Religion und Lebensweg im 19. Jahrhundert: Interdisziplinäre Erkundungen im Spiegel des Lehr-Romans »Theodor oder des Zweiflers Weihe« von W. M. L. de Wette 9783495998793, 9783495998786

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Religion und Lebensweg im 19. Jahrhundert: Interdisziplinäre Erkundungen im Spiegel des Lehr-Romans »Theodor oder des Zweiflers Weihe« von W. M. L. de Wette
 9783495998793, 9783495998786

Table of contents :
Cover
»…aus dem innern Leben geschöpft«
Perspektiven und Zugänge
Zu den beigefügten Materialien und Quellen
1. Rezension im Literarischen Conversations-Blatt von 1823
2. De Wettes Aufsatz »Einige Gedanken über den Geist der neueren protestantischen Theologie« von 1828
3. James Freeman Clarkes Vorwort zur amerikanischen Übersetzung des Theodor von 1841
4. Das »Autor’s Preface« zur amerikanischen Übersetzung von W. M. L. de Wette
I. De Wettes Theodor im Spiegel seiner Zeit
De Wette und die Theologen- und Philosophenromane seiner Zeit
1. Fries und de Wettes philosophischer Hintergrund
2. De Wette und die ästhetisch-religiöse Weltsicht
3. Tholuck und die Restaurationstheologie
4. Gutzkow und die Religionskritik des Jungen Deutschland
5. Schluss
Theologiegeschichte, Lebensgeschichte, Bildungsgeschichte
1. Was ist ein Bildungsroman?
2. Bildungsroman und »Bildungsgeschichte«
3. Theodor im Horizont christlicher Bildungsgeschichten
4. Schlussfolgerungen
Gegen die Wirren der Zeit
II. Interdisziplinäre Zugänge zu »des Zweiflers Weihe«
»Künstlerische, ästhetische Symbolik ist die sicherste und höchste Darstellungs- und Mittheilungsart der Religion«
Vernunftglaube und Offenbarung
1. Beobachtungen zur Rezeption und Interpretation von Kant und Schelling
2. Konturen zur Religionstheorie im Anschluss an Jakob Friedrich Fries
3. Zur Religionstheologie De Wettes
»Ein Schutzgeist weiblicher Frömmigkeit«
I.
II. Anmut oder Conversation
III. Sittsam unbewusst
IV. Entsagung, Opfer
V. Ergänzung und Ehe
»…wenigstens einen Funken dieses Gefühls in die Gemüther der Hörer werfen«
Einleitung
1. Die gottesdienstliche Predigt im Spannungsfeld von allgemeinem Kirchenglauben und individueller Überzeugung
2. Die Predigt als begeisterte und begeisternde Rede – produktions- und rezeptionsästhetische Perspektiven
3. Kontexte der sonntäglichen Predigt: Die häuslich-private Andacht und das gesellige Gespräch
4. Zusammenfassung: Literatur und Predigtforschung
III. Materialien und Beigaben
1. Rezension des Theodor im Literarischen Conversations-Blatt Nr. 251 von 1823
Ein kritisches Gespräch.
2. De Wettes Gedanken über den Geist der neueren protestantischen Theologie von 1828
Einige Gedanken über den Geist der neueren protestantischen Theologie
3. Das Vorwort des Übersetzers James F. Clarke in der amerikanischen Ausgabe des Theodor von 1841
Translatorʼs Preface
4. De Wettes Vorwort zur amerikanischen Theodor-Übersetzung von 1841
Autors Preface to the American Edition.
[In a letter to the translator, dated »Basel, March 13, 1841.«]
Autorin und Autoren

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Peter Schüz [Hrsg.]

Religion und Lebensweg im 19. Jahrhundert Interdisziplinäre Erkundungen im Spiegel des Lehr-Romans »Theodor oder des Zweiflers Weihe« von W. M. L. de Wette

https://doi.org/10.5771/9783495998793 .

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Peter Schüz [Hrsg.]

Religion und Lebensweg im 19. Jahrhundert Interdisziplinäre Erkundungen im Spiegel des Lehr-Romans »Theodor oder des Zweiflers Weihe« von W. M. L. de Wette

https://doi.org/10.5771/9783495998793 .

Das Forschungsprojekt und die Drucklegung wurden ermöglicht und gefördert von der Fritz Thyssen Stiftung.

© Titelbild: William Turner: The Red Rigi, 1842

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99878-6 (Print) ISBN 978-3-495-99879-3 (ePDF)

Onlineversion Nomos eLibrary

1. Auflage 2022 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de

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Vorwort

Das vorliegende Buch bildet den wissenschaftlichen Begleitband zur Neuausgabe des vor 200 Jahren erstmals erschienenen Bildungs- und Lehrromans Theodor oder des Zweiflers Weihe von Wilhelm Martin Leberecht de Wette.1 Die versammelten Beiträge und Materialien eröffnen unterschiedliche Zugänge zur aktuellen Jubiläumsedition des im 19. Jahrhundert weit verbreiteten Klassikers über den Lebensund Bildungsweg des zweifelnden, am Zweifel wachsenden und schließlich in neuen Glaubenstiefen und Lebensidealen seine Weihe findenden Romanhelden »Theodor«. Freilich handelt es sich dabei nicht um ein umfassendes Erschließungskompendium, sondern ganz bewusst um erste Schneisen zur Weiterarbeit an den literaturwis­ senschaftlichen, theologischen, philosophischen, ethischen, histori­ schen und kulturwissenschaftlichen Perspektiven, die sich aus der Wiederentdeckung von de Wettes außergewöhnlichem Werk für die gegenwärtige Forschung ergeben. Damit steht der vorliegende Band in direktem Zusammenhang mit den Registern und Anmerkungen sowie dem beigefügten editorischen Nachwort in besagter Neuaus­ gabe. Zugleich handelt es sich bei den abgedruckten Fachbeiträgen um die Dokumentation des seit 2018 verfolgten und von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Forschungsprojekts Religion und Lebensweg im 19. Jahrhundert, das neben der Arbeit an der Neuedition des TheodorRomans auch dessen interdisziplinäre wissenschaftliche Erschließung zum Ziel hatte. Fast alle versammelten Texte gehen auf Vorträge zurück, die 2019 im Zuge einer Forschungstagung des Projekts an der Ludwig Maximilians-Universität in München gehalten wurden. Ich danke allen beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sehr herzlich für ihre engagierte Mitarbeit und nenne neben den 1 Vgl. die ebenfalls im Verlag Karl Alber erschienene Edition Wilhelm Martin Lebe­ recht de Wette: Theodor oder des Zweiflers Weihe. Bildungsgeschichte eines evangeli­ schen Geistlichen. Mit Anmerkungen, Registern und Nachwort versehene Neuausgabe nach der zweiten Auflage von 1828, hrsg. von Peter Schüz, Baden-Baden 2022.

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Autorinnen und Autoren dieses Bandes überdies gerne auch Herrn Prof. Dr. Thomas Albert Howard (Valparaiso, USA) und Frau PD Dr. Cornelia Rémi (München), die damals über German Theology in Transatlantic Perspectives und Komparative Erkenntniskodierungen in de Wettes Roman referiert haben. Dankbar erinnere ich außerdem an den bedeutenden Erforscher und Biographen de Wettes, Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. mult. John W. Rogerson † (Sheffield, Großbritannien), der das Projekt bis zu seinem Tod 2018 mit Anteilnahme verfolgt hat. Schließlich ist zu betonen, dass die von der Theodor-Edition ausgehenden Anregungen und Forschungsperspektiven auch ein von de Wettes Roman unabhängiges Themenfeld berühren: Die im 19. Jahrhundert entdeckte Lebensdimension der religiösen Persönlichkeit und ihrer Spiegelung in der bürgerlichen Biographie stellt letztlich eine ganz eigene Dimension der Frage nach dem Wesen und den Transformationen neuzeitlicher Religion und ihrer Kulturwelten dar. Fragen nach den Strukturmerkmalen der Frömmigkeitsgeschichte auf dem Weg in die Moderne, dem Wandel von Spiritualität und Lebensidealen an der Schnittfläche von individuellem Lebensweg, Geschlecht, Mentalität und zeitkontextuellen Diskursen in Kultur und Wissenschaft sind, wie die unterschiedlichen Beiträge deutlich zeigen, nicht nur im Theodor, sondern überhaupt für aktuelle Diskurse zum Verhältnis von Literatur, Religion, Ethik und Ästhetik von nicht geringer Bedeutung.2 Die versammelten Beiträge und Materialien eröffnen hierzu zahlreiche auch über de Wettes Roman hinausge­ hende Erkundungsfelder. Schließlich bleibt noch einigen mitwirkenden Personen und Institutionen zu danken. An erster Stelle stehen die beiden Projekt­ mitarbeiterinnen Elisabeth Woehlke und Leonie Wingberg, die sich nicht nur im Zusammenhang mit den Editionsarbeiten, sondern auch Zum genannten Forschungsfeld vgl. aus den letzten Jahren nur die Überblicke in Weidner, Daniel: Handbuch Literatur und Religion, Stuttgart 2016 und Braungart, Wolfgang/Jacob, Joachim/Tück, Jan-Heiner (Hg.): Literatur/Religion. Bilanz und Perspektiven eines interdisziplinären Forschungsgebietes, Stuttgart 2019. Zum Verhält­ nis von Religion und Biographie vgl. u.a. Wohlrab-Sahr, Monika (Hg.): Biographie und Religion. Zwischen Ritual und Selbstsuche, Frankfurt am Main 1995, Dormeyer, Detlev/Mölle, Herbert/Ruster, Thomas (Hg.): Lebenswege und Religion. Biogra­ phie in Bibel, Dogmatik und Religionspädagogik, Münster 2000 und Wohlrab-Sahr, Monika/Frank, Anja: Biographie und Religion, in: Lutz, Helma/Schiebel, Mar­ tina/Tuider, Elisabeth (Hg.): Handbuch Biographieforschung, Wiesbaden. 2018, 449–459. 2

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Vorwort

für die Projekttagung und den vorliegenden Sammelband unermüd­ lich eingesetzt haben. Ferner danke ich der Evangelisch-Theologi­ schen Fakultät an der Ludwig-Maximilians-Universität München für bereitwillige Unterstützung und Kooperation im Rahmen des LMU­ mentoring-Programms, zunächst im Form eines 2018 mit Dolores Zoé Bertschinger und Fabian Schwitter abgehaltenen deutsch-schwei­ zerischen Literatur-Forschungskolloquiums,3 das auch Gelegenheit zu ersten interdisziplinären Annäherungen an das Theodor-Editions­ vorhaben bot, sowie in Gestalt von Hilfskraftmitteln zur Fertigstel­ lung der Druckvorlage dieses Buchs. Die eigentliche Grundlage für die Theodor-Edition und ihre wissenschaftliche Bearbeitung bildete die großzügige Förderung der Fritz-Thyssen-Stiftung für das besagte Projekt Religion und Lebensweg im 19. Jahrhundert, das auch dem vor­ liegenden Band seinen Titel gab. Für die Gewährung der Forschungs­ mittel sowie für die notwendigen Druckkostenzuschüsse danke ich sehr herzlich. Hofheim am Taunus im Juli 2022

Peter Schüz

3 Siehe dazu die Dokumentation der literatur- und religionswissenschaftlichen Tagung in München: Dolores Zoé Bertschinger/Peter Schüz/Fabian Schwitter: Grenzgebiete. Theologische, religions- und literaturwissenschaftliche Lektüren, in: Netz­ werk Hermeneutik Interpretationstheorie Newsletter 5 (2019), 22–27.

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Inhaltsverzeichnis

Peter Schüz »…aus dem innern Leben geschöpft«

Einleitende und hinführende Bemerkungen . . . . . . . . . . . .

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Peter Schüz Zu den beigefügten Materialien und Quellen . . . . . . . .

19

I. De Wettes Theodor im Spiegel seiner Zeit . . . . . .

33

Jan Rohls De Wette und die Theologen- und Philosophenromane seiner Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Rolf Selbmann Theologiegeschichte, Lebensgeschichte, Bildungsgeschichte Wilhelm Martin Leberecht de Wettes »Bildungsgeschichte eines evangelischen Geistlichen« vor dem Horizont des deutschen Bildungsromans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

Alf Christophersen Gegen die Wirren der Zeit

91

Wilhelm Martin Leberecht de Wette und Friedrich Lücke . . . . . . .

II. Interdisziplinäre Zugänge zu »des Zweiflers Weihe«

121

Markus Buntfuß »Künstlerische, ästhetische Symbolik ist die sicherste und höchste Darstellungs- und Mittheilungsart der Religion« W. M. L. De Wettes Religionsästhetik im Theodor-Roman (1822) . . .

123

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Inhaltsverzeichnis

Markus Iff Vernunftglaube und Offenbarung Eine Spurensuche nach neuzeitlich-theologischen und philosophischen Theoriesträngen im Theodor . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

139

Daniel Weidner »Ein Schutzgeist weiblicher Frömmigkeit« Religion und Geschlecht im Bildungsroman am Beispiel von de Wettes Theodor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

155

Ruth Conrad »…wenigstens einen Funken dieses Gefühls in die Gemüther der Hörer werfen« Predigt und Andacht in de Wettes Theodor . . . . . . . . . . . .

177

III. Materialien und Beigaben . . . . . . . . . . . . . . .

203

1. Rezension des Theodor im Literarischen ConversationsBlatt Nr. 251 von 1823 . . . . . . . . . . . . . . . . . .

205

2. De Wettes Gedanken über den Geist der neueren protestantischen Theologie von 1828 . . . . . . . . . .

225

3. Das Vorwort des Übersetzers James F. Clarke in der amerikanischen Ausgabe des Theodor von 1841 . . . .

233

4. De Wettes Vorwort zur amerikanischen TheodorÜbersetzung von 1841 . . . . . . . . . . . . . . . . .

243

Autorin und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

249

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Peter Schüz

»…aus dem innern Leben geschöpft« Einleitende und hinführende Bemerkungen

Eine adäquate und zeitgemäße Annäherung an die Religion muss, so ließ Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780–1849) in einem theologischen Fachaufsatz von 1828 verlauten, durch »innere Men­ schenerkenntniß« erfolgen und »aus dem innern Leben geschöpft« sein.1 Was dies heißen könnte, hat de Wette nicht nur in seinem umfangreichen theologischen und bibelwissenschaftlichen Œuvre, sondern besonders auch in seiner Bildungsgeschichte eines evangeli­ schen Geistlichen gezeigt, deren zweite Auflage im gleichen Jahr wie die zitierten Gedanken über den Geist der neueren protestantischen Theologie veröffentlicht wurde.2 Die Erstausgabe des theologischen Lehr-Romans Theodor oder des Zweiflers Weihe erschien sechs Jahre zuvor anonym und fand schon bald weite Verbreitung.3 Während die wissenschaftlich-exegetischen Werke de Wettes bis heute zu den Klassikern der kritischen Bibelwissenschaft gezählt werden,4 ist sein zu Lebzeiten vielbeachteter Theodor gegen Ende 1 Vgl. hierzu den im vorliegenden Band neu abgedruckten Aufsatz de Wette, Wil­ helm Martin Leberecht: Einige Gedanken über den Geist der neueren protestantischen Theologie, in: ThStKr 1 (1828), 125–136, hier 135. 2 Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte vgl. das Nachwort des Herausgebers in der Neuausgabe des Romans: Wilhelm Martin Leberecht de Wette: Theodor oder des Zweiflers Weihe. Bildungsgeschichte eines evangelischen Geistlichen. Mit Anmerkungen, Registern und Nachwort versehene Neuausgabe nach der zweiten Auflage von 1828, hrsg. von Peter Schüz, Baden-Baden 2022, 567–590. 3 Vgl. die wie auch die zweite Auflage in zwei Bänden bei de Wettes Berliner Freund und Verleger Georg Reimer erschienene Erstauflage: Theodor oder des Zweiflers Weihe. Bildungsgeschichte eines evangelischen Geistlichen, 2 Bde., Berlin 1822. 4 Vgl. neben der Biographie Rogerson, John W.: W. M. L. De Wette. Founder of Modern Biblical Criticism. An Intellectual Biography (Journal for the Study of the Old Testament, Supplement Series 126), Sheffield 1992 insbes. die Studien von Rudolf Smend, darunter Smend, Rudolf: Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Arbeit am Alten und am Neuen Testament, Basel 1958 und Ders.: De Wette und das Verhältnis

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Peter Schüz

des 19. Jahrhunderts zunehmend in Vergessenheit geraten.5 Die aktu­ elle mit Anmerkungen und Registern versehene Neuedition, zu der das vorliegende Buch als wissenschaftlicher Begleitband konzipiert wurde, dient demnach in erster Linie dem Zweck, den Roman zum 200. Jubiläum seines ersten Erscheinens wieder ins Gedächtnis zu rufen und neu zugänglich zu machen. Denn schon als literatur- und frömmigkeitsgeschichtliches Phänomen ist de Wettes außergewöhn­ liche »Bildungsgeschichte« von interdisziplinärem Interesse. Mag man die literarische Qualität des Romans auch kontrovers beurteilen, so erscheint das in ihm verfolgte Anliegen dafür umso bemerkenswer­ ter, auch über seine Epoche hinaus: Im Vorwort der zweiten Auflage von 1828 schrieb de Wette, der Anlass seines Romans und seiner theologischen Arbeit überhaupt gründe in der Überzeugung, dass »ich Religion und Theologie als Sache des Lebens betrachte und in ihnen den Gipfelpunkt aller Welt- und Lebensansichten finde«.6 Es ging ihm also um den in individuelle Lebensvollzüge verwobenen Widerfahr­ nischarakter der Religion, der letztlich weniger in theologischer Lehre und Dogmatik, sondern vor allem in der ›inneren Welt‹ religiöser Lebensgeschichten und Schicksale lebendig ist. Über den Bildungsund Unterhaltungswert seines in erster Linie didaktisch angelegten Romans hinaus erinnert de Wette also an die für wissenschaftliche Erkundung und begriffliche Erfassung letztlich nur schwer zugäng­ lichen Regionen individueller religiöser Biographie und Persönlich­ zwischen historischer Bibelkritik und philosophischem System im 19. Jahrhundert (1958), in: Bibel und Wissenschaft. Historische Aufsätze, Tübingen 2004, 114–123. Siehe auch Bultmann, Christoph: Philosophie und Exegese bei W. M. L. de Wette. Der Pentateuch als Nationalepos Israels, in: Hans-Peter Mathys/Klaus Seybold (Hg.): Wilhelm Martin Leberecht de Wette. Ein Universaltheologe des 19. Jahrhunderts, Basel 2001, 62–78 und Howard, Thomas Albert: Religion and the rise of historicism. W. M L. de Wette, Jacob Burckhardt, and the theological origins of nineteenth-century historical consciousness, Cambridge 2000. 5 Eine wichtige Ausnahme bildet die Wiederentdeckung de Wettes durch Rudolf Otto und das Umfeld des Neufriesianismus im frühen 20. Jahrhundert. Vgl. hierzu insbes. die lesenswerte Theodor-Interpretation in Otto, Rudolf: Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie. Zur Einleitung in die Glaubenslehre für Studenten der Theologie, Tübingen 1909, 129–156 sowie die Annä­ herungen an de Wette als Romanautor bei Handschin, Paul: Wilhelm Martin Leberecht de Wette als Prediger und Schriftsteller, Basel 1958 und Pestalozzi, Karl: De Wette als Romanautor, in: Mathys, Hans-Peter/Seybold, Klaus (Hg.): Wilhelm Martin Leberecht De Wette. Ein Universaltheologe des 19. Jahrhunderts, Basel 2001, 127–145. 6 de Wette: Theodor oder des Zweiflers Weihe. Neuausgabe 2022, 6 (21822, VII).

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»…aus dem innern Leben geschöpft«. Einleitende Bemerkungen

keitsentwicklung. Seine »lebensfrische Encyklopädie, im Gewand des Romans«7 enthält dabei nicht nur eine unterhaltsam vorgetragene und bis heute anregende hermeneutisch-ästhetische Idee, sondern auch eine ökumenische und gesellschaftspolitisch-ethische Vision zur Bildung eines freiheitlich-humanen Gemeinwesens.8 Vor Augen steht ihm ein freisinniges Christentum der versöhnten Vielfalt, dem es gelingt, seine traditionellen Ausdrucksformen und Symbole mit religiösen Lebensgeschichten zu vermitteln und seine sich zu allen Zeiten immer wieder wandelnde Gestalt in ihrer biographischen Eindrücklichkeit vor Augen zu halten. Nach heutigem Maßstab erscheinen dabei freilich die dunklen und ambivalenten Aspekte menschlicher Existenz etwas unterbelich­ tet. Was in einer Rezension zu de Wettes Drama Die Entsagung von 1823 angemerkt wurde, nämlich dass der durchaus talentierte Autor mehr hätte »auf Mittel denken müssen, dem guten Prinzip den Sieg schwerer zu machen«,9 trifft zweifellos auch auf die oft allzu glatt, praktisch und glücklich sich fügende Handlung der Bildungsge­ schichte eines evangelischen Geistlichen zu. Von den Untiefen eines Sinn-Abgrunds, wie er in der deutschsprachigen Literatur damals bereits hier und dort anzuklingen begann und noch zu de Wettes Lebzeiten als Begriff der Angst oder als Idee des Irrationalen für die anbrechende Moderne so bezeichnend wurde, ist in der Happy-EndHandung des Theodor kaum etwas zu spüren. Gleichwohl ist aber der grundsätzliche Schritt zur lebensgeschichtlichen Verstrickung individueller Frömmigkeit in die Kontingenzerfahrungen des Lebens mit de Wettes theologischer Wendung zu Kunst und Ästhetik durch­ aus angelegt. Schon als junger Gelehrter schrieb er 1807 in seiner Rezension zur zweiten Auflage von Schleiermachers »Reden«10 über

7 Hagenbach, Karl Rudolf: Wilhelm Martin Leberecht de Wette. Eine akademische Gedächtnißrede mit Anmerkungen und Beilagen, Basel 1850, 36. 8 Schon Rudolf Otto hat auf die aus der Romantik entlehnte Grundidee des »gemein­ schaftlichen Bildens« in ihrer Bedeutung für »alle Gebiete des menschlichen Geis­ teslebens« hingewiesen und dabei de Wettes Theodor als frühes Schlüsselzeugnis genannt, vgl. Otto, Rudolf: Das Gefühl des Überweltlichen (Sensus numinis), Mün­ chen 1932, 12. 9 Vgl. die Rezension in der Juliausgabe des Morgenblattes für gebildete Stände 17 (1823), 283 zu de Wettes anonym bei Reimer erschienenem Stück Die Entsagung. Schauspiel in drei Aufzügen, Berlin 1823. 10 Vgl. die Rezension in Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 131 (1807), 433– 440 und JALZ 132 (1807), 441–448.

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Peter Schüz

die »Zweifel des Gemüths und die Schläge des Schicksals«, von denen der Frühverwitwete damals schon einiges hatte erdulden müssen: »Es giebt Augenblicke, wo alle solche Überzeugungen zusammenstür­ zen, wo keine Deutung des Universums gelingen will. Wenn die Hand des Schicksals in das innerste eigendste Leben des Menschen hineingreift und ihm das Liebste, Edelste herausreisst, dass die Grund­ vesten des Lebens erzittern und wanken: da gilt und bleibt nur die Anerkennung und das Gefühl der Nothwendigkeit und die Ergebung: es ist so, weil es ist, und Gott ist, weil er ist. – Die Welt steht vor uns da wunderbar, räthselhaft, schön und göttlich: schaue sie an, bewundere, staune, bete an; aber wagst du sie zu verstehen, da du nicht den kleinsten Theil, nicht den Wurm, nicht die Pflanze verstehst? Hoffest du den Vorhang wegziehen zu dürfen, ohne zu erblinden?«11

Mehr als gegen Schleiermacher richtet sich die im Umfeld der Hei­ delberger Romantik entstandene Bemerkung natürlich vor allem gegen den spekulativen Optimismus des zeitgenössischen Idealis­ mus. Deutlich hört man gleichsam den durch Herder geprägten Erfor­ scher des Alten Testaments und seiner hebräischen Poesie heraus, dem die wahrlich auch dunkle Abgründe enthaltende Buß- und Klage­ literatur der Psalmen in den Ohren klingt – man denke nur an den ebenfalls 1807 erschienenen Beytrag zur Charakteristik des Hebräis­ mus, in dem Klage, Leiden und Zweifel im Licht einer besonderen Weihe und Rechtfertigung des Zweifels erscheinen. Gerade als Bibel­ wissenschaftler hat de Wette ein seiner Zeit durchaus vorausliegen­ des Gespür für existenzielle Dimensionen innerlicher Zerrissenheit, wenn er beschreibt, »wie der Zweifler, dem auch das höchste Mensch­ liche als leerer Schatten erscheint, doch wieder nach Stützen greift, um sich daran zu halten, wie sich in ihm manche Regungen des Glaubens zeigen, während Alles vom Zweifel überwältigt und niedergeworfen zu seyn scheint. Unendlich rührend sind die Regungen, in denen sich ein ächt religiöses Gemüth zeigt.«12 11 JALZ 132 (1807), 441f. Den Hinweis auf dieses bemerkenswerte Zitat des frühen de Wette verdanke ich dem großartigen Aufsatz Buntfuß, Markus: Das Christentum als ästhetische Religion. Wilhelm Martin Leberecht De Wette, in: Christian Albrecht/ Friedemann Voigt (Hg.): Vermittlungstheologie als Christentumstheorie, Hannover 2001, 67–104, hier 78. 12 de Wette, Wilhelm Martin Leberecht: Beytrag zur Charakteristik des Hebräismus, in: Studien III.2, hrsg. von Carl Daub und Friedrich Creuzer, Heidelberg 1807, 241– 312, hier insbes. 299f. Auch Rogerson hat auf die zentrale Bedeutung dieser Schrift und die darin durchbrechende „mystical side of de Wette“ hingewiesen (vgl. Rogerson: W.

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»…aus dem innern Leben geschöpft«. Einleitende Bemerkungen

Dass mit dem Theodor-Roman ein einzigartiges Portrait der Frömmigkeits-, Kultur- und Geistesgeschichte im Europa des 19. Jahrhunderts erhalten geblieben ist, steht außer Frage. Dies zeigen auch die im vorliegenden Band zusammengestellten Beiträge. Die Bedeutung des Theodor für die englischsprachige Theologie- und Philosophiegeschichte, insbesondere in Nordamerika, zeichnet sich in den beigefügten Vorworten zur amerikanischen Übersetzung ab. Zu den interdisziplinären und internationalen Interdependenzen der großen theologischen Vermittlungsidee, wie sie in de Wettes psycho­ logisch, ästhetisch und ethisch sensiblen Ideen hervortritt, bleibt auf diesen Spuren noch vieles zu entdecken – auch und gerade vor dem Hintergrund der Frage nach dem Wesen und Wandel des Christentums in der Moderne und der bis heute lebendigen Vielfalt seiner spirituellen Ausdrucksformen und Mentalitäten.

Perspektiven und Zugänge Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge erschließen einige Themen und Zusammenhänge, die sich aus der Romanhandlung des Theodor und seinem historischen Kontext ergeben.13 Dabei kom­ men die komplexen literaturgeschichtlichen, theologischen, philoso­ phischen, ethischen und gesellschaftspolitischen Hintergründe von Werk und Autor ebenso in den Blick wie Aspekte der Interpretationsund Wirkungsgeschichte mit ihren interdisziplinären, auch über die Epoche des Romans hinausweisenden Anregungen. Das erste Kapitel (I.) dient primär der Einordnung des Theodor in die kultur- und literaturgeschichtlichen Zusammenhänge seiner Zeit. Jan Rohls eröffnet dieses Feld mit einer Skizze des Umfeldes theo­ logisch-philosophischer Romane im frühen 19. Jahrhundert. Neben dem Roman Julius und Evagoras von de Wettes philosophischem Leh­ rer und Freund Jakob Friedrich Fries kommen dabei besonders August M. L. De Wette. 65f); und auch für die spätere Rezeption de Wettes in Nordamerika war der Beytrag entscheidend, vgl. hierzu Puknat, Siegfried B.: De Wette in New England, in: Proceedings of the American Philosophical Society 102 (1958), 376–395, hier 380. 13 Die Hinweise und Anmerkungen zum »Theodor«-Roman werden in den Beiträgen primär als Kurztitel [Theodor] nach der Seitenzählung der bereits genannten Neuaus­ gabe von 2022 zitiert, in vielen Fällen wird zudem in Klammern auf die Originalvor­ lagen von 1822 (1. Aufl.) und/oder 1828 (2. Aufl.) mit jeweiliger Band- und Seiten­ angabe verwiesen.

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Peter Schüz

Tholucks »Anti-Theodor« über Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner und der ebenfalls auf de Wettes Theodor zurückgreifende Roman Wally, die Zweiflerin von Karl Gutzkow in den Blick. Die Frage, welcher literarischen Gattung de Wettes »Bildungsgeschichte« im Rahmen der Romanliteratur seiner Zeit zuzuordnen wäre, verfolgt der literaturwissenschaftliche Beitrag von Rolf Selbmann. Neben den zahlreichen Abhängigkeiten und Parallelen zum Bildungsroman um 1800 erweist sich de Wettes Theodor dabei letztlich als ein Werk von ganz eigener Art und Gattung, in dem didaktische, bildende und erzie­ hende ebenso wie unterhaltende und erbauliche Motive ineinander übergehen. Die Studie von Alf Christophersen widmet sich sodann dem Autor des Romans, der anhand des Verhältnisses zu seinem Schüler und Freund Friedrich Lücke portraitiert wird. Im Fokus steht dabei nicht zuletzt das für den Theodor-Roman zentrale theologische Vermittlungsanliegen, dem auch die 1828 von Lücke mitbegründete Zeitschrift Theologische Studien und Kritiken verpflichtet war und in deren Eröffnungsausgabe de Wette seinen im vorliegenden Buch neu abgedruckten Programmaufsatz Einige Gedanken ber den Geist der neueren protestantischen Theologie publizierte. Bei den interdisziplinären Zugängen zu de Wettes Roman im zweiten Kapitel (II.) handelt es sich um ganz unterschiedlich angelegte Tiefenbohrungen zur Kontextualisierung und Interpretation. Mar­ kus Buntfuß entfaltet mit der theologisch-ästhetischen Einordnung des Romans die Grundlagen von de Wettes großem Lebensthema. Ausgehend von den in Weimar und Jena gelegten Fundamenten wird de Wettes Idee einer ästhetischen Religionstheologie entlang der im Theodor begegnenden Auseinandersetzung mit der zeitgenös­ sischen Schauspielkunst und Dramenliteratur entfaltet. Die in die Romanhandlung verflochtenen Dialoge und Streitgespräche bilden den Hauptgegenstand der Abhandlung von Markus Iff über die hierin diskutierten philosophisch-theologischen Theoriekonzeptionen der Zeit um 1800. Insbesondere am Beispiel Kants und Schellings richtet sich dabei der Blick auf die maßgeblichen Debatten des frühen 19. Jahrhunderts zum Verhältnis von Vernunft und Offenbarung in ihrer Relevanz für de Wettes Religionstheorie. Vorwiegend an der Roman­ handlung und ihrer Figurenkomposition orientiert, widmet sich der Beitrag von Daniel Weidner in erster Linie den Frauengestalten in Theodors Bildungsgeschichte und der elementaren Bedeutung des Weiblichen für die Transformationsprozesse des Verhältnisses von Religion, Bildung und Geschlecht im 19. Jahrhundert. Gerade hier

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»…aus dem innern Leben geschöpft«. Einleitende Bemerkungen

wird deutlich, dass die von de Wette entworfenen Liebes-, Freund­ schafts- und Konfliktgeschichten im Theodor keineswegs nur illustrie­ rende Rahmungen, sondern grundlegende Ausdrucksformen seiner Auffassung von Religion und Frömmigkeit sind. Ruth Conrad unter­ sucht den Roman schließlich aus der Perspektive geschichts-, kul­ tur- und literaturwissenschaftlicher Predigtforschung und erschließt damit die Motive von Andacht, Gottesdienst und Erbauung auch in über den Roman hinausgreifenden Ausblicken auf das Verhältnis von Religion und Literatur im Kontext der Frage nach den sich wandelnden Darstellungs-, Kommunikations- und Vermittlungsformen neuzeitli­ cher Spiritualität auf dem Weg in die Moderne.

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Peter Schüz

Zu den beigefügten Materialien und Quellen

Die im dritten Abschnitt (III.) beigefügten Quellen aus dem 19. Jahrhundert eröffnen exemplarische Einblicke in die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von de Wettes »Weihe des Zweiflers« für die wissenschaftliche Weiterarbeit. Freilich handelt es sich dabei nur um eine sehr kleine Auswahl mit besonderem Fokus auf den TheodorRoman. Darüber hinaus sei verwiesen auf die bereits existierenden Quellensammlungen und Materialien zur de Wette-Forschung, ins­ besondere auf die von Ernst Staehelin herausgegebenen Dewettiana,1 die beigegebenen Quellen in der Dissertation Paul Handschins,2 den 2001 erschienenen interdisziplinären Sammelband von Hans-Peter Mathys und Klaus Seybold3 und besonders auf die von 2004 bis 2011 durch den Schweizerischen Nationalfonds geförderte und seither online weitergeführte de Wette-Briefedition unter der Leitung von Beat Huwyler.4 Die ursprünglichen Seitenzahlen der Quellen werden am Seiten­ rand vermerkt, die jeweiligen Seitenumbrüche werden durch Tren­ nungsstriche im Text markiert. Offensichtliche Druckfehler der Ori­ ginalvorlage wurden stillschweigend korrigiert, überdies wurde das Druckbild behutsam an gegenwärtige Lesegewohnheiten angepasst: Gesperrt gedruckte Wörter sind nun kursiv, Umlaute am Wortanfang (»Ae«, »Oe«, »Ue«) sind als Ä, Ö und Ü gesetzt. Die folgenden Bemer­

1 Staehelin, Ernst: Dewettiana. Forschungen und Texte zu Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Leben und Werk, Basel 1956 und Ders.: Kleine Dewettiana, in: ThZ 13 (1957), 33–41. 2 Handschin, Paul: Wilhelm Martin Leberecht de Wette als Prediger und Schriftsteller, Basel 1958. 3 Mathys, Hans-Peter/Seybold, Klaus (Hg.): Wilhelm Martin Leberecht de Wette. Ein Universaltheologe des 19. Jahrhunderts, Basel 2001. 4 Die online erreichbare W.M.L. de Wette Briefedition ist zu finden unter www.dewe ttebriefedition.org.

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kungen bieten einige Hintergrundinformationen zur Einordnung der ausgewählten Beigaben.

1. Rezension im Literarischen Conversations-Blatt von 1823 Als die beiden anonym publizierten Bände des Theodor im Laufe des Jahres 1822 erschienen, riefen sie sogleich zahlreiche Reaktionen her­ vor.5 Rezensionen und Besprechungen waren sich in der respektvollen Würdigung der schriftstellerischen Leistung zwar weitgehend einig, in der theologischen Beurteilung hingegen war man geteilter Mei­ nung.6 Während liberale Stimmen den Roman als stilistisch-ästhe­ tisch gelungenen Befreiungsschlag einer zeitgemäßen Darstellung des Wesens der Religion und eines zukunftsfähigen Christentums sahen, bemängelten konservativ-kirchliche Stimmen besonders die Einbettung ehrwürdiger Lehrinhalte des christlichen Glaubens in ein Allerlei aus Lebens- und Liebesgeschichten mit Herz und Schmerz. In Seebodes Neuer kritischer Bibliothek von 1924 bekennt der Rezensent: »Wir […] können jedoch nicht bergen, dass wir für unsre Person doch lieber gesehen hätten, wenn die ganze Liebesgeschichte ausser dem Spiele geblieben wäre, da es uns bei wiederholter Lesung des Buches nicht hat gelingen wollen, uns des Gedankens zu erwehren, dass gerade der Liebesdrang das Seinige dazu beigetragen haben möge, die ›Weihe des Zweiflers‹ zu vollenden, was denn eben auf diese nicht das allervortheilhafteste Licht werfen möchte.«7 5 Vgl. hierzu u.a. die Hinweise bei Handschin: de Wette als Prediger und Schriftsteller und Pestalozzi: De Wette als Romanautor, 127–145 sowie das Nachwort zur Neuaus­ gabe von 2022. 6 Vgl. insbes. Jenaische Allgemeinde Literatur-Zeitung, November 1822, Nr. 203, 161– 172; Deutsche Blätter für Poesie, Litteratur, Kunst und Theater, Nr. 139/140 (4./5. Sept.1923), 555f, 560; Literarisches Conversations-Blatt, Nr. 251–254 (1.­5. Nov. 1823), 1001–1015; Allgemeine Literaturzeitung. Ergänzungsblätter 88 (August 1825), 697–712. 7 Vgl. die kritische Besprechung in der von Gottfried Seebode herausgegebenen Zeitschrift Neue kritische Bibliothek für das Schul- und Unterrichtswesen 6 (1924), 110–118, hier 117. De Wettes »Theodor« wird in der Rezension eine Besprechung des 1823 erschienenen, vom Rezensenten als ungleich wertvoller weil rechtgläubig erachteten Theologenromans des Göttinger Kirchenhistorikers Gottlieb Jacob Planck entgegen gehalten. Vgl. das Werk Planck, Gottlieb Jacob: Das erste Amtsjahr des Pfarrers von S. in Auszügen aus seinem Tagebuch. Eine Pastoraltheologie in der Form einer Geschichte, Göttingen 1823.

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Zu den beigefügten Materialien und Quellen

Kurzerhand wird der im Roman durch den »Alten Pfarrer« personifi­ zierte, den Helden in Zweifel und Verzweiflung führende Weg der altprotestantischen Rechtgläubigkeit als der einzig richtige hervor­ gehoben und damit die ganze Dramaturgie des Romans von der Weihe des Zweifels und der individuellen Lebensdurchdrungenheit religiöser Biographie als gefährlicher Irrweg denunziert: »Wir begnügen uns daher, besonders in Rücksicht auf jüngere Theo­ logen u. angehende Geistliche, die von ähnlichen Zweifeln, wie der gute Theodor, mögen geplagt werden, mit der Bemerkung, dass nach unsrer Überzeugung sie keinen bessern Standpunkt nehmen können, als den der Jugend u. Universitätsfreund Theodor’s u. an seiner Statt dem alten Pfarrer zum Gehülfen zugegebene Johannes ihm u. ihnen Th. I. Kap. 6. S. 264 angibt, […] ›an das Wesentliche des Christenthums u. an die Lehre sich zu halten, welche der Diener des Wortes zu ver­ kündigen hat.‹ Die Wahrheit des Ev. u. d. Glaube an die unübertreffli­ che Hoheit Jesu stehet fest, u. die Frage über das Verhältniss der Ver­ nunft zur Offenbarung sollte im Unterricht des Volkes eben so wenig zur Sprache kommen, als über das Wunderbare in der evang. Geschichte auf der Kanzel kritische Untersuchungen anzustellen sind.«8

Theodors Kindheits- und Schulfreund Johannes zeichnet sich im Roman tatsächlich durch ein unerschütterliches Festhalten am Bekenntnisglauben seiner Jugend aus, der sich in sittlicher Gradli­ nigkeit und kindlich-unbekümmertem Gottvertrauen von Theodors Zweifeln und aufklärerischer Kritik nicht im Geringsten beunruhigen lässt. Woran die zitierte Rezension Anstoß nimmt, ist offensichtlich de Wettes Idee, den angemessenen Bildungsweg eines evangelischen Geistlichen (und überhaupt jedes Christenmenschen) in seinem Roman gerade nicht an eine bestimmte Bekenntnis- oder Lehrtra­ dition, sondern an die je eigene und individuelle Persönlichkeit zu binden. Einer spezifischen Glaubenslehre oder Frömmigkeitsform – 8 Das etwas verformte Zitat stammt aus einem Brief, den der von Glaubens- und Berufungskrisen geschüttelte Theodor im ersten Band des Romans von seinem Jugendfreund und Kommilitonen Johannes erhält. Die Stelle lautet im Original folgendermaßen (vgl. Theodor 11822, Bd. I, 264; in der Neuausgabe von 2022: 147): »Noch immer, jedoch mit ergebenem Herzen, beklage ich es, daß Du die von der Mutter vorgeschriebene Laufbahn verlassen, und Dich in das Gewühl der großen Welt gestürzt hast. Und je länger ich mein Amt verwalte, je mehr sehe ich ein, daß die Zweifel, die Dich beunruhigten, das Wesentliche unsers Glaubens und die Lehre, welche der Diener des Worts zu verkündigen hat, nicht betreffen.«

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wie sie der Rezensent in Johannes’ Brief beschrieben findet – den Vorzug zu geben, wird von de Wette damit tatsächlich ausgeschlos­ sen bzw. dem Urteil der Leserinnen und Leser überlassen. Zwar wird Theodors vorwiegend akademisch-intellektuelle und bürgerlichästhetische Bildungsgeschichte zweifellos als eine Art Idealweg dar­ gestellt, jedoch eben als ein solcher für ihn, d. h. für die Persönlichkeit und Lebensgeschichte des jungen Theodor als eines spezifischen Typs bürgerlich-aufgeklärten Christentums, für den der Roman werben möchte. Andere fromme und integre Figuren wie besagter Johannes, die fromme Mutter, der katholische Otto und natürlich die geliebte Hildegard stehen dem letztlich, gemessen an der Tiefe ihres Glaubens und der Festigkeit ihrer sittlichen Haltung, keineswegs nach, sondern erscheinen auf je eigene Weise als ehrenwerte Idealbilder religiöser Menschen, die letztlich kaum gegeneinander auszuspielen sind.9 Es liegt auf der Hand, dass eine solche Haltung zum subjektiven Wahrheitswert in den Ausdrucksformen individueller Frömmigkeit auf konservativ-orthodoxe Kreise beunruhigend wirken musste. Eben jene innerlich-ästhetische, der individuellen Frömmig­ keitsentwicklung Raum gebende Vermittlungsidee des Romans ist es nun gerade, die im Mittelpunkt der dem vorliegenden Band beige­ gebenen anonymen Rezension im Literarischen Conversations-Blatt von 1823 steht.10 Bemerkenswert ist schon ihre im damaligen Rezen­ sionswesen zwar nicht ganz ungewöhnliche, in diesem Fall aber dennoch erstaunlich kunstvolle Machart: Es handelt sich um eine an die Dialoge des Romans anschließende Besprechung in »Gesprächs­ form«, die in ihren fiktiven Figuren charakteristische Positionen und Rezipienten der damaligen Zeit in Form eines Salongesprächs zu Wort kommen lässt. Die Kritik und Würdigung des Werkes erfolgt damit letztlich als kongeniale Weiterführung des Vermittlungsanliegens, das schon den Autor des Theodor leitete: Die eigentlichen Pointen des Romans werden in die Sphäre der dialogischen Aneignung versetzt und beziehen damit die individuelle Anteilnahme der Leserinnen und Leser und ihre lebensweltlichen Zugänge mit ein.

9 Gerade die Frömmigkeit des Johannes wird auch von de Wette selbst im Vorwort bei aller Kritik als etwas »Ehrenwerthes« bezeichnet. Vgl. Theodor 21828, Bd. I, VI; in der Neuausgabe von 2022: 6. 10 Vgl. die anonyme Rezension in: Literarisches Conversations-Blatt, Nr. 251–254 (1.­5. Nov. 1823), 1001–1015.

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Zu den beigefügten Materialien und Quellen

Das von Friedrich Arnold Brockhaus in Leipzig verlegte Litera­ rische Conversations-Blatt zählte damals zu den erfolgreichsten und bedeutendsten deutschsprachigen Literaturzeitschriften überhaupt, war 1820 aus dem von August Friedrich Kotzebue gegründeten Lite­ rarischen Wochenblatt hervorgegangen und firmierte ab 1826, geführt von Brockhaus’ Sohn Heinrich, jahrzehntelang unter dem Titel Blätter für literarische Unterhaltung. Der letztgenannte Name der Zeitschrift unterstreicht das charakteristische Erfolgsrezept der Zeitschrift, das auch der Rezension des Theodor-Romans anzumerken ist: Brockhaus legte besonders Wert auf die Verbindung der Literaturkritik mit unter­ haltsamen und kongenial-schöngeistigen Elementen.11

2. De Wettes Aufsatz »Einige Gedanken über den Geist der neueren protestantischen Theologie« von 1828 Der Gedanken-Aufsatz12 erschien im gleichen Jahr wie die zweite Auflage des Theodor, der de Wette nun auch eine über seine theo­ logischen und didaktischen Anliegen Aufschluss gebende Vorrede13 beigab. Die inhaltlichen Parallelen beider sind so offensichtlich, dass der Aufsatz geradezu als akademisch-theologischer Kommentar zum Roman gelesen werden kann. Was beide Texte miteinander verbindet, ist vor allem das hermeneutische und theologisch-ästhetische Ver­ mittlungsanliegen, das auch der Publikationsort des Aufsatzes unter­ streicht: Er erschien im ersten Jahrgang der Theologischen Studien und Kritiken – einer dezidiert vermittlungstheologischen Zeitschrift, die 1828 auf Betreiben des Verlegers Friedrich Christoph Perthes von den de Wette nahestehenden Theologen Johann Carl Ludwig Gieseler, Friedrich Lücke, Carl Immanuel Nitzsch, Carl Ullmann und Carl Umbreit herausgegeben wurde.14 Vgl. hierzu Hauke, Petra Sybille: Literaturkritik in den Blättern für literarische Unterhaltung, Stuttgart 1972. 12 de Wette, Wilhelm Martin Leberecht: Einige Gedanken über den Geist der neueren protestantischen Theologie, in: ThStKr 1 (1828), 125–136. 13 Vgl. die Vorrede zur zweiten Auflage in de Wette: Wilhelm Martin Leberecht: Theodor oder des Zweiflers Weihe. Bildungsgeschichte eines evangelischen Geistlichen, Berlin 21828, V–VIII, in Neuausgabe von 2022, 5f. 14 Zu den vermittlungstheologischen Debatten im 19. Jahrhundert, insbes. in den Theologischen Studien und Kritiken vgl. Voigt, Friedemann: Vermittlung im Streit. Das Konzept Theologischer Vermittlung in den Zeitschriften der Schulen Schleiermachers und 11

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Wie im Theodor geht es de Wette auch hier um die Adäquatheit traditioneller Ausdrucksformen der Religion für das in ihnen leben­ dige Gottes- und Christusbild. In der grundsätzlichen Spannung zwi­ schen dem »todten überlieferten Stoff« klassischer dogmatischer Lehre und seinem »lebendigen Gehalt« im Gefühl erblickt er die eigentliche Vermittlungskrise der Theologie seiner Zeit.15 Die Lösung skizziert de Wette hier nun anhand einer Art Symbolhermeneutik, die in der Unterscheidung von »Form« und »Gehalt« religiöser Aus­ drucksformen das »Organon der wahren christlichen Theologie« im Sinne einer »Psychologie« der »innere[n] Menschenerkenntniß« erblickt. Es gilt darin das »reiche Leben der Geschichte« aufzuschlie­ ßen und »das innere, reine Auge, mit welchem wir in der Geschichte die mannichfaltige Erscheinung des menschlichen Geistes erkennen«, mittels des Symbol-Begriffs in den Fokus theologischer Reflexion zu rücken. Den Kern des vermittlungstheologischen Anliegens markiert dabei das auch im Theodor grundlegende Ansinnen, »sowohl dem frommen Glauben, als der wissenschaftlichen Einsicht ihr Recht« ein­ zuräumen und das eigentliche Wesen des Glaubens als individuell im Lebensvollzug anzueignendes, »symbolisch eingehüllt« überliefertes Geheimnis innerlicher Bewegung und Begeisterung anzusehen.16

3. James Freeman Clarkes Vorwort zur amerikanischen Übersetzung des Theodor von 1841 In Neuengland galt de Wette in der Mitte des 19. Jahrhunderts als »one of the most extensively translated and admired German writers of the period.«17 Die damals durchaus noch vor Schleiermacher rangierende Popularität von de Wettes Werken im amerikanischen Raum hängt nicht nur mit seiner gut übersetzbaren, klaren Sprache und Gedankenführung zusammen, sondern hat natürlich auch inhalt­ liche Gründe: Vor allem die nordamerikanischen Transzendentalisten waren von de Wettes ästhetischer Religionshermeneutik mit ihren Hegels (BHTh 140), Tübingen 2006, 22–104. Siehe hierzu außerdem den Beitrag von Alf Christophersen im vorliegenden Band. 15 de Wette: Einige Gedanken, 132f. 16 de Wette: Einige Gedanken, 133. 17 Puknat, Siegfried B.: De Wette in New England, in: Proceedings of the American Philosophical Society 102 (1958), 376–395, hier 376.

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Zu den beigefügten Materialien und Quellen

mystikaffinen und zugleich wissenschaftlich-kritischen Elementen überaus angetan, setzten sich für deren Verbreitung ein und bezo­ gen daraus grundlegende Anregungen für ihre eigenen Werke.18 Eine herausragende Rolle spielte dabei der Theodor-Roman. Schon die deutschsprachige Ausgabe wurde im englischsprachigen Raum zur Kenntnis genommen.19 Zum eigentlichen Durchbruch kam es dann durch die erstmals 1841 erschienene Übersetzung, die den Roman zu einem der damals wichtigsten Schlüsselwerke für die Vermittlung deutschsprachiger Theologie, Philosophie und Literatur in Amerika machte.20

18 Leider ist die herausragende Bedeutung de Wettes für die bedeutendsten theolo­ gischen und philosophischen Stimmen Nordamerikas und insbes. des Transzenden­ talismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts bisher kaum erforscht. Die bis heute maßgebliche Ausnahme ist die bereits genannte Studie von Siegfried B. Puknat, ferner zu nennen sind die Erwähnungen de Wettes in Arbeiten zum Transzendentalismus, z.B. bei Kurt Mueller-Vollmer. Erstaunlich ist, dass die de Wette-Forschung selbst nahezu konsequent an diesem überaus wichtigen Kapitel seiner Wirkungsgeschichte vorüber gegangen ist, seltsamerweise auch im Falle der englischsprachigen Arbeiten (auch die wichtige de Wette-Biographie von John W. Rogerson macht hier keine Ausnahme). Von einer ausführlicheren Erforschung der beachtlichen Wirkung de Wettes auf Gestalten wie Clarke, Emerson, Thoreau, Fuller, Osgood, Parker und Ripley sowie auf die von ihnen ausgehende Wirkungs- und Literaturgeschichte steht demnach noch aus und wäre zweifellos eine Quelle für grundlegende Einsichten zu den Querverbindungen und Konvergenzen der europäisch-nordamerikanischen Theologie- und Kulturgeschichte der Zeit vor 1900. 19 Vgl. z. B. die ausführliche Rezension in The monthly Review 9 (1828), 446– 454, die de Wettes Roman zum Ausgangspunkt einer grundsätzlichen Analyse der deutschsprachigen Theologie und Philosophie der damaligen Zeit nimmt. Gegenüber den im englischsprachigen Raum nur schwer zugänglichen spekulativen Werken des Deutschen Idealismus wird der Theodor-Roman hier als überaus hilfreicher und luzider Zugang zur deutschen Literatur, Kunst, Philosophie und Theologie in Geschichte und Gegenwart empfohlen. Unter den früheren Darstellungen de Wettes in Nordamerika im Vorfeld des Erscheinens erster Übersetzungen sind überdies vor allem die Arbeiten Samuel Osgoods zu nennen, der später auch als Übersetzer von de Wettes Sittenlehre in Erscheinung trat. Vgl. nur die frühen und geradezu begeisterten de Wette-Besprechungen in Christian Examiner 24 (1838), 137–171 und Christian Examiner 25 (1838), 1–23. 20 Vgl. zu den Hintergründen erneut Puknat: De Wette in New England, 376– 395 sowie Mueller-Vollmer, Kurt: Regionalismus, Internationalismus, Nationali­ tät. Amerikanischer Transzendentalismus und Deutsche Romantik, in: Turk, Horst/ Schultze, Brigitte/Simanowski, Roberto (Hg.): Kulturelle Grenzziehungen im Spiegel der Literaturen. Nationalismus, Regionalismus, Fundamentalismus, Göttingen 1998, 299–322.

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Angestoßen wurde das Projekt von einer zentralen Figur des nordamerikanischen Transzendentalismus. George Ripley (1802– 1880),21 der damals mit Margaret Fuller, Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau auch ein Hauptinitiator der transzendentalis­ tischen Programmzeitschrift The Dial war und mit der Brook Farm einen wichtigen Treffpunkt der Bewegung unterhielt, versuchte schon seit den 1830er Jahren seine Lektüre deutscher Dichter und Denker für die nordamerikanische Geisteswelt zugänglich zu machen.22 In der von Ripley zu diesem Zweck herausgegebenen Reihe Specimens of Foreign Standard Literature erschien de Wettes Roman dann 1841 in den Bänden X. und XI. unter dem Titel Theodore, or the Sceptic’s Conversion.23 Als Übersetzer wurde James Freeman Clarke (1810– 1888) gewonnen, der später neben eigenen theologischen und politi­ schen Werken auch durch weitere Übersetzungen deutscher Klassiker hervortrat und bald als ›Apostle of German culture to America‹ galt.24 Clarke wirkte zunächst als unitarischer Pastor, bis er in Boston seine eigene Gemeinde, die »Church of the Disciples« gründete – eine dem Transzendentalismus nahestehende unitarische Missionsbewegung, die stark vom ökumenischem Anliegen einer im Christentum sich erfüllenden Menschheitsreligion und freiheitlichen Ideen der Men­ schenrechts- und Antisklavereibewegung lebte.25 In seinen Werken und im beigegebenen Translatorʼs Preface gibt sich der Übersetzer des Theodor durchaus als Anhänger des darin verfolgten theologisch-philosophischen und ästhetischen Anliegens zu erkennen.26 Es war offenkundig nicht nur das literarisch vermit­ 21 Vgl. u. a. Crowe, Charles: George Ripley. Transcendentalist and Utopian Socialist, Athens 1967 und Golemba, Henry L.: George Ripley, Boston 1977. 22 Zu Ripleys Projekt vgl. insbes. Mueller-Vollmer: Regionalismus, Internationalis­ mus, Nationalität, 320. 23 de Wette, Wilhelm Martin Leberecht: Theodore; Or the Skeptics Conversion. History of the Culture of a Protestant Clergyman. Translated from the German by James F. Clarke, 2 Vols. (Specimens of Foreign Standard Literature, Vol. X./XI, editet by George Ripley), Boston 1841. 24 Vgl. insbes. Thomas, John Wesley: James Freeman Clarke, Apostle of German Culture to America, Boston 1949 und Bolster, Arthur S.: James Freeman Clarke. Disciple to Advancing Truth, Boston 1954. 25 Siehe hierzu Geldbach, Erich: Comparative Theology. Mission und Ökumene bei James Freeman Clarke, in: Rainer Flasche/Erich Geldbach (Hg.): Religionen – Geschichte – Ökumene. In Memoriam Ernst Benz, Leiden 1981, 147–160. 26 Vgl. Clarke, James F.: Translatorʼs Preface, in: Wilhelm Martin Leberecht de Wette: Theodore; Or the Skeptics Conversion. History of the Culture of a Protestant

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Zu den beigefügten Materialien und Quellen

telte Bildungspanorama deutscher Geistes- und Kulturwelten, das de Wettes Roman für den nordamerikanischen Buchmarkt attrak­ tiv machte. Ausgehend von den Bostoner Transzendentalisten- und Unitarierkreisen wurde de Wettes zur Bildungsgeschichte geronnenes Werben »für eine klare und doch tiefe, wissenschaftliche, und doch warm begeisterte Theologie«27 offenbar auch inhaltlich als überaus zeitgemäß und zukunftsweisend empfunden – man denke nur an die aus der deutschen Philosophie und Theologie um 1800 entlehnte Idee der religiösen Ahndung und Begeisterung im Sinne einer transzen­ dentalphilosophisch reflektierbaren und sich in Darstellungsformen und Symbolen ausdrückenden innerlichen Anschauung und Intuition (internal evidence, intuition).28 Eine wichtige Rolle spielten für die Verbreitung von de Wettes Werken auch deutsche Einwanderer: 1824 emigrierten de Wettes Stiefsohn Karl Beck (1798–1866) und sein als radikaler Demokrat und Freiheitskämpfer politisch verfolgter Freund Karl Follen (1796– 1840) von Basel nach Neuengland. Beide änderten schon bald ihre Vornamen zu ›Charles‹ und konnten als renommierte Professoren und Politiker in Harvard fußfassen – Beck als Altphilologe, Follen als Germanist. Den dortigen transzendentalistischen und unitarischen Zirkeln standen sie ebenso nahe wie der Anti-Sklavereibewegung und hatten ohne Zweifel auch großen Anteil an der Verbreitung von de Wettes Werken in ihrem Umfeld.29 Nicht zuletzt durch diese auch persönlichen Verbindungen regis­ trierte de Wette das amerikanische Interesse an seinem Werk durch­ aus. An den damals ebenfalls in Harvard und Boston wirkenden Theologen Theodore Parker (1810–1860) – wie der ihm naheste­ hende Theodor-Übersetzer Clarke ein leidenschaftlicher Transzen­ dentalist, Abolitionist und Kenner deutscher Literatur und Theolo­ Clergyman. Translated from the German by James F. Clarke, Vol. 1, Boston 1841, VII–XXIII. 27 So de Wette in seinem Vorwort der 2. Aufl. des »Theodor«. 28 Vgl. hierzu und zur Bedeutung de Wettes für die Transzendentalisten jüngst Mauch, Fabian: Einleitung, in: Charles Mayo Ellis. Ein Essay über den Transzenden­ talismus, hrsg. von Fabian Mauch, XVf und ferner Howard, Thomas A.: Deutsche Universitätstheologie in den USA. Edward Robinson und Philip Schaff, in: Löser, Phi­ lipp/Strupp, Christoph (Hg.): Universität der Gelehrten – Universität der Experten. Adaptionen deutscher Wissenschaft in den USA des neunzehnten Jahrhunderts, Stuttgart 2005 (Transatlantische historische Studien 24), 31–51. 29 Zur kaum erforschten Bedeutung beider für die nordamerikanische Rezeption de Wettes vgl. Puknat: De Wette in New England, 378.

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gie,30 der seit den 1830er Jahren an einer Übersetzung des ersten Bandes von de Wettes Lehrbuch der historisch kritischen Einleitung in die Bibel31 arbeitete – schrieb de Wette 1839: »Ihr Unternehmen, werthgeschätzter Herr, sowie die Aufmerksamkeit und Gunst, welche meine Schriften in Ihrem Lande überhaupt finden, freut mich sehr, nicht um mein selbst willen, sondern weil ich darin ein Zeichen des lebendigen Geistes sehe, der in Ihrer Kirche herrscht, und der gewiss zum Bessern führen wird.«32

Von persönlichen Kontakten zum Übersetzer des Theodor ist indes nichts näheres bekannt. Als Clarke im September 1849 nach einer ausgiebigen Europareise auf den Spuren des Romanhelden nach Basel kam und dort den Autor von »des Zweiflers Weihe« zu treffen hoffte, war dieser gerade drei Monate zuvor verstorben.33 Der Erfolg des Romans in Amerika nahm in dieser Zeit erst richtig an Fahrt auf und bescherte Theodore, or the Sceptic’s Conversion in den Folgejahren noch weitere Auflagen.34 Befördert wurde das Interesse sicherlich auch durch weitere Übersetzungen und Publikationen. Zu nennen ist besonders die 1842 als Band XII und XIII in Ripleys Speciments erschienene Übersetzung von de Wettes vierbändiger Vorlesung über die Sittenlehre von 1823/24, die Samuel Osgood (1812–1880) unter

30 Aus Parkers Feder stammte auch der zeitgleich mit dem amerikanischen »Theo­ dore« erschienene Aufsatz Parker, Theodore: German Literature, in: The Dial. Maga­ zine for Literature, Philosophy, and Religion 1.3 (1841), 315–339. Parker sprach in dieser vielbeachteten Studie von einer regelrechten »german epidemic«, also einer Flut der Rezeption zeitgenössischer deutscher Literatur in Nordamerika, der besonders in Sachen Religion und Theologie eine fulminante Überlegenheit und Strahlkraft attestiert wird. 31 Vgl. de Wette, Wilhelm Martin Leberecht: A Critical and Historical Introduction to the Canonical Scriptures of the Old Testament, translated and enlarged by Theodore Parker, 2 Bde., Boston 1843. Die überaus erfolgreiche Übersetzung wurde in den Fol­ gejahren vielfach neu aufgelegt und gehörte im 19. Jahrhundert zu den verbreitetsten exegetisch-bibelwissenschaftlichen Studien in Nordamerika. 32 Vgl. den eigenhändigen Brief von de Wette an Theodore Parker vom 19.12.1839, Universitätsbibliothek Basel, Mscr. G VI 2, 66, Transkript: www.dewettebriefedition .org. 33 Clarke, James Freeman: Autobiography, Diary and Correspondence, hrsg. von Edward Everett Hale, Boston/New York 1891, 181. 34 Weit verbreitet ist die Auflage von 1856. Puknat: De Wette in New England, 388 erwähnt überdies noch eine Rezeptionswelle mit einer Neuauflage in den 1870er Jah­ ren.

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Zu den beigefügten Materialien und Quellen

dem Titel Human Life herausgab.35 Die dem kurz zuvor auf See ver­ unglückten de Wette- und Friesschüler Charles Follen freundschaft­ lich zugeeignete Übersetzung schließt im ausführlichen Vorwort des Übersetzers nahtlos an die zahlreichen Studien früherer Jahre an, durch die Osgood, der früher intensiv in Clarkes Transzendentalis­ mus-Organ Western Messenger mitarbeitete, die Werke de Wettes geradezu als die Theologie der Gegenwart und Zukunft präsentierte.36 Ähnliches kann auch für das im vorliegenden Band abgedruckte Vorwort zur Theodor-Übersetzung von James Freeman Clarke gel­ ten. Wie Osgood präsentiert auch Clarke die deutschsprachige Theo­ logie und Philosophie des 19. Jahrhunderts als in jeder Hinsicht überlegenen Leitstern für die amerikanische Literaturlandschaft. Als zentrale Attribute des besonderen »Geistes« deutscher Theologie wird neben der wissenschaftlich-kritischen Schärfe und spekulativen »Tiefe« besonders der Begriff des »Lebens« und der »Freiheit« hervor­ gehoben: »The qualities in the German mind which give its theology this preëminence are its life, freedom, depth, and comprehensiveness.«37

Es sei die »lebendige« und »frische« Sicht auf das »Wesen und den Geist der Religion«, durch die sich deutsche Theologie vor allen ande­ ren auszeichne, indem sie »religiöses Gefühl und praktisches Leben« vereinige.38 Als herausragendes Beispiel eines in solcher Weise kriti­ sche Bibelwissenschaft und innerlich-fromme Gefühlsdimensionen der Religion im Gewande des Romans miteinander vermittelnden Geistes wird dann de Wettes Theodor eingeführt.

35 De Wette, Wilhelm Martin Leberecht: Human Life; Or, Practical Ethics, trans­ lated by Samuel Osgood, 2 Bde., Boston/London 1842. 36 Zum Western Messenger und Osgood vgl. u.a. Habich, Robert D.: Transcenden­ talism and the Western Messenger. A History of the Magazine and Its Contributors, 1835–1841, London 1985 und Green, Judith Kent: A Tentative Transcendentalist in the Ohio Valley. Samuel Osgood and the ‘Western Messenger, in: Studies in the American Renaissance (1984), 79–92. 37 Vgl. das unten abgedruckte Translatorʼs Preface von Clarke, in der Originalpaginie­ rung S. IX. 38 Ebd., XVI.

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4. Das »Autor’s Preface« zur amerikanischen Übersetzung von W. M. L. de Wette Natürlich war sich James F. Clarke darüber bewusst, dass die Roman­ handlung des Theodor mit ihren zeitkontextuellen Bezügen und Anspielungen zur deutschen Geschichte, Kunst, Literatur, Wissen­ schaft und Politik dem amerikanischen Publikum als überaus voraus­ setzungsreich und nur schwer entschlüsselbar erscheinen musste. Auch vor diesem Hintergrund ist vermutlich das hilfreiche, die Romanhandlung zusammenfassende Inhaltsverzeichnis entstanden, das Clarke der Übersetzung beigab.39 Auf die Übersetzung des durch­ aus komplexen Sachregisters, mit dem de Wette die fachtheologischlehrbuchmäßige Erschließung seines Romans erleichtern wollte, wurde hingegen verzichtet. Stattdessen bat Clarke den Baseler Autor um ein an die amerikanische Leserschaft gerichtetes Geleitwort, in dem die inhaltlichen Zusammenhänge und autobiographischen Bezüge des Werkes etwas erhellt werden sollten. Wie im Untertitel zum »Vorwort des Autors zur amerikanischen Übersetzung« angege­ ben, kam de Wette dieser Bitte mit einen Brief vom 13. März 1841 nach, der als letzte Beigabe des vorliegenden Bandes abgedruckt ist. Es handelt sich dabei um das wohl bedeutendste der spärlichen Zeug­ nisse de Wettes über seinen eigenen Werdegang und seine Selbstver­ ortung in den theologischen Lagern seiner Zeit. Zugleich bietet der Brief die einzige verlässliche bzw. durch den Verfasser autorisierte Quelle zur Entschlüsselung der im Roman genannten Figuren und Anspielungen.40 Letztlich ist es ein ganz eigenes und bis in die Moderne aus­ strahlendes Kapitel europäisch-nordamerikanischer Geistes- und Kulturgeschichte, das sich in den von de Wette benannten Linien

39 Die deutschen Vorlagen enthalten kein Verzeichnis der dort lediglich durchnum­ merierten Kapitel. Für die aktuelle Neuausgabe von 2022 wurde daher nach dem Vorbild der amerikanischen Übersetzung ebenfalls ein die Inhalte der Kapitel abbil­ dendes Inhaltsverzeichnis neu angefertigt, vgl. die Neuausgabe des Theodor von 2022, 591–596. 40 Vgl. hierzu auch die Anmerkungen und Kommentare des Herausgebers in der Theodor-Neuausgabe von 2022 und die grundlegenden Überlegungen zur Entschlüs­ selung des Romans in Rogerson, John W.: W. M. L. De Wette. Founder of Modern Biblical Criticism. An Intellectual Biography (Journal for the Study of the Old Testa­ ment, Supplement Series 126), Sheffield 1992.

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Zu den beigefügten Materialien und Quellen

deutschsprachiger Theologie, Philosophie und Literatur und den ver­ schlungenen Pfaden ihrer Wirkungsgeschichte abzeichnet.

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I. De Wettes Theodor im Spiegel seiner Zeit

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Jan Rohls

De Wette und die Theologen- und Philosophenromane seiner Zeit

Als Martin Leberecht de Wette 1822 seinen theologischen Bildungs­ roman Theodor oder des Zweiflers Weihe veröffentlichte, konnte er sich an seinem philosophischen Gewährsmann Jakob Friedrich Fries ein Beispiel nehmen, der bereits 1813 einen philosophischen Lehrroman publiziert hatte. Er trug den Titel Julius und Evagoras oder die neue Republik, und seine Neuauflage 1822 wurde um einen zweiten Teil erweitert, in dem Fries seine gesamte Philosophie in Dialogform zusammenfasst. De Wettes Roman schildert, ohne den Anspruch zu erheben, ein Kunstwerk zu sein, die Bildungsgeschichte des evange­ lischen Geistlichen Theodor. Bereits ein Jahr nach der Publikation von de Wettes Roman erschien in kritischer Abgrenzung von ihm Tholucks Briefroman Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner oder die wahre Weihe des Zweiflers, in dem der Erweckungstheologe darlegte, wie er sich die wahre Weihe dachte. In der 1828 gedruckten zweiten Auflage seines Romans grenzt sich de Wette im Vorwort kritisch gegen Tholuck ab. Mit dem Verweis auf die Romane von de Wette und Tholuck rechtfertigt schließlich Karl Gutzkow, ein theolo­ gisch-philosophisch gebildeter Autor des Jungen Deutschland, seinen 1835 publizierten religionskritischen Roman Wally, die Zweiflerin, als dieser als gotteslästerlich angegriffen wird.

1. Fries und de Wettes philosophischer Hintergrund Wie Schleiermacher hatte auch de Wettes philosophischer Gewährs­ mann Jakob Friedrich Fries eine Erziehung in der Herrnhuter Brü­ dergemeine genossen, der sein Vater als Pfarrer diente, und ebenso wie bei dem reformierten Theologen kam es bei ihm zu einem Bruch mit dem dogmatischen System Zinzendorfs, ohne dass dies

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einen Abschied von der Religion bedeutet hätte. Die ›Marterschöne‹ des Heilands stieß ihn ab, und das Dogma vom stellvertretenden Versöhnungsopfer hielt er für ethisch inakzeptabel. »Ich verwarf darum keinen Augenblick die Bedeutung des religiösen Lebens und zweifelte nie an Gott und Unsterblichkeit.«1 Aufgabe der Philosophie sei es, die allem Sinnlichen überlegenen Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zu sichern. Fries fährt dann fort: »ihre Bedeutung für das Leben erkannte ich im Schönen und Erhabe­ nen, welches der Vorwurf aller religiösen Betrachtung, irriger wie wahrer, sei und wofür mir Jacobis Gefühlsstimmungen besondere Bedeutung gewannen.«2

Moral, Kunst und Religion hängen somit für Fries aufs engste zusam­ men. Zwar hatte er Fichte und Schelling in Jena gehört, aber 1803 in seiner Streitschrift Reinhold, Fichte und Schelling attackiert.3 Seine Neue Kritik der Vernunft, 1807 in drei Bänden erschienen, stellt eine vom Hauptstrom des Idealismus abweichende Fortbildung des kanti­ schen Ansatzes dar.4 Religion und Kunst nehmen dabei eine zentrale Stellung ein, wie die 1805 veröffentlichte Schrift Wissen, Glaube und Ahndung deutlich macht. Im selben Jahr wird Fries als Professor der Philosophie nach Heidelberg berufen, und hier, im Umkreis der Romantik und unter dem Eindruck des Scheiterns von Napoleons Russlandfeldzug sowie der nationalen Erhebung, entsteht im Lauf des Jahres 1813 der philosophische Roman Julius und Evagoras oder die neue Republik. In ihn lässt Fries Erinnerungen an seine dreijährige Hauslehrerzeit in der Schweiz einfließen. Zu Beginn des Romans sind die Jünglinge Woldemar, Otto und Arthur um den Greis Philanthes versammelt, der ihnen Hefte zu lesen gibt, in denen sie einiges aus dem Umgang der fürstlichen Brüder Eugen und Julius mit seinem Vater Evagoras erfahren. Julius stößt auf Evagoras in Luzern, also in der Schweiz, deren Gebirge er durchstreifen möchte, und sogleich entbrennt zwischen ihnen eine lebhafte Diskussion über Kunst und Religion. Evagoras sieht gegenwärtig beide in einem ärmlichen Zustand.

1 Hasselblatt, Meinhard: Jakob Friedrich Fries. Seine Philosophie und seine Persön­ lichkeit, München 1922, 14. 2 Ebd. 3 Fries, Jakob Friedrich: Reinhold, Fichte und Schelling, Leipzig 1803. 4 Fries, Jakob Friedrich: Neue Kritik der Vernunft, 3 Bde., Heidelberg 1807.

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»Schönheit und Religion, die beiden himmlischen Schwestern, fremd sind sie unserem öffentlichen Leben; nur aus dem Leben fremder Völker haben wir noch ihre zerstückelten Abbilder.«5

Bei der Religion denke man nur an die Kirche als Umbildung des Judentums, und ihre Wahrheit versuche man aus alten Schriften zusammen zu buchstabieren. Die Schönheit hingegen entdecke man bloß in der Kunst der Vergangenheit. Gemeinsam mit Evagoras überquert Julius am nächsten Morgen den Vierwaldstätter See, um den Rigi zu besteigen. Auf der Wanderung setzen sie ihre Gespräche fort, wobei Evagoras seinem neu gewonnenen Freund erklärt, dass der Glaube seinen eigentlichen Sitz im Gefühl habe und aufs engste mit der Sittlichkeit verbunden sei. »Allerdings ist also die richtige und wahrhafte Ausbildung der religiö­ sen Überzeugung für den Menschen von hoher Wichtigkeit, indem wir ohne sie die Ideale des sittlichen Lebens nicht vollenden und die höhere Selbstverständigung nicht erreichen können, welche dem Menschen die sichere Ruhe der Seele gewährt.«6

Die religiöse Überzeugung aber komme nicht zustande durch Beweise, die immer schon von unmittelbaren Voraussetzungen aus­ gehen, sondern sie sei eine unmittelbare Gewissheit, wie denn die ganze menschliche Überzeugung letztlich auf einer solchen Gewiss­ heit beruhe. Denn »die ganze menschliche Überzeugung ist auf den ersten unmittelbaren Glauben des Menschen an sich selbst gegründet, auf den Glauben, daß seine Vernunft etwas tauge, daß Wahrheit in ihr lebe«7. Ebenso liegen aber Evagoras zufolge den religiösen Meinun­ gen unmittelbare Überzeugungen zugrunde, vor allem den zentralen religiösen Ideen von Gott und Unsterblichkeit. Der Glaube an Gottes Dasein sei dem Menschen unmittelbar ins Herz geschrieben, so dass es keiner Gottesbeweise bedürfe. Religiöse Wahrheiten hingen daher auch nicht an Geschichte, Erzählung und Überlieferung, sondern seien unserem Geist eingeboren. Doch Evagoras belässt es nicht bei der Verankerung der Religion in der Unmittelbarkeit des Gefühls, sondern er geht auch auf die Frage des Julius nach der Mitteilbarkeit der religiösen Überzeugung ein. Jede lebendige Mitteilung sei an das Bild gebunden. Fries, Jakob Friedrich: Julius und Evagoras, hrsg. von Wilhelm Bousset, Göttingen 1910, 29. 6 Fries: Julius und Evagoras, 41. 7 Fries: Julius und Evagoras, 67.

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»In Sprache und religiösem Kultus muß dem öffentlichen Leben der Völker das heilige Werk der religiösen Symbolik gelingen, wenn sich die einzelnen Gedanken der Andacht kräftig berühren sollen.«8

Allerdings dürfe das Bild in Symbol und Mythos nicht mit der Sache, dem allen Menschen gemeinsamen Glauben, verwechselt werden. In ständigem Gespräch begriffen durchwandern Julius und Eva­ goras die Schweizer Alpen, um sich schließlich, in Oberitalien ange­ langt, auf den Borromeischen Inseln zu trennen. Doch kurz darauf treffen sie sich in Mailand wieder, und dort berichtet Julius seinem Bruder Eugen von ihren Unterhaltungen, die nun nicht mehr die Reli­ gion, sondern die Ästhetik betreffen. Angesichts des Montblanc lenkt Julius das Gespräch auf den Unterschied zwischen dem Erhabenen und dem Schönen. Evagoras klärt seinen Freund in Anlehnung an Kant über die Natur des Erhabenen auf. »Du kannst hier am Beispiel des Erhabenen in Gegenständen der äuße­ ren Natur sehr klar erkennen, wie alles Bedeutsame im Menschenleben seine Gewalt nur erhält von der Idee der Selbständigkeit geistiger Kraft in uns. Nicht der Gegenstand draußen ist das Erhabene, sondern diese Erhabenheit ist nur in dir; der Gegenstand regt dein Selbstgefühl an.«9

Das Gefühl des Erhabenen werde entweder erregt durch Gegenstände wie das weite Meer, die Pyramide oder den Fels, die zum Bild des unendlichen Ganzen werden, oder durch die Gewalt in der Natur, die unserer Kraft unüberwindlich drohend erscheint. In der Kunst vermag Evagoras die Erhabenheit nur bei den griechischen Tragikern zu entdecken, während er sie in der modernen Kunst trotz Goethe und Schiller vermisst, da uns die Welt der Helden, die Mythologie und das Schicksal fehlten. Vom Erhabenen, das sich mit dem sittlichen und religiösen Gefühl berühre, sei das Schöne zu unterscheiden. Das Erhabene sei Seelengröße, das Schöne hingegen die reine Erscheinung des geistigen Lebens, die ihren höchsten Ausdruck in der schönen Seele finde. Allerdings deutet Evagoras den Sieg des Christentums über das griechische Heidentum auch als einen Sieg des Begriffs und der Wahrheit über den Geschmack und die Schönheit. Das jüdische Bilderverbot habe zum Ikonoklasmus und zur Zerstörung der antiken Kunstwerke geführt, und im christlichen Mittelalter habe sich der poetische Sinn nur untergeordnet in Ritter- und Minnewesen 8 9

Fries: Julius und Evagoras, 78. Fries: Julius und Evagoras, 95.

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gezeigt. Trotz des Aufschwungs in der Renaissance habe mit Refor­ mation und Aufklärung zwar die Wissenschaft, nicht aber die Kunst einen Aufschwung genommen. In Rom stoßen Julius und Evagoras schließlich auf eine Künstlergesellschaft, in der der Maler Krates die griechische Plastik hoch über die Malerei der Italiener, Deutschen und Niederländer stellt und ausruft: »Jawohl, entweder heiliger Ernst für die Kunst, mit dem sie ehedem hocherhabenen Idealen der Religion diente – oder es bleibt ihr nur nichts geltende, verächtliche, gemeine Handwerkerei!«10

Als man anderntags Krates in seinem Atelier aufsucht, macht er sich nicht nur für die Kunst der Griechen, sondern auch für ihren freien, republikanischen Sinn stark, was ihn schließlich zum Eintritt in die Armee bewegt. Als Julius und Evagoras sich nach Neapel aufmachen, treffen sie auf ihrem Weg zum Vesuv eine Mutter mit ihrer Tochter wie­ der, die sie zuvor bereits in den Vatikanischen Museen vor den Gemälden Raffaels gesehen hatten und die sie nunmehr vor einer Räuberbande retten können. Es handelt sich um zwei Amerikanerin­ nen, die bei dem amerikanischen Gesandten in Neapel zu Gast sind. Während der bei der Abwehr der Räuber verletzte Evagoras kurz darauf seine Heimreise antritt, verspricht ihm Julius, in die Armee einzutreten, um sein Vaterland zu befreien. In einem an seinen Bruder gerichteten Brief berichtet Eugen von den Veränderungen in der Heimat, von der Begeisterung des inzwischen dort eingetroffenen Evagoras über die durchgeführten Reformen und die Stiftung eines Bundes der Vaterlandsfreunde. Gleichzeitig erinnert er Julius an seine Jugendfreundin Amalie, die seinem Eintritt in die Armee mit Sorge entgegenblickt. Julius wendet sich daraufhin ratsuchend an Evagoras, dem er seine Liebe zu Cäcilie, der jungen Amerikanerin, gesteht. Schließlich verzichtet Amalie auf Julius, der sich mit Cäcilie verlobt, sie mit ihrer Mutter in seine Heimat schickt und selbst zur Armee geht. Aus den hinterlassenen Papieren Cäcilies erfährt man nun etwas über die Abendunterhaltungen, die zwischen Evagoras, Eugen, Cäcilie und anderen Mitgliedern der Hofgesellschaft geführt wurden. Zunächst geht Evagoras auf die Entwicklung der Kultur ein. Eigentliche Kulturgeschichte beschränkt sich für ihn auf Europa und die Mittelmeergegend. 10

Fries: Julius und Evagoras, 125.

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»So ist dann der einzige lebendige Zweig an dem Stamm der Men­ schenbildung die Kultur der Christenheit oder der Europäer, die noch im schnellen Steigen ist. Unsere Lehrer waren Griechen, Römer und Juden, unsere selbständige Bildung aber gehört den eingewanderten germanischen Stämmen.«11

Mit der Frühen Neuzeit habe die europäisch-christliche Kultur ihren Siegeszug in der Welt angetreten. Aber auch hier beklagt Evagoras wieder den Mangel an schöner Kunst bei einem Übergewicht der Wis­ senschaft. »Zugleich hat die Nüchternheit unserer philosophischen Religionsbegriffe uns die große ästhetische Bedeutung der Religion, die religiöse der Schönheit geraubt.«12Allerdings habe der Geist der christlichen Religion zu einer klareren sittlichen Einsicht, einem feineren sittlichen Gefühl und einer reineren Frömmigkeit geführt. Den Gemeingeist als Geist der Gerechtigkeit und reine öffentliche Tugend gelte es auszubilden und dem Gott der Gerechtigkeit solle der jugendliche Enthusiasmus einer neuen Religion dienen. Ein zweites Thema, das die Gespräche am Hof bestimmt, ist die Vorsehung, wobei Evagoras von der Unerkennbarkeit des Weltzwecks ausgeht. »Die Idee des Zwecks der Welt gehört nur dem Glauben und Gefühl.«13 Nach einem Blick in die hinterlassenen Papiere Cäcilies mit den Aufzeich­ nungen der Abendgespräche wendet der Roman sich wieder Julius zu, der während einer kurzen Friedenszeit Cäcilie heiratet, die allerdings bald nach der Geburt eines Sohnes von einer Krankheit dahingerafft wird. Im anschließenden Freiheitskampf fällt zwar Eugen, doch das Kriegsgeschick wendet sich bald zu Gunsten der Freiheitskämpfer, und der erste Teil des Romans endet damit, dass Julius und Evagoras sich zur Ratsversammlung begeben, wo man die noch heute gültigen Grundgesetze des Staates beschließt. Die Handlungsarmut steigert sich noch im zweiten Teil des philo­ sophischen Romans, in dem zunächst Philanthes, der inzwischen zum Greis gealterte Sohn des Evagoras, mit den Jünglingen Woldemar, Otto und Arthur über das Verhältnis von Religion und ästhetischem Gefühl diskutiert. Woldemar vertritt die Meinung, »daß jede große Gestaltung in den schönen Künsten im Dienste der Religionsübung erzeugt worden sei«.14 Otto legt sodann die Verbindung der Ideen des 11 12 13 14

Fries: Julius und Evagoras, 191. Fries: Julius und Evagoras, 193. Fries: Julius und Evagoras, 207. Fries: Julius und Evagoras, 265.

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Glaubens mit dem religiösen Gefühl der Begeisterung, Aufopferung und Andacht dar, die wiederum aufs engste mit den ästhetischen Gefühlen des Schönen und Erhabenen verknüpft seien. Vor allem sei die Andacht als die eigenste Gefühlsstimmung der Religion mit dem Gefühl des Erhabenen verbunden. Arthur zitiert ausdrücklich Schleiermachers erst ein Jahr zuvor erschienene Glaubenslehre, wenn er auf einen unserer ersten Lehrer verweist, der alle Religion aus dem Abhängigkeitsgefühl des Menschen herleite. Philanthes schließlich gelangt zu dem Schluss, dass der Herzensreligion als dem inners­ ten Kern unseres sittlichen Lebens die höchste Idee der ewigen Wahrheit und der Glaube an die göttliche Weltregierung, die ewige Bestimmung des Menschen und die ewige Reinigung und Heiligung seines Willens dienten. Der Glaube werde uns aber lebendig in der ästhetischen Auffassung der Dinge, in den Gefühlen des Schönen und Erhabenen, die durch Bildersprache und bildliche Zeichen vermit­ telt würden. Mit der wissenschaftlichen Fortbildung der Sitten- und Glaubenslehre ändere sich aber auch die religiöse Symbolik, und es komme alles darauf an, dass man die Symbole nicht mit den Glau­ benswahrheiten verwechsle. Philanthes betrachtet das Christentum nicht als eine positive Religion neben anderen, sondern für ihn ist das wahre Christentum die Weltreligion, deren Ideal die Stiftung des Reiches Gottes auf Erden, das heißt die Vereinigung der Menschheit durch den Geist der demütigen Bruderliebe, ist. Er plädiert auch für ein ästhetisches öffentliches Leben, in dem sich der Geist des ganzen Volkes manifestiert, und denkt dabei auf dem Hintergrund der Befreiungskriege vor allem an patriotische Feiern und Denkmäler. Zentral für sein Religionsverständnis ist das Gefühl der Ahndung. Denn dass die wahre Welt die Welt des Guten und Schönen ist, vermag man nicht »wissenschaftlich in der Natur anzuerkennen, sondern nur in jenen Schönheitsgefühlen der Ahndung, welche kein menschlicher Begriff festzuhalten vermag, welche niemand lehren kann, obgleich der gebildete Geist in ihnen lebt«.15

2. De Wette und die ästhetisch-religiöse Weltsicht Als die um den zweiten Band erweiterte Ausgabe von Julius und Eva­ goras erschien, war Fries bereits seit drei Jahren von seiner Jenaer 15

Fries: Julius und Evagoras, 409.

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Professur suspendiert, auf die er 1816 berufen worden war. Grund seiner Absetzung waren seine Beteiligung am Wartburgfest der deut­ schen Burschenschaften zum Reformationsjubiläum und vierten Jah­ restag der Leipziger Völkerschlacht am 18. Oktober 1817 und die zwei Jahre später erfolgte Ermordung des Dichters August von Kotzebue in Mannheim durch seinen ehemaligen Schüler, den evangelischen Theologiestudenten und radikalen Burschenschaftler Karl Ludwig Sand. Kotzebue war russischer Generalkonsul und galt den national gesonnenen Burschenschaftlern als russischer Spion, dessen Geschichte des deutschen Reichs man bei der Bücherverbrennung auf dem Wartenberg ebenso den Flammen übergab wie den napoleoni­ schen Code civil und die Germanomanie des jüdischen Autors Saul Ascher. Fries selbst hatte bereits ein Jahr vor dem Wartburgfest in seiner Rezension Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charak­ ters der Deutschen durch die Juden seinem Antisemitismus freien Lauf gelassen, dabei allerdings zwischen den Juden und der Judenschaft unterschieden. »Nicht den Juden, unsern Brüdern, sondern der Judenschaft erklären wir den Krieg. […] Die Judenschaft ist ein Ueberbleibsel aus einer ungebildeten Vorzeit, welches man nicht beschränken, sondern ganz ausrotten soll. Die bürgerliche Lage der Juden verbessern heißt eben das Judenthum ausrotten, die Gesellschaft prellsüchtiger Trödler und Händler zerstören.«16

Es müsse im Selbstinteresse der Juden liegen, dass der Judenschaft durch Regierungsmaßnahmen rasch ein Ende bereitet werde. Die Judenschaft charakterisiert Fries dadurch, dass die Juden eine eigene Nation oder Rasse, eine politische Verbindung, eine Religionspartei und eine Mäkler- und Trödlerkaste bilden. Er möchte nicht einmal die jüdische Religion geduldet sehen, weil ihr Gott der exklusive Nationalgott der Juden sei, die Juden nach dem Talmud lebten und ihre Religion untrennbar mit einer theokratischen Staatsverfassung der despotischen Rabbiner verwachsen sei. Vielmehr fordert Fries, »dass diese Kaste mit Stumpf und Stiel ausgerottet werde«.17 Das bedeutet für ihn nicht etwa, dass die Juden physisch vernichtet, sondern dass sie vom Judentum befreit werden. Er bezieht ausdrücklich Stellung 16 Fries, Jakob Friedrich: Ueber die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden, Heidelberg 1816, 10. 17 Fries: Ueber die Gefährdung, 18.

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gegen Lessings Nathan und sieht in der Judenemanzipation nur den schädlichen Einfluss der französischen Fremdherrschaft, den der Deutsche Bund rückgängig machen solle. Wenn die Juden nicht mit den Christen zu einem bürgerlichen Verein verschmelzen können, solle man ihnen alle Bürgerrechte aberkennen und »sie zum Lande hinaus weisen«.18 Weil Fries sich mit den Burschenschaftlern solida­ risierte, als man sie wegen der Vorgänge beim Wartburgfest angriff, wurde eine Kriminaluntersuchung gegen ihn eingeleitet, und nach der Ermordung Kotzebues wurde er ein Opfer der mit den Karlsba­ der Beschlüssen einsetzenden Demagogenverfolgung. Er verlor auf Drängen Preußens und Österreichs seine Professur, ähnlich wie der mit ihm seit gemeinsamen Heidelberger Tagen befreundete Berliner Theologe Wilhelm Martin Leberecht de Wette, der der Mutter Sands nach dessen Hinrichtung einen Kondolenzbrief hatte zukommen lassen. De Wette teilte nicht nur die politischen Anschauungen von Fries, die Verteidigung der Presse- und Redefreiheit und das Eintre­ ten für die Verfassung, aber auch den Antijudaismus, sondern er übertrug auch dessen Philosophie auf die Theologie. Nach seiner Entlassung ließ er sich zunächst in Weimar nieder, wo er – wiederum in Anlehnung an Fries – seine theologischen Überzeugungen in seinen Lehrroman Theodor oder des Zweiflers Weihe kleidete, der 1822 erschien. Der Roman beginnt mit dem Besuch, den der Theologiestudent Theodor gemeinsam mit seinem Kommilitonen Landeck seiner ver­ witweten Mutter und seiner Schwester Friederike im heimatlichen Rittergut abstattet. Als er an der häuslichen Abendandacht des Pfar­ rers, seines Jugendlehrers, teilnimmt, kommen ihm Zweifel an seiner Berufswahl, zu der ihn die Mutter wegen eines Gelübdes gedrängt hatte. De Wette lenkt dann den Blick zurück auf den Entwicklungs­ gang Theodors, der schließlich mit seinem Jugendfreund Johannes das Theologiestudium aufnimmt. Während Johannes fest in seiner Frömmigkeit verwurzelt bleibt, wachsen bei Theodor die Zweifel. »Das Ergebnis der theologischen Studien des ersten Jahres war für Theodor die Erschütterung aller seiner bisherigen Ueberzeugungen von der Geschichte der Entstehung des Christenthums: die heilige Umstrahlung, in welcher ihm bisher das Leben Jesu und die ganze evangelische Geschichte erschienen, war verschwunden.«19 18 19

Fries: Ueber die Gefährdung, 23. Theodor 16 (21828 I, 19f.).

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Die Zweifel schwinden auch nicht, als er im nächsten Semester eine Vorlesung bei einem im Verdacht der Irrlehre stehenden Theologen – gemeint ist wohl Paulus – hört, der die Wunder natürlich erklärt und die Aussprüche Jesu auf Vernunftwahrheiten der kantischen Moral zurückführt. Auch vermag er den kantischen Gott, ein bloßes Gedan­ kengebilde der Vernunft, nicht zu identifizieren mit dem lebendigen Gott der Propheten und dem Vater Jesu. Nach und nach verabschiedet Theodor die ganze alte Glaubenslehre, und die Begeisterung für die sittlichen Ideale, die ihm die Philosophie vermittelt, lässt ihn für die Französische Revolution Partei ergreifen. Zu diesem Zeitpunkt lernt er Landeck kennen, einen ohne rechte religiöse Bildung groß gewordenen Studenten der Staatswissenschaft und Sohn eines vor­ nehmen Staatsbeamten in der Hauptstadt, die man unschwer als Berlin erkennt. Als er nun mit Landeck seinen Heimatort besucht, kommt es auch zu einem Gespräch mit dem alten Pfarrer, mit dem er über die Rechtfertigungslehre streitet. Sie ist für ihn eine nur gegen das mosaische Gesetz gerichtete zeitbedingte Lehre. Auch sei der Glaube nicht das gläubige Ergreifen der Gnade Gottes in Christo, sondern die sittliche Überzeugungstreue. Auf ihrem Rück­ weg zur Universität besucht Theodor mit Johannes eine Herrnhuter Gemeinde, deren Schlichtheit ihn zwar beeindruckt, doch fühlt er sich von der Blut- und Wundentheologie ebenso angewidert wie von der übertriebenen Demut der Brüder. Im Studium stößt ihn die Vorlesung eines ihm vom Pfarrer empfohlenen alten Theologen über die Glaubenslehre ab, in der der Rationalismus als Vorbereitung des Atheismus scharf verurteilt und stattdessen supranaturalistisch gefordert wird, die Offenbarung im Glaubensgehorsam anzunehmen. Enttäuscht von der Theologie wendet sich Theodor der Reli­ gionsphilosophie zu und befreundet sich mit dem schöngeistigen Sebald, einem Anhänger der Naturphilosophie Schellings und der Brüder Schlegel, der den rationalistischen Theologen mit seiner natürlichen Wundererklärung als gemütlosen Flachkopf beschimpft. Für ihn ist die Vernunft die ursprüngliche Offenbarung des göttlichen Wesens der Dinge, mit der wir das ewige Abbild Gottes in Natur und Geschichte erblicken. Sebald empfiehlt Theodor die Lektüre von Schellings Vorlesungen über das akademische Studium, deren Konstruktion des Christentums Theodor aber mit der geschichtli­ chen Wahrheit unvereinbar scheint. Was ihn an Schelling vor allem abstößt, ist die Vorstellung von Gott als dem Absoluten, das sich, um sich selbst zu erkennen, schaffend in die Welt ergießt.

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»Aber die dunkle Ahnung von etwas Höherem, als er bisher gefaßt hatte, von einer über dem sittlichen, worin er bisher befangen gewesen, liegenden Bedeutung der Religion, war durch diese Lesung in seine Seele geworfen.«20

Während Johannes nach seinem Studium Pfarrer in seiner Heimat­ gemeinde wird, tritt Theodor auf Anraten Landecks eine Stelle im Innenministerium an und taucht in das Leben der Hauptstadt ein. An der dortigen Universität hört er auch die philosophischen Vorträge jenes berühmten Lehrers, der ihn schließlich am meisten prägen wird und hinter dem man de Wettes Nestor Fries wiedererkennt. Dessen System, das sich ihm als Vereinigung von Kant und Schelling darstellt, geht von einem als Glauben genannten Urbewusstsein als Quelle der Vernunft aus, wobei er die unmittelbar vernehmende Vernunft vom reflektierenden Verstand unterscheidet. Den Glauben ordnet er so zu Theodors Erstaunen und Freude der Vernunft zu, der er auch eine innere Offenbarung zuspricht. So wird Theodor im Laufe der Zeit zu einem gelehrigen Schüler des Philosophen. Gleichzeitig entwickelt sich ein Liebesverhältnis zu Landecks Schwester Therese, während Landeck selbst Friederike zur Frau nimmt. Mit der nicht uneitlen Therese besucht er das Theater, und in abendlicher Runde diskutiert man über Schillers Jungfrau von Orleans, der ein anwesen­ der Prediger katholischen Mystizismus vorwirft. Theodor macht auch die Bekanntschaft von Härtling, der – offenbar dem Turnvater Jahn nachgebildet – einen langen Bart und altdeutsche Kleidung trägt, nach spartanischem Vorbild die Abhärtung der Jugend durch Leibesübun­ gen im Dienste der Gemeinschaft propagiert und für die allgemeine Volksbewaffnung eintritt, um sich der feindlichen Besatzungsmacht zu entledigen. Sehr zum Missfallen von Thereses Vater gerät Theodor immer stärker unter den Einfluss seines philosophischen Lehrers, von dem er die Kritik am Formalismus der kantischen Pflichtethik und ihrer Ausblendung des Gefühls übernimmt. Auch verteidigt er mit Schleiermachers »Reden« die Selbstständigkeit der als Gefühl des Universums bestimmten Religion. »Noch nie hatte ein Buch einen solchen Eindruck auf unsern Freund gemacht, wie dieses; er las es mehrmals hinter einander durch, um die Menge von Ideen zu fassen, welche es in ihm anregte.«21 20 21

Theodor 48 (21828 I, 63). Theodor 129 (21828 I, 167).

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Allerdings bemängelt sein philosophischer Lehrer, dass Schleierma­ cher das Universum nicht näher als die ewige Einheit und Zweckmä­ ßigkeit der Dinge bestimmt habe, und seine eigenen Ausführungen über Ästhetik und Religion führen Theodor zu dem Ausruf: »Jetzt verstehe ich, was in den Reden über die Religion von der Verwandt­ schaft der Kunst mit der Religion gesagt ist.«22 Sein Lehrer meint jedoch, dass Schleiermacher die Kunst recht stiefmütterlich behandelt habe, und vertröstet Theodor auf seine eigenen Vorlesungen über Ästhetik. Die Kunst ist auch Stoff seiner Gespräche mit Therese. Nach Opernbesuchen unterhalten sich beide über Musik, wobei sie der deutschen Oper den Vorzug vor der italienischen geben. Theodor schätzt Mozart und Beethoven, vor allem aber Gluck, Therese liebt hingegen Mozarts Zauberflöte über alles. Ihr Freund sieht die Musik neben der Dichtung zudem als einzige Kunst, in der man gegenwärtig etwas leiste, während Malerei und Plastik fast untergegangen seien. Zugleich bemängelt er aber an der reinen Instrumentalmusik, dass sie in Ermanglung eines Themas vielfach nur der Zerstreuung diene. In den Ästhetikvorlesungen seines Lehrers erfährt Theodor schließlich, dass die schönen Künste Erzieherinnen der Menschen zur Sittlichkeit und Priesterinnen des Heiligen seien und das religiöse Gefühl eine ästhetische Symbolik entwickle, was allerdings vom Protestantismus zu wenig begünstigt werde. Theodor selbst beklagt die Kälte des protestantischen Gottesdienstes. »Das einzige Ästhetische darin ist der Gesang, dessen Weisen einfach und rührend, dessen Worte aber meistens undichterisch und aus einer veralteten Dogmatik entlehnt sind, und der auf jeden Fall zu gedehnt und einförmig ist.«23

Doch nicht nur den Protestantismus hält Theodor für kunstfeindlich, das Christentum als solches habe vielmehr ein gestörtes Verhältnis zur Kunst, weil es als Erbe des Judentums mit seinem Bilderverbot den Akzent auf die Wahrheit und Wissenschaft gelegt habe. Allerdings gelangt er schon bald zu der Einsicht, dass das Christentum sich positiv vom Judentum und griechischen Heidentum unterscheide. Denn »im Christenthum ist alles in Einem gegeben, das Wahre und Gute hat mit dem Schönen den unauflöslichen Bund geschlossen, und hat seine leibhafte Erscheinung gefunden in dem menschgewordenen 22 23

Theodor 134 (21828 I, 174). Theodor 181 (21828 I, 235).

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ewigen Worte, in der Verklärung der Menschheit in Christo«.24 Die evangelische Geschichte sei eine symbolische Deutung der Geschichte Jesu, wobei deren Anfang und Ende, also Jungfrauengeburt und Auferstehung, rein symbolisch seien. Während Theodor sich über das Verhältnis von Kunst und Religion mit seinem Jugendfreund Johannes und dem Hilfsprediger Walther austauscht, verändert sich die politische Lage dramatisch. Die feindliche Armee – gemeint ist Napoleons Armee in Russland – befindet sich geschlagen auf dem Rückzug, und Härtling überbringt die Nachricht von der allgemeinen Volksbewaffnung. Theodor will sich daraufhin aus Vaterlandsliebe der Landwehr anschließen, um den Feind aus der Heimat zu verjagen. Das führt zum Zerwürfnis zwischen ihm und Therese und schließlich zu ihrer Trennung. Mit Johannes als Feldprediger zieht Theodor in die Schlacht und stößt abends in dem ihm als Quartier zugewiesenen Schloss auf eine vor einem Marienbild betende Frau, die einen tiefen Eindruck auf ihn macht. Erst später erfährt er, dass sie Hildegard, die Schwester jenes adeligen Offiziers Otto von Schönfeld ist, mit dem er nach der Heilung einer Kriegswunde zurück zur Truppe reist. Otto ist rheinischer Katholik, so dass es zwischen ihm und Theodor zu intensiven Gesprächen über die konfessionellen Unterschiede kommt, die zunächst um den Kirchenbegriff kreisen. Einem katholi­ schen Geistlichen legt Theodor seine Ansicht von der Entwicklung des Christentums dar, wobei er zwei Mängel des Protestantismus benennt, nämlich neben dem Fehlen der Gemeinschaft das Überge­ wicht des Denkens über das Gefühl, den Mangel an Poesie im religiö­ sen Leben. Zwar gestatte der Katholizismus der Kunst und Dichtung mehr Einfluss, doch herrsche in ihm zuviel Aberglaube und grobe Sinnlichkeit. »Wenn einst die reine Geistigkeit des Protestantismus sich mit einer anschaulichen, glänzenden Hülle umgibt: dann wird etwas viel Höheres zu Stande kommen, als die katholische Kirche jetzt aufweisen kann.«25 Nachdem die beiden Freunde zu ihren Truppen zurückgekehrt sind und der Feind geschlagen ist, begibt sich Theodor zunächst auf eine Reise nach England und Holland, um die dortigen kirchlichen Verhältnisse kennen zu lernen. Zurück in Deutschland, muss er erkennen, dass sowohl in der Politik wie auch in der Kirche die Restauration Einzug gehalten hat. Als er in Zürich den Prediger 24 25

Theodor 189 (21828 I, 245). Theodor 246 (21828 I, 30).

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Walther wieder trifft, kann er an ihm den Umschwung vom Rationa­ lismus zu einem in seinen Augen krankhaften supranaturalistischen Offenbarungsglauben, der vom Sündenelend des Menschen ausgeht, studieren. Gleichwohl beschließen beide, gemeinsam die Schweizer Berge zu erkunden, und als sie den Rigi besteigen, treffen sie zu Theodors Überraschung und Freude auf Otto und Hildegard, die sich mit ihrem Vater in Luzern aufhalten. Gemeinsam besucht man die Stätten, die an Tell erinnern, und bewundert, wie die Schweizer das Vaterländische mit dem Religiösen zu vereinigen wissen. Während Hildegard kurz darauf ihren Vater auf einer Geschäftsreise nach Paris begleitet, trennen sich Otto und Theodor nach einer Wanderung durchs Berner Oberland auch von Walther und begeben sich über Straßburg nach Deutschland zurück. Seiner Bewunderung für das Straßburger Münster verleiht Theodor in einem längeren Aufsatz Ausdruck. Der Kunstschönheit wird ein höherer Rang eingeräumt als der Naturschönheit, weil das Kunstwerk durch den menschlichen Geist geprägt ist, und im Münster Erwins von Steinbach finde sich der Geist eines gläubigen Christen ausgedrückt. Alle Kunst stehe im Dienst der Religion. Wie der niedrige griechische Tempel eine Religion ohne Glauben an das Unsichtbare so spiegele das himmel­ strebende Münster den auf das Unendliche gerichteten christlichen Glauben. Als Theodor an einer berühmten deutschen Universität einen Theologen findet, der ihm die zentralen christlichen Dogmen einschließlich der Rechtfertigungslehre ansprechend interpretiert, erwacht neben der Liebe zur christlichen Kunst auch seine Liebe zum Pfarramt aufs neue. Da man mit Ottos Vater und Schwester verabredet hatte, sich in Rom wieder zu sehen, begeben sich die beiden Freunde über Freiburg, wo sie das Münster besuchen, nach Italien. Auf der Fahrt kommen sie auf den Kirchenbau zu sprechen, wobei Otto den wenig vorteilhaften Einfluss des Protestantismus auf den Kirchenbau bemängelt. »Er äußerte sich besonders in lebhaftem Tadel über eine neuerbaute protestantische Kirche, die er in einer süddeutschen Residenz gesehen hatte, und deren Bauart ihm zwischen der eines griechischen Tempels und der eines modernen Theaters zu schweben schien.«26

Gedacht ist wohl an Weinbrenners evangelische Stadtkirche in Karls­ ruhe mit ihrer Vorhalle, die mit ihren sechs korinthischen Säulen und 26

Theodor 387 (21828 II, 216).

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einem umlaufenden Friesornament einem antiken Tempel nachemp­ funden ist. Theodor hält zwar den altdeutschen gotischen Kirchenty­ pus dem katholischen Gottesdienst für angemessen, empfiehlt aber für den protestantischen Gottesdienst, für den die um die Predigt versammelte andächtige Gemeinde zentral sei, ein ovales Bauwerk, das oben in ein hohes Spitzgewölbe ausläuft. Im römischen Haus des alten Schönfels trifft Theodor dann bei einer abendlichen Gesprächsrunde, in der man über Kunst debattiert, seinen alten Studienkollegen Sebald wieder, der inzwischen Maler geworden ist und der christlich-romantischen Schule angehört. Sie »wollte sich des wahren christlichen Geistes befleißigen, verachtete die alte Kunst als heidnisch, setzte über Alles den Ausdruck des einfältigen, demüthigen Glaubens, und empfahl die Nachahmung der alten deutschen und italienischen Maler, indem ihr selbst Raphael zu heidnisch vorkam, und der Form und Schönheit zu viel gehuldigt zu haben schien.«27

Sebald wird unverkennbar als Nazarener porträtiert, und wie Over­ beck und andere konvertiert er zum Katholizismus. In der abendlichen Diskussion vertritt er mit der Entschiedenheit eines Konvertiten die Gegenposition zu einem Anhänger der griechisch-klassischen Schule. Die Griechen hätten nur die äußere, nicht wie die Christen die geistige Schönheit festgehalten. Anderntags sucht Theodor Sebald in seiner Wohnung auf, wo er ihn vor einem Kruzifix und Totenkopf kniend findet. Seine Konversion begründet der Maler mit der hierar­ chischen Struktur der katholischen Kirche und ihrer Hochschätzung von Kultus, Kunst, Symbolik und Mythologie, während Theodor im katholischen Kultus die sittlichen Ideen vermisst. Die konfessionellen Differenzen spielen auch in seinen Gesprächen mit den Schönfels eine Rolle, wobei Hildegard sogar einräumt, beim vierstimmigen Gesang in einer Zürcher Kirche Andacht empfunden zu haben. Als sie den Petersdom besuchen, kritisiert Theodor bei aller Würdigung der Leistung Michelangelos am römischen Kirchenbau, dass man hier anders als im Norden nicht zu einem eigentümlich christlichen Stil gefunden habe. Auch korrigiert er mit dem Hinweis auf Dürer und Cranach Sebalds Vorwurf, dass der Protestantismus kunstfeindlich sei. Als der frömmelnde Maler sich auf unzüchtige Weise Hildegard nähert, kommt es zum Bruch mit ihm, und Theodor bemüht sich nun umso mehr, Ottos Schwester für sich zu gewinnen, was ihm 27

Theodor 393 (21828 II, 224).

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schließlich auch gelingt. Hildegard lässt sich von den Vorzügen des Protestantismus überzeugen und konvertiert, um mit Theodor nach Deutschland zurückzukehren, während Otto sich für den Priesterbe­ ruf entscheidet, um der Reform der katholischen Kirche zu dienen. Bevor sie Rom verlassen, nehmen sie noch am Karfreitagsgottesdienst in der Sixtinischen Kapelle teil, wo sie ergriffen dem berühmten »Miserere« lauschen. Dies führt die Freunde zu einem Gespräch über die Musik. Theodor bezeichnet sie als »die heiligste Kunst, die Kunst der Andacht. Andacht im eigentlichen Sinne, nenne ich die höchste Gemüthserhebung, den Aufschwung der Seele zum Allerheiligsten, die Aufregung des Gefühls in seinem innersten Grund, die Ahnung der höheren Weltordnung, welche sich in keinem bessern Bilde, als dem der Harmonie, versinnlichen läßt.«28

Alle sind sich darin einig, dass in der Kirche nur die Orgel und der Gesang ihren Platz haben und alle Instrumentalmusik aus ihr zu verbannen sei. Was Michelangelos Fresken in der Sixtina betrifft, so bemängelt Theodor, dass der Maler hier das Gebiet der Malerei über­ schritten habe und, auf Dante zurückgreifend, in das der Dichtkunst ausgeschweift sei. Auf der Rückreise nach Deutschland machen die Freunde in einer süddeutschen Residenzstadt Station und besuchen dort mehrmals das Theater, um sich anschließend über die dramatische Poesie aus­ zutauschen. Dabei lehnen alle die modernen Schicksalstragödien ab, wobei wohl an Zacharias Werners Stücke gedacht ist, und Hildegard bekennt, dass ihr »ein tragischer Tod aus Liebe und Hingebung, wie der des Marquis Posa, besser zusagt, als ein Tod durch das unausweichliche Schicksal«.29 Theodor bringt die Neigung zu Schick­ salstragödien in Verbindung mit den Unterdrückungmaßnahmen der Restaurationspolitik, während Schillers Meisterwerke, in denen nach Idealen gerungen werde, zur Zeit der Französischen Revolution verfasst worden seien. Allerdings fordert Theodor von der heutigen Tragödie, dass sie vom christlichen Geist durchdrungen sei. Als Seele der Tragödie nennt er das Gefühl der Ergebung. »Das christliche Gefühl der Ergebung verbindet sich mit dem der Andacht, erhebt sich zum höchsten Aufschwunge des Geistes im

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Theodor 474 (21828 II, 329f.). Theodor 494 (21828 II, 357).

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frommen freudigen Glauben an Gott, den Urquell alles Guten, den heiligen, gerechten Regierer der Welt.«30

Als höchste Art des Tragischen erscheint Theodor die sittlich-reli­ giöse, die sich dadurch auszeichnen soll, »daß der Untergang der Helden entweder freiwillig durch Selbstauf­ opferung geschehe, oder daß doch die hochstrebende sittliche Kraft derselben, die Erhebung ihres Geistes über Leben und Tod, Glück und Unglück, das Gemüth der Zuschauer in eine Stimmung versetze, in welcher sie die Schläge des Schicksals ertragen können, ohne dadurch niedergedrückt zu werden«.31

Als vorbildhaft in dieser Hinsicht betrachtet Theodor Schillers Don Carlos, so wie er überhaupt Schiller schätzt und sich Dichter wünscht, die sich für sittliche Ideale, die Vervollkommnung der Menschheit und die sittlich-politische Verjüngung des Volkes begeistern und der Dichtkunst die Weihe der Sittlichkeit und Frömmigkeit verleihen. Shakespeare, zumal sein Hamlet, stößt hingegen bei Theodor auf Ablehnung, und an Goethe bemängelt er, dass er Weimar nicht zur Stätte der Erneuerung des deutschen Theaters als Schule wahrer Volksbildung gemacht, sondern jedes unsittliche Stück von Kotzebue aufgeführt habe. Am Ende des Romans lässt de Wette Theodor eine Stelle als Landpfarrer in seiner Heimat antreten, und am Sterbebett des alten Dorfpfarrers vollzieht Johannes die Trauung des nunmehr von seinen Zweifeln befreiten Theologen mit seiner geliebten Hil­ degard, deren Vater schließlich auch noch konvertiert, um mit den Jungvermählten am Abendmahl teilnehmen zu können.

3. Tholuck und die Restaurationstheologie De Wettes theologischer Bildungsroman blieb nicht unwiderspro­ chen. Es war der Erweckungstheologe August Tholuck, der in seinem Briefroman Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner oder die wahre Weihe des Zweiflers die theologische Alternative zu Theodors Werdegang vorlegte. Tholuck war aus Breslau gebürtig und hatte mit dem Studium der Orientalistik begonnen, bevor er 1817 in Berlin das Theologiestudium aufnahm und im Kreis um Hans Ernst 30 31

Theodor 501 (21828 II, 367). Theodor 504 (21828 II, 372).

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Freiherr von Kottwitz seine Bekehrung erlebte. Der Freiherr war die führende Gestalt der Berliner Erweckung, berühmt wegen seiner Verdienste um die Armenfürsorge, aber zugleich ein Anhänger der Restaurationspolitik und entschiedener Gegner liberaler Theologen. Als solcher war er an der Absetzung de Wettes ebenso beteiligt wie an der Berufung Tholucks auf eine außerordentliche Professur an der Berliner Theologischen Fakultät. Tholucks Briefroman erschien 1823. Er handelt von dem Freundespaar Guido und Julius, die weder von ihren Lehrern noch von den teils orthodoxen, teils neologischen Predigern ihrer Heimatstadt Antwort auf die zentralen Lebensfragen erhalten. Während Guido sich nach der Schulzeit dem Theologiestu­ dium widmet, entscheidet sich Julius für das Studium der Philologie und Geschichte an einer anderen Universität. Doch von den theologi­ schen Lehrern, Neologen und Supranaturalisten gleichermaßen, ist Guido zutiefst enttäuscht, und so wendet er sich der Philosophie, der vermeintlichen Königin des menschlichen Wissens, zu, um aber auch hier über dem Studium Spinozas, Schellings und Schleierma­ chers erkennen zu müssen, dass das Ende aller Spekulation die pantheistische Leugnung alles bestimmten Seins sei. Zwar hatte ihm Julius brieflich von seiner verstärkten Bibellektüre mitgeteilt, aber wie erstaunt ist er, als ihm der Freund von seiner Wiedergeburt und dem Entschluss, Theologie zu studieren, berichtet. In einem ersten Brief versucht er, den an der Wahrheit zweifelnden Guido davon zu überzeugen, dass es eine heilige Wahrheit gibt, zu deren Erkenntnis er ihm verhelfen möchte. Die Himmelfahrt der Gotteserkenntnis sei aber nur möglich nach vorangegangener Höllenfahrt der Selbster­ kenntnis, der Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit. Die Erklärung der Sünde gibt dem Autor Gelegenheit, sich mit den unterschiedlichen Theorien über die Herkunft des Bösen, die sich auch im Umkreis des Idealismus bilden, kritisch auseinanderzusetzen. Denn dass das Böse seinen Ursprung nicht in Gott, sondern im Menschen hat, bestreitet er nicht. Seit dem Sündenfall gebe es jene »Kriegsgeschichte des menschlichen Herzens«, von der Paulus in Röm 7 handle32. Gegenüber ihrer Abschwächung in Aufklärung und Neologie macht Tholuck die Sünde wieder stark, so dass er Julius bekennen lässt: »das dritte Capitel der Genesis und das siebente des Römerbriefes, das sind die zween Pfeiler, auf denen des lebendigen Christentums Gebäude Tholuck, August : Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner oder: Die wahre Weihe des Zweiflers, (9. Aufl.), Gotha 1871, 27.

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ruht, das sind die zwei engen Pforten, durch die der Mensch zum Leben eingeht«.33 Denn der neue Bund zur Sündenvergebung und Gnadenverkündigung setze den alten Bund zur Sündenerkenntnis voraus, und zum Gefühl der untilgbaren Sündenschuld gelange der Mensch durch das ihm eingeschriebene Sittengesetz, das Gott noch einmal am Sinai feierlich proklamiert habe. Nach einem Vierteljahr erhält Julius endlich eine Antwort von Guido, der ihm von der Geschichte seines Herzens berichtet. Er habe sich von der Philosophie verabschiedet und in den Blick in sein eigenes Inneres gelenkt, um die Nachtseite des menschlichen Herzens zu entdecken. Guido attestiert immerhin Kant, in seiner Religionsschrift ganz nahe an der Wahrheit zu sein, wenn er beim Menschen einen natürlichen Hang zum Bösen ausmache, der zwar nicht angeerbt sei, dessen letzter Grund aber auch nicht einsehbar sei. Der Briefschreiber bekennt: »Seit zwei Monaten halte ich mir ein Tagebuch, um in diesem Spiegel mich selbst kennen zu lernen; da habe ich deutlich gesehen, daß ich ohne Schöne bin.«34 Aber zugleich bekennt er, immer wieder das beseligende Gefühl der Vergebung zu spüren, und er gesteht seinem Freund: »Ich weiß nicht, ob ich schon wiedergeboren bin, aber das weiß ich, es muß etwas unaussprechlich Seliges sein, ein wahrer Christ zu sein.«35 Allerdings sei ihm die Erlösungslehre nicht völlig klar, und er bittet Julius um Aufklärung, die dieser dann auch umgehend liefert. Zunächst weist er auf die allgemeine Sehnsucht der Menschen nach einem Erlöser hin, der schließlich in Jesus Christus, dem sündlosen zweiten Adam, erschienen sei. Auch hier meldet sich wieder der erweckte Restaurationstheologe zu Wort, der nicht nur die Lehre vom dreifachen Amt Christi, sondern auch Anselms Lehre von der stellvertretenden Genugtuung erneuert. »Seelen, die also ihre Ohnmacht wie ihre Sünde fühlen, sie sind die Mühseligen und Beladenen, sie sind die Krüppel an den Landstraßen und Hecken, die zur königlichen Tafel geladen werden, und was sie hier empfangen, ist: Vergebung ihrer Sünden und Rechtfertigung.«36

Die geistige Wiedergeburt sei ein Erdbeben, das die alten Götzentem­ pel der Sünde in Trümmer sinken lasse, aber sie sei nur der Anfang eines neuen Lebens in Gott, für das Jesus die Gebote gegeben habe. 33 34 35 36

Tholuck: Die Lehre von der Sünde, 32. Tholuck: Die Lehre von der Sünde, 46f. Tholuck: Die Lehre von der Sünde, 47. Tholuck: Die Lehre von der Sünde, 99.

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Diese Gebote seien auch dem kantischen Sittengesetz vorzuziehen, so dass Julius bekennt: »Der Hirtenstab meines Nazareners reicht doch noch etwas weiter als der Königsberger Korporalstab des kategorischen Imperativs, und wärʼs auch das nicht, so ist man doch lieber ein Lamm auf grünen Auen und an stillen Wassern, als ein Soldat in Reihʼ und Glied.«37

Der Brief endet mit einer Erinnerung an eine Abendgesellschaft, zu der Julius kürzlich geladen war. Der dortige Tanz erscheint ihm als Sinnbild eines leeren, zwecklosen Lebens, dem er selbst längst entflohen ist. In seinem Antwortschreiben legt Guido Zeugnis ab von seinem inzwischen erfolgten Wandel und beschreibt schließlich seine Begeg­ nung mit einer Gemeinde wahrer Jünger Christi. »Ehe ich selbst Jesum kannte, hatte ich zuweilen von Einzelnen dersel­ ben reden hören unter dem Namen von Mystikern, Bigotten, Pietisten. Ich scheute sie sehr, weil ich mehr als Andere eine engherzige Ansicht des Lebens scheute, durch welche, wie ich meinte, die volle Brust des lebenskräftigen Menschen eine Schnürbrust, der kühne Geist des aufstrebenden Jünglings Handschellen, und sein Leben wie sein Antlitz Todtenfarbe erhielten.«38

Doch nach seiner Begegnung mit dem erweckten Otto und beein­ druckt von dessen Sanftmut und Innigkeit ist Guido für die fromme Gemeinschaft gewonnen, an deren Spitze ein Greis steht, dem Tho­ luck die Züge des Freiherrn von Kottwitz verleiht. Otto, sein neuge­ wonnener Bruder im Herrn, schildert Guido seine erste Begegnung mit diesem als Abraham verehrten Patriarchen, der sich nach Jahren unermüdlicher karitativer Tätigkeit, seine baldige himmlische Verjün­ gung vor Augen, in der Stadt niedergelassen hat. In dessen Haus habe er seine Wiedergeburt erlebt, und Guido schreibt Julius begeistert, wie seine Seele bei Ottos Erzählung Flügel bekommen habe. Von seinem frommen Freund beim Patriarchen eingeführt, erlebt er seine eigene Bekehrung und erfährt vom Greis etwas über das Wirken des Geistes Gottes. »Ja, es bricht ein großer Auferstehungsmorgen an. Hunderte von Jünglingen werden an allen Orten durch den Geist Gottes geweckt. In 37 38

Tholuck: Die Lehre von der Sünde, 78. Tholuck: Die Lehre von der Sünde, 128.

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allen Orten treten die Bekehrten in genauere Verbindungen. Selbst die Wissenschaft wird Dienerin und Freundin des Gekreuzigten.«39

Und schließlich werde auch die Obrigkeit für Christus gewonnen. Bald werde es in Deutschland kaum noch Gebildete geben, die nicht christlich heißen wollen. Der Briefroman endet mit der Schilderung eines Besuchs, der Guido und Otto mit dem Patriarchen an das Lager eines Schwerkranken führt, dessen Sterben man mit Gebet und Gesang begleitet. Als sie nach dem Heimgang des Kranken noch beisammen sitzen, war es Guido, »als hätten die Thore des Himmels sich aufgethan und als wehten von dorther Düfte des Lebens durch uns hin«.40 Dann heißt es: »Julius! Wer an Christum glaubt, der ist wahrhaftig auferstanden, und aus dem Tode inʼs Leben eingegangen! Ewig in Ihm Dein Guido.«41 Im Vorwort der zweiten Auflage seines Theodor von 1828 kommt de Wette auch auf Tholucks Briefroman zu sprechen. Da er Religion und Theologie als Sache des Lebens betrachte, habe er selbst die theologischen Ansichten seines Helden gleichen Schritt halten lassen mit seinen ästhetischen Ansichten. Auch habe er es nicht für unge­ schicklich gehalten, seinen Helden im Theater religiöse Anregungen empfangen zu lassen. Gegen Tholuck richtet sich dann die Bemer­ kung: »Wenn Andere ihre Weihe durch die Anerkennung ihrer Sündhaf­ tigkeit erhalten, so habe ich dagegen nichts, wenn man dieses nur nicht für die einzig wahre Weihe ausgibt, und das Heiligthum, in das sie eingeführt werden, nicht das finstere des Methodismus ist. Die Weihe zum Theologen schien mir nur die unter dem Einflusse eines frommen, aber gesunden Gefühls stehende Wissenschaftlichkeit geben zu können; und jenes Gefühl glaubte ich am lebendigsten durch bedeutende Lebenserfahrungen erregen zu lassen.«42

De Wette schreibt dies bereits in Basel, wohin der politisch unlieb­ same Theologe 1822 berufen worden war. In Basel schrieb er dann auch seinen zweiten Roman Heinrich Melchthal oder Bildung und Gemeingeist, der 1829 erschien und in dem der als Zeitkrankheit

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Tholuck: Die Lehre von der Sünde, 137. Tholuck: Die Lehre von der Sünde, 149. Ebd. Theodor 6 (21828 I, VII).

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diagnostizierten Selbstsucht der sittliche Bildungsgang eines jungen Schweizers entgegengehalten wird, der durch Aufnahme des Gemein­ geistes sich tatkräftig an der Verbesserung des öffentlichen Lebens beteiligt.43 Die Schweiz, auf dem Wiener Kongress als einziger demo­ kratischer Staat im ansonsten monarchisch regierten Europa aner­ kannt, erscheint dem Autor als der Staat, in dem die bürgerliche Frei­ heit bereits verwirklicht ist, während sich die deutschen Professoren und Studenten in politischer Projektmacherei und Unruhe ergehen. Beklagt wird die deutschtümelnde Beschwörung der Reichsidee wie auch die allgemeine Missachtung der Erfahrung, die zu einer Ignoranz gegenüber den Errungenschaften der industriellen Revolution und des menschenverbindenden Handels führe. De Wette tritt zudem als Kritiker von Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts auf, die ihm als restaurative Versöhnung mit der preußischen Monarchie und als Abschied von den politischen Idealen der nationalen Verfas­ sungsbewegung erscheinen. An die Stelle von freier Öffentlichkeit, Presse- und Verfassungsfreiheit trete hier die knechtische Verehrung des Bestehenden. Der Held des Romans folgt dem Beispiel eines für eine ganze Studentengeneration typischen politisch enttäuschten Mitglieds des Lützowschen Freikorps und nimmt am griechischen Freiheitskampf teil. Denn hier entscheidet sich seiner Meinung nach, ob ein Volk sich selbst bestimmen und eine Verfassung geben könne. Melchthal, der politische und ökonomische Schriften und Zeitungen liest und einem Hilfsverein für die unterjochten Griechen beitritt, bildet sich zum Ideal des gemeinnützig tätigen liberalen Bürger heran. »Der Mensch soll nicht bloß menschlich gebildet, nicht bloß Berufs­ arbeiter und Hausvater, wenn auch im edelsten Sinne, er soll vor allen Dingen Bürger seyn, Mitglied der großen Gemeinschaft, welche alle umschließt.«44

Humane Pflicht sei es, an der Verbesserung des Staates aktiv teilzu­ nehmen, wobei es um die Verankerung von Freiheit und Gerechtigkeit in der Verfassung gehe. De Wette rechtfertigt die Teilnahme am poli­ tischen Befreiungskampf auch gegenüber dem pietistischen Unterta­ nengeist, der die Gewalt gegen die Obrigkeit als Verstoß gegen Röm 13 verurteilt. »Die Obrigkeit und das Volk haben gegenseitige Rechte 43 De Wette, Wilhelm Martin Leberecht: Heinrich Melchthal, oder Bildung und Gemeingeist. Eine belehrende Geschichte, Berlin 1829. 44 De Wette: Heinrich Melchthal, Bd. 1, 400.

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und Pflichten; und wenn die erstere die ihrigen verletzt, so hat das zweite Befugniß, Vorstellungen zu machen, auf sein Recht zu dringen; und ist durch eine unerträgliche Tyrannei alles Rechtsverhältnis auf­ gelöst, dann tritt der alte Naturzustand und das Recht der Notwehr ein.«45 Das Christentum als Religion der Gerechtigkeit und Liebe legitimiere so die gewaltsame Zurückforderung der Menschenrechte durch das Volk. De Wette ist seit seiner Jugend in Weimar entscheidend durch dortige Klassik und Frühromantik geprägt. Wie sehr allerdings gerade die klassische deutsche Dichtung damals zur Zielscheibe der Angriffe erweckter protestantischer Theologen wurde, zeigen Rezensionen zum Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller und zu Goethes »Wahlverwandtschaften«, die das Haupt der Berliner Repristinations­ theologie, Ernst Wilhelm Hengstenberg, 1830 und 1831 in seiner Evangelischen Kirchen-Zeitung veröffentlicht. In ihnen wendet er sich entschieden gegen die allgemeine Vergötterung der beiden Weimarer Dichter, zumal ihre sittlichen und religiösen Haltungen fehlerhaft gewesen und sie den Einflüssen des christlichen Glaubens verschlos­ sen geblieben seien. Die erste Rezension kommt zu dem Schluß: »Es wird demnach als völlig entschieden anzunehmen seyn, daß beide Männer sich von dem Christenthume nichts zu eigen gemacht hatten, als was ihnen davon durch Geburt und Erziehung in der christlichen Welt aufgedrungen war, als entschieden, daß sie aller Einladung, es zu prüfen, mit festem Unglauben und Widerwillen entgegenkamen, als entschieden, daß weder das heilige Leben, noch die tiefen Worte Jesu als bloßen Menschen betrachtet, noch die unbestreitbar heilvolle Wirksamkeit der von ihm über die Welt verbreiteten Ideen, ihre Gemüther je zu ihm hin zu ziehen vermochten, daß sie sich vielmehr über jedes Bedürfnis einer Religion erhaben glaubten, und was sich davon in ihnen regen wollte, durch die vergötternde Anschauung ihrer eigenen Naturen befriedigt fühlten.«46

Ein Jahr später, in der Rezension der Wahlverwandtschaften, hat sich der Ton sogar noch verschärft. Hengstenberg möchte hier den Zusam­ menhang zwischen der Unheiligkeit und der Afterkunst aufzeigen und damit am Beispiel Goethes auf die Gefahren der zeitgenössischen Afterkunst aufmerksam machen. Die Afterkunst ist in seinen Augen De Wette: Heinrich Melchthal, Bd. 2, 16. Hengstenberg, Ernst Wilhelm: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805, in: Evangelische Kirchen-Zeitung 6 (1830), 92.

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das Pendant zur Aftertheologie, dem Gnostizismus auf der einen und dem toten Orthodoxismus auf der anderen Seite. Gegen beide Formen der falschen Theologie, sowohl gegen die von der idealistischen Philosophie beeinflußte wie auch gegen die überlebte Orthodoxie, geht Hengstenberg im Namen eines erwecklichen Biblizismus vor. Beide Formen der Aftertheologie sieht er auf mehrfache Weise mitein­ ander verbunden; »sie sind sich auch darin gleich, daß sie, sich ihres eigenthümlich heidnischen Charakters scheinbar entäußernd, den Heiligenschein des Christenthums annehmen, um als solche Wölfe im Schafskleide die Heerde Christi zu berauben.«47

Die wahre Kunst und Ästhetik gründe in Gott, da Gott nicht nur die Wahrheit, sondern auch das Urschöne sei, das sich im Menschen in den Strahlen einzelner Schönheitsideen offenbare, die sich auf vier sittliche Gemütselemente zurückführen lassen: Ehre, Freiheit, höhere Geschlechtsliebe und Religion. Die Afterkunst ist demgegenüber »in einer selbstsüchtigen Lüge begründet, welche, um die persönliche Sünde des Künstlers und der Künstlerzunft zu retten, nun auch die Laster und alles Elend um und neben sich aufrecht zu halten sucht, und zu diesem Zwecke einen Strahl der Schönheit, also eine einzelne Idee, vom Ganzen, also von Gott mehr oder weniger entstellt, losreißt, sie als selbständige Wahrheit darstellt und als ein höchstes Gut verkauft«.48

Für Hengstenberg steht angesichts der Afterkunst und Aftertheologie, den beiden Erbfeinden der wahren Kirche Christi, jedenfalls fest, dass Luther, hätte er seinen Riesengeist in die Region der Kunst geführt, etwas anderes als ein Goethe geworden wäre.

4. Gutzkow und die Religionskritik des Jungen Deutschland In seinen 1869 verfassten Erinnerungen an seine Berliner Zeit als Student der Theologie und Philologie berichtet Karl Gutzkow auch von dem Eindruck, den die damals berühmten Professoren auf ihn machten. Schleiermacher sei ihm, dem Sohn eines niederen Berliner Hofbeamten, schon seit frühester Kindheit vertraut gewesen. Als 47 Hengstenberg, Ernst Wilhelm: Ueber Göthe’s Wahlverwandtschaften, in: Evange­ lische Kirchen-Zeitung 8 (1831), 478. 48 Hengstenberg: Ueber Göthe’s Wahlverwandtschaften, 481f.

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jugendlicher Hörer seiner Predigten in der Dreifaltigkeitskirche habe er den kleinen, etwas verwachsenen Mann mit dem langen weißen Haar und strengen Blick bewundert, wenn er die Wilhelmsstraße entlang kam, wo er in dem Palais seines Verlegers Reimer wohnte. Vor der stets überfüllten Kirche seien wie an der Oper Textbücher Zettel mit modernisierten Gesangbuchliedern, die man im Gottes­ dienst sang, verkauft worden. Den Predigten Schleiermachers habe er allerdings wie später auch seinen Vorlesungen nur wie einer Musik lauschen können, ohne den Gedankengang ganz zu verstehen. In den Vorlesungen habe der als Redner berühmte Theologe gleichsam platonische Dialoge mit sich selbst geführt. Der »Glaubenslehre«, einer Mischung von Verstandesbeweisführung und Mystik, wirft Gutzkow wie Strauß Halbheit vor. Gegen den vornehme Kälte aus­ strahlenden Schleiermacher hebt er den gemütswarmen Neander ab, »der ursprünglich ein Jude gewesen und zur blühendsten Zeit unserer Romantik und Mystik Christ geworden«.49 Doch ebenso wenig wie die Nähe Schleiermachers sucht Gutzkow diejenige Neanders, da ihm der gefühlvolle kindliche Christusglaube Neanders und seiner Jünger fehlte, »diese höchst intime persönliche Bekanntschaft mit jenem Heiland, den auch ich liebte, auch ich mein nannte, aber doch noch nicht ganz so zu meinem speciellen Vertrauten und Stubengenossen hatte machen können, wie jene bewunderungswürdigen jungen Glaubens­ künstler«.50

Überhaupt gelingt es Gutzkow nicht, in der Theologie festen Fuß zu fassen. Von Hengstenbergs ständiger Polemik fühlt er sich abgeschreckt und Marheinekes emotionslose Dogmatik, für die die Begriffsentwicklungen mit dem naiven Standpunkt der Bibel zusam­ menfielen, langweilt ihn. Weit mehr als zu dieser theologischen Anwendung Hegels fühlt sich Gutzkow zu dem schwäbischen Philo­ sophen selbst hingezogen. Er berichtet von einer Art philosophischem Damaskuserlebnis im winterlichen Tiergarten, das ihn die gesamte Religionsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart als Fortschritt im Gottesbegriff, ja, als sukzessive Erschaffung Gottes verstehen lässt. Die von der Theologie als heidnisch verurteilte antike Welt 49 Gutzkow, Karl Ferdinand: Schriften, Bd. II, Literaturkritisch-Publizistisches. Autobiographisch-Itinerarisches, in: Adrian Hummel (Hg.), Frankfurt am Main 1998, 1811. 50 Gutzkow: Schriften, Bd. II, 1813.

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»war keine Abirrung vom Gottesbegriff, sondern eine Entwicklung innerhalb desselben, ein nothwendiges Stadium seiner irdischen Dar­ stellung. Gott darzustellen, ihn hervorzubringen, ihn, den Schöpfer, als das Resultat der Geschichte der Schöpfung, so zu sagen sichtbar hervorzulocken, das schien mir der Zweck alles Lebens, der Zweck der Geschichte«.51

Jeder Schritt vorwärts auf dem Weg der Tugend, Vernunft und Aufklä­ rung wird von Gutzkow als Stufe des allmählichen Offenbarwerdens Gottes verstanden. Das umgekehrte Damaskuswunder im Tiergarten, die Bekehrung vom theologischen Paulus zum philosophischen Sau­ lus, habe sich dann in Hegels Vorlesungen stündlich wiederholt. Die Gefahren der Hegelschen Geschichtsphilosophie habe er zwar erst später erkannt, aber bereits damals habe er Hegels These von der Identität von Denken und realem Sein nicht begriffen. Das führt Gutzkow zu einer gründlichen Lektüre der Enzyklopädie der philoso­ phischen Wissenschaften gemeinsam mit Freunden und dem jüdischen Dichter Joel Jacoby. Letzterer, hervorgetreten durch die Klagen eines Juden, ließ sich kurz darauf in der katholischen Dresdner Hofkirche taufen, stieg zum Polizeirat auf und war für seine Denunziationen bekannt. In diese Zeit der gemeinsamen Hegellektüre fällt der Aus­ bruch der Cholera in Berlin, der Hegel erliegt und vor der Gutzkow im November 1831 nach Stuttgart flieht, um dort Mitarbeiter an dem von Cotta herausgegebenen und von Wolfgang Menzel redigierten Literaturblatt zu werden. 1835 gibt Gutzkow ein Jahr nach dem Tod ihres Verfassers Schleiermachers Vertraute Briefe über die Lucinde neu heraus und versieht sie mit einer Vorrede, in der er ironisch der jungen Mädchen gedenkt, die an dem Prediger Schleiermacher gehangen haben und die sein Tod nun allein zurücklässt. »Seitdem seid Ihr, Liebreizende, ohne Himmel und ohne Hoffnung, anders hineinzukommen, als durch die Liebe, die irdische, die weltli­ che, welche ja auch eine Religion ist, welche ja auch einen kleinen verrätherischen Dietrich des Himmels besitzt.«52

Um sie nicht ganz ohne Anleitung zu lassen, habe er – so Gutzkow – beschlossen, die Verteidigung von Schlegels Lucinde durch den Gutzkow: Schriften, Bd. II, 1836. Gutzkow, Karl Ferdinand: Schriften, Bd. I, Politisch-Zeitkritisches. PhilosophischWeltanschauliches, in: Adrian Hummel (Hg.), Frankfurt am Main 1998, 528. 51

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jungen Schleiermacher neu herauszugeben, wohl wissend, dass die Kathederkollegen des Verstorbenen sie für eine alte Verirrung halten. Man munkele sogar, dass die frommen Berliner Zionswächter Lust hätten, die Lucindebriefe mit Stillschweigen zu übergehen, und bei ihrer Erwähnung peinlich berührt erröten. Mit ihrer Veröffentlichung möchte Gutzkow ganz bewusst Unruhe stiften in dem Lager der theologischen Restauration. »Mit behaglichstem Gefühle werfʼ ich diese Rakete in die erstickende Luft der protestantischen Theologie und Prüderie«.53 Die Pfaffen, als Kammerdiener Gottes und zugleich Totengräber des Lebens gescholten, sollen einmal ihre Katechismen beiseite lassen und ihre Ohren öffnen für das, was er, Gutzkow, ihnen zu sagen habe »von den Ahnungen jenes neuen Glaubens, welchem sich die von Eurer Offenbaung gemißhandelte Menschheit hinzuge­ ben sehnt«.54 Er glaube an den süßen Verkehr der Geschlechter, die Reformation der Liebe, die zu den sozialen Fragen des gegenwärtigen Jahrhunderts gehöre, und erinnert an die Romane der Empfindsam­ keit, an denen Gestalten wie Werther und Lotte Märtyrer einer neuen Religion gewesen seien, wie sie heute durch die Emanzipation der Frau eingeleitet werde. In diesen Kontext stellt Gutzkow auch Schlegels Lucinde, die er als meisterhaftes Buch preist, das das Fleisch mit dem Geist in der Liebe versöhnen wolle. Auch wenn man den Verfasser der Frivolität bezichtigt habe, sei das damalige Berlin, wo der Roman erschien, doch nicht das pietistische und servile Berlin von heute gewesen, sondern der Venusberg leichter Sitten. Schleiermacher mit seinen Lucindebriefen wird als theologischer Parteigänger der neuen Schule der Frühromantik bezeichnet, der Schlegels Evangelium des neuen Geschlechtsumgangs, wenn auch auf die ihm eigene verstän­ dige Art, verteidigt habe. Es macht Gutzkow sichtlich Freude, nicht nur an die liberale Liebesauffassung Schleiermachers und Schlegels in ihren jungen Jahren zu erinnern, zumal sie sich von ihrer späteren Position deutlich abhebt. Schließlich stelle Schlegel im Roman ja sein eigenes Verhältnis zu der verheirateten Dorothea Veit dar. »Hier hat sich Schlegel auf dem Verhältnisse ertappen lassen, das ihm selbst vorschwebte, auf der Liebe zu einer Verheiratheten, die er entführte, und die ihn begleitet hat, durch tausend Thorheiten, den Katholicismus, die Weisheit der Indier, den Absolutismus bis zu

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Gutzkow: Schriften, Bd. I, 532. Gutzkow: Schriften, Bd. I, 533.

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jener Gänseleberpastete, an welcher er in Dresden verstorben ist.«55 Gutzkow verteidigt die freie Liebe und Leidenschaft vor der Kritik von Staat und Kirche, die ihm ihre Türen, die er nicht suche, durchaus verschließen und die Sakramente, deren Symbole er im Herzen trage, entziehen möge. Die Vorrede schließt mit dem Satz: »Ach! Hätte auch die Welt nie von Gott gewußt, sie würde glücklicher seyn!«56 Zusammen mit der Vorrede zu den von ihm neu edierten Lucindebriefen Schleiermachers löst Gutzkows Roman »Wally, die Zweiflerin«, der 1835 in Löwenthals Mannheimer Verlag erschien, einen literarischen Skandal aus. Im Mittelpunkt des Romans stehen die attraktive mondäne Wally und Cäsar, ein Mitzwanziger, der allen Idealismus hinter sich gelassen hat und zum Skeptiker geworden ist. Außer um die Emanzipation der Frau und den Ennuy geht es in dem Roman um die zeitgenössische Literatur und Religionskritik. Bei der Morgentoilette blättert Wally in dem Musenalmanach von Schwab und Chamisso, die sie als langweilige Waldsänger tituliert. »Heines Prosa ist mir lieber als Uhland und sein ganzer Bardenhain.«57 Indem sie die spätromantische schwäbische Dichterschule abkanzelt, greift sie zum zweiten Band von Heines »Salon«. Doch auch die Literatur des Jungen Deutschland sagt ihr nur bedingt zu. Wienbarg ist ihr zu demokratisch, Laube zu zudringlich und Mundt zu unverständlich. Sie hat auch die Carlsruher Bilderbibel abonniert und staunt über deren prachtvolle Ausgabe, um aber sofort einen Druckfehler zu entdecken, was sie zu der ironischen Bemerkung veranlasst, es sei doch hübsch, in der Bibel Irrtümer zu entdecken. Allerdings ist Wally in Religi­ onsdingen weniger kühl und distanziert als sie nach außen vorgibt. Denn kaum hat ihre Kammermädchen das Zimmer verlassen, bricht sie beim sonntäglichen Glocken- und Orgelklang der nahen Kirche in Tränen aus. Cäsar ist von Wally entzückt, und im nassauischen Bad Schwalbach kommt es aus der Zerrissenheit der Zeit zu einer seltsamen Übereinkunft der Liebe auf dem Boden der Erkenntnis, dass beide nicht für die Illusion gemacht seien und die Grenzen zwischen Mann und Frau ihrer gemeinsamen Menschlichkeit widersprächen. Als Waldemar, ein alter Freund Cäsars und Verehrer Wallys, in Schwalbach eintrifft, kommt man auch auf die Religion zu sprechen. Der Neuankömmling bekennt, seine Schwermut nicht durch die Gutzkow: Schriften, Bd. I, 549. Gutzkow: Schriften, Bd. I, 551. 57 Gutzkow, Karl Ferdinand: Wally, die Zweiflerin, in: Günter Heintz (Hg.), Stuttgart 2005, 9. 55

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Religion beheben zu können, da man ihm diese durch die Erziehung verleidet habe, woraufhin Caesar bemerkt, dass man von Religion kaum eine Heilung der Verzweiflung erwarten könne, da sie doch vielmehr das Produkt der Verzweiflung sei. Zwar meint Waldemar, dass jede Religion eigentlich eine positive Heilkraft sein sollte. »Die unerhörte Überladenheit des Christentums aus traditionellen, historischen und biblischen Ursachen macht aber, daß es für den Schmerz der Seele ganz ohne Wirkung ist. Eines seiner Dogmen stört das andre.«58

Diese Bemerkung löst bei Wally einen Schwindel aus. Denn sie »litt an einem religiösen Tick, an einer Krankheit, die sich mehr in hastiger Neugier als in langem Schmerz äußerte«.59 In einem Brief an ihre Freundin Antonie versucht sie, ihrer Angst Luft zu machen, landet aber schließlich bei der Frage, wo denn Gott sei. Das zweite Buch beginnt mit einem Ball am Hofe in der Resi­ denzstadt, auf dem Wally Caesar mitteilt, dass sie den sardischen Gesandten heiraten werde. Unter Berufung auf den mittelalterlichen »Jüngeren Titurel« bittet Caesar sie, ihm einen letzten Wunsch zu erfüllen, dass sie sich ihm wie Sigune in der Sage einmal völlig nackt zeigen möge. Zwar verlässt Wally empört den Raum, doch kommt ihr ihre Tugend schon kurz danach abgeschmackt vor, weil sie fühlt, »daß das Poetische höher steht als alle Gesetze der Moral und des Herkommens«.60 Am Hochzeitstag erfüllt sie, nachdem sie zuvor die Stelle im Titurel gelesen hatte, Caesar seinen Wunsch, indem sie sich ihm am Fenster zeigt, bevor sie mit ihrem Mann nach Paris aufbricht. Es ist das zeitgenössische Paris nach der Julirevolution, das Gutzkow schildert. »Die neueste Revolution hatte zu den alten Elementen des Pariser Lebens neue, zu zwei Aristokratien, der bourbonischen und bonapar­ tistischen, noch eine dritte gesellt, die Aristokratie der Banquiers. Mehr als je wurde das Geld der Hebel des gesellschaftlichen Mechanismus, seitdem eine Klasse in den Vordergrund trat, mit der es in dieser Rücksicht schwer war zu wetteifern.«61

58 59 60 61

Gutzkow: Wally, 37. Gutzkow: Wally, 40. Gutzkow: Wally, 54. Gutzkow: Wally, 58.

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Das Geld war verantwortlich für die meisten tragischen und komi­ schen Konflikte in der Pariser Gesellschaft, was Wally, die völlig in ihr aufgeht, bereits aus ihrer Balzac-Lektüre wusste. Als ihr Gatte sie mit seinem Bruder Jeronimo, einem exzentrischen Schwärmer, bekannt macht und zugleich vor ihm warnt, weil dieser leidenschaftlich in sie verliebt sei, erkennt sie erst verzweifelt, wie fremd der eigene Ehemann, ein praktischer Egoist, ihr ist. Durch den inzwischen in Paris eingetroffenen Caesar erfährt sie, dass ihr Mann Jeronimos Liebe zu ihr dazu benutzt, um seinen Bruder finanziell auszubeuten. Als Jeronimo, durch seine Liebe in den Wahnsinn getrieben, sich selbst erschießt, beschließt Wally, ihren Mann und Paris mit Caesar zu verlassen. Das für die Religionsthematik entscheidende dritte Buch des Romans besteht aus Wallys Tagebuch, den darin eingehefteten Geständnissen Caesars über Religion und Christentum sowie abschließenden Bemerkungen des Autors über Wahrheit und Wirk­ lichkeit. Beglückt durch die Liebe Caesars führt Wally ihr Tagebuch, in das sie Schilderungen ihrer Freundinnen einträgt. Die Tatsache, dass Delphine, einer der Freundinnen, Jüdin ist, führt sie dazu, sich über Judentum und Christentum zu äußern. Delphine wird als eine Jüdin geschildert, die nicht im Dunstkreis der Orthodoxie erzogen worden ist und nur geringe Kenntnis ihrer Religion besitzt, so dass diese bei ihr auch keine Ängstlichkeit auslöst. »Sie braucht jene Stufenleiter von positiven Lehren und historischen Tatsachen nicht, die die Christin erst erklimmen muß, um eine Einsicht in das Wesen der Religion zu bekommen.«62

Doch auch wenn Wally das Verhältnis von Religion und Tugend im Judentum für klarer und einfacher hält als im Christentum, halten Scham und Stolz sie davon ab, sich gegenüber Delphine kritisch über ihre eigene Religion zu äußern. Für christliche Männer, die dem christlichen Katechismus gegenüber widerspenstig sind, müsse die natürliche Liebe einer Jüdin besonders reizvoll sein. Cäsar ver­ trete ohnehin eine Theorie der Ehe, wonach die Liebe selbst und nicht der Segen des Priesters das Sakrament sei, weshalb er die kirchliche Zeremonie bei der Eheschließung ablehne. Eine Ehe, wie sie in anderen Staaten zwischen einer Jüdin und einem Christen geschlossen werden könne, sei natürlich eine rein zivile Ehe ohne 62

Gutzkow: Wally, 90.

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religiösen Beistand. Wally reflektiert in ihren Tagebucheintragungen auch über die Existenz Gottes, hält den Atheismus dabei selbst für eine Religion und macht sich über einen Atheisten der Französischen Revolution lustig, der dann in Amerika Priester wurde und den die Indianer schließlich als Gott verehrten. Sie mokiert sich zudem über die Vorstellung, dass es einst im Himmel noch einen Gottesdienst geben werde. Das Christentum »etabliert im Himmel eine vollendete Kirche mit Chören der Seligen und Altären, auf welchen die Cherubim thronen. Goethe benutzte diese Maschinerie für die Kanonisierung seines Faust.«63 Zum Schluss bleibt Wally, die ihre eigene Weltsicht als unglücklich beschreibt, der Gottesglaube ein Rätsel angesichts des kümmerlichen Daseins, das wir auf der Erde fristen. Der Mensch wälze wie Sisyphos einen Stein auf den Berg, ohne Grund, so dass ihn eher der Fluch als der Segen Gottes begleite. »Was bezweckt Gott damit? War dies eine Grille von ihm? Was kömmt darauf an, ob das Gute oder Böse in der Weltordnung produziert wird? Ich bin so unglücklich. Ich weiß hierauf keine Antwort.«64

Gott habe den Menschen zwar mit der Fähigkeit, Fragen zu stellen, erschaffen, aber ihm die Fähigkeit, sie zu beantworten, verweigert. Wenn er dem Menschen nicht das Vermögen gab, ihn zu erkennen und zu begreifen, sei es ungerecht, wenn er es dulde, dass der Atheismus wie das größte Verbrechen behandelt werde. In dieser Situation immer stärker werdenden Zweifelns beginnt Wally mit der Lektüre der von Lessing edierten »Fragmente des Wolfenbüttler Ungenannten«, deren Verfasser Reimarus, den sie als Hamburger Arzt bezeichnet, sein soll. »Die vollständige Prüfung des Christentums steht in einem Glas­ schranke auf der Hamburger Bibliothek. Sie wollen das Buch nicht herausgeben. Sie fürchten, daß aus dem vergilbten Papiere jener Kritik Motten fliegen, die das Christentum selbst anfressen.«65

Auch wenn es ihr um die kindliche, märchenhafte Sage leid tut, die Reimarus gelehrt destruiert, hält sie dessen Kritik angesichts des zeitgenössischen vernunftwidrigen Christentums für völlig berech­ tigt. Allerdings befriedigt sie der Rückgang auf die natürliche Reli­ gion ebenso wenig wie der pantheistische Gottesgedanke, zumal die

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Gutzkow: Wally, 93. Gutzkow: Wally, 94. Gutzkow: Wally, 95f.

65 https://doi.org/10.5771/9783495998793 .

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menschliche Phantasie nach der anthropomorphen Vorstellung eines thronenden Werkmeisters verlange. Aus dem Tagebuch erfährt der Leser, dass die Beziehung zwi­ schen Wally und Caesar, die sich nach ihrer Flucht aus Paris zunächst glücklich anließ, zerbricht, als Caesar sich entschließt, eine bürgerli­ che Ehe ohne kirchliche Zeremonie mit Delphine einzugehen. Als ihr Caesars Ausführungen über die Religion wie etwa die Entfal­ tung des Gottesgedankens und der Schöpfungslehre im Anschluss an Böhme allzu rätselhaft erscheinen, beschwört sie ihn, ihr seine wahre Meinung über Religion und Christentum mitzuteilen. Als sich Wallys Verzweiflung steigert, bricht das Tagebuch plötzlich ab, und statt der Eintragungen finden sich Cäsars inzwischen eingetroffene »Geständnisse über Religion und Christentum«. Sie beginnen mit dem Bekenntnis, dass Religion Verzweiflung am Weltzweck sei. Denn nur weil die Menschheit nicht wisse, was Grund und Ziel ihrer eigenen Handlungen und der natürlichen Ereignisse sei, glaube sie an Gott. Cäsar nimmt einen rein natürlichen Ursprung der Religion an statt sie auf eine übernatürliche göttliche Offenbarung zurückzuführen und »sich Gott als Priester zu denken, der im schwarzen Talare zu dem ers­ ten Menschenpaar hinzugetreten wäre und ihm Unterricht gegeben hätte in glaublichen und unglaublichen Dingen«.66 Wenn man sich wie die Apostel Jesu die neutestamentlichen Schriften als von Gott inspiriert denke, dann mache man ihn mitschuldig an den falschen Konstruktionen, die sich im griechischen Text finden. Die Kapitel über Offenbarung und Inspiration in den theologischen Dogmatiken würde man eher in »Grimms Märchen« oder in »Tausend und eine Nacht« vermuten. Cäsar wertet zudem das griechische Heidentum gegenüber dem Christentum auf. »Das Heidentum war Poesie und bildende Kunst, war Veredlung der Sinnlichkeit, war Gestaltung der rohen Materie; Julian, der Apostat, fühlte es wohl, daß die Götter Griechenlands einen Mann von Geschmack befriedigen konnten. Das Heidentum war tolerant.«67

Seine Friedfertigkeit habe es erst mit dem Auftreten des Christentums eingebüßt, das eine politische Revolution zu verbreiten versucht habe. Denn Jesus von Nazareth, der uneheliche Stiefsohn des Zim­ mermanns Joseph, der stoische Sittenreinheit erstrebte, habe sich aufgrund seiner Lektüre der jüdischen Literatur als der seinen Vorfah­ 66 67

Gutzkow: Wally, 107. Gutzkow: Wally, 109.

66 https://doi.org/10.5771/9783495998793 .

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ren verheißene nationale Befreier und König verstanden. Allerdings sei seine Vorstellung vom Messias selbst nicht völlig klar gewesen. Zwar scheine er gefühlt zu haben, dass dem Messiastitel eine reine theologische und keine politische Bedeutung eigne, doch habe er sich nicht gegen die politische Auslegung dieses Titels gewandt und habe selbst die politische Verfassung in Jerusalem kritisiert. Sein gewaltsa­ mer Einzug dort und die Tempelaustreibung hätten ihn schließlich als Revolutionär ans Kreuz geliefert. Jesus ist für Cäsar der edelste Mensch der Geschichte, ein Rabbi, der Buße und gottseligen Wandel im Sinne des reinen Urjudentums predigte. Aber spätere Zeiten hätten aus seinem Auftreten ein episches Gedicht mit Wundern und einer fabelhaften Göttermaschinerie gemacht. Aus der verunglückten Revolution des Schwärmers Jesus sei eine welthistorisch bedeutsame Religion geworden, während der Jude Jesus überhaupt nicht daran gedacht habe, eine neue Religion zu stiften. Vielmehr habe er nur die verinnerlichte Moral des lauteren Judentums gelehrt. Für Cäsar waren es die Jünger, die aus dem gescheiterten Messiasprätendenten Jesus aufgrund der Ankündigung seiner baldigen Wiederkunft einen Wundertäter machten, an dem sich auch selbst Wunder ereigneten. Wenn er auch nicht entscheiden möchte, ob die Jünger – wie Reimarus annahm – den Leichnam Jesu gestohlen haben, so hält er die Apostel doch für bornierte Menschen, die wie der von Theologen gern als tiefsinniger Philosoph gerühmte Paulus in Jesus nur die Neuerungen anerkannten und ihn so vom Gesetz isolierten. »Sie machten aus polizeilichen Differenzen ihres Lehrers mit der Syn­ agoge absichtliche, dogmatische, religionsstiftende. Eine übermütige Exegese, welche die Stellen des Alten Testamentes in einem sträflich verkehrten Sinne auf Jesus bezog, mußte ihre Absichten unterstützen. Jesus wurde ein Wundertäter, und er machte als solcher unter den Heiden ein Glück, das Apollonius von Tyana auch gehabt hätte, wäre ihm der Jude Jesus nicht in der Zeit zuvorgekommen.«68

Cäsar sieht den Hauptunterschied zwischen Jesus und Moses oder Mohammed darin, dass das Christentum Jesus mit Gott selbst ver­ wechsle, weshalb er es als Religion der Persönlichkeit bezeichnet. Nicht die Lehre Jesu sei entscheidend, sondern seine Person selbst sowie sein Leben und Sterben. Nur durch den hohen Blutzoll der frühen Verfolgungen fühlt Cäsar sich an das Christentum gebunden, während er in der Entwicklung der Kirche mit ihren Konzilien und 68

Gutzkow: Wally, 113.

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Würdenträgern als Verwandlung der Lehre Jesu in ein neues Heiden­ tum kritisiert. Das Christentum sei entgegen dem Willen Jesu zu einer politischen Größe, zu einem Reich von dieser Welt geworden. Zwar habe Luther versucht, an dessen Stelle das zu setzen, was er als reines Christentum betrachtete. Aber Cäsar wertet die Reformation nicht als Fortschritt der Menschheit, insofern sie wohl alles für das Christen­ tum, jedoch nichts für die Wahrheit, den gesunden Menschenverstand und die natürliche Religion getan habe. »An zwei Begriffen siechte gleich anfangs die Reformation: an einem, den sie nicht abschaffte, an der Kirche; und an einem, den sie neu erfand, am Evangelium.«69

Denn das Evangelium gründe sich auf falscher Exegese, einer sorglo­ sen Verbindung des Alten und Neuen Testaments und der Auffassung des Kanons als einer Richtschnur des Christentums, während für Cäsar der Kanon nur die erste überholte Erscheinung des Christen­ tums ist. Durch die symbolischen Bücher seien dann die Lehrer und durch die Katechismen bereits die Unmündigen im Protestantismus an den Glauben an einen Schöpfergott geschmiedet worden, der dem philosophischen Bewusstsein nicht entspreche. Ebenso verfehlt wie der neue Begriff des Evangeliums sei aber das Festhalten am Begriff der Kirche, den man nicht mit dem der Gemeinde ausgeglichen habe, so dass es zu einem Schwanken zwischen dem Extrem der englischen High Church und dem des allgemeinen Priestertums der Quäker gekommen sei. Das Luthertum hingegen »stritt für das göttliche Recht der Fürsten ebensosehr, wie es seine eignen Satzungen in ein legitimes, unantastbares Gewand zu kleiden suchte«.70 Daher habe Müntzer Luther mit Recht als Papst von Wittenberg kritisiert. Cäsar bestreitet, dass der Deismus mit dem Geist der abstrakten Verneinung eine wirkliche Gefahr für das Christentum gewesen sei. Er geht dem Einfluss der kantischen Philosophie auf die Theologie in Rationalis­ mus und Supranaturalismus ebenso nach wie dem von Schelling und Hegel gemachten bislang letzten Versuch, die Philosophie mit der Offenbarung in Einklang zu bringen. »Hegels Philosophie scheint mir auch wahrlich die einzige, die imstande ist, das Christentum zu beurteilen. Ihr Standpunkt ist der historische.«71 Allerdings hält 69 70 71

Gutzkow: Wally, 117. Gutzkow: Wally, 119. Gutzkow: Wally, 121.

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Cäsar das Christentum für überholt. Zwar sei das gegenwärtige Zeitalter nicht gottlos, wohl aber unchristlich, »denn das Christentum scheint sich überall der politischen Emanzipation in den Weg zu stellen«72. Daraus erklärt sich für Cäsar auch das Aufkommen neuer Religionsstifter und Religionen, wobei er besonders an Frankreich, und zwar sowohl an den Saint-Simonismus als auch an Lamennais denkt, dessen von Börne übersetzte Schrift Les paroles dʼun croyant in Preußen wegen ihres staatsgefährlichen Inhalts verboten war. SaintSimon und Lamennais würden der politischen Tendenz des Zeitalters Rechnung tragen und nicht länger wie die traditionelle christliche Religion der Entsagung »die hungernden Arbeiter auf das himmlische Brot des ewigen Lebens« vertrösten73. Die Differenz zwischen beiden Formen der Religion sei der, »daß der St. Simonismus das Christentum antiquiert und durch einige materielle Philosopheme nebst kirchlichen, freilich dem alten Glauben entnommenen Institutionen zu ersetzen sucht, die ›Worte eines Gläu­ bigen‹ dagegen auf den demokratischen Ursprung des Christentums zurückgehen und unverhohlen eine republikanische Tendenz dessel­ ben aussprechen.«74

Allerdings hält Cäsar beide Religionen für mangelhaft, den SaintSimonismus wegen seiner Philosophasterei, Lamennais wegen seines Katholizismus. Er schließt seine Geständnisse mit dem Bekenntnis, dass wir in einer Zeit des Heiligen Geistes lebten, der uns in alle Wahrheit führen und frei machen werde. Die Lektüre der »Geständ­ nisse« Cäsars führt bei Wally zur Verzweiflung, da sie sich der letzten Stützen der Religion beraubt sieht und der Meinung ist, dass das Leben des Menschen ohne Religion elend sei. Sie fasst den Gedanken, ihrem Leben ein Ende zu bereiten und vertraut ihrem Tagebuch nur noch wenige Aphorismen an. Sie vergleicht ihre eigene Situation mit derjenigen Jesu im Garten Gethsemane angesichts der schlafenden Jünger. Sie weiß nunmehr, dass der Mensch Gott nicht erkennen kann, Gott sich vielmehr hinter einem Vorhang verbirgt. Verzweifelt greift sie schließlich zum Dolch und ersticht sich.

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Gutzkow: Wally, 122. Gutzkow: Wally, 123. Ebd.

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5. Schluss Gutzkows Roman löst eine Welle der Empörung aus. Sein einsti­ ger Mentor Menzel wirft ihm vor, »von Frechheit und Immoralität schwarz aufgeschwollen« zu sein.75 Deutsche Sittlichkeit werde hier durch französische Unsitte verdrängt. Hier »wankt das kranke, ent­ nervte und dennoch junge Deutschland aus dem Bordell herbei, worin es seinen neuen Gottesdienst gefeiert hat«76. Zum Vorwurf der Unsittlichkeit gesellt sich der weitere, dass der Roman die religiösen Grundlagen untergrabe, zumal Unzucht und Gotteslästerung bereits im Alten Testament zusammengehörten und Christus das sichtbare Ideal der Tugend und Herzensreinheit sei. Menzel entrüstet sich über das rein menschliche Jesusbild in Cäsars Geständnissen und fragt, ob Gutzkow das Christentum umstürzen und eine neue Religion gründen wolle. »Es ist doch eine Bubenlust, den Herr Christus, den alle Welt verehrt, abzukanzeln und wie einen Einfaltspinsel zu behandeln.«77 All das sei Erbe der französischen Freigeisterei. Der Streit um den Roman wird immer mehr zu einer Fehde zwischen Gutzkow und Menzel über die Grundsätze der Literatur, wobei die Frage der Religion zentral bleibt. Menzel zeigt sich überzeugt, dass die deutsche Jugend niemals einen Anführer dulden werde, »der Gottes spottet, Christum lästert, unzüchtige Bücher schreibt und das alles nicht einmal aus eigener ruchloser Originalität, sondern nur als ein erbärmlicher Nachäffer des Auswurfs französischer Literatoren«78. Gutzkow verteidigt sich, indem er erklärt, dass es ihm nur um die Verbesserung des missverstandenen Christentums gegangen sei, um den Rückgang auf dessen erste historische Erscheinung. Auch habe er deutlich gemacht, dass ein Leben ohne Religion unmöglich sei, da Wally ja durch Cäsars Geständnisse ihrer Religion beraubt werde und sie sich deshalb aus Verzweiflung töte. Menzel hält Gutzkows Verteidigung für eine bloße Bemäntelung der Gotteslästerung und Immoralität seines Romans. In seiner »Appellation an den gesunden Menschenverstand« wendet Gutzkow ein, dass er fern jedes Angriffs auf die Kirche nur eine Seelenstimmung habe schildern wollen, wobei er sich ausdrücklich auf die theologischen Romane de Wettes und Tholucks bezieht. 75 76 77 78

Gutzkow: Wally, 276. Gutzkow: Wally, 279. Gutzkow: Wally, 282. Gutzkow: Wally, 300.

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»Ich suchte eine neue Stimmung, welche das Mittelalter und die klas­ sische Zeit nicht kannte, und fand eine Leidenschaft, die von Tholuck und De Wette in den ›Weihen des Zweiflers‹ schon im Interesse der Theologie behandelt war. Ich glaubte, dieser noch eine glühendere und poetischere Seite abgewinnen zu können.«79

Die positive Kirche habe ihn als Dichter dabei überhaupt nicht geküm­ mert. Er habe vielmehr nur ein psychologisches Phänomen, nämlich das Irrwerden am Glauben, zeichnen wollen. Auch ende der Roman ja mit einem Triumph der Religion als einer heiligen Sache, ohne die man nicht leben könne. Um aber die Selbsttötung Wallys hinreichend zu motivieren, habe er in den Geständnissen Cäsars eine kritische Sicht des Christentums vorgetragen müssen. In seiner Fehde mit Menzel wird Gutzkow von dem rationalisti­ schen Heidelberger Theologen Paulus, selbst ein Intimfeind des Stutt­ garter Literaturpapstes, unterstützt. In einem Anfang 1836 verfassten Sendschreiben wendet er sich gegen den von Menzel erhobenen Vorwurf, der Roman verführe sowohl zu Wollust und Unzucht als auch zur Irreligiosität. Denn der Kritiker habe fälschlicherweise die Meinung einzelner Charaktere des Romans mit der Meinung des Autors selbst verwechselt, obwohl er sich doch des Unterschiedes zwischen einem Roman und einem Katechismus hätte bewusst sein müssen. Die Heldin des Romans erscheint Paulus als typisches Pro­ dukt einer veränderten Erziehung in Religionsdingen. Früher habe man an der ganzen Bibel als Volksbuch Lesen und Schreiben gelernt, so dass man in Geschichtsform den Stoff hatte, aus dem man später »das Wesentliche, was in Judentum und Urchristentum und in Jesus selbst und was in seiner ersten Apostel redlichem Wollen der heili­ gende Geist war, herauszufinden, überhaupt die Harmonie mit Gott und allen guten Geistern als die mit dem Gewissen übereinstimmende Religiosität mit Empfindung anzuerkennen«.80

Heute lerne man hingegen alles Mögliche, erfahre aber von den alten Quellen des christlichen Glaubens und Lebens weniger als von der Küste der Halbinsel Coromandel im fernen Neuseeland. Die Kinder lernten nur noch einzelne biblische Geschichten kennen, die mit einem Heiligenschein versehen als unfehlbar wahr ausgegeben wür­ den, während man früher die ganze Bibel als Dokument der fortschrei­ 79 80

Gutzkow: Wally, 150. Gutzkow: Wally, 171.

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tenden Selbsterziehung des Menschengeschlechts zum Guten gelesen und sich ein eigenes Urteil gebildet habe. Im Konfirmationsunterricht würden die Jugendlichen dann für den Übergang in das versuchungs­ volle Leben ausgerüstet mit unergründlichen Glaubensartikeln. Hier erführen sie etwa, dass Gott die Welt aus nichts erschaffen habe und alles um der Ehre Gottes und seiner unerforschlichen Zwecke willen existiere. Zwar seien alle Menschen verpflichtet, heilig zu sein, aber wegen einer vor 6000 Jahren vorgefallenen kindischen Lust – gemeint ist der Sündenfall durch den Apfelbiss – dazu völlig unfähig, weil von Kindheit an verdorben. Doch Gott habe von dem Glauben aller Glaubensartikel die ewige Seligkeit unbedingt als ein frei verteilbares Gnadengeschenk abhängig gemacht. Paulus steht diesem ganzen orthodoxen Dogmensystem kritisch gegenüber, und es wundert ihn nicht, dass eine moderne Frau wie Wally, in der Religion schlecht unterrichtet, in den religiösen Zweifel getrieben wird. Er sieht bei den zeitgenössischen konservativen Verteidigern der Religion »statt des denkgläubigen Zwingli und des heroischgläubigen Luthers wieder den despotischgläubigen Kirchenzuchtmeister und Ketzerverbrenner Calvin mit seiner Prädestinationslehre oder mit einem Gott, der alles und alles nach unergründlichen Zwecken durch absoluten Beschluss vorausbestimmt habe«.81 Paulus will hingegen wohl eine allgemeine harmonische Zweckmäßigkeit der Welt anneh­ men, hält es aber für kindisch, bei jedem einzelnen Ereignis nach Gottes besonderer Absicht zu fragen. Das orthodoxe System von Sünde und Erlösung mit seiner Demütigung der Vernunft führe einen zwangsläufig in die Verzweiflung und Zerrissenheit, die Wally kennzeichne. Im Denken ungeübt und von flüchtigen Eindrücken abhängig, ahne sie dunkel, dass vieles, was und wie sie zu glauben gelehrt worden sei, unglaublich sei. Daher werde sie schließlich auch ein Opfer des sophistischen Cäsar. Zwar gibt Gutzkow sich Mühe, in seiner Verteidigung der »Wally« die religionskritische Intention des Romans zu bestreiten. Doch bereits das Sendschreiben von Paulus macht deutlich, dass er gerade wegen seiner Kritik an der orthodoxen Theologie und der Aufnahme von Argumenten der historischen Bibel- und Dogmen­ kritik von dem Heidelberger Rationalisten positiv gewertet werden konnte. In einem Brief, den er im April 1836 an Graf von MünchBellinghausen, den österreichischen Bundespräsidialgesandten des 81

Gutzkow: Wally, 173.

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De Wette und die Theologen- und Philosophenromane seiner Zeit

Frankfurter Bundestags, richtet, gibt er die Absicht zu erkennen, die er mit dem Roman wie auch mit der Neuedition von Schleiermachers Lucindebriefen verfolgte: »Ich gestehe, daß, wenn er eine Tendenz hatte, es diese war, in einer Kirche, wo ich meine heuchlerischen Freunde beten sahe, eine Rakete aufsteigen zu lassen.«82

Gutzkow spielt damit auf die reaktionäre Wende an, die er bei seinen Berliner Jugendfreunden wahrnahm, die um der Staatskarriere willen Pietisten wurden, das heißt in das Lager der konservativen Erwe­ ckungstheologie übergingen. Schon im September 1835 hatte das preußische Oberzensurkollegiums, dem auch der Theologe Neander angehörte, den Roman als wertloses Produkt eingestuft und mit der Begründung verboten, er suche »sich durch die frechste Verunglimp­ fung des Christentums und überhaupt durch die zügellosesten Ver­ höhnungen jedes religiösen Glaubens bemerklich zu machen«83. Im Oktober wird der Roman in Würzburg und München, im November in Kurhessen, Mannheim und Frankfurt konfisziert und eine Unter­ suchung gegen Gutzkow und seinen Verleger Löwenthal eingeleitet, die dann zur Verurteilung des Romanautors durch das Mannheimer Stadtgericht führt. Nach sechswöchiger Untersuchungshaft wird er im Januar 1836 wegen Gotteslästerung, Verächtlichmachung des christ­ lichen Glaubens und der Kirche sowie der Darstellung unzüchtiger Gegenstände angeklagt, am 13. Januar wegen verächtlicher Darstel­ lung des Glaubens der christlichen Religionsgemeinschaften zu ein­ monatiger Gefängnishaft verurteilt und nach Abbüßung der Haft­ strafe aus Baden ausgewiesen.

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Gutzkow: Wally, 254. Gutzkow: Wally, 291.

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Rolf Selbmann

Theologiegeschichte, Lebensgeschichte, Bildungsgeschichte Wilhelm Martin Leberecht de Wettes »Bildungsgeschichte eines evangelischen Geistlichen« vor dem Horizont des deutschen Bildungsromans

Wenn Theodor oder des Zweiflers Weihe, die Bildungsgeschichte eines evangelischen Geistlichen von Wilhelm Martin Leberecht de Wette danach befragt werden soll, ob dieser Roman ein Bildungsroman ist oder genauer: wie intensiv er in der Geschichte dieser Gattung wurzelt (oder eher nicht), so ist das methodische Vorgehen eigentlich schon festgelegt. Zuerst muss man sich vor Augen führen, was man unter einem Bildungsroman versteht (1). In einem zweiten Schritt wäre zu prüfen, wie und auf welche Weise de Wettes Roman mit diesem Anspruch umgeht; schließlich schmückt er sich in seinem Untertitel mit dem Begriff der »Bildungsgeschichte« (2). Drittens bietet sich ein Vergleich an, um ein Feld mit ähnlich gelagerten Texten abzustecken (3). Zuletzt gilt es die Schlussfolgerungen daraus zu ziehen (4).

1. Was ist ein Bildungsroman? Die berühmteste Bildungsroman-Definition stammt von Georg Friedrich Wilhelm Hegel. In seinen zwischen 1818 und 1829 gehalte­ nen Vorlesungen über die Ästhetik, übrigens recht zeitgleich mit de Wettes Roman, erhebt Hegel den Bildungsroman zur repräsentativen Romanform schlechthin, obwohl er den Bildungsroman-Begriff noch nicht kennt. Im »Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse« habe sich, so Hegel, eine spezifische Form des Individualromans herausgebildet:

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Rolf Selbmann

»Nun gilt es, ein Loch in diese Ordnung der Dinge hineinzustoßen, die Welt zu verändern, zu verbessern oder ihr zum Trotz sich wenigstens einen Himmel auf Erden herauszuschneiden: das Mädchen, wie es sein soll, sich zu suchen, es zu finden und es nun den schlimmen Verwand­ ten oder sonstigen Missverhältnissen abzugewinnen, abzuerobern und abzutrotzen. Diese Kämpfe nun aber sind in der modernen Welt nichts weiteres als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit, und erhalten dadurch ihren wahren Sinn.«1

Das Zitat ist in gleich mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Zum ersten zeigt es, dass Goethes Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehr­ jahre von 1795/96 schon fast sprichwörtlich als Anspielung herhal­ ten kann. Zum zweiten legt Hegel fest, dass dieser Roman als ein Abbild »der modernen Welt« anzusehen ist. Und drittens ist für Hegel selbstverständlich, dass der Held eines solchen Romans sich an seiner Umwelt durch »Kämpfe« abzuarbeiten hat. Nach diesen Grundbestimmungen der neu gefundenen Gattung verfällt Hegel in einen mokanten Tonfall, wenn er diese seine Strukturbeschreibung eines solchen Bildungsromans über das Romanende hinausführt: »Denn das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, daß sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinen Wünschen und Meinen sich in die beste­ henden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt. Mag einer auch noch soviel sich mit der Welt her­ umgezankt haben, umhergeschoben worden sein, – zuletzt bekömmt er meistens doch sein Mädchen und irgendeine Stellung, heiratet und wird ein Philister so gut wie die anderen auch: die Frau steht der Haushaltung vor, Kinder bleiben nicht aus, das angebetete Weib, das erst die Einzige, ein Engel war, nimmt sich ohngefähr ebenso aus wie alle anderen, das Amt gibt Arbeit und Verdrießlichkeiten, die Ehe Hauskreuz, und so ist der ganze Katzenjammer der übrigen da.–«2

Hegel ironisiert damit die typische Heldenlaufbahn als Apotheose eines Spießbürgers. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat dann der Philosoph Wil­ helm Dilthey mit seinem Buch Das Erlebnis und die Dichtung den Bildungsromanbegriff in der Literaturwissenschaft eingebürgert. Bil­ dungsromane, so definierte Dilthey, stellen 1 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: (Vorlesungen über die) Ästhetik, hrsg. von Friedrich Bassenge, Berlin 1955, 557. 2 A.a.O., 558.

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Theologiegeschichte, Lebensgeschichte, Bildungsgeschichte

»den Jüngling jener Tage dar; wie er in glücklicher Dämmerung in das Leben eintritt, nach verwandten Seelen sucht, der Freundschaft begegnet und der Liebe, wie er nun aber mit den harten Realitäten der Welt in Kampf gerät und so unter mannigfachen Lebenserwartun­ gen heranreift, sich selber findet und seiner Aufgabe in der Welt gewiß wird.«3

Zur Abgrenzung vom Entwicklungsroman, den Dilthey als überzeitli­ che Gattung zu den »biographischen Dichtungen« rechnete, verstand er den Bildungsroman als eigentlich überholte, für seine eigene Gegenwart schon ausgestorbene Romanform. Dilthey sprach von den »damaligen deutschen« Bildungsromanen und verspürte bei ihrem Lesen den »Hauch einer vergangenen Welt«.4 In ihnen entdeckte er eine ganz besondere Struktur: »Eine gesetzmäßige Entwicklung wird im Leben des Individuums angeschaut, jede ihrer Stufen hat einen Eigenwert und ist zugleich Grundlage einer höheren Stufe. Die Dissonanzen und Konflikte des Lebens erscheinen als die notwendigen Durchgangspunkte des Indivi­ duums auf seiner Bahn zur Reife und zur Harmonie.«5

Der Bildungsweg als »gesetzmäßige Entwicklung« in aufsteigenden »Stufen« bis hin zu einem Ziel in »Reife« und »Harmonie«: Dieses Stufenmodell erschien an Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre abge­ lesen oder umgekehrt: der gesamten Gattung verpflichtend überge­ stülpt. So konnten Goethes Lehrjahre zum vorbildlichen Muster einer Textart aufrücken, die es vor seinem Roman noch nicht gegeben hatte und deren Höhe danach auch nie wieder erreicht wurde.6 Ob allerdings ein Gattungsbegriff sinnvoll ist, der im Grunde nur auf einen Text anwendbar ist, steht auf einem anderen Blatt. Die eleganteste Formulierung des Bildungsromans stammt von Walter Benjamin. Wie sehr Benjamin in seiner Begriffsbe­ stimmung durch diejenige Hegels hindurchgegangen ist, lässt sich unschwer heraushören:

3 Dilthey, Wilhelm: Das Erlebnis und die Dichtung. Leipzig 1906, zit. nach: Selb­ mann, Rolf (Hg.): Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans (Wege der Forschung 640), Darmstadt 1988, 120. 4 A.a.O., 120f. 5 A.a.O., 121. 6 So Jacobs, Jürgen: Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen zum deut­ schen Bildungsroman, München 1972.

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»Der Bildungsroman dagegen weicht von der Grundstruktur des Romans in gar keiner Weise ab. Indem er den gesellschaftlichen Lebensprozeß in der Entwicklung einer Person integriert, läßt er den ihn bestimmenden Ordnungen die denkbar brüchigste Rechtfertigung angedeihen. Ihre Legitimierung steht windschief zu ihrer Wirklichkeit. Das Unzulängliche wird gerade im Bildungsroman Ereignis.«7

Gerade dadurch, dass der Bildungsroman von der »Grundstruktur« des Romans nicht abweicht und den bestehenden Ordnungen nur »die denkbar brüchigste Rechtfertigung« zuteil werden lässt, die eigentlich gar nicht mehr legitimiert werden können, kann diese Romanform weiterhin existieren. Vielleicht ist es ausgerechnet dieses »Unzuläng­ liche«, ein bekanntes Faust-Zitat, was diese eigentlich nicht mehr mögliche Romanart über Benjamin hinaus bis in die Gegenwart am Leben erhält. Dazu trägt sicherlich auch das ›Windschiefe‹ bei, diese Konterkarierung aller bisherigen Ordnungsmodelle. Damit stehen wir im Zentrum der Diskussion um den Bildungsromanbegriffs und damit vor einem der Kernprobleme einer systematischen Literaturwissenschaft.

2. Bildungsroman und »Bildungsgeschichte« De Wettes Theodor nennt sich im Untertitel eine »Bildungsge­ schichte« und beansprucht dadurch, zumindest in den Umkreis vergleichbarer Bildungsromane zu gehören.8 Damit stellt sich der Autor auch drei Herausforderungen, die zugleich als Kriterien für die Zugehörigkeit zur Gattung des Bildungsromans anzusehen sind, nämlich einmal der Ausrichtung an der eigenen Zeit und Gesellschaft, mithin dem, was man Wirklichkeit nennt. Zweitens verlangt eine solche Bildungsgeschichte die Bewältigung mindestens einer »Krise«. Dieser Begriff der »Krise« gilt schon für Goethes Lehrjahre, wo er an entscheidender Stelle vorkommt.9 Der erste Mitleser des Romans, Friedrich Schiller, erkannte in einer solchen »Krise« den entscheiden­ Benjamin, Walter: Illuminationen, Frankfurt 1961, 409–436. Vgl. Selbmann, Rolf: Der deutsche Bildungsroman (Sammlung Metzler 214), Stuttgart/Weimar 21994, 30–33. 9 Goethe, Johann Wolfgang: Poetische Werke. Berliner Ausgabe, Bd. 10, 259: »Alle Übergänge sind Krisen«. 7

8

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den Springpunkt des gesamten Romans.10 Drittens thematisieren alle Bildungsgeschichten die Problematik der Integration einer Ich-Iden­ tität in ihre Umwelt, auch wenn diese daran scheitern und eine solche Integration eben nicht gelingt. Alle Bildungsromane der Zeit gehen allerdings über die bloße Erfüllung solcher Minimalforderungen hinaus; sie wollen alle ihren Bildungsimpetus noch stärker thematisieren. Diese Bildungsverses­ senheit hatte besonders der Dorpater Ästhetikprofessor Karl Morgen­ stern betont, als er 1819/20 den Bildungsromanbegriff gleichsam erfand – übrigens fast zeitgleich mit dem Erscheinen der ersten Auflage von de Wettes Theodor. Für Morgenstern sollte der von ihm benannte Bildungsroman nicht nur den Bildungsprozess eines Romanhelden beschreiben: »Bildungsroman wird er heißen dürfen, erstens und vorzüglich wegen seines Stoffs, weil er des Helden Bildung in ihrem Anfang und Fortgang bis zu einer gewissen Stufe der Vollendung darstellt; zweitens aber auch, weil er durch diese Darstellung des Lesers Bildung, in weiterm Umfang als jede andere Art des Romans, fördert.«11

Ein wahrer Bildungsroman soll auch beim Leser einen Bildungspro­ zess in Gang setzen, woraus sich unausgesprochen eine Erzählerin­ stanz voraussetzt, die einen solchen Bildungsprozess selbst schon durchlaufen hat. De Wettes Theodor reibt sich an diesem Anspruch. Schon in seiner »Vorrede« verneint der Autor die enge Verschwisterung des Erzählerischen mit den Erzählinhalten, wie sie Morgenstern gefordert hatte. De Wette will ausdrücklich auf den »Ruhm, ein Kunstwerk geliefert zu haben«, verzichten.12 Vielmehr betont er statt der Dar­ stellung eines Prozesses die Zielvorgabe. Für ihn zählt das erreichte Ergebnis und damit die Differenz zwischen der Erzählinstanz und dem Erzählvorgang: »so wollte ich den Weg der theologischen Bildung, den ich für den richtigen halte, in der Mitte zwischen mehreren Abwegen, welche gerade unsrer Zeit eigen sind, hindurchführen«13. 10 Seidel, Siegfried (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Band 1: Briefe der Jahre 1794–1797, München 1984, 199: »dieses nenne ich die Krise seines Lebens, das Ende seiner Lehrjahre«. 11 Morgenstern, Karl: Ueber das Wesen des Bildungsromans (1820), zit. nach: Selbmann, Der deutsche Bildungsroman, 11. 12 Theodor 9. 13 Theodor 5 (21828 I, VI).

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So erzählt die nachgetragene Jugendgeschichte des Helden auch keine Entwicklungsfortschritte, sondern der Erzähler behauptet nur, dass es eine solche gegeben habe: »So ging unser Freund vorwärts auf der Bahn des Zweifels.«14 Auch von den theologischen Fehlwegen, Einsichten und Erkenntnissen des Helden erfährt der Leser durch die Ergebnisfeststellung des Erzählers: »Die allgemeine Bildung, die er sich bisher verschafft hatte, war eine gute Grundlage, aus der er fortbauen konnte; und es blieben ihm nur einige Lücken auszufüllen übrig.«15 Hier zeigt sich der de Wettes Roman zugrunde liegende Bildungsbegriff besonders deutlich: »Therese hatte ihre volle Bildung erreicht, und war keiner Entwicke­ lung weiter fähig; was in ihrer Natur lag, war ausgeblüht und alles Licht ihres Geistes spiegelte in schimmernden Farben an der Oberfläche: Theodor hingegen hatte kaum die erste Stufe der männlichen Bildung erstiegen, und es lag unendlich mehr in ihm, als er selbst ahnete. In dem Grade nun, als sein reicher, tiefer Geist sich entwickelte, seine Lebensansicht umfassender wurde, und sein Ernst und seine Innigkeit die Flachheit und Leere der bisherigen Bildung verdrängte: mußte der Abstand zwischen ihm und Therese fühlbar werden.«16

Abgesehen davon, dass es bei de Wette offenbar eine männliche und eine weibliche Bildung mit einem »Abstand« zwischen beiden gibt – Bildung ist immer eine Entwicklung des »Geistes«. Schon am Ende des ersten Buches verrät uns der Erzähler, dass dieser Bildungsweg seines Helden kein Fortschreiten sein wird, sondern eher das Gegenteil: »Er kam sich wie ein Verirrter vor, der sich muthwillig einen neuen, eigenen Weg gesucht; und doch wußte er noch nicht den Rückweg zu finden.«17 Bei einem Bildungsweg, der im Ringen mit der eigenen Zeit zum »Rückweg« wird, handelt es sich um ein Strukturmodell, das eher an Heiligenlegenden oder Erweckungsgeschichten erinnert als an einen Bildungsroman. Und natürlich schimmert unter de Wettes Theodor immer Goe­ thes Wilhelm Meisters Lehrjahre heraus – dies manchmal so deutlich, dass man davon gesprochen hat, de Wette habe in seinem Theodor manche Szenen aus Goethes Wilhelm Meister geradezu »nachgestal­

14 15 16 17

Theodor 19 (21828 I, 24). Theodor 58 (21828 I, 76). Theodor 94 (21828 I, 123). Theodor 111 (21828 I, 148).

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tet«.18 So bildet z. B. Wilhelm Meisters Bildungsbrief auch die Folie für den Abschiedsbrief Theodors an seine Mutter. Bei Goethe liefert der Tod des Vaters den Anlass zur Selbstvergewisserung Wilhelms, bei de Wette steht am Ende des Briefwechsels der plötzliche Tod der Mutter. Theodor entscheidet sich darin nicht nur programmatisch gegen den »geistlichen Stand«. Er tut dies auch in Formulierungen, die Wilhelm Meisters Bildungsbrief fast wörtlich aufnehmen, indem sie mögliche »Einwendungen« vorausgreifend entkräften wollen.19 Wäh­ rend in Goethes Roman dem Leser schon beim Abfassen des Briefs klar war, dass Wilhelm sich vergaloppiert hat, weil die angestrebte Form der Bildung auf den Weg über das Theater nicht erreichbar sein wird, sonnt sich Theodor noch ganz im Gefühl seines schon längst eingeschlagenen Bildungswegs. Denn de Wettes Theodor geht es nur noch um das nachträgliche Auffüllen etwa vorhandener »Lücken«: »Die allgemeine Bildung, die er sich bisher verschafft hatte, war eine gute Grundlage, auf der er fortbauen konnte; und es blieben ihm nur noch einige Lücken auszufüllen übrig.«20 Die bei Goethe vorherrschende Erzählerdistanz, die durchgehend Zweifel an der Selbsteinschätzung des Protagonisten ausgesät hatte, ist bei de Wette zugunsten eines Einverständnisses des Erzählers mit seiner Helden­ figur aufgegeben. Im 2. Buch des Ersten Teils findet der Held durch seine »Beschäftigung mit der Wissenschaft und Kunst« zu einer Art Festigung oder Sättigung seiner bisherigen Bildungsbemühungen: »sein Geschmack läuterte sich und ging mehr in die Tiefe«.21 Dies gelingt ihm durch weitschweifige Auseinandersetzungen mit seinen Gesprächspartnern, die nicht selten in Belehrungen ausarten. Dazu gehört z. B. die unverblümte Kritik an der zeitgenössischen Literatur, etwa den erfolgreichen Theaterstücken August von Kotzebues, oder an Kants kategorischem Imperativ; der Protagonist bezeichnet ihn als »Sucht, zu moralisiren«.22 Ähnlich verlaufen auch Theodors lang­

18 Pestalozzi, Karl: De Wette als Romanautor, in: Mathys, Hans-Peter/Seybold, Klaus (Hg.): Wilhelm Martin Leberecht de Wette. Ein Universaltheologe des 19. Jahrhunderts (Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel. NF 1), Basel 2001, 130. 19 Theodor 55f. (21828 I, 73). 20 Theodor 58 (21828 I, 76). 21 Theodor 115 (21828 I, 149). 22 Theodor 128 (21828 I, 165).

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atmige Abrechnungen mit der Musik,23 wobei er Mozarts Zauberflöte gerade noch gelten lässt.24 Das 1. Buch des Zweiten Teils führt die Liebesgeschichte Theo­ dors mit der Zeitgeschichte zusammen: die Befreiungskriege gegen Napoleon sind soeben ausgebrochen, an die Stelle der verlorenen Therese tritt nun die katholische Hildegard. Schon zuvor war ihr ebenfalls katholischer Bruder Otto zum schwärmerisch verbundenen Freund Theodors aufgerückt: »laß uns Freunde seyn!«25 Wieder erge­ ben sich breit ausgefächerte Gespräche über Mängel und Schwächen der evangelischen und der katholischen Konfession, mit Fußnoten des Autors zu den von ihm schon zuvor veröffentlichten Aufsätzen glei­ chen Themas.26 Vieles wird dabei zur »Vorlesung«,27 wie überhaupt de Wettes Roman seine theologiewissenschaftliche Grundierung nicht etwa leugnet, sondern sie erschöpfend ausbreitet.28 Obwohl die his­ torische Bibelforschung erst 1835 mit David Friedrich Strauß‹ Leben Jesu beginnt, sind in de Wettes Roman schon zustimmende Vorklänge zu spüren.29 So verkündet der Protagonist, »daß man die christliche Geschichte und Lehre symbolisch nehmen müsse«,30 denn vieles an den Bibelerzählungen sei »halb und halb zur Mythologie rechnen«;31 daher müsse man die dort berichteten »Wunder als Symbole«32 betrachten. Wenn Theodor »Zweifel« betreffend »die Glaubwürdig­ keit der christlichen Urgeschichte, den geschichtlichen Gehalt des Lebens Jesu«33 äußert, dann gerät auch sein bisher so sicherer Bil­ dungsweg in Verwirrung: »So war unser Freund auf einen neuen

Theodor 139f. (21828 I, 179ff.). Theodor 144 (21828 I, 187). 25 Theodor 255 (21828 II, 41). 26 Theodor 243 (21828 II, 26). 27 Theodor 505 (21828 II, 373). 28 Zu de Wettes Schriften vgl. immer noch Staehelin, Ernst: Dewettiana. Forschun­ gen und Texte zu Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Leben und Werk, Basel 1956 (Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel 2). 29 Rogerson, John W.: W. M. L. De Wette. Founder of Modern Biblical Criticism. An Intellectual Biography (Journal for the Study of the Old Testament, Supplement Series 126), Sheffield 1992, 241. 30 Theodor 187 (21828 I, 242). 31 Theodor 189 (21828 I, 245). 32 Theodor 191 (21828 I, 248). 33 Theodor 361 (21828 II, 181). 23

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Irrweg gerathen, gerade als er seine früheren Verwirrungen eingese­ hen«.34 Diese und andere philosophisch-theologischen Erörterungen verbreitern das Bildungsspektrum des Helden und lassen den »Ent­ schluß, sich wieder dem Lehramte zu widmen«,35 erneut in ihm aufkeimen. Zur Klärung bedarf es nun einiger Bildungsreisen, zuerst »einen Durchflug durch England und Holland«36, der nur kursorisch erwähnt wird, dann jedoch eine ausführlich erzählte Schweiz-Reise, auf der Theodor überraschend wieder mit Otto und Hildegard zusam­ mentrifft. Er genießt die Erhabenheit der Schweizer Bergwelt so sehr, dass Erzählerinstanz und Heldenbewusstsein beinahe ineinander ver­ fließen – man denke an die zweite Hälfte des Romantitels: »des Zweif­ lers Weihe«. Dieses Erlebnis der Schweiz, verdichtet in der als realpo­ litisch verstandenen Figur Wilhelm Tells, wird zum Lernort, an dem sich die Menschheitsgeschichte als Bildungsgeschichte ablesen lässt: »Was die Schweizer gethan haben, thaten später die Niederländer, und heut zu Tage hat der republicanische Geist seinen Wohnsitz in Amerika aufgeschlagen.«37 Diese Menschheitsgeschichte ist zugleich eine kollektive Bildungsgeschichte, die nicht nur »verschiedene Raçen der Menschen geschaffen, von den edelsten bis hinab zu den unedlen und thierähnlichen«.38 »Diejenigen, welche aus dem Naturzustande herausgetreten sind, besonders die beweglichen Europäer, suchen durch die Bildung sich einander zu verähnlichen«, so dass man darin »in allen Bildungen und Verbildungen den Menschengeist zu erkennen und zu lieben« vermöge.39 In solcher Atmosphäre bleibt für Theodor seine Hildegard nicht nur »meine Freundin«40, sondern wird eine »reine Seele«, die die »Schöne Seele« aus Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahren an selbst­ loser Weltabgehobenheit noch übertrifft: »diese reine Seele kennt keine Leidenschaft, kein Verlangen, kein Bedürfniß. Sie sonnet sich in ihrem eignen Lichte«. Die Selbstabrundung Hildegards wirkt so sehr, dass Theodor »der unlautere Wunsch nach ihrem Besitze«41 vergeht, 34 35 36 37 38 39 40 41

Theodor 184 (21828 I, 238). Theodor 263 (21828 II, 51). Theodor 264 (21828 II, 52). Theodor 310 (21828 II, 112). Theodor 311 (21828 II, 114). Theodor 311 (21828 II, 114). Theodor 314 (21828 II, 118). Theodor 316 (21828 II, 122).

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auch wenn ihm schwant, dass in Hildegards so reiner Seele vielleicht auch noch andere Bedürfnisse schlummern könnten: »ihre sonst so unbefangenen Augen verriethen ein verborgenes Feuer, das zuweilen hervorbrechen wollte«.42 Die Entscheidung über seinen »Lebensweg« legt Theodor des­ halb (oder gerade deshalb?) programmatisch in Hildegards Hand: »In Ihre Hand lege ich die Entscheidung!« Theodor reduziert diese entscheidende Lebenswegänderung jedoch auf die Frage: »soll ich zum Berufe des Geistlichen zurückkehren?«43 Die Entscheidung wird jedoch nicht so einfach gefällt, sondern zunächst vertagt und dann in eine Zusammenführung von Lebensberuf und Liebesleben eingegossen: »Hildegard, nur mit Ihnen kann ich leben, und diesen Beruf erfüllen. Entscheiden Sie über mein Schicksal! Mit Ihnen ist Leben, Kraft und Segen des Wirkens; ohne Sie der Tod.«44 Mit dieser Verknüpfung manövriert sich Theodor in einen doppelten Zwiespalt. Einerseits gilt: »er wollte ihr Herz und ihre Hand nicht erobern, sondern als eine freie Gabe empfangen«,45 andererseits aber auch: »Als evangelischer Geistlicher konnte er nicht eine Katholikin als Braut heimführen«,46 Dieser Zwiespalt treibt Theodor bis an die Schwelle »der Entsagung, die höchste Erhebung des Geistes ist«47; das schon angepeilte glückliche Ende droht umzukippen. Doch die edle Hildegard hält dagegen: »Ich halte es für meine Christenpflicht, Dich Deinem Berufe nicht zu entziehen; und so wie ich Dich stets zur Wahl desselben ermuntert habe, so muß ich auch thätig dazu mitwirken.«48 So imaginiert sich Theodor seine Bildungsgeschichte so, als sei diese eine Liebesgeschichte, in der er »die Geschlechtsliebe ganz geistig« auffasst: »Wenn nun der Jüngling in das Leben tritt, sich zu seiner Laufbahn rüstend, und ihm ein Bild des Lebens vorschwebt, daß er verfolgen will: so suchen seine Blicke ein Auge, in welchem sich dieses Bild wiederspiegele, ein Herz, in welchem das ihn bewegende Grundgefühl wiedertöne; und er findet es in dem Mädchen, das er liebt.«49 42 43 44 45 46 47 48 49

Theodor 321 (21828 II, 129). Theodor 325 (21828 II, 133). Theodor 392 (21828 II, 222). Theodor 422 (21828 II, 264). Theodor 423 (21828 II, 264). Theodor 424 (21828 II, 266). Theodor 435 (21828 II, 279). Theodor 491 (21828 II, 254).

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Man wird allerdings dann hellhörig, wenn man die zeitparallele Bil­ dungsromandefinition Hegels daneben stellt. Denn was Hegel dort kritisch und ironisch, geradezu sarkastisch schildert, verficht de Wet­ tes Roman ganz ernsthaft und affirmativ. Am Ende wird Theodors »Rückweg« ins ländliche Pfarramt dann doch keine einfache Rückkehr an seinen Ausgangspunkt, denn »Theodor trug sich mit einem andern Plane«. Er kauft ein aufgelasse­ nes Rittergut, verteilt die Besitzung »unter die Bauern gegen einen Erbzins«, erbaut eine Kirche, ein Pfarr- und ein Schulhaus.50 Seine verwitwete Schwester beteiligt sich an dieser »Stiftung«, bei der der eigene »Vortheil« sich mit »dem Gemeinnützigen« verbindet.51 Auf diese Weise wird Theodor eine Art gutsherrlicher Pfarrer: »Nach langem Irren habe ich meinen Beruf wiedergefunden, und meine Fehl­ griffe haben mich in der Wahrheit nur mehr befestigt«.52 Zumindest der zum Bildungsroman gehörende soziale Aufstieg vollzieht sich, wenn auch in einer höchst bescheidenen Dimension.

3. Theodor im Horizont christlicher Bildungsgeschichten Beim Einpassungsversuch, ob Theodor in den Horizont des Bildungs­ romans einzugemeinden ist, mag ein Vergleich mit anderen, ebenfalls religiös grundierten Romanen hilfreich sein. Dazu wähle ich zwei Romane aus, die ebenfalls in christlichen Orientierungen wurzeln. Der erste Roman, der wie de Wettes »Bildungsgeschichte« ebenfalls die Lebensgeschichte eines evangelischen Geistlichen darstellt, ist 1777, also mehr als eine Generation vor Theodor entstanden. Es handelt sich um Johann Heinrich Jung-Stillings Lebensgeschichte, die Goethe zur Niederschrift angeregt und zum Druck befördert hatte. Jung-Stilling legte eigentlich gar keinen Roman vor, sondern präsentierte seine tatsächliche Lebensgeschichte, die so authentisch wie möglich wirken sollte. Deshalb trug er sie auch nicht als IchErzählung vor, sondern erfand dafür eine Alter Ego-Figur, der er aus der rückblickenden, mit weiteren Fortsetzungen immer größer werdenden Distanz eine historisierende Außenperspektive geben konnte. Dennoch oder trotzdem beharrte Stilling darauf, dass dies 50 51 52

Theodor 512 (21828 II, 381). Theodor 513 (21828 II, 382). Theodor 519 (21828 II, 391).

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»meine eigene Geschichte ist«, die »wirklich und in der That wahr sey« und »die reine ungeschminkte Wahrheit erzähle«.53 Erst als er bei der Darstellung seines Alters angekommen war, fiel Stilling auf die Ich-Erzählung zurück, indem er hinzufügte: »von ihm selbst beschrie­ ben«.54 Stilling entwarf mit seinem »Lebensgang« ausdrücklich kei­ nen Bildungsroman, sondern er erzählte eine Geschichte, der ein von höherer Hand gezeichneter »Plan« zugrunde lag: »Stillings Führung war immer planmäßig, oder vielmehr: der Plan, nach welchem er geführt wurde, war immer so offenbar, daß ihn jeder Scharfsichtige bemerkte«.55 Dieser Plan leitete sich aus einem »Grundtrieb« ab,56 aus dem ihm in manchem »Augenblick« […] »die große Entwicklung seines Lebensplans so herrlich aus der Ferne entgegenstralte«.57 Im Rückblick und mit rhetorischer Fragehaltung stellte Stilling klar, dass seine Lebensgeschichte, selbst wenn sie wie eine Bildungsgeschichte aussah, nicht aus einem Bildungsimpetus hervorgegangen war, den seine Titelfigur gesteuert hatte: »Zeigt meine Geschichte nicht ebenfalls unwiderlegbar, daß von mei­ ner Seite nicht das geringste, weder zum Entwurf noch zur Ausführung meines Lebensplans geschehen sey? – weder Schwärmerey noch Irrt­ hümer hatten an jenem Plan, und an dessen Ausführung Theil: denn wo ich schwärmte oder irrte, da wurde ich immer durch die Entwicklung eines Bessern belehrt.«58

Jung-Stillings Bildungsgeschichte will also gar kein Bildungsroman sein, sondern eine Lebensgeschichte am Leitfaden göttlicher Len­ kung. Dieses offenkundige Einwirken einer Hand Gottes fehlt bei de Wette ganz. Als zweiter Vergleichsroman bietet sich Joseph von Eichendorffs Ahnung und Gegenwart (1815) an, der durch seine starke katholische Grundierung den anderen Gegenpol zu de Wettes Theodor abgeben kann. Nicht nur aus Zeitgründen verkürze ich den komplexen Roman

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte, hrsg. von Gustav Adolf Ben­ rath, Darmstadt 1976, 599. 54 A.a.O., 629. 55 A.a.O., 463. 56 A.a.O., 493. 57 A.a.O., 574. 58 A.a.O., 617. 53

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auf zwei Sätze.59 Der erste Satz von Joseph von Eichendorffs Ahnung und Gegenwart lautet so: »Die Sonne war eben prächtig aufgegangen, da fuhr ein Schiff zwischen den grünen Bergen und Wäldern auf der Donau herunter.«60

Hier werden Tages- und Romanbeginn gleichgeschaltet, der erste Satz setzt mit dem »Schiff« ein toposhaftes Bild der Lebensfahrt in Gang. Der Held, Graf Friedrich, taucht erst im übernächsten Satz auf, gleich nach ihm ein olympischer Erzähler mit handfesten Grundsätzen: »die Jugend ist ewig«.61 Graf Friedrich schippert im Kreis »lustiger Gesellen« auf der Donau mit »empörten Wogen« und einem »uner­ gründlichen Schlund«, der alles in sich »hinabzieht«, würde nicht das Zeichen des Kreuzes die Gefahr bannen.62 Eichendorff deutet damit ein christliches Lebensmodell breit aus, das man in seiner Rundform symbolisch verstehen kann und soll;63 gleichzeitig lässt sich der Roman durchaus auch als politische Kundgebung lesen.64 Denn der Schluss wiederholt den Anfang des Romans, allerdings nicht ganz identisch, sondern in betonter Analogie: »Die Sonne ging eben prächtig auf.«65 Die bedrohlich wirkende Wasserszenerie des Aufbruchs war nichts anderes als eine Schifffahrt auf der Donau; am Ende ist es der Blick aufs Meer, der Anlass zur pessimistischen Zeitdiagnose gibt: »Verloren ist, wen die Zeit unvorbereitet und unbewaffnet trifft«.66

59 Vgl. dazu meine Untersuchungen: Lauter letzte Sätze. Auch eine Geschichte des Bildungsromans, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 60 (200), 405–432, sowie: Lauter erste Sätze. Eine Geschichte des Bildungsromans in seinen Erzählanfängen, in: Stefan Neuhaus/Petra Weber (Hg.): Anfangen und Aufhören, Paderborn 2019, 67–87. 60 Eichendorff, Joseph von: Werke in fünf Bänden, hrsg. von Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz, Bd. 2 (Bibliothek deutscher Klassiker 8), Frankfurt am Main 1985, 57. 61 A.a.O., 57. 62 A.a.O., 58. 63 Schwarz, Egon: Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart, in: Romane des 19. Jahrhunderts. Interpretationen (Reclams Universal-Bibliothek 8418), Stuttgart 1992, 184–186. 64 Vgl. Schanze, Helmut: Erfindung der Romantik, Stuttgart 2018, 329–343. 65 Eichendorff, Werke, Band 2, 382. 66 A.a.O., Band 2, 381.

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Nachdem die Romanhandlung im Auseinandergehen der Figu­ ren die unterschiedlichen Lebenslinien aufgefächert hat,67 konzen­ triert sich der letzte Blick wieder auf den eigentlichen Helden Fried­ rich. Während im ersten Satz des Romans – »Die Sonne war eben prächtig aufgegangen« – der Sonnenaufgang soeben sich vollzogen hatte, aber gerade vorüber war und das folgende Romangeschehen einläutete, steht jetzt am Ende derselbe Sonnenaufgang in einem verweisenden Kontext68 und auf einer dreifachen Zeitschiene: »Die Sonne ging eben prächtig auf.« Einerseits erklärt ihn das epische Prä­ teritum als vergangen, andererseits betont es seine pure Gegenwärtig­ keit (»eben«); und drittens bezeichnet das Romanende einen in die Zukunft offenen Ausblick. Erst dann folgt die Abschlussmarkierung: »Ende«.69 Diese Schlussformel, übrigens eine von Eichendorffs Lieb­ lingswendungen, setzt ein unüberschreitbares Ende. In Ahnung und Gegenwart nimmt dieser Schlusssatz den Anfang des Romans wieder auf. Dort war ja die tageszeitliche Beleuchtung soeben vergangen und vor die einsetzende Handlung gestellt worden: »Die Sonne war eben prächtig aufgegangen«.70 Was ist das für ein Beginn, der in die Zeitform der gesteigerten Vergangenheit (Plusquamperfekt) gepackt ist und ein Schiff fahren lässt, dass »auf der Donau herunter« gleitet? Eichendorff biegt seinen Romanschluss – »Die Sonne ging eben prächtig auf« – so auf die Konstellation des Romananfangs zurück, dass am Ende ein prächtiger Sonnenaufgang steht, der am Romanan­ fang schon vergangen ist. Dort war der Protagonist sinnbildhaft mit seinem Lebensschiff auf große Fahrt gegangen; am Ende kehrt er nach dem Abschied von seinen Gefährten »glückselig« ins Kloster ein. So täuschen die Signale eines glücklichen Endes in doppelter Weise, ers­ tens über die zeitausgesetzte Ausrichtung eines Heldenlebenslaufs, zweitens über den Abstand zum Bildungsroman in der Nachfolge des Wilhelm Meister. Denn Eichendorffs Graf Friedrich durchläuft keinen linearen Bildungsweg, sondern eine zyklische Figur, die trotz­ dem nach unten zeigt, ausgesetzt den Wirkungen der Zeit. Die sich rundende Kreisbewegung ist kein »Rückweg«71 wie bei de Wette, son­ dern das Gegenteil eines Aufstiegsmärchens. Eichendorffs skeptischer 67 So Schuller, Marianne: Romanschlüsse in der Romantik. Zum frühromantischen Problem von Universalität und Fragment, München 1974, 187. 68 Schwarz, Eichendorff, 195f. 69 von Eichendorff, Werke in fünf Bänden, Band 2, 382. 70 A.a.O., Band 2, 57. 71 Theodor 111 (21828 I, 146).

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Katholizismus verhindert den regelgerechten Bildungsroman. Hier wird, um auf Hegels Definition zurückzukommen, kein Loch in »die Ordnung der Dinge« hineingestoßen.

4. Schlussfolgerungen Ist de Wettes Theodor also ein Bildungsroman oder nicht? Die Ant­ wort, das wird schon deutlich geworden sein, verweigert sich der erhofften prägnanten Kürze, etwa in dem Sinn: Bildungsgeschichte ja, Bildungsroman nicht. Vielleicht aber lässt sich die Frage in vier Einkreisungen beantworten, die den Roman wenigstens rasterhaft auf den Begriff bringen. 1.

2.

3.

72 73

In Theodor wird zweifellos eine Bildungsgeschichte vorgeführt, also eine Erzählung, die Bildung zentral thematisiert. Das allein macht allerdings, so entnimmt man es den einschlägigen Bil­ dungsromandefinitionen, noch keinen Bildungsroman aus. Die Bildungswelt in Theodor ist stark am Strukturmodell des Bildungsromans ausgerichtet, sogar so sehr, dass sie aus Wilhelm Meisters Lehrjahre abgelesen und zumindest an Goethes Roman stark angelehnt erscheint.72 Insofern gehört Theodor literaturge­ schichtlich natürlich in die Reihe der Romane in der Nachfolge Wilhelm Meisters. Sein Doppelgesicht gibt Theodor durch seinen Doppeltitel »des Zweiflers Weihe« kund. Der Roman liefert damit die Geschichte einer Gefährdung durch Zweifel, aufgefangen und aufgelöst in einer Rückkehr durch Rückbesinnung. Ein »Rückweg«73 kann nach dem Bildungsbegriff des 18. und 19. Jahrhunderts aber kein Bildungsweg sein.

Vgl. Pestalozzi, De Wette als Romanautor, bes. 129–136. Theodor 111 (21828 I, 146).

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4.

Vom Anspruch des Autors her, den »Weg der theologischen Bildung«74 in Romanform erzählerisch nachzuzeichnen, könnte Theodor dagegen den Seitenast eines theologischen Bildungsro­ mans begründen; er wäre allerdings dessen einziges Exemplar – wenn es denn eine solche Gattung gäbe und man nicht auch de Wettes zweiten Roman, Heinrich Melchthal, oder Bildung und Gemeingeist. Eine belehrende Geschichte dazu zählen möchte.75

Theodor 5 (21828 I, VI). De Wette, Wilhelm Martin Leberecht: Heinrich Melchthal, oder Bildung und Gemeingeist. Eine belehrende Geschichte, Berlin 1829. 74 75

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Alf Christophersen

Gegen die Wirren der Zeit Wilhelm Martin Leberecht de Wette und Friedrich Lücke

Wilhelm Martin Leberecht de Wette war Friedrich Schleiermacher und dessen Schüler Friedrich Lücke freundschaftlich eng verbunden. Wie unter einem Brennglas verdichten sich in dieser Konstellation facettenreiche Kommunikationszusammenhänge der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wer sich auf die Spur der verschlungenen Wege wechselseitiger Bezüge und Konfliktlinien begibt, begegnet einer fas­ zinierenden Welt epochaler Umschwünge und Wandlungen. »Schlei­ ermachers Tod hat mich sehr angegriffen«, schrieb Friedrich Lücke am 4. März 1834 an den Friedrich Perthes. »So geht einer nach dem andern fort von den Großen und es bleibt immer mehr nur kleines Zeug. Ich bin jetzt dabey einige dankbare Erinnerungen an Schleierm. für die Studien zu schreiben. Ich hoffe, sie Ihnen nächstens zu schicken.«1

Bereits zwei Jahre zuvor hatte Lücke am 26. März 1832 in gleichem Duktus dem Verleger gegenüber eines anderen Verstorbenen gedacht:

Friedrich Lücke an Friedrich Perthes, 4. März 1834, in: Christophersen, Alf: Friedrich Lücke (1791–1855), zwei Bde., Bd. 1: Neutestamentliche Hermeneutik und Exegese im Zusammenhang mit seinem Leben und Werk; Bd. 2: Dokumente und Briefe, Berlin/New York 1999, Bd. 2, Nr. 76, 340f.; dort: 340. In den folgenden Über­ legungen wird konsequent auf Passagen und Material dieser beiden Bände kritisch zurückgegriffen. Vgl. darüber hinaus zu Lücke auch meine Beiträge: Friedrich Lücke. Grundriß der neutestamentlichen Hermeneutik und ihrer Geschichte – Ideen zu einem »Prinzip der christlichen Philologie«, in: Handbuch der Bibelhermeneutiken. Von Origenes bis zur Gegenwart, hrsg. von Oda Wischmeyer, Berlin/Boston 2016, 785–801; Das Christentum als »schlechthin vollkommene Religion«. Zum Verhältnis von Religion und Texthermeneutik bei Friedrich Lücke (1791–1855), in: Pfleiderer, Georg und Harald Matern, Die Religion der Bürger. Der Religionsbegriff in der protestantischen Theo­ logie vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg, Tübingen 2021, 253–267. 1

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Alf Christophersen

»Nun ist, wie ich höre, auch Göthe todt. Eine große Lücke im deutschen Volksbewußtseyn. So tritt ein Gewaltiger nach dem andern ab, und die schwachen Geister, wie Rotteck und Rauch, werden zu Götzen der Nation gemacht. O tempora, o moris!«2

Die auch als Separatdruck veröffentlichten »Erinnerungen an Dr. Friedrich Schleiermacher« erschienen im vierten Heft des vermitt­ lungstheologischen Leitorgans Theologische Studien und Kritiken. Intensiv geht Lücke der Frage nach, ob Schleiermacher eigentlich als Gründer einer ›Schule‹ betrachtet werden könne. In seiner akademi­ schen Lehrtätigkeit und seinem Wirken als Prediger, die Lücke als Einheit auffasst, habe er eine große Zahl an Hörern gehabt, die von ihm inspiriert und belebt worden seien. »Es möchte unter denen, welche der neuen Richtung in der Theologie und Kirche dienstbar und hülfreich geworden sind, wenige geben, welche nicht den Vorlesungen oder den Schriften Schleiermachers ihre vornehmste Anregung verdanken.«

Aus dieser Perspektive betrachtet, könnten nahezu alle neueren Theo­ logen als seine Schüler gelten, auch wenn sie später andere Wege eingeschlagen hätten. In diesem Sinne sei Schleiermacher als Stifter einer Schule zu betrachten. Aber, führt Lücke weiter aus, in einem anderen Sinn wiederum nicht; denn: »Es war seine Art, mehr anregend, als vorschreibend, mehr verbreitend und freimachend, als zusammenziehend, ausschließend und bindend zu wirken. Eine Schule, die mit bewußter Absicht als Partei auftritt, sich in einer bestimmten Manier abschließt und verschließt, hat er nie stiften wollen. Dazu stand ihm bei aller Kraft und Schärfe seiner Subjectivität die Kirche und Wissenschaft zu hoch und war sein Geist zu frei und umfassend.«3 2 Friedrich Lücke an Friedrich Perthes, 26. März 1832, in: Christophersen, Lücke, Bd. 2, Nr. 71, 330–332; hier: 332. 3 Lücke, Friedrich: Erinnerungen an Dr. Friedrich Schleiermacher, in: Theologische Studien und Kritiken 7 (1834), 745–813; hier: 756. Vgl. Twesten, August Detlev Christian: Zur Erinnerung an Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Vortrag gehalten in der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 21. November 1868, Berlin 1869, 33f. Schon am 3. November 1816 hatte Lücke seinem Freund Christian Karl Josias von Bunsen geschrieben, dass er Schleiermacher als ein »Muster« wahr­ nehme, an dem er sein eigenes Ideal ausrichten und vervollkommnen wolle. Er über­ zeugte Lücke »in der seltenen Harmonie des Lebens und der Wissenschaft überhaupt und insbesondere in dem reinen Einklang seiner praktischen und theoretischen Theo­ logie«. Lücke hält fest: »Ich kann nur selten ein wissenschaftliches Gespräch mit ihm

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Gegen die Wirren der Zeit. de Wette und Lücke

Schleiermacher hätte daran gelegen, die Eigentümlichkeit des Einzel­ nen zu fördern und anzuregen. »Freie, selbständige Schüler wollte er ziehen, sclavische Nachbeter und Nachtreter waren ihm verdrieß­ lich.«4 Lücke hebt das integrative, vermittelnde Wesen Schleierma­ chers hervor. Trotz aller Polarisierungen, vermochte er doch, andere Standpunkte gelten zu lassen. »Er hatte auf eine eigenthümliche Weise die verschiedenen Elemente der Theologie in sich vereinigt und zu einem großartigen Ganzen verbunden.«5 In einer Anmerkung weist Lücke in diesem Zusammenhang auf die ›Reden‹ Über die Religion hin und zitiert aus den Erläuterungen zur 3. Rede auch die Passage: »Jeder freue sich Leben erregt zu haben, denn dadurch bewährt er sich als ein Werkzeug des göttlichen Geistes; keiner aber glaube, daß die Gestaltung desselben in seiner Gewalt stehe.«6

Die unverfügbare Individualität des Gegenübers kommt auf diese Weise zur Geltung. Ergänzend verweist Lücke auf »die schöne Stelle […] über das Meister- und Jüngerseyn auf dem religiösen Gebiete«7. In der 3. Rede spricht Schleiermacher mit Blick auf die Religion gewinnen und darin höchstens nur Andeutungen, da ich weder sein Schüler bin, noch als Theolog eines Andern Schüler sein mag, als Gottes und Christi. Aber wenn ich alles, was er mir und mit mir Vielen auf der Kanzel, auf dem Katheder, in der Gesell­ schaft und in seinem Leben gibt, wo die ethische Gewalt des Mannes doch bei weitem über alles emporragt, was ich hier kenne, nur recht zusammenfasse, so entsteht mir ein Bild von ihm, das mir mehr werth ist als alle seine wissenschaftlichen Construc­ tionen u. s. w.« (Christian Carl Josias Freiherr von Bunsen. Aus seinen Briefen und nach eigener Erinnerung geschildert von seiner Witwe. Deutsche Ausgabe, durch neue Mitt­ heilungen vermehrt von Nippold, Friedrich, Bd. I: Jugendzeit und römische Wirk­ samkeit, Leipzig 1868, 91–94; hier: 92). 4 Lücke: Erinnerungen an Schleiermacher, 757. Schleiermacher selbst steht dem Schulbegriff skeptisch gegenüber, und im ersten Sendschreiben an Lücke macht er anlässlich der Auseinandersetzung mit den Kritikern der ersten Auflage seiner Glaubenslehre 1829 deutlich: »Gegner kenne ich im Allgemeinen nur, wo es Absichten gilt und Thaten; der Denker hat nur Mitarbeiter, der Schriftsteller hat nur Leser, ein anderes Verhältniß kenne ich bei beiden nicht« (Schleiermacher, Friedrich: Über die Glaubenslehre. Zwei Sendschreiben an Lücke [1829], in: KGA I/10, hrsg. von Hans-Friedrich Traulsen unter Mitwirkung von Martin Ohst, Berlin/New York 1990, [LXIX–LXXXVIII] 307–335. 337–394; hier: 310). 5 Lücke: Erinnerungen an Schleiermacher, 758. 6 Schleiermacher, Friedrich: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), (2.–)4. Auflage, in: KGA I/12, hrsg. von Günter Meckenstock, Berlin/New York 1995, (VII–LXIII) 1–321; hier: 177. 7 Lücke: Erinnerungen an Schleiermacher, 757, Anm. a.

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von »Einzelne[n], an welche Tausende sich anschließen: aber dieses Anschließen ist keine blinde Nachahmung, und Jünger sind das nicht, weil ihr Meister sie dazu gemacht hat; sondern er ist ihr Meister, weil sie ihn dazu gewählt haben«. Beschrieben wird das lebendige Wesen religiöser Freiheit. »Sobald der heilige Funken aufglüht in einer Seele, breitet er sich aus zu einer freien und lebendigen Flamme, die aus ihrer eignen Atmosphäre ihre Nahrung saugt. Mehr oder weniger erleuchtet sie der Seele den ganzen Umfang der Welt, und nach eignem Triebe kann diese sich ansiedeln, auch fern von dem Punkt, auf welchem sie zuerst entzündet ward für das neue Leben.«8

Lücke zeigte sich tief beeindruckt vom kreativen Verständnis wechsel­ seitiger Anregung und Förderung, das einem romantischen Gesellig­ keitskonzept verpflichtet war. Er erkannte dies auch bei seinem Freund de Wette wieder und war mit ihm geprägt vom Ideal eines gemein­ schaftlichen Lebens und Arbeitens. Sie teilten die Begeisterung für ein zu erkundendes wissenschaftliches Terrain, das immer auch in Glaubenswelten hineinreichte, artikulierten aber auch in durchaus existenzieller Dringlichkeit Zweifel an der Gültigkeit göttlicher Ver­ heißung und Zusage. Beide verkörperten jedoch auch die Überzeu­ gung, dass sich diese Unsicherheiten durch intensive kritische Aus­ einandersetzung mit der Theologie in allen ihren facettenreichen, aber letztlich doch komplementären Zweigen und Ausdrucksformen besei­ tigen, zumindest eindämmen lassen. Dem Versuch, gegensätzliche Positionen, etwa zwischen Rationalismus und Supranaturalismus, zu vermitteln, kam eine entscheidende Relevanz zu. In seinem TheodorRoman konzipierte de Wette die mögliche Einheit von Wissenschaft und Leben. Im Verhältnis zwischen de Wette und Lücke spiegeln sich zentrale Elemente dieser spannungsreichen Bildungsgeschichte exemplarisch wider. Die Gestalt einer derartigen Konkretion lässt neben allen theologischen und philosophischen Implikationen aber auch deutlich werden, dass eine noch so ambitioniert entworfene Kon­ zeption von Lebenswegen immer auch mit Veränderungsdynamiken gesellschaftlicher und politischer Prozesse verbunden ist. Sie nehmen konsequent ganz eigenen Einfluss und stellen womöglich als relativ unveränderlich angenommene Konstanten individueller Planungen und Vorstellungen radikal in Frage. Die Vermittlung von Glauben, Wissenschaft und Leben trägt somit auch im Falle von de Wette und 8

Schleiermacher: Über die Religion, 155.

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Gegen die Wirren der Zeit. de Wette und Lücke

Lücke ein unverkennbares Moment der Kontingenzerfahrung, aber auch -bewältigung in sich. Wie im Falle Schleiermachers, veröffentlichte Lücke auch nach de Wettes Tod Erinnerungen; erneut in den Theologischen Studien und Kritiken sowie als Einzeldruck. »Ja, auch meinen Lehrer vorzugsweise«, betont er, »nenne ich ihn gern neben Schleiermacher und Neander, insofern ich diesen drei Männern nicht nur durch das Studium ihrer Schriften, sondern auch durch näheren persönlichen Umgang, jedem in seiner Art, die meiste geistige Anregung und Befruchtung ver­ danke.« Lücke stuft die zwei Jahre, die er in Berlin unter ihrem Einfluss verbrachte, als die »entscheidende Epoche« seiner »theologischen Bildung« ein, in der er einen ihm »eigenthümlichen Standpunct und Beruf in der theologischen und kirchlichen Krisis der Zeit« entwickelt habe. Er würdigt diese Zeit als »Knotenpunct« seines »inneren Lebens«9. Lückes Erinnerungen an de Wette bilden eine innere Einheit mit denjenigen an Schleiermacher. Sie sind jeweils der Versuch, in betont subjektiver Form der Gegenwart und Nachwelt einen individuellen, darin gleichzeitig aber auch repräsentativen Ein­ druck von beiden Persönlichkeiten zu präsentieren – in einem unver­ wechselbaren Ineinander von Charakter- und Werkstudie. Ergründet werden die basalen Grundstrukturen und Entwicklungen. Die Erinne­ rungen an Schleiermacher unterscheiden sich jedoch von denen an de Wette wesentlich dadurch, dass in ihnen das theologische Werk im Mittelpunkt steht und äußere Umstände eher zurücktreten. In der »freundschaftlichen Erinnerung« an de Wette dominiert neben einem Blick auf sein Leben und Werk vor allem die Beschreibung des Verhältnisses von Schleiermacher, Neander, de Wette und Lücke selbst. Ein deutlicher Schwerpunkt liegt dabei auf ihren gemeinsamen Berliner Jahren 1816 bis 1818. 9 Lücke, Friedrich: Zur freundschaftlichen Erinnerung an D. Wilhelm Martin Lebe­ recht de Wette, in: Theologische Studien und Kritiken 23 (1850), 497–535; hier zitiert nach dem unter dem Titel D. W. M. L. De Wette. Zur freundschaftlichen Erinnerung erschienenen Separatdruck, Hamburg 1850, 1. Über den Beitrag Lückes hinaus sind – mit unterschiedlichem thematischen Zuschnitt – aus zeitgenössischer Perspektive einschlägig: Hagenbach, Karl Rudolf: Wilhelm Martin Leberecht de Wette. Eine akademische Gedächtnißrede mit Anmerkungen und Beilagen, Basel 1850; sowie Schenkel, Daniel: W. M. L. de Wette und die Bedeutung seiner Theologie für unsere Zeit. Zum Andenken an den Verewigten, Schaffhausen 1849. Hagenbach und Schenkel widmete Lücke auch den Einzeldruck seiner Erinnerungsschrift an de Wette als »Andenken an den gemeinsamen verklärten Freund«.

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Der Übergang aus den vertrauten, aber doch vergleichsweise provinziellen Göttinger Verhältnissen nach Berlin war für Lücke ein Befreiungsakt. Am 13. November 1816 schrieb er an den ihm gut bekannten Offenbacher Arzt, Pädagogen und Sprachforscher Karl Fer­ dinand Becker: »Meine hiesigen Verhältnisse mit Schleiermacher, Neander, de Wette und Solger und einigen Anderen sind die schönsten von der Welt. Schleiermacher ist in der Nähe größer als in der Ferne, und wenn ich in ihm und De Wette den strengwissenschaftlichen Geist ehre und auch liebe, so vertiefe ich mich auch in Neanders Johanneischem Gemüth und wohne mit Liebe darin. Sein Umgang ist mir hier der erheiterndste und fruchtreichste.«10

Die Nähe zu Neander trat dann aber bald etwas in den Hintergrund, da sich Lücke immer besser mit de Wette verstand. Trotzt einiger Bemühungen sollte es Lücke nicht gelingen, de Wette und Neander näher zu verbinden.11 Er positionierte sich zwischen beiden und machte sowohl in de Wettes »Princip des subjectiven Idealismus in der Theologie« als auch in Neanders »Princip des objectiven Realismus«12 Elemente aus, die er in eigene Arbeiten übertragen konnte. Lücke war de Wette zum ersten Mal 1815 auf der Göttinger Universitätsbibliothek persönlich begegnet.13 Damals hatte er jedoch 10 Friedrich Lücke an Karl Ferdinand Becker, 13. November 1816, in: Sander, F. [erdinand]: D. Friedrich Lücke Abt zu Bursfelde und Professor der Theologie zu Göt­ tingen (1791–1855). Lebens- und Zeitbild aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Mit Lückes Bildnis nach dem Gemälde des Professors Karl Oesterley, Hannover-Linden 1891, 92. 11 Siehe dazu vor allem Lücke, Erinnerung an de Wette, 19f., 30f. Von Marheineke, der schon in Heidelberg Kollege de Wettes gewesen war, trennte ihn so viel, dass an einen näheren Kontakt erst gar nicht zu denken war. 12 Lücke: Erinnerung an de Wette, 30. Lücke beschreibt, wie nachdrücklich, aber aufgrund der Dominanz des Schleiermacherschen Denkens vergeblich, de Wette versucht habe, ihn von Fries’ Philosophie zu überzeugen; s. dazu vor allem, ebd., 32f.; vgl. dazu auch Smend, Rudolf: Wilhelm Martin Leberecht de Wette. 1780–1849, in: ders., Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, Göttingen 1989, 38–52; hier: 40, 47f. 13 In einem Brief vom 21. Mai 1816 berichtet Lücke seiner zukünftigen Frau Henriette von einer ersten Begegnung mit Schleiermacher (Sander: Lücke, 71–72; hier: 72): »Ich ging gestern mit Lachmann zu Schleiermacher. Er wohnt vor dem Thor in einem angenehmen Garten. […] Er ist in Gesellschaft nur der Witzige und Heitere, läßt sich gern von Lachmann etwas erzählen und lacht gern. Von wissenschaftlichen Gesprä­ chen und gelehrten Reden ist er sehr fern in Gesellschaft. […] Zu mir sagte er: Nun die eine Wissenschaft, über die sie etwas geschrieben haben [sc. die Hermeneutik]

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keinen nachhaltigen Eindruck bei Lücke hinterlassen.14 Anders stand es mit dem Werk, von dem sich Lücke wie viele seiner Altersgenossen sehr angezogen fühlte.15 Vor allem waren es de Wettes Differenzie­ rungen der unterschiedlichen Momente und Anschauungsweisen, die das theologische Denken hatte, und »der psychologische Proceß durch die skeptische, kritische Verneinung hindurch zur Ahnung, wo der anfangs aufgehobene Glaubensinhalt in anderer, ästhetisch-idealer Gestalt wiedergewonnen wird«16, die faszinierten. Im November 1816 berichtet Lücke seinem Freund Christian Karl Josias von Bunsen, dass er de Wette »in seinem exemplarischen Lebenswandel« bewundere. Er habe ihm »in vertrauteren Stunden eine Tiefe des Gemüths und eine Kindlich­ keit, und in dieser eine ethische Kraft offenbart, die von Andern hier, außer Schleiermacher, kaum geahnt wird. Sein Verstand, der eine seltene Klarheit und Schärfe in der historischen Kritik erreicht hat, tritt freilich überall hervor, aber wenn alle Theologen ihren Verstand so wahrheitsliebend gemacht hätten und so furchtlos, so könnten wir uns Glück wünschen für die Wissenschaft und Kirche. Ich bin gewöhnlich im Streit mit ihm, aber er liebt den Streit der Meinungen, und es entsteht daraus immer Frucht der Ueberzeugung.«

Mit Schleiermacher freue sich Lücke darüber, »daß de Wette hier ist und dem Zeitstrome furchtlos und wahrhaft protestantisch entgegen­ arbeitet«17. [...], habe ich von meinem Zettel schon gestrichen und überlasse sie Ihnen gänzlich. Aus Allem, was ich sehe und höre, sehe ich deutlich, daß es hier der beste Ort ist, das Ziel zu erreichen.« Lücke und Karl Lachmann waren nur eine sehr kurze Zeit zusam­ men in Berlin, da dieser im Sommer 1816 als Gymnasiallehrer nach Königsberg ging. 14 Lücke: Erinnerung an de Wette, 6. 15 Siehe Lücke: Erinnerung an de Wette, 6: »Es hat wohl damals jeder lebendige junge Theolog eine Zeit gehabt, wo ihm in dem ersten Loswinden von der bisherigen entweder rationalistischen oder supranaturalistischen, überwiegend formalistischen und trockenen Theologie, unter den aufregenden theologischen Neubildungen der Zeit de Wette’s klare, verständliche Art […] mehr zusagte, als der heraklitische […] Schleiermacher.« 16 Lücke: Erinnerung an de Wette, 6. 17 Lücke an Bunsen: 3. November 1816, 93. In diesem ausführlichen Brief an Bunsen charakterisiert Lücke neben Schleiermacher auch Neander ausführlich, der ihn im Vergleich zu de Wette aber weniger überzeugte. Zwar sehe er in ihm durchaus jeman­ den, »der den reinen und Gott wohlgefälligen Mysticismus nach seiner Eigenthüm­ lichkeit zu vollenden berufen ist«, er selbst könne sich »doch darin nicht so beengen lassen wie er«. Lücke konkretisiert: »Mir gefällt immer noch der heitere, rege und

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Lücke konnte sich jedoch letztlich auf dem Standpunkt de Wet­ tes nicht halten, sondern fühlte sich nachhaltig, nicht zuletzt, wie er annimmt, durch die positiv christliche, herrnhutisch geprägte Erziehung seines Elternhauses und durch seinen Göttinger Freun­ deskreis bestimmt, stärker von Schleiermacher angezogen. Seine ›Reden‹ Über die Religion und die Kurze Darstellung hebt Lücke im Rückblick besonders hervor.18 In der »größere[n] Objectivität«, dem »positivere[n] Charakter« und dem »lebensvollere[n] organische[n] Zusammenhang«19 der Theologie Schleiermachers findet Lücke den entscheidenden Unterschied zu de Wette. Hinzu kommen Schleier­ machers Predigten, die die »Construction der Theologie nun im Glanze ihrer kirchlichen Energie und praktischen Fruchtbarkeit zeig­ ten«20. Während sich Lücke in den theologischen Grundprinzipien enger an Schleiermacher anschloss, wurde der Exeget de Wette immer wichtiger für ihn, und zwischen beiden ergab sich in Berlin eine vielfältige Zusammenarbeit. Lücke schreibt de Wette, wie auch sich selbst, eine Melanchthonische Art zu: »ohne den milden, formgebenden, ermäßigenden Geist Melanchthon’s aber hätte es [das Werk der Reformation Luthers] keine Gestalt und historische Fügsamkeit bekommen; ja man muß sogar sagen, wäre die melanchthon’sche Richtung in der weiteren Entwickelung unserer Kirche und Theologie stärker und energischer geworden und geblieben, wir hätten viel Unheil in der Kirche nicht erlebt«21.

Von großer Bedeutung ist Lückes Bemühen, de Wette zwischen Rationalismus und Supranaturalismus zu verorten. De Wette griff zu Beginn des 19. Jahrhunderts in die wissenschaftliche, theologische Debatte zunächst so ein, dass er »die Kritik ernster, methodischer, wissenschaftlicher und umfassender« betrieb als viele seiner Zeitge­ kräftige Sinn des Wirkens in der Welt neben der Stille der Contemplation, und das philosophische Forschen sammt der Kritik kann und will ich nicht als ein teuflisches Werk verachten […]« (ebd.). Zu Lückes Verhältnis zu Neander vgl. Christophersen: Lücke, Bd. 1, 28–32. Zu Neanders Theologie vgl. als grundlegend Schüz, Peter: »Pec­ tus est, quod theologum facit«. Religionsbegriff und Frömmigkeitsgeschichte bei August Neander (1789–1850), in: Pfleiderer/Matern, 457–472. 18 Siehe Lücke: Erinnerung an de Wette, 7; vgl. hierzu vor allem Friedrich Lücke an Friedrich Schleiermacher, 26. März 1822, in: Christophersen, Lücke: Bd. 2, Nr. 35, 270–274; hier bes. 271f. 19 Lücke: Erinnerung an de Wette, 7. 20 Lücke: Erinnerung an de Wette, 7. 21 Lücke: Erinnerung an de Wette, 14f.

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nossen. Dem bisher Überlieferten trat er mit einem rückhaltlosen Zweifel entgegen. Und er unternahm es, der Vernunft innerhalb der christlichen Offenbarung den Stellenwert zukommen zu lassen, der ihr gebührte. De Wette stellte heraus, dass auch in der Vernunft »der göttliche Logos Mensch geworden sey in geschichtlich natürlicher Weise«22. Es war seine Überzeugung, dass der Mensch nur dasjenige der Offenbarung Gottes wahrhaft aufnehmen und sich aneignen kann, was er mit Hilfe seiner Vernunft zu verstehen vermag. »In diesem Sinne war er allerdings von Hause aus ein Rationalist […]. Aber […] im höheren Style«23. De Wette zeigte sich allerdings, interpretiert Lücke, ebenso von Beginn an bestrebt, auch das suprana­ turale, positive Element des Christentums zur Geltung zu bringen, aber nach einer gehörigen kritischen und rationellen Vermittlung. Er schied dabei zunächst das Geschichtliche und Ideelle, das Posi­ tive und Rationelle bis zur vollkommenen Differenz. Nachdem er auf diese Weise versucht hatte, »den eigentlichen Lebenskeim des Christenthumes« auszumachen, schritt er zu einer »Recomposition des Geschiedenen«24 fort. Dass er bei der Dekomposition allerdings zu weit ging, ist, so Lücke, nicht zu leugnen. Die entscheidende Einsicht lautet: »So steckte gleich von vorn heraus in dem Rationalisten de Wette der Supranaturalist, wie denn eben jeder wahre Theolog von jeher beides, aber jedes in rechter Art gewesen ist, – und sein theologisches Princip war und blieb, die beiden Seiten, welche nun einmal auseinan­ der gerissen waren, zu einer neuen, kräftigen Lebensgestalt wieder zu vermitteln.«25

Es gelang Lücke, zwischen de Wette und Schleiermacher eine freund­ schaftliche Verbindung zu stiften, die durchaus zu einem Wandel in de Wettes theologischer Haltung führte.26 Das Reformationsjubi­ Lücke: Erinnerung an de Wette, 16. Lücke: Erinnerung an de Wette, 17. Lücke fährt, ebd., fort: »Weder an dem vorneh­ men Rationalismus eines A. W. Schlegel […] noch an dem vulgären Rationalismus des täppischen gesunden Menschenverstandes, noch an dem titanischen, himmelstür­ menden der pantheistischen Speculation wollte er irgend Theil und Lust haben. Und der Affe des letztern, der moderne frivole, der um der Vernunft willen die Vernunftidee der Religion selbst leugnet, war ihm ein Greuel.« 24 Lücke: Erinnerung an de Wette, 18. 25 Lücke: Erinnerung an de Wette, 18. 26 Zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen Schleiermacher und de Wette vgl. nur Smend, de Wette, bes. 46–49, und Ohst, Martin: De Wette als theologischer Ethiker 22

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läum im Jahr 1817 leistete dazu auch einen Beitrag. Das Zusammen­ spiel verschiedener Ereignisse und Einrücke habe schließlich bei de Wette eine »umschwingende Epoche« provoziert, »durch welche die mehr abstract-theoretische und kritische Ansicht, die ihn bis dahin beherrschte, der praktischen und positiven zu weichen anfing«27. Bevor Lücke nach Berlin kam, standen de Wette und Schleiermacher in keinem näheren Kontakt zueinander. Die spätere Freundschaft zwischen beiden geht auf Lückes Initiative zurück, der de Wette zu einer Predigt Schleiermachers mitnahm, die ihn sehr affizierte. De Wette hatte zwar schon früher Predigten Schleiermachers gehört, hatte sich dann aber zurückgezogen, weil er einen Widerspruch zwischen Schleiermachers Lehrtätigkeit und seinem Wirken auf der Kanzel zu erkennen meinte; »die reine Wahrheit, welche dieser zu erforschen und zu bekennen habe, könne, dürfe jener vor der Gemeinde nicht aussprechen, und so komme eine verhüllende, nicht rein aufrichtige Theologie heraus«28.

Es gelang Lücke, de Wette von diesem Vorurteil zu befreien, und von neuem begann er – nun regelmäßig –, Schleiermachers Predigten zu hören und die Nähe, die zwischen ihnen beiden eigentlich bestand, tiefer zu begreifen. »Der Kunstgenuß«, erinnert sich Lücke, »den man dabei hatte, die nicht aufgeschriebene Predigt vor sich frisch entstehen zu sehen, wurde nicht verschmäht, aber die Hauptsache blieb uns beiden die Förderung im Verständniß des göttlichen Wortes, welche uns jede Predigt brachte.«29 Einen ersten sichtbaren Ausdruck der sich entwickelnden Freundschaft zwischen Schleiermacher und de Wette stellt die wech­ selseitige Widmung zweier Bücher dar. So dedizierte Schleiermacher 1817 de Wette seine Lukasschrift. Diese Widmung hatte neben dem Bekenntnis der Freundschaft eine wichtige Zusatzfunktion; denn de Wette war in den Kreisen des Königlichen Hofes, an dem durch das Reformationsjubiläum von 1817 ein verstärkt ›religiöses Interesse‹ neben Schleiermacher, in: Theologische Zeitschrift 51 (1995), 151–173; Buntfuß, Markus: Die Erscheinungsform des Christentums. Zur ästhetischen Neugestaltung der Religionstheologie bei Herder, Wackenroder und De Wette, Berlin/New York 2004. 27 Lücke: Erinnerung an de Wette, 5. 28 Lücke: Erinnerung an de Wette, 20. 29 Lücke: Erinnerung an de Wette, 21f. Lücke geht, ebd., 22, davon aus, daß de Wette auf diese Weise zu einer Höherbewertung des Positiven im Christentum, des Geschichtlich-Kirchlichen gelangte.

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herrschte, wegen seiner rationalistischen Haltung und einiger nicht näher bestimmter unbotmäßiger Äußerungen in seinen Vorlesungen in Misskredit geraten, so dass um seine Stellung zu fürchten war. Vor diesem Hintergrund ist Schleiermachers Widmung als nachdrückli­ che Unterstützung für de Wette zu bewerten. Vor der Veröffentlichung ließ Schleiermacher Lücke den Text zukommen, damit dieser ihn überprüfe. Schleiermacher wollte, so Lücke, wissen, »ob er darin auch nichts irgendwie Verletzendes für den Freund, wie ich [sc. Lücke] ihn kannte, geschrieben habe«, und vertraute ihm vor allem »auch die besondere geheime Veranlassung der Zuschrift«30 an. Joachim Chris­ tian Gaß erläutere Schleiermacher seine Intention unter dem 5. Juli 1817 näher und benannte die Frontlinien: »Vielleicht wunderst Du Dich auch über die Zueignung: allein es schien mir nothwendig, dem einseitigen, störrigen Buchstabenwesen, was wieder einreißen will, entgegen zu treten und auch etwas zu thun gegen die persönliche Behandlung, die de Wette widerfahren ist. So ist mir denn dieses recht aus dem Herzen gekommen, und ich denke, wer es mißverstehn und mich als einen Partisan von de Wette ansehn kann, muß sehr befangen sein.«31

Wochen zuvor hatte sich Schleiermacher August Twesten gegenüber ähnlich geäußert: »Allein es reißt jetzt eine solche Furcht ein vor abweichenden Ansich­ ten und ein so abergläubiges Buchstabenwesen, und gegen de Wette besonders haben sich Marheineke und wohl auch Neander auf eine so unbrüderliche Weise benommen, daß ich es für Pflicht hielt, mich hiervon öffentlich loszusagen und einen anderen Gesichtspunkt aufzu­ stellen […].«32 30 Lücke: Erinnerung an de Wette, 25. – Zwischen Schleiermachers in Krakau befind­ lichen Briefen und Notizen an Lücke befindet sich ein undatierter kleiner Zettel [Anfang April 1817], der neben einer Zusatznotiz folgenden Text enthält: »Unter dem strengsten Siegel der Verschwiegenheit theile ich Ihnen diese Zueignung mit, damit Sie mir sagen ob Sie etwas darin finden was unsern Freund verlegen oder ihm unan­ genehm sein könnte. Sie müssen mir aber die Liebe thun sie gleich durchzulaufen, und mit Ihrem Gutachten meinem Knaben wieder mitzugeben« (Christophersen, Lücke: Bd. 2, Nr. 8, 216f.; hier: 216). 31 Friedrich Schleiermacher an Joachim Christian Gass, 5. Juli 1817, in: Gaß, W. [ilhelm]: Fr. Schleiermacher’s Briefwechsel mit J.[oachim] Chr.[istian] Gaß. Mit einer biographischen Vorrede, Berlin 1852, 136–141; hier: 140. 32 Friedrich Schleiermacher an August Twesten, 10. Mai 1817, in: Staehelin, Ernst: Dewettiana. Forschungen und Texte zu Wilhelm Martin Leberecht de Wettes

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1818 revanchierte sich de Wette mit einer Widmung des ersten Bandes der zweiten Auflage seines Lehrbuchs der Biblischen Dogmatik. Mit Schleiermacher sieht er sich darin einig, dass es für die Theologie entscheidend sei, verschiedene Positionen zu vertreten. De Wette hält ein kritisches Bewusstsein für dringend erforderlich, um historisch zwischen dem zu differenzieren, das »nur zur Verständigungsweise einer gewissen Zeit und Bildungsstufe« gedient habe, und dem, das in der Gegenwart nicht mehr gelten könne. Gemessen am Maßstab des »göttlichen Gesetze[s] Christi« sei »christliche Freiheit« gegen diese »Menschensatzungen«33 ins Feld zu führen. »Mir scheint es […], und gewiß auch Ihnen, die wichtigste Aufgabe für unsere neuere Theologie zu seyn, die eine christliche Wahrheit, in der alle Christen übereinstimmen müssen, nicht nur über alle Zweifel zu erheben, sondern auch, damit dieß eben geschehen könne, von eigenthümlichen Ansichtsweisen unabhängig aufzufassen.«34

Die Zusammenarbeit zwischen de Wette, Schleiermacher und Lücke fand auch ihren Ausdruck in Publikationsprojekten. Im Mittelpunkt stand dabei zunächst die zwischen 1819 und 1822 bei Georg Reimer gemeinsam herausgegebene Theologische Zeitschrift, von der aller­ dings nur drei Hefte veröffentlicht wurden. Den Einstieg bildet eine Vorrede de Wettes zum ersten Heft, in der er einige Angaben zur Entstehung und zum programmatischen Charakter des schon länger gehegten Projekt präsentiert.35 Unterstützt von Lücke, sei es geglückt, Leben und Werk, Basel 1956, 81. Vgl. auch Friedrich Schleiermacher an Ludwig Gottfried Blanc, 26. Mai 1817: De Wette »ist freilich sehr neologisch, aber er ist ein ernster gründlicher wahrheitsliebender Mann, dessen Untersuchungen zu wirklichen Resultaten führen werden, und der vielleicht auch für sich selbst noch einmal zu einer andern Ansicht kommt« (Dilthey, Wilhelm [Hg.]: Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, Bd. IV, vorbereitet von Ludwig Jonas, Berlin 1863, 216–218; hier: 217). Zur Lukasschrift vgl. instruktiv Schleiermacher, Friedrich: Exegetische Schriften, hrsg. von Hermann Patsch und Dirk Schmid (KGA I/8), Berlin/New York 2001, dort zur Widmung XII–XVII, Text der Widmung vom 5. April 1817, 5f. Vgl. zu diesem Band die Rezension in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte/Journal for the History of Modern Theology 10 (2003), 322–324 (A. Christophersen). 33 De Wette, Wilhelm Martin Leberecht: Widmung an Friedrich Schleiermacher, in: ders., Lehrbuch der christlichen Dogmatik in ihrer historischen Entwickelung dargestellt, Teil I: Die biblische Dogmatik enthaltend, 2., verb. Aufl., Berlin 1818, III–VIII; hier: VIIf. 34 De Wette: Widmung an Schleiermacher, VII. 35 De Wette, Wilhelm Martin Leberecht: Vorrede, Theologische Zeitschrift 1 (1819), III–XII.

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den vielbeschäftigten Schleiermacher, der zunächst reserviert reagiert habe, zur Mitarbeit zu motivieren: »Ein ständiges Richteramt in der theologischen Welt zu übernehmen wollte ihm, der Alles gern aus frischer Anregung thut, nicht recht in den Sinn.«36 Aber de Wette konnte sich mit seinem Wunsch durchsetzen und nennt nun »lebendige Kritik«37 als Zielvorgabe. »Möge diese Zeitschrift der Mittelpunkt werden, um welchen sich die Gleichgesinnten unter den gelehrten Theologen, namentlich die jüngeren, denen ein höheres Ziel in der Wissenschaft vorleuchtet, mit uns vereinigen. Wir behalten uns aber vor, nur diejenigen Beiträge aufzunehmen, die in dem Geiste geschrieben sind, dessen wir uns selbst befleißigen.«38

Für wichtig hält es de Wette, auf in anderen Organen verbreitete Anonymität zu verzichten; einer »charakterlosen Neutralität […], die in der gelehrten Welt so wenig taugt, als in der politischen«39, sei entgegenzutreten, um ein bleibendes »Denkmal« einstiger Debatten errichten zu können, »das ein klares und gewisses Bild für das literari­ sche Zeitgemälde liefert«40. Weniger Einzelrezensionen als vielmehr problemorientierte Überblicke solle es geben. Sich selbst beschreibt de Wette als urteils- und auseinanderset­ zungsfreudig, von »Freimüthigkeit und Offenherzigkeit«41 geprägt. Diese Eigenschaften wurden jedoch plötzlich einer harten Bewäh­ rungsprobe unterzogen: An demselben Tag, auf den die Vorrede zum ersten Heft datiert war, dem 2. Oktober 1819, teilte Kultusminister von Altenstein de Wette seine Entlassung mit, die wegen seines bekannt gewordenen Trostbriefes an die Mutter des Kotzebue-Atten­ täters Karl Ludwig Sand erfolgte.42 De Wette verließ Berlin und ging 36 De Wette: Vorrede, IX. Zu Schleiermachers Mitarbeit an der Zeitschrift vgl. auch Friedrich Schleiermacher an Joachim Christian Gass, 11. Mai 1818, in: Gaß, Brief­ wechsel, 147–151; hier: 148. 37 De Wette: Vorrede, III. 38 De Wette: Vorrede, XII. 39 De Wette: Vorrede, V. 40 De Wette: Vorrede, VII. 41 De Wette: Vorrede, IX. 42 Siehe De Wette, Martin Leberecht (Hg.): Aktensammlung über die Entlassung des Professors D. de Wette vom theologischen Lehramt zu Berlin. Zur Berichtigung des öffentlichen Urtheils, Leipzig 1820, 11f., und Staehelin: Dewettiana, 17f. Zur Entlas­ sung de Wettes und den näheren Umständen s. vor allem Lenz, Max: Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. II/1, Halle (Saale) 1910, 60–

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zunächst nach Weimar, bis er 1822 schließlich eine Professur in Basel erhielt.43 Am 28. März 1820 schrieb Lücke, der seit dem Winterse­ mester 1818/19 ordentlicher Professor in Bonn war, an Schleierma­ cher: »Es hat mir leid gethan, im ersten Hefte nichts geliefert zu haben. […] Sie hätten lieber meinen Namen weglassen sollen. Wenn Sie mit dem 2t Hefte nicht zu sehr eilen, so schicke ich Ihnen zwischen Ostern und Pfingsten eine Abhandlung über Neanders Gnostiker, worum er mich selbst gebeten hat.«44

Diesen Aufsatz übersandte Lücke dann am 13. Juli 1820 und teilte Schleiermacher mit: »Es ist mir sauer genug geworden, – mitten unter schweren Arbeiten über die Paulinischen Briefe, die Chstl. Moral und den dritten Theil der KGeschichte, – welche alle zum ersten Mahle gelesen werden, diese Paar Bogen, die viel Durchlesen, Suchen und Nichtfinden gekostet haben, auszuarbeiten. Auf der hiesigen Bibl.[iothek] kann man unend­ lich viel noch suchen, aber nichts finden.«45

Lückes Aufsatz hat eine »Kritik der bisherigen Untersuchungen über die Gnostiker, bis auf die neuesten Forschungen darüber vom Herrn Dr. Neander und Herrn Professor Lewald«46 zum Thema. Eine für das dritte Heft angekündigte Fortsetzung der Untersuchung wurde nicht realisiert. Das gesamte Publikationsprojekt war durch die erhebliche räum­ liche Distanz der drei Herausgeber und vor allem durch das Schicksal 98; Wolfes, Matthias: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit, Bd. 1, Berlin/New York 2004, bes. 142–149. 43 Nach seiner Entlassung befand sich de Wette in nicht unerheblicher finanzieller Bedrängnis. Unter den Freunden wurde Geld eingesammelt, um ihn zu unterstützen. Lücke, der selber über ein nur geringes Einkommen verfügte, wollte die Honorare, die er für seine Beiträge in der theologischen Zeitschrift erhalten sollte, ab dem zweiten Heft über Reimer an de Wette gelangen lassen; s. dazu Friedrich Lücke an Friedrich Schleiermacher, 13. Juli 1820, in: Christophersen, Lücke: Bd. 2, Nr. 25, 245–247; hier: 246f.; vgl. das vorhergegangene Schreiben Schleiermachers an Lücke: 20. Juni 1820 (ebd., Nr. 24, 244f.). 44 Friedrich Lücke an Friedrich Schleiermacher, 28. März 1820, in: Christopher­ sen, Lücke: Bd. 2, Nr. 23, 241–244; hier: 242. 45 Lücke an Schleiermacher, 13. Juli 1820, 245f. 46 Es handelt sich bei den im Titel angesprochenen Arbeiten um August Neanders »Genetische Entwickelung der vornehmsten gnostischen Systeme« und Ernst Anton Lewalds »Commentatio […] de Doctrina Gnostica«, beide aus dem Jahr 1818.

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de Wettes rasch in eine substanzielle Krise geraten. Lücke habe, teilte er Schleiermacher Ende Mai 1821 mit, einen Brief de Wettes erhalten, der »nach Beschluß des 3t. Heftes, die Zeitschrift allein übernehmen« wolle. Er habe nichts dagegen, kommentiert Lücke: »Ich fühle zu gut, daß ich der Ruhe bedarf für meinen Geist, ihn nerviger und tüchtiger zu machen, auch für meinen Körper, der durch zu starkes Studium seit Ostern 1818 wirklich etwas sehr herunter ist.«47

Etwas unklar seien ihm allerdings noch die genauen Absichten des Freundes in Basel. Schleiermacher ist allerdings informiert und liefert am 5. Juni 1821 nähere Angaben: »Die Zeitschrift will DeWette nach dem 3t Heft nicht nur allein übernehmen, sondern ihr auch eine andere Form geben. Also denke ich da das 3t Heft noch zur alten gehört lassen Sie auch Ihren Namen noch darauf.«48

Doch dabei blieb es nicht, denn Lücke schrieb für dieses letzte Heft, in dem auch Schleiermacher mit seinem wirkmächtigen Aufsatz Ueber den Gegensatz zwischen der Sabellianischen und der Athanasianischen Vorstellung von der Trinität vertreten war,49 eine Abhandlung Ueber den richtigen Begriff und Gebrauch der exegetischen Tradition in der Evangelischen Kirche50. Diese Untersuchung ist für Lückes Herme­ neutik-Konzept von erheblicher Relevanz und ergänzt den vor allem Herder, Neander und Schleiermacher verpflichteten Grundriß der Hermeneutik und ihrer Geschichte aus dem Jahr 1817.51 47 Friedrich Lücke an Friedrich Schleiermacher, s. t. [Ende Mai 1821], in: Chris­ tophersen, Lücke: Bd. 2, Nr. 30, 260–260; hier: 260. 48 Friedrich Schleiermacher an Friedrich Lücke: 5. Juni 1821, in: Christophersen, Lücke: Bd. 2, Nr. 31, 262–265; hier: 264. 49 Dieser Aufsatz Schleiermachers in: Theologische Zeitschrift 3 (1822), 295–408; und in: KGA I/10, (LXI–LXIX) 223–306. Schon in Heft 1 veröffentlichte Schleierma­ cher seinen nicht zuletzt für die Arbeit an der »Glaubenslehre« wichtigen Aufsatz Ueber die Lehre von der Erwählung; besonders in Beziehung auf Herrn Dr. Bretschneiders Aphorismen (KGA 1/10, [XLV–LXI] 145–221), auf den dann de Wette im Folgeheft antwortete: Ueber die Lehre von der Erwählung, in Beziehung auf Herrn Dr. Schleier­ machers Abhandlung darüber in dieser Zeitschrift 1. Heft (Theologische Zeitschrift 2 [1820], 83–131). 50 Lücke: Friedrich: Ueber den richtigen Begriff und Gebrauch der exegetischen Tradition in der Evangelischen Kirche. Ein Beitrag zur theologischen Hermeneutik und deren Geschichte, in: Theologische Zeitschrift 3 (1822), 121–170. 51 Zum Zusammenhang vgl. hier Christophersen, Lücke: Bd. 1, v. a. 25–120; sowie insbes. ders., Lücke. Grundriß der neutestamentlichen Hermeneutik.

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De Wette und Lücke verband aber nicht nur die Arbeit an ihrer Theologischen Zeitschrift. Sonnabends gingen sie in aller Regel zusam­ men nach Charlottenburg. »Diesen peripatetischen Studien«, würdigt Lücke im Rückblick, »verdanke ich unendlich viel. Manches Wort, das ich damals von de Wette hörte, ist mir nach Jahren oft erst recht fruchtbar geworden. Auch trugen diese theologischen Spaziergänge unmittelbar ihre litterarischen Früchte.«52 Neben der Theologische Zeitschrift nennt Lücke eine Evangeliensynopse und das Projekt »einer neuen kritischen Ausgabe sämmtlicher Werke Luther’s«. »Wir wünschten und dachten damals, länger zusammen zu bleiben. Aber Gott hatte es anders beschlossen.«53 Trotz aller Widrigkeiten setzten de Wette und Lücke dann ihre Pläne auch tatsächlich um. Im Jahr 1818 gaben sie zunächst eine Synopsis Evangeliorum Matthaei, Marci et Lucae cum parallelis Joannis pericopis heraus.54 1842 erschien eine im Wesentlichen durch Lücke betreute Neuauflage. Sie war kürzer, hatte statt des Quartformates nun das Maß groß Oktav. Vor allem aber waren die inzwischen von Karl Lachmann erarbeiteten Ergebnisse berücksichtigt worden, was zu einer erheblichen Verbesserung des textkritischen Apparates führte. Anlässlich dieser zweiten Edition hielt Lücke in einer Selbstanzeige in den Göttingischen gelehrten Anzeigen (GGA) im Rückblick auf die Ausgabe von 1818 fest: »Sie verdankte ihre Entstehung der Überzeugung, daß die synoptische Behandlung der Evangelien neben der gesonderten jedes einzelnen Evangeliums für die Exegese und Critik immer nothwendig sey, und der Erfahrung, daß die Griesbachsche Synopsis für den gegenwärtigen

52 Lücke: Erinnerungen an de Wette, 32; Lücke berichtet, ebd., 31f.: »Auf unseren regelmäßigen Spaziergängen des Sonnabends nach Charlottenburg […] kamen die Studien der Woche zur Sprache. Man besprach in gegenseitiger Offenheit und ruhiger Disputation, ohne allen Zwist, abweichende, wie übereinstimmende Ansichten, und wie der Jüngere sich an dem Meister emporhob und sich seiner Eigenthümlichkeit durch den Gegensatz immer bewußter wurde, so verschmähte auch der Meister es nie, in die Denkweise des Jüngeren einzugehen und sich mit ihm zu verständigen.« 53 Lücke: Erinnerungen an de Wette, 32. 54 Synopsis Evangeliorum Matthaei, Marci et Lucae cum parallelis Joannis pericopis. Ex recensione Griesbachii cum selecta lectionum varietate. Concinnaverunt et breves argumentorum notationes adjecerunt Guil. Mart. Leber. de Wette et Frid. Lücke: Berolini: impensis et typis G. Reimeri/Londini MDCCCXVIII. – Zum Verhältnis des Wettes zu seinem ihn prägenden Lehrer Griesbach vgl. Stallmann, Marco: Johann Jakob Griesbach (1745–1812). Protestantische Dogmatik im populartheologischen Diskurs des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2019, bes. 67–69.

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Stand der critischen und exegetischen Untersuchungen theils ungenü­ gend theils unbequem geworden war.«55

Beiden Auflagen geht ein ausführliches lateinisches Vorwort voran, in dem die Herausgeber Rechenschaft über ihr Projekt ablegen und den genauen Aufbau eingehend erläutern. In der Allgemeinen Literaturzei­ tung erschien im Oktober 1822 eine anonyme und eingehende Rezen­ sion, die das Werk sehr lobend bewertet. Trotz mancher Einwände, die sich gegen die Synopse vorbringen ließen, hätten die beiden Herausgeber doch »die bedeutendsten Mängel der Griesbach’schen Arbeit verbessert, und mit ziemlich glücklicher Umschiffung der Hauptklippen des Unternehmens ungefähr so viel geleistet […], als dermalen überhaupt möglich war«56. Ein großer Vorteil der neuen Synopse sei die Tatsache, dass die einzelnen Evangelien stärker als bei Griesbach in ihrer Ganzheit erhalten geblieben und so auch in fortlaufendem Zusammenhang lesbar seien. Friedrich Lücke selbst verwendete beide Auflagen der Synopse seit dem Wintersemester 1818/19 in seinen Vorlesungen über die Synoptiker.57 Aber nicht nur die Synopse kam in seinen Vorlesungen zum Einsatz, sondern auch de Wettes Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in die kanonischen Bücher des Neuen Testaments diente ihm im Sommersemester 1827 ausdrücklich als Leitfaden. Mit dem ihm eigenen Pathos unterstreicht Lücke am Ende seiner Selbstanzeige in den GGA: »Welthistorische Thatsachen und Erscheinungen, wie unsere Evange­ lien, erschließen sich nur in unendlichem Fortschritte arbeitsamer Forschung dem Geiste, der eben so bescheiden, als muthig, in der Vermuthung sich nicht übermuthet, weder verzweifelnd das Wissen dem Glauben, noch leichtsinnig das Glauben dem Wissen opfert, und eben so treu ist im Kleinen, wie im Großen.«58

Wenn Lücke in seinen Erinnerungen an de Wette auch die in Angriff genommene Herausgabe sämtlicher Luther-Werke erwähnt, hebt er ein ambitioniertes, letztlich aufgrund der äußeren Umstände zum 55 Lücke, Friedrich: Anzeige von ders./de Wette, Synopsis, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 42. Stück. Den 14. Merz 1842, Bd. I, 417–424; hier: 418. 56 Anonymus: Rez. von Lücke/de Wette, Synopsis, in: Allgemeine Literaturzeitung, Halle 38 (1822), Bd. IV. Ergänzungsblatt, Nr. 113, 897–904; Nr. 114, 905–911; Nr. 115, 913–916; hier: 899. 57 Siehe das Verzeichnis der Lückeschen Vorlesungen, in: Christophersen, Lücke: Bd. 2, 72–97. 58 Lücke: Anzeige Synopsis, 424.

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Scheitern verurteiltes Projekt hervor. Während der eine einem Ruf nach Bonn folgte, musste der andere seine Entlassung akzeptieren und verließ Berlin. Die Freunde kamen überein, dass de Wette das Vorhaben nun alleine durchführen solle. Er reduzierte es auf eine Briefausgabe, die schließlich von 1825 bis 1856 in sechs Bänden, Bd. VI postum, erschien.59 Im Frühjahr 1821 ließ de Wette im Intelligenz­ blatt der Jenaer Allgemeinen Literaturzeitung einen Aufruf erscheinen: »Unterzeichneter, der mit einer Ausgabe der Lutherischen Briefe beschäftigt ist, richtet an alle Besitzer und Aufseher von Bibliotheken und Sammlungen, in welchen sich ungedruckte Briefe von Luther befinden, die freundliche Bitte, ihm davon sobald als möglich und längstens bis Michaelis d. J. die richtigen Abschriften mitzutheilen. Der Dienst, den sie damit einer wichtigen Sache leisten, wird vom Herausgeber mit gebührendem Dank anerkannt werden. Weimar d. 4 April 1821.«60

Schon im Herbst 1820 hatte er Schleiermacher über seine Pläne infor­ miert: »Das Unternehmen der Ausgabe von Luthers Werken erfüllt mich mit Zagen, da mir Alle abrathen wegen der kaufmännischen Schwierigkeit. Ich bitte dich, rede darüber ernstlich mit Reimer und warne ihn vor unbesonnenem Wagniß! Gibst du die Zustimmung, so will ich nicht mehr wanken. Lückes Teilnahme muß ich aufgeben und habe ihm schon deßhalb nicht ohne aufrichtiges Bedauern geschrieben. Ich muß freye Hand haben und selbständig seyn.«61

Lücke, der dem Theologen und Lehrer Schleiermacher gewidmet, zum Reformationsjubiläum den lateinischen Text der Apologia Augustanae Confessionis mit der deutschen Übersetzung von Justus Jonas neu De Wette, Wilhelm Martin Leberecht (Hg.): Martin Luthers Briefe, Sendschrei­ ben und Bedenken, vollständig aus den verschiedenen Ausgaben seiner Werke und Briefe, aus andern Büchern und noch unbenutzten Handschriften gesammelt, kritisch und historisch bearbeitet, 6 Theile, Berlin 1825–1856 [Bd. VI, postum hrsg. von Johann Karl Seidemann]. 60 De Wette, Wilhelm Martin Leberecht: Aufruf, in: Jenaer Allgemeine Literatur­ zeitung. Intelligenzblatt 18 (1821), Nr. 26, 208. Im November 1820 hatte de Wette aus Weimar in einer JALZ-Anzeige (IB 17 [1820], Nr. 75, 600) mitgeteilt, dass er die vier lateinischen Bände (notfalls auch zusammen mit den acht deutschen) von Luthers Werken in der Jenaischen Ausgabe kaufen möchte und er deshalb jemanden suche, der »solche zu einem billigen Preis abzulassen gedenkt«. 61 Wilhelm Martin Leberecht de Wette an Friedrich Schleiermacher, 4. Oktober 1820, in: Staehelin, Dewettiana, 98f. 59

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herausgegeben hatte,62 und de Wette tauschten sich in ihrer Berliner Zeit intensiv über die gegenwärtige Gestalt des Protestantismus aus. Die Lehrfreiheit an den Universitäten, die Union, die Auseinander­ setzungen mit dem Rationalismus, Erscheinungsformen kirchlichen Lebens waren leitende Themen. »Und so haben ich zu gewissen Zeiten«, berichtet Lücke, »mich fast täglich bei ihm eingefunden, in seiner stillen, zurückgezogenen Wohnung nicht weit von dem Oranienburger Thore, einer Art von Gartenhause, […] das eine Mal, um mit ihm die zweite Ausgabe seiner biblischen Theologie [sc. Dogmatik] durchzugehen und die nöthigen Verbesserungen zu besprechen, ein anderes Mal, um seinen Aufsatz über den Verfall der protestantischen Kirche in Deutschland und die Mittel, ihr wieder aufzuhelfen […] berathend durchzunehmen […].« 63 Dieser Text, der inhaltlich auf de Wettes Band Ueber Religion und Theologie basiert,64 erschien im von Friedrich Keyser, Erfurt, herausgegebenen Reforma­ tions-Almanach für Luthers Verehrer auf das evangelische Jubeljahr 1817.65 De Wette entfaltete hier in programmatischer Absicht eine Kritik am gegenwärtigen Protestantismus (und auch Katholizismus), die er mit eigenen Reformperspektiven verknüpfte. Es handelt sich bei diesen Überlegungen um einen gewissen theoretischen Überbau für den Theodor-Roman. Mit Emphase vertritt de Wette den Freiheits­ anspruch der Reformation. Rationalismus, Supranaturalismus, Gnos­ tizismus, Fanatismus und traditionsbestimmter Katholizismus wer­ den gleichermaßen zurückgewiesen und mit dem lebendigen Geist historischer und philologischer Forschung kontrastiert.66 De Wette 62 Apologia Augustanae Confessionis Latine et Germanice. In usum scholarum acade­ micarum recognovit atque insigniorem lectionum varietatem subiunxit Fridericus Lücke: Phil. Doctor et ss. Theologiae Licentiatus, Berolini MDCCCXVII [lat. Vorrede: Scribebam Berolini in universitate literaria ipsis b. Philippi Melanchthonis natalitiis a. d. XVI. m. Febr. a. MDCCCXVII]; dazu Christophersen, Lücke: Bd. I, 134–136. 63 Lücke: Erinnerungen an de Wette, 10. 64 De Wette, Wilhelm Martin Leberecht: Ueber Religion und Theologie. Erläute­ rungen zu seinem Lehrbuche der Dogmatik, Berlin 1815 (2., verb. und verm. Aufl. 1821). Vgl. zu dieser Schrift Axt-Piscalar, Christine: De Wettes Religionstheorie, in: Mathys, Hans-Peter und Klaus Seybold (Hg.), Wilhelm Martin Leberecht de Wette. Ein Universaltheologe des 19. Jahrhunderts, Basel 2001, 108–126. 65 De Wette, Wilhelm Martin Leberecht: Über den Verfall der protestantischen Kir­ che in Deutschland und die Mittel, ihr wieder aufzuhelfen, in: Reformations-Almanach für Luthers Verehrer auf das evangelische Jubeljahr 1817, hrsg. von Friedrich Keyser, Erfurt 1817, 296–371. 66 Siehe De Wette: Verfall der protestantischen Kirche, bes. 303f., 319f.

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beschwört eine »Zeit der Wiedergeburt«67, die vom Geist der Refor­ mation lebe, und entwirft eine Theologie des Aufbruchs, die ohne einen »zweite[n] Luther«, ohne einen »Held[en] des Glaubens«68 auskommen kann. Entscheidend sei es, die Jugend, ob in Schule oder Universität, zu bilden und zu motivieren. »[D]urch den Einfluß des Zweifels und der Vernünftelei auf die religiöse Überzeugung« sei »die Theilnahme am öffentlichen Leben der Religion erkaltet«69. Dieser Zustand müsse überwunden werden. Das Wort habe im Mittelpunkt zu stehen, gerade auch in der Predigt; denn: »Wahrheit ist die Seele des Protestantismus«70. In den Mittelpunkt rückt de Wette die Universi­ täten als »Werkstätten der Reformation«. Die Wissenschaft sei die »Grundquelle«, aus der Zukunftsgestaltung entstehen könne: »Aus ihr ist der Zweifel und die Lauigkeit gekommen; aus ihr muß auch der Glaube und die Begeisterung wieder kommen.«71 Im folgenden Reformations-Almanach auf das Jahr 1819, der im Herbst 1818 vorlag, setzt de Wette seine Reflexionen fort, nunmehr richtet er sich aus auf das Thema Ueber den sittlichen Geist der Refor­ mation in Beziehung auf unsere Zeit.72 Direkt darauf folgt Schleierma­ chers wirkmächtige Abhandlung Ueber den eigenthümlichen Werth und das bindende Ansehen symbolischer Bücher. Die Reformation sei ein fortwährendes Ereignis und dürfe mit dem Jubiläumsjahr 1817 keinesfalls in Vergessenheit geraten. »Die wahre Feier der Reforma­ tion ist die Fortsetzung und stäte Wiederholung derselben in ihrem lebendigen Geiste.« Das Leben müsse vollständig vom »sittlichen Geist der Reformation«73 durchdrungen werden. Dies sei das Gegen­ teil von Erinnerungsroutine. Zu sprechen sei in diesem Sinne vom »christliche[n] Geist«74. Im Zentrum habe der Glaube zu stehen. De Wette wählte Formulierungen, die durchaus erkennen lassen, warum De Wette: Verfall der protestantischen Kirche, 311. De Wette: Verfall der protestantischen Kirche, 312. 69 De Wette: Verfall der protestantischen Kirche, 327. 70 De Wette: Verfall der protestantischen Kirche, 334; vgl. dazu [ders.]: Die neue Kirche oder Verstand und Glaube im Bunde, Berlin 1815, 56 (dort Hervorhebungen): »Gewissensfreiheit und Wahrheitsliebe, Lebendigkeit des Glaubens und Klarheit des Verstandes sind die Elemente des Protestantismus«. 71 De Wette: Verfall der protestantischen Kirche, 348. 72 De Wette, Wilhelm Martin Leberecht: Ueber den sittlichen Geist der Reformation in Beziehung auf unsere Zeit, in: Reformations-Almanach auf das Jahr 1819, 2. Jahrgang, hrsg. von Friedrich Keyser, Erfurt 1819, 211–334. 73 De Wette: Geist der Reformation, 212. 74 De Wette: Geist der Reformation, 214. 67

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seine Schriften gerade auch bei den Burschenschaften auf besondere Resonanz stießen: »Die protestantische Kirche […] ist nichts anders als die Tochter des deutschen Volksgeistes durch die, mittelst desselben, wirkende Kraft des heiligen Geistes und den Segen Gottes.«75

Konsequent streut de Wette aktuelle Bezüge in seine Gedankengänge ein, verknüpft Wissenschaft, Gesinnung, Weisheit und Leben mitein­ ander. Die Jugend ruft er dazu auf, sich für das Predigtamt zu entschei­ den. Ans Ende seines Beitrags für den Reformations-Almanach stellt er den Wunsch nach einer »Wiedergeburt und neue[n] Schöpfung unseres Volkslebens«76: Gott möge dafür seinen Segen geben. Eigentlich hatte de Wette noch einen weiteren Aufsatz im Refor­ mations-Almanach abgedruckt sehen wollen, dies wurde allerdings nicht umgesetzt, so dass die »polemische Abhandlung« Katholicis­ mus und Protestantismus im Verhältniß zur christlichen Offenbarung zusammen mit der »biblische[n] Betrachtung« Die Sünde wider den heiligen Geist 1819 in dem ersten Heft seiner Theologischen Aufsätze erschien. De Wette gab sich hier überzeugt, »daß dem Protestantismus allein die wahre Treue gegen die Offenbarung eigen sey«77. Bevor nun jedoch die gemeinsame Arbeit an der Luther-Ausgabe von de Wette endgültig aufgelöst wurde, kündige Lücke in einer Art »Kostprobe« das Vorhaben einem breiteren Publikum an. 1819 gab er aus den Beständen der Bonner Universitätsbibliothek ein 32 Seiten umfassendes Bändchen heraus: Doctor Martin Luthers Streitschrift von heimlichen und gestolenen Briefen, sammt einem Psalm ausgelegt, wider Herzog Georgen von Sachsen.78 Diese Publikation hatte neben dem offenbaren Ziel der Ankündigung und Bitte um Mitteilung De Wette: Geist der Reformation, 231. De Wette: Geist der Reformation, 334, vgl. 329. 77 De Wette, Wilhelm Martin Leberecht: Zur christlichen Belehrung und Ermah­ nung. Theologische Aufsätze, 1. Heft, Berlin 1819: Katholicismus und Protestantismus im Verhältniß zur christlichen Offenbarung. Eine polemische Abhandlung, 1–90; Die Sünde wider den heiligen Geist. Eine biblische Betrachtung, 91–142, das Vorwort vom September 1819: III–VI; hier: IVf. 78 Lücke, Friedrich (Hg.): Doctor Martin Luthers Streitschrift von heimlichen und gestolenen Briefen, sammt einem Psalm ausgelegt, wider Herzog Georgen von Sachsen. Aus der Lutherischen Autographensammlung der ehemals Duisburger, jetzt Bonner Universitätsbibliothek, von neuem an’s Licht gestellt, und als vorläufige Ankündigung einer von de Wette und Lücke gemeinsam veranstalteten Ausgabe von Luthers sämmtlichen Werken, Bonn 1819. 75

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von (Autographen-)Material auch einen tieferliegenden Hintersinn, nämlich den verborgenen politischen Protest gegen die im Rahmen der »Demagogenverfolgungen« durchgeführten Hausdurchsuchun­ gen bei E. M. Arndt und den Brüdern Welcker, deren Briefe im Juli 1819 beschlagnahmt wurden.79 Entsprechend aktuell fiel auch die Schlussbemerkung der »Geschichtliche[n] Einleitung« aus, die Lücke der Streitschrift Luthers voranstellte: »Mit dem ihm eigenthümlichen Muth und Uebermuth, aber auch mit wahrhaft theologischer Tiefe behandelt er darin, für seine und alle künftige Zeiten zur vollen Genüge, einen höchst interessanten Gegenstand der Moral und Gesetzgebung, über den die Acten der Untersuchung und des Hin und Widermeinens längst abgeschlossen seyn würden, wenn Fürsten und Völker in gegenseitigem Vertrauen wahrhaft Christlichen Glauben untereinander hätten und hielten.«80

Im Vorwort vom 12. August 1819 ruft Lücke das Lesepublikum dazu auf, ihn oder de Wette auf »Autographen und Handschriften Luthers«, insbesondere Briefe, ob »schon gedruckt oder nicht«, hinzuweisen, so dass sie benutzt werden könnten. »Die Erinnerung und Freude unseres Geschlechts an dem Jubelfeste der Reformation darf nicht wieder vergehen, oder schwach werden, es sey denn zuvor ein gutes Werk zu Ehren Luthers und seines Werkes unter uns aufgerichtet als Denk- und Dankmahl der jetzigen Deutschen Nation.«81

Luther selbst straft die Entwendung von Briefen und die Bekanntgabe ihrer Inhalte mit Verachtung. »Ich schreibe auch heimliche Briefe«, kommentiert er, »aber allzeit mit der Bedacht, daß sie der Teufel (so mir in alle Wege nachstellet,) möchte verrathen und offenbaren. Darum behalte ich mir einen Hinterhalt, wenn sie ja geoffenbaret 79 In seiner Erinnerung an de Wette berichtet Lücke (32): »Ebenso [zuvor war von der Theologischen Zeitschrift die Rede gewesen] mußte die gemeinsame Besorgung der neuen Ausgabe der lutherischen Werke, welche ganz besonders auf unser Beisam­ menbleiben in Berlin berechnet war, aufgegeben werden. De Wette gab für sich die Briefe Luther’s heraus. Mir war nur vergönnt, im Herbste 1819 das Unternehmen durch einen allerdings tendenziösen, auf die kurz vorher geschehene Beschlagnahme aller Papiere und Briefe der beiden Welcker und Arnd[t]’s bezüglichen Abdruck der kleinen Schrift Luther’s wider Herzog Georg von Sachsen über gestohlene Briefe im Publicum anzukündigen.« Vgl. dazu auch Sander: Lücke, 138. 80 Lücke: Geschichtliche Einleitung, in: ders., Luthers Streitschrift, 3f.; hier 4. 81 Lücke: [Vorwort], in: ders., Luthers Streitschrift, 2.

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würden, damit ich den Teufel aufs Narrenseil führe […]. Es heißt: hüte dich für des Luthers heimlichen Briefen, sie stecken voller Fußeisen und Stricke; wers nicht gläubt, der versuchs.«82 Zu Lückes Ankündigung der Luther-Edition erschien eine Reihe von Anzeigen und Rezensionen, die das geplante Unternehmen durchgängig lobten und anerkannten. Auch H. E. Paulus, den de Wette seinerzeit in Jena erlebt hatte, meldet sich zu Wort und teilt in den Heidelberger Jahrbüchern mit: »Die Merkwürdigkeit der gelieferten kleinen Probeschrift zeigt sich von selbst. Eine passende geschichtliche Einleitung erinnert an ihre Entstehungsursachen. Diese, nebst Luthers Schrift selbst, gehören unter die Beweise, daß wir in Deutschland, wohl in vielem, doch nicht gerade in der Liebe zur Wahrhaftigkeit und Freymüthigkeit über unsere Voreltern hinaus gerückt sind.«83

In einem langen Rechtfertigungsschreiben an die Berliner Theologi­ sche Fakultät vom 16. Oktober 1819, das er dann im Januar in einer von ihm selbst anlässlich seines Falls herausgegebenen Aktensamm­ lung an die Öffentlichkeit gab, zitiert de Wette unmittelbar aus der von Lücke gerade veröffentlichten Streitschrift Luthers und stellt Bezüge zu seinem Trostbrief an Sands Mutter her. Ein heimlicher und ein öffentlicher Brief seien zu unterscheiden; »und wer einen heimlichen Brief wider Wissen und Willen seines Herrn offenbar machet, der verfälschet nicht vier oder fünf Worte darinnen, sondern den ganzen Brief«84.

Er wäre niemals auf die Idee gekommen, kommentiert de Wette, sei­ nen beschlagnahmten Brief zu veröffentlichen. Die Aktensammlung schlug erhebliche Wellen und führte zu einer überregional geführten Debatte, in der es immer wieder um die Frage des eigentlichen Ent­ lassungsgrundes ging, aber insbesondere auch darum, wer den SandLücke: Luthers Streitschrift, 12. Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob: Rez. von Lücke: Luthers Streitschrift, in: Heidelberger Jahrbücher 12 (1819), 2. Hälfte, Nr. 72, 1144f.; hier: 1145. Angaben zu weiteren Rezensionen bei Christophersen, Lücke: Bd. 2, 17. Als 1825 der erste Teil der de Wetteschen Ausgabe der Briefe Luthers erschienen war, rezensierte ihn Lücke in den »Jahrbüchern der Theologie und theologischer Nachrichten« (1826, Bd. II, 550– 579) ausführlich und anerkennend. 84 De Wette, Wilhelm Martin Leberecht: Brief an die Theologische Fakultät der Universität zu Berlin, 16. Oktober 1819, in: ders., Aktensammlung, 20–34; hier: 21f.; entspricht mit kleinen Abweichungen: Lücke: Luthers Streitschrift, 11. 82

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Brief publik gemacht hatte und in welcher genauen Form.85 Charak­ teristisch für die Auseinandersetzungen ist ein am 27. November 1819 im Oppositions-Blatt, Weimarische Zeitung erschienener Artikel. Unter »Tagesneuigkeiten«, aber datiert auf den 10. des Monats, wird mitgeteilt, dass de Wette sich nach seiner Entlassung nunmehr in sei­ ner Vaterstadt Weimar aufhalte. Nach einer Kurzvita kommt die Spra­ che auf den fraglichen Brief über den Attentäter. Der anonyme Beitrag mündet schließlich in Mutmaßungen. Es gäbe Zweifel, ob der Brief allein zur Entlassung geführt habe. »Daher die Meinung, daß de Wette’s Schrift: über die Sünde wider den heiligen Geist ein Gewicht in die Waagschale gelegt habe; da diese Schrift aber rein theologisch und biblisch ist, so befriedigt diese Annahme keineswegs.«

Als schlüssiger müsse wohl gelten, dass de Wette »schon längst durch die Anschuldigung gefährlicher Irrlehre« kompromittiert gewesen wäre; der »unglückliche Trostbrief« habe die Sache »aber zur Ent­ scheidung gebracht«86. An Schleiermacher schrieb de Wette noch am 11. März 1820, dass von seiner Aktensammlung mittlerweile 2500 Stück »vergriffen und 1000 neue aufgelegt« seien. »Doch wünsche ich«, bekannte er, »nichts mehr, als daß die ganze Geschichte in Ver­ gessenheit komme.«87 Seinen Abschied von Berlin nimmt Lücke zum Anlass, an Schlei­ ermacher einen Brief zu richten, der aussagekräftig für das Verhältnis zu de Wette und Schleiermacher ist. Am 1. Oktober 1818 schreibt er aus Großbodungen, dem am Harzrand gelegenen Heimatort seiner zukünftigen Frau Henriette Müller: »Ich weiß, was ich verliere, indem ich von Ihnen gehe, namentlich und am meisten, von Ihnen und De Wette. Was ich wiedergewinne, – davon sehe ich nur die äußersten Umrisse […]. Gleichwohl fühle ich nur zu Vgl. dazu nur Anonymus: Ueber die Dienstentlaßung des Professors de Wette, in: Beilage zum 13ten Stücke der Allgemeinen Preußischen Staats-Zeitung, 12. Februar 1820, s. p. 86 Anonymus: Mittheilung [über de Wette], in: Oppositions-Blatt, Weimarische Zei­ tung, Nro. 282, 27. November 1819, 2252–2254; hier: 2253f.; vgl. dazu auch ergän­ zend ebd., Nro. 309, 30. December 1819, 2467f., die Wiedergabe des Briefes an die Mutter Sands und die Kabinettsordre des Königs von Preußen an den Staatsminister Freiherrn von Altenstein vom 30. September 1819 zur Entlassung de Wettes. 87 Wilhelm Martin Leberecht de Wette an Friedrich Schleiermacher, 11. März 1820, in: Staehelin, Dewettiana, 94. 85

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sehr, das Allein und Selbst ist doch nichts ohne eine Gemeinschaft, wie die war, in welche Sie mich aufgenommen: Nun ist kein sehnlicherer Wunsch in mir, als in dieser Gemeinschaft auch in der Entfernung zu verbleiben und Ihnen die Probe zu geben, daß Sie keinen Unwürdigen darin aufgenommen, und daß obwohl ich nicht Ihr Schüler im Hörsaale gewesen, ich doch Ihr und DeW.[ettes] Schüler im edelsten des Wortes seyn und heißen will.«88

Die drei einstigen Berliner Kollegen und Freunde trafen sich auch noch einmal, bevor de Wette schließlich den Ruf nach Basel annahm. Am 16. September 1821 hatte er auf der Suche nach einer neuen Wir­ kungsstätte in der Braunschweiger St. Katharinengemeinde eine Gastpredigt gehalten und war im Anschluss einstimmig zum Pfarrer gewählt worden.89 Wenige Tage darauf traf sich de Wette mit Lücke, Schleiermacher und dessen Frau Henriette in Nordhausen am Harz. »Unsere Freundschaft«, betonte Lücke, »hatte eine zu tiefe, feste Wur­ zel, um durch die Trennung geschwächt zu werden.«90 Besonders eine Szene aus Nordhausen war ihm besonders im Gedächtnis geblieben – ein morgendlicher »Contrast«: »Während die Gesellschaft sich auf Schleiermacher’s Zimmer zum Frühstück allmählich zusammenfand, saß dieser still für sich und schrieb mitten unter Gesprächen noch an seinen Anmerkungen zur neuen Ausgabe seiner Reden über die Religion, de Wette aber sprach lebhaft von der Herrlichkeit des Predigtamtes und seiner freudigen Hoffnung, als Pfarrer der Gemeinde immer tiefer in das Wesen und Leben der Kirche einzudringen.«91

Doch die Entwicklungen gingen in eine andere Richtung. 88 Friedrich Lücke an Friedrich Schleiermacher, 1. Oktober 1818, in: Christo­ phersen, Lücke: Bd. 2, Nr. 14, 219f.; hier: 219. 89 Vgl. dazu v. a. detailreich: Venturini, Karl (Hg.): Beiträge zur neuesten Geschichte des Protestantismus in Deutschland. Erstes Heft: Des Doctor W. M. L. de Wette einstimmige und doch verworfene Wahl zum Prediger an der St. Katharinen-Kirche in Braunschweig, Leipzig 1822. Venturini schildert die Ereignisse und hält fest: »[…] der Redner hatte nicht das Concept gebraucht, und der sanfte Leidensausdruck auf dem blassen Antlitze – hatte die Herzen bewegt« (ebd., 37). »Die öffentliche Meinung« sei auf de Wettes Seite gewesen. Seine Mitbewerber habe er in den Schatten gestellt. »Und wie konnte es anders seyn, da jetzt die bekannten Aktenstücke reissend von Hand zu Hand gingen, den ergiebigsten Unterhaltungsstoff in Clubs, Thee- und Abendgesellschaften lieferten, und das natürliche Gefühl des Mitleidens für den hart bedrängten Mann immer stärker in Anspruch nahmen« (ebd., 38; vgl. 28)? 90 Lücke: Erinnerungen an de Wette, 33; vgl. Sander: Lücke: 123. 91 Lücke: Erinnerungen an de Wette, 35.

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Lücke hat mehrfach unterstrichen, dass er sich als einen Schüler Schleiermachers, aber auch de Wettes begreift. Der Schülerbegriff wird von ihm – wie die Erinnerungen an Schleiermacher und de Wette deutlich werden ließen – in einer weiten Form verstanden. In der Vorrede zum zweiten Band der dritten Auflage seines Johanneskom­ mentars schreibt er im Januar 1843 in kritischer Abgrenzung gegen Ferdinand Christian Baur und David Friedrich Strauß: »Es ist sehr die Frage, was dem behaglichen Sinne mehr zusagt, der fer­ tige absolute Begriff, der, wenn er einmahl aufgezogen ist, seine Schnur durch alle Gebiete der Geschichte und Natur abläuft fast ohne des Menschen Zuthun, oder das Princip der Schleiermacherschen Schule, wenn man will (in der That aber ist Schleiermacher kein Schulmeister, sondern der Typus freyester Forschung), welches bey aller Sicherheit des Lebensgrundes im Forschen keine Ruhe gestattet, und die Arbeit der Kritik nie scheut.«92

Am 5. Juni 1821 hatte Schleiermacher diese Haltung in einem Brief an Lücke, der aufgrund kritischer Reaktionen zu dem ersten Band seines Johanneskommentars niedergeschlagen war, auf folgende For­ mel gebracht: »Der freie wissenschaftliche Geist den Ihnen die Leute auch gern absprechen möchten wird auch im zweiten Theil noch viel Gelegenheit finden sich weiter zu bewähren; und eben die Verbindung dieses mit der Kraft des eigenthümlich christlichen das muß allerdings der Charakter der Theologie bleiben, welche die künftige Generation, zu der ich Sie aber schon mitrechne immer weiter auszubilden hat. Ich bekenne mich auch dazu, aber die recht einleuchtenden Musterbilder darin müssen noch kommen, und wir wollen helfen sie hervorlocken soviel wir

Lücke, Friedrich: Vorrede, in: ders., Commentar über das Evangelium des Johan­ nes, Teil 2, 3., verb. Aufl., Bonn 1843, V–XII; hier: X, Anm. 1. – In der Peter Wilhelm Hoßbach zugedachten Widmung zur 3. Auflage des ersten Bandes des Johanneskom­ mentars (Bonn 1840, V–XIV; hier: VII) formuliert Lücke im Rückblick auf die Zeit in Berlin: »In dem neuerwachten, kirchlichen Leben, woran wir Theil nahmen, so wie unter den wissenschaftlichen Anregungen von Schleiermacher, Neander und de Wette, in denen wir bey aller Verschiedenheit ihrer Richtungen die zusammengehö­ rigsten Häupter der neueren theologischen Bildung verehrten, fanden wir, Jeder nach seiner Art, die kräftigsten Antriebe und die freyesten Standpuncte für unsern theolo­ gischen Beruf, sowohl den wissenschaftlichen, als den praktischen.« Zu Lückes Ver­ hältnis zu Strauß vgl. auch seine anonym erschienene Intervention: Dr. Strauß und die Zürcher Kirche. Eine Stimme aus Norddeutschland. Mit einer Vorrede von Dr. W. M. L. de Wette, Basel 1839. 92

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können. Aber eben deshalb nicht abgesezt und nicht sich in die Stille zurückgezogen: denn die sind immer da denen wir entgegen gehen müssen, wenn auch durch kleine Passionen hindurch; der Sieg über die zerfallenen Extreme wird schon nachkommen.«93

Der vermittlungstheologische Geist Schleiermachers, der ihn wenige Jahre später zum wesentlichen Impulsgeber der Theologischen Studien und Kritiken werden lässt, deutet sich hier an. Neben den kirchen- und universitätspolitischen Interessen ver­ band de Wette und Lücke ihre Faszination für die Johannesexegese. Sie war bei Lücke, wie bei seinen Vorbildern Herder und Schleierma­ cher, deutlich ausgeprägter, aber auch de Wette ließ sich in seinen Veröffentlichungen immer wieder auf die theologische Intensität des Corpus Johanneum ein. Sie war für ihn auch autobiographisch kon­ notiert. Seine Kurze Erklärung des Evangeliums und der Briefe Johannis versieht de Wette, datiert auf den 22. März 1837, mit einer längeren Widmung an Lücke, die er auf Erinnerungen an die geteilte Berliner Zeit zulaufen lässt: »Mein theuerster Freund! Lebhaft habe ich mich während der Beschäf­ tigung mit Deinem Commentar in die schöne Zeit zurückversetzt, wo wir in Berlin zusammen lebten, arbeiteten, disputirten, und oft den unvergesslichen Schleiermacher in unsrer Mitte hatten. Diese Zeit ist dahin, wir sind durch einen weiten Raum geschieden, und Er weilt nicht mehr unter den Lebenden; aber der Geist, der uns damals verband, verbindet uns noch, der Geist der einträchtigen Liebe zur christlichen Wahrheit bei der Unabhängigkeit des Urtheils […].«94

Die Widmung wird allen fünf Auflagen beigefügt. Seinen Kommen­ tar charakterisiert de Wette als »fortwährendes freundschaftliches Gespräch«, eingebunden wird das Lesepublikum. De Wette würdigt die herausragende Bedeutung, die Lückes Johanneskommentar habe. Er stelle das entscheidende Referenzwerk für seine eigenen Arbei­ ten dar: »Ich theile die allgemeine Achtung für dieses Dein treffliches Werk, in welchem sich die Gelehrsamkeit, der richtige Blick und Takt des Philologen mit dem Tiefsinne und der ungeheuchelten Frömmigkeit 93 Schleiermacher an Lücke: 5. Juni 1821, 264. Vgl. Lücke an Schleiermacher, s. t. [Mitte/Ende März 1821], in: Christophersen, Lücke: Bd. 2, Nr. 29, 258–260. 94 De Wette, Wilhelm Martin Leberecht: Widmung an Friedrich Lücke: in: ders., Kurze Erklärung des Evangeliums und der Briefe Johannis, Leipzig 1837; hier zitiert nach der 3., verb. Aufl., 1846, [V–VIII; hier: VIII].

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des christlichen Gottesgelehrten in seltener Weise vereinigt. Mit der ersten Erscheinung dieses Werkes begann eine neue bessere Aera der neutestamentlichen Auslegung […].«

Mit der zweiten Auflage, formuliert er an Lücke gerichtet, sei der »Blick noch klarer, und Dein Urtheil noch entschlossener und siche­ rer geworden«95. 1848 legte de Wette den dreizehnten und letzten Band seines Kurzgefassten exegetischen Handbuchs zum Neuen Testament vor, die Kurze Erklärung der Offenbarung Johannis. Der Kirche fehle es, so die Schlussgedanken des Vorworts, an gesellschaftsprägender und das ganze Leben gestaltender Kraft: »Das Christenthum muss Leben und That werden.«96 Wenige Jahre nach de Wettes Tod erschien ein unver­ änderter Nachdruck des Kommentars. Friedrich Lücke hatte es über­ nommen, für diese Ausgabe ein Vorwort beizusteuern. Er ging in die­ sem nicht nur auf einige Neuerscheinungen ein, die im Haupttext keine Berücksichtigung mehr finden konnten, sondern würdigte auch noch einmal den verstorbenen Verfasser. »[D]iejenigen, welche de Wette’s Gaben und Verdienste und seinen edlen theologischen Sinn zu schätzen wissen«, könnten in dessen Vorwort zur Auslegung der Johannesoffenbarung »eine Art von theologischem Testament« aus­ machen, im »Bekenntniss zu der Wahrheit und dem alleinigen Heile der Welt in dem Evangelium Jesu Christi«. De Wette habe eine »Summe seiner langen gründlichen Studien, Fragen und Zweifel, und seiner eigensten Lebenserfahrungen«97 gezogen. Friedrich Lücke starb am 14. Februar 1855, gezeichnet von den theologischen Gra­ benkämpfen der Zeit, denen er sich nicht mehr gewachsen fühlte. Je bedrängender die Gegenwart auf ihm lastete, desto deutlicher ver­ klärte sich der Blick in die Vergangenheit. Die Jahre des Aufbruchs zwischen 1813 und 1817 wurden für ihn zu einer rückwärtsgewandten Utopie.98 »Trügen nicht alle Zeichen der Zeit«, bilanzierte er im Vor­ De Wette: Widmung an Lücke: V. De Wette, Wilhelm Martin Leberecht: Vorwort, in: ders., Kurze Erklärung der Offenbarung Johannis, Leipzig 1848, V–VIII; hier: VIII. 97 Lücke: Friedrich: Vorwort, in: de Wette, Wilhelm Martin Leberecht, Kurze Erklä­ rung der Offenbarung Johannis, 2. Aufl., Leipzig 1854, VIII-XIV; hier: IX. 98 Lücke zählte de Wette 1846 »zu den unvergeßlichen Theologen aus der schönen Zeit der Regeneration unserer Nation, Kirche und Wissenschaft. Denn von daher datiert sich die heutige Krisis, die eben deshalb eine Wiederbelebungskrisis ist« (Lücke, Friedrich: Anzeige von: Wilhelm Martin Leberecht de Wette, Das Wesen des christlichen Glaubens vom Standpuncte des Glaubens, Basel 1846, in: Göttingische 95

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wort, »so ist der Zeitpunkt nicht mehr allzufern, – ja man hört schon ziemlich laute Stimmen, die dahin rufen, – wo man sich nach so ehr­ lichen und treuen, gewissenhaften und arbeitsamen Forschern, wie de Wette war und seine Zeitgenossen, Schleiermacher, Neander u. a. – zurücksehnen wird, – wenn dann nur nicht vergebens!«99

gelehrte Anzeigen 40. Stück. Den 9. Merz 1846, Bd. I, S. 393–400. 41. 42. Stück. Den 12. Merz 1846, Bd. I, S. 401–416. 43. Stück. Den 14. Merz 1846, Bd. I, S. 417–419; hier: 395). 99 Lücke: Vorwort, XIV.

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II. Interdisziplinäre Zugänge zu »des Zweiflers Weihe«

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»Künstlerische, ästhetische Symbolik ist die sicherste und höchste Darstellungs- und Mittheilungsart der Religion« W. M. L. De Wettes Religionsästhetik im TheodorRoman (1822)

»Von nichts wimmelt unsere Zeit so sehr als von Ästhetikern« spottet Jean Paul in der Vorrede zu seiner eigenen Vorschule der Ästhetik (1804).1 Von der Selbstironie dieser Bemerkung einmal abgesehen, hat der große Übertreibungskünstler damit sicher einen charakte­ ristischen Zug der Zeit getroffen. Denn seit ihrer Begründung als selbständige Disziplin durch Alexander Gottlieb Baumgarten knapp fünf Jahrzehnte zuvor,2 hatte sich die Ästhetik innerhalb kurzer Zeit von einer schulphilosophischen Teildisziplin, in der die ›sinnliche Erkenntnis‹ bedacht und die spezifischen Leistungen der ›unteren Erkenntniskräfte‹ untersucht wurden, zu einem intellektuellen Groß­ projekt entwickelt, an das sich höchste Erwartungen knüpften – nicht nur philosophische sondern auch gesellschaftliche, politische und nicht zuletzt religiöse Erwartungen. Sie haben etwa im sogenannten ›Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus‹ ihren Nieder­ schlag gefunden. Hervorgegangen aus dem gedanklichen Austausch zwischen den Tübinger Stiftsgenossen Hölderlin, Hegel und Schelling wurde es 1796/97 niedergeschrieben vielleicht auch unter dem Ein­ fluss von Friedrich Schlegel.3 Auf den beiden Manuskriptseiten in 1 Jean Paul: Sämtliche Werke, hg. v. Norbert Miller, Abt. I, Bd. 5, Darmstadt 2000, 22. 2 Baumgarten, Alexander Gottlieb: Aesthetica, 2 Bde., Frankfurt a. O. 1750/1758. 3 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich [Schreiber]: eine Ethik., ehem. Preußische Staatsbibliothek, acc.ms 1913.12 / Biblioteka Jagiellonska Krakow, jetzt Staatsbiblio­ thek Berlin PK; Vorlage Faksimile in: Jamme / Schneider (Hg.): Mythologie der Vernunft, Frankfurt 1984; jetzt neu überprüft am Scan der Jagiellonian Digital

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Markus Buntfuß

Hegels Handschrift wird die Idee der Schönheit als die höchste Idee der philosophischen Vermittlung und der spekulativen Vereinigung annonciert. Der höchste Akt der Vernunft wird als ästhetischer Akt und die künftige Philosophie wird als ästhetische Philosophie verstan­ den. Damit verbindet sich schließlich auch die Forderung nach einer ästhetischen Religion und einer neuen Mythologie. Ein Großprojekt, das die genannten Denker zusammen mit geistesverwandten Zeitge­ nossen in den Folgejahren auf den verschiedenen Feldern von Kunst und Dichtung sowie von Philosophie und Theologie beackern werden. Was die intellektuelle Durchschlagskraft dieser philosophischästhetischen Revolution maßgeblich befeuert, ist die räumliche Nähe ihrer Akteure. Sie verdichtet sich um 1800 auf der gerade mal 20 km langen Achse zwischen dem Frauenplan in Weimar und der Leutragasse in Jena. Atmet der eine Brennpunkt dieser Ellipse den formvollendeten Geist der Weimarer Klassik, so bildet sich nebenan in Jena die revolutionäre Zelle der progressiv poetisierenden Frühro­ mantiker. Nach Schiller (seit 1789 in Jena), der bald nach Weimar konvertieren wird und Fichte (seit 1794 in Jena), der bald des Athe­ ismus beschuldigt wird und nach Berlin geht, siedeln sich ab 1795 die Brüder Friedrich und August Wilhelm Schlegel mit ihren Frauen Dorothea, geschiedene Veit und Caroline, verwitwete Böhmer in Jena an und beziehen gemeinsam das Haus in der Leutragasse 5. Vier Jahre später zieht der frisch berufene Philosophieprofessor Joseph Schelling mit ein, um nicht nur das intellektuelle Klima in der Pro­ vinzstadt anzuheizen, sondern auch die privaten Verhältnisse in der symphilosophierenden Wohngemeinschaft gehörig und nachhaltig durcheinander zu bringen. Außerdem schaut Novalis regelmäßig aus dem nahe gelegenen Weißenfels vorbei. Seit 1798 studiert Clemens Brentano in Jena pro forma Medizin, die er jedoch zugunsten seiner literarischen Neigungen vernachlässigt und von 1799–1800 gesellt sich Ludwig Tieck hinzu. 1801 schließlich kommt auch noch Hegel in das ›närrische Nest‹, wie Goethe über Jena spottet, was ihn nicht davon abhält, selbst so oft es geht von Weimar herüberzufahren, um in Jena seine literarische und wissenschaftliche Existenz zu leben.

Library, Transkr. Christoph v. Wolzogen (https://www.academia.edu/33129687/ Das_Älteste_ System programm _des_deutschen Idealismus_ -_neue_Transkription; abgerufen am 26.02.2020 um 07:48 Uhr).

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De Wettes Religionsästhetik im Theodor-Roman

Mehr intellektuelle Gärung gab es in Deutschland auf so engem Raum noch nie.4 In diesem geistigen Umfeld erblickt De Wette nicht nur das Licht der Welt – er wird 1780 in Ulla bei Weimar geboren – sondern erfährt er auch seine schulische Erziehung und seine erste akademi­ sche Bildung. Bekanntgeworden mit Herder auf dem Gymnasium in Weimar und in seiner theologischen Entwicklung nachhaltig durch ihn geprägt, beginnt De Wette das Studium der Theologie 1799 an der Salana und gerät mitten hinein in den revolutionären Geist des phi­ losophisch-ästhetischen Aufbruchs. Doch im Unterschied zu seinem späteren Fakultätskollegen Schleiermacher wird De Wette weder phi­ losophisch noch ästhetisch geschweige denn theologisch jemals ein echter ›Jenenser‹ werden, sondern immer ein ›Weimaraner‹ bleiben. Man könnte auch sagen, De Wette hält dem Jena Fichtes und Schillers die Treue. Von den jungen Wilden in der Leutragasse hat er sich nach anfänglicher Begeisterung schon bald wieder distanziert. Wichtiger als Schelling etwa wird für ihn die Bekanntschaft und spätere Freund­ schaft mit dem Kantianer Jakob Friedrich Fries (1773–1843), der seit 1797 in Jena bei Fichte studiert, im Jahr 1800 von diesem promoviert und fünf Jahre später gleichzeitig mit Hegel zum a.o. Professor ernannt wird – ein Umstand, der ihm wie anderen um die Aufmerk­ samkeit des Publikums konkurrierenden Kollegen Hegels dessen Gegnerschaft und beißenden Spott eingebracht hat. Neben Herder wird Fries der wichtigste Lehrer De Wettes. Während ihm Herder den Sinn für die sich im Medium von Sprache und Geschichte bildende Humanität vermittelt, eröffnet ihm Fries den Zugang zur anthropolo­ gischen Vernunftkritik sowie zur religiös-ästhetischen Weltansicht. Als De Wette nach seiner Promotion im Jahr 1805 Privatdozent der Theologie in Jena wird, hat er auf dieser Basis den Grundstein für eine eigenständige ästhetische Religionstheologie gelegt. Das erste Zeugnis dazu stammt bereits aus dem Jahr 1801. Es handelt sich um einen Aufsatz, den der Student im vierten Semes­ ter geschrieben hat. Veröffentlicht wurde er erst 1850 von Adolph Stieren, einem Theologieprofessor in Jena, der den Text von einem Kollegen erhalten hatte. Der Aufsatz trägt den Titel Eine Idee über das

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Vgl. Neumann, Peter: Jena 1800. Die Republik der freien Geister, München 2018.

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Studium der Theologie.5 Ganz im Sinne der ästhetischen Revolution dieser Jahre plädiert der 21jährige Student für eine Wiedergeburt der Religion aus dem Geist der Kunst. Um seine Vision in die theologische Landschaft der Gegenwart einzuzeichnen, skizziert er zunächst die Geisteslage seiner Generation, die – nach dem Zusammenbruch der alten Orthodoxie in der historischen Kritik geschult und in einer freien vernünftigen Lehrart unterrichtet – ein wachsendes Unbehagen an der rationalistischen Aufklärungstheologie verspürt. Der Versuch, den ›Verlust der Religion‹ durch moralische Aufklärung und histo­ rische Forschung zu ersetzen, sei gescheitert. Was aber weder durch Moral noch durch Wissenschaft wiederzubeleben sei, könne auf dem Königsweg der Kunst gelingen: »Heilige Kunst, du vermagst es allein, mir den Sinn für das Göttliche aufzuschliessen und das Herz bessere, höhere Gefühle zu lehren! In deinen zauberischen Schöpfungen, wie in einem klaren, schönen Spiegel, stellst du dem beschränkten Auge die Schönheit, die Harmonie dar, die es im unendlichen Universum nicht zu finden, nicht zu fassen vermag; du bringst uns das Göttliche in irdischer Gestalt vom Himmel herab, rückst es näher hin vor unsern Blick und zwingst das kalte, enge Herz, göttliche, harmonische Gefühle aufzunehmen.«6

Nach möglichen Quellen und Vorlagen für diesen frühromantischen Prospekt auf eine künftige ästhetische Religion ist mehrfach geforscht worden. John W. Rogerson7 vermutet einen starken Einfluss Schel­ lings, aber auch Wackenroders und Tiecks. Vor allem die Herzenser­ gießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1797) der beiden letzt­ genannten sowie die Hymnen an die Nacht (1800) von Novalis liefern – wie ich andernorts zu zeigen versucht habe – die gedanklichen wie sprachlichen Motive für den Ideen-Aufsatz.8 Zwanzig Jahre später treffen wir De Wette wieder in Weimar. Er hat inzwischen Karriere gemacht aber zuletzt auch einen schwe­ De Wette, Wilhelm Martin Leberecht: Eine Idee über das Studium der Theologie (Sommer 1801), dem Drucke übergeben und mit einer Vorrede begleitet von Adolf Stieren, Leipzig 1850. 6 A.a.O., 20. 7 Rogerson, John W.: W. M. L. De Wette. Founder of Modern Biblical Criticism. An Intellectual Biography (Journal for the Study of the Old Testament, Supplement Series 126), Sheffield 1992. 8 Buntfuss, Markus: Die Erscheinungsform des Christentums. Zur ästhetischen Neu­ gestaltung der Religionstheologie bei Herder, Wackenroder und De Wette (AzK, Bd. 89), Berlin/New York 2004. 5

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De Wettes Religionsästhetik im Theodor-Roman

ren persönlichen Schlag erlitten. Nach seiner Zeit als Privatdozent in Jena war er 1807 Professor für Theologie an der Universität Heidelberg geworden, wo er eine enge Fachmenschenfreundschaft mit Jakob Friedrich Fries schloss. 1810 war er an die neugegründete Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin berufen worden, wo er sich mit Friedrich Lücke und Friedrich Schleiermacher befreundete. In seinem persönlichen Schicksalsjahr 1819 dann wurde er aus dem Amt entlassen, da er der Mutter Karl Ludwig Sands, des Mörders Kotzebues, einen Trostbrief geschrieben hatte. De Wette wurde die Lehrerlaubnis entzogen und er wurde aus Preußen verbannt. Darauf­ hin wendet er sich wieder nach Weimar, wo er von 1819–1822 lebt und neben der Arbeit an einer sechsbändigen Ausgabe von Luthers Briefen den zweibändigen Theodor-Roman verfasst. Hier am Ort seiner Kindheit und Jugend verarbeitet De Wette autobiographische und zeitgenössische Erfahrungen und stellt sie in den Deutungshorizont der Weimarer Bildungswelt. Außer im Theodor, der in vielem an Goethes Wilhelm Meister erinnert, hat die räumliche Nähe und geistige Wahlverwandtschaft mit Herder, Goethe und Schiller einen produktiven Niederschlag in De Wettes literarischem Oeuvre gefunden. So z.B. in einem weiteren Bildungsro­ man mit dem Titel Heinrich Melchthal, oder Bildung und Gemeingeist. Eine belehrende Geschichte (1829). Außerdem verfasst De Wette während seines Aufenthaltes in Weimar das Drama Die Entsagung im Anschluss an Schillers Kabale und Liebe sowie ein Libretto Der Graf von Gleichen, »das im orientalischen Milieu, Thema und Verssprache sichtlich der Entführung aus dem Serail verpflichtet ist.«9 Nun aber zum Theodor und seiner christlichen Religionsästhetik. Das Besondere an dieser fiktiven Bildungsgeschichte eines evan­ gelischen Geistlichen ist ihr Umweg-Charakter. Sie erzählt von einem der auszog, um eine seiner sittlichen Persönlichkeit und intellektu­ ellen Bildung angemessene Weihe erst im Durchgang durch den Zweifel und eine selbständige Verarbeitung der philosophischen, theologischen sowie künstlerischen Strömungen der Zeit zu erhalten. Zum Geistlichen wird Theodor nicht auf dem direkten Weg, der ihm durch seine Erziehung und den Willen seiner Mutter vorgezeichnet ist. Er muss die pietistische Enge seiner Herkunft zuerst verlassen 9 Pestalozzi, Karl: De Wette als Romanautor, in: Mathys, Hans-Peter/Seybold, Klaus (Hg.): Wilhelm Martin Leberecht De Wette. Ein Universaltheologe des 19. Jahrhunderts, Basel 2001, 127–145, 128f.

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Markus Buntfuß

und in die freie Welt hinausziehen, um auf diesem Wege gereift und durch manche Lebenserfahrung geläutert, schließlich doch noch den geistlichen Beruf zu ergreifen – als ein Geistlicher ›höherer Ordnung‹ sozusagen. Auf dem Weg vom jungen Studenten, für den die akademi­ sche Theologie der Zeit kein überzeugendes Theorieangebot für eine zeitgemäße Reflexion des Glaubens bereithält, zum weltgewandten jungen Mann, der sein Glück im Staatsdienst zu finden hofft, bis hin zum reifen geistlichen Herrn, durchläuft Theodor nicht nur einen religiösen und theologisch-philosophischen, sondern insbesondere auch einen künstlerisch-ästhetischen Bildungsweg. In der Vorrede zur zweiten Auflage hebt De Wette die Bedeutung der ästhetischen Geschmacksbildung für die Erlangung der zum geistlichen Amt erfor­ derlichen Kompetenzen eigens hervor: »weil ich Religion und Theologie als Sache des Lebens betrachte und in ihnen den Gipfelpunkt aller Welt- und Lebensansichten finde: so ließ ich die theologischen Ansichten meines Helden gleichen Schritt halten mit seinen Ansichten über die Kunst und Dichtung, und hielt es nicht für unschicklich, ihn im Theater eine religiöse Anregung empfangen und seine Aufmerksamkeit auf Gegenstände, wie Mozarts Zauberflöte, richten zu lassen.«10

Entsprechend reichhaltig sind die religionsästhetischen Reflexionen über besuchte Theateraufführungen, Opern, Konzerte, sowie über Malerei, Architektur und Tanz. Aufschlussreich ist dabei die religiösästhetische Geschmacksentwicklung und Urteilsbildung Theodors von einer vortheoretischen Liebe zur Kunst über den Einfluss durch die enthusiastische Kunstreligion der Frühromantiker bis hin zu einer theoretisch fundierten und theologisch verantworteten Würdigung der Kunst für die Religion im Allgemeinen und das Christentum bzw. den Protestantismus im Besonderen. Nach ersten Erfahrungen mit dem Kunstleben seiner Zeit als Student und einer Phase der theore­ tischen Beschäftigung mit Fragen der Ästhetik unter der Anleitung seines Lehrers Professor A. alias Jakob Friedrich Fries gelangt Theodor schließlich zu einer eigenständigen Auffassung von dem Verhältnis zwischen Kunst und Religion, von der Bedeutung der verschiedenen Künste im Christentum – insbesondere auch im Protestantismus – sowie von einer künftigen christlichen Kunst. Ein Vergleich zwischen seinen frühen und seinen ausgereiften Auffassungen vom Theater soll diesen Bildungsweg exemplarisch verdeutlichen. 10

Theodor 6 (21828 I, VII).

128 https://doi.org/10.5771/9783495998793 .

De Wettes Religionsästhetik im Theodor-Roman

Die erste Begegnung Theodors mit der Schauspielkunst schildert De Wette anhand des Besuchs einer Aufführung von Schillers Die Jungfrau von Orleans (74ff.). 1801 uraufgeführt war das Stück schon zu Lebzeiten Schillers sehr erfolgreich und eignet sich deshalb in besonderer Weise als Beispiel für eine repräsentative Theatererfah­ rung dieser Jahre. Von Schiller selbst als ›romantische Tragödie‹ bezeichnet, steht das Stück für den Versuch einer konstruktiven Aus­ einandersetzung der Weimarer Klassik mit der Jenaer Frühromantik. Damit liefert es De Wette eine ideale Vorlage, um die auf eigenen Erfahrungen beruhenden Eindrücke auf seinen literarischen Helden sowie die unterschiedlichen Reaktionen der Zeitgenossen auf das Stück zu schildern. Im Anschluss an die Aufführung versammelt sich dazu eine Gesellschaft, die sich aus Vertretern des damaligen Gesellschaftsle­ bens zusammensetzt. Sie verkörpern die damals verbreiteten Reak­ tionen auf das Stück und die jeweils dahinterstehende Rezeptions­ haltung. Einige der Anwesenden etwa loben »die Pracht und die treue Angemessenheit der Decoration und des Costums«.11 Sie sind der Meinung, dass eine gelungene »Täuschung«12 die erste Bedin­ gung des Kunstgenusses und eine realistische Dekorationsmalerei ein wesentliches Qualitätsmerkmal auf dem Theater sei. Dahinter steht noch der höfische Kunstgenuss als gesellige Unterhaltung und beiläufige Ablenkung. Ein ideeller Wert oder eine auf das Leben abzielende Bedeutung der Handlung werden dem Schauspiel dabei nicht zuerkannt. Eine andere Position vertritt ein Geheimrat, »der sich das Anse­ hen eines feinen Kenners gab«.13 Er kritisiert, dass die Darstellerin der Johanna an einigen Stellen in ein falsches Pathos und in Affectation verfallen sei, besonders, wenn sie in Begeisterung geriet. Der selbst­ ernannte Kunstkritiker bezieht offenbar Stellung in den zeitgenössi­ schen Debatten um die Bedeutung der Affekte und ihre angemessene Darstellung auf der Bühne. Von der Sache her schließt er sich Lessings Tadel der affektierten Manier in der Hamburgischen Dramaturgie (1767) an und spricht sich für einen natürlichen Schauspielstil aus, der sich nicht an der gezierten Manier des Hofes, sondern am bürgerlichen Leben orientiert. Darüber hinaus stehen dabei auch die kunstpoliti­ 11 12 13

Theodor 70 (21828 I, 92). Theodor 71 (21828 I, 93). Theodor 71 (21828 I, 94).

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Markus Buntfuß

schen Auseinandersetzungen um eine deutsche Schauspielkunst im Hintergrund, die sich nicht mehr am französischen Ideal messen lassen will. Den Standpunkt der frommen Aufklärung schließlich vertritt ein junger Geistlicher. Er wirft dem Dichter, der damals zugleich als Professor für Geschichte an der Universität Jena lehrte, historische Unredlichkeit vor. Der junge Prediger bezweifelt, dass die Figur der Johanna überzeugend dargestellt werden könne, »da der ganze Charakter erlogen sey; Schiller habe sehr Unrecht daran gethan, daß er eine Betrügerin, was die Johanna unstreitig gewesen, zur tragischen Heldin gewählt habe; bei Shakespeare sey sie richtig als Hexe gefaßt, und Schiller habe sie nur dem wiedererwachenden Aber- und Wun­ der-Glauben zu Liebe so umgewandelt«.14 Der aufgeklärte Protestant kritisiert Schillers Abweichen von den Maßstäben des Historiendra­ mas zugunsten seines literarischen Experiments, mit dem er dem romantischen Zeitgeist entgegenkommen wollte, indem er die Figur der Johanna mit der Aura des Wunderbaren und Mysteriösen umgab. Anbiederung an den Zeitgeist wird dem Dichter von dem Jünger eines vernünftigen Christentums vorgeworfen. Dabei verbinden sich protestantisches Geschichtsbewusstsein mit aufklärerischer Kritik am Wunderhaften und einem konfessionellen Vorbehalt gegenüber der romantischen Affinität zum Katholizismus, die mit dem Stichwort ›Aber- und Wunder-Glauben‹ abgerufen wird. Der dem verständigen Nützlichkeitsdenken verpflichtete Haus­ herr stößt deshalb in das gleiche Horn: »In unsern aufgeklärten Zeiten solche Narrheiten auf dem Theater vor­ gestellt zu sehen, empört. Ist es nicht närrisch, daß ein halb verrücktes Mädchen, welche Visionen der Jungfrau Maria träumt, vor dem König und Erzbischof weissagt, als Gottgesandte von ihnen erkannt wird, und Thaten verrichtet, welche keiner der Helden verrichten konnte?«15

In aufgeklärten und gebildeten bürgerlichen Kreisen stößt Schillers Experiment, das selbst einem Bedürfnis der Zeit nach dem Rätsel­ haften und Geheimnisvollen entgegenkommen will, auf Ablehnung – zumindest nach De Wettes Darstellung. Das wird auch an der schwachen Verteidigung deutlich, die Schillers Interpretation der Jeanne dʼArc durch eine ältliche Dame erfährt, »von welcher man 14 15

Theodor 72 (21828 I, 94). Theodor 72 (21828 I, 94).

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De Wettes Religionsästhetik im Theodor-Roman

glaubte, daß sie mit den Herrnhutern in Verbindung stehe«.16 Sie fragt, warum es nicht wahr sein könne, was im Stück gezeigt werde, »in der Bibel werden ja ganz ähnliche Dinge erzählt. Der Geist Gottes kommt über Propheten und Helden, und sie weissagen und verrichten außerordentliche Thaten«.17 Dass es sich bei dieser naiven Plausibili­ sierungsstrategie mit den Mitteln des biblischen Wunderglaubens um keine ernstzunehmende Wiederlegung der vorgebrachten Einwände handelt, geht aus De Wettes Darstellung somit überdeutlich hervor. Aber was denkt Theodor? Wie hat er die Aufführung erlebt und wie beurteilt er sie? Geschickt komponiert De Wette in seiner Dar­ stellung von Theodors Reaktion die Motive einer religionsähnlichen Durchbruchserfahrung im Medium der Kunst wie sie beispielsweise in den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders von Wackenroder und Tieck stilbildend für die Frühromantik versammelt worden waren. Unter dem unmittelbaren Eindruck der Aufführung fehlen Theodor zunächst die Worte. Er kann seiner Freundin Therese, »die Empfindungen seines Herzens nicht mittheilen«,18 denn »eine gewisse Scheu hielt ihn davon zurück«.19 Er beteiligt sich zwar an den Gesprächen der Gesellschaft und widerspricht den oberflächlichen Urteilen der Anwesenden, aber seine eigene Stellungnahme bildet sich erst allmählich aus den erlebten Eindrücken, den verschiedenen Gesprächsbeiträgen sowie dem Ringen um ein eigenes Verständnis und einen angemessenen sprachlichen Ausdruck. Den Auslöser für die eigene Positionierung liefert schließlich der rationalistische Predi­ ger, der jede Berufung auf übernatürliche Eingebungen und göttliche Offenbarungen wie sie die Johanna für sich in Anspruch nimmt, strikt ablehnt. Hatte Theodor in der Schule Kants bisher die gleiche Überzeugung vertreten, so stößt ihn das absprechende Urteil des Predigers jetzt ab. »In diesem Augenblicke ging, wie mit Einem Schlage, eine gänzliche Umwandelung seiner Ansicht vor«.20 Theodor macht sich zum Anwalt des höheren geistigen Gehalts hinter der dargestellten Gestalt der Johanna, die sich in Schillers Bearbeitung auf Eingebungen durch die Jungfrau Maria beruft. Der augenscheinliche Aberglaube 16 17 18 19 20

Theodor 72 (21828 I, 95). Theodor 72 (21828 I, 95). Theodor 70 (21828 I, 92). Theodor 70 (21828 I, 92). Theodor 73 (21828 I, 96).

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dürfe nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie wirklich ›ein höherer Geist‹ erfüllte: »Ihre reine, demüthige Seele, dem Irdischen abgewandt, in träumende Beschauung verloren, ward von dem göttlichen Funken, der in jedem Menschengemüth schlummert, den wir aber von Leidenschaften und irdischen Gedanken nur zu oft unterdrücken lassen, entzündet; sie gab sich der höheren Macht, die sie bewegte, gehorsam hin; eine überna­ türliche Kraft erfüllte sie, ein reineres Licht durchstrahlte ihren Geist: und so wußte sie die irdischen Verhältnisse, welche auch die Klügsten und Tapfersten verwirrten und überwanden, mit sicherem Blick zu durchschauen, und mit übermenschlicher Kraft zu beherrschen«.21

Durch den Vorwurf des Mystizismus seitens des aufgeklärten Geist­ lichen sowie durch die Abneigung seiner Freundin Therese gegen diesen düsteren Mystizismus veranlasst, verteidigt Theodor sogar diesen und bemerkt: »der wahre Mysticismus hat auch eine heitere und freudige Seite; alles Leben ist in seiner Tiefe und Innerlichkeit mystisch, und ergießt sich, aus verborgener Quelle; nicht nur die Religion hat ihren Mysticismus, auch die Kunst und Dichtung, und selbst die Liebe«.22

Theodor schwingt sich also zum Anwalt einer ›höheren Betrachtung‹ der Jungfrau von Orleans auf, die den ideellen Gehalt herausstreicht und den romantischen Zug ins Übernatürliche im Sinne der neueren Kunstbegeisterung würdigt, die ihm durch seinen Freund Sebald, der als Anhänger Schellings und der beiden Schlegels geschildert wird, vermittelt wurde. Auf dieses Initiationserlebnis mit der Kunst und dem Versuch einer angemessenen Deutung aus einer christlich-religiösen Perspek­ tive, folgen weitere Kunsterlebnisse und Kunstbeurteilungen im ersten Teil des Romans, die die Gestalt erster Annäherungen und tastender Urteilsbildungen haben. Bis Theodor schließlich dem philo­ sophischen System des Professors A. alias Fries nähertritt und sich intensiv mit dessen Religionstheorie und Ästhetik beschäftigt. Dem Erzähler zufolge fasste Professor A. die Ästhetik »in einem höhern Sinne, als Andere bisher gethan hatten«,23 denn er »betrachtete sie in der engsten Verbindung mit der Sittlichkeit und Religion, und das 21 22 23

Theodor 73 (21828 I, 96f). Theodor 75 (21828 I, 98f). Theodor 172 (21828 I, 223).

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De Wettes Religionsästhetik im Theodor-Roman

Gute war nach seiner Ansicht mit dem Schönen innig verwandt«.24 Aufgrund des Zusammenhanges zwischen dem Schönen und dem Guten haben die Künste eine entsprechend Funktion als Erziehungs­ mittel zur Sittlichkeit, die ihre Basis wiederum in dem jeweiligen Nationalcharakter hat. »Da ihm das höchste Schöne nur die verklärende und vollendende Darstellung des Sittlichguten war, und da alle Sittlichkeit in der Eigen­ thümlichkeit eines Volkes seine Wurzel hat: so ist von selbst klar, daß ihm alle wahre Kunst und Dichtung volksthümlich seyn mußte«.25

Der Komplementarität zwischen Ethik und Ästhetik entspricht dieje­ nige zwischen Religiosität und Affektivität. »Die Religion lebt im Gefühle: nur unvollkommen, in endlichem Maße, geht dieses Gefühl in die sittliche Handlung ein; noch weniger wird es vom Gedanken und Begriffe gefaßt und ausgesprochen: es bleibt daher nur die dichterische und künstlerische Darstellung, als die allein angemessene, übrig. Nicht als wenn das Ewige und Über­ schwängliche, welches der Gegenstand der Religion ist, durch die Dichtung und Kunst verwirklicht werden könnte: ihre Darstellungen sind immer bloß Bilder und Andeutungen, aber als solche hinreichend, das Gefühl anzuregen und zu befriedigen. Eigentlich ist jedes höhere Gedicht und Kunstwerk ein religiöses Symbol, indem es den Geist, der die Welt trägt und erhält, oder die ewige Weltordnung versinnbildet; es ist eine Welt im Kleinen, ein Bild ihrer Schönheit und Harmonie«.26

Weil Religion nicht im Wissen von Tatsachen und nicht im Glauben an Ideale, sondern in intuitiven Ahndungen beruht, die sich der sinn­ lichen Anschauung bedienen, ist Religion auf die symbolischen Dar­ stellungsmittel der Kunst angewiesen: »Künstlerische, ästhetische Symbolik ist die sicherste und höchste Darstellungs- und Mitthei­ lungsart der Religion«.27 Nachdem sich Theodor voller Begeisterung auf die ästhetische Ansicht der Religion gestürzt hatte und erst durch seinen weniger spekulativ veranlagten als vielmehr philolo­ gisch-historisch denkenden Jugendfreund Johannes von der Einseitig­ keit seiner Sichtweise überzeugt werden muss, um zu einem dem Christentum angemessenen Verständnis des Beitrages der Ästhetik und der Künste zu gelangen, entwickelt Theodor in der Folge ein 24 25 26 27

Ebd. Theodor 178 (11822 I, 323). Theodor 178f (11822 I, 324f). Theodor 134 (21828 I, 174).

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eigenständiges und theoretisch begründetes Verständnis der Kunst und ihrer Bedeutung für die Religion sowie insbesondere auch für das protestantische Christentum. Der zweite Teil des Romans ist vielfach mit Fragen des Schönen und der angemessenen Form in Kunst und Religion befasst. Eine besondere christlich-religiöse Funktion kommt dabei abermals der Schauspielkunst zu. Theodors diesbezügliche Bildungsgeschichte gip­ felt am Ende des zweiten Romanteils in einem Aufsatz über den Geist der christlichen Tragödie, der seine zentralen Gedanken nicht nur aus Fries Religionstheorie, sondern auch aus Schillers Dramentheorie bezieht. Geht es Schiller etwa in den Kallias-Briefen (1793) um die Analogie des Schönen mit dem Guten, wenn er das Schöne als Freiheit in der Erscheinung und Darstellung der Freiheit bestimmt, so begreift auch Theodor die christliche Idee des Schönen »als die Erscheinung und Darstellung des Guten«.28 Vor dem Hintergrund dieser Strukturanalogie von Ethik und Ästhetik kreisen die Besprechungen der zeitgenössischen dramati­ schen Werke um die Begriffe ›Leben‹, ›Moral‹ und ›Sittlichkeit‹. Dabei wird der Tragödie zwar – wie der Kunst überhaupt – jede unmittelbare moralische Abzweckung abgesprochen, zugleich jedoch eine eminent sittliche Bedeutung zuerkannt. Den Unterschied zwischen Moral und Sittlichkeit im Medium der ästhetischen Darstellung verdeut­ licht Theodor anhand der Werke Ifflands und Kotzebues einerseits sowie Schillers und Goethes andererseits. Den beiden prominentes­ ten Autoren des zeitgenössischen Lustspiels wird vorgeworfen, ihre kontrastierende Schwarz-Weiß-Darstellung ziele nur auf einen ober­ flächlichen Effekt der Rührung und beabsichtige unter der Hand nichts anderes, als moralische Belehrung. In Bezug auf die Hagestolzen von Iffland resümiert Theodor etwa: »Auf eine gleichmäßige Befriedigung des Gefühls, auf ein harmoni­ sches Zusammenstimmen aller Theile ist das ganze Stück nicht ange­ legt, sondern vielmehr auf Gegensätze. Und damit hat der Dichter nichts beabsichtigt, als die Lehre einzuprägen, daß die Ehelosigkeit die Menschen verhärte und unglücklich mache. Er wollte Sittenlehrer, nicht Dichter seyn«.29

28 29

Theodor 496 (11822 II, 511/21828 II, 360). Theodor 118 (21828 I, 154).

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De Wettes Religionsästhetik im Theodor-Roman

Die Aufgabe der Dichtung sei demgegenüber nicht Belehrung, son­ dern Beschreibung und Darstellung des Lebens: »Das Leben soll der Dichter erfassen und schildern, und zwar immer in seiner innern Tiefe und Eigenthümlichkeit, nicht in bloß äußerli­ chen Beziehungen«30

Aufgabe der dramatischen Dichtung sei nicht die getreue Abbildung der Wirklichkeit, geschweige deren moralische Reglementierung, sondern die Deutung des Lebens vor dem Hintergrund der sittlichreligiösen Ideen. Der Dichter soll »das Leben nicht in den beengenden Schranken der alltäglichen Wirklichkeit, sondern in einem höhern Lichte zeigen«.31 Der Gehalt des Lebens aber resultiert aus den Zwecken, Handlungen und Strebungen, auf die es gerichtet ist. Dabei sind die Zwecke von den Arten ihrer Verfolgung zu unterscheiden. Die Sittlichkeit einer Handlung bemisst sich zum einen an den Gesinnun­ gen und Absichten, zum anderen an den Wegen, sie zu realisieren, wobei die Größe des Zwecks und die Festigkeit des Charakters, mit dem er verfolgt wird, über den sittlichen, religiösen und ästhetischen Wert eines Schauspiels entscheiden. Damit sind wesentliche Kriterien für De Wettes Auffassung von humaner ›Sittlichkeit‹ umrissen und in diesem Sinne kann er Theodor fordern lassen, dass jede Dichtung vom Geist der Sittlichkeit belebt sein soll. Zur Erläuterung wird auf Goethes Egmont verwiesen, da dieser kein reiner und einfacher, sondern ein gemischter und komplexer, d. h. ein authentischer und natürlicher Charakter sei: »er ist, was er ist, wie ihn die Natur erschaffen, nicht wie ihn die befangene Foderung eines Menschen nach irgend einer Regel gemodelt hat«.32 Goethes Dichtung entspricht damit der Forderung Schillers nach Schönheit als »Natur in der Kunstmäßigkeit«,33 die er als dasjenige bestimmt hatte, »was sich selber die Regel gibt – was durch seine eigene Regel ist«.34 In diesem Sinne könne der Egmont sogar pars pro toto für Goethes Werk stehen: »An Göthe mag man überhaupt lernen, wie man sittlich, aber nicht moralisirend dichten soll«,35 denn in seinen Theodor 119 (11822 I, 211). Ebd. 32 Theodor 125 (11822 I, 222). 33 Schiller, Friedrich: Kallias oder über die Schönheit. Briefe an Gottfried Körner, in: Ders.: Werke in drei Bänden, hrsg. v. Herbert G. Göpfert, München 1966, Bd. 2, 365. 34 Ebd. 35 Theodor 125 (11822 I, 222). 30 31

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Stücken »athmet alles den höchsten sittlichen Geist, ohne dass man eine Moral mit nach Hause nehmen könnte«.36 Nicht die moralische Belehrung, sondern die lebendige Darstellung ist es, worin sich die Sittlichkeit eines Schauspiels erweist. Die eigentlich religiös-ästhetische Aufgabe für den Tragödien­ dichter stellt sich für De Wette, ebenso wie für Schiller, aber erst dort, wo infolge der dramatischen Handlung die Zwecke der einzelnen Akteure miteinander kollidieren, was im Einzelfall zwar als zweckmä­ ßig erscheint, aber aufs Ganze gesehen ein Bild der Zweckwidrigkeit ergibt. Dann obliegt es dem Dichter, in ästhetischer Form den Wider­ spruch zu lösen und das Ideal mit dem Leben zu versöhnen. Das ästhetische Mittel, mit dem der Künstler die widerstreitenden Kräfte sowohl darzustellen als auch zu versöhnen habe, erkennt Theodor mit Schiller in der Idee des Erhabenen. »Das Erhabene ist das Element der Tragödie, das Erhabene des Charak­ ters im Handeln und Leiden, das Erhabene des Schicksals in seiner unerschütterlichen Nothwendigkeit; und erhaben soll auch das Gefühl seyn, in welchem sich der Zwiespalt zum Einklange auflöst«.37

Die eigentümliche Dialektik des Erhabenen besteht nämlich darin, im Betrachter die Gefühle von Furcht, Schmerz und Trauer zu erwecken, um ihm zugleich seine geistige Freiheit bewusst zu machen, mit der er sich über seine Abhängigkeit und Endlichkeit zu erheben vermag. »Diese Demuth und Erhabenheit des Geistes, durch welche wir von Furcht und Schmerz frei werden, ist das Gefühl der frommen Ergebung und Selbstverleugnung, welches der Dichter im Gemüth der Zuschauer erregen soll, um auf sie einen rein dichterischen Eindruck zu machen. Dieß Gefühl ist in seiner Tiefe und Reinheit christlich, und daher soll die Tragödie christlich seyn«.38

Was für Schiller, der keine christliche Erlösung mehr gelten lässt, nur in der Sphäre der Kunst noch möglich ist, erfährt durch De Wette eine Rechristianisierung, indem er das Erhabene mit dem Gefühl der »ächten tragischen Ergebung«39 identifiziert und diese als christ­ liche Demut deutet. Theodor unterscheidet deshalb auch zwischen der griechisch-heidnischen Tragödie und dem modernen christlichen 36 37 38 39

Theodor 125 (11822 I, 223). Theodor 500 (21828 II, 365). Theodor 500 (11822 II, 520). Theodor 495 (21828 II, 358).

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De Wettes Religionsästhetik im Theodor-Roman

Drama. Während jene nur »die stumme blinde Unterwerfung unter ein unausweichliches Schicksal«40 kennt, feiert dieses die freie Erge­ bung unter die göttliche Vorsehung. Theodor kann Schiller deshalb kritisieren, weil er in der Braut von Messina die griechische Tragödie nachahme und damit für eine Renaissance von »Schicksalstragödien« verantwortlich sei, »mit denen man uns seit einiger Zeit auf der Bühne langweilt«.41 Die dramatische Lösung der zeitgenössischen Tragödie dagegen soll entweder den Sieg des Helden darstellen – eine Lösung, die Theodor deshalb als sittlich bezeichnet, »weil darin die sittliche Geisteskraft die Auflösung des Widerstreites herbeiführt«,42 oder in dessen religiöser Ergebung münden, »wo die Lösung des Widerstrei­ tes in der Selbstverleugnung und Andacht oder in der Unterwerfung unter das Schicksal geschieht«.43 Als christlich dürfen beide Formen gelten, wenn das Schicksal nicht personifiziert in einem Orakel, einer Gottheit oder einer Hexe auftritt, sondern sich aus der inneren Logik der Handlung wie von selbst ergibt, weil eben darin die christliche Anschauung von der Vorsehung und Weltregierung zum Ausdruck komme. »Wir glauben mitten im Gedränge der endlichen Zweckwid­ rigkeit an eine ewige von Gott bewahrte Zweckmäßigkeit«.44 Theodor beschließt seine Betrachtungen über den Geist der christlichen Tra­ gödie deshalb mit einem Plädoyer für das sittlich-religiöse Drama, in dem sich die Idee der Begeisterung und Tugend mit der Idee der Ergebung mischt und das Gemüt des Publikums ergreift. »Möge uns der Himmel Dichter schenken, welche von Begeisterung für sittliche Ideale für die Vervollkommnung der Menschheit, für die sittlich-politische Verjüngung unseres Volks, erglühen und dafür zu entzünden wissen; welche der Dichtkunst die Weihe der Sittlichkeit und Frömmigkeit geben und die Bühne zur Schule der wahren Volksbil­ dung machen; möge es uns, mit einem Wort, christliche Dichter schen­ ken!«45

Ich habe versucht, die religiös-ästhetische Urteilsbildung Theodors am Beispiel der Schauspielkunst nachzuzeichnen und dabei deut­ 40 41 42 43 44 45

Theodor 500 (21828 II, 366). Theodor 494 (21828 II, 357). Theodor 501 (21828 II, 367). Ebd. Theodor 501 (21828 II, 366). Theodor 505 (21828 II, 373).

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Markus Buntfuß

lich zu machen, wie De Wette die religiösen und philosophischen sowie literarischen und künstlerischen Diskurse der Zeit in seinem Lehrroman verarbeitet, um in Gestalt seines Helden die eigene theologische Position zu plausibilisieren, die als ästhetische Religi­ onstheologie bezeichnet werden kann. Sie speist sich insbesondere aus Herders Sinn für den geschichtlichen Geist des Christentums sowie aus dem künstlerischen Formgefühl der Weimarer Klassik. Ihre religionstheoretische Begründung erfährt sie durch die Adaption der Kantisch-Friesʼschen Religionsphilosophie und der Schillerʼschen Kunsttheorie. De Wette verspricht sich von dieser Synthese aus Ästhetik und Religionstheologie nicht nur eine Erneuerung der Religion aus dem Geist der Kunst sondern auch eine Erneuerung der Kunst aus dem wiedererstarkten Geist des Christentums. Die religiöse, ästhetische und theologische Bildungsgeschichte Theodors schreitet deshalb konsequent von einer religiösen Deutung der Kunst weiter zur ästhetischen Deutung des Christentums, um schließlich in der Vision einer Rechristianisierung der Künste zu gipfeln.

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Vernunftglaube und Offenbarung Eine Spurensuche nach neuzeitlich-theologischen und philosophischen Theoriesträngen im Theodor

De Wette hat sich als Universaltheologe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur in den exegetischen Wissenschaften einen Namen gemacht, sondern sich auch in das Gebiet der Dogmatik und Ethik vorgewagt und dort publiziert.1 Sein Weg zum Bibelwissen­ schaftler, Religionsphilosophen, Dogmatiker und Ethiker vollzieht sich in intellektueller Zeitgenossenschaft mit Herder, Goethe und Schiller. Diese Zeitgenossenschaft hat nicht nur sein theologisches und religionsphilosophisches Denken beeinflusst, sondern sich auch auf literarischem Gebiet niedergeschlagen.2

Mathys, Hans-Peter/Seybold, Klaus (Hg.): Wilhelm Martin Leberecht De Wette. Ein Universaltheologe des 19. Jahrhunderts. Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel, Neue Folge 1, Basel 2001; siehe die dortige Bibliographie der Werke De Wettes, 146–148. Zum zeitgenössischen Kontext der Religionstheorie De Wettes vgl. Axt-Piscalar, Christine: De Wettes Religionstheorie, in: Mathys/Seybold (Hg.), De Wette, 108–126; Iff, Markus: Religionsphilosophie und Theologie. Rudolf Ottos Bezug auf Wilhelm Martin Leberecht De Wette, in: Lauster, Jörg/Schüz, Peter/Barth, Roderich/Danz, Christian (Hg.), Rudolf Otto. Theologie – Religionsphilosophie – Religionsgeschichte, Berlin/Boston 2013, 191–202, insbesondere: 191–195. Zu De Wette’s Ethik siehe Ohst, Martin: De Wette als theologischer Ethiker neben Schleierma­ cher, in: Theologische Zeitschrift 51 (1995), 151–173. 2 Die Klärung, in welchem Umfang sich De Wette von der Weimarer Klassik und ihren Vertretern bei der Durchdringung religionstheoretischer und fachtheologischer Fragestellungen heuristisch hat anregen lassen, bleibt auch nach der sorgfältigen und materialreichen Werkbiographie von J. W. Rogerson ein lohnendes Forschungsfeld. Rogerson, John W.: W. M. L. De Wette. Founder of Modern Biblical Criticism. An Intellectual Biography (Journal for the Study of the Old Testament, Supplement Series 126), Sheffield 1992. 1

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Markus Iff

Im Rückblick auf seinen Werdegang schreibt De Wette, er habe in einer »Semlerisch-Kantischen Schule«3 Theologie studiert, wobei er während seines Studiums in Jena ab 1799 auch Schelling und Hegel ebendort gehört hatte. Anlässlich der Hundertjahrfeier von Herders Geburtstag 1844 bezeichnet De Wette ihn als seinen wichtigsten Mentor und prognostiziert für die Theologie seiner Zeit, die Besin­ nung auf Herder sei »zeitgemäß und für unsre wieder im Zurücks­ inken zum alten Dogmatismus und zu einem neuen Rationalismus begriffene Theologie nicht ohne Nutzen«4. Die mit den Begriffen ›alter Dogmatismus‹ und ›neuer Rationa­ lismus‹ von De Wette analysierten und gekennzeichneten Problemla­ gen der Theologie seiner Zeit begegnen in der Vorrede zur zweiten Auflage des Theodor in der Bezeichnung: »Abwege«. De Wette formu­ liert dort: »Da Alles durch Gegensätze klarer wird, so wollte ich den Weg der theologischen Bildung, den ich für den richtigen halte, in der Mitte zwischen mehreren Abwegen, welche gerade unsrer Zeit eigen sind, hindurchführen. Diese sind: der einseitige, todte Rationalismus, der falsche Supranaturalismus, der krankhafte Misticismus und die Richtung zum Katholicismus, während der alte einfältige Glaube (im Freunde Theodors, Johannes) zwar nicht als das Wahre und Muster­ hafte, aber doch als etwas Ehrenwertes dargestellt wird.«5

De Wette strebt zeitlebens – verkürzt formuliert – eine Vermittlung zwischen rationalistischen und supranaturalistischen Konzeptionen und Prägungen von Theologie und christlichem Glauben an. Es geht ihm im Blick auf die Bibelwissenschaft wie auf die Glaubensund Sittenlehre darum, einen philosophischen Religionsbegriff zu bestimmen, über den – gleichsam als Propädeutik – die biblisch3 Staehlin, Ernst: Dewettiana. Forschungen und Texte zu Martin Leberecht de Wettes Leben und Werk. Studien zur Geschichte der Wissenschaft in Basel II, Basel 1956, 163. Damit dürfte er auch seine Lehrer in der Exegese: Johann Jakob Griesbach, Heinrich Eberhard Gottlob Paulus, den Göttinger Alttestamentler Johann Gottfried Eichhorn und seinen Jenaer Schüler Johann Philipp Gabler gemeint haben. Zum Auf­ kommen des Frühkantianismus und seiner Rezeption in Jena siehe: Hinske, Norbert/ Lange, Erhard/Schröpfer, Horst (Hg.): Der Aufbruch in den Neukantianismus. Der Frühkantianismus an der Universität Jena von 1785–1800 und seine Vorgeschichte (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung Abt. II Monografien Bd. 6), Stuttgart/Bad Cannstatt 1995. 4 Staehlin: Dewettiana, 184. 5 Theodor 5 (21828 I, VI).

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Vernunftglaube und Offenbarung

theologischen und dogmatischen Traditionsbestände des christlichen Glaubens mit dem Geistesleben der Zeit vermittelt werden können. Kennzeichnend für sein Vorgehen in der Religionsthematik ist eine bewusste Doppelung von kategorialem und geschichtlichem Zugang. Im Folgenden stehen zunächst Beobachtungen zur Rezeption und Interpretation von Kant und Schelling im Mittelpunkt, bevor die im Theodor erkennbaren Konturen der Religionstheorie De Wettes im Anschluss an Jakob Friedrich Fries genauer in den Blick genommen werden. Abschließend folgen einige Bemerkungen zur Religionstheo­ logie im Theodor und ihren Perspektiven.

1. Beobachtungen zur Rezeption und Interpretation von Kant und Schelling Der Romanheld Theodor sieht sich in seinem Theologiestudium und seinem Lebensweg unausweichlich in die Konfliktlinien zwischen rationalistischen und supranaturalistischen Konzeptionen der Theo­ logie und Prägungen des christlichen Glaubens gestellt. Diese kris­ tallisieren sich u.a. an der abstrakten Entgegensetzung oder einer wechselseitigen reduktionistischen Vereinnahmung von Vernunft und Offenbarung heraus, sodass sich die Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung nicht allein als theologisches, sondern auch religionsphilosophisches Kernthema für De Wette erweist. Im Theodor beinhalten und umfassen die Gesprächsgänge zu theologi­ schen und philosophischen Positionen neben »den Systemen Kants und Schellings«6 auch anthropologische und religionstheoretische Überlegungen von J. F. Fries, Fr. Schleiermacher und J. G. Herder. Auf diesem Weg lässt De Wette seinen Romanhelden zu theologischen Überzeugungen und Positionen finden, die es ihm ermöglichen, seine Zweifel zu überwinden und den Beruf des Dorfpfarrers zu ergreifen. Immanuel Kant hatte bekanntermaßen in seinen Kritiken zur reinen und praktischen Vernunft sowie seiner Religionsschrift die These aufgestellt, dass eine in der Moral fundierte Gotteslehre im Sinne einer Postulatenlehre die einzig mögliche Form wissenschaft­ licher Gotteslehre sei und die Religion in der praktischen Vernunft 6

Theodor 64 (21828 I, 84).

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gründen müsse.7 Diese »Kantische Lehre von der Gottheit, welche von der Vernunft gefordert werde, damit sie die Herrschaft der Tugend in der Welt herstelle und durch Glückseligkeit belohne, fiel wie ein Wetterstrahl in seine Seele, der das heilige Feuer der Andacht in ihr auslöschte, und eine grauenvolle Finsternis in ihr zurückließ«8 lesen wir im Theodor. Die Auseinandersetzung mit Kant richtet sich im Theodor auf Kants Annahme, dass sowohl der »Begriff von Gott« als auch »die Überzeugung von seinem Dasein« von der praktischen Vernunft »allein ausgehen und weder durch Eingebung, noch durch eine ertheilte Nachricht von noch so großer Autorität zuerst in uns kommen«9 kann. Zudem setzt sich De Wette im Theodor mit Kants These auseinander, die Moraltheologie sei die einzige Form rationaler Theologie und der Vernunftglaube der praktischen Vernunft müsse allem Glauben und jeder Offenbarung zu Grunde gelegt werden. Eine solche Verankerung der Religion in der Sittlichkeit impliziert, so De Wette, dass der Mensch »dadurch doch eigentlich auf sich selbst gewiesen [ist], und nur wenn er an sich selbst und an seine Tugend glaubt, glaubt er auch an Gott«10. De Wette problematisiert, dass Kant mit der Idee Gottes als einem notwendigen Postulat der Vernunft lediglich ein Gedankengebilde für Gott erklärt und die Vernunft den Gottesgedanken in ein bloßes Selbstgeschöpf ihres Denkens transformiert: »Auch ist dieser Glaube mehr erdacht und ein Werk des Verstandes als eine lebendige Kraft«11. So beinhaltet Kants Religionsbegriff für De Wette ein menschliches Erschließen und Postulieren, ein theoretisches Ergänzen der allein unmittelbar erfahrbaren sittlichen Weltordnung und nicht ein Erleben und Erfah­ ren von Gottesgemeinschaft. Diese Kritik an Kant weist unverkennbar eine Nähe zu Herders Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Kantianismus auf. In seiner 1799 in zwei Teilen erschienenen Schrift Metakritik hat Herder Kants schlusslogischen Gottesgedanken als

7 Vgl. dazu Nonnenmacher, Burkhard: Vernunft und Glaube bei Kant (Collegium Metaphysicum 20), Tübingen 2018, insbesondere: 201–220. 8 Theodor 19 (21828 I, 24). 9 Kant, Immanuel: Was heißt sich im Denken orientieren? (1786), Akademie-Ausgabe (AA) VIII, 142f. Die Kritik der reinen Vernunft wird wie üblich nach der Paginierung der A- und B-Ausgabe zitiert. 10 Theodor 129 (21828 I, 167). 11 Theodor 129 (21828 I, 166).

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Vernunftglaube und Offenbarung

»einer vernünftelnden Vernunft höchstes Operatum«12 kritisiert. Für De Wette ist religiöser Glaube eine praktische Beziehung zu einer Gottheit, die der Mensch als Kraft erlebt. Kants Gottesgedanke hinge­ gen zielt auf abstrakte Überweltlichkeit und erstickt damit förmlich das religiöse Leben, wie er an seinem Protagonisten Theodor vorführt: »Er fühlte sich so allein und trostlos mit seiner selbstständigen, sich selbst genugsamen Vernunft, gleich einem Kinde, das seinen Vater verloren hat […] Was konnte ihm jetzt das Gebet anders seyn, als ein Selbstgespräch, als ein Sammeln und Steigern der eigenen Gedan­ ken?«13

Scharfsichtig wird hier ein grundlegendes Dilemma in Kants Kon­ zeption des Vernunftglaubens analysiert.14 Entweder wird dieser als reiner praktischer Vernunftglaube, gegründet auf die Sittlichkeit, inhaltsleer und damit auch wirkungslos, sodass sich das einzelne Sub­ jekt nicht klarmachen kann, worin es des Trostes und der Hoffnung bedarf. Oder aber er setzt doch spekulative Sätze als wahre Sätze voraus und lässt dann im Blick auf die positiven Religionen gerade nicht das praktische Interesse des Vernunftglaubens die Grundlage der Religion sein, sondern Inhalte und Vorstellungen, die eigentlich im Kantischen Sinne ›spekulativ‹ sind. Die kritische Bezugnahme auf Kants moralphilosophische Grundlegung des Religionsbegriffs spitzt De Wette im Theodor in der Frage zu, wie die Maximen der moralischen Gesetzgebung an der Stelle des empirischen Subjekts konkretisiert werden können. Dies wird in der Rolle eines Universitätsfreundes Theodors ansichtig gemacht, »welchen er als einen begeisterten Anhänger der Kantischen Sittenlehre kannte«15. Dieser erkrankt bedrohlich, wobei »sich nicht verbergen [ließ], dass er an den Folgen geheimer Ausschweifungen litt.«16 Die Frage der Überführung der Allgemeinheit des Sittengeset­ zes an die Stelle des konkreten Individuums gelingt in De Wettes Augen nicht mittels der der praktischen Vernunft in ihrem Vollzug selbstevidenten Achtung für das Sittengesetz: »Die reine Achtung vor dem Gesetz ist ein hoher Gedanke und macht die Form der wahren 12 Herder, Johann G.: Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft (1799), Frankfurter Ausgabe Bd. 8, 507. 13 Theodor 20 (21828 I, 25). 14 Vgl. dazu Nonnenmacher: Vernunft und Glaube, 361–367. 15 Theodor 48 (21828 I, 63). 16 Theodor 48 (21828 I, 63).

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Sittlichkeit aus; aber für sich allein genommen ist dieser Gedanke leer, und der Gehalt der Sittlichkeit ist damit noch nicht gefasst«17. Während De Wette den Kantischen Gottesbegriff sowie die Begründung der Religion in der Moralphilosophie und deren Funk­ tionalisierung für die Zwecke der Sittlichkeit grundlegend in Frage stellt, nimmt er andere Überlegungen aus Kants Religionsphilosophie auf, beispielsweise den Begriff des Vernunftglaubens, der mit dem Offenbarungsbegriff der religiösen und theologischen Traditionen vermittelt werden muss. De Wettes bibelwissenschaftliche Arbeiten sind davon ebenso beeinflusst, wie seine kategorialen Bestimmungen zur Religion und ihrer geschichtlichen Erscheinungsformen. Kant hat in seiner Religionsschrift bekanntermaßen die Entgegensetzung von Vernunft und Offenbarung soweit aufzuheben versucht, dass der Inhalt der geoffenbarten Religion als »Introduction« zur »wahren Religion«18 des Vernunftglaubens begriffen werden kann. Zusam­ mengefasst findet sich diese Position bei Kant in der Metapher der konzentrischen Kreise, die der Vernunftreligion die engere und der Offenbarung die weitere Sphäre zuschreibt. Die Pointe von Kants Kreismetapher liegt darin, dass sie das auf der Bildebene benannte Inbegriffensein der Vernunftreligion im größeren Kreis der Offen­ barung auf der Begriffsebene genau ins Gegenteil verkehrt: Was secundum rationem erfasst und dargestellt werden kann, ist nicht nur eine Teilmenge der göttlichen Offenbarung, sondern allein das, was als »eigentliche Religion« gerechtfertigt werden kann und nicht bloßer »Religionswahn« ist.19 In diesem Zusammenhang ist es bekannter­ maßen eine der grundlegendsten Entscheidungen Kants, dass die als Kern aller Offenbarung ausgemachte Vernunftreligion keineswegs das Historische der sozusagen weiteren Sphäre der Offenbarung in sich schließt, und damit auch nicht das, was super rationem ist. Zudem trennt Kant die geschichtliche Entwicklung der Vernunft von ihrem vernünftigen Kern selbst ab. An dieser Stelle setzt die Kritik De Wettes an, da die konstitutive Bedeutung der genetischen Voraussetzungen der Vernunft in den Augen De Wettes bei Kant unzulässigerweise abgeblendet und der Zusammenhang von innerer Vernunft und äuße­ rem geschichtlichen Leben ausgeblendet ist. Theodor 127 (21828 I, 164). Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Akade­ mie-Ausgabe VI, 155. 19 Kant: Die Religion, AA VI, 168. 17

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Die Bezugnahme auf Schelling wird im Theodor durch die Figur des Freundes Sebald insbesondere im ersten Buch inszeniert,20 aber auch an anderen Stellen im Roman eingespielt, so beispielsweise im zweiten Buch auf der Wanderung auf den Rigi in der Schweiz und im Zusammenhang mit dem Bergsturz von Goldau. Die unterschied­ lichen Gespräche gestaltet De Wette als Interpretation und kritische Bezugnahme zur Natur- und Identitätsphilosophie Schellings, wobei eine Interferenz zwischen Freiheitslehre und Theorie des Absoluten in den Mittelpunkt der romanhaft inszenierten Schellinginterpretation gerät.21 In den Blick kommt einerseits die antitheologische Polemik des frühen Schelling, für den der Gedanke der menschlichen Freiheit im Sinne einer Selbstmacht neben und außer der Übermacht eines vorausgesetzten Gottes ebenso unvollziehbar ist, wie der Gottesge­ danke bei der Voraussetzung menschlicher Freiheit.22 Entweder, so argumentiert Schelling, man optiert für den Dogmatismus, der aus­ gehend von Gott als absolutem Objekt keine von ihm unabhängige Macht der Freiheit zulässt, oder man versucht einen Kritizismus zu erarbeiten, der – ausgehend von dem Autonomiegedanken – jede absolute Macht neben der Freiheit leugnet. In seiner Freiheitsschrift von 1809 vermerkt Schelling dazu: »Gibt es gegen diese Argumentation einen anderen Ausweg, als den Menschen mit seiner Freiheit, da sie im Gegensatz der Allmacht undenkbar ist, in das göttliche Wesen selbst zu retten, zu sagen, dass der Mensch nicht außer Gott, sondern in Gott sey, und daß seine Thätigkeit selbst mit zum Leben Gottes gehöre.«23

Theodor 45–51 (21828 I, 59–69). Zur Interferenz zwischen Freiheitslehre und Theorie des Absoluten in den frühen Schriften Schellings und seinem Bemühen, die Denkmöglichkeit einer Identität mit der objektiven Welt zur Sprache zu bringen vgl. Fukaya, Motokiyo: Anschauung des Absoluten in Schellings früher Philosophie (1794–1800), Epistemata Philosophie Bd. 426, 2006. 22 Zur Freiheitsschrift Schellings siehe Hennigfeld, Jochem: Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Frei­ heit, Darmstadt 2001. Hennigfeld arbeitet luzide Schellings umfassende Theorie des Lebens heraus, das als Wirkzusammenhang gegensätzlicher Willenskräfte verstanden wird, und inwiefern es Schelling gelingt, Freiheit im Zusammenhang eines absoluten Systems begreiflich zu machen. 23 Schelling, Friedrich W. J.: Philosophische Untersuchungen über das Wesen menschlicher Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände. Freiheitsschrift, in: Ders., Sämtliche Werke, hg. von Schelling, K.F.A., 1. Abteilung: 10 Bde. (=SW 20 21

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Schellings Anspruch ist, das »Gefühl der Freiheit« so auf den Begriff zu bringen, dass es im »Zusammenhang mit dem Ganzen einer wissenschaftlichen Weltansicht« Gültigkeit beanspruchen kann.24 Eine solche Vereinbarkeit von Freiheit und »wissenschaftlicher Welt­ ansicht« erfordert, dass menschliche – und damit ihrem Wesen nach endliche – Freiheit mit den göttlichen Allprädikaten Allmacht und Allwissenheit bzw. der allgemeinen Vorsehung vereinbar ist. Im Blick auf diese Annahme eines theologischen Kompatibilismus sowie Schellings Theorie des Absoluten als absoluter Identität, als vollkom­ mene Einheit von Subjekt und Objekt, von Begriff und Sein, in dem alle Duale immer schon verschwunden sind, moniert De Wette, dass es in einer solchen Theorie der Einheit der Wirklichkeit schwerfalle, das Hervortreten des Unterschiedes und der Vereinzelung aus der differenzlosen Einheit zu begreifen. Dazu vermerkt er im Theodor: »Er entdeckte […], dass ihr [der Naturphilosophie Schellings, M. I.] die wahre Idee Gottes und der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele verloren gehe«25. Neben der Idee der Unsterblichkeit werden auch die Ideen der Freiheit und der Unterscheidung von Gutem und Bösem aus De Wettes Sicht in Schellings Philosophie obsolet: »Was Theodoren am meisten gegen diese Philosophie einnahm, war die Einsicht in die Unmöglichkeit, auf ihren Grundsätzen eine Sitten­ lehre aufzuführen«26.

De Wette versucht in theologischer Perspektive durch den trinitari­ schen Gottesbegriff Schellings Theorie des Absoluten zu unterlaufen und das Ganze und das Einzelne in seiner Unauflösbarkeit als je irreduzible Größen miteinander zu verschränken: »Denn das ist der wahre Pantheismus, überall, in allem Lebendigen, eine göttliche Urkraft zu ahnen, welche alle endlichen Kräfte trägt und bewegt«27. Gott und Welt dürfen nicht einfach auseinander und auch nicht ineinander fallen, darin sieht er die unfruchtbare Alternative einer theistisch-dualistischen oder einer pantheistischen Theoriekonzep­

I–X), 2. Abteilung: 4 Bde. (= SW XI–XIV), Stuttgart/Augsburg 1856ff., hier: SW VII, 339f. 24 Schelling: Freiheitsschrift, SW VII, 336. 25 Theodor 49 (21828 I, 66). 26 Theodor 50 (21828 I, 66). 27 Theodor 296 (21828 II, 94).

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tion. Daher lässt er Theodor sagen: »Musst Du Dir nicht Gott eben so wohl in als über der Welt denken?«28

2. Konturen zur Religionstheorie im Anschluss an Jakob Friedrich Fries Die Konturen der Religionstheorie De Wettes29 werden im Theodor durch die Figur des Professor A expliziert, bei dem es sich bekannter­ maßen um den Philosophen, Naturwissenschaftler und Mathemati­ ker Jakob Friedrich Fries (1773–1843) handelt.30 Dazu lässt De Wette den Theodor vermerken: »Das System dieses Philosophen schien ihm zwischen den Kantischen und dem Schellingschen mitten inne zu stehen, und beide zu vereinigen.«31 Für die Konturen der Religions­ theorie nicht unerheblich ist, dass Wette Schleiermachers Reden über die Religion »in die Hände [fallen, M. I.], deren Grundgedanke es ist, die Religion in ihrer Selbstständigkeit und Unabhängigkeit, und Theodor 347 (21828 II, 162). De Wette expliziert seine Religionstheorie insbesondere in seinem Werk: Ueber Religion und Theologie. Erläuterungen zu seinem Lehrbuch der Dogmatik (1815), Berlin 2 1821, 1–152. Wesentliche Grundlagen seiner Überlegungen finden sich zudem in: Rezension von: F. D. E. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, in: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung Nr. 131, 5. Juni 1807, Sp. 433–440 u. Nr. 132, 6. Juni 1807, 441–448 sowie in seinem bemerkenswerten Auf­ satz: Eine Idee über das Studium der Theologie (1801), dem Drucke übergeben und mit einer Vorrede begleitet von Adolf Stieren, Leipzig 1850, den er 1801 im vierten Semester seines Theologiestudiums verfasste. Zur Religionstheorie De Wettes vgl. Buntfuss, Markus: Die Erscheinungsform des Christentums. Zur ästhetischen Neuge­ staltung der Religionstheologie bei Herder, Wackenroder und De Wette (Arbeiten zur Kirchengeschichte, Bd. 89), Berlin/New York 2004, 174–218; Iff, Markus: Religi­ onsphilosophie und Theologie. Rudolf Ottos Bezug auf Wilhelm Martin Leberecht de Wette, in: Jörg Lauster/Peter Schüz/Roderich Barth/Christian Danz (Hg.): Rudolf Otto. Theologie – Religionsphilosophie – Religionsgeschichte, Berlin/Boston: 2013, 191–202. 30 Fries studierte und promovierte als Kant-Schüler bei Fichte in Jena und war später ordentlicher Professor für Philosophie, Mathematik und Physik in Heidelberg und Jena. Im zweiten Teil seiner Philosophiegeschichte von 1840 stellt er sich selbst als den einzig sachgerecht urteilenden Kantinaner dar. Vgl. Fries, Jakob Friedrich: Die Geschichte der Philosophie Bd. 2 (1840), in: Ders.: Sämtliche Schriften Bd. 19, hg. v. König, Gert, Aalen 1969, 590–632. Dieser Abschnitt bietet eine Selbstdarstellung der Grundzüge seiner Philosophie. 31 Theodor 129 (21828 I, 167). 28

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doch zugleich in ihrer Gemeinschaft mit den anderen Gebieten des geistigen Lebens darzustellen. Noch nie hatte ein Buch einen solchen Eindruck auf unsern Freund gemacht, wie dieses; er las es mehrmals hinter einander durch, um die Menge von Ideen zu fassen, welche es in ihm anregte«32. Der Religionsbegriff wird von De Wette im Theodor kategorialanthropologisch als notwendige und eigentümliche Überzeugungs­ weise im menschlichen Geist bestimmt, wobei die Religion »im Gefühl ruht, aus welchem sich die Erkenntnis mit dem Wissen und die Sittlichkeit mit dem Handeln und der Kunst entwickeln, und dass sie die Einheit von allem in sich schließt«33. Mit Fries stimmt er überein, dass Schleiermachers Religionsbegriff in den Reden »der bestimmte Gedanke, was das Universum, das Unendliche, der Weltgeist, oder wie sonst der Gegenstand der Religion genannt wird, eigentlich sey«34, fehle. Gegenüber einem formlosen Universum bestimmt De Wette »die ewige Einheit und Zweckmäßigkeit der Dinge«35 als Gehalt der Religion. Er verschränkt also über diese religiösen Grundbestim­ mungen und Vernunftideen als Gehalt der Religion, Sittlichkeit und Wissenschaft mit derselben. »Die Spitzen der Wissenschaft und Sittlichkeit laufen in sie zusammen; von jener gehört zu ihr die Lehre von der Unsterblichkeit, der Freiheit und Gottheit, als der höchsten Einheit der Dinge; von dieser aber entlehnt sie die Idee eines sittlichen Reiches, eines Reiches der Liebe, das sie von den endlichen Schranken befreit und in das ewige Seyn der Dinge setzt.«36

In ihrer Unmittelbarkeit ist die Religion mit allen geistigen Tätigkei­ ten des Menschen verbunden und zugleich »gebührt ihr auch ein besonderes Gebiet«37. Grundlage für diese religionstheoretischen Überlegungen ist die Philosophie von Fries, wie dieser sie u.a. in seinem Werk Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft38 vorgelegt hatte. Sie versteht sich als Fortführung der Philosophie Kants mit der Modifikation, dass er 32 33 34 35 36 37 38

Theodor 129 (21828 I, 167). Theodor 130f. (21828 I, 169). Theodor 131 (21828 I, 170). Theodor 131 (21828 I, 170). Theodor 131 (21828 I, 170). Theodor 132 (21828 I, 172). Fries, Jakob Friedrich: Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft, Jena 1807.

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keine transzendentallogische Beweisführung zur kritischen Begren­ zung und Begründung des Wissens der Vernunft vorlegt, sondern eine Art phänomenologische Beschreibung menschlicher Überzeugungs­ weisen, die er in Wissen, Glauben und Ahnen unterscheidet.39 Unsere Anschauungsformen, Verstandesbegriffe und auch die Vernunftideen sind zu unterscheiden von dem Ding an sich als Inbegriff der Wirklichkeit, auf die sie sich zwar beziehen, aber nicht zugreifen können. Dies gilt sowohl für die endlichkeitsbezogenen und irrtumsanfälligen Konstruktionen des Verstandes als auch für die unendlichkeitsträchtigen Entwürfe und Ideen der Vernunft. Für Fries bedeutet die Einschränkung auf diesen subjektiven Standpunkt aber keineswegs eine Isolierung in einer leeren Subjektivität ohne eigent­ lichen Realitätsbezug.40 Zwar können wir nicht beweisen, dass die Gegenstände unserer Erkenntnis an sich sind, allerdings auch nicht das Gegenteil. Dafür, dass wir es mit Erscheinungen und nicht Schein zu tun haben, spricht aber die Möglichkeit, dass wir der gesamten Sinnenwelt noch die Idee des Ewigen entgegensetzen können. Der positive Zugang zur Welt der Dinge an sich ist nicht das Wissen, sondern der Glaube. Fries geht es wie Friedrich H. Jacobi (1715–1788) um den Übergang vom Wissen zum Glauben, den er aber nicht wie Jacobi als salto mortale konzipiert.41 Der Glaube an die Ideen Gott, Unsterblichkeit und Freiheit ist vernünftig, insofern die Vernunft die in Kants Antinomienlehre aufgezeigte Beschränktheit der menschlichen Naturerkenntnis negiert, also eine Negation der Negation vollzieht. Der Glaube kann sich also nicht wie das Wissen auf eine Anschauung – die sinnliche Wahrnehmung oder die reine der Mathematik – stützen. Er hat nur die Ideen der Vernunft selbst zur Grundlage, die allerdings nicht allein der Selbsttätigkeit der Vernunft entspringen, sondern von ihr vernommen werden. Die menschliche Fries, Jakob Friedrich: Über das Verhältnis der empirischen Psychologie zur Meta­ physik (1798), in: Ders., Sämtliche Schriften Bd. 2, hg. von König, Gert/Geldsetzer, Ludwig, Aalen 1982, 251–297. 40 Vgl. dazu Bonsiepen, Wolfgang: Die Begründung einer Naturphilosophie bei Kant, Schelling, Fries und Hegel. Mathematische versus spekulative Naturphilosophie, Frankfurt am Main 1997, 329f. 41 Zur Denkfigur des salto mortale bei Jacobi siehe Jaeschke, Wolfgang: Eine Ver­ nunft, welche nicht die Vernunft ist. Jacobis Kritik der Aufklärung, in: Ders./Sandkaulen, Birgit (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit, Studien zum achtzehnten Jahrhundert Bd. 29, Hamburg 2004, 199–216. Zur Verbin­ dung von Fries und Jacobi siehe Henke, Ernst L. Th.: Jakob Friedrich Fries. Aus seinem handschriftlichen Nachlass dargestellt, 2. Aufl. Berlin 1937, 24, 27f., 30, 34f. 39

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Vernunft ist mit einem intuitiv-unmittelbaren Wirklichkeitsbewusst­ sein ausgestattet. Ihr liegt gleichermaßen eine ursprüngliche Selbsttä­ tigkeit in der Ausbildung von Ideen wie ein untrügliches Vernehmen dieser Ideen als Gegebenem zugrunde. Darauf hebt De Wette im Theodor ab, wenn er formuliert: »Die Vernunft hat ihren Namen von Vernehmen: sie ist das Vermögen der Vernehmung … und zwar hat dieses Vernehmen eine doppelte Quelle: die eine sind die Sinne, welche uns die Anschauung der äußeren Welt liefern, die andere liegt in uns selbst; es ist die ursprüngliche Selbstthätigkeit unsres Geistes, welche durch die Sinnesanschauung aufgeregt wird.«42 Die Ideen Gott, Freiheit, Ewigkeit sind keine Höchstleistung der schließenden Vernunft, sie werden in der Vernunft auch nicht willkürlich entworfen, um dann an die Realität eines Phantoms zu glauben, sondern sie gehören zum Wesen der vernehmenden Vernunft und in ihnen spricht sich der Vernunftglaube aus. Der Glaube hat dem Wissen voraus, dass in ihm Ideen präsent sind, die das Wissen nicht erfasst, sofern dieses auf in Raum und Zeit gegebene Inhalte bezogen ist. Freilich greift es auf die Idee des Unbedingten aus und bedarf insofern einer ›supranaturalen‹ Ergänzung durch die im Glauben erfassten Ideen. Im Blick auf das Gegründetsein der Vernunft spricht De Wette von einer »ihr einwohnenden Offenbarung«, die der »unbedingte Grund oder Urquell« der Vernunft ist, »gleichsam die Sonne, aus wel­ cher alle Strahlen der Erkenntnis und des geistigen Lebens fließen«43. De Wette arbeitet hier mit einen Offenbarungsbegriff, der nicht als Zwei-Welten-Schnitt mit supranaturalistischen Denkfiguren operiert im Sinne von supranaturalen Eingriffen Gottes in die Naturkausalität. Er versteht Offenbarung zunächst als das intuitive Wahrnehmen, dass die Vernunft einen ihr vorausliegenden unbedingten Grund hat. Die der instrumentellen und vernehmenden Vernunft vorgeordnete Offenbarung dreht Kants Verhältnisbestimmung von Vernunftglau­ ben und Offenbarung um, wirft aber auch die Frage auf, ob De Wette hier nicht am Anschluss an Fries und Jacobi die Tradition des plotinischen nous heraufbeschwört. Freilich braucht die innere Offen­ barung für De Wette die »Anschauung der Natur und Welt, um zum Bewußtseyn zu kommen«44 im Sinne einer äußeren Offenbarung. Diese Doppelpoligkeit des Offenbarungsbegriffs ermöglicht es Wette, 42 43 44

Theodor 65 (21828 I, 86). Theodor 66 (21828 I, 87). Theodor 66 (21828 I, 87).

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Vernunftglaube und Offenbarung

Vernunftglaube und Geschichte in einen wechselseitigen Verweiszu­ sammenhang zu bringen und die Geschichte der Religionen auch als Offenbarungsgeschichte zu denken. Neben dem Wissen und dem Glauben gibt es für Fries eine dritte Überzeugungsweise des menschlichen Geistes, die »Ahndung«45. Sie vergegenwärtigt sich im Gefühl und wird in der Ästhetik und der Religion anschaulich. Sie ist gewissermaßen die Spiegelung der sub­ jektiv-anthropologischen Synthesis in das Objektiv-Gegenständliche – allerdings mit der Restriktion, dass es von dieser für die Wirklichkeit des Wirklichen einstehenden Bezugsdimension kein begriffliches Wissen vom Ewigen und Unendlichen gibt. Daher bedarf das Ahnen der Darstellung und Mitteilung durch religiös-ästhetische Symbole.

3. Zur Religionstheologie De Wettes Im Zusammenhang mit den Konturen zur Religionstheorie im Theodor lassen sich auch Grundzüge der Religionstheologie46 De Wettes erkennen, die er in seinem Werk: »Ueber Religion und Theo­ logie. Erläuterungen zu seinem Lehrbuch der Dogmatik« sozusagen lehrbuchgemäß entfaltet,47 und die abschließend kurz dargestellt und im Blick auf ihre Potentiale erörtert werden. Zusammengefasst gesagt, erweist sich die Religionstheologie de Wettes als komplexes Unterfangen, markant unterschiedliche und in Teilen gegenläufige neuzeitlich-philosophische und theologische Theoriestränge aufzu­ nehmen und umzuformen, um einen anthropologisch-kategorialen und geschichtlichen Zugang zum religiösen Glauben und der Rede von Gott zu bekommen. Dabei entgrenzt er rein transzendentallo­ gische und rein subjektivitätstheoretische Religionsbegründungen und sucht einen stärker elementaren, umfassend anthropologischen Zugang, die Eigenständigkeit Religion zu begründen. Für De Wette ist Religion Teil einer irreduziblen Bewusstseinsge­ stalt des Menschen im Dreiklang von Wissen, Glauben und Ahndung, 45 »Die Erkenntnis durch reines Gefühl nenne ich Ahndung des Ewigen im Endli­ chen.« Fries, Jakob Friedrich: Wissen, Glauben und Ahndung, Jena 1805, neu hg. v. Leonard Nelson, 2. Aufl. Göttingen 1931, 176. 46 Zum Folgenden vgl. Iff, Markus: Vernunftglaube und Wahrheitsgefühl. Zur Religi­ onstheologie W. M. L. de Wettes im Anschluss an J. F. Fries, in: Wort und Weisheit. Festschrift für Johannes von Lüpke zum 65. Geburtstag, hg. v. Kannemann, David/ Stümke, Volker, Leipzig 2016, 267–276. 47 De Wette: Religion und Theologie, 2. Aufl. 1821, 1–152.

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die er als notwendige gefühlsbasierte Überzeugung bestimmt. Die Religion ist zugleich eine praktische Beziehung zu einer Gottheit, die als heil- oder unheilspendende Kraft erlebt wird. Sie ist zudem die Bemühung um menschliche Welterschließung mit Vernunft und allen Sinnen und damit auf verschiedene Rationalitätsmodelle ange­ wiesen. Sie gründet sich nicht auf die Anschauungen der verständigen oder natürlichen Weltsicht, sondern auf die Ideen der idealen und die Gefühle der religiös-ästhetischen Weltsicht, wobei sie in der inneren Anschauung des menschlichen Geistes und in der Geschichte gleichermaßen ihre Verankerung hat. Sie ergänzt und vollendet das Leben, indem sie über das Endliche und Unvollkommene erhebt, und das Ewige und Vollkommene im Glauben und Gefühl erfahrbar macht. Was im Bereich des religiösen Apriori liegt und sich im Vernunftglauben ausspricht, Gottesidee und Freiheit, Unsterblichkeit und Teleologie, stellt das formale Gerüst dar, das erst in der Anwen­ dung auf den Reichtum religiöser Erscheinungen in der Geschichte seine Evidenz erhält. Die Eigenlogik der Religion geht nicht in argumentativen Satz­ formen und der Überzeugungskraft sittlicher Lebensformen auf. In der Gleichsetzung von Religion und Moral im Rationalismus, in der Überbietung der Religion durch Philosophie im Idealismus sowie in der Bestimmung als Vorstufe des Offenbarungsglaubens im Suprana­ turalismus, wird die Religion und mit ihr die Theologie in den Augen De Wettes unzulässig enggeführt. De Wette konzipiert einen anthropologisch-ästhetischen Religi­ onsbegriff, in den er den Gottesgedanken einzeichnet, den er in Form eines Gedankenkreises48 und nicht einer Begriffspyramide mit dem Weltbegriff und der Selbsterfahrung des endlichen Subjektes vermit­ telt. Religion ist ein einheitliches praktisches Ganzes der Lebensbe­ stimmung und -gesinnung, ein eigentümliches Grundverhältnis von Gott, Welt und Mensch. De Wette setzt im Blick auf den Gottesgedan­ ken nicht auf eine allgemeine Theorie des Absoluten, sondern auf konkrete Bestimmtheit. Damit folgt er einem Leitgedanken, den er in einem Satz seiner Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament (1806/07) formuliert hat:

48 Zur Denkform des Gedankenkreises im Unterschied zur Begriffspyramide vgl. Leisegang, Hans: Denkformen, Berlin 1828.

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Vernunftglaube und Offenbarung

»In der Religion herrscht immer das Individuelle und Bestimmte über das Allgemeine; ein Gott mit bestimmter Gestalt, mit individuellem Charakter und Namen wird mehr Glauben finden, als die allgemein fließende Idee eines unnennbaren, gestaltlosen höchsten Wesens.«49

Die unfruchtbare Alternative einer theistisch-dualistischen oder pan­ theistischen Theoriekonzeption unterläuft er durch eine kategoriale Differenz eines strikten Gottesgedankens gegenüber dem Weltgedan­ ken. Diese lässt weder eine schlichte Identifikation von Gott und Welt zu, noch eine Depotenzierung Gottes zu einem bloßen Analogon der Welt neben der Welt, der in diesem Fall entweder unableitbar in den Weltzusammenhang eingreift oder aber wie der Uhrmachergott der Welt gegenübersteht.50 Die Theologie hat die Aufgabe, in dialektischer Weise das phi­ losophische und historische Element der Religion aufeinander zu beziehen, da Geschichte und Natur – wie im Theodor vielfach ange­ deutet – keine selbstevidenten Offenbarungsquellen für eine religiöse Anschauung sind, sondern interpretationsbedürftige Medien dieser Anschauung. Insbesondere im Blick auf die religiöse und theologische Interpretation der Geschichte muss dabei deren Kontingenz einge­ zeichnet werden. Im Blick auf das Christentum als positiver Religion gilt es dabei dessen Eigenart zu beachten, die darin besteht, dass in ihm das Sym­ bolische und Ästhetische »in und mit dem Geschichtlichen gegeben, und mit dem Dogmatischen und Sittlichen innig verbunden ist«.51 Das religiöse Leben des Christentums verwirklicht sich in den drei Grund­ gefühlen von Begeisterung, Ergebung und Andacht, wobei sich De Wette die unterschiedliche Gewichtung dieser drei Gefühlsmomente auch für eine religionsgeschichtliche und konfessionstheologische Typologisierung zunutze macht.52 Im Blick auf die Interpretation der geschichtlichen Erscheinungs­ formen des Christentums kommt dem historischen Ursprung und den literarischen Quellen ein bleibender Stellenwert zu, da sich das Wesen De Wette, Wilhelm M. L.: Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament. 2 Bde., Halle 1806/1807, Nachdruck 2 Bde., hier: Bd. 1, Hildesheim 1971, 17. 50 Dazu: Theodor 347 (21828 II, 162): »Musst Du Dir nicht Gott eben so wohl in als auch über der Welt denken?«. 51 Theodor 189 (21828 I, 244). 52 Dazu Buntfuss, Markus: Begeisterung – Ergebung – Andacht. Zur Gefühlskultur des Christentums bei Fries und De Wette, in: Barth, Roderich/Zarnow, Christopher (Hg.), Theologie der Gefühle, Berlin/Boston 2015, 143–156. 49

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des Christentums nicht unabhängig von seinen literarischen Quellen bestimmen lässt. Freilich ist die christliche Glaubenslehre geschicht­ lich entstanden und muss daher auch »geschichtlich begriffen werden […] Die lebendige geschichtliche Auslegung der Schrift ist der einzige Weg, auf welchem man zur Wahrheit gelangt«.53

53

Theodor 367 (21828 II, 189).

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Daniel Weidner

»Ein Schutzgeist weiblicher Frömmigkeit« Religion und Geschlecht im Bildungsroman am Beispiel von de Wettes Theodor

Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Theodor oder des Zweiflers Weihe ist gleichzeitig ein Thesenroman und ein Grenzgänger. Ein Thesenroman, weil hier offensichtlich eine ganze Reihe von theologi­ schen, philosophischen, ästhetischen, politischen und pädagogischen Überlegungen in der Form des Romans entwickelt werden, insbe­ sondere in den zahlreichen und umfänglichen Dialogen, die einen Großteil des Buches ausmachen. Ein Grenzgänger, weil ein solcher Roman des Theologen zwar vielleicht gelesen worden ist, aber in der Kritik und Forschung kaum Aufmerksamkeit gefunden hat. Hat sich doch die Germanistik lange sehr wenig für religiöse Gehalte und die Theologie wenig für die Romanform interessiert – aber es ist gerade jener Gehalt in dieser Form, so der Kern der folgenden Überlegungen, die den Text interessant und eine Lektüre fruchtbar machen. Denn beide Fragen gehören zusammen: Es geht nicht darum, unabhängig vom Gehalt zu fragen, um was für eine Art von Roman es sich hier handelt, ob der Texte etwa die Kriterien dieser oder jener Romanform oder gar des literarischen Kanons ›erfüllt‹; ebensowenig wird gefragt, welche Art von Religiosität sich hier im Roman ›niederschlägt‹ oder ›ausdrückt‹. Zu diskutieren ist vielmehr, was es heißt, Religion zum Gegenstand eines Romans zu machen und inwiefern das sowohl diese Form als auch jenen Gegenstand tangiert. Fragt man nun, was den Theodor eigentlich zum Roman macht, so sind das zunächst ganz konventionell die Frauengeschichten. An seinem Anfang steht eine amouröse Verwicklung: Theodor studiert Theologie, um Landprediger zu werden, er kommt am Anfang des Romans in sein Heimatdorf zurück, hat sich allerdings von der Fröm­ migkeit seiner Kindheit etwas entfremdet. Eigentlich »in Zwiespalt

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mit sich selbst«1 gerät er aber erst durch eine Mitteilung seines Beglei­ ters Landeck: Theodor werde ja gemerkt haben, dass ihm Landecks Schwester Therese, der die Freunde auf der Hinreise begegnet waren, durchaus zugeneigt war, aber einen Landprediger würde sie niemals heiraten. Erst jetzt wird Theodor zum Zweifler, erst jetzt schwankt er zwischen seiner geplanten Berufung »und einer ihm erst jetzt klar gewordenen Abneigung vor dem geistlichen Stande nebst der damit sich verbindenden Liebe zu der schönen Therese«2. Von hier aus kann in der Folge auch rückblickend erzählt werden, wie diese Abneigung in seinem Studium entstanden ist und wie die Begegnung mit Therese in der Hauptstadt dazu beitrug, »unsern Freund in eine Art von geistigem Taumel zu versetzen, in welchem er sich selbst zu vergessen und zu verlieren Gefahr lief«.3 Dieses Vergessen und das Wiederfinden wird dann den Plot des Romans ausmachen, der zugleich eine religiöse Biographie und eine Geschichte verschiedener Frauen ist: neben Therese spielen dabei ihre Rolle auch die Mutter, die Theodor eigentlich zum geistlichen Stand bestimmte, die Schwester, die sich mit seinem Freund Landeck vermählt, aber unglücklich wird, schließlich auch und vor allem Hildegard, die Theodor schließlich heiraten wird und die ihn zu sich zurückführt. Diese Frauen verkörpern nicht nur jeweils verschiedene Formen von Weiblichkeit, die natürlich an sich konventionell sind, so dass es wenig interessant ist, sie zu rekonstruieren oder gar zu kritisieren. Sie haben auch eine wichtige Funktion und zwar sowohl für das Dargestellte wie für die Darstellung: für die Herausbildung der Per­ sönlichkeit des Protagonisten, für die Diskussion über Religion im Roman, und für die Form des Romans selbst. Die Frauen oder allge­ meiner: die Verteilung von Geschlechterrollen und die Gestaltung von Geschlechterverhältnissen sind ein wichtiges, wenn nicht das entscheidende Vermittlungsmoment, weil sie nicht nur die Roman­ handlung am Laufen halten, sondern auch eine wichtige Funktion für die religiöse Karriere des Protagonisten und damit auch für die Konsti­ tution und für die Darstellung von Individualität haben. Das wird im Folgenden nach einigen allgemeinen Bemerkungen über den Zusam­ menhang von Bildung, Religion und Geschlechterverhältnis im 19. Jahrhundert (I) an den zentralen Frauen- und Geschlechterrollen des 1 2 3

Theodor 11 (21828 I, 12). Theodor 11 (21828 I, 13). Theodor 24 (21828 I, 31).

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Theodor gezeigt; dabei steht Therese für Anmut und Konversation (II), Hildegard zunächst für Unbewusstheit und Sittsamkeit (III), dann für Opfer und Entsagung (IV) und schließlich für Ehe und Erfüllung (V).

I. Theodor ist nicht irgendein Roman, sondern orientiert sich offensicht­ lich an der Form des Bildungsromans, insbesondere an Goethes Wilhelm Meister, der bekanntlich schnell zum Muster, ja zum einzigen wirklich gelungenen Bildungsroman erklärt worden ist, weil es nur Goethe wirklich gelungen sei, so Wilhelm Dilthey in einer klassi­ schen Formulierung, die »gesetzmäßige Entwicklung« im »Leben des Individuums« so darzustellen, dass die »Dissonanzen und Konflikte des Lebens« als »notwendige Durchgangspunkte des Individuums auf seiner Bahn zur Reife und zur Harmonie« erscheinen.4 Dabei kann man den Bildungsroman im 19. Jahrhundert mit Franco Moretti als symbolische Form der modernen Individualität lesen, die eine bestimmte Auffassung der Moderne mit einem bestimmten Thema, der Jugend, verbindet, um darzustellen, was es unter Bedingungen der Moderne heißt, man selbst zu werden.5 Ein Individuum – aber in der Welt; eine Persönlichkeit – aber eingebettet in soziale Beziehungen: Wie in jeder symbolischen Form geht es dabei um eine Synthese des Mannigfaltigen, einfacher gesagt, um Kompromisse. Es geht darum, die zerstreuten Erlebnisse und Erfahrungen zu einer Geschichte und zur eigenen Geschichte zu machen, oder, auf der Ebene der Darstel­ lung: die zerstreuten Episoden des immer vom Zerfall bedrohten Romans zu einer Einheit zu bilden. Zusammenhang wird dabei nicht nur zwischen den Episoden hergestellt, sondern auch zwischen den verschiedenen Formen, denn der Roman, zumal der moderne, enthält ganz verschiedene Gattungen wie Brief, Dialog, Erzählung etc. Zusammenhang wird auch zwischen den verschiedenen Perspektiven hergestellt, insbesondere zwischen der des Protagonisten, durch deren 4 Dilthey, Wilhelm: Das Erlebnis und die Dichtung (1905), Göttingen 1965, 272. Zur Gattung vgl. etwa Jacobs, Jürgen: Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman, München 1972; Voßkamp, Wilhelm, Der Roman des Lebens. Die Aktualität der Bildung und ihre Geschichte im Bildungsroman, Berlin 2009. 5 Vgl. Moretti, Franco: The Way of the World. The »Bildungsroman« in European Culture, London 1987.

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Augen wir die erzählte Welt gewissermaßen in actu sehen und des Erzählers, der das Ende kennt und uns daher schon gleich anfangs sagen kann, dass sich Theodor in seiner Liebe zu Therese zu »verlie­ ren« droht. Denn was hier verloren zu gehen droht, jenes ›sich selbst‹, ist keine feste Substanz, nichts klar Definierbares, sondern eben eine Individualität, die sich erst in der Geschichte realisiert, und das heißt auch: in der Spannung von Aktualität und Erinnerung. Diese Individualität hat immer auch eine religiöse Dimension, und zwar erneut sowohl auf der Ebene des Dargestellten wie der Darstellung. Schon die Semantik der Bildung hat historisch wie funktional eine Nähe zur Religion: Sie entspringt aus dem Vokabular der mystischen Theologie und den Diskursen der Selbstbildung des Pietismus6 und wird im 19. Jahrhundert zur »säkularisierten Nach­ folgeinstitution der Religion«.7 Daher haben viele der klassischen Bildungsromane des 19. Jahrhunderts auch eine – in der Forschung oft eher marginalisierte – religiöse Dimension: Sie erzählen die religiöse Karriere ihrer Protagonisten, oft als Enttäuschung, manchmal auch als Rückkehr.8 Darstellerisch greift der Bildungsroman breit auf reli­ giöse Erzählverfahren zurück, etwa auf die Konversionserzählung, auf religiöse Bekenntnisliteratur und Autobiographie, man denke etwa an die »Bekenntnisse einer schönen Seele«, ein Stück pietistischer Autobiographie, das Goethe in Wilhelm Meisters Lehrjahre aufnahm.9 Religion wird individualisiert, und auch hier ist der Bildungsroman das angemessene Medium, weil es nicht nur die Lebensgeschichte des Individuums erzählt, in der sich verschiedene religiöse Haltungen abwechseln, die aber auch insgesamt »Sinn« machen muss, sondern weil sie auch verschiedene Formen für diese Haltungen hat, eben das Tagebuch oder – besonders gerne – das Gedicht.

Vgl. Koselleck, Reinhart: Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung, in: ders. (Hg.): Bildungsgüter und Bildungswissen, Stuttgart 1990, 11–46. 7 Assmann, Aleida: Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt am Main 1993, 45. 8 Vgl. dazu Weidner, Daniel: »Der hat auch Religion«. Religionsfragen im Bildungsro­ man des Realismus am Beispiel von Wilhelm Raabes »Der Hungerpastor« und Gottfried Kellers »Der Grüne Heinrich«, in: Christian Danz/ Michael Murrmann-Kahl: Verlust des Ich in der Moderne? Erkundungen aus literaturwissenschaftlicher und theologischer Perspektive, Tübingen 2019, 28–46. 9 Vgl. Niggl, Günter: Zur Säkularisation der pietistischen Autobiographie im 18. Jahr­ hundert, in: ders. (Hg.): Die Autobiographie. Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989, 367–391. 6

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Freilich ist diese Individualität nicht abstrakt. Es ist kein Zufall, dass die »Bekenntnisse einer schönen Seele« die Aufzeichnungen einer Frau sind. Individualität und auch Religiosität sind im Bil­ dungsroman geschlechtlich konnotiert, und zwar in komplexer und auch widersprüchlicher Weise. Im Diskurs der empfindsamen und romantischen Liebe – der seinerseits breit auf die religiöse Semantik zurückgreift – wird die Einzigartigkeit des Individuums gerade in der Liebe gesehen, die sich eben nicht mehr auf bestimmte Eigenschaften des anderen richtet, sondern auf diesen selbst – eine Wahl, die gerade weil sie keine Gründe mehr kennt, nur im Gefühl beruhen kann und als solche zugleich absolut und fragil sein muss.10 Im Diskurs der bürgerlichen Ehe wird diese enge Wechselbeziehung mit einer geschlechtlichen Rollenverteilung verbunden, in welcher die Frau die Sphäre des Gefühls, der Natur und der Intimität verkörpert, während der Mann für Verstand und Willen, Zivilisation und Gesellschaft steht. Die Privatisierung der Religion ist daher auch eine Feminisie­ rung der Religion – ein wohl allgemeiner Trend am Anfang des 19. Jahrhunderts, was sich realhistorisch in abnehmender männlicher Partizipation niederschlägt und seinen symbolischen Ausdruck in Schleiermachers Weihnachtsfeier findet.11 Weil das Private in der modernen Gesellschaft keineswegs verschwindet, sondern gerade ausgeweitet wird, verschwindet auch die Religion keineswegs voll­ kommen, sondern bleibt das Komplement zur Säkularisierung. Dass der Bildungsroman klassisch mit der Heirat endet, bedeutet damit nicht nur, dass der Protagonist seine Jugend beendet hat, dass sich mit Hegel das Subjekt die Hörner abgelaufen hat und sich in die Welt hin­ einbildet;12 er erlangt damit auch erst die harmonische Individualität, zu der eben Gefühl und Vernunft, Intimität wie Gesellschaft gehören. Religion, Individualität, Geschlecht bilden also einen Zusam­ menhang, der die Vorstellung des bürgerlichen Subjektes bestimmt, privilegierten Ausdruck eben in der Form des Bildungsromans findet und noch dort fortwirkt, wo die philosophischen oder theologischen Grundlagen – also etwa der Begriff der Individualität oder die Vor­

Vgl. dazu klassisch Luhmann, Niklas: Liebe als Passion, Frankfurt am Main 1982. Zur Feminisierung der Religion vgl. Hölscher, Lucian: Geschichte der protestanti­ schen Frömmigkeit in Deutschland, München 2005, 300ff. 12 Vgl. die berühmte Stelle Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über Ästhetik II, Werke Bd. 14, hrsg. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main 1986, 219f. 10

11

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stellung individueller Schuld – ihre Glaubwürdigkeit verlieren.13 Der Zusammenhang lässt sich dann auch besonders deutlich an literari­ schen Texten ablesen, die symbolische Formen und kulturelle Normen auch in deren Unbestimmtheit und Überdeterminiertheit ausdrücken können und dadurch auch die Paradoxien und blinden Flecken solcher kulturellen Konstruktionen erkennbar machen. Vielleicht kann Reli­ gion, um die Eingangsfrage aufzugreifen, warum de Wette zu dieser Form greift, nur in Romanform, nur als Frauengeschichte erzählt wer­ den; vielleicht kann ein Roman über männliche Individualität nur gelingen, wenn er auch eine religiöse Dimension hat.

II. Anmut oder Conversation Therese hatte, das haben wir schon gehört, Theodor in einen »geis­ tigen Taumel« versetzt, mit dem der Roman anfängt und der ihn zum Roman macht. In den ersten Kapiteln vergisst er sich tatsächlich selbst, er gibt seinen Plan auf, Geistlicher zu werden, er zieht vom Land seiner Kindheit in die Stadt, er will in den Staatsdienst eintreten und er verlobt sich mit Therese. Aber wie sich der Staatsdienst bald als enttäuschend erweist, so wird auch das Verhältnis zu Therese bald problematisch. Die Ehe wird vom Vater der Braut an soziale Bedingungen geknüpft, was dem Ideal der freien Liebe widerspricht; Therese selbst erscheint als heiter, munter, anmutig, aber Theodor bemerkt auch ihre Neugierde und Schaulust, findet, dass sie »dem Vorurtheil und der Eitelkeit der Titelsucht nicht frei war«14; er selbst fühlt sich unverstanden und bemerkt nach einer Unterhaltung, »daß er in diesem ganzen Gespräch von keinem in der Gesellschaft, und selbst von Theresen nicht, verstanden worden«15 sei. Er bleibt also allein, außerhalb der Gesellschaft, während Therese, die gerne tanzt, immer von Verehrern umgeben ist; sie betont sogar den Wert dieser Koketterie, denn es »erhöht das Glück der Liebe, mit einer, wenn auch erträumten Gefahr um des Geliebten Besitz zu kämpfen, und ihn sich immer von neuem zu erwerben«16. Das versteht Theodor nicht: 13 Vgl. zum Fortwirken etwa Scott, Joan Wallach: Sex and Secularism, Prin­ ceton 2018. 14 Theodor 62 (21828 I, 81). 15 Theodor 77 (21828 I, 101). 16 Theodor 92 (21828 I, 121).

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»Wenn die Herzen sich gefunden haben, wozu soll ein solches Spie­ gelgefecht? Der ruhige Besitz schläfert nicht ein, sondern, indem die gleichgesinnten Herzen sich immer inniger vermählen und sich durch den Austausch ihrer Gefühle bereichern, wächst und steigert sich die Seligkeit der Liebe.«17

Hier stehen sich also zwei verschiedene Konzeptionen der Liebe als Kampf und konstante Aushandlung oder als ruhiger Besitz und innere Vermählung einander gegenüber – eine höfische und eine bürgerli­ che. Dass das nichts werden kann, besiegelt nun gleich der Erzähler: »Unser Freund hatte Theresen nie wahrhaft geliebt, so lebhaft er auch für sie fühlte. Sein tiefes Gemüth konnte wohl von ihrem zarten, leichtbeweglichen Wesen, von ihrer feinen Geistesbildung und der Anmuth ihrer reizenden Gestalt angezogen, aber nicht befriedigt und gefesselt werden.«18

Um die Verhältnisse klarzustellen, distanziert sich der Erzähler also von Theodor, der ja glaubt, dass er Therese wirklich liebt. Thereses Anmut ist auch im Zentrum eines anderen Gesprächs, dass das verlobte Paar über die Frage der Berufswahl führt. Therese stellt fest, dass »man unter den Gelehrten und Predigern so selten wahrhaft gebildete, abgerundete Männer trifft, denen nicht irgend eine Einseitigkeit und Ungeschicklichkeit anhinge«19. Predigern fehle die Bildung und Abrundung, auch die Anmut, und das hat für Therese auch durchaus mit dem Geschlecht zu tun: »Der Beruf eines Predigers schmeichelt der Neigung, welche die Männer, besonders die Gelehrten, haben, zu reden, zu lehren, ihr Wissen gelten zu machen; und man weiß ja, wie gern sie sich mit der Vorstellung schmeicheln, daß sie mit ihren Reden recht viel wirken, daß sie die Welt klüger und besser machen. Sie reden sich so warm, daß sie leicht glauben, sie theilen aller Welt ihre Wärme mit, was doch keinesweges immer der Fall ist. Ihr Beruf, mein Lieber, ist ein handelnder, und das Handeln ist kühler und langweiliger, obschon es des warmen Eifers nicht weniger bedarf.«20

Ein Einwand, der in einem Roman, wo nun wirklich viel geredet, gelehrt und Wissen geltend gemacht wird, nicht ganz unheikel ist. 17 18 19 20

Theodor 93 (21828 I, 122). Theodor 94 (21828 I, 123). Theodor 154 (21828 I, 200). Theodor 153f. (21828 I, 199f.).

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Theodor fühlt sich dann auch unverstanden und ist verstimmt. Aber selbst darauf hat Therese eine Antwort: »Lassen Sie mich nur gewähren, lieber Theodor! wenn Sie trübsinnig sind, so will ich Sie schon erheitern. Welchen Werth hätte die Liebe, wenn sie nicht mit der Welt versöhnen könnte, mit der wir alle, besonders aber die eigensinnigen Männer, mitunter grollen. Mit der einnehmendsten Heiterkeit und Anmuth sang sie folgende Verse, die sie absichtlich dazu gewählt zu haben schien. Aus Wolken bricht Der Sonne Licht: Daß Bergʼ und Thäler glühen In bunter Farben-Pracht, Die Blumen schöner blühen und Erdʼ und Himmel lacht. Von Liebʼ erhellt, Ist schön die Welt: Wo ihre Zauber walten, Da strahlt der Freude Glanz, Was lebt, muß sich gestalten, Fügt sich zum heitern Kranz.«21

Auch diese Szene entwirft eine Rollenverteilung, die sich von derje­ nigen der Koketterie – Wettbewerb – markant unterscheidet: Die Frau ist dazu da, zu erheitern und zu versöhnen, ihr Zauber, Ihre Heiterkeit und ihre Anmut kompensiert die Kühle und Langeweile des männlichen Berufs. Die Frau ist für die Poesie im prosaischen Alltag zuständig – »von Lieb erhellt/ist schön die Welt« –, so wie in diesem Gedicht der Roman poetisch und »schön« wird. Die Mischung von Prosa und Poesie ist tatsächlich konstitutiv für den modernen Roman, insbesondere den Bildungsroman. Der Roman ist eine Prosaerzählung, aber an seinen Höhepunkten tau­ chen Gedichte auf, und zwar meist als ›außeralltäglich‹ und oft als ›weiblich‹ konnotierte Rede – man denke nur an Mignons Lied in Wilhelm Meister. Thereses Lied »Aus Wolken bricht / der Sonne Licht« funktioniert ähnlich und ist nicht irgendein Gedicht, es wird vielmehr zu einer Art Leitmetapher und präfiguriert eine der poeti­ schen Schlüsselszenen des Romans: Das ästhetisch-metaphysische Erlebnis, das Theodor beim Sonnenaufgang auf dem Rigi hat und das 21

Theodor 155 (21828 I, 201f.).

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selbst wiederum auf die Ästhetik des Schöpfungsmorgens anspielt, wie man sie etwa in Herders Älteste Urkunde des Menschengeschlechts oder am Anfang von Jean Pauls Titan findet. Dieses Erlebnis wird hier schon vorweggenommen, Theodor wird von Thereses Gesang tatsächlich bezaubert, antwortet aber nicht, sondern tritt einfach ab, wobei der Erzähler nicht vergisst, uns mitzuteilen, dass er doch einen »geheimen Zwiespalt« fühlt – weil er eben schon wieder mit dem Beruf des Predigers liebäugelt. Verhindert wird die Hochzeit dann allerdings nicht durch einen Entschluss Theodors, sondern durch ein Ereignis: durch den Ausbruch des Krieges gegen einen Besatzer – offensichtlich handelt es sich um den Befreiungskrieg –, zu dem Theodor sich sofort freiwillig meldet. Diese Art von Handlung gelingt ihm, es ist aber weniger ein kühles Entschließen, sondern ein Handeln aus Leidenschaft, weshalb sich Theodor auch sicher ist, »daß die Geliebte sich zu dem Opfer einer vielleicht langwierigen Trennung um des gemeinsamen Wohles willen bereit finden lassen würde«22. Denn für Theodor ist das ein Opfer aus Liebe, also eigentlich Teil seiner Liebe zu Therese: »Die Liebe, die wahre, göttliche, ist nur Eine; die Liebe des Vaterlandes, die Liebe des Weibes, der Kinder, der Eltern sind nur verschiedene Strahlen derselben Sonne. Ich liebe Dich, wie ich mein Vaterland liebe, nur inniger und mit jenem geheimnißvollen Zuge der zwei Herzen mit einander zu Einem verknüpft. O laß, was Eins ist, nicht in Widerstreit treten, laß mich aus deiner Liebe Nahrung für meine Begeisterung zum Kampfe schöpfen!«23

Therese hält das freilich für »Schwärmerei« und wendet sich schließ­ lich von ihm ab, worauf er ihr immerhin noch einen Brief hinterher­ schickt: »Der Himmel will das Opfer, das ich dem Vaterlande zu bringen im Begriff bin, so schwer als möglich machen, und ich nehme die Last gern auf mich. Wie Vielen wurde schon der Leidenskelch durch Verkennung und Undank verbittert; aber das Bitterste ist, von der Geliebten des Herzens verkannt zu werden.«24

Hier ist die Liebe bereits ganz unter das Opfer untergeordnet, der Entschluss geht weniger auf das Handeln als auf das sich Opfern, dem 22 23 24

Theodor 196 (21828 I, 254). Theodor 197 (21828 I, 254f.). Theodor 102 (21828 I, 262).

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gegenüber die Liebe nur ein Teil ist, der natürlich zurückzustecken habe. Der Mann muss seine private Liebe opfern, um ein politisches Subjekt zu werden; die Frau muss ebenfalls Ihre Liebe Opfern, damit ihrem Mann das möglich ist – aber dazu ist Therese aber offensichtlich nicht bereit. Dem Erzähler gibt das Anlass, sie recht schnell abzufer­ tigen: »Theresen kostete die Trennung viele Thränen; aber wie es ihr an Liebe fehlte, um in Theodors Ansicht und Entschluß einzugehen und seiner Vaterlandsliebe das Opfer zu bringen, so liebte sie ihn auch nicht genug, um dem harten Sinne ihres Vaters einen festen Willen entgegen zu setzen. Sie schwankte hin und her, und ließ sich daher von ihrem Vater fortreißen. Sie war ein Mädchen ohne Festigkeit des Charakters und wahres, tiefes Gefühl; und an Theodor hatte sie nur die männliche Anmuth, nicht seinen hohen, innern Werth geliebt.«25 (203)

Auch der Erzähler übernimmt die paradoxe Logik des Opfers, nach der nur diejenige Liebe die wahre Liebe ist, die man der höheren Liebe opfert. So wie wir schon wussten, dass Theodor von Therese zwar angezogen wurde, sie aber nicht »wahrhaft« geliebt hatte, so wissen wir nun, dass Therese auch kein »wahres« Gefühl hat und darum auch seinen inneren Wert nicht geliebt habe. Daher, so weiter der Erzähler, habe sich doch alles richtig entwickelt: »Wie viel auch unser Freund litt, so müssen wir ihn doch glücklich schätzen, daß er von dieser ungleichartigen Verbindung los kam«26, denn schließlich hätte er ja sowieso irgendwann gemerkt, »daß Therese ihn nicht verstanden hatte, und daß sein Geist von ihr eher niedergezogen, als emporgehoben worden war.«27 Man geht nicht fehl in der Annahme, wenn man das bereits als Vorausdeutung auf eine andere Frau liest, die weniger »ungleichartig« sein wird und die Fehler von Therese nicht wiederholen wird.

III. Sittsam unbewusst Diese Frau wird Hildegard sein. Ihr Auftritt ist eine der in dem insge­ samt sehr dialoglastigen Roman nicht wirklich zahlreichen visuellen 25 26 27

Theodor 203 (21828 I, 263f.). Theodor 203 (21828 I, 264). Theodor 203 (21828 I, 264).

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Szenen. Sie erscheint zufällig, denn Theodor irrt sich in der Tür und betritt den ›falschen‹ Raum: »Das Zimmer war dunkel, aber in einem daran stoßenden Cabinet, welches ein halb aufgezogener Vorhang davon trennte, brannte eine Lampe, deren heller Schein auf ein mit Blumen bekränztes Mutter­ gottesbild fiel, vor welchem eine weibliche Gestalt betend kniete. Theodor war von dem Anblicke festgehalten, und wagte keinen Schritt weder vorwärts noch rückwärts. Seine Augen ruheten auf der betenden Gestalt, deren blonde Locken auf das weiße Gewand herabfielen, das in reichen Falten den schlanken Leib umgab. Ihr Gesicht konnte er nicht ganz sehen, aber der schöne Kopf hob sich andächtig nach dem Bilde empor, und die zarten, weißen Hände waren zum Gebete gefaltet.«28

Diese Begegnung ist der mit Therese strukturell entgegengesetzt: Sie findet nicht in der Gesellschaft statt, sondern zu zweit, eigentlich allein; sie vollzieht sich nicht in der Konversation, sondern im Bild und im Augenblick. Das Bild wird sogar zum Bild im Bild, denn die Begegnung wird Theodor zum Bild – er glaubt »einen Engel des Herrn vor sich zu sehen«, der ihn in eine »wunderbare [...] Stimmung«29 ver­ setzt –, das gewissermaßen das Andachtsbild der Maria wiederholt. Und auch die Szene selbst wiederholt sich bei der zweiten, ebenfalls stummen Begegnung, nachdem Theodor im Krieg verwundet worden ist – eine Szene, die offensichtlich der Begegnung Wilhelm Meisters mit Natalie nachgebildet ist. Hier sehen sich die beiden zukünftig Liebenden an und es kommt zu jenem sprachlosen Blickwechsel, der konstitutiv für die Liebe als Passion ist: »Ein unbeschreiblich seliges Gefühl ergoß sich aus ihren Augen in sein Herz.«30 Die zufällige Begegnung, von keiner Kontingenz und vor allem keinen Worten gestört, wird, wir ahnen es schon, zum Schicksal. Dabei betont der Erzähler nicht nur, dass Hildegard einen tiefen Eindruck auf Theodor gemacht hat, sondern stellt auch gleich die Ver­ hältnisse klar: Therese habe zwar Reiz und Anmut gehabt, Hildegard sei aber eine »edle und großartige Schönheit«: »das Tiefe und Seelenvolle ihres Blickes, und die fromme Einfalt und Selbstvergessenheit ihres Ausdrucks gab ihrer Schönheit ein höheres, überirdisches Gepräge, und zwang Allen das Gefühl reiner Huldigung

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Theodor 203 (21828 I, 286f.). Theodor 203 (21828 I, 287). Theodor 223 (21828 I, 288).

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ab. Therese, in ihrer anmuthigen Leichtfertigkeit und selbstgefälligen Zierlichkeit, erschien gegen sie, wie ein Wesen untergeordneter Art.«31

Wahre Schönheit ist eben nicht Kampf und Spiel, sondern Einfalt und Selbstvergessenheit – und zwar fromme Selbstvergessenheit, die der männliche Protagonist in dem Moment sieht, als sie auf etwas anderes, höheres gerichtet ist, eben auf die Jungfrau Maria. An die er selbst übrigens nicht glaubt. Die beste Frau ist doch immer etwas religiöser als man selbst, dazu gleich mehr. Die Selbstvergessenheit der Schönheit kommt später emble­ matisch zum Ausdruck während des römischen Karnevals, wo die unmaskierte Hildegard ob ihrer Schönheit gelobt wird und das mit Schamesröte übergossen hinnimmt: »Wie stach ihr Betragen gegen das zweier römischen Damen ab, welche im nächsten Wagen hinter ihnen folgten, und auf erhöhten Sitzen ordentlich zur Schau saßen, mit stolzen Blicken umschauend, als wollten sie den Zoll der Huldigung einfordern. Sie waren ebenfalls sehr schön, aber ihr freier, stolzer Ausdruck löschte den Glanz ihrer Schönheit aus. Sittsamkeit und Unbewußtheit, dachte Theodor, ist doch das Siegel der Schönheit, wie Demuth die Weihe der Tugend!«32

Die Frau ist immer nur dann schön, wenn sie selbst nicht darum weiß, es ist also der männliche Blick, der sie konstituiert, die Frau, die das durch Sittsamkeit und Unbewusstheit besiegelt. Es versteht sich, dass Hildegard sich daher auch nicht für etwaige Nebenbuhler interessiert. Diese Schönheit ist nicht nur Anmut und nicht nur Erheiterung, sondern hat moralischen, ja metaphysischen, »überirdischen« Wert. Das bestätigt sich beim Wiedersehen, bei der Begegnung auf dem Rigi, der erzählerisch wohl zentralen Szene des ganzen Romans. Die – erneut zufällige – Begegnung wird mit dichtem symbolischen und allegorischen Verweisen erzählt, wo der Sonnenaufgang (eben das »Aus Wolken bricht / Der Sonne Licht«) nun wirklich beobachtet werden kann und den Zusammenhang von Natur, Schöpfung und Schönheit ausdrückt, wo aber auch die Nähe von Vaterländischem und Religiösem etwa in der Tell-Kapelle deutlich wird. Theodor und Hildegard begegnen sich in diesem Setting dann auch ganz frei von Zwiespalt, ja sogar von Begehren:

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Theodor 228 (21828 II, 7). Theodor 463 (21828 II, 315).

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»Die Sehnsucht, das Verlangen schwieg; kaum gestand er sich, daß er sie liebe. So befriedigt das Große und Schöne schon allein durch seine Gegenwart; der reine Eindruck, den es auf das Herz macht, ist das Gefühl der hingebenden Huldigung.«33

Die ›reine‹ Liebe ist zufällig und unmittelbar, und zugleich interesse­ loses Wohlgefallen, das nicht die Leidenschaften erweckt, sondern beruhigt, es ist eine im eigentlichen Sinne überirdische Liebe: »Sie liebt mich, ja! Aber wie Engel lieben, ohne Verlangen. Welche Selig­ keit! Und der unlautere Wunsch nach ihrem Besitze sollte mir dieses Gefühl trüben?«34 Die beiden verstehen sich wortlos – jedenfalls fühlt Theodor das. Die Gespräche, von denen erzählt wird, sind dagegen alles andere als unmissverständlich. Denn wieder wird auch über den Beruf, also über das prosaische Leben gesprochen, aber Theodor wird »undeutlich«, weil er inzwischen weiß, dass Hildegard katholisch ist und sein Wunsch, protestantischer Pfarrer zu werden, sie befremden könnte. Noch als sie ihm zuredet, dieser Beruf würde doch wirklich passen, macht er nun selbst Einwände: »Aber der Mensch bedarf doch, versetze er, der Erheiterung und Unterstützung, wenn er nicht bei der Arbeit erliegen soll. Er bedarf der Freunde – gern hätte er auch hinzugesetzt: einer Freundin.«35 In dieser Konstellation will er jene Erheiterung nicht missen, die ihm Therese angeboten hatte, weil nur so das Bildungsziel, ein ganzer Mensch zu werden, erreicht werden kann. Aber er kann seinen Wunsch nicht wirklich äußern, wie schon gegenüber Therese gelingt es ihm nicht, die Rolle des aktiven Mannes einzunehmen, wie dort, erkennt er die Signale nicht, die die Geliebte sendet – im Roman wird das dadurch umgesetzt, dass er beim Abschied ein Tagebuch von ihr empfängt, wir aber nie erfahren, was denn in diesem eigentlich steht. Die unbewusste Schönheit bleibt auch auf der Ebene der Darstellung stumm, der Mann kann sie anschwärmen, sich aber nicht erklären. Die Handlungsunfähigkeit des männlichen Protagonisten, der doch gerade als Mann zum aktiven Teil werden soll, ist ein sehr häufiges Motiv im Bildungsroman, man denke nur an Wilhelm Meister, der sich dem Zufall überlässt, oder an Gottfried Kellers Grünen Heinrich, der auf das Liebeswerben Dortchen Schönfunds nicht eingehen kann. 33 34 35

Theodor 303 (21828 II, 103). Theodor 316 (21828 II, 122). Theodor 325 (21828 II, 134).

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IV. Entsagung, Opfer Auch in dieser Konstellation scheint sich also die Handlung festzufah­ ren, denn die wechselseitige Liebe auf den ersten Blick generiert zwar unmittelbares Sich-Verstehen, aber ermöglicht noch keine Kommuni­ kation, auch erscheint hier eine neue ›Ungleichartigkeit‹ diesmal nicht des Temperaments oder Charakters, sondern der Religion, die eine Verbindung unmöglich zu machen scheint: Hildegard ist katholisch, Theodor protestantisch. Um aus dieser Sackgasse zu entkommen, müssen die Geschlechterdifferenz und diejenige der Konfessionen miteinander vermischt werden; möglich wird das über die uns schon bekannte Semantik des Opfers. Tatsächlich scheint alles wieder auf eine Krise herauszulaufen. Nach einigen weiteren Begegnungen in Rom, bei denen er erfährt, dass Hildegard gelobt hat, ihren Vater zu pflegen, beschließt Theodor, Hildegard zu entsagen, um schließlich der ›Berufspflicht‹ nachzukom­ men. Entsagung ist zentral für den Bildungsroman und für seinen Entwurf von Individualität, ist doch das Ziel der ausgebildeten, festen Individualität nur um den Preis der Illusionen zu haben, mit Hegel gesprochen durch den Übergang von der Poesie der Erwartungen zur Prosa der Verhältnisse.36 Die Szene, in der das geschieht, ist höchst charakteristisch sowohl für die Gestaltung der Geschlechterrollen als auch für die narrativen Darstellung. Theodor schreibt ein Entsagungs­ gedicht, denn, so der Erzähler, »Die Dichtung erhebt den Menschen über den Menschen und veredelt und verklärt die Leidenschaften«37: »Laß des Herzens ungestüm Verlangen! Auf der Erde blüht kein Himmelsglück; Wagst du hier das Urbild zu umfangen: Scheu entfliehtʼs, ein Schatten bleibt zurück. Zu den Sternen, die dort oben prangen, Richte sehnsuchtsvoll den feuchten Blick! 36 Vgl. dazu Lukas, Wolfgang: ›Entsagung‹ – Konstanz und Wandel eines Motivs in der Erzählliteratur von der späten Goethezeit zum frühen Realismus, in: Titzmann, Michael (Hg.): Zwischen Goethezeit und Realismus: Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier, Tübingen 2002, 113–150; sowie Tetzlaff, Stefan: Entsagung im Poetischen Realismus Motiv, Verfahren, Variation, in: Baßler, Moritz (Hg.): Entsagung und Routines: Aporien des Spätrealismus und Verfahren der frühen Moderne, Berlin 2013, 70–114. 37 Theodor 431 (21828 II, 274).

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»Ein Schutzgeist weiblicher Frömmigkeit« Durch den Tod zum Leben zu gelangen, Ist der Menschen ewiges Geschick. Fürchte deiner höchsten Lust Gewährung! Du umfängst den irdʼschen, eitlen Schein; Reichern Lohn gewinnst du durch Entbehrung. Unverlierbar bleibt die Liebe dein: Durch Entsagen wird ihr die Verklärung, In der Opferflamme glüht sie rein«38

Ein typisches Entsagungsgedicht, das Trost durch Idealisierung im Modus der Elegie schafft: Nur durch Verzicht wird das Ideal gewahrt, die Liebe wird verewigt durch Entbehrung, oder mit Schiller: »Was unsterblich im Gesang will leben, muss im Leben untergehen«39. Die Situation – ein Klostergarten angesichts der Trümmer Roms – unterstreicht das noch: »Dieser der Betrachtung der menschlichen Vergänglichkeit gewidmete Ort entsprach ganz der gegenwärtigen Gemüthsstimmung unsres Freundes, dem auch sein Glück in Trüm­ mern zusammengestürzt war, und der auf seine frühern Hoffnungen, wie auf eine untergegangene Welt, zurücksah.«40 Theodor wird von seinem Schmerz fast überwältigt, ermannt sich dann aber, standhaft zu sein, nicht ohne einen Brief zu hinterlassen, der das ganze jetzt noch mal in Prosa sagt: ›Ich muss Sie verlassen, werde Sie aber nie ver­ gessen und der Gewinn ihrer Erscheinung bleibt mir ewig erhalten‹. Entsagend hat Theodor seine früheren Hoffnungen begraben, dafür erhält er die Erscheinung als ideale Erinnerung. Anders als bei Therese hat er hier aktiv verzichtet, sich als Mann gezeigt und daher für den Beruf qualifiziert. Aber, und das gehört zu den dramatischen Tricks des Romans, einen solchen Verzicht belohnt das ›Schicksal‹, Hildegard taucht auf, will den Verzicht nicht anerkennen, erklärt sich als »die Deine«, Theodor empfindet »das unendliche Glück, von Hildegard geliebt und ihres Besitzes gewiß zu seyn«41. Zumal sie gleich noch erklärt, ihre Kirche und ihren Vater zu verlassen und damit ihrerseits ihre Pflicht zu erfüllen, wenn auch nicht um ihres Berufes willen. »Ich halte es für Theodor 431f. (21828 II, 274). Schiller, Friedrich: »Die Götter Griechenlandes«, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1, hg. von Herbert G. Göpfert, München 1987, 161–173, hier 173. 40 Theodor 433 (21828 II, 276). 41 Theodor 434 (21828 II, 277f.). 38

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meine Christenpflicht, Dich Deinem Berufe nicht zu entziehen; und so wie ich Dich stets zur Wahl desselben ermuntert habe, so muß ich auch thätig dazu mitwirken.«42 Sie wird also zur ›Freundin‹ werden, die er sich gewünscht hatte, ohne es aussprechen zu können. Die Situation hat sich also vollkommen verkehrt, entsagen wird nun nicht Theodor, sondern Hildegard und verzichtet wird nicht auf die Liebe des Mannes, sondern auf die Religion der Frau. Theodor dankt im Gebet Gott, – er habe ihm »das schwere Opfer, das er zu bringen entschlossen gewesen, gnädig erspart«43 – und Hildegard – »Du bringst meiner Liebe ein Opfer, das schwerste Opfer, das man bringen kann, den frommen Glauben«44. Die fromme Einfalt, also die unberührte und unbewusste Schönheit muss geopfert oder besser: veredelt und gebildet werden, und gerade diese Bildung schafft die wirkliche Ergänzung und die ideale Ehefrau, so kalkuliert Theodor: »In ihr als einer frommen Katholikin lebt die Religion im ahnenden Gefühle; gelingt es mir, sie von unserm Glauben zu überzeugen: so wird sich in ihr zum Gefühle die erleuchtete Erkenntniß gesellen, und sie wird ein Muster weiblicher Frömmigkeit seyn. Unsre frommen Protestantinnen sind meistens entweder zu schwärmerisch, und neigen sich zum falschen Mystizismus, oder sind kalt verständig und morali­ sierend. Meine Hildegard wird in die rechte Mitte treten, und mich zugleich in der rechten Mitte erhalten.«45

Die beste Braut ist die ehemalige Katholikin, weil sie das ahnende Gefühl in die Ehe mitbringt, das durch die männliche Erkenntnis erzogen werden kann und dann sowohl die wahre Religion verwirkli­ chen als auch den Mann in der rechten Mitte halten wird, ihm also nicht nur Ablenkung und Erheiterung bietet, sondern etwas Tieferes. Diese ›Erziehung‹ erscheint dabei als Kompromiss, denn die weibliche Gefühlstiefe soll ja nicht einfach negiert werden. Im Roman zeigt sich das dort, wo Hildegard ihr Marienbild bedeckt und glaubt, nun eine Freundin aufgeben zu müssen. Damit scheint nun ja aber auch jene erste Szene ausgestrichen zu werden, in der sie Theodor in engelsgleicher Gestalt erschien. Um ihre ›wahre Schönheit‹ nicht zu verletzen, muss also ein Kompromiss gefunden werden, und das tut Theodor: Hildegard darf Maria zwar nicht mehr anbeten und anrufen, 42 43 44 45

Theodor 435 (21828 II, 278f.). Theodor 438 (21828 II, 283). Theodor 440 (21828 II, 285). Theodor 439 (21828 II, 283f.).

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sie aber doch im Herzen behalten als eine Form eines »Vorbildes reiner Weiblichkeit und Mütterlichkeit«46 – sie muss also ihre Frömmigkeit idealisieren, Verzicht leisten, das Opfer vollziehen, aus der Freundin ein Prinzip der Weiblichkeit machen. Und der Erzähler lässt sich nicht nehmen, uns wissen zu lassen, dass das auch funktioniert, dass Maria Hildegard dann bald wieder erscheint und sie tröstet und überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein. Für den Roman bedeutet dieser Erziehungsprozess, dass er sich nun länger mit dem Katholizismus auseinandersetzen kann, passen­ derweise hält man sich ja auch noch in Rom auf. Die Schelte des Katholizismus als unterentwickelt, primitiv, unmoralisch, ungeistig und ›orientalisch‹ ist dabei eine verbreitete Operation, durch die sich der moderne Protestantismus immer wieder stabilisiert, der sich gerade deshalb als fortschrittlich und national behaupten kann, weil er sich vom Katholizismus unterscheidet.47 Und wenn sich dabei Zweifel über Ihren Entschluss regen – der Erzähler lässt uns wissen, es »blieb ihr doch eine geheime Furcht, daß sie ihre Freiheit an ihn [Theodor] verlieren möchte«48 –, so wird das gleich durch abschre­ ckende Beispiele katholischer Verkommenheit zunichte gemacht. So setzte sie ihr alter Beichtvater unter Druck, dass die Ehe für die Protestanten kern Sakrament sei. Worauf Hildegard nun selbst die Überlegenheit der Protestanten gerade hier betont: »Die Ehe ist bei den Protestanten in Ehren, und das Familienleben nirgends so sittlich rein und gemüthvoll, wie bei ihnen; hier in Rom dagegen ist Untreue zwischen Mann und Weib beinahe in der Regel.«49 Damit wird deutlich, wie sich der Übertritt, der Austausch und das Opfer eigentlich vollzieht: Hildegard opfert ihre Kirche und gewinnt die Ehe.

Theodor 444 (21828 II, 290). Vgl. dazu Borutta, Manuel: Antikatholizismus, Deutschland und Italien im Zeit­ alter der europäischen Kulturkämpfe, Göttingen 2010 sowie Gross, Michael B.: The War against Catholicism, Ann Arbor, MI 2004, hier insbes. Kapitel 4 »The Women’s Question«. 48 Theodor 445 (21828 II, 291). 49 Theodor 447 (21828 II, 294). 46 47

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V. Ergänzung und Ehe Die Eheschließung ist der Zielpunkt des Romans, an dem die Indivi­ dualität zugleich bestätigt und relativiert wird. Die Heirat steht für eine neue Form des sozialen Bandes, das auf der Verbindung freier Individuen beruht. Im doppelten Sprechakt (Ja, ich will. – Ja ich will) ist die Individualität zur Ruhe gekommen und hat eine Form gefunden, in der sie sich selber begründet hat und die von nun an dauert: das Werden ist an sein Ziel gekommen, der Traum ist durch die Wirklichkeit ersetzt. Die Paradoxie der stummen und idealen Liebe wird durch eine Ordnung der Geschlechter ersetzt, die sich hier schließlich noch in der Erfüllung des Berufsziels verwirklicht: Ein Heim wird erworben, das zugleich das Pfarrhaus ist, der sterbende alte Pfarrer segnet das Paar noch, eine Szene die man auch andernorts, etwa in Raabes Der Hungerpastor wiederfinden wird.50 Narrativ wird das erst mal durch Wiederholung erreicht. Das junge Paar reist aus Rom ab, zurück nach Deutschland und kommt noch mal auf den Rigi. Hier erleben Sie noch mal erlebt noch mal den Sonnenaufgang, der nun nicht nur das Bild der Schöpfung, der Geschichte und des menschlichen Tuns ist, sondern auch das »das Bild unserer Liebe […], deren Sonne lange mit dem Dunkel der Täuschung kämpfen mußte«51. Die Symbolik der Handlung wird noch mal kommentierend gedeutet, Natur und Geschichte werden zum Bild der Initiation, ja der Prüfung, der die Liebe unterzogen wurde und der sie noch unterliegt, denn, so Theodor, die größte Prüfung der Liebe sei die Ehe: »Welch ein gefährlicher Übergang aus dem schönen Traum in die Wirklichkeit!«52 Hier ist nicht mehr der Verzicht auf die Geliebte die Bewährung der Liebe, sondern der Übergang vom Augenblick der Liebe in eine Rollenverteilung, in der sich Mann und Frau ergänzen; »Alle Liebe und Freundschaft sucht in dem geliebten Gegenstand eine Ergänzung des eigenen Lebens des Liebenden; ergänzend aber sind für einander besonders die verschiedenen Geschlechter, indem der Mann in der gestaltenden und hervorbringenden Erkenntniß und Thatkraft, das Weib in dem empfänglichen Gefühle lebt, beide Richtungen aber erst mit einander das vollständige Leben darstellen. Nicht bloß bedarf im wirklichen Leben das Weib des Schutzes der männlichen Thatkraft, 50 51 52

Vgl. dazu meinen Aufsatz ›Der hat auch Religion‹, a.a.O. Theodor 492 (21828 II, 556). Theodor 490 (21828 II, 352).

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und der Mann der weiblichen Ruhe; sondern schon um das Leben zu verstehen, zur innern Vollendung, müssen sich Mann und Weib an einander schließen.«53

Die Ehe und die Ergänzung der Temperamente ist nicht nur die Voraussetzung der Religion, sondern dadurch auch die Bedingung der Möglichkeit, das Leben zu verstehen und sich zu vollenden. Die Assymetrisierung der Geschlechterrollen verwandelt die private Liebe in eine soziale Ordnung, in der Politik, Geschlecht und Religion konvergieren, denn die Auseinandersetzung mit dem Katholizismus, die der Eheschließung vorausgeht, ist immer auch eine politische. In langen Gesprächen entwirft Theodor ein freies – und das heißt lutherisches – Verständnis von Kirche und Staat. Im Zentrum steht dabei der Staat, die Religion repräsentiert die höhere Bildung, dürfe aber keine weltliche Macht haben und werde dadurch frei vom Sekten­ geist. Die Regierung soll daher »die verschiedenen Kirchen in ihrer republikanischen Verfassung bestehen lassen, aber das Staatsgefähr­ liche darin ausrotten, wohin in der katholischen Kirche die Abhängig­ keit vom Papste gehört.«54 Dabei werden nicht nur die ›romtreuen‹ Katholiken aus dem Staat ausgeschlossen:, sondern auch die Juden: »Den Juden würde ich nur Duldung, kein Bürgerrecht zugestehen, weil ihre Religion keine bloße Religion, sondern ein Volksverband, mithin staatsgefährlich ist. Läßt man sie ganz gewähren, so bilden sie einen Staat im Staate.«55 Die neue protestantisch fundierte Nation ist also universell, aber nur, weil sie inklusiv ist: Man muss ihr ganz angehören und kann keine Loyalitäten mit anderen Gruppen haben, die notwendig zu äußeren und inneren Feinden werden.56 Allerdings besteht die größte Gruppe, die aus diesem Gemein­ weisen ausgeschlossen werden soll, weder aus Juden noch aus Katho­ liken. Es sind vielmehr die Frauen, die in einer anderen Diskussion aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, als Theodor die Idee entwickelt, es solle ein Aufnahmeritual in die Gesellschaft geben, das der Staat organisieren solle:

Theodor 491 (21828 II, 453f.). Theodor 486 (21828 II, 347). 55 Theodor 487 (21828 II, 348). 56 Vgl. zu dieser Logik der mehrfachen Alterisierung Altgeld, Wolfgang: Katholi­ zismus, Protestantismus, Judentum. Über religiös begründete Gegensätze und natio­ nalreligiöse Ideen in der Geschichte des deutschen Nationalismus, Mainz 1992.

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»Hildegard. O das ist ein schöner Gedanke: das wäre eine Art von Con­ firmation. Theodor. Ja, aber nur für die erwachsenen Jünglinge. Hildegard. Wollen Sie die Frauen vom Staatsleben ausschließen? Theodor. Sie gehören demselben nur mittelst ihrer Männer an: diese haben für sie einzustehen, und sollen ihnen den rechten Geist dafür einflößen. Denn es heißt in der Schrift: der Mann ist des Wei­ bes Haupt.«57

Punkt, aus, vorbei. Es ist wohl nicht zufällig, dass das fast die letzte Stelle im Roman ist, an der wir Hildegards Stimme hören. Nach­ dem alles Mögliche im Roman wirklich erschöpfend lange diskutiert worden ist, wird diese Diskussion nun mit einem sehr männlichen Machtwort, einem Schriftzitat zumal (Epheser 5,23), ein für alle mal beendet. Wie sehr Hildegard sich in ihre Rolle einfindet, zeigt dann die Schilderung des Hausstands: Theodor wird schließlich Pfarrer, man kauft ein Dorf, was einmal mehr deutlich macht, dass der Bildungs­ roman eigentlich nur in vormodernen Verhältnissen an sein Ziel kommen kann. Hildegard erfreut sich daran, das Haus bequem und geschmackvoll einzurichten, ein Wunsch über den Theodor lächelt – »Sie haben so viel für mich und meinen Beruf aufgeopfert, und das Opfer dauert durch das ganze Leben: ich muß also dafür sorgen, daß ich Ihnen die gewählte Lebensart so wenig als möglich verleide.«58 –, was sie wiederum mit einem Erröten quittiert. Der Opferung der eigenen Religion entspricht die Versorgung durch den Ehemann, den Frieden und das, was bei Goethe das »Glück des Lebens« heißt. Die Jugend ist vorbei, und noch einmal zieht Theodor die Parallele von Zweifel und Junggesellentum, die den Roman bereits eröffnete: »Nach langem Irren habe ich meinen Beruf wiedergefunden, und meine Fehlgriffe haben mich in der Wahrheit nur mehr befestigt; die Liebe hat mir in einer gleichgesinnten, zartfühlenden Gattin den Schutzgeist weiblicher Frömmigkeit zur Seite gegeben, der mich in meiner Wirksamkeit oft leiten, immer unterstützen wird. Nicht wahr, liebste Hildegard, das willst Du thun? Hildegard lehnte sich auf seine

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Theodor 487f., (21828 II, 349). Theodor 513 (21828 II, 383).

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Schulter, und sagte, mit Thränen in den Augen, lächelnd: Du hast alle Gewalt über mich; wohin Du gehst, dahin folge ich Dir!«59

Das autonome männliche Individuum hat nun seine Bestimmung gefunden, aber nicht ohne einen »Schutzgeist«60, der hier sowohl reli­ giös, wie geschlechtlich konnotiert ist. Denn das bürgerliche Subjekt braucht Weiblichkeit und Frömmigkeit und beides vermittelt durch ein anderes Individuum, das in seiner Gewalt ist. Natürlich sind die Tränen in den Augen hier Tränen der Rührung, aber das Opfer und der Verzicht sind vielleicht noch nicht völlig vergessen, denn es ist dieser Verzicht, der aus der ephemeren wechselseitigen Liebe die klaren ›Gewalt‹-verhältnisse macht, die am Schluss des Textes stehen und die Hildegard nun noch mal ihrerseits mit einem Schriftzitat (Ruth 1,16) besiegelt. Dass sie dabei nun das letzte Wort behält, dass der beliebte Hochzeitsspruch (»Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe auch ich. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott.«) in der Bibel nicht von Frau zu Mann, sondern von der Fremden Moabiterin zu ihrer Schwiegermutter gesprochen wird und dass überhaupt hier am Ziel des Textes noch mal von einem möglichen Aufbruch gesprochen wird – Wohin wäre denn jetzt noch zu gehen? –, könnte man als ironische Wendung lesen. Aber die Ironie ist vermutlich unbeabsichtigt. Er habe, so de Wette in der Vorrede zur zweiten Auflage des Theodor, niemals den Anspruch erhoben, ein Kunstwerk zu produzie­ ren. In der Tat folgt der Text oft bestimmten Schemata und ist auch keine literarische Meisterleistung – aber gerade an solchen Texten kann man nicht nur sehen, wie bestimmte kulturelle Normen und ideologische Semantiken funktionieren, wie also hier ein männlicher Bildungsweg bestimmte Fragen der Religion und der Geschlechter­ differenz verhandelt und dabei durchaus verschiedene Vorstellungen und Modelle – etwa der höfischen oder der bürgerlichen Liebe, der Liebesleidenschaft und der Ehevernunft, der Anbetung und der Moral – mit- und nebeneinander entwickelt werden. Auch die Form ist dabei keineswegs sekundär, im Gegenteil ist es gerade die generisch vorausgesetzte Form des Bildungsromans, die bestimmte Verbindun­ gen und Koppelungen jener Vorstellungen erzeugt und sie zu neuen Modellen integriert, die etwa die individuelle Religiosität erst als religiöse Karriere erzählbar macht und die auch die Geschlechterdif­ 59 60

Theodor 519 (21828 II, 391). Theodor 519 (21828 II, 391).

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ferenz im Modell der Liebesehe gewissermaßen individualisiert. Als Bildungsroman werden diese neuen Ziele darstellbar, aber auch in einer Weise lesbar, die ihre Widersprüche und Paradoxien erkennbar hervortreten lässt. Was gelebte Religion impliziert, lässt sich gerade in der literarischen Form erkennen.

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»…wenigstens einen Funken dieses Gefühls in die Gemüther der Hörer werfen« Predigt und Andacht in de Wettes Theodor

Einleitung »Die Wendung fällt [...] in die Jahre 1826–1827. Das volleste Nichts kostete ich damals an De Wettes ›Theodor‹«.1 Mit diesen Worten beschreibt August Friedrich Christian Vilmar (1800–1868) den Ein­ druck und die Wirkung, welche die Lektüre des Theodor von Wilhelm Martin Leberecht de Wette auf ihn gemacht hatte. Die Lektüre des Romans wird von Vilmar in die autobiographische Rekonstruktion der eigenen religiösen Entwicklungs- und Bildungsgeschichte einver­ woben. Ursprünglich dem theologischen Rationalismus und politi­ schen Liberalismus nahe stehend, bildete er bekanntlich zunehmend eine lutherisch-konservative »Theologie der Tatsachen«2 aus. In die­ ser sucht er einen nicht-individuellen, kirchlichen Erfahrungsbegriff zu entfalten und mit einem anti-empirischen, a-priorisch bestimm­ ten Tatsachenbegriff zu verbinden. Am entscheidenden Wendepunkt dieser religiös-biographischen Entwicklung liest Vilmar de Wettes Theodor und kostet eben das »volleste Nichts«. Sogleich überschreibt und korrigiert Vilmar den Eindruck dieser Lektüre durch die in seiner Wahrnehmung ungleich wirksamere Lektüre ausgewählter Schriften 1 Hopf, Wilhelm: August Vilmar. Ein Lebens- und Zeitbild. Erster Band, Marburg 1913, 167. 2 Vilmar, August Friedrich Christian: Die Theologie der Tatsachen wider die Theologie der Rhetorik. Bekenntnis und Abwehr (1856). Unveränderter Abdruck der dritten Auflage (1857). Mit einer Einführung von D. Hermann Sasse (Stimmen der Väter 2), Erlangen 1938. – Ausführlich zu Vilmars theologischem Programm siehe Conrad, Ruth: Kirchenbild und Predigtziel. Eine problemgeschichtliche Studie zu ekklesiologischen Dimensionen der Homiletik (Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 11), Tübingen 2012, 235–296.

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von Tertullian und Luther, von Johann Gerhards Loci theologici sowie Friedrich August Gotttreu Tholucks als »Anti-Theodor« bezeichnete Lehre von der Sünde.3 In diesem Briefroman Tholucks wird die Vorstel­ lung von der Faktizität der Sünde und der Offenbarung unauflöslich und in expliziter Abgrenzung gegen de Wette miteinander verknüpft. Ergänzt und vertieft wird Vilmars literarisches Bekehrungserlebnis durch Studien zum Heliand, denn »dieses köstliche Gedicht wirkte auch theologisch auf mich in der stärksten Weise – es waren Sachen, welche hier mit dem tiefsten Wahrheitsgefühl der unmittelbarsten Erfahrung niedergelegt waren.«4 Am Ende dieser Entwicklung stehen für Vilmar eindeutige Gegensätze: Tatsachen versus Gefühle, Taten gegenüber Worten und – im Blick auf die Predigt und daher hier von besonderem Interesse – Amtspredigt gegen Rhetorik, sprich religiöse Rede. In Abgrenzung von einem rhetorischen Predigtbegriff bestimmt Vilmar die Predigt als eine »Thatsache der Wortverkündi­ gung und Wortwirksamkeit«.5 Begründet wird die Predigt in der sichtbaren Kirche. Entsprechend eng ist sie in ein Zusammenspiel von objektivierendem Sakrament und Kirchenzucht eingebunden. Das Wort allein gilt Vilmar als defizitär, weil subjektivitätsanfällig. Daher habe die Predigt, um wirksam zu sein, »wirkliche[] Gegenstände« anzubieten, »eben so wirklich, wie das Gold wirklich ist, welches ich einem anderen anbiete«.6 Grundsätzlich ist deshalb im gottesdienst­ lichen Vollzug das objektive Abendmahl der Predigt vorzuziehen, Tholuck, Friedrich August Gotttreu: Die Lehre von der Sünde (1823). Dr. August Tholuck’s Werke. Bd. 1, Gotha 1862. Die Bezeichnung »Anti-Theodor« geht auf Tholuck selbst zurück. Vgl. hierzu Witte, Leopold: Das Leben Dr. Friedrich August Tholucks, 2 Bde., Bielefeld/Leipzig 1886, Bd. I., 292f. Siehe dann auch Kim, Sung-Bong: Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner – Tholucks theologische Entwicklung in seiner Zeit (EHS XXIII/440), Frankfurt am Main/Bern/New York/ Paris1992, 25f. und vor allem Axt-Piscalar, Christine: Ohnmächtige Freiheit. Studien zum Verhältnis von Subjektivität und Sünde bei August Tholuck, Julius Müller, Sören Kierkegaard und Friedrich Schleiermacher (BHTh 94), Tübingen 1996. 4 Zit. nach Hopf: Vilmar, 167. Vgl. hierzu von Vilmar selbst ders.: Deutsche Altertü­ mer im Hêliand als Einkleidung der Evangelischen Geschichte. Beiträge zur Erklärung des altsächsischen Hêliand und zur innern Geschichte der Einführung des Christen­ tums in Deutschland, Marburg 1845 (21862). Vilmars eigenes Werk zur deutschen Literaturgeschichte erlebte mehrere Auflagen, vgl. ders.: Geschichte der deutschen Nationalliteratur (1845), 19, vermehrte Aufl., Marburg/Leipzig 1879. 5 Vilmar: Theologie der Tatsachen, 71. 6 Vilmar, August Friedrich Christian: Collegium Biblicum. Praktische Erklärung des Neuen Testaments. Aus dem handschriftlichen Nachlaß der akademischen Vorlesun­ gen, hg. v. Müller, Christian, Bd. 1, Gütersloh 1879, 145. 3

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»…wenigstens einen Funken dieses Gefühls in die Gemüther der Hörer werfen«

weshalb eine Bestimmung des Pfarrers allein über die Predigt nicht hinreichend ist – »der ev. Pfarrer soll nicht bloßer Prediger sein«.7 Diese Positionierung Vilmars bildet gleichsam die Kontrastfolie, vor welcher im Folgenden die Darstellung von Predigt und Andacht im Theodor rekonstruiert werden soll. Der Protagonist des Romans hat eine theologische Ausbildung zum Pfarrberuf absolviert, pre­ digt selbst, wendet sich dann aber vom ursprünglichen Berufsziel ab, diskutiert in der Folge in den unterschiedlichsten Kontexten mögliche Formwerdungen von Religion und übt sich in vielfältige Praktiken der Andacht wie der religiösen Kommunikation ein – um am Ende als Pfarrer in der dank eigener Mittel neu gegründe­ ten Kirchengemeinde Wiesenau, gemeinsam mit Hildegard, seiner zum Protestantismus konvertierten Ehefrau, als Landgeistlicher zu leben und zu wirken.8 Welche Bedeutung haben in der Darstellung dieser Bildungsgeschichte die Beschreibung homiletischer und litur­ gischer Theoriediskurse und Praxisvollzüge? Welche Predigtideale werden erkennbar? Welche Gottesdienst- und Andachtsformen wer­ den geschildert und mit welchen Bewertungen werden sie verbun­ den? Welche Dynamiken der Transformation von Predigtidealen und rituellen Praxisvollzügen werden diskutiert und erzählt? Und welche Bedeutung hat der Befund für eine historisch-systematische Predigtgeschichtsschreibung? Diesen Fragen widmet sich der vorlie­ gende Beitrag.9 Drei Aspekte legen sich dabei nahe. Zum ersten fällt auf, dass die Frage der religiös-theologischen Intention der Predigt im Spannungs­ feld von allgemeinem Kirchenglauben und individueller religiöser Überzeugung verhandelt wird (1.). Wird für die Predigt die individu­ elle religiöse Überzeugung zentral, so bleibt die Frage, wie diese so kommuniziert werden kann, dass sie Gemeinschaft bildet und erhält. Hierfür werden von de Wette die religiös-ästhetischen Gefühlsgestal­ 7 Vilmar, August Friedrich Christian: Lehrbuch der Pastoraltheologie. Nach dessen akademischen Vorlesungen hg. v. Piderit, K. W., Gütersloh 1872, 41. 8 Von der Begegnung mit Hildegard an wird der ursprüngliche Berufswunsch des »Landpredigers« sukzessive reaktiviert. Vgl. Theodor A II: 166/B II: 120. 9 Gefragt wird also nach Predigten in der Literatur. Die Perspektivierung auf Predig­ ten in Literatur fragt danach, wie in Literatur, insbesondere in Romanen, von Predigten erzählt wird. Diese Perspektive ist deutlich zu unterscheiden von der Frage nach der – oft instrumentalisierenden – Verwendung von Literatur in der Predigt wie auch von der Untersuchung von Predigten als Literatur. Vgl. hierzu z.B: Apel, Kim: Predigten in der Literatur. Homiletische Erkundungen bei Karl Philipp Moritz (Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 7), Tübingen 2009.

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ten der Begeisterung wie dann auch der Ergebung und der Andacht eingeführt (2.). Insbesondere die familiäre, häuslich-private Andacht und das gesellige Gespräch in seinen unterschiedlichen Konstellatio­ nen stellen in der Moderne für die sonntägliche Kirchenpredigt eine rhetorisch-religiöse Konkurrenz dar, die für ein vertieftes Verständnis der Predigt als einer sozio-kulturellen Praxis nicht unerheblich ist. Dieser Aspekt wird im dritten Abschnitt analysiert (3.). Abschließend werden die anhand der exemplarischen Analyse gewonnenen Ein­ sichten zusammengefasst und auf grundlegende Perspektiven einer historisch wie kultur- und literaturwissenschaftlich orientierten Pre­ digtforschung zugespitzt. Eine methodisch-inhaltliche Einschränkung sei den folgenden Überlegungen vorangestellt: Die hier ausgeführte Analyse kann nur eine exemplarische sein. Nicht alle homiletisch-rhetorischen wie lit­ urgischen Perspektiven und Themen, welche im Theodor Darstellung finden, können in die Analyse einfließen. Dies gilt insbesondere für eine detaillierte Rekonstruktion der Wandlungen, denen die Überzeu­ gungen des Protagonisten unterworfen sind. Auf eine solche Rekon­ struktion wird zugunsten einer systematisch orientierten Analyse verzichtet, da diese einen Erkenntnisgewinn für grundlegende Fragen der Predigtforschung verspricht. Verbindungen zu anderen Texten von de Wette werden nur exemplarisch hergestellt. Die Rekonstruk­ tion einer Homiletik de Wettes vor dem Hintergrund des Gesamt­ werks bleibt eine lohnende Forschungsaufgabe.10

1. Die gottesdienstliche Predigt im Spannungsfeld von allgemeinem Kirchenglauben und individueller Überzeugung Als Theodor am Beginn des Romans nach zweijährigem Studienauf­ enthalt zurückkehrt nach Schönbeck, sieht er sich dort mit der Erwar­ tung konfrontiert, »den ersten Versuch im Predigen« zu machen. Die Mutter wünscht »ihn sobald als möglich an heiliger Stätte zu sehen«. Der Pfarrer hat, »wiewohl mit einigem Widerstreben, seine 10 Erste, freilich sehr knappe und an der Oberfläche bleibende Überlegungen finden sich bei Handschin, Paul: Wilhelm Martin Leberecht de Wette als Prediger und Schriftsteller, Basel 1958, insb. 20–26. Die Arbeit widmet sich schwerpunktmäßig den Predigten und weniger den homiletischen Überlegungen de Wettes.

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Einwilligung dazu gegeben«.11 Sowohl im Vorfeld dieser Predigt wie dann im Vollzug derselben findet sich Theodor eingespannt zwischen Erwartungen, die von außen an ihn herangetragen werden – insbesondere familiäre Hoffnungen und bildungsbiographische Obli­ gationen gegenüber dem Pfarrer als seinem langjährigen Erzieher –, und der widerstrebenden Erwartung an sich selbst, »in dieser Predigt durchaus seiner Ueberzeugung getreu zu bleiben«.12 Die Überzeugung des Protagonisten wird von de Wette zu diesem Zeitpunkt der religiös-biographischen Entwicklung durch den Begriff des »Zweifels« beschrieben.13 Die ihm durch den Pfarrer vermittelte Lehre ist Theodor »zu fremd geworden[]«.14 Er vermag bspw. nicht mehr an die göttliche Offenbarung der Schrift zu glauben15 oder kann im Gebet schlechterdings nur ein »Selbstgespräch« erkennen, ein »Sammlen und Steigern der eigenen Gedanken«.16 An dieser Stelle erweist sich ein Vergleich mit dem eingangs zitierten Theologiekonzept von Vilmar besonders aufschlussreich. Vilmar konstatiert, dass »Unsicherheit und Zweifel […] schlechthin unverträglich schon mit dem individuellen religiösen Leben« seien. Für »das kirchliche Leben« seien sie gar »der gewisse und schnell eilende Tod«.17 Deshalb erhebt Vilmar die »völlige Besiegung des Zweifels« zum »wesentliche[n] Inhalt der evangelischen Kirche«.18 Der Protagonist in de Wettes Roman dagegen stilisiert den »Zwei­ fel« am tradierten Kirchenglauben zum produktiven Ort religiöser Selbstbildung. Die Predigt dient ihm nicht der Verkündigung des allgemeinen Kirchenglaubens, sondern wird verstanden als die Dar­ stellung individueller religiöser Überzeugungen. Deshalb ist der »Zweifel« einerseits konstitutiver Bestandteil der Predigtproduktion,

Theodor 22 (21828 I, 29). Theodor 23 (21828 I, 29). 13 Vgl. z.B. Theodor 18 (21828 I, 22).; 19 (21828 I, 24). Theodors Studienfreund Johan­ nes befindet im Rückblick, »daß die Zweifel, die Dich [Theodor; RC] beunruhigten, das Wesentliche unsers Glaubens und die Lehre, welche der Diener des Wortes zu verkündigen hat, nicht betreffen«, Theodor 147 (21828 I, 191). 14 Theodor 22 (21828 I, 28). 15 Theodor 18 (21828 I, 23). 16 Theodor 19 (21828 I, 25). 17 Vilmar: Theologie der Tatsachen, 76. 18 Vilmar: Art. Evangelische Konfession (1861), jetzt in: ders.: Theologisch-Kirchliche Aufsätze. Zum 70. Todestage Vilmars am 30. Juli 1938, hg. v. Ramge, Karl, München 1938, 41–46, 43. 11

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andererseits eben auch deren mögliche Verunmöglichung.19 So gilt auch für die Homiletik, was Jan Rohls grundsätzlich konstatiert hat: »Der Begriff der Überzeugung übernimmt die Rolle des protestanti­ schen Gewissensbegriffs«.20 Die Implikationen des hier angezeigten homiletischen Grund­ konfliktes zwischen der Tradierung eines allgemeinen Kirchenglau­ bens als Aufgabe der Predigt versus der Darstellung individueller religiöser Überzeugungen werden im Roman unterschiedlich kontu­ riert. Einige Perspektiven seien angedeutet. Der Kirchenglaube wird bestimmt als allgemeine, objektive Wahrheit. Überliefert findet sich diese Wahrheit in der als göttlich inspiriert verstandenen Schrift und den reformatorischen Lehr- und Bekenntnistexten. Tradiert wird sie in Gottesdienst und Predigt. Der einzelne Gläubige anerkennt sie ohne individuelle Überprüfung als wahr. Dieser Wahrheitsanspruch des Kirchenglaubens gilt den Vertre­ tern der Zunft als Bedingung der Predigt, denn eben dieser Kirchen­ glaube ist das verbindende Band zwischen Prediger und Gemeinde. Entsprechend konstatiert beispielsweise Walther, Hilfsprediger in Berlin, dass für das Verwalten des kirchlichen Predigtamtes »die Uebereinstimmung mit dem allgemeinen Kirchenglauben«21 conditio sine qua non sei, denn dieser allgemeine Kirchenglaube sei das, was »der große Haufe der Christen glaubt«.22 Im Zentrum dieses allgemeinen Kirchenglaubens stehen Chris­ tologie und Soteriologie,23 konkret die Rechtfertigungslehre. Daher erzählt der Roman am Beginn von Theodors religiös-biographischer Bildungsreise einen Streit zwischen ihm und dem Pfarrer – exempla­ rischer Vertreter des Kirchenglaubens – »über die Rechtfertigungs­ lehre«. Dieser Streit führt indes »zu keiner Verständigung«, da »die Vgl. z.B. Theodor 29 (21828 I, 38). Theodor erinnert sich hier an die überwältigende Wirkung, welche eine Auferstehungsfeier bei ihm hinterlassen hatte, vor allem »wie ihn die Rede des im festen Glauben an die Auferstehung sprechenden Predigers getröstet und seine Thränen getrocknet hatte«. Er gelangt zu der Einsicht, »daß er mit seiner jetzigen Ueberzeugung nicht im Stande sey, einen solchen Vortrag zu halten«. 20 Rohls, Jan: Liberale Romantik. Wilhelm Martin Leberecht de Wette 1780–1849, in: Graf, Friedrich Wilhelm (Hg.): Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Bd. 1 Aufklärung, Idealismus, Vormärz, Gütersloh 1990, 233–250, 238. 21 Theodor 138 (21828 I, 179). 22 Theodor 138 (21828 I, 179). 23 Vgl. hierzu Theodor 156f. (21828 I, 203f.). Hier werden die »allgemeinen christ­ lichen Wahrheiten« bestimmt als »Würde der Person Christi, der Offenbarung, der Erlösung«. 19

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Streitenden von ganz verschiedenen Grundbegriffen ausgingen«.24 Korrespondierend wird die Rückwendung Theodors zum Kirchen­ glauben und damit zu seinem ursprünglichen Berufswunsch des Landpredigers erzählerisch intoniert als eine Wiederannäherung an die Rechtfertigungslehre.25 Der allgemeine Kirchenglaube wird im Roman nicht nur pasto­ raltheologisch entfaltet – der Prediger als exemplarischer Repräsen­ tant dieses Glaubens und seines Wahrheitsanspruches –, sondern wird grundsätzlich als der Glaube des allgemeinen Volkes beschrie­ ben. Das, was die Kirche als richtigen, objektiven Glauben deklariert, entspricht sowohl dem Fassungsvermögen wie auch dem religiösen Anspruch des Volkes. So jedenfalls die Sicht der Kirchenvertreter.26 Um es zuzuspitzen: Einen differenzierteren, auf individuelle Aneig­ nung abzielenden Glauben kann das sog. Volk nicht verstehen und braucht es auch nicht zu verstehen. Drei Beispiele seien für diese Verbindung von Volk und Kirchenglauben angeführt. Zum ersten: Der Landpfarrer in Theodors Heimatgemeinde argumentiert in den einleitenden Gesprächen mit Theodor, dass die neuen religiösen Lehren, denen Theodor anhängt, beim gemei­ nen Volk nur »Verwirrung anrichten« würden.27 Grundsätzlich will der Pfarrer deshalb die Ideen einer allgemeinen Volksaufklärung behutsam eingehegt sehen. Theodor, so seine Kritik, scheine »mehr Gewicht auf die Ausbildung des Verstandes und die Bereicherung mit Kenntnissen zu legen, als mir billig vorkommt.« Vielmehr aber solle der »gemeine Mann [...] in seinem Kreise verständig und einsich­ tig seyn, seinen Ackerbau mit Verstand treiben, und die GemeindeAngelegenheiten ordnen helfen«. Dafür benötige er indes am ehes­ ten »Erfahrung und Uebung«, weniger »naturgeschichtliche[] und ander[e] Kenntnisse, von denen er doch nur übel zusammenhängende Bruchstücke erhalten kann«.28

24 Theodor 31 (21828 I, 41). Zur Andacht des Pfarrers im Hause der Mutter Theodors siehe unten Abschnitt 3. Diese Andacht hat programmatisch die Rechtfertigungslehre zum Gegenstand. 25 Vgl. hierzu v.a. das dreiundzwanzigste Kapitel in: Theodor 375–379 (21828 II, 200–206). 26 Zur erzählerischen Brechung dieses kirchlichen Selbstverständnisses vgl. Abschnitt III. 27 Theodor 32 (21828 I, 42). 28 Theodor 30 (21828 I, 39).

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Weniger volkspädagogisch als theologisch argumentiert Johan­ nes aus Schönbeck, langjähriger Freund Theodors, der die Pfarrei am Heimatort übernimmt. Das Volk wisse nichts von theologischen Differenzen und letztlich wolle es auch »nichts davon wissen; es verlangt die Wahrheit, gleichviel ob sie übernatürlich oder natürlich geoffenbaret sey: nur daran hält es, daß sie von Gott stammt und in der heil. Schrift niedergelegt ist«.29 Differenzen aber seien der Feind der Wahrheit. Die Religion des Volkes sei jenseits des Theologenstreites zu verorten. Johannes argumentiert mit der Unterscheidung von Religion und Theologie und siedelt das Predigtamt im Bereich der Religion des Volkes und nicht der Theologie an. Deshalb sei die Kanzel nicht der Ort gelehrter Streitigkeiten. Die Predigt ziele vielmehr auf Erbauung. Dies bedeute beispielsweise im Blick auf die Behandlung der Wunderfrage, dass die Prediger über »das Wunderbare der evangelischen Geschichte [...] auf der Kanzel keine kritischen Untersuchungen anstellen [sollen], sondern daraus nur entlehnen, was zur Erbauung dient. Es ist unfruchtbar für die Andacht, zu wissen und zu glauben, daß Jesus diese oder jene außeror­ dentliche Erscheinung hervorgebracht hat. [...] So viel ist gewiß, daß, wenn man über die Wunder zum Volke spricht, man immer genötigt ist, eine geistige Beziehung davon aufzufassen«.30

Johannes versteht seine pastorale Rolle daher weniger als Lehrer, denn als Anwalt und Freund der Gemeinde. Er kenne die Hörer und Hörerinnen seiner Gemeinde. Es existiere, so seine Einschätzung, gleichsam eine »geistige Verwandschaft zwischen mir und meinen Zuhörern«.31 Eben deshalb weiß er, was sie hören wollen und »sie wissen alle, daß ich es gut meine, daß ich vom Herzen spreche, und ihr Wohl aufrichtig will«.32 Das Verhältnis zwischen Prediger und Gemeinde ist dem der Ehe vergleichbar.33 Es ist durch Liebe und Fürsorge geprägt, aber eben auch durch eindeutige Erwartungszu­ schreibungen und -zumutungen. Man kennt sich ja ...! Zum dritten: Auch die Rezeption der beiden ersten Predigten Theodors lässt sich in diesen Horizont einzeichnen. Denn die Hörer­ wartung erweist sich auf der Ebene der Erzählung als kirchlich 29 30 31 32 33

Theodor 147 (21828 I, 191). Theodor 148 (21828 I, 192). Theodor 148f. (21828 I, 193). Theodor 149f. (21828 I, 194). Vgl. Theodor 150f. (21828 I, 196).

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normiert und durch Tradition, Ritualisierung und Habitualisierung, lokale Kontexte sowie in Bezug auf Sozialisation und Erfahrungen vorstrukturiert. Die Hörer erwarten den allgemeinen Kirchenglauben. Entsprechend können »verständige[n] Männer aus dem Dorfe« nicht verbergen, daß Theodor »mit seiner Predigt keine Erbauung gestiftet hatte«.34 Der Prediger erleidet das gleiche Schicksal wie Predigergene­ rationen vor und nach ihm – die positiven Rückmeldungen auf seine Predigt beziehen sich ausschließlich auf die ansprechende Gliederung, »den für den ersten Versuch hohen Grad an Faßlichkeit«,35 die gelun­ gene Performanz und die verständliche Aussprache, bleiben also in Gänze auf dem Gebiet der formalen Homiletik. Für den Prediger als Theologen sind jedoch die gepredigten Inhalte wichtig, also Fragen der materialen Homiletik. Die Themen der Predigt wählt Theodor einmal aus dem Feld der Dogmatik – hier traktiert er das Gebet –, beim zweiten Versuch aus dem Gebiet der Moral – hier widmet er sich der Frage der Selbstbeherrschung.36 Biblische Referenztexte werden nicht genannt. Die Predigt wird materialiter von der subjek­ tiven Überzeugung der Predigtperson und die ihn interessierenden religiös-theologischen Fragen getragen. Homiletisch tritt die Person an die Stelle des Amtes. Dabei erweist sich das erzählte Predigtideal als ein Gegenprogramm zu Vilmar und zu Vertretern einer Allein­ wirksamkeit des Wortes. Das Predigtwort ist nicht defizitär, weil es subjektiv ist. Vielmehr ist es genau deshalb für eine protestantische Religionstheorie zentral. Dieser Sachverhalt wird erzählerisch m.E. dadurch vertieft, dass die ersten beiden Predigten Theodors konsequent als biographische Ereignisse geschildert werden. Sie stellen auf Theodors homiletischtheologischem Bildungsweg einen rite de passage dar und sind einge­ bettet in die Erwartungen der Mutter, die Kommentare der Schwes­ ter, die Sorgen des erziehenden Pfarrers, die Dorfgemeinschaft, die heimatliche Kirche. Die Predigt ist durch biographisch-lokale Kon­ texte geprägt. Sie erweist sich als immer auch individuell signier­ tes Geschehen. Eben diese grundlegend individuelle Signatur der Predigt wird aufgrund ihrer erzählerischen Darstellung mit einem Predigtverständnis, das auf Tradierung des allgemeinen, objektiven Kirchenglaubens basiert, in ein Spannungsverhältnis gesetzt. 34 35 36

Theodor 34 (21828 I, 45). Theodor 33f. (21828 I, 44). Vgl. Theodor 33f. (21828 I, 44f.).

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Von hier aus werden weitere Distinktionen erkennbar. Wesent­ lich ist vor allem die Gegenüberstellung von Stadt und Land: Es ist die Stadt, die zum Ort neuer theologischer Überzeugungen wird, während auf dem Land der traditionelle Glaube bewahrt wird.37 So befindet Friederike, die Schwester Theodors, nach dessen erster Predigt, Theodor »predige fast wie der neumodische Prediger in der benachbarten Stadt«. Das freilich ist ein zweischneidiges Lob, da »dieser Prediger anfangs durch den Reiz der Neuheit Viele an sich gezogen, jetzt aber eine leere Kirche hatte«.38 Der Gegensatz von Stadt und Land wird sowohl religions- und kirchenpolitisch beschrieben wie auch sozio-kulturell. In der Stadt geht man ins Theater oder in die Oper39 und lebt in Distanz zur Kirche und deren Glaubensge­ genständen. Demgegenüber wird das »Land« stilisiert als Ort des Kirchenglaubens, Hort einer funktionierenden Kirchlichkeit und sta­ biler sozialer und religiöser Hierarchien – Familie, Kirche, Staat. Die Differenz zwischen Stadt und Land hat auch eine soziolo­ gische Perspektive: Während die neueren theologischen Entwicklun­ gen nur ausgewählten, vor allem urbanen Bildungseliten zugänglich und verständlich sind, ist der tradierte, allgemeine Kirchenglaube egalitär. Die kirchlichen Wahrheiten sind »Gemeingut [...] und für Alle von der verschiedensten Bildung überzeugend«.40 Es ist der Pfarrer, der zwischen den unterschiedlichen sozio-kulturellen Milieus und Kreisen vermittelt. Wie diese Vermittlung konkret erfolgt, ist und bleibt unter den verschiedenen Vertretern der Zunft strittig. Einerseits wird argumentiert, dass gerade aus amtstheologischen Gründen die gesinnungsmäßige Übereinstimmung des Pfarrers mit dem Kirchenglauben unhintergehbar sei.41 Diese Argumentations­ figur kann mit einem gemeindetheologischen und seelsorglichen Hinweis auf die Bildung der Hörer und Hörerinnen verstärkt werden. Andererseits kann argumentiert werden, dass nur eine Predigt, die auf intellektuelle, gefühlsmäßige und moralische Plausibilisierung und 37 Vgl. auch den Hinweis bei Johannes, er »lebe und wirke« unter »schlichten, ungebildeten Landleuten«, welche »für die Künste keinen Sinn [haben]. Stelle für sie die schönsten Gemälde auf, laß sie die schönste Musik hören; nichts wird sie so sehr rühren, und so innig ergreifen, wie das einfache Wort der Lehre und Ermahnung«. (Theodor 185 (21828 I, 239). 38 Theodor 34 (21828 I, 45). 39 Vgl. hierzu die Ausführungen in Abschnitt 2. 40 Theodor 365 (21828 II, 187). 41 Siehe oben das unter Anm. 21 und 22 nachgewiesene Zitat von Walther.

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Aneignung religiös-theologischer Themen am Ort des Individuums zielt, für »moderne« Hörer und Hörerinnen anschlussfähig bleibe.42 Auch hier ist die Überzeugung des Predigers zentral, allerdings nicht seine kirchliche, sondern seine individuelle. Die Differenz zwischen Kirchenglauben und individueller Überzeugung erweist sich auch als eine Differenz im Blick auf die Konstruktion von Hörerbilder. Der Streit um die Predigt und deren Inhalte ist immer auch ein Streit um das angemessene Verständnis der Hörer und Hörerinnen und um die Deutung der sog. Religion des Volks. Deshalb ist der Streit um die Predigt immer auch ein Streit um das zugrunde liegende Wirklich­ keits- und Christentumsverständnis, welches die Konstruktion von Hörerbildern je unterschiedlich orientiert. In der Folge dieses Streites drohen Wahrheit und Relevanz zu zwei sich ausschließende Alterna­ tiven zu werden.

2. Die Predigt als begeisterte und begeisternde Rede – produktions- und rezeptionsästhetische Perspektiven Rückt, wie eben dargestellt, die Überzeugung der Predigtperson ins Zentrum des Produktionsprozesses, so stellt sich die Frage, wie diese Überzeugung rhetorisch Gestalt gewinnt, so dass sie die Hörer und Hörerinnen affiziert und sich das Individuum auf die (Hör-) Gemeinschaft hin überschreitet. De Wette setzt hierfür im Theodor in einem ersten Schritt die ästhetisch-rhetorische Kategorie der »Begeis­ terung«.43 Die rechte Predigt ist demnach »begeisterte[] Rede«.44 Die von Theodor vertretene Homiletik ist eine Begeisterungs-Homiletik. Sie lässt sich daher mit dem von Schleiermacher in den Reden Über die Religion vertretenen rhetorisch-homiletischen Programm in Beziehung setzen. Diese Verbindung zu Schleiermacher formuliert Theodor selbst: »Wenn ich den Verfasser der Reden über die Religion recht verstanden habe, so ist die Religion in dieser letztern Hinsicht Betrachtung. Er Vgl. hierzu das unter Anm. 94 ausgewiesene Zitat von Theodor. Siehe hierzu auch Buntfuss, Markus: Die Erscheinungsform des Christentums. Zur ästhetischen Neugestaltung der Religionstheologie bei Herder, Wackenroder und De Wette (Arbeiten zur Kirchengeschichte 89), Berlin 2004, 194f. 44 So z.B. Theodor 132f. (21828 I, 172); 190 (21828 I, 246); 238 (21828 II, 19). 42

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spricht von einer Geselligkeit der Religion, deren Organ die begeisterte Rede, die Dichtkunst und Musik sey«.45

Entsprechend äußert Theodor: »Die gläubige Ueberzeugung des Gefühls, daß Christus der Abglanz des Höchsten ist, kann vollgültig und ohne Verwirrung nur in gemein­ schaftlicher Andacht, wo sich das Gefühl in begeisterter Rede oder symbolischer Handlung ausspricht, dargestellt werden«.46

Über die Kategorie der Begeisterung, wie dann auch die der Ergebung und der Andacht, erweisen sich im Theodor homiletische Fragen in bestimmten Phasen der religiös-biographischen Entwicklung des Protagonisten als wesentlich ästhetische Fragen. Die Predigt ist eine Darstellungsform religiösen Gefühls und darin anderen Kunstäuße­ rungen vergleichbar. Zwei Beispiele seien skizziert. Beide fallen in die Zeit des Berlin­ aufenthaltes von Theodor und damit in die Zeit seiner Beziehung mit Therese. Intensiv nehmen beide am Berliner Kulturleben Anteil, insbesondere an den ifflandschen und kotzebueschen Theaterauffüh­ rungen. So besuchen beide eine Aufführung von Friedrich Schillers Johanna von Orleans.47 Über die Inszenierung weiß der Roman zu erzählen, die »Künstlerin, welche die Johanna spielte, wußte es treff­ lich darzustellen, wie die Begeisterte von der höhern Macht ergriffen wird, der sie sich demüthig hingibt«.48 Diese Begeisterung vergleicht Theodor mit dem, »was die Bibel von Eingebung und Ausgießung des Geistes meldet«.49 Er wird selbst von ihr erfasst. Im Fortgang der Erzählung zeigt sich sodann, dass nur Begeisterung Begeisterung zu Theodor 132f. (21828 I, 172) (Hervorh. im Orig.). Der Gedanke, dass die »begeis­ terte Rede« eine Darstellungsform ist, die das individuelle religiöse Gefühl kommu­ nizierbar und damit dauerhaft macht, findet sich bei Schleiermacher in der vierten Rede. Vgl. hierzu Schleiermacher, Friedrich: Über die Religion. Reden an die Gebil­ deten unter ihren Verächtern (1799), hg. v. Meckenstock, Günter, Berlin/New York 2001, 124, Z. 26. – Zur durchaus unterschiedlichen Verhältnisbestimmung von Kunst und Religion bei Schleiermacher und de Wette, die im Roman v.a. durch Prof. A (alias Jakob Friedrich Fries) thematisiert wird, siehe Buntfuss: Erscheinungsform des Chris­ tentums, 179–185. Zum terminus a quo von de Wettes Lektüre der Reden siehe a.a.O., 157, Anm. 132. 46 Theodor 190 (21828 I, 246). 47 Zu de Wettes Nähe zur Weimarer Klassik siehe Buntfuss: Erscheinungsform des Christentums, 154f. 48 Theodor 70 (21828 I, 92) (Hervorh. v. RC). 49 Theodor 72f. (21828 I, 95f.). 45

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schaffen vermag. Um zu ergreifen, muss man selbst ergriffen sein. Theodor hält beim anschließenden Beisammensein im landeckschen Haus ein ergriffenes und engagiertes Plädoyer auf Johanna und die Art der Darstellung. Diese Rede Theodors, »der in einer Art von Begeisterung gesprochen hatte«,50 löst unter den Zuhörern eine eher kritische Diskussion aus. So erkennt ein anwesender Prediger in Theodors Plädoyer für die »übernatürliche Kraft« der Begeisterung schlicht die Modeerscheinung des »Mysticismus«. Mystizismus als Begeisterung zu deklarieren, habe freilich keine andere Funktion als die der Selbstimmunisierung gegen Kritik: »Indem Sie übernatürliche Kenntnisse und Antriebe im menschlichen Gemüth annehmen, reden Sie aller Schwärmerei das Wort. Ein jeder Narr kann sich dann auf Eingebung und Begeisterung berufen, und ist mit nichts zu widerle­ gen«.51 Das zweite Beispiel führt uns vom Theater in die Oper, denn neben dem Theater besuchen Therese und Theodor auch diverse Opernaufführungen. Während Theodor Gluck bevorzugt, präferiert Therese Mozart.52 Einig sind sich beide freilcih bezüglich der ästhe­ tischen Qualität der Zauberflöte. Hier erschließe sich die transzen­ dentale Dimension von Begeisterung, so Theodor: »Alles ist mit dem Abendroth der Sehnsucht und Begeisterung übergossen, das Licht einer höhern Welt scheint sich darüber auszubreiten: es ist, als wenn wir uns in einem Zaubergarten befänden, in welchem uns die bekannten Blumen und Gewächse in größerem Wuchse und höherer Schönheit begegnen, wo wir uns in Allem zugleich überrascht und angezogen, zugleich fremd und einheimisch fühlen.«53 Was zeigen diese beiden Beispiele? De Wette veranschlagt »eine besondere Funktion der Kunst für die Darstellung des Unendlichen im

Theodor 73f. (21828 I, 97). Theodor 74 (21828 I, 98). 52 Vgl. hierzu Erster Theil, zweites Buch, fünftes Kapitel in: Theodor 139–146 (21828 I, 179–190). 53 Theodor 141f. (21828 I, 183). Ähnlich z.B. auch Theodor 152f. (21828 I, 197f.): Theodor trauert hier seiner verlorengeglaubten Wirksamkeit als Prediger nach, ent­ scheide doch in dieser Tätigkeit ausschließlich »die Kraft des Geistes, die Liebe, die Begeisterung«. Überall sonst sei es »die Klugheit, welche herrscht und der Begeisterung anmaßend in den Weg tritt, um für sie zu handeln. Der heilige Funke kann nicht frei hervorbrechen in erwärmende Flammen; man umhegt und umbaut ihn mit tausend Schranken, und hütet ihn, als fürchte man von ihm nur Zerstörung, nicht Leben und Gestaltung«. 50

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Endlichen«.54 Begeisterung, Erhebung des Gemüths und Erweckung der Gefühle geschehen in der Kunst nicht anders als im Modus des inneren Affiziertseins durch »Ideen«55. Nur »Ideen« vermeiden in der Kunst »Gedankenleere«56 und sind – um es am Beispiel der Musik zu veranschaulichen – in der Lage, »das Gemüth in eine Stimmung [zu] versetz[en], welche dauernd ist und lange nachtönt, ihm Schwung und Federkraft verleiht, und es für alles Große und Herrliche mit freudiger Lust erfüllt«.57 Indem nun »die Kunst unter einer bestimmten Form eine Idee zur Darstellung bringt, vermag sie auch die religiöse Erfahrung anzu­ leiten«.58 Denn das Wesen der Religion, sei, so Theodor, »ursprüng­ liche[] Gefühlsregung«,59 »ursprüngliche, lebendige Anschauung«,60 »die Ahnung eines unerreichbar, unbegreiflich Höherem«61 und habe »die Richtung auf das Innere«.62 Beschrieben wird dieses ursprüng­ liche Gefühl unter anderem als eine »Stimmung der demüthigen Empfänglichkeit«,63 »Ergebung in den Willen Gottes«,64 kurz: das »Heilige«, das »man nicht zu gemein und sichtbar machen soll«.65 De Wette unterscheidet im Blick auf das religiöse Gefühl Begeisterung,

Buntfuss: Erscheinungsform des Christentums, 174. Theodor 139 (21828 I, 180). 56 Theodor 140 (21828 I, 181). 57 Theodor 140f. (21828 I, 182). 58 Buntfuss: Erscheinungsform des Christentums, 179. Zu den »religiösen Ideen« bei de Wette vgl. Buntfuss: Erscheinungsform des Christentums, 190–193 und AxtPiscalar, Christine: De Wettes Religionstheorie, in: Mathy, Hans-Peter / Seybold, Klaus (Hg.): Wilhelm Martin Leberecht de Wette. Ein Universaltheologe des 19. Jahrhunderts (Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel NF 1), Basel 2001, 108–126, bes. 118–126. – Vgl. auch Theodor 178 (21828 I, 232): »Eigentlich ist jedes höhere Gedicht und Kunstwerk ein religiöses Symbol, indem es den Geist, der die Welt trägt und erhält, oder die ewige Weltordnung versinnbildet«. Oder 188 (21828 I, 244): »Jedes Gedicht und Kunstwerk ist Symbol dadurch, dass es in irdischer Gestalt das Uebersinnliche abspiegelt«. – Ich beschränke mich auf Darstellungen des Kunstschönen. Auch wenn im Theodor das Naturschöne und seine Gefühlswirkungen Darstellung finden, gibt de Wette dem Kunstschönen den Vorrang. 59 Theodor 366 (21828 II, 188). 60 Theodor 366f. (21828 II, 189). 61 Theodor 343 (21828 II, 157). 62 Theodor 399 (21828 II, 232). 63 Theodor 157f. (21828 I, 205). 64 Theodor 344f. (21828 II, 159). 65 Theodor 403f. (21828 II, 238). 54 55

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Ergebung und Andacht.66 Begriffe und dogmatische Systembildungen seien dagegen nur »Mittel, sich und Andere darüber zu verständi­ gen«.67 Die Predigt als religiöse Rede dient der Kommunikation dieses Gefühls und der damit einhergehenden Gemütszustände. Sie speist sich aus diesem Gefühl und zielt auf eben dieses Gefühl hin. Sie will die Menschen in dem Gefühl für die grundlegende Empfänglich­ keitsstruktur des Lebens stärken. »Dieses Gefühl der Demuth, der Empfänglichkeit für etwas Höheres, als wir selbst sind, ist die Quelle alles lebendigen, frommen Gefühls, aller Begeisterung und Andacht, worin wir uns immer über uns selbst erhoben finden. Jede Predigt soll wenigsten einen Funken dieses Gefühls in die Gemüther der Hörer werfen«.68 Als begeisterte Rede zielt die Predigt auf eine religiöse Gefühlsaffizierung der Hörer und Hörerinnen, ausgehend von einem religiösen Affiziertsein der Predigtperson selbst. Es geht nicht um die Kommunikation von objektiven Glaubenswahrheiten, sondern um das Evozieren und Verbreiten der religiösen Gefühlszustände der Begeisterung, Ergebung und Andacht.69 Darin ist die Predigt der Kunst vergleichbar und ihr eignet eine der Kunst vergleichbare Funk­ tion.70 Daher korrespondiert die Aufgabe des Predigers der des Dichters und die Musik ist der Predigt funktionsäquivalent. So heißt es vom Dichter, er »soll immer erheben und erheitern; er soll das Leben nicht in den beengenden Schranken der alltäglichen Wirklichkeit, sondern 66 Zur Ordnung der religiösen Gefühle bei de Wette vgl. Axt-Piscalar: De Wettes Religionstheorie, 124: »Aus der Verbindung der Idee unseres ewigen Seins mit der Idee eines ewigen Zweckes ergibt sich die Idee der Bestimmung des Menschen. Ihm wird im Gefühl der Begeisterung entsprochen. Die Idee der Freiheit gestaltet sich durch die praktische Idee des Zweckes bestimmt zu der Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Dem wird im Gefühl der Ergebung entsprochen. Die Idee Gottes gestaltet sich zum Gedanken des heiligen Regenten und Gesetzgebers der Welt, der das Gute will, dem das von uns aufgrund unserer Endlichkeit verschuldete Böse entgegensteht. Dem wird im Gefühl der Andacht entsprochen.« 67 Theodor 366 (21828 II, 188). 68 Theodor 157f. (21828 I, 205f.). 69 Vgl. auch Buntfuss: Erscheinungsform des Christentums, 217. Zur »Ergebung« als Predigtziel vgl. die Ausführungen von Johannes über die Pfarrerstochter Anna Werner an Theodor (150 (21828 I, 195)). 70 Dies wird erzählstrategisch unter anderem durch die Einfügung des oben bereits zitierten Gespräches zwischen Walther und Theodor über Aufgabe und Zweck der Predigt genau in die Zeit des Berlinaufenthaltes verdeutlicht (vgl. hierzu das vierte Kapitel im ersten Teil, zweites Buch in: Theodor 135–138 (21828 I, 174–179)).

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in einem höhern Lichte zeigen«.71 Der Zweck der Musik sei, »Gefühle zu erwecken, eine Gemüthsstimmung hervorzubringen«.72 Und eben dies erweist sich auch als die Aufgabe und Funktion des Predigers. Diese Bestimmung hat Rückwirkungen auf das Verständnis der Theologie als einer akademischen Disziplin. Denn ein derart bestimmtes Wesen der Religion ist gerade nicht im Modus historischkritischer oder philologischer Erläuterungen der biblischen Texte oder durch Vermehrung historischen Wissens zugänglich, sondern allein durch eine Einübung in die ästhetische Praxis des Christentums.73 Die empirisch vorfindliche mangelnde Begeisterungsfähigkeit der Predigt, ihre nahezu sprichwörtliche Langeweile74 wird im Theodor ursächlich mit der theologischen Ausbildung verbunden. Die pro­ blematische Dominanz exegetischer und historischer Ausbildungsin­ halte in Verbindung mit einem »Gemengsel von positiven Satzungen und irgend einer philosophischen Schule abgeborgten Lehrmeinun­ gen«75 sei, so Theodor, die wahre Ursache für die »Leere und Kälte des protestantischen Gottesdienstes«.76 Die Predigt selbst sei »meis­ tens nichts als die kümmerliche Frucht des dürftigen Studiums der Theologie, wie es auf den Universitäten getrieben zu werden pflegt, bestehend aus einigen moralischen Gedanken, ohne Geist auf die all­ tägliche Erfahrung angewandt, mit einigen Bibelstellen verbrämt«.77 Damit aber gehe der Predigt genau jene ästhetische Dimension verlo­ ren, ohne die religiöse Ergriffenheit sich nicht einzustellen vermag, denn »da wo die dichterische und künstlerische Begeisterung walten Theodor 119 (21828 I, 155). Theodor 144 (21828 I, 187). – Ergänzend sei hier darauf verwiesen, dass im Verlauf des Romans auch die Architektur sowie die religiöse Wirkung von sakralen Gebäuden in dieses ästhetische Konzept einbezogen werden. Im Gespräch mit dem Katholiken Otto von Schönfels formuliert Theodor: »Wenn das Gefühl der Andacht sich in feierlichen Gesangsweisen, in begeisterter Rede ausspricht: warum soll nicht der Geist der Frömmigkeit sich auch in Stein und Farben schöpferisch offenbaren?« (Theodor 235 (21828 II, 16)). So wird das Straßburger Münster vom Protagonisten als »Werk des Glaubens und Begeisterung« beschrieben (Theodor 350 (21828 II, 167), welches »ein geistiges Anschauen, beinahe wie bei einem Gedicht« evoziere (Theodor 355 (21828 II, 173).). Vgl. hierzu auch Axt-Piscalar: De Wettes Religionstheorie, 112f. 73 Dies hat ausführlich rekonstruiert Buntfuss: Die Erscheinungsform des Christen­ tums, zusammenfassend z.B. 156–159. 74 Vgl. Theodor 405 (21828 II, 240). 75 Theodor 181 (21828 I, 234). 76 Theodor 181 (21828 I, 234). 77 Theodor 181 (21828 I, 235). 71

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sollte, treibt eine geist- und gemüthlose Klügelei ihr Wesen, und statt das Leben zu entzünden, erkältet und zerstört sie es«.78 Der mit Begeisterung und auf Ergebung wie auf Andacht hin predigende Landgeistliche ist das Ideal, an dem sich auch eine Studienreform zu orientieren habe. Seine exemplarische Darstellung findet dieses Ideal in Johannes, »der in warmer Begeisterung zu einfachen Landleuten redet, und mehr ihr Gefühl als ihren Verstand anzuregen« weiß.79 Eine so verstandene Homiletik lässt sich an ein Diktum Fried­ rich Schlegels (1772–1829) zur romantischen Rhetorik anschließen, sprach dieser doch im Hinblick auf die romantische Beredsamkeit von »enthusiastische[r] Rhetorik«,80 deren Fluchtpunkt die »heftige, bezaubernde, das Alltagsleben transzendierende Gefühlserregungen« bilden solle.81 Religiös qualifizierte Begeisterung wird von Theodor kategorial unterschieden sowohl von allen Formen der kulturellen »Zerstreu­ ung«82 wie auch dem Gemütszustand der »Rührung«. Rührung ist diejenige ästhetische Kategorie, mit welcher – tendenziell abwertend – die Wirkung der Kunst auf Therese beschrieben wird.83 Auch homiletisch unterliegt sie einem Verdikt. Rührung ist nur punktu­ ell, ausschließlich der Situation geschuldet. Sie werde, so Theodor, »bisweilen von einzelnen gelungenen Momenten hervorgebracht, bisweilen auch nur von Kunstgriffen des Dichters, gerade so wie schlechte Prediger durch die Erinnerung an Verstorbene oder ähnliche Gedanken die Weiber weinen machen, und doch sonst gar keine Theodor 182 (21828 I, 235). Theodor 156 (21828 I, 203). Johannes freilich lehnt seinerseits einen ästhetisch grundierten Predigtbegriff ab, da das Ziel der Predigt nicht in der Weckung »heilige[r] Gefühle« bestehe, sondern auf einen »Entschluß zum Besserwerden im Menschen« ziele, also eine Mahnrede zu sein habe (Theodor 186 (21828 I, 240)). 80 Vgl. Athenäums-Fragment 137: »Es gibt eine materiale, enthusiastische Rhetorik die unendlich weit erhaben ist über den sophistischen Mißbrauch der Philosophie, die deklamatorische Stylübung, die angewandte Poesie, die improvisierte Politik, welche man mit demselben Namen zu bezeichnen pflegt. Ihre Bestimmung ist, die Philoso­ phie praktisch zu realisieren, und die praktische Unphilosophie und Antiphilosophie nicht bloß dialektisch zu besiegen, sondern real zu vernichten« (Schlegel, Friedrich: Athenäums-Fragmente, in: Ders.: Kritische und theoretische Schriften. Auswahl und Nachwort von Huyssen, Andreas, Stuttgart 1978, 76­142, 94). 81 Ueding, Gert / Steinbrink, Bernd: Grundriss der Rhetorik. Geschichte – Technik – Methode, 3. Überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart/Weimar 1994, 135f. 82 Theodor 143 (21828 I, 185). 83 Vgl. z.B. Theodor 115–121 (21828 I, 150–158). 78

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Erbauung stiften. Der Grad der Rührung hängt übrigens nicht immer von der Stärke des empfangenen Eindrucks ab; je schwächer und weicher man ist, desto leichter ist man zu rühren; und die Thränen sind oft nichts als eine Frucht der körperlichen Schwäche, daher auch in mein schwächers linkes Auge zuerst die Thränen treten«.84 Rührung ist eine ästhetische Kategorie für Gefühle minderer Qualität. Theodors Kritik schließt an Kants Verdikt an.85 Begeisterung dagegen ziele, so Theodor, auf Dauer. Geduld ist ihre »unentbehrliche Beglei­ terin«. Denn darin eben »bewährt sich die wahre Gediegenheit und Nachhaltigkeit der Begeisterung, daß sie alle diese Prüfungen besteht, ohne ihre frische Kraft zu verlieren«.86 Dass das hier geschilderte kritische Spannungsverhältnis unter­ schiedlicher Gefühlsregungen und die Priorisierung von Begeiste­ rung, Ergebung und Andacht mehr als nur einen Nebenaspekt des Romankonzepts dargestellt, vielmehr die Autorintention betrifft, soll abschließend durch einen Blick in das exegetische Werk von de Wette angedeutet werden. So findet die ästhetische Kategorie der »Begeisterung« auch in anderen Werkkontexten Verwendung, u.a. im Zusammenhang von de Wettes Projektes einer hebräischen Poetik. Hier unterscheidet de Wette folgendermaßen: »Die hebräische Poesie theilt sich in zwey Hauptgattungen, in die lyrische und epische. Unter der Ersten begreife ich alles, was mit Begeisterung und Aufregung des redenden Subjektes vorgetragen wird, daher man sie auch die begeisterte oder subjektive Poesie nennen könnte; der zweyten würde Theodor 115f. (21828 I, 150f.). Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, in: Ders.: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie (Werke in 10 Bänden, Bd. 8), (1957) Darmstadt 1983: § 13 (S. 302): »Der Geschmack ist jederzeit noch barbarisch, wo er die Beimischung der Reize und Rührungen zum Wohlgefallen bedarf, ja wohl gar diese zum Maßstabe seines Beifalls macht« (Hervorh. im Orig.). Auch Kant betont das Momentane, Augenblickliche der Rührung (§ 14; S. 306). – Zu Kants Kritik der Rührung vgl. u.a. Liessmann, Konrad Paul: Reiz und Rührung. Über ästhetische Empfindungen, Wien 2004, 37–53 sowie Torra-Mattenklott, Caroline: Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 104), München 2002, bes. 11–26. Die skizzierte Kritik an der Rührung führt in der Rhetorik zur »Entkopplung von movere und per­ suasio, d.h. von Rührung als ästhetischem Wirkungsziel und ethisch-praktischen Zwecken« (a.a.O., 25). 86 Theodor 215 (21828 I, 279). – Diese Ablehnung der Rührung durch Theodor erklärt auch seine partielle Distanz zur religiösen Praxis der Herrnhuter Brüdergemeine. Vgl. Theodor 39 (21828 I, 51). 84 85

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die Bezeichnung der objektiven zukommen, da ihr Charakter ruhige Darstellung des Objekts ist«.87 Auch dieses Programm einer poeti­ schen Bibelhermeneutik88 spiegelt die Verbindung des Poetischen mit der Kategorie der Begeisterung wider, so dass der Dichter als »reden­ des Subjekt« auch hier geradezu als Prediger erscheint. Es ist die Aus­ drucksgestalt religiöser Gefühlswelten, wie sie sich in den Psalmen findet, die durch de Wette besondere Wertschätzung erfährt.89 Weil sich eben das Subjektive, Gefühlsmäßige, sich in Begeisterung Aus­ druck Verschaffende bereits in der Bibel findet, unterliegt es nicht, wie bspw. bei Vilmar, einem Verdikt. Die konstruktive Rezeption ästhe­ tischer Kategorien transformiert die Bibelhermeneutik und in der Konsequenz auch das Predigtverständnis.

3. Kontexte der sonntäglichen Predigt: Die häuslichprivate Andacht und das gesellige Gespräch Der Inhalt der Predigt wird, so die Darstellung im Roman, im Spannungsfeld von offiziellem Kirchenglauben und individueller Überzeugung ausgehandelt (siehe Abschnitt 1). Diese individuelle Überzeugung wird mit den ästhetischen Kategorien der Begeisterung, Ergebung und inneren Andacht näher beschrieben und von bloßer Rührung abgegrenzt (siehe Abschnitt 2). Wird die Religion derge­ stalt als eine individuelle konzeptualisiert, so gerät die sonntägliche Gemeindepredigt in Konkurrenz mit anderen religiösen Kommunika­ tionsformen. Religion wird privater, und die privatisierte Frömmig­ keits- und Religionspraxis pflegt eigene Formen wie sie auch etablierte Formen transformiert. Der Roman verdeutlicht dies hauptsächlich am Beispiel der häuslich-privaten Andacht und des geselligen Gesprächs. Beginnen wir mit der häuslichen Andacht. Insbesondere die Familie wird erzählerisch als Sozialisations- und Tradierort der kirch­ lichen Religion in Blick genommen. Die beiden ersten Predigten De Wette, Wilhelm Martin Leberecht: Commentar über die Psalmen in Beziehung auf seine Uerbersetzung derselben, zweyte, verbesserte und vermehrte Auflage, Heidel­ berg 1823, zit. nach Buntfuss: Erscheinungsform des Christentums, 160. 88 Vgl. Buntfuss: Erscheinungsform des Christentums, 160 u.ö. 89 Siehe hierzu Buntfuss: Erscheinungsform des Christentums, 167–174. – Zu de Wettes exegetischen Arbeiten vgl. Smend, Rudolf: Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Arbeit am Alten und am Neuen Testament, Basel 1958. 87

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Theodors werden durch die Erzählung einer familiären Andacht im Haus der Mutter als Ausdruck gemeinschaftlicher Frömmigkeitspra­ xis flankiert. Dabei werden familiär-private Frömmigkeitspraxis und kirchlich-objektive Glaubensinhalte ineinandergeschoben. Denn es ist der Pfarrer, der ins Haus kommt und die Andacht hält. Als Thema wählt er den Zentralgegenstand protestantischen Glaubens, die Rechtfertigungslehre.90 Die häusliche Andacht referiert explizit auf einen biblischen Text. Nach dessen Verlesung spricht der Predi­ ger »mit Nachdruck von der Unzulänglichkeit aller menschlichen Werkthätigkeit, und wie dadurch kein wahrer Friede zu erlangen sey; der Mensch müsse, in Demuth seine Unwürdigkeit erkennend, die Gnade Gottes in Christo ergreifen, durch dessen Blut wir von allen Sünden reingewaschen werden«.91 Während der Pfarrer wie andere Vertreter der kirchlichen Zunft – so oben dargestellt – diesen Kirchenglauben, weil verständlich, für den Glauben des Volkes halten, wird die Wirkung dieser Andacht auf eben dieses Volk erzählerisch im Möglichkeitsgestus beschrieben: »Alle Hausgenossen schienen von dem Sinne dieser Rede tief ergriffen«.92 Die Zuschreibungen des Pfarrers an den Glauben des Volkes und an dessen Hörerwartun­ gen werden diskret in den Konjunktiv verschoben, wohingegen sich der Freund aus der Stadt Landeck, völlig erwartungsgemäß, »fremd und unbehaglich« fühlt und nur »unaufmerksam und zerstreut« der Andacht zu folgen vermag.93 Theodor wiederum bemängelt die Themenwahl, und zwar gerade im Blick auf die Hörer und Hörerinnen. Präferieren die Kirchenfunktionäre den Kirchenglauben und dessen Inhalte wegen dessen vermeintlicher Passgenauigkeit für das sog. Volk, so werden diese inhaltlichen Bestände von Theodor just wegen deren Abständigkeit und ihres fehlenden Lebensbezugs für das sog. Volk verworfen. Was bringe es, fragt Theodor, »wenn solche veral­ tete[n] und unverdaute[n] Begriffe, welche dem gemeinen Mann unfaßlich und ungenießbar sind, und für das Leben keine Frucht brin­ gen können, vorgetragen werden. Unpassender kann kein Thema für eine Andachtsübung gewählt seyn, als dieses von der Gerechtigkeit durch den Glauben«.94 So wird auch in der Wahl der Inhalte die 90 91 92 93 94

Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Abschnitt 1. Theodor 10 (21828 I, 11). Theodor 10 (21828 I, 11) (Hervorh. v. RC). Theodor 10 (21828 I, 11). Theodor 10 (21828 I, 11).

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Differenz zwischen dem Pfarrer, der für den Kirchenglauben, und Theodor, welcher für das homiletische Prinzip der individuellen Über­ zeugung steht, zur Darstellung gebracht. Wie oben dargelegt, widmet Theodor sich in seinen beiden Predigten der »Selbstbeherrschung« und dem »Gebet«.95 Dieser ersten häuslich-familiären Andacht, welche das Span­ nungsverhältnis von offiziellem Kirchenglauben und individueller Überzeugung abbildet, korrespondiert – erzählstrategisch zentral gestellt – die erste Begegnung von Theodor und Hildegard. Erneut ist die Andacht in ein Privathaus lokalisiert. Jetzt aber ist sie konsequent individualisiert, fokussiert auf die innere, individuelle Anbetung, ausgelöst durch ein äußeres Bild. Erzählt wird, wie Theodor Hildegard sieht, kniend, versunken in die Andacht vor einem »mit Blumen bekränztes Muttergottesbild«.96 Hatte seinerzeit der Pfarrer einen biblischen Text verlesen und ausgelegt, so ist die Andacht Hildegards stille Anschauung – »der schöne Kopf hob sich andächtig nach dem Bilde empor, und die zarten, weißen Hände waren zum Gebete gefaltet«.97 Theodor selbst versinkt andächtig in die Anschauung dieser Anschauung. Seine Augen ruhen »auf der betenden Gestalt, deren blonde Locken auf das weiße Gewand herabfielen, das in reichen Falten den schlanken Leib umgab«. Beim Betrachten einer religiösen Stimmung wird er selbst religiös affiziert und gerät »in eine[] wunderbare[] Stimmung; er glaubte einen Engel des Himmels, von ätherischem Licht umflossen, vor sich zu sehen«.98 Während eine evangelische Hausandacht ein auslegendes Wort zum Hören gibt, ist eine katholische Andacht auf das Betrachten des religiösen Symbols der Gottesmutter fokussiert. Die Beschreibung der Andacht fungiert als konfessionskultureller Differenzmarker – Protestanten hören, Katholiken schauen.99 Betrachtet man die Darstellung von Predigt und Andacht im Theodor in kontextueller Perspektive, dann fällt zum zweiten auf, Vgl. oben Anm. 36. Theodor 222 (21828 I, 287). 97 Theodor 222 (21828 I, 287). 98 Theodor 222 (21828 I, 287). 99 Vgl. hierzu auch die Diskussionen zwischen Theodor und Sebald sowie zwischen Theodor, Otto und Hildegard (Zweiter Theil, zweites Buch, zweites und drittes Kapitel, in: Theodor 398–405 (21828 II, 230–240)) sowie die konfessionskulturell motivierte Beschreibung der Differenz zwischen England und Holland (Theodor 264ff. (21828 II, 53ff.).). 95

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dass diese beiden Formen religiöser Kommunikation gegenüber dem geselligen Gespräch, auch dem über religiöse Fragen, in den Hin­ tergrund treten bzw. erst in der erzählerischen Korrespondenz mit diesem ihr Spezifikum entfalten. Das gilt für den Roman selbst, denn auf »weiten Strecken ist der Roman Dialog«.100 Die großen theologisch-religiösen Fragen, welche den Protagonisten während seiner biographischen Selbstfindung beschäftigen, werden in Gesprä­ chen traktiert, seien es Gespräche mit Lehrern, im familiären Kreis oder unter Freunden.101 Im Vollzug des Gespräches evaluiert der Protagonist seine Positionen, entfaltet seine Gedanken, klärt seine Fragen102 und bezieht sich auf die Perspektiven anderer. Das Gespräch ist derjenige Ort, an welchem individuelle religiöse Überzeugungen generiert, präsentiert und transformiert werden. Ein Predigtideal, welches sich statt dem amtlichen Kirchenglauben der individuellen religiösen Überzeugung verpflichtet weiß, korrespondiert der Idee des Gesprächs. Insgesamt also treten religiöse Rede in Predigt, Andacht und Gespräch in ein wechselseitiges Korrespondenzverhältnis. Verfolgt man diese Deutungsperspektive, dann spiegelt sich in dem Roman eine Debatte wider, die für die zeitgenössische Rhetorik durch die 1812 erschienenen Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland (1812) von Adam Müller prominent eröffnet worden war. Für Müller ist bekanntlich das Gespräch die »Quelle der Beredsamkeit«.103 Ihm ist eine Rede »nichts anders als 100 Pestalozzi, Karl: De Wette als Romanautor, in: Mathy, Hans-Peter / Seybold, Klaus (Hg.): Wilhelm Martin Leberecht de Wette. Ein Universaltheologe des 19. Jahrhunderts (Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel NF 1), Basel 2001, 127–145, 131. 101 Nicht berücksichtigt wird im Folgenden die Praxis des Tagebuchschreibens als einem religiösen Selbstgespräch. Im Roman wird dieser Sachverhalt bedeutsam, als Hildegard Theodor ihr Tagebuch schenkt (Theodor 326f. (21828 II, 135–137)). Dort erkennt Theodor sogleich »seine eigenen Gedanken wieder« und ruft »entzückt« und die religiöse Gemeinschaft bestätigend aus: »O Hildegard! Wo begegnest Du mir nicht?« (Theodor 331 (21828 II, 141)). 102 Vgl. z.B. den Erzählerkommentar am Ende eines Lehrgesprächs zwischen Theodor und Professor A: »Theodor dankte ihm [Prof. A] hocherfreut über die ertheilte Belehrung, die ihm so viel Licht verschafft hatte, und ging vergnügt hinweg« (Theodor 83f. (21828 I, 109)). 103 Müller, Adam: Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutsch­ land. Gehalten zu Wien im Frühlinge 1812, jetzt in: Ders.: Kritische, ästhetische und philosophische Schriften. Kritische Ausgabe, 2 Bde., hg. v. Schroeder, Walter und Siebert, Werner, Neuwied/Berlin 1967, Bd. 1, 297–451, 322. – Zu Müllers Rhe­ torikkonzeption vgl. u.a. Jens, Walter: Von deutscher Rede. Erweiterte Neuausgabe,

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ein abgeschlossenes Gespräch, welches in allen seinen wesentlichen sichtbaren und unsichtbaren Teilen durch den Mund eines Menschen an die Welt tritt.«104 Um also »die Beredsamkeit in allen ihren unend­ lichen Formen zu verstehn«, müsse man, so Müller, »das Gespräch verstehn«.105 Ein Gespräch sei »der höchste Genuß des Lebens«, mit­ hin »der erste aller Genüsse, weil es die Seele aller anderer Genüsse ist: auf diese einfache Formel reduziert sich das ganze verschlungene Treiben unseres Lebens«.106 Für ein echtes, mit der Kategorie des dramatischen beschriebenen,107 Gespräch geht Müller von zwei Vor­ aussetzungen aus. Zum einen benötigt ein echtes Gespräch »zwei durchaus verschiedene Sprecher, die einander geheimnisvoll und unergründlich sind«.108 Nur Verschiedenheit ermöglicht ein leben­ diges Gespräch. Dieses Prinzip strukturiert m.E. die religiösen wie ästhetischen, aber auch politisch-sozialen Inhalte der Gespräche im Theodor. Andererseits darf, so Müller, die Verschiedenheit keinen ausschließenden Charakter haben. Daher müsse zweitens zwischen beiden Gesprächspartnern immer auch »eine gewisse gemeinschaftli­ che Luft«109 vorhanden sein. Die beiden Gesprächspartner müssen »an einander glauben, eine Luft des Vertrauens muß sie beide umfan­

München 31983, 79–87; Ueding/Steinbrink: Grundriss, 136–138; Kronenbitter, Günther: Wort und Macht. Friedrich Gentz als politischer Schriftsteller (Beiträge zur Politischen Wissenschaft 71), Berlin 1994, 103–111. – Zum Verhältnis von Rede und Gespräch in der rhetorischen Theorie siehe u.a. Fauser, Markus: Das Gespräch im 18. Jahrhundert. Rhetorik und Geselligkeit in Deutschland, Stuttgart 1991 und Riedl, Peter Philipp: Die Macht des Mündlichen. Dialog und Rhetorik in Heinrich von Kleists Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden, in: Euphorion 98 (2004), 129–151. Die einschlägigen Texte zur Gesprächstheorie finden sich bei Schmölders, Claudia (Hg.): Die Kunst des Gesprächs. Texte zur Geschichte der europäischen Konversations­ theorie, München 1979, zu Müller siehe dort 237–248. – Müller selbst ordnet seine Gesprächstheorie in die Tradition der platonischen Dialoge ein (Müller, Adam: Von der Idee der Schönheit. Vorlesungen gehalten zu Dresden im Winter 1807/08, jetzt in: Ders.: Kritische, ästhetische und philosophische Schriften. Kritische Ausgabe. 2 Bde., hg. v. Schroeder, Walter und Siebert, Werner, Neuwied/Berlin 1967, Bd.1, 7–149, 4). 104 Müller: Reden über die Beredsamkeit, 320. 105 Müller: Reden über die Beredsamkeit, 308 (Hervorh. im Orig.). 106 Müller: Reden über die Beredsamkeit, 311. 107 Zu dieser Formulierung siehe Müller, Adam: Über die dramatische Kunst. Vorlesungen gehalten zu Dresden 1806, jetzt in: Ders.: Kritische, ästhetische und philosophische Schriften. Kritische Ausgabe. 2 Bde., hg. v. Schroeder, Walter und Siebert, Werner, Neuwied/Berlin 1967, Bd.1, 139–157, 155. 108 Müller: Reden über die Beredsamkeit, 312. 109 Müller: Reden über die Beredsamkeit, 312.

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gen, ein Boden der Gesinnung muß sie beide tragen; mindestens muß ein gemeinschaftliches Gesetz des Anstandes und Wohllautes zwischen ihnen obwalten«.110 Insgesamt geht Müller für das Gespräch und damit auch für die Rede von einer triadischen Struktur aus – Redner, Gegen-Redner und ein gemeinsames, höheres Drittes.111 Das Gespräch ist zunächst wesentlich Streitgespräch. Je normativer freilich das gemeinsame Dritte konzeptualisiert wird, desto stärker gewinnt das Gespräch den Charakter des Lehrgesprächs. Manfred Frank hat daher zu Recht darauf hingewiesen, dass innerhalb dieser triadischen Denkfigur der »regulative« Sinn des Willens auf Einigung zur »faktischen Voraussetzung« des Gesprächs wird.112 Vor diesem Hintergrund wird plausibel, warum auch im Theodor die Gespräche eben keine »offene[n] Dialoge [sind], die ins Nichtwissen münden«, wie Karl Pestalozzi mit kritischem Unterton vermerkt hat.113 Der Roman stellt die religiösen Kommunikationsformen der Pre­ digt, der häuslichen Andacht, der privaten Andacht, wie aber auch die römisch-katholische Messe oder die herrnhutschen Versammlungen dem geselligen Gespräch gleich. Oft sind diese Kommunikationsfor­ men selbst Gegenstand und Thema des Gesprächs.114 Dabei zeigt sich: Predigt, Gottesdienst und häuslich-kirchliche Andacht haben ange­ sichts der Etablierung einer bürgerlichen, auf Dialogizität angelegten Gesprächskultur ihre Zentralstellung als Orte religiöser Kommunika­ tion verloren. Dieser Umstand hat auch pastoraltheologische Konse­ quenzen, denn die Prediger stehen in Konkurrenz und können nicht länger mit Verweis auf das ›Amt‹ eine rhetorisch-ästhetische Sonder­ stellung und ein religiös-theologisches Deutungsmonopol erhoffen. Auf genau diesen Punkt zielt die als »scharfsinnig[]« eingeführte Kritik von Therese am Predigerstand: »Der Beruf eines Predigers schmeichelt der Neigung, welche die Männer, besonders die Gelehrten, haben, zu reden, zu lehren, ihr Wissen gelten zu machen; und man weiß ja, wie gerne sie sich mit der Müller: Reden über die Beredsamkeit, 313. Vgl. hierzu Conrad: Kirchenbild und Predigtziel, 90–98. 112 Frank, Manfred: Einverständnis und Vielsinnigkeit oder: Das Aufbrechen der Bedeutungs-Einheit im ›eigentlichen Gespräch‹, in: Stierle, Karlheinz/Warnung, Rainer (Hg.). Das Gespräch (Poetik und Hermeneutik 11), München 1984, 87–132, 110 (Hervorh. im Orig.). 113 Pestalozzi: De Wette als Romanautor, 135. 114 Vgl. bspw. das Gespräch über die teilweise beklagenswerte protestantische Pre­ digtkultur zwischen Theodor, Hildegard und Otto in: Theodor 404f. (21828 I, 239f.). 110 111

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Vorstellung schmeicheln, daß sie mit ihren Reden recht viel wirken, daß sie die Welt klüger und besser machen. Sie reden sich so warm, daß sie leicht glauben, sie theilen aller Welt ihre Wärme mit, was doch keineswegs der Fall ist«.115

Jetzt aber sind diese Zeiten vorbei. Die Formen religiöser Kommu­ nikation haben sich pluralisiert und individualisiert. Hinter diesen Prozess der Ausbildung einer kommunikativen Öffentlichkeit kann auch kirchlicherseits nicht zurückgegangen werden, auch nicht unter Verweis auf die Objektivität von Wort und Sakrament. Im Rahmen dieses Prozesses kann auch die Literarisierung von Predigt, Andacht und Frömmigkeitspraktiken, wie sie im Theodor vollzogen wird, als eine Form religiöser Kommunikation gelesen werden. Der Roman als (Gesprächs-)Roman ist selbst eine Form religiöser Kommunikation.116

4. Zusammenfassung: Literatur und Predigtforschung Mit dem zuletzt dargestellten Befund ist die Analyse der Bedeutung von Predigt und Andacht im Theodor mitten in der Diskussion um die Verhältnisbestimmung von Literatur und Religion angekommen. Predigt und Andacht sind für diese Diskussion hoch relevante For­ men, bieten sie doch durch ihr mehrstufiges Literarisierungs- und Rezeptionsverfahren unterschiedliche Ebenen der Bedeutungsgene­ rierung. Die Pluralität der Predigtkulturen, von mündlicher Predigt – dem eigentlichen »preaching event«,117 –, zu gedruckten Predig­ Theodor 153 (21828 I, 199f.). Dieser Befund wird durch die Beobachtung gestützt, dass der Autor sich immer wieder an den Leser wendet und auf die gemeinsame Perspektive von Erzähler und Leser auf den Protagonisten reflektiert. So wird Theodor immer wieder als »unser Freund« bezeichnet (z.B. Theodor 262f. (21828 II, 50f.)). – Dieser Befund gilt auch für Tholucks Briefroman, womit sich auch das dezidiert Anti-Moderne als der Moderne verpflichtet erweist. Axt-Piscalar betont entsprechend, dass die literarische Gattung »absichtsvoll die Form des spekulativen Systems [sprengt]. Statt rational abzuleiten wird in Briefen die je individuelle religiöse Erfahrung zweier Brieffreunde und ihr persönlicher Austausch darüber erzählt. Indem solcherart von der Sünde und vom Versöhner in ihrer Bedeutung für das religiöse Individuum gehandelt wird, verspricht Tholucks Erweckungstraktat eine Belehrung über die ›wahre Weihe des Zweiflers‹« (dies.: Ohnmächtige Freiheit, 11). 117 Vgl. die Unterscheidung von »written text« und »preaching event« bei Kienzle, Beverly Mayne: The Typology of the Medieval Sermon and its Development in the 115

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ten, die Medialisierung des Rhetorischen in Andachtsbüchern,118 erzählte Predigten, die literarisch dokumentierte Vielfalt sozio-kul­ tureller Kontexte etc. legen für die Forschung zur Kultur- und Sozi­ algeschichte der Predigt einen mehrperspektivischen Zugang nahe. Predigtforschung erweist sich als ein notwendig interdisziplinär ange­ legtes Verfahren mit multiperspektivischen Zugängen. Nur eine Pre­ digtforschung, die multiperspektivisch und interdisziplinär angelegt ist, vermag die soziale Bedeutung der Predigt als einer kulturellen und ästhetischen Praxis hinreichend zur Darstellung zu bringen. Die Frage nach Predigten in der Literatur erweist sich als eine der möglichen interdisziplinären Perspektiven, von der anzunehmen ist, dass sie Selbstverständnis, Rezeption und Wirkung der Predigt als einer sozio-kulturellen Praxis sowie entsprechende Transformations­ prozesse offenzulegen imstande ist. Dies vermag eine Lektüre des Theodor in der hier verfolgten Perspektive zu bestätigen. Damit aber bin ich am Schluss angekommen: Vilmar hat mit seiner eingangs zitierten Einschätzung vermutlich ebenso Recht wie Unrecht. Er hat bei der Theodor-Lektüre insofern das »volleste Nichts« gekostet, als dass er die ihm unsachgemäße Verbindung der Religion mit der ästhetischen Moderne erkannt hatte. Das aber ist nicht das »volleste Nichts«, sondern erweist sich homiletisch als Bedingung moderner Religionspraxis. De Wettes Theodor erzählt nicht nur die Bildungsgeschichte eines Geistlichen, sondern spiegelt zugleich die Ausbildung eines für Moderne kennzeichnenden ästhe­ tisch-theologischen Problembestandes wider, der sich exemplarisch an der Literarisierung von Predigt und Andacht zeigt, nämlich des Problems, wie individuelle Religion sozial kommunikativ zu wer­ den vermag.

Middle Ages. Report on Work in Progress, in: Hamesse, Jacqueline/Hermand, Xavier (Hg.), Histoire de la predication médievale. Actes du Colloque international de Louvain-la-Neuve 1992, Louvain-la-Neuve 1993, 83–101, 84. 118 Hier handelt es sich im Grunde um Predigten als Literatur, also solche Texte, die ausdrücklich zur Veröffentlichung bestimmt und deshalb intentional auf eine lesende Rezeption angelegt sind. Predigt als Literatur begegnet v.a. in Predigtsammlungen, dann aber auch in Andachtsbüchern u.ä. Vgl. oben Anm. 8.

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III. Materialien und Beigaben

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1. Rezension des Theodor im Literarischen Conversations-Blatt Nr. 251 von 1823

Ein kritisches Gespräch.* Die Leser des lit. Conv. Bl. sind schon mehr als einmal mit Kritiken und Beurtheilungen literarischer Erscheinungen in Gesprächsform unterhalten worden, und ich wüßte auch kaum für unser Blatt, wenig­ stens zur Abwechselung, eine passendere kritische Form, als eine sol­ che recensirende Pyrrhicha (ein alter Waffentanz, welchen Knaben und Mädchen tanzten), in welcher die bunte Reihe der conversirenden Männer und Frauen nun die Waffen, mit welchen sie sonst gegen Nachbarn, Freunde und Gevattern zur Unterhaltung spiegelfechten, an den gedruckten Freunden und Freundinnen üben. Wir könnten auch sagen: in unsern Zeiten, wo Conversation und Geselligkeit der Grundton aller menschlichen Bestrebungen ist und selbst der baum­ wollene Faden nicht mehr von der Spinnerin an ihrem einsamen Rade gedreht werden kann, sondern eine ganze Gesellschaft mit todten Rädern und Spindeln verquieckter Spinner und Spinnerinnen fordert; da sollte man endlich auch die Kritik collegialischer handhaben und einsehen, nicht nur, daß auch die Frauen ein Recht haben, darein zu reden, sondern daß es für unser Licht- und Öffentlichkeit-liebendes Zeitalter endlich wirklich an der Zeit ist, den alten Schuhu aus seiner Wüste herauszuziehen (s. die Vögel von Göthe) und an die Stelle sei­ nes Despotismus einen kritischen Republicanismus, der das öffentli­ che Rechtsverfahren des Dialogs decretirt, einzuführen. Es schwebt uns ein buntes Bild von einer neuen kritischen Constitution vor der Seele. Wir können sie jetzt nicht ausführlicher darlegen; aber ver­ suchen wollen wir, gleich in praxi eine Anwendung von unsern, zur Zeit noch im Embryonen-Zustande sich befindenden Ansichten zu geben. Das in der Überschrift genannte Buch soll der erste Vorwurf unserer kritischen Experimente seyn, und wir muthen unsern Lesern * Anonyme Rezension, in: Literarisches Conversations-Blatt, Nr. 251–254 (1.–5. Nov. 1823), 1001–1015.

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nichts weiter zu, als sich im Geiste in eine jener bunten Gesellschaften zu versetzen, in die er wohl täglich sich eingeführt sieht, und die er sich so gemischt und mannichfaltig, wie möglich, denken mag, die aber das Specifische hat, daß sie, statt plastisch-mimische Vorstell­ ungen zu geben oder sonst ein anderes ähnliches ConversationsKunststückchen zu üben, am Vorlesen der neuesten Literaturfrüchte sich ergötzt. Wir wollen unsere geehrten Leser in keine Weise beschränken, wohl aber uns freuen, wenn sie sich selbst an bequemen Stellen in die kritische Conversation mischen wollen.

»Irre ich nicht,« sagte die Generalin, als der erste Theil des obenge­ nannten Buchs gelesen war, dessen Verstehen manche Erklärung des geistlichen Herrn bedurft hatte, »so wollte der Verfasser in seinem Theodor die verschiedenen philosophischen Systeme beleuchten; er geht gleichsam von einem zum andern über, weil er in keinem sich befriedigt findet, doch vermeidet er die kritischen Mienen, Alles entwickelt sich nur leicht aus seinen eigenen Lebensansichten und Erfahrungen, und daher ist kein bestimmter Tadel der Unhaltbarkeit dieser Systeme ausgesprochen, sondern es geht nur bescheiden aus seinen Bemerkungen hervor, daß für ihn bei jedem etwas zu wünschen übrig blieb. So wendet sich der Held allmälig von der Philosophie ab und mehr der Religion zu, die in ihm überhaupt nie völlig erlosch; verkehrte Richtungen, halbes Erkennen und ein ungewisses Licht, das einzelne Theile blendend erhellt, andere nur in formloseres Dunkel versenkt, konnten das Gefühl der Andacht eine Zeitlang in ihm dämpfen, aber in einem so liebevollen Herzen, in welchem es so tiefe Wurzel schlug, nie ganz unterdrücken. Des Zweifels Wahn ritzt ihm nur die Haut, in das Mark dringt er nicht.« »Ja,« betheuerte die sonst so schweigsame Pfarrerin, »das fromme Vertrauen der trefflichen Mutter kann nicht getäuscht, ihr Glaube nicht zu Schanden werden. Ihr Brief an den Sohn, als dieser ihr gemeldet, daß er es aufgebe, Geistlicher zu werden, hat mich wahrhaft erbaut und gerührt, und ihre Meinung vom Gebet unterschreibe ich aus vollem Herzen. Was sie glaubt, woran sie sich festhält, auch im Todeskampf, werden wir bald schauen, das verirrte Lamm wird den wahren Weg zu seinem Hirten zurückfinden.« »Es ist,« fiel der General, im Geiste dieser allgemeinen Mitt­ heilungen fortfahrend, der Freundin in’s Wort, täuscht mich nicht

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1. Die Theodor-Rezension im Literarischen Conversations-Blatt von 1823

Alles, schon wieder auf | den rechten Weg zurückgetreten. Verstand 1002 und Neigung haben den Helden von seiner Bahn abgelenkt und eben sie machen nicht undeutlich Anstalt, freilich keineswegs auf die freundliche Weise, ihn aus seinem Irrwahn zu erwecken und so seine Heilung vorzubereiten.« »Theilen Sie uns, Herr Pfarrer,« nahm die Generalin das Wort wieder auf, »ihre Ansicht von Theodors Streben und von seinen wissenschaftlichen Meinungen mit. Wir möchten wohl Alle gern vorerst ein allgemeines Bild von dem lieben Helden, der hier vor uns strebt und ringt, in unserer Betrachtung niederlegen.« »Nur wollen wir nicht vergessen,« entgegnete der Pfarrer, »daß wir bis jetzt blos den ersten Theil gelesen haben. Indes muß allerdings der Held schon auf dieser Hälfte seiner Bahn, – ob es die Tag- oder die Nachtseite ist, darüber kann kaum ein Zweifel seyn – sich insoweit entwickelt haben, daß man ohngefähr sagen kann, was aus dem Kindlein werden möchte. Sie selbst und meine ahnungsvolle Frau sind auch wirklich in diesem Sinne der Auflösung vorgeeilt, und der Herr General hat vielleicht gar nicht unglücklich mit dem, was er von dem Verstande und der Neigung sagt, die Abscension und Declination dieses freundlichen Schweifsterns gefunden.« »Wenn ich frei sagen soll, was mir dünkt, so gestehe ich es, Theodors Streben ist mir lieb geworden, nicht sowohl als ein Bild der Entwickelung der bessern Menschheit überhaupt, sondern vielmehr als treuer Abdruck eines redlichen und gesegneten Ringens und Kämpfens mit den Gefahren unserer Zeit und der Bildungsstufe, auf welcher sie steht – ein Ringen, das tausend Jünglinge edler Art, die sich den Wissenschaften widmen, zu bestehen haben, wollen sie der Gewalt unserer zerstörenden Zeit nicht erliegen. – Vom Baume der Erkenntnis hat, nach der Bibel, vom Anfang an die Menschheit den Tod genossen, freilich auch dadurch allein erst eine Geschichte erhalten. In unserer Zeit scheint sich, so zu sagen mikrokosmisch, jener wunderliche Proceß wiederholt zu haben. Ich gebe es zu, dass der in langer Geistesruhe und Trägheit nicht blos um seine Heilkräfte gebrachte, sondern wirklich ungesund gewordene See des wissenschaftlichen Lebens die Bewegung eines Engels bedurfte, um seine früheren guten Eigenschaften wieder zu gewinnen. Die mit Kant zur vollen Besinnung wiedererwachte Philosophie – lange vorher, von den Zeiten der Scholastik bis zu Leibniz und Wolf, in ängstlichen Träumen vor dem Erwachen phantasirend – war der bewegende Engel. Aber ich bekenne es doch auch frei, daß ich, in

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Übereinstimmung mit der Hieroglyphensprache der alten Welt, in aller Philosophie immer nur die Schlange, das klügste unter allen Thieren des Feldes erblicke – die Schlange, die tödtlich verwundet, aber – freilich auch im ganzen Alterthume zugleich als das Symbol aller Heilung und Restauration angesehen wurde – mithin gar wohl ihre heilenden Kräfte besitzen mag. – Ich gebrauche noch ein anderes Bild. – »Es muß ja Ärgerniß kommen!« So, wie vor 50, 60 Jahren der Zustand der Wissenschaftlichkeit war, konnte es nicht fortgehen, und vielfältiges Wetterleuchten ließ erwarten, daß die dumpfe, schwüle Atmosphäre sich bald entladen müsse. Bald genug trat auch die philosophische Sündflut ein, die nun alle Höhen überschwemmte und alle Thäler erfüllte, die in Religion, Kunst und Wissenschaft alle Götzentempel und Altäre zertrümmerte, die man in so großer Menge gebaut hatte. Sie aber sollte so wenig der dauernde Zustand bleiben, als dasjenige, was von ihr umgestürzt ward, erhalten werden durfte, und wir bemerken mit Freude, daß wirklich ihre Gewässer, allmälig zu verlaufen, Anstalt machen, wenn auch bis jetzt noch keine ausgesendete Taube das ausgebrochene Ölblatt zurückgebracht hat. – Natürlich mußten fast alle, deren Bildung in diese Zeitkrisis gefallen ist, mit dieser Wolke und mit diesem Meere getauft werden; Tausende gingen unter in den Fluten und zogen eben so viele, die sich an sie festhalten wollten, mit sich in den feuchten Tod hinab; glücklich nur die kühnen Schwimmer, die freilich wohl durchnäßt, doch das Leben retteten und endlich eine Höhe erreichten, von welcher gewiß bald, auch die letzten, bedeckenden Wellen weichen werden! Sie sind die Zweifler, die aber in den Fluten die rechte Weihtaufe erhalten haben; sie sind in der Zeit des Abfalls und der Verführung wohl dem Zweifel, aber nicht dem Unglauben in die Hände gerathen; und der Zweifel – der Reue und der Scham über begangenes Unrecht viel näher verwandt, als man meinen möchte – ist das Bret geworden, an das sie festgeklammert endlich doch das Ufer erreichten. Ihr Ringen und Kämpfen verdient unserer Zeit im Bilde vorgehalten zu werden; und ein solches Gemälde dürfte leicht die lehrreichste und eindringlichste Geschichte unseres Jahrhunderts ersetzen können, so wie gewiß kein gefühlvoller Mensch den kühnen Schwimmern durch das wogende Meer ohne gespannte Theilnahme nachsehen kann. In diesem Sinne ist mir unser Theodor eine sehr bedeutende literarische Erscheinung, und die Aufschrift: »des Zweiflers Weihe« aus einem tiefen Blicke in die Natur unserer Zeit hervorgegangen – und, wie kräftig hat nicht schon in diesem ersten Theile der muthige

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Kämpfer sich wenigstens weit hinein in die Fluten und so doch dem Ziele näher gearbeitet! Die Narben und Mahlzeichen seiner Kämpfe wird er nicht so bald überwinden, auch wenn er in dem Hafen ist. Seine Gewande werden noch eine ziemliche Zeit triefen. Aber er hat eine reiche, volle, kräftige Natur gezeigt, die ihn, auf dem Trockenen angelangt, gewiß bald ganz und eben so sicher herstellen wird, wie die Göttin den Schwimmer Odysseus, nachdem er das Ufer der gastlichen Phäaken erreicht hatte. Für sehr viele Jünglinge unserer Zeit ist er ein herrlicher Vorkämpfer und Flügelmann geworden; und seine Biederkeit, seine Redlichkeit und Aufrichtigkeit, ein Pathenge|schenk, 1003 das den Vater unsers Theodor gar nicht verleugnen kann, muß ihn dem Leichtfertigen lieb und höchst lehrreich machen. Man verzeiht es mir gewiß, wenn ich den Zweifler besonders auch darum lieb habe, weil er zunächst für meinen Altar und Heerd kämpft; aber daneben ist es augenfällig, daß jeder Wissenschaftliche überhaupt gar leicht von dem Theologen die Anwendung auf sich machen könne, und dass, genau genommen, die philosophische Revolution unserer Zeit es eben so hauptsächlich auf die Theologie abgesehen hatte, als die politische dem monarchischen Prinzip galt. – Auch das will ich zugeben, daß unser Schwimmer nicht allemal in seinem »Vorwärts« so ganz gerecht ist gegen die philosophischen Systeme, durch welche ihn seine Bahn führt. Augenscheinlich stellt er mit Unrecht die viel tiefere Schellingʼsche Philosophie hinter das leichtere Friesische Gespinst. Aber – schon das ist genug: kein System hält ihn gefesselt; er hat das Rechte gesehen, dies nämlich: daß er alle, alle überwinden müsse; und so ist offenbar seine Grundansicht von der ganzen Masse doch die richtige.« »Der Verfasser scheint uns Frauen in Ehren zu halten,« sprach nach einer Pause, in der alle Anwesende über das so eben Gehörte nachdachten, die Geheimeräthin N.; »warum macht er es uns zuweilen so schwer, seinen Ideen zu folgen? Ohne die Beihülfe eines gelehr­ ten Freundes versteht man von dem, was in das wissenschaftlich Theologische schlägt, doch nur die Hälfte, und wir möchten gern Alles verstehen, denn wir sind unserm Theodor und seinem Schöpfer recht gewogen.« »Aber, liebe Tante,« entgegnete ihr Neffe, ein geistreicher Offi­ cier, »das Buch ist für denkende, wissenschaftlich gebildete Männer geschrieben, nicht eigentlich für Frauen, obgleich das allgemein Menschliche, das Schöne, das darin eben so gut beachtet ist, wie das Wissenschaftliche, die Kunstanschauungen und Urtheile, die Erklä­

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rungen und Auseinandersetzungen gewisser Begriffe und Sachen, die Frauen eben so gut ansprechen werden, wie die Männer, ja recht eigens dazu niedergelegt scheinen, sie über das zu belehren, was sie nur unbewußt empfanden. Ein zurechtweisender Freund wird selten fehlen, der einer lernbegierigen Frau, die nicht blos liest, um sich die Zeit zu kürzen, sondern um sich zu unterreichten, Gemüth und Geist zu stärken und zu erheben, die richtigen Aufschlüsse geben kann, die sie befähigen, ein Geisteswerk, wie das vorliegende, in seinem ganzen Umfang und seiner Bedeutung zu verstehen. Scheint es doch überhaupt, als habe der Verfasser nur diese Einkleidung gewählt, um gewisse Grundwahrheiten allgemeiner zu machen, als es in einem streng wissenschaftlichen, recht eigentlich gelehrten Werke hätte geschehen können. In diesem möchte es schwer gewesen seyn, die Urtheile über verschiedenartige Dinge unter sich zu verbinden, die Stellung dieser und jener Meinung u. dergl. zur Welt so anschaulich zu machen, als es hier geschieht. Die Geschichte an sich ist mir ein leiser Faden, um die Perlen einzelner Urtheile und Bemerkungen daran zu reihen, aber auch so immer noch trefflich und vorzüglich, obgleich man die Zeichnung der Charaktere mitunter etwas objec­ tiver wünschte.« Die Generalin. »Aber wie rein, wie mäßig gehalten! Keine Über­ ladung, nichts Grelles! Therese ist bei aller leichtsinnigen Oberfläch­ lichkeit eine gefällige Erscheinung; der schwache, dem Scheine der Weltklugheit huldigende Landeck kein Bösewicht; und überall die grellen Gegensätze vermieden.« Geheimerath. »Welchen Landeck meinen Sie, den alten oder den jungen? Sie haben aber vielleicht Recht, daß Sie diesen Unterschied nicht näher markirten. Denn der jüngere ist genau nur das, was der ältere gewiß auch in seinen jüngern Jahren gewesen ist, und solche Pflanzen, wie die beiden Landecks, gehen in der menschlichen Gesell­ schaft nie aus. – Es ist sehr schlimm, daß Gewohnheit und des äußeren Lebens versteinendes Medusenhaupt so leicht in den höhern Sphären des Geschäftslebens die Innigkeit und Wärme des besseren Mensch­ lichen unterdrücken und den Tufstein oder Stalaktit einer hohlen, lee­ ren Förmlichkeit, die an den todten, gespensterartigen Formationen einer blos mineralischen Schöpfung ihr Gefallen findet, ansetzen. Doch hat Theodor Unrecht, wenn er das Regierungswesen im Allge­ meinen so schnöde beurtheilt, wie er es hin und wieder thut. Erlauben Sie mir das Buch. S. 109.[Theodor 2022, S. 62f] »Das Regierungswe­ sen kam ihm wie eine Maschine vor, welche, von einer unbekannten

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Macht bewegt, Alle, die daran arbeiteten, wider Willen fortschob, und Wirkungen hervorbrachte, welche den landesväterlichen Absichten des Regenten eben so wenig als den Wünschen des Volks entsprachen, und von denen man die Schuld weder diesem noch jenem allein, son­ dern einem Zusammenwirken von mancherlei Umständen und Kräf­ ten beizumessen hatte.« Wie ungerecht! Und Sie werden sich erin­ nern, daß unser Held und mehrere Nebenpersonen hin und wieder sich noch viel schärfer und schneidender gegen alles Geschäftsleben überhaupt erklären – offenbar nur, um auf solchem dunkeln Grunde das Landprediger-Leben desto glänzender und augenfälliger hervor­ heben zu können. Ich bin immer noch der festen Überzeugung, die unser alter, frommer Gellert oder sonst wer ausgesprochen hat: Ein jeder Stand hat seine Würden, ein jeder Stand hat seine Last. – Die Vorliebe indeß für seinen Stand verzeihe ich jedem gerne, der sie auch noch greller ausspricht, als es hier geschieht.« Der Professor. »Lassen Sie mich hier einfallen und den Faden, den unser Freund vorhin angeknüpft hat, aufnehmen. Ich mag ihn vielleicht in einem etwas veränderten Sinne fortspinnen. Theodor ist ein didaktischer Roman und das recht handgreiflich. Die Geschichte – die Schnur, und die Reflexionen – die daran gereihten Perlen. Ein gewisses Vorurtheil gegen didaktische Romane kann ich nicht leugnen. Wenn nur unser Theodor im zweiten Theile nicht noch mehr docirt. Er hat, um weidmännisch zu reden, | die Fährte schon so gut 1004 angenommen, daß er gewiß nur immer hitziger auf ihr fortgehen wird. Doch – bei alledem, wie auf dem Schilde des Achilles, den Hephästos geschmiedet, Himmel, Erde und Meer und ihre Geschichte zu finden, so werden uns doch gewiß in diesem dichterischen Panorama gar wichtige und interessante Gegenstände vorgeführt. Auch die Staffage ist im Ganzen recht naiv und anziehend. Ich rechne ihn also zu den vorzüglicheren Romanen dieser Species. – Hätte unser Freund die Pustkuchenʼschen Wanderjahre gelesen und daraus gelernt, daß ein Charakter desto wahrer sey, je weniger objectiv und individuell er ist, je weniger über die Sphäre der Begriffe hinausgeht – denn nichts als Begriffe sind die Pustkuchenʼschen Ideen – würde er wohl so unfreundlich gewesen seyn und die bittern Makel am Schlusse seiner Kritik auf die Charakterzeichnung im Theodor geworfen haben?« – Die geheime Räthin N. »Diese Theorie möge doch ja Herrn Pus­ tkuchen bleiben und sie wird wohl auch nicht viel weiter auskommen. Aber – der fatale Härtling hätte meines Erachtens derber abgefertigt werden müssen. Der ist Repräsentant einer ganzen Gattung, die sich

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ein ordentliches Verdienst daraus machen, den Frauen unartig zu begegnen, weil sie im hochmüthigen Dünkel wähnen, die gewöhnli­ chen Höflichkeitsformeln raubte ihnen den Juwel ihrer Krone, die Manneskraft und Würde.« Der Regierungs-Secretair S. »Ei, ei, ei, hätte ich doch nicht gedacht, daß meine schöne, muntere Freundin so eifern könnte. Gewisserma­ ßen haben Sie Recht. Solche Härtlinge, die, in gewissen Begriffen erstarrt, alles Andere verwerfen, die trocken, einseitig und eingebildet sind und sich in der Bengelei gefallen, die sie zur nothwendigsten Erforderniß eines rechten Mannes aufstellen, gibt es; aber selten verbergen sie in der rauhen rauhen Schale einen fruchtbringenden, erwecklichen Kern, wie der für Vaterland und Sittlichkeit doch wahr­ haft begeisterte Härtling, den Sie, ob der misfälligen, abstoßenden 1006 Form nicht so schnöde abwehren sollten.« | Die Geheime Räthin N. »Ich meine auch nur, der Verfasser hätte diesen Auswuchs unserer Zeit, der sich so breit und so unbequem macht, recht als ein abschreckendes Beispiel aufführen und gründlich ausmalen sollen, zum Nutz und Frommen der altdeutschelnden Jüng­ linge, damit sie sich fein in dem Spiegel erkennten, Buße thäten und vernünftig würden. Im Grunde hat er Recht; die Moren wäscht man nicht weiß, und es erkennte sich doch keiner im Spiegelbilde.« Der Maler F. »Die Gesinnung im Härtling ist untadelhaft; aber es fehlt ihm an Poesie. Darin liegt’s.« Der Dichter M. »Nein, besser durchgeführt, das ist auch meine Meinung, hätte dieser Charakter werden sollen. Man hat gewiß auch 1007 hier in der neue|sten Zeit das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Und wenn Härtling auch das, was Du Poesie nennst, nach Gran und Scrupel seiner schroffen Manier gehörig beigemischt hätte, wer weiß, es würde Manchem und Mancher dünken, als habe nun erst seine »Ben­ gelei« die rechte Höhe erreicht. Wahrlich! Die Damen werden immer seltner, die einen Tasso in seinen Sonderbarkeiten so freundlich und nachsichtig behandeln, wie es die Prinzessinnen bei Göthe thun. Ist’s denn nicht doch wahr? Jenes so verschriene »Altdeutscheln« war die natürlichste Form, in welcher sich der erwachte, bessere Geist unserer Jugend zur Zeit der letzten politischen Katastrophe offenbarte. Wie unbillig nun! Die Siege, welche dieser Geist so treulich mitgewinnen half, kann man nicht hoch genug preisen; aber für die etwas schroffe Art, in der sich von da an ein Theil unserer Jugend gegeben hat, und die gewiß ganz aus der Individualität unserer Zeit hervorgegangen ist, hat man gar keine Nachsicht und Duldung!«

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General. »Lassen Sie das; ich sehe eine Bemerkung meiner Schwester auf der Zunge schweben, die zu unterdrücken wir ihr galanterweise nicht zumuthen wollen. Nun, liebe Schwester?« Die Geheime Räthin N. »Ich überlegte mir so eben, warum Johannes, der doch viel klarer, gediegener und gottseliger ist als der im Widerspruch begriffene Theodor, mich bei Weitem nicht so interessirt als dieser?« Der Professor. »Ei nun, die Wüstlinge haben bei den Weibern von jeher das beste Stück gemacht.« Die Generalin. »Der verbrauchte Gemeinplatz hinkt hier ent­ setzlich. Theodor ist wahrlich kein Wüstling. Ich habe mir so viel gedacht, daß Männer, in denen das Princip der Ruhe, der gefühlvollen Empfänglichkeit vorwaltet, bei aller Reinheit der Gesinnung, die Frauen doch nicht so aussprechen können als die, bei welchen die Thatkraft, wenn auch wie noch ungeläuterte und übersprudelnde, das Herrschende ist. Jene sind der weiblichen Natur zu nahe verwandt, und nur wo »Kraft sich mit der Milde paart,« da gibt es einen guten Klang.« Pfarrer. »Sollte nicht auch das mit zu betrachten seyn, daß Johannes nun doch einmal nicht der Held der Geschichte ist, und daß auf die Beleuchtung, in welche ein Charakter gesetzt wird, gar viel ankömmt? – Vergessen Sie nicht, daß wir dem Schillerʼschen Gemeinplatz einen andern, noch viel ältern gegenüberstellen können! »Gleich und Gleich gesellt sich gern;« und gestehen Sie es nur, der weichliche, empfindelnde Pfarrer in den Glockentönen hat unter Ihrem Geschlechte gar viele Verehrerinnen gefunden. Ich sehe nicht ein, warum ein so in sich klarer, ruhiger und reicher Charakter, wie der des Johannes, nicht eben so gut der sehr interessante Held eines Romans werden könnte, als der Landprediger von Wakefield. Daß er aber hier mehr in Schatten tritt, war ganz in der Ordnung; denn es gilt hier »Des Zweiflers Weihe.« Die Generalin. »Sie mögen wohl Recht haben. Aber wie schön, wie edel und wahr, dabei frei von der Sprache der Schule sind so viele Betrachtungen in diesem Buche! Ich schweige von dem, was über Vaterlandsvertheidigung, von der Sittenlehre u.s.w. gesagt ist, aus gebührender Scheu, um nicht in ein von den Frauen nicht zu erfor­ schendes Reich zu streifen; aber mein Wohlgefallen an dem, was über Geist und Ton des modernen, geselligen Lebens, über Tanz, Musik und Schauspiel hier ausgesprochen wurde, darf ich ohne Bedenken eingestehen. Nicht häufig ist über den Begriff und die Begrenzungen

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der Musik, ihre Anwendung und ihren Misbrauch so umsichtig, so umfassend, deutlich und doch so tief und warm empfunden geurtheilt worden! Wie anmuthig ist z.B. die Zauberflöte charakterisirt! Ich bitte, lieber Freund, lesen Sie mir die Stelle noch einmal, S. 252 Thl. 1. [Theodor 2022, S. 141] – Es ist so unendlich viel über Schillerʼs Jung­ frau von Orleans gesagt und wiedergesagt worden, wohl kaum etwas Besseres als hier. Theodor ist für seinen Dichter begeistert, nicht blind befangen; er dringt aus Liebe für ihn und den erwählten Gegenstand tief in das Wesen dieser Dichtung ein und theilt dann aus Verehrung und Liebe für sie das Ergebniß seiner Betrachtungen, nicht etwa aus Hang zur Schönrederei, mit. Er vertheidigt die Wahrhaftigkeit der Eingebung der Jungfrau, obleich er sie nicht so mystischer Natur erachtet, als es in der Regel geschieht. Er rügt mit Grund, daß Schiller die willkürliche Neigung Johannas zu Lionel als Schuld betrachte, weil sie keine Pflicht dadurch aufopfere; dagegen hätte die Ursach ihres Falles in die Schwächung der Kraft ihrer Begeisterung, mittelbare Folge ihrer Neigung, stärker hervortretend gelegt werden sollen. S. 134. [Theodor 2022, S. 75f.] Das Gespräch über diese Tragödie ist eins der gelungensten im Buche. – Befriedigt hat mich auch gar sehr, was bei Gelegenheit der Hagestolzen von Iffland und der Johanna von Montfaucon über den übermäßigen und undichterischen Gebrauch des Rührenden, das Arbeiten nur auf den Effect, die grellen Abstiche in den Charakteren, deren Physiognomielosigkeit, wodurch sie zu unbeweglichen Larven werden, u.s.w. gesagt ist. Ich habe mich manchmal geärgert, wie ich bei einer theatralischen Vorstellung von Dingen gerührt wurde, die bei genauerer Prüfung dies wahrlich nicht verdiente; ich wußte nur nicht anzugeben, wie eine solche unechte Rührung entstehen konnte. Jetzt ist mir Alles klar, so wie ich über die Natur des Lächerlichen, welches der Verfasser für unverträglich mit dem Unsittlichen hält, besser durch die in jenem Gespräch enthalte­ nen Definitionen desselben belehrt wurde als durch die vielen Ästhe­ tiken, Theorien u.s.w., die ich zu einer Zeit, wo ich meine Bildung recht ernstlich betrieb, und dabei manchen Misgriff nicht immer vermied, so eifrig durchlas. – Aber genug von den vielen schönen Einzelheiten des Buchs, die wir ja Alle empfanden; lieber wollen wir noch einmal recht den Geist der Milde, der Sittlichkeit, der das Ganze durchleuch­ tet, erwärmt und ihm wirkungsreiche Bedeutung gibt, in’s Auge fas­ 1008 sen, uns von Neuem daran erfreuen und den Sinn davon | in uns aufnehmen, damit er in uns wurzele und Frucht bringe und uns fördere 1009 in allem Guten!« |

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»Deutʼ ich die sanftnachdenkende, die begeisterte Miene recht, meine Freundin,« so sprach der Officier zur Generalin, »dann hat Ihnen der zweite Theil des Theodor, dessen Lesen wir so eben endigten, noch mehr zugesagt als der erste.« »Allerdings,« antwortete die Generalin, »wie sollte er auch nicht? Wächst nicht das Interesse, werden nicht Angelegenheiten darin verhandelt, die keine menschliche Seele unbewegt lassen sollten, Fragen aufgeworfen, die wohl schon oft das ahnende Herz, die sin­ nende Vernunft an sich in der Stille gethan, ohne doch eine gleich befriedigende Antwort zu erhalten, wie im Theodor? Und dann die Charaktere – wie gehalten, und« – Hildegard, (sie unterbrechend). »Vor allen meine Namens­ schwester, die ist ein Engel schon hieniden, ganz Herz und Demuth und Ergebung und Liebe und Innigkeit« – Amtmann. »Recht, mein Töchterchen, die nimm dir zum Vor­ bilde. Du hast noch viel zu wenig von ihr gesagt. Vor Allem hättest du die große Tugend an ihr zu rühmen nicht vergessen sollen, dass sie Alles, was sie fühlt und erkennt und was sie umgibt, auf den Himmel bezieht, der Erde nicht vergißt. Da meinen Manche, die der Hildegard im Buche nicht das Wasser reichen, irdische Sorgen und Mühen dürften sie, die so überschwänglich ätherisch und vortrefflich sind, nicht berühren; damit finden sie sich auf die bequemste Weise von der Welt mit ihren Pflichten ab und thun nun, was ihnen gefällt. Da ist das schöne Fräulein doch ein ganz anderes Gewächs.« Die Generalin. »Und bei allen ihren Vorzügen kein kaltes Muster­ bild, kein bloßer personifizirter Begriff. Ihre jungfräuliche Demuth, ihre zarte und herzliche Liebe, der ernstlich und redlich gekämpfte Seelenkampf, in welchem wir sie begriffen sehen, dies Alles mag sie wohl davor geschützt haben, dass sie zu keiner sogenannten Tugendheldin sich gestaltete – ein Wesen, das aus lauter erborgten Fetzten guter Eigenschaften zusammen gesetzt ist, bei dem aber kein Putz, wäre er noch so flimmernd, die innere Unwahrheit und Hohlheit vergessen machen kann. Höchstens kann es interessiren als ein angenehmes Traumbild. Nicht so Hildegard. Sie lebt; sie ist.« Der General. »Und Theodor ist ihrer werth und hat sich tüchtig heraufgebildet! Kein Zweifel beengt mehr den Flug seiner Gedanken; er hat die höhere Weihe, die eines zufriedenen Gewissens, eines bescheidenen, aber sich genügenden Selbstbewußtseins erhalten. In der Philosophie und Theologie scheinen seine Begriffe sich geläutert und festgesetzt zu haben. – Oder irre ich darin, lieber Pfarrer?«

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Pfarrer. »Ich muß diesmal sehr weit ausholen und – daß Sie mich nur nicht missverstehen« – Man kann es gewiß nicht ohne lebhafte, frohe Theilnahme mit ansehen, wenn in den bildlichen Darstellungen der Alten Hercules erscheint, den Geier des Prometheus erlegt und nun den Gefesselten auch noch frei macht. Soll ich mein früheres Bild wieder aufnehmen, so gestehe ich es, mit lebhafter Freude habe ich in diesem zweiten Theile den rüstigen Schwimmer durch die Fluten der Philosophie und in dieser untergegangenen Theologie unserer Zeit dem Ufer immer näher rudern gesehen; jetzt hat er den ersten, sichern Zweig am Gestade gefaßt, jetzt schwingt er sich auf den sichern Boden und schüttelt das Wasser aus den triefenden Haaren, von dem niederziehenden Gewande; und lassen wir ihn nur einige stille, ernste Jahre in seiner beschaulichen Einsamkeit, wo das Leben mit allen seinen Kräften und Reizen auf sein gereinigtes und wieder frei gewordenes Seyn ungehindert einfließen kann und wird, bald muß auch der letzte Rest des Fieberschauers verschwunden seyn, der selbst in dem Augenblicke seiner Weihe noch nicht ganz gewichen ist und nicht gewichen seyn konnte. Des Zweiflers Weihe kann nichts weiter geben wollen, als Reinigung, Sonderung, Ausscheidung. Auf der tabula rasa, in dem reinen, blanken Spiegel wird nun in der Folgezeit der Geist Gottes schon seine ewigen Lebensworte zu zeichnen wissen. – Theodor hat offenbar noch zu viel Katheder- und Compendien-Weisheit – verzeihen Sie diesen Barbarismen – mit an’s 1010 Land gebracht, aber sie wird | hier schon bald genug vertrocknen, und dann steht freilich ein so »Vielgewanderter«, weit gediegener und reicher da, als Johannes, oder selbst, als der alte Pfarrer, der zur rechten Zeit stirbt, weil schon der neue und schönere Phönix an seiner Stelle da ist. Es hat mich lebhaft interessirt, wie in den Ansich­ ten Theodors mit jedem Schritte seines fortschreitenden Lebens die Bande der Systematik lockerer werden und ihm freiere Bewegung verstatten; selbst die philosophische Lehre, in welcher er früherhin glaubte den Schlüssel gefunden zu haben, verliert mehr und mehr ihre magische Gewalt über ihn. Es ist wahr, er disputirt noch in Rom mehr, als man wünschen möchte; die leidige Reflexion spielt zur Flutzeit weit öfter über ihn weg, als gut ist. – So bleibt seine Ansicht von Tode Jesu noch reich an Dialektik, und er vergißt in der Lehre von den Sacramenten so gut, wie sein Meister Fries, daß er, indem er mit seinem Unbewußtseyn und dem, was er von Gefühl und That spricht, ein unentdecktes Land für die Aufgaben der Philosophie gefunden zu haben glaubt, auf dem logischen Standpunkt, von welchem er

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ausgeht, doch Alles wieder in den trüben Himmel der Reflexion und des Verstandes herabzieht. Aber – ich bin fest überzeugt, Theodor so gut als sein Verfasser*) – sie sind gerettet; sie haben die gefährliche Krisis überstanden; und der geistvolle Theolog, der vom Anfang seines Erscheinens in die Theologie unserer Zeit so umschaffend und umwandelnd eingegriffen hat, wird – lassen sie mich prophezeihen! – nach glücklich beendigter Irrfahrt, den Bogen spannen, an welchem sich so Viele in unsern Tagen vergeblich versucht haben. Sie aber haben Recht, Herr General. Theodor ist seiner Hildegard werth und diese beiden sollen uns, denke ich, in der Folge, wenigstens für einen gar nicht unwichtigen Zweig menschlichen Strebens, eben das werden, was Deukalion und Pyrrha für ihre Zeit waren.« Die Geheimeräthin N. »Ich habe gar nichts weiter an Theodor auszusetzen, als daß er gegen das Ende hin den Hausdespoten ganz leise, leise, aber doch einem scharfsichtigen, weiblichen Auge nicht unbemerkt spüren läßt, und bei Gelegenheit des Zweikampfs so erschrecklich vernünftig ist.« Die Generalin. »Aus Feigheit schlug er ihn wahrlich nicht aus; du aber solltest der barbarischen Unsitte nicht das Wort reden; nicht wahr, meine Herren, Theodor hatte Recht, sich zu weigern?« General. »Laßt mich hier statt Aller sprechen. Mir gebührt hier doch wohl die erste Stimme; und mir scheint die Sache ganz klar und einfach. Nach dem alten Sprichworte: ecclesia non sitit sanguinem, »die Kirche dürstet nicht nach Blut« – soll wenigstens nicht danach dürsten – durfte, das ist meine Meinung, Theodor jetzt den Zweikampf nicht annehmen, da er schon entschlossen war, Pfarrer zu werden. Ich mag es darum nicht einmal leiden, daß die Theologen der Conscription unterworfen werden. Die Hand, die Blut vergießen soll, die, man sage was man wolle, paßt nicht mehr zum Segnen, nicht mehr auf die Kanzel und an den Altar. Ich wollte übrigens schon dafür sorgen, daß auch bei dieser Exemtion der Theologen nicht zu viel würden. – Etwas Anderes wärʼ es gewesen, wenn Theodor noch als Regierungsbeamter, als Officier dastünde. – Freilich ist er, und zwar in einer ganz anderen Qualität, als sein Johannes, auch schon in dem Befreiungskrieg mit gewesen; indeß, um mit unserem lieben Pfarrer zu reden, das Blut, das er da vergossen, hat er wohl auch wieder in Was so nicht verborgen bleiben kann, möge hier offen gesagt seyn. Der Verfasser des Theodor ist der bekannte De Wette, vormals Professor der Theologie in Berlin, gegenwärtig Professor und Mitglied des Erziehungsraths in Basel, auch diesjähriger Rector der Universität daselbst.

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der Reinigungsflut, durch die ihn sein Zweifel hindurchgeführt, abge­ waschen. – Wenn aber doch unsere lieben Freundinnen in Zukunft mit ihrer »barbarischen Unsitte« und dergleichen nicht allzu freigebig seyn und das sehr billige Wort der trefflichen Schwester nicht allzu leidenschaftlich von der Hand weisen wollten! Den jungen Landeck haben sie alle im Duell das Leben verlieren gesehen und ich höre nicht, daß sie sich zu sehr darüber gegrämt haben. »Barbarische Unsitte!« Je nun ja! – Aber wir sind auch mit der Cultur noch nicht auf dem Gipfel angekommen; werden auch sobald noch nicht dahin gelangen; und so lange das noch nicht ist, mögen unsere Damen sich immer noch etwas Barbarei an uns gefallen lassen. Wie würde sonst auch der Hobel der Verfeinerung, den sie uns anzulegen meinen, so ganz ohne Späne zu geben, über uns hingleiten! – und als Militair von Jugend auf habe ich es doch nicht vergessen, was mein alter Orbilius mir einschärfte, daß bellum (Krieg) eigentlich und ursprünglich nichts Anderes sey, als duellum (Zweikampf) – wünschen also, daß der Zweikampf aufhöre, gilt eben so viel, als von »ewigem Frieden« träumen.« Die Geheimeräthin N. (nicht ohne ein kleines triumphirendes Lächeln zur Generalin gewendet). »Nun davon wirst du den Untade­ lichen doch nicht frei sprechen, daß er neidisch ist? Warum theilte er uns nicht mehr von Hildegards Tagebuche mit? Erfreuten uns ihre Reflexionen, die Art, wie sie die Naturanschauung mit dem Gedanken an Gott, ihr in jedem Verhälniß und überall inwohnend, in Beziehung setzt und des Geliebten dabei nicht vergißt, nicht eben so sehr, wie ihn?« Die Generalin. »Wer so viel gegeben hat wie der Verfasser, von dem sollte man nicht noch mehr begehren. Anerkennen und schätzen sollen wir es aber, daß er, der sich in seinem Werke als einen der ersten Denker und Kunstkenner und dabei als den reinsten, gemüthvollsten Menschen bewährt, auch mit einer seltenen Intelligenz in das Innere einer schönen, weiblichen Seele eindringt und Gefühle und Betrach­ tungen uns abspiegelt, welche wir der männlichen Empfindungs- und 1011 Denkweise fremd glaubten.« | Die Geheimeräthin. »Ja, ja, ich merke schon, gegen den Theodor darf ich nichts erinnern. Aber das soll mir Niemand verwehren, den Tadel aufzuwerfen, daß Härtling zu episodisch behandelt sey; es hätte so recht augenscheinlich gemacht werden müssen, wie verderblich ein so hochmüthiger, rauer Gesell für sich und Andere wird. Auf ihn kann nichts mehr Eindruck machen, da er sich mit Unempfindlichkeit geflissentlich panzert; und nun sollte doch gezeigt seyn, wie er durch

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Dünkel und Tölpelei die Verwirklichung der besten Absichten hindert und« – Der General. »Du hast nun einmal dem armen Härtling deine Zuneigung entzogen, und legst ihm deswegen mehr Gewicht bei, als er verdient. Die Gattung, zu welcher er gehört, schadet blos sich selbst; schleift ihnen das Leben die rauen Ecken nicht ab, so geht ihnen Jedermann aus dem Wege, um nicht an sie zu stoßen, oder durch ihre Masse, wenn sie in ihrer Unbehülflichkeit umstürzen, verletzt zu werden. Weit bedeutender als diese Kraftthümler, sind die trübsinnigen Frömmler, wie Walter, die Ärgerniß daran nehmen, wenn man den Schöpfer in seinen Schöpfungen bewundert, die jede feine Regung, in welcher das vernichtende Gefühl der Sündhaftigkeit schweigt, verdammen; und die charakterlosen Weichlinge, wie Sebald, die da wähnen, mit strengen Bußübungen sich das Recht erkauft zu haben, immer von Neuem zu sündigen. Bei Jenen artet die Andacht zur Unduldsamkeit, zu dem Stolze, sich für ein ausgezeichnetes Rüstzeug zu halten, zur Engherzigkeit und finstern Schwärmerei aus; bei den Letztern wird sie ein gedankenloses Schweigen in Gefühlen, in lüsternen Bildern der Einbildungskraft; das, was sie Religion nennen, läßt den sinnlichen Trieben vollen Spielraum; an geistlichem Stolze und Verfolgungssucht fehlt es ihnen bei alledem auch nicht.« Der Dichter M. »Mir dünkt, der Verfasser verfuhr mit diesem schärfer als mit Waltern.« Der General. »Das zu beurtheilen, sey unserm geistli­ chen Freunde überlassen, dem hier durchaus die entscheidende Stimme gebührt.« Pfarrer. »Meinen Sie? Nun da möchte ich fast behaupten, weder mit dem Einen noch mit dem Andern sey scharf genug verfahren worden. Der Gedanke ist, wie es mir scheint, höchst glücklich, die beiden Abwege, welche die erwachte Religiosität unserer Zeit genom­ men hat, in diesen beiden Charakteren zu personifiziren. Wie richtig hat unser Verfasser gefühlt, daß das Christenthum jetzt lange nicht so viel von seinen Feinden als von seinen vorgeblichen Freunden zu befürchten habe! Aber – wenn man gerade bei diesen Charakteren es am meisten vermißt, daß ihnen die Objectivität fehlt, daß sie in der Darstellung über den Begriff, über das Abstractum nicht hinaus­ kommen, so wird Walter offenbar mit zu viel Nachsicht getragen und geduldet. – Dieser erbärmliche Mensch, der, ohne Wert und Gehalt, vom blinden Nationalismus zu noch blinderer Superstition übergeht – und Sebald, doch fast zur Caricatur verzerrt – er hätte

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zum warnenden Beispiele für so viel lüsterne Frömmler, die ihm gleichen, wahrlich! Nicht blos aus der trefflichen Familie verwiesen werden sollen.« Otto. »Warum schweigt denn jeder Mund von meinem wackern Namensvetter? Das ist doch ein Mann im vollen Sinne; und daß er seine Confession nicht ändert, vielmehr den Vorsatz hat, thätig einzugreifen, um den Misbräuchen seiner Kirche zu steuern, erwirbt ihm meine ganze Freundschaft.« Die Generalin. »Die Bekehrung seines Vaters und seiner Schwes­ ter dünkt mir richtig motivirt. Der Alte ist gleichgültig gegen die äußern Religionsformen, so wie er ohne Standesvorurtheile ist, und Hildegard glaubt mit voller Kraft ihres innigen, starken Herzens den Beweisgründen des Geliebten. Die Art, wie sie den schwierigsten Punkt ihrer Glaubensänderung, die Anbetung der Maria, überwindet, indem sie durch Theodor überzeugt wird, daß das Wesentliche in diesen andächtigen Gefühlen, die tiefste Verehrung für die Gottes­ mutter, ihr auch in dem evangelischen Glauben unbenommen bleibt, ist überaus zart und rührend und schön.« Die Geheimeräthin N. »Ein wenig schnell bekehrt sich Hildegard bei alledem, aber sie liebt! und welches recht wahrhaft, recht aus vollem Herzen liebende Mädchen hätte je einen andern Glauben gehabt, als den des Geliebten?« Der Maler F. »Wenigstens ist dieser Grund so gewichtig, daß, unmittelbar nachdem er ausgesprochen, er jeden Einwurf vernichtet. In der Folge, kühler betrachtet, dürfte man doch auf den Gedanken verfallen, daß die Art, wie Hildegardens Glaubensänderung herbeige­ führt wurde, von eifernden Katholiken vielleicht für ein Meisterstück der Dialektik gehalten werden könnte, und überhaupt die ganze Glau­ bensänderung für überflüssig. Doch darauf ließe sich wohl antworten; nur der Prior und die übrigen Geistlichen verstummen zu schnell. Nicht wahr, Herr Pfarrer?« Pfarrer. »Sie haben ganz Recht. Wie unser Theodor früher gegen das Geschäftsleben offenbar etwas partheiisch geworden ist, so ist er überhaupt auch in seiner Beurtheilung des Katholicismus nicht ganz ohne Vorurtheil, und dabei spielt ihm seine Reflexion nur zu oft einen bösen Streich. Er fällt mitunter gar zu häufig in’s Dociren und vergißt das Katheder zu wenig. Wie weit höher und freier und vollendeter stände er aber da, wenn er, des Bibelworts: unter allerlei Volk, wer Gott fürchtet und Recht thut, der ist ihm angenehm, eingedenk, auch den Schein von Proselytenmacherei vermieden hätte! Lassen

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Sie uns indeß den ganzen Bildungsgang des Freundes noch einmal in einem kleinen Bilde übersehen, um auch hier nicht ungerecht gegen ihn zu werden! Wenn auch fromm erzogen, ist er doch im Wohlstande und Überflusse, in einer Sphäre aufgewachsen, von welcher die Sorgen des äußern Lebens fern liegen, welcher der nur gar zu leicht blendende Glanz der schönern Seite der Welt nahe steht. Ein | gewisser Einfluß von solchen Umgebungen bleibt für das 1012 ganze Leben, und die Freude daran, das Bedürfniß dafür kann nie ganz verleugnet werden. Dies zunächst führt ihn von dem Berufe, zu welchem ihn die fromme Mutter, vielleicht nicht ohne alle Über­ eilung, bestimmt hatte, Landprediger zu werden, ab; wenigstens ist das mit unter den Triebfedern, die sein Herz den Einflüsterungen des jungen Landeck öffnen, keine der unbedeutendsten. Aber nun wirkt auch der Geist unserer sehr nach außen gewendeten Zeit auf ihn mit ein. Der Anfang seines akademischen Studiums fällt in die Jahre, in welchen Kirche und Theologie unter ihrer größten Schmach von außen erlagen, wogegen Alles, was mit Politik und Staatsangelegenheiten zusammenhing, die ganze Aufmerksamkeit des Publicums in Anspruch nahm. Es wäre ein Wunder gewesen, wenn ein Jüngling, den schon die Verhältnisse, in welchen er geboren war, in’s Geschäftsleben riefen, dem Zug hätte widerstehen könne. Ratio­ nalist musste er sein, so lange er der Theologie folgte, und das war dann wieder die natürlichste Brücke, auf welcher er in’s civilistische Leben überschritt. Wie wachte nun aber unter solchen Conjuncturen dennoch der fromme Genius seiner Mutter so treulich über ihm! Wie glücklich ist er auf dieser schlüpfrigen Bahn, auf welcher schon mehr als Ein Julian zum Abtrünnigen wurde, geführt worden! Er kehrt wieder um; er vermeidet die Klippe des Supernaturalismus, fast schlimmer als die Charybdis des Rationalismus; die philosophische Richtung, die seine Bildung genommen hat, bewahrt ihn nun eben so glücklich vor hypochondrisch-krittelnder Ungläubigkeit, die nicht eher in’s Wasser gehen will, bis sie schwimmen gelernt hat, wie vor dogmatischer Buchstaben-Idololatrie. Eine sittliche Reinheit, die durch einen gütigen Schutzgeist in den schlimmsten Zeiten beschützt worden ist, hat Leib und Seele gesund erhalten. Das heitre Leben einer freien Reise durch die schönsten Länder Europas gibt seinen Ansichten Umfang, Vielseitigkeit und innere Kräftigung. Am Ende reicht ihm die reinste, edelste Liebe den Kranz. So sehen wir gewiß ein sehr schönes, heiteres Bild vor uns aufgeführt, und – wollen wir nun da kleinlich markten und mäkeln, wenn der Protestant seinen Proceß,

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dem Katholiken gegenüber, sich etwas leicht macht? oder wenn uns in dem bedeutenden, reichen Wesen dieses fertigen Mannes eine gewisse allzu verständige Redseligkeit nicht ganz behagen will? oder 1014 – wenn da und dort noch kleine Flecken sind, die wir wegwünschen?« | Officier. »Ich dächte, wir erwähnten dafür lieber, nicht wahr? nachdem unser Pfarrherr noch einmal den Bildungsgang Theodors, seine Ansichten über Theologie im weitesten Sinne an uns hat vor­ übergehen lassen, der vielen trefflichen Betrachtungen, der einzelnen, sorgsam ausgearbeiteten Abhandlungen in diesem Theile. Mir dünkt, er sey reicher daran wie der erste; die Schreibart auch im Dialog leichter, und, da philosophische Ausdrücke seltner darin vorkommen, auch verständlicher. Wie schön ist der Aufsatz über den straßburger Münster! Nicht nur baut er den Wunderbau vor uns auf, er läßt uns tiefe Blicke in den Geist jener Zeiten, die den Münster in die Lüfte thürmten, thun; er belehrt uns über die Bedingungen, vermittelst deren er entstehen konnte, und gibt uns die wahre Idee des Styls der (man vergönne mir den Ausdruck) christlichen Baukunst. Noch einmal, kürzer, aber eben so bestimmt und für den Gegenstand begeistert, spricht er über diese Sache, als er die Peterskirche in Rom schaut, die, so edel in ihren Verhältnissen, so groß und kühn in ihrer Kuppel, würdig des Riesengeistes eines Michel Angelo, sie auch ist, doch ihm Zweck und Bedeutung einer christlichen Kirche nicht zu erfüllen scheint.« Die Generalin. »Eben so sehr hat mich die ruhige Würdigung der antiken und christlichen Kunst erfreut. Man begegnet so selten Kunstfreunden, die nicht leidenschaftlich für die eine oder andere aufflammten und sich nicht wegwerfend über die ihrer Neigung unangemessene äußerten. Theodor, eine durchaus sittliche Natur, echt christlich aus Gefühl und Betrachtung, muß, seiner Wesenheit nach, von der modernen Kunst, der Malerei ergriffener seyn, als von der heidnischen, der Plastik; aber er ist kein blinder Verdammender, der ihr Verdienst nicht anerkennte. Ein edler Unwille belebt ihn dagegen, wenn er der Lüsternheit in der bildenden Kunst, der Charak­ terlosigkeit und Künstelei der neuen Kirchenmusik gedenkt.« Der Officier. »Der Unterschied zwischen Vorsehung und Schick­ sal ist nicht oft so klar und einfach erfasst und so deutlich bestimmt und erläutert worden, als es uns Allen zur Freude und Belehrung hier 1015 Theo|dor gethan. Die neuern Schicksalstragiker werden sein Urtheil über ihre Dichtungen scharf finden, seicht oder hämisch gewiß nicht; ja, wenn sie unpartheiisch seyn wollen, auch nicht ungerecht; denn

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wahrlich, seine Kunsturtheile, besonders über Tragödie und Malerei, sind herrlich! So hat er auch Schiller’s Werth ganz und klar erkannt und ihm den Standpunkt angewiesen, welchen er einzunehmen ver­ diente.« Der Maler F. »Aber gegen Shakspeare ist er ungerecht. Wenn ihn auch die Überschätzung Hamlets zur Unterschätzung dieses Trauer­ spiels verleitete, so ist mit solcher Lobhudelei Macbeth nicht befleckt, der unter den Schicksalstragödien sich wohl darf sehen lassen. Über­ haupt hätte er sich nicht so abwehrend gegen den unsterblichen Britten erweisen sollen, ihn, in dessen Werken eine Welt im Kleinen sich abspiegelt, und in denen man doch gewiß des Großen, Edlen und Schönen mehr gewahrt, als des Schwachen.« Niemand mochte die Vertheidigung Theodors übernehmen, und so bleib die kleine Makel der Parteilichkeit in diesem Punkte auf ihm haften. – Der Professor rühmte schließlich noch, dass es ihm besonders an Theodor gefalle, dass dieser die Wohlthätigkeit auf dem Theater so gründlich verachte; er habe stets seinen Ärger daran gehabt, wenn die edelmüthigen Schufte so verschwenderisch mit den Geldsäcken umgingen und damit ihre Nichtswürdigkeit zu maskiren meinten. Der Amtmann begehrte, seiner Gewohnheit gemäß, ein Endurtheil über das Buch, das denn der Pfarrer ungefähr folgendermaßen abfasste: Die Schrift, meinte er, gehört unstreitig zu den bedeutenden Erscheinungen der Zeit, und sie sey viel höher zu achten, als ein neues dogmatisches System, werde auch gewiß ihres Einflusses nicht verfehlen, wenn nur nicht etwa die theologischen kritischen Journale bei ihrer Einseitigkeit und einem gewissen Kastengeiste, den sie nicht verleugnen können, sie zu letzt in Beschlag nehmen und so andern Blättern die Bekanntschaft damit verleiden. Mache dies Buch auch nicht Anspruch darauf, als Roman ein vollendetes Kunstwerk zu seyn und sich den Productionen unsrer großen Dichter in diesem Fache an die Seite stellen zu dürfen, so erhebe es sich doch auch von Seiten seines Kunstwerthes gar hoch über den gewöhnlichen Trotz der Unter­ haltungsromane, deren Zahl Legion ist; und wissenschaftlich dagegen, was unstreitig bei diesem Buche die Hauptsache, sey es sehr schwer und gediegen. In den Lesezimmern der feinern Welt werde es gewiß sein Glück machen; er hoffe, es solle in mancher vornehmen Familie ein liebes Hausbuch werden, in welcher Hinsicht freilich zu wünschen gewesen, dass der Verleger etwas feineres Papier dazu genommen hätte; und bei der Gründlichkeit der hier abgehandelten Gegenstände, bei der Umsicht, Wärme und Innigkeit, die die unverkennbaren

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Eigenschaften der geführten Untersuchungen sind, sey es gar nicht zu berechnen, wie viel es, den überhaupt für’s Religiöse wieder mehr angeregten Sinn unserer Gebildeten mit in Anschlag gebracht, zum Nutzen und Frommen in diesen Kreisen wirken werde. In den Händen unserer jungen protestantischen Theologen solle aber dies Buch gar nicht fehlen. Für diese werde es mehr seyn, als die beste akademische Hodegetik, und der reine, sittliche Geist, der durchgängig darin wehe, werde nebst dem so unermüdet treuen und redlichen Suchen nach Wahrheit, voll echter, ungeheuchelter Demuth, das eine köstliche Mitgabe des Helden vom Anfang bis zum Ende sey, unvermerkt in die jungen Gemüther übergehen und da auf die wünschenswertheste Weise sich bildend erweisen. Es sey in dieser Hinsicht wohl kaum irgend eine neue schriftstellerische Unternehmung zeitgemäßer zu nennen, als diese. Und – so schloß der Pfarrer sein Endurtheil – ich muß es nur bekennen, als die redlichen, unbefangenen Geständnisse eines ausgezeichneten Theologen unserer Zeit, mit eben so viel Liebe als Offenheit ausgesprochen, sind mir die beiden Bände des Theo­ dors besonders lieb geworden, und ich möchte sie wohl manchem gefeierten Theologen, der in seinen einseitigen Ansichten, fast wie Loths Weib zur Salzsäule erstarrt ist, als Spiegel vorhalten; er würde vielleicht, nachdem er sich darin beschaut hat, doch nicht sogleich ver­ gessen, wie er gestaltet war. Die liebenswürdigste Persönlichkeit des Verfassers, die mir wenigstens bisher unbekannt geblieben ist, da ich blos seine gründlichen, reinwissenschaftlichen Forschungen kennen zu lernen Gelegenheit gehabt habe, dringt überall durch, und sie gibt der Wirkung des Ganzen einen ganz vorzüglichen Nachdruck. Der treffliche Verfasser hat hier eine neue herrliche Selbstvertheidigung und Rechtfertigung seines Strebens geliefert.

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2. De Wettes Gedanken über den Geist der neueren protestantischen Theologie von 1828

Einige Gedanken über den Geist der neueren protestantischen Theologie* Es ist kein Zweifel, daß viele Neuere Theologen von dem alten angeblich rechtgläubigen System dem Gehalt nach abweichen, und daß die Vertheidiger dieses Systems ihnen nicht ohne Grund Irrlehre (in ihrem Sinne) Schuld geben. Die Lehre von der Erbsünde z.B. wird von Einigen ganz verworfen, von Andern so sehr eingeschränkt und umgebildet, daß die Sache selbst dadurch sehr verändert wird. In andern Lehren hingegen betrifft die Abweichung der neueren Ansichten vom kirchlichen Lehrbegriff mehr die Form, als den Gehalt, mehr die Begriffsbildung, als den Glauben; ja, man kann sagen, daß das Unterscheidende der neueren Theologie vorzüglich in der Form liege, und daß die Umwandlung, welche sie der christlichen Lehre gebracht hat oder noch bringen wird, das Wesen oder den Gehalt des frommen Glaubens keinesweges berühre. Dieses zu zeigen, ist der Zweck dieses Aufsatzes; um es aber zu zeigen, muß ich mich zuvor darüber erklären, was ich unter Form in wissenschaftlicher Hinsicht 126 verstehe. | Form ist alles das, was zur Einheit und Verbindung unserer Gedanken, so wohl unter sich, als mit unsern Gefühlen und andern innern Tätigkeiten, und zum Bewußtseyn darüber gehört. Der Satz oder die Aussage: »Gott ist ein Geist« schließt einen Gehalt in sich; es sind darin gewisse Vorstellungen oder Ideen enthalten; wir denken uns damit etwas Gegenständliches; es ist darin etwas das Gemüth Erfüllendes oder Berührendes, wovon es einen Eindruck empfängt, wodurch seine Empfänglichkeit beschäftigt wird. Die Form dieses Stoffes aber besteht vorzüglich in der Beziehung auf andere de Wette, Wilhelm Martin Leberecht: Einige Gedanken über den Geist der neueren protestantischen Theologie, in: ThStKr 1 (1828), 125–136.

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Vorstellungen und Erkenntnisse und in der selbstthätigen Auffassung und Bearbeitung desselben. Sobald Jemand diesen Satz bloß aus der Überlieferung mit dem Gedächtnisse auffaßt: so ist darin fast alles nur Stoff, ohne Form (denn die Thätigkeit des Gedächtnisses ist keine selbstthätige); wenn man ihn aber von Grund aus ursprüng­ lich auffaßt und gleichsam von neuem erfindet, den Begriff Geist mit klarem Bewußtseyn im Gegensatz gegen die Materie, und den Begriff Gott als die höchste Vernunftidee denkt; wenn man ferner auf die Beziehung, in welcher Jesus diese Worte gesprochen, Rücksicht nimmt: so steht die Form im richtigen Verhältniß zum Stoff, und der Satz hat die höchste Wahrheit für den, der ihn aussagt. In einer solchen Auffassung liegt zugleich die richtige Beziehung der Sprache auf die Begriffe und der Begriffe auf die Sache. In dem Satze unseres Beyspiels ist die Sprachbezeichnung eine sogenannte eigentliche; aber oft ist sie bey andern ähnlichen Sätzen uneigentlich, und auch hier ist sie zum Theil ans einer solchen entstanden (Geist ist so v.a. Gischt, Schaum, das Geistige eines Getränkes); wenigstens ist sie nicht ganz vollgültig. Die Begriffe Gott und Geist stehen nämlich zu den dadurch bezeichneten Gegenständen in einem solchen Verhältnis daß 127 diese dadurch mehr angedeutet, als umfaßt und er|schöpft werden. Niemand kann es vollständig ausdenken, was Gott und was Geist sey; letzteres ist mehr ein verneinender als ein bejahender Begriff; man denkt sich darunter eigentlich nur den Gegensatz eines Körpers, und Natur desselben ahnet man bloß dunkel. Wer nun alles dieses bey der Vorstellung: »Gott ist ein Geist,« mitdenkt und in Erwägung zieht, faßt sie in der richtigen Form auf. Zu der richtigen formalen Behandlung theologischer Wahrhei­ ten gehört vorzüglich die Beachtung derjenigen Vermögen, mit wel­ chen sie zunächst aufgefasst werden. Sehr oft ist der Verstand das auffassende Vermögen, und dann ist die Auffassung gewöhnlich die einer verneinenden Vergleichung. Von dieser Art sind die Begriffe unendlich, unsterblich u.a.m. Anderes faßt die Einbildungskraft mit anschaulichen Vergleichungen auf, wie den Begriff Himmel; Anderes endlich gehört zunächst dem Herzen oder Gefühl, unter Mitwirkung des Verstandes und der Einbildungskraft an, wie die Begriffe Liebe, Heiligkeit, Seligkeit. Von diesen Auffassungsarten steht nun die eine der Wahrheit näher, als die andere, am nächsten die des Herzens; und man würde sehr irren, wenn man alle als gleichbedeutend ansehen wollte. Sehr häufig ist in der Theologie die Auffassungsweise mittelst der Einbildungskraft, oder die symbolische; sie findet gerade bey den

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2. De Wettes Gedanken über den Geist der neueren protestantischen Theologie

wichtigsten Glaubensartikeln Statt, und ist am meisten verkannt und übersehen worden; hingegen ist es das Verdienst der neuern Theolo­ gie, sie anzuerkennen; und daher rühren die meisten und wichtigsten Abweichungen im Lehrbegriffe her, die man ihr Schuld giebt. Zur Erkenntniß der verhältnißmäßigen Bedeutung der Auffas­ sungsarten theologischer Wahrheiten führen zwey Wege: der psycho­ logisch philosophische und der exegetisch historische. Beyde bedingen sich gegen|seitig, jedoch können wir hier einen jeden besonders 128 betrachten. Auf dem ersten Wege erkennt der Theolog die Natur der Religion und ihr Verhältniß zu den verschiedenen Geistesvermögen, die Art, wie sie im Gemüth entspringt, zum Bewußtseyn kommt und in Begriffen und Vorstellungen aufgefaßt wird: wovon das Haupter­ gebniß dieses ist, daß die religiösen Ideen nie auf ganz entsprechende Weise in Vorstellungen und Worte aufgenommen werden, und daß ihre passendste Bezeichnung die symbolische ist. Auf dem Wege der Auslegung und geschichtlichen Forschung erkennt man, wie religiöse Ideen geschichtlich entstehen, wie sie sich stufenweise entwickeln, und sich immer an vorhandene Vorstellungen, die entweder aus der Natur und dem gemeinen Leben, besonders dem bürgerlichen und Familien-Leben, entlehnt, oder aus dem vorliegenden Stoffe religiöser Überlieferung beybehalten, und alle mehr oder weniger bildlich sind, anlehnen. Die Auslegung weist die örtliche, individuelle Entstehung und Bildung der religiösen Vorstellungen nach, die Dog­ mengeschichte zeigt ihre Ausbildung im Großen und Ganzen. Diese psychologisch philosophische und exegetisch historische Behandlung bringt Stoff und Form in das richtige Verhältniß zu einander; in Beziehung auf den Geist aber, der sie vollbringt, kann man sie vorzugsweise eine formale nennen, weil in ihr alles lebendig und beweglich, und die Beziehung und Verknüpfung des Stoffes Hauptgegenstand ist. Man kann sie auch die ursprüngliche oder gene­ tische nennen, weil alles in der Entstehung aufgefaßt wird. Ihr ist die überlieferungsmäßige und scholastische entgegengesetzt, in welcher der Stoff todt und unbeweglich aufgefaßt und außer dem Gedächtnisse nur noch mit einem befangenen Verstande, der bloß zu classificiren, zu unterscheiden und zu ordnen | weiß, behandelt wird. Von letzterer 129 Seite ist diese Behandlung auch formal; aber die an den Stoff gebrachte Form ist fremdartig, oft falsch und unpassend, weil das Übersinnliche, wie das Sinnliche, das Bildliche, wie das Eigentliche, behandelt wird. Es bedarf nun keines Beweises, daß seit den Aposteln die letz­ tere Behandlungs- und Auffassungsweise des Christenthums in der

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Kirche bis auf unsere Zeit herrschend gewesen ist. Die Hauptideen desselben traten als todter, gleichsam unverdauter Stoff in den herr­ schenden Lehrbegriff ein, und kein einziger Kirchenlehrer der Zeit, in welcher sich der öffentliche Lehrbegriff bildete, ist mit ganz lebendi­ gem, freyem Geist in das Wesen des Urchristentums eingedrungen; keiner war dazu genug Philosoph und Ausleger. Auch die Reformato­ ren brachten das Urchristenthum nicht in sich ganz lebendig wieder hervor, sondern blieben mehr oder weniger an der Überlieferung hangen. Auf diesem Standpunkte blieb die Theologie im Ganzen bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts, wo die Kritik aufkam. Diese aber stand meistens außer dem Christenthum, und bestritt es in der Fassung, in welcher es überliefert war, mit philosophischen Ideen, welche auch nicht immer frey hervorgebracht, sondern aus irgend einer Schule gedächtnißmäßig oder doch ohne eigenen Geist entlehnt, und in welchen nicht einmal die richtigen Grundgedanken der phi­ losophischen Religionslehre enthalten waren, so daß sie gar nicht den richtigen Maßstab der Beurtheilung enthielten. Durch dieses Verfahren wurde nichts als Verwirrung erzeugt, zumal da man nicht sowohl mit dem Christenthum, als mit dem kirchlichen Lehrbegriff stritt. Um die Kritik des Christenthums richtig zu üben, muß man auf dem religiösen Standpunkt stehen und die Natur des religiösen Lebens durchschaut haben, sodann muß man das Christenthum in 130 seiner le|bendigen, treuen, geschichtlichen Gestalt anschauen, wie es ursprünglich war, nicht wie es die Kirche aufgefaßt und entstellt hat. In dieser Stellung zum Christenthum finden sich noch jetzt man­ che Theologen, und gerade solche, die man gewöhnlich Rationalisten nennt. Sie sind keine lebendigen Ausleger und Geschichtsforscher, so daß sie geschichtlich in den Geist des Urchristenthums eindringen könnten; sie sind aber auch keine selbstständigen Philosophen, so daß sic die Natur der Religion an sich ergründen könnten; sondern sie haben im Ganzen nichts, als ein überliefertes, angelerntes theolo­ gisches Wissen, tragen viel unverdauten Stoff in ihrem Geist, und ihre Verstandesthätigkeit besteht in einer solchen Verknüpfung dieses todten Stoffes, wodurch weniger die ursprüngliche Wahrheit erkannt, als das vorhandene nach vorgefaßten Meinungen beurtheilt wird. Durch eine solche Behandlung des Christenthums aber werden eine Menge Gegensätze und Widersprüche hervorgebracht, welche die Theologie verwirren und dem religiösen Leben schaden. Man verwirft Kirchen- und Bibellehren entweder ganz, oder beschränkt ihren Sinn dermaaßen, daß der herrschende Glaube dadurch nichts

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2. De Wettes Gedanken über den Geist der neueren protestantischen Theologie

weniger als gerechtfertigt wird. Und alles dieses geschieht nur darum, weil man nicht in den innersten Geist dieser Lehren einzudringen und nicht die Schale vom Kern zu unterscheiden weiß. Jene entspricht nicht der heutigen Art zu denken und zu sprechen, diese aber schließt eine ewige Idee ein, welche noch jetzt von allen Guten und Frommen als wahr anerkannt wird. Nur eine so eindringende Kritik führt zu erfreulichen, förderlichen Ergebnissen; nur eine solche erbauet und trägt zur Fortbildung bey, während jede andere bloß zerstört und 131 hemmt. | Ich will diese allgemeinen Andeutungen durch die bestimmte Beziehung auf ein Paar einzelne Lehren klarer zu machen suchen. Die Lehre von der Gottheit Christi, wie sie durch alten Kirchen­ lehrer und Concilien bestimmt worden ist, besteht aus einem mißver­ standenen und durch einen beschränkten Verstand gemißhandelten überlieferten Stoffe. Man verstand die Behauptungen Jesu, daß er mit dem Vater eins, von ihm gesandt sey und zu ihm zurückkehre u.s.w., und die Vorstellungen der Apostel, daß er Gottes Sohn, von göttlicher Würde und Macht sey u.s.w. in einem mythologisch metaphysischen Sinne, indem man sich sein Verhältniß zu Gott ungefähr so dachte, wie das des Herkules und anderer Halbgötter zu ihren göttlichen Vätern. Jedoch schwankten die Vorstellungen darüber, bis man in Streit gerieth, und das Bedürfniß fühlte, darüber etwas fest zu setzen. Dazu bediente man sich aber nicht der in das Wesen eindringenden und auf die Duelle zurückgehenden philosophischen und geschicht­ lichen Forschung, sondern einer Philosophie, welche den überliefer­ ten Stoff der Lehre als eine Aufgabe der Metaphysik behandelte, und Bestimmungen aufstellte, die nur für den Verstand Bedeutung haben, und doch von Niemandem verstanden werden konnten. Man veranlaßte dadurch die Vorstellung von zwey Göttern, und doch sollte man sich nur Einen Gott denken; man machte Christum zum Gott in Menschengestalt, und veranlaßte die Vorstellung, daß die Menschheit in ihm bloßer Schein gewesen, und doch bestand man darauf, ihn als wahren Menschen zu denken. Die Sache war eigentlich die: Man stellte sich das Wesen und die Würde Christi mittelst der Einbildungskraft sehr sinnlich mythologisch vor, dachte sich ihn als einen herabgestiegenen Gott, als ein himmlisches Wesen, das in die Gestalt eines Menschen eingehüllt gewesen; | aber im Reden und 132 Schreiben mußte man sich hüten, solche grobsinnliche Vorstellungen laut werden zu lassen, indem man sich durch festgesetzte Formeln beschränkt sah.

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Hierbey blieb es bis auf unsere Zeiten. Die Reformatoren sahen sich nicht veranlaßt, diese Lehre einer Untersuchung zu unterwerfen, weil sie nicht mit den Anmaaßungen des Papstes, noch mit der kirch­ lichen Werkheiligkeit in Zusammenhang stand. Aber in unserer Zeit entstanden dagegen Zweifel, indem der natürliche Menschenverstand sich gegen diese im Widerspruche sich bewegenden Formeln empörte. Viele nun verwarfen offen oder insgeheim die ganze Lehre, und begnügten sich damit, Jesum für einen außerordentlichen, sehr weisen und tugendhaften Menschen und Gottes Gesandten zu halten, dem man Glauben, Gehorsam und Ehrfurcht schuldig sey, und alle die Ausdrücke: Gottes Sohn u. dgl. der alten urchristlichen Zeit als ihr allein eigen und für die unsrige unpassend anheim zu geben. Allein mit dieser Auffassung ist schwerlich dem Gefühl genug gethan, wel­ ches der Christ gegen den Urheber seines Glaubens hegen muß, wenn er nicht in einer gefährlichen Kälte und Gleichgültigkeit lebt; auch ist damit die Idee, welche die Gemüther der Apostel und ersten Chris­ ten beherrschte, keineswegs erschöpft. Hätten sie so wenig sagen wollen, so hätten sie wohl andere, schwächere Ausdrücke von Christo gebraucht. Jene Kritiker haben weder die Natur der religiösen Sprache des Alterthums, noch den Geist und die Richtung des urchristlichen Glaubens, noch auch die Natur des religiösen Gefühls überhaupt ergründet, sonst würden sie in der von Christi Person gebrauchten Symbolik mehr als jene dürftigen Ideen gefunden haben, und sie nicht als eine abgestreifte Hülle wegwerfen wollen. Ihr Fehler ist auf der einen Seite derselbe, den auch die alten Kirchenlehrer begingen, 133 daß sie mehr den todten | überlieferten Stoff dieser Lehre, als ihren lebendigen Gehalt aufgefaßt haben, und nicht selbstthätig genug in ihren Geist eingedrungen; auf der andern Seite aber, daß sie mit ihrer Kritik auf einem außerhalb des Christenthums und des religiösen Lebens überhaupt befindlichen Standpunkt stehen, daß sie nur mit dem kalten Verstande, nicht mit dem begeisterten Gefühl urtheilen. Wenn man dagegen einem freyen, philosophisch exegetischen Geiste erkennt, daß in der Lehre von der Gottheit Christi das Gefühl der höchsten Bewunderung seiner Person und der höchsten Befriedigung, welche die Wahrheit seiner Lehre gewährt, symbolisch eingehüllt liegt, daß die Idee: Gottes Sohn, weniger methaphysisch, als moralisch ist, jedoch nie auf eine kalte Verstandesformel zurückgeführt werden darf, ohne an ihrem Gehalte zu verlieren: so geschieht sowohl dem frommen Glauben, als der wissenschaftlichen Einsicht ihr Recht.

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2. De Wettes Gedanken über den Geist der neueren protestantischen Theologie

Ein anderes Beyspiel sey die Lehre vom Versöhnungstode Jesu. Die Scholastiker haben sie dadurch verwirrt, daß sie sie mit dem gemeinen Verstande nach irdischer Analogie ausdeuteten, und die Neueren fehlen dadurch, daß sie nicht nur diese Ausdeutung, sondern auch die biblische Vorstellung als ein bloß der Zeit und dem Opferwe­ sen angehöriges Bild verwerfen. Es ist einmal nicht richtig, daß in der Beziehung auf die jüdischen Sühnopfer die Quelle dieser Lehre liege, sodann ist der Gebrauch der Opfer selbst aus der religiösen Natur des Menschen hervorgegangen, und schließt eine allgemein gültige Idee in sich, daher wir auch noch in unserer Sprache die Wörter Opfer und Aufopferung nicht entbehren können. Im Aufopferungstode bewährt sich die höchste Liebe, und in der Liebe findet der Mensch die höchste Erhebung, in ihr berührt er die Gottheit: daher war der Opfertod Christi nicht nur das Mittel, der Menschen|liebe den Sieg zu verschaf­ 134 fen über Völkerhaß und Selbstsucht, sondern auch die Menschen von der Gnade Gottes zu überzeugen; dieser Tod war versöhnend in Beziehung auf die Menschen unter einander und im Verhältniß zu Gott. Faßt man nun in diesem Sinne und in richtiger Beziehung auf das Gefühl der Unwürdigkeit, das den frommen Menschen erfüllt, diese Lehre in ihren historischen Bestandtheilen auf: so kann man sie in ihrer biblischen Gestalt als religiöses Symbol stehen lassen, indem man höchstens die allzustarken Sühnopfer-Ausdrücke, als für unsere Zeit nicht mehr recht passend, weniger geltend zu machen räth, und bleibt so mit der Bibellehre im Einklang. Man wirft einer solchen Behandlungsart der alten Lehren Zwey­ deutigkeit, Willkür und Heucheley vor, indem man sich von dem Wesen der Wahrheit einen falschen Begriff macht. Man hält nämlich nach der gemeinen Vorstellung nur dasjenige für wahr, was entweder einer Sinneserfahrung oder einem Verstandesbegriffe entspricht, und eine Wahrheit für das Gefühl erkennt man gar nicht an. Bey einer religiösen Vorstellung aber kann von einer Sinneserfahrung nur in sofern die Rede seyn, als sie sich auf geschichtliche Thatsachen grün­ det, die aber doch immer für das Herz ihre Hauptbedeutung haben; und der Verstandesbegriff, der sich darin finden mag, ist in keinem Fall vollgültig und nach Maßgabe der Verstandesbildung verschieden, weil das Übersinnliche nie ganz in die Schranken des Verstandes entgehen kann, und die Bildung desselben bey Verschiedenen ver­ schieden ist: mithin liegt die Wahrheit gerade da nicht, wo man sie gewöhnlich sucht, sondern in dem so ganz vernachlässigten Gefühl, welches symbolisch bezeichnet ist. Wenn daher z.B. der Vers, dieses

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den Ausdruck: Sohn Gottes, für gültig erklärt und als Bezeichnung des gesammten christ|lichen und seines eigenen Glaubens an Christus braucht, und er es nicht verhehlt, daß er von der Natur und Würde Christi andere Verstandes-Vorstellungen hegt, als die alten Kirchen­ lehrer, ja rücksichtlich des Verstandes wohl auch einigermaßen von den Aposteln abweicht: so glaubt er doch die Wahrheit dessen, was durch jenen Ausdruck bezeichnet werden soll, vollkommen festzuhal­ ten. Was die etwanigen Abweichungen der neueren Theologie von den erweislichen biblischen Vorstellungen betrifft, so ist dagegen nichts zu sagen, sobald sie nicht das religiöse Grundgefühl, sondern nur die Verstandesbegriffe angehen; denn in diesen sind die alten, angeb­ lich rechtgläubigen Lehrer auch abgewichen, nur daß sie dieselben vergröberten und ins Sinnliche ausbildeten, während wir das besser begründete Recht ausüben, sie von allem Sinnlichen zu reinigen. Die kirchliche Dreyeinigkeitslehre ist offenbar nicht rein biblisch, sondern eine grobverständige Ausbildung der biblischen: haben wir nun nicht mehr Recht, wenn wir zwar auch in etwas abweichen, aber zum Vortheil der reineren Erkenntnis? Unsere Abweichung ist nur formal, nicht wesentlich; wir denken anders, glauben aber nicht anders. Sind diese Bemerkungen richtig, so folgt daraus, daß das Orga­ non der wahren christlichen Theologie nicht sowohl die Logik ist (welche sie leider nur allzu lange beherrscht hat), als die Psychologie oder die innere Menschenerkenntniß, welche uns die Entstehungsund Ausbildungsart der religiösen Vorstellungen lehrt; diese Psycho­ logie muß aber nicht aus den Büchern, sondern aus dem innern Leben geschöpft seyn, und muß nicht engherzig Alles nach dem eigenen Leben und dem Leben unserer Zeit beurteilen, sondern in den Geist der alten Zeiten, vornehmlich der biblischen Schriftsteller einzugehen wissen. Es ist dieß die großartige Wissenschaft, welche 136 uns das | ganze, große, reiche Leben der Geschichte aufschließt, und ohne welche alle Forschung todt und unfruchtbar ist; es ist das innere, reine Auge, mit welchem wir in der Geschichte die mannichfaltige Erscheinung des menschlichen Geistes erkennen. 135

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3. Das Vorwort des Übersetzers James F. Clarke in der amerikanischen Ausgabe des Theodor von 1841

Translatorʼs Preface* The works hitherto published in this series of »Specimens of For­ eign Literature« have belonged chiefly to philosophy and general literature. The volumes now offered to the American reader relate principally to theology. A few words upon German theology in general, and upon the character of De Wette as a theologian, may not be inappropriate in this place. The reports which have been brought back to us by those who have gone to examine the region of German theology, have too often resembled that evil report brought by the men who went to search the land of Canaan. They say, »There we saw the giants, the sons of Anak, and we were in our own sight as grasshoppers, and so we were in their sight.« They tell us that German theologians are men of vast erudition, profound research, devoted day and night to | the VIII investigation of truth, but that, unfortunately, they are all infidels. Rationalism and Naturalism, united in unseemly union with a mystic Pantheism, are the disastrous result in Germany of this earnest, devoted, and untiring search after truth. In this case, as they would have us believe, Lord Bacon’s famous maxim has proved false, and, while our small study has made us religious, the larger and profounder studies of the Germans have made them unbelievers and atheists. This, if true, is a very sad affair. It is a sad thing for Protestantism, if, in Germany, the land of Luther and the reformation, Protestantism has ended in unbelief. It is a sad thing for Christianity, if, in Germany, the land of light, the home of thought, knowledge and thought should * Clarke, James F.: Translatorʼs Preface, in: Wilhelm Martin Leberecht de Wette: Theodore; Or the Skeptics Conversion. History of the Culture of a Protestant Clergyman. Translated from the German by James F. Clarke, 2 Vols. (Specimens of Foreign Standard Literature, Vol. X., editet by George Ripley), Boston 1841, VII–XXIII.

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have exploded Christianity. It is a sad thing, we will also say, for our faith in the destiny of man, if, where he searches deepest, and devotes himself most conscientiously to the service of truth, he should there be involved most hopelessly in folly and confusion, and be separated most absolutely from God. It is a mournful thing for all of us, whatever be our philosophical faith, and our religious or irreligious creed, if our safety from doubt and absurdity lies in shallowness and empiricism. We would not, therefore, give a too hasty belief to these prophets of IX evil, whether they speak to us from the orthodox shades of Prince|ton, or the classic haunts of Cambridge. We would not be frightened too soon by this terrible shape of German Transcendentalism, »If shape it may be called, which shape has none, Distinguishable in feature, joint, or limb; Or substance may be called which shadow seems.«

Fortunately, there are other and more encouraging reports given us concerning this German Canaan. There are other voices, which come from men of all creeds and sects; voices from Andover and Amherst, from Burlington and Boston, which tell us, in the language of the brave Caleb, to »go up at once, and possess the land, for we are well able to overcome it.« They tell us that in Germany, as every where else, there are men of every variety of belief, of every shade of opinion. They say that it would be as correct to give the opinions of Beecher, Ballou, Channing, Finney, and Kneeland, as an exposition of American theology, as it is to produce extracts from Schleiermacher, Strauss, Olshausen, Paulus, and Marheineke, as an exposition of German theology. They tell us that in Germany, as elsewhere, there are infidelity, and naturalism, and mysticism, and also profound faith, devoted piety, and sound theology. They tell us that it is just as easy X to separate the good from | evil, the truth from the error, in studying German theology, as in studying English theology. And so they advise us to lay aside our childish fears, and come boldly, armed with our good English common sense, and in the free spirit of the gospel, to the study of German theology. But it may be said, Grant that there is not any danger in this study; is any great good to be gained from it? Have we not theology enough in our own language to employ all our time? Why take pains to learn a foreign tongue, if we can find all that we want in our own? That we have a sufficient quantity of theology in English is certain; but whether it is of the most desirable quality may be doubtful.

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3. James F. Clarkes Vorwort der amerikanischen Theodor-Ausgabe

We have sermons on all subjects, and to any amount; we have numerous works on the evidences of Christianity, and arguments in reply to infidel attacks, written with the most acute and lawyer-like ability, though often in a spirit of bitterness and railing which no respectable lawyer would exhibit to us. We have partisan tracts and sectarian arguments without stint or limit; and, if you wish to know all that can be said in defence of infant or adult baptism, of Episcopal or Presbyterian ordina|tion, or the other points about which the XI different denominations contend, it is not necessary to read any but English books. But, if we desire to see an impartial and truly profound investigation even of these subjects; if we wish to find systematic and complete treatises upon Christian doctrines; if we wish for living, fresh, and sincere views of the essence and spirit of religion; if we wish for learned and accurate works on the history of the church; if we wish for profound scholarship in criticism and philology; – we can find these scarcely any where but in the writings of German theologians. A library of two hundred German books might be selected, the study of which would make a better theologian than could be formed by the use of any English library with which we are acquainted. The qualities in the German mind which give its theology this preëminence are its life, freedom, depth, and comprehensiveness. The literature of Germany differs from that of every other European nation in being a living and growing one. Every literature appears to have its epoch of production followed by a long period of reproduction. Italy was productive in the times of Dante, Tasso, and Petrarch; Spain, in the days of her Lope and Calderon; England, in the age of Eliza|beth; France, in the age of Louis XIV. These are the XII golden periods when every writer goes on an original path; many subsequent centuries may live by a further development of that which had its origin then. The productive age of Germany was postponed till the close of the last century. Its literature is therefore now an original and living one, when every where else we can only find ingenious variations of what has been thought and said before. German theology partakes of this spirit. Hence its faults, its extravagances, its daring speculation; but hence, also, an originality and freshness in all its departments which are not to be found in our own authors. We can count on our fingers the original theological works which have been published in America. They are few in number, little known, and proceed mostly from obscure and heretical sects. The works of Jonathan Edwards, of Dr. Channing, the writings of Sampson Reed

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the Swedenborgian, Brownsonʼs »New Views« and »Charles Elwood, « Furnessʼs work on the Gospels, and a book by Dr. Wylie, president of Indiana University, called »Sectarianism is Heresy,« published on poor paper, and with bad type, in the middle of the state of Indiana, are the principal American books of theology we at present remember XIII which contain really original matter. | The religious literature of Germany is also remarkable for its freedom from that party and sectarian spirit which is the disgrace of English and American theology. All our writers are educated under the pressure of some narrow party prejudice, which distorts their view of all subjects. They write as Episcopalians or Methodists, Calvinists or Arminians. They write for a sect, not for the whole church. They know that their books will scarcely find readers out of their sect, and they dare not say any thing which would offend the prejudices of their readers. To expect impartiality or accurate research from those who write under such influences would be folly. A man’s object in writing ecclesiastical history is not to awaken antiquity, and change the dry bones of facts and names into the living and breathing forms of the great spiritual heroes of former centuries. He does not aim at discovering the progress of truth through the midst of opposing errors. His purpose is to prove the doctrine of the Trinity, or the apostolic succession of bishops. Our commentaries are filled with the same narrow spirit. They are to this day singularly liable to Lord Baconʼs charge, that they »mostly use to blanche the obscure places and discourse upon the plain,« and to the graver accusation of making XIV it their business not to bring the inspired writerʼs meaning | out of Scripture, but to carry their own opinions into it. The German writers have a higher aim than to serve the interests of a party, namely, to serve the interests of truth. When we read the church histories of such men as Neander and Gieseler, we have a confidence in their investigations, knowing them to be free from all sectarian bias. And, however much we may object to some of the results to which commentators like Olshausen and Lücke arrive, we feel sure that there is nothing of shallow dogmatism in their interpretations. They are free-minded and large-souled scholars, who work, not for the temporary and petty interests of a little sect, but to enlarge the domain of human knowledge. To the theological literature of Germany, more than to ours, belongs also the character of depth. The empirical philosophy which has ruled all English minds for a century, never obtained a footing in

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Germany. It was effectually resisted by the influence of Leibnitz, who was born fourteen years after Locke, and who taught, in opposition to him, that all our immediate knowledge is reduced to certain primitive truths of the reason and of experience, both of which are immediately certain, and need no other proof. (Leibnitz, »New Essays«, chap. 9, § 3.) Kant, | therefore, was not the opponent, but the successor, of XV Leibnitz, as Leibnitz was the successor of Descartes; and the tendency of German philosophy has always been spiritual and profound. The German theologians, therefore, have never found themselves involved in that conflict between faith and reason, which has made it necessary for modern English divines to be either timid and illogical reasoners, or very poor Christians. Though it is very creditable to them that they have generally chosen the first horn of the dilemma, it was surely unfortunate that such a choice became necessary. A superficial parlor divinity and religious morality have taken the place of the profound theology of the Cudworths, Taylors, and Hookers. Religion, divorced from thought, has become spasmodic; the kingdom of heaven, as it could not be secured by reason, has been taken by violence; and we have vibrated between the cold region of formality and the hot climate of enthusiasm. In Germany, by the testimony of all travellers and respectable writers, a far better state of religious feeling prevails. Religion is there a steady warmth, a deep-rooted and living principle, the light of life. A religious philosophy there operates, like the great balance wheel in machinery, to produce an equable and steady motion. The moral constitution is neither wasted by religious torpor nor | racked by religious excitement. In Germany, profound XVI thought supplies the medium which unites religious feeling and prac­ tical life. Where, in England or America, can minds be found like that of Schleiermacher, to investigate the first principles of the religious life, and to go firmly on its dim way along »a path which no fowl knoweth, and which the vultureʼs eye hath not seen«? In all depart­ ments of study, these men reach the root of the matter. Not only in doctrinal theology, but in criticism, philology, church history, they produce works which go further and deeper into the subject than our English treatises, the object of which is too often to dazzle by a showy rhetoric, as empty of matter as it is elaborate in form. Another peculiarity of the German mind is its systematic tend­ ency, its comprehensiveness, its striving for totality and complete­ ness. Undoubtedly there are dangers in this. The appearance of completeness tends to limit investigation, as Lord Bacon long ago

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remarked. »Methods, carrying the show of a total, do secure men as if they were at furthest.« There is another danger which the same sagacious observer has indicated – that of »reducing learning to certain empty and barren generalities, being but the very husks and XVII shells of sciences, all the kernel being forced out and | expulsed with the torture of the method.« But, where science becomes wholly fragmentary; where all system is neglected; where there is no effort to have a map of the whole region before us while we investigate the parts; – there are other dangers equally formidable. There is no perspective in the arrangement of our thoughts, but they assume a distorted and disproportionate importance. The truth in which we happen to be most interested, being unbalanced in our mind by its antagonist truth, is carried out to a fanatical extreme, and becomes virtually a falsehood. Many important views are wholly overlooked, and are for a long time entirely lost sight of. Our interest in details is also much diminished when we cease to regard them as parts of a whole; and, therefore, if too much of system checks inquiry, the entire absence of system may cool the ardor of inquiry. For how much of our interest in science arises from the harmony of its parts conspiring toward a perfect whole; from its organic completeness, by which all members contribute to the life of the body; from the grace which results from well-balanced antagonism; from opposition and variety flowing together into a serene unity! Of this comprehensiveness and completeness in science we possess scarcely any thing, and hardly XVIII think it worth possessing. | Every thing with us is fragmentary and ill assorted. We have all manner of scraps of knowledge, but they are without order, and frightful chasms yawn unnoticed in many departments of thought. The Germans abound with systematic works upon doctrinal theology. Compare our only English work, that of Dwight, with the compendiums of Bretschneider, Hahn, and Schleiermacher, and we see what an advantage we should receive by intercourse with such masterly intellects.

The author of the following work, Dr. De Wette, is highly distin­ guished among living German theologians. Possessing profound and varied learning, and an active energy of character, he has exercised as powerful an influence upon the course of modern theology as any theologian of the present day. He has less clearness and precision

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of thought than some writers, less of logical strength and cogency than others. There is sometimes vagueness, and sometimes a species of rhetorical sentimentalism, in his works. But his views are large, well-balanced, and sufficiently profound. A kind, genial feeling per­ vades his works; while a spirit of fervent piety, and a tender regard for the religious feelings of others, joined to a living con|viction of XIX the practical worth of religious institutions, make the influence of his writings a wholesome one. He is free without being extravagant; and while, in some of his critical views, he goes with the extreme Rationalists, in some of his doctrinal opinions he inclines to the extreme of orthodoxy. On the whole, he represents better than any other author with whom we are acquainted, not the present tendencies of German theology, but its present average condition. He stands very near the centre of speculation, and seems therefore an author well adapted to convey to American readers a general idea of the state of German opinions. The present work has been selected from among the author’s writings for the same reason that De Wette himself has been selected from among other authors. It gives us the best general view of his opinions upon philosophy, theology, and morals. It goes over the whole field of religious thought, and contains criticisms upon many of the leading parties in Germany. It is hoped that it will prove not uninteresting to the American scholar or theologian, for similar tendencies will be found more or less active among ourselves. Wise is the man, and wise the nation, which can learn by the experience of another. If this book shows us | how the German mind has been XX obliged to struggle against various forms of error, it may help to save us from being involved in a similar conflict. We send our physicians to investigate the symptoms of a disease which is travelling from country to country, that we may learn, before it reaches us, how it may best be treated. Just so, if we fear the Infidelity of France, the Socialism of England, or the Transcendentalism of Germany, it is well to study them before they reach us. For, in the present age, no quarantine can keep out the mental epidemics, the seeds of which are carried from land to land in the subtile air. Thoughts float in the atmosphere, and healthy or diseased minds shed their influences through all lands. Dr. William Martin Leberecht de Wette was born in 1780, in the village of Ulla, in Weimar, and is now, therefore, 61 years old. In 1796 he entered the gymnasium at Weimar, and in 1799 the university at Jena. In 1807 he was appointed professor extraordinarius of philosophy

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at Heidelberg, and in 1809 professor ordinarius of theology. In 1810 he accepted an appointment in the university of Berlin. About the year 1820 he was obliged to leave this situation, in consequence of writing a letter of condolence to the parents of Sand, the young man who XXI | murdered Kotzebue, which contained some sentiments offensive to the king of Prussia. He refused a quarterʼs salary which was offered him by the minister of public instruction, and left Berlin. He became professor of theology at Basel in 1822, where he has since remained. His principal works are as follows: – Contributions to an Intro­ duction to the Old Testament, (1806, 1807, Two Parts.) – Translation of the Bible, in connection with Augusti, (in 1809 and the following years,) 6 vols. The third edition of this work, prepared solely by De Wette, appeared in 1839, in 3 vols. – Commentary on the Psalms, (1810; fourth edition in 1836.) – Theodore, &c. (second edition, 1828.) – Hebraico-Jewish Archaeology, (1814; second edition, 1830.) – Com­ pendium of Dogmatics; First Part, Biblical; Second Part, Ecclesiastical; (1831; third edition, 1840.) – System of Christian Morals, (1818.) – Compendium of Moral Doctrine, (1833.) Introduction to the Old Testament, (fifth edition, 1840.) – Introduction to the New Testament, (third edition, 1834.) – Exegetic Manual of the New Testament, (from 1835 till the present time, Six Parts.) – Lectures upon Moral Doctrine, (4 vols., 1822.) – Lectures upon Religion, (1827.) – Henry Melchthal, XXII | (1829, 2 vols.) – Sermons, (three collections, from 1825.) – The New Church, or Understanding and Faith in Union, (1815.) – Religion and Theology, (second edition, 1821.) – Critical Edition of the Complete Works of Luther, (1st vol. 1825.) The translator is well aware of the imperfection of his version in point of style, and fears that in some instances he may have failed of rightly apprehending his authorʼs meaning. He was obliged to translate a large part of the work in the western country, where he could not obtain the necessary facilities for executing his task in the best way; and, while finishing the remaining portion, his time and interest have been in a great degree engrossed by other urgent duties. He has thus been prevented from availing himself fully of the assistance of his friends, among whom he would gratefully mention Professor Sears of Newton, who kindly gave him the use of his excellent German library and personal assistance. The translator is well aware that the circumstances above referred to constitute no excuse for the imperfect performance of his task. For it may always be said, »If you had not time and facilities for doing your work well,

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why undertake it? You were not compelled to translate the work at all.« To this he would reply, that he | believes the translation is not so XXIII imperfect as not to be, on the whole, an interesting and useful addition to our literature; that therefore he thought it better to do it as he has, than not at all. And he mentions these circumstances merely to show that he has not wilfully neglected opportunities of making the work more correct, but, (to adopt the language of a Jewish writer,) »if he has done well, and as is fitting the story, it is that which he desired; but if slenderly and meanly, it is that which he could attain unto.« Newton, June 20, 1841.

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4. De Wettes Vorwort zur amerikanischen Theodor-Übersetzung von 1841

Autors Preface to the American Edition.* [In a letter to the translator, dated »Basel, March 13, 1841.«] Dear Sir, It is high time that I gave you the explanations for which you ask. I hope that they will not come too late to serve your purpose. It was my object in »Theodore« to represent the various theolo­ gical tendencies of the time, and to indicate the mode of attaining juster religious views. It was my wish, also, to present that view of Christianity which I considered the truest, and as standing above these opposite extremes, not scientifically, but in a freer and more attractive form. At that time, two leading parties stood opposed to each other – that of Rationalism, represented by Röhr, Wegscheider, Tzschirner, and others, and that of the old Super|naturalism, rep­ XXX resented by Reinhard and the school of Storr. Between the two arose a new theological school, which sought to apply the philosophy of Schelling to theology, (Daub, Marheinecke,) and also a new kind of Pietism. Rationalism had appropriated some of the results of the philosophy of Kant, yet without having penetrated to the true spirit of his system; and with this was joined a mode of Scripture interpretation, which strove to explain every thing in the most natural and common way, and in a manner opposed to philology and history, (Paulus.) This school I made Theodore pass through first. It may be thought that this was my own course; but, in fact, it was somewhat different. I was, to be sure, one of Paulusʼs scholars at Jena in 1800. His exegesis of the evangelists interested me for * de Wette, Wilhelm Martin Leberecht: Autors Preface to the American Edition, in: Ders.: Theodore; Or the Skeptics Conversion. History of the Culture of a Protestant Clergyman. Translated from the German by James F. Clarke, 2 Bde., Boston 1841, XXIX–XXXVIII.

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a time; but I soon came under the influence of Schelling, (whose lectures, however, I did not attend,) of the two Schlegels and of Schleiermacher. I studied the writings of the last, especially his »Dis­ courses on Religion,« and was, at the same time, interested in the new philosophy, by means of a young scholar of my acquaintance who was addicted to it. I soon began to listen to Paulus with an inward XXXI feeling of opposi|tion, and, during his lectures, became conscious that my mind was taking a new direction. This, as might be supposed, was not that of old-fashioned orthodoxy, but one as yet indefinite, which gave more play to the imagination, and more food to the heart, and which shrunk from the coldness of a merely intellectual system. Thus far, my views were deficient in any fixed principles. I was not wholly satisfied with the philosophy of Schelling, for I did not find in it enough of perspicuity or certainty; but, as yet, I could not attain by my own efforts to any secure or fixed convictions. Commencing now my theological career, and studying the Old Testament independently, the historical criticism engaged me, and led me, in a measure, to the side of Rationalism. I agreed with some of its negative results, and its adherents welcomed me as one of their party. But, as regards the interests more peculiarly religious, I sought elsewhere for something different, but without attaining to any thing sure or settled, until I met with the philosophy of Fries, which taught me how to reconcile understanding and faith in the principle of religious feeling. This, also, Schleiermacher had previously shown. From this moment I pursued with certainty my course through the freest historical criticism to XXXII religious convictions | which gave security both to faith and to the existence of the church. It was not without an object that I gave to Theodore a pious mother and a pious childhood; for my fundamental principle was, that, as feeling is every where the basis of all religious conviction, and as the understanding does not give us this feeling, but only brings it into a clear consciousness, the pious impressions of our youth exercise a decisive influence upon the religious direction of our lives. And, in the religious character of the mother, the stiff orthodoxy of the old pastor, and the somewhat milder orthodoxy of John, united in him with profound warmth of heart, I wished also to protect the good and true contained in the old faith of the church; since my purpose was always to be a mediator between the extreme parties. In order to show that every religious tendency (and therefore the neological also, to which Theodore was now attached) has a corresponding social

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tendency connected with it, I caused my hero to be attracted by the glitter of worldly life, with all its heartlessness and want of sentiment. Theresa is the representative of the feelings and the feminine side of this worldly life, and her brother of the manly | side and that of the XXXIII will. If Theodore had kept on the path of true religion, he could not have loved Theresa, who is a graceful and attractive person, but with nothing profound in her nature, as her brother, also, is destitute of character and sentiment. As the national events in the years from 1812 to 1815 produced a new religious excitement in Germany, and as the experiences of life always occupy so important a place in our religious culture, I caused Theodore to go through this school also. Moreover, as there is a relation between religious and political views, and between the glow of patriotism and that of faith, and as neither our orthodox nor our neological theology has understood at all the importance of a community and of a common spirit, I provided impressions for Theodore as regards this point also, and particularly through his intercourse and conversations with Hartling, (Jahn.) And, finally, as, in my opinion, poetry and art are intimately related to religion, I also caused my hero to receive influences from these, and, by attaining just views here, become better prepared for finding the true path of religious truth. According to my belief, the dramatic school of Iffland and Kotzebue corresponds with the theological school of Rationalism; and, on the other hand, Goethe and Schiller have helped to | open a XXXIV higher path in theology. To myself they have been of infinite service; and I received personally the same impression in witnessing the performance of the «Maid of Orleans” which Theodore is represented to have felt. Theodore’s participation in the war which was begun to free Germany from the French yoke, resembles that of many young theologians, and, in particular, many of my own Berlin scholars; and this great national event was certainly not without important influences in exciting a religious spirit. In this mortal conflict he regains the spirit of faith and of prayer, and his whole nature ripens to a manly earnestness. As Theresa represents, in a female character, the spirit of neology and unbelief, Hildegard, on the other hand, is the representative of female piety. I made her a Catholic, because the Protestant women, at that time, were either cold Rationalists and moralizers, or gloomy and austere Pietists. I endeavoured to draw the ideal of a piety which should be imaginative and poetic, and yet connected with the church; and this, In the place where she resided, could only be found in the Roman Catholic church. I also attained in

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this way another object – that of giving Catholicism a place in my picture. It is well known that, at that time, many persons inclined XXXV | to the Catholic church from aesthetic reasons, (Sebald,) and for the sake of supposed advantages in respect to external church usages and church discipline, (Otto.) The Second Part now begins, which very evidently is the best written of the two, as my pen had become more at ease in this style of writing. In the First Part, there is too much which has a scholastic character, and which is not very intelligible to any but scholars. It will not be thought out of place in me to have introduced religious and poetical contemplations on nature, as I wished to give a practical application to the faith which Theodore had now regained. It may be objected that I suffered Theodore to waver too long between his love for Hildegard and his choice of the clerical profession. But he decides correctly at last, and performs an act of self-sacrifice, although he finds it hard to do so. His obtaining happiness by means of this act of renunciation, illustrates the truth that obedience to duty not only carries a reward in itself, but also often finds an outward recompense; and that to forget and deny ourselves is, in truth, to take the best care of ourselves. I have been blamed for making love a motive in determining Hildegard’s conversion. But this objection is unjust; for, XXXVI in most cases, our love for relations and parents, and our | affection for old religious associations, may and ought to restrain us from leaving our religious connections when we have altered our convictions; and we should take this outward step only when our motives are of a kind similar to those of Hildegard. (Respecting this question, see my work upon Christian morals.) I do not know whether I have expressed with sufficient force and clearness the precise point to which I have conducted Theodore; but the idea in itself is a true one. There is, as I believe, much that is important in the ecclesiastico-practical course of life upon which he enters, in the improvements which he undertakes, and in the sacrifices which he makes for the sake of these objects. Since the publication of Theodore in 1822, many changes have occurred in the condition of the theological world. The old-fashioned Supernaturalism has disappeared, Rationalism has gone backward; for Röhr, with his Prediger Litteratur, (a critical journal of the most commonplace character,) has very little influence. In place of these has arisen the orthodoxy of the Evangelische Kirchenzeitung, (Heng­ stenberg,) which plants itself rigidly on the symbolical books, and XXXVII which, though opposing Ra|tionalism, makes use of modern science, and does not continue to maintain all the points of the ancient belief.

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To this school, the old Lutherans Scheibel Guericke and others, attack themselves, although differing in many particulars. These parties have a very decided principle which characterizes them – that of tradition. Other theologians, of the class of Tholuck, the departed Olshausen, and all those who assist Tholuck in his Theolog. Anzeiger, form a kind of transition from these to the medium party, the organ of which is the Theolog. Studien und Kritiken, the principle of which is history, and the fault of which is the want of philosophy. To this party belong Nitzsch, Lücke, Ullmann, and others, among them my colleague Hagenbach. The dialectic school of Schleiermacher has not been continued; only one of his scholars, though a very worthy one, Schweizer, in Zurich, still keeps his ground. And finally, I remain by myself, without any companions, in my critical-æsthetic system, which the present age has either not sufficient courage, or not enough of insight, to receive. Nevertheless, it is acted upon in practice by many who are free and clear in the department of science, while in practical life, and as preachers, they are warm-hearted and full of faith. I | had almost forgotten the school of Hegelian theology, at the head XXXVIII of which stand Marheinecke and Rosenkranz. I hope that it will not long continue; for the clear and logical Strauss has shown that the Hegelian philosophy is inconsistent with Christian faith, as it does not recognize the religious department of life, and knows nothing of faith. With much regard, and hoping that these hints may be of service, I remain Your obedient servant, W. M. L. DE WETTE.

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Autorin und Autoren

Markus Buntfuß | Geb. 1964, Dr. theol., Inhaber des Lehrstuhls für Systematische Theologie an der Augustana-Hochschule, Neuendet­ telsau. Alf Christophersen | Geb. 1968, Dr. theol., Professor für Systemati­ sche Theologie an der Bergischen Universität Wuppertal. Ruth Conrad | Geb. 1968, Dr. theol., Professur für Praktische Theolo­ gie mit Schwerpunkt Homiletik, Liturgik und Kirchentheorie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Markus Iff | Geb. 1964, Dr. theol., Professor für Systematische Theo­ logie und Ökumenik an der Theologischen Hochschule Ewersbach. Jan Rohls | Geb. 1949, Dr. theol., Professor em. für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der LudwigMaximilians-Universität München. Peter Schüz | Geb. 1983, Dr. theol., Privatdozent und Akademischer Rat am Lehrstuhl für Dogmatik, Religionsphilosophie und Ökumene an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Rolf Selbmann | Geb. 1951, Dr. phil., apl. Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft am Institut für Deutsche Philologie der der Ludwig-Maximilians-Universität München. Daniel Weidner| Geb. 1969. Dr. phil., Professor für Komparatistik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

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