EKiR in Zusammenarbeit mit der EKvW und der Vereinten Evangelischen Mission

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(VEM) in Wuppertal initiiert worden. Ausgangspunkt war das Interesse, mehr über die in Nordrhein-Westfalen ansässigen Migrantenkirchen zu erfahren, sie als ökumenische Partnergemeinden anzuerkennen und sich als Landeskirchen „gegenüber Regierungsstellen und Behörden für die Belange dieser Gemeinden“ einzusetzen (Währisch-Oblau 2006: 23). Aus diesem Programm ging eine Liste mit Migrationskirchen hervor, die sich zur ökumenischen Zusammenarbeit mit den Landeskirchen bereit erklärten. Die Aufnahme in die Liste war an fünf Kriterien gebunden, die gemeinsam mit Vertretern der Gemeinden und der Landeskirchen formuliert worden waren: 1) Anerkennung der Glaubensbasis der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK), 2) Verpflichtung zu ökumenischer Zusammenarbeit, 3) organisatorische Verfestigung, 4) Bereitschaft der Pastoren und Leiter zur Teilnahme an Fortbildungen der Landeskirchen und 5) Empfehlungen von zwei anderen Gemeinden. Auf der Liste aus dem Jahr 2012 waren 16 koreanische Gemeinden vertreten. Die ökumenische Zusammenarbeit in Form von Wissenstransferangeboten besteht bis heute. Jedoch wird die Liste nicht mehr in dieser Form geführt, seitdem das Landeskirchenamt in Düsseldorf die Kooperationspflege übernommen und die VEM seit 2010 die Zuständigkeit abgegeben hat. Diese Veränderung der Zuständigkeit innerhalb der Strukturen der evangelischen Landeskirchen ist nicht in allen kooperierenden koreanischen Gemeinden bekannt. Fallgeschichte Im Zusammenhang mit einem intrareligiösen Wissenstransfer zwischen einer koreanischen Pfingstgemeinde und dem Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden (BFP) hat sich eine langfristige strategische Allianz herausgebildet, die institutionalisiert wurde, indem die koreanische Gemeinde als Mitglied dem BFP beitrat: In der Gründungsphase war die koreanische Gemeinde aufgrund mangelnder Kenntnisse und durch ihren prekären Status als Migrationskirche auf die Hilfe des BFP zur Koordination und Abwicklung struktureller und ökonomischer Belange angewiesen. Ausschlaggebend für die koreanische, pfingstlich-charismatische Gemeinde war es, mit dem BFP einen Kooperationspartner zu haben, der zum einen den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts innehat und zum anderen theologisch kompatibel ist, sich also durch eine „Geschwisterschaft“ innerhalb der baptistischen Strömung auszeichnet. So unterstützte der BFP die koreanische Pfingstgemeinde aktiv bei der Abrechnung ihrer Finanzen, weil diese mit den Verpflichtungen gegenüber dem Finanzamt noch nicht vertraut war. Der BFP fungierte außerdem als

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offizieller Arbeitgeber für die koreanischen Pastoren, wobei jedoch die Pastoren über die Beiträge der koreanischen Mitglieder durch die koreanische Gemeinde finanziert wurden. Die Mitgliederbeiträge wurden zwar in der Gemeinde erhoben, aber an den BFP gezahlt, damit dieser die Gemeindepastoren vergüten konnte. In diesem Beispiel bildete sich ein intrareligiöses Netzwerk von Geldtransfers aus. Aufgrund ihrer Vielschichtigkeit und Reziprozität kann das Verhältnis zwischen BFP und koreanische Pfingstgemeinde als strategische Allianz angesehen werden: Dabei kann die betreffende Gemeinde ihren Status durch die Kooperation und bürokratische Hürden bei Finanzangelegenheiten und der Einstellung von Pastoren abbauen, der BFP hingegen kann die Gemeinde als offizielles Mitglied angeben und somit seinen erweiterten Repräsentations- und Wirkungsraum gegenüber den Landeskirchen kenntlich machen (Interessenvertretung). Einen dritten zentralen Beziehungsinhalt koreanischer Migrationskirchen stellen Soziale Dienste dar. Sie werden in erster Linie innerhalb solcher Gemeinden geleistet, in denen koreanische Auslandsstudierende und koreanische Geschäftsleute neben koreanischen Migranten der ersten, zweiten und dritten Generation einen signifikanten Anteil der Mitglieder stellen. Die Studierenden und Geschäftsleute werden durch die Gemeinde darin unterstützt, für ihre Aufenthalte temporäre Wohnungen zu finden, Amtsgänge durchzuführen, ihr Studium zu organisieren – so wird z.B. beim Korrekturlesen von Hausarbeiten geholfen – oder Post in die Heimat zu verschicken. Einige Familien mit koreanischem Migrationshintergrund erklären sich auch bereit, koreanische Studierende aufzunehmen oder leisten Umzugshilfe. Koreaner der zweiten oder dritten Generation haben an einigen deutschen Universitäten im Ruhrgebiet christliche Studierendengruppen gebildet und fungieren auf diese Weise als Kontaktstelle für koreanische Auslandsstudierende. Manche Gemeinden führen auf ihren Homepages wichtige Kontaktadressen von Universitäten oder Ämtern auf und stellen landeskundliche Informationen über Deutschland zur Verfügung (Wissenstransfer). Zudem ist in einigen größeren reformierten koreanischen Gemeinden zu beobachten, dass sie soziale Dienste zunehmend auch außerreligiös anbieten. Dazu gehören etwa Musikaufführungen in Hospizen, Krankenhäusern und Altenheimen, Obdachlosenhilfe an Heiligabend oder Armenspeisungen und Chorauftritte bei lokalen kulturellen Ereignissen. Die sozialen Dienste, die sich nach außen richten, sind jedoch eher punktuell bei solchen Gemeinden zu beobachten, die auf entsprechende Spendensummen zurückgreifen können oder deren Mitglieder

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sich aus sozialethischen Gründen über die Gemeindegrenzen hinweg zivilgesellschaftlich engagieren wollen. Es kann festgehalten werden, dass die inter- und außerreligiösen Angebote und Netzwerke bei allen koreanischen Migrationskirchen weniger ausgeprägt sind als innerreligiöse oder intrareligiöse Beziehungen. Sie kooperieren selten bis gar nicht mit nichtchristlichen Gemeinschaften und unterhalten nur wenige Kontakte zu außerreligiösen Einrichtungen. Entsprechend werden sie außerhalb christlich ökumenischer Netzwerke auch selten wahrgenommen. So bleiben beispielsweise Grußworte eines Oberbürgermeisters zur Jubiläumsfeier des 40-jährigen Bestehens einer lokalen koreanischen Migrationskirche die Ausnahme. Die Kontaktaufnahme geht dabei aber eher von den koreanischen Migrationskirchen aus, wobei die meisten Gemeindeverantwortlichen berichteten, kaum Kontakt zu Vertretern ihrer Stadt zu haben. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass die koreanischen Gemeinden zwar inner- und intrareligiös gut vernetzt sind, aber beispielsweise nicht an interreligiösen Dialogveranstaltungen beteiligt sind. Dadurch, dass sie als kleine Migrationskirchen im Verhältnis zu anderen Immigrantengruppen in der Öffentlichkeit weniger wahrgenommen werden, konnte keine öffentliche Fürsprache von Seiten außerreligiöser Akteure und Institutionen beobachtet werden. Allerdings sind die evangelischen Landeskirchen, der BFP und die ACK daran interessiert, Kontakte im Rahmen der Ökumene zu koreanischen Migrantenkirchen zu pflegen.

E INFLUSSFAKTOREN Im Folgenden werden die maßgeblichen Einflussfaktoren erörtert, die hinter dem aktuellen Beziehungsspektrum koreanischer Migrationskirchen in Deutschland stehen. Ein zentraler interner Einflussfaktor ist der demographische Wandel der Mitgliederstrukturen, der in einem Generationswechsel sichtbar wird. Er geht einher mit einer Veränderung der kulturellen Orientierungen und der ökonomischen sowie sozialen Verhältnisse der Mitglieder. Ein weiterer interner Faktor ergibt sich zweifellos aus den theologischen Selbstverständnissen der verschiedenen koreanischen Migrantenkirchen und ihrem Wandel im Migrationskontext. Und schließlich können diverse Veränderungen des sozialen Kontextes als externe Einflüsse ausgemacht werden. Als einer der wichtigsten internen Einflussfaktoren kann der demographische Wandel gelten, der sich v.a. in Form eines Generationswechsels in den Gemeinden zum Ausdruck kommt. Er hat direkte Auswirkungen auf die materiellen und immateriellen Ressourcen der Gemeinden. Die Mitglieder der ersten Generation

90 | S ABRINA W EISS treten ins Rentenalter ein und können sich nicht mehr im gleichen Maße wie in der Vergangenheit finanziell wie auch sozial für ihre Gemeinde engagieren. Gleichzeitig sind in der Vergangenheit bei fast allen koreanischen Migrationskirchen die Mitgliederzahlen der zweiten und dritten Generation stagnierend bis rückläufig. Die jüngeren Mitglieder engagieren sich nicht im gleichen Maße, sind weggezogen oder leben ihren Glauben nicht mehr aktiv unter dem Dach der Gemeinde aus. Dies hat zur Folge, dass die Spenden- und Kollektenbeiträge zurückgehen. Die Gemeinden, die in Universitätsnähe liegen, wie z.B. in Aachen, Köln, Düsseldorf, Essen, Bochum und Dortmund, weisen durch die koreanischen Auslandsstudierenden und Geschäftsleute hingegen eine heterogenere und demographisch ausgeglichene Mitgliedsstruktur auf. Die Zahl der Auslandsstudierenden und Geschäftsleute kann in einigen Gemeinden die Anzahl der Mitglieder der zweiten und dritten Generation übersteigen. Dadurch kommt es zu Verschiebungen der Bedürfnislagen, die sich z.B. in der Frage der Umgangssprache bei den Jugendangeboten niederschlagen. Jedoch können sich gerade die koreanischen Auslandsstudierenden finanziell häufig nicht ausreichend einbringen, engagieren sich aber in starkem Maße in den Gemeindeaktivitäten. Die finanzielle Abhängigkeit der Gemeinden von der Spendenbereitschaft der Mitglieder und damit einhergehende Einschränkungen wirken sich direkt auf den Ressourcenhaushalt der Gemeinden aus. Sie sind auf günstige Mietverhältnisse und das unentgeltliche und ehrenamtliche Engagement ihrer Mitglieder angewiesen. In den vergangenen Jahrzehnten hat im Zusammenhang mit dem Generationswechsel und damit einhergehender Akkulturation der Mitglieder eine Verschiebung im Spendenverhalten dahingehend stattgefunden, dass eine Veränderung in den Spendenzielen, Spendenarten und Spendengründen zu beobachten ist.12 In den ersten Jahrzehnten nach der Einwanderung überwiesen die koreanischen Arbeitsmigranten noch regelmäßig Geld an Familien und Angehörige in

12 Mata und McRae (2000) nehmen an, dass Migranten ein kultur- und herkunftsspezifisches Spendenverhalten aufweisen und dieses an Folgegenerationen weitergeben. Zu Beginn spenden sie v.a. für Familien in den Herkunftsländern. Darauf folgt eine Phase, in der sich das wohltätige Verhalten auf Menschen derselben ethnischen Community oder Organisationen mit Bezug zum Herkunftsland ausweitet. Die dritte Phase ist gekennzeichnet durch eine Ausweitung der sozioökonomischen Handlungsspielräume und eine stärkere Orientierung auf das Aufnahmeland. In dieser Phase sind Spenden nicht mehr alleinig auf die eigene Immigrantengruppe beschränkt, sondern umfasst nun auch Spenden für säkulare Organisationen der Aufnahmegesellschaft (vgl. Mata/McRae 2000: 207f.).

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Korea. Durch den schnellen wirtschaftlichen Aufschwung Südkoreas in den vergangenen Jahrzehnten, dem gleichzeitigen erfolgreichen Wachstum der Kirchen in Korea und deren aktiven Missionseinsätzen in Afrika, Südostasien und Europa besteht für die koreanischen Gemeinden und ihre Mitglieder in Deutschland indes kein zwingender Grund mehr, ihre Spenden koreanischen Projekten oder den Familien zugutekommen zu lassen. Eine Ausnahme bilden Spenden, die für Projekte in Nordkorea oder nordkoreanische Flüchtlinge aufgebracht werden. Ein weiterer wichtiger interner Einflussfaktor, der für die inner- wie intrareligiösen Angebote und die Vernetzungen eine Rolle spielt, liegt im theologischen Selbstverständnis der koreanischen Migrantengemeinden. In Bezug auf die Formen und die Intensität des zivilgesellschaftlichen Engagements jenseits der eigenen Gemeinde sowie die Teilnahme der Gemeinden am öffentlichen Leben wird es ebenfalls wirksam. Das theologische Selbstverständnis stellt sozusagen die sozialethische Triebfeder für religiös motiviertes, soziales Handeln dar – sei es in Form von direkter oder indirekter Mission mittels Armenspeisungen und Chorauftritten in Altenheimen und Krankenhäusern in Deutschland oder Spendenprojekten im In- und Ausland, die häufig an christliche Träger gerichtet sind. Das zivilgesellschaftliche Engagement richtet sich in erster Linie an die eigene ethnische Community und beinhaltet vornehmlich die Unterstützung von koreanischen Auslandsstudierenden. Dabei lässt sich ein ethno-religiöser Partikularismus ausmachen. Lediglich die koreanischen Pfingstgemeinden tendieren in der Ausrichtung ihres sozioreligiösen Engagements theologisch zu einer universellen Orientierung. So hat etwa eine koreanische Pfingstgemeinde ihren koreanischen Namen aufgegeben und verfolgt nunmehr das Ziel, Menschen mit unterschiedlichen nationalen Hintergründen und ähnlichem sozialen Status (wie z.B. Studierende) anzusprechen und zu missionieren. Sie weisen aufgrund ihres missionarischen Anspruchs eine stärkere Außenorientierung auf. Das theologische Selbstverständnis steht in direktem Zusammenhang mit externen Einflussfaktoren, wie den religionspolitischen Rahmenbedingungen und sozioökonomischen Faktoren in der deutschen Aufnahmegesellschaft. Mit Blick auf die Vernetzungen wird deutlich, dass die koreanischen Pastoren ihre Kooperation oder strategische Allianz mit anderen koreanischen Gemeinden, christlichen Landeskirchen, Freikirchen oder anderen christlichen Institutionen in erster Linie mit theologischer Nähe und konfessioneller Verwandtschaft begründen. Dabei sind die Beziehungen zwischen koreanischen Migrantenkirchen gleicher Konfession besonders ausgeprägt, weil sie sich sowohl kulturell als auch spirituell verbunden fühlen und weniger Hemmschwellen und Hürden in der Kooperation zu überwinden haben. In den Fällen, in denen mit evangelischen Landeskirchen, anderen Freikirchen oder dem BFP kooperiert wird – beispielsweise bei

92 | S ABRINA W EISS der Anmietung von Räumen, der Beschäftigung koreanischer Pastoren oder dem Austausch von Wissen zu Steuererklärungen oder Vereinsgründungen –, wird ebenfalls eine gemeinsame theologische Orientierung bevorzugt. Im konkreten Fall heißt das, dass koreanische Pfingstgemeinden mit dem deutschen BFP zusammenarbeiten, oder reformierte Koreaner mit den Landeskirchen der EKD. Die theologische Nähe beeinflusst insoweit die intrareligiöse Zusammenarbeit mit koreanischen Gemeinden anderer oder deutschen Gemeinden der gleichen Traditionslinie. Einige deutsche Gemeinden heben die gemeinsame Kirchennutzung und Zusammenarbeit mit den koreanischen Gemeinden auch positiv in öffentlichen Stellungnahmen hervor. So verweisen sie beispielsweise in Gemeindebriefen auf ein freundschaftliches Verhältnis oder die kulturelle Bereicherung für alle Gemeindemitglieder. Diese öffentliche Fürsprache dient nicht nur der Bekräftigung eines ökumenischen Verständnisses, sondern kann auch als Alleinstellungsmerkmal gegenüber Kirchenoberen kommuniziert werden. Von Seiten deutscher Gemeinden ist jedoch auch zu hören, dass sie trotz jahrelanger Kontakte zu den reformierten koreanischen Gemeinden, denen sie ihre Kirchen untervermieten, im Unklaren darüber sind, welcher christlichen Strömung diese genau angehörten. Dadurch, dass die koreanischen Pastoren häufig wechseln, müsste der Kontakt auch immer wieder aufs Neue hergestellt werden. Somit ist der intrareligiöse Kontakt trotz Übereinstimmungen im theologischen Selbstverständnis nicht frei von Herausforderungen. Weitere Einflussfaktoren sind religionsrechtliche Rahmenbedingungen sowie das evangelische organisationale Feld in Deutschland. Insbesondere die Pastoren koreanischer Pfingstgemeinden betonen, dass sie ihre strukturelle Unabhängigkeit von Kirchen vor Ort schätzen. Allerdings sind sie auf vertikale Beziehungen z.B. zum BFP angewiesen, weil dieser ihnen nicht nur theologisch näher steht, sondern Vorbehalte herrschen, von den evangelischen Landeskirchen vereinnahmt zu werden, wenn sie sich mit ihnen auf eine Kooperation einließen. Die juristische Anerkennung sowohl der evangelischen Landeskirchen als auch des BFP als Körperschaften des öffentlichen Rechts wird von den koreanischen Pfingstgemeinden als ein privilegierter Status wahrgenommen, von dem sie strukturell und symbolisch profitieren können. Dabei kann der prekäre Status kleinerer Migrationskirchen dazu führen, sich vorgegebenen Strukturen anzupassen, gerade dann, wenn die finanziellen Eigenleistungen nicht ausreichen und die Hilfe von evangelischen Landeskirchen oder freikirchlichen Dachverbänden in Anspruch genommen werden muss. Diese finanzielle Abhängigkeit von in Deutschland traditionell verwurzelten christlichen Institutionen wirkt sich auf die strukturelle Eigenständigkeit der koreanischen Gemeinden aus.

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Innerhalb der koreanischen Gemeinde gibt es zwar ein Bewusstsein für den Status als Migrationskirchen im Unterschied zu den einheimischen Landes- oder Freikirchen. Dass sie jedoch in öffentlichen Diskursen kaum Erwähnung finden, zu öffentlichen Einrichtungen kaum Kontakte unterhalten und an politischen Gelegenheitsstrukturen nicht partizipieren, liegt daran, dass sie quantitativ nicht so zahlreich wie andere Migrationsgruppen in Deutschland vertreten sind, als gut integriert gelten und ihre Religionszugehörigkeit von der Aufnahmegesellschaft nicht als fremd und somit integrationsbedürftig wahrgenommen wird. Die Mitwirkung an interreligiösen oder interkulturellen Veranstaltungen oder integrationspolitischen Organen wie Integrationsräten konnte entsprechend nicht beobachtet werden. Lediglich zu Jubiläumsveranstaltungen der koreanischen Gemeinden findet auch über offiziellere Kanäle wie Zeitungsberichten oder dem Grußwort des Bürgermeisters in einer Jubiläumsbeilage ein Kontakt zu außerreligiösen öffentlichen Institutionen statt. Unklar ist, inwieweit die koreanischen Migrationskirchen Einfluss auf die Koreapolitik Deutschlands oder politische Prozesse in Korea haben. Schließlich sind die zivilgesellschaftlichen Potentiale koreanischer Migrationskirchen eng verbunden mit ihren sozioökonomischen Handlungsspielräumen und der Rekrutierung geeigneter Geistlicher. Gerade kleinere Gemeinden konzentrieren sich in erster Linie auf die seelsorgerliche Fürsorge im unmittelbaren Mitgliederkreis. Ein Grund dafür ist, dass einige Gemeinden nach wie vor durch Pastoren aus Korea betreut werden, die mit einem expliziten seelsorgerlichen Auftrag für einen gewissen Zeitraum nach Deutschland kommen. Die hiesigen Strukturen und Bedürfnislagen in den Gemeinden sind ihnen nicht immer von vornherein bekannt. Zudem ist nach wie vor Koreanisch die primäre Umgangssprache. Zivilgesellschaftliches Engagement im außerreligiösen Bereich weisen v.a. große Gemeinden auf, die auf ausreichende Ressourcen zurückgreifen können, um strukturierte Angebote zu ermöglichen und über einen Pastor verfügen, der dieses Engagement unterstützt, anleitet und als eine christliche Kernaufgabe der Gemeindemitglieder erachtet. Die internen Herausforderungen, denen eine Gemeinde ausgesetzt ist (wie z.B. die Organisation des Gemeindelebens, finanzielle Abhängigkeiten, Mitgliederschwund und Personalmangel), erschweren oft genug die Mobilisierung der sozialen und materiellen Ressourcen, die für ein weiterreichendes zivilgesellschaftliches Engagement erforderlich wären.

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V ERGLEICH Der Vergleich koreanischer Migrationskirchen mit anderen religiösen Migrantengemeinden dieses Bandes lässt sich an verschiedenen Einflussfaktoren festmachen, namentlich am theologischen Selbstverständnis und damit verbundenen Grenzziehungsmechanismen, sozialstrukturellen Faktoren sowie öffentlichen Diskursen. Religiöse Grenzziehungen zu anderen Religionsgemeinschaften, die durch die spezifische christliche Identität koreanischer Gemeinden bedingt sind, beeinflussen die Vernetzungen wesentlich. Dies spiegelt sich beispielsweise in einem intrareligiösen Affinitätsdiskurs wider, den koreanische Migrationskirchen mit einheimischen Landeskirchen oder Freikirchen führen, wenn sie sich deren christlichen Lehren besonders nahe fühlen. Ein Beispiel dafür ist die koreanische Pfingstgemeinde, welche mit dem BFP kooperiert. Rhetorische Abgrenzungen auf interreligiöser Ebene konnten hingegen in Predigten beobachtet werden, die den Islam thematisieren, dem ein expansives Bestreben unterstellt und der deshalb als Konkurrenz wahrgenommen wird. In diesem Zusammenhang werden auch Bezüge zur Christenverfolgung in islamisch geprägten Ländern angeführt. Mit Blick auf die Paarbeziehungen koreanischer Christinnen zeigt sich deutlich, dass Eheschließungen mit deutschen Männern oder koreanischen Buddhisten akzeptiert werden, wobei einer rein christlichen Ehe der Vorzug gegeben wird, um den Kindern einheitliche religiöse Werte vermitteln zu können. Hier besteht ein Unterschied zum _Heiratsverhalten thäiländischer Buddhistinnen, die v.a. binationale Ehen in Deutschland eingehen (vgl. Ann-Kathrin Wolf). Ähnliche Tendenzen der religiös orientierten Partnerwahl lassen sich dagegen unter syrisch-orthodoxen Christen und Yeziden in Deutschland beobachten (vgl. Ulf Plessentin und Thorsten Wettich). Auffällig ist zudem die starke Binnenorientierung koreanischer Migrationskirchen im Kontrast zum regen inter- und außerreligiösen Engagement anderer religiöser Migrantengemeinden. Dies betrifft im besonderen Maße Fragen der politischen Einbindung und Mitwirkung. So zeigt sich in den anderen Beiträgen dieses Bandes, dass beispielsweise syrisch-orthodoxe Gemeinschaften aktiv auf politische Entscheidungsprozesse einwirken (vgl. Ulf Plessentin), tamilische Hindus aufgrund von Bürgerkriegserfahrungen sich politisch organisieren (vgl. Sandhya Marla-Küsters) und interreligiöse Initiativen v.a. in kommunalpolitische Prozesse und Kooperationen eingebunden sind (vgl. Nelly C. Schubert). Die koreanischen Migrantenkirchen setzen sich mitunter für die Demokratisierung und Wiedervereinigung Nord- und Südkoreas ein. Vor allem die Unterdrückung von Christen in Nordkorea wird kritisiert. Jedoch treten die koreanischen

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Migrantenkirchen mit diesen Anliegen in der Öffentlichkeit weniger prominent auf. In diesem Zusammenhang sind auch Unterschiede in der öffentlichen Wahrnehmung koreanischer Migrationskirchen seitens der Aufnahmegesellschaft zu beobachten. Anders als etwa muslimische Migranten gelten koreanische Christen gemeinhin als unauffällig und wohlintegriert. Dies gilt ebenso für thailändische Buddhisten (vgl. Ann-Kathrin Wolf) und sri-lankische Hindus (vgl. Sandhya Marla-Küsters). Die religiösen Praktiken dieser Gruppen, wie etwa bunte Tempelfeste oder Meditationspraktiken, werden medial allenfalls durch Exotisierungsdiskurse begleitet. Koreanische Migrantenkirchen werden dabei nicht zuletzt durch die gesellschaftlich etablierten religiösen Institutionen wie die Landeskirchen als evangelisch subsumiert und somit fraglos der christlichen Mehrheitsgesellschaft zugeordnet. Ihre strukturelle Anpassung in Form von Vereinen und ihre Einpassung in organisatorische Strukturen der einheimischen Kirchen begünstigt diesen Affinitätsdiskurs womöglich. Ein öffentlicher Gefährdungsdiskurs wie bei muslimischen Moscheevereinen (vgl. Piotr Suder) wird über koreanische Migrationskirchen nicht geführt. Obwohl koreanische Gemeinden ebenfalls in Verbänden organisiert sind, ist diese Entwicklung im Vergleich zu muslimischen Verbandsstrukturen unter anderen Voraussetzungen zustande gekommen. Während seitens der Aufnahmegesellschaft die Verbandsbildung von Muslimen in Deutschland eingefordert wurde, um Ansprechpartner und Adressaten für integrationspolitische Maßnahmen zu haben, entwickelte sich die Verbandsstruktur bei den koreanischen Migrantenkirchen ohne öffentlichen Druck und ist vielmehr als ein Forum intrareligiöser Interessenvertretung ohne besondere Außenwirkung zu verstehen. Der Vergleich macht deutlich, dass die Entfaltung der zivilgesellschaftlichen Potentiale in koreanischen Migrantenkirchen insbesondere von drei Aspekten abhängig ist: (1) von den materiellen und immateriellen Ressourcen, die jede koreanische Migrantenkirche aus eigener Kraft und durch das Engagement ihrer Mitglieder aufbringen kann, (2) von ihrem theologischen Selbstverständnis, welches maßgeblich sinnstiftend für die Aufnahme von Beziehungen ist sowie (3) von der Bereitschaft des gesellschaftlichen und organisationalen Umfeldes, die Beziehung zu koreanischen Migrantenkirchen als nützlich oder bereichernd wahrzunehmen.

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Die zivilgesellschaftlichen Potentiale mennonitischer Gemeinden russlanddeutscher Aussiedler F REDERIK E LWERT

H INTERGRUND Die Russlanddeutschen sind eine der größten Migrantengruppen in Deutschland. Als russlanddeutsche Aussiedler werden diejenigen Russlanddeutschen bezeichnet, die als „deutsche Volkszugehörige“ – so der Begriff des Bundesvertriebenengesetzes – aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen sind. Diejenigen, die seit 1993 nach Deutschland einwandern, werden im offiziellen Sprachgebrauch als Spätaussiedler bezeichnet.1 Bis heute sind etwa 2,3 Millionen Aussiedler aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland eingewandert.2 Trotz einiger punktuell aufflammender Diskussionen in der bundesdeutschen Öffentlichkeit, etwa über das Thema Kriminalität oder Integrationshilfen für Aussiedler, ist diese Migrantengruppe bislang vergleichsweise wenig beachtet worden und über ihren kulturellen und religiösen Hintergrund wenig bekannt. Als Nachfahren von Deutschen, die insbesondere im 18. Jahrhundert als Bauern und Siedler, aber auch als Handwerker in das Russische Reich emigriert sind, haben die Russlanddeutschen über mehrere Generationen eine Identität als deutsche Minderheit bewahrt (vgl. Fleischhauer 1986; Eisfeld 1992). Die Bedingungen ihrer Zuwanderung unterscheiden die Aussiedler von anderen Migrantengruppen. Nach dem Prinzip des ius sanguinis (lat.

1

Dieser Begriff wird etwa im Bundesvertriebenengesetz (BVFG) verwendet.

2

Quelle: Daten des Bundesverwaltungsamtes.

100 | FREDERIK ELWERT Recht des Blutes), das die Staatsbürgerschaft im Kern nicht über den Geburtsort, sondern über die Abstammung definiert, gelten Russlanddeutsche als Deutsche im Sinne von Artikel 116 des Grundgesetzes. Damit haben sie nach ihrer Einreise ein Anrecht auf die deutsche Staatsbürgerschaft – sie gelten somit nicht als Ausländer. Dies hat einerseits Konsequenzen für ihren rechtlichen Status, etwa in Bezug auf das Aufenthaltsrecht, und damit auch auf die Bedingungen ihrer Integration. Zahlreiche zusätzliche Integrationsförderungsmaßnahmen, wie etwa eine umfangreiche Sprachförderung oder die Anrechnung früherer Arbeitszeiten für die Rentenansprüche, sind jedoch mit der Zeit stark reduziert worden (vgl. Bommes 2000). Andererseits hat dies auch Auswirkungen auf die wissenschaftliche Erforschung der Aussiedlerintegration. Nicht nur ist seitens der Wissenschaft wie auch der Politik mit einer zügigen und weitgehend problemlosen Integration dieser zugewanderten Deutschen gerechnet worden, auch in den amtlichen Statistiken lassen sich die Aussiedler kaum von nicht zugewanderten Deutschen unterscheiden. Dies hat sich erst seit 2005 mit der Aufnahme des Migrationshintergrunds in den Mikrozensus geändert (vgl. Seifert 2008). Einige wenige Russlanddeutsche (unter 100.000) sind bereits während der 1970er und frühen 1980er Jahre in die Bundesrepublik eingewandert. Insgesamt waren die Möglichkeiten zur Ausreise jedoch durch die Reisebestimmungen der damaligen Sowjetunion stark begrenzt. Mit dem Ende der Sowjetunion sind die Zahlen seit Ende der 1980er Jahre indes stark angestiegen, auf bis über 200.000 Einwandernde pro Jahr Mitte der 1990er Jahre, so dass bis heute insgesamt etwa 2,3 Mio. Russlanddeutsche als Aussiedler eingewandert sind. Die Emigration aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, darunter insbesondere aus den zentralasiatischen Republiken Kasachstan und Kirgisistan, wurde zunehmend von Kettenmigration geprägt. Familien- und zum Teil Dorfverbände sind in einigen Fällen fast geschlossen ausgewandert. Dementsprechend kam es auch in Deutschland zu Siedlungsschwerpunkten, darunter etwa Ostwestfalen. Dies führte auf kommunaler Ebene zu einer erheblichen Ungleichverteilung: Während einige Gemeinden zunächst sehr vom Aussiedlerzuzug profitierten, sahen sich einige Kommunen durch die große Zahl an Zuzügen mit steigenden Belastungen konfrontiert (vgl. Thränhardt 2003). In Reaktion hierauf wurde 1996 das Wohnortzuweisungsgesetz verabschiedet. Es sieht vor, dass Aussiedler für eine bestimmte Zeit an einem zugewiesenen Wohnort verbleiben müssen. Andernfalls drohen Begrenzungen bei Sozialleistungen (vgl. Haug/Sauer 2007). Entgegen häufiger Annahmen gehört nur ein kleiner Teil der Russlanddeutschen der Russisch-Orthodoxen Kirche an. Als deutsche Minderheit haben die Russlanddeutschen überwiegend den lateinisch-christlichen Glauben ihrer Vorfahren beibehalten und gehören also den Kirchen evangelisch-lutherischen,

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evangelisch-reformierten und römisch-katholischen Bekenntnisses oder kleineren christlichen Gemeinschaften an. Im Laufe der russischen Geschichte sind sie sowohl aufgrund ihrer deutschen Nationalität als auch ihrer Religionszugehörigkeit immer wieder Ausgrenzungen und Repressionen ausgesetzt gewesen (vgl. Kahle 1992). Dies trifft insbesondere auf die Angehörigen der kleineren protestantischen Gemeinschaften zu, die eine zahlenmäßig bedeutende Minderheit bilden und verschiedenen Gemeinschaften aus dem freikirchlichen Spektrum angehören, z.B. den Mennoniten, Baptisten oder Pfingstgemeinden. Eine ebenfalls nicht zu vernachlässigende Gruppe der Russlanddeutschen gehört keiner Konfession an.3 Die Religionszugehörigkeit wurde grundsätzlich bei der Einreise erhoben. Allerdings orientierten sich die Antwortoptionen primär an den deutschen Großkirchen, so dass genaue Zahlen über die kleineren Konfessionen nicht verfügbar sind. Verschiedene Schätzungen gehen aber von ca. 10-20 Prozent aus. Einschließlich der zweiten oder dritten Generation können für das Jahr 2000 etwa 330.000 Mitglieder in freikirchlichen russlanddeutschen Aussiedlergemeinden angenommen werden (vgl. Henkel 2002: 115). Damit sind russlanddeutsche Aussiedler eine prägende Größe in der deutschen freikirchlichen Landschaft. Aussiedler haben sich dabei oftmals nicht bestehenden freikirchlichen Gemeinden angeschlossen, sondern eigene Gemeinschaften gegründet. Hierbei kommt einigen früh in Deutschland ansässig gewordenen Gemeinden eine Art Pionierfunktion zu, indem sie späteren Zuwanderern zunächst religiöse Dienste und anschließend Unterstützung beim Aufbau weiterer Gemeinden anboten. Im Fall der Mennoniten ist in diesem Zusammenhang etwa die Mennonitische Umsiedlerbetreuung (umbenannt in Aussiedler-Betreuungsdienst) zu nennen. Die Mennoniten spielen historisch eine besondere Rolle. Diese auf den friesischen Prediger Menno Simons zurückgehende Täuferbewegung kam im 18. Jahrhundert aufgrund ihrer Weigerung zum Wehrdienst in Konflikt mit dem preußischen Staat. Viele folgten daher der Einladung Katharinas der Großen, die Religionsfreiheit und eine Befreiung vom Wehrdienst zusicherte, und wanderten als Siedler nach Russland aus. Die Mennoniten bildeten in Russland eine ethnoreligiöse Gemeinschaft, die deutsches Brauchtum und religiöse Positionen pflegte. Ab Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Privilegien der Mennoniten zunehmend wieder aufgehoben. In der Folge der Gründung des Deutschen Reichs 1871 wurde den Mennoniten, ebenso wie deutschstämmigen Siedlern anderer

3

Konfessionslosigkeit und auch die Zugehörigkeit zur Russich-Orthodoxen Kirche werden erst seit 1998 im Rahmen des Einreiseverfahrens erhoben, genaue Zahlen liegen daher nicht vor.

102 | FREDERIK ELWERT Konfessionen, mit zunehmender Skepsis begegnet (vgl. Eisfeld 1992: 70). Diese Entwicklungen waren auch Anlass für die Emigration vieler Mennoniten aus Russland nach Nord- und Südamerika (vgl. Stricker 1993: 143f.). In der Folge der Weltkriege verschärften sich diese Ressentiments und mündeten schließlich in Umsiedlungen und Deportationen deutschstämmiger Kolonisten nach Sibirien und Kleinasien (vgl. Fleischhauer 1986: 507; Eisfeld 1992: 118f.; Klötzel 1999: 121). Um der Situation in Russland bzw. der UdSSR zu entgehen, wanderten Mennoniten in mehreren Migrationswellen in verschiedene Länder aus, u.a. nach Kanada und in lateinamerikanische Staaten. Die pietistisch geprägte Religiosität der protestantischen Russlanddeutschen zeichnet sich insbesondere durch den Stellenwert der individuellen Bekehrung, ein literalistisches Verständnis der Bibel und eine von den Normen der Gemeinschaft wie einer rigiden Sexualmoral und patriarchalen Gemeindeordnung geprägte religiöse Lebensführung aus (vgl. Theis 2006: 134-140; Vogelgesang 2006: 158; Bleick 2008: 105). Gerade in den freikirchlichen Gemeinden ist die Einbindung in die religiöse Gemeinschaft sehr umfassend: Neben den sonntäglichen Gottesdiensten, die von einem Großteil der Gemeindemitglieder besucht werden, gibt es eine Reihe von Aktivitäten unter der Woche, etwa Bibelkreise oder umfassende Angebote für Kinder und Jugendliche (vgl. Löneke 2000: 166). Damit sind die Religionsgemeinschaften gerade für die Jugendlichen prägende Sozialisationsinstanzen. Andere Freizeitangebote werden von ihnen oftmals zugunsten der Gemeindeaktivitäten nicht wahrgenommen. In der Forschung zur religiösen Vergemeinschaftung von russlanddeutschen Aussiedlern zeichnen sich zwei Hauptlinien ab. Einerseits gibt es ein Interesse seitens der praktischen Theologie, die religiösen Traditionen der Aussiedler zu verstehen (vgl. etwa Eyselein 2006; Theis 2006). Viele Aussiedler mit evangelisch-lutherischem oder evangelisch-reformiertem Hintergrund sind mit der Einwanderung nach Deutschland Mitglieder der evangelischen Landeskirchen geworden. Ihre religiöse Praxis in Russland war jedoch oftmals stark pietistisch geprägt und unterscheidet sich von der in den Landeskirchen. Aufgrund des Mangels an ausgebildeten Theologen haben oft Laien religiöse Funktionen übernommen. Die sich so über einige Jahrhunderte herausgebildeten religiösen Praxisformen lassen sich oftmals nicht ohne Weiteres in die gegenwärtige evangelische Gemeindepraxis integrieren. Eine große Meinungsverschiedenheit besteht etwa in der Frage der Frauenordination. Daraus erwächst seitens der praktischen Theologie ein Bedürfnis, mehr über die Geschichte und die religiösen Traditionen der Russlanddeutschen zu erfahren. Freikirchliche Gemeinschaften werden dabei in der Regel kaum beachtet, da ihre Gemeinden außerhalb der Landeskirchen existieren.

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Auf der anderen Seite liegen v.a. Beiträge aus soziologischer Perspektive vor (vgl. Ilyin 2006; Vogelgesang 2006; Stallberg 2008). Oftmals ist die Beschäftigung mit der Dimension religiöser Vergemeinschaftung dabei nicht Ausgangspunkt der Untersuchung, sondern Ergebnis der empirischen Arbeit (vgl. Vogelgesang 2006: 151). Aus religionswissenschaftlicher Sicht neigt diese ausschließlich sozialwissenschaftlich orientierte Forschung mitunter zu problematischen Einschätzungen mit Blick auf die konkrete Religionsausübung. Die für Soziologen häufig unerwartete Intensität der religiösen Glaubensüberzeugung ruft nicht selten Skepsis hervor und setzt freikirchliche Gemeinden so dem Generalverdacht aus, für die gesellschaftliche Integration ihrer Mitglieder hinderlich zu sein. Wertvoll, aber selten, sind daher Beiträge, die auf einer intensiven und kontinuierlichen Auseinandersetzung mit dem Milieu freikirchlicher Aussiedler fußen. Hier sind insbesondere die Arbeiten von Arne Schäfer zu nennen, die auf einer mehrmonatigen Feldforschung in einer russlanddeutschen Baptistengemeinde basieren (vgl. Schäfer 2008, 2010a, 2010b, 2012). Viele der freikirchlichen russlanddeutschen Gemeinschaften zeichnen sich auf den ersten Blick durch Gemeinsamkeiten in Geschichte, Theologie und ihrer Situation in Deutschland aus. Dennoch sind verallgemeinernde Aussagen nur schwer zu treffen. Gerade für Erklärungsansätze im Hinblick auf charakteristische Beziehungsmuster und ihre Entwicklung gilt es daher zu differenzieren. So ist ein zentraler historischer Identifikationspunkt der rund 200.000 in Deutschland lebenden mennonitischen Aussiedler die historische Herkunft ihrer Religionsgemeinschaft aus Friesland, so dass ethnische und religiöse Ursprünge sich hier verstärken und zur Bildung einer „ethno-konfessionellen Gemeinschaft“ (Müller 1992) beitragen. Im Gegensatz dazu hat sich der Baptismus erst später in Russland unter der deutschstämmigen, aber auch unter der russischen Bevölkerung, verbreitet. Aufgrund dieser und ähnlicher Unterschiede fokussiert die folgende Darstellung nur die zivilgesellschaftlichen Potentiale von mennonitischen Gemeinden russlanddeutscher Aussiedler. Die geschilderten Beobachtungen mögen teilweise auch bei der Beschäftigung mit den zivilgesellschaftlichen Potentialen anderer freikirchlicher Aussiedlergemeinschaften hilfreiche Anhaltspunkte bieten.

N ETZWERKE Auf den ersten Blick zeichnen sich russlanddeutsche Mennoniten nicht im besonderen Maße durch ihre breite Vernetzung aus. Wie andere Freikirchen auch

104 | FREDERIK ELWERT betonen sie in der Regel die Autonomie der lokalen Gemeinde. Entsprechend ist die Beziehungsarbeit primär nach innen gerichtet und findet zum größten Teil im innerreligiösen Kontext auf der Gemeindeebene statt. Die wenigsten russlanddeutschen Mennoniten haben sich der Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden in Deutschland (AMG) angeschlossen, die als Dachverband der deutschen Mennoniten gilt. Zwar gibt es eigenständige russlanddeutsche mennonitische Dachverbände wie die Arbeitsgemeinschaft zur geistlichen Unterstützung in Mennonitengemeinden (AGUM) oder die Arbeitsgemeinschaft der Mennonitischen Brüdergemeinden in Deutschland (AMBD), aber ihr Einfluss auf die lokalen Gemeinden ist zumeist eher gering. Historisch bedingt existiert eine Skepsis gegenüber zentralen Strukturen. Im intrareligiösen Kontext zeigt sich, dass der ökumenische Austausch nur einen geringen Stellenwert besitzt und kaum Vernetzungen zu christlichen Freikirchen anderer Tradition oder zu den Amtskirchen bestehen. Angesichts durchaus vorhandener theologischer Bezugspunkte zwischen den unterschiedlichen christlichen Traditionslinien spricht Gerhard Bleick daher von der „Kunst der Nichtwahrnehmung“ (Bleick 2008). Auch im interreligiösen Kontext sind keine nennenswerten Vernetzungen bekannt, anderen Religionen stehen freikirchliche Aussiedler oft distanziert gegenüber. Ebenso sind Beziehungen zu außerreligiösen Institutionen nur geringfügig ausgeprägt. Ein Großteil der regelmäßigen Angebote ist innerreligiös und richtet sich an die eigenen Gemeindemitglieder. Vor allem im Bereich der Jugendarbeit gibt es dabei in den meisten Gemeinden ein umfassendes Angebot an sozialen Diensten, das von Kleinkinder- bis hin zu Jugendgruppen reicht. Diese Angebote sind, anders als etwa der Konfirmandenunterricht in Gemeinden der Landeskirchen, nicht auf bestimmte Phasen der Jugend beschränkt, sondern bedienen durchgehend jede in der Gemeinde vertretene Altersstufe bis zum Erwachsenenalter. Der Übertritt in den Erwachsenenstatus und damit der Austritt aus der Jugendgruppe erfolgt in der Regel über die Taufe, die als Erwachsenentaufe praktiziert wird. In vielen Fällen ist dieses Alter (um das zwanzigste Lebensjahr) auch der Zeitpunkt der Verlobung; das Heiratsalter in den Gemeinden ist dementsprechend vergleichsweise niedrig. Dadurch ergibt sich idealtypisch eine durchgehende Einbindung der Kinder und Jugendlichen bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie selbst eine Familie gründen. Die Angebote für Kinder und Jugendliche beschränken sich dabei nicht auf Unterweisung als Form des klassischen religiösen Wissenstransfers, sondern umfassen auch säkulare Formen der Wissensvermittlung, die teilweise geschlechtergetrennt stattfinden. Dazu gehören etwa handwerkliche Tätigkeiten für Jungen sowie Hand- bzw. Textilarbeit für Mädchen. Diese Angebote sind mehr

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oder weniger ausdrücklich als Ersatz für Angebote der Mehrheitsgesellschaft konzipiert. Insbesondere die Teilnahme an Sportangeboten lokaler Sportvereine gilt aufgrund der häufigen sonntäglichen Aktivitäten, etwa in Form von Turnieren, als kaum vereinbar mit dem religiösen Wochenrhythmus. Vereinssport, z.B. Fußball, erscheint daher aus der Sicht der Mennoniten als Hindernis für die Mitwirkung an den religiösen Aktivitäten der Gemeinde. In der Folge findet auch ein Großteil der Freizeitkontakte innerhalb der eigenen Glaubensgemeinschaft statt. Die freikirchlichen Gemeinden finanzieren sich ausschließlich durch Beiträge ihrer Mitglieder. Dies begründet einen intensiven Transfer von Geld und Gütern von Mitgliedern an die Gemeinde. Die Gemeinden sind sowohl auf Geldspenden als auch auf die ehrenamtliche Mitarbeit ihrer Mitglieder angewiesen. Mennonitische Aussiedlergemeinden verfügen in der Regel nicht über hauptamtliche Pastoren, geistliche Aufgaben wie die Seelsorge werden von den erwachsenen, getauften Mitgliedern übernommen. Leitungsaufgaben ebenso wie das Predigtamt sind dabei Männern vorbehalten, Frauen sind klassischer Weise eher etwa in der Kinder- und Jugendarbeit engagiert. Ein besonders anschaulicher Ausdruck des Selbstorganisations- und Mobilisierungspotentials der Gemeinden ist der Bau von Gemeindehäusern. Unter dem Dach dieser Häuser befinden sich kirchenähnliche Gemeindesäle, die für den Gottesdienst genutzt werden, aber auch andere Räumlichkeiten etwa für Bibelkreise, Jugendarbeit, administrative Tätigkeiten oder festliche Aktivitäten wie Hochzeiten. Angesichts von Wachstum und Neugründungen sind mennonitische Aussiedlergemeinden immer wieder auf neue Räumlichkeiten angewiesen gewesen. In vielen Fällen haben Gemeinden dann günstiges Bauland oder bestehende Gebäude erworben, oftmals außerhalb der Stadtzentren. Der Bau bzw. Ausbau der Gemeindehäuser ist dann nicht nur durch finanzielle Beiträge aus der Gemeinde realisiert worden (Transfer von Geld), sondern v.a. auch durch die tatkräftige Mitwirkung der Mitglieder (soziale Dienste). Dabei profitieren die Gemeinden davon, dass viele ihrer Mitglieder handwerkliche Berufe erlernt haben. Praktische Hilfe, wie sie in sozialen Diensten vorkommt, ist dabei nicht auf den Austausch zwischen Mitgliedern und Gemeinde beschränkt, sondern ermöglicht auch einen regen Austausch zwischen den Mitgliedern. So können Gemeindeangehörige auch beim Bau von Privathäusern mit tatkräftiger handwerklicher Unterstützung rechnen. Nicht zuletzt aufgrund der zumeist hohen Kinderzahl kommt es häufig vor, dass Familien eher in preisgünstiger Lage bauen als in den Stadtzentren Wohnungen zu mieten. Aber auch bei großen Feierlichkeiten, insbesondere bei Hochzeiten, ist es der Regelfall, dass die gesamte Gemeinde mitwirkt und etwa kocht, spült, auf- und abbaut. Arbeitskraft steht den Gemeinde-

106 | FREDERIK ELWERT mitgliedern über die Gemeinde daher in großem Umfang zur Verfügung und ermöglicht signifikante finanzielle Einsparungen. Sie kann daher fast als Alternativwährung in der Binnenökonomie der Aussiedlergemeinden bezeichnet werden. Gelegentlich kommt auch eine direkte finanzielle Unterstützung von Mitgliedern durch die Gemeinde vor. Diese Form des innerreligiösen Geldtransfers lässt sich etwa beobachten, wenn Gemeindemitglieder in einer bestimmten Funktion (z.B. als Reinigungskräfte) angestellt und so indirekt von den anderen Mitgliedern bezahlt werden. Eine weitere Form finanzieller Unterstützung besteht in der Übernahme von Kosten für theologische Fortbildungen für einzelne Gemeindemitglieder. Auf diese Weise dienen die Mitgliederbeiträge nicht nur dem laufenden Betrieb der Gemeinde, sondern auch als informeller Solidar- und Investitionsfonds, über den Gemeindemitglieder Unterstützung erhalten können. Auf den zweiten Blick lassen sich einige Beziehungen beobachten, die über den Rahmen der Ortsgemeinden hinausgehen. Die überregionale Vernetzung mennonitischer Gemeinden beruht insbesondere auf Verwandtschaftsbeziehungen und Bildungseinrichtungen. Verwandtschaftsbeziehungen können Brücken zwischen verschiedenen Gemeinden schlagen, etwa wenn Familienmitglieder die Gemeinde wechseln. Hierüber werden auch Kontakte über räumliche Distanzen hinweg aufrechterhalten und gepflegt. Im Zuge der Wohnortzuweisung wurden Familien teilweise in unterschiedlichen Bundesländern angesiedelt. Die Verwandtschaftsbeziehungen bleiben dabei in vielen Fällen nicht auf die individuelle familiäre Ebene begrenzt, sondern sind auch eine wichtige Quelle für Verbindungen zwischen den Gemeinden. Dies gilt auch für die transnationale Kontaktpflege. Aufgrund der Migrationsgeschichte der Mennoniten bilden sie eine transnationale Diaspora. Es bestehen grenzüberschreitende Netzwerke etwa zwischen Deutschland, Paraguay und Kanada. Viele Gemeinden pflegen Kontakte etwa nach Nord- und Südamerika, viele Mitglieder haben verwandtschaftliche Beziehungen in andere Länder. Diese transnationalen Netzwerke werden etwa für wechselseitige Besuche, den Austausch von Predigern oder längere Auslandsaufenthalte genutzt und werden auch im Fall einer geplanten vorübergehenden oder dauerhaften Migration aktiviert. Aber auch nach Russland und in andere Länder der ehemaligen Sowjetunion bestehen weiterhin Kontakte. Während dort aufgrund des hohen Migrationsdrucks kaum noch deutsche Mennonitengemeinden bestehen, sind die Herkunftsländer der Aussiedler oftmals Ziel von Wohltätigkeitsprojekten. So sammeln viele Gemeinden Lebensmittel und Kleidung, um sie Bedürftigen in Ländern Osteuropas und Zentralasiens zukommen zu lassen. Diese Transfers von Geld und Gütern sind mittlerweile teilweise stark institutionalisiert. So besteht etwa mit dem

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Christlichen Hilfswerk TABEA ein eingetragener Verein, der intensive Kontakte zu verschiedenen Aussiedlergemeinden pflegt. Mitglieder aus russlanddeutschen Gemeinden unterstützen das Hilfswerk durch ehrenamtliche Mitarbeit (soziale Dienste) und Sachspenden (Transfer von Gütern). Mit der Wohltätigkeitsarbeit wird dabei zugleich ein missionarisches Anliegen verbunden, die Hilfsaktionen gehen mit religiöser Werbung einher. Fallgeschichte Die Mennonitische Umsiedlerbetreuung (umbenannt in Aussiedler-Betreuungsdienst) kann als ein weiterer sozialer Dienst angesehen werden. Ihr langjähriger Leiter, Hans Niessen, ist selbst in Russland geboren, hat in Paraguay als Lehrer und Prediger gearbeitet und ist in den 1970er Jahren nach Deutschland gekommen (vgl. Reger 2001: 13). Die als Umsiedlerbetreuung gegründete Institution hatte zunächst die Betreuung der aus Lateinamerika nach Deutschland zuwandernden Mennoniten zum Ziel. Mit dem Anstieg der Zuwandererzahlen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nahm sich der Dienst auch dieser Zuwanderergruppe an und unterstützte sie bei der Vermittlung in bestehende Gemeinden, aber auch bei der Gründung eigener Gemeinden (vgl. Löneke 2000: 64-66). Die Russlandmennoniten, die ab Ende der 1980er Jahre mit anderen Aussiedlern nach Deutschland kamen, fanden so bereits eine gewisse religiöse Infrastruktur vor, auf deren Dienste sie zurückgreifen konnten. Eine zweite Quelle für Beziehungen über die Herkunftsgemeinde hinaus sind insbesondere Bildungseinrichtungen, die wie Bibelschulen oder theologische Akademien einen religiösen Wissenstransfer organisieren. Diese Einrichtungen, wie etwa das Bibelseminar Bonn oder die Freie Theologische Fachschule Breckerfeld, teilen zwar in der Regel eine evangelikale Grundausrichtung, sind aber überkonfessionell ausgerichtet. Dadurch bieten sie russlanddeutschen Mennoniten, die an einer dieser Einrichtungen ein Theologiestudium absolvieren, eine Gelegenheit, mit Angehörigen anderer freikirchlicher Traditionslinien in Kontakt zu kommen. Die Annahme geteilter religiöser Grundüberzeugungen erleichtert dabei den intrareligiösen Austausch und den Kontakt zu Nichtaussiedlern. Im Kontext dieser religiösen Einrichtungen sind die Russlanddeutschen dem Rechtfertigungsdruck für ihre religiösen Überzeugungen und Praktiken entzogen, den sie ansonsten häufig im Kontakt mit Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft erleben. Zugleich erfahren sie im Rahmen des evangelikalen Spektrums ein gewis-

108 | FREDERIK ELWERT ses Maß an theologischer Vielfalt. In Verbindung mit dem Erwerb theologischer Qualifikationen erlaubt ihnen dies, einige Elemente der Theologie und Praxis, die sie aus den Heimatgemeinden kennen, mit größerer Distanz zu betrachten und kritisch zu hinterfragen. Auffällig ist, dass die russlanddeutschen Mennoniten keine nennenswerte Vernetzung im interreligiösen Bereich aufweisen. Für den außerreligiösen Kontext fällt auf, dass Kontakte zur Mehrheitsgesellschaft außerhalb der Gemeinden auf individueller Ebene v.a. über die Schule und den Arbeitsplatz vermittelt stattfinden. Dabei ist zu beobachten, dass insbesondere die staatlichen Schulen von Teilen der russlanddeutschen Mennoniten als potentielle Quellen religiös unerwünschten Gedankenguts gesehen werden. In einigen Regionen haben Russlanddeutsche eigene Bekenntnisschulen gegründet (vgl. Schäfer 2010b: 124). Nicht bei allen Russlanddeutschen stößt diese Tendenz zu einer starken institutionellen Autonomie auf Zustimmung. In Interviews äußerten gerade junge Aussiedler, dass sie einen Besuch der staatlichen Regelschulen bevorzugten. Die Kontakte über Schule und Arbeitsplatz sind dabei Teil der jeweils individuellen Lebenswirklichkeit und nicht institutionell verankert. Über den religiösen Kontext vermittelt bestehen Kontakte zur Mehrheitsgesellschaft insbesondere über das ehrenamtliche Engagement. Dabei sind die Übergänge zwischen christlich motiviertem Ehrenamt und auf Mission ausgerichteten Aktivitäten im Einzelfall fließend. Auch im Selbstverständnis wird diese Unterscheidung kaum getroffen. So werden einerseits etwa im Rahmen von Sportangeboten für Jugendliche oder bei ehrenamtlicher Mitarbeit im Strafvollzug auch Glaubensfragen thematisiert. Andererseits werden etwa musikalisch unterstützte Missionsveranstaltungen im öffentlichen Raum auch als sozialer Dienst verstanden, die Verbreitung des christlichen Glaubens wird hier durchaus als Beitrag zur allgemeinen Wohlfahrt verstanden. Die Missionsveranstaltungen sind dabei in ihrer Zielrichtung nicht nur nach außen gerichtet, auf die Mehrheitsgesellschaft hin, sondern ebenso nach innen, auf die eigene Gemeinschaft. Die Funktion der Mission ist nicht zwingend primär der Gewinn neuer Mitglieder – der über Missionsveranstaltungen im öffentlichen Raum auch nur begrenzt stattfindet –, sondern zumindest ebenso das öffentliche Bekenntnis der eigenen festen Glaubensüberzeugung. Mission spielt damit eine wichtige Rolle in der religiösen Sozialisation der eigenen Jugendlichen und wirkt damit stärker auf die Stabilisierung der Gemeinschaft als auf ihr Wachstums durch Neumitglieder.

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E INFLUSSFAKTOREN Bei der Betrachtung des Beziehungsspektrums russlanddeutscher Mennoniten fällt eine sehr starke Binnenorientierung auf. Über Schule und Beruf bestehen aber in der Regel Kontakte zur Mehrheitsgesellschaft, von einer vollständigen Schließung gegenüber der Aufnahmegesellschaft kann daher nur in einigen wenigen Fällen die Rede sein. Der Großteil der Vernetzungen und Angebote bezieht sich allerdings auf die Mitglieder der eigenen Glaubensgemeinschaft. Die wesentlichen Einflussfaktoren hierfür sind in einer Kombination aus theologischem Selbstverständnis und historischer Erfahrung zu suchen. Ein Grundmotiv mennonitischer Frömmigkeit ist die konsequente Befolgung der als verbindlich erachteten religiösen Gebote, auch unter widrigen Umständen. Da zum theologischen Selbstverständnis auch Gewaltlosigkeit – und damit die Ablehnung des Wehrdienstes – sowie die Verweigerung des Eides zählen, kamen die Mennoniten im ausgehenden 18. Jahrhundert zunehmend in Konflikt mit dem preußischen Staat. Das Mennonitenedikt von 1789 knüpfte den Landerwerb an den Wehrdienst und traf die hauptsächlich von Landwirtschaft lebenden Mennoniten hart (vgl. Fleischhauer 1986: 113). Viele Mennoniten zogen die Auswanderung Kompromissen in der Lebensführung vor. Die Einladungen Katharinas II., die Siedler insbesondere für die Schwarzmeerregion Neurussland suchte und neben anderen Privilegien Religionsfreiheit und die Befreiung vom Wehrdienst versprach, stießen daher unter Mennoniten auf großen Zuspruch (vgl. Brandes 1992: 17). Entgegen dem Bild einer in der Fremde konservierten Frömmigkeit, die im Vergleich zur theologischen und gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland stehen geblieben sei (vgl. Ruttmann 1996: 23), waren die zweihundert Jahre mennonitischer Geschichte in Russland von starken Veränderungen geprägt. Im innerreligiösen Kontext zählt hierzu insbesondere eine Phase religiöser Innovation in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in der sich unter dem Eindruck zunehmender Missionserfolge von Baptisten und anderen religiösen Bewegungen auch die Mennonitengemeinden transformierten. Eine wachsende „Kritik an Verhärtungen in den Gemeinden, an einem Gewohnheitschristentum“ (Kahle 1992: 196) führte zur Abspaltung der pietistisch geprägten Mennoniten-Brüder von den kirchlichen Mennonitengemeinden. Die sich in der Folge herausbildenden theologischen Grundpositionen russlanddeutscher Gemeinschaften wie die Betonung der individuellen Bekehrung, die sich in der Erwachsenentaufe widerspiegelt, und einer persönlichen Gottesbeziehung gehen mit hohen Ansprüchen an die Lebensführung einher. Dies hat ein Bewusstsein der eigenen Gemeinschaft als

110 | FREDERIK ELWERT „rechtgläubig“ in Abgrenzung von einer in religiöser Hinsicht kritisch betrachteten Umwelt zur Konsequenz. Aber auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Entwicklungen hatten entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der deutschstämmigen Mennoniten in Russland. Gegenüber anderen deutschstämmigen Gemeinschaften haben die Mennoniten auf einer Unterscheidung von Religion und Nationalität bestanden. So distanzierten sie sich von politisch-nationalen Tendenzen anderer russlanddeutscher Gruppen und lehnten eine Bezeichnung als „russische Bürger deutscher Herkunft“ – auch unter Verweis auf den niederländischen Ursprung der Mennoniten – ab (vgl. Fleischhauer 1986: 552). Mennonitische Aussiedler knüpfen teilweise an diese Selbstpositionierung an, die das eigene Bekenntnis über die kulturell-nationale Zugehörigkeit stellt. Dies erlaubt ihnen, in einer kulturell als fremd wahrgenommen Gesellschaft in der eigenen Religion einen stabilen Bezugsrahmen für die eigene Identität zu finden. Zugleich stellt es jedoch auch die eigene, als zeit- und kulturunabhängig verstandene Religiosität über das Bestreben einer kulturellen Adaption. Nicht nur aufgrund ihrer deutschen Abstammung, sondern auch als Religionsgemeinschaft waren die Mennoniten mit den politischen Rahmenbedingungen in der UdSSR konfrontiert: So waren offiziell nur Gemeinden zugelassen, die im sowjetischen Allunionsrat der Evangeliumschristen-Baptisten registriert waren – allein ihnen war es vorbehalten, Kirchen und Bethäuser zu errichten. Während einige Gemeinden diese Registrierung vollzogen, um die Bedingungen für das Gemeindeleben und ihrer Mitglieder zu verbessern, lehnten andere diesen Schritt als staatliche Einmischung in religiöse Angelegenheiten grundsätzlich ab (vgl. Kahle 1992: 197). Diese schwierige Auseinandersetzung mit Fragen staatlicher Kontrolle und der Einordnung in staatliche Ordnungssysteme hat zu tiefen Gräben innerhalb der russlanddeutschen Gemeinschaft geführt, die teilweise bis heute fortwirken (vgl. Bleick 2008: 110). Gerade diejenigen, die sich der Registrierung verweigerten, nahmen staatliche Repressionen in Kauf, sahen sich in der Folge aber auch als die wahren Gläubigen, die in ihrer Religionsausübung keine Kompromisse eingegangen sind (vgl. Müller 1992: 14). Aber auch diejenigen, die sich in die staatlichen Dachorganisationen einfügten, sahen dies eher als notwendiges Übel. Diese historische Erfahrung, zusammen mit der theologischen Betonung der Gemeindeautonomie, hat zu einer Skepsis gegenüber zentralen Dachorganisationen geführt. Dies hat bis heute die Folge, dass viele russlanddeutsche Gemeinden zurückhaltend sind, was den Aufbau übergeordneter Strukturen und Kooperationen anbelangt. Diese Faktoren, eine Kompromisslosigkeit in Fragen der religiösen Lebensführung, die sich aus dem theologischen Selbstverständnis herleiten lässt und

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sich auch in der Migrationsgeschichte der Mennoniten widerspiegelt, die unter dem Sowjetregime erfahrenen Repressionen sowie die Auseinandersetzung über das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinde sind wohl als zentrale Einflussgrößen zu sehen, um die nach innen gerichtete Ausrichtung der russlanddeutschen Mennonitengemeinden in Deutschland und die geringe Ausprägung von interreligiösen und außerreligiösen Vernetzungen zu verstehen. Wie im geschichtlichen Verlauf in unterschiedlichen Siedlungsgebieten sichtbar, befinden sich die russlanddeutschen Mennoniten auch in der Bundesrepublik in einer Minderheitenposition. Die soziokulturellen Rahmenbedingungen sind insoweit über den Migrationsprozess hinweg weitgehend konstant geblieben. Die eigene, durchaus transnational verstandene, ethno-religiöse Gemeinschaft wird von vielen als stabiler Pol im Kontrast zu einer potentiell feindlichen Umwelt gesehen. Während in der Sowjetunion v.a. die äußeren Restriktionen zum Problem wurden, nehmen nun viele Mennoniten in Deutschland die umfassenden gesellschaftlichen Freiheiten als Bedrohung wahr, gegen die sie den Zusammenhalt der eigenen Gemeinschaft sicherstellen wollen. Der Umgang mit der Minderheitensituation ist schon seit der Entstehung dieser christlichen Traditionslinie in ihrem theologischen Selbstverständnis verankert. Die Binnenorganisation wurde beibehalten, das stark durch Ehrenamt und Laienpredigt geprägte Gemeindeleben besteht fort.

V ERGLEICH Als Migrantengruppe freikirchlich-evangelikaler Ausrichtung liegt ein Vergleich der russlanddeutschen Mennoniten mit anderen protestantischen Migrantengruppen wie etwa den koreanischen Gemeinden nahe (vgl. Sabrina Weiß). Obwohl sich im theologischen Verständnis und der Gemeindestruktur durchaus Parallelen feststellen lassen, liegt ein entscheidender Unterschied im Bezug zum Herkunftsland. Während gerade für die koreanischen Christen Korea ein wichtiger kultureller und politischer Bezugspunkt bleibt, der etwa über den Zuzug koreanischer Pastoren oder Auslandsstudierender fortlaufend aktualisiert wird, spielt Russland für die Mennoniten allenfalls im kollektiven Gedächtnis, nicht aber als Identität stiftender Referenzpunkt eine Rolle. Auch im Generationenverhältnis deuten sich Unterschiede an, obgleich diese aufgrund der unterschiedlichen Migrationskonjunkturen mit Vorsicht betrachtet werden müssen: Während der Höhepunkt etwa der koreanischen Immigration in den 1960er und 1970er Jahren lag, sind die meisten Russlanddeutschen erst um 1990 eingewandert. Dennoch deuten die Entwicklungen darauf hin, dass es in den Mennonitenge-

112 | FREDERIK ELWERT meinden, ebenso wie in anderen russlanddeutschen Gemeinschaften, deutlich besser gelungen ist, die zweite Generation in die religiöse Gemeinschaft einzubinden. Obwohl es auch hier durchaus Konflikte zwischen den Generationen in Fragen etwa der religiösen Praxis und Lebensführung gibt, sind die Mitgliederzahlen insgesamt eher steigend. Die bereits angesprochene geringere Orientierung am Herkunftsland kann hier als ein Einflussfaktor vermutet werden: Während für die zweite Generation der Bezug zum Heimatland der Eltern an Bedeutung verliert und in der Folge auch die stark an Korea orientierte Religiosität weniger attraktiv ist, ist in den Mennonitengemeinden die Vorstellung einer von Kultur und Nation unabhängigen Religiosität von zeit- und ortsübergreifender Gültigkeit vorherrschend. Die Beibehaltung der religiösen Tradition ist damit auch über den Generationenwechsel hinweg potentiell leichter zu plausibilisieren. Die russlanddeutschen Mennoniten zeigen darüber hinaus aber auch interessante Parallelen zu den Yeziden (vgl. Thorsten Wettich) sowie den syrischorthodoxen Christen (vgl. Ulf Plessentin). Alle Gemeinschaften sind in ihren Herkunftsländern ethnisch-religiöse Minderheiten, die Repressionen erfahren haben. Auch die generelle Anerkennung der aus der Türkei eingewanderten Yeziden oder syrisch-orthodoxen Christen als „Gruppenverfolgte“ bzw. als Asylanten und die daraus resultierende nahezu vollständige Emigration führt zu vergleichbaren Konstellationen in den Herkunftsländern wie im Aufnahmeland. Interessanterweise scheinen dabei aber die Yeziden und die syrischorthodoxen Christen deutlich intensivere inter- und außerreligiöse Netzwerke aufgebaut zu haben als die Mennoniten, obwohl diese aufgrund ihrer protestantischen Tradition durchaus eine größere Nähe zu den religiösen Akteuren in Deutschland aufweisen. Es liegt nahe, dass die kritisch-distanzierte Haltung russlanddeutscher Mennoniten zu staatlichen Institutionen insgesamt hier ein entscheidender Grund für die Zurückhaltung ist. Die fehlende oder schwach ausgeprägte Einbindung in interreligiöse Initiativen (vgl. Nelly C. Schubert) ist aber bei allen in diesem Band erörterten christlichen Migrantengruppen gleichermaßen zu beobachten. Bei einem Vergleich mit in Deutschland lebenden Muslimen fällt auf, dass sich die soziokulturellen Rahmenbedingungen der Mennoniten über den Migrationsprozess nicht wesentlich verändert haben: Auch nach der Einwanderung bleiben sie eine religiöse Minderheit, während Muslime zumeist erst in Deutschland sich in dieser Position befinden (vgl. Piotr Suder, Karin Mykytjuk-Hitz). Trotz dieser Minderheitensituation konnten die Mennoniten auf bereits früh etablierte eigene Institutionen wie die Mennonitische Umsiedlerbetreuung zurückgreifen. Im Vergleich dazu waren Yeziden, aber auch die hinduistischen Tamilen

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(vgl. Sandhya Marla-Küsters), stärker auf die Unterstützung durch staatliche und religiöse Akteure angewiesen – während thailändische Buddhisten eine solche Unterstützung v.a. im familiären Binnenraum binationaler Ehen erhalten (vgl. Ann-Kathrin Wolf). Diese Selbstgenügsamkeit der Mennoniten scheint es auch zu sein, die sich in ihren Beziehungsstrukturen ausdrückt: Während einerseits die gering ausgeprägten Beziehungen zu Akteuren außerhalb der eigenen Gemeinschaft potentiell als segregierend wahrgenommen werden können, ergeben sich aus den intensiven innerreligiösen Beziehungen zahlreiche Potentiale für Unterstützungsleistungen. Die globale Migrationsgeschichte der Mennoniten ebenso wie die historischen Erfahrungen als ethnisch-religiöse Minderheit in Russland haben den Bezug auf die eigene Gemeinschaft gestärkt. Öffnungstendenzen zeigen sich dabei gerade in einer die eigene Herkunftsgemeinschaft überschreitenden religiösen Identifikation als „Christen“ (im eigenen Verständnis durchaus als exklusive Kategorie verstanden). Diese religiöse, ethnisch-nationale Grenzen überschreitende Identifikation erlaubt jungen Aussiedlern, sich nicht primär als Migrantengruppe zu verstehen und auf der Ebene geteilter religiöser Überzeugungen auch Kontakte zu Angehörigen anderer freikirchlicher Gemeinden aufzunehmen. Strukturell bedeutsamer als konfessionelle Bündnisse, etwa in Form mennonitischer Dachverbände, scheinen hier die evangelikal ausgerichteten, aber sich überkonfessionell verstehenden Bildungseinrichtungen zu sein.

L ITERATUR Bleick, Gerhard (2008): „Bekenntnisse, Differenzen und die Kunst der Nichtwahrnehmung: Kleine protestantische Gemeinschaften“, in: Markus Hero/Volkhard Krech/Helmut Zander (Hg.), Religiöse Vielfalt in NordrheinWestfalen, Paderborn: F. Schöningh, S. 100-113. Bommes, Michael (2000): „Migration und Lebenslauf. Aussiedler im nationalen Wohlfahrtsstaat“, in: Sozialwissenschaften und Berufspraxis 23, S. 9-28. Brandes, Detlef (1992): „Deutsche auf dem Dorf und in der Stadt von der Ansiedlung bis zur Aufhebung des Kolonialstatuts“, in: Eisfeld, Die Rußlanddeutschen, S. 11-44. Eisfeld, Alfred (Hg.) (1992): Die Rußlanddeutschen, Vertreibungsgebiete und vertriebene Deutsche, München: Langen Müller. Eyselein, Christian (2006): Russlanddeutsche Aussiedler verstehen: Praktischtheologische Zugänge, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt.

114 | FREDERIK ELWERT Fleischhauer, Ingeborg (1986): Die Deutschen im Zarenreich: Zwei Jahrhunderte deutsch-russische Kulturgemeinschaft, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt. Haug, Sonja/Sauer, Lenore (2007): Zuwanderung und Integration von (Spät-) Aussiedlern. Ermittlung und Bewertung der Auswirkungen des Wohnortzuweisungsgesetzes, Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Online unter: http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/For schungsberichte/fb03-wohnortzuweisungsgesetz.pdf vom 08.07.2014. Henkel, Reinhard (2002): „Religionsgemeinschaften als Institutionen der Binnenintegration. Das Beispiel rußlanddeutscher Aussiedler in Rheinhessen“, in: Hartmut Heller (Hg.), Neue Heimat Deutschland: Aspekte der Zuwanderung, Akkulturation und emotionalen Bindung (= Erlanger Forschungen, Reihe A, Band 95), Erlangen: Univ.-Bund Erlangen-Nürnberg, S. 109-126. Ilyin, Vladimir (2006): „Religiosität als Faktor für die Immigrationspraxis ethnischer Deutscher in die Bundesrepublik Deutschland“, in: IpsenPeitzmeier/Kaiser, Zuhause fremd, S. 275-304. Ipsen-Peitzmeier, Sabine/Kaiser, Markus (Hg.) (2006): Zuhause fremd - Russlanddeutsche zwischen Russland und Deutschland, Bielefeld: transcript. Kahle, Wilhelm (1992): „Frömmigkeit und kirchliches Leben“, in: Eisfeld, Die Rußlanddeutschen, S. 175-203. Klötzel, Lydia (1999): Die Rußlanddeutschen zwischen Autonomie und Auswanderung: die Geschichte einer nationalen Minderheit vor dem Hintergrund des wechselhaften deutsch-sowjetischen/russischen Verhältnisses, Münster: Lit Verlag. Löneke, Regina (2000): Die „Hiesigen“ und die „Unsrigen“: Werteverständnis mennonitischer Aussiedlerfamilien aus Dörfern der Region Orenburg/Ural, Marburg: Elwert. Müller, Johannes Stefan (1992): Mennoniten in Lippe: ‚Gottes Volk unterwegs zwischen Verfolgung und Verführung‘. Milieustudie einer ethnokonfessionellen Gemeinschaft rußlanddeutscher Aussiedler, Bielefeld: Universität Bielefeld. Reger, Adina/Plett, Delbert (2001): Diese Steine. Ein Bildband zur Geschichte der Russlandmennoniten, Manitoba: Crossway. Online unter: http://www. plettfoundation.org/wp/?page_id=24 vom 09.03.2012. Ruttmann, Hermann (1996): Kirche und Religion von Aussiedlern aus den GUSStaaten, Marburg: REMID. Schäfer, Arne (2012): „Individuationsprozesse in der Sozialisation junger Aussiedlerinnen. Eine biografische Fallstudie“, in: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 32, S. 283-298.

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Die zivilgesellschaftlichen Potentiale der Syrisch-Orthodoxen Kirche U LF P LESSENTIN

H INTERGRUND Die Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochien gehört zu den orientalischorthodoxen Kirchen. Sie erlangte schon sehr früh in der Geschichte des Christentums ihre bis heute fortbestehende Eigenständigkeit. In der Spätantike gab es gravierende theologische Meinungsverschiedenheiten und immer wieder Abspaltungen von der römischen Reichskirche – eine solche Abspaltung ist die SyrischOrthodoxe Kirche. Wie die Koptische Kirche in Ägypten, die Tewahedo Kirchen im heutigen Eritrea bzw. Äthiopien sowie die Armenisch Apostolische Kirche im Kaukasus und Ostanatolien trennte sie sich um das Jahr 450 n. Chr. von der Reichskirche. Neben einem eigenen Verständnis der Natur Jesu Christi ist ein Hauptmerkmal der Syrisch-Orthodoxe Kirche, dass in den Gottesdiensten das SyroAramäische (auch Altsyrisch genannt) benutzt wird – eine Sprache, die in der Antike im ganzen Nahen Osten verbreitet war. Um nicht mit den Bewohnern des heutigen Staates Syrien verwechselt zu werden, bezeichnen sich syrischorthodoxen Christen deshalb häufig als „Aramäer“. Der syrisch-orthodoxe Gottesdienst ist verhältnismäßig lang und die Liturgie durchgehend poetisch gestaltet – der Fokus liegt dabei auf Gesang, rhythmischer Prosa und Rezitation, auf orchestrierte Musik wird gänzlich verzichtet. Das syrisch-orthodoxe Christentum zeichnet sich ferner durch ein ausgeprägtes Mönchtum aus: Während in der Frühzeit die Mönche oft als Einsiedler lebten, ist heute das organisierte Klosterwesen bestimmend. Das Oberhaupt der Syrisch-Orthodoxen Kirche trägt den Titel „Patriarch von Antiochien und dem ganzen Orient“. Wie auch die Römisch-Katholische Kirche

118 | ULF PLESSENTIN ist die Syrisch-Orthodoxe Kirche hierarchisch aufgebaut: Dem Patriarchen unterstehen nominell Metropoliten, Bischöfe, Priester, Diakone, Mönche und Nonnen. Das Priesteramt wird von Männern ausgeübt, die verheiratet sein können, sofern sie als Mönche nicht zölibatär leben. Geographisch waren die Gemeinden und Gläubigen der Syrisch-Orthodoxen Kirche seit ihrer Entstehung in Nordmesopotamien beheimatet – einer Region, die heute den Südosten der Türkei, Nordsyrien und den nördlichen und mittleren Irak umfasst. Unter muslimischen Herrschern erlebte die Syrisch-Orthodoxe Kirche im 12. und 13. Jahrhundert eine kulturelle Blütezeit. So waren es syrische Christen, die in dieser Zeit die klassische griechische Philosophie ins Altsyrische und dann ins Arabische übersetzten und die Entwicklung der muslimischarabischen Philosophie und damit die europäische Ideengeschichte prägten. Durch den Einfall mongolischer Stämme im 13. Jahrhundert kam es zu einem Niedergang. Die nächsten Jahrhunderte waren für die syrisch-orthodoxen Christen gekennzeichnet durch den Kontakt mit den westeuropäischen Kreuzfahrern und verschiedenen muslimischen Herrscherhäusern. Schließlich wurde das Siedlungsgebiet der syrisch-orthodoxen Christen Teil des Osmanischen Reichs. In der Spätphase des Osmanischen Reichs, ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wurden syrisch-orthodoxe Christen immer wieder Opfer von blutigen lokalen Konflikten. Aufgrund dieser Situation wanderten syrische Christen schon um 1890 in die USA und nach Australien aus (vgl. Tamcke 2012: 141ff.). Während des Ersten Weltkriegs und in der Gründungsphase der Türkei kam es nicht nur zu blutigen Massakern an den Armeniern, sondern es wurden auch tausende syrisch-orthodoxe Christen ermordet.1 Bei der Aufteilung des Osmanischen Reichs in die Türkei und die europäischen Mandatsgebiete Syrien und Irak verliefen die neuen Grenzen direkt durch das Siedlungsgebiet syrisch-orthodoxer Christen: Ein Teil lebte nun in der türkischen Grenzregion des Tur Abdin Gebirges. Andere lebten in dem französischen Mandatsgebiet Syrien und weitere im britisch kontrollierten Irak. Ab Anfang der 1960er Jahre wanderten immer mehr syrisch-orthodoxe Christen aus dem türkischen Südosten aus, einerseits nach Istanbul, andererseits in westeuropäische Staaten. Im Rahmen des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei kamen ab 1961 meist Handwerker syrisch-orthodoxen Bekenntnisses in westdeutsche Industrieregionen. Die Gründe für ihre Auswanderung waren vielfältig. Ausschlaggebend waren v.a. ihre ökonomische Lage und eklatante Diskriminie-

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Die Zahlen der syrisch-orthodoxen Christen, die 1915 in Massakern getötet wurden, schwanken erheblich von 100.000 (vgl. Selb 1999: 365) bis hin zu 750.000 (vgl. http://aramäer.net/ vom 24.06.2014)

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rungserfahrungen in den Herkunftsgebieten. Aufgrund dieser Situation, zogen ihnen schon Ende der 1960er Jahre die Familien nach.2 Andere Auswanderungsziele in Europa waren Schweden, die Niederlande und Österreich. Die Einwanderung von syrisch-orthodoxen Christen nach Deutschland wurde aber nicht durch den Anwerbestopp von Gastarbeitern aus der Türkei im Jahre 1973 beendet. Der Auswanderungsprozess wurde durch die instabile innenpolitische und ökonomische Lage im Südosten der Türkei, die gewalttätige Übergriffe auf syrisch-orthodoxe Christen begünstigte und die Lebensbedingungen für diese Bevölkerungsgruppe, z.B. durch die Einführung eines verpflichtenden Militärdienstes, verschärfte, beschleunigt. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre wurde dann – auch unter Einflussnahme der deutschen Amtskirchen und anderer christlich geprägter Unterstützerkreise – syrisch-orthodoxen Christen der Asylstatus gewährt (vgl. Anschütz 1995: 155f.; Merten 1997: 153f.). Die Auswanderung nach Deutschland erreichte ihren Höhepunkt zwischen 1980 und 1984. Bedingt durch den türkisch-kurdischen Konflikt, der in den Siedlungsgebieten der syrisch-orthodoxen Christen in Südostanatolien ausgetragen wurde, kam es auch in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zu Auswanderungen – allerdings in drastisch reduzierter Zahl. Die Abnahme der Auswandererzahl ist einerseits auf die verschärften deutschen Aufnahmebedingungen zurückzuführen, andererseits aber auch auf den Umstand, dass in Südostanatolien zu diesem Zeitpunkt nur noch wenige syrisch-orthodoxe Christen lebten. Mittlerweile leben Schätzungen zufolge rund 100.000 syrisch-orthodoxe Christen in Deutschland.3 Mit Schweden ist Deutschland somit das Hauptzentrum syrisch-orthodoxen Lebens in Europa. Die Gemeinden sind über die alten Bundesländer und Berlin verteilt. Ein regionaler Schwerpunkt befindet sich in Ostwestfalen (Paderborn, Gütersloh, Warburg). Die Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochien hat auf die Auswanderung ihrer Mitglieder reagiert und ihre Strukturen in Form von Erzdiözesen nach Europa ausgeweitet und neue Erzbischofsitze geschaffen: In Deutschland wurde der Erzbischofssitz im Kloster St. Jakob von Sarug in Warburg 1997 eingerichtet. Als neuer Erzbischof wurde Ende 2012 Mor Philoxenus Mattias Nayis berufen. Spätestens seit dem Beginn der europäischen Feldforschung im Nahen Osten im 19. Jahrhundert entstand eine reichhaltige deutschsprachige Literatur zur Kir-

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Es wird immer wieder behauptet (vgl. z.B. Selb 1999), dass die ersten türkischen Gastarbeiter in Deutschland ausschließlich syrisch-orthodoxe Christen aus der Türkei gewesen seien. Da die Religionszugehörigkeit bei der Einwanderung von amtlicher Seite jedoch nicht erhoben wurde, kann dies weder bestätigt noch widerlegt werden.

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Zahlen laut REMID (vgl. http://remid.de/orthodoxie/ vom 23.05.2014).

120 | ULF PLESSENTIN chen-, Sprach- und Kulturgeschichte des syrisch-orthodoxen Christentums. Durch die Auswanderungswellen syrisch-orthodoxer Christen nach Europa gelangten diese in den 1970er Jahren erneut in den Fokus wissenschaftlicher Arbeiten, wobei die publizierten Beiträge nicht selten von dem Ziel geprägt waren, auf die Situation der Christen in der Türkei aufmerksam zu machen, um diese zu verbessern (vgl. Anschütz 1985). Daneben gab es auf der theologischen Seite seit den 1960er Jahren ein zunehmendes Interesse an einem ökumenischen Austausch mit der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien, das in diversen Publikationen von Theologen zum Ausdruck kommt (vgl. Stirnemann/Wilflinger 1999b; Tamcke/Heller 2005). Zwar wurde die Migrationsgeschichte der syrischorthodoxen Christen nach Deutschland immer wieder thematisiert, aber es gibt nur wenige eigenständige Arbeiten, die sich diesem Thema widmen. Herausragend ist dabei die Dissertation von Kai Merten, in der die Einwanderungsgeschichte facettenreich dargestellt wird (vgl. Merten 1997). Allerdings gab es in den letzten 15 Jahren kaum Publikationen zur Situation von syrisch-orthodoxen Christen in Deutschland, stattdessen dominiert in der Forschung der Blick auf die Geschichte (vgl. die Beiträge in Weltecke 2012). In der jüngsten Vergangenheit ist, bedingt durch die politische Lage im Irak und Syrien, ein erneutes öffentliches und publizistisches Interesse an der Situation von Christen im Nahen Osten und auch an der Syrisch-Orthodoxen Kirche festzustellen. In diesem Zusammenhang berichten immer mehr regionale Tageszeitungen über syrischorthodoxe Christen, die in Deutschland eine Heimat gefunden haben (so z.B. die Neue Westfälische). Im vorliegenden Beitrag soll dieser Fokus aufgegriffen werden, in dem die zivilgesellschaftlichen Potentiale der v.a. in NordrheinWestfalen etablierten syrisch-orthodoxen Kirchengemeinden skizziert werden.4

N ETZWERKE Mit Blick auf den innerreligiösen Kontext fällt auf, dass sowohl die syrischorthodoxen Gemeinden vor Ort als auch die Syrisch-Orthodoxe Kirche in Deutschland (SOKAD) mit dem Erzbischofssitz im Kloster St. Jakob von Sarug im westfälischen Warburg eine breite Palette von Angeboten für die religiösen und sozialen Bedürfnisse der Gemeindemitglieder bereitstellen. Auffällig ist auch, dass die SOKAD im intrareligiösen Bereich eng mit anderen Kirchen ver-

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Um die Netzwerke und Einflussfaktoren zu beschreiben, wurden sowohl Gemeindevorsitzende und Priester interviewt als auch diverse Selbstdarstellungen und die Berichterstattungen in Internet und Presse qualitativ ausgewertet.

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netzt ist, wodurch ein reger wechselseitiger Austausch ermöglicht wird: Zum einen existieren Kooperationen mit anderen orientalisch-orthodoxen Kirchen, die in den letzten Jahrzehnten durch Migranten in Deutschland etabliert wurden. Zum anderen besteht eine intensive Zusammenarbeit mit den verschiedenen Institutionen der Römisch-Katholischen Kirche bzw. den evangelischen Landeskirchen. Markante Vernetzungen lassen sich auch im außerreligiösen Kontext zwischen der Syrisch-Orthodoxen Kirche und nichtreligiösen Institutionen, wie z.B. Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung oder Politik, erkennen. Weniger stark ist dagegen die Syrisch-Orthodoxe Kirche in interreligiöse Netzwerke eingebunden: Der Kontakt mit anderen, nichtchristlichen Religionsgemeinschaften kommt zwar vor, besitzt aber keine Priorität. Viele Angebote im innerreligiösen Kontext, die syrisch-orthodoxe Christen von Seiten ihrer Gemeinden bzw. ihres Erzbistums in Anspruch nehmen können, lassen sich als klassische Funktionen christlicher Gemeinden charakterisieren: Dazu gehört die Bereitstellung einer religiösen Infrastruktur für das Feiern von Gottesdiensten und Festen und das Empfangen von Sakramenten ebenso wie die damit verbundenen seelsorgerischen Angebote. Insgesamt zeichnet sich das syrisch-orthodoxe Christentum durch einen starken Fokus auf die Seelsorge aus, die zuweilen Riten zur religiösen Heilung umfassen kann. Mönche und Priester praktizieren z.B. die sakramentale Krankensalbung, es werden Kranke am Krankenbett besucht und Gebete für die Heilung gesprochen. Darüber hinaus wird eine Seelsorge für Gefängnisinsassen angeboten, auf die aber weiter unten noch näher eingegangen wird. Als weiteres innerreligiöses Angebot, das mit der Seelsorge verknüpft ist, kann das Familiengericht angesehen werden. Es wurde von der SOKAD eingerichtet, um kirchliche Scheidungsverfahren zu begleiten und die religiöse Bedeutung des Ehesakraments für syrisch-orthodoxe Christen zu unterstreichen.5 Ebenso zum klassischen Repertoire der Angebote gehört der religiöse Wissenstransfer: Kinder und Jugendliche lernen in der Gemeinde die syrischorthodoxe Liturgie, die für den Gottesdienst zentralen Choräle, die Bibel, die syro-aramäische Sprache und die Geschichte der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien. Lokal kann es in Nordrhein-Westfalen vorkommen, dass sich dieser religiöse Wissenstransfer von den Gemeinderäumen in Richtung Klassenzimmer verschiebt. Grund hierfür ist die Einführung des syrisch-orthodoxen Religionsunterrichts an den Schulen (vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung Nordrhein-Westfalen 2012). Aber auch wenn der religiöse Wissenstransfer

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Vgl. http://www.syrisch-orthodox.org/index.php/archiv/209-sitzung-des-familienge richts vom 26.05.2014.

122 | ULF PLESSENTIN je nach Vorhandensein von geeigneten Lehrkräften wie z.B. in Köln in Schulen erfolgt – die inhaltliche Ausführung liegt weiterhin in den Händen der SyrischOrthodoxen Kirche. Sie überprüft die Umsetzung und bestimmt die Lehrkräfte, die derzeit v.a. aus den Reihen der Priester und Diakone rekrutiert werden. Andere Angebote im Bereich der religiösen Traditionsvermittlung sind die Ausbildung zu Messdienern – die in der syrisch-orthodoxen Kirche gemischtgeschlechtlich sein können – und die musische Kinder- und Jugendarbeit in Chorälen. Weiterführende Angebote sind geplant: Einerseits wird erwogen, eine Schule mit Internat am erzbischöflichen Sitz im Kloster St. Jakob von Sarug in Warburg einzurichten. Andererseits wird angestrebt, dort auch ein Priesterseminar aufzubauen, um eine theologische Ausbildung von Priestern in Deutschland zu ermöglichen.6 In den letzten Jahren zeichnen sich zunehmend Tendenzen in Richtung Ausbau und eine Öffnung im Bereich des religiösen Wissenstransfers an Jugendliche ab. Zwar gibt es weiterhin die gemeindezentrierten Angebote, doch werden gerade von Seiten des Erzbistums in Warburg neue Formen gefördert, die über die Gemeindegrenzen hinweg für alle in Deutschland lebenden jugendlichen syrisch-orthodoxen Christen angeboten werden. Dazu gehört die Einführung eines jährlichen Kirchentags, des sogenannten „Convention Day“, vergleichbar mit den Jugendkirchentagen der evangelischen Landeskirchen. Parallel zur Einführung dieses Kirchentags für Jugendliche wurde auch eine bundesweite Jugendorganisation, die SOKAD-Jugend, gegründet. Sie organisiert Familienfeste oder in den Schulferien auch Rüstzeiten für Jugendliche. Rüstzeiten sind mehrtägige Veranstaltungen mit einem freizeitlichen Charakter wie z.B. Ausflüge oder Fernreisen zu syrisch-orthodoxen Gemeinden außerhalb Deutschlands. Im Rahmen dieser Rüstzeiten werden seelsorgerische Angebote, religiöse und säkulare Wissensvermittlung und soziale Dienste, die auf die speziellen Bedürfnisse der Jugendlichen zugeschnitten sind, angeboten. Neben der SOKAD-Jugend haben viele Gemeinden eigene Jugend- und Frauengruppen, die verschiedene soziale Dienste ehrenamtlich für die Gemeinde und deren Mitgliedern erbringen. Üblicherweise sind es die Frauengruppen der Gemeinden, die Gemeindefeste und Ausflüge organisieren und gestalten. Eine weitere ehrenamtliche Struktur in den Gemeinden ist der Vorstand. Er wird von den Gemeindemitgliedern gewählt. Zu seinen Aufgaben gehören die administrativen und finanziellen Angelegenheiten der Gemeinde und die Auswahl eines geeigneten Priesters.

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Vgl. http://www. syrisch-orthodox. org/index. php/archiv/389-erzbischof-besucht-mini sterpraesidenten vom 10.07.2014.

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Generell werden für viele soziale Dienste Gemeindemitglieder mobilisiert. Ob Aufbau oder Renovierung und Instandhaltung von Kirchengebäuden und Gemeinderäumen: Die Mitglieder leisten viele unentgeltliche Unterstützungsleistungen, um die Existenz der einzelnen Gemeinden zu sichern. So wurde z.B. in Paderborn eine Kirche fast zur Hälfte mit den Arbeitsleistungen der Gemeindemitglieder renoviert. Ähnlich sieht es in den Gemeinden in Köln und Herne aus.7 Aber nicht nur die Infrastruktur der Gemeinde profitiert von der Mobilisierung der Gemeindemitglieder. Auch syrisch-orthodoxe Christen selbst können zu den Profiteuren sozialer Dienste gehören. So gibt es starke Bemühungen, syrisch-orthodoxen Christen aus den Bürgerkriegsgebieten in Syrien oder den von Truppen der dschihadistischen Gruppe Islamischer Staat im Irak und in der Levante (besser bekannt unter dem Kürzel ISIS oder IS) besetzten Gebieten im Nordirak auf unterschiedliche Art zu helfen. Auch wenn bisher nur wenige syrisch-orthodoxe Christen aus diesen Regionen nach Deutschland kommen, erklärten sowohl die lokalen Gemeinden als auch die SOKAD mehrfach, diese bei Asylanträgen, bei der Wohnungssuche und bei Behördengängen z.B. durch Übersetzungsdienste, Fahrdienste und Hilfe bei Arztbesuchen zu unterstützen (vgl. Just 2014). In der Regel organisieren die Gemeinden diese speziellen Unterstützungsleistungen über Gemeindemitglieder, die schon seit Jahrzehnten in Deutschland leben oder hier geboren wurden und auch als Übersetzer für aramäische Sprachen (Syro-Aramäisch, Turoyo), z.B. bei Gerichtsprozessen, tätig sind. Eine weitere Form der Unterstützung für diese Flüchtlingsgruppe ist die öffentliche Fürsprache. Gerade die Kirchenleitung der SOKAD engagiert sich für die Aufnahme und Betreuung syrisch-orthodoxer Christen aus den genannten Konfliktregionen in Deutschland durch öffentliche Stellungnahmen oder offene Briefe an Politiker, so z.B. an die 2013 amtierenden Bundesminister des Auswärtigen und Inneren. Erklärtes Ziel ist es, diese Flüchtlingsgruppe in Kommunen mit bestehenden Kirchengemeinden aufzunehmen, damit sie geistlich und sozial nach ihrer Ankunft von Seiten der syrisch-orthodoxen Gemeinden vor Ort betreut werden können. Diese Form der öffentlichen Fürsprache ist aber keineswegs neu. Schon Anfang der 1990er Jahre bat der für Deutschland zuständige Erzbischof diverse Bundesbehörden um die Aufnahme von syrisch-orthodoxen Asylsuchenden und bot an, diese nach ihrer Ankunft in Deutschland über die

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Darüber hinaus wurde das Kloster Warburg immer wieder von Kirchenmitgliedern aus dem ganzen Bundesgebiet renoviert und instandgehalten (vgl. http://www.syrischorthodox.org/index.php/archiv/319-putzwoche-im-kloster vom 23.05.2014).

124 | ULF PLESSENTIN Gemeindestrukturen zu unterstützen und geistlich zu betreuen (vgl. Merten 1997: 149f.). Das Sammeln von Spenden für syrisch-orthodoxe Flüchtlinge ist eine weitere zentrale Form der Unterstützung und kann als Transfer von Geld und Gütern eingeordnet werden. Bedingt durch die politische Lage in Syrien und Nordirak lassen sich zahlreiche Beispiele für Spendenaktionen finden, um syrischorthodoxe Gemeinden in den betroffenen Gebieten zu helfen.8 Neben diesen über die Kirchstruktur ermöglichten transnationalen Geldspenden, sind es v.a. die Familien, die sich über Grenzen hinweg finanziell unterstützen. Zwar spielen die transnationalen Überweisungen und Hilfsprojekte aufgrund der aktuellen Lage eine wichtige Rolle – der Blick auf die langfristigen Entwicklungen der syrisch-orthodoxen Gemeinden zeigt aber, dass die Finanzierung der hiesigen Gemeindeinfrastruktur wesentlich stärker im Mittelpunkt steht und das alltägliche Gemeindeleben bestimmt: Aufgrund des fehlenden Körperschaftsstatus können keine Kirchensteuern erhoben werden. Deshalb sind sowohl die lokalen Kirchgemeinden als auch die SOKAD (seit 1987) als Vereine organisiert. Syrischorthodoxe Christen sind in der Regel sowohl Mitglied in der lokalen Gemeinde, als auch in der SOKAD und zahlen deshalb zweifach Mitgliederbeiträge – das allerdings nicht individuell, sondern aufgeschlüsselt nach Familienbeiträgen. So zahlt jede Familie eine einheitliche monatliche Summe, egal wie viele Familienmitglieder sie zählt. Von diesem Geld werden auf Seiten der Gemeinden die Pfarrer bezahlt. In der Regel fallen durch den Neubau, den Kauf oder die Renovierung von bestehenden Kirchgebäuden zusätzliche Kosten an, die teilweise durch Spenden der Gemeindemitglieder bestritten werden (vgl. Götte 2013). Dabei handeln die einzelnen Gemeinden größtenteils unabhängig voneinander. Generell zeichnen sich die syrisch-orthodoxen Gemeinden durch eine große Eigenständigkeit aus. Auch wenn sie alle unter dem Dach der SOKAD vereint sind, beschränkt sich der innerreligiöse Austausch in der Vergangenheit oft auf losen Kontakt. Es bestehen zuweilen sogar Konkurrenzsituationen zwischen den Gemeinden. In einigen Großstädten und Landkreisen haben sich unabhängig voneinander mehrere Gemeinden gebildet. Grund dafür ist die Migrationssituation: Die Gemeinden haben sich nach Herkunftsgebieten sortiert; sie wurden jeweils von Familien aus der gleichen Region gegründet. Deshalb besuchen Gemeindemitglieder in der Regel die Gottesdienste anderer Gemeinden kaum. Allerdings sind in der Amtsperiode des amtierenden Erzbischofs deutliche Tendenzen zur Zentralisierung auszumachen und es werden verstärkt gemeindeübergrei-

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Vgl. http://www.syrisch-orthodox.org/index.php/archiv/455-soforthilfe-fuer-krisenre gion vom 27.08.2014.

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fende Angebote, wie z.B. die SOKAD-Jugend, konzipiert. Angesichts der Lage der syrisch-orthodoxen Christen im Nordirak haben erstmals alle 55 Gemeinden in Deutschland zusammen zu einer Protestaktion in Stuttgart aufgerufen und Kollekten für eine Soforthilfe gesammelt.9 Mit den vielfältigen Angeboten im innerreligiösen Kontext sind Aktivitäten und Strukturen verzahnt, die nicht eindeutig als religiös klassifiziert werden können. Parallel zu den Gemeinden, die das Zentrum des religiösen Lebens bilden, gibt es in Deutschland etliche aramäische Kulturvereine, deren Ziel es ist, die aramäisch-syrisch-orthodoxe Kultur und Tradition zu fördern und weiterzuvermitteln. Diese Vereine sind politisch sehr aktiv. Es mag vorkommen, dass die Vereinsmitglieder gleichzeitig administrative oder religiöse Ämter in den Institutionen der Syrisch-Orthodoxen Kirche innehaben. Andere Angebote für syrischorthodoxe Christen in Mitteleuropa lassen sich in verschiedenen Medienformaten finden: Nach der Immigration wurden Verlage (z.B. Bar Hebraeus Verlag), Zeitschriften (z.B. Mardutho dʼSuryoye) und Fernsehsender (z.B. Suryoyo SAT [Gütersloh]) für syrisch-orthodoxe Christen gegründet. Neue Programmformate werden über das Video-Portal youtube.com angeboten, auf dem das Kloster St. Jakob von Sarug in Warburg einen eigenen offiziellen Kanal für die SOKAD mit Gottesdienstmitschnitten und anderen Videoinhalten bestückt. Auch wenn die Infrastruktur des deutschen Erzbistums der SyrischOrthodoxen Kirche von Antiochien und der einzelnen Gemeinden zum beachtlichen Teil aus Eigenmittel der nach Deutschland immigrierten Christen finanziert wurde und wird, wäre ihr Umfang doch nicht ohne die Hilfe der RömischKatholischen Kirche und der jeweiligen evangelischen Landeskirchen möglich gewesen. Zentral für die Unterstützung sind die dichten intrareligiösen Vernetzungen, die sich im Laufe der letzten 50 Jahre zwischen der Syrisch-Orthodoxen Kirche und den historisch in Europa dominierenden Kirchen gebildet haben. Dabei fällt auf, dass diese intrareligiösen Vernetzungen zuerst auf der internationalen Ebene etabliert wurden: Seit 1960 ist die Syrisch-Orthodoxe Kirche Mitglied im Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) mit Sitz in Genf, zu dem die meisten Kirchen, außer die Römisch-Katholische Kirche und Kirchen aus der Pfingstbewegung, gehören. Sie unterhält spätestens seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre enge Beziehungen zum Vatikan. Zeitlich parallel zum Aufbau dieser internationalen Vernetzungen zwischen den Leitungsebenen der Kirchen wanderten syrisch-orthodoxe Christen aus der Türkei nach West- und Nordeuropa ein und gründeten in den 1970er Jahren erste Gemeinden. Es ist anzunehmen, dass die

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Vgl. http://www.welt.de/regionales/baden-wuerttemberg/article131418273/Demonstra tion-fuer-die-Christen-im-Irak.html vom 23.08.2014.

126 | ULF PLESSENTIN Einbettung in ökumenische Netzwerke dazu beitrug, dass in den späten 1970er Jahren nach Europa einwandernde syrisch-orthodoxe Christen von Seiten der etablierten Kirchen eine starke öffentliche Fürsprache erhielten und deshalb als Asylanten anerkannt wurden.10 Ebenso erhielten und erhalten die in der Türkei, im Nordirak und Syrien verbleibenden syrisch-orthodoxen Christen eine starke öffentliche Fürsprache und wurden z.B. auch finanziell beim Erhalt kirchlicher Infrastruktur wie des Klosters Mor Gabriel unterstützt.11 Eine Vernetzung zwischen den evangelischen Landeskirchen und römischkatholischen Bistümern mit den syrisch-orthodoxen Gemeinden vor Ort in Deutschland fand erst ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre und verstärkt in den 1980er Jahren statt, da in dieser Zeit die ersten syrisch-orthodoxe Gemeinden gegründet wurden. Seit 1986 ist die SOKAD Mitglied der ökumenischen Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK) (vgl. Merten 1997: 26f.). Die zentrale Stellung der intrareligiösen und politischen Kontaktpflege für die SOKAD lässt sich auch daran erkennen, dass seit 2012 ein eigener Bischof diesem Bereich zugeordnet ist. Neben dem Erzbischof ist er der einzige bischöfliche Vertreter der Syrisch-Orthodoxen Kirche in Deutschland.12 Der Einbettung in örtliche christliche Netzwerke ist es zu verdanken, dass alle syrisch-orthodoxen Gemeinden in Nordrhein-Westfalen eigene Räumlichkeiten benutzen können. Oft handelt es sich bei den Räumlichkeiten um nicht mehr benötigte Kirchgebäude der Römischen-Katholischen Kirche, die entweder gepachtet oder gekauft wurden. In diesen Fällen liegt ein intrareligiöser Transfer von Gütern bzw. Gebäuden vor. So hat die Kölner Gemeinde im Jahr 1993 vom Erzbistum Köln ein Kirchengebäude auf dem Campus der Universität für 30 Jahre zur Verfügung gestellt bekommen. Dieses ist beim Erzbistum angemietet und

10 Merten (1997: 221f.) zeigt, wie zuerst die schwedische Staatskirche sich für die Aufnahme von syrisch-orthodoxen Christen in Schweden stark machte. Diese Anwaltschaft wurde in Deutschland von der EKD, der Deutschen Bischofskonferenz und auf europäischer Ebene von der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) übernommen. Durch kirchliche Initiativen und Gutachten gab es in den frühen 1980ern eine Reihe von Asylanerkennungen (vgl. ebd.: 153f.). 11 Der Weltrat der Kirchen (Genf) unterstützte das Kloster Mar Gabriel seit Anfang der 1990er Jahre (vgl. Anschütz 1995: 162). Aber auch Spenden der deutschen Amtskirchen (vgl. Merten 1997: 89) dienen dem Erhalt. 12 So traf der zuständige Bischof Julius Hanna Aydin Bundeskanzlerin Merkel, um mit ihr über die Situation von Christen in Syrien zu sprechen (vgl. http://zocd.de/bun deskanzlerin-im-gespraech-mit-bischof-julius-dr-hanna-aydin-aegyptensyrien/ 08.09.2014).

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die Gemeinde besitzt das alleinige Nutzungsrecht. Auch das Kloster St. Jakob von Sarug in Warburg befand sich bis 1995 im Besitz des römisch-katholischen Dominikanerordens und wurde dann an die SOKAD veräußert und zum Bischofssitz geweiht. Trotz der intensiven Kontaktpflege zwischen der Evangelischen Kirche von Westfalen und der SOKAD kommt ein Transfer von Gebäuden in Nordrhein-Westfalen von Seiten der protestantischen Kirchen selten vor. Die konfessionelle Prägung der Landesteile und dadurch bedingte Infrastruktur scheint hierfür ausschlaggebend zu sein. In der Vergangenheit, in der oft kein eigenes Gotteshaus genutzt werden konnte, gewährten evangelische und römisch-katholische Kirchgemeinden syrisch-orthodoxen Christen Gastrecht. Die Mitbenutzung von Kirchengebäuden für die Feier eigener Gottesdienste war v.a. bis in die 1990er Jahre üblich. Ab den 1990er Jahren übernahmen die syrisch-orthodoxen Gemeinden NordrheinWestfalens vermehrt Gotteshäuser. Dabei wurden sie nicht nur von Seiten der Amtskirchen durch bereitgestellte Kirchengebäude unterstützt, sondern auch durch den Transfer von Geld. Sie erhielten zinslose Darlehen und Spenden für den Kauf bzw. den Umbau geeigneter Immobilien. In einem Fall war das Baudarlehen von Seiten der amtskirchlichen Kreditgeber mit der Klausel versehen, dass das Geld für den Kirchenkauf nur dann wieder zurückgezahlt werden müsse, wenn die Kirche an Dritte veräußert wird. Die rege Alimentierung von Seiten der Römisch-katholischen Kirche und der evangelischen Landeskirchen war v.a. bis in die 1990er Jahre ausgeprägt; sie ist aber heute offenbar nur marginal. Neben diesen finanziellen bzw. geldwerten Unterstützungsleistungen existieren zwischen der Römisch-Katholischen Kirche bzw. den Gliedkirchen der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) und der SOKAD eine ganze Reihe von Kooperationen: Dazu gehören Partnerschaften im Bereich des religiösen Wissenstransfers, z.B. in der Priesterausbildung. In Ermangelung eigener Ausbildungsstätten für Priester dürfen Priesteramtskandidaten an katholischen und evangelischen Fakultäten studieren. Aus den 1990er Jahren sind Studienstipendien der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD) für syrisch-orthodoxe Priesteranwärter bekannt (vgl. Merten 1997: 179). Einen Wissenstransfer von orientalisch-orthodoxer Seite gibt es bei der Einführung und Vermittlung der syro-aramäischen Sprache für römisch-katholische und evangelische Studenten und Gläubige. Vor der örtlichen Einführung eines syrisch-orthodoxen Religionsunterrichts an den Schulen Nordrhein-Westfalens besuchten die Schüler aus syrisch-orthodoxen Familien zumeist den katholischen Religionsunterricht. Insgesamt ist eine starke Hinwendung syrisch-orthodoxer Christen zur Infrastruktur und Angeboten der Römisch-Katholischen Kirche zu erkennen. Gläubige können von Priestern der jeweiligen anderen Kirche bestimmte Sakramente

128 | ULF PLESSENTIN (mit Ausnahme des Abendmahls) erhalten, wenn sie keinen Priester der eigenen Kirche finden.13 Die enge Verbindung beider Kirchen wird über den intrareligiösen Austausch von Ritualhandlungen auch in der regelmäßigen öffentlichen Fürsprache deutlich. Zu nennen ist z.B. der Besuch Kardinal Meisners in der Kölner syrisch-orthodoxen Gemeinde Mor Petrus und Mor Paulus im Dezember 2012. Diese Visite erscheint deshalb außergewöhnlich, weil der Kardinal während seiner Amtszeit außer dieser keine andere nichtkatholische Gemeinde bzw. Kirche besucht haben soll. Fallgeschichte Die folgende Fallgeschichte veranschaulicht die enge und wechselseitige Kooperation zwischen römisch-katholischen Institutionen und der SOKAD: Ohne die inhaltliche Hilfe und öffentliche Fürsprache von Seiten römischkatholischer Theologen wäre die Einführung des syrisch-orthodoxen Religionsunterrichts in Nordrhein-Westfalen nicht möglich gewesen. Der Vorsitzende der Lehrplankommission, seines Zeichens schulfachlicher Dezernent bei der Bezirksregierung Düsseldorf und als Theologe für den Fachbereich Katholische Religionslehre zuständig, half bei der Ausarbeitung eines inhaltlichen Lehrplans. Für seine Dienste erhielt er den St. Ephräm-Orden der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien. Darüber hinaus wurde er als römisch-katholischer Christ zum syrisch-orthodoxen Subdiakon geweiht und hat – das erscheint aufgrund der unterschiedlichen Kirchengeschichte bemerkenswert – dadurch ein liturgisches Amt in einer anderen Traditionslinie inne. In diesem Fall revanchierte sich die SOKAD für die erhaltene Hilfe (säkularer Wissenstransfer) und Fürsprache, indem sie symbolisches Kapital in Form von Auszeichnungen und Titeln übertrug (Transfer von Gütern). 14 Durch die aktuellen politischen Entwicklungen im Nahen Osten, erhält die öffentliche Fürsprache durch intrareligiöse Partner eine besondere Dimension: Es gibt Ad-hoc-Veranstaltungen wie ökumenische Friedensgebete für orientalische Christen in Syrien und dem Irak, Appelle von verschiedenen Kirchen, die in Sy-

13 Einschränkungen bestehen, da nach Auffassung beider Seiten noch kein identischer Glaube auszumachen sei und kanonische Details in den Traditionen geklärt werden müssten (vgl. Stirnemann/Wilflinger 1999a: 313). 14 Vgl. http://www.syrisch-orthodox.org/index.php/archiv/410-subdiakonweihe-von-drgeorg-bubolz vom 26.05.2014.

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rien entführten Bischöfe (darunter der syrisch-orthodoxe Metropolit von Aleppo) freizulassen oder politische Forderungen, einen Familiennachzug von syrischorthodoxen Christen aus den Krisengebieten zu ermöglichen (vgl. Arens 2013).15 Andere Beispiele von öffentlicher Fürsprache sind die Beileidsbekundungen zum Tod des im April 2014 im Amt gestorbenen Patriarchen Mor Ignatius Zakka I. von Seiten des Papsts und der EKD oder die Erinnerung an die Massaker an Christen in Südostanatolien im Jahr 1915.16 Neben den beiden großen traditionellen Amtskirchen unterhält die SyrischOrthodoxe Kirche geschichtlich und theologisch bedingt sehr enge Verbindungen zur Koptischen Kirche. Sie werden auch in Deutschland weiter gepflegt (vgl. Spierig 2014). Ein anschauliches Beispiel ist die Gefängnisseelsorge. Wie oben skizziert bietet die SOKAD Gefangenen seelsorgerische Hilfe an. Allerdings richtete sich dieses Angebot nicht nur an syrisch-orthodoxe Gläubige: In einem Fall bietet ein syrisch-orthodoxer Priester, der vom Land Nordrhein-Westfalen als Gefängnisseelsorger zugelassen ist, seelsorgerische Dienste auch anderen orientalisch-orthodoxen Christen wie z.B. Kopten und Armeniern in den jeweiligen Sprachen an – sofern er von Seiten der zuständigen Bischöfe der betreffenden Kirchen den Auftrag dazu erhält. Diese intrareligiöse Betreuung ist ein ungewöhnliches Beispiel dafür, wie durch Migrationsprozesse neu etablierte und im theologischen Verständnis sich traditionell nahestehende Kirchen Infrastrukturen in Deutschland miteinander teilen. Um diese Partnerschaften zu vertiefen und gegenüber Dritten mit einer Stimme zu sprechen, wurde im Jahr 2013 der Zentralrat Orientalischer Christen in Deutschland (ZOCD) gegründet. Er unterstützt z.B. durch öffentliche Fürsprache die Forderung der SOKAD, Familien syrisch-orthodoxen Glaubens aus den Bürgerkriegsgebieten im Nordirak und Syrien in Deutschland zusammenzuführen und kirchlich zu betreuen.17 Der Vorsitzende des ZOCD-Vorstands und zwei der drei Beiräte sind syrisch-orthodoxe Christen. So gut die Beziehungen zu anderen orientalisch-orthodoxen Kirchen auch sein mögen, die Beziehungen zu den orthodoxen Kirchen des byzantinischen Ritus – z.B. die Griechisch-Orthodoxe Kirche und die Russisch-Orthodoxe Kir-

15 Der evangelische Bischof von Berlin, Brandenburg und der schlesischen Oberlausitz bat in einem Gastkommentar für die Berliner Zeitung um die Aufnahme von mehr Flüchtlingen syrisch-orthodoxen Glaubens (vgl. Dröge 2013). 16 Vgl. http://www.domradio.de/themen/oekumene/2014-05-08/papst-trifft-armenischenpatriarchen-karekin-ii vom 26.05.2014. 17 Vgl. http://zocd.de/information-zu-der-von-der-bundesregierung-geplanten-aufnahmevon-5000-syrischen-fluchtlingen/ vom 08.08.2014.

130 | ULF PLESSENTIN che – gelten aufgrund geschichtlicher theologischer Streitigkeiten als angespannt. Die SOKAD kritisiert an den Kirchen dieser Traditionslinie, dass sie einen Alleinvertretungsanspruch der Orthodoxie verträten, der unvereinbar mit ihrer eigenen Tradition sei. Sowohl in der Recherche als auch in der bisher dazu publizierten Literatur lassen sich nur wenige Beispiele für interreligiöse Kontakte finden. Das Hauptinteresse der Syrisch-Orthodoxen Kirche und der Gemeinden in Deutschland liegt auf dem Kontakt und der Kooperation mit den Amtskirchen. Lokal lassen sich allerdings soziale Dienste von Gemeinden finden, die auch für Nichtchristen geöffnet sind: Einige Gemeinden haben schon vor Jahrzehnten Fußball- oder Sportvereine gegründet, in denen Menschen unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit gemeinsam Fußball spielen bzw. Sport treiben.18 Auch gibt es in einigen Kommunen Kontakte zu türkisch-geprägten DITIB-Moscheevereinen. Durch die Mitgliedschaft im Rat der Religionen der Stadt Köln hat die dortige syrisch-orthodoxe Gemeinde Kontakt zu anderen Religionsgemeinschaften. Anderenorts besucht ein syrisch-orthodoxer Geistlicher zusammen mit seinen Kollegen aus den evangelischen und römisch-katholischen Gemeinden einmal im Jahr die örtliche Moschee. Auch die Arbeit in den kommunalen Integrationsräten bietet syrischen-orthodoxen Christen die Möglichkeit, mit Vertretern und Ansprüchen anderer Religionsgemeinschaften in Kontakt zu kommen. Darüber hinaus kann es vorkommen, dass eine syrisch-orthodoxe Gemeinde ihre Räumlichkeiten für Feierlichkeiten vermietet, so z.B. für yezidische Hochzeiten. Diese Art des interreligiösen Transfers von Gütern scheint jedoch die Ausnahme. Allerdings bestehen zu Yeziden aufgrund der gleichen Herkunftsregionen besondere Kontakte:19 So kommt es in der jüngsten Zeit zu Ad-hoc-Aktivitäten wie lokalen Kundgebungen auf denen gemeinsam die Errichtung einer UN-Schutzzone im irakisch-syrischen Grenzgebiet öffentlich gefordert wird, um die von den ISMilizen verfolgten religiösen Minderheiten zu schützen (vgl. Braun 2014). Neben der starken innerchristlichen Vernetzung ist auffällig, dass es sowohl von Seiten der Gemeinden als auch von der SOKAD intensive Kontakte mit außerreligiösen Institutionen gibt. Am Sitz des Erzbischofs in Warburg bestehen

18 Einer der Vereine ist der 1994 gegründete FC Süryoye in Köln (vgl. http://fc-suryoyekoeln.de.tl vom 26.05.2014). 19 In der Vergangenheit hat sich außerdem der Yezidische Zentralrat mit der SyrischOrthodoxen Kirchen solidarisiert und den Erhalt des Klosters Mor Gabriel gefordert (vgl. http://yeziden.de/44.0.html?&tx_ttnews[pointer]=55&tx_ttnews[tt_news]=79 8&t x_ttnews[backPid]=22&cHash=d3e11bad57bc81137c66eadaca37d731 vom 2014).

26.05.

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z.B. intensive Kontakte zu den städtischen Ämtern, der Kommunalpolitik und den örtlichen Polizeidienststellen.20 Auch in anderen Kommunen gibt es Kontakte zur Lokalpolitik und Verwaltung. Regelmäßig sprechen sich dabei die lokalen politischen Vertreter für die örtliche Gemeinde aus, sei es bei kirchlichen Festen oder der Grundsteinlegung für einen Kirchenbau. Weitere Kontakte bestehen zu den Ortsgruppen von Parteien, Senioren- bzw. Studentengruppen. Diese Art von Kontaktpflege geht regelmäßig mit Formen eines säkularen Wissenstransfers einher, wenn Gemeindevertreter das syrisch-orthodoxe Christentum vorstellen und über die gegenwärtige Situation informieren. Im außerreligiösen Kontext spielen öffentliche Fürsprachen eine wichtige Rolle. Nicht nur Lokalpolitiker sprechen sich für die Syrisch-Orthodoxe Kirche aus, auch Politiker der Länder und des Bundes. Dabei lassen sich zwei Richtungen identifizieren: Zum einen äußern sich Politiker besonders häufig zur Lebenssituation der syrisch-orthodoxen Christen in den Herkunftsgebieten. Zum anderen erhalten aber auch die nach Deutschland migrierten syrisch-orthodoxen Christen Fürsprache und Unterstützung aus dem politischen Bereich. Als Musterbeispiel für öffentliche Fürsprachen kann gelten, dass in der jüngsten Zeit mehrere Bundestags- und Landtagsabgeordnete den Einladungen von syrisch-orthodoxen Gemeinden bzw. der SOKAD gefolgt sind und auf öffentlichen Kundgebungen die Verfolgung von orientalischen Christen durch ISMilizen scharf verurteilten.21 Schon in den Jahren 2012 und 2013 haben die Abgeordneten des Bundestags mehrfach die Situation von syrisch-orthodoxen Christen in der Türkei thematisiert. Die Abgeordneten des Bundestags forderten den türkischen Staat fraktionsübergreifend auf, den Erhalt und den Betrieb des syrisch-orthodoxen Klosters Mor Gabriel zu sichern (vgl. Deutscher Bundestag 2009, 2012a, 2012b). In diesem Zusammenhang wurde von der türkischen Seite auch verlangt, die in der Türkei verbliebenen syrisch-orthodoxen Christen als eigenständige Minderheit anzuerkennen, damit ihre religiöse Traditionspflege (Sprach- und Religionsunterricht) rechtlich abgesichert ist. Auch EUParlamentarier fordern den Erhalt des syrisch-orthodoxen Klosters und die Anerkennung des Minderheitenstatus. Ein weiteres Feld der politischen Fürsprache ist die Geschichtspolitik: So fordern deutsche Politiker von der Türkei, die Er-

20 Vgl. http://www.syrisch-orthodox.org/index.php/archiv/210-polizei-warburg-besuchtseine-eminenz vom 26.05.2014. 21 Von dem Diözesanrat der SOKAD wurde in Stuttgart eine Kundgebung organisiert auf der auch prominente CDU-Politiker sprachen (vgl. http://www.swr.de/landes schau-aktuell/bw/kundgebung-in-stuttgart-fuer-minderheiten-im-irak-demonstrantenfordern-un-schutzzone/-/id=1622/nid=1622/did=14034638/23sqpg/ vom 28.08.2014).

132 | ULF PLESSENTIN mordung von tausenden syrisch-orthodoxen Christen im Jahr 1915 in einer öffentlichen Stellungnahme zu thematisieren bzw. als Genozid anzuerkennen (vgl. Scholl 2014). Durch die aktuelle Lage im Nahen Osten werden die Vertreter von orientalisch-orthodoxen Kirchen, darunter auch Mitglieder der SOKAD, von Seiten der Politik, wie z.B. dem Auswärtigen Amt, immer wieder zu Konsultationen eingeladen, um sich über die Situation der Christen im Irak und Syrien auszutauschen.22 Diese wurde auch im politiknahen Bereich debattiert: So veranstalteten sowohl die Hanns-Seidel-Stiftung als auch die Konrad-Adenauer-Stiftung Tagungen zu diesem Thema, teilweise mit eingeladenen Vertretern der SOKAD (vgl. Volk 2014: 6). Solche Veranstaltungen zeigen nicht nur wie syrischorthodoxe Christen öffentlich wahrgenommen werden, sondern sie liefern auch Anhaltspunkte, mit welchen außerreligiösen zivilgesellschaftlichen Akteuren die SOKAD vernetzt ist. Die öffentliche Fürsprache für syrisch-orthodoxe Christen im Nahen Osten nimmt einen breiten Raum ein. Etwas weniger prominent verhält es sich bei der öffentlichen Fürsprache für die deutschen Gemeinden. An drei rezenten Beispielen lässt sich rekonstruieren, dass sie nicht durch tagespolitische Ereignisse, sondern durch eine aktive langfristig angelegte Interessenvertretung der SOKAD bzw. syrisch-orthodoxer Christen in die Wege eingeleitet wurden: Das erste Beispiel ist die Einführung eines syrisch-orthodoxen Religionsunterrichts an den Schulen Nordrhein-Westfalens als reguläres Unterrichtsfach. Für die Einrichtung und Umsetzung des Lehrplans kooperiert das Schulministerium mit der SOKAD-Kirchenleitung. Diese Kooperation kann mit den Begrifflichkeiten dieses Bandes als klassische außerreligiöse Partnerschaft bezeichnet werden. Diese Partnerschaft wurde durch eine aktive Interessenvertretung der SOKAD mit Hilfe der Amtskirchen eingeleitet – und sie soll weiter ausgebaut werden: So bittet die syrisch-orthodoxe Seite verschiedene Landesregierungen – in Anlehnung an die Einrichtung von Lehrstühlen für Islamische Theologie –, die Einführung von eigenen theologischen Lehreinheiten an Universitäten zu prüfen.23 Ein zweites Beispiel für eine aktive Interessenvertretung erfolgte im Zusammenhang mit der

22 Die Staatsministerin im Auswärtigen Amt empfing eine Delegation in Deutschland lebender orientalischer Christen (vgl. dazu die Pressemitteilung des Auswärtigen Amts unter http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Meldungen/2014/ 140820_StMB-Christen-in-Irak.html vom 28.08.2014). 23 Vgl. hierzu die Konsultationen mit der Ministerin für Schule und Weiterbildung des Bundeslands

Nordrhein-Westfalen

(http://www.syrisch-orthodox.org/index.php/ar

chiv/183-gedankenaustausch-im-kultusministerium vom 26.05.2014).

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Novellierung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Gesetz über die Änderung von Familiennamen und Vornamen: Syrisch-orthodoxe Christen können nach der Änderung dieser Vorschrift ihren christlichen Familiennamen wieder annehmen, den sie in der Türkei aufgeben mussten. Auf Initiative des Bundesverbandes der Aramäer in Deutschland und SOKAD-Vertretern wurde die Verwaltungspraxis in diesem Kontext von der Bundesregierung vereinheitlicht. Im Vorlauf dazu fanden diverse Gesprächen mit Bundestagsabgeordneten statt, um politische Unterstützung für dieses Anliegen zu gewinnen (vgl. Bundesrat 2013).24 Das dritte Beispiel ist die bereits erörterte Zusage der SOKAD, die deutschen Behörden bei der Betreuung von Flüchtlingen syrisch-orthodoxen Glaubens aus Syrien und dem Irak zu unterstützen. Konkret wurde dabei die Familienzusammenführung genannt, sowie eine geistliche und soziale Betreuung der Flüchtlinge durch die Gemeinden vorgeschlagen. Inwieweit dieses Kooperationsangebot in Richtung Politik und Verwaltung die Ursache für das von der bayrischen Staatsregierung anvisierte eigenständige Aufnahmeprogramm für ausschließlich syrisch-orthodoxe Bürgerkriegsflüchtlinge ist, kann allerdings nicht ermittelt werden.25

E INFLUSSFAKTOREN Verschiedene interne und externe Faktoren sind dafür verantwortlich, welche Angebote die Syrisch-Orthodoxe Kirche und ihre lokalen Gemeinden für die Mitglieder in Deutschland bereitstellen und mit welchen Institutionen Vernetzungen bestehen. Ein grundlegender interner Faktor ist das theologische Selbstverständnis der Syrisch-Orthodoxen Kirche: Die Abspaltung von der römischen Reichskirche aufgrund theologischer Streitpunkte markierte den Weg in die theologische und politische Unabhängigkeit und den Aufbau von eigenen kirchlichen Strukturen. Die Kirche sieht sich wegen der frühen historischen Eigenständigkeit als Bewahrerin einer ununterbrochenen Tradition bis zum Urchris-

24 Insbesondere CDU-Politiker haben sich für die Namensänderung stark gemacht (vgl. z.B. http://www.cdu-sendker.de/index.php?ka=1&ska=1&idn=809 oder http://www. kristinaschroeder.de/aktuelles/bundesregierung-erleichtert-na/ vom 26.05.2014). 25 Der bayrische Innenminister äußerte in einem Radiointerview mit dem Deutschlandfunk am 11.06.2014 den Plan, syrisch-orthodoxe Flüchtlinge vermehrt aufzunehmen (vgl. http://www.deutschlandfunk.de/innenministerkonferenz-deutschland-leistet-imvergleich-zu.694.de.html?dram:article_id=288799 vom 08.08.2014).

134 | ULF PLESSENTIN tentum und nimmt für sich in Anspruch, den christlichen Glauben unverändert zu praktizieren. Im Gegensatz zu anderen christlichen Traditionen spielt in der SyrischOrthodoxen Kirche der Gegenwart ein universeller Heilsanspruch kaum eine Rolle; missionarische Ansprüche sind nicht sonderlich ausgeprägt. Die Gründe hierfür liegen in einem historisch gewachsenem Selbstverständnis: Verstand sich die Syrisch-orthodoxe Kirche seit ihrer Entstehung noch als lokal in der Region Nordmesopotamien verankerte und weiträumig bis nach Zentral- und Südasien agierende Kirche, die durchaus missionierte, waren spätestens unter muslimischen Herrschern missionarische Bestrebungen unmöglich. Durch diese Konstellation und angeregt durch europäische Ideen vermischte sich das kirchliche Selbstverständnis spätestens im 19. Jahrhundert mehr und mehr mit einem ethnischen Verständnis, wonach Aramäer ein eigenständiges Volk mit eigener kultureller Tradition seien und das syrisch-orthodoxe Christentum deren Religion. Auch wenn durch verschiedene Entwicklungen Aramäer ganz unterschiedlichen Kirchen angehören, definiert dieses ethnoreligiöse Selbstbild bis heute die Gruppenidentität syrisch-orthodoxer Christen wesentlich (vgl. Merten 1997: 167). Ausgehend von diesem gering ausgebildeten Universalanspruch lässt sich die starke Binnenorientierung der Angebote der SOKAD erklären: Einerseits werden die sozialen und karitativen Dienste von Seiten der Kirche in der Regel nur an Gemeindemitglieder adressiert. Andererseits äußert sich die SOKAD als Interessenvertretung kaum zu breiten gesellschaftlichen Themen, sondern fokussiert die konkreten Belange syrisch-orthodoxer Christen in Deutschland oder im Nahen Osten. Das historisch beeinflusste Selbstverständnis ist darüber hinaus prägend für die Vernetzung im intrareligiösen Bereich: Aufgrund vieler theologischer Gemeinsamkeiten bestehen seit der Frühzeit intensive Kontakte zu anderen orientalischen-orthodoxen Kirchen. Sie werden auch in Deutschland weiter gepflegt und führen sowohl zu verschiedenen Kooperationen als auch zu einer Institutionalisierung in Form des Zentralrats Orientalischer Christen in Deutschland (ZOCD). Differenzierter sieht es bezüglich der Nachfolgekirchen der römischen Reichskirche aus: Zu Kirchen der osteuropäischen orthodoxen Tradition (z.B. der Griechisch-Orthodoxen Kirche) gibt es wegen historisch begründeter Differenzen auch heute noch nur wenige Vernetzungen. Dagegen haben sich in den letzten 50 Jahren intensive Netzwerke mit Kirchen des lateinischen Christentums, wie etwa der Römisch-Katholischen Kirche und in etwas geringerem Maße auch mit den evangelischen Kirchen, gebildet. Diese aktive Hinwendung ist ein Novum in der Geschichte der Syrisch-Orthodoxen Kirche und erfolgt international.

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Generell ist die Hinwendung zu Strukturen und Angeboten der RömischKatholischen Kirche in Deutschland stärker ausgeprägt als zu jenen der protestantischen Kirchen. Diese Bevorzugung mag darin begründet liegen, dass sich die Römisch-Katholische Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil insbesondere gegenüber den alten orientalisch-orthodoxen Kirchen öffnete. So begannen die Beziehungen zwischen beiden Kirchen in den 1960ern als nichtoffizielle theologische Konsultationen und verdichteten sich seit der Mitte der 1970er Jahre rasch zu Kooperationen auf vielen kirchlichen Teilgebieten. Ihren Höhepunkt erlangten sie im Juni 1984 in einer gemeinsamen Erklärung der damaligen Kirchenoberhäupter, dass man trotz ritueller und kultureller Unterschiede „die gleiche Sache“ vertrete (Stirnemann/Wilflinger 1999a: 313). Daran anschließend vereinbarten beide Kirchenoberhäupter eine „sakramentale Gastfreundschaft (Eucharistie, Sakrament der Buße und Versöhnung und Krankensalbung) und pastorale Hilfe im Bedarfsfall.“26 Eine derartige theologisch fundierte Vernetzung existiert mit den evangelischen Landeskirchen nicht. Welche Auswirkungen die Vernetzungen mit römisch-katholischen und evangelischen Institutionen für die Syrische-Orthodoxe Kirche über den Austausch von theologischen Diensten haben, wird im weiteren Verlauf skizziert. Ein weiterer interner Faktor ist die sozialstrukturelle Zusammensetzung: Der Aufbau der Gemeinden ist eng mit den Familienstrukturen der Mitglieder, die auch in Deutschland weiterhin regional über Herkunftsgebiete definiert werden, verbunden. So kommt es vor, dass in einer Kommune zwei syrisch-orthodoxe Gemeinden unabhängig voneinander aufgebaut wurden, weil ihre Mitglieder aus unterschiedlichen südostanatolischen Orten eingewandert sind bzw. verschiedenen Familienclans und ehemaligen Dorfgemeinschaften angehören. Dieser starke Familien- und Regionalbezug bewirkt einerseits, dass Gläubige Gemeinden bevorzugen, in denen ihre einstigen Nachbarn organisiert sind, auch wenn andere syrisch-orthodoxe Kirchen leichter zu erreichen sind (vgl. Merten 1997: 178), andererseits, dass auch nach der Migration hauptsächlich traditionell innerhalb lokaler Milieus geheiratet wird (vgl. ebd.: 169f.). Großfamilien haben einen gravierenden Einfluss in den syrisch-orthodoxen Gemeinden: Sie bestimmen die Gemeindevorstände, die aufgrund der Organisationsform der einzelnen Gemeinden als eingetragene Vereine gebildet werden. Während syrisch-orthodoxe Priester in den Herkunftsgebieten von Dorfgemeinschaften vorgeschlagen und unterhalten wurden, werden sie in Deutschland von den Gemeindevorständen ausgewählt und vergütet. Dadurch befinden sie sich in direkter Abhängigkeit zu den Gemeinden und nicht zum Erzbischof und den zentralen Institutionen der

26 http://www.pro-oriente.at/syrisch-orthodoxe-Kirche/ vom 08.09.2014.

136 | ULF PLESSENTIN SOKAD. Seit der Ernennung des neuen Erzbischofs Mor Philoxenus Mattias Nayis bestehen zwar klare Bestrebungen in Richtung Zentralisierung – aber die Gemeindevorstände stellen weiterhin ein strukturelles Gegengewicht dar. Historisch lassen sich diverse Beispiele für kircheninterne Abspaltungen von Gemeinden finden und auch in der Migrationssituation sind solche Tendenzen zu beobachten. Zwar gibt es keine nennenswerten Spaltungen in Deutschland, aber in Schweden haben eingewanderte syrisch-orthodoxe Christen zwei parallele Kirchenstrukturen gegründet. Eine wesentliche Veränderung der soziokulturellen Rahmenbedingungen ist der demographische Wandel: Die Gemeinden bestehen zumeist aus Mitgliedern, die länger als 20 Jahre in Deutschland leben, und deren Kindern, die hier aufgewachsen sind. Sowohl von Seiten des Erzbistums als auch auf Gemeindeebene wird versucht, die Jugendarbeit zu professionalisieren und das Engagement in diesem Bereich ganz besonders zu verstärken. Hintergrund ist die Angst, dass sich die Jugendlichen vom Glauben ihrer Eltern abwenden könnten und so die Gruppenidentität im Generationswechsel verloren gehen könnte.27 Hierbei spielen auch die Erfahrungen mit historischen Migrationssituationen eine Rolle. Als Negativbeispiel werden jene syrisch-orthodoxen Christen angeführt, die schon Ende des 19. Jahrhunderts in die USA und Australien migrierten und deren Nachfahren sich heute nur noch in geringer Zahl zur Syrisch-Orthodoxen Kirchen bekennen (vgl. Merten 1997: 32f u. 117). Um die Syrisch-Orthodoxe Kirche in Deutschland für nachfolgende Generationen attraktiv zu machen, wurde von Seiten des Erzbischofs nicht nur das schwedische Modell von gemeindeübergreifenden Jugendgruppen in Form der SOKAD-Jugend übernommen, sondern auch die kircheninternen Strukturen zunehmend reorganisiert und für „Experten, Fachmänner und freiwillige Helfer“28 geöffnet. Darüber hinaus wurde von der Kirchenleitung durch die Einführung von gemeindeübergreifenden Strukturen und Veranstaltungen wie den Kirchentagen und die Benutzung digitaler Medien versucht, den Dialog mit der Basis zu verstärken.29 Durch die Migration nach Westeuropa haben sich für syrisch-orthodoxe Christen auch andere soziale Rahmenbedingungen geändert: Waren (und sind) sie aufgrund ihres religiösen Minderheitenstatus, ihrer sozialen Stellung und ih-

27 Schon in den 1990er Jahren waren für die SOKAD spezielle Angebote für Jugendliche wichtig (vgl. Merten 1997: 173). 28 http://www.syrisch-orthodox.org/index.php/archiv/187-1-sitzung-des-neu-gewaehltendioezesanrats vom 08.09.2014. 29 Vgl. http://www.syrisch-orthodox.org/index.php/archiv/412-syrisch-orthodoxe-kirchesucht-dialog-mit-der-basis vom 08.09.2014.

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res christlichen Bekenntnisses in den Herkunftsregionen vermehrt Angriffen ausgesetzt, können sie in den Einwanderungsländern ihren Glauben frei praktizieren. Auch wenn sich syrisch-orthodoxe Christen in Deutschland als Religionsgemeinschaft weiterhin in einer Minderheitensituation befinden, sehen sie in der Regel keine Kontakthemmschwellen zur deutschen Aufnahmegesellschaft, die sie als christlich geprägt wahrnehmen.30 Die Migrationsgeschichte und -motive zeigen deutlich, dass unter syrisch-orthodoxen Christen schon in den 1970er Jahren Rückkehrhoffnungen keine große Rolle spielten und die persönliche Zukunft in Deutschland gesehen wurde (vgl. Aydin 1990: 137). Die verbreitete Vergabe von biblischen Vornamen in der deutschen Version, der Aufbau von eigenen Kirchen, als auch das zunehmende parteipolitische und persönliche zivilgesellschaftliche Engagement von syrisch-orthodoxen Christen können als Indizien dafür gewertet werden. Das Patriachat der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien kam dieser Entwicklung nach und weitete in den 1980er Jahren ihre Kirchenstruktur in Form von neugegründeten Erzbistümern nach Mittel- und Nordeuropa aus. Neben den angeführten internen Faktoren, sind es v.a. gesellschaftliche Einflüsse, die als externe Faktoren einen Effekt auf die Angebote und Vernetzungen der syrisch-orthodoxen Christen haben. So haben die gesetzlichen Vorgaben und die religionspolitischen Rahmenbedingungen in Deutschland dazu geführt, dass sich sowohl die SOKAD als auch die einzelnen Gemeinden in Form von eingetragen Vereinen (e.V.) organisieren. Diese Organisationsform und das Nebeneinander von SOKAD als zentraler Kirche und lokalen Gemeinden haben weitreichende Konsequenzen. Durch die Wahl von Gemeindevorständen und Diözesanräten erhalten Laien bzw. Vertreter von Großfamilien Einfluss und bestimmen gemeinsam mit dem Erzbischof, der vom Patriarchen eingesetzt wurde, die Geschicke der Kirche. Dieses gemischte System aus synodalen und episkopalen Strukturen unterscheidet sich von dem traditionellen. Der Erzbischof bleibt zwar weiterhin als religiöse Autorität anerkannt, das Vereinsrecht führt aber zu einer Binnen-Demokratisierung und wie in den deutschen Amtskirchen existieren Möglichkeiten der Mitbestimmung für Mitglieder. Allerdings wird die Vereinsform nur als eine Notlösung angesehen und es gibt schon seit den 1990er Jahren aktive Bestrebungen von Seiten der Kirchenleitung, den Status einer Körper-

30 Mustergültig scheint hier die Aussage eines interviewten syrisch-orthodoxen Christen: „Wir haben so ziemlich die gleiche Kultur mit den Deutschen durch den christlichen Glauben, den wir haben. Deswegen haben wir da auch keine Hemmungen und keine Kontaktschwierigkeiten“

(http://www.radiobremen.de/gesellschaft/themen/extra-ara

maeer-norddeutschland100.html vom 08.09.2014).

138 | ULF PLESSENTIN schaft des öffentlichen Rechts zu erhalten.31 Auch wenn dieser Status noch in keinem Bundesland an die SOKAD vergeben wurde, gibt es mit einigen Ländern (Baden-Württemberg, Hessen, Nordrhein-Westfalen) Vereinbarungen, an den staatlichen Schulen syrisch-orthodoxen Religionsunterricht anzubieten. Ob für den Antrag auf einen Körperschaftsstatus auch sozioökonomische Faktoren ausschlaggebend sind, ist spekulativ. Zu vermuten ist, dass ein solcher Status mit den damit verbundenen finanziellen Sonderregelungen entscheidende Veränderungen für die Finanzlage der SOKAD und der Gemeinden mit sich brächte und die begonnene Zentralisierung weiter vorantriebe. Der hohe Grad an ehrenamtlichen Tätigkeiten in den syrisch-orthodoxen Gemeinden kann als Indiz für deren finanziell angespannte Situation gewertet werden. Ein anderes Indiz ist, dass die Kooperation mit den Amtskirchen in Deutschland immer auch durch einen Transfer von Geld oder Gütern gekennzeichnet war, weil die Syrisch-Orthodoxe Kirche z.B. Kirchengebäude nicht selbst finanzieren konnte. Allerdings lässt sich die Forderung nach der Anerkennung als Körperschaft jenseits sozioökonomischer Aspekte auch als ein aktiver Prozess einer gewollten Etablierung verstehen: Die Syrisch-Orthodoxe Kirche möchte in Deutschland mit den traditionellen Religionsgemeinschaften gleichberechtig sein, weil ihre Mitglieder hier ihre Zukunft sehen. Um diese Forderung und weitere Interessen zu vertreten, werden von syrisch-orthodoxen Christen nicht nur verschiedene politische Gelegenheitsstrukturen (wie z.B. der Integrationsrat), sondern auch andere Möglichkeiten der aktiven politischen Einflussnahme (wie z.B. die Bildung von Interessenvertretungen oder Parteimitgliedschaft) genutzt. Die Veränderung des Namensrechts zeigt z.B. den Erfolg derartiger Interessenvertretungen. Jedoch ist nicht immer eindeutig, von welcher Seite der Kontakt initiiert wurde: Gerade in Bezug auf die Situation von im Nahen Osten lebenden syrisch-orthodoxen Christen existiert ein großes Interesse von Seiten der Politik. Vertreter der SOKAD bzw. von aramäischen Vereinen werden in den letzten Jahren regelmäßig als Botschafter und Anwälte ihrer Glaubensschwestern und -brüder, die in Syrien und dem Nordirak leben, eingeladen. Zwar existieren teilweise transnationale Verbindungen auch familiärer Art in diese Regionen – zumeist stammen die in Deutschland lebenden syrisch-orthodoxen Christen aber nicht aus diesem Gebiet, sondern aus Südostanatolien. Intensive (auch familiäre) Verbindungen bestehen dagegen zu syrischorthodoxen Christen, die in die Niederlande und nach Schweden eingewandert

31 Zum Antrag auf eine Anerkennung des Körperschaftsstatus in Nordrhein-Westfalen in den 1990er Jahren vgl. Merten 1997: 146. Zu den gegenwärtigen Bestrebungen der SOKAD vgl. http://www.syrisch-orthodox.org/index.php/erzdioezese 08.09.2014.

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sind. Bemerkenswert ist im Kontext dieser Anwaltsrolle, dass die Positionen syrisch-orthodoxer Christen disparat sind: Auf der eine Seite werden humanitäre (teilweise auch militärische) Hilfsgüter für die in den Krisengebieten des im Nahen Ostens lebenden Christen gefordert.32 Es wird eindringlich davor gewarnt, dass Islamisten die Region weiter ethnisch-religiös „säubern“, was das Ende der dort ansässigen christlichen Tradition bedeuten könnte. Auf der anderen Seite wird dafür geworben, vermehrt syrisch-orthodoxe Christen als Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen. Dieser Spagat zwischen den beiden Forderungen zeigt sich aber auch in den verschiedenen öffentlichen und politischen Diskursen. Generell lässt sich konstatieren, dass die transnationalen Belange syrisch-orthodoxer Christen in der Öffentlichkeit eine große Resonanz erhalten. So wird von Vertretern der Amtskirchen und von Politikern die historische und rezente Opferrolle von Christen im Nahen Osten und speziell von syrisch-orthodoxen Christen unterstrichen (vgl. Tamcke 2008) – und im Gegenzug die Verantwortung für diese Rolle wahlweise in der Politik des türkischen Staats, der syrischen Regierung und der dschihadistischen Milizen gesehen. Kurzum: Die syrisch-orthodoxen Christen erscheinen wie auch die Yeziden als Opfer von unterschiedlich gelagerten muslimischen Interessen. Allerdings ist kaum klar abzuschätzen, inwieweit diese Resonanz durch eine proaktive Interessenvertretung von syrisch-orthodoxer Seite hergestellt wird – oder ob aufgrund von öffentlichen Meinungsbildern in Bezug auf die EU-Beitrittsverhandlung der Türkei, den Bürgerkrieg in Syrien und den Vormarsch von IS-Gruppen im Nordirak und damit im Zusammenhang stehend in Bezug auf den Islam eine Sensibilität für derartige Themen ohnehin schon existiert und syrisch-orthodoxe Christen nur als affirmative Gesprächspartner fungieren. Das starke mediale und politische Interesse und die Fürsprache durch verschiedene gesellschaftliche Akteure kann gleichsam als ein Anzeichen für einen Richtungswechsel im öffentlichen Bewusstsein gewertet werden: Bis in die 1990er Jahre gab es von syrisch-orthodoxen Christen immer wieder Kritik an der Bundesregierung, dass die Beziehungen zum NATO-Partner Türkei wichtiger sei, als der Schutz von Christen im türkisch-syrisch-irakischem Grenzgebiet. Auch wurde der deutschen Mehrheitsbevölkerung vorgehalten, dass sie nicht zwischen (muslimischen) Türken und christlichen Aramäern unterscheiden kön-

32 Eine militärische Hilfe für syrisch-orthodoxe Christen im Nahen Osten wurde vom Leiter des Diözesanrates der SOKAD gefordert (vgl. http://www.welt.de/131481372 vom 28.08.2014).

140 | ULF PLESSENTIN ne (vgl. Merten 1997: 174). Derartige Kritiken lassen sich heute kaum mehr finden. Wie skizziert kooperiert die Syrisch-Orthodoxe Kirche eher mit den deutschen Amtskirchen als mit anderen nichtchristlichen Religionsgemeinschaften. Ein Grund hierfür mag sein, dass syrisch-orthodoxe Christen die (west-)deutsche Gesellschaft, in der sie seit Jahren leben, als christlich geprägt und die Vernetzung mit den Amtskirchen als Vernetzung mit der Aufnahmegesellschaft wahrgenommen wird. Ein anderer Grund liegt in der Geschichte: Syrisch-orthodoxe Christen distanzieren sich von Muslimen und stehen Formen einer Kooperation skeptisch gegenüber. Im Gegensatz dazu bestehen mit Yeziden aber intensivere Kontakte und erste Kooperationen formieren sich. Interessanterweise haben die verschiedenen Vernetzungen mit den Amtskirchen erste theologische Veränderungen ausgelöst: So existieren weitreichende Überlegungen des Erzbischofs, Ostern nicht mehr nach dem julianischen Kalender, sondern dem gregorianischen Kalender (wie in der Römisch-Katholischen Kirche und evangelische Landeskirchen) zu feiern.33 Diese Umstellung des liturgischen Kalenders soll in Deutschland lebende syrisch-orthodoxe Christen ein Feiern des wichtigsten christlichen Festes erleichtern. Darüber hinaus kommt es zur Übernahme von Traditionen, die vornehmlich in den christlichen Kirchen Mitteleuropas begangen werden, wie z.B. jährliche Kirchentage oder das Feiern des Nikolausfestes mit Geschenken.34

V ERGLEICH Es ist naheliegend, die Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochien in Deutschland (SOKAD) und ihre Gemeinden mit anderen christlichen Migrantengemeinschaften zu vergleichen. Sowohl die russlanddeutschen mennonitischen Gemeinden (vgl. Frederik Elwert), die koreanischen Freikirchen (vgl. Sabrina Weiß) als auch die SOKAD leiten ihre Angebote für Gemeindemitglieder theologisch aus der Bibel her. Allerdings gibt es schon beim theologischen Selbstverständnis erhebliche Differenzen: Während von Seiten der protestantischen Koreaner und der russlanddeutschen Mennoniten der universelle Anspruch unterstrichen wird und die Mission eine wichtige Rolle spielt, besitzen diese bei sy-

33 Vgl.

http://www.syrisch-orthodox.org/index.php/presse/202-grosses-interesse-am-bi

schof vom 08.09.2014). 34 Vgl. http://www.syrisch-orthodox.org/index.php/presse/372-11-12-2013-nikolaus-be sucht-das-kloster vom 08.09.2014.

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risch-orthodoxen Christen aufgrund des starken ethno-religiösen Verständnisses der Kirche in der Regel keine Bedeutung. Auffällig ist außerdem, dass zwar alle in diesem Band besprochenen christlichen Gemeinschaften Vernetzungen mit traditionellen Kirchen in Deutschland aufweisen und von diesen auf die eine oder andere Art und Weise unterstützt werden, aber die SOKAD ungleich stärkere Verbindungen zu diesen Institutionen unterhält und auch theologische Gemeinsamkeiten betont. Darüber hinaus bestehen von Seiten der SOKAD intensive Vernetzungen in die Politik und mit anderen außerreligiösen Institutionen, die weder bei russlanddeutschen mennonitischen noch bei koreanisch freikirchlichen Gemeinden zu beobachten sind. Das öffentliche Interesse an Christen im Nahen Osten und der ausgeprägte Anspruch auf politische Interessenvertretung haben diese außerreligiöse Vernetzung erheblich unterstützt. In ihrer bewussten Hinwendung zu politischen und anderen nichtreligiösen Akteuren ähneln syrisch-orthodoxe Christen in Deutschland eher Muslimen, die in Moscheegemeinden (vgl. Piotr Suder) organisiert sind oder als Neo-Muslime (vgl. Karin Myktjuk-Hitz) auftreten. Aber im Gegensatz zu diesen engagieren sie sich allenfalls vereinzelt in interreligiösen Initiativen (vgl. Nelly C. Schubert). Priorität besitzen dagegen die intrareligiösen Kooperationen mit den Amtskirchen. Mit Blick auf die Migrationsgeschichte lassen sich interessante historische Parallelen zu den russlanddeutschen Mennoniten finden: Mitglieder beider christlicher Gruppen sind schon in den 1890er Jahren aus ihren jeweiligen Siedlungsgebieten in die USA, nach Kanada und teilweise nach Australien ausgewandert. Die historische Erfahrung vergangener Auswanderungen bestimmen die Gegenwart beider Gruppen auf unterschiedliche Weise: Die Mennoniten blieben auch nach der Auswanderung ihrer Glaubensgemeinschaft treu und es existieren deshalb heute weltweite Netzwerke mennonitischer Gemeinden. Anders die syrisch-orthodoxen Christen, die sich nach der Migration vor hundert Jahren sehr viel stärker neuen Bekenntnissen anschlossen oder säkularisierten. Diese Erfahrung führt in der SOKAD und den zugehörigen Gemeinden dazu, intensiv in die Jugendarbeit zu investieren, um nicht zukünftige Generationen zu verlieren. Aber derartige Tendenzen sind auch bei anderen Migrantengemeinden, wie z.B. den hinduistischen Tamilen (vgl. Sandhya Marla-Küsters) oder den Moscheegemeinden erkennbar. Die Angst, nach der Migration durch einen Generationenwechseln einen Traditionsverlust auszulösen, ist hierfür bestimmend, gerade weil keine Rückkehrhoffnungen mehr bestehen und das zukünftige Leben in Deutschland gesehen wird. Im Vergleich mit Muslimen befinden sich syrisch-orthodoxe Christen in Mitteleuropa in einer gemäßigten Minderheitenposition: Sie sehen sich als orienta-

142 | ULF PLESSENTIN lisch-orthodoxe Christen in Gesellschaften, die durch das lateinische Christentum geprägt wurden. Diese Perspektive ist auch in weiten Teilen der Aufnahmegesellschaft und in öffentlichen Diskursen präsent. Während Muslime in Deutschland mit Gefährdungsdiskursen konfrontiert werden, erscheinen orientalisch-orthodoxe Christen in der öffentlichen Wahrnehmung spiegelbildlich als historische Opfer muslimischer Herrschaft. Aufgrund der aktuellen Ereignisse im Nordirak und Syrien wird dieses Bild verstärkt und zugleich auf die yezidische Community ausgeweitet. In einem direkten Vergleich zwischen Yeziden (vgl. Thorsten Wettich) und syrisch-orthodoxen Christen sind soziale Parallelen auffällig, die v.a. durch die gemeinsame Herkunft aus Nordmesopotamien zurückgeführt werden können. Beide Gruppen zeichnen sich dadurch aus, innerhalb der Gemeinschaft zu heiraten. So ist es unter syrisch-orthodoxen Christen nicht unüblich, auch nach der Migration innerhalb von ehemaligen Dorfgemeinschaften oder regionalen Familienclans zu heiraten. Anders als bei den Yeziden, die ein kastenartiges, teilweise religiös begründetes Sozialsystem aufweisen, lassen sich im syrisch-orthodoxen Christentum derartige Heiratspraxen allerdings nicht auf theologische Grundlagen zurückführen. Dieses Vergleichsbeispiel zeigt sehr deutlich, dass Religion nicht der einzige Faktor für historisch gewachsene Traditionen ist.

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Die zivilgesellschaftlichen Potentiale der yezidischen Community T HORSTEN W ETTICH

H INTERGRUND Das Yezidentum ist eine monotheistische Glaubensgemeinschaft, die sich in der weiteren Umgebung ihres Zentralheiligtums in Lalish in der heutigen Autonomen Region Kurdistan im Nordirak entwickelte. Sie ist dort mindestens seit dem Auftreten Sheikh Adî bin Musafirs im 11. und 12. Jahrhundert nachweisbar.1 Im Zentrum der religiösen Verehrung steht Tawus-i Melek, der „Engel Pfau“, der bisweilen mit dem Schöpfergott Xwedê identifiziert wird. Zentrale Feste sind die Wallfahrt nach Lalish im Oktober (Cema’iya Sîxadî), das Neujahrsfest im April (Çarşema sor/Sersala) sowie ein Fest um die Zeit der Wintersonnenwende (Îda Êzî). Anstelle von wöchentlichen religiösen Zusammenkünften, wie sie aus anderen Religionen bekannt sind, spielen lebenszyklische Feste wie die Taufe, das Abschneiden der ersten Haarlocke (bisk), Hochzeiten und Beerdigungen eine herausragende Rolle. Viele Yeziden sehen das Wesen ihrer Religion darüber hinaus in den komplexen Sozialformen der Gemeinschaft, wie geistlichen Würdenträgern und religiösen Patenschaften, aufgehoben. Neben den traditionellen Siedlungsgebieten in den heutigen Staaten Irak, Türkei, Syrien und Iran leben Yeziden seit Beginn des 20. Jahrhunderts auch in den heutigen Kaukasusrepubliken Georgien und Armenien sowie in Russland. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wanderten sie in größerer Zahl nach Europa, speziell Deutschland, aus.

1

Über den Ursprung der yezidischen Religion und die Bedeutung Sheikh Adîs wird in der Forschung lebhaft debattiert. Vgl. Kreyenbroek 1995.

148 | THORSTEN W ETTICH Die erste Welle dieser Emigration hatte ihren Ausgang im Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei im Jahr 1961. Die Zuwanderung erfolgte zumeist in industrielle Zentren der westdeutschen Bundesländer, in der Regel in Form von Kettenmigration, so dass sich in Deutschland regionale Siedlungsschwerpunkte bildeten, die auf Verwandtschaft beruhen und häufig in etwa den Landkreisen entsprechen. Mit dem Beschluss des Anwerbestopps im Jahr 1973 wurde diese Form des Zuzugs nach Deutschland offiziell beschränkt, hielt aber durch Sonderregelungen wie den Familiennachzug weiter an. Eine zweite Zäsur stellte 1982 ein Urteil am Verwaltungsgericht Stade dar, welches Yeziden aus der Türkei erstmals den Status „Gruppenverfolgte“ zuerkannte und zu einer zweiten Welle umfangreichen Zuzugs yezidischer Gruppenangehöriger aus der Türkei, insbesondere nach NordrheinWestfalen und Niedersachsen, führte (vgl. Düchting 2014). Die Emigration war dabei so umfangreich, dass fast die gesamte yezidische Community der Türkei das Land verließ, wovon sich etwa 80 Prozent in Deutschland niederließ. Während im Rahmen des Anwerbeabkommens und infolge des Stader Urteils vornehmlich Yeziden aus der Türkei emigrierten, zog die wachsende yezidische Community in Deutschland u.a. auch Flüchtlinge aus dem Irak, Georgien, Armenien, Syrien und Iran an. Deren Asylanträge wurden von den Behörden jedoch als Einzelfälle behandelt,2 so dass die Zahl der Bewilligungen von Antragstellenden aus diesen Staaten zunächst im Verhältnis zu denen aus der Türkei geringer blieb. Mit der Diversifizierung der Herkunftsländer innerhalb der yezidischen Community nahm die Bedeutung der türkischen Sprache in den lokalen Vereinen ab; es wird seitdem v.a. kurdisch und deutsch gesprochen. Von den weltweit etwa 800.000 Yeziden leben über die Hälfte in den traditionellen kurdischen Siedlungsgebieten im Irak sowie in deutlich geringerer Zahl in Syrien, Iran, Armenien und Georgien. Während nur noch etwa 400 Gemeindeglieder in der Türkei verblieben sind, zählt die deutsche Community inzwischen ca. 80.000 Mitglieder, also ca. zehn Prozent der gesamten Religionsgemeinschaft. Die meisten haben sich in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen niedergelassen. Yezidische Gemeinden in Nordrhein-Westfalen gibt es v.a. in Bielefeld und am Niederrhein. Sie stehen mit Gemeinden in den übrigen Bundesländern über Dachverbände und im Rahmen familiärer Netzwerke in Kontakt. Dieser Beitrag konzentriert sich auf die Situation in Niedersachsen und beruht auf empirischen Untersuchungen der regionalen Gemeinden in Oldenburg,

2

Seit Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien 2011 und dem erklärten Ziel der Bundesrepublik, 5000 syrische Flüchtlinge aufzunehmen, bestehen für eine begrenzte Anzahl von Personen Chancen auf Aufnahme.

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Celle, Osterholz-Scharmbeck und Hannover. Er basiert auf teilnehmenden Beobachtungen in den Jahren 2012 und 2013 sowie auf Interviews mit den lokalen Mitgliedern. Neben den seit den 1990er Jahren entstandenen lokalen Vereinen existiert weiterhin die traditionelle Untergliederung der Community in zwei Geistlichenkasten (Sheikh, Pîr) und eine Laien-Kaste (Mirîd).3 Das Kasten-System sieht vor, dass jedem Mirîd ein Sheikh und ein Pîr zugeordnet sind, ein Sheikh aber auch immer einen Pîr hat und umgekehrt. Die Funktion der Geistlichen ist es, die ihnen zugeordneten Laien seelsorgerisch zu begleiten. Dies geschieht praktisch in einem jährlichen Hausbesuch. Innerhalb der Kasten gilt ein streng umgesetztes Heiratsgebot, d.h. Sheikhs dürfen nur Sheikhs, Pîrs nur Pîrs und Mirîds nur Mirîds heiraten. Ein Verstoß wäre nach yezidischer Ansicht verwerflich und kommt so gut wie nicht vor. Da für Yeziden darüber hinaus die Regel gilt, dass sie nur innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft heiraten dürfen, ergeben sich bezüglich der Partnerwahl umfangreiche Einschränkungen für die Individuen und eine grundsätzliche Ausnahmestellung der gesamten Gemeinschaft, die auch religiös begründet wird.4 Weil man außerdem als Yezide nur geboren werden kann, sind darüber hinaus Mission und Konversion ausgeschlossen. Neben der Einteilung nach Kasten kennt das Yezidentum diverse weitere soziale und religiöse Funktionen. Der weltweiten Gemeinschaft steht ein geistliches (Baba Sheikh) und ein weltliches (Mîr) Oberhaupt vor, die beide ihren Sitz im Irak haben. Innerhalb der Familien kommen zu den geistlichen „Lehrern“ (Sheikh, Pîr, Mîr) „Jenseitsgeschwister“ (biraye/xwişka axrete) hinzu, von denen angenommen wird, dass sie über den Tod hinaus mit der Familie, mit der sie einen Bund eingegangen sind, in Kontakt stehen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass umfangreiche und traditionell gewachsene soziale Institutionen vorliegen, die religiös und kulturell angemessenes Verhalten garantieren sollen. Dies gilt sowohl innerhalb der engeren Familie, im größeren Familienverbund als auch im Rahmen der regionalen Gemeinden in der Diaspora.5 Die religionswissenschaftliche Erforschung der yezidischen Religion konzentrierte sich seit den ersten Veröffentlichungen im 19. Jahrhundert (vgl. Layard 1849) auf die Suche nach Ursprüngen der als exotisch empfundenen Re-

3

Die Verwendung des Begriffs „Kaste“ im yezidischen Zusammenhang ist umstritten, bestätigt sich aber in der gebräuchlichen deutschsprachigen Eigenbezeichnung der Gemeinde.

4 5

Demnach stammen Yeziden als einziges „Volk“ allein von Adam, nicht von Eva ab. Parallel zu den genannten religiösen Zuordnungen verlaufen außerdem Loyalitäten, die auf Clan- und Parteizugehörigkeiten beruhen.

150 | THORSTEN W ETTICH ligion.6 Ein weiteres wichtiges Thema der Forschung war die Suche nach heiligen Texten der yezidischen Gemeinschaft. Als Anfang des 20. Jahrhunderts plötzlich zwei heilige yezidische Bücher (das Meshefa Reş und das Kitab el Cilwe) auftauchten, wurde dies von der Forschung euphorisch gefeiert (vgl. Bittner 1913). Wie sich später herausstellte, handelte es sich bei diesen Versionen nicht um Originale.7 Anstelle dessen beruft sich das Yezidentum auf mündlich überlieferte heilige Texte (qewls), die erst in den 1990er Jahren westlichen Forschern offengelegt und seitdem intensiv gesammelt und verschriftlicht wurden.8 Es zeigte sich, dass die yezidische Religion, anders als die sogenannten abrahamitischen Traditionen, nur vor dem Hintergrund einer mündlich geprägten Kultur sinnvoll zu begreifen ist. Die yezidische Community in Deutschland wurde bisher von Kreyenbroek et al. (2009) und Ackermann (2003: 157-177) untersucht. Dabei konzentrierte sich Ackermann auf die Anwendung des Diaspora-Begriffs auf die yezidische Community, während Kreyenbroek et al. auf einen Unterschied zwischen den Generationen in der Wahrnehmung des religiösen Lebens in Deutschland im Verhältnis zu den Herkunftsgebieten aufmerksam machten. Außerdem hat sich aus der yezidischen Community in Deutschland selbst in den letzten 20 Jahren eine intensive wissenschaftliche Publikationstätigkeit entwickelt. Häufig aufgegriffene Themen waren die Traumatisierung der Yeziden aufgrund ihrer geschichtlichen und fortwährenden Verfolgung,9 die eigene Religionsgeschichte sowie die heiligen Texte.10 Wenig erforscht sind die Zusammensetzungen der yezidischen Gemeinden nach Gender, Clan, Kaste, Nationalität oder parteipolitischer Zugehörigkeit sowie die Implikationen der Arbeit der yezidischen Vereine in Hinblick auf zivilgesellschaftliche Potentiale. Letztere sollen im Folgenden erstmals systematisch erläutert werden.

6

Vermutet wurden u.a. Zusammenhänge mit christlichen Sondergruppen und islamischer Mystik.

7

In Teilen der Community wird davon ausgegangen, dass es eine ursprüngliche Fassung der beiden heiligen Bücher gegeben hat, deren Aufenthaltsort und Geschichte jedoch unbekannt ist.

8

Zuerst bei Kreyenbroek 1995.

9

Erstmals ausführlich bei Kizilhan 1997.

10 Es sind auch mehrere Einführungen in die yezidische Religion erschienen: z.B. Issa 2008. Vgl. außerdem eine auf Celle beschränkte qualitative Studie zum Verhältnis zur „Mehrheitsgesellschaft“: Siamend/Savelsberg 2001: 17-52.

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N ETZWERKE Der lokale yezidische Verein wird in vielen Fällen einfach als „Haus der Yeziden“ (Mala Êzîdiyan) bezeichnet und steht für einen Ort, an dem sich die Gemeinde treffen und Kontakte pflegen kann. Im Fall der jeweils etwa 20 Jahre alten Vereine Yezidisches Forum e.V. in Oldenburg und dem Êzidischen Kulturzentrum in Celle und Umgebung e.V. handelt es sich bei der entsprechenden Immobilie um einen selbsterbauten und eigenständig finanzierten größeren Multifunktionsbau, der grundsätzlich der gesamten regionalen Gemeinde, d.h. nicht nur den Mitgliedern des Vereins, offen steht. Es gibt keine regelmäßigen wöchentlichen Zusammenkünfte religiöser Art, sondern die Vereine bieten gruppen- und themenspezifische soziale Dienste an. Im Yezidischen Forum finden z.B. wöchentlich Integrationshilfekurse für Frauen, Treffen einer Frauen-, einer Jugend- und einer Mädchengruppe, Lernförderungsangebote für Schulkinder, Religionsunterricht für Kinder und eine Asylberatung statt. 11 Ähnliche Angebote gibt es auch in Celle.12 Die erst 2011 gegründete Yezidische Gemeinde Osterholz-Scharmbeck e.V. hat in der kurzen Zeit ihres Bestehens ebenfalls einen beachtlichen Umfang an sozialen Diensten herausgebildet: Jugend- und Mädchengruppe, kurdischen Sprachunterricht, yezidischen Religionsunterricht und ein „Kommunikations-Café“ für Jung und Alt.13 In allen drei Fällen stehen die innerreligiöse Kontaktpflege und der Dienst an der lokalen Gemeinde im Vordergrund. Insbesondere anlässlich von Beerdigungen kommen Yeziden aus verschiedenen Teilen Deutschlands, sogar aus dem europäischen Ausland, zusammen, um ausführlich Trauerarbeit zu leisten. Die grenzüberschreitende Trauergemeinde umfasst dabei meist mehrere hundert Personen und steht jedem (auch Nichtyeziden) offen. Auffällig ist die aufwendige Bewirtung (xêr) und gastfreundliche Behandlung auch von Personen, die nicht der yezidischen Religionsgemeinschaft angehören. Während sich die weiblichen Angehörigen meist in dafür separierte Räume zur lautstarken Klage zurückziehen, verbringen die männlichen Angehörigen mehrere Tage (oft das Wochenende) im großen Saal der Vereinsheime, wenn diese vorhanden sind. Der Sheikh und der Pîr, die dem/der Verstorbenen zugeordnet sind, sowie dessen Jenseitsbruder oder deren Jenseitsschwester müssen bei der rituellen Leichenwaschung zugegen sein. Sie sprechen ein Gebet für

11 Vgl. http://www.yeziden.de/402.0.html vom 20.02.2014. 12 Ein Fernsehbeitrag über die Celler Folklore-Gruppe Koma Laliş findet sich im Internet: http://www.youtube.com/watch?v=sYObnj_ECCw vom 20.02.2014. 13 Vgl. http://www.yeziden-ohz.de/aktivit%C3%A4ten vom 20.02.2014.

152 | THORSTEN W ETTICH den Verstorbenen und legen berat (kleine Tonkugeln aus der heiligen Quelle in Lalish) auf dessen bzw. deren Augen. Binnen eines Jahres nach dem Todestag kommt die Trauergemeinde noch zweimal zusammen, um den Verstorbenen zu beklagen und die Hinterbliebenen religiös zu ermutigen (Seelsorge). Im Ausmaß den Beerdigungen vergleichbar sind Hochzeiten, die einen ähnlichen logistischen Aufwand bedeuten. Der Brauch, sich anlässlich von Hochzeiten Geldgeschenke zu machen, kann ebenfalls als Transfer von Geld und Gütern innerhalb der yezidischen Community bezeichnet werden, da einem Brautpaar bei einer großen Feier mit 100 gastierenden Familien unter Umständen eine fünfstellige Summe zukommen kann, die dann als Startgeld für die neue Lebensgemeinschaft gedacht ist. Auch auf den Hochzeiten steht die Bewirtung der Gäste durch die Familien des Brautpaars im Vordergrund, wichtig sind außerdem Musik und Tanz. Religiöse Rituale sind in diesem Zusammenhang kaum zu beobachten. Die jahreszeitlichen Feste Çarşema sor/Sersala (ein Fest zu Beginn des Frühlings) im April, Îda Êzî (ein Fest zur Feier der yezidischen Gemeinschaft) im Dezember und in eingeschränktem Maße Cema’iya Sîxadî (eine Festwoche zu Ehren Sheikh Adîs) im Oktober sind weitere Anlässe größerer überregionaler yezidischer Zusammenkünfte. Über den Ad-hoc-Charakter solcher Anlässe hinaus haben sich innerhalb der yezidischen Community in Niedersachsen auch Formen langfristig angelegter Partnerschaften entwickelt. Ein Beispiel ist der Wissenstransfer zwischen dem etablierten Verein Yezidisches Forum aus Oldenburg und der Yezidischen Gemeinde Osterholz-Scharmbeck e.V. seit deren Gründung im Jahr 2011. Der 20 Jahre alte und sozio-ökonomisch besser aufgestellte Oldenburger Verein unterstützte den jüngeren und kleineren Verein bei der Erstellung einer Satzung, der Organisation der bisher größten Veranstaltungsreihe und führte Mitarbeiterschulungen durch. Finanziell leben die genannten yezidischen Vereine in Niedersachsen von Mitgliedsbeiträgen, Spenden aus der Gemeinde und öffentlichen Zuwendungen in Projekten und Kooperationen. Daneben fußt die Gemeindearbeit auf ehrenamtlichem Engagement der Mitglieder, alle vorab genannten sozialen Dienste werden von Vereinsmitgliedern unentgeltlich betreut.14 Dabei sind sowohl Geistliche als auch Laien in die Vereinsarbeit eingespannt. Weitere traditionelle Ausgleichsleistungen innerhalb der Gemeinde bestehen unabhängig von den Vereinen fort. So sieht das Kastensystem eine Pflichtabgabe der religiösen Laien (Mirîd) gegenüber den Geistlichen (Sheikh und Pîr) vor. Dies geschieht prak-

14 Eine Ausnahme bilden zwei bezahlte Kräfte im Rahmen des KING-Projekts in Oldenburg. Vgl. http://www.yeziden.de/432.0.html vom 20.02.2014.

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tisch so, dass die Geistlichen bei ihrem jährlichen Pflichtbesuch in den Privathäusern der ihnen zugeordneten Laien einen bestimmten Geldbetrag (ca. 50 Euro) erhalten. Im Gegenzug ist es ihre Aufgabe, die Laien aufgrund ihres Wissens um die Geheimnisse der yezidischen Religion, die u.a. auf den mündlich überlieferten qewls beruhen, religiös zu unterweisen und ihnen Seelsorge oder auch Heilung zukommen zu lassen. Prinzipiell verfügen die Sheikhs und Pîrs aufgrund ihrer religiösen Kaste in den Augen der yezidischen Community über eine erbliche persönliche Heiligkeit. Auf der intrareligiösen Ebene der yezidischen Community in Niedersachsen gibt es keine einheitliche Theologie, die sich auf einen Kanon an Texten und einen Bestand an Normen beruft. Flächendeckend findet sich das Kastensystem und überwiegend wird nur innerhalb der Gemeinschaft geheiratet. Darüber hinaus sind jedoch wesentliche Inhalte sowie ethische Vorschriften und Verbote lokal unterschiedlich ausgeprägt und sowohl geschichtlich als auch aktuell Gegenstand interner Auseinandersetzungen (etwa die Frage nach der Bedeutung Sheikh Adîs). Bezüglich dieser Themen gibt es theologische Traditionslinien, die auf Verwandtschaft, nationaler bzw. regionaler Herkunft oder Parteizugehörigkeit beruhen. Parallel dazu nehmen viele Yeziden unabhängig von ihrer Kastenzugehörigkeit im Rahmen der zunehmenden Verfügbarkeit von schriftlichen Quellen die Auslegung ihrer Religion in die eigene Hand. Zwar gibt es strategische Allianzen in Form von zwei verschiedenen bundesweiten Dachverbänden. Diese sind als langfristige und wertegebundene Partnerschaften der jeweiligen lokalen Mitgliedsvereine angelegt, um gegenüber öffentlichen Einrichtungen und nach innen effektiver zu operieren. So existieren zurzeit der Zentralrat der Yeziden in Deutschland mit Sitz in Oldenburg und die Föderation der yezidischen Vereine e.V. mit Sitz in Celle nebeneinander.15 Es laufen jedoch Verhandlungen über einen möglichen Zusammenschluss, weshalb sich nicht länger eine klare Trennung behaupten lässt. Ebenso gibt es an jenen Orten in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen mit den größten regionalen Gemeinden (Celle, Oldenburg, Bielefeld, Hannover) Tendenzen, in mehreren lokalen Vereinen unterschiedliche inhaltliche Akzente zu setzen. Durch den Anschluss an die Dachverbände und informellen Netzwerke (Familien), stehen sie aber nichtsdestotrotz miteinander in Verbindung. In interreligöser Hinsicht dominieren ebenfalls die lokalen Vereine als Akteure. Sie treten als yezidische Interessenvertretung auf und organisieren Wissenstransfer mit anderen religiösen Gruppierungen. Dies ließ sich z.B. anschau-

15 Hier findet sich eine Übersicht der Mitgliedsvereine: http://www.yeziden.de/ver eine.0.html vom 20.02.2014.

154 | THORSTEN W ETTICH lich auf der von der Yezidischen Gemeinde in Osterholz-Scharmbeck organisierten Veranstaltung mit dem Titel „Was können Religionen für die Menschen tun?“16 beobachten. Fallgeschichte Im Herbst 2013 führte die yezidische Gemeinde in Osterholz-Scharmbeck im Rahmen eines kurzzeitigen und zweckgebundenen Projekts mit dem Niedersächsischen Sozialministerium eine Veranstaltungsreihe unter dem Titel „JugendPotentiale in OHZ stärken“ durch. Die Veranstaltung mit dem Titel „Was können Religionen für die Menschen tun?“ wurde am 20.10.2013 in den Räumlichkeiten des Vereins durchgeführt. Eingeladen hatte dazu auch die Integrationsbeauftragte der Stadt Osterholz-Scharmbeck, die den Nachmittag durch ein Impulsreferat eröffnete, in welchem sie die Integrationspotentiale betonte, die von religiösen Gemeinden für die Stadt ausgingen. Einige dieser religiösen Gemeinden kamen jeweils in Vertretung einer abgeordneten Person zum übergeordneten Thema zu Wort. Es sprachen Vertreter einer evangelischen und römisch-katholischen, einer alevitischen, einer schiitischen, der Bahai- und der yezidischen Gemeinde. Die (mit Ausnahme der Integrationsbeauftragten männlichen) Referenten nutzten jeweils die Gelegenheit, ihre eigene religiöse Tradition vorzustellen und das Interesse ihrer Gemeinde an interreligiöser Kooperation darzustellen. Die Veranstaltung wurde v.a. von Angehörigen der regionalen yezidischen Gemeinde, aber auch von einem weiteren interessierten Publikum besucht, welches zunächst im Rahmen einer Fragerunde und anschließend im informellen Ausklang in die Diskussion eingebunden werden konnte. Der Besucherzahl, dem Aufwand und der Beteiligung von Referenten und Publikum nach kann die Veranstaltung als Erfolg gewertet werden. Die yezidische Gemeinde in Osterholz-Scharmbeck präsentierte sich als weltoffener Gastgeber und brachte unter ihrem Dach unterschiedliche Religionen zusammen. Die Beteiligung der Integrationsbeauftragten der Stadt unterstrich die öffentliche Unterstützung und Wertschätzung für diese Veranstaltung sowie den Willen zu einer weiterführenden Kooperation.

16 Dokumentation durch den Verein: http://www.yeziden-ohz.de vom 06.01.2014. Wiedergabe des Impulsreferats der Integrationsbeauftragten der Stadt OsterholzScharmbeck:

http://www.stadtteilarbeit-haus-der-kulturen-ohz.de/downloads/Forum

%20interreligi%C3%B6ser%20Dialog/Ansprache-20_10_2013-.pdf vom 06.01.2014.

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Interreligiöse Kontaktzonen haben sich für die yezidischen Gemeinden in Niedersachsen auch durch die wohnbauliche Nachbarschaft oder die gemeinsame Beschulung mit Kindern mit anderen religiösen oder weltanschaulichen Prägungen ergeben. In diesem Zusammenhang lässt sich beobachten, dass viele Yeziden im Gespräch mit Christen darum bemüht sind, die Nähe einiger ihrer theologischen Elemente zum Christentum zu betonen. So wurde in mehreren Interviews ausgeführt, dass die Bedeutung yezidischer und christlicher Feste grundsätzlich vergleichbar sei und die Ähnlichkeit der Dreiheit von Schöpfergott Xwedê, dem Engel Tawus-i Melek und dem „yezidischen Reformator“ Sheikh Adî mit der christlichen Dreieinigkeit hervorgehoben. Der yezidische Religionsunterricht, der in den Vereinen in Oldenburg, Osterholz-Scharmbeck und Celle angeboten wird, hat sich im Laufe der letzten Jahre auf die Erwartungshaltung und Lernform der Kinder und Jugendlichen eingestellt, die in der Diaspora aufwachsen. Anders als die vorab genannten lokal tätigen yezidischen Vereine funktioniert die Ezidische Akademie e.V. in Hannover. Sie spricht keine explizite lokale Gemeinde an, sondern arbeitet sowohl „ortsbezogen, aber auch überregional“ und betreibt laut Satzung „Öffentlichkeitsarbeit durch Veröffentlichungen, Diskussionen, Lesungen, Publikationen, Seminare, Tagungen, Vorträge und Werkstätten“ sowie „Forschungen im Allgemeinen über Eziden und Ezidentum und Mesopotamien“.17 Sie stellt damit ebenfalls ein Forum für innerreligiösen Kontakt für die in Hannover und Umgebung lebenden Yeziden dar und bietet soziale Dienste für diese an. Ihr Schwerpunkt liegt jedoch im intrareligiösen Wissenstransfer zwischen den yezidischen Gemeinden in Deutschland sowie v.a. gegenüber nichtyezidischen Partnern auf außerreligiöser Ebene. Ein umfangreiches Projekt, mit dem Titel „Eltern fördern – Kinder stärken“ wird von der Ezidischen Akademie mit Mitteln des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration durchgeführt.18 Hierbei werden an verschiedenen Orten in Niedersachsen mit lokalen Partnern – in den beobachteten Fällen etwa die Hauptschule Nikolaus Kopernikus in Garbsen und die Anne-FrankSchule in Rosdorf – Informationsveranstaltungen vornehmlich für lokale yezidische Eltern durchgeführt, deren Themen entwicklungspsychologische Schritte der Kinder, das niedersächsische Schulsystem oder auch der Umgang mit neuen Medien sind.

17 http://www.ezidak.de/images/stories/PDF/satzung2011.pdf vom 20.02.2014. 18 Vgl.

http://www.ezidische-akademie.de/de/component/content/article/69-eltern-foer

dern-kinder-staerken/315-eltern-foerdern-kinder-staerken.html vom 24.07.2014.

156 | THORSTEN W ETTICH Eine erfolgreiche außerreligiöse Kooperation in einer langfristig angelegten Partnerschaft wurde zwischen dem LandFrauenkreisverband Celle, dem Frauenbüro des Landkreises Celle, sowie Yezidinnen aus der Stadt und dem Landkreis Celle verwirklicht. In einer „interkulturellen Schreibwerkstatt“19 tauschten sich Yezidinnen mit LandFrauen unter geschlechtsspezifischem und zuwanderungsgeschichtlichem Blickwinkel biographisch aus. Die Begegnungen, die in den Privathäusern der Beteiligten stattfanden, trugen zum Abbau bestehender Vorurteile und zum Aufbau eines gegenseitigen Verständnisses bei, wie der hieraus entstandenen Abschlusspublikation zu entnehmen ist (vgl. Brinken 2010). Ein anderes Beispiel ist eine Fotoausstellung des aus Batman stammenden Künstlers Selim Toprak, die in den Räumlichkeiten des Landkreises Celle in Kooperation mit dem Êzidischen Kulturzentrum veranstaltet wurde. Sie wurde als Gelegenheit genutzt, sich für eine Städtepartnerschaft zwischen der türkischen Kommune Batman und der Stadt Celle einzusetzen.20 Weitere Beispiele für Vernetzungen yezidischer Vereine mit lokalen Einrichtungen sind das Engagement des Yezidischen Forums in Oldenburg im Rahmen des Antidiskriminierungsnetzwerks Niedersachsen21 oder die Mitwirkung der Ezidischen Akademie in Hannover im 2013 neu gegründeten MigrantenElternNetzwerk.22 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in den untersuchten Städten Osterholz-Scharmbeck, Hannover, Oldenburg und Celle diverse multidimensionale zivilgesellschaftliche Potentiale in den jeweiligen Formen und Inhalten der Beziehungen erkennbar sind. Viele kurz- und mittelfristige Kooperationsprojekte werden von den yezidischen Vereinen selbst angeschoben. Andere Initiativen gehen von öffentlichen Stellen oder Einzelpersonen außerhalb der yezidischen Community aus. Dabei überwiegen zwischen yezidischen und anderen Einrichtungen bisher v.a. kurzfristige und zweckgebundene Kooperationen in Form von Projekten mit kurzer Förderdauer; strategische Allianzen längerer Dauer befinden sich erst im Aufbau. Wertegebundene Partnerschaften oder Ad-hocAktivitäten der yezidischen Community in Niedersachsen mit Dritten sind bereits im Zusammenhang von Asylbelangen entstanden, aber ansonsten v.a. intern in den traditionellen Netzwerken der Gemeinschaft und durch die Vernetzungsaktivitäten der Vereine zu finden.

19 http://www.kreislandfrauen-celle.de/projekte/schreibwerkstatt vom 21.07.2014. 20 Vgl.

http://celleheute.de/cellebatman-freundschaft-ja-partnerschaft-vielleicht

10.01.2014. 21 Vgl. http://www.yeziden.de/415.0.html vom 10.01.2014. 22 Vgl. http://www.men-nds.de vom 10.01.2014.

vom

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E INFLUSSFAKTOREN Die dargestellten Beziehungen sind nur vor dem Hintergrund interner und externer Einflussfaktoren zu verstehen, die im Folgenden erörtert und mit den bisherigen Ausführungen ins Verhältnis gesetzt werden sollen. Ihrem theologischen Selbstverständnis nach versteht sich die yezidische Gemeinschaft als ausgezeichnetes Volk unter anderen Völkern. Dies wird mythologisch in dem Bild vermittelt, dass allein das „yezidische Volk“ von Adam und nicht von Eva abstamme, und wird in der Praxis dadurch, dass ein Heiratsverbot mit nichtyezidischen Menschen besteht und eine Konversion zur yezidischen Religion nicht möglich ist, tatsächlich gelebt. Diese Konstellation bringt eine sehr starke, geschichtlich bedingte, Konzentration auf die eigene Gemeinschaft mit sich. Diesbezüglich positioniert sich die yezidische Community in Niedersachsen öffentlich jedoch so, dass sie im Gegenteil darum bemüht ist, auch in theologischer Hinsicht, ein Selbstverständnis aufzubauen und zu vermitteln, welches die Belange der eigenen Gemeinschaft zurückstellt. Symbolisch wird in diesem Zusammenhang oft ein Zitat aus den eigenen religiösen Texten bemüht: „Gott schütze zuerst die 72 Völker und dann uns!“23 Das religiöse Rollenverständnis, welches mit der genannten selbstempfundenen ethnischen Ausnahmestellung zusammenhängt, muss historisch differenziert betrachtet werden. Die meisten Funktionäre der yezidischen Vereine in Osterholz-Scharmbeck, Celle, Oldenburg und Hannover betonen, dass es nur aufgrund der anhaltenden Verfolgungssituation in den Herkunftsgebieten zu einer Abschottung der eigenen Gemeinschaft kommen konnte, diese also sozialgeschichtlich und nicht theologisch begründet ist.24 In Deutschland erleben Yeziden nach eigenen Angaben erstmals in ihrer Geschichte Religionsfreiheit und damit Möglichkeiten der freien religiösen Selbstentfaltung, wie die öffentliche Feier ihrer Feste und Vermittlung ihres religiösen Wissens. In Bezug auf diese religionspolitischen Rahmenbedingungen wird vor dem Hintergrund der eigenen Verfolgungsgeschichte immer wieder die Dankbarkeit gegenüber dem deutschen Staat und der Zivilbevölkerung betont. Für die weitere Entwicklung dürfte auch die Konstitution des multireligiösen Feldes in Deutschland und insbesondere das Verhältnis der yezidischen Religion zu Christentum und Islam von entscheidender Bedeutung sein. Während histori-

23 Vgl. z.B. bei Issa 2008. 24 Einige Yeziden möchten die gesamte Entwicklung der eigenen Gemeinschaft vor dem Hintergrund eines durch Verfolgung und Unterdrückung entstandenen kollektiven Traumas (das yezidische Stichwort ist ferman) verstehen (vgl. Kizilhan 1997).

158 | THORSTEN W ETTICH sche Quellen darauf hindeuten, dass sich die mittelalterliche yezidische Gemeinschaft in Opposition zur Scharia, dem islamischen Gesetz, verstanden hat,25 muss von einem fruchtbaren historischen Austausch zwischen yezidischer Religion und Sufismus, dem mystischen Zweig des Islam, ausgegangen werden. Im weiteren geschichtlichen Verlauf ist dann aber von beiden Seiten eine deutliche Abgrenzung des Yezidentums vom Islam zu beobachten.26 Yeziden und die yezidischen Vereine in den untersuchten niedersächsischen Städten haben dessen ungeachtet zu muslimischen Personen und Institutionen Kontakt aufgenommen und sind darum bemüht, diese Beziehungen auszubauen. Weil Christen im yezidischen Geschichtsverständnis Leidensgenossen im Nahen Osten darstellen und, wie bisweilen von yezidischer Seite behauptet wird, theologisch zwischen beiden „nur ein Haar liegt“, sind die Voraussetzungen für interreligiösen Dialog in Niedersachsen diesbezüglich sehr gut.27 Langfristig angelegte gemeinsame interreligiöse Projekte sind jedoch selten. Die Emigration nach Deutschland hat auch soziokulturelle Herausforderungen mit sich gebracht. Kreyenbroek et al. (2009) haben darauf hingewiesen, dass es bezüglich der Wahrnehmung der eigenen Religion Unterschiede zwischen jenen Generationen gibt, die noch den Großteil ihres Lebens in den kurdischen Herkunftsgebieten verbracht haben, und solchen, die in Deutschland geboren wurden. Das gilt etwa für die Wertschätzung bzw. Akzeptanz des Kastensystems, aber auch für den religiösen Vollzug. Viele yezidische Jugendliche haben wenig Interesse an der Religion ihrer Eltern und empfinden diese als veraltet. Von Seiten der Vereine wird auf diese Tendenzen mit dem Versuch der Modernisierung der Theologie reagiert. Auf der anderen Seite werden teilweise auch von Seiten der dritten Generation der Community yezidische Werte zur Orientierung und Identifizierung in einer sich rapide wandelnden Gegenwart herangezogen.28 Für die interne Entwicklung der yezidischen Community in Niedersachsen ist außerdem die demographische Zusammensetzung von zentraler Bedeutung. Durch den Zuzug ist infolge des Stader Urteils mit den traditionellen Siedlungs-

25 Vgl. die Quelle bei Kreyenbroek 1995. 26 Der folgenreichste und schwerwiegendste Vorwurf von muslimischen Seiten besteht in der Anbetung des Teufels. Vgl. auch die Titel der Veröffentlichungen von Layard 1849, Siouffi 1882 und Bittner 1913. 27 In der Diaspora lassen sich sogar Tendenzen der theologischen Angleichung an das Christentum beobachten. 28 Vgl. http://www.ciwanen-ezidi.de/pdf/Die_Kraft_und_Intention_durch_das_Prinzip_ Tawisi_Melek.pdf vom 16.07.2014.

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gebieten in der Türkei eine ganze Region aufgegeben worden, die seitdem fast vollständig durch den Aufbau neuer Strukturen in der Bundesrepublik ersetzt werden musste. Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich derzeit in Syrien ab. Auch hier werden viele yezidische Siedlungen im Zusammenhang des Kriegs für eine neue Zukunft in Deutschland aufgegeben. Weil Yeziden im türkischsyrischen Grenzgebiet teilweise seit langem voneinander abgeschnitten waren, kommen in Niedersachsen regionale Traditionen miteinander in Kontakt, die sich aufgrund nationalstaatlicher Regelungen und weiterer interner Differenzkriterien ansonsten nie begegnet wären. Während die als Gruppenverfolgte eingestuften aus der Türkei ausgewanderten Yeziden überwiegend die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben, gibt es nach wie vor große Teile der Community, deren Asylverfahren noch nicht abgeschlossen sind. Vor dem Hintergrund der daraus resultierenden prekären rechtlichen und sozialen Situation, der genannten Aufgabe der Heimatgebiete und der eventuellen Traumatisierung aufgrund von Verfolgung kann die soziale und emotionale Situation dieser neu zugewanderten Personen als schwierig gelten. In der Folge besteht ein Bedürfnis nach öffentlicher Fürsprache und politischer Interessenvertretung, aber auch Nachfrage nach religiöser Heilung durch die entsprechenden Institutionen. Es kann davon ausgegangen werden, dass die yezidische Community in Niedersachen für die weltweit vorkommende yezidische Glaubensgemeinschaft eine hohe Bedeutung besitzt, da sie im Verhältnis zu den übrigen Gemeinden im Nordirak eine starke und stabile sozioökonomische Situation aufweist und mit zehn Prozent an der Gesamtgemeinschaft auch eine prozentual gewichtige Größe hat. Den meist aus der Türkei stammenden yezidischen Migranten in Niedersachsen war es möglich, binnen nur einer Generation umfangreiche Strukturen aufzubauen und in vielen Bereichen die Rechte und Forderungen ihrer religiösen Gemeinschaft in den Herkunftsgebieten zu unterstützen. Dies drückt sich in Einflüssen auf die religiöse Meinungsbildung aus, etwa die Unterstützung der Entwicklung hin zu einer Kanonisierung der bisher vornehmlich mündlich überlieferten heiligen Texte. Im öffentlichen Diskurs auf bundesdeutscher Ebene dürfte die yezidische Community in Niedersachsen allgemein noch relativ unbekannt sein. Nur in Städten wie Celle, Oldenburg und Leer haben viele Schulkinder yezidische Mitschüler und kommen Eltern mit Mitgliedern der lokalen yezidischen Gemeinden durch Nachbarschaft und im Arbeitsumfeld in Kontakt. In den dortigen Lokalzeitungen werden die Aktivitäten der yezidischen Vereine positiv aufgenommen und ihre zivilgesellschaftliche Bedeutung betont (vgl. Horrmann 2012). Andererseits werden in der Presse gelegentlich Vorurteile, wie etwa die Tendenz zum

160 | THORSTEN W ETTICH Ehrenmord, gegenüber der yezidischen Gemeinde wiederholt (vgl. Posener 2011).29 Während in der Forschungsliteratur die Diaspora-Situation in den 1980ern noch als Gefahr für die yezidische Religion angesehen wurde (vgl. Schneider 1984), entsteht insbesondere durch die aktive Selbstdarstellung der yezidischen Community in Deutschland mittlerweile ein differenzierteres Bild. Da der Aufbau der yezidischen Community in Niedersachen noch immer in der Entwicklung begriffen und seine Geschichte nur etwa 30 Jahre alt ist, geben aktuelle Tendenzen den zuverlässigsten Hinweis über mögliche zukünftige Entwicklungen. Die Reichweite der Interessenvertretung und öffentlichen Fürsprache ist zumeist noch auf die kommunale oder Kreisebene begrenzt. Häufige Neugründungen yezidischer Vereine in Niedersachsen in den letzten fünf Jahren stellen gegenüber den 1990er Jahren einen beschleunigten Trend dar. Es bleibt abzuwarten, ob die Lokalisierung der Gemeinde in solchen kleineren Vereinen einen Erfolg darstellt oder in welchem Umfang auf regionaler, bundesdeutscher und eventuell auch europäischer Ebene in den nächsten Jahren interne strategische Allianzen eingegangen werden, die schließlich die eigene Interessenvertretung verbessern.30

V ERGLEICH Alle in diesem Band dargestellten Migrantengemeinden müssen zwischen traditionellen Strukturimporten und neuerlichen Strukturanpassungen verhandeln. Teilweise vollzieht sich dieser Prozess wie bei der syrisch-orthodoxen (vgl. Ulf Plessentin) und yezidischen Migrantengemeinde in Deutschland erstmals in einem Staat, in dem Religionsfreiheit garantiert wird. Dabei können die theologischen Innovationen, welche unter den neuen Umständen ausgelöst werden, mit einer Demokratisierung der traditionellen Umstände einhergehen. So versuchen sich etwa die Neo-Muslime gegenüber traditionellen theologischen Autoritäten zu etablieren (vgl. Karin Mykytjuk-Hitz). Auch im Fall der yezidischen Community in Niedersachsen wird religiöses Wissen nicht mehr exklusiv von religiö-

29 Auf einer Konferenz am 01.12.2012 unter dem Titel „Religiöse Diskriminierung der Yeziden“ hat das Yezidische Forum in Oldenburg auf derartige Vorwürfe reagiert. Video-Dokumentation online verfügbar unter: http://www.youtube.com/watch? v=BHf6ad6zM0Y vom 10.01.2014. 30 Diese neueren und neuesten Tendenzen des Gemeindeaufbaus in Deutschland sind wiederum ins Verhältnis zu setzen zu dem irakischen Zentrum zum einen und den weiteren Diasporen zum anderen.

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sen Spezialisten mündlich übermittelt. Gleichzeitig wächst die Bedeutung akademischer Gelehrter unabhängig von der Kastenzugehörigkeit (Theologisierung). Für die unterschiedlichen religiösen Gemeinden bedeuten diese Strukturanpassungen jedoch auch die Gefahr eines Traditionsabbruchs und die Infragestellung der bestehenden Eliten. Wie die Funktion der religiösen Spezialisten in den koreanischen christlichen Gemeinden (vgl. Sabrina Weiß) und die Analyse interreligiöser Initiativen (vgl. Nelly C. Schubert) zeigt, ist es für Dritte stets angebracht, sich vor Augen zu führen, mit wem man gerade spricht. Hierdurch wird vermieden, dass die Ansichten einzelner Akteure in der jeweiligen Gemeinde im Verhältnis zu der Gesamtheit der Gruppe ein zu starkes Gewicht erhalten. So sind die genannten regionalen, familiären und politischen Traditionslinien in der Arbeit der yezidischen Vereine mitzudenken. Generell erfahren die nunmehr 15 yezidischen Vereine in Niedersachsen in den jeweiligen Kommunen eine breite Unterstützung. Der Grad der Institutionalisierung, d.h. die tatsächliche Handlungsfähigkeit und die inner- wie außerreligiöse Vernetzung der Vereine, können für das Eingehen von Kooperationen erste Anhaltspunkte sein. Auf der anderen Seite lohnt es sich zu hinterfragen, welche Teile der Community die einzelnen yezidischen Institutionen jeweils repräsentieren wollen und können. Die Bedeutung des Verhältnisses der einzelnen Religionsgemeinschaften zu den Herkunftsgebieten ihrer Mitglieder ist von enormer Wichtigkeit. Je nachdem ob, wie im Fall der koreanischen Christen, eine fortwährende Fluktuation zwischen Herkunftsland und Deutschland herrscht, eine Rückkehrhoffnung nach traumatischer Zerstreuung weiterbesteht oder diese, wie bei den tamilischen Hindus (vgl. Sandhya Marla-Küsters), zunehmend unrealistisch wird, gestalten sich die transnationalen Beziehungen mit den in der Heimat Verbliebenen unterschiedlich. Für Yeziden mit türkischer Herkunft, die ihre Heimat verloren haben und in Niedersachsen angekommen sind, bestehen weiterhin Bezüge zum religiösen Zentrum Lalish im Irak, auch wenn die Wenigsten jemals dorthin pilgern werden. In der Lesart Ackermanns liegt in der Diaspora der yezidischen Community in Deutschland für sie selbst und für die Zivilgesellschaft das Potential oder „die Möglichkeit der Kreativität (beziehungsweise Reflexivität) eines eigenständigen und bereichernden Lebens“ (Ackermann 2003: 158). Mit der Entwicklung der Diaspora einher geht grundsätzlich auch die Frage nach der Wahrnehmung der jeweiligen religiösen Minderheit durch die Aufnahmegesellschaft. Das Engagement der Neo-Muslime etwa hat seinen Ausgangspunkt in dem Wunsch nach einer Korrektur des herrschenden Islambildes. Auch wenn Yeziden sich bisweilen mit negativer Presse auseinandersetzen müssen, ist ihr Anliegen diesem Problem allgemein noch vorgeordnet: Um gesellschaftlich

162 | THORSTEN W ETTICH in Aktion treten zu können, muss die yezidische Community zunächst – auch in Kooperation mit Dritten – ihr eigenes Profil entwickeln. Dieser Identitätsbildungsprozess wird sich auch in Zukunft wesentlich auf der innerreligiösen Ebene abspielen. Jedoch zeigen die Arbeit der Vereine, die vermehrte Publikationstätigkeit zum Thema Yezidentum, etliche Einzelinitiativen und der Umgang von Yeziden mit Nachbarn und Arbeitskollegen im Alltag die Beteiligung an zivilgesellschaftlichen Prozessen sowie das Potential der Gemeinde, sich selbst neu aufzustellen.

L ITERATUR Ackermann, Andreas (2003): „Yeziden in Deutschland. Von der Minderheit zur Diaspora“, in: Paideuma 49, S. 157-177. Bittner, Maximilian (1913): Die heiligen Bücher der Jeziden oder Teufelsanbeter (kurdisch und arabisch): Nebst einer grammatischen Skizze, Wien: Hölder. Brinken, Ulrike (2010): Fremde, Frauen, Freundinnen. Êzidinnen und LandFrauen im Gespräch, Celle: Landkreis Celle. Keşer, Şenol (2011): Migranten(dach)organisationen in Deutschland, Berlin: Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. Düchting, Johannes: Die Yezidi und ihre asylrechtliche Behandlung in Deutschland. Online unter: https://www.yumpu.com/de/document/view/4339782/dieyezidi-und-ihre-asylrechtliche-behandlung-in-deutschland vom 21.07.2014. Demir, Hayrî (2011): Die Kraft und Intention durch das Prinzip Tawisî Melek. Online unter: http://www.ciwanen-ezidi.de/pdf/Die_Kraft_und_Intention_ durch_das_Prinzip_Tawisi_Melek.pdf vom 16.07.2014. Horrmann, Christin (2012): „Starke Frau mit 24-Stunden-Job“, in: NordwestZeitung vom 15.12.2012. Online unter: http://www.nwzonline.de/olden burg/politik/starke-frau-mit-24-stunden-job_a_1,0,3354692346.html vom 10.01.2014. Issa, Chaukeddin (2008): Das Yezidentum: Religion und Leben, Oldenburg: Dengê Êzîdiyan. Kizilhan, İlhan (1997): Die Yeziden: Eine anthropologische und sozialpsychologische Studie über die kurdische Gemeinschaft, Frankfurt a. M.: Medico International. Kreyenbroek, Philip (1995): Yezidism – Its Background, Observances and Textual Tradition, Lewingston: Edwin Mellen. Kreyenbroek, Philip (2009): Yezidism in Europe: Different generations speak about their religion, Wiesbaden: Harrassowitz.

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Layard, Austen Henry (1849): Nineveh and its remains: With an account of a visit to the Chaldaean Christians of Kurdistan, and the Yezidis, or Devilwarshippers; and an enquiry into the manners and arts of the ancient Assyrians (Band 1-2), London: Murray. Posener, Alan (2011): „Ein ganz gewöhnlicher Ehrenmord“, in: Die Welt vom 11.12.2011. Online unter: http://www.welt.de/print/wams/politik/article 13761531/Ein-ganz-gewoehnlicher-Ehrenmord.html vom 10.01.2014. Schneider, Robin (1984): Die kurdischen Yezidi: ein Volk auf dem Weg in den Untergang, Göttingen: Gesellschaft für bedrohte Völker. Siamend, Hajo/Savelsberg, Eva (2001): „Yezidische Kurden in Celle. Eine qualitative Untersuchung“, in: Kurdische Studien 1, S. 17-52. Siouffi, Nicolas (1882): „Notice sur la secte des Yézidis“, in: Journal asiatiques 8/9, S. 252-268. Internetseiten http://celleheute.de/cellebatman-freundschaft-ja-partnerschaft-vielleicht vom 10.01.2014. http://www.ciwanen-ezidi.de/pdf/Die_Kraft_und_Intention_durch_das_Prinzip_ Tawisi_Melek.pdf vom 16.07.2014. http://www.ezidak.de/images/stories/PDF/satzung2011.pdf vom 20.02.2014. http://www.ezidische-akademie.de/de/component/content/article/69-eltern-foer dern-kinder-staerken/315-eltern-foerdern-kinder-staerken.html vom 24.07. 2014. http://www.kreislandfrauen-celle.de/projekte/schreibwerkstatt vom 21.07.2014. http://www.men-nds.de vom 10.01.2014. http://www.stadtteilarbeit-haus-der-kulturen-ohz.de/downloads/Forum%20inter religi%C3%B6ser%20Dialog/Ansprache-20_10_2013-.pdf vom 06.01.2014. http://www.yeziden.de/402.0.html vom 20.02.2014. http://www.yeziden.de/415.0.html vom 10.01.2014. http://www.yeziden.de/432.0.html vom 20.02.2014. http://www.yeziden.de/vereine.0.html vom 20.02.2014. http://www.yeziden-ohz.de vom 06.01.2014. http://www.yeziden-ohz.de/aktivit%C3%A4ten vom 20.02.2014. http://www.youtube.com/watch?v=BHf6ad6zM0Y vom 10.01.2014. http://www.youtube.com/watch?v=sYObnj_ECCw vom 20.02.2014.

Die zivilgesellschaftlichen Potentiale von Moscheevereinen P IOTR S UDER

H INTERGRUND Der Islam ist eine monotheistische Religion, die sich im 7. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel herausgebildet hat, und nach dem Christentum die zweitgrößte Religionsgemeinschaft in Deutschland. Die ca. 2350 Moscheevereine (inklusive der alevitischen Vereine) sind die häufigste Form religiöser Vergemeinschaftung unter Migranten und ihren Nachkommen (vgl. Halm/Sauer 2012: 7). Entsprechend der Verteilung von Muslimen in Deutschland gibt es in NordrheinWestfalen die meisten Moscheevereine (vgl. ebd.: 233). Ein Großteil von ihnen ist türkischsprachig und praktiziert den sunnitischen Islam. Darüber hinaus existieren auch sunnitische Moscheevereine mit mehrheitlich marokkanischen oder bosnischen Mitgliedern sowie schiitische Moscheevereine. Auch wenn nur ein Teil der in Deutschland lebenden Muslime in Moscheevereinen organisiert ist, kann diese Art der Vergemeinschaftung aufgrund ihrer Verbreitung und Bedeutung für die religiöse Praxis und das Sozialleben als das Kernelement ihrer religiösen Selbstorganisation bezeichnet werden. Moscheen (arab. Masjid, „der Ort an dem man sich niederwirft“) bilden seit dem 7. Jahrhundert spirituelle Orte des Gebets und soziale Treffpunkte für Muslime. Schon in den frühen Epochen des Islam waren größere Moscheen v.a. multifunktionale Gemeinschaftszentren, in denen verschiedene Einrichtungen wie Armenküchen, medizinische Dienste, Bäder (Hamams), Dienstleister wie z.B. Friseure sowie Bibliotheken integriert waren (vgl. Alder 2003; Beinhauer-Köhler 2009: 62ff). Unterhalten wurden diese Anlagen durch sogenannte fromme Stiftungen von wohlhabenden Spendern (arab. waqf, pl. auqâf). Mit dem Wandel der Staatlichkeit und der Herstellung staatlicher Souveränität wurden die Stiftungen

166 | P IOTR S UDER abgeschafft oder unter direkte staatliche Kontrolle gestellt (vgl. Kogelmann 2003: 284f). Heutzutage werden die Moscheen in Ländern mit überwiegend muslimischer Bevölkerung von Auqâf-Behörden bzw. Ministerien verwaltet. Die Funktionen der Stiftungen sind zum Teil auf andere öffentliche Einrichtungen übergegangen (vgl. Alder 2003). Als eingetragener Verein (e.V.) kann der Moscheeverein als eine deutsch-islamische Variante der frommen Stiftungen verstanden werden (vgl. Kogelmann 2003: 284f). Eine zentrale Person der Moscheevereine ist der Imam, der das Gebet leitet und häufiger auch die Rolle eines Predigers (hatib) und Koranlehrers (hoca) übernimmt (vgl. Schmitt 2003: 45f).1 Imame können hauptamtliche, theologisch ausgebildete Islamgelehrte sein oder aber auch Laien, die sich durch ihre fromme Lebensführung sowie besondere Kenntnisse des Islam auszeichnen und ehrenamtlich tätig sind. Eine weitere bedeutende Person ist der Moscheevereinsvorsitzende, der primär für Verwaltungsangelegenheiten verantwortlich ist und den Verein nach außen repräsentiert. Bedingt durch die Vielfalt muslimischer Einwanderer bilden sich in Deutschland Moscheevereine entlang von konfessionellen, ethnischen, sprachlichen, milieuspezifischen (vgl. Spielhaus/Färber 2006: 5) und auch politischen Grenzen aus (vgl. Kücükhüseyin 2002: 14ff). Die soziale und ethnische Zusammensetzung der Gläubigen kann aber auch gemischt sein (vgl. Spielhaus/Färber 2006: 5; Halm/Sauer 2012: 59). Da feste Mitgliedschaften wie in der RömischKatholischen Kirche oder den evangelischen Landeskirchen bei den Muslimen nicht üblich sind, sind nur ein Teil der Moscheebesucher formelle Mitglieder.2 Andere Gläubige wie z.B. Familienangehörige der Vereinsmitglieder nutzen die sozialen und religiösen Angebote in den Moscheen und stellen ebenfalls einen festen Bestandteil der muslimischen Gemeinde dar.3 Vor den 1960er Jahren gab es in Deutschland kaum muslimische Strukturen. Erst mit der Arbeitsmigration der 1960er Jahre, durch die Arbeiter aus Südeuropa, der Türkei und Marokko nach Deutschland kamen, wurden die historischen Grundlagen für die Entstehung von Moscheevereinen gelegt. Das kollektive Praktizieren des Glaubens beschränkte sich zu Beginn in der Regel auf ein ge-

1

In muslimisch geprägten Ländern werden in größeren Moscheen diese Aufgaben von drei unterschiedlichen Personen erfüllt.

2

Laut Angaben Haug et al. sind rund 20 Prozent der in Deutschland lebenden Muslime Mitglied in einem Moscheeverein (vgl. Haug et al. 2009: 14).

3

Wenn nachfolgend vom Moscheeverein gesprochen wird, dann ist der Rechtskörper (eingetragener Verein) gemeint. Unter Moscheegemeinde wird die Gesamtheit der regelmäßigen Nutzer einer Moschee verstanden.

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meinsames Freitagsgebet in Arbeiterwohnheimen oder Räumen, die durch Kirchen zur Verfügung gestellt wurden. Als sich für viele Migranten ein längerer Verbleib in Deutschland abzeichnete und Familien aus den Heimatländern nachgeholt wurden, bildeten sich in den 1970er Jahren festere Formen des religiösen Lebens unter den Migranten heraus, indem Räume angemietet, Vereine gegründet und die sogenannten „Hinterhofmoscheen“ eingerichtet wurden. Die nächste Phase in der Entwicklungsgeschichte der Moscheevereine und zugleich der Etablierung des Islam in Deutschland war der Ausbau der eigenen religiösen Zentren und das Bemühen, „sich in der deutschen Gesellschaft institutionell [zu] verankern“ (Lehmann 2004: 35). Ein Anzeichen für den Ausbau der religiösen Zentren ist die Errichtung von repräsentativen Moscheen, die sowohl für die Sichtbarkeit im öffentlichen Raum wie auch einem Ausbau sozio-religiöser Dienste in den Moscheen stehen. Zur Institutionalisierung des Islam in Deutschland gehört auch die Tatsache, dass sich viele Moscheevereine größeren Dachverbänden anschlossen bzw. die islamischen Bundesverbände Kontrolle gegenüber den Moscheegemeinden sicherstellten (vgl. Leggewie et al. 2002: 29; Ceylan 2006: 188). Zu den größten Dachverbänden gehören die eng mit der staatlichen Religionsbehörde in der Türkei (Diyanet) verbundene Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB), die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG), die ihren Ursprung in einer politisch-religiösen Bewegung in der Türkei der 1960er Jahre hat, und der am Sufismus orientierte Verband Islamischer Kulturzentren (VIKZ), der ebenso wie die beiden anderen Verbände durch türkischstämmige Migranten geprägt ist. Die politische und religiöse Prägung der einzelnen Dachverbände beeinflusst die ihnen unterstellten Moscheevereine und ist damit für die Angebote und die Vernetzung der lokalen Vereine von großer Bedeutung (vgl. Halm/Sauer 2012: 78, 112). Durch die Verbreitung der Moscheevereine, ihre Rolle für die Religionspflege, ihren zunehmenden Wandel in Richtung multifunktionaler Zentren und die Fähigkeit, Mitgliederinteressen zu bündeln, sind sie in das Blickfeld diverser sozialwissenschaftlicher Studien geraten.4 Neben der Kartierung und Evaluation hinsichtlich ihrer geographischen Verteilung, der Verbandszugehörigkeit und der Mitgliederzahl (vgl. Sen/Sauer 2006; Hero et al. 2008) beschäftigt sich die Forschung in erster Linie mit der Frage,

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Die genannten Eigenschaften und die häufig landsmannschaftliche Struktur der Moscheevereine unterscheiden sie von den in diesem Band von Karin Mykytjuk-Hitz behandelten Neo-Muslimen, die eher durch einen individualisierten Zugang zum Islam gekennzeichnet sind und sich unabhängig von einem geographischen Zentrum wie z.B. einer Moschee vergemeinschaften.

168 | P IOTR S UDER wie Moscheevereine die Beziehung ihrer Mitglieder zur Aufnahmegesellschaft insgesamt beeinflussen, etwa mit Blick auf Kontakte zur nichtmuslimischen Bevölkerung, Demokratiefähigkeit oder Toleranz gegenüber Diversität. Mit diesem Fokus ist die häufig und kontrovers diskutierte Frage verbunden, inwiefern die Verbände, in denen viele Moscheen organisiert sind, repräsentativ für die muslimische Bevölkerung sind. Vor dem Hintergrund eines Gefährdungsdiskurses und dem staatlichen Interesse der Terrorismusabwehr befasst sich ein Großteil der häufig öffentlich finanzierten Studien mit Radikalisierungstendenzen und Integrationsbarrieren von Moscheevereinen (vgl. Brettfeld/Wetzels 2007). In den letzten Jahren rückten auch Integrationspotentiale durch die Betrachtung der Unterstützungsleistungen für die Gemeindemitglieder (vgl. Ceylan 2006) und die Verbindung zur Umwelt, z.B. in Form von interreligiösen Dialogen (vgl. Spielhaus/Färber 2006; Schmid/Akca 2008), in den Vordergrund der Migrations- und Religionssoziologie. Dabei wurden muslimische Gemeinden in NordrheinWestfalen wie auch in anderen (alten) Bundesländern betrachtet. Studien mit dem regionalen Fokus auf Nordrhein-Westfalen befassen sich entweder allgemein mit Migrantenselbstorganisationen und ihren Angeboten, ihrer Mitgliederstruktur und ihren Kontakten zur nichtmuslimischen Bevölkerung (vgl. Thränhardt/Dieregsweiler 1999) oder mit Muslimen als Einzelpersonen (vgl. Sauer/Goldberg 2006). Die vorhandenen Studien stellen einhellig fest, dass die Mehrheit der Moscheevereine zusätzlich zu Gottesdienst und Seelsorge eine Vielfalt an sozialen Aktivitäten für die Gläubigen anbietet (vgl. z.B. Schmitt 2003; Ceylan 2006). Zudem wurde ermittelt, dass die Vernetzung der Moscheevereine auf kommunaler Ebene in den letzten Jahren stark zugenommen hat (vgl. Gesemann 2006a). Diese beiden Aspekte – Vernetzung nach außen und Unterstützungsangebote der Gemeinden, jeweils konzipiert als diverse Beziehungsinhalte und zivilgesellschaftliche Potentiale – sollen gemeinsam anhand eigener empirischer Erhebungen untersucht werden. Die weitgehende Beschränkung der Forschung auf türkischstämmige Gemeinden soll hier überwunden werden, indem Gemeinden aus unterschiedlichen Herkunftsländern betrachtet werden.5

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Um einen möglichst umfassenden Einblick in das Gemeindeleben in und die Vernetzung von Moscheevereinen in Nordrhein-Westfalen zu bekommen, wird auf Daten zurückgegriffen, die in verschiedenen Städten und von Moscheevereinen mit unterschiedlicher ethnischer Zusammensetzung und Verbandszugehörigkeit gewonnen wurden. Es wurden Interviews mit elf Moscheevereinsvertretern und informelle Gespräche mit Gemeindemitgliedern durchgeführt. Außerdem wurden Zeitungsartikel und Dokumente (Presserklärungen, Internetseiten, Ratsprotokolle) inhaltsanalytisch

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N ETZWERKE Die primäre Aufgabe der Moscheevereine ist die Bereitstellung sozialer und materieller Infrastruktur für eine möglichst umfassende Religionspflege. Zentral ist dabei zunächst die Bereitstellung von Räumen für die täglichen Pflichtgebete. Eine andere Aufgabe liegt in der religiösen Unterweisung von Kindern und Jugendlichen. Alle untersuchten Moscheevereine kommen diesen Aufgaben nach. Darüber hinaus werden vielfach Räumlichkeiten für religiöse Übergangsrituale wie z.B. Beschneidungen oder Hochzeitsfeiern angeboten. Moscheegebäude bilden auch die sozialen Zentren von Moscheegemeinden. Dabei ist gerade die moscheeeigene Teestube ein Ort zur interreligiösen Kontaktpflege. Die Teestuben innerhalb der Moscheegebäude sind die Orte für gemeinsame Diskussionen, aber auch für den Kontakt zur Herkunftsregion, sei es über Zeitungen oder Fernsehsender aus dem Herkunftsland. Wenn Moscheegemeinden ethnisch homogen sind, können sie auch Orte der Kulturpflege des Herkunftslandes sein. Alle untersuchten Moscheen verfügen über mehr oder weniger großzügige Räumlichkeiten (Bistros oder mindestens Teeräume) zum geselligen Beisammensein und überschneiden sich somit in ihrem Angebotsspektrum und ihrer Funktion mit nicht religiös begründeten Einrichtungen wie z.B. türkischen Cafés. In Abgrenzung zu öffentlichen Cafés, die in manchen Fällen als eine Konkurrenz um die Klientel betrachtet werden, stellen die Moscheevereine ihre eigenen Teestuben als religionskonforme Orte des sozialen Miteinanders dar. Ein zentraler Anlass zum Zusammenkommen sind Freitagsgebete, die dazu genutzt werden, in den angegliederten Bistros bzw. Teeräumen zu verweilen und miteinander ins Gespräch zu kommen und sich auszutauschen. Moscheen sind aber nicht nur Orte des Gebets und des Zusammenkommens, sondern bieten häufig (ähnlich wie Kirchen) als Gemeindezentren verschiedene soziale Aktivitäten an. Die für die jüngeren Mitglieder der Gemeinde vorgesehenen Räumlichkeiten in den größeren Moscheen bieten oftmals eine umfassende Ausstattung für die Freizeitgestaltung: Billardtische, Tischtennistische und elektronische Medien. Diese Infrastruktur wird von den Jugendlichen häufig selbst

ausgewertet. Eine Besonderheit der Stichprobe ist, dass die Mehrheit der betrachteten Gemeinden in den letzten Jahren jeweils eine repräsentative Moschee errichtet hat oder derzeit errichtet. Dies schränkt zwar die Generalisierbarkeit ein, bietet jedoch den Vorteil, dass Moscheebauprozesse, die mit erheblichen Herausforderungen und Anstrengungen für den Moscheeverein in Verbindung stehen, ein geeignetes Feld für die Beobachtung der Unterstützungspotentiale innerhalb der Gemeinde und zwischen der Gemeinde und ihrer Umwelt sind.

170 | P IOTR S UDER verwaltet. Zudem werden gemeinsame Ausflüge, Wochenendtrips und Zeltlager sowie Sportveranstaltungen organisiert. Bei größeren Gemeinden entstehen im Jugendbereich eigenständige Vereine, die finanzielle Zuschüsse von der Kommune erhalten können. Je nach Prägung der Moscheegemeinde werden außerdem Kalligraphie-, Tanz- und/oder Musikinstrumentenkurse organisiert. In den letzten Jahren wurden zudem v.a. von Seiten der DITIB-Moscheevereine öffentlich geförderte Deutsch- und Integrationskurse angeboten. Auch sind in einigen Fällen muslimische Gemeinden mittlerweile als Träger von Jugendarbeit anerkannt. Damit werden die Moscheevereine als verlässliche Partner von öffentlichen Trägern der Jugendhilfe angesehen und Förderungsmöglichkeiten eröffnet. Die Kooperation findet dann meist zwischen dem Moscheeverein und außerreligiösen Institutionen, wie dem kommunalen Jugendamt, statt. Tendenziell werden die sozialen Angebote in den Moscheen ausgebaut, insofern es die finanziellen und personalen Ressourcen zulassen. Der Blick auf die neu errichteten oder geplanten Moscheen und der Vergleich mit den Vorgängermoscheen zeigt, dass neben der Vergrößerung der Gebetsräume Frauen- und Jugendräume hinzukommen. Auch wenn es in den alten Moscheen bereits Angebote für Jugendliche und Frauen gegeben hat, ist festzustellen, dass mit der Errichtung einer neuen Moschee eine modernere Infrastruktur entsteht, die Potential für die Einbeziehung von Gruppen birgt, die ursprünglich nicht den Kern der herkömmlichen Klientel ausmachten. Tatsächlich gewinnt das Gemeindeleben durch den Moscheebau an Attraktivität für Frauen und Jugendliche. So ist zu beobachten, dass die Anzahl von Jugendlichen und Frauen, die am Gemeindeleben teilnehmen, nach einem Moscheebau ansteigt (vgl. auch Schmitt 2003: 359). Das Wachstum einer muslimischen Gemeinde und ihre zunehmend heterogene Zusammensetzung gehen mit neuen offiziellen Kooperationsformen innerhalb der Gemeinde einher. So bildete sich z.B. in der neuen Al-MuhajirinMoschee in Bonn kurz nach ihrer Fertigstellung ein Frauengremium, das die Interessen von Frauen innerhalb der Gemeinde repräsentiert und Kurse (z.B. Mutter-Kind-Kurse) in den neuen Räumlichkeiten organisiert. Im direkten Umfeld der Moscheen (teilweise als Untermieter) kann sich zudem eine Infrastruktur etablieren, die gezielt Angebote für ein muslimisches Alltagsleben bereitstellt, wie Läden mit halal-zertifizierten Lebensmitteln oder Büros, die Pilgerfahrten nach Mekka organisieren. Moscheegemeinden organisieren auf unterschiedlichen Ebenen einen religiösen und nichtreligiösen Wissenstransfer. Verbreitet ist etwa Religions- und Koranunterricht, bei dem Grundlagen des Islam vermittelt und die korrekte Rezitation von Versen eingeübt werden. Damit verknüpft sind Kurse in klassischem Arabisch, der Sprache des Korans. Diese Angebote gehören zusammen mit der

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Verrichtung von Gebeten zu den religiösen Kernangeboten der Moscheen. In Moscheen wird auch nichtreligiöses Wissen an die Gemeindemitglieder vermittelt. So werden in manchen Moscheen Hausaufgabenhilfen, Computerkurse und Deutschkurse angeboten. Während religiöse Unterweisung meist durch den Imam durchgeführt wird, sind für die anderen Kurse aktive Gemeindemitglieder ehrenamtlich zuständig. Zum Teil wird das in den Gemeinden vorhandene Humankapital von Studierenden und anderen Akademikern dazu genutzt, Wissen an weniger gebildete und jüngere Mitglieder zu vermitteln und so Bildungsdefiziten entgegenzuwirken. Neben der religiösen Unterweisung fungieren die Imame innerhalb der Gemeinde als zentrale Ansprechpartner in seelsorgerlichen Fragen. Im Bereich der Seelsorge widmen sie sich z.B. sehr persönlichen Konflikten wie etwa Ehekonflikten. Der Austausch dazu findet in der vertrauten Umgebung der Moschee statt. Manche Gemeinden kümmern sich auch um die religiöse Begleitung von muslimischen Insassen in Gefängnissen, indem der Imam und teilweise auch der Moscheevorsitzende regelmäßig Strafanstalten besuchen. Dabei leistet der Imam religiöse Hilfestellung bei Problemen und der Moscheevorsitzende sorgt für entsprechende religiöse Literatur. Als weitere Unterstützungsleistungen für Muslime können diverse soziale Beratungsangebote gelten. So gibt es Angebote, die sich auf die Lösung von Konflikten, z.B. im schulischen oder familiären Bereich, Hilfe bei Behördengängen oder der Arbeitssuche beziehen. Ferner bieten zahlreiche Moscheen eine Rechtsberatung an. Diese Angebote können informell zwischen den einzelnen Gemeindemitgliedern erfolgen oder sie werden vom Moscheeverein in Form fester Ansprechpartner formell eingerichtet. Die Angebote und Infrastruktur der Moscheevereine, etwa die Stelle des Imams, werden aus unterschiedlichen Quellen finanziert. Neben den regelmäßigen Beiträgen der Moscheevereinsmitglieder werden wesentliche Einnahmen über Spendengelder der Gemeindemitglieder erzielt, welche die Infrastruktur der Moschee nutzen. Weitere Finanzierungsquellen für Moscheevereine sind die Vermietung von vereinseigenen Räumlichkeiten z.B. an Gewerbetreibende. Darüber hinaus können Moscheevereine, die einem Dachverband angehören, durchaus von diesem finanziell unterstützt werden. Eine weitere Finanzquelle (insbesondere für die Ausbildung von Imamen und Gemeindearbeitern, aber auch für soziale Jugendangebote) sind öffentliche Förderprogramme. Ein Beispiel ist das bundesweite Programm „Imame für Integration“, das gemeinsam vom Goethe-Institut, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und dem DITIB-Dachverband entwickelt wurde und im Rahmen einer sprachlichen und

172 | P IOTR S UDER landeskundlichen Fortbildung von Imamen versucht, ihre Rolle bei der Integration von Muslimen zu stärken. Ein besonderer Finanzierungsbedarf besteht beim Bau oder Umbau von Moscheen. Vor allem der Neubau von Moscheen ist sehr kostenträchtig und bringt für die Moscheevereine hohe finanzielle Belastungen mit sich. Um diesen Finanzierungsbedarf zu decken, wird in erster Linie innerhalb der Moscheegemeinde Geld gesammelt bzw. Fundraising betrieben. Um die Finanzierungsgrundlage zu erweitern, werden oft schon während der Planungszeit (z.B. bei einer DITIBGemeinde in Herten) die Beiträge für Vereinsmitglieder erhöht und um vermehrte Spenden gebeten. Die enormen Kosten, die die Vereine zu tragen haben, werden aber nicht nur durch die Mitglieder aufgebracht, sondern auch durch andere Moscheevereine. Diese Form der finanziellen Unterstützung zwischen Moscheevereinen ist zumeist verbandsintern (innerreligiös): Verschiedene Moscheevereine des gleichen Dachverbands aus der Region sammeln Geld für den bauenden Verein. Ein Beispiel: Für das Moscheebauprojekt der DITIB-Zentrale in Köln-Ehrenfeld spendeten verschiedene DITIB-Gemeinden, die namentlich auf der Internetpräsenz des Neubaus aufgeführt sind.6 Die Spendenbereitschaft reicht auch in andere muslimische Gemeinden hinein, die nicht zum DITIB-Netzwerk gehören.7 Die Unterstützung der einzelnen Gemeindemitglieder für den Moscheebau besteht nicht nur in Geldspenden. In fast allen betrachteten Moscheebauprojekten wurden Teile der Bauarbeiten von Gemeindemitgliedern oft unentgeltlich oder zu einem symbolischen Preis durchgeführt. Einzelne Gemeindemitglieder bieten ihre berufliche Erfahrung und ihre handwerklichen Fähigkeiten an, was die finanzielle Belastung für den Moscheeverein zum Teil erheblich senkt.

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Vgl. http://www.zentralmoschee-koeln.de/default1.php?id=10&sid=6&lang=de vom 09.01.2014.

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Bei der Besichtigung einer albanischen Moscheegemeinde in Leverkusen am 08.12.2010 waren Plakate mit Spendenaufrufen für die türkische Merkez-Moschee zu sehen. Der Vorsitzende erklärte die Spendenbereitschaft dadurch, dass die entstehende Moschee in erster Linie ein islamisches Gotteshaus sei, und betonte, dass dieses Gebäude die Präsenz aller Muslime symbolisiere. Daran wird erkennbar, dass der Moscheebau Solidarisierungspotentiale unter Muslimen auch unterschiedlicher Ethnien und/oder Organisationen aktivieren kann.

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Fallgeschichte Ein Beispiel im Bereich des Transfers von Geld und Gütern, das die vielschichtige Ressourcenmobilisierung der Gemeindemitglieder beim Bau einer Moschee veranschaulicht, ist die bosnische Gemeinde in Witten. Hier profitierte die Gemeinde sehr stark davon, dass einige der Gemeindemitglieder in der Baubranche tätig sind. Ein Gemeindemitglied, das Architekt ist, hat nach Aussagen des Vereinssprechers das Gebäude entworfen und dafür nur ein symbolisches Entgelt verlangt. Außerdem zog die Gemeinde einen Nutzen daraus, dass sie einen Bauleiter in ihren Reihen hat. Zum einen übernahm er die Bauleitung ohne finanzielle Ansprüche und zum anderen konnte er durch seine Kontakte in der Baubranche weitere Spezialisten wie z.B. einen Statiker zu günstigen Konditionen vermitteln. Nach Aussagen des Vereinssprechers haben sich zudem zwei Bauunternehmen, die beide von Bosniern geführt werden, bereit erklärt, die Arbeitskosten bzw. Baukosten für die Moschee zu übernehmen. So mussten hauptsächlich die Materialkosten finanziert werden. Der Sprecher schätzt, dass aufgrund der gemeindeinternen Beziehungen und vorhandenen beruflichen Spezialisierungen mindestens die Hälfte der Kosten für die Moschee eingespart werden konnte. Ein wichtiger Antrieb für die Unterstützung, so der Sprecher, ist das jenseitige Heil, das laut den Überlieferungen den Erbauern von Moscheen zukommen soll. Die Tatsache, dass die Moschee in der geplanten Form gebaut wird, unterstreicht die Fähigkeit zur Selbstorganisation sowie die Bedeutung interner Unterstützungsnetzwerke für Moscheebauprojekte. In manchen Fällen wird ein Moscheeneubau auch durch Zuwendungen von anderen Religionsgemeinschaften bzw. anderen Institutionen ermöglicht. So spenden christliche Gemeinden mancherorts Geld für den Moscheebau (etwa in Remscheid und Bonn) und verstehen dies als Ausdruck christlich-islamischer Freundschaft. Neben Geldspenden gibt es zum Teil auch Sachspenden in Form symbolträchtiger Gegenstände. Ein Beispiel dafür liefert die Yunus-EmreMoschee in Hamm, die zu den größten Moscheen Nordrhein-Westfalens zählt und 2010 offiziell eröffnet wurde. Die türkische Partnerstadt Afyon schenkte der Moscheegemeinde zur Einweihung einen Pavillon aus Marmor zur rituellen

174 | P IOTR S UDER Fußwaschung.8 Am Beispiel der DITIB-Moschee in Duisburg Marxloh ist auch eine öffentliche Teilfinanzierung des angeschlossenen Begegnungszentrums zu verzeichnen (vgl. die folgende Fallgeschichte). Es kann also eine Vielfalt von inner-, intra-, inter- und außerreligiösen Transfers von Geld und Gütern zwischen Organisationen und Individuen festgestellt werden. Fallgeschichte Die Merkez-Moschee mit integrierter Begegnungsstätte ist ein Beispiel dafür, wie eine breite Angebotspalette und eine vielfältige Vernetzung einer Moscheegemeinde miteinander einhergehen können. Bereits die Planung und Errichtung der Moschee war ein kooperativer Prozess, an dem verschiedene Akteure der Stadtgesellschaft und des Landes Nordrhein-Westfalen beteiligt waren. Die vorherigen Absprachen zwischen mehreren Stellen der Stadtverwaltung sowie der Kommunalpolitik und des 1985 gegründeten DITIBMoscheevereins haben dazu geführt, dass das Bauvorhaben als ein gemeinschaftliches Projekt verstanden und konzipiert wurde, was auch der Öffentlichkeit so vermittelt werden konnte. Einen öffentlichen Charakter bekam das Bauprojekt durch die Einrichtung eines Moschee-Beirats, der auf die Initiative der Moscheegemeinde hin im Rahmen des Planungsprozesses aus Organisationen und Personen verschiedener Gesellschaftsbereiche gebildet worden ist und den Planungsprozess konzeptionell begleitet hat. Da die Gemeinde schon vor der Planung einer Moschee hinsichtlich ihrer sozialen Aktivitäten an diversen Dialoginitiativen beteiligt war, hat sich in den gemeinsamen Gesprächen die Idee konkretisiert, den Moscheebau mit einer öffentlichen Einrichtung für Begegnung zu kombinieren und so eine Teilfinanzierung aus öffentlichen Fördergeldern zu ermöglichen. Im Jahr 2008 wurde der Moscheekomplex fertiggestellt und bietet seitdem sowohl einer ca. 900 Mitglieder großen Moscheegemeinde Platz für die Ausübung ihres religiösen Lebens wie auch eine Infrastruktur für interreligiöse und interkulturelle Begegnungen unter dem Motto „Begegnung unter der Kuppel“. Jeden Tag finden in der Moschee mehrere Führungen statt und im Begegnungszentrum werden zahlreiche Informationsveranstaltungen organisiert, die integrationspolitische und religiöse Themen betreffen. Dabei sind nicht nur die DITIB-Moscheegemeinde und der

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Dieses Beispiel verdeutlicht den Umfang transnationaler Unterstützung und die Verbundenheit zwischen der Türkei und der Diaspora wie auch die Verbundenheit und den Austausch zwischen deutschen Städten und ihren Partnerstädten in der Türkei.

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Trägerverein der Begegnungsstätte beteiligt, sondern auch unterschiedliche Kooperationspartner wie z.B. die Diakonie, die Caritas Duisburg, das Integrationsbüro der Stadt Duisburg und die Jüdische Gemeinde Duisburg. Zudem ist das Personal der DITIB-Begegnungsstätte auch Ansprechpartner für islambezogene Fragen für verschiedene soziale Einrichtungen und berät sie zu Themen wie Krankheitsverständnis im Islam, adäquate Pflege von muslimischen Senioren etc. In der Moschee werden Ausflüge für muslimische Senioren organisiert und soziale Projekte wie z.B. „Engel ist Melek“ initiiert, in welchem die Erziehungskompetenz türkischstämmiger Mütter in Bezug auf behinderte Kinder gestärkt werden sollte. Daran sind Akteure wie die AWO IntegrationsGmbH, die Stadt Duisburg und die Lebenshilfe Duisburg beteiligt. Moscheevereine und die muslimischen Verbände verstehen sich ausdrücklich auch als Einrichtungen, die sich für die Belange ärmerer Menschen und Menschen in Not engagieren. Sie empfangen nicht nur Geld und Güter, sondern organisieren finanzielle und geldwerte Transferleistungen für Bedürftige: So führen etwa DITIB- und IGMG-Gemeinden in Zusammenarbeit mit ihren Dachverbänden verschiedene Spendenaktionen durch. Gespendet wird z.B. für Erdbebenopfer in der Türkei, in Pakistan und Iran, was die transnationale Dimension von Hilfspotentialen verdeutlicht. Außerdem wurde von der DITIB für Flutopfer in Dresden und Magdeburg gespendet. Ein Großteil der Gelder kommt aus den einzelnen Gemeinden, koordiniert und überwiesen werden diese Summen an die Empfänger durch die Zentralen in Köln. Die IGMG organisiert alljährlich eine Opfertierkampagne, in der zum Opferfest tausende Opfertiere in verschiedene Länder an bedürftige muslimische Familien gespendet werden. Zudem wird auch innerhalb der Gemeinden Geld für ärmere Mitglieder der Gemeinde und ihre Familien gesammelt. Um ihre Interessen zu vertreten, haben sich seit ihrer Entstehung fast alle aufgesuchten Moscheevereine innerreligiös zu übergeordneten Organisationsstrukturen zusammengeschlossen bzw. sich in bestehende überregionale Verbände eingebunden. Allerdings bestehen teilweise erhebliche Unterschiede zwischen den muslimischen Organisationen. Im Folgenden stehen die Interessenvertretung und die Beziehungen zwischen den lokalen Moscheevereinen und übergeordneten islamischen Organisationstrukturen am Beispiel der drei großen Dachverbände VIKZ, DITIB und IGMG im Vordergrund. Vor allem die DITIB-Moscheevereine benennen auf der kommunalen Ebene einheitliche Ansprechpartner für die Stadtpolitik und Stadtverwaltung. Diese Ansprechpartner widmen sich Themen, die für die vertretenen Moscheegemein-

176 | P IOTR S UDER den gemeinsam relevant sind, etwa die Einrichtung von islamischen Friedhöfen oder der Islamunterricht an Schulen. Auf der Ebene der Regionen oder Bundesländer sind die IGMG-, DITIB- und VIKZ-Gemeinden in Regionalverbänden zusammengeschlossen, die sowohl Ansprechpartner für die Landesregierung und andere Landesbehörden als auch Bindeglieder zwischen den Gemeinden und den zentralen Dachverbänden sind. Die Regional- und Landesverbände koordinieren die Arbeit der zu ihnen gehörenden Moscheegemeinden. Die zentralen Dachverbände fungieren als Ansprechpartner für die Bundesbehörden und engagieren sich z.B. für die Anerkennung der Muslime als Körperschaft des öffentlichen Rechts auf Bundesebene. Eine solche Anerkennung des Körperschaftstatus auf Bundesebene hätte Rückwirkung auf die lokalen Gemeinden, die damit erweiterte rechtliche Möglichkeiten sowie unter Umständen eine Steigerung ihrer Privilegien und Ressourcen verzeichnen könnten. Die lokalen Moscheegemeinden geben einen Teil ihrer Mitgliedereinnahmen an die Dachverbände weiter. Die institutionellen Beziehungen, die zwischen den Moscheegemeinden und den Dachverbänden bestehen, sind für die zivilgesellschaftlichen Potentiale im Sinne der sozio-religiösen Angebote kaum zu überschätzen. So teilen die Dachverbände ihre Erfahrungen in verschiedenen Bereichen wie Jugendarbeit, Baurecht etc. mit den Moscheevereinen vor Ort (nichtreligiöser Wissenstransfer), leisten teilweise finanzielle Hilfen oder haben Solidarfonds für Bestattungen eingerichtet, um die Unterstützung der einzelnen Mitglieder zu vereinfachen. Die jeweiligen Dachverbände sind nicht die einzigen Institutionen für die Interessenvertretung von Moscheevereinen. Es bestehen auch intrareligiöse Partnerschaften zwischen Moscheegemeinden jenseits ihrer Verbandszugehörigkeit. Auf lokaler Ebene ist es durchaus üblich, dass Moscheevereine über ihre Zugehörigkeiten und theologischen Traditionslinien hinweg kooperieren und gemeinsam gegenüber Dritten auftreten. So wurde z.B. in Leverkusen 2006 der Rat der islamischen Gemeinschaften von einem türkischen, albanischen und marokkanischen Moscheeverein gegründet, der in erster Linie dazu dient, gemeinsam öffentliche Aktionen zu organisieren und der Politik als Ansprechpartner zur Verfügung zu stehen. Beispiele für gemeinsame Veranstaltungen sind die Ausrichtung eines islamischen Einschulungsgottesdienstes, der abwechselnd in den verschiedenen Moscheen stattfindet sowie die Durchführung des Tages der offenen Moschee am 3. Oktober. Zudem vertritt der Rat die Moscheegemeinden auf Veranstaltungen anderer Religionsgemeinschaften wie z.B. auf einem Weihnachtsgottesdienst einer evangelischen Kirche in Leverkusen. Auch in Bochum vertritt die Arbeitsgemeinschaft Bochumer Moscheen die Interessen der Muslime über die Grenzen der einzelnen Moscheevereine hinweg. Sie ist Ansprechpartnerin für die Politik und richtet ebenfalls öffentliche Veranstaltungen wie z.B. das all-

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jährliche Ramadanfest aus, welches die Oberbürgermeisterin als Schirmherrin begleitet und zu dem alle Bochumer eingeladen sind. In Bonn gibt es den Rat der Muslime, der ebenfalls 2006 gegründet wurde, einen Großteil der Bonner Moscheegemeinden vereint und Ansprechpartner für die Bonner Behörden ist. Eine zentrale Tätigkeit dieser intrareligiös zusammengesetzten islamischen Vereinigungen ist es außerdem, zu bestimmten Anlässen öffentliche Stellungnahmen abzugeben und auf diese Weise den Diskurs um islambezogene Themen mitzugestalten. Andere Themen, die solche lokalen Vereinigungen im Interesse ihrer Mitgliedervereine aufgreifen, betreffen v.a. das Bild des Islam in der Öffentlichkeit. Ein weiteres wichtiges Instrument der Interessenvertretung von Moscheevereinen ist die politische Mitwirkung in kommunalen Integrationsbeiräten und darüber hinaus. Durch die Netzwerke innerhalb der Moscheegemeinden und die mit den Gemeinden in Kontakt stehenden Muslime in der Stadt verfügen die muslimischen Kandidaten über eine breite, gut mobilisierbare Wählerschaft. In den letzten Jahren hat die Beteiligung der Moscheevereine an Integrationsbeiräten zugenommen. Durch diese Entwicklung treten die religiösen Vereine und ihre Kandidaten zum Teil in Konkurrenz mit den säkularen Organisationen bzw. Wählerlisten von nicht dezidiert religiösen Kandidaten.9 Muslimische Listen bilden sich in der Regel entlang der Organisationszugehörigkeit bzw. Dachverbandszugehörigkeit aus, wie z.B. die IGMG oder die DITIB unter dem Namen Diyanet in Duisburg. Andere Listen entstehen aus einem Zusammenschluss von unterschiedlichen Moscheevereinen ohne gemeinsame Dachverbände und/oder muslimischen Einzelpersonen. Beispiele hierfür sind die Müslüman Türkler Birliği (MTB) in Duisburg oder die Türk Birliği in Witten10 und das Bündnis für Bonn (BFF). Die Bündnisse von Moscheevereinen deuten darauf hin, dass nach einer Phase von Abspaltungen und Spannungen zwischen den einzelnen Moscheevereinen in den 1980er Jahren (vgl. Tezcan 2000) die intrareligiösen Beziehungen aktuell von gemeinsamer Interessenvertretung und Kooperationsbereitschaft geprägt sind. Auch wenn die Beteiligung an den Wahlen für den Integrationsbeirat eher gering ist und die Einflussmöglichkeiten sich zumeist auf Beratung der Kommunalpolitik und öffentliche Stellungnahmen beschränken, wird die Mitwirkung in den Integrationsbeiräten in der Fachliteratur zum Teil positiv bewertet. Als Be-

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Vgl. http://www.berliner-zeitung.de/berlin/migration-in-berlin-strengglaeubige-musli me-haben-nun-das-sagen,10809148,16306634.html vom 27.01.2014.

10 An dieser Liste sind drei türkische und ein bosnischer Moscheeverein sowie zwei weitere türkische Vereine beteiligt.

178 | P IOTR S UDER gründung wird angeführt, dass durch die Integrationsbeiräte v.a. Menschen repräsentiert werden, die als Drittstaatenangehörige normalerweise in der Kommunalpolitik wegen ihres fehlenden kommunalen Wahlrechts unterrepräsentiert sind. Auch ist das Engagement bei den gängigen Formen der Bürgerbeteiligung wie z.B. bei Runden Tischen aufgrund der mangelnden Sprachkenntnisse und des niedrigen formalen Bildungsniveaus v.a. der älteren Muslime eher gering (vgl. Ceylan 2006: 160; Storz/Wilmes 2007). Diese Schieflagen, so das Argument, können zum Teil durch die Repräsentation der Muslime in Integrationsbeiräten ausgeglichen werden. Mit der politischen Partizipation der Moscheevereine werden die Anliegen der muslimischen Minderheiten auf lokaler Ebene artikuliert und die Stadtbevölkerung für die Belange der Muslime sensibilisiert.11 Neben der innerreligiösen Kontaktpflege und der intrareligiösen Kooperation zur Vertretung gemeinsamer Interessen gibt es immer wieder Bemühungen der Moscheegemeinden, Kontakte zu anderen Akteuren der Stadtgesellschaft aufzubauen und zu pflegen. Vor allem Feste dienen als Gelegenheit für die Pflege von Kontakten zur Politik, zu den Nachbarn und zu anderen Religionsgemeinschaften wie z.B. den Kirchen, aber auch anderen Institutionen aus der Nachbarschaft. Manche Moscheegemeinden betreiben eine aktive Netzwerkarbeit auf der interund außerreligiösen Ebene. Sie schreiben gezielt Politiker sowie andere prominente Akteure an und informieren über öffentliche Veranstaltungen in ihren Moscheen. Gerade bei Moscheebauprojekten spielt die öffentliche Fürsprache eine besonders wichtige Rolle, denn es kommt häufiger zu Widerständen in Teilen der Bevölkerung. Regelmäßig werden diese Widerstände von rechtspopulistischen Parteien aufgegriffen und für eigene politische Ziele genutzt. Vor diesem Hintergrund stellt die Errichtung einer neuen Moschee eine besondere Herausforderung für einen Moscheeverein dar. Es gilt nicht nur, Ressourcen innerhalb der Gemeinde zu mobilisieren und baurechtliche Regelungen einzuhalten, sondern auch die Bevölkerung und die politischen Entscheidungsträger von dem eigenen Vorhaben zu überzeugen. Nicht selten unterstützen schon vor dem eigentlichen Bauprozess nichtmuslimische Akteure wie Kirchenvertreter und Politiker die Errichtung einer Moschee. Diese öffentliche Fürsprache von Seiten anderer Religionsgemeinschaften (interreligiöser Kontext) oder nichtreligiöser Institutionen (außerreligiöser Kontext) ist zentral für die allgemeine Akzeptanz eines Moscheeneubaus. Sie kann in Form einer Erklärung in den Medien (meist der

11 Mittlerweile gibt es die Bestrebung, dass Mitglieder der Moscheevereine v.a. aus der zweiten und dritten Generation in etablierte Parteien eintreten und direkt für den Stadtrat kandidieren, so z.B. in Witten.

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Lokalzeitung), im Rahmen öffentlicher Veranstaltungen (etwa einer Demonstration) oder auch in gutachterlichen Tätigkeiten im Rahmen der Stadtpolitik und -verwaltung erfolgen.12 Öffentliche Bekundungen sind ein elementarer Bestandteil der Interaktion zwischen den Moscheevereinen und der Kommunalpolitik, wie etwa die Schirmherrschaft der Bochumer Oberbürgermeisterin beim Ramadanfest zeigt. In den größeren Moscheegemeinden sind Politiker regelmäßig zu Gast und bekennen sich zu der Moscheegemeinde und deren Zugehörigkeit zur Stadtgesellschaft. In manchen Städten wird diese symbolische Komponente als ein elementarer Teil der Integrationspolitik verstanden. Zugleich bekommen Politiker so die Chance, sich den muslimischen Wählern zu präsentieren. Neben der öffentlichen Fürsprache gibt es eine Form der halböffentlichen Fürsprache, bei der Repräsentanten versuchen, Mitgliedern innerhalb ihrer Institutionen Ängste vor dem Moscheebauprojekt zu nehmen. Dabei sprechen sich die Vertreter innerhalb ihrer Gemeinde bzw. Organisation für den Moscheebau aus und klären über das Vorhaben und den Bauträger auf. Grundlage für diese Multiplikatorentätigkeit ist der vorherige Kontakt zu dem Moscheeverein oder die Teilnahme der Akteure an Informationsveranstaltungen zum Moscheebau, die meist entweder durch den Moscheeverein, die Stadt (Verwaltung oder Politik) oder die Akteure selbst initiiert wurden. Kirchen stellen dabei ihre Räumlichkeiten zur Verfügung, was auf der praktischen Ebene die Durchführung von Informationsveranstaltungen vereinfacht und auf symbolischer Ebene die Solidarität zwischen den Religionsgemeinschaften unterstreicht. In einem Fall ist es sogar dazu gekommen, dass eine Moscheegemeinde einige Jahre, nachdem sie von der römisch-katholischen Nachbarkirche Unterstützung für ihren Moscheeneubau bekommen hatte, sich für den Erhalt eben dieser Kirche engagiert hat, als sie aufgrund von Gemeindezusammenlegungen von der Schließung bedroht war. So hat der damalige Moscheevorsitzende den Bischof in einem Brief darauf aufmerksam gemacht, dass ein wertvoller nachbarschaftlicher Dialog zwischen beiden Gemeinden entstanden sei, den es zu erhalten gelte. Es steht zu vermuten, dass die öffentliche Fürsprache von Seiten der Moscheegemeinde ein Grund dafür gewesen ist, die Kirchgemeinde nicht zu schließen.

12 Die Äußerungen umfassen dabei primär die Bezugnahme auf den Gleichheitsgrundsatz, die Betonung der multikulturellen und multireligiösen Prägung der gegebenen Stadt und die Ausräumung von vorhandenen Befürchtung (z.B. terroristische Tendenzen in der betroffenen Gemeinde etc.). Auch wird in der Regel auf den bestehenden Dialog der Moscheegemeinde zu anderen städtischen Akteuren und die Beteiligung am städtischen Leben der Muslime hingewiesen.

180 | P IOTR S UDER Eine weitere Form der öffentlichen Fürsprache sind Ad-hoc-Aktivitäten wie z.B. Demonstrationen gegen Kundgebungen von rechtspopulistischen oder -radikalen Gruppen und Parteien. Dabei kommt es zum Teil zur Zusammenarbeit von sehr unterschiedlichen Gruppierungen, die sonst wenig miteinander kooperieren. So können in solchen Bündnissen Kirchen, Moscheevereine und Institutionen anderer Religionsgemeinschaften, diverse politische Parteien aus dem linksradikalen, linksliberalen, aber auch bürgerlichen Spektrum, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zusammenkommen, um gemeinsam ein Zeichen zu setzen. Die Anzahl der Teilnehmer solcher Gegendemonstrationen übersteigt regelmäßig die Anzahl der demonstrierenden Rechtspopulisten oder Rechtsradikalen. Das Entscheidende an solchen Bündnissen hinsichtlich zivilgesellschaftlicher Potentiale ist, dass in ihrem Rahmen zum Teil erstmalig ein klares und parteiübergreifendes Zeichen der Solidarität mit Muslimen abgegeben wird. Dabei wird die Zugehörigkeit der betroffenen Moscheegemeinde und der Muslime zur Stadt in Reden, auf Transparenten und in Stellungnahmen für die Presse unterstrichen. Aus diesen Aktionen ergeben sich nicht selten Partnerschaften zwischen den Beteiligten, die den konkreten Anlass überdauern und eine neue Form der zivilgesellschaftlichen Vergemeinschaftung darstellen. Beispiele dafür sind die kommunalen Bündnisse Remscheid tolerant und Buntes Hattingen gegen Rechts. Beide Kooperationen sind im Zusammenhang mit angekündigten Demonstrationen von rechtspopulistischen Gruppierungen entstanden und organisieren Veranstaltungen, die die Präsenz verschiedener Religionen und Kulturen in der Stadt auf eine positive Weise thematisieren (öffentliche Fürsprache) und einen Wissenstransfer in die Stadtgesellschaft hinein ermöglichen. Aus den Interviews mit muslimischen Vertretern solcher Bündnisse wird deutlich, dass diese Art der Solidarisierung sowohl von den Moscheevorsitzenden wie auch von den Gemeindemitgliedern sehr geschätzt wird und dass diese öffentliche Aussprache für ihre Präsenz in der Stadt das Zugehörigkeitsgefühl positiv beeinflusst. Die öffentliche Fürsprache für Muslime von Seiten anderer Religionsgemeinschaften, insbesondere der etablierten Kirchen, beruht oft auf interreligiöser Dialogarbeit, die gleichermaßen als Forum inter- und außerreligiösen Wissenstransfers fungieren kann. Sie manifestiert sich etwa in Informationsveranstaltungen zu religiösen Themen, in denen Teilbereiche des muslimischen Lebens vorgestellt werden. Feste Formen solch eines Wissenstransfers bestehen in verschiedenen interreligiösen Partnerschaften wie lokalen Räten der Religionen und Arbeitskreisen für Muslime und Christen (vgl. Nelly C. Schubert). Die Wissensvermittlung über das muslimische Leben findet nicht nur innerhalb des interreligiösen Kontextes statt. In vielen aufgesuchten Gemeinden be-

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steht ein ausgeprägter Wille, Außenstehende über den Islam, die Muslime und das muslimische Gemeindeleben zu informieren. Von Seiten der Dachverbände wird immer wieder betont, dass die Moschee als ein Ort der Begegnung für alle Muslime und Nichtmuslime zugänglich ist. Dies wird in vielen Moscheen durch regelmäßige Moscheeführungen gewährleistet. Zum einen besteht die Möglichkeit, sich an die Moscheegemeinde zu wenden und spontan für eine Gruppenführung anzumelden. Zum anderen gibt es seit 1997 den vom Zentralrat der Muslime initiierten Tag der offenen Moschee, der alljährlich am 3. Oktober stattfindet.13 Nicht selten nutzen öffentliche Schulen die Angebote der Moscheen aus ihrer Umgebung und nehmen mit Schulklassen an Moscheeführungen teil, um so Schülern auf praktische Weise Kenntnisse über den Islam und muslimische Gemeinden zu vermitteln.

E INFLUSSFAKTOREN Die Zuwanderungsgeschichte der in Deutschland lebenden Muslime mit Migrationshintergrund spiegelt sich in der aktuellen Situation auch auf dem Arbeitsmarkt wider. Als „Gastarbeiter“ haben sie nach ihrer Anwerbung die unteren Segmente im Arbeitsmarkt belegt. Dies zeigt sich zum Teil auch noch heute, womit die ethnische Unterschichtung weiterhin besteht. Durch den Strukturwandel sind gerade im industriellen Sektor Arbeitsplätze weggefallen (vgl. Unbehaun 2006: 121), was zum Teil erklärt, warum muslimische Migranten in Deutschland besonders von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Die verschiedenen PISA-Studien machen zudem deutlich, dass das deutsche Schulsystem die aus der Migrationsgeschichte resultierenden Bildungsnachteile bislang nicht ausgleichen konnte. Davon sind Arbeiter- wie auch Migrantenkinder selbst in der dritten Generation betroffen (vgl. Gesemann 2006b: 14). Somit können die Wissenstransfer-Anstrengungen der Moscheevereine mit Blick auf Hausaufgabenhilfe, Deutsch- und Integrationskurse als eine Reaktion auf die sozio-ökonomische Situation ihrer Mitglieder gedeutet werden. Der soziale Aufstieg der Gemeindemitglieder ist auch im Eigeninteresse der Moscheevereine, da sie eine finanzielle Grundlage für ihr Bestehen brauchen.

13 Das symbolträchtige Datum verstehen muslimische Vertreter als Zeichen der Zugehörigkeit der Muslime zu Deutschland und es „soll das Selbstverständnis der Muslime als Teil der deutschen Einheit und ihre Verbundenheit mit der Gesamtbevölkerung zum Ausdruck bringen“ (http://zentralrat.de/2583.php vom 27.01.2014).

182 | P IOTR S UDER Religiöse Lebensführung erschöpft sich nicht in Ritualen, sondern prägt die Alltagswirklichkeit und Bedürfnisse, etwa mit Blick auf Ernährungsgewohnheiten, Kleidungsvorschriften und Freizeitgestaltung. Trotz einer zunehmenden interkulturellen Öffnung der öffentlichen Institutionen hat sich die Aufnahmegesellschaft in Deutschland nur langsam auf die kulturellen und religiösen Bedürfnisse der muslimischen Einwanderer eingestellt. Die von den Moscheevereinen offerierten Angebote sind folglich auch auf die kulturellen und religiösen Bedürfnisse der Gemeindemitglieder zugeschnitten und reflektieren ihre Minderheitenposition in der Aufnahmegesellschaft. Das Angebot von halal-geeigneten Lebensmitteln in Moschee-eigenen Läden und Cafés sowie Angebote für die Betreuung von muslimischen Senioren verdeutlichen dies. Moscheevereine dienen der religiösen Identitätsfindung und -wahrung von Muslimen in nichtmuslimischer Umgebung. Die Traditionspflege ist auch deshalb relevant, weil es in den Moscheegemeinden einen demographischen Wandel gegeben hat. Die Moscheegemeinden sind gewachsen und setzen sich nunmehr häufig aus drei oder vier Generationen zusammen. Aufgrund der Distanz zum Herkunftsland und dem verbreiteten Bezug der Gläubigen zur Herkunftskultur spielt die Pflege der kulturellen Bräuche eine wichtige Rolle und bildet daher einen elementaren Bestandteil der Angebotspalette der Moscheegemeinden. Zudem erfordert der demographische Wandel auch eine Diversifizierung der sozialen Angebote entlang der unterschiedlichen Lebenssituationen und Bedürfnisse verschiedener Altersgruppen, wie etwa Jugendliche und Senioren. Neben den genannten inneren Faktoren spielt auch das theologische Selbstverständnis eine wichtige Rolle für die Angebote und die sozialen Hilfestellungen in den Moscheegemeinden. Die im Islam verankerte Sozialethik ist dabei zentral. In den islamischen Quellen werden die Gläubigen immer wieder dazu aufgerufen, gerecht zu sein. Aus den Geboten des zakat, also der obligatorischen Armensteuer, die zu den fünf Säulen des Islam gehört, und dem sadaqa, der freiwilligen Abgabe, wird deutlich, dass der Philanthropie ein besonderer Stellenwert beigemessen wird. Dies geht über das bloße Teilen von Eigentum hinaus und betrifft neben der Speisung der Armen auch die Unterweisung von Menschen (vgl. Caglar 2008: 126). Mehrere Koranverse leiten die Gläubigen zu gutem Handeln an und motivieren sie zur Hilfestellung für Bedürftige.14 Dieser

14 Beispiele sind: „Ihr werdet echte Frömmigkeit nicht erlangen, ehe ihr nicht von dem spendet, was ihr liebt; und was immer ihr spendet, siehe, Allah weiß es.“ (Koran, Übers. von Henning [2011]: Sure 3, Vers 92); „Wer für eine gute Sache Fürsprache einlegt, der soll einen Teil davon haben. Und wer Fürsprache für eine schlechte Sache

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Aspekt kann als Begründung für diverse Hilfsleistungen in den Moscheen angeführt werden. Die Grundlage für eine religiös fundierte Motivation für die persönliche Beteiligung am Bau einer Moschee stellt eine Überlieferung dar, die besagt, dass demjenigen, der „um Allahs Willen eine Moschee baut“, von Allah ein Haus im Paradies gebaut werde. 15 Für die Vernetzung von Moscheegemeinden erweisen sich öffentliche Diskurse über den Islam als ein entscheidender externer Einflussfaktor. Nicht selten werden in öffentlichen Debatten der Islam und die Muslime als weltanschauliche und kulturelle Herausforderung für die europäischen Aufnahmegesellschaften thematisiert. Vor allem seit den Angriffen auf das New Yorker World Trade Center und Pentagon in Washington am 11. September 2001 wird der Islam mit Bedrohung und Terrorismus in Verbindung gebracht. Ein Großteil der inter- und außerreligiösen Kooperationen und die vermehrte Öffnung der Moscheen für die Außenwelt sind auch als Reaktion auf diesen Gefährdungsdiskurs zu verstehen. So wird von muslimischer Seite etwa der interreligiöse Dialog als ein wichtiges Instrument zur Vertrauensbildung verstanden, und Führungen in Moscheen werden immer wieder als ein Beitrag zur Transparenz und Aufklärung bezeichnet. Die Kooperation zwischen städtischen Stellen und Moscheegemeinden kann ebenfalls als eine Antwort auf das o.a. Islambild verstanden werden. Zeitlich mit dem Gefährdungsdiskurs überschneiden sich noch zwei weitere Entwicklungen, die die Vernetzung der Moscheegemeinden fördern. Zum einen ist es der Umstand, dass sich mittlerweile die zweite und dritte Generation in den Vorständen befindet. Die jüngeren Vereinsmitglieder identifizieren sich stärker mit der Aufnahmegesellschaft und versuchen sich deshalb durch verschiedene Dialogaktivitäten in diese einzubringen. Bessere Kenntnis der Gesellschaft und Sprachkenntnisse vereinfachen diese Bemühungen. Zum anderen hat generell ein Politikwandel hinsichtlich der Migranten und ihrem Verbleib im Aufnahmeland stattgefunden. Die Einbindung von Moscheevereinen als Migrantenselbstorganisationen in die kommunale Integrationspolitik beginnt zwar bereits in den 1980er Jahren – das Bewusstsein, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und Gastarbeiter hier ihr Leben begründet haben und nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehren, hat sich erst um die Jahrtausendwende durchgesetzt und die politischen Bemühungen um die Zusammenarbeit mit den Moscheevereinen verstärkt.

einlegt, der soll einen Teil der Verantwortung tragen. Und Allah wacht über alle Dinge.“ (Koran ebd.: Sure 4 Vers 85). 15 Hadith überliefert nach al-Buchārī (vgl. http://www.almuhajirin-bonn.de/?page_id=77 vom 22.07.2014).

184 | P IOTR S UDER Außerreligiöse zivilgesellschaftliche Vernetzungen werden dadurch begünstigt, dass es für Moscheevereine bzw. muslimische Dachverbände diverse politische Gelegenheitsstrukturen gibt. Eine gängige Form ist der o.a. Integrationsbeirat. Auch wenn seine Mitspracherechte beschränkt sind, bietet er den muslimischen Vertretern die Möglichkeit, ihre Stimme in die Stadtpolitik einzubringen und auf die Belange der Moscheegemeinden aufmerksam zu machen. Durch die Beteiligung an diesem Gremium wollen die Moscheevereine den Erwartungen der Stadtgesellschaft, Integrationsbereitschaft zu zeigen, nachkommen. Einige Vertreter sehen die Beteiligung am Integrationsbeirat als Möglichkeit, rechtspopulistischen Tendenzen in ihren Städten öffentlich entgegenzuwirken. Zudem bietet der Integrationsrat, der sich in Nordrhein-Westfalen aus Migrantenvertretern und Mitgliedern des Stadtrates zusammensetzt, die Möglichkeit, mit kommunalen Entscheidungsträgern in Kontakt zu treten. Die zunehmende politische und zivilgesellschaftliche Partizipation von Moscheevereinen bzw. deren Vertretern kann generell als Wunsch gedeutet werden, auf religions- und integrationspolitische Vorgaben und Entscheidungen mehr Einfluss auszuüben. Der Blick auf die verschiedenen Projekte und Partnerschaften auf der kommunalen Ebene verdeutlicht, dass es sich bei den direkten Interaktionspartnern der Moscheevereine häufig um Akteure aus der Nachbarschaft handelt. Muslimische Gemeinden kooperieren zumeist mit Nachbargemeinden, den Kommunen und anderen lokalen Akteuren, was deutlich macht, dass eine räumliche Nähe Kooperationen begünstigt. Während zu den klassischen Strukturen Integrationsbeiräte und auch interreligiöse Dialoginstitutionen gezählt werden können, sind in den letzten Jahren speziell für muslimische Vertreter neue Strukturen zur Partizipation geschaffen worden. So wurden z.B. in einigen Städten kommunale Islamforen eingerichtet, die als Gesprächsforen für Muslime, Nichtmuslime und städtische Einrichtungen dienen und u.a. vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend finanziell gefördert werden. Die Binnenstruktur von Moscheegemeinden ist stark von religionspolitischen Rahmenbedingungen geprägt. Hierunter fällt einerseits die Organisationsform als eingetragener Verein. Andererseits gibt es eine Diskrepanz zwischen religionspolitischen Anforderungen zur Erlangung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts und den historischen islamischen Strukturen, die keine kirchenförmigen Organisationen und einheitliche Repräsentanten kennen.16 Zu den mit dem Körperschaftsstatus verbundenen Privilegien gehört etwa das Recht, von den Mitgliedern via Steuereinzug Beiträge zu erheben, was eine solide und kontinuierliche Finanzierung einer Religionsgemeinschaft gewährleistet. Die

16 Eine Ausnahme stellt neuerdings die Ahmadiyya-Gemeinde dar.

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Moscheevereine sind aufgrund des fehlenden Körperschaftsstatus auf Spenden, zum geringen Teil auch die oft kontrovers diskutierten Auslandsspenden, und Mitgliederbeiträge angewiesen und können im Gegensatz zu Kirchen über die Stelle des Imams hinaus nur in begrenztem Umfang hauptamtliche Gemeindearbeiter einstellen. Dies ist ein Grund für eine Diskrepanz zwischen dem Wunsch der Gemeinden nach einem Ausbau eigener sozialer Dienste und den tatsächlich vorhandenen Angeboten. Insbesondere beim Moscheebau wird deutlich, dass die muslimischen Gemeinden auf die ehrenamtliche Beteiligung entsprechend befähigter Gemeindemitglieder angewiesen sind. Die ehrenamtlich Engagierten sind auch für die Aufrechterhaltung der Angebote in den Moscheen unentbehrlich. Allerdings gibt es in vielen religionspolitischen Bereichen, die muslimische Gemeinden betreffen, auch Bewegung. Ausgehend von den Verhandlungen im Rahmen der Deutschen Islam Konferenz, bei der die eingeladenen Dachverbände auch die Anliegen ihrer Moscheevereine vertreten haben, wurden besonders im Bereich Bildung Strukturen geschaffen, die starke Ähnlichkeiten aufweisen mit denen, die von Religionsgemeinschaften mit Körperschaftsstatus mit staatlicher Seite vereinbart wurden. An prominenter Stelle ist dabei die Einführung eines muslimischen Schulunterrichts in einigen Bundesländern (darunter auch Nordrhein-Westfalen) zu nennen. Für Nordrhein-Westfalen ist zusätzlich die Einrichtung eines Lehrstuhles für die Islamische Theologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster zu nennen.

V ERGLEICH Mit Blick auf die Moscheegemeinden wird deutlich, dass sie sich nach wie vor in einer Minderheitensituation befinden und große Bemühungen unternehmen, um das Gemeindeleben zu organisieren und sowohl den internen Traditionserhalt als auch die Etablierung im Aufnahmeland (Anpassung an rechtliche Standards, Ausbau der Infrastruktur, Imagepflege) zu gewährleisten. Allen Moscheevereinen ist gemeinsam, dass sie zusätzlich zu den religiösen Angeboten diverse soziale Aktivitäten für die Gemeinden anbieten und diese immer weiter ausgebaut werden. Durch die sozialen Kontakte innerhalb der Gemeinde und die Angebote von Seiten des Moscheevereins erhalten die Gläubigen vielfältige soziale wie auch seelsorgerische Unterstützung. Am Beispiel der Moscheegemeinden lässt sich deutlich erkennen, dass bestimmte religiöse Migrantengemeinden zu einer Erweiterung ihrer Zuständigkeiten und Aufgaben über den sakralen Bereich hinaus tendieren und Menschen mit Migrationsgeschichte wichtige Hilfestellungen für den Alltag anbieten (vgl. Baumann 2004: 23; Nagel 2013: 13). In diesem

186 | P IOTR S UDER Kontext spielt die zum Teil prekäre Situation von Migranten im Aufnahmeland ebenso eine Rolle wie die für muslimische Gemeinden charakteristische Sozialethik, die die Gemeinden dazu anleiten, ihre Glaubensgenossen mit verschiedenen Angeboten zu unterstützen. Trotz zahlreicher Gemeinsamkeiten mit anderen religiösen Migrantengemeinden in diesem Band, nehmen Moscheevereine unter verschiedenen Gesichtspunkten eine Sonderstellung ein: So bilden im Vergleich zu koreanischen Christen (vgl. Sabrina Weiß), Yeziden (vgl. Thorsten Wettich) oder tamilischen Hindus (vgl. Sandhya Marla-Küsters) türkische Muslime in westdeutschen Städten einen hohen Anteil an der Bevölkerung und Moscheevereine gehören in bestimmten Stadtteilen zu den am häufigsten anzutreffenden Institutionen religiöser Vergemeinschaftung von Menschen mit Migrationsgeschichte. Diese Moscheevereine unterscheiden sich in ihrer Konstitution von anderen Religionsgruppen wie den Neo-Muslimen dadurch, dass sie räumlich konzentrierte Kollektive darstellen, in deren Zentrum sich eine Moschee befindet (vgl. Karin Mykytjuk-Hitz). So rekrutieren Moscheen einen Großteil ihrer Klientel aus dem geographischen Nahraum und stehen insofern im Gegensatz zum weiten Einzugsgebiet buddhistischer Zentren (vgl. Ann-Kathrin Wolf). Durch den starken Stadtteilbezug, ihre quantitative Verbreitung und zum Teil jahrzehntelange Präsenz sowie ihre gesellschaftlichen Teilhabeansprüche, verbunden mit der ihnen beigemessenen integrationspolitischen Bedeutung sind Moscheevereine im Rahmen verschiedener politischer Gelegenheitsstrukturen weit stärker mit der Stadtgesellschaft vernetzt als andere religiöse Migrantengemeinden. Dies schlägt sich z.B. in der Zusammensetzung der kommunalen Integrationsräte nieder, wo muslimische Listen, die aus Moscheevereinen hervorgegangen sind, nicht selten die Mehrheit der Mitglieder stellen. Die Relevanz in der Integrationspolitik speist sich über die quantitative Bedeutung hinaus zum einen aus der im vorherigen Kapitel angesprochenen sozialen Benachteiligung sowie zum anderen aus sicherheitspolitischen Erwägungen. Damit eng verbunden sind Gefährdungsdiskurse, die die Muslime von allen anderen in diesem Band analysierten religiösen Migrantengemeinden am stärksten ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit rücken. Das öffentliche Interesse an Muslimen und die Bemühungen der Politik, muslimische Vertreter als Kooperationspartner zu gewinnen, zeigt sich auf der Bundesebene u.a. in der Einrichtung der Deutschen Islam Konferenz durch das Bundesinnenministerium wie auch in diversen Verhandlungen zwischen Bundesländern und islamischen Dachverbänden. Andere religiöse Minderheiten hingegen bleiben weitgehend unsichtbar und tauchen nur äußerst selten im politischen und gesellschaftlichen Diskurs auf, wie etwa Yeziden und russlanddeutsche Christen (vgl. Thorsten

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Wettich und Frederik Elwert) oder sie werden im Gegensatz zu den Muslimen vorwiegend wohlwollend thematisiert wie z.B. Hindus und Buddhisten (vgl. Sandhya Marla-Küsters und Ann-Kathrin Wolf). Durch den Gefährdungsdiskurs sehen sich die Moscheegemeinden lokal wie auch auf bundesdeutscher Ebene mit vielfältigen Erwartungen konfrontiert, die Transparenzbemühungen, Öffnung nach außen und Dialogbereitschaft einfordern. Als Reaktion versuchen die Moscheegemeinden mit ihrem Engagement (Führungen in Moscheen, zahlreiche interreligiöse Aktivitäten etc.) sich von einem vermeintlichen Generalverdacht zu befreien und einen Beitrag zur Verbesserung des Rufs der Muslime und des Islam in Deutschland zu leisten.17 Dieses Ziel teilen die meisten Moscheegemeinden mit den Neo-Muslimen. Für die anderen Migrantengemeinden spielt solch ein gesellschaftspolitischer Auftrag im Verhältnis zur Umwelt eine untergeordnete Rolle. So kommt es, dass gerade Zugewanderte, die christliche religiöse Traditionen praktizieren, im Vergleich mit den Muslimen nur selten in interreligiöse Dialoge und Integrationsprojekte eingebunden sind und auch keine Notwendigkeit dafür sehen. Beispiele dafür sind die koreanische und russlanddeutschen Freikirchen sowie syrisch-orthodoxe Christen (vgl. Sabrina Weiß, Frederik Elwert und Ulf Plessentin). Natürlich gibt es auch bei anderen religiösen Migrantengemeinden Tendenzen, auf die Aufnahmegesellschaft zuzugehen. So öffnen nicht nur Muslime die Moscheen, sondern auch hinduistische Tamilen ihre Tempel für die Mehrheitsgesellschaft und veranstalten Feste und Führungen (vgl. Sandhya MarlaKüsters). Doch während Einladungen in hinduistische Tempel primär das wachsende Interesse der deutschen Gesellschaft an östlicher Spiritualität und Religiosität befriedigen, ist die Öffnung der Moscheen eher als ein symbolischer Ausdruck für Offenheit und Transparenz gegenüber der Aufnahmegesellschaft zu verstehen, auch wenn es fraglos zahlreiche Teilnehmer an Führungen gibt, die sich für islamisch geprägte Kulturen interessieren. Im Gegensatz zu anderen religiösen Migrantengemeinden sind Muslime mit besonderen Herausforderungen hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz konfrontiert. Es wird aber auch deutlich, dass diese Herausforderungen und die zum Teil konflikthaften Auseinandersetzungen eine Chance für zunehmende Interaktion und Vernetzung mit anderen Akteuren bieten, wie z.B. die Solidarisie-

17 Die Studien in diesem Band zeigen, dass die Vorbehalte gegenüber Muslimen nicht nur in der Mehrheitsbevölkerung bestehen, sondern aufgrund bestimmter Konstellationen und Konflikte in den Herkunftsländern (Yeziden, vgl. Thorsten Wettich; orientalisch-orthodoxe Christen, vgl. Ulf Plessentin) auch bei religiösen Migrantengemeinden verbreitet sind.

188 | P IOTR S UDER rungspotentiale gegen rechtspopulistische und rechtsradikale Gruppierungen und die öffentliche Fürsprache von Kirchenvertretern für den Moscheebau zeigen (vgl. dazu auch Nelly C. Schubert).

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Die zivilgesellschaftlichen Potentiale von neo-muslimischen Akteuren K ARIN M YKYTJUK -H ITZ

H INTERGRUND In den vergangenen Jahren entstanden neue muslimische Vereine und lose Gruppierungen, die sich hinsichtlich ihres Selbstverständnisses, ihrer Ziele und ihrer Mitgliederstrukturen von den klassischen Moscheegemeinden unterscheiden. Die Mitglieder dieser neuen Zusammenschlüsse werden in der akademischen Literatur und darüber hinaus häufig als „Neo-Moslems“ oder „NeoMuslime“ bezeichnet, so z.B. von dem Aktivisten und Journalisten Eren Güvercin (2012), aber auch von der Soziologin Sigrid Nökel (2002, 2007) oder dem Politikwissenschaftler Dirk Halm (2010). Letzterer spricht von „NeoMuslimen“ als einer „Generation gläubiger Muslime, die im deutschen säkularen System sozialisiert“ wurde und es „hier zu einer guten gesellschaftlichen Partizipation“ bringe (ebd.: 2010: 314). Sie setzten der in den Familien tradierten und herkunftslandorientierten Version muslimischen Glaubens die Suche nach Authentizität entgegen. Neo-Muslime tendierten eher zu einem „individualisierten Zugang zur Religion“ (ebd.: 314-315). Der v.a. in wissenschaftlichen Arbeiten angewandte Begriff „Neo-Muslime“ wird indes kaum von den so bezeichneten Akteuren als Eigenbezeichnung gebraucht. Sie verstehen sich als ihren Glauben praktizierende Muslime, die sich aktiv in den neu gegründeten und oft thematisch fokussierten Vereinen und Gruppen an einer innermuslimischen Diskussion beteiligen und sich für das gemeinschaftliche Zusammenleben von Muslimen

192 | K ARIN M YKYTJUK -H ITZ und Nichtmuslimen in Deutschland engagieren. Teilweise engagieren sie sich zusätzlich auch in klassischen Moscheevereinen.1 Der Begriff „Neo-Muslime“2 suggeriert, dass es sich um neue Muslime handelt. Zwar sind unter den sogenannten „Neo-Muslimen“ auch Konvertiten3, d.h. zum Islam übergetretene Personen, aber die Mehrzahl der so Bezeichneten stammt aus muslimischen Familien, die eine Migrationsgeschichte haben. Sie verstehen sich zugleich als deutsch und muslimisch, da sie in Deutschland geboren oder aufgewachsen sind. Für sie umschließt ihr Glaube alle Lebensbereiche und sie legen Wert darauf, sämtliche ihrer Handlungen religiös zu reflektieren und ihren religiösen Überzeugungen auch Taten folgen zu lassen. Sie beziehen sich in ihren Aktivitäten vielfach auf das koranische Gebot, anderen Menschen zu helfen und Schwache und Benachteiligte zu unterstützen.4 Anders als etwa salafistische Gruppen orientieren sich Neo-Muslime nach außen und engagieren sich primär für globale und zivilgesellschaftliche Themen und weniger für rein religiöse oder missionarische Anliegen. Darüber hinaus sind sie inklusivistisch orientiert, also offen für alle, und nicht exklusivistisch nur für „wahre Muslime“. Von salafistischen Bewegungen unterscheiden sich Neo-Muslime auch durch strukturelle Merkmale: So beruhen neo-muslimische Vereine nicht auf autoritären Strukturen5, sondern pflegen eine ausgeprägte Diskussionskultur und demo-

1

Die von Neo-Muslimen in Moscheegemeinden (vgl. Piotr Suder) erbrachten zivilgesellschaftlichen Potentiale sind in diesem Artikel nicht dargestellt.

2

Der Begriff „Neo-Muslime“ ist umstritten. Thielmann (2013: 212) weist ihn zurück und kritisiert, dass er nicht als analytische Kategorie gebraucht werden könne. Auch sei der Verweis auf das „Neue“ bereits vielfach in der Geschichte des Islam von verschiedenen Gruppen für sich beansprucht worden und daher nichts Neues. Der Entscheid, die Bezeichnung hier trotzdem zu verwenden, gründet im Mangel an alternativen präzisen Begrifflichkeiten.

3

Besonderheiten von Konvertiten werden in diesem Beitrag nicht diskutiert, weil sich in der Untersuchung nur geringfügige Unterschiede zu Neo-Muslimen mit Migrationshintergrund feststellen lassen, z.B. die stärkere Bereitschaft, sich gegen als ungerecht empfundene behördliche Entscheide aufzulehnen. Weiterführende Literatur zu Konvertiten findet sich bei Wohlrab-Sahr (1999), neueren Datums sind die Arbeiten von Bleisch Bouzar (2013) und Leuenberger (2013).

4

Eine ausführliche Darstellung von muslimischer Wohltätigkeit (in der Schweiz) findet sich bei Martens (2013).

5

Mittlerweile ist auch eine Verbreiterung der salafistischen Szene in Deutschland zu beobachten, mit der eine Zunahme von Führungs- und Orientierungspersonen einhergeht. Solche Orientierungspersonen haben aber im Vergleich zu neo-muslimischen

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kratische Entscheidungsfindungsprozesse, was sich in flachen Hierarchiestrukturen abbildet. Neo-muslimische Vereine und Gruppen zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie nicht nur religiöse und soziale Dienstleistungen für Muslime anbieten, sondern aktiv auf Veränderungen inner- und außerhalb islamischer Gemeinschaften hinwirken wollen. Im Zentrum steht also nicht die Versorgung von religiösen Grundbedürfnissen wie beispielsweise die öffentliche religiöse Praxis oder religiöse Bildung für Kinder und Jugendliche, wie dies von Moscheegemeinden geleistet wird. Vielmehr beschäftigen sich diese Gruppierungen mit Fragen rund um eine in Deutschland praktizierbare islamische Lebensführung, gerade vor dem Hintergrund der gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung des Islam, durch die sich viele Muslime in eine Rechtfertigungs- oder eine Opferposition gedrängt fühlen. Das neo-muslimische Engagement zielt also auf Fragen einer reflektierten kollektiven und individuellen islamischen Identität in Deutschland ab und setzt sich für mehr Selbstvertrauen bei Muslimen und für mehr Vertrauen von nichtmuslimischer Seite zu Muslimen ein. Die hauptsächlichen Arbeitsbereiche neo-muslimischer Organisationen umfassen erstens (psycho-)soziale und integrationsbezogene Arbeit, soziale Beratung und Seelsorge, zweitens politische Beteiligung, Lobbying und Interessenvertretung, drittens aufklärerisches, humanistisches und philanthropisches Engagement sowie viertens eine Intensivierung der inner(neo)muslimischen Vernetzung. Die neo-muslimischen Gruppierungen erfahren vorwiegend von jüngeren, gut ausgebildeten Muslimen beider Geschlechter Unterstützung und Sympathie. Neo-Muslime sind laut Eren Güvercin geprägt durch einen hohen Akademikeranteil und stellen eine hoch gebildete, meistens urbane und artikulationsfähige, aber auch kleine Gruppe unter der Gesamtheit der Muslime in Deutschland dar. Herkunftslandorientierungen haben sie weitgehend aufgegeben und meist besitzen sie die deutsche Staatsbürgerschaft. Neo-Muslime sehen sich in der Pflicht, der Gesellschaft etwas zurückzugeben (vgl. Güvercin 2012: 111), sich in gesellschaftliche Debatten einzumischen und sich auch mit Kritik am Islam und den Ängsten in der nichtmuslimischen Bevölkerung auseinanderzusetzen. Neben Güvercin haben in der deutschsprachigen akademischen Debatte Ruth Klein-Hessling, Sigrid Nökel und Karin Werner in ihrem Band zum neuen Islam der Frauen (1999) einen Beitrag zur begrifflichen Weiterentwicklung geleistet. Sigrid Nökel (2002, 2007) hebt hervor, dass die Aneignung einer neo-

Bereichen eine weitaus stärkere identitätsstiftende Bedeutung. Vgl. dazu das Promotionsprojekt von Justyna Nedza an der Ruhr-Universität Bochum.

194 | K ARIN M YKYTJUK -H ITZ muslimischen Identität im Kontext der Verortung zwischen „rückständigem“ Islam und moderner säkularer Gesellschaft zu verstehen sei. Sie beschreibt junge muslimische Frauen der zweiten Generation muslimischer Immigranten, die relativ unabhängig von der religiösen Einstellung des Elternhauses oder in Abgrenzung dazu eigene Lebensentwürfe entwickelt haben, die in bewusster und reflektierter Weise den Islam integrieren, und sich zugleich als deutsche Staatsbürgerinnen begreifen (vgl. Nökel 2007: 135). Nökels Erkenntnisse lassen sich prinzipiell auf junge Muslime beider Geschlechter übertragen, wie der vorliegende Beitrag zeigen wird. Zu erwähnen sind weiter die Politologin und Islamwissenschaftlerin Julia Gerlach (2006, 2010), die sich mit muslimischen Jugendkulturen beschäftigte („Pop-Islam“) und der Soziologe Markus Gamper (2011), der islamischen Feminismus in Deutschland untersuchte. Synnøve Bendixsen untersuchte die religiöse Identität junger muslimischer Frauen in Berlin (2013) und leistet damit ebenfalls einen wichtigen Diskussionsbeitrag. Die vorwiegend auf quantitative Daten gestützte Arbeit von Dirk Halm (2010) beschäftigt sich mit den strukturellen Wandlungsprozessen des organisierten Islam in Deutschland und erörtert die Frage, ob ein von Neo-Muslimen getragener öffentlicher Islam entstehen könne, der als gesellschaftlicher Akteur handlungsfähig wird (vgl. ebd.: 314). Im Kontrast zu den meisten bisherigen Arbeiten zeugen die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung von beträchtlichen Bemühungen um neue Formen der Vergemeinschaftung. Von den Arbeiten von Sigrid Nökel und Dirk Halm einmal abgesehen, findet sich konkret zu zivilgesellschaftlichen Potentialen von Neo-Muslimen in Deutschland bis dato kaum Literatur. Häufig untersucht wurden hingegen Moscheegemeinden und ihre integrativen oder zivilgesellschaftlichen Leistungen. Dieser Artikel will einen Beitrag leisten, diese Forschungslücke zu schließen und greift dazu auf eine qualitative Erhebung mit Vertretern neo-muslimischer Netzwerke und Vereine zurück.6

N ETZWERKE Am häufigsten bieten neo-muslimische Vereine und Gruppen Aktivitäten im Bereich des säkularen Wissenstransfers an. Diese sind sowohl innerreligiös an die Mitglieder neo-muslimischer Gruppierungen als auch intrareligiös an andere Muslime z.B. von Moscheevereinen adressiert. Es gibt aber auch Angebote in

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Dazu wurden mit zwölf Neo-Muslimen (neun Frauen, drei Männer) aus verschiedenen Städten im Ruhrgebiet, im Bergischen Land, im Rheinland und aus dem Münsterland narrative Interviews geführt und Netzwerkkarten erstellt.

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diesem Bereich, die offen für alle sind und somit als außerreligiös angesehen werden können. In inner- und intrareligiösen Kontexten umfassen die erbrachten sozialen Dienste Nachhilfe in verschiedenen Fächern für Schulkinder, z.B. einen Leseclub für Grundschüler, sowie eine umfassende Ämterhilfe für Muslime mit Migrationsgeschichte, wie die persönliche Begleitung auf Ämter, Hilfe beim Ausfüllen von Formularen oder Übersetzungen. Die Arbeit mit Muslimen mit Migrationsgeschichte ist oft auch verbunden mit sozialpsychologischen Beratungsangeboten im weiteren Sinne, etwa indem Familienkonstellationen psychologisch analysiert werden oder Kontakte zu Ärzten, Psychologen oder Anwälten vermittelt werden. Hilfsbedürftige können sich entweder direkt an neo-muslimische Vereine wenden oder – was der Regelfall ist – erhalten über Moscheegemeinden Kontakt zu Neo-Muslimen. Es bestehen also Verflechtungen zwischen den klassischen Moscheegemeinden und den neo-muslimischen Gruppierungen, da sich einige neo-muslimische Akteure auch in Moscheegemeinden engagieren und dadurch der Kontakt zwischen Erbringern und Empfängern von Leistungen zustande kommt. Ein wichtiges Merkmal für diesen Zugang und die Ausweitung des Empfängerkreises auch auf außerreligiöse Kreise bildet die Mund-zu-MundPropaganda, die sich über diese Netzwerke weiter ausbreitet. Im Bereich des Wissenstransfers wird für Gruppen Sprachunterricht angeboten, beispielsweise klassisches Arabisch für Erwachsene sowie Unterstützungskurse für Deutsch. In einem konkreten Beispiel erteilt eine Neo-Muslimin privat Alphabetisierungs- und Deutschkurse für Frauen, die außerhalb der Familie wenige oder gar keine Bezugspunkte haben. Sie besucht diese Frauen zu Hause, da diese teilweise das Haus nicht verlassen dürfen oder wollen. Manchmal sei es nötig, einen Alphabetisierungskurs als Kaffeebesuch zu tarnen, damit die NeoMuslimin vom männlichen Familienvorstand akzeptiert werde. In diesen Fällen weitet sich das Leistungsspektrum meist auch um eine Beratungsdimension aus, weil einige dieser Frauen mit einer Vielzahl von Problemen konfrontiert sind, etwa im Krankheitsfall, bei Behördenkontakten oder auch mit ihren eigenen Kindern im Schul- und Jugendalter. Diese genannte Neo-Muslimin agiert seit mehreren Jahren ohne Anbindung an eine Organisation als selbsternannte StreetWorkerin, Friedens-, Frauen- und Menschenrechtsaktivistin. Kontakte zu ihr entstehen primär über mündliche Empfehlungen. Sie erlangte durch ihr öffentliches Auftreten an muslimischen Großanlässen auch eine gewisse Bekanntheit im gesamten deutschsprachigen Raum, welche nicht zuletzt durch ihre regelmäßige Aktivität bei Facebook unterstützt wird. Wichtig sind weiter Beziehungen zwischen verschiedenen neo-muslimischen Gruppen, also formal gesprochen auf der innerreligiösen Ebene, die dem thema-

196 | K ARIN M YKYTJUK -H ITZ tischen Austausch und der Inspiration dienen. Angeregt vom gleichnamigen Angebot des Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen e.V. (BFmF)7 in Köln soll beispielsweise ein Projekt zur Rolle des Vaters bei der Kindererziehung auch vom Muslimischen Frauenbildungszentrum e.V. (MINA)8 angeboten werden. Ein weiteres Handlungsfeld im innerreligiösen Kontext ist die Weitergabe von säkularem Wissen und Erfahrungen in Bezug auf den Strukturaufbau und die Professionalisierung von Arbeitsweisen in Gruppen, etwa die Beratung bezüglich einer geplanten Vereinsgründung. Besonders aktiv in diesem Zusammenhang ist das Zahnräder Netzwerk9, das als Prototyp neo-muslimischer Vergemeinschaftung gelten kann. Jedes Jahr organisiert das Netzwerk einen bundesweiten Kongress, auf dem sich aktive Muslime mit verschiedensten Projekten und Ideen bewerben und vorstellen können. Dieser Kongress bietet den Teilnehmenden v.a. die Möglichkeit, einerseits Gleichgesinnte kennenzulernen und Kontakte zu pflegen, andererseits aber auch die Gelegenheit, sich über administ-

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Das BFmF, bereits 1996 von muslimischen Frauen aus verschiedenen Herkunftsländern gegründet, ist Träger zweier anerkannter Bildungswerke und stellt daher eine Ausnahme unter neo-muslimischen Gruppierungen dar. Das Zentrum ist Träger der freien Jugendhilfe, einer Schuldner- und Verbraucherinsolvenzberatungsstelle, einer Migrationsberatungsstelle für erwachsene Zuwanderer, einer Integrationsagentur, der Zielgruppenträgerschaft für Arbeitsgelegenheiten, von staatlich geförderten Integrationskursen, eines Arbeitslosenzentrums der Stadt Köln und einer ALG-IIBeratungsstelle.

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MINA ist ein 2012 gegründeter lokaler Zusammenschluss muslimischer Frauen, die sich unabhängig von Nationalität und Alter selbstbestimmt organisiert haben, um religions- und kultursensible soziale Bildungs-, Beratungs- und Begegnungsmöglichkeiten aufzubauen.

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Das Zahnräder Netzwerk, gegründet 2010, setzt sich aus engagierten jungen Muslimen unterschiedlicher Herkunft zusammen, die in verschiedenen Bereichen aktiv sind. Das Netzwerk agiert im Bereich Social Entrepreneurship und organisierte (Stand April 2014) vier bundesweite Kongresse (in Wuppertal, Petershagen, Heidelberg und Berlin) mit jeweils über 100 Teilnehmenden. Darauf aufbauend haben sich „ZahnräderX-Gruppen“ in verschiedenen Bundesländern gegründet. Ziel der Plattform ist die Vernetzung von aktiven, talentierten und innovativen Muslimen, damit sie ihre Ideen und Visionen austauschen oder gemeinsame Projekte entwickeln können. So sollen Wege aufgezeigt werden, wie sie einen Beitrag zur deutschen Gesellschaft leisten können. An den Konferenzen werden jeweils Projekte oder Ideen vorgestellt und Gewinnerprojekte gekürt.

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ratives, juristisches oder betriebswirtschaftliches Know-how auszutauschen und dieses ggf. von Neo-Muslimen mit entsprechenden Erfahrungen vermittelt zu bekommen. Ziel der Konferenz ist es laut eigenen Angaben, ein starkes Netzwerk von engagierten Muslimen zu schaffen und einen Wissenstransfer zu ermöglichen, um das Engagement von Muslimen für die Gesamtgesellschaft zu fördern.10 Finanziert wird die Jahrestagung 2014 hauptsächlich durch den British Council, Islamic Relief und die Robert Bosch Stiftung.11 Eine andere Art des säkularen Wissenstransfers betreibt der Verein StudyCoach 2.0.12 Er bietet Unterstützung und Beratung für Abiturienten und Studierende, etwa bei Fragen zum Inhalt eines Studienfachs, zur Finanzierung eines Studiums oder zur Wohnsituation und sozialen Vernetzungsmöglichkeiten in einer Stadt. Da die meisten Berater von StudyCoach 2.0 wie auch die meisten Hilfesuchenden Neo-Muslime sind, lässt sich der Verein als neo-muslimisch beschreiben. Der Wissenstransfer kann hier potentiell auch in einem inter- oder außerreligiösen Rahmen stattfinden. Abgesehen von den organisierten Angeboten des Zahnräder Netzwerks und StudyCoach 2.0 engagieren sich andere neomuslimische Akteure freiwillig als Integrationslotsen und unterstützen Menschen mit Migrationsgeschichte, sowohl aus muslimischen als auch nichtmuslimischen Umfeldern. Darüber hinaus bieten neo-muslimische Gruppierungen einen säkularen Wissenstransfer auch in außerreligiösen Kontexten an. So präsentieren NeoMuslime den Islam und ihren persönlichen Glauben beispielsweise auf Veranstaltungen von Gewerkschaften. Meist haben diese Präsentationen einen informellen Gesprächscharakter und umfassen die Themen Konsumverbot von Schweinefleisch und Alkohol, das Kopftuch und die Rolle der muslimischen Frau oder sie beziehen sich auf öffentliche Gefährdungsdiskurse bezüglich Gewalt im Islam. Diese Präsentationen der eigenen Religion werden allgemein als

10 Vgl. http://www.zahnraeder-netzwerk.de/konferenz2014/ vom 25.04.2014. 11 Zudem ist das Zahnräder Netzwerk Stipendiat bei Startsocial, einer Initiative die „Hilfe für Helfer“ anbietet (vgl. https://www.startsocial.de/ueber-uns/ vom 25.04.2014). Es bekam 2012 den mit 5000 Euro dotierten Publikumspreis von „Act for Impact“, der größten deutschen Preisausschreibung für Social Entrepreneurship (vgl. http://www.zahnraeder-netzwerk.de/2013/04/10/act-for-impact-forderpreis-fur-grun der-mit-verantwortung/ vom 25.04.2014). 12 StudyCoach 2.0 ist ein seit 2010 wachsendes Projekt, das Studierende und Abiturienten, insbesondere jene mit Migrationshintergrund, in ihrer Studienfächer und -ortswahl berät (vgl. http://studienberatung.tugra-ev.de/das-projekt/unser-konzept/ vom 25.04.2014).

198 | K ARIN M YKYTJUK -H ITZ Aufklärungsarbeit verstanden. Auch in anderen außerreligiösen Zusammenhängen stellen Neo-Muslime ihre Religion vor, etwa bei überregionalen Netzwerken in der Sozialarbeit, in universitären Seminaren oder auch durch Beiträge in Blogs oder Online-Magazinen. Fallgeschichte Dadurch, dass Neo-Muslime den Islam in verschiedenen außerreligiösen Institutionen vorstellen, ergaben sich gemeinsame Projekte und Allianzen: So absolvierte eine neo-muslimische Akteurin ein Praktikum bei einem lokalen Jugend-Medienprojekt und beide Seiten beschlossen, die Zusammenarbeit fortzuführen, indem auch nach dem Praktikum gemeinsame Projekte mit einer lokalen muslimischen Mädchengruppe lanciert wurden. So bekam diese Mädchengruppe über die Medienstelle Zugang zu Filmkameraausrüstungen, Hardund Software und nutzte diese, um die Filmreihe WAS GLAUBST DU? zu drehen. Der Film handelt von der individuellen Bedeutsamkeit von Religion für Personen, die sich mit unterschiedlichen religiösen Traditionen identifizieren oder auch gar nicht religiös sind. Der Film wurde im Rahmen von lokalen Jugendveranstaltungen und in mehreren religiösen Jugendgruppen gezeigt. Durch dieses Filmprojekt erfüllte auch die Medienstelle ihren Jugendförderungsauftrag und knüpfte erstmals Kontakte zu muslimischen Jugendlichen. Andere Beispiele zeugen ebenfalls von Aufklärungsbemühungen seitens der Neo-Muslime. So beteiligen sich Neo-Muslime als Teamer im Team interkulturell der Bundeszentrale für politische Bildung an interkultureller Bildungsarbeit mittels Schulprojekten und Weiterbildungsangeboten für Erwachsene. Ähnlich bieten Neo-Muslime im Rahmen des Zentrums für Bildung und Integration Seminare für Pädagogen und Multiplikatoren zum Umgang mit muslimischen Schülern und Eltern an. Zwischen HIMA und Greenpeace ist ein Projekt in Planung, das beabsichtigt, nichtmuslimische und muslimische Schüler zu Themen rund um Umweltschutz und Nachhaltigkeit zu sensibilisieren und aufzuklären. Vielfach werden Kooperationen mit außerreligiösen zivilgesellschaftlichen und staatlichen Gruppierungen aktiv gesucht. Angestrebt ist häufig, dass sich über temporäre Projekte längerfristige strategische Allianzen oder Partnerschaften entwickeln, um für außerreligiöse Partnerorganisationen muslimische Milieus zu erschließen. Neo-Muslime wirken somit als Türöffner für nichtreligiöse Institutionen und Organisationen für das muslimische Feld.

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Im Vergleich zum säkularen Wissenstransfer ist der religiöse Wissenstransfer seitens neo-muslimischer Gruppen schwächer ausgeprägt. Die Vermittlung religiöser Inhalte findet vorwiegend in intrareligiösen Kontexten, meist im Austausch mit Moscheegemeinden, aber auch unter den Neo-Muslimen in informellen Nachbarschaftstreffen oder organisiert an Hochschulen statt. Mehrere NeoMuslime halten gerne selbst Vorträge in Moscheen und thematisieren gesellschaftlich relevante Themen wie Umwelt- und Naturschutz, Konsum und Ernährung, Menschen- und Frauenrechte oder das interreligiöse und interkulturelle Zusammenleben in Deutschland aus einer muslimischen Perspektive. Sie wirken als Vermittler zwischen verschiedenen inner- und außerreligiösen Fraktionen und setzen theologische und thematische Schwerpunkte, indem sie gesellschaftliche Themen wie beispielsweise Vegetarismus aufnehmen und mit theologischen Argumenten untermauern. Diese inter- bzw. intrareligiöse Bildungsarbeit versteht sich als Ergänzung zu muslimischem Religionsunterricht oder Koranunterricht in den Moscheen, da sie stärker an der Alltagswirklichkeit als an Traditionen orientiert sind. Neo-Muslime engagieren sich darüber hinaus im Vorstand von islamischen Hochschulvereinigungen (IHV)13 oder werden von diesen für Vorträge zur aktuellen Bildungssituation angefragt. In den IHVs tauschen sich die Mitglieder vornehmlich über religiöse Fragen über die verschiedenen Traditionslinien hinweg aus. Dass theologische Auseinandersetzungen mit Beteiligung von Neo-Muslimen öffentlich stattfinden, ist allerdings nicht die Regel. Eher finden theologische Diskussionen im privaten Rahmen statt. Eine große Bandbreite zivilgesellschaftlich relevanter Angebote erbringen Neo-Muslime im Bereich der sozialen Dienste. Der erste Blick lässt vermuten, dass soziale Leistungen von Neo-Muslimen für andere Neo-Muslime oder Muslime erbracht werden, sich diese also vorwiegend in inner- und intrareligiösen Kontexten abspielen. Allerdings konnten bei der Untersuchung der Leistungen neo-muslimischer Gruppierungen nur einige wenige Beispiele in diesem Rahmen gefunden werden, weil soziale Dienste eine klassische Domäne der Moscheegemeinden sind (vgl. Piotr Suder). Entsprechend stehen die meisten sozialen Angebote von neo-muslimischen Gruppierungen prinzipiell allen Bedürftigen offen und richten sich an inner-, intra-, inter- und außerreligiöse Interessen-

13 Die seit etwa 2005 gegründeten verschiedenen islamischen Hochschulvereinigungen können nicht per se als neo-muslimische bezeichnet werden, da sich in ihnen auch Personen engagieren oder beteiligen, die nur wenige oder keine neo-muslimischen Charakteristika aufweisen. Da sich dort aber auch viele Neo-Muslime engagieren und IHVs für sie einen wichtigen Ankerpunkt der Vernetzung darstellen, werden IHVs in diesem Beitrag erörtert.

200 | K ARIN M YKYTJUK -H ITZ ten gleichermaßen. Diese Angebote werden vielfach gemeinsam mit anderen Organisationen erbracht: So besteht eine interreligiöse Partnerschaft zwischen den neo-muslimischen Lifemakers14 und einer lokalen evangelischen diakonischen Einrichtung. Dabei besuchen die Neo-Musliminnen einmal monatlich Demenzkranke in einem Altenheim. Im Rahmen dieser Kooperation sind auch Besuche auf Kinderstationen in Krankenhäusern geplant, um den Kindern Geschichten vorzulesen oder einfach Zeit mit ihnen zu verbringen. Weiter gab es ein soziales Projekt zwischen der Vorgängergruppe von MINA mit dem Familienbildungswerk des DRK mit dem Ziel, Frauen in muslimischen Familien zu stärken. Als drittes Beispiel im Bereich der sozialen Dienste ist eine Partnerschaft zwischen einer muslimischen Mädchengruppe und einem lokalen Haus der Jugend zu nennen. In diesem Rahmen werden interreligiöse und interkulturelle Dialogveranstaltungen organisiert, aber auch soziale Angebote wie eine Theatergruppe, ein Chor oder sportliche Aktivitäten unterhalten. Finanzielle und materielle Transferleistungen lassen sich in internen und externen Kontexten gleichermaßen beobachten. Im innerreligiösen Bereich wird deutlich, dass die Mitgliedschaftsbeiträge in neo-muslimischen Organisationen oft keine oder nur eine geringe Rollen spielen. Das Aktionsbündnis muslimischer Frauen e.V. (AmF)15 verzichtet (wie auch andere Gruppen) auf einen Mitgliedschaftsbeitrag mit der Begründung: „Da viele muslimische Frauen nicht gerade mit finanziellem Reichtum gesegnet sind, haben wir uns entschlossen, keine Mitgliedsbeiträge zu erheben und so die Schwelle für einen Beitritt geringzuhal-

14 Die Lifemakers bildeten sich seit etwa 2002 an verschiedenen Orten als lokale Gruppen und orientieren sich in unterschiedlichem Maße am ägyptischen Fernsehprediger Amr Khaled, dem Verbindungen zu den Muslimbrüdern nachgesagt werden. Sie verstehen sich als „junge, freiwillige, einsatzbereite und mutige Helfer“ (http://www. way-to-allah.com/anliegen/sonstiges/44.html vom 23.07.2014). Religionszugehörigkeiten und Herkunftsprägungen sollen explizit keine Rolle spielen, was zählt sei „Einsatz, Menschlichkeit, Nächstenliebe, Eigeninitiative, Mut“ (ebd.). Die Lifemakers engagieren sich in der Winterhilfe, Obdachlosen- und Armenspeisung, mit Programmen für Kinder in Kranken- und Waisenhäusern und für Demenzerkrankte in Altenwohnheimen. Die Begünstigten ihrer Leistungen sind meist Nichtmuslime. 15 Das AmF wurde 2005 gegründet und ist eine Vereinigung von muslimischen Frauen unterschiedlicher nationaler Herkunft, ethnischer Zugehörigkeit und religiöser Ausprägung. Es wurde mit dem Ziel gegründet, muslimische Frauen besser zu vernetzen, um ihre Interessen innerhalb der muslimischen Community sowie in der nichtmuslimischen deutschen Mehrheitsgesellschaft besser zu vertreten (vgl. http://www. muslimische-frauen.de/uber-uns/ vom 25.04.2014).

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ten.“16 Wenige Neo-Muslime bezahlen über ihre Familie auch Beiträge an Moscheegemeinden. Eindeutig intrareligiöse Transferleistungen zwischen der neomuslimischen Seite und den klassischen Moscheevereinen, die sich dann zu einer Partnerschaft verstetigen, ergeben sich beispielsweise durch den Umstand, dass neo-muslimische Vereinigungen in der allermeisten Fällen keine eigenen Räumlichkeiten besitzen17 und für ihre Treffen und Aktivitäten Räume von einem Moscheeverein unentgeltlich gestellt bekommen. So kann der neomuslimische Verein MINA sich in den Räumlichkeiten einer Moschee treffen. Die Gruppe sammelt Spenden und bemüht sich um öffentliche Finanzierung, um in eigene Räumlichkeiten umzuziehen. Dieser Kontakt wurde sukzessive zu einer Partnerschaft ausgebaut und es werden gemeinsame karitative Vorhaben realisiert. Beispielsweise wurden Geschenke gesammelt oder gekauft, um sie an Kinder in einem marokkanischen Waisenheim jährlich am Opferfest zu verteilen. Darüber hinaus finden sich diverse Transferleistungen von neo-muslimischer Seite an Nichtmuslime, die einen signifikanten zivilgesellschaftlichen Beitrag darstellen. So organisieren die Lifemakers monatlich in Innenstädten eine Versorgung von Obdachlosen mit Essen, Toilettenartikeln und im Winter mit warmer Kleidung. Neo-muslimische Akteure helfen freiwillig bei einer städtischen Tafel mit. Neben diesen direkten karitativen Leistungen spenden viele NeoMuslime Geld an nichtreligiöse internationale Organisationen, auch wenn sie selbst nicht über umfangreiche finanzielle Mittel verfügen. Eine Neo-Muslimin nimmt aus Prinzip für ihre Vortragstätigkeit nur von finanzstarken Organisationen ein Honorar an und spendet dieses dann beispielsweise an Medica Mondiale, einen Verein, der traumatisierte Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten unterstützt. Andere Neo-Muslime sind Mitglied bei Amnesty International, Greenpeace oder Ärzte ohne Grenzen. Wieder andere sind Mitglied in Gewerkschaften (DGB, Verdi) oder Parteien eher aus dem linken und linksliberalen Spektrum (SPD, Jusos, Bündnis 90/Grüne) und unterstützen diese Organisationen durch ihre Mitgliedschaftsbeiträge.

16 http://www.muslimische-frauen.de/spenden/ vom 25.4.2014. 17 Eine Ausnahme ist das Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen e.V. (BFmF) in Köln. Als eines der wenigen muslimischen Bildungswerke erhält es neben Spenden auch öffentliche Fördergelder. Das AmF ist als gemeinnützig anerkannt und kann ebenso wie Tuisa e.V. durch Spenden eigene Räume mieten. Universitäre Gruppen bekommen durch ihre unipolitische Beteiligung manchmal eine eigene Räumlichkeit. Politische Gruppen treffen sich in den Zentralen ihrer Mutterparteien.

202 | K ARIN M YKYTJUK -H ITZ Weiterhin ist zu beobachten, dass neo-muslimische Organisationen und Akteure Spenden sammeln, etwa für Hilfsorganisationen, die ihrerseits die Opfer der Flutkatastrophe im Indischen Ozean oder der Hungerkatastrophe in Somalia unterstützen. So haben Mitglieder von United Hands18 zu diesen Zwecken auf einem Flohmarkt Gegenstände verkauft, die sie in ihrem privaten Umfeld und in Moscheegemeinden gesammelt haben. Eine weitere Aktivität von United Hands war eine Pfandflaschenaktion, bei der Pfandflaschen aus privaten Haushalten von Freunden oder Bekannten und von Moscheegemeinden gesammelt wurden. Der Erlös wurde an die humanitäre Organisation Tuisa e.V.19 gespendet, welche diesen Betrag in humanitären Projekten auch in nichtmuslimisch geprägten Ländern einsetzt. An diesen Aktionen, die auf eine wertebasierte innerreligiöse Partnerschaft zwischen zwei neo-muslimischen Organisationen hinweist, waren auch Lokalgruppen von den Lifemakers beteiligt. Gerade über zivilgesellschaftliche Projekte wie das Spendensammeln entstehen Partnerschaften zwischen einzelnen neo-muslimischen Gruppierungen. Zu nennen sind auch mehrmalige Benefiz-Veranstaltungen für einen spezifischen humanitären Zweck, beispielsweise für Opfer der Flutkatastrophe auf den Philippinen oder auch für die Herzoperation eines Kindes in Marokko. Finanzielle oder materielle Unterstützung gibt es jedoch auch in anderer Richtung, also von nichtmuslimischen Organisationen zu neo-muslimischen Individuen oder Gruppen. So erhielten Neo-Musliminnen Abitur- bzw. Studienstipendien von öffentlichen Stiftungen. Die neo-muslimische Gruppe United Hands kann regelmäßig und unentgeltlich die Räumlichkeiten eines städtischen Zentrums zur Umsetzung der lokalen Agenda 21 für ihre Sitzungen und Projektvorbereitungen nutzen. Wie oben bereits erwähnt, bekommen auch das Zahnräder Netzwerk und das BFmF finanzielle Unterstützungen aus öffentlichen Fördertöpfen und privaten Stiftungen.

18 Muslime mit unterschiedlichen Migrationshintergründen bildeten 2010 das junge Team von United Hands im Ruhrgebiet, um sich „innerhalb unserer Gesellschaft ehrenamtlich für das Gemeinwohl [zu] engagier[en]“ und sich „fern von Vorurteilen, Ungerechtigkeit & Religionsunterschieden [...] in unserer Gesellschaft positiv [zu] integrieren“ (http://www.united-hands.net/uber-uns/ vom 25.04.2014). 19 Tuisa e.V. leistet seit 2005 Entwicklungs- und Nothilfe für alle Menschen unabhängig ihrer Religionszugehörigkeit und engagiert sich ehrenamtlich im humanitären, sozialen und interkulturellen Bereich und der Betreuung von Kindern, Bedürftigen und Kranken in verschiedenen Ländern. Auch wenn Tuisa keine neo-muslimische Gruppe ist, bestehen vielschichtige Beziehungen zu neo-muslimischen Gruppierungen. Da bei Tuisa auch Neo-Muslime beschäftigt sind, wird diese Organisation hier aufgeführt.

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Auffällig ist, dass die innerreligiöse Kontaktpflege unter Neo-Muslimen vorwiegend über digitale und neue Medien wie E-Mail, Skype, Facebook und Twitter abläuft. Angesichts fehlender Räumlichkeiten kommen die Akteure meist nur zu Sitzungen oder zu Aktionen persönlich zusammen. Einige neomuslimische Akteure treffen andere Neo-Muslime auch in Moscheegemeinden, in denen sie aufgewachsen sind. Die Moscheen dienen dabei nicht selten als Plattform für neo-muslimische Aktivitäten, obwohl ihre Zielrichtung erhebliche Unterschiede zu denen klassischer Moscheevereine aufweist. Viele neomuslimische Gruppierungen betreiben zudem eine Webseite, auf der sie für ihre Angebote werben und sich gegenseitig verlinken. Beispielsweise finden sich auf der Homepage von United Hands Verknüpfungen zu Tuisa und den Lifemakers. Weiterreichende Werbung für die eigenen Angebote findet meist nur in Form von digitalen Newslettern statt. Davon abgesehen sind eher geringe Bemühungen zu beobachten, die eigenen Aktivitäten z.B. durch Druckerzeugnisse bekannt zu machen. Wie bereits dargestellt, besteht eine Reihe an Angeboten für den säkularen Wissenstransfer, wie Alphabetisierungs- und Deutschkurse für Frauen. Solche Angebote werden regelmäßig mit Aktivitäten im Bereich religiöser Seelsorge und Lebensberatung verbunden. Zu nennen sind etwa Beratungsleistungen für Jugendliche (v.a. Mädchen und Frauen) in der Pubertät, die Schwierigkeiten mit ihren Eltern haben, aber auch Elternberatungen verschiedener Art. Diese Angebote sind in der Regel individuell ausgerichtet. So engagiert sich eine NeoMuslimin im Schulbereich und fungiert als informelle Ansprechpartnerin und Beraterin für Lehrer, Sozialarbeiter, für Eltern, aber auch für die Kinder. Der Bereich religiöse Seelsorge und Lebensberatung umfasst auch innerreligiöse Angebote von Neo-Muslimen an Neo-Muslime, die der Selbstvergewisserung und der Stärkung einer eigenen muslimischen Identität dienen. Einige NeoMuslime haben keinen Imam ihres Vertrauens, um religiösen Rat einzuholen, sondern wenden sich mit Fragen an theologisch gebildete Freunde oder Bekannte aus ebenfalls neo-muslimischen Kreisen. Auch hier wird auf das Internet als Kommunikationsplattform zurückgegriffen. Theologisch-seelsorgerische Aspekte spielen auch auf der Zahnräder-Konferenz eine Rolle, da dieser mehrtägige Anlass viele Gelegenheiten zum informellen Austausch und zur Selbstvergewisserung bietet. Dabei werden u.a. auch Fragen rund um eine islamische Lebensführung thematisiert. In Bezug auf Diskriminierungserfahrungen aufgrund religiöser Zugehörigkeit ist zu beobachten, dass sich im neo-muslimischen Feld (z.B. in Kursen für Frauen und Jugendliche von MINA) Beratungsangebote etablieren, die sowohl säkulares Wissen, das den inneren psychischen und äußeren verhaltensbezoge-

204 | K ARIN M YKYTJUK -H ITZ nen Umgang mit Diskriminierung thematisiert, als auch religiöses Wissen miteinander verbinden und dabei meist auch seelsorgerische Funktionen erfüllen. Diese Beratungskurse dienen insgesamt der Stärkung der eigenen religiösen Identität und fördern das Selbstbewusstsein der Teilnehmenden. Weitere Angebote von MINA sind ein Gesprächskreis für geschiedene und alleinerziehende Frauen und ein Rhetorikseminar mit Beratungen zu beruflichen Bewerbungen. Eine Neo-Muslimin ist Berufsschullehrerin und nimmt sich über ihren Berufsalltag hinaus muslimischer Schüler an, wenn diese Probleme mit ihren Eltern oder mit anderen Lehrern haben. Sie besucht die Familien oft auch zu Hause für Gespräche. Im Bereich Interessenvertretung zeigen Neo-Muslime zwar Bemühungen, diese sind aber – abgesehen vom politischen Bereich und dem Zahnräder Netzwerk – meist lokal ausgerichtet und zielen auf kleinere projektbezogene Vernetzungen ab. Das Zahnräder Netzwerk gründete im März 2013 den ersten bundesweiten muslimischen Think Tank. Der Zahnräder Think Tank soll es muslimischen Experten aus verschiedenen Sektoren wie Politik, Wirtschaft, Recht, Kultur und Kunst ermöglichen, gesellschaftlich relevante Problemfelder zu untersuchen und konstruktive Lösungen zu erarbeiten.20 Der eingangs erwähnte Journalist Güvercin ist im neo-muslimischen Milieu auch als Aktivist tätig. Er ist Initiator der Alternativen Islamkonferenz und dadurch stark in Prozesse der Interessenvertretung involviert. Die Alternative Islamkonferenz entgegnet der „Krise um die Zusammensetzung und die Inhalte der Islamkonferenz“21 mit der Forderung nach einer offenen Debattenplattform, in der „islamische Religionsgemeinschaften und andere muslimische Zusammenschlüsse genauso wie nicht organisierte Muslime“ aufgefordert werden, sich an einer innermuslimischen Diskussion „nicht nur zum Wohle der in Deutschland lebenden Muslime, sondern auch zum Wohle der Gesamtgesellschaft“ zu beteiligen. Auf diese Weise sollen „nicht nur längst überfällige Antworten auf bisher meist fremdbestimmte Fragen und Themen“ gegeben werden, die die öffentliche Debatte bestimmen, „sondern auch dem Staat ein [...] kompetente[r] Ansprechpartner“22 geboten werden. Auch Neo-Muslimen soll so eine Stimme verliehen werden und ihre Interessen sollen durch den Aufbau von Instituten, Bibliotheken, Archiven und v.a. auch durch Medien in der Öffentlichkeit und vor dem Staat vertreten werden.

20 Vgl.

http://www.zahnraeder-netzwerk.de/2014/01/24/zahnrader-netzwerk-ruckblick-

2013/ vom 25.04.2014. 21 http://alternativeislamkonferenz.wordpress.com vom 23.04.2014. 22 http://alternativeislamkonferenz.wordpress.com vom 23.04.2014

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Zu den Vernetzungsoptionen, die bei Neo-Muslimen bemerkenswert selten vorkommen, zählen Beziehungen im interreligiösen Kontext. Bis auf die genannten Angebote im Bereich des Wissenstransfers und der sozialen Dienste, die für alle offen sind, werden kaum Beziehungen mit Organisationen oder Individuen aufgrund ihrer anderen Religionszugehörigkeit angestrebt. Ausnahmen ergeben sich v.a. durch das Doppelengagement von neo-muslimischen Akteuren in klassischen muslimischen Strukturen und dort verankerten interreligiösen Dialoginitiativen. Auffällig dagegen ist die bewusste Zuwendung zu nichtreligiösen Akteuren wie Nichtregierungsorganisationen oder (staatlichen) Wohlfahrtsorganisationen. Liturgische Aktivitäten, wie beispielsweise Rituale und Feste, gehören ebenfalls nicht in das Portfolio von neo-muslimischen Gruppierungen, sondern sind fest in den Händen von klassischen Moscheegemeinden.

E INFLUSSFAKTOREN Zentral für die zivilgesellschaftlichen Potentiale von Neo-Muslimen ist ihr religiöses Selbstverständnis. Sie verstehen sich als engagierte, gläubige und reflektierte Muslime mit dem Propheten Muhammad als handlungsleitendem Vorbild. Sie hinterfragen ihre Aktivitäten und Handlungen im Licht ihres Glaubens. Deswegen begründen sie ihr Handeln auch religiös. Beispielsweise wurde die koranische Aufforderung, Gutes zu tun, anderen zu helfen und sie zu unterstützen, von beinahe allen Interviewten genannt. Weitere religiöse Begründungen bezogen sich darauf, Gottes Zufriedenheit zu erlangen, ein nützliches Gesellschaftsmitglied zu sein, Verantwortung für die Schöpfung insgesamt zu übernehmen, allen Wesen mit Respekt zu begegnen sowie Vorbereitungen für das Jenseits zu treffen. Religiös-humanistische, pflichtethische und auf das eigene Heil bezogene Begründungen wurden dabei teilweise von ein und derselben Person geäußert. Neo-Muslime gewichten die Bedürftigkeit eines Menschen meist höher als die Religionszugehörigkeit und engagieren sich deshalb über die muslimischen Gemeinschaften hinaus. Viele betonten, dass ihnen die Gesellschaft als Ganzes am Herzen liege. In dieser Offenheit liegt auch ein markanter Unterschied zu salafistischen Gruppierungen. Neben den theologischen Einflussfaktoren der Sozialethik und Grenzziehungen gegenüber anderen muslimischen Gruppen zeigt sich auch eine Laisierung theologischer Lehren und damit einhergehend eine aktive Offenheit gegenüber theologischen Innovationen, was wiederum einen Einfluss auf die Organisation neo-muslimischer Aktivitäten hat. Neo-Muslime haben sich viel religiöses Wissen angeeignet, vorwiegend im Selbststudium, aber auch an Instituten für islami-

206 | K ARIN M YKYTJUK -H ITZ sche Studien, an deutschen islamwissenschaftlichen Instituten, an Veranstaltungen islamischer Hochschulvereinigungen oder durch Imame. Dadurch wurden sie selbst zu kompetenten Ansprechpersonen in religiösen Angelegenheiten für Peers und Außenstehende. Ihre Bindung an traditionelle religiöse Autoritäten ist eher gering und ihre Aktivitäten sind von klassischen muslimischen Strukturen in Deutschland weitgehend unabhängig. Der Aufbau von parallelen religiösen Strukturen, wie etwa einer neomuslimischen Moschee, wird nicht angestrebt, vielmehr verstehen sich neomuslimische Angebote als zivilgesellschaftliche Ergänzung zu den religiösen Leistungen in Moscheegemeinden, mit anderen Zielen und nicht in Konkurrenz dazu. Neo-Muslime sehen sich eher als Einzelakteure oder agieren in kleinen Gruppen und zielen in erster Linie auf punktuelle und individuelle Veränderungen.23 Dahinter steht der Wunsch, ein Umdenken innerhalb muslimischer Gemeinschaften sowie auch bei nicht-vergemeinschafteten Muslimen herbeizuführen: Muslime sollen insgesamt ihren Glauben bewusster leben und sich neuen theologischen Reflexionen stellen, beispielsweise bezüglich Umweltschutz, Ernährung oder Menschen- und Frauenrechten. Kulturbasierten islamischen Traditionen verschiedenster Art (landsmannschaftlich organisierten Moscheen) sowie rigiden und exklusivistischen Islamvorstellungen stehen die befragten NeoMuslime meist kritisch gegenüber und grenzen sich davon mit Verweis auf theologische Differenzen deutlich ab. Ethnische bzw. landsmannschaftliche Moscheegemeinden stellen für die neo-muslimischen Akteure einen Zugang zu einer breiten Schicht von organisierten Muslimen dar, so dass sie mit diesen neue theologischen Perspektiven und Themen diskutieren und unter diesen ggf. verbreiten können. Viele neo-muslimische Aktivitäten sind als Antwort auf die sozialstrukturellen und demographischen Veränderungen innerhalb von muslimischen Familien mit Migrationsgeschichte zu verstehen. Vor allem junge deutsche Neo-Muslime weisen eine ausgezeichnete höhere Bildung (universitäres Studium, Weiterbildungen) auf, was mit einer hohen Artikulationsfähigkeit verbunden ist. Auf diese Weise haben Neo-Muslime die Möglichkeit, sich inner- und außerhalb muslimischer Gemeinschaften Gehör zu verschaffen. Darüber hinaus hat sich in der Öffentlichkeit in den vergangenen Jahren der Gesprächsbedarf zum Thema Islam erheblich erhöht. Neo-Muslime werden durch ihre Sozialisation in Deutschland und ihre gute Bildung schneller in Sprecherrollen und Repräsentationsfunktionen

23 Dies schließt jedoch den Wunsch nach einer islamischen Wohlfahrtsorganisation in Deutschland nicht aus. Vgl. hierzu auch die thematische Setzung der dritten Phase der Deutschen Islam Konferenz ab März 2014.

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akzeptiert als ihre Eltern oder Großeltern. Dieser Prozess wird durch den Willen zur politischen Mitwirkung in Deutschland und die Veränderung der politischen Rahmenbedingungen noch zusätzlich unterstützt: Man denke hier beispielsweise an die Gründung eines bundesweiten muslimischen Arbeitskreises in der SPD (Februar 2014) oder an den Arbeitskreis Grüne Muslime NRW (Anfang 2007). Es ist weiter nicht überraschend, dass sich viele Aktivitäten und Vernetzungen in universitären Kontexten (Islamische Hochschulvereine, Studierendenvertretung, Rat muslimischer Studierender und Akademiker) etabliert haben. Viele engagierte Neo-Muslime wünschen sich mehr Austausch und eine stärkere Vernetzung untereinander, auch in Bezug auf eine religiöse Selbstvergewisserung, was an Universitäten mit wenig Aufwand zu erreichen ist. Der Generationswechsel zeigt sich nicht nur in der Artikulationsfähigkeit und der zunehmenden politischen Beteiligung, sondern auch im Abgrenzungsverhalten gegenüber herkunftsbezogenen religiösen Traditionen und traditionellen Hierarchien. Dies mag erklären, warum sich viele Neo-Muslime nicht in klassischen Moscheegemeinden engagieren, sondern neue Strukturen für ihre Ziele suchen oder diese durch eigene Vereinsgründungen selber schaffen. Im Vergleich zur Generation der Eltern und Großeltern, deren Angehörige eine eher randständige Position in der Aufnahmegesellschaft einnahmen, gehen die NeoMuslime reflektiert mit ihrer Minderheitensituation in Deutschland um und treten öffentlich selbstbewusst für ihre Rechte ein. Zugleich wird von ihnen immer wieder ein Defizit an administrativem und organisatorischem Know-how unter Muslimen festgestellt, beispielsweise um professionelle Vereinsstrukturen aufzubauen. Der öffentliche Islamdiskurs in Deutschland wird von Neo-Muslimen häufig als Gefährdungsdiskurs wahrgenommen, in dem ihnen eine Aufklärungs- und Vorbildfunktion zuwächst. Aus diesem Grund engagieren sich Neo-Muslime v.a. in der Bildungs- und Aufklärungsarbeit, publizieren Positionierungen und Berichte in verschiedenen nichtmuslimischen Medien oder setzen sich in ihrer Funktion als Integrationsräte für differenzierte Betrachtungen und Bewertungen ein. Andere Neo-Muslime reagieren auf den Gefährdungsdiskurs, indem sie weniger in einer repräsentativen, sondern stärker in einer vermittelnden Funktion agieren. Sie kennen verschiedene Formen muslimischen Lebens in Deutschland und verfügen über Vermittlungskompetenzen sowohl innerhalb muslimischer Kreise als auch zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Neo-Muslime sind durch ihre gute Bildung in nichtmuslimischen Feldern erfolgreich und genießen zugleich durch ihre unterschiedliche kulturelle Herkunft, durch ihre Mehrsprachigkeit oder ihr oft umfangreiches religiöses Wissen innerhalb verschiedener muslimischer Kreise ein gewisses Ansehen. Mehrere Fallbeispiele zeugen da-

208 | K ARIN M YKYTJUK -H ITZ von, dass engagierte Frauen sogar von Familienvorständen, die aufgrund konservativer Werte einen patriarchalen Lebensstil praktizieren, als Autoritäten in Konfliktsituationen akzeptiert werden. Dieser Status ist für nichtmuslimische Sozialarbeiter aufgrund des fehlenden kulturellen und religiösen Hintergrunds oftmals kaum erreichbar. Der Vertrauensvorschuss durch den gemeinsamen kulturellreligiösen Hintergrund ist eine nicht zu unterschätzende Ressource, welche neue Möglichkeiten in der sozialen Arbeit mit muslimischen Bürgern eröffnet. Angesichts dessen zeigen sich einige Neo-Muslime enttäuscht darüber, dass ihre besonderen Potentiale von der Mehrheitsgesellschaft zu wenig erkannt, manchmal von Fachpersonen gar verkannt oder zu wenig gewürdigt werden. Dies ist weniger auf eine übersteigerte Anspruchshaltung als vielmehr auf ihre insgesamt nach wie vor eher marginale gesellschaftliche Stellung, auf integrationspolitische Diskursstile sowie v.a. auch auf die gängigen Finanzierungsmodelle von Wohlfahrtsverbänden zurückzuführen. Mehrfach wurde ein Bedauern darüber geäußert, dass nach zeitlich befristeten gemeinsamen Projekten mit Wohlfahrtsverbänden die Verträge nicht verlängert wurden, obwohl die Projekte erfolgreich waren und in ähnlichen Kontexten ebenfalls Erfolg in Aussicht stellten. In anderen Fällen liefen Honorarverträge aus, ohne dass ein Projekt zu Ende geführt werden konnte, so geschehen bei einer Familienbetreuung, welche dann ehrenamtlich weitergeführt wurde. Längerfristigen Kooperationen stehen die üblichen halbjährlichen oder höchstens jährlichen Honorarverträge entgegen. Diese kurzzeitigen Zuwendungen bedeuten für die engagierten Neo-Muslime prekäre finanzielle Verhältnisse und gewährleisten keine Planbarkeit. Weitere Zugangshürden zum bezahlten Arbeitsmarkt stehen im Zusammenhang mit dem Gefährdungsdiskurs und religiösen Kleidervorschriften. Mehrere Neo-Musliminnen machten die Erfahrung, dass ihnen als Kopftuchträgerinnen eine länger- oder gar unbefristete Stelle in der sozialen Wohlfahrtspflege verwehrt bleibt. Der Ausschluss von Arbeitnehmerinnen mit eindeutigen religiösen Symbolen verhindert Zugänge zu marginalisierten Gruppen und bedürftigen Muslimen, die von bisherigen Förderprojekten nicht erreicht wurden, konkret z.B. ältere Muslime mit Migrationsgeschichte, bei denen das Problem Demenz zunimmt. Gerade hier könnten engagierte Neo-Muslime die emotionalen und kulturell-religiösen Zugangsbarrieren überbrücken. Einige Engagierte entwickeln deshalb ein Misstrauen gegenüber wohlfahrtsstaatlichen Institutionen oder wenden sich ganz von ihnen ab und gründen eigene Vereine. Eine zusätzliche Schwierigkeit beim Zugang zum Arbeitsmarkt oder öffentlichen Fördergeldern ist die fehlende formale Qualifikation von älteren und weniger gut ausgebildeten Neo-Muslimen, die sich seit vielen Jahren ehrenamtlich engagieren und einen Wechsel von ehrenamtlichen in hauptamtliche Tätigkeiten

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anstreben. Hoffnungsvoll wurden in solchen Situationen Ausbildungen (BAFernstudium in sozialer Arbeit) oder Weiterbildungsangebote (in den Themenbereichen Diversity-Management, Interkulturelle Kommunikation, Umgang mit Demenz) besucht, von denen sich zeigen wird, ob sie sich für die Neo-Muslime auf ihre Chancen im Arbeitsmarkt und in anerkennender Hinsicht auswirken. Als diskriminierend empfunden wird das in NRW geltende Kopftuchverbot für Lehrkräfte im öffentlichen Dienst. Mehrere Neo-Musliminnen engagieren sich gegen dieses Verbot in der Hoffnung, dass es eines Tages aufgehoben wird. Diese Hoffnung wird auch von jungen Neo-Musliminnen geteilt, die aus Überzeugung Erziehungswissenschaft studieren, wohlwissend, dass sie mit dem Kopftuch derzeit keine Anstellung in einer öffentlichen Einrichtung finden werden. Eine alternative Hoffnung mögen Bestrebungen sein, muslimische Schulen aufzubauen; muslimische Kindergärten gibt es bereits vereinzelte. Darüber hinaus beeinflussen auch übergeordnete religionspolitische und -rechtliche Rahmenbedingungen die Aktivitäten von Neo-Muslimen. Vor allem politisch engagierte und sensibilisierte Neo-Muslime wünschen sich eine Anerkennung des Islam als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Dabei sind sie sich der mit dieser Organisationsform verbundenen Schwierigkeiten durchaus bewusst und bemühen sich im innermuslimischen Diskurs um Möglichkeiten der Vertretung verschiedener islamischer Schulen (vgl. Islamkonferenz bzw. die Alternative Islamkonferenz oder die muslimischen Arbeitskreise in Parteien). Die Einrichtung von islamischer Theologie und islamischer Religionspädagogik als Studienfächer an deutschen Universitäten wird dabei sehr begrüßt und als ein Akt gesellschaftspolitischer Anerkennung gewertet, ebenso der punktuell mögliche muslimische Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in NordrheinWestfalen.

V ERGLEICH Ausgehend von den Neugründungen von Vereinen durch Neo-Muslime kann in Deutschland eine Ausdifferenzierung muslimischer Vergemeinschaftungsformen beobachtet werden, die von Emanzipations- und Erneuerungsgedanken getragen sind. Beispiele hierfür sind die Vereine MINA, HIMA, United Hands, StudyCoach 2.0, lokale Regionalgruppen der Lifemakers oder muslimische Arbeitskreise in etablierten Parteien wie den Grünen oder der SPD. Während Moscheegemeinden eher klassische theologischen Anliegen und Rituale bedienen, wenden Neo-Muslime sich stärker zivilgesellschaftlichen Themen (wie beispielsweise Umweltschutz, gesunde Ernährung, Menschen- und Frauenrechte, soziale Ge-

210 | K ARIN M YKYTJUK -H ITZ rechtigkeit) zu. Dazu werden einerseits neue organisatorische Strukturen gegründet und aufgebaut. Andererseits wird aber auch der Zugang zu bestehenden Strukturen, z.B. den Wohlfahrtsverbänden, gesucht, welcher sich oft als eher schwierig erweist. Insgesamt ist die Reichweite neo-muslimischer Aktivitäten (mit Ausnahme des Zahnräder Netzwerks) bis dato eher gering. Die Resonanz neo-muslimischer Aktivitäten innerhalb muslimischer Kreise ist sehr unterschiedlich und reicht von Begeisterung und Unterstützung über Indifferenz bis hin zu ablehnenden Haltungen. Der folgende Vergleich zu den anderen in diesem Band vorgestellten Potentialen von religiösen Gemeinschaften greift eine Auswahl von besonders einschlägigen oder speziellen Gemeinsamkeiten und Unterschieden heraus. Neomuslimische Akteure haben mit moscheebasierten Muslimen (vgl. Piotr Suder), aber auch mit den Teilnehmern an interreligiösen Initiativen gemeinsam (vgl. Nelly C. Schubert), dass sie sich mit Angeboten des Wissenstransfers um eine Gegenposition gegenüber einem öffentlichen Gefährdungsdiskurs bemühen und dadurch auch Multikulturalismus- oder Pluralismusdiskurse unterstützen. Damit einher geht eine grundsätzliche Offenheit gegenüber politischen Autoritäten, bzw. gar die Übernahme von politischen Ämtern in städtischen Integrationsräten oder das Engagement in parteiinternen muslimischen Arbeitskreisen. Weiterhin sind auf den ersten Blick überraschende Gemeinsamkeiten mit den untersuchten koreanischen Christen festzustellen (vgl. Sabrina Weiß): In Bezug auf demographische und migrationsgeschichtliche Entwicklungen zeigen beide Gruppen generationsspezifische Bemühungen um eine Abgrenzung der kulturellen Bindungen zu den jeweiligen Heimatländern und eine klare Selbstverortung im deutschen Kontext. Auch theologisch gibt es Gemeinsamkeiten, etwa mit Blick auf theologisch motivierte Spenden an außerreligiöse Hilfswerke, die sich in Entwicklungsländern gegen Armut und Krieg engagieren. Neben den humanitären Zuwendungen in alle Welt unterhalten Neo-Muslime ansonsten kaum transnationale Beziehungen, selbst in ihre ursprünglichen Herkunftsländer. In diesem Punkt unterscheiden sie sich deutlich von anderen Gruppen wie den tamilischen Hindus (vgl. Sandhya Marla-Küsters) oder den Yeziden (vgl. Thorsten Wettich). Abschließend lassen sich einige Merkmale benennen, in denen sich NeoMuslime von allen anderen religiösen Migrantengemeinden in diesem Band unterscheiden. Am auffälligsten ist, dass Neo-Muslime keine eindeutige räumliche Fixierung aufweisen, da sie in den meisten Fällen keine lokalen Zentren unterhalten. Vielmehr beruht die kollektive Identität wesentlich auf bestimmten Inhalten oder Themen, was sich etwa an den Angeboten im Bereich des säkularen Wissenstransfers erkennen lässt. Auch sind mehrfache Mitgliedschaften von

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Neo-Muslimen in anderen muslimischen Vereinen, aber auch in anderen gesellschaftlichen Zusammenschlüssen, relativ häufig vorzufinden. Insgesamt scheinen sich Neo-Muslime wie auch moscheebasierte Muslime stärker nach außen zu orientieren und zu vernetzen als nichtmuslimische Gruppen. Dies kann auf den gesellschaftlichen Druck im Kontext von Gefährdungsdiskursen zurückgeführt werden. Interessanterweise sind neo-muslimische Gruppen im interreligiösen Kontext kaum vernetzt und weisen damit Ähnlichkeiten zu christlichen Migrantengemeinden, wie z.B. russlanddeutschen Mennoniten (vgl. Frederik Elwert) oder syrisch-orthodoxen Christen (vgl. Ulf Plessentin) sowie zu thai-buddhistischen Zentren (vgl. Ann-Kathrin Wolf) auf. Ein Grund dafür könnte darin liegen, dass interreligiöse Aktivitäten eine klassische Domäne der Moscheevereine sind. Wie die anderen Fallstudien zeigen, kommen interreligiöse Kontakte häufig über eine räumliche Nähe zu anderen Gemeinschaften zustande, die bei den NeoMuslimen durch die fehlende lokale Verankerung nicht gegeben ist. Insgesamt stellen die zivilgesellschaftlichen Potentiale und Leistungen von Neo-Muslimen ein hoch dynamisches Untersuchungsfeld dar. Es kann davon ausgegangen werden, dass Neo-Muslime die zukünftige Situation von Muslimen in Deutschland aktiv mitbestimmen werden.

L ITERATUR Behloul, Samuel M./Leuenberger, Susanne/Tunger-Zanetti, Andreas (Hg.) (2013): Debating Islam. Negotiating Religion, Europe, and the Self, Bielefeld: transcript. Bendixsen, Synnøve (2013): The religious identity of young Muslim women in Berlin. An ethnographic study, Muslim minorities, Leiden: Brill. Bleisch Bouzar, Petra (2013): „Celtic ancestors and Muhammad’s legacy: Types of narratives in a convert’s construction of religiosity“, in: Samuel M. Behloul/Susanne Leuenberger/Andreas Tunger-Zanetti (Hg.), Debating Islam, S. 141-164. Gamper, Markus (2011): Islamischer Feminismus in Deutschland? Religiosität, Identität und Gender in muslimischen Frauenvereinen, Bielefeld: transcript. Gerlach, Julia (2006): Zwischen Pop und Dschihad. Muslimische Jugendliche in Deutschland, Berlin: Ch. Links. Gerlach, Julia (2010): „Pop-Islam revisited: Wohin entwickelt sich die transnationale Jugendbewegung der ‚neuen Prediger‘ in Europa und in der Arabischen Welt?“, in: Christine Hunner-Kreisel/Sabine Andresen (Hg.), Kindheit

212 | K ARIN M YKYTJUK -H ITZ und Jugend in muslimischen Lebenswelten, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 109-124. Güvercin, Eren (2012): Neo-Moslems. Porträt einer deutschen Generation, Freiburg im Breisgau: Herder. Halm, Dirk (2010): „Muslimische Organisationen in Deutschland – Entwicklung zu einem europäischen Islam?“, in: Ludger Pries/Zeynep Sezgin (Hg.), Jenseits von „Identität oder Integration“. Grenzen überspannende Migrantenorganisationen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 295-319. Klein-Hessling, Ruth/Nökel, Sigrid/Werner, Karin (Hg.) (1999): Der neue Islam der Frauen. Weibliche Lebenspraxis in der globalisierten Moderne – Fallstudien aus Afrika, Asien und Europa, Bielefeld: transcript. Leuenberger, Susanne (2013): „‚I have become a stranger in my homeland‘: An analysis of the public Performance of converts to Islam in Switzerland“, in: Samuel M. Behloul/Susanne Leuenberger/Andreas Tunger-Zanetti (Hg.), Debating Islam, S. 181-202. Martens, Silvia (2013): Muslimische Wohltätigkeit in der Schweiz, Würzburg: ERGON. Nökel, Sigrid (2002): Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam. Zur Soziologie alltagsweltlicher Anerkennungspolitiken: eine Fallstudie, Bielefeld: transcript. Nökel, Sigrid (2007): „‚Neo-Muslimas‘ – Alltags- und Geschlechterpolitiken junger Frauen zwischen Religion, Tradition und Moderne“, in: Hans-Jürgen von Wensierski/Claudia Lübcke (Hg.), Junge Muslime in Deutschland. Lebenslagen, Aufwachsprozesse und Jugendkulturen, Opladen: B. Budrich, S. 135-154. Thielmann, Jörn (2013): „Islamic fields and Muslim techniques of the self in a German context“, in: Samuel M. Behloul/Susanne Leuenberger/Andreas Tunger-Zanetti (Hg.), Debating Islam, S. 203-220. Wohlrab-Sahr, Monika (1999): Konversion zum Islam in Deutschland und den USA, Frankfurt a. M.: Campus. Internetseiten http://alternativeislamkonferenz.wordpress.com/ vom 23.04.2014. http://studienberatung.tugra-ev.de/das-projekt/unser-konzept/ vom 25.04.2014. https://www.startsocial.de/ueber-uns/ vom 25.04.2014. http://www.muslimische-frauen.de/spenden/ vom 25.4.2014. http://www.muslimische-frauen.de/uber-uns vom 25.04.2014 http://www.united-hands.net/uber-uns/ vom 25.04.2014.

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Die zivilgesellschaftlichen Potentiale von interreligiösen (Dialog-)Initiativen N ELLY C. S CHUBERT

H INTERGRUND Interreligiöse Initiativen sind Gruppen, die prinzipiell von Religionsgemeinschaften oder deren Vertretern ins Leben gerufen wurden und sich der Verständigung sowie der Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Religionen verschrieben haben. In diesen mittel- bis langfristigen Zusammenschlüssen sind zumeist lokale Gemeinden von Religionsgemeinschaften sowie teilweise nichtreligiöse zivilgesellschaftliche Repräsentanten aktiv. Letztere haben oft als assoziierte Mitglieder eine Sonderstellung inne. Varianten dieser regional institutionalisierten Form interreligiöser Zusammenarbeit existieren mittlerweile fast überall in Deutschland. Das Projekt PRODIA, das im Auftrag des Koordinierungsrates des christlich-islamischen Dialogs e.V. christlich-islamische Dialogforen innerhalb Deutschlands kartographiert, verzeichnet etwa allein für den christlichmuslimischen Dialog in Deutschland 177 Initiativen.1 Auf der Homepage des Münchner DIALOGOS-Projekts sind deutschlandweit sogar 215 interreligiöse Dialoginitiativen zwischen Christen und Muslimen aufgelistet.2

1 2

http://www.kcid.de/prodia/landkarte.php vom 13.11.2013. http://www.dialogos-projekt.de/index.php?title=Interreligi%C3%B6se_und_interkul turelle_Dialoginitiativen_mit_Muslimen_in_Deutschland vom 20.12.2013. Hinzu kommen langfristig etablierte und wissenschaftlich wenig beachtete christlichjüdische Initiativen sowie unzählige nicht öffentliche bzw. nicht öffentlich wahrgenommene Initiativen. Zu letzteren zählen u.a. regelmäßig zusammentreffende und oft sehr eng verbundene Frauengruppen.

216 | N ELLY C. SCHUBERT Heutige interreligiöse Initiativen haben Vorläufer in verschiedenen Formen interreligiösen Austauschs in der Vergangenheit. Die wohl bekannteste und relevanteste in der neueren Geschichte ist das erste Weltparlament der Religionen, das sich im Rahmen der Weltausstellung 1893 in Chicago zusammenfand (vgl. Klinkhammer et al. 2011: 11ff.). Diese bis zu dem Zeitpunkt einzigartige Zusammenkunft wichtiger Religionsvertreter aus aller Welt markierte den Beginn einer global zunehmenden Institutionalisierung von interreligiösen Begegnungen, die gerade in den letzten zwei Jahrzehnten voranschritt. Interreligiöse Organisationen wie die International Association for Religious Freedom, der World Congress of Faith, der Temple of Understanding und das International Interfaith Organizations Coordinating Committee for 1993 wurden in der Folge (zwischen 1900 und 1993) gegründet (vgl. hierzu ausführlich Klinkhammer et al. 2011: 13ff.). Teilweise parallel zu dieser Entwicklung schufen auf christlicher Seite die Römisch-Katholische Kirche und die verschiedenen evangelischen Kirchen interne theologische und institutionelle Voraussetzungen für eine Zusammenarbeit mit anderen religiösen Akteuren. Im Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) ebnete etwa die Römisch-Katholische Kirche auf der internationalen Ebene den Weg zu einer interreligiösen Öffnung, die sich u.a. in der „Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“ und den 1979 als Teil des Ökumenischen Rates der Kirchen verabschiedeten Leitlinien für den Dialog mit Nichtchristen niederschlug (vgl. ebd.: 15f.). Die daran anschließende fortschreitende Öffnung der christlichen Großkirchen in Deutschland war das Produkt einer migrationsbedingten Erweiterung der religiösen Landschaft, in der die alteingesessenen Amtskirchen als Anlaufstelle für entwurzelte religiöse Einwanderer und deren religiöse sowie weltliche Anfragen und Hilfegesuche fungierten (vgl. ebd.: 16f.). Die in den letzten 30 Jahren gegründeten interreligiösen Initiativen3 in Deutschland sind einerseits Foren, die sich sowohl den spezifischen weltlichen Bedürfnisse von Menschen mit Migrationsgeschichte als auch Schwierigkeiten bei einer gegenseitigen Annäherung von Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte widmen. Andererseits können sie als institutionelle Antworten auf eine Pluralisierung der religiösen Landschaft gesehen werden. Insbesondere in den westdeutschen Industriestandorten und Großstädten4, die durch die Anwerbeab-

3

Die älteste bei PRODIA gelistete Dialoginitiative ist der 1973 gegründete Interkulturelle Arbeitskreis Gelsenkirchen.

4

In Ostdeutschland gibt es durch die regionale Veränderung der religiösen Landschaft in Richtung Entkirchlichung bzw. Säkularisierung kaum interreligiöse Initiativen.

I NTERRELIGIÖSE I NITIATIVEN

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kommen der späten 1950er, v.a. aber der 1960er Jahre einen großen Zustrom durch Einwanderung erfahren haben, kann man inzwischen eine beachtliche religiöse Diversität und Organisationsdichte feststellen.5 Auch wenn bei der wissenschaftlichen Betrachtung interreligiöser Initiativen nicht von einer Standardmigrationsgeschichte, die für ethnoreligiöse Gemeinschaften wie z.B. Muslime aus der Türkei prägend ist, gesprochen werden kann, spielt bei den meisten interreligiösen Initiativen in der Interaktionen zwischen den beteiligten Akteuren das Thema Migration eine Rolle. Dieses variiert jedoch aufgrund der verschiedenen religiösen Prägungen/Zugehörigkeiten und der individuellen Herkunftsgeschichte der Akteure und ist daher in diesem Beitrag nicht allgemein darstellbar. Das Ausmaß der Institutionalisierung und Formalisierung von interreligiösen Initiativen variiert beachtlich: So existieren lose Zusammenschlüsse wechselnder Einzelpersonen, die sich unregelmäßig in einem privaten Rahmen treffen, ebenso wie teilweise formalisierte, institutionalisierte Mediationsforen – wie regelmäßig stattfindende Runde Tische oder interkulturelle und interreligiöse Arbeitskreise. Hinzu kommen vereinsförmig organisierte lokale Ableger nationaler Gemeinschaften oder Vereine (z.B. Deutscher Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit). Teilnehmer und Handlungsorientierungen richten sich nach der jeweiligen räumlichen Bezugsebene einer interreligiösen Initiative: Das kann die Nachbarschaft und der Stadtteil ebenso sein wie das gesamte Stadtgebiet oder die Kommune. Der räumliche Fokus von interreligiösen Initiativen ist v.a. lokal ausgerichtet. Auf der Ebene der Bundesländer oder gar des Bundes sind nur wenige Initiativen angesiedelt. Auf der internationalen Ebene ist jüngst das König-Abdullah-Zentrum für interreligiösen und interkulturellen Dialog in Wien gegründet worden. Je nachdem, auf welchen Raum eine Initiative ihr Handeln ausrichtet (Nachbarschaft, Stadtteil, Kommune), sind auch unterschiedliche gesellschaftliche Funktionsträger ohne religiösen Repräsentationsauftrag als stetige oder kooptierte Mitglieder in interreligiöse Initiativen eingebunden. Zu diesen gehören z.B. kommunale Integrationsbeauftragte, Politiker, Stadtplaner und Polizeibeamte, die aufgrund ihrer Position in der öffentlichen Verwaltung als außerreligiöse

5

Zwischen 2005 und 2006 erhoben und errechneten etwa Mitarbeiter des Bochumer Religion-Plural-Projekts regionale Diversitätsmaße von bis zu 0,73 in NordrheinWestfalen. Statistische Grundlage für den Diversitätsindex ist der HerfindahlHirschmann-Index, der in Werten zwischen 0 und 1 angibt, wie monopolitisch Gruppen über die Bevölkerung verteilt sind. Dabei steht 0 für ein vollkommenes Monopol und 1 für die Gleichverteilung über eine Vielzahl von Gruppen (vgl. Hero/Krech/Zander 2008: 37).

218 | N ELLY C. SCHUBERT Vertreter gelten. Die einzelnen Teilnehmer interreligiöser Initiativen streben in der Regel sowohl alltagspraktische als auch ideell-wertbezogene (also ethische und theologische) Toleranz zwischen den von ihnen vertretenen Gemeinschaften an. Dabei geht es u.a. um das bessere Kennenlernen anderer und der eigenen Religion sowie die Ergründung einer gemeinsamen Wertebasis (vgl. Klinkhammer et al. 2011: 46f.). Die in interreligiösen Initiativen ausgehandelten gemeinsamen Aktivitäten und unterschiedlichen Formen gegenseitiger Unterstützung dienen nach Angabe der Teilnehmer v.a. der Förderung gemeinsamer Werte sowie einem friedvollen und vorurteilsfreien Zusammenleben (vgl. ebd.). Religiöse Anerkennungs- und Gleichstellungsforderungen gegenüber dem Staat werden hingegen zwar als wichtig bewertet, spielen jedoch zumindest bei den von Klinkhammer und ihrem Forschungsteam untersuchten Initiativen eine kleinere Rolle als der Wunsch nach harmonischer Einigkeit in Nachbarschaft und Kommune (vgl. ebd.). Interreligiöse Initiativen stellen mittel- bis langfristige Varianten von Kooperationen mehrerer Religionsgemeinschaften bzw. deren Vertretern dar. Aus ihnen können eine ganze Reihe an weiteren interreligiösen Aktivitäten wie Projekte oder sogar Allianzen, z.B. für politikrelevante Handlungsfelder, erwachsen. Die bisherige deutschsprachige Forschung berücksichtigt interreligiöse Initiativen v.a. als institutionalisierte Formen christlich-muslimischen Dialogs. Dabei steht insbesondere deren Evaluation vor dem Hintergrund integrationspolitischer Fragestellungen im Vordergrund. Wegweisend ist in dieser Hinsicht das bereits abgeschlossene DIALOGOS-Projekt der Universität Bremen. In dessen Rahmen wurden interreligiöse und interkulturelle Dialoginitiativen mit Muslimen in Deutschland qualitativ und quantitativ von religionswissenschaftlicher Seite untersucht (vgl. Klinkhammer/Satilmis 2007; Klinkhammer/Satilmis 2008; Klinkhammer et al. 2011).6 Durch die zugrundeliegenden integrationspolitischen und öffentlichen Diskurse um den Vergleich und die Verbindung von Islam und Christentum lag bei dieser Studie das Augenmerk primär auf Gruppen von Muslimen und Christen. Zwar wurden auch andere religiöse Richtungen berücksichtigt, eine weitere Differenzierung innerhalb der Gemeinschaft von Christen und Muslimen erfolgte jedoch nicht (vgl. Klinkhammer et al. 2011: 55f.). Dies ist insofern problematisch, als gerade die in Deutschland lebenden Muslime verschiedenen Gruppierungen angehören, die sich gegenseitig nicht als religiös gleichwertig, geschweige denn sogar als muslimische Gemeinschaft anerkennen. Diese inneren muslimischen Differenzen spiegelten sich auch in den beiden ersten Deutschen Islam Konferenzen wider.

6

Vgl. http://www.dialogos-projekt.de/index.php?title=Hauptseite vom 20.12.2013.

I NTERRELIGIÖSE I NITIATIVEN

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Ich beziehe mich in diesem Beitrag auf sieben interreligiöse Initiativen aus drei verschiedenen Städten des Ruhrgebiets. Diese Initiativen beziehen sich sowohl mit ihrem Namen als auch durch die vertretenen Teilnehmer und die Ausrichtung ihres Handelns alle entweder auf einen bestimmten Stadtteil oder ein Stadtgebiet als Ganzes. Der Teilnehmerkreis ist jeweils interreligiös zusammengesetzt. Konkret sind immer mindestens zwei, meistens aber drei oder mehr verschiedene religiöse Richtungen vertreten. Die für diesen Beitrag untersuchten Initiativen sind zumeist Zusammenschlüsse aus Christen und Muslimen bzw. Juden, Christen und Muslimen.7 Die Informationen über die einzelnen Initiativen basieren jeweils erstens auf Leitfadeninterviews mit den Leitern und/oder Teilnehmern dieser Initiativen sowie mit externen Kooperationspartnern (z.B. städtische Integrationsagenten oder Lokalpolitiker) sowie zweitens auf schriftlichen Selbstauskünften der Initiativen (Flyer, Veranstaltungsankündigungen, Buchpublikationen, Onlineartikel etc.).

N ETZWERKE Interreligiöse Initiativen sind keine Religionsgemeinschaften, sondern an sich schon verstetigte und institutionalisierte Formen interreligiöser Kooperation zwischen (Vertretern von) unterschiedlichen Religionen. In interreligiösen Initiativen sitzen z.B. Muslime mit Christen bzw. Mitglieder diverser anderer Religionen an einem Tisch. Dabei können alle Vertreter einer Religion aus unterschiedlichen Traditionslinien stammen, wie z.B. dem sunnitischen und schiitischen Islam, der römisch-katholischen oder den protestantischen Traditionen im Christentum oder diversen Untergruppen weiterer Religionen. Damit unterscheiden sie sich strukturell von den Religionsgemeinschaften, die in den anderen Beiträgen dieser Publikation vorgestellt werden, da diese jeweils auf einer religiös einheitlichen Mitgliedergemeinschaft aufbauen. Deshalb ist es in diesem Beitrag auch nicht möglich, den Begriff „innerreligiös“ für Kontakte, die innerhalb der Initiative geknüpft werden, anzuwenden. Die Teilnehmer einer interreligiösen Initiative können natürlich Beziehungen untereinander knüpfen und diese inhalt-

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Darüber hinaus habe ich auch Initiativen mit rein christlicher Zusammensetzung untersucht. Dazu zählen etwa lokale Ableger der Evangelischen Allianz (EA) oder ökumenische Zusammenschlüsse. Diese folgen jedoch sowohl in ihren Zielsetzungen als auch in ihren internen und externen Aktivitäten und Beziehungen einer ganz eigenen Logik und sind streng genommen auch nicht als interreligiös zu verstehen. Sie fließen daher nur als Kontrastfälle in die Schlussbetrachtungen dieses Beitrags mit ein.

220 | N ELLY C. SCHUBERT lich füllen. In diesem Fall wären diese Beziehungen dann innerhalb der Gruppe bzw. innergemeinschaftlich, aber nicht innerreligiös, da die Teilnehmer zumeist unterschiedlichen Religionen angehören. Des Weiteren sind Kontakte oder sogar Kooperationen einer interreligiösen Initiative nach außen möglich, so z.B. zu anderen interreligiösen Initiativen und religiösen Institutionen (auch jenen der Teilnehmer). Dieser Kontext, der in den anderen Beiträgen dieses Bandes als interreligiös angegeben wird, wäre für dieses konkrete Beispiel intergemeinschaftlich. Damit korrespondieren, im Fall eines Kontakts mit Stellen der öffentlichen Verwaltung usw., außergemeinschaftliche Verbindungen. Die Kooperation zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften, aus denen sich die interreligiöse Initiative gebildet hat, ist tendenziell langfristig (als strategische Allianz oder Partnerschaft) angelegt. Aus dieser Struktur können sich jedoch auch kurzfristige Projekte oder Ad-hoc-Aktivitäten zwischen einzelnen Teilnehmern ableiten. Diese werden vielfach erst über die langfristige Beteiligung an einer Initiative (und das durch sie zugängliche Netzwerk aus Individuen und Gruppen) ermöglicht. Grundsätzlich bergen interreligiöse Initiativen ein hohes zivilgesellschaftliches Potential für Nachbarschaften und Kommunen, da sie auf vielfältige Weise zur Kontaktförderung und Konfliktprävention auf kleinräumiger Ebene beitragen. Mit ihrer Teilnahme bzw. Mitgliedschaft in einer interreligiösen Initiative erklären sich Vertreter von zwei oder mehreren Religionsgemeinschaften offiziell zur langfristigen Zusammenarbeit bereit. Es besteht also eine Kooperationsvereinbarung, die alle in der Initiative vertretenen Gruppierungen in gleichem Maße betrifft. Auf Basis dieser Kooperationsvereinbarung handelt eine Initiative nach innen und außen geschlossen. So gibt es bestimmte Interaktionen, die alle Initiativen-Teilnehmer bzw. -Mitglieder betreffen. Insbesondere die Außenbeziehungen einer Initiative erfüllen dieses Kriterium. Nach außen handelt eine Initiative repräsentativ wie ein Akteur. Nicht alle Innenbeziehungen, die im Rahmen einer solchen Initiative zwischen ihren Mitgliedern stattfinden, betreffen alle in gleichem Maße. So können sich Teilnehmer auch unterschiedlich stark in Aktivitäten einbringen oder sich lediglich eine Auswahl der Mitglieder an konkreten Projekten einer Initiative beteiligen. Grundsätzlich fördert jedoch die Mitgliedschaft in einer interreligiösen Initiative auch Kooperationsbeziehungen zwischen einzelnen Teilnehmergemeinschaften. Diese Initiativen-internen bzw. innergemeinschaftlichen Teilkooperationen bilden das Gros der Kooperationsbeziehungen im Rahmen interreligiöser Initiativen. Im Gegensatz zu Kooperationen zwischen einzelnen Mitgliedern innerhalb einer Initiative sind intergemeinschaftliche Kooperationen (nach außen) weniger verbreitet. Konkret bedeutet dies, dass Religionsgemeinschaften,

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die regelmäßig und aktiv in einer interreligiösen Initiative vertreten sind, ihre interreligiösen Beziehungen hauptsächlich auf Religionsgemeinschaften ausrichten, die ebenfalls an dieser Initiative beteiligt sind. Die meisten der untersuchten interreligiösen Initiativen bestehen aus einem Kern von regelmäßigen Mitgliedern und einer Peripherie kooptierter und weitgehend unbeteiligter Mitglieder. Alle offiziellen Kernmitglieder von interreligiösen Initiativen stehen miteinander in langfristigen Kooperationsbeziehungen, die in der Regel sowohl wertegebunden als auch zweckgebunden sind und somit Kombinationen aus strategischer Allianz und Partnerschaft darstellen. Die Beziehungen zu kooptierten Mitgliedern zeichnen sich dadurch aus, dass mit ihnen meist nur in größeren Zeitabständen oder nur zu bestimmten Anlässen und gemeinsamen Aktivitäten interagiert wird. Die Beziehungen zu Akteuren aus dieser Peripherie sind überwiegend oberflächlich und zweckorientiert und können als strategische Allianzen bewertet werden. Außenbeziehungen stehen an der Schwelle zur Peripherie und sind daher den peripheren Beziehungen in vielerlei Hinsicht ähnlich. Der Übergang ist hier fließend. Fallgeschichte Neben den innergemeinschaftlichen Aktivitäten im Kern von interreligiösen Initiativen finden zwischen Teilnehmergemeinschaften auch Teilkooperationen statt, die sich gewissermaßen an der Peripherie einer Initiative abspielen. Sie beziehen nur eine Teilmenge von Initiativen-Teilnehmern ein, die in der Regel nicht zu den ständig aktiven Mitgliedern gehört. Ein Beispiel für eine solche Kooperation ist die gezielte Empfehlung und finanzielle Förderung der Zusammenarbeit zwischen einer jüdischen und der benachbarten methodistischen Gemeinde durch die Stadtverwaltung. In diesem Fall waren beide Gemeinden zudem Mitglieder einer muslimisch-christlichen Initiative. Letztere war jedoch weder an der Entstehung noch an den Folgen folgender partnerschaftlicher Kooperationsbeziehung zwischen den Gemeinden beteiligt.8 Eine städtische Verwaltungsangestellte motivierte den Leiter der methodistischen Gemeinde zu einer gemeinsamen Jugendarbeit mit der benachbarten jüdi-

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Derartige Beziehungen sollen jedoch in diesem Beitrag nur eine Rolle spielen, wenn sie durch eine interreligiöse Initiative beeinflusst wurden (also entweder wie andere Innenbeziehungen auf der Beteiligung der Kooperationspartner an einer interreligiösen Initiative beruhen oder als Außenbeziehung einer interreligiösen Initiative von letzterer gefördert wurden).

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schen Gemeinde. Durch den sehr hohen Anteil aus der ehemaligen Sowjetunion stammender Mitglieder in der jüdischen Gemeinde kann die Stadt die Jugendarbeit als interethnisches Integrationsprojekt fördern (im Gegensatz zu religiösen Aktivitäten, für die keine Mittel bereitgestellt werden können). Aus dieser von außen initiierten strategischen Allianz ergaben sich über die Jahre viele weitere gemeinsame Interaktionen und Aktivitäten wie übergemeindliche Veranstaltungen (z.B. gemeinsames Erntedankfest) und Ausflüge (etwa in ein interreligiöses Museumsdorf) (vgl. Schubert 2012). Da die Amtskirchen einen großen Beitrag an der Entstehung interreligiöser Initiativen geleistet haben, ist es kaum verwunderlich, dass Vertreter lokaler evangelischer und römisch-katholischer Einrichtungen und Kirchengemeinden in allen untersuchten Initiativen engagiert sind. Häufig sind Kirchenvertreter sowohl (Mit-)Begründer als auch organisatorische Leiter von interreligiösen Initiativen. Außer in den christlich-jüdischen Initiativen, die untersucht wurden, waren zudem in allen interreligiösen Initiativen mindestens ein Moscheeverein des DITIB-Dachverbandes und fast immer auch mindestens ein Moscheeverein des VIKZ-Dachverbandes beteiligt. In allen untersuchten interreligiösen Initiativen findet demnach intrareligiöse Kontaktpflege (zwischen den Vertretern der Amtskirchen untereinander oder zwischen den Vertretern verschiedener muslimischer Dachverbände untereinander) genauso statt wie die interreligiöse Kontaktpflege zwischen (sowohl protestantischen als auch römisch-katholischen) Christen und (in der Regel türkischstämmig geprägten) sunnitischen Muslimen. Die innergemeinschaftliche Kontaktpflege zeichnet sich durch Regelmäßigkeit, Reziprozität und Langfristigkeit aus und ist in den meisten Fällen außerordentlich vielschichtig. Beispiele für intrareligiöse Kontaktpflege zwischen römisch-katholischen und protestantischen Teilnehmern sind regelmäßige organisatorische Absprachen über die Öffentlichkeitsarbeit interreligiöser Initiativen. Die christlichen Repräsentanten stehen oft auch außerhalb der Initiativen-Sitzungen in regelmäßigem Kontakt zueinander, etwa wenn sie über generelle Positionen der Initiative bei lokalen Konflikten beraten. Wenn sie sich über Vorurteile innerhalb und außerhalb von interreligiösen Initiativen auseinandersetzen, bei denen theologische, ethnische und alltagspraktische Argumente pauschal vermischt werden, wird dieser vielschichtige Dialog dadurch gefördert, dass sie theologisch sehr gut ausgebildet, sprachlich versiert und größtenteils hauptamtlich für Religionsgemeinschaften tätig sind.

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Bei den in der Regel ehrenamtlich für ihre Religionsgemeinschaften aktiven muslimischen Repräsentanten beschränkt sich die intrareligiöse Kontaktpflege (zwischen verschiedenen muslimischen Traditionslinien und Dachverbänden) im Rahmen interreligiöser Initiativen hingegen meist auf säkulare Anliegen. Beispielsweise werden Termine und Rahmenbedingungen (Genehmigung, Ablauf, Werbung) von Nachbarschaftsfesten verschiedener Moscheegemeinden diskutiert und aufeinander abgestimmt. Einige muslimische Repräsentanten (meist Vorsitzende von Moscheegemeinden, die als Vereine organisiert sind) bringen auch ihre theologisch ausgebildeten Mitarbeiter, wie z.B. Imame, zu den Initiativen-Sitzungen mit. Diese halten sich jedoch eher im Hintergrund und sind nur punktuell aktiv an Diskussionen oder Aktivitäten beteiligt. Die gängigsten Formen interreligiöser Kontaktpflege stellen das Aussprechen von Grußworten und Einladungen sowie gegenseitige Besuche zu religiösen Festivitäten wie dem Iftar-Essen oder Weihnachtsgottesdiensten dar. Diese für Außenstehende relativ unbedeutend und eher plakativ erscheinenden Beziehungsinhalte spielen für die Verstetigung von einer interreligiösen Kontaktpflege zu einer interreligiösen Kooperation eine große Rolle. Sie sind Ausdruck des Respekts vor der Religion und Tradition anderer Gemeinschaften und werden in Initiativen-internen Kooperationen geradezu ritualisiert. Durch die selbstverständliche Anerkennung andersreligiöser Feierlichkeiten und den damit verbundenen religiösen Glaubensgrundsätzen vermitteln sich die Gratulanten gegenseitig das Gefühl des Dialogs auf Augenhöhe. Über die regelmäßige Kontaktpflege hinaus existieren innerhalb von interreligiösen Initiativen noch eine Reihe weiterer Beziehungsinhalte, die eine Intensivierung einzelner Kooperationen mit sich bringen. Ein solcher typischer Beziehungsinhalt ist der v.a. innerhalb der Initiative stattfindender Wissenstransfer. Häufig finden sowohl religiöse als auch säkulare Wissenstransfers statt. Insbesondere zwischen jüdischen, christlichen und muslimischen, aber auch mit den gelegentlich involvierten freikirchlichen Gemeinschaften kommt es in den Initiativen-Sitzungen – z.B. im Vorfeld und der gemeinsamen Vorbereitung von interreligiösen Gebeten oder Gottesdiensten, wie sie etwa im Rahmen von kulturellen Großveranstaltungen oder zu Schulbeginn durchgeführt werden – zum Austausch von theologischen Informationen bzw. religiösem Wissen. Dabei werden beispielsweise ereignisbezogene Rituale (Feiertage, Beerdigungen), der schriftbasierte (Thora, Bibel, Koran etc.) Umgang mit gesellschaftlich kontroversen Themen (Gewalt, Altenpflege, Geschlechterrollen) oder für die teilnehmenden Religionsgemeinschaften heilige Persönlichkeiten (Jesus, Mohammed, Maria) vorgestellt und religionsübergreifend aus der jeweiligen Binnenperspektive miteinander verglichen. Dieser Vergleich dient in erster Linie dem Finden und Be-

224 | N ELLY C. SCHUBERT tonen von Gemeinsamkeiten. Dieser religiöse Wissenstransfer ist sehr präsent und ist sowohl nach innen als auch nach außen gerichtet. Informationsveranstaltungen über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Religionen sind oft für ein öffentliches Publikum konzipiert. Allerdings ist der größere Anteil des Wissenstransfers säkularer Natur und findet innerhalb der Initiativen statt. Es geht dabei v.a. um organisatorische Belange gemeinsamer Aktivitäten, Finanzierungsfragen, Anerkennungsforderungen und Vorstellungen oder Wünsche zur Verbesserung der Situation konkreter Gruppen und Einzugsbereiche im Stadtgebiet. Gut mit der lokalen Verwaltung und Politik vernetzte Religionsgemeinschaften und deren Vertreter lehren andere Religionsgemeinschaften etwa, wie man etwas organisiert, finanziert oder sich der Öffentlichkeit präsentiert. Ein eher unterschwellig bedeutsamer Initiativen-interner Beziehungsinhalt ist die klassische Interessenvertretung. Sie stellt häufig die Motivation für den Eintritt einzelner Religionsgemeinschaften in eine interreligiöse Initiative oder sogar deren Gründung dar, gehört aber nicht zum Tagesgeschäft. Insbesondere türkisch-muslimische Gemeinschaften versprechen sich von der Mitgliedschaft die Unterstützung für Anliegen wie Moscheebauvorhaben oder die Durchsetzung von muttersprachlichem Schulunterricht. Während diese Anliegen vornehmlich in politischen Gremien wie Integrationsräten explizit geäußert werden, sucht man jedoch Initiativen-intern eher Verständnis für gemeinschaftsspezifische Interessen. Mit der Vertretung eigener Interessen aufs Engste verbunden sind das Überzeugen von Partnern und das Gewinnen von Verbündeten. Auf diese Weise verschaffen sich Religionsgemeinschaften gewissermaßen eine zivilgesellschaftliche Rückendeckung, die oft in einen weiteren Beziehungsinhalt, die öffentliche Fürsprache, mündet. Insbesondere christliche Mitglieder interreligiöser Initiativen positionieren sich öffentlich für die Interessen anderer Initiativen-Mitglieder. Ausdruck einer solchen öffentlichen Fürsprache von christlicher Seite sind Forderungen für eine religiöse Gleichberechtigung von Muslimen in verschiedenen Bereichen, die gesetzlich geregelt sind. Hierzu zählen Forderungen für die Schaffung muslimischer Gräberfelder ohne Sargpflicht, für die Einrichtung von muslimischen oder zumindest gemeinsamen interreligiösen Gebetsräumen in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen oder die öffentliche Unterstützung von Bauvorhaben (Moschee, Minarett, Gemeindesaal). Andere öffentliche Fürsprachen gegenüber der Bevölkerung und der Kommune gibt es in den Bereichen der Ritualausübungen (Einführung des Ezan-Rufs, des Rufs zum Freitagsgebet). Auch die öffentliche Verbrüderung etwa im Rahmen von Gegendemonstrationen zu Aktionen rechtspopulistischer Parteien und Gruppen, die eine Religionsgemeinschaft negativ be-

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treffen, oder die verbale sowie schriftliche Formulierung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Religionsgemeinschaften (z.B. auf Plakaten und in Pressemitteilungen) sind Beispiele für eine öffentliche Fürsprache. Ein weiteres konkretes Beispiel wären Gespräche mit dem kommunalen Schuldezernat, um für muslimische Kinder schulfrei oder zumindest aber den Verzicht auf Klassenarbeiten an muslimischen Feiertagen zu erwirken. Diese Formen öffentlicher Fürsprache, die in diesen konkreten Beispielen allesamt muslimische Belange betreffen, werden oft von hochrangigen kirchlichen Repräsentanten übernommen. Die innerhalb einer Religionsgemeinschaft regelmäßig auftretenden Transfers von Geldbeträgen (Mitgliederbeiträge, Spenden) finden sich zwischen Mitgliedern einer interreligiösen Initiative in dieser Form nicht. Stattdessen finden Querfinanzierungen statt, wenn übergeordnete religiöse Institutionen die Arbeit von interreligiösen Initiativen bezuschussen. Diese Querfinanzierungen sind als Initiativen-interne Transfers zu verstehen, da die Initiativen in solchen Fällen mit Mitgliedern der bezuschussenden Institutionen besetzt sind. Ein besonders prominentes Beispiel ist das Förderprojekt „Weißt du, wer ich bin?“ mit dem die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK), der Zentralrat der Juden in Deutschland, der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) und die Türkisch Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB) von 2004 bis 2011 gemeinsam ca. 90 interreligiöse Projekte und Initiativen auf lokaler Ebene unterstützten.9 Laufende Kosten werden hingegen auch von den Mitgliedsgemeinschaften selbst sowie übergeordneten kommunalen Zusammenschlüssen einzelner Religionsgemeinschaften (Stadtkirche o.ä.) getragen. Darüber hinaus findet recht häufig ein Initiativen-interner Transfer von Gütern statt. Bei diesen Gütern handelt es sich meistens um unentgeltlich zur Verfügung gestellte Räumlichkeiten, Inventar und Verpflegung, die für Veranstaltungen genutzt werden. Diese Güter kommen in der Regel der ganzen Initiative zu Gute und werden v.a. von denjenigen Initiativen-Teilnehmern zur Verfügung gestellt, die eine entsprechende Ausstattung vorweisen können. Auf der Seite der Religionsgemeinschaften sind das Moscheevereine oder Kirchen mit Begegnungsräumen. Auf der anderen Seite können öffentliche Träger wie kommunale Integrations- und Bildungseinrichtungen, die teilweise an einer interreligiösen Initiative beteiligt sind, die benötigte Infrastruktur stellen. Seelsorgerische Tätigkeiten und religiöse Heilung spielen in den Beziehungen zwischen den einzelnen Mitgliedern einer interreligiöser Initiativen keine

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Mehr zu „Weißt du, wer ich bin?“ unter http://www.oekumene-ack.de/themen/inter religioeser-dialog/projekt-weisst-du-wer-ich-bin.html vom 18.02.2014.

226 | N ELLY C. SCHUBERT Rolle. Hier sind die Religionsgrenzen entscheidend, da religiöse Seelsorge und Heilung in den meisten Fällen nur innerhalb einer Religionsgemeinschaft angeboten wird. Religiöse Heilung kommt jedoch in den hier nicht näher beschriebenen interkonfessionellen Initiativen (beispielsweise lokale Ableger der Evangelischen Allianz oder der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen) vor. Weil diese Initiativen aus Mitgliedern einer Religion bestehen, bzw. deren verschiedenen Traditionslinien, können sie wesentlich stärker auf gemeinsame religiöse Handlungen ausgerichtet sein als interreligiöse Initiativen. Im interreligiösen Rahmen können am ehesten Formen von gegenseitigem Empowerment in diese Kategorie eingeordnet werden. Solch ein Empowerment findet jedoch lediglich in langfristig gewachsenen Freundschaften mit privatem Bezug zwischen Repräsentanten (interreligiös zwischen christlichen und muslimischen Vertretern oder intrareligiös zwischen römischen Katholiken und Protestanten) statt. Diese diskursive Unterstützung für die gemeinsame Sache bei interreligiösen und integrativen Bemühungen wird von den entsprechenden Repräsentanten hoch geschätzt. Interreligiöse Initiativen können als institutionalisierte Kooperationen angesehen werden. Die skizzierten Angebote und die Beziehungen zwischen den einzelnen Mitgliedern können sich dabei erheblich unterscheiden: So changiert die Beziehungsintensität christlich-muslimischer Kooperationen in der Regel zwischen vereinzelten strategischen Allianzen und einer Vielzahl von Partnerschaften. Ein gemeinsamer Abrahams-Bezug und die Ermöglichung eines Zugangs zum Netzwerk des jeweiligen Kooperationspartners bilden wesentliche Grundlagen der überwiegend auf mehrere Jahre und teilweise sogar Jahrzehnte angelegten institutionalisierten christlich-muslimischen Zusammenarbeit. Christliche Bildungsträger profitieren etwa vom indirekten Einfluss der Imame auf muslimische Kinder und Jugendliche (z.B. in der Gewaltprävention oder Verkehrserziehung), den sie in Kindergärten und Schulen allein nicht durchsetzen können. Die Imame genießen in ihrer Autoritätsausübung mehr Respekt und Erfolg als die Lehrer der Heranwachsenden. Gemeinsam setzen sich die Initiativen-Mitglieder demnach erfolgreich für zivilgesellschaftliche Werte und Regeln ein. Muslimische Repräsentanten hingegen schätzen die etablierten und teilweise institutionalisierten Beziehungen ihrer christlichen Kooperationspartner zu lokalen Behörden und Institutionen. Von den über die Initiative vermittelten Vernetzungen jedoch profitieren nicht nur muslimische Gemeinschaften. Dadurch, dass muslimische Gemeinschaften mehr Gehör in lokaler Politik und Verwaltung bekommen, wird auch eine umfassendere Berücksichtigung der Bedürfnisse und Problemlagen einer immer vielfältigeren Kommunalgemeinschaft möglich. Dies entspricht einer integrativen, demokratisch orientierten Werthaltung in der Lokalpolitik.

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Entsprechend des abrahamitischen und trialogischen Anspruchs einiger Initiativen sind teilweise auch jüdische Gemeinden offizielle Mitglieder. Bei der Christlich-Islamischen Arbeitsgemeinschaft Marl bemühte man sich beispielsweise erfolgreich um die Beteiligung der Jüdischen Gemeinde Recklinghausen, um dem trialogischen Anspruch zu genügen. Im Gegensatz zu den christlichmuslimischen Kooperationen innerhalb der Initiative kooperieren die jüdische Gemeinde und die muslimischen Teilnehmergemeinschaften nur relativ rudimentär miteinander. Trotz der stets betonten gemeinsamen abrahamitischen Wertebasis sind Kooperationen zwischen muslimischen und jüdischen Gemeinschaften in der Regel kurzfristig und als Ad-hoc-Aktivitäten zu klassifizieren. Fallgeschichte Der Interkulturelle Arbeitskreis Gelsenkirchen ist die vermutlich älteste interreligiöse Initiative Deutschlands. Sie wurde 1972 von einem evangelischen Pfarrer als „Evangelischer Arbeitskreis für Ausländerfragen“ gegründet und widmet sich heute insbesondere dem „religiösen Austausch“, der „Besprechung und Klärung aktueller Probleme in Gelsenkirchen“ sowie der „Unterstützung von Anliegen der Moscheegemeinde“.10 Sie umfasst neben Vertretern der römisch-katholischen, protestantischen, muslimischen (DITIB und VIKZ) sowie jüdischen Gemeinschaften und Wohlfahrtseinrichtungen (Caritas, Diakonie) vor Ort auch Repräsentanten von kommunalen Integrationsinstanzen (RAA, Integrationsbeauftragter), Polizei, Kommunalpolitik, Schulen und der Arbeiterwohlfahrt. Zu den Initiativen-internen Beziehungsinhalten zählen gemeinsame öffentliche Auftritte (Pressemitteilungen, Öffentlichkeitsarbeit im kommunalpolitischen Rahmen und in der muslimischen Community vor Ort), die Planung gemeinsamer (interreligiöser) und organisatorische Abstimmung nicht gemeinsamer Veranstaltungen (Terminabsprachen, Klärung logistischer Details), gegenseitige Fürsprache der Initiativen-Teilnehmer in der Öffentlichkeit und die politische Interessenvertretung nach außen. Im Arbeitskreis ist die ansässige jüdische Gemeinde offizielles Mitglied und beteiligt sich an vielen Veranstaltungen und Aktivitäten. Insbesondere an Informationsveranstaltungen über verschiedene religiöse Themen, die in den abrahamitischen Traditionen Bedeutung haben, aber auch an öffentlichen Po-

10 Projektseite PRODIA: http://www.kcid.de/prodia/bundeslaender/nrw-liste.php?we_ob jectID=24 vom 18.02.2014.

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diumsdiskussionen und an gemeinsamen Ausstellungen oder (inter-)religiösen Führungen nehmen die Vorsitzende und/oder der Vorbeter der jüdischen Gemeinde teil. Zu den regelmäßigen Sitzungen und Gesprächskreisen der Repräsentanten entsendet die jüdische Gemeinde jedoch in der Regel keine Vertreter. Intensive inhaltliche oder theologische Diskussionen finden daher ohne die jüdische Seite statt. Der Kontakt der jüdischen Gemeinde zu den muslimischen Teilnehmern der Initiative wurde durch das persönliche Engagement eines christlichen Teilnehmers hergestellt. Durch den Arbeitskreis konnte eine Zusammenarbeit zwischen jüdischer und muslimischer Seite initiiert werden. Allerdings erscheint diese Kooperation mittelfristig als sehr fragil, da sie zwischen diesen Religionsgemeinschaften vor Ort nur im Rahmen des Arbeitskreises stattfindet, sich darüber hinaus aber keine weiteren Strukturen der Zusammenarbeit etabliert haben und zudem von der persönlichen Unterstützung von dritter Seite abhängig ist. An diesem Beispiel wird deutlich, wie zentral der persönliche Anteil, aber auch der strukturelle Rahmen einer Initiative am Zustandekommen von Kooperationen zwischen einzelnen Religionsgemeinschaften ist. Diese Fallgeschichte sowie das Beispiel der jüdischen Gemeinde und der Christlich-Islamischen Arbeitsgemeinschaft Marl zeigen deutlich, dass es neben Kernmitgliedern auch Mitglieder gibt, die nur bei bestimmten Aktivitäten mitmachen und eher als peripher zu bezeichnen sind. Diese peripheren Mitglieder können sowohl Vertreter von Religionsgemeinschaften als auch außerreligiöse Akteure (wie z.B. Lokalpolitiker oder Polizeibeamte) sein. Mit ihnen wird zumeist kurzfristig oder in großen Zeitabständen zusammengearbeitet, so z.B. zu wiederkehrenden Ereignissen, die mit besonderen Anlässen (jährliche Feste auf Stadtebene) oder inhaltlichen Bezugspunkten (interreligiösen Informationsveranstaltungen, bei denen sich unterschiedliche Religionen aus dem Stadtgebiet vorstellen) einhergehen. So nehmen z.B. verschiedene christliche Freikirchen von Zeit zu Zeit an interreligiösen Informationsveranstaltungen, öffentlichen interreligiösen Gebeten und ähnlichen Veranstaltungen teil, die ein breites Publikum adressieren und einen religiös-rituellen Bezug aufweisen, beteiligen sich aber sonst kaum an der regelmäßigen Initiativarbeit. Interreligiöse Veranstaltungen mit starkem Lokalbezug binden tendenziell mehrere und vielfältigere religiöse Akteure mit ein. Ein Teil dieser Akteure unterhält mit der Initiative nur losen Kontakt und beteiligt sich lediglich an ausgesuchten gemeinsamen Projekten. So nahm z.B. an einem interreligiösen Eröffnungsgebet bei einem jährlichen Stadtteilfest, ebenso wie an zwei interreligiösen

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Pilgerwegen mit Stationen durch verschiedene Gotteshäuser, auch je ein Vertreter der lokalen neuapostolischen Gemeinden teil, die ansonsten nur sporadisch mit den Kernmitgliedern der Initiativen Kontakt pflegen. Die Angebote der Initiativen, die sich an die Öffentlichkeit richten, ziehen eine größere Menge von Religionsgemeinschaften an als die reine Initiativen-Arbeit und verleiten damit besonders zur Mitarbeit. Die peripheren Kooperationspartner sind bei derartigen Aktivitäten äußerst willkommen. Sie bringen häufig ein besonderes Engagement und Fähigkeiten ein, die die Veranstaltungen bereichern. So werden freikirchliche Gemeinschaften für ihre besondere Hingabe bei öffentlichen Gebeten und die Heilsarmee für ihre musikalischen Darbietungen geschätzt. Der Übergang von Kooperationen an der Peripherie interreligiöser Initiativen zu Außenbeziehungen ist fließend. Oft ist nicht eindeutig definierbar, ob ein Kooperationspartner zum Mitgliederkreis einer interreligiösen Initiative zählt oder nur kooptiert ist. Das liegt zum einen daran, dass für interreligiöse Initiativen in der Regel keine formellen Mitgliedschaftsregelungen existieren. Zum anderen werden eine weitreichende Offenheit für Interessierte und eine weitläufige Vernetzung in vielen interreligiösen Initiativen besonders angestrebt. Das führt dazu, dass Unterstützer und einmalige Beziehungspartner schnell in den Kreis der offiziellen Kooperationspartner aufgenommen werden. Außenbeziehungen und Kooperationen an der Peripherie interreligiöser Initiativen ähneln sich daher in vielfacher Hinsicht. Interreligiöse Initiativen haben folglich oft den Charakter eines Netzwerks mit offenen Enden anstatt einer fest umrissenen Gruppe, die sich durch eindeutige Mitgliedsmerkmale auszeichnet. Nach außen arbeiten interreligiöse Initiativen in der Regel mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen und sozialen sowie politischen Institutionen oder deren Vertretern zusammen. Darunter fallen so unterschiedlich organisierte Kooperationspartner wie Wohlfahrtsverbände (Caritas, Diakonie, Arbeiterwohlfahrt), Bildungseinrichtungen (Volkshochschulen, Schulen und Kindertagesstätten, Regionale Arbeitsstellen zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien [RAA]), Integrationsagenturen, Polizeistellen, Kommunalpolitiker und Bürgervereine. Es ist auch möglich, dass interreligiöse Initiativen mit Religionsgruppen zusammenarbeiten, mit denen bisher keine gemeinsamen Aktivitäten organisiert und veranstaltet wurden. Ziel dieser Zusammenarbeit mit externen Partnern kann z.B. die Förderung von sozialen Randgruppen sein. Darüber hinaus verstehen sich interreligiöse Initiativen oft als Anlaufstellen für Anfragen nach interreligiöser und interkultureller Kompetenz bzw. religiösem Wissen. Diese vermitteln sie in Expertengesprächen, Vorträgen und Schulungen sowohl an ihre externen Partner als auch flexibel an Interessenten, zu denen keine Kooperationsbeziehungen bestehen. Informationsveranstaltungen über

230 | N ELLY C. SCHUBERT Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Religionen sind beispielsweise stets für ein öffentliches Publikum konzipiert. Ein noch breiteres Publikum erreichen die durch interreligiöse Initiativen initiierten, organisierten und veranstalteten sozialen, kulturellen und teilweise auch explizit religiösen Veranstaltungen mit Volksfestcharakter. Dazu zählen Stadtteil-, Kinder- und Jugendfeste, Musik- und Tanzveranstaltungen, öffentliche Friedensgebete bzw. -feste, interreligiöse Pilgerwege, Tage der offenen Gotteshäuser, gemeinsame Weihnachts- und IftarEssen oder Spendensammlungsaktionen. Ziele dieser vielfältigen gemeinsamen Aktivitäten sind die Förderung eines toleranten Miteinanders im Alltag, im Beruf sowie in gesellschaftlichen Institutionen und einer kultur- bzw. religionsübergreifenden konfliktfreien Verständigung auf lokaler Ebene. Die Motivationen hinter diesen Aktivitäten und die positive Resonanz in weiten Teilen der Lokalbevölkerung sind exemplarisch für das hohe zivilgesellschaftliche Potential der vielfältigen Angebote (in diesem Fall Veranstaltungen), die von interreligiösen Initiativen für unterschiedliche Adressatengruppen außerhalb der Initiativen angeboten werden. Ungezwungen und öffentlich wird fast nebenbei religiöses Wissen (etwa über Rituale und dahinter stehende Werte) vermittelt und auf diese Weise interreligiöse Toleranz gefördert. Die Akquirierung von Fördermitteln ist aus Sicht der Initiativen nach der Kontaktpflege und dem Transfer von religiösem Wissen die drittwichtigste Motivation zur Orientierung nach außen. Während der Transfer von Geld in den Innenbeziehungen zwischen den Mitgliedern die Ausnahme darstellt, ist dieser in den Außenbeziehungen überaus wichtig. Häufig handelt es sich um projektzentrierte kurzfristige Finanzierung von außen. Gelder kommen beispielsweise von Unternehmen, Banken und kommunalen Verwaltungsinstanzen. Ein Beispiel: Der Integrationsrat der Stadt Recklinghausen teilfinanzierte zusammen mit der Christlich-Islamischen Arbeitsgemeinschaft Recklinghausen ein wissenschaftliches Projekt zur historischen Aufarbeitung türkisch-muslimischer Migration nach Recklinghausen und zur anschließenden lokalen Selbstorganisation der Migranten. Eine weitere Finanzierungsquelle sind öffentlich ausgeschriebene Preise für die ehrenamtliche Arbeit. Vereinzelt stellt auch der Bund Gelder für die interkulturelle Öffnung und Begegnung zur Verfügung. Im Rahmen des Konjunkturpakets wurde etwa die Einrichtung eines Gemeinde- und Begegnungssaales für eine Moscheegemeinde bezuschusst, da die Gelder auch für interreligiöse und interkulturelle Arbeit ausgeschrieben waren. Dadurch wurde der Grundstein für einen Ausbau interkultureller Kontakte der muslimischen Lokalbevölkerung mit einer breiteren Öffentlichkeit gelegt. Interreligiöse Initiativen vertreten ihre Interessen gegenüber Dritten nach außen als Einheit. Sie initiieren und begleiten etwa Projekte zur Verbesserung der

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sozialen infrastrukturellen Situation (insbesondere Verkehr und öffentliche Flächen) innerhalb des Stadtteils oder der Kommune, aus der ihre Teilnehmer stammen. Dafür kommunizieren und kooperieren sie u.a. mit ortsansässigen Geschäftsleuten, Bürgervereinen, verschiedenen kommunalen Verwaltungsinstanzen, Jugend-, Senioren- und Integrationseinrichtungen usw. Bei den Kommunen werden zudem regelmäßig Genehmigungen für öffentliche Veranstaltungen (z.B. Friedensgebete auf öffentlichen Plätzen) und Feste im Namen der Initiativen eingeholt. Auch in der Suche nach Sponsoren für Veranstaltungen (z.B. öffentliche Konzerte) sind Initiativen aktiv. Dafür nutzen sie u.a. Veranstaltungsankündigungen in der Presse als Sprachrohr. Gegenüber Stadt, Politik und Gesellschaft machen sich interreligiöse Initiativen außerdem grundsätzlich für eine interreligiöse (und oft gleichzeitig) interethnische Gleichstellung sowie Toleranz stark. Zu den nach außen gemeinsam vertretenen Interessen gehören in dieser Hinsicht etwa die Ermöglichung würdiger Begräbnisse für arme oder alleinstehend Verstorbene, die Errichtung von speziellen Friedhöfen sowie die Erläuterung umstrittener religiöser Praktiken (kopftuchtragende Frauen o.ä.) in öffentlichen Diskussionsveranstaltungen oder vertraulichen Expertengesprächen. Von außerreligiösen Partnern, die an einer Initiative mitwirken, wird allerdings eine klassische Interessenvertretung für konkrete Vorhaben von interreligiösen Initiativen vermieden. Die Förderung (aber auch die Behinderung) religiöser Interessen ist staatlichen Akteuren aufgrund ihrer weltanschaulichen Neutralität grundsätzlich untersagt. Daher ist diese nur auf Umwegen möglich, wie das Beispiel der Förderung einer jüdisch-methodistischen Partnerschaft als interkulturelles Projekt (s.o.) zeigt. Vielmehr findet eine Interessenvertretung folglich indirekt statt, indem sich etwa Lokalpolitiker öffentlich denselben Zielen (zumindest dem interreligiösen Dialog „an sich“) verschreiben. Sie unterstützen ortsansässige interreligiöse Initiativen oder die Arbeit der Initiativen im Allgemeinen, indem sie bereitwillig als Ansprechpartner für kommunale Anliegen der Initiativen und ihrer Teilnehmer zur Verfügung stehen und nicht zuletzt häufig selbst zum offiziellen Teilnehmerkreis gehören. Dadurch, dass die direkte Interessenvertretung den außerreligiösen Partnern in der Regel untersagt ist, greifen diese auf die öffentliche Fürsprache als alternative Unterstützungsform zurück. Hochrangige Lokalpolitiker (z.B. Oberbürgermeister) halten beispielsweise Eröffnungsreden und sprechen Grußworte bei öffentlichen Veranstaltungen. Mit der Vertretung von Initiativen-Interessen nach außen ist ebenfalls eine Form der öffentlichen Fürsprache von Initiativen-Teilnehmern gegenüber externen Dritten verbunden. Diese kommt etwa zustande, wenn sich christliche Vertreter aus einer Initiative als offizielle Ansprechpartner für jegliche Fragen zu Religion(en) und Gemeinschaften vor Ort anbieten und dabei im Sinne der ande-

232 | N ELLY C. SCHUBERT ren Religionsgemeinschaften werbend und legitimierend handeln. Insbesondere von kommunalen Instanzen, die an der Schnittstelle zwischen Verwaltung, Politik und Sozialarbeit agieren (z.B. Integrationsagenturen) werden diese Anlaufstellen gerne als Informationsquellen in Anspruch genommen. Auch wenn die öffentliche Fürsprache interreligiöser Initiativen meist Kernmitgliedern zugutekommt, wird sie von den peripheren Initiativen-Teilnehmer in der Regel befürwortet. Sie beteiligen sich daran zudem symbolisch, wenn Fürsprache im Namen der gesamten Initiative und nicht einzelner Mitglieder erfolgt. Gemeinsam mit religiösen und nichtreligiösen externen Kooperationspartnern verrichten interreligiöse Initiativen gelegentlich auch soziale Dienste. So arbeiten etwa römisch-katholische Christen und türkischstämmig geprägte Muslime des Interkulturellen Arbeitskreises Gelsenkirchen zusammen mit den Wohlfahrtsverbänden der Arbeiterwohlfahrt, Caritas und Diakonie in einem Projekt zur Weiterentwicklung kultursensibler (Alten-)Pflege. Solche Projekte mit externen Partnern stellen allerdings eine Ausnahme dar, weil der Hauptanteil der sozialen Dienste eher innerhalb von Religionsgemeinschaften und durch religiöse Wohlfahrtsorganisationen bewältigt wird als durch interreligiöse Initiativen. Neben den vorhandenen Innen- und Außenbeziehungen existieren auch systematische Beziehungsvermeidungen. Es kommt vor, dass die Teilnehmer interreligiöser Initiativen gezielt bestimmte religiöse Gruppen ausschließen. In mehreren Beispielen wurden Millî Görüş-Gemeinden bewusst nicht in eine interreligiöse Initiative aufgenommen, weil die vertretenen muslimischen Gemeinden die Zusammenarbeit mit diesen aus politischen Gründen verweigerten. In einem anderen Fall entschieden sich die Initiativen-Mitglieder gegen eine Einbeziehung einer ansässigen schiitischen Moscheegemeinde sowie der ansässigen kurdisch geprägten alevitischen Gemeinde. Gegenüber beiden Gruppen gab es in der Initiative von Seiten einzelner Muslimverbände, die mit dem türkischen Staat verbunden sind, Vorbehalte, da dieser sowohl Kurden als auch Schiiten kritisch gegenüberstehe. Auch die Einbeziehung einer Ahmadiyya-Gemeinde wurde in einem Fall trotz deren Bemühungen um eine Initiativen-Mitgliedschaft vermieden. Begründet wurde dies mit theologischen Vorbehalten von Seiten der beteiligten Moscheegemeinden. Gegenüber einer Fethullah-Gülen-Gemeinschaft teilten auch christliche Repräsentanten diese Einstellung. In all diesen Fällen entschieden sich die Initiativen-Vertreter zwar gegen eine offizielle Aufnahme, nicht jedoch grundsätzlich gegen die Zusammenarbeit mit den abgewiesenen Religionsgemeinschaften. Vielmehr wurden alternativ kurzfristige Zusammenarbeiten in Projekten (wie ein durch eine kommunale Integrationskonferenz angeregtes Buchprojekt, an dem auch eine alevitische Gemeinde beteiligt war) realisiert.

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Beziehungsvermeidungen gehen jedoch nicht immer von Seiten interreligiöser Initiativen aus. Es sind Fälle bekannt, in denen ortsansässige Religionsgemeinschaften die Zusammenarbeit mit interreligiösen Initiativen von sich aus zurückwiesen. Dies traf beispielsweise auf mehrere Millî Görüş-Gemeinschaften zu, die jegliche Art von Kontakt ablehnten, sogar ein Hilfsangebot einer interreligiösen Initiative, bei Konflikten mit einer rechtspopulistischen Gruppe im Rahmen eines Moscheebauvorhabens zu vermitteln. Auch Vertreter einer Bahá’í-Gemeinschaft vermieden die Mitarbeit in einer lokalen Initiative. Sie wollten aus Angst vor der theologischen Ablehnung durch muslimische Vertreter lieber anonym bleiben. Ob bestimmte Kooperationen und Beziehungsinhalte Initiativen-intern oder Initiativen-extern realisiert werden können, hängt von vielen Einflussfaktoren ab. Einige davon sind im Folgenden dargestellt.

E INFLUSSFAKTOREN Interreligiöse Initiativen sind die zivilgesellschaftliche Reaktion auf die migrationsbedingt entstandene religiöse Vielfalt. Die Faktoren, die unterstützend oder hemmend auf die Zusammenarbeit in oder mit einer Initiative wirken, sind ebenso vielfältig wie die Interessenlagen und Konfliktfelder im Zusammenhang mit dieser Vielfalt. Ins Auge stechen zunächst Initiativen-interne Einflüsse, also Dynamiken, die von den Teilnehmern, ihrer Prägung, Ressourcenausstattung, strukturellen Einbettung etc. ausgehen. Religionsgemeinschaften (bzw. deren Repräsentanten, Dachorganisationen, aber auch andere religiöse Autoritätspersonen) bestimmen die inhaltliche Arbeit von interreligiösen Initiativen federführend. Aber auch äußere Faktoren beeinflussen die gemeinsame Arbeit. Nachfolgend sind einige interne und anschließend externe Einflussfaktoren aufgeführt. Dabei wird zudem zwischen positiven Einflüssen auf interreligiöse Kooperation im Rahmen von interreligiösen Initiativen und negativen Einflussfaktoren unterschieden. Bei den internen positiven Faktoren steht die Motivation zur Arbeit in einer interreligiösen Initiative an erster Stelle. Hinter der Teilnahmebereitschaft können sowohl strategische als auch ideelle Erwägungen stehen. Muslime engagieren sich etwa in einer interreligiösen Initiative, weil sie Unterstützung bei Moschee(aus)bauten (beispielsweise zum Abbau von Vorbehalten in der Bevölkerung, die oft mit aktiver Gegenwehr verbunden sind) oder mehr Einfluss auf und Einblick in Prozesse und Akteure in Lokalpolitik und Verwaltung (im Fall von Moscheebauaktivitäten häufig Baubehörden) wünschen. Andererseits sehen sie

234 | N ELLY C. SCHUBERT in den Initiativen eine Plattform zur zivilgesellschaftlich legitimierten, öffentlichen Darstellung ihrer Religion und Gemeinschaft, von der sie sich den Abbau von Vorurteilen und eine Steigerung ihrer sozialen Akzeptanz erhoffen. Weil die Kirchen in einer zunehmend religiös und weltanschaulich pluralen Gesellschaft keinen Alleinvertretungsanspruch haben können, suchen sie sich Verbündete. Es geht ihnen dabei um die Anerkennung und Präsenz von Religionsgemeinschaften und Religiosität per se. Dadurch verschaffen die Amtskirchen sich und ihrem Status als steuerrechtlich privilegierte Institutionen zudem Legitimität. Ideelle Ziele der Zusammenarbeit, die grundsätzlich von allen Initiativen-Teilnehmern geteilt werden, umfassen Konfliktprävention, Frieden, interkulturelle Verständigung und Toleranz oder schlicht ein gegenseitiges Kennenlernen. Erleichtert wird die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften ferner durch wahrgenommene Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten in der theologischen Ausrichtung oder dem Umgang mit Sachfragen und gemeinsame Ziele. Sie ermöglichen, der gemeinsamen Arbeit Sinn zu geben, und sind sowohl für wertgebundene Beziehungen zwischen den Partnern der interreligiösen Initiativen notwendig als auch für zweckgebundene Beziehungen förderlich. Wertgebunde Beziehungen lassen sich z.B. in Ad-hoc-Aktivitäten wie interreligiösen Friedensgebete aufgrund bestimmter Ereignisse und Partnerschaften wie abrahamitisch-trialogische Bündnisse zwischen amtskirchlichen, jüdischen und muslimischen Gemeinden erkennen. Als zweckgebunden gelten Projekte wie Buchpublikationen zur Selbstauskunft und -darstellung von lokalen Religionsgemeinschaften und strategische Allianzen wie die Zusammenarbeit mit Lokalpolitikern einer bestimmten Partei. Interreligiöse Veranstaltungen haben oft ein Thema, das die beteiligten Religionsgemeinschaften symbolisch verbindet (z.B. „Engel“ oder „Freundschaft“). Bewusst werden theologische Bezüge gewählt, die geteilt werden können – wie die Verwendung der Bezeichnung „Gott“ in allgemeinen gemeinsamen Gebeten, die häufig von nebeneinander bzw. nacheinander abgehaltenen religionsspezifischen Gebeten gefolgt werden. Ein weiterer Faktor, der den Aufbau von interreligiösen Initiativen unterstützt, leitet sich aus den Strukturen der teilnehmenden Religionsgemeinschaften ab. In vielen größeren Religionsgemeinschaften, wie z.B. den christlichen Amtskirchen, gibt es eine Bündelung dialogischer Kompetenz: So werden sowohl haupt- oder ehrenamtliche Dialogbeauftragte bestimmt als auch allgemeine Leitlinien für den Dialog mit anderen Religionsgemeinschaft (wie z.B. die Arbeitshilfen der römisch-katholischen Deutschen Bischofskonferenz zum praktischen Umgang mit religiöser Vielfalt und interreligiösen Aktivitäten) erlassen. Sie fördern eine institutionelle Unterstützung interreligiöser Kooperationsbeziehungen. Religiöse Institutionen, wie z.B. die katholischen Akademien oder der Koordina-

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tionsrat der Muslime, übernehmen weitere wichtige Aufgaben in der interreligiösen Zusammenarbeit. Zu ihnen gehört der Austausch über das Verhältnis verschiedener religiöser Lehren zueinander. Dieser intellektuelle Austauschprozess fließt oft in die Basisarbeit ein und befruchtet lokale interreligiöse Initiativen und deren inhaltliche und performative Ausgestaltung von Aktivitäten. Aufgrund dieser Vorarbeit erübrigt sich selbst in langfristigen lokalen Kooperationsbeziehungen vielfach eine interreligiöse Auseinandersetzung über theologische Inhalte und Positionen. Dies ist auch insofern eine Entlastung für die beteiligten Akteure, da sie als lokal Engagierte derweilen gar nicht über die ausreichende theologische Expertise und das entsprechende Ausdrucksvermögen verfügen, um einen konstruktiven Austausch über Theologie zu führen und diesen daher scheuen. Gemeinsame Aktivitäten und weltliche Anliegen rücken auf diese Weise – durch die Strukturen der Religionsgemeinschaften legitimiert – in den Vordergrund lokaler Kooperationsbeziehungen. Neben diesen positiven Einflussfaktoren sind innerhalb der Religionsgemeinschaften aber auch Faktoren auszumachen, die eine interreligiöse Zusammenarbeit behindern oder ganz verhindern. So kann die Einmischung von Dachorganisationen und religiösen Autoritätspersonen lokale Kooperationen auch (ungewollt) stören. Das Entsenden von eigens dafür abgestellten Dialogbeauftragten aus überregionalen Zuständigkeitsbereichen erscheint lokalen Repräsentanten immer wieder als irritierend und kooperationshemmend. Oft fehlt den Entsandten in diesen Fällen die gemeinsame Diskussionsgrundlage bzw. das Wissen über wesentliche lokale Zusammenhänge. Teilweise existiert in den lokalen Religionsgemeinschaften eine Unkenntnis über die zuständigen Beauftragten für interreligiöse Aktivitäten aus den Dachorganisationen oder es findet kein regelmäßiger Austausch mit ihnen statt. Darüber hinaus wird die Teilnahme von zentralen Dialogbeauftragten von den Akteuren vor Ort nicht selten als Hindernis für den Austausch und die Vernetzung auf lokaler Ebene wahrgenommen. Auf diese Weise entstehen Irritationen in langfristigen Kooperationsbeziehungen und Hindernisse für kurzfristige Kooperationsaktivitäten. Negativ wirken sich darüber hinaus die generalisierten oder spezifischen Verbote einer Religionsgemeinschaft zur Zusammenarbeit mit bestimmten anderen Religionsgemeinschaften aus. Diese Kooperationsverbote verhindern insbesondere Partnerschaften und strategische Allianzen, werden jedoch mitunter in kurzfristigen Projekten umgangen. Insbesondere Millî Görüş-Gemeinschaften sind häufig von derartigen Kooperationsverboten betroffen. Das ist dadurch begründet, dass ihre demokratische Unbedenklichkeit in der Vergangenheit immer wieder innenpolitisch angezweifelt wurde.

236 | N ELLY C. SCHUBERT Gründe für diese Kooperationsverbote sowie andere gruppenspezifische Beziehungsvermeidungen lassen sich sowohl in verschiedenen theologischen Positionen als auch historisch gewachsenen Vorbehalten oder politischen Abgrenzungen finden. In manchen Fällen prägen die Herkunftsregion und Migrationsgeschichte von einigen Mitgliedern die gesamte Arbeit einer interreligiösen Initiative. Vorbehalte gegenüber Muslimen lassen sich z.B. bei einigen Mitgliedern jüdischer Gemeinden beobachten, die aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion zugewandert sind. Umgekehrt äußern immer wieder Muslime mit einer Migrationsgeschichte aus dem Libanon gegenüber jüdischen Akteuren Vorbehalte. Aber auch zwischen einigen muslimischen Verbänden und nichtmonotheistischen Religionen gibt es Differenzen, sowie von sunnitischen Muslime gegenüber den Bahá’í. Die jeweiligen als religiös, politisch oder kulturell bedenklich abgelehnten Gruppen wurden aus langfristigen Kooperationen ausgeschlossen und lediglich vereinzelt für kurzfristige gemeinsame Aktivitäten angefragt. Mit Blick auf die theologische Dimension als Faktor für die Teilnahme an interreligiösen Aktivitäten zeigt sich, dass auch einige religiöse Gebote und Glaubenssätze die Kooperation einschränken können. Vorgaben zur Art der Nutzung religiöser Räumlichkeiten verhinderten beispielsweise bestimmte Ausgestaltungen von Begegnungen im Rahmen der Kontaktpflege. So sind etwa die Gebetsräume von Moscheen eigentlich nicht als interreligiöse Begegnungsräume konzipiert. Für Moscheegemeinden ohne zusätzliche Räume, die nicht für die Ausübung religiöser Riten genutzt werden, erschwert dies den Empfang von andersreligiösen Gästen und Kooperationspartnern. Allerdings konnte eine muslimische Gemeinde dieses Problem umgehen, indem sie den Empfang von Kooperationen und Öffentlichkeit kurzerhand in den Innenhof ihrer Moschee verlegte. Umgekehrt lehnen auch einige Religionsvertreter ab, die Versammlungsstätten anderer Religionsgemeinschaften zu besuchen. In einem Beispiel unterstrich ein Rabbi die Bereitschaft, Repräsentanten anderer Religionsgemeinschaften in seiner Synagoge zu empfangen, verzichtete aber seinerseits darauf, diese Geste der Kontaktpflege mit Gegenbesuchen zu erwidern. Ein weiteres Hindernis, das sich aus theologischen Standpunkten ableitet, kann die missionarische Ausrichtung von Religionsgemeinschaft sein. Sie wirkt sich in Einzelfällen negativ auf Interaktionen im Rahmen von Kooperationsbeziehungen innerhalb von interreligiösen Initiativen und deren Außenbeziehungen aus. Werden von einem Teil der Beteiligten missionarische Ziele als zentral angesehen, besteht die Gefahr, dass andere Mitglieder sich abgeschreckt und nicht als gleichwertige Partner akzeptiert fühlen. In einer solchen Konstellation sah sich z.B. eine protestantische Pastorin, die ihre Interaktionsbereitschaft mit dem

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Repräsentanten einer türkischstämmig geprägten Moscheegemeinde durch dessen Missionierungsansprüche gehemmt sah. Hemmend für die interreligiöse Arbeit können auch verschieden ausgeprägte Sprachkompetenzen wirken, die sich aufgrund der Migrationsgeschichte einiger Beteiligter ergeben. Dieses Defizit erschwere oder verhindere gänzlich den intellektuellen Austausch über theologische Grundlagen wie religiöse Rituale. Eine fehlende Verständigung oder Auseinandersetzungen aufgrund unterschiedlicher Sprachkompetenzen können sogar zur Auflösungen bestehender Initiativen führen. Neben den vielfältigen internen Faktoren werden immer wieder auch bestimmte externe Faktoren von den Beteiligten angeführt, um die Bildung und Arbeit von interreligiösen Initiativen zu begründen. So nannten Interviewpartner immer wieder ausländerfeindliche Ereignisse als Ausgangspunkt für die Kontaktaufnahme zu anderen Religionsgemeinschaften. Als Reaktion auf verschiedene rechtsradikale Anschläge in den 1990er Jahren suchten z.B. verschiedene christliche Vertreter die Nähe zu türkischstämmig geprägten muslimischen Gemeinden, woraus sich nach und nach Kooperationen entwickelten, die schließlich in der Arbeit einer interreligiösen Initiative mündeten. Auf Anfeindungen von Religionsgemeinschaften aber auch allgemeine xenophobe Aktivitäten reagieren interreligiöse Initiativen immer wieder mit öffentlichen Stellungnahmen für die Akzeptanz betroffener Religionsgemeinschaften. Auch lokale Konflikte im Zuge von Moscheebauvorhaben führten zu einem Ausbau vieler christlichmuslimischer Partnerschaften. In Schlichtungsveranstaltungen und öffentlichen Stellungnahmen stellen sich immer wieder christliche Repräsentanten auf die Seite betroffener muslimischer Gemeinschaften und unterstützen diese bei ihren Bauvorhaben. Auffällig ist, dass ein religionsunabhängiger gemeinsamer Lokalbezug die gemeinsame interreligiöse Arbeit grundsätzlich unterstützt. So ist die räumliche Nähe zu anderen Religionsgemeinschaften ein Faktor, der besonders langfristige und vielfältige Kooperationsbeziehungen begründet. Allein die Zugehörigkeit zur selben Stadt oder dem selben Stadtteil fördert für einige Religionsgemeinschaften ein Gemeinschaftsgefühl, das besonders diejenigen Beziehungsinhalte begünstigt, bei denen diese Gemeinschaft interreligiös zelebriert wird (z.B. Nachbarschafts-, Stadtteil- oder Stadtfeste). Neben dem Lokalbezug wirkt die Beteiligung von einflussreichen Persönlichkeiten aus außerreligiösen Institutionen (Politik, Wissenschaft) durchweg positiv. Diese erhöht die Bereitschaft von Religionsgemeinschaften zur Mitarbeit (auch kurzfristig) erheblich. Die Ankündigung eines Universitätsprofessors als Gast eines Initiativen-Treffens führte etwa dazu, dass mehr und einflussreichere

238 | N ELLY C. SCHUBERT Repräsentanten (auch aus der Peripherie der interreligiösen Initiative) als gewöhnlich anwesend waren. Denselben Effekt hat die Schirmherrschaft des Oberbürgermeisters in einem Recklinghäuser Integrationsprojekt. Ausnahmslos alle in der Stadt ansässigen religiösen und nichtreligiösen Migrantenorganisationen beteiligten sich offiziell an dem Projekt. Dank der Anwesenheit des Bürgermeisters erschienen schließlich auch diejenigen Repräsentanten zur Projektabschlussveranstaltung, die während der Projektlaufzeit nicht mit anderen Gemeinschaftsvertretern zusammengetroffen waren. Interaktionen mit einflussreichen (oft lokalen) Persönlichkeiten verhelfen den Religionsgemeinschaften oft schon bei geringem Zeit- und Arbeitsaufwand zu verhältnismäßig viel öffentlicher Aufmerksamkeit bei gleichzeitiger gesellschaftlicher Legitimität. Außerdem bieten sie die Möglichkeit zur Weichenstellung für spätere Kooperationen mit gesellschaftlichen Institutionen.

V ERGLEICH Bei einer interreligiösen Initiative handelt es sich um institutionalisierte Kooperation zwischen (Vertretern verschiedener) Religionsgemeinschaften, die selbst ein zivilgesellschaftliches Potential birgt. Ein Vergleich mit den in dieser Publikation vorgestellten Religionsgemeinschaften in Bezug auf die Angebote und Vernetzungen ist schwierig, auch weil diese teilweise selbst Mitglieder in interreligiösen Initiativen stellen. Nichtsdestotrotz gibt es Faktoren, die sowohl Religionsgemeinschaften als auch auf interreligiöse Initiativen beeinflussen und ihre Angebote und Vernetzungen bestimmen. Einer dieser Faktoren sind Gefährdungsdiskurse. Viele interreligiöse Initiativen sind als Folge antiislamischer und/oder rassistischer Gefährdungsdiskurse, Gewaltakte oder Bürgeraufbegehren entstanden und stellen bis heute den Abbau von Vorurteilen und negativen Haltungen gegenüber Muslimen in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten. Die Aufklärung gegen Gefährdungsdiskurse gilt in interreligiösen Initiativen deshalb als eine von allen geteilte Handlungsmaxime. Durch diese Maxime ergeben sich zwischen Neo-Muslimen (vgl. Karin Mykytjuk-Hitz), Moscheemuslimen (vgl. Piotr Suder) und interreligiösen Initiativen einige Parallelen bei der inter- und außerreligiösen Vernetzung. Dies ist insofern nicht verwunderlich, als auch muslimische Akteure, die in neomuslimischen Gruppen oder Moscheevereinen tätig sind, sich in interreligiösen Initiativen engagieren. Aufgrund des Gefährdungsdiskurses aber auch struktureller Ursachen bestehen zwischen den muslimisch-christlich geprägten interreligiösen Initiativen und

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den Moscheevereinen sowohl in den internen Beziehungen als auch Kontakten nach außen viele Gemeinsamkeiten. So sind eine ganze Reihe von Beziehungsinhalten wie die Interessenvertretung oder die öffentliche Fürsprache und die starke Vernetzung mit außerreligiösen Institutionen in beiden Fällen anzutreffen. Strukturell lassen sich diese Parallelen damit erklären, dass Moscheevereine sich selbst innerhalb interreligiöser Initiativen engagieren und ihre Angebote, aber auch Bedürfnisse das Programm solcher Initiativen beeinflussen. Dieses Engagement zielt auch auf die aktive Zusammenarbeit mit außerreligiösen Institutionen. Die gleiche Zielrichtung ist auch bei Neo-Muslimen zu beobachten. Auch neo-muslimische Akteure praktizieren eine offene Grundhaltung gegenüber politischen Autoritäten sowie säkularen oder andersreligiösen Akteuren und arbeiten aktiv – wenngleich aufgrund von Finanzierungsmodellen v.a. kurzzeitig – mit diesen zusammen. Zentrales Anliegen dabei ist der Abbau von Vorurteilen gegenüber muslimischen Positionen, der durch eine aktive Öffentlichkeitsarbeit realisiert werden soll (vgl. Karin Mykytjuk-Hitz). Um dem erklärten Ziel des Vorurteilsabbaus und allgemein dem Abbau gesellschaftlicher Gefährdungsdiskurse näher zu kommen, suchen und pflegen interreligiöse Initiativen wie auch Moscheevereine und Neo-Muslime stetig Kontakt zu politischen Autoritäten. Die Kontaktpflege richtet sich also v.a. an professionelle und politisch oder zivilgesellschaftlich einflussreiche Akteure. Interreligiöse Initiativen machen diese Akteure durch vielfältige Öffentlichkeitsarbeit auf sich aufmerksam (Flyer, Publikationen, Pressemitteilungen). Kontakte zu ihnen entstehen weniger durch Mund-zu-Mund-Propaganda (wie bei NeoMuslimen), sondern werden aktiv von außen gesucht. Auf kommunaler Ebene sind interreligiöse Initiativen in der Regel v.a. politischen Entscheidungsträgern gut bekannt und ihre Vertreter daher in Religions- und Integrationsfragen beliebte Ansprechpartner. Dies ist eine weitere wesentliche Gemeinsamkeit mit Moscheevereinen. Eine aktive Öffentlichkeitsarbeit zeigt sich darüber hinaus in dem vielfältigen Formen eines religiösen Wissenstransfers von Seiten interreligiöser Initiativen (in Informationsveranstaltungen über religiöse Traditionslinien, Rituale etc.). Für interreligiöse Initiativen ist er ein wesentliches Ziel der Vernetzung nach außen und findet regelmäßig, gut organisiert und auf einen möglichst breiten Adressatenkreis zugeschnitten statt. Aufklärung über Religion und Religiosität durch Neo-Muslime findet hingegen häufig spontan und individuell initiiert statt. Eine Besonderheit im Vergleich mit Religionsgemeinschaften ist, dass interreligiöse Initiativen gleichzeitig säkulare Interessen religiöser Gemeinschaften oder Akteure und religiöse Interessen religiös unterschiedlicher Gemeinschaften

240 | N ELLY C. SCHUBERT und Gruppierungen vertreten. Letzteres ist nur möglich, indem die religiösen Bedürfnisse und Interessen von allen Mitgliedern einer interreligiösen Initiative wechselseitig als gleichwertig anerkannt werden. In der Regel erfolgt eine solche Anerkennung über Theologie als verbindendes Element (wie etwa bei dem von Nagel 2014 beschriebenen „abrahamitischen Schulterschluss“ monotheistischer Religionen) oder einen einheitlichen Lokalbezug. Interreligiöse Initiativen stellen nicht nur im Hinblick auf ihre Struktur, sondern auch auf ihre Ressourcen eine Besonderheit unter den in diesem Band vorgestellten Gemeinschaften dar. Im Gegensatz zu eigenständigen Religionsgemeinschaften verfügen sie über keinerlei eigene Mittel: Sie erheben keine Mitgliedsbeiträge und bewerben oder erhalten in der Regel keine Spenden. Sie sind daher vollständig auf materielle und finanzielle Zuwendungen bei der Durchführung von jederlei Projekten und Veranstaltungen angewiesen. Die hohe gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber interreligiösen Initiativen sowie ihre sehr gute und meist langfristige Vernetzung mit einflussreichen und finanzstarken Institutionen (Amtskirchen und deren Wohlfahrtsorganisationen, Bildungsinstitutionen, Integrationsagenturen, Lokalpolitik) vereinfacht jedoch die Akquirierung von projektbezogenen Fördermitteln sowie den Zugang zu Räumlichkeiten für die regelmäßigen Sitzungen sowie Veranstaltungen in größerem Rahmen erheblich. Hinzu kommt, dass die Amtskirchen zunehmend Geld für integrative, d.h. in diesem Fall interkulturelle und/oder interreligiöse, Aktivitäten bereitstellen. Diese Mittel bieten für die Arbeit von interreligiösen Initiativen zuverlässige Unterstützung.

L ITERATUR Hero, Markus/Krech, Volkhard/Zander, Helmut (Hg.) (2008): Religiöse Vielfalt in Nordrhein-Westfalen: Empirische Befunde und Perspektiven der Globalisierung vor Ort, Paderborn: F. Schöningh. Klinkhammer, Gritt/Frese, Hans Ludwig/Satilmis, Ayla et al. (2011): Interreligiöse und interkulturelle Dialoge mit MuslimInnen in Deutschland. Eine quantitative und qualitative Studie, Bremen: Institut für Religionswissenschaft und Religionspädagogik. Klinkhammer, Gritt/Satilmis, Ayla (2007): Kriterien und Standards der interreligiösen und interkulturellen Kommunikation - Eine Evaluation des Dialogs mit dem Islam. DIALOGOS-Projektabschlussbericht, Bremen: Universität Bremen.

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Klinkhammer, Gritt/Satilmis, Ayla (Hg.) (2008): Interreligiöser Dialog auf dem Prüfstand. Kriterien und Standards für die interkulturelle und interreligiöse Kommunikation, Berlin: Lit Verlag. Nagel, Alexander-Kenneth (2014): Governing Religious Diversity: Discursive Boundary Work in Interreligious Activities. Unveröffentlichtes Manuskript. Schubert, Nelly C. (2012): „‚Gatekeeper‘ und ‚Broker‘ als Schnittstellen zwischen religiösen Organisationen“, in: Alexander-Kenneth Nagel (Hg.), Diesseits der Parallelgesellschaft. Neuere Studien zu religiösen Migrantengemeinden in Deutschland, Bielefeld: transcript, S. 207-239. Internetseiten http://www.dialogos-projekt.de/index.php?title=Interreligi%C3%B6se_und_inter kulturelle_Dialoginitiativen_mit_Muslimen_in_Deutschland vom 20.12.2013. http://www.dialogos-projekt.de/index.php?title=Hauptseite vom 20.12.2013. http://www.kcid.de/prodia/bundeslaender/nrw-liste.php?we_objectID=24 vom 18.02.2014. http://www.kcid.de/prodia/landkarte.php vom 13.11.2013. http://www.oekumene-ack.de/themen/interreligioeser-dialog/projekt-weisst-duwer-ich-bin.html vom 18.02.2014.

Zivilgesellschaftliche Potentiale im Vergleich A LEXANDER -K ENNETH N AGEL /U LF P LESSENTIN

In diesem abschließenden Kapitel werden die einzelnen Fallstudien noch einmal systematisch miteinander in Beziehung gesetzt, um auf diese Weise generelle Aufschlüsse über das Zusammenspiel der zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden mit verschiedenen Einflussfaktoren zu erhalten. Nachdem die komparative Selbstverortung bereits im vierten Unterkapitel der Beiträge geleistet worden ist, können sich die vergleichenden Erwägungen im Folgenden auf eine Draufsicht beschränken. Sie orientieren sich eng an den eingangs ausgeführten Debatten und Leitbegrifflichkeiten. Entsprechend ist die Analyse nicht an einer strengen Logik von Paarvergleichen ausgerichtet, sondern nimmt exemplarische Figurationen von Angeboten und Vernetzungen auf der einen sowie internen und externen Einflussfaktoren auf der anderen Seite in den Blick. Formal sind dabei besonders jene Konstellationen interessant, in denen entweder ähnliche Rahmenbedingungen zu unterschiedlichen Ausprägungen des Beziehungsspektrums führen oder aber ähnliche Beziehungsmuster sich unter ganz unterschiedlichen Bedingungen herausbilden.

Z IVILGESELLSCHAFTLICHE P OTENTIALE Wie im Einleitungskapitel ausgeführt, bestehen die zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden zum einen in ihrer Fähigkeit zur Selbstorganisation und Ressourcenmobilisierung und zum anderen in ihrer öffentlichen Orientierung, die über den Nahraum der eigenen Gruppe hinausreicht. Diese Potentiale wurden in den Fallstudien anhand der Angebote und Vernetzung der Gemeinden erhoben.

244 | A LEXANDER-K ENNETH N AGEL/ULF P LESSENTIN Religiöse Migrantengemeinden offerieren über ihre im engeren Sinne rituellen Aufgaben hinaus eine große Bandbreite von Angeboten. Dazu gehören etwa finanzielle, emotionale und lebenspraktische Nothilfe und Unterstützung, Rechts- und Sozialberatung, Ämterhilfe sowie Kulturarbeit, Sprachkurse, Bildungsangebote (z.B. Nachhilfe, Computerkurse) und Jugendarbeit (Sport- und Freizeitangebote). Diese Angebote können unterschiedlich formalisiert sein und umfassen Aktivitäten der spontanen und informellen Nächstenhilfe unter dem Dach einer Gemeinde ebenso wie regelmäßige und professionelle Bildungs- oder Beratungsangebote. Gerade die stärker formalisierten Angebote können als ein gutes Indiz für die Selbstorganisationsfähigkeit einer Gemeinde gelten. Dabei verweisen alle Fallstudien gleichermaßen auf eine ausgeprägte Binnenorientierung der Angebote, die sich in der Regel aus dem spezifischen Migrationskontext und der sozioökonomischen Situation der Gemeinden ergibt (s.u.). In diesem Zusammenhang lassen sich neben der rituellen Praxis drei typische Angebotsschwerpunkte unterscheiden, namentlich die Pflege der Herkunftssprache und -kultur (i), der Ausgleich sozioökonomischer Nachteile der Gemeindemitglieder (ii) sowie – wenn notwendig – die kollektive Bewältigung traumatischer Erfahrungen von Ausgrenzung und Vertreibung in den Herkunftsländern (iii). Es wäre allerdings unangebracht, diese starke Fokussierung auf die Bedürfnisse der eigenen Mitglieder als Ausdruck willentlicher Abschottung zu interpretieren. Vielmehr ähneln religiöse Migrantengemeinden im Hinblick auf ihr Angebotsspektrum den etablierten kirchlichen Ortsgemeinden, indem sie zahlreiche kulturelle und soziale Aufgaben um eine religiöse Kernfunktion gruppieren und dabei umfassend zielgruppenspezifisch orientiert sind. Während allerdings evangelische und römisch-katholische Ortsgemeinden, gerade in den Städten, zunehmend mit schwindenden Besucherzahlen und der Erosion ihrer Trägermilieus zu tun haben, ist die soziale Basis religiöser Migrantengemeinden (einstweilen) intakt. Sie beruht wesentlich auf der kollektiven Identifikation mit einer geteilten Migrationsgeschichte und auf der sozialen Kontrolle in den meist übersichtlichen Gruppen. Wie in den klassischen amtskirchlichen Gemeinden auch basiert die Selbstorganisationsfähigkeit der Migrantengemeinden dabei wesentlich auf religiösen Weltbildern und daraus abgeleiteten solidarethischen Normen: Der Dienst an anderen Mitgliedern sowie Erhalt und Stärkung der Infrastruktur der Gemeinde sind in vielen Fällen unmittelbar heilsrelevant (etwa die Beteiligung am Moscheebau) und teilweise sogar ausdrücklich rituell gerahmt (etwa im Fall der Alimentierung buddhistischer Mönche). Die genannten Angebote stehen zum Teil auch anderen Interessierten offen, werden aber nach außen hin in der Regel nicht beworben. Ein Angebot, das die

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meisten der Gemeinden ausdrücklich im inter- oder außerreligiösen Kontext machen, ist die Vermittlung von Information zur eigenen religiösen Tradition. Punktuell wurden zu diesem Zweck sogar eigene Begegnungsstätten gegründet oder befinden sich in Planung. Verbreitet ist darüber hinaus die Zusammenarbeit mit lokalen Schulen und anderen Bildungseinrichtungen sowie Integrationsbüros. In Einzelfällen waren auch inter- und außerreligiöse soziale Dienste und Geldtransfers zu verzeichnen, die auf die sich entwickelnde öffentliche Orientierung religiöser Migrantengemeinden hindeuten. Diese Orientierung kommt auch in der umfassenden und facettenreichen Vernetzung der Gemeinden im intra-, inter- und außerreligiösen Zusammenhang zum Ausdruck. Anders als bei den Angeboten sind hier deutliche Unterschiede zwischen den untersuchten Gruppen zu erkennen. So neigen freikirchliche und auch buddhistische Gemeinden eher zu inner- und ggf. zu intrareligiöser Vernetzung, z.B. in Form von Bündnissen und Verbänden. Entsprechend stehen dabei in erster Linie rituelle Aktivitäten wie gemeinsame Gebetshandlungen oder religiöse Feste im Vordergrund. Im interreligiösen Bereich sind v.a. klassische Moscheegemeinden aktiv, punktuell sind auch hinduistische oder buddhistische Gruppen beteiligt, allerdings eher auf Anfrage und Einladung lokaler interreligiöser Initiativen. Im Unterschied dazu bringen sich yezidische Gruppen offenbar zunehmend in den interreligiösen Austausch ein, nicht zuletzt, um auf diese Weise ein öffentliches Bewusstsein für ihre Religion herzustellen. Außerreligiös lassen sich zwei Muster der Vernetzung erkennen, die man pointiert als Bildungs- und Lobbyarbeit bezeichnen könnte. Tamilische Hindus und thailändische Buddhisten sind in unterschiedlichen außerreligiösen Kontexten aktiv, um ihre religiösen Traditionen darzustellen (s.o.), stehen einer politischen Einbindung aber abwartend bis skeptisch gegenüber. Dagegen streben Muslime, die in Moscheevereinen und Dachverbänden organisiert sind, regelmäßig eine kommunalpolitische Beteiligung an (etwa im Integrationsrat), um konkrete Anliegen ihrer Vereine besser begleiten zu können (z.B. die Errichtung von repräsentativen Moscheen oder die Einrichtung von Gräberfeldern). Besonders ausgeprägt waren politische Teilhabeansprüche und Vernetzungen in unserem FallstudienPortfolio bei Neo-Muslimen, syrisch-orthodoxen Christen und Yeziden. Die politische Beteiligung dieser Gruppen wies deutlich über die kommunale Ebene und integrationspolitische Fragen hinaus. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, ergeben sich die politischen Ambitionen religiöser Migrantengemeinden in der Regel nicht so sehr aus ihrem theologischen Selbstverständnis, sondern v.a. aus Aspekten ihrer Migrationsgeschichte. In der Einleitung wurde gezeigt, dass religiöse Migrantenorganisationen multifunktional sein müssen, da das Mobilisierungspotential und die Hand-

246 | A LEXANDER-K ENNETH N AGEL/ULF P LESSENTIN lungsspielräume der betreffenden Gruppen begrenzt sind. Ihre politischen Aktivitäten sind dabei als zivilgesellschaftliche Potentiale zu bewerten, auch wenn sie von Partikularinteressen ausgehen, da in ihnen eine öffentliche Orientierung sowie eine Identifikation mit den politischen Institutionen der Aufnahmegesellschaft zum Ausdruck kommt. Nach diesem abstrakten Überblick über die Angebote und Vernetzung religiöser Migrantengemeinden werden nachfolgend konkretere Figurationen von Einflussfaktoren und Beziehungen erörtert.

M IGRATIONSKONTEXT Es liegt nahe zu vermuten, dass die zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden eng mit ihrer spezifischen Migrationsgeschichte verbunden sind. Darin besteht, bei aller angesprochenen Ähnlichkeit, auch ein wesentlicher Unterschied zu den historisch etablierten Religionsgemeinschaften des Aufnahmelandes. Die Fallstudien haben gezeigt, dass es v.a. drei Aspekte der Migrationssituation sind, die sich auf die Angebote und Vernetzung der Gemeinden auswirken, namentlich der Status der Religionsgemeinschaft im Herkunftsgebiet, die zentralen Beweggründe für die Auswanderung sowie die Aussicht auf Rückkehr. Der Status im Herkunftsgebiet bezieht sich v.a. auf eine religiöse (seltener: ethnische oder soziale) Minderheitenposition und die damit verbundenen Benachteiligungen. Dies trifft in unserem Sample auf die hinduistischen, yezidischen und syrisch-orthodoxen Gemeinden sowie in gewissem Umfang auf die russlanddeutschen Mennoniten zu. In der Tat waren religiöse Verfolgungen zumindest bei den tamilischen Hindus ein zentraler und bei den Yeziden und syrisch-orthodoxen Christen ein gravierender Auswanderungsgrund. Allen genannten Gruppen ist gemein, dass hier Religion und weniger landsmannschaftliche Orientierungen das zentrale Motiv der Vergemeinschaftung darstellen und dass sie die Möglichkeiten der neugewonnenen Religionsfreiheit im Aufnahmeland nutzen, um ein vitales Gemeindeleben aufzubauen. Zugleich bestehen allerdings deutliche Unterschiede mit Blick auf die inter- und außerreligiöse Vernetzung: So kultivieren Yeziden und syrisch-orthodoxe Christen aktiv Beziehungen zu politischen und religiösen Verbänden der Aufnahmegesellschaft, um die deutsche Migrations- und Außenpolitik für ihre Anliegen zu sensibilisieren und nutzen dabei ihren Status als verfolgte religiöse Minderheiten als symbolische Ressource. Auch die tamilischen Hindus versuchen, die politische Situation in Sri Lanka teilweise zu beeinflussen, greifen dabei aber auf separate transnationale Netzwerke zurück.

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Die vorgenannten Beispiele zeigen, dass eine Minderheitenposition im Herkunftsland die inter- und außerreligiöse Vernetzung in der Aufnahmegesellschaft tendenziell befördern kann. Gründe dafür können in der besonderen, menschenrechtlich begründeten Schutzwürdigkeit und den damit verbundenen Aufenthaltsrechten sowie in einem Gruppenhabitus liegen, der auf Konvivenz und Anpassung auslegt ist. Der Verweis auf die Diskriminierungs- und Verfolgungserfahrungen im Herkunftsland kann von den betreffenden Migrantengemeinden dazu genutzt werden, in der Aufnahmegesellschaft Partner und Fürsprecher zu gewinnen, die ihrerseits einen politischen Druck auf die Herkunftsstaaten ausüben können, um die Situation vor Ort zu verbessern. Insbesondere die nach Deutschland eingewanderten christlichen Gruppen, die in ihren Herkunftsländern Diskriminierungen erfahren haben, können dabei auf die Unterstützung von Seiten der deutschen Aufnahmegesellschaft und der Amtskirchen zählen. Wie aber verhält es sich mit Gruppen, die im Herkunftsland zur religiösen Mehrheit gehörten und sich erst durch die Migration in einer Minderheitenposition wiederfinden? In unserem Sample ist das v.a. bei Muslimen, die entweder in Moscheevereinen oder in neo-muslimischen Netzwerken organisiert sind, und den thailändischen Buddhisten der Fall. Diese stehen vor der Herausforderung, religiöse Praktiken und Vorstellungen, die in den Herkunftsländern mehr oder weniger unhinterfragte normative Geltung hatten, aktiv zu reproduzieren und ggf. zu legitimieren. Beispiele dafür sind etwa das rituelle Schächten oder geschlechtergetrennte Gebete. Diese religiöse Selbstvergewisserung kann zugleich Anstoß zu theologischer Innovation sein, etwa in Gestalt einer Theologisierung oder Laisierung, und prägt dadurch auch die Angebotspalette der Gemeinden. Dabei unterscheiden sich Muslime und Buddhisten stark im Hinblick auf ihre Vernetzung im inter- und außerreligiösen Bereich: Während Moscheevereine und Neo-Muslime sich politisch organisieren und an interreligiösen Dialoginitiativen teilnehmen, sind thailändisch-buddhistische Zentren nur sporadisch in interreligiösen Zusammenhängen und praktisch nie im politischen Bereich aktiv. Schließlich können erloschene Rückkehrhoffnungen die zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden maßgeblich beeinflussen. Gemeint ist die wahrgenommene oder objektive Unmöglichkeit, dauerhaft in das jeweilige Herkunftsgebiet zurückzukehren. Dies ist zunächst bei jenen Gruppen der Fall, die vermehrt religiöser Diskriminierung ausgesetzt waren und sind, wie die Yeziden und syrisch-orthodoxe Christen. Zusätzlich können auch Bürgerkriege die politische Struktur der Herkunftsregion so verändern, dass eine Rückkehr schlechterdings unmöglich ist, ganz besonders im Fall der tamilischen Hindus aus Sri Lanka und der bosnischen Muslime, aber auch der syrischorthodoxen Christen. Erloschene Rückkehrhoffnungen können sich unterschied-

248 | A LEXANDER-K ENNETH N AGEL/ULF P LESSENTIN lich auf die Angebote und Vernetzung religiöser Migrantengemeinden auswirken: So können z.B. Angebote der Sprach- und Kulturpflege an Bedeutung gewinnen, um die Erinnerung an die eigenen Ursprünge so gut es geht „wach zu halten“ und die kulturelle Tradition auch fern von den historischen Siedlungsgebieten an nachfolgende Generationen weiterzugeben. Besonders ausgeprägt ist dies bei den tamilischen Hindus zu beobachten. Zugleich ist die Vernetzung geprägt durch eine stärkere Hinwendung zum Aufnahmeland. Dies zeigt sich etwa in Investitionen in die religiöse Infrastruktur, die sich für alle der o.a. Gruppen dokumentieren lassen. So werden beispielsweise größere und repräsentative Räumlichkeiten erworben oder angemietet, die nicht nur Raum für mehr und unterschiedliche Angebote schaffen (z.B. einen Ausbau der Jugendarbeit), sondern auch zu Orten der inter- oder außerreligiösen Begegnung werden können. Ein weiterer Aspekt ist die Begräbniskultur. Wo eine Rückführung in das Herkunftsland nicht mehr möglich ist, wächst der Anstoß für religiöse Migrantengemeinden, sich proaktiv um entsprechende Gräberfelder im Aufnahmeland zu bemühen. Eine Zusammenarbeit mit kommunalen Entscheidungsträgern aus Politik und Verwaltung ist dabei unumgänglich.

T HEOLOGISCHES S ELBSTVERSTÄNDNIS Religiöse Migrantengemeinden unterscheiden sich von anderen Migrantenselbstorganisationen besonders dadurch, dass sie ganz wesentlich auf religiösen Weltbildern, Normen und Praktiken beruhen. Das theologische Selbstverständnis stellt insoweit einen eigenständigen und zentralen Einflussfaktor dar und ist keinesfalls als eine Art „Überbau“ zur konkreten ökonomischen, sozialen und politischen Situation der Gemeinden abzutun. Religiöse Weltbilder und theologische Interpretationen haben einen Einfluss auf die Angebote und die Vernetzungsoptionen von Migrantengemeinden und bestimmen somit Art und Umfang ihrer zivilgesellschaftlichen Potentiale. In vergleichender Perspektive sind drei Aspekte hervorzuheben: Die Ausprägung einer religiösen Solidarethik, der aus dem jeweiligen theologischen Selbstverständnis abgeleitete Umgang mit anderen (religiösen) Gruppen sowie theologische Innovationen. Die religiöse Solidarethik umfasst Normen zur Unterstützung von Angehörigen der eigenen Religionsgemeinschaft sowie von Dritten. In einigen Religionen, wie dem Christentum und dem Islam, spielt die soziale Unterstützung des Nächsten oder Nachbarn in den verbindlichen Schriften (Bibel, Koran) oder Überlieferungen eine wichtige Rolle. Sie wird als religiöses Gebot bzw. religiöse Verpflichtung (im Islam: zakat) begriffen. Gaben und soziale Fürsorge für Be-

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dürftige werden in diesen klassischen Quellen zum Teil detailliert ausgeführt und sind dem theologischen Selbstverständnis nach für den einzelnen Gläubigen unmittelbar heilsrelevant. Dagegen spielt die soziale Unterstützung in den Schriften anderer Religionen eine geringere Rolle. So sind der Buddhismus der Waldmönchtradition (im Unterschied zum sog. Engagierten Buddhismus westlicher Prägung) sowie die shivaitische Tradition der tamilischen Hindus stärker meditativ orientiert und weisen der sozialen Fürsorge einen theologisch untergeordneten Stellenwert zu. Während einige Religionsgemeinschaften theologisch keinen Unterschied zwischen den Adressaten von sozialen Unterstützungen innerhalb der Gemeinde machen (Max Weber prägte hierfür den Begriff „religiöse Brüderlichkeitsethik“), besteht in anderen Gemeinschaften eine religiös begründete Sozialstruktur, die Unterstützungsleistungen reglementiert: Ähnlich wie die tamilischen Hindus kennen auch die Yeziden ein ausgeprägtes Kastenwesen, das der sozialen Unterstützung innerhalb der eigenen Gemeinschaft Grenzen setzt. Trotz dieser offenkundigen doktrinären Unterschiede lässt sich in der vergleichenden Betrachtung kein direkter Zusammenhang von Solidarethik und der Ausprägung von Angeboten erkennen. Anders ausgedrückt: Alle in diesem Band erörterten religiösen Migrantengemeinden stellen Angebote der sozialen Unterstützung bereit, auch wenn diese nicht immer theologisch gefordert werden. Allerdings zeichnen sich die Angebote in unserem Sample insgesamt durch eine starke Binnenorientierung aus. Soziale Dienste werden in den meisten Fällen nur für die Gemeindemitglieder angeboten und der Transfer von Geld und Gütern geschieht in der Regel im Nahbereich der Gemeinde, eventuell noch im intrareligiösen Bereich. Nur in ganz wenigen Ausnahmefällen werden solche Leistungen in inter- oder außerreligiösen Kontexten erbracht, es findet allerdings ein recht umfassender Wissenstransfer nach außen statt (s.u.). Innerhalb der betreffenden Gemeinden haben Unterschiede zwischen Kasten und anderen Untergruppen zwar tendenziell Bestand, weichen in der Migrationssituation aber teilweise auf oder werden durch andere soziale Kategorien überlagert. Während die Bereitstellung von Angeboten nicht direkt aus theologischen Vorschriften und den jeweiligen religiösen Weltbildern abgeleitet werden kann, so haben sie sich doch für die Vernetzung der Gemeinden als wirksam erwiesen. Gerade die aus dem historisch geprägten theologischen Selbstverständnis abgeleiteten symbolischen Grenzziehungen zwischen der Eigengruppe und anderen religiösen und nichtreligiösen Gruppen spielen eine zentrale Rolle für die intra-, inter- und außerreligiöse Vernetzung religiöser Migrantengemeinden. So können sich bei verschiedenen Traditionen einer Religion ganz unterschiedliche Netzwerke ausbilden. Besonders wird dies an den drei christlichen Religionsgemeinschaften deutlich, die in diesem Band besprochen werden: Die russlanddeut-

250 | A LEXANDER-K ENNETH N AGEL/ULF P LESSENTIN schen mennonitischen Gemeinden weisen nur eine eingeschränkte Vernetzung mit den Institutionen anderer christlicher Traditionen (intrareligiös), mit anderen Religionen (interreligiöse) und außerreligiösen Akteuren auf. Anders dagegen die koreanischen freikirchlichen Gemeinden, die mit den evangelischen Landeskirchen und den betreffenden freikirchlichen Dachorganisationen kooperieren, aber nur wenige außerreligiöse Kontakte haben. Dagegen sind die Vernetzungen der Syrisch-Orthodoxen Kirche mit den historisch etablierten Amtskirchen und außerreligiösen Akteuren, wie z.B. Politikern, vergleichsweise intensiv. Ausschlaggebend sind in diesem Fall die jeweiligen Kirchenverständnisse: Freikirchen protestantischen Bekenntnisses wurden zum Zeitpunkt ihres Entstehens in bewusster Abgrenzung zu den historisch etablierten Kirchenformen als freiwillige Bekenntniskirchen gegründet. Mit diesen Neugründungen sollten die als dekadent empfundenen Kirchenstrukturen, nicht zuletzt aufgrund ihrer intensiven Verflechtungen mit dem Staat, überwunden werden, um auf diese Weise zu den Wurzeln des Glaubens zurückzukehren. Aus diesem an den ersten christlichen Gemeinden orientierten Verständnis heraus besteht auch heute noch eine gewisse Skepsis gegenüber der Zusammenarbeit mit Amtskirchen oder mit staatlichen Institutionen. Dagegen ist die Syrisch-Orthodoxe Kirche eine der ersten Nationalkirchen, die von den wesentlich jüngeren evangelischen Landeskirchen und der Römisch-Katholischen Kirche anerkannt wurde. Eine skeptische Haltung gegenüber außerreligiösen Akteuren, wie sie in freikirchlichen Migrantengemeinden (besonders unter russlanddeutschen Mennoniten) zu finden ist, existiert unter syrisch-orthodoxen Christen in Deutschland in der Regel nicht.1 Schließlich können im theologischen Selbstverständnis auch Gründe für eine ausgeprägte Abgrenzung gegenüber anderen Religionen liegen. Bemerkenswert ist, dass fast alle nichtmuslimischen Gruppen in unserem Sample eine mehr oder weniger stark akzentuierte Abgrenzung gegenüber dem Islam erkennen lassen. Syrisch-orthodoxe Christen und teilweise auch Vertreter der yezidischen Community erklären ihre Haltung unmittelbar mit den unter muslimischer Herrschaft erfahrenen Diskriminierungen und Verfolgungen, die ihr theologisches Selbstverständnis als von außen bedrohte Minderheitenreligion prägten. Aber auch die russlanddeutschen Mennoniten, Angehörige koreanischer Freikirchen sowie ta-

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Das theologische kirchliche Selbstverständnis beeinflusst auch den Stellenwert von Mission: Die sozialen Aktivitäten koreanischer Gemeinden im inter- und außerreligiösen Bereich werden zum Teil ausdrücklich als Missionsarbeit verstanden. Im Unterschied dazu spielen Missionsanstrengungen in der Syrisch-Orthodoxen Kirche angesichts des ausgeprägten ethnoreligiösen Selbstverständnisses eine untergeordnete Rolle und Angebote werden vornehmlich an die eigenen Mitglieder adressiert.

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milische Hindus haben sich zum Teil islamkritisch positioniert, auch wenn in den Herkunftsgebieten keine intensiven Kontakte mit Muslimen bestanden. Für die Abgrenzung wird entweder auf theologische Differenzen verwiesen oder es werden allgemeine islamkritische Stimmungsbilder der Öffentlichkeit übernommen (s.u.). Weiterhin können sich im Migrationskontext theologische Innovationen ergeben, die förderlich für die zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden sind. So lassen sich Tendenzen der Laisierung und Theologisierung beobachten. Laisierung bezeichnet in diesem Fall die zunehmende Selbstermächtigung religiöser Laien bei der Auslegung von Schriften und der Ausübung von Ritualen. Sie kann die Vernetzung befördern, insoweit sie eine pragmatische und alltagsnahe Interpretation religiöser Lehren mit sich bringt, Kontaktschwellen senkt und dadurch intra-, inter- und außerreligiöse Begegnung ermöglicht. Dies ist in unserer Fallauswahl besonders bei Yeziden und tamilischen Hindus zu beobachten: Im Migrationskontext können die traditionellen religiösen Spezialisten ihre rituellen Funktionen nicht mehr im gleichen Maße erfüllen wie in den Herkunftsgebieten. Laien übernehmen dann diese Aufgaben. Bei den tamilischen Hindus zeichnet sich zudem ab, dass sie anders als auf Sri Lanka weniger Sanskrit, sondern mehr Tamil im Tempeldienst sprechen und damit die historische Liturgiesprache zugunsten einer Alltagsprache zurückstellen. Ein anderer Fall sind die Neo-Muslime, die sich aufgrund theologischer Differenzen bewusst von den Imamen der Moscheegemeinden distanzieren und ihre Angebote teilweise mit eigenständigen theologischen Begründungen unterlegen. Theologisierung bezieht sich auf die systematische Reflexion und Durchdringung, aber auch Kanonisierung überlieferter religiöser Vorstellungen und Gebräuche. Sie geht ihrerseits oft Hand in Hand mit einem inter- oder außerreligiösen Wissenstransfer und stellt eine neue Ebene intra- oder interreligiöser Zusammenarbeit dar. So verschriftlichen Yeziden im Migrationskontext ihre vormals mündlich überlieferte Tradition und kanonisieren sie auf diese Weise. Tamilische Hindus der zweiten Generation wiederum streben zunehmend eine theologische Durchdringung der durch Eltern und Tempelpriester überlieferten Glaubensinhalte an und legen dabei unter anderem Theologievorstellungen aus dem christlichen Religionsunterricht als Reflexionsmaßstab zugrunde. Analog dazu lassen sich auch in anderen Gruppierungen theologische Innovationen beobachten, die als Annäherung an die religiöse Mehrheitskultur in Deutschland verstanden werden können: So übernehmen syrisch-orthodoxe Christen Formate wie den Kirchentag oder religiöse Feste (z.B. Nikolaus) und erwägen, den in Mitteleuropa verbreiteten Kirchenkalender zu benutzen.

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D EMOGRAPHIE

UND

S OZIALSTRUKTUR

Neben der Migrationsgeschichte und dem theologischen Selbstverständnis beeinflussen auch demographische und sozialstrukturelle Faktoren die zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden in unterschiedlicher Art und Weise. Mit Blick auf die Demographie sind hier v.a. der Generationenwechsel, die Siedlungsstruktur sowie das Heiratsverhalten zu nennen. Sozialstrukturell haben sich die ökonomische Situation und der Bildungsstand der Mitglieder als einflussreich erwiesen. Die Zuwanderung der meisten Gruppen vollzog sich nicht kontinuierlich, sondern in Wellen. Dies hat zur Folge, dass sich klare Generationskohorten unterscheiden lassen, die jeweils für sich eigenständige Milieus bilden und verschiedene Bedürfnislagen an ihre Religionsgemeinschaften herantragen. Die Fallstudien weisen übereinstimmend darauf hin, dass ein Generationenwechsel in den Gemeinden, d.h. die zunehmende Verantwortungsübernahme durch die zweite oder dritte Generation, mit einer stärkeren Vernetzung nach außen einhergeht. Gründe dafür liegen in der ausgeprägteren Neigung und Fähigkeit der Folgegeneration zum Austausch mit der Aufnahmegesellschaft. Auf der Ebene der Angebote drückt sich der Generationswechsel unterschiedlich aus: Während einige Gruppen wie die Neo-Muslime ihre Angebote tendenziell ausweiten, reagieren andere Gemeinden wie tamilische Hindus, thailändische Buddhisten und koreanische Freikirchen eher mit einer Angebotsverlagerung vom Nachteilsausgleich zur Kulturpflege. In diesen Fällen geht eine hohe soziale Aufwärtsmobilität der zweiten Generation, z.B. durch einen Bildungsaufstieg, einher mit einer relativ geringen Gruppengröße und einer neutralen oder positiven Wahrnehmung der Gruppe in öffentlichen Diskursen (s.u.). In der Folge erscheint es sowohl opportun als auch unproblematisch, dem wachsenden Abstand der Folgegenerationen zur Herkunftskultur mit intensiveren und strukturierteren Angeboten zu begegnen. Als weiterer bedeutsamer Faktor hat sich die Siedlungsstruktur erwiesen. Gerade bei kleineren Zuwanderergruppen wie Thailändern, Tamilen und Yeziden ist das Einzugsgebiet der Religionsgemeinschaften oft recht groß und kann durchaus einen Umkreis von 100 Kilometern umfassen. Das Gemeindeleben und das Angebotsspektrum sind in diesen Fällen zum Teil stärker um bestimmte Events wie religiöse Feste und Rituale als um einen regelmäßigen Gemeindealltag herum gruppiert. Andere Gruppierungen wie die russlanddeutschen Mennoniten und Moscheegemeinden zeichnen sich hingegen durch die starke räumliche Konzentration ihrer Mitglieder aus. Dabei sind die Moscheevereine lokal im inter- und außerreligiösen Kontext in der Regel gut vernetzt, während die Menno-

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niten eine stärkere Binnenorientierung aufweisen. Andererseits lässt sich auch beobachten, dass trotz einer geographischen Konzentration, wie etwa bei syrisch-orthodoxen Christen in Westfalen, mancherorts parallele Strukturen existieren, etwa wenn zwei voneinander unabhängige Gemeinden in einer Kommune etabliert wurden. Diese können zwar nach außen gut vernetzt sein, aber inneroder intrareligiöse Differenzen verhindern den Kontakt untereinander. Eine andere Möglichkeit für die Gemeinden, Beziehungen auch über größere Distanzen zu unterhalten, bieten moderne Kommunikationsmittel und soziale Netzwerke. Entsprechend ist bei einigen der untersuchten Gruppierungen in den letzten Jahren ein Anstieg der virtuellen Vernetzung zu verzeichnen. Auf diese Weise können auch transnationale Netzwerke stabilisiert und ausgeweitet werden. Sie können dabei helfen, mit der Zersiedlung im Rahmen des Migrationsprozesses (z.B. durch Flüchtlingskontingente) umzugehen. So kommunizieren junge tamilische Hindus europaweit in eigenen Foren miteinander. Die SyrischOrthodoxe Kirche unterhält eigene Videoportale, auf denen ihre Mitglieder in Deutschland, Schweden und den Niederlanden Gottesdienste in der syroaramäischen Sprache verfolgen können. Neo-Muslime wiederum nutzen das Internet als Kommunikationsplattform, um bundesweit miteinander neue Projekte zu konzipieren, oder als Ressource, um sich abseits von Moscheegemeinden theologisch weiterzubilden. Auch das Heiratsverhalten der Anhänger kann sich auf die zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden auswirken. Bei einigen Gruppen lässt sich eine ausgeprägte Neigung zu Eheschließungen im religiösen und ethnischen Nahraum ausmachen (Endogamie). Im Hintergrund können dabei z.B. ein Minderheitenhabitus und der damit verbundene Wunsch zur Traditionspflege stehen (s.o.), etwa bei den syrisch-orthodoxen Christen und mit Einschränkungen bei den russlanddeutschen Mennoniten. In anderen Fällen kann Endogamie aber auch im theologischen Selbstverständnis verwurzelt sein. Beispiele dafür sind das Kastenwesen der Yeziden und der tamilischen Hindus. Als Kontrastfall können in unserem Sample die thailändischen Buddhisten gelten, bei denen binationale (deutsch-thailändische) Eheschließungen die Regel und die Heirat ein wesentliches Migrationsmotiv ist. Diese Konstellation wirkt sich maßgeblich auf die Angebote der buddhistischen Gemeinden aus: Migrationsbedingte Unterstützung wird hier primär im Nahraum der Familie erbracht, die Gemeinden beschränken sich hingegen auf die Religions- und Kulturpflege. Ein nicht zu unterschätzender Einflussfaktor für die zivilgesellschaftlichen Potentiale der untersuchten Religionsgemeinschaften ist schließlich die ökonomische Situation ihrer Mitglieder. Diese hängt ganz wesentlich mit der jeweiligen Migrationsgeschichte zusammen: Muslime, syrisch-orthodoxe Christen und

254 | A LEXANDER-K ENNETH N AGEL/ULF P LESSENTIN Angehörige koreanischer Freikirchen sind vornehmlich über zwischenstaatliche Anwerbeabkommen als „Gastarbeiter“ nach Deutschland gekommen. Andere, wie tamilische Hindus sowie teilweise Yeziden und syrisch-orthodoxe Christen, waren Flüchtlinge und erhielten Asyl. Russlanddeutsche Mennoniten wiederum haben als Spätaussiedler einen anderen Status und thailändische Buddhisten sind im Rahmen binationaler Eheschließungen eingewandert. Als ehemalige „Gastarbeiter“ waren Muslime sowie teilweise auch Yeziden und syrisch-orthodoxe Christen v.a. in den unteren Segmenten des deutschen Arbeitsmarktes beschäftigt. Angesichts vergleichsweise geringer Löhne und eines erhöhten Arbeitslosigkeitsrisikos sind ihre finanziellen Möglichkeiten stark begrenzt. Auch der sozioökonomischen Aufwärtsmobilität von tamilischen Hindus, russlanddeutschen Mennoniten und koreanischen Migranten sind, zumindest in der Einwanderergeneration, enge Grenzen gesetzt. Diese Situation wirkt sich gravierend auf das Gemeindeleben aus: Die meisten Migrantengemeinden verfügen nicht über die finanziellen Ressourcen, um neben den religiösen Spezialisten (Imame, Priester etc.) weiteres Personal zu beschäftigen. Ein Großteil der Angebote wird ehrenamtlich erbracht, etwa im Bereich der Jugend- oder Bildungsarbeit. Diese kostenlosen Angebote sind an konkreten Bedürfnissen der Gemeindemitglieder orientiert und dienen traditionell dem Ausgleich migrationsbedingter Nachteile. Die ökonomische Situation beeinflusst indes nicht nur die Angebote sondern auch die Vernetzungsoptionen der Gemeinden. Um ihren finanziellen Handlungsspielraum zu erweitern, gehen Migrantengemeinden unterschiedliche Vernetzungen ein. Dies betrifft zum einen die Zusammenarbeit mit anderen Gemeinden der gleichen Traditionslinie, etwa im Rahmen von Dachverbänden (v.a. türkische Moscheegemeinden) oder der Zusammenlegung von Ressourcen mehrerer Gemeinden für religiöse Feierlichkeiten (thailändische Buddhisten). Im intrareligiösen Bereich sind hier zudem die vielfältigen finanziellen und geldwerten Zuwendungen der Amtskirchen an christliche Migrantengemeinden sowie verbandsübergreifende Spenden für die Errichtung repräsentativer Moscheen zu nennen. Im außerreligiösen Bereich kommt es vor, dass Moscheegemeinden als Partner für Projekte in der Jugendarbeit firmieren und dafür zweckgebundene Zuwendungen seitens kommunaler oder freier Träger erhalten. Die ökonomische Ausstattung der Religionsgemeinschaften ist auch für die Anmietung oder den Erwerb von Moscheen, Kirchen und Tempeln zentral. Bei mehreren Migrantengemeinden ist zu beobachten, dass sie erst nach Jahrzehnten im Aufnahmeland eine sichtbare religiöse Infrastruktur aufbauen. Dafür sind neben erloschenen Rückkehrhoffnungen (s.o.) auch ökonomische Aspekte maßgeblich: Erst die Etablierung fester Gemeindestrukturen und die Kalkulierbarkeit

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von Mitgliederbeiträgen machen derartige Planungen möglich. Die meisten Gemeinden sind derzeit als Vereine organisiert und erheben regelmäßige Mitgliederbeiträge. Den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts hat von den untersuchten Religionsgemeinschaften bislang nur der Trägerverein des tamilischen Sri-Kamadchi-Ampal-Tempels in Hamm zugesprochen bekommen. Auch einige muslimische Verbände und die Syrisch-Orthodoxe Kirche streben den Körperschaftsstatus an, allerdings geht ein Wechsel der Rechtsform nicht automatisch mit einer Verbesserung der finanziellen Ausstattung einher. Eine Entspannung der finanziellen Situation versprechen hingegen der Bildungsaufstieg und die besseren Arbeitsmarktchancen der Folgegenerationen. Dies zeichnet sich besonders bei den tamilischen Hindus, Angehörigen koreanischer Freikirchen sowie in neo-muslimischen Gruppen ab. Allerdings sind die Vertreter dieser Generationen teilweise noch zu jung, um das Gemeindeleben finanziell abzusichern.

Ö FFENTLICHE D ISKURSE Die religiösen Migrantengemeinden in unserem Sample werden öffentlich ganz unterschiedlich wahrgenommen. Dabei hat sich v.a. ihre eigene Interpretation des öffentlichen Diskurses als wirkmächtig für ihre zivilgesellschaftlichen Potentiale erwiesen. So sehen sich Vertreter von Moscheegemeinden und neomuslimischen Netzwerken übereinstimmend einem Gefährdungsdiskurs gegenüber dem Islam ausgesetzt, der sie unter gesellschaftliche Beobachtung stellt und in Zugzwang bringt. Eine typische Reaktion von Moscheegemeinden besteht in diesem Zusammenhang darin, den Umfang und die Nützlichkeit ihrer Angebote zu akzentuieren. Zudem kultivieren sowohl moscheebasierte Muslime als auch Neo-Muslime zahlreiche Beziehungen im inter- und außerreligiösen Kontext. Dazu gehören z.B. Tage der offenen Tür und andere interreligiöse Aktivitäten ebenso wie die Mitwirkung in gesellschaftlichen Projekten und politischen Gremien. Im Unterschied zu den Muslimen ist die öffentliche Meinung gegenüber syrisch-orthodoxen Christen, koreanischen Freikirchen und, mit gewissen Einschränkungen, auch gegenüber russlanddeutschen Mennoniten und Yeziden durch einen Affinitätsdiskurs geprägt, der auf der Annahme einer prinzipiellen Übereinstimmung der genannten Gruppen mit den Werten der Aufnahmegesellschaft beruht. Die christlichen Migrantengemeinden werden entweder (wie im Fall der koreanischen Freikirchen) gar nicht thematisiert oder sie gelten (wie im Fall der syrisch-orthodoxen Christen) aufgrund ihrer Situation in den ursprüngli-

256 | A LEXANDER-K ENNETH N AGEL/ULF P LESSENTIN chen Herkunftsgebieten als besonders unterstützungsbedürftig. Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang die Yeziden, die nunmehr gezielt ihre religiöse Ähnlichkeit zur Aufnahmegesellschaft herausstellen, indem sie z.B. theologische Parallelen zum Christentum öffentlich unterstreichen. Bei den christlichen Migrantengemeinden findet der Affinitätsdiskurs einen unmittelbaren Niederschlag in einer ausgeprägten intrareligiösen Vernetzung, z.B. im Rahmen einer Zusammenarbeit mit den Amtskirchen oder freikirchlichen Verbänden. Interund außerreligiöse Beziehungen kommen dagegen kaum vor, wenn man von der intensiven politischen Arbeit syrisch-orthodoxer Christen einmal absieht. Eine Ausnahme stellen hier die Yeziden dar, die sowohl im interreligiösen als auch im außerreligiösen Bereich gut vernetzt sind. Tamilische Hindus und thailändische Buddhisten schließlich unterliegen tendenziell einem Exotisierungsdiskurs. Anders als die christlichen Migrantengemeinden werden sie zwar durchaus öffentlich thematisiert, im Unterschied zu muslimischen Gruppen überwiegt dabei aber ein wohlwollendes Interesse. Beide Gruppierungen reagieren auf diese positive Wahrnehmung, indem sie in interund außerreligiösen Kontexten ihre religiösen Traditionen und Gebräuche darstellen. Insgesamt lässt sich ihr Vernetzungsmodus indes am besten als zurückhaltende Offenheit charakterisieren. Zwar reagieren die Gemeinden auf Anfragen der Aufnahmegesellschaft, zeichnen sich aber zugleich auch durch ein gewisses Desinteresse an interreligiöser Begegnung und der Mitgestaltung ihres gesellschaftlichen und politischen Umfeldes aus. Gründe dafür lassen sich bei den thailändischen Buddhisten im theologischen Selbstverständnis finden, welches den Mönchen nahelegt, weltliche Verstrickungen zu meiden. Bei den tamilischen Hindus mag der spezifische Migrationskontext (staatlich autorisierte Diskriminierung) eine Rolle spielen. Mit Ausnahme der russlanddeutschen Mennoniten stellen alle in diesem Band untersuchten Gemeinden ihre Religion einer interessierten Öffentlichkeit vor, sei es bei interreligiösen Veranstaltungen oder im Kontakt mit außerreligiösen Institutionen wie Schulen, Gewerkschaften oder Parteiverbänden. Dieser nach außen gerichtete Wissenstransfer geschieht zunächst ganz unabhängig davon, ob das Bild der Religionsgemeinschaft in der Öffentlichkeit durch Gefährdungs-, Affinität- oder Exotisierungsdiskurse bestimmt wird. Allerdings beeinflusst die Ausrichtung dieser Diskurse die Schwerpunktsetzung in den jeweiligen Darstellungen: Syrisch-orthodoxe Christen betonen – trotz historischer Differenzen und der fast durchgängig getrennten Entwicklung – theologische Übereinstimmungen mit dem lateinischen Christentum der Amtskirchen und bestärken auf diese Weise ihrerseits den öffentlichen Affinitätsdiskurs. Yeziden versuchen ihre weitgehend unbekannte Religion vorzustellen und ggf. historische Vorurtei-

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le auszuräumen. Muslimische Dachverbände und Neo-Muslime dagegen reagieren auf den Gefährdungsdiskurs, indem sie die Friedfertigkeit des Islam unterstreichen und sich von Strömungen wie dem Salafismus abgrenzen. Buddhisten und Hindus fokussieren in ihren öffentlichen Selbstdarstellungen eher theologische Inhalte und traditionelle rituelle Praktiken – und bedienen damit bestehende Exotisierungsdiskurse. Wichtig im Hinblick auf die zivilgesellschaftlichen Potentiale ist, dass diese Form der öffentlichen Selbstauskunft auch die allgemeine Sprachfähigkeit der Migrantengemeinden widerspiegelt. Die Gemeinden versuchen proaktiv, Fremdbilder zu beeinflussen und Vorurteilen entgegenzuwirken. Diese Fähigkeit zur Selbstartikulation ist bedeutsam, um als Akteur der Zivilgesellschaft überhaupt wahrgenommen zu werden. Darüber hinaus lässt sich beobachten, dass einige nichtmuslimische Migrantengemeinden den Gefährdungsdiskurs gegenüber dem Islam tendenziell unterstützen. Gerade christliche Migrantengemeinden sehen die mitteleuropäische Aufnahmegesellschaft als christlich geprägt an und fühlen sich deshalb als religiös zugehörig. Diese kulturelle Zurechnung der Aufnahmegesellschaft zum „christlichen Abendland“ geht teilweise mit deutlichen Abgrenzungen gegenüber Muslimen einher. Die Tatsache, dass (wahrgenommene) Gefährdungsdiskurse zur Aktivierung von zivilgesellschaftlichen Potentialen führen können, mag auf den ersten Blick überraschend erscheinen. In der Tat haben frühere Untersuchungen eher vor einem negativen Kreislauf aus Stigmatisierung, Resignation und Abschließung gewarnt (vgl. Baumann 2004: 26f.). Die Ergebnisse des vorliegenden Bandes stützen hingegen die Annahme, dass eine gewisse gesellschaftliche Observanz und Ansprache förderlich für die produktive Beteiligung religiöser und anderer Minderheitengruppen sein kann. Sie erlauben allerdings keine Aussage darüber, wie eine solche Ansprache zu gestalten ist. Die Frage nach der richtigen Mischung aus Forderungen und Förderung stellt vielmehr ein eigenständiges Forschungsprogramm dar.

O RGANISATIONALES F ELD Schließlich, aber nicht zuletzt, haben organisationale Felder die Angebote und Vernetzung religiöser Migrantengemeinden in unterschiedlicher Art und Weise mitbestimmt. Für das organisationale Feld haben sich insbesondere Zentralisierungsprozesse sowie die transnationale Konstellation als relevant erwiesen. Im organisationalen Feld der meisten untersuchten Gruppen lassen sich Prozesse von Zentralisierung und Konsolidierung ausmachen. Bei den moscheeba-

258 | A LEXANDER-K ENNETH N AGEL/ULF P LESSENTIN sierten Muslimen und den syrisch-orthodoxen Christen kommt dies v.a. in der Formierung nationaler Dachverbände bzw. in der Schaffung von Bistümern zum Ausdruck. Daneben spricht die Etablierung von intrareligiösen Zusammenschlüssen wie dem Zentralrat der Muslime (ZMD) und dem Zentralrat Orientalischer Christen in Deutschland (ZOCD) für eine Zentralisierung, da sich hier die Spitzen von Dachverbänden bzw. die Leitungsebenen verschiedener Kirchen zusammenschließen. Auch bei den Yeziden sind erste Schritte in Richtung Zentralisierung zu beobachten: Es bestehen zwei miteinander konkurrierende bundesdeutsche Dachverbände. Bei den koreanischen Freikirchen wird die Zentralisierung von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und einigen Landeskirchen gezielt vorangetrieben: An die Stelle einer dezentralen Alimentierung und Unterstützung einzelner Gemeinden sind in letzter Zeit vermehrt Aktivitäten zur Bündelung und Vernetzung evangelischer Migrationskirchen getreten. Ein gutes Beispiel dafür ist die Gründung des Internationalen Kirchenkonvents (Rheinland Westfalen), in dem die vormaligen „Listengemeinden“ zusammengeschlossen sind.2 Im Unterschied dazu stellt sich das organisationale Feld bei tamilischen Hindus und thailändischen Buddhisten deutlich fraktionierter dar. Hier überwiegen regionale Schwerpunktgemeinden sowie eine Arbeitsteilung bzw. ein Wettbewerb zwischen einzelnen Standorten. Aus der beschriebenen Zentralisierung können sich unterschiedliche Impulse zur Vernetzung sowie Herausforderungen für das Angebot der betroffenen Gemeinden ergeben. Der Zusammenschluss in einem übergeordneten Verband kann eine Gruppe inter- und außerreligiös sprachfähig machen (s.o.). Beispiele dafür sind etwa die Öffentlichkeitsarbeit und die Einsetzung von Dialogbeauftragten durch islamische Verbände wie DITIB und VIKZ. Zudem können die Mitgliedsgemeinden auf verschiedene Beratungs- und Unterstützungsangebote der Verbände zurückgreifen, wenn z.B. eine repräsentative Moschee errichtet werden soll. Unter Umständen kann die Verbandszugehörigkeit Vernetzungen aber auch beschränken, wie es etwa bei einigen IGMG-Gemeinden der Fall war, denen angesichts der Beobachtung des Verbandes durch den Verfassungsschutz die Pflege inter- und außerreligiöse erschwert wurde. Die Auswirkungen der Zentralisierung auf das Angebot zeigen sich besonders drastisch bei den koreanischen Freikirchen. Hier hat die sukzessive Verringerung amtskirchlicher Alimentierung dazu geführt, dass einzelne Gemeinden ihre Angebote kaum mehr aufrechterhalten können und einen Zusammenschluss mit benachbarten koreanischen Gemeinden erwägen, um wirtschaftlich überle-

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Vgl. http://www.ekir.de/www/service/internationaler-kirchenkonvent-16916.php vom 15.10.2014.

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ben zu können. Als Reaktion auf die eingestellten Transferleistungen setzen diese Gruppen nunmehr wesentlich stärker auf die ehrenamtliche Mitarbeit ihrer Mitglieder. Es scheint, als ob die Alimentierung durch die Landeskirchen die Gemeinden zwar finanziell stabilisierte, zugleich aber das vorhandene Potential zur Selbstorganisation verdeckte. Eine weitere Dimension der organisatorischen Zentralisierung ist die Verschiebung der Entscheidungsinstanzen. In den Jahren nach ihrer Ankunft in Deutschland waren es in erster Linie die Anhänger vor Ort, die die ersten religiösen Migrantengemeinden etablierten. Die so entstandenen lokalen Gemeinden waren überregional zumeist eher lose miteinander verbunden. Dieser Graswurzel-Ansatz steht in einer prinzipiellen Spannung zu den Zentralisierungstendenzen der vergangenen Jahre und zwar v.a. dann, wenn der Wunsch nach Zusammenschluss und Zentralisierung nicht aus der Gemeinde heraus kommt, sondern von außen an sie herangetragen wird. Die Zentralisierung des organisationalen Feldes ist zum Teil eng verbunden mit einem angestrebten Wandel der Rechtsform religiöser Migrantengemeinden. So streben einige Gruppierungen (v.a. muslimische Verbände, SyrischOrthodoxe Kirche, teilweise Yeziden) den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an. Zur Erinnerung: Außer dem Trägerverein des tamilischen SriKamadchi-Ampal-Tempels in Hamm sind alle untersuchten Religionsgemeinschaften privatrechtlich in Form eingetragener Vereine (e.V.) organisiert. Das bedeutet konkret, dass die Belange der Gemeinde von Vorständen geregelt werden, die durch die Gemeindemitglieder gewählt werden. Diese Binnendemokratisierung geht Hand in Hand mit religiösen Laisierungsprozessen in einzelnen Gemeinden und kann sich förderlich auf die Fähigkeit zur Selbstorganisation und das Mobilisierungspotential auswirken. Zugleich kann sich die Vereinsform als Herausforderung für Religionsgemeinschaften erweisen, die traditionell (patriarchal oder charismatisch) strukturiert sind. Neben die religiösen Autoritäten (etwa die Pîrs und Sheiks bei den Yeziden) oder Virtuosen (z.B. buddhistische Mönche) treten nun formal andere Leitungspositionen. Dabei bildet sich nicht selten eine Arbeitsteilung zwischen einem geistlichen und einem weltlichen Vorstand heraus. Die möglichen Auswirkungen des Körperschaftsstatus auf die zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden bleiben einstweilen im Bereich des Spekulativen. Sie werden im abschließenden Ausblick noch einmal pointiert aufgegriffen. Neben der organisatorischen Zentralisierung und ihren rechtlichen Aspekten hat sich im Einzelfall auch die transnationale Konstellation religiöser Migrantengemeinden als relevant für ihre Angebote und Vernetzung erwiesen. Viele Gemeinden unterhalten mehr oder weniger ausgeprägte Beziehungen zu religiösen Organisationen und Autoritäten aus den jeweiligen Herkunftsgebieten oder

260 | A LEXANDER-K ENNETH N AGEL/ULF P LESSENTIN stehen im Austausch mit anderen Diaspora-Standorten. Diese grenzüberschreitenden Beziehungen umfassen etwa die Einladung religiöser Spezialisten (z.B. Kulthandwerker bei den tamilischen Hindus und Pastoren bei den koreanischen Freikirchen). Zudem zeichnen sich evangelikale und neo-muslimische Gemeinden häufig durch globale Anstrengungen im Bereich Entwicklungsarbeit aus. Diese werden von den freikirchlichen Akteuren ausdrücklich in den Kontext von Evangelisierung und Mission gestellt. Andere Gruppen wie die SyrischOrthodoxe Kirche sowie die Moscheevereine der DITIB verstehen sich ausdrücklich als trans- oder multinationale Organisationen. Eine ausgeprägte Diaspora-Orientierung findet sich schließlich bei den Yeziden und russlanddeutschen Mennoniten. Für beide Gruppierungen lässt sich aufgrund von historischen und aktuellen Wanderungsbewegungen kein klares Zentrum mehr ausmachen. Stattdessen stehen die verschiedenen Diaspora-Gemeinden in Amerika und Europa (Mennoniten) bzw. in Deutschland und Skandinavien (Yeziden) in regem Austausch miteinander. Die unterschiedlichen transnationalen Konstellationen wirken sich auch auf die Vernetzung der Gemeinden im Aufnahmeland aus. Dabei ist bemerkenswert, dass sich v.a. die etablierten trans- oder multinationalen Organisationen in Deutschland aktiv intra-, inter- und außerreligiös vernetzen. Dies steht im Kontrast zu der verbreiteten Befürchtung einer Fremdsteuerung grenzüberschreitender religiöser Migrantenorganisationen und einer damit verbundenen Skepsis gegenüber der Bereitschaft, sich produktiv in die Aufnahmegesellschaft einzubringen. Dabei hat Kerstin Rosenow für die DITIB gezeigt, dass gerade die Unterstellung einer zu starken Orientierung auf das Herkunftsland als Anreiz zur Vernetzung im Aufnahmeland dienen kann (vgl. Rosenow 2010). Unsere Ergebnisse stützen diese Beobachtung und verweisen zugleich auf die Wechselwirkung zwischen transnationaler Konstellation, der Migrationsgeschichte und öffentlichen Diskursen: So gelten grenzüberschreitende muslimische Organisationen in der deutschen Öffentlichkeit tendenziell als Integrationshemmnis und stehen stärker unter Beobachtung als die ebenfalls international agierenden Kirchen. Während etwa Muslime der transnational organisierten DITIB auf solche Verdachtsmomente reagieren, indem sie sich inter- und außerreligiös aktiv vernetzen, um ihre Zuwendung zur Aufnahmegesellschaft zu unterstreichen, gesteht man syrisch-orthodoxen Christen bewusst die Verbindung zur Herkunftsregion zu und lädt sie ein, als Anwälte für ihre dort verbliebenen Glaubensschwestern und -brüder aufzutreten. Neben der Vernetzung wird auch das Angebot religiöser Migrantengemeinden durch ihre transnationale Konstellation zum Teil maßgeblich geprägt. Ein gutes Beispiel dafür sind die koreanischen Freikirchen, die einen stetigen Zu-

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strom von Geschäftsleuten und Studierenden aus dem Herkunftsland verzeichnen. Auf diese Weise bleiben Bedürfnislagen akut, die in anderen Gruppierungen durch den Generationenwechsel (z.B. tamilische Hindus) oder die sozialstrukturelle Zusammensetzung (z.B. thailändische Buddhisten) entfallen, etwa Ämterhilfe und die allgemeine Orientierung im Aufnahmeland.

F AZIT

UND

AUSBLICK

Am Anfang unserer Arbeit stand die Vermutung, dass sich akademische und gesellschaftspolitische Debatten über Religion und Migration durch eine doppelte Leerstelle auszeichnen: Wo Einwanderung als Ressource thematisiert wird, z.B. im Kontext von Arbeitsmigration, bleiben religiöse und kulturelle Aspekte außen vor. Wo aber Religionsgemeinschaften thematisiert werden, kommen sie zumeist als Herausforderung oder temporäre Zufluchtsorte in den Blick. Zwar gibt es vereinzelt – gerade in der fachpolitischen Debatte – einen Blick auf die gesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden, allerdings zeichnen sich entsprechende Beiträge eher durch eine Aufnahme und Aufzählung von Angeboten als Entsprechung zu sozialstaatlichen Leistungen aus.3 Dabei werden Fragen der Vernetzung und öffentlichen Orientierung ebenso wenig fokussiert wie die zahlreichen kausalen Mechanismen, welche Religionsgemeinschaften zivilgesellschaftlich produktiv machen können. Hier setzt der vorliegende Band an und liefert eine fallbezogene sowie exemplarische Darstellung der vielfältigen Vernetzungsformen religiöser Migrantengemeinden. Zugleich bietet er Aufschlüsse über kausale Mechanismen zwischen verschiedenen Einflussfaktoren und den Angeboten und Vernetzungen der Gemeinden. Abseits der religions- und sozialwissenschaftlichen Grundlagenforschung ergeben sich daraus auch Anfragen in Richtung der politischen „Behandlung“ religiöser Migrantenorganisationen. Dabei wäre es unserer Ansicht nach verfehlt und auch vermessen, an dieser Stelle mit konkreten politischen Handlungsempfehlungen aufzuwarten. Dennoch möchten wir abschließend einige Denkanstöße notieren, indem wir relevante Ergebnisse noch einmal thesenartig zuspitzen:

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Vgl. dazu die Handreichung für religionsübergreifende Foren (IOM 2013) sowie den Report der Bundesministerin für Migration von 2012 (Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2012: 332ff.).

262 | A LEXANDER-K ENNETH N AGEL/ULF P LESSENTIN Erstens: Die zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden sind nur begrenzt steuerbar. Sie unterliegen starken Eigendynamiken. Wie in der Einleitung angesprochen, wird Zivilgesellschaft häufig in mehr oder weniger strenger Gegenüberstellung zum Staat definiert. Insofern ist es durchaus eine Grundsatzfrage, ob sich zivilgesellschaftliches Engagement überhaupt staatlich steuern und aktivieren lässt und ob entsprechende Interventionen wünschenswert sind. Abseits von diesen prinzipiellen Erwägungen weisen unsere Ergebnisse allerdings darauf hin, dass die zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden häufig auf internen Eigendynamiken und Entwicklungen beruhen, die sich externer Einflussnahme ganz oder teilweise entziehen. Ein Beispiel dafür sind Vernetzungen und ein Wandel des Angebotsspektrums, die sich aus einem Generationswechsel in den Gemeinden ergeben. Ein weiteres Beispiel sind Entwicklungen in den Herkunftsländern, seien es politische Umbrüche, wie der Arabische Frühling oder die Neuordnung Ex-Jugoslawiens, oder humanitäre sowie Naturkatastrophen, die eine verstärkte kollektive Orientierung auf die Aufnahmegesellschaft (erloschene Rückkehrhoffnung) oder die Herkunftsländer nach sich ziehen können (Nothilfe, politischer Gestaltungswille). Dass sich diese Prozesse nicht von außen anstoßen lassen, bedeutet freilich nicht, dass man sie nicht begleiten und mitgestalten kann. Mögliche Instrumente wären etwa spezifische Bildungsmaßnahmen für die neue Leitungsgeneration, die z.B. auch religionsübergreifend durchgeführt werden könnten. Zweitens: Die zentrale Stellschraube zur Aktivierung der zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden gibt es nicht. Diese Feststellung mag auf den ersten Blick trivial anmuten, steht aber im Kontrast zu durchaus verbreiteten monokausalen Vermutungen über die Gründe für eine Öffnung oder Abschließung. Bislang galten v.a. die schlechte sozioökonomische Ausstattung und die Stigmatisierung von Migrantenselbstorganisationen als Hindernisse für ihre gesellschaftliche Mitwirkung. Im Umkehrschluss schienen sich finanzielle Unterstützung und symbolische Anerkennung als zentrale Förderungsinstrumente anzubieten (vgl. exemplarisch Satilmis 2008). Unsere Untersuchung macht deutlich, dass es fast immer Ursachenbündel sind, die zur Herausbildung bestimmter Angebote und Vernetzungen führen. Ein Beispiel dafür ist das Zusammenwirken von Migrationsgeschichte (erloschene Rückkehrhoffnungen) und Demographie (Alterung) bei einer kommunalen Vernetzung zur Einrichtung eines Gräberfeldes. Um Missverständnisse zu vermeiden: Finanzielle Unterstützung und Empowerment können probate Instrumente und Anreize sein, um die Handlungsfähigkeit religiöser Migrantenorganisation zu stärken. Darüber hinaus erscheint es allerdings ratsam, sich über andere Möglichkeiten

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der Unterstützung und Begleitung Gedanken zu machen. Dazu gehört insbesondere die Institutionalisierung des Kontakts zwischen den Gemeinden und Entscheidungsträgern aus Politik und Verwaltung, z.B. in Form von Kontaktbeauftragten oder Quartiersmanagern. Drittens: Der Körperschaftsstatus ist kein integrationspolitisches Allheilmittel und kann zivilgesellschaftliche Potentiale hemmen. Lange Zeit galt der Status einer Körperschaft öffentlichen Rechts als Ideal für religiöse Migrantenorganisationen. Integrationspolitisch stand er für Einbindung, Handhabbarkeit, Professionalisierung und Kontinuität. Die Gemeinden versprachen sich eine gesicherte Finanzierung, eine Ausweitung und Absicherung ihrer Handlungsspielräume sowie nicht zuletzt eine symbolische Aufwertung und Gleichstellung mit den etablierten Kirchen. Dabei waren politische und akademische Debatten über den Körperschaftsstatus von Anfang an durch Fragen der Machbarkeit bestimmt: Können sich die Muslime verbandlich einheitlich formieren? Bietet der Trägerverein des großen Hindutempels in Hamm die Gewähr der Dauer? Entspringen die aus der Weimarer Reichsverfassung entlehnten Kriterien einer spezifisch christlichen Denkart? All diese Fragen haben ihre Berechtigung – sofern man denn den Status als Körperschaft öffentlich Rechts als allgemein wünschenswert für religiöse Migrantenorganisationen erachtet. Genau daran nähren unsere Ergebnisse allerdings gewisse Zweifel: Zum einen hat sich gezeigt, dass im Migrationskontext oft gerade solche Gruppen einen Mobilisierungsvorsprung haben, die im Herkunftsland einer religiösen oder ethnischen Minderheit angehörten. Eine mögliche Folge davon ist, dass ehedem kleine oder randständige Gruppen durch den Körperschaftsstatus zu prominenten Vertretern ihrer religiösen Tradition werden. Ein Beispiel dafür ist die Ahmadiyya Muslim Jamaat in Hessen, die im Rahmen eines Pilotversuchs bekenntnisorientierten Unterricht im Fach Islam erteilt. Zum anderen, und für unseren Zusammenhang maßgeblicher, könnte die öffentliche Einbindung als Körperschaft sich lähmend auf die zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden auswirken. Ein Beispiel dafür ist der Mobilisierungsschub einiger koreanischer Gemeinden nach dem Wegfall der amtskirchlichen Bezuschussung. Für Entscheidungsträger aus Politik und Verwaltung folgt daraus, mit der Organisations- und Formenvielfalt religiöser Migrantengemeinden leben zu lernen. Der Umgang mit der intrareligiösen Diversität dieser Gemeinden ist eben nicht nur eine Bringschuld, sondern unter Umständen auch eine öffentliche Aufgabe. Mögliche Instrumente dafür wären Konsultationen und gemeinsame, z.B. stadtteilbezogene, Veranstaltungen sowie ein systematisches und kontinuierliches Monitoring.

264 | A LEXANDER-K ENNETH N AGEL/ULF P LESSENTIN Viertens: Öffentliche Diskurse können eine paradoxe Wirkung haben: Gefährdungsdiskurse können aktivieren, Exotisierungsdiskurse können lähmen. Die Fallstudien zeigen, dass öffentliche Diskurse über verschiedene Religionsgemeinschaften einen maßgeblichen Einfluss auf ihre Angebote sowie v.a. auf Art und Umfang ihrer Vernetzung haben. Dabei zeigen sich allerdings immer wieder paradoxe Effekte: Anders als zunächst vermutet, münden Gefährdungsdiskurse (etwa mit Blick auf den Islam) nicht notwendig in einen negativen Kreislauf von Stigmatisierung, Resignation und Abgrenzung. Stattdessen können sie als Herausforderung zu Aufklärung und Positionierung empfunden werden und damit inter- und außerreligiöse Vernetzungen im Bereich Wissenstransfer und Interessenvertretung begünstigen. Umgekehrt können Exotisierungsdiskurse zivilgesellschaftliche Teilhabe lähmen, und zwar in erster Linie dann, wenn sie wie bei den Buddhisten der Waldmönchtradition mit einem tendenziell weltabgewandten theologischen Selbstverständnis verbunden sind. Es wäre allerdings zynisch, aus der Beobachtung, dass Gefährdungsdiskurse aktivierend wirken können, eine integrationspolitische Handlungsmaßgabe herauszulesen. Andererseits macht das Beispiel der Buddhisten deutlich, dass ein symbolisches Empowerment durch die Kultivierung positiver Fremdbilder ebenfalls zu kurz greift. Wo aber liegen die politischen und administrativen Gestaltungsspielräume? Nach unserem Verständnis kann es keine Aufgabe der Integrationspolitik sein, öffentliche Diskurse über bestimmte Religionsgruppen gezielt zu beeinflussen. Stattdessen könnte man die Kommunikation zwischen staatlichen Stellen und religiösen Migrantengemeinden überdenken. Dabei könnten neben der öffentlichen Unterstützung auch bestimmte gesellschaftspolitische Erwartungen noch einmal verbindlicher kommuniziert und ggf. in konkreten Zielvereinbarungen festgehalten werden. Fünftens: Die transnationale Ausrichtung religiöser Migrantengemeinden ist der Regelfall und beeinträchtigt nicht ihre zivilgesellschaftlichen Potentiale im Aufnahmeland. Auch wenn immer wieder Kritik an den transnationalen Vernetzungen religiösen Migrantenorganisationen (sehr deutlich im Fall von Moscheegemeinden) geäußert wird – ihre grenzüberschreitende Ausrichtung ist keine Ausnahme, sondern der religionsgeschichtliche Normalfall. Zugespitzt formuliert: Religionsgemeinschaften sind als soziale Organisationen älter als die gegenwärtigen grenzziehenden Staatsformationen und die Idee des Nationalstaats, die das gängige Bild von Zivilgesellschaft entscheidend prägt. Insbesondere der innerreligiöse Austausch (ideell, materiell und personell) ist daher nicht an staatliche Grenzen gebunden. Entsprechend sollten grenzüberschreitende Angebote und Vernet-

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zungen weder als falsche Prioritäten noch als Verweigerung lokaler zivilgesellschaftlicher Einbindung verstanden werden. Denkbar wäre vielmehr, das internationale Engagement in den Bereichen Spenden und Entwicklungshilfe stärker zu würdigen und ggf. mit öffentlichen Drittmitteln, wie sie etwa die amtskirchlichen Hilfswerke erhalten, zu unterstützen. Auch eine Professionalisierung durch die Einbindung in bestehende Strukturen und regionale Projekte der Entwicklungszusammenarbeit erscheint in diesem Zusammenhang erwägenswert. In diesem Band ging es uns darum, eine potentialorientierte Perspektive auf religiöse Migrantengemeinden zu entwickeln und zu erproben. Dabei haben wir ein netzwerkanalytisches Modell zugrunde gelegt, mit dem sich die Angebote und Vernetzungen dieser Gemeinden differenziert beschreiben und in ihren teils komplexen Ursachenzusammenhängen verstehen lassen. Das gewählte qualitative Forschungsdesign und die religionsvergleichende Auswertung waren gut geeignet, um das Zusammenspiel zwischen zivilgesellschaftlichen Potentialen sowie internen und externen Einflussfaktoren genauer zu beleuchten. Zugleich zeichnet sich an verschiedenen Stellen weiterer Forschungsbedarf ab. Dies betrifft zunächst die Fallauswahl. Auch wenn einige der zahlenmäßig bedeutsamsten Migrationsgruppen berücksichtigt werden konnten, wäre die Untersuchung perspektivisch auch auf jüdische Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion sowie die muttersprachlichen Gemeinden innerhalb der RömischKatholischen Kirche auszuweiten. Aus systematischer Perspektive wäre es zudem interessant, dem spezifischen Sozialkapital „minderheitserfahrener“ religiöser Gruppen weiter nachzugehen. Hier würden sich afghanische Hindus, Angehörige der Ahmadiyya aus Südasien sowie alevitische Vereine als Untersuchungsgruppen anbieten. Ein zweiter Aspekt betrifft die Forschungslogik und Fragen der Generalisierung. Die Ergebnisse dieses Bandes sind verallgemeinerbar, insoweit sie typische Figurationen von Angeboten, Vernetzungen und Einflussfaktoren herausstellen. Eine quantitative Vermessung der zivilgesellschaftlichen Potentiale religiöser Migrantengemeinden sowie eine inferenzstatistische Überprüfung der identifizierten kausalen Mechanismen stehen indes noch aus. So wäre es etwa möglich, die Angebote verschiedener Gemeinden anhand bestehender Kataloge für Sozialleistungen in Euro und Cent umzurechnen und mit den in diesem Band benannten Einflussfaktoren in Beziehung zu setzen. Demgegenüber besteht ein dritter Ansatzpunkt für weitere religionswissenschaftliche oder sozialanthropologische Forschung genau darin, die scheinbar klare Konstellation von Ursache (Einflussfaktoren) und Wirkung (Angebote und Vernetzung) analytisch zu verflüssigen. Auf diese Weise kommen religiöse Transformationsprozesse in den Blick, die im vorliegenden Band durch

266 | A LEXANDER-K ENNETH N AGEL/ULF P LESSENTIN die funktionalistische Fragestellung eher außer Acht bleiben. Dazu gehören insbesondere Umbauten und Dynamiken im theologischen Selbstverständnis, etwa die Rückwirkung der Migrations- und Minderheitensituation auf die religiöse Solidarethik und Gemeinschaftskonzepte.

L ITERATUR Baumann, Martin (2004): „Religion und ihre Bedeutung für Migranten“, in: Beauftragte der Bundesregierung für Migration (Hg.), Religion – Migration – Integration in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, Berlin, S. 19-30. Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (2012): 9. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland (Juni 2012), Berlin. Online unter: http://www.bundesregie rung.de/Content/DE/_Anlagen/IB/2012-06-27-neunter-lagebericht.pdf?__blo b=publicationFile vom 15.10.2014. Internationale Organisation für Migration (IOM) (2013): Handreichung zu religions- und konfessionsübergreifenden Foren als Instrument der Integrationsförderung. Ergebnisse aus dem Projekt „REKORD“, Nürnberg. Online unter: http://germany.iom.int/sites/default/files/REKORD_downloads/20130610_FI NAL_IOM_Publikation_REKORDS_Online.pdf vom 15.10.2014. Rosenow, Kerstin (2010): „Von der Konsolidierung zur Erneuerung – Eine organisationssoziologische Analyse der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e.V. (DITIB)“, in: Ludger Pries/Zeynep Sezgin (Hg.), Jenseits von ‚Identität oder Integration‘. Grenzen überspannende Migrantenorganisationen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 169-200. Satilmis, Ayla (2008): „Chancen und Grenzen interreligiöser und interkultureller Dialoge“, in: Gritt Klinkhammer/Ayla Satilmis (Hg.), Interreligiöser Dialog auf dem Prüfstand. Kriterien und Standards für die interkulturelle und interreligiöse Kommunikation, Münster: Lit Verlag, S. 101-140. Internetseiten http://www.ekir.de/www/service/internationaler-kirchenkonvent-16916.php vom 15.10.2014.

Autorinnen und Autoren

Frederik Elwert, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) der Ruhr-Universität Bochum. Er koordiniert das Projekt „Semantisch-soziale Netzwerkanalyse als Instrument zur Erforschung von Religionskontakten“ (SeNeReKo). Seine Forschungsschwerpunkte sind Religion, Migration und Integration, Evangelikalismus in Deutschland sowie Methoden der „digital humanities“ in der Religionswissenschaft. Sandya Marla-Küsters, Dr. phil., promovierte im Rahmen der Nachwuchsforschergruppe „Religion vernetzt“ am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) der Ruhr-Universität Bochum zur religiösen Sozialisation tamilischer Hindus zweiter Generation. Weitere Interessengebiete umfassen die Migrationsforschung, die qualitative Religionsforschung und die interkulturelle Kommunikation. Karin Mykytjuk-Hitz, lic. rer. soc., promoviert in der Nachwuchsforschergruppe „Religion vernetzt“ am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) an der Ruhr-Universität Bochum zum Thema sozial, zivilgesellschaftlich und politisch engagierte Muslime in Deutschland. Darüber hinaus arbeitet sie in der Arbeitsgruppe für Empirische Religionsforschung (AGER) an der Universität Bern zu den Themen Religion, Migration und Gesundheit. Alexander-Kenneth Nagel, Dr. rer. pol., ist Professor für Sozialwissenschaftliche Religionsforschung am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) der Ruhr-Universität Bochum und war Leiter der Nachwuchsforschergruppe „Religion vernetzt“. Seine Forschungsschwerpunkte sind Religion und Migration, interreligiöse Kontakte in modernen Einwanderungsgesellschaften sowie Religion und Sozialpolitik.

268 | R ELIGIÖSE N ETZWERKE Ulf Plessentin, M.A., war wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Nachwuchsforschergruppe „Religion vernetzt“. Am Käte Hamburger Kolleg „Dynamiken der Religionsgeschichte“ des Centrums für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) ist er für den Bereich Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Als Religionswissenschaftler forscht er zu den Themen Religion und Migration, Religionsgemeinschaften als politische Akteure sowie religiöser und weltanschaulicher Pluralismus. Nelly Caroline Schubert, Dipl. Soz.-Wiss., promoviert in der Nachwuchsforschergruppe „Religion vernetzt“ des Centrums für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) zur Zusammenarbeit religiöser Migrantenorganisationen auf kommunaler Ebene. Weitere Interessengebiete sind soziale und symbolische Grenzziehungsprozesse sowie kultur- und organisationssoziologische Theorien. Piotr Suder, Dipl. Soz.-Wiss., promoviert in der Nachwuchsforschergruppe „Religion vernetzt“ des Centrums für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) zum Thema repräsentative Moscheen und kommunale Netzwerke. Weitere Interessengebiete sind deutsche Integrationspolitik und die Etablierung von ethnischen und religiösen Minderheiten im städtischen Kontext. Sabrina Weiß, Dr. phil., promovierte in der Nachwuchsforschergruppe „Religion vernetzt“ am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) der Ruhr-Universität Bochum zum Thema Migrantenkirchen im Wandel. Neben dem Forschungsschwerpunkt Migration und Religion erforscht sie materiale Religion anhand moderner Sakralarchitektur und raumbezogener Gesellschaftsfragen. Thorsten Wettich, M.A., promoviert im Fach Kulturanthropologie an der Georg-August-Universität Göttingen zum Thema „Transformationsprozesse der yezidischen Gemeinde in Niedersachsen“. Er ist Mitglied der Nachwuchsgruppe Religionswissenschaft und arbeitet am gleichnamigen Lehrstuhl. Weitere Interessen betreffen die Migration aus der Türkei nach Europa und anthropologische Methodologie. Ann-Kathrin Wolf, M.A., promoviert zum Thema „Buddhistische Historiographie und ihre Interaktion mit Reliquienorten“. Zu ihren Interessengebieten gehören u.a. buddhistische Manuskriptkulturen, die materielle buddhistische Kultur und Sterbepraktiken im Buddhismus.

Kultur und soziale Praxis Marcus Andreas Vom neuen guten Leben Ethnographie eines Ökodorfes März 2015, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2828-9

Gesine Drews-Sylla, Renata Makarska (Hg.) Neue alte Rassismen? Differenz und Exklusion in Europa nach 1989 März 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2364-2

Jörg Gertel, Rachid Ouaissa (Hg.) Jugendbewegungen Städtischer Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt Juli 2014, 400 Seiten, Hardcover, zahlr. z.T. farb. Abb., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-2130-3

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Kultur und soziale Praxis Martina Kleinert Weltumsegler Ethnographie eines mobilen Lebensstils zwischen Abenteuer, Ausstieg und Auswanderung Dezember 2014, 364 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2882-1

Marion Schulze Hardcore & Gender Soziologische Einblicke in eine globale Subkultur Februar 2015, ca. 400 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2732-9

Nadja Thoma, Magdalena Knappik (Hg.) Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaften Machtkritische Perspektiven auf ein prekarisiertes Verhältnis Mai 2015, ca. 300 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2707-7

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Kultur und soziale Praxis Jens Adam, Asta Vonderau (Hg.) Formationen des Politischen Anthropologie politischer Felder Mai 2014, 392 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2263-8

Désirée Bender, Tina Hollstein, Lena Huber, Cornelia Schweppe Auf den Spuren transnationaler Lebenswelten Ein wissenschaftliches Lesebuch. Erzählungen – Analysen – Dialoge Januar 2015, 208 Seiten, kart., 26,99 €, ISBN 978-3-8376-2901-9

Jonas Bens, Susanne Kleinfeld, Karoline Noack (Hg.) Fußball. Macht. Politik. Interdisziplinäre Perspektiven auf Fußball und Gesellschaft Februar 2014, 192 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2558-5

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Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« (Hg.) Kämpfe um Migrationspolitik Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung Januar 2014, 304 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2402-1

Heidrun Friese Grenzen der Gastfreundschaft Die Bootsflüchtlinge von Lampedusa und die europäische Frage Juli 2014, 250 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2447-2

Christa Markom Rassismus aus der Mitte Die soziale Konstruktion der »Anderen« in Österreich Januar 2014, 228 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2634-6

Wiebke Scharathow Risiken des Widerstandes Jugendliche und ihre Rassismuserfahrungen Juli 2014, 478 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2795-4

Yasemin Shooman »... weil ihre Kultur so ist« Narrative des antimuslimischen Rassismus Oktober 2014, 260 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2866-1

Henrike Terhart Körper und Migration Eine Studie zu Körperinszenierungen junger Frauen in Text und Bild Januar 2014, 460 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2618-6

Tatjana Thelen Care/Sorge Konstruktion, Reproduktion und Auflösung bedeutsamer Bindungen September 2014, 298 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2562-2

Yeliz Yildirim-Krannig Kultur zwischen Nationalstaatlichkeit und Migration Plädoyer für einen Paradigmenwechsel Mai 2014, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2726-8

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Globaler lokaler Islam bei transcript Thorsten Gerald Schneiders (Hg.)

Salafismus in Deutschland Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung

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»Nicht alle Salafisten sind Terroristen, aber alle uns bekannten islamistischen Terrorverdächtigen haben einen salafistischen Hintergrund.« So beschreiben deutsche Innenpolitiker ein wachsendes Problem: Junge Menschen brechen auf, um in den Krieg nach Syrien oder in den Irak zu ziehen. Manche verüben dort Gräueltaten und rühmen sich damit im Internet. Die meisten bleiben in Deutschland, lehnen Gewalt ab und folgen strengsten Glaubensregeln. Wer sind die Salafisten, was wollen sie, wen bedrohen sie? Dieser Band gibt umfassend Antworten. Renommierte Experten ordnen den Salafismus in die islamische Geschichte sowie in den deutschen Gesellschaftskontext ein und schlagen Strategien für den Umgang mit dem Phänomen vor. Zudem berichten Betroffene über ihre Erfahrungen mit Salafisten.

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