Religion-Metaphysik(kritik)-Theologie im Kontext der Moderne/Postmoderne [Reprint 2012 ed.] 3110168065, 9783110168068, 9783110824865

Religion, Metaphysik und Theologie sind durch das neuzeitliche Denken in besonderer Weise herausgefordert. Die Beiträge

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Religion-Metaphysik(kritik)-Theologie im Kontext der Moderne/Postmoderne [Reprint 2012 ed.]
 3110168065, 9783110168068, 9783110824865

Table of contents :
Einführung
Gott und Zeit. Theologie und Metaphysik an den Grenzen der Moderne
Metaphysik und Offenbarung
Themenkreis I: Religion in der Moderne
Mehr als Kitt oder Stolperstein. Erwägungen zum philosophischen Profil von Religion in der Moderne
Die symbolische Existenz des Göttlichen. Mythos und Religion bei Ernst Cassirer
Selbsterfahrung, Dauerreflexion und Religion
Religion in der Moderne
Themenkreis II: Religion und Metaphysik
Worin besteht die Irreduzibilität religiöser Wahrheitsansprüche? Religion und negative Metaphysik
Der religiöse Glaube als Tugend
Der metaphysische Substanzbegriff in seiner Bedeutung für die Religion
Metaphysik nach dem Ende der Metaphysik?
Themenkreis III: Metaphysik und Moderne
Die Wahrheit der Grenze. Zu den metaphysischen Implikationen des modernen Wissenschaftsbegriffs
Intersubjektivität und Freiheit. Zu den metaphysischen Voraussetzungen des modernen Freiheitsbegriffs
Statement zu den Vorträgen von Walter Schweidler und Theo Kobusch
Themenkreis IV: Die Gottesfrage in der Moderne
Nicht der Philosophen Gott? Denken Gottes zwischen Mythos und Metaphysik
Zur theoretischen Verantwortung der Rede von Gott. Kritische Adaption neuzeitlicher Denkvorgaben
Die Unnachsichtigkeit des moralischen Blicks. Habermas’ Diskursethik und die ,Impulse‘ der Religion
Moderation der Vorträge von Körtner, Pröpper und Kodalle. Die Frage nach dem Unbedingten und das Sprachproblem der Metaphysik
Themenkreis V: Theologie und Metaphysik
Ist Theologie ohne Metaphysik möglich?
Der trinitarische Gottesgedanke als Zentrum einer Theologie jenseits der Metaphysik? Eine theologische Auseinandersetzung mit Hegels Trinitätsverständnis
Chalkedonische Christologie und Metaphysik
Einführung in den Themenkreis V: „Theologie und Metaphysik“

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Reügion-Metaphysik(kritik)-Theologie im Kontext der Moderne/Postmoderne

Theologische Bibliothek Töpelmann

Herausgegeben von O. Bayer · W. Härle · H.-R Müller

Band 112

W DE

G_

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2001

Religion-Metaphysik(kritik) -Theologie im Kontext der Moderne/Postmoderne Herausgegeben von Markus Knapp und Theo Kobusch

w DE

G_

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2001

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Dil Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Religion - Metaphysik(kritik) - Theologie im Kontext der Moderne, Postmoderne / hrsg. von Markus Knapp und Theo Kobusch. 1. Aufl. - Berlin ; New York : de Gruyter, 2001 (Theologische Bibliothek Töpelmann ; Bd. 112) ISBN 3-11-016806-5

© Copyright 2000 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH, Göttingen

Inhaltsverzeichnis MARKUS K N A P P / T H E O KOBUSCH,

Einführung

Gott und Zeit. Theologie und Metaphysik an den Grenzen der Moderne

1

JOHANN BAPTIST M E T Z ,

KURT HÜBNER,

Metaphysik und Offenbarung

5 20

Themenkreis I: Religion in der Moderne Mehr als Kitt oder Stolperstein. Erwägungen zum philosophischen Profil von Religion in der Moderne 41

KLAUS MÜLLER,

Die symbolische Existenz des Göttlichen. Mythos und Religion bei Ernst Cassirer OSWALD SCHWEMMER,

FRANZ-XAVER KAUFMANN,

Selbsterfahrung, Dauerreflexion und

Religion WILHELM GRAB,

56 85

Religion in der Moderne

104

Themenkreis II: Religion und Metaphysik Worin besteht die Irreduzibilität religiöser Wahrheitsansprüche? Religion und negative Metaphysik THOMAS RENTSCH,

FRIEDO RICKEN,

Der religiöse Glaube als Tugend

Der metaphysische Substanzbegriff in seiner Bedeutung für die Religion

113 127

EDMUND RUNGGALDIER,

FRANZ JOSEF W E T Z ,

145

Metaphysik nach dem Ende der Metaphysik? 160

Inhaltsverzeichnis

VI

Themenkreis III: Metaphysik und Moderne Die Wahrheit der Grenze. Zu den metaphysischen Implikationen des modernen Wissenschaftsbegriffs . 169

WALTER SCHWEIDLER,

Intersubjektivität und Freiheit. Zu den metaphysischen Voraussetzungen des modernen Freiheitsbegriffs . . . 187

THEO KOBUSCH,

Statement zu den Vorträgen von Walter Schweidler und Theo Kobusch REINER WIMMER,

204

Themenkreis IV: Die Gottesfrage in der Moderne Nicht der Philosophen Gott? Denken Gottes zwischen Mythos und Metaphysik

213

Zur theoretischen Verantwortung der Rede von Gott. Kritische Adaption neuzeitlicher Denkvorgaben

230

Die Unnachsichtigkeit des moralischen Blicks. Habermas' Diskursethik und die ,Impulse' der Religion

253

ULRICH H . J . KÖRTNER,

THOMAS PRÖPPER,

K L A U S - M . KODALLE,

Moderation der Vorträge von Körtner, Pröpper und Kodalle. Die Frage nach dem Unbedingten und das Sprachproblem der Metaphysik 278 ERWIN DIRSCHEL,

Themenkreis V: Theologie und Metaphysik CHRISTIAN LINK,

Ist Theologie ohne Metaphysik möglich?

Der trinitarische Gottesgedanke als Zentrum einer Theologie jenseits der Metaphysik? Eine theologische Auseinandersetzung mit Hegels TrinitätsVerständnis

291

MARKUS KNAPP,

JOSEF WOHLMUTH,

Chalkedonische Christologie und Metaphysik

Einführung in den Themenkreis V: „Theologie und Metaphysik"

HANS-LUDWIG OLLIG S J ,

307 333

355

Einführung MARKUS KNAPP/THEO

KOBUSCH

Vom 4.-7. Oktober 1 9 9 9 fand an der Ruhr-Universität Bochum ein Kongreß zum Thema „Religion - Metaphysik(kritik) - Theologie im Kontext der Moderne bzw. Postmoderne" statt. Dieser Band enthält die Beiträge, die dort referiert und diskutiert wurden. Zur Erläuterung und Begründung der Fragestellung des Kongresses sei zunächst das Exposé, das den Referenten zusammen mit der Einladung zugesandt wurde, hier wiedergegeben (1. und 2.). Im Anschluß daran wird die Durchführung des Kongresses auf der Basis dieses Konzeptes kurz erläutert (3.)

1. Voraussetzungen und Hintergründe Die Subjektivierung von Glaubensmächten gehört nach M a x Webers breit rezipierter Analyse zu den charakteristischen Merkmalen einer modernen Kultur. Demnach können religiöse Überzeugungen oder theologische Lehren in der Moderne keine öffentliche Anerkennung und somit auch keine allgemeine Verbindlichkeit mehr beanspruchen. Die Religion hat in der Moderne den ihr seit alters zukommenden Status einer selbstverständlichen gesellschaftlichen Einrichtung längst verloren. Damit sind auch die alten, der Religion als psychischem System zugeschriebenen Funktionen der Affektbindung, der Angstbewältigung, der Verarbeitung von Kontingenzerfahrungen wie auch die besonders von soziologischer Seite der Religion zugesprochene Funktion der Erhaltung des sozialen Systems, der Schaffung des Wertesystems und der Identitätsstiftung in Frage gestellt. Andererseits ist unter den Bedingungen der Moderne eine Flucht in die Religion, eine Wiederkehr der Religion unverkennbar. Im Zuge fortschreitender und beschleunigter Modernisierungsprozesse wächst der Orientierungsbedarf in vielen Bereichen rasch an. Eine Verständigung über die Grundlagen des Zusammenlebens in modernen Gesellschaften wird vielfach als dringlich empfunden. Weil Wissenschaft und Staat, Philosophie und Kunst die ewigen Fragen nach dem Leid, der Schuld,

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Markus Knapp/Theo Kobusch

dem Tod, nach Sinn und Zweck des Ganzen nicht beantworten können, werden Religion und Mythos nach der Aufklärung erneut Zufluchtsorte der Menschen. Wie aber eine moderne Religion, die sich im Wandel weiß, den für sie als Religion konstitutiven Wahrheitsanspruch einlösen kann, das wird dann zu einer drängenden Frage. Sie muß als die Frage nach der Begründung von Religion gerade nach den funktionalen Begründungsversuchen neu gestellt werden. Um Glaubwürdigkeit beanspruchen und so auch Orientierungshilfen geben zu können, muß eine moderne Religion sich vor dem Forum der allgemeinen, durch die moderne Wissenschaft geprägten natürlichen Vernunft verantworten können. Eine Klärung dieses Zusammenhangs erscheint dringlich, weil zumindest die Gefahr einer fundamentalistischen Suspendierung der Begründungsfrage nicht von der Hand zu weisen ist. Kann Religion aber den Anspruch auf eine allgemeine Anerkennung erheben, ohne irgendeine Form der Metaphysik zu Hilfe zu nehmen? Nicht zuletzt im Blick auf diese Zusammenhänge ist heute wieder verstärkt der Ruf nach einer Erneuerung metaphysischer Grundlagen der Theologie laut geworden. Nur so lasse sich der universale Anspruch der Theologie und ihrer Aussagen aufweisen und ein theologischer Subjektivismus überwinden. Diese Forderung nach einer Erneuerung der Metaphysik sieht sich jedoch ihrerseits konfrontiert mit einer weitgehenden Infragestellung der Möglichkeit metaphysischen Denkens sowie der Propagierung eines Endes der Metaphysik. Insbesondere die modernen Wissenschaften haben einen neuen Begriff des Wissens etabliert, der den Anspruch der traditionellen Metaphysik, das Ganze des Wissens zu integrieren, desavouiert hat. Andererseits lassen sich heute energische Bestrebungen einer Erneuerung bzw. Neubegründung metaphysischen Denkens beobachten. Sie stellen sich dabei bewußt auf den Boden der Moderne und insistieren darauf, daß metaphysische Fragen auch in diesem grundlegend gewandelten Kontext unabweisbar bleiben.

2. Die Fragestellung Diese Situationsbeschreibung stellt den Hintergrund dar für die spezifische Fragestellung des Kongresses. Sie zielt auf die Begründungsproblematik theologischer Rede heute und rückt dabei insbesondere die Frage nach dem Zusammenhang von Theologie und Metaphysik ins Blickfeld.

Einführung

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-

Inwiefern bedarf die Theologie der Metaphysik um ihrer eigenen Möglichkeiten willen? Stellt also die Metaphysikkritik auch den universalen Anspruch theologischer Rede grundsätzlich in Frage? - Wie verallgemeinerungs- und leistungsfähig ist ein auf dem Boden der Moderne erneuertes metaphysisches Denken? Inwieweit kann es der Theologie als Bezugspunkt dienen? Ermöglicht es der Theologie, ihre seit den Anfängen christlicher Theologie bestehende Verbindung mit unterschiedlichen Gestalten eines metaphysischen Denkens fortzuführen bzw. neu zu begründen? - Oder eröffnet sich angesichts des postulierten Endes der Metaphysik die Perspektive einer nachmetaphysischen Epoche der Theologie? Wie ließen sich die Aussagen einer solchen Theologie begründen und gegenüber den Erkentnissen der Philosophie und der Wissenschaften ausweisen? Obwohl diese Frage nach dem Zusammenhang von Theologie und Metaphysik eine Grundlagenproblematik der Theologie darstellt, wird sie heute vielfach vernachlässigt bzw. verdrängt. Der Kongress soll einen Beitrag zur Aufarbeitung dieses Problemkomplexes leisten.

3. Durchführung Geplant und durchgeführt wurden ausgehend von diesen konzeptionellen Überlegungen insgesamt fünf Themenkreise, die jeweils einen für die Fragestellung wichtigen Aspekt behandeln. Zunächst geht es dabei um die spezifische Gestalt und die Funktion von Religion in der Moderne (Themenkreis I). Im Anschluß daran wird nach dem Zusammenhang von religiösem Glauben und metaphysischem Denken gefragt. Worin besteht die Eigenart religiöser Wahrheitsansprüche? (Themenkreis II) Die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Metaphysik stellt jedoch vor das Problem, ob Metaphysik im Kontext der Moderne überhaupt noch möglich ist bzw. was metaphysisches Denken unter den Bedingungen der Moderne beinhaltet (Themenkreis III). Wird dabei aber auch die „metaphysische" Wirklichkeit Gottes denkbar? Oder kann Gott in der Moderne auf andere Weise (transzendentalphilosophisch, diskursethisch) gedacht und die Rede von Gott entsprechend begründet werden? (Themenkreis IV). Insbesondere ist hier natürlich auch die Theologie selbst gefragt. Sie muß über ihr eigenes Verhältnis zum metaphysischen Denken Rechenschaft ablegen und die Begründung ihrer eigenen Gottesrede argumentativ ausweisen (Themenkreis V). Ergänzt wurden diese fünf Themenkreise durch einen Eröffnungsvortrag sowie einen Abendvortrag. In ihnen werden wichtige spezifische

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Markus Knapp/Theo Kobusch

Aspekte des Themas behandelt, nämlich das Verhältnis von Gott und Zeit (J. B. Metz) sowie die Unterschiedlichkeit des Logos der Metaphysik und des Logos der Offenbarung (K. Hübner). Die beiden Vorträge eröffnen diesen Band. Wenn alle Beiträge nun der Öffentlichkeit übergeben werden, so geschieht das in der Hoffnung, daß sie in weitergehende und weiterführende Diskussionen miteinbezogen werden oder solche Diskussionen auch anzustoßen vermögen. Denn daß ihre Thematik für die Philosophie wie für die Theologie heute, angesichts der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung der Moderne von besonderer Brisanz ist, das haben gerade auch die Gespräche und Diskussionen während des Bochumer Kongresses sowie das rege Interesse an ihm gezeigt.

Gott und Zeit Theologie und Metaphysik an den Grenzen der Moderne JOHANN BAPTIST M E T Z

I. Bei der Vorbereitung dieses Textes wurde ich durch eine Umfrage unterbrochen, die sich nach den historischen Herausforderungen erkundigte, welche die heutige Theologie nach meiner Auffassung nicht einfach hinter sich, sondern immer noch vor sich habe. Ich erwähnte (natürlich) die Katastrophengeschichte unseres Jahrhunderts, die in der Katastrophe von Auschwitz ihren singulären Höhepunkt fand. Ist, so habe ich gefragt, die Theologie davon tatsächlich geprägt? Hat sie bei ihrer Gottesrede jenen „Kontingenzschock" erlitten, der ihr - zumindest nach Auschwitz - jeden theologischen Idealismus und jedes Verständnis von Theologie als situationsfreier und gedächtnisloser Heilsmetaphysik verbietet? Ist inzwischen die schwierigste und schmerzlichste aller Gottesfragen, nämlich die ebenso unbeantwortbare wie unvergeßliche Theodizeefrage, in die Mitte der Theologie, ins Zentrum ihrer Gottesrede eingerückt? Ich konnte bei dieser knappen Reaktion nicht auf ein Hintergrundproblem eingehen, das ich Ihnen hier vortragen möchte. Vor mehr als zwei Jahrzehnten hatte ich nämlich meinen Studenten einmal ein Kriterium des Theologietreibens genannt, das nicht wenige meiner Kollegen - vermutlich bis heute - für unverständlich oder gar für fahrlässig-provokant halten. Es lief darauf hinaus, „keine Theologie mehr zu treiben, die so angelegt ist, daß sie von Auschwitz unberührt bleibt bzw. unberührt bleiben könnte". 1 Der Logos der Theologie, Repräsentant und

* 1

(Eröffnungsvortrag beim Bochumer Kongreß „Religion - Metaphysik - Theologie . . . " , 4.-7. Oktober 1999.) Kogon/Metz (Hg.), Gott nach Auschwitz, Freiburg 1979 u.ö., 138; vgl. auch J.B. Metz, Jenseits bürgerlicher Religion, Mainz 1980 u.ö., 42: „Fragt euch, ob die Theologie, die ihr kennenlernt, so ist, daß sie vor und nach Auschwitz eigentlich die gleiche sein könnte. Wenn ja, dann seid auf der H u t ! "

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Johann Baptist Metz

zuständig für das Allgemeine und Universelle, sollte berührbar, ja überprüfbar sein vom Singulär-Kontingenten einer geschichtlichen Katastrophe. Stellte das nicht alles auf den Kopf? Wurde hier nicht jede Vermittlung zwischen Allgemeinem und Besonderem, wie sie uns aus der Geschichte der Theologie und der Metaphysik vertraut ist, aufgekündigt? Ich gestatte mir zu einer ersten Erläuterung einen historischen Verweis, den Verweis auf eine weit zurückliegende Phase der Denk- und Glaubensgeschichte, auf den sog. Nominalismus. In diesem Nominalismus zerfiel bekanntlich die Vermittlung zwischen Allgemeinem und Besonderem, wie sie uns aus den großen scholastischen Systemen des Mittelalters und den darin rezipierten Elementen griechischer, vorweg aristotelischer Metaphysik vertraut war. Wir haben diesen Nominalismus und seine vergleichsweise „schwache" Begriffswelt in der Theologie faktisch nur negativ bewertet, als Abfall und Zerfall - und dabei vielleicht zu wenig darauf geachtet, daß sich in diesem „schwachen" Nominalismus ein Weltbildumbruch ankündigte, daß sich ein ganz neues Verständnis von Singularität, von geschichtlicher Besonderheit durchzusetzen begann, das im klassischen Konzept von Allgemeinem und Besonderem nicht mehr auszudrücken war. Nach meiner bescheidenen Meinung befinden wir uns gegenwärtig in einer Situation des „sekundären Nominalismus", in der das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem in Theologie und Metaphysik neu zur Verhandlung steht. Es ist mir nicht möglich, im Rahmen dieses Vortrage ausführlich auf die jüngere Nominalismusforschung einzugehen. In zunehmendem Maße sieht sie den Nominalismus nicht als End- und Verfallsgeschichte des „großen" mittelalterlichen Systems, sondern als Frühgeschichte der Moderne, als eine Art Schwellenphänomen zum Durchbruch neuzeitlicher Subjektivität. Jürgen Goldstein hat jüngst in einer eindrucksvollen Studie „Nominalismus und Moderne" 2 gegenüber Hans Blumenberg nachgewiesen, daß der theologische Nominalismus des Wilhelm von Ockham nicht etwa eine radikale „Infragestellung der humanen Rationalität durch die Zersetzung aller rationalen Konstanten unter dem Druck einer willkürlichen göttlichen Allmacht (ist), sondern ihre Neudefinition" 3 , nämlich als Experiment, die humane Rationalität nicht mehr vom abstrakt Allgemeinen, sondern durchaus vom Singulären her zu bestimmen. Nun hatte ich selbst in einer frühen Arbeit diese „nomina2 3

Freiburg-München 1998. J. Goldstein, Bemerkungen zur nominalistischen Tiefenschicht der neuen Politischen Theologie, in: Jahrbuch Politische Theologie, Bd. 2 (Münster 1997) 1731 8 6 , hier: 179.

Gott und Zeit

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listische Option" in ersten Spuren bereits bei Thomas von Aquin nachzuweisen versucht 4 . Eine nominalistische Tiefenschicht bereits bei Thomas von Aquin? 5 Wie immer, entscheidend ist der Zusammenhang zwischen den denkerischen Prämissen der spezifisch christlichen Gottesrede und der nominalistischen Brechung der tradierten Theologie und Metaphysik. Dazu Goldstein: Ockham „sperrt sich... auf Grund seiner Gotteslehre gegen jede idealistische Subordination des konkreten, singulären, kontingenten und somit individuellen Seienden unter metaphysisch-explizierte Allgemeinheit. Er ist entschieden metaphysikkritisch, ohne aber die Möglichkeit von Metaphysik gänzlich bestreiten zu wollen." 6 Es ist also gerade der theologische Charakter des Nominalismus, der wenn auch nicht ohne begriffliche Turbulenzen und kategoriale Verzerrungen - den denkgeschichtlichen Umschlag ausdrückt. Wer nämlich die Rede vom biblischen Gott zu bedenken sucht - nicht also die Rede vom unbewegten Beweger des Aristoteles, sondern vom Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, also vom Gott der Schöpfung und der Eschatologie - , der muß diese „nominalistische Brechung" der klassischen Metaphysik in Kauf nehmen; er muß die Revision vorgefaßter metaphysischer Gewißheiten, wie sie sich etwa in der gedanklichen Suprematie des Allgemeinen gegenüber dem Besonderen zum Ausdruck bringen, riskieren; er muß eine neue denkerische Einschätzung der Singularität betreiben; er muß eine kontingenzempfindliche Rationalität entfalten - gegenüber einem kontingenzentschärfenden Seins- und Identitätsdenken griechisch-hellenistischer Metaphysik, die keinen Anfang der Welt kennt und kein Ende der Zeit und die gleichwohl, wie wir wissen, seit dem mittleren Platonismus, seit den Einflüssen Plotins die christliche Religionsphilosophie bis zum Deutschen Idealismus geprägt hat. Ich habe unsere gegenwärtige Problemlage versuchsweise als die eines „sekundären Nominalismus" gekennzeichnet. Für die Philosophie könnte ich ihn mit Th.W. Adornos Worten beschreiben: „Philosophie hat, nach dem geschichtlichen Stand, ihr wahres Interesse dort, wo Hegel, einig mit der Tradition, sein Desinteressement bekundet: beim Begriffslosen, Einzelnen und Besonderen; bei dem, was seit Piaton als vergänglich und unerheblich abgefertigt wurde und worauf Hegel das

4 5

6

Christliche Anthropozentrik. Über die Denkform des Thomas von Aquin, München 1962. J. Goldstein, der meine „nominalismusfreundliche" Interpretation der Denkform des Thomas von Aquin mit meinem oben (vgl. Anm. 1 ) erwähnten Kriterium des Theologietreibens in Verbindung bringt, spricht ausdrücklich von einer „nominalistischen Tiefenschicht der neuen Politischen Theologie". J. Goldstein, Nominalismus und Moderne (vgl. Anm. 2), 178f.

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J o h a n n Baptist Metz

Etikett der faulen Existenz klebte ... Dringlich wird, für den Begriff, woran er nicht heranreicht, was sein Abstraktionsmechanismus ausscheidet, was nicht bereits Exemplar des Begriffs ist." 7 An den Grenzen der Moderne sind es m.E. vor allem zwei Fragestellungen, zwei Herausforderungen, die der Theologie und der Metaphysik die Situation eines sekundären Nominalismus bewußt machen können. Zum einen: Hat die christliche Theologie durch die Katastrophengeschichte dieses Jahrhunderts, durch Auschwitz, jenen Kontingenzschock erlitten, der es ihr verwehrt, von Gott in abstrakter Begrifflichkeit, sozusagen oberhalb der konkreten menschlichen Leidensgeschichte zu reden? Und zum anderen: Wie kann die Theologie den Wahrheitsanspruch ihrer Gottesrede formulieren und durchhalten angesichts jenes konstitutionellen, unauflösbaren Pluralismus von Kultur- und Religionswelten, die sich in ihrer singulären Würde einer abstrakten Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem, wie sie uns aus der metaphysischen Tradition vertraut ist, widersetzen? Diese „nominalistische" Verpflichtung auf das Kontingente und Singuläre, auf das über die begriffliche Klärung Hinausreichende bedeutet keineswegs Denkverzicht. Sie ist keine Ermunterung für die Theologie, die berühmte Unterscheidung in Pascals Memorial - „Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Philosophen und Gelehrten" - so zu lesen, als handle es sich beim biblischen Gott um einen Gott der Geistund Denkverneinungen und der strikten Antimetaphysik. 8 Das Stichwort vom „sekundären Nominalismus" zielt nicht auf eine plane Ablehnung von Metaphysik, sondern auf einen Wandel im Metaphysikverständnis: auf die Verzeitiichung von Metaphysik und Ontologie, damit der Singularität der geschichtlichen Ereignisse und dem Schrekken der Kontingenz bei der Begründung der Gottesrede selbst Rechnung getragen werde. Nur im Sinne dieser Intention trägt die Analogie zum historischen Nominalismus! Sie will dabei die zeitgenössische Theologie erneut mit der Frage konfrontieren, wie weit sie in ihrem Logos jenes Geist- und Denkangebot berücksichtigt, das in den biblischen Traditio7 8

Negative Dialektik 1968, 18. Es ist deshalb durchaus verständlich, wenn ein jüdischer Denker wie E. Lévinas das übliche Verständnis des Pascal-Wortes ablehnt: „Sich fragen - wie wir es hier versuchen - , ob Gott nicht in einer vernünftigen Rede, die weder Ontologie noch Glaube wäre, ausgesagt werden kann, heißt implizit, an dem von Jehuda Halevi aufgestellten und von Pascal wieder aufgegriffenen formalen Gegensatz zwischen dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der ohne Philosophie im Glauben angerufen wird, einerseits, und dem Gott der Philosophen andererseits zweifeln; heißt zweifeln, daß dieser Gegensatz eine Alternative darstellt." (in: B. Casper [Hg.], Gott nennen, Freiburg 1981, 85f.)

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nen selbst verwurzelt ist und inwieweit dieses Geist- und Denkangebot womöglich hilfreich ist bei dem Versuch der Theologie, die Herausforderungen an den Grenzen der Moderne produktiv zu bewältigen. Ich riskiere eine vorausgreifende Bestimmung dieses Geist- und Denkangebots: Es handelt sich um das biblische Zeitdenken mit seinem Leidensapriori, und das Organon dieses Denkens, das der Temporalisierung aller Begründungsweisen Rechnung zu tragen sucht, läßt sich abgekürzt kennzeichnen als memoria, als memoria passionis.

II. Die Gottesbotschaft der biblischen Traditionen will selbst als Zeitbotschaft gehört werden, näherhin als Botschaft von der befristeten Zeit, von der Zeit mit Finale. Alle ihre Aussagen zu Gott tragen einen Zeitvermerk, einen Endzeitvermerk. Dabei fußt diese Gottesbotschaft auf der elementaren Strukturierung der Zeit durch das Gedächtnis, durch jenes Leidensgedächtnis, in dem der Name Gottes als rettender Name, als anstehendes Ende der Zeit erzählt und bezeugt wird. Diese Zeit mit Finale, diese gezielte Zeit, die weder dem griechisch-mediterranen noch dem vorderasiatischen Kulturraum vertraut war9, wird zur Wurzel des Verständnisses der Welt als Geschichte und zum Auftakt geschichtlichen Bewußtseins, wie es dann nachhaltig den Geist der europäischen Moderne durchprägt - und zwar auch dort, wo diese Moderne sich längst säkularisierend und religionskritisch gegen die theologischen und metaphysischen Gehalte dieses Zeitdenkens wendet. Gegenwärtig freilich, in dieser Zeit des „atmosphärischen Nietzsche", gibt es keine Zeit mit Finale mehr, nicht einmal, wie Nietzsche ausdrücklich betont, ein „Finale ins Nichts". 10 Der frühgriechische Mythos von der Ewigkeit der Zeit kehrt zurück - mit unterschiedlichen Prämissen bei den Neognostikern, bei M. Foucault, beim postmodernen Comeback M. Heideggers - nicht etwa mit seiner in der Tat epochalen Frage nach „Sein und Zeit", sondern mit seinem Antwortversuch in Richtung einer neuheidnischen, vermeintlich den Vorsokratikern abgelauschten menschenleeren Ontologie und eines daraus abgeleiteten Antihumanismus, den er bekanntlich nach Auschwitz - 1946 - verkün9

Selbst bei N. Cohn, Die Erwartung der Endzeit. Vom Ursprung der Apokalypse, Frankfurt/M. 1 9 9 7 , wird die qualitative Zäsur in den jüdischen Apokalypsen gegenüber den Ansätzen im Alten Orient betont: bes. 216ff. 10 F. Nietzsche, Werke in 3 Bänden, hg.v. K. Schlechte, München 1 9 5 8 u.ö., hier: Bd. III, 853 (Nachlaß).

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Johann Baptist Metz

dete, ohne auch nur mit einem Wort an diese Katastrophe zu erinnern. „Zeit ohne Finale": spärlich sind die Vorbehalte und Gegenstimmen, so wie etwa die im letzten, posthum erschienen Werk Jean-François Lyotards, in dem von der „Melancholie" dieses neuen Zeitdenkens die Rede ist. In seinen „Postmodernen Moralitäten" 11 heißt es: „Das Leiden am Fehlen der Finalität ist der postmoderne Zustand des Denkens, also das, was man heute gemeinhin seine Krise, sein Unbehagen oder seine Melancholie nennt." Wer sich weigert, das „Fehlen von Finalität" melancholisch zu quittieren, um vor der Passionsgeschichte der Menschheit schließlich doch in die Ästhetik auszuweichen; wer bei Nietzsches Vorschlag zögert, in die unschuldige Heiterkeit, in die ziellos bei sich selbst verweilende mittägliche Existenz mediterraner Lebensfreude heimzukehren nach so viel Unglück und akkumuliertem Leid, der mag vielleicht an den Grenzen der Moderne noch einmal empfänglich werden für den Vorschlag des biblischen Zeitdenkens. Dieser Vorschlag erfordert die erneute Annäherung an ein biblisches Erbe, das heute nicht selten verdrängt oder verharmlost wird und das in der Art, wie es öffentlich zur Geltung kommt, ganz und gar mißverstanden ist: das Erbe der Apokalyptik. Zunächst - und im engeren Sinn - bezeichnet Apokalyptik bekanntlich eine Literaturgattung der frühjüdischen Zeit, die in der verschärften Leidenssituation der jüdischen Gemeinden ihren „Sitz im Leben" hat. Daraus lassen sich zwei wichtige Kennzeichnungen dieser Apokalyptik gewinnen, die sich wie ein roter Faden durch alle biblischen Traditionen ziehen. Zum einen handelt es sich bei dieser Apokalyptik nicht primär um ein Katastrophendenken, sondern um ein Zeitdenken, um eine Art Temporalisierungsprogramm, um den Ansatz zur Verzeitlichung der Welt im Horizont befristeter Zeit. Wenn man bei den Texten und Bildern der biblischen Apokalyptik etwas länger verweilt, als es der moderne Konsens zu erlauben scheint, kann man erkennen, daß es sich bei dieser Apokalyptik nicht um eine geschichtsferne Spekulation, nicht um zelotisch angeschärfte Untergangsphantasien, nicht um eine katastrophensüchtige Vermutung über den Zeitpunkt des Finales der Welt handelt, sondern um die bildhaft-dramatische Kommentierung des finalen Wesens dieser Weltzeit selbst. Gott ist in dieser apokalyptischen Sprache das noch nicht herausgebrachte, noch ausstehende Geheimnis der Zeit. „Hüter, wie spät ist es in der Nacht?... Der Hüter aber sprach: Wenn der Morgen schon kommt, so wird es doch Nacht sein, wenn ihr schon fragt, so werdet ihr doch wiederkommen und wieder fragen." (Jes 21,1 If) 11 Wien 1998.

Gott und Zeit

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Zum anderen ist Apokalypse - und nun im Wortsinn (der Septuaginta) genommen - ein „Aufdecken", ein Aufdecken der Antlitze der Opfer gegen die mitleidlose Amnesie der Sieger. Sie ist eine „Enthüllung", eine Enthüllung dessen, was „ist": Gegen die mythischen Verschleierungen der menschlichen Leidensgeschichte oder auch gegen die metaphysischen Verdunkelungen des Unglücks in der Welt, in der die Opfer unsichtbar werden und die Schreie unhörbar. Und so begegnet uns im biblischen Israel ein Volk, das unfähig scheint, sich mit der Kraft von Mythen oder von Idealisierungen über die Abgründe der menschlichen Leidensgeschichte zu erheben. Der Trost des Mythos scheint ihm gleich fern zu sein wie der Trost der klassischen Metaphysik. Dieses biblische Israel wandelte sich immer wieder in eine „Landschaft aus Schreien".12 Dieses apokalyptische Zeitdenken mit seinem Leidensapriori durchzieht übrigens - mehr oder minder ausdrücklich - die ganze biblische Botschaft13 - es sei denn, man habe sie längst an eine dualistische Gnosis mit ihrem Axiom von der Heillosigkeit der Zeit und der Zeitlosigkeit des Heils verraten, um so die christliche Heilsbotschaft gegen die Abgründe der menschlichen Leidensgeschichte abzuschirmen und ihr die apokalyptische Unruhe der Rückfrage an Gott zu ersparen. Das theodizeesensible Zeitdenken, das lieber metaphysisch stumm bleibt als daß es sich auf eine Metaphysik oberhalb der konkreten menschlichen Leidensgeschichte stützte; dieses kontingenzgeschärfte Zeitdenken, das kein in Leidvergessenheit und Mythenträumen gebettetes Seinsvertrauen kennt, wäre im Logos der Theologie an den Grenzen der Moderne zu beheimaten, sozusagen in einem zweiten Anlauf, eben in einer Art von sekundärem Nominalismus.

III. In diesem Sinn bleibt die Konfrontation ihrer Metaphysiktradition mit dem metaphysisch weithin stummen Zeitdenken der biblischen Traditionen eine der wichtigsten Aufgaben zeitgenössischer Theologie.14 Die12 Formulierung N. Sachs. 13 Vgl. dazu J.B. Metz, Gott. Wider den Mythos von der Ewigkeit der Zeit, in: Ende der Zeit? Die Provokation der Rede von Gott. Dokumentation einer Tagung in Ahaus, hg.v. T.R. Peters/C. Urban, Mainz 1999, 32-49. 14 Dazu, daß und warum die Theologie sich mit diesem Zeitdenken immer schon schwer getan bzw. sich ihm gesperrt hat, vgl. meine einschlägigen Überlegungen in: J.B. Metz, Theologie versus Polymythie oder Kleine Apologie des biblischen Monotheismus, in: O. Marquard (Hg.), Einheit und Vielheit. XIV. Deutscher

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J o h a n n Baptist Metz

se Konfrontation würde es verbieten, daß sich die Theologie in vermeintlich zeitlosen (Erst- oder Letzt-)Begründungsversuchen über das geschichtliche Eingedenken und den Einspruch der menschlichen Leidensgeschichte erhebt 15 - auch wenn dieses Verbot noch so sehr nach einem neuen Nominalismus klingen mag, der diesmal nicht auf der sinnfälligen Singularität der Gegenstandswelt, sondern auf der unhintergehbaren Kontingenz der Geschichtswelt beharrt. Schließlich fußt wie gesagt - die christliche Rede von Gott und seinem Christus nicht auf einer situationsblinden und gedächtnislosen Heilsmetaphysik. Ihr Wahrheitsanspruch (und ihr damit verbundener Universalismus) ist nur durch erinnerungsbegabte Vernunft mit ihrem Leidensapriori einzulösen. Seit Jahren kennzeichne ich sie - abgekürzt und nicht unmißverständlich als anamnetische Vernunft. Nun gibt es heute nicht wenige philosophische und soziologische Positionen, die erinnerungsgeleitete Vernunft von vornherein für aufklärungswidrig und modernitätsunverträglich halten. Die Aufklärung hat in der von ihr entwickelten und heute dominierenden Vernunftgestalt ein tiefsitzendes Vorurteil nicht überwinden können: das Vorurteil gegenüber der Erinnerung. Sie förderte Diskurs und Konsens und unterschätzte die intelligible Macht der Erinnerung, also die anamnetische Rationalität. Wie aber, wenn Vernunft durch Erinnerung bestimmt bleibt? Kann solche Vernunft überhaupt noch das Organon von Verständigung und Frieden sein? Wird mit einer solchen Auszeichnung der Vernunft nicht eine Haupterrungenschaft der politischen Aufklärung radikal verletzt bzw. fahrlässig widerrufen? Sind es nämlich nicht die geschichtlich-kulturell verwurzelten Erinnerungen, die immer wieder die gegenseitige Verständigung behindern, immer neu zu schmerzlichen Konflikten und dramatischen Verfeindungen führen und aus denen sich - am Ende dieses Jahrhunderts - alle offenen oder latenten Bürgerkriege nähren? Ihren aufgeklärten Charakter und ihre legitime Universalität gewinnt die hier gesuchte anamnetische Vernunft dadurch, daß sie sich von einer bestimmten Erinnerung geleitet weiß, eben von der Leidenserinnerung und zwar nicht in der Gestalt einer selbstbezüglichen Leidenserinnerung (der Wurzel aller Konflikte!), sondern in der Gestalt der Erinnerung des Kongreß für Philosophie - Gießen, 21.-26. September 1987, Hamburg 1990, 170-186. Ausführlich und eindringlich zum „zeitlichen Sinn der Gottesrede" äußert sich J. Reikerstorfer in seinem Beitrag „Politische Theologie als »negative T h e o l o g i e « " , in: ders. (Hg.), Vom Wagnis der Nichtidentität, Münster 1998, 11-49. 15 Vgl. J.B. Metz, Z u m Begriff der neuen Politischen Theologie, Mainz 1997, § 8Exkurs: Verzeitlichung von Ontologie und Metaphysik.

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Leidens der Anderen, in der Gestalt des Eingedenkens fremden Leids. Dieses Leidensapriori mit seinem negativen Universalismus leitet den Universalitäts- und Wahrheitsanspruch der Vernunft in Zeiten des sekundären Nominalismus. Schließlich kann sich die Vernunft, die wahrheitsfähige Kriterien für ihre Verständigungsprozesse angeben will, nicht nur am Verständigungssinn der Sprache selbst orientieren. Das Verständigungsapriori einer kommunikativen Vernunft bleibt deshalb auf das Leidensapriori der anamnetischen Vernunft verwiesen. „Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit" formulierte Th.W. Adorno in seiner Negativen Dialektik 16 , und ich stimme ihm darin auch heute noch zu. In diesem Satz ist ein universeller Vernunftanspruch formuliert, der einerseits über einen verfahrensrationalen Verzicht auf Geltungsansprüche, also über einen rein prozeduralen Universalismus hinausgeht, der andererseits alle allgemeinen Geltungsansprüche, die außerhalb oder oberhalb der menschlichen Leidensgeschichte ansetzen, als wahrheitsunfähig erklärt - und dies gewissermaßen als quasi-nominalistische Provokation auch aller zünftigen Theologie und der ihr immanenten Metaphysik, aber auch als Kritik all jener modernen Vernunftkonzepte, die sich - idealistisch, transzendental, kommunikationstheoretisch ... - von dieser Leidensgeschichte gelöst und die Vernunft der Grundspannung zwischen Erinnern und Vergessen entzogen haben. Nun hat Jürgen Habermas in einem Text „Israel und Athen oder: Wem gehört die anamnetische Vernunft?" 1 7 mir gegenüber betont, daß der von mir angemahnte anamnetische Geist des biblischen Zeitdenkens längst in das Vernunftdenken der europäischen Philosophie eingedrungen sei. Ist das wirklich so? Man höre und lese dazu z.B. einmal E. Lévinas! Ich bleibe jedenfalls zunächst einmal bei meiner skeptischen Frage an meinen Freund Jürgen Habermas. Der hat zwar wie kaum ein

16 Negative Dialektik 29. - Zu dem in diesem Kontext angeführten Universalitätsparadigma, das nicht von allen Geltungsanspriichen gelöst ist, vgl. auch die Überlegungen von J. Reikerstorfer, Chancen und Verpflichtungen in der Wissenschaftswelt. Eine Ortsbestimmung der Theologie, in: ders. (Hg.), Zum gesellschaftlichen Schicksal der Theologie, Münster 1999, 103-125. Im gleichen Band (142-151) weist G. Luf aus rechtsphilosophischer Sicht die Bedeutung des „negativen Universalismus" der Leidenserinnerung für die aktuelle Menschenrechtsdiskussion nach. 17 in: J.B. Metz u.a., Diagnosen zur Zeit, Düsseldorf 1994, 51ff; dann auch in: J. Habermas, Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck, Frankfurt 1997, 98-111. Vgl. dazu auch die Interpretation von L. Nagl, Gibt es ein Interesse zeitgenössischer Philosophie an der Theologie?, in: J. Reikerstorfer (Hg.), aaO. (= Anm. 16), 39-48.

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anderer deutscher Intellektueller sensibel auf die Katastrophe von Auschwitz reagiert, und kaum einer war dabei so dezidiert und so einflußreich wie er. Das alles ist in seinen „Kleinen Politischen Schriften" nachzulesen. Umso verwunderlicher ist es für mich, daß Auschwitz in seinen Fundamentalschriften zur kommunikativen Vernunft nicht vorkommt, und zwar mit keinem Wort. Hat er sich da nicht zu früh von Adorno verabschiedet? Und spiegelt sich in der Zweiteilung seiner Schriften, hier das Partikular-Historische der politischen Schriften, dort das AllgemeinVerbindliche der philosophischen: spiegelt sich darin nicht die heimliche Nominalismusangst des Postmetaphysikers Habermas? In diesen „Kleinen Politischen Schriften" kann man die eindrucksvolle Bemerkung lesen, Auschwitz habe das Band der Kommunikation zwischen allem, was Menschenantlitz trägt, zutiefst verletzt. 18 Hat eine solche Aussage nicht auch ihr Gewicht für eine Theorie der Kommunikation und der kommunikativen Vernunft? Oder heilt die Kommunikationstheorie doch auch alle Wunden? Wie aber wäre dann verallgemeinerungsfähig von dem zu sprechen, was Unheil blieb, was nicht verschwinden darf hinter dem Schild der kulturellen Amnesie und sich nicht in fugendichte Normalität einschließen läßt? Man wird vielleicht (mit Habermas) von solchen Fragen sagen, daß sie nicht mehr in die Zuständigkeit der Vernunft fallen, daß sie allenfalls Ausdruck einer rigiden, einer skrupulösen Vernunft seien, die sich an zuviel erinnern will und deshalb in der Gefahr steht, sich an nichts zu erinnern, was vernünftig vertreten werden kann. Nun gehört es m.E. sehr wohl zur Zuständigkeit der Vernunft daran zu erinnern, daß es nicht nur eine Oberflächengeschichte der Gattung Mensch gibt, sondern auch eine Tiefengeschichte, die durchaus verletzbar ist. Hat nicht etwa Auschwitz die metaphysische und moralische Schamgrenze zwischen Mensch und Mensch tief abgesenkt? Und gewinnen die Gewalt- und Vergewaltigungsorgien der Gegenwart - vorgestern Auschwitz, gestern Ruanda und Bosnien, heute der Kosovo und Ost-Timor - für uns nicht unbewußt etwas von der resignativ-verführerischen Kraft des Faktischen, zersetzen sie nicht hinter dem Schild des Vergessens das zivilisatorische Grundvertrauen, jene moralischen und kulturellen Reserven, in denen die Menschlichkeit des Menschen gründet? Ist es deshalb nicht eine der vornehmsten Aufgaben der Vernunft, das humane Gedächtnis zu schärfen und einem Denken zu widerstehen, das sich zur Sicherung seiner Allgemeinverbindlichkeit oberhalb oder außerhalb der menschlichen Katastrophengeschichte festmacht? Dieser 18 J. Habermas, Eine Art Schadensabwicklung (= Kleine Politische Schriften VI), Frankfurt/M. 1987, 163.

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Widerstand liegt nicht jenseits der Kompetenz der Vernunft, er bringt sie m.E. in ihren humansten und aufgeklärtesten Möglichkeiten zur Geltung, er zwingt sie in die Erinnerung und wappnet sie gegen das Vergessen. Schließlich ein zweites Beispiel für die Zuständigkeit der leidgeschärften anamnetischen Vernunft: der Umgang mit der Theodizeefrage. Wenn man diese Frage für ebenso unbeantwortbar wie unvergeßlich charakterisiert, sieht sie sich einem klassischen Grundsatz menschlicher Vernunft ausgesetzt, wie er etwa in Ockhams bekanntem Sparsamkeitsprinzip („razor") ausgedrückt ist: Entia sine ratione non sunt multiplicanda. Oder anders ausgedrückt: Es ist aus Gründen der Vernunft geboten, eine Frage, auf die es zugestandenermaßen keine Antwort gibt, endlich fallen zu lassen und zu vergessen. Doch was ist, wenn sich die Menschen eines Tages nur noch mit der Waffe des Vergessens gegen das Unglück in der Welt wehren können, wenn sie ihr Glück nur noch auf das mitleidlose Vergessen der Opfer bauen können, auf eine Kultur der Amnesie, wenn nur noch die Zeit alle Wunden heilt (und eines Tages auch die Wunde, die den Namen Auschwitz trägt)? Woraus nährt sich dann noch der Aufstand gegen die Sinnlosigkeit des Leidens in der Welt, was inspiriert dann noch zur Aufmerksamkeit für das fremde Leid und zur Vision einer neuen größeren Gerechtigkeit? Was bleibt denn, wenn sich diese kulturelle Amnesie vollendet hat? Was bleibt - der Mensch? Welcher Mensch? Eine Berufung auf die Selbsterhaltung des Humanen scheint mir in diesem Fall höchst abstrakt zu sein. Sie entspringt nicht selten einer Anthropologie, der die Frage nach dem Bösen und der Theodizeeblick in die Geschichte der Menschheit längst abhanden gekommen ist und die vergißt, daß nicht nur der einzelne Mensch, sondern auch die „Idee" des Menschen verletzbar, ja zerstörbar ist.

IV. Es ist an der Zeit, von den Konsequenzen zu sprechen, die sich aus der Einbeziehung der leidgeschärften anamnetischen Vernunft für das Verhältnis der Theologie zur Wissenschaftswelt, zur Gesellschaft, zu den Religions- und Kulturwelten und zur Kirche ergeben. Ich nenne - in aller Kürze und ohne Ehrgeiz auf Vollständigkeit - die folgenden Gesichtspunkte. 1. Im Verhältnis der Theologie zur Wissenschaftswelt unserer Tage: Die für die Theologie unverzichtbare anamnetische Rationalität mit ihrem Leidensapriori zielt auf die Wissensform des Vermissens. W o im modernen Wissenschaftswissen (über den Menschen) nichts mehr ver-

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mißt wird, wird die Rede von „dem Menschen" selbst zum Anthropomorphismus; es ist nämlich dann nicht mehr „der Mensch" gewußt und gemeint, sondern nur noch die Natur, d.h. der Mensch als erinnerungsund subjektlose Natur, als das - biotechnisch oder wie es nun heißt „anthropotechnisch" - noch nicht zu Ende experimentierte Stück Natur. Deshalb stützt die erinnerungsbegabte Wissensform der Theologie den elementaren Eigensinn des Geistes in den sog. Geisteswissenschaften und gehört an ihre Seite, solange diese sich nicht in einer zunehmend subjektloser, technomorpher werdenden Systemsprache selber aufgeben und auch ihrerseits den Menschen nur noch als Experiment und nicht mehr als Gedächtnis seiner selbst begreifen. Mag sein, daß diese Sicht künftig im Ensemble der Wissenschaften nicht ohne eine Portion metaphysischer Zivilcourage zu vertreten ist. Die wird die Theologie dann eben brauchen. Nicht um ihrer Selbstbehauptung willen, sondern um der sich abzeichnenden szientifisch-technischen Überdetermination unserer künftigen Lebenswelt mit ihrer technologiebedingten Zeit- und Wissensstruktur zu wehren. Und wenn mich nicht alles täuscht, dann muß sich die Theologie die geistigen Ressourcen für diesen Widerstand etwas weniger aus der Ideenwelt Athens und etwas mehr aus der anamnetischen Kultur Jerusalems holen. 2. Mit ihrem Leidensapriori der anamnetischen Vernunft wendet sich die Theologie auch an die „profanen" Leitbilder und Theorien des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Sie fragt z.B. kritisch, ob unsere posttraditionalen Diskursgesellschaften, die sich vom Apriori des Leidensgedächtnisses losgesagt haben, über eine Marktlogik wirklich hinauskommen, ob sie also noch von einer Vision der Verantwortung der Einen für die Anderen vor jedem Tausch- und Konkurrenzverhältnis geleitet sind und ob sie in der Politik noch asymmetrische Anerkennungsverhältnisse - als Zuwendung der Einen zu den bedrohten und geopferten Anderen - vertreten können. Mit solchen Fragen beteiligt sich die (von anamnetischer Vernunft informierte) Theologie am öffentlichen Streit über die Grundlagen menschlichen Zusammenlebens. 3. Die Situation an den Grenzen der Moderne ist augenfällig geprägt durch den konstitutionellen Pluralismus der Religions- und Kulturwelten. Die Theologie stellt sich mit ihrer leidgeschärften Rationalität der Frage, ob es in der unwiderruflich anerkannten Vielfalt der Kulturen und Religionen noch ein universales, ein alle verpflichtendes und in diesem Sinne wahrheitsfähiges Kriterium der Verständigung geben kann, das über den geltungsfreien Universalismus der reinen Verfahrensrationalität hinausgeht. Nun ist der im Leidensapriori der anamnetischen Vernunft enthaltene Universalismus, als Leidensuniversalismus,

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offensichtlich ein negativer Universalismus. Als solcher kann er mit seinen spezifischen Geltungsansprüchen auch unter Pluralitätsbedingungen ideologiefrei vertreten werden. Dieses Leidensapriori führt nämlich die Vernunft vor eine Autorität, die weder religiös noch kulturell hintergehbar ist: die Autorität der Leidenden. Die Anerkennung dieser Autorität läßt sich als jenes Kriterium formulieren, das den Menschen aller Religionen und Kulturen zumutbar ist, und das deshalb den Religionsund Kulturdiskurs in globalisierten Verhältnissen orientieren kann. (In diesem Sinne spreche ich von einer möglichen „Ökumene der Compassion"19.) 4. Offensichtlich steht die Theologie mit ihrer leidgeschärften Rationalität nicht - sozusagen in teilnahmsloser Beobachterposition - außer oder über dem Gedächtnis der Kirche. Sie ist ja nicht von der Vorstellung geleitet, als könne sie auf die religiöse Basis ihrer Gottesrede verzichten bzw. sie einfach spekulativ ersetzen. Ihre unverzichtbare kritische Freiheit in der Gedächtnisgemeinschaft der Kirche gewinnt die Theologie dadurch, daß sie das von der Kirche repräsentierte Gottesgedächtnis immer wieder daraufhin befragt, ob und inwieweit es zur gemeinschaftlichen memoria passionis, zum Eingedenken fremden Leids wird, ob und inwieweit sich das dogmatische Gedächtnis der Kirche nicht längst vom Leidensgedächtnis der Menschen entfernt hat. V. Welche Konsequenz, dies sei die abschließende Frage, hat die Einbeziehung der anamnetischen Vernunft mit ihrem Leidensapriori für die Theologie selbst? Zum einen: Sie stellt die Gottesrede in die fundamentale, spekulativ unhintergehbare Spannung zwischen Erinnern und Vergessen und erzwingt so die Temporalisierung der theologischen Begründungslogik. Gottdenken ist im Gottgedenken, der Gottesbegriff im Gottesgedächtnis verwurzelt - und nicht umgekehrt! Der Gottesgedanke kann nun nicht mehr als transzendentale Bedingung der Möglichkeit menschlichen Erkennens erläutert werden; schließlich ist er, der Gottesgedanke, durch seine Verzeitlichung selbst bedroht, bedroht vom Dunkel der menschlichen Leidensgeschichte. Im übrigen wäre zu zeigen, daß in dieser Verzeitlichung der theologischen Logik die Dichotomie zwischen natürlicher Theologie und Offenbarungstheologie unterlaufen ist. 19 Vgl. dazu J.B. Metz, Zum Begriff der neuen Politischen Theologie (s. Anm. 15),

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Zum anderen: Die anamnetische Vernunft mit ihrem Leidensapriori setzt alle jene metaphysischen Gründungen und Sicherungen der Gottesrede außer Kraft, die außerhalb oder oberhalb der menschlichen Leidensgeschichte operieren und damit der Konfrontation der Gottesrede mit der Theodizeefrage auszuweichen suchen. Den Nominalismusvorwurf, den sie sich durch ihre Weigerung, eine „höhere Allgemeinheit" zwischen Gott und Mensch anzunehmen, zuzieht, trägt sie mit Gelassenheit und Zuversicht. Schließlich: Die Theodizeefrage wird nun zu „der" theologischen Frage. Die Rede von Gott angesichts der abgründigen Leidensgeschichte der Welt, „seiner" Welt, rückt ins Zentrum der Gottesrede überhaupt. Wenn die Theologie die durch die Theodizeefrage erzwungene Nichtidentität ihrer Gottesrede ein für allemal hinter sich zu bringen suchte, wenn sie sich über ihr, über dieser Art von „Gotteskrise" systematisch zu beruhigen suchte, würde sie m.E. eine alles entscheidende Differenz mißachten: die eschatologische Differenz zwischen dem theologischen Begriff von Gott und Gott selbst. Schließlich kann ja die Theologie die Theodizeefrage nicht „lösen". Sie führt sie mit sich als zeitlich gespannte Rückfrage an Gott, daß, wenn überhaupt, Gott selbst sich an seinem Tag angesichts dieser Leidensgeschichte „rechtfertige". Hier kann die (vom Leidensapriori anamnetischer Vernunft informierte) Theologie keine Letztbegründungen beanspruchen, allenfalls von Zuletztbegründungen sprechen - im Rahmen einer theologischen Logik befristeter Zeit. Diese eschatologische Theodizee durchzieht in gleitender Funktion alle theologischen Aussagebereiche. So z.B. auch die Christologie. Gerät nicht eine Christologie, die sich außerhalb oder oberhalb dieser eschatologischen Theodizee zu formulieren sucht, zwangsläufig zu einem Siegermythos? Auch die Christologie hebt die fundamentale Art des Gottvermissens (wie es im biblischen Zeitdenken mit seinem Leidensapriori ausgedrückt ist: Wo bleibt Gott?20) nicht auf, sondern verschärft es. Nicht nur die Biographie des biblischen Israel, sondern auch die Biographie des ersten Christentums endet mit einem apokalyptischen Schrei, mit einem nun christologisch angeschärften Schrei. Hier, das deutet diese Schlußüberlegung an, hier rührt Theologie, der es in allem um Gott geht, unvermeidlich an substantielle Religion. Hier weiß Theologie am deutlichsten, daß sie selbst immer actus secundus bleibt, daß sie selbst diese Religion niemals ersetzen kann, daß

20 Zum Primat der Frage „Wo bleibt Gott" bei einer an der Theodizeefrage orientierten Gottesrede vgl. ausführlich auch meinen Text unter Anm. 14.

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sie die Hoffnung, den Schrei, das Gott-um-Gott-Bitten niemals überflüssig machen, sondern nur argumentativ ausleuchten kann 21 - auch heute, an den Grenzen der Moderne, inmitten der Zeit der Gotteskrise.22

2 1 In den berühmten Quinqué viae der Gottesbeweise bei Thomas von Aquin wird immer das religiöse Referenzsubjekt der theologischen Argumentation angegeben: id quod omnes dicunt esse Deum. 2 2 Meine Überlegungen zur „Zeit der Gotteskrise" (vgl. schon meinen Text in „Diagnosen zur Zeit" = Anm. 17) setzen bei der Beobachtung ein, daß es heute nicht nur eine Trivialisierung des Atheismus gibt, sondern auch eine ungeheure Diffusion im Religionsverständnis, sodaß man gegenwärtig, in dieser Zeit des „atmosphärischen Nietzsche", die sich gern „postmodern" nennt, von einer religionsfreundlichen Gottlosigkeit, von einem religionsförmigen Atheismus sprechen kann: „Religion, ja - Gott, nein".

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1 Mit dem Entstehen der griechische Philosophie vor etwa zweieinhalbtausend Jahren kam zum ersten Mal die allgemeine Forderung in die damals noch weithin mythisch gedeutete Welt, für alles einen Logos, und das heißt: Begründungen und vernünftige Erklärungen zu finden. Das Hauptziel aber war, für das Seiende im Ganzen und den Weltgrund, dem es entspringt, einen Logos, also Begründungen und vernünftige Erklärungen zu finden, so daß es als ein der autonomen Vernunft einsichtiges und damit in sich folgerichtiges System begreifbar wird. Einen solchen Versuch nannte später Aristoteles eine Metaphysik. Aber eben weil sie vom Seiendem im Ganzen handelte, war sie zugleich eine Ontologie, was ja nichts anderes als „Lehre vom Sein" bedeutet. Der Logos der Metaphysik, der in Begründungen und Erklärungen des Seienden im Ganzen besteht, beruht somit auf einer bestimmten Weise autonomen, vernünftigen Denkens, das wir das ontologische Denken nennen. Worin dieses Denken des näheren besteht, sei an einem Beispiel erläutert, nämlich an der Art, wie es heute in geradezu weltumspannender Weise in Erscheinung tritt. Wenn ich dieses Beispiel wähle, so ist das also nicht nur einfach mit dem natürlichen Interesse begründet, die eben Aktuelles hervorruft, sondern vor allem damit, daß ontologisches Denken in dieser seiner aktuellen Erscheinungsform heute als Maßstab für rechtes Denken überhaupt und als der einzige Zugang zur Wahrheit und zur Wirklichkeit betrachtet wird. Mit der Folge, daß auch die Offenbarung sich an diesem Maßstab zu messen habe. Dieses ontologische Denken ist aber kein anderes als jenes, das den empirischen Wissenschaften zugrunde liegt. Und sie sind es ja auch, die heute unser ganzes Leben weithin beherrschen, uns, die wir im wissenschaftlich-technischen Zeitalter leben und dadurch in unseren Denkgewohnheiten und in unserem Lebensstil tiefgreifend bestimmt sind. Die empirische Wissenschaft ist eine Weise der Welterklärung, wobei mit Erklärung die Rückführung wahrnehmbarer Phänomene auf Gesetze und Regeln gemeint ist. Sie ist zudem eine systematische Welt-

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erklärung, weil sie mit Hilfe von empirischen Theorien zustande kommt, in denen Gesetze und Regeln zu größeren Gruppen zusammengefaßt und in einen logischen Zusammenhang gebracht werden. Solche Theorien liefern die gesuchten Erklärungen aber nur dann, wenn sie an der Wirklichkeit überprüft werden. Diese Überprüfung verläuft nach dem folgenden Schema: Erstens werden Einzeltatsachen beschrieben; dann wird zweitens die Aufeinanderfolge dieser Einzeltatsachen daraufhin untersucht, ob sie sich so verhält, wie es nach den durch Allgemeinbegriffe formulierten Gesetzen oder Regeln der Theorie zu erwarten ist. Damit tritt der Kerngedanke wissenschaftlicher Wirklichkeitsauffassung hervor, nämlich dieser: Die Wirklichkeit ist durch den Unterschied von Allgemeinbegriffen und unter diese Allgemeinbegriffe fallende singuläre Tatsachen bestimmt. In diesem, den empirischen Wissenschaften zugrunde liegenden Kerngedanken enthüllt sich nun aber ihr ontologisches und damit auch metaphysisches Denken. Nach weitverbreiteter Auffassung beruht dieser Kerngedanke zwar auf einer elementaren Erfahrung und drückt somit eine gänzlich unmetaphysische, weil grundlegende, empirische Tatsache aus. Doch mache man die Probe aufs Exempel und stelle sich vor, man wolle empirisch prüfen, ob uns die Wahrnehmung der Wirklichkeit anders als durch das Medium singulärer Tatsachen, die durch Allgemeinbegriffe erfaßt werden, gegeben werden kann. Dies wäre sinnlos, wenn man unter empirischer Prüfung etwas verstünde, was auf der Grundlage der Unterscheidung von Allgemeinbegriff und Einzelwahrnehmung beruht, denn dann würde man ja das, was man erst prüfen will, schon als wahr voraussetzen. Sollte man aber diesen Standpunkt wechseln, so verstünde man unter empirischer Prüfung etwas anderes und könnte ebenfalls das Schema der Prüfung nicht selbst wieder empirisch prüfen. Daraus folgt: Die der Wissenschaft zugrunde liegende Annahme, daß die Wirklichkeit durch den Unterschied von abstraktem Allgemeinbegriff und singulärer Tatsache bestimm wird, ist eine apriorische Aussage. Nun sind aber apriorische Aussagen über die Wirklichkeit von solchem Allgemeinheitsgrad nichts anderes als ontologische Aussagen. Also ist in der Tat der Kerngedanke, auf dem wissenschaftliches Denken beruht, nämlich die Rolle und Bedeutung des Begriffs, ein ontologischer und metaphysischer, nicht aber, wie weithin angenommen, ein empirischer. In diesem Zusammenhang ist es erhellend, die Tatsache zu beachten, daß die apriorische Behauptung, die Wahrnehmung der Wirklichkeit vermittle nur singuläre Ereignisse, die von abstrakten Begriffen scharf zu unterscheiden sind, erst mit der griechischen Metaphysik in die Welt kam und sich überhaupt erst mit dem Aufkommen der empirischen

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Wissenschaften im 17. Jahrhundert endgültig durchgesetzt hat. Man denke doch an die ungeheuere Anstrengung, die es Plato kostete, einen solchen Unterschied von Begriff und Wahrnehmung herauszuarbeiten. Tatsächlich existierte er nicht innerhalb des griechischen Mythos, von dem sich die griechische Philosophie zunehmend löste. Das Allgemeine wurde dort nicht als Begriff dem Besonderen und Einzelnen gegenübergestellt, sondern Allgemeines und Besonderes bildeten vielmehr miteinander eine so unauflösliche Einheit, daß sie für das mythische Denken nicht einmal als deren Bauelemente erkennbar waren. Deswegen unterschied der Mythos auch nicht wie die Wissenschaft zwischen dem allgemeinen Gesetz, das nur in Gedanken zu erfassen ist, und dem Einzelnen der sinnlichen Wahrnehmung, das darunter subsumiert werden kann, sondern im Einzelnen sah er die Substanz eines numinosen und individuellen Wesens wirken, eines Gottes zum Beispiel, der überall im entsprechenden Phänomenbereich auf gleiche Weise anwesend und auch auf regelhafte, gesetzmäßige Weise wirksam war. So etwa, wenn sich mythisch im allgemeinen Rhythmus der Jahreszeiten dieselbe individuelle Geschichte einer Gottheit spiegelt. Daher übernehmen im numinosen Bereich numinose Eigennamen die Funktion von Allgemeinbegriffen. So spricht Homer nicht von einer Morgenröte, sondern von der Göttin Eos, nicht von einem Nordwind, sondern vom Gotte Boreas, nicht von einem Regenbogen, sondern von Iris, nicht von der Liebe, sondern vom Eros usw. Selbst wo Homer Allemeinbegriffe nicht ausdrücklich durch numinmose Eigennamen ersetzt, verbindet er mit ihnen doch konnotativ einen ganz anderen, dem heutigen Leser oft gar nicht unmittelbar erkennbaren Sinn, weil damit die Anwesenheit einer individuellen, mythischen Substanz gemeint ist. Wir müssen jetzt aber unsere Aufmerksamkeit darauf richten, daß die bisherigen Betrachtungen solche über die empirische Wissenschaft und über das mythische Denken gewesen sind. In diesem Sinne handelt es sich also ummetatheoretische Aussagen. Mit dem Wort „meta" wird ausgedrückt, daß es sich um Aussagen über Aussagen - der Wissenschaft, des Mythos - handelt; theoretisch aber heißen sie, weil sie selbst den Charakter wissenschaftlicher Aussagen haben, soferne sie sich ja im Medium des wissenschaftlichen Begriffsverständnisses bewegen. Dabei stellte sich jedoch wie gezeigt heraus, daß metatheoretisch in wissenschaftlicher Weise auch über das nichtwissenschaftliche, z.B. mythische Denken geredet werden kann, und zwar mit dem Ergebnis, daß in dessen grundlegenden Vorstellungen über die Wirklichkeit gerade nicht, wie in der Wissenschaft, der abstrakte Allgemeinbegriff und die singuläre Tatsache scharf voneinander geschieden werden, sondern im Gegenteil beide vollkommen miteinander verschmolzen sind - der

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Mythos also offenbar auf einer ganz anderen Ontologie beruht als die Wissenschaft. Wir können allerdings nur metatheoretisch von einer Ontologie des Mythos sprechen, wie ich schon jetzt anmerken möchte, also im nur metasprachlichen Vergleich zwischen Wissenschaft und Mythos, während der innerhalb des Mythos Denkende (objektsprachlich) dessen ontologische Verfassung gar nicht formulieren kann oder sich zumindest ihrer nicht bewußt sein mag. Aber wird nicht der Mythos, wenn man ihn solchermaßen in die wissenschaftliche Sprache übersetzt und begriffswissenschaftlich formuliert, entscheidend verändert und verfälscht? Dies ist jedoch so wenig der Fall, daß er uns vielmehr, die wir im wissenschaftlichen Zeitalter leben, überhaupt nur durch eine solche Übersetzung in seinem tiefgreifenden Unterschied zur Wissenschaft und damit in seiner eigentümlichen, allgemeinen Wirklichkeitsauffassung erkennbar werden kann. Übersetzt man aber diese allgemeine Wirklichkeitsauffassung in der beschriebenen Weise mit den Mitteln der wissenschaftlichen Sprache, so geben wir ihr zugleich die Form einer, nunmehr quasi mythischen Ontologie, die wir mit der wissenschaftlichen vergleichen können. Wir haben es also, metasprachlich ausgedrückt, mit mehreren Ontologien zu tun, und solche liegen keineswegs nur Wissenschaft und Mythos zugrunde, sondern auch der religiösen Offenbarung, die uns ja noch beschäftigen soll. Auch erschöpfen sich selbstverständlich Ontologien nicht darin, wie sie die Unterschiede zwischen allgemeinen Begriffen und singulären Tatsachen erfassen; sie haben vielmehr weit darüber hinausgehende Grundstrukturen des Seienden und der Wirklichkeit insgesamt zum Inhalt, die sie in systematischer Form zusammenfassen. Ich erinnere nur als Beispiel an Kants ontologische Kategorienlehre über Kausalität, Raum und Zeit, Qualität, Quantität usw. Gibt es aber nicht nur eine, sondern mehrere historisch gegebene und möglicherweise auch denkbare Ontologien, dann stellt sich die Frage, wie oder ob überhaupt zwischen ihnen entschieden werden kann. Gibt es in Wahrheit doch nur die eine, die „wahre Ontologie", wie meist geglaubt wurde, oder können mehrere nebeneinander bestehen? Wie ist überhaupt die Gültigkeit einer Ontologie zu ermitteln? Auf Erfahrung kann man sich dabei, wie schon gezeigt, nicht stützen, da es sich um rein apriorische Konstruktionen handelt. Versuchte man es aber durch reines Denken, so muß man sich fragen, welche absolute Evidenz dieses in sich haben sollte? Die klassische Antwort darauf lautet, es gäbe unmittelbare Vernunfteinsichten. Doch gerät man mit ihr in einen unaufhebbaren Zirkel. Um eine Aussage als Ausdruck einer absoluten Vernunftseinsicht zu beurteilen, muß man auf Aussagen verweisen, die man für absolute Vernunftseinsichten hält.

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Die unvermeidliche Sackgasse, in die man also bei dem Versuch gerät, die absolute Gültigkeit irgendeiner Ontologie nachzuweisen, wurde immer wieder durch ein allgemein herrschendes, unhistorisches Denken getrübt. Man erkannte nicht, daß die scheinbar absoluten Evidenzen, auf die man sog. Letztbegründungen glaubte stützen zu können, ihre Ursache nur in einer festgefügten Gewöhnung an historisch Etabliertes oder daraus Abgeleitetes hatte. (Es sei nur an Kants Meinung erinnert, die Euklidische Geometrie sei durch die unmittelbar notwendige Evidenz ihrer Axiome begründet und damit die einzig mögliche.) So bietet die Geistesgeschichte geradezu ein Trümmerfeld immer wieder neuer und immer wieder gescheiterter Versuche, endgültige ontologische Einsichten in die Grundverfassung, die Grundstruktur der Wirklichkeit zu gewinnen. In Wahrheit ist jedoch ihr Entstehen und Vergehen immer nur historisch erklärbar.1

2 Die metatheoretischen Betrachtungen, die ich bisher vorgetragen habe, spielen sich in einem umfassenden Rahmen ab, den ich Allgemeine Metatheorie nenne. Sie ist es, in der z.B. über die ontologischen Voraussetzungen der empirischen Wissenschaften und des Mythos nachgedacht wird und sie miteinander verbunden werden, indem sowohl der Wissenschaft wie dem Mythos das Recht abgesprochen wird, auf eine absolute und notwendige Geltung ihrer Grundlagen pochen zu dürfen. In ihrem Lichte erkennen wir also, daß sie die gleiche Modalität, nämlich kontingent zu sein, besitzen. Mehr noch, die Allgemeine Metatheorie behauptet die Kontingenz von Ontologien überhaupt. Damit erhellt aber auch, in welchem genauen Sinne diese Metatheorie eine allgemeine genannt werden muß: Erstens nämlich macht sie nur Aussagen über Aussagen von höchstem Allgemeinheitsgrad, und zweitens schränkt sie sich dabei nicht auf eine bestimmte Gruppe ein, sondern ist eine Wissenschaft von Ontologien überhaupt. Und nun können wir, die vorangegangenen Betrachtungen zusammenfassend, den Ersten Grundsatz dieser Allgemeinen Metatheorie formulieren. Er lautet: In der Hinsicht, daß alle Ontologien kontingent sind und keine eine notwendige Geltung hat, sind alle Ontologien gleichberechtigt. Daß eine Ontologie unter anderen im historischen Kontext vorgezogen werde mag, ja, die

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Zu einer ausführlichen Begründung vergi. Κ. Hübner, Kritik der wissenschaftlichen Vernunft, 4. Aufl., 1993, Kap. VIII und XI.

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eine in ihm scheitern die andere triumphieren kann, ändert nichts an der Kontingez aller Ontologien. Dieser Grundsatz sei Das erste Toleranzprinzip der Allgemeinen Metatheorie genannt. Es gibt also noch ein zweites, doch müssen wir vorher noch einen anderen Grundsatz der allgemeinen Metatheorie ableiten. Wenn nämlich das Erste Toleranzprinzip gilt, also keine Ontologie hinsichtlich ihrer rein theoretischen Begründung vor irgendeiner anderen absolut ausgezeichnet ist, also nicht nur im relativen, historischen Vergleich, und wenn andererseits metatheoretisch alle Aussagen über die Wirklichkeit entweder ontologische sind oder, wie am Beispiel des immer notwendiger Weise apriorischen Erfahrungsbegriffs gezeigt, von ontologischen abhängen, dann folgt daraus der weitere Grundsatz der allgemeinen Metatheorie: Die Wirklichkeit hat einen aspektischen Charakter, sie ist mehrdimensional. Damit wird jedoch eine ganz neue Seite der Allgemeinen Metatheorie aufgeschlagen. Enthielt sie nämlich bisher nur Aussagen über Aussagen (nämlich als rein logische Analyse ontologischer Systeme), so sagt sie nun plötzlich etwas über die Wirklichkeit aus. Der Grundsatz, daß die Wirklichkeit einen aspektischen Charakter habe, ist ja ein Satz von höchsten Allgemeinheitsgrad und damit selbst ein ontologischer, weswegen er der zweite Grundsatz und zwar der Ontologische Grundsatz der allgemeinen Metatheorie genannt sei. Heißt das aber nicht, daß die Allgemeine Metatheorie, die doch die Kontingenz aller Ontologien behauptet, ihrerseits auf einer Ontologie beruht und damit selbst hinsichtlich ihrer allgemeinen Verbindlichkeit fragwürdig wird? Die Anwort lautet: Jawohl, auch sie beruht auf einer Ontologie. Diese aber ist keine andere als diejenige, durch die ich bereits zu Beginn wissenschaftliches Denken gekennzeichnet und vom mythischen unterschieden habe: Es ist die wissenschaftliche Ontologie des Begriffs, der gemäß dieser als das reine Allgemeine, Abstrakte und vom Subjekt Gesetzte, der Wirklichkeit rein singulärer Tatsachen als Fall dieses abstrakt Allgemeinen entgegengesetzt wird. Nur unter dieser Bedingung lassen sich überhaupt Ontologien metatheoretisch beschreiben und als apriorische Schemata und Formen der Erkenntnis begreifen, lassen sich so etwas wie Ontologieabhängigkeit von Aussagensystemen, das Erste Toleranzprinzip oder der Ontologische Grundsatz formulieren. Die Ontologie der Allgemeinen Metatheorie teilt also in diesem Punkte die begriffsontologischen Voraussetzungen aller Wissenschaften; doch sind dies die einzigen ontologischen Voraussetzungen auf die sie sich stützt, während alle weiteren ontologischen Spezifika wie Kausalität, Raum, Zeit usw., wie sie den von ihr metatheoretisch analysierten, einzelnen Ontologien eigentümlich sind, nicht dazu gehören. Sie ist sozusagen die

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formellste aller möglichen Ontotogien, im Vergleich zu welcher alle anderen inhaltlicher, materialer Natur sind. Auf der einen Seite sind wir so logisch folgerichtig zu einem Ontologienpluralismus und zum aspektischen Charakter der Wirklichkeit gelangt; auf der anderen Seite aber enthüllt sich nun in der Tat diese ganze metatheoretische Sicht, weil ihrerseits ontologieabhängig, selbst als eine nur kontingente, auf wissenschaftliches Denken beschränkte. Fassen wir zusammen: Aus dem Ersten Toleranzprinzip ergibt sich die prinzipielle Gleichberechtigung aller Ontologien, wissenschaftlicher wie, in metatheoretischer Sicht, nichtwissenschaftlicher. Der ontologische Grundsatz vom aspektischen Charakter der Wirklichkeit schien diese Beurteilung noch weiter zu vertiefen. Was aber ergib sich daraus, wenn sich nun am Ende herausstellt, daß dieser Ontologienpluralismus, dieser aspektische Charakter der Wirklichkeit und ihre Mehrdimensionaliät selbst nur auf einer ontologisch kontingenten Grundlage möglich ist?

3 Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst noch einmal festhalten, daß das Erste Toleranzprinzip außerwissenschaftliche Wirklichkeitsauffassungen wie z.B. Mythos und Offenbarung nur insofern einschließt, als diese in der schon angezeigten Weise metatheoretisch, also in begriffswissenschaftlicher Weise und damit quasi als Ontologien formuliert werden. Nur dann, in ihrer ontologischen Formulierung, tritt ja überhaupt erst die Frage nach ihrer Begründbarkeit auf, weil sie nur dann, nämlich in ihrer begrifflichen Verfassung, als etwas a priori Gesetztes, also Entworfenes, also Begründungsbedürftiges und doch niemals Letztbegründbares in Erscheinung treten. Diese ihre Kontingenz und damit Gleichberechtigung mit allen anderen denkbaren Ontologien erlischt jedoch, sobald man von ihrer metasprachlichen Außenbetrachtung, die ja bei ihrer metatheoretischen Formulierung vorliegt, zu ihrer objektsprachlichen Innenbetrachtung übergeht. Denn für denjenigen, der innerhalb des Mythos oder, wie wir noch sehen werden, innerhalb der Offenbarung denkt, stellt sich die Wirklichkeit ja gerade nicht als ein Gesetztes, Entworfenes und damit Begründungsbedürftiges dar, sondern als die unwiderrufliche Erfahrung muminoser Wirklichkeit. Soweit also Mythos und Offenbarung im Rahmen der Metatheorie aus begriffwissenschaflicher Sicht als Ontologien formuliert und betrachtet werden, sind sie mit anderen Onologie gleichberechtigt, weil kontingent wie diese; soweit die Metatheorie aber die Sicht, aus der sie diese Formulierunmg vornimmt, selbst als eine koningente verstehen

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muß, vermag sie Mythos und Offenbarung nicht zu widersprechen, wenn diese sich in der Innenbetrachtung auf notwendig gültige, weil numinose Erfahrungen berufen. Allgemein gesprochen: Gerade indem die Metatheorie notwendiger Weise die Kontingenz ihrer eigenen Ontologie wie diejenige jeder anderen behauptet, ist sie gezwungen, auch ganz andere, nicht auf einer begriffswissenschaftlichen Ontologie beruhende Wirklichkeitsauffassungen zu dulden. Daraus ergib sich nun das Zweite Toleranzprinzip und damit der dritte Grundsatz der Allgemeinen Metatheorie: Nichtontologische, oder von keiner Ontologie abhängige Wirklichkeitsauffassungen mit ihren besonderen (numinosen) Erfahrungen lassen sich wegen dieser Wirklichkeitsauffassungen ontologisch nicht widerlegen, sie seien in der Außenbetrachung begriffswissenschaftlich in eine Ontologie transformierbar oder nicht. Das ist das Ergebnis, zu dem die Allgemeine Metatheorie, ausgehend von der Reflexion über Ontologien überhaupt und endend mit der Selbstreflexion ihrer eigenen ontologischen Voraussetzungen, schließlich gelangt. Fassen wir noch einmal zusammen: Der Logos der Metaphysik, der in Begründungen und Erklärungen des Seienden im Ganzen besteht, beruht auf dem ontologische Denken. Dieser Logos der Metaphysik ist der Gegenstand der Allgemeinen Metatheorie. Ihr können wir drei Grundsätze entnehmen: Erstens: Alle Ontologien sind prinzipiell gleichberechtigt, sofern keine von ihnen eine absolute Geltung beanspruchen kann, wie mannigfaltig im übrigen auch die historisch-konigenten Umstände sein mögen, die zu ihrem Entstehen oder Vergehen beigetragen haben. (Erstes Toleranzprinzip.) Zweitens·. Daher hat die Wirklichkeit einen aspektischen Charakter. (Ontologischer Grundsatz.) Drittens: Nichtontologische Wirklichkeitsauffassungen sind ontologisch nicht widerlegbar. (Zweites Toleranzprinzip.) Ich sagte eingangs, daß heute ontologisches Denkens, so wie es den empirischen Wissenschaften zugrunde liegt, zum Maßstab für rechtes Denken überhaupt gemacht wurde, daß man in ihm den einzigen Zugang zu Wahrheit und Wirklichkeit sieht, und daß deswegen jede andere Art des Denkens, es sei z.B. ein mythisch oder durch Offenbarung bestimmtes, von vornherein als ein sacrificium intellectus zurückgewiesen wird. Die beiden Toleranzprinzipien der Allgemeinen Metatheorie aber zeigen, daß es sich hier um einen epochalen Irrtum handelt, der darauf beruht, daß man die durch die Wissenschaft erlernte kritische Grundhaltung, auf die man zurecht so stolz ist, auch auf die Wissenschaft selbst anzuwenden sich nicht einfallen läßt und damit selbst eben jenes sacrificium intellectus begeht, das man dem mythischen oder durch Offenbarung bestimmten Denken vorwirft.

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Das mythische Denken ist hier schon, wenn auch nur in Umrissen, zur Sprache gekommen, weil sich der Logos der Metaphysik ja historisch zunächst unmittelbar im Gegensatz zu ihm entwickelt hat. Wenden wir uns nun aber dem Logos der Offenbarung zu. "Worin besteht er und wie unterscheidet er sich von demjenigen der Metaphysik?

4 Um diese Frage zu beantworten, müssen wir aber zunächst den Logos der Metaphysik als das Begründen und Erklären des Seiendem im Ganzen noch von einer anderen Seite beleuchten. Ihm liegt eine scharfe Trennung zugrunde zwischen dem erkennenden Subjekt, nämlich demjenigen, das begründet und erklärt, und dem zu erkennenden Objekt, also demjenigen, das begründet und erklärt wird. Der Logos der Metaphysik betrifft somit die Beziehung des Seienden als Objekt zum menschlichen Denken als Subjekt. Das bedeutet, daß er in der Form einer vom Subjekt entworfenen Theorie auftritt: von allgemeinsten, ontologischen Grundsätzen ausgehend, die in unmittelbarer Evidenz zu erfassen sind (was immer das heißen mag), geht er zu Theoremen, Folgerungen und Deduktionsketten über. Das Element, in dem er sich so äußert, ist daher schon vom Ursprung her ausschließlich Geschriebenes als ein vom Philosophen erarbeitetes Werk. Ausdrücklich beruft er sich dabei auf die Einsichtigkeit der menschlichen Vernunft, und ebenso ausdrücklich lehnt er daher jede Berufung auf irgendeine Art von Offenbarung als rein dogmatisch ab. Eben diese Grundhaltung hat Paulus gemeint, als er, die Philosophen im Visier, die „Weisheit der Weisen" und den „Verstand der Verständigen" verwarf (1. Kor 1,19 f.) Im Gegensatz zum Logos der Metaphysik tritt nun im Logos der Offenbarung nicht die Beziehung des Seienden als Objekt zum es begründenden und erklärenden menschlichen Denken als Subjekt in Erscheinung, sondern die Beziehung des Seienden auf Gott. Dieser Logos liegt daher nicht in dem das Sein bestimmenden Denken des Menschen, das sich vornehmlich schriftlich äußert, sondern in dem das Sein bestimmenden Wort Gottes.2 Hier gibt es daher auch nicht den für den Logos der Metaphysik kennzeichnenden Unterschied zwischen einer objekti-

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Einerseits ist hier die Rede vom „Worte Gottes" wörtlich gemeint, sofern Gott in der Offenbarung zum Menschen spricht, anderseits aber ist sie eine Metapher für ein Denken, das, mit Kant zu sprechen, nicht, wie das menschliche diskursiv, sondern intuitiv ist. Der philosophische Terminus dafür lautet „intuitiver Verstand", oder auch intuitus originarius, über den nur Gott verfügt.

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ven und einer subjektiven Seite. Denn Gott steht nicht wie der Mensch vor der Aufgabe, eine schon gegebene, geschaffene Welt „auf den Begriff" zu bringen, sondern - und darin besteht der tiefe Unterschied zwischen dem Wort der Offenbarung und dem Geschriebenen der Metaphysik - sondern durch Gottes Wort selbst wird ja alles, was ist, geschaffen. Gott denkt nicht wie der Philosoph, denn Denken und Wirklichkeit sind voneinander geschieden, Gott spricht und das Sprechen seines Wortes ist die Schöpfung der Wirklichkeit. Indem Gott spricht, offenbart er sich und seine Wirklichkeit. Zwar wurde die Offenbarung niedergeschrieben, und die Heilige Schrift ist die Grundlage des religiösen Lebens. Aber nicht die Schrift ist der Ursprung der Offenbarung, sondern das gesprochene Wort. Indem Gottes Wort zugleich Gottes Tat, Gottes Offenbarung und Gottes Wirken ist, schafft er, indem er spricht und erfüllt damit die Welt mit Licht, mit Leben und mit seiner Liebe. „Gott sprach es werde Licht." (Gen 1,3) „Denn wenn er spricht, so steht's da." (Ps 33, 9) „Also soll das Wort, so aus meinem Munde gehet, auch sein. Es soll nicht wieder zu mir leer zurückkommen; sondern tun, das mir gefällt, und soll ihm gelingen, dazu ich es sende." (Jes 55,11) „Ist mein Wort nicht wie Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?" (Jer 23,9) „Denn Gott, der sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben, daß durch uns entstünde die Erleuchtung und Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesichte Jesu Christi." (2. Kor, 4,6) Zum Logos der Offenbarung gehört also nicht nur die Erschaffung der Welt und die Vollstreckung des göttlichen Willens, sondern auch die von Gott bewirkte Heilsgeschichte in der Verkündigung durch Christus und des Kreuzes. So spricht Paulus kurz und bündig vom Logos des Kreuzes (1. Kor 1,18), vom Logos der Versöhnung (2. Kor 5,19) und vom Logos des Lebens (Phil 2,16) Wie eine Zusammenfassung von all dem heißt es im Johannes Evangelium 1: „Im Anfang war der Logos, und der Logos war bei Gott, und Gott war der Logos. ( 1 ) Alle Dinge sind durch den Logos gemacht, und ohne ihn ist nichts gemacht, was gemacht ist.(3) In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.(4) Und der Logos war Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit." (14) Es entspricht vollkommen diesem Verständnis des Wortes Logos, wenn es im Neuen Testament zunächst und ganz allgemein immer etwas Geredetes bedeutet. (Mt 8,8;15,23; Lk 7,7;4,32) In gleicher Weise wurde es aber schon in der Zeit des Mythos gebraucht. So spricht z.B. Homer von Logoi, wo zu Herzen gehende, tröstende oder überredende,

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damit Wirklichkeit schaffende, also gerade nicht „theoretische Reden" gehalten werden. (II 15,393, Od 1,56) Und so unterscheidet auch Paulus ausdrücklich das Geschriebene vom Logos als dem gesprochenen Wort. (2. Kor 10.10) Diese allgemeine, neutestamentliche Beziehung zum mythischen Wortgebrauch ist keineswegs zufällig. Mythisch hat ja das gesprochene Wort keine bloße Darstellungsfunktion, sondern in ihm ist die Wirklichkeit des Gesagten selbst anwesend und durchdringt mit ihrer Kraft die Seele des Hörenden. Dies kommt zwar im kultischen Bereich in besonderer Weise zum Ausdruck, gilt aber selbst für das alltägliche Leben, das ja einst weitgehend durch den Mythos bestimmt war. So wird durch die Anrufung des Gottes mit seinem Namen und im Gebet zu ihm dessen Anwesenheit gleichsam herbeigeschworen; in der Rezitation der Mythen wird das Vergangene zu gegenwärtiger Wirklichkeit; im Schwur, im Fluch wird das eigene Leben in die Waagschale geworfen usw. Es ist diese mythische Vorstellungswelt, diese Einheit von Wort und Wirklichkeit, die auch im Alten und Neuen Testament wirksam ist und daher in der Offenbarung wie selbstverständlich in Erscheinung tritt. 3 Diese für den Logos der Offenbarung kennzeichnende, und mit dem mythischen Denken verwandte Einheit von Wort und Wirklichkeit ist auch in den Worten Jesu erkennbar. Niemals hat er etwas geschrieben, sein Mittel ist allein die Rede, und zwar eine Rede besonderer Art. Betrachten wir ein Beispiel aus Mt 7,24-29, wo Jesus spricht: „... wer diese meine Logoi hört und tut sie, der gleicht dem klugen Mann, der sein Haus auf Felsen baute. Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, fiel es doch nicht ein; denn es war auf Fels gegründet. Und wer diese meine Logoi hört und tut sie nicht, der gleicht einem törichten Mann, der sein Haus auf Sand baute. Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, da fiel es ein, und sein Fall war groß. Und es begab sich, als Jesus diese Logoi vollendet hatte, daß sich das Volk entsetzte über seine Lehre; denn er lehrte sie mit Vollmacht (exusia) und nicht wie die Schriftgelehrten." Dieses Beispiel kann man verallgemeinern. Es sind keine abstrakten, theoretischen Sätze, in denen so etwas wie eine Lehre Jesu vorgetragen wird, sondern es sind Bilder: „Das habe ich euch in Bildern gesagt" betont er ausdrücklich in Joh 16,25. Und diese Bilder werden wieder an anderer Stelle ein Gleichnis genannte, Parabolé. Aber was heißt hier „Gleichnis"? Man darf es nicht im Sinne einer Allegorie verstehen, bei

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Vergi, hierzu K. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, Kap. V, 2.5.

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der es sich um eine erdachte Geschichte als mehr oder weniger verhüllte Illustration oder Veranschaulichung von etwas ganz anderem handelt (allo), das selbst in abstrakten Allgemeinbegriffen gedacht wird, wie es z.B. auf klassische Weise in den Fabeln La Fontaines der Fall ist, so daß wir sagen: dies be- deutet das und das. Jesu Gleichnisse sind hingegen keine erdachten Geschichten, die mit einem bestimmten Begriff entschlüsselt werden müssen, sondern sie sind selbst schwer von Bildern des Lebens, in denen zugleich die existentielle Beziehung des Menschen zu Gott gegenwärtig ist. Nur so kann man auch die bereits zitierte Stelle Mt 7,28f. verstehen, wo es heißt: „Und es begab sich, als Jesus diese Logoi vollendet hatte, daß sich das Volk entsetzte über seine Lehre; denn er lehrte sie mit Vollmacht und nicht wie die Schriftgelehrten." Die deutsche Übersetzung kommt hier dem griechischen Urtext viel näher als die Vulgata, die von admirabantur spricht, was so viel wie staunten, wunderten sich, bedeutet, während im griechischen expléssanto außer dem Entsetzen auch das Erschrecken, das Erschüttertsein mitschwingt, also jene Gestimmtheiten, welche die Erfahrung des Numinosen als maj estas und tremendum begleiten. Der Leser kann dies freilich nur noch schwer nachvollziehen. Nur diejenigen, welche die gesprochene Rede hörten, nur die Hörenden konnten auf solche Weise von seiner Stimme, vom Logos seines gesprochenen Wortes so durchdrungen und erfüllt sein, daß in ihnen selbst die wachsende Daseinssorge erweckt und mit der bangen Sorge um ihr Seelenheil unmittelbar verknüpft wurde. Der Logos in Gottes und Jesu ungeschriebenem, gesprochenen Wort - darauf also beruft sich der Glaube, das ist sein Ursprung und seine Grundlage. Deswegen sagt Jesus von denen, die nicht glauben: „Ihr habt niemals seine Stimme gehört, noch seine Gestalt gesehen, und sein Wort habt ihr nicht in euch wohnen." (Joh 5,37f.) Moses aber und die Propheten hörten es, wie es im Alten Testament geschrieben steht; die Apostel hörten es, Paulus hörte es durch sie und auf seiner Reise nach Damaskus, aber von ihnen hörten es wieder jene, welche die Evangelien schrieben. Sie reden alle von Gott her (ek theü, 2. Kor 2,17), sie alle berufen sich auf Gottes gesprochenes Wort und nicht auf die in den Augen des Glaubens selbstherrliche Vernunft der Philosophen. Deswegen sagt Paulus: „Denn Christus hat mich gesandt [...] das Evangelium zu predigen - nicht mit klugen Worten (en sophía lógu), damit nicht das Kreuz zunichte werde. Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist's seine Gotteskraft. Denn es steht geschrieben: ,Ich will zunichte machen die Weisheit der Weisen und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen.'" (1. Kor 1,19) „Wo sind die Klugen? Wo sind die Schriftge-

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lehrten? W o sind die Weisen dieser Welt?" (Nämlich die Philosophen.) „Hat nicht Gott die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht?" (1. Kor 1,20) Mögen auch die Juden „Zeichen fordern", die Griechen nach „Weisheit" fragen, beide also nach „Beweisen", nach menschlicher Legitimation in Praxis und Theorie; er, Paulus, predigt „den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit" (22), und noch einmal heißt es 1. Kor 2,5: Der Glaube stehe „nicht auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft." Ich habe schon darauf hingewiesen, daß der Logos der Offenbarung als das Wirklichkeit schaffende Wort strukturell mit der mythischen Deutung von Wort und Rede übereinstimmt. Diese strukturelle Übereinstimmung geht aber viel weiter. Der Logos der Metaphysik als ontologisches Denken ist etwas Allgemeines und insofern Abstraktes; der Logos der Offenbarung ist dagegen vollständig personifiziert: Es ist der eine, persönliche Gott, der mit der Kraft seines Wortes in der ganzen Schöpfung und Heilsgeschichte wirkt, und es ist sein Sohn, der, in der Welt Fleisch geworden, das Wirklichkeit schaffende Wort verkündet und damit alle vom Fluche der Erbsünde befreit hat (was immer sie für einen Gebrauch davon machen mögen). Indem aber so die göttlichen Personen als Individuen überall substantiell anwesend sind, wirken sie zugleich in allem und alles ist in ihnen. In rein struktureller Hinsicht ist hier kein Unterschied zwischen einem Gott des Mythos einerseits und dem christlichen Gott mit seinem Sohn andererseits zu erkennen. In diesem Zusammenhang tritt nun auch, neben dem Hören und dem Wort, die Rolle des Sichtbaren im Rahmen der Offenbarung hervor, ihre epiphantische Seite. „Wer mich sieht", sagt Jesus, „der sieht den Vater." (Joh 14,9), und im 2. Kor 4,6 heißt es: „Denn Gott, der sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsre Herzen gegeben, daß durch uns entstünde die Erleuchtung der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi." In und durch Christus also sehen wir das Angesicht Gottes, und es ist ja gerade dies von entscheidender Bedeutung, daß Gott in Jesus sichtbare Menschengestalt annahm. Diese epiphantische Seite des Logos der Offenbarung steht mit dem wirklichkeitsschaffenden Wort des Logos in einem unlöslichen Zusammenhang. Epiphanie ist eine sinnliche Erscheinung und bleibt als solche unverstanden, wenn wir nicht das Wort hören, das sie uns vermittelt, während das Wort ohne Wirklichkeit bleibt, wenn es nicht zur sinnlichen Erscheinung wird. Wie sich also um einen mythischen Gott die zu ihm gehörende Erzählung rankt, so ist es die Verkündigung, die uns sagt, wer Gott und wer sein Sohn ist. Daß die Personifikation, die je ein mythischer Gott darstellt, einer vergleichsweise nur begrenzten Wirklichkeit in der Natur und Menschenwelt ent-

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spricht, während die christlichen Gott-Personen für die gesamte Natur und Menschenwelt eine bestimmende Bedeutung haben, ist rein inhaltlicher Art und hat mit der Struktur als mythische Einheit von Allgemeinem und Besonderem, von allgemeinem Phänomen und seiner Personifikation nichts zu tun. Überhaupt wird das mythische Gefüge des Logos der Offenbarung schon daran erkennbar, daß alles, was er enthält, auf Erzählungen beruht und daß er somit narrativer Natur ist. Hier ist nicht metaphysisch die Rede von einer bestehenden Wirklichkeit oder Weltordnung mit ihren sie allgemein beherrschen Gesetzen physischer oder geistiger Art, sie seien ontologisch oder empirisch; sondern wie im Mythos Göttergeschichten als die Wirklichkeit bestimmend erzählt werden (z.B. die Wiederkehr der Proserpina als Beginn des Frühlings), so hier die Geschichte von der Schaffung der Welt durch Gott, die Geschichte von ihrer Verderbnis durch Adam und von ihrer Erlösung durch Gottes Sohn; und wie sich mythisch die numinosen Ereignisse in mannigfaltigen Einzelerscheinungen widerspiegeln und wiederholen, so widerspiegelt und wiederholt sich die Schöpfung in den sieben Tagen der Woche und in der steten Erneuerung der Natur, Adams Fall aber und die Erlösung durch Christus in jedem Menschen. Es ist dieses durchgehend in singulären Geschichten sich vollziehende, mythische Denken im Logos der Offenbarung, das wir, wie gezeigt, auch in den Gleichnissen Jesu wirksam sehen. Und doch übersteigt strukturell der Logos der Offenbarung das Mythische in einem entscheidenden Punkt: Daß nämlich das ihn kennzeichnende Wort nicht nur Erscheinungen in der Welt, sondern die Welt als Ganzes hervorbringt, und daher Gott, in dieser allerdings entscheidenden Hinsicht, ein die Welt übersteigender, ein jenseitiger und tanszendenter Gott ist, während der Mythos nur immanente Götter kennt. Dies ist der Punkt, wo sich der Logos der Offenbarung auch strukturell, nicht nur inhaltlich vom Mythos unterscheidet.

5 Kehren wir nun, nach der Beschreibung des Logos der Metaphysik einerseits und des Logos der Offenbarung andererseits, zur Allgemeinen Metatheorie zurück. Ich sagte schon, daß metatheoretisch in wissenschaftlicher Weise auch über das nichtwissenschaftliche Denken geredet werden kann und führte als Beispiel das mythische Denken an. Dabei entsteht nun leicht der Eindruck, als lasse sich auch der Mythos als eine metaphysische Ontologie verstehen, da ja seine Struktur ebenfalls mit

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allgemeinen Begriffen über das Seiende im Ganzen und also in Kategorien beschrieben werden kann wie z.B. „Einheit von Allgemeinem und Besonderem", „Einheit von Subjekt und Objekt", „Einheit von Wort und durch das Wort bezeichnete Wirklichkeit" usw. Ich habe ferner darauf hingewiesen, daß der Mythos, solchermassen in die Sprache de Metaphysik übersetzt und damit begriffswissenschaftlich formuliert, keineswegs verändert oder verfälscht wird, sondern uns vielmehr überhaupt erst erlaubt, seine eigentümliche Wirklichkeitsauffassung mit der wissenschaftlichen und metaphysisch-ontologischen zu vergleichen und damit den Unterschied zwischen beiden erkennbar werden zu lassen. Aber wir dürfen eben niemals darüber vergessen, daß wir nur metatheoretisch von einer Ontologie des Mythos sprechen können, also nur in seiner Außenbetrachtung, während dem innerhalb des Mythos Denkenden eine solche ontologische Betrachtung fremd ist, ja, er sich ihrer nicht einmal bewußt zu sein braucht. Nun hat sich gezeigt, daß die metatheoretische Formulierung des Logos der Offenbarung zu weitgehend denselben Strukturen führt wie diejenige des mythischen Denkens. Auch er wird also in diesem Betracht zwangsläufig in eine allgemeine Seinslehre, eine metaphysische Ontologie transformiert, die er aber ebenfalls, in der Innenbetrachtung, gar nicht ist. Bleibt man nun metatheoretisch bei der Außenbetrachtung stehen, wird also der Logos der Offbarung wie eine metaphysische Ontologie betrachtet, so kann auch das Erste Toleranzprinzip auf ihn angewandt werden, demzufolge alle Ontologien gleichberechtigt sind. Das allein führt schon zu einem Ergebnis von fundamentaler Bedeutung. Denn genießt die Ontologie wissenschaftlichen Denkens keinen absoluten Vorzug, so kann auch der Logos der Offenbarung in seiner ontologischen Interpretation nicht mehr am Maßstab wissenschaftlichen Denkens gemessen und damit als sacrificium intellectus abgewiesen werden. Und doch wäre damit für den Glauben noch nicht viel gewonnen. Denn wenn alle Ontologien darin gleichberechtigt sind, daß keine von ihnen eine absolute, sondern jede nur eine kontingente und hypothetische Geltung haben kann, so verwandelt sich auch der Glaube nur in eine Hypothese. Dennoch ergreifen heute nicht wenige Theologen, vage von den Grenzen der Wissenschaft redend, einen solchen Strohhalm, so daß dann auch die verschiedenen Religionen wie verschiedene hypothetische Wirklichkeitsdeutungen aufgefaßt werden, zwischen denen man sich, nach welchen Kriterien auch immer, die einem am besten dünkende aussuchen kann. Damit wird der Glaube zu einem Menschenwerk und hat mit dem göttlichen Logos der Offenbarung nichts mehr zu tun. Vor der Innenbetrachtung des Logos der Offenbarung dagegen, die zu einem ganz anderen Ergebnis führte, scheut man zurück, weil man

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dann endgültig die metatheoretische Sichtweise verlassen müßte, und damit auch noch jenes Minimum ontologisch-metaphysischer und damit wissenschaftlicher Voraussetzung, auf denen sie, wie gezeigt, beruht. Der hypothetische Geist, der darin weht, scheint die letzte und äußerste Bastion des sog. wissenschaftlichen Zeitalters zu sein, die, bei aller wissenschaftlichen Selbstkritik, unter keinen Umständen aufgegeben werden darf. Aber wagen wir es nun, zur Innenbetrachung des Logos der Offenbarung vorzustoßen. Sie enthüllt sich uns am deutlichsten durch die Art, wie der Mensch diesen Logos, dessen Strukturen man in der Außenbetrachtung wissenschaftlich beschreiben kann, wie der Mensch diesen Logos vernimmt und erfährt, oder anders ausgedrückt, worin die ihm entsprechende numinose Erfahrung besteht. Denn wie dem Logos der Metaphysik in seiner ontologischen Denkform eine bestimmte Erfahrung eigentümlich ist, die sich in seinem Rahmen vollzieht und deren Schema, wie ich bereits gezeigt habe, der wissenschaftlichen Erfahrung entspricht, so ist auch dem Logos der Offenbarung in seiner mythischen Verfassung eine bestimmte Erfahrung eigentümlich. Wie nicht anders zu erwarten, sind aber beide Formen der Erfahrung auf fundamentale Weise voneinander verschieden. Erfahrung innerhalb des metaphysichen und ontologischen Denkens beruht auf der Trennung zwischen subjektiven Erkenntnisbedingungen (ihrem apriorischen Teil) und den mit ihrer Hilfe interpretierten objektiven Gegebenheiten. Damit verbindet sich notwendig die quaestio juris, die unabweisbare Frage nämlich, ob das Subjekt in seinem Denken, seinen apriorischen-ontologischen Entwürfen der Wirklichkeit „entspricht" oder mit ihr „übereinstimmt." Erfahrung innerhalb der Offenbarung dagegen besteht im Gegensatz hierzu darin, daß das Wirklichkeit schaffende, göttliche Wort mit absoluter Autorität im Menschen wirkt, ihn durchdringt und mit göttlicher Substantialiät erfüllt, so daß darin die metaphysisch-ontologische Distanz zwischen dem subjektiven Denken und seinen objektiven Gegenständen verschwindet und damit auch die quaestio juris ihren Sinn verliert. So ist in der Tat die Offenbarung für den Menschen, als numinose Erfahrung, eine absolute Erfahrung. Im Lichte des Logos der Offenbarung kann also Erfahrung und Erkenntnis von Gottes Wort nur reine Empfängnis sein. In ihr wird das Objekt dem Menschen nicht durch das Zusammenspiel von empirischer Gegebenheit und apriorisch-ontologischer Voraussetzung erkennbar, sondern es erscheint ihm unvermittelt und von allen solchen hypothetischen Subjektivitäten frei. Ja, selbst das Hören verliert in dem Augenblick seine im biologischen und anthropologischen Zusammenhang der allgemeinen Sinneswahrnehmungen gegebene Relativität und Bedingtheit, wo sich Gott personalisiert und

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als Person zum Menschen spricht. Und das Gleiche gilt, wenn er ihm, in welcher Form auch immer, leiblich erscheint. Deswegen kann Jesus sagen: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben." (Joh 14,6) Nicht der Mensch sucht sich hier seinen Weg, wie im Logos der Metaphysik, sondern Gott selbst weist ihn; und Jesus ist die geoffenbarte Wahrheit selbst. Es gibt nichts hinter, neben oder vor ihr, nichts sie Bedingendes; diese aber ist, als diejenige Gottes, zugleich die Wurzel allen Lebens, sie ist das göttliche Leben selbst. Erst die Innenbetrachtung des Logos der Offenbarung enthüllt also seinen von Grund auf nichtmetaphysischen, nichtontologischen Charakter. War nun auf seine Außenbetrachtung das Erste Toleranzprinzip anwendbar, wodurch ihm wenigstens bescheinigt wurde, daß, wer glaubt, keineswegs ein sacrificium intellectus begeht, so kommt nun das Zweite Toleranzprinzip zum Zuge, demzufolge nichtmetaphysische, nichtontologische Wirklichkeitsauffassungen mit ihren besonderen (numinosen) Erfahrungen wegen dieser ihrer Wirklichkeitsauffassung ontologisch nicht widerlegbar sind, sie seien in der Außenbetrachtung begriffswissenschaftlich in eine Ontologie transformierbar oder nicht. Das bedeutet: Es begeht nicht nur kein sacrificium intellectus, wer glaubt, sondern es gibt auch kein theoretisch-wissenschaftliches Argument gegen eine absolute, religiöse Erfahrung, weil ein solches Argument ja immer darin bestehen müßte, den nur hypothetischen Charakter jeder Erfahrung zu behaupten, ein solches Argument aber, wie gezeigt, auf einem Zirkel beruht: Geht es doch seinerseits von einer hypothetisch gesetzten Ontologie aus, nämlich derjenigen des metaphysisch-wissenschaftlichen Denkens, die damit selbst insgeheim als absolut gesetzt wird. Und diese geradezu blinde Gebanntheit des Zeitgeistes in ein solches Denken ist es ja auch, die heute den Zugang der Menschen zum Logos der Offenbarung so ungemein erschwert.

6 Es gib aber nicht nur den auf metaphysisch-wissenschaftliches Denken gestützten Zweifel am Glauben, den ich den theoretischen Zweifel nenne, und der doch, wie gezeigt, in Wahrheit entgegen allem Schein ohne rationale Begründung ist. Das Urbild hierfür ist übrigens der ungläubige Thomas, von dem das Johannesevangelium berichtet, daß er nicht aus dem Logos der Offenbarung urteilte, sondern Beweise aus dem Logos profaner Wirklichkeitserfahrung verlangte. Es gibt aber außer dem theoretischen noch andere Arten religiösen Zweifels, die ich hier nicht näher behandeln kann. Nur einen will ich abschließend noch zur Sprache brin-

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gen, zumal er uns wieder zum Logos der Metaphysik zurückführt. Es ist derjenige, der bei der Auslegung der Heiligen Schrift auftritt, und den ich daher den Auslegungszweifel nenne. Ich erinnere an das PaulusWort: „Ich will beten mit dem Geist und will auch beten mit dem Verstand; ich will Psalmen singen mit dem Geist und will auch Psalmen singen mit dem Verstand. Wenn du Gott lobst im Geist, wie soll der, der als Unkundiger dabeisteht, das Amen sagen können auf dein Dankgebet? (...) ich will in der Gemeinde lieber fünf Worte reden mit meinem Verstand, damit ich auch andere unterweise als zehntausend in Zungen." (1. Kor 14,15-16) Aber Paulus sagt auch: „(...) unser Wissen ist Stückwerk, und unser prophetisch Reden ist Stückwerk." „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin." (1. Kor 13, 9; 12) Das bedeutet: Der Gnade des Glaubens ungeachtet, muß die Botschaft auch verstanden, sie muß ausgelegt werden, aber solche Auslegung im einzelnen wird auch immer wieder, ungeachtet der Gewißheit des Glaubens und seiner fundamentalen Offenbarung, fragwürdig sein. Was das bedeutet, zeigt uns die Geschichte der Theologie, die dabei immer wieder in das Spannungsfeld der Metaphysik geriet, das sie teils fruchtbar zu nutzen verstand, wie schon die Umdeutung des ursprünglich metaphysischen Logos-Begriffs im Johannesevangelium zeigt, dem sie aber auch immer wieder auf für sie unheilvolle Weise verfiel. Umgekehrt hat aber auch die Metaphysik als theologike epistéme und metaphysica specialis versucht, sich an die Stelle der Offenbarung zu setzen, ein Unternehmen, das mit der Gnosis begann und mit Hegel, genauer mit Schellings, wie ich meine, noch keineswegs hinreichend gewürdigter „Philosophie der Offenbarung" endete. Denn Schelling erkannte die unüberbrückbare Kluft, die den Logos der Metaphysik vom Logos der Offenbarung trennt, und das hoffnungslose Unterfangen, die Offenbarung in der Metaphysik aufgehen zu lassen. Aber beides, die Befruchtung und Gefährdung der Theologie durch die Metaphysik und der immer wieder erneuerte und doch immer wieder scheiternde Versuch der Metaphysik, zur theologike epistéme zu werden, dies Ringen in beiden Richtungen ist ein fundamentaler und jeder Bewunderung werter Teil der abendländischen Geistesgeschichte.

Themenkreis I: Religion in der Moderne

Mehr als Kitt oder Stolperstein Erwägungen zum philosophischen Profil von Religion in der Moderne KLAUS M Ü L L E R

1. Heterogene Problemlagen Wer sich derzeit mit dem Thema Religion beschäftigt, findet sich mit außerordentlich heterogenen Problemlagen konfrontiert - praktisch wie theoretisch: Entgegen den noch gar nicht so alten Prognosen vom finalen Verschwinden der Religion wabert Religiöses buchstäblich aus allen Ritzen auch der derzeitigen westlichen Gesellschaften. Die Berliner LoveParade taugt als Beleg dafür genauso gut wie die Millionen von Teilnehmern an den Gottesdiensten beim letzten Besuch des derzeitigen Papstes in seiner polnischen Heimat im Juni 1999. Gleichzeitig befinden sich namentlich die okzidentalen christlichen Konfessionen zumindest in Europa buchstäblich in einem Sturzflug, was ihre öffentliche Relevanz betrifft - übrigens nicht nur im neuen Berlin, sondern auch in Polen, wie mir junge Kollegen von dort erst vor kurzem erzählten. Das theoretische Terrain nimmt sich noch unübersichtlicher aus: Die durchschnittlichen theologischen wie philosophischen Diskussionen über Religion lassen mehr als zu wünschen übrig: Die Theologenschaft hat sich - wo sie zu mehr findet als einem ermäßigten Barthianischen KritikModell - offenkundig an einigen Parzellen des Themas „Theologie der Religionen" verbissen und darüber die in diese ohne Zweifel epochale Herausforderung implizierten religionsphilosophischen Herausforderungen - jedenfalls die wirklichen - weitgehend vergessen. 1 Oder aber sie 1

Vgl. dazu Schmidt-Leukel, Perry: Theologie der Religionen. Probleme, Optionen, Argumente. Neuried 1997. (Beiträge zur Fundamentaltheologie und Religionsphilosophie; Bd 1). - Gäde, Gerhard: Viele Religionen - ein Wort Gottes. Einspruch gegen John Hicks pluralistische Religionstheologie. Gütersloh 1998. Obige Diagnose gilt auch für das (durch seinen Titel andere Erwartungen weckende) Bändchen von Koslowski, Peter (Hg.): Die spekulative Philosophie der Weltreligionen. Ein Beitrag zum Gespräch der Weltreligionen im Vorfeld der EXPO 2000 Hannover. Wien 1997. (Philosophische Theologie; 10). - An diesem Befund scheint sich in ersten Ansätzen erst etwas zu ändern durch Bongardt, Michael: Die

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Klaus Müller

geht das Thema „Religion" christentumssoziologisch an, ein gewiß fruchtbarer, aber ersichtlich und ausdrücklich gewollt eingeschränkter Zugriff. Philosophischerseits sieht es nicht viel besser aus. Tonangebend sind dort die mittlerweile gängig gewordenen funktionalen Interpretationen von Religion, seien es jene, die individualpsychologisch Religion die Bindung von Affekten, die Entschärfung von Kontingenzerfahrungen oder das Aushalten von Angst zuschreiben, seien es die sozialphilosophischen Varianten, welche Religion - wissenssoziologisch, systemoder kommunikationstheoretisch - als den eine Gesellschaft zusammenhaltenden Kitt oder aber als Instrument des Versuchs einer gezielt anachronistisch angelegten Wirklichkeitsveränderung, also als eine Art Stolperstein in Gestalt der Attitüde eines - wie Günter Dux das formuliert - „revolutionären Konservatismus"2 bestimmen.3 Wirklich Aufregendes in Sachen Religion geschieht derzeit, wenn ich recht sehe, eher in Feldern jenseits von Theologie und Philosophie. Zum einen kommen aus sogenannten Orchideenfächern komplexe Religionstheorien, so die Fahndung nach „Biologische[n] Grundlagen der Religion", die Walter Burkert mit Blick auf antike Kulte aus seiner Kompetenz als Klassischer Philologe und in kritischer Auseinandersetzung mit der Soziobiologie vorlegte.4 Im gleichen Jahr - 1998 - erschien aus der Feder des Ägyptologen Jan Assmann das Werk „Moses der Ägypter"5, die Rekonstruktion des Sinnraumes, den die Wirkungsgeschichte dieser Gestalt Mose von der Bibel bis zu Sigmund Freuds einschlägiger Monographie „Der Mann Moses und die monotheistische Religion" auftat. Es paßt gut ins Bild, daß ein Jahr vor Burkert und Assmann und 23 Jahre nach der posthumen Originalausgabe George Batailles „Theorie der Religion"6 auf deutsch herauskam, ein Werk, dem es darum zu tun ist, jenseits des Gottes der Philosophen wie gleichermaßen jenseits der jüdisch-christlichen Traditionen mit ihrer Erfindung der Innerlichkeit die Weltimmanenz als den Ursinn von Religion herauszuarbeiten.

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Fraglichkeit der Offenbarung. Ernst Cassirers Philosophie als Orientierung im Dialog der Religionen. Regensburg 2000 (Ratio fidei; 2). Bes. Teil C. Dux, Günter: Ursprung, Funktion und Gehalt der Religion. IJRS 8 (1973). 7-64. Hier 57. Vgl. dazu Gärtner, Stefan: Gottesrede in (post-)moderner Gesellschaft. Grundlagen einer praktisch-theologischen Sprachlehre. Paderborn 2000. 25-109. Vgl. Burkert, Walter: Kulte des Altertums. Biologische Grundlagen der Religion. München 1998. Vgl. Assmann, Jan: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. München 1998. Vgl. Bataille, George: Theorie der Religion. Aus dem Französischen übersetzt v. Andreas Knop. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen v. Gerd Bergfleth. München 1997.

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Was die faszinierenden Studien über die Verschiedenheit ihrer Einsatzpunkte hinweg verbindet, ist der konsequente Verzicht auf eine Auseinandersetzung mit den von Religion konstitutiv erhobenen Geltungsansprüchen. Am deutlichsten bringt das Assmann zum Ausdruck, sofern seine Überlegungen einerseits ihren Ausgang bei der von ihm sogenannten „Mosaischen Unterscheidung" zwischen wahr und unwahr - d.h. zwischen wahrem Gott und falschen Göttern - nehmen 7 und u.a. eine in die Formationsphase der neuzeitlichen Religionsphilosophie eingebettete Mose-Bild-Diskussion zum Thema machen, die den Mose gegen das biblische Zeugnis als Ägypter bzw. als ägyptisch beeinflußten Protagonisten einer All-Einheits-Lehre zeichnet, um damit einen Ausweg - Zitat Assmann - „aus den Konfrontationen von Vernunft und Offenbarung, Irrtum und Wahrheit, Erbsünde und Erlösung, Unglaube und Glauben" 8 zu weisen. An Brisanz ist das kaum mehr zu überbieten: die biblische Über-Figur „Mose" als Repräsentant einer de facto gegenbiblischen Denkungsart, die einen Ausweg aus den durch die biblische Tradition und ihre kirchlich-konfessionellen Transformationen selbst erzeugten Konfliktlagen eröffnet, weil dieser Mose in Wirklichkeit Repräsentant einer pantheisierenden Weisheitslehre gewesen sei. Gleichwohl erkärt Assmann ausdrücklich, eine Archäologie der Fragen versuchen zu wollen, die die Wirkungsgeschichte jener Unterscheidung bis hin zu Freud aufwarf, nicht aber ihre Beantwortung. 9 Wer die Einlösung dessen, was Kulturwissenschaft hinsichtlich der Geltungsansprüche von Religion legitim aus ihrem Arbeitsbereich ausschließt, seitens der Philosophie oder wenigstens der Theologie erwartet, muß sich schnell eines Besseren belehren lassen: Das Avancierteste, was Philosophie derzeit in der Sache zu bieten hat, ist die seit mehr als einem Jahrzehnt in den USA entwickelte „Reformed Epistemology", deren kontinentale Rezeption soeben in Gang zu kommen scheint. 10 Ihre Pointe - wenn man denn so harmlos sagen kann - besteht darin, 7 8 9 10

Vgl. Assmann: Moses (Anm. 5). 17-23. Assmann: Moses (Anm. 5). 209. Vgl. Assmann: Moses (Anm. 5). 23. Erste Vorarbeit leistete Kreiner, Armin: Demonstratio religiosa. In: Döring, Heinrich - Kreiner, Armin - Schmidt-Leukel, Perry: Den Glauben denken. Neue Wege der Fundamentaltheologie. Freiburg/Basel/Wien 1993. (QD; 147). 9-48. - Vgl. Müller, Klaus: Wieviel Vernunft braucht der Glaube? Erwägungen zur Begründungsproblematik. In: Ders. (Hg.): Fundamentaltheologie. Fluchtlinien und gegenwärtige Herausforderungen. In konzeptioneller Zusammenarbeit mit Gerhard Larcher. Regensburg 1998. 77-100. - Löffler, Winfried: Bemerkungen zur zeitgenössischen „Christlichen Philosophie" in Nordamerika. ThPh 73 (1998). 405414. - Niederbacher, Bruno: Zur Epistemologie des theistischen Glaubens. Gotteserkenntnis nach Alvin Plantinga. ThPh 74 (1999). 1-16.

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daß sie im Vergleich zu klassischen Geltungsfragen die Beweislast verlagert. Nicholas Wolterstorff, einer der einschlägigen Repräsentanten der „Reformed Epistemology", formuliert das so: „Innocent until proved guilty, not guilty until proved innocent" 1 1 - unschuldig bis zum Schulderweis, nicht schuldig bis zum Unschuldserweis. Gemeint ist: Überzeugungen oder Behauptungen haben als rational zu gelten bis zum Erweis ihrer Irrationalität, und nicht als irrational bis zum Erweis ihrer Rationalität. Ebendieses Prinzip belasten jedoch zwei auf den ersten Blick gar nicht so leicht zu entdeckende offene Flanken: (a) In keiner Weise ist mit ihm die Verpflichtung verbunden, widersprechende Behauptungen überhaupt zu registrieren. Und (b): Nichts steht entgegen, bereits eingetretene Widersprüche durch die epistemische Strategie der Satzanpassung wieder aus der Welt zu schaffen, denn jeder unserer Sätze über die Welt kann beliebig verändert werden, solange wir nur die mit ihm zusammenhängenden Sätze - und gegebenenfalls sogar fundamentale Sätze entsprechend anpassen. Vertreter der „Reformed Epistemology" suchen diese Lücke durch den Einbezug einer „Ethik unserer intellektuellen Überzeugungen" 12 zu schließen, die im wesentlichen darin besteht, daß ich Einsprüche gegen meine Annahmen nicht übergehen und Sätze nicht beliebig anpassen darf. Was freilich die Frage unumgänglich macht, woher denn diese epistemische Normativität ihrerseits rührt. Ich sehe dafür nur drei Antworten: (a) Das religionsphilosophische Konzept der „Reformed Epistemology", das ja erklärtermaßen auf den Verzicht von Begründungen der religiösen Geltungsansprüche angelegt ist, setzt für dieses kriterielle Moment intellektueller ethischer Verpflichtungen doch nochmals heimlich einen Begründungsgedanken voraus, (b) Oder aber es rekurriert auf die als nicht nochmals hintergehbar angenommene Intuition einer Differenz zwischen gut und nützlich, wenn Vernunft und Religion überhaupt etwas miteinander zu tun haben sollen; dann aber müßte gerade um der ethischen Dimension des Konzepts willen auch erklärt werden, was begrifflich unter Nichthintergehbarkeit zu verstehen ist. (c) Oder aber auf Vernunftansprüche als solche wird generell verzichtet, wie das jüngst Norbert Bolz der Philosophie und der Theologie empfohlen hat, damit sich beide Disziplinen „wieder als Kunst des Fragens [...] verstehen." 13 Was einen solchen Umgang mit religiösen 11 Wolterstorff, Nicholas: Can Belief in God Be Rational If It Has N o Foundations? In: Plantinga, Alvin - Wolterstorff, Nicholas (Hgg.): Faith and Rationality: Reason and Belief in God. London 1983. 135-186. Hier 163. 12 Kreiner: Demonstratio (Anm. 10). 23. 13 Bolz, Norbert: Kommunikationsprobleme mit Gott. Die Theologie sollte sich aufs Fragen konzentrieren. Forschung & Lehre 7/99. 340-342. Hier 342.

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Geltungsansprüchen dann aber von der Tätigkeit römischer Haruspices und deren hermeneutischer Beschäftigung mit den Lebern frischgeschlachteter Gänse unterscheidet, vermag ich nicht zu erkennen. Was schließlich Theologie betrifft, so ist hinsichtlich der Geltungsproblematik beinahe flächendeckend Fehlanzeige zu notieren. Die Mehrheit ignoriert die Frage schlichtweg oder erklärt sie für durch die Postmoderne suspendiert. Ernsthafte Auseinandersetzungen mit der Sache geschehen nur unter dem Vorzeichen des bereits erwähnten basalen Intuitionismus oder in Gestalt von Letztbegründungsprogrammen, die nichts anderes und das an sich nur Geringe beanspruchen, einen Begriff letztgültigen Sinnes zu entwickeln, der dazu taugt, mit den durch Religion erhobenen Geltungsansprüchen auf dem Forum der Vernunft verantwortet umgehen zu können. 14 Spitz gesagt heißt das unterm Strich: Hinsichtlich der Geltungsfrage eine Antwort zu geben, kann Kulturwissenschaft nicht, Philosophie will es nicht, gegenwärtige Theologie getraut sich nicht, um sich nicht ihre Daseinsberechtigung im Ensemble der Sprachspiele zu verscherzen - von der erwähnten Minderheit abgesehen, die sich dort, wo Letztbegründungsgedanken ins Spiel kommen, der einen oder anderen Invektive aus der eigenen Zunft sicher sein kann. Die gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen, philosophischen und theologischen Wortmeldungen in Sachen Religion führen in ihrer Mehrheit kaum mehr eine Ahnung mit sich, daß das Thema „Religion", als es in der Moderne überhaupt eigenständiges Thema wurde, mit theoretischen wie praktischen Ambitionen einherging, wie sie größer nicht zu denken sind. Der Rang, den Religion in der Gegenwartsgesellschaft gegen andere Erwartungen aufs verblüffendste längst schon wieder eingenommen hat, läßt angeraten sein, sich jener Ambitionen nochmals zu erinnern, weil das beitragen könnte, mit dem Phänomen „Religion" in der Gegenwart angemessener umzugehen, als das die eingespielten funktionalistischen Interpretationen und die theologischen Einordnungen dialektischer Provenienz (von Karl Barth bis Johann Baptist Metz) vermögen.

2. Überhangpotentiale oder: Das genuine Profil von Religion in der philosophischen Moderne Darzustellen, worum es mir unter dieser Überschrift zu tun ist, nimmt sich schwierig aus, weil sich das, was es zu bedenken gilt, nicht an wohlbestimmten Positionen, geschweige denn an Texten festmachen

14 Vgl. dazu Müller: Vernunft (Anm. 10). 94-100.

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läßt - und es dennoch so etwas wie den Subtext der bisher vielleicht faszierendsten, in jedem Fall komplexesten Phase okzidentalen Philosophierens darstellt. Der in Frage stehende Zeitraum war ausgesprochen kurz; er reichte - um ihn symbolisch einzuhegen - vom Erscheinen der ersten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft" 1781 und dem Tode Lessings im gleichen Jahr bis zum Tode Hegels und Goethes 1831 bzw. 1832. Ich möchte ihn unter Aufnahme eines bekanntlich anderwärts geprägten Begriffs die „Sattelzeit" der Religionsphilosophie nennen. Beherrscht wurde dieses halbe Jahrhundert zunächst von der Diskussion um die ersten beiden „Kritiken" Kants, von der um die zweite, also die „Kritik der praktischen Vernunft", ungleich mehr als von der um die erste, dann von der um die Fichtesche Religionsschrift „Versuch einer Kritik aller Offenbarung" von 1792, die zunächst für kantischen Ursprungs gehalten wurde, schließlich um den wirklich kantischen Beitrag zur Sache, „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" von 1793. Überlagert und dann überboten wurden diese Diskussionen aber bereits seit 1785 durch eine Abfolge dreier höchst eigenwilliger Konflikte: zunächst dem „Pantheismusstreit" zwischen Friedrich Heinrich Jacobi und Moses Mendelssohn über den etwaigen Spinozismus Lessings, der natürlich den brandgefährlichen Vorwurf des Pantheismus bzw. Atheismus nach sich zog. Dem folgte der „Atheismusstreit", den Fichte 1798 mit seinem Aufsatz „Über unseren Glauben an eine göttliche Weltregierung" 15 auslöste, weil er in radikaler Konsequenz der Kantischen Verlagerung der Gottesfrage in die praktische Vernunft Gott mit dem unbedingten sittlichen Sollen identifizierte und damit hinsichtlich theistischer Gottesprädikate wie Bewußtsein und Personsein zu einer Antizipation des Feuerbachschen Projektionsverdachts gelangte, ohne freilich dessen Konsequenz zu ziehen: Für Fichte stand außer Frage, daß seine Erwägungen Gott angemessener waren als die Sätze orthodoxer Dogmatik. Mitten im Atheismusstreit bahnte sich schließlich - drittens - der sogenannte „Streit um die göttlichen Dinge" an, den man auch „Theismusstreit" nennen könnte; Protagonisten: Schon wieder Jacobi mit seiner Schrift „Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung". Beklagter und darum auch Kontrahent war Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854). Der Titel seiner Erwiderung auf Jacobi und deren Motto verraten, was zur Debatte stand: „Denkmal der Schrift von den göttli15 Vgl. Fichte, Johann Gottlieb: Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung. In: Appellation an das Publikum ... Dokumente zum Atheismusstreit um Fichte, Forberg, Niethammer. Jena 1798/99. Hrsg. v. Werner Röhr. Leipzig H991. 11-22.

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chen Dingen ec. des Herrn Friedrich Heinrich Jacobi und der ihm in derselben gemachten Beschuldigung eines absichtlich täuschenden, Lüge redenden Atheismus." Das Motto hatte Schelling aus Spinoza gewählt. Das lateinische Original heißt übersetzt: „Oh, welcher Schmerz! Es ist schon soweit gekommen, daß diejenigen, die öffentlichen bekennen, keinen Gottesgedanken zu haben und Gott auf keine Weise zu erkennen, sich nicht schämen, die Philosophen des Atheismus anzuklagen." 1 6

Das indiziert nicht nur, daß Spinoza im Gang dieser Auseinandersetzungen zum heimlichen Dreh- und Angelpunkt geworden war - durch Jacobi im übrigen und gegen dessen Absicht aufgrund der Weise, wie er Spinoza darstellte und für seine Zeitgenossen allererst wieder interessant machte. Was im übrigen keineswegs verwunderlich ist: Bot Spinoza doch in der Tat erstmals die denkerischen Mittel, das heimliche Grundproblem der gesamten überkommenen philosophischen Theologie zu lösen, das diese im Grunde dadurch in Schach gehalten hatte, daß sie es als Problem ungedacht ließ: die Frage, wie denn überhaupt etwas - und selbst noch das Geringste, Vergänglichste - sein könne, wenn es notwendig ein Unendliches, Absolutes geben muß, damit überhaupt etwas sei. Gibt es ein Unendliches, kann es außer ihm ja schlichtweg nichts mehr geben, weil sich ein „außer" zu diesem Unendlichen nicht einmal mehr denken läßt. Also kann das, was es an Endlichem gibt, zwangsläufig nur so etwas wie eine Implikation des Absoluten sein. Schon Nikolaus von Kues und Giordano Bruno hatten genau an dieser Frage laboriert. Spinoza brachte die Antwort radikal auf den Begriff. Schellings eben zitiertes Motto belegt zugleich auch, daß die genannten Streitfälle das Religionsthema unbeschadet ihres Gebrauchs kantischer Mittel durchaus kantkritisch in Debatten um die Möglichkeit und Notwendigkeit bzw. Nicht-Notwendigkeit und Unmöglichkeit einer philosophischen Theologie im Sinne einer argumentativen Einlösung der Gottesfrage transformierten. Bereits das Spezifikum der JacobiMendelssohn-Debatte über Lessing machte aus, kein Spinozismus-Streit geblieben, sondern zu einem Streit um den Gegensatz von Wissen und Glauben geworden zu sein 17 , und die nachfolgenden Konflikte verschärf16 Übers, nach der Ausgabe von Schellings „ D e n k m a l " . In: Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Der Streit um die Göttlichen Dinge (1799-1812). Quellenband. Hrsg. v. Walter Jaeschke. Hamburg 1994. 2 4 2 - 3 1 4 . Hier 2 4 2 . 17 Vgl. Kauttlis, Ingo: Von „Antinomien der Überzeugung" und Aporien des modernen Theismus. In: Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Der Streit um die Göttlichen Dinge (1799-1812). Hrsg. v. Walter Jaeschke. Hamburg 1994. 134. Hier 1.

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ten diese Drift. Was natürlich auch heißt: Schon zu Zeiten des alten Kant kehrten erneut jene Fragen zurück, die er mit seinen ersten beiden Kritiken erledigt glaubte. 18 Anders gewendet: Genau in der Spitzenphase der Formierung der Philosophie der Moderne verschränkte sich das Religionsthema so unauflöslich wie nie zuvor mit epistemologischen und metaphysischen Fragen. Systematisch gesehen waren es drei Lükken im Kantischen Konzept, die die unmittelbaren Nachfolger treffsicher ausmachten und zu ihren kritischen Programmen stimulierten. (a) Zum einen das Verhältnis von Anschauung und Denken. Nur durch eine Synthese beider Momente kann Erkenntnis zustande kommen, sofern Anschauung ohne Begriffe blind, Begriffe - also Denken ohne Anschauung - leer seien, wie Kant einmal treffend formulierte. 19 Nur: daß verschiedene Faktoren eins sein können, setzt eine Dimension ursprünglicher Einheit voraus, wie Kant selbst gesehen hatte, ohne diese Quelle aller Einheit je auf klare Weise zu benennen. (b) Eine zweite Frage, die Kant unbeantwortet ließ, war die nach dem Verhältnis bzw. nach der Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft. Welch fundamentale Rolle in seinem Konzept die Verlagerung der metaphysischen Frage aus der Perspektive der theoretischen in die der praktischen Vernunft spielte, muß ich nicht weiter erläutern. Nur: Ebenso klar ist, daß eine solche Operation - kantisch gesprochen - die Bedingung ihrer Möglichkeit darin hat, daß beide Dimensionen in einem Zusammenhang stehen, der diese Verlagerung erlaubt. Dazu jedoch findet sich bei Kant kein Wort. (c) Die dritte Lücke hat Kant an einer Stelle gelassen, wo man das auf den ersten Blick gar nicht vermuten möchte, nämlich in der Frage des Verhältnisses von Subjekt und Objekt. Und es ist zugleich die gravierendste Lücke in seinem Konzept: Einerseits besteht ja die sprichwörtlich gewordene „kopernikanische Wendung" des kantischen Denkens darin, daß sich die Gegenstände nach der Erkenntnis richten müssen, wie er pointiert im Vorwort zur zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft" schrieb.20 Zugleich aber bleibt diese buchstäbliche Revolution konterkariert von einer konstitutiven Rezeptivität des erkennenden Subjekts: Es ist für alles Erkennen auf Erfahrung angewiesen. Beide Züge zusammengenommen führen dazu, daß das Erkennen nur bis zur Erscheinung der Dinge kommt, also dazu, wie sie sich ihm unter den 18 Dieser Instabilität korrespondiert der vor allem mit Blick auf das Opus posthumum erhobene Befund, Kant habe in Sachen Gotteslehre beinahe alle überhaupt möglichen Deutungsvarianten vertreten. Vgl. Förster, Eckart: Die Wandlungen in Kants Gotteslehre. ZPhF 52 (1998). 341-362. 19 Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Β 75. 20 Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft. Β XVI.

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von ihm selbst ins Spiel gebrachten Bedingungen zeigen - aber nicht, wie sie an sich sind. Was aber wird unter dieser Voraussetzung in der Erkenntnis erkannt? Um es etwas drastisch zu sagen: Der Begriff des Objekts verliert seinen wohlbestimmten Sinn. Und was sich noch verblüffender ausnimmt: Dem Begriff des Subjekts geht es genauso: Wäre das Subjekt eine erfahrungstranszendente Realität, wäre es wegen der Beschränkung möglicher Erkenntnis auf den Bereich möglicher Erfahrung nicht erkennbar. Handelte es sich um etwas Empirisches, erreichte unser Erkennen von ihm - siehe oben - nur seine Erscheinung für sich. Wird es als rein formale Möglichkeitsbedingung von Erkenntnis vorausgesetzt, läßt sich von ihm selbst überhaupt nichts mehr Bestimmtes sagen - außer daß es ein Subjekt geben muß, wenn es so etwas wie Erkenntnis geben soll. Was einem ersten Blick nachgerade unglaublich erscheinen mag, trifft in der Tat zu: Die Elementarbegriffe der kopernikanischen Wende sind bei Kant ungeklärt geblieben. Korrigieren läßt sich dieses Defizit nur, wenn es einen Ausweg aus der Befangenheit allen Erkennens in Erfahrung und Erscheinung gibt. Sollte es einen solchen Ausweg geben, dann kann er nur mit einem nicht nochmals hintergehbaren, also einem absoluten - wörtlich übersetzt: von allen Bedingungen unabhängigen - Wissen zu tun haben. Nach Kant - das ist genauso klar - kann eine solche Geltungsquelle nur noch auf Seiten des Subjekts gesucht werden. Also muß die Subjektinstanz daraufhin untersucht werden, inwiefern sie etwas Absolutes impliziert. Tut sie das aber wirklich, folgt daraus nicht nur, daß Erkenntnis möglich ist, die den Erscheinungsbereich überschreitet. Vielmehr greift dieses Resultat - wenn es denn eintritt - zugleich auf die zuvor genannte theologische Dimension der Absolutheitsfrage unmittelbar über. Der Grund dafür ist einfach: Wenn es etwas Absolutes gibt, dann gibt es nur Eines. Zwei Absolute „nebeneinander" sind nicht denkbar. Sie müssen, wenn dieses Phänomen auftritt, entweder eines das andere implizieren oder schlichtweg identisch sein. Anders gesagt: Nachkantisch kommt es zu einem Ineinandergleiten der theologisch wie gleichermaßen erkenntnistheoretisch heraufbeschworenen Absolutheitsfrage, der Fragebereiche Religion und Subjektivität qua ermöglichender Bedingung von Erkenntnis. Wie im Fall kommunizierender Röhren beeinflußt das, was in einem Bereich geschieht, unmittelbar den anderen. Aus diesem Zusammenhang erklären sich die Konzepte von Fichte bis Schleiermacher gleichermaßen wie die radikalen Religions-Destruktionen von Feuerbach bis Freud, die allesamt ihre Kernstruktur in eben jener Verschränkung von Erkenntnis- bzw. Subjekt- und Religionsthematik haben. Paradigmatisch verdichtet begegnet dieser Konnex bei dem schon mehrfach erwähnten Jacobi, der sich von Mendelssohn - nicht ganz zu Un-

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recht - vorwerfen lassen mußte, er sei in Sachen Religionsphilosophie unter die Fahne des Glaubens geflüchtet21, während er (ohne das wohl direkt zu beabsichtigen) Wegweisendes zur Aufklärung von Selbstbewußtsein beitrug.22 Natürlich muß man diese Vernetzung von Vernunfttheorie und Religionsphilosophie nicht notwendig aufgreifen. Da ist Nietzsche vor und auch sein Epigone Bolz, nach dessen Auffassung einiges für die Auflösung der Theologie in Literaturwissenschaft und Soziologie spreche und es für die Theologie im Wissenschaftssystem keinen Ort gebe unter anderem mit der hinreißenden Begründung, daß Theologie, wenn sie denn Wissenschaft wäre, ständig Neues über Offenbarung müßte sagen können. 23 Als ob Theologie anderes täte als eben dies, zumal wenn sie sich in ihrer katholischen Variante an die vom Vaticanum II ausdrücklich eingeforderte Aufgabe einer Hermeneutik der Zeichen der Zeit macht! Wie gesagt: Man muß der in der Formationsphase der modernen Religionsphilosophie gespurten Perspektive eines Junktims von Vernunft und Religion nicht folgen, aber ebensowenig spricht dagegen, es zu tun. Im Gegenteil: Wo Vernunft zugetraut wird, mehr zu sein als ein Nest von selbstreferentiellen Täuschungsquellen, rückt Religion in eine brisante Perspektive - und zwar dadurch, daß sie aufgefaßt wird als: 3. Eine konstruktive Vermittlung der Grundstruktur selbstbewußter Subjektivität Der Beginn der neuzeitlichen Philosophie besteht in einer vorher nicht dagewesenen Konzentration auf das „Ich denke" als der letzten, alles weitere fundierenden Instanz philosophischer Reflexion, nachdem das bislang Haltgebende, nämlich die christliche Tradition, nicht allein, aber doch endgültig wegen ihres Selbstdementis durch die Religionskriege als Vergewisserungsinstanz weggebrochen war. Im scharfen Licht dieses neuen Interesses treten natürlich die Problemzüge dieser Instanz des „Ich denke" markant hervor, werden entsprechende Begriffe entwickelt und im Maß von deren Ansprüchen auch heftige Einsprüche formuliert. 21 Vgl. Mendelssohn, Moses: An die Freunde Lessings. Ein Anhang zu Herrn Jakobis Briefwechsel über die Lehre des Spinoza. In: Ders.: Schriften über Religion und Aufklärung. Hrsg. v. Martina Elom. Darmstadt 1989. 473-509. Hier 484. 2 2 Vgl. dazu u.a. Henrich, Dieter: Die Anfänge der Theorie des Subjekts (1789). In: Zwischenbetrachtungen: Im Prozeß der Aufklärung. (FS J. Habermas). Hg. Axel Honneth u.a. Frankfurt a.M. 1988. 106-170. Vgl. auch Müller, Klaus: Wenn ich „ich" sage. Studien zur fundamentaltheologischen Relevanz selbstbewußter Subjektivität. Frankfurt u.a. 1994 (RSTh; 46). 460. 23 Vgl. Bolz: Kommunikationsprobleme (Anm. 13). 341.

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So bekommt das, was namentlich ein Kant und ein Fichte über das Ich und seine Fundamentalität sagen, seinen Widerpart in Stimmen wie derjenigen Nietzsches oder Freuds, für die dieses Ich nur eine Illusion ist, die uns darüber hinwegtäuscht bzw. -tröstet, daß wir sozusagen nicht Herr im Haus unseres eigenen Lebens sind. Physikalistische Programme der letzten Jahrzehnte wiederholen diese These - und erweisen sich zugleich so fraglich, daß sozusagen in ihrem eigenen Hinterhof schon wieder die Frage laut wird, ob es denn mit diesem Ich nicht doch etwas mehr auf sich hat. So kommt es seit Mitte der 60er Jahre unseres Jahrhunderts ausgerechnet in der traditionell stark naturalistisch geprägten analytischen Philosophie zu einer neuen philosophy of mind, die bis zu einer Unhintergehbarkeit des Ichgedankens reicht. 24 Brückenschläge zu den entsprechenden klassischen Konzeptionen (also Kant, Fichte, teils auch Schelling, Hegel und Hölderlin) sowohl seitens der Analytiker wie noch mehr seitens kontinentaler Philosophen lassen nicht lange auf sich warten. Unter Auslassung eines ganzen Gebirges spannender Details kann die Diskussion um das Ich und seine physikalistisch nicht einholbare Inkommensurabilität ungefähr auf folgenden Nenner gebracht werden: Ein Wesen, das - ohne viel nachzudenken - seiner selbst bewußt ist, macht eine Doppelentdeckung: (a) Es gewahrt, daß es es ist. Aber schon habe ich es falsch gesagt: Es ist ja kein „Es", sondern ein „Ich". Das ist schon besser gesagt, aber noch immer nicht wirklich gut. „Das Ich" insinuiert viel zu viel Objektivität, zu viel „Ding", das man sehen, haben, über das man verfügen kann. Das selbstbewußte Wesen merkt - fast so, wie jemand aus dem Schlaf aufwacht - : Ich bin ich. Und genau dadurch, daß ich ich bin, bin ich total anders als alles, was es sonst gibt. Nichts und niemand kann meinen Platz einnehmen. Keiner kann an meiner Stelle „ich" sagen. Das läßt sich sprach-analytisch evident machen: Jede und jeder andere kann das, was ich gesagt habe, nur in indirekter Rede aufnehmen und wiedergeben. Immer wenn ich „ich" sage, bin ich absolut unvertretbar, bin ich einmalig. Und als solche oder solcher Einmalige bin ich der Mittelpunkt, besser vielleicht: der Konstruktionspunkt einer, d.h. meiner, Welt. Kraft meiner Unvertretbarkeit stehe ich allem gegenüber, was es überhaupt gibt, ordne ich alles, was es gibt, aus meiner Ich-Perspektive. Das ist die eine Seite spontaner Selbsterfahrung. Die andere: (b) Ineins damit, daß es es ist, gewahrt ein selbstbewußtes Wesen, daß es unbeschadet seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit nicht allein ist, sondern eines unter vielen, genauer: unter unglaublich vielen seinesglei24 Vgl. dazu Müller: Wenn ich „ich" sage (Anm. 22). 173-349.

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chen und überdies unter unendlichen vielen Seienden, wenn es nicht nur Menschen, sondern Gegenstände überhaupt ins Auge faßt. Aber was sind schon Gegenstände: doch nicht bloß Dinge, die man sehen, anfassen, verkaufen, bearbeiten kann; Dinge sind doch auch Gedanken, Erinnerungen, Hoffnungen usw. Das an dieser Stelle nur, um die Unermeßlichkeit des Gegenstandsraumes anzudeuten, in dem eine oder einer sich selbst als eines unter anderen gewahrt. Obwohl einmalig, bin ich selbst Element dieses Gegenstandsraumes. Aber was bin ich da? Wie von selbst stellen sich hier Bildworte ein: Als eine oder einer und den unendlich vielen Seienden bin ich soviel wie ein Tropfen im Meer, ein Staubkorn irgendwo in der Unermeßlichkeit des Universums (was Unermeßlichkeit heißt, wissen wir heute durch die Entdeckungen der Astrophysik besser als alle Epochen vor uns). So gesehen kommt es auf mich überhaupt nicht an. Ich bin völlig marginal, eine Randerscheinung. Was fehlte denn dem Universum, wenn ich nicht wäre? Soviel wie nichts und trotzdem etwas Unersetzbares: Meine Einmaligkeit, meine Sicht auf das Ganze innerhalb dieses Ganzen. Selbst wenn sich die Biologen demnächst dazu versteigen sollten, auch Menschen zu klonen, bleibt diese Einmaligkeit ja erhalten: Der genetisch identisch Andere kann nicht wieder im Bild gesagt - durch meine Augen in die Welt schauen. Meine Ich-Perspektive ist exklusiv - und bleibt gleichzeitig eine unter Milliarden ihresgleichen und etwas unter unendlich vielem Anderen. Vergegenwärtigt man sich diese Doppelung, wird von selbst klar, in welche Spannung wir verfügt sind. Dieter Henrich hat für den ganzen Problemkomplex folgende einleuchtende Sprachregelung vorgeschlagen: (a) Sofern sich der Mensch in der Ichperspektive beschreibt, ist er Subjekt; sofern er sich in der Beobachterperspektive beschreibt, ist er Person.25 Das bedeutet: ( 1 ) Sofern ich mich in meiner Einmaligkeit gewahre, begreife ich mich als Subjekt. Das Subjekt ist Ausgangs- und Konstruktionspunkt seiner Welt. Es ist unhintergehbar. Vor allem sprachanalytisch läßt sich ausweisen, daß diese Weise der Selbstbeschreibung alles andere als eine arrogante Fiktion darstellt: „Hier" und „jetzt" ist in der Tat „dort" und „dann", „wo" und „wann" ich bin. Auch die Personalpronomina „du", „er/sie" und die Pluralvarianten fungieren aus einer logischen Hinordnung auf das „ich". 26 (2) Sofern ich mich hinsichtlich dessen gewahre, daß ich 25 Vgl. Henrich, Dieter: Fluchtlinien. Philosophische Essays. Frankfurt a.M. 1982. 20-21. 26 Vgl. dazu die wichtigen Arbeiten Hector-Neri Castañedas zur Indexikalität. Zu Quellen, Lit. und einer ersten Einführung vgl. Müller: Wenn ich „ich" sage (Anm. 22). 199-235.

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einer unter zahllosen anderen und unter unendlichem vielem Anderem bin, begreife ich mich als Person. Damit trage ich nicht nur meiner Marginalität Rechnung, der Tatsache also, daß mein Dasein im Ganzen der Welt nicht mehr als ein randständiges Phänomen ist. Aus der Tatsache, einer oder eine unter vielen und Vielem zu sein, ergibt sich fast wie von selbst der Folgegedanke, daß ich als solcher nicht einfach für mich stehe. Es gibt in der "Welt kein Ding an sich. Jedes ist in vielfacher Weise auf andere und anderes verwiesen, von anderem abhängig, durch anderes bestimmt. Das gilt auch für dasjenige Seiende, das sich in ersterer Hinsicht als Subjekt beschreibt. Sowenig ich mich allein durch mein Bedingtsein von anderen und anderem her begreifen kann, so wenig könnte es mich ohne andere und anderes überhaupt geben. Und dies nicht nur hinsichtlich meiner physischen Existenz, sondern genauso hinsichtlich meiner Identität, meiner Selbigkeit als die oder der, die oder der ich bin. Angesichts dieser seiner Doppeldimensionalität kann selbstbewußte Subjektivität nur auf zweierlei Weise reagieren: Entweder sie anerkennt einen zumindest gewissen Grad von Absurdität ihrer Existenz, eine durch alles hindurchgreifende Zerrissenheit als ihr Spezifikum. Oder aber sie läßt sich auf eine Vermittlung ein, die freilich angesichts der radikalen Disparatheit beider Selbstbeschreibungsperspektiven, die keinerlei Reduktion der einen auf die andere oder Deduktion der einen aus der anderen zuläßt, ihrerseits eine ganz eigenartige Form annehmen muß. Thomas Nagel, der ersichtlich zur ersteren „Lösung" des Antagonismus tendiert 27 , nennt diese Alternative ohne Umschweife die „religiöse" und erachtet den Subjekt-Person-Antagonismus durch sie als auf eine lebbares Niveau humanisiert. Pointierter noch als der Theoretiker Nagel bringt der Literat John Updike die Sache auf den Punkt, wenn er in seinem autobiographischen Werk „Selbst-Bewußtsein" schreibt: „Milliarden Bewußtseine sickern wie Treibsand die Geschichte voll, und jedes einzelne ist der Mittelpunkt des Universums. W a s können wir im Angesicht dieser undenkbaren Wahrheit anderes tun als schreien oder Zuflucht suchen bei Gott?" 2 8

Systematisch gefaßt: Das Inkommensurable in der Selbstbeschreibung der Ich-Instanz führt aus sich zum Phänomen der Religion - es sei denn, jemand wäre damit einverstanden, daß ein Absurdum den Schlußstein 27 Vgl. Nagel, Thomas: Der Blick von nirgendwo. Übers, v. Michael Gebauer. Frankfurt a.M. 1992. 3 7 0 - 3 8 6 . 2 8 Updike, John: Selbst-Bewußtsein. Erinnerungen. Deutsch v. Maria Carlsson. Reinbek b. Hamburg 1990. 59.

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denkerischer Selbstverständigung bildet. Gewiß muß diese Option jeder und jedem zugestanden bleiben. Aber solange es eine Alternative zu ihr gibt - und es gibt sie offenkundig - , muß sich erstere nach ihrer Vernünftigkeit fragen lassen. Und zwar deswegen, weil die Vernünftigkeit der Vernunft zutiefst darin besteht, Absurditäten aufklären zu können. Das heißt nicht, daß es nicht trotzdem Absurdes geben könne. Es heißt nur, daß sich im Kontext einer philosophischen Selbstbeschreibung die Akzeptanz eines Absurden angesichts einer möglichen nichtabsurden Alternative wenig überzeugend ausnimmt, wenn man denn Vernunft überhaupt etwas zutraut. Geschieht das, so zeitigt der subjekttheoretische Angang der Religionsthematik markante Folgen für das Fragesyndrom „Religion, Metaphysik(kritik) und Theologie". Ich beschränke das darüber zu Vermerkende auf Stichworte über:

4. Die Konsequenzen einer subjekttheoretischen Aufschlüsselung von Religion Auf der Hand liegt, daß es sich bei der soeben vorgeschlagenen philosophischen Annäherung an Religion nicht um eine neue Variante funktionalistischer Indienstnahme handelt. Zwar wird der Religionsbegriff als Vermittlungsinstanz des basalen Antagonismus menschlicher Selbstbeschreibung eingeführt. Aber zugleich erschöpft er sich nicht in dieser Funktion, sondern kulminiert in einem Gedanken vom Ganzen, der auch noch die diesen Gedanken fassende Instanz einschließt. Da hat Bolz einmal recht, wenn er schreibt: „Es geht beim Thema Gott also letztlich um die Möglichkeit, sich ein Bild von dem Ganzen zu machen, dem man selbst zugehört."29 Bolz' billige Ausflucht, Mystik als Beschwörung des Ganzen gegen den Schlachtruf der Kritischen Theorie, daß das Ganze das Unwahre sei, auszuspielen30, belasse ich bei einer unkommentierten Protokollierung, um in der Sache folgende Alternative dagegen zu stellen: Wo immer sich selbstbewußte Vernunft an eine Vermittlung ihrer antagonistischen Dimensionen macht, vermag sie das nur dergestalt, daß sie eine ihrer beiden Seiten zum leitenden Paradigma des von ihr gesuchten Ganzheitsgedankens macht. Sie muß also entweder im Ausgang von ihrer Einmaligkeit zu einem monistischen Alleinheitsgedanken kommen oder im Ausgang von ihrem Einzelne-unter-vielen-Sein zu einer Ganz-

29 Bolz: Kommunikationsprobleme (Anm. 13). 340. 30 Vgl. Bolz: Kommunikationsprobleme (Anm. 13). 340.

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heit, die von einem höchsten Einzelnen bestimmt ist. Und es sind genau das die beiden strukturellen Grundformen, in denen Religionen in der bisherigen Geschichte unter dem künstlichen Titel der Differenz zwischen „westlich" und „östlich" aufgetreten sind (künstlich ist die Differenz deshalb, weil ausnahmslos alle Weltreligionen im Osten, d.h. östlich des Bosporus bzw. des Ural entstanden sind - und damit keine von ihnen im geographischen Westen). Systematisch gesehen heißt das, daß von einem seiner spezifisch modernen Wurzeln vergewisserten Religionsbegriff her sich nicht nur die Frage einer möglichen Metaphysik nach Kant neu stellt31, sondern gleichermaßen Grundfragen der Religionstheologie wie die - von ihr selbst bislang noch nicht einmal ausdrücklich gestellte - nach der seltsam geringen Zahl der basalen Religionsformen beantwortbar werden: Letzterer Befund erklärte sich schlichtweg aus der Struktur selbstbewußter Vernunft. Die damit einhergehenden Herausforderungen wie Affirmationen für eine christliche Theologie wären in theoretischer wie praktisch-politischer Perspektive umfänglicher Auseinandersetzung wert32 - beides allerdings Aufgaben, die jenseits dessen liegen, was mir an dieser Stelle thematisch aufgegeben war.

31 Vgl. den entsprechenden Obertitel der Beiträge zum Stuttgarter Hegel-Kongreß von 1 9 8 7 : Metaphysik nach Kant? Stuttgarter Hegel-Kongreß 1987. Hrsg. v. Henrich, Dieter - Horstmann, Rolf-Peter. Stuttgart 1988 (Veröffentlichungen der Internationalen Hegel-Vereinigung; 17). 32 Vgl. dazu ausführlich Müller: Wenn ich „ich" sage (Anm. 22). 5 5 9 - 6 0 1 . - Vgl. demnächst ders.: Konstrukt „Religion". Religionsphilosophischer Vorschlag zur Behebung eines religionstheologischen Defekts. In der FS für Carlo Huber. Hrsg. v. Quitterer, Josef - Schwibach, Armin [Im Erscheinen].

Die symbolische Existenz des Göttlichen Mythos und Religion bei Ernst Cassirer OSWALD SCHWEMMER

1 Cassirers philosophische Konzeption Wer über den Mythos und die Religion bei Ernst Cassirer redet, kann nicht nur über den Mythos und die Religion reden. Das Verhältnis von Mythos und Religion zueinander und insbesondere der Übergang vom Mythos zur Religion gewinnen ihre philosophische Bedeutung erst innerhalb der Gesamtkonzeption der Cassirerschen Philosophie und dort insbesondere innerhalb einer Theorie der Kulturentwicklung. Ich möchte daher meiner Darstellung des Verhältnisses von Mythos und Religion bei Ernst Cassirer wenigstens eine knappe Skizze der Philosophie der symbolischen Formen, und zwar in den Punkten, die für das Verständnis der Kulturentwicklung bedeutsam sind, voranstellen. Die philosophische Konzeption Cassirers kann man durch einige polare Begriffsverhältnisse charakterisieren, die vor allem Cassirers Uminterpretation neukantianischer Perspektiven deutlich werden lassen. 1.1 Poiesis und Expression Eine erste begriffliche Polarität besteht zwischen Poiesis und Expression. Der Mensch ist für Cassirer kein weltloses Subjekt, das sich aus der Kraft seiner produktiven Einbildung und seiner synthetisierenden Verstandeshandlungen seine Sinnwelt erst schaffen muß. Vielmehr steht der Mensch immer schon in einer Welt von Ausdrucksverhältnissen, die ihm nicht nur begegnen, sondern die ihn betreffen und bewegen und die auch seinem eigenen Verhalten in diesen Verhältnissen einen betreffenden und bewegenden Ausdruck verleihen. Seine geistige Leistung besteht darin, daß der Mensch in seinem Ausdrucksverhalten diesem seinen Ausdruck eine Form gibt, daß er sich selbst in seinem Ausdruck gestaltet und so als Ausdruckswesen, d.i. in seiner expressiven Existenz, poietisch ist. In einer allgemeinen Formulierung bestimmt Ernst Cassirer das Zentrum der geistigen Existenz des Menschen durch den Bezug auf

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das eine Ziel, „die passive Welt der bloßen Eindrücke, in denen der Geist zunächst befangen scheint, zu einer Welt des reinen geistigen Ausdrucks umzubilden." 1 1.2 Medialität und Individualität Die zweite begriffliche Polarität läßt sich zwischen Medialität und Individualität ausmachen. Die Gestaltung des Ausdrucks verlangt ein Medium. Ausdruck im umfassenden Sinne, in dem auch Darstellung und Bedeutung, Gefühl und Gedanke miteingeschlossen sind, läßt sich nicht als eine Form des reinen Denkens und keinesfalls in einer der Sinnerfahrung - und kulturellen Sinngeschichte - vorgängigen, apriorischen Weise verstehen oder verwirklichen. Ausdruck, von welcher Art auch immer, ist Arbeit an und in Sinnstrukturen, die ihre Gestaltungsgeschichte hinter sich haben, also historisch sind, und die dem momentanen individuellen Ausdruck seine Gestaltungsmöglichkeiten anbieten. (Cassirer betrachtet diese medialen Sinnstrukturen übrigens kaum in ihrer Materialität, sondern nahezu ausschließlich in ihrer Funktion als besondere Gestaltungsmomente und -faktoren.) Durch ihre Bindung an ein vor allem individuellen Ausdruck bereits strukturiertes Medium wird die Individualität des Ausdrucks nicht verhindert. Cassirer, der Philosoph der Individualität, sieht Individualität und Medialität vielmehr zusammen. Die Individualisierung sowohl des Ausdrucks als auch der Persönlichkeit insgesamt geschehen allerdings nicht als die abstrakte Setzung eines Selbst, sondern durch die konkrete Auseinandersetzung mit dem Anderen der historischen Sinnstrukturen. Die Individualisierung ist daher keine subjektive Konstitutionsleistung, sondern eine Interaktions- und Kommunikationsleistung in und mit einer Sinnwelt. 1.3 Pluralität der symbolischen Formen und Identität der Persönlichkeit Die dritte begriffliche Polarität findet sich zwischen der Pluralität

symbolischen

Formen und der Identität der Persönlichkeit.

der

Die vor-

oder überindividuellen Sinnstrukturen sind für Cassirer dann symbolische Formen, wenn sie sich unter einem Prinzip ihrer Gestaltungsformen fassen lassen. Sie bilden dann eine Verweisungseinheit im einheitlich gestalteten Bereich. Die Einheit der Gestaltungsformen - die übrigens nicht als Einheitlichkeit der Formeigenschaften mißzuverstehen ist ergibt sich aus einer Ausformung von Gestaltungsimpulsen nach einem Prinzip der - z.B. bildlichen, motorischen, sprachlichen, technischen 1

PSF I, S. llf.

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Oswald Schwemmer

Welt-Perspektivierung. Durch diese perspektivierende Ausformung werden Systeme erzeugt, die - gerade aufgrund ihrer Ausformung in einer bestimmten und also begrenzten Perspektive - zwangsläufig einseitig sind und, wie Cassirer bemerkt, sich gleichwohl - zumindest tendenziell - mit einem umfassenden Anspruch auf Weltdeutung oder -Orientierung verbinden. Die Gleichzeitigkeit des universalen Anspruchs und der tatsächlichen Perspektivierung kennzeichnet für Cassirer die dogmatische Metaphysik: ,,[D]ie dogmatischen Systeme der Metaphysik [...] vertreten trotz aller begrifflichen Universalität, nach der sie streben, nur eine Seite des Gegensatzes. [...] Denn sie selbst sind zumeist nichts anderes als metaphysische Hypothesen eines bestimmten logischen oder ästhetischen oder religiösen Prinzips. Je mehr sie sich in die abstrakte Allgemeinheit dieses Prinzips einschließen, um so mehr schließen sie sich damit gegen einzelne Seiten der geistigen Kultur und gegen die konkrete Totalität ihrer Formen ab." 2

Und auch wenn Cassirer als sein Ziel „eine philosophische Systematik des Geistes" zumindest erwägt, wird dieses Ziel doch nicht durch eine theoretische Systematisierung erreichbar. Denn obwohl für Cassirer eine solche Systematik „nichts anderes sichtbar zu machen versuchte, als das rein immanente Verhältnis" der symbolischen Formen, 3 verdankt sie sich wie jede Systematisierung überhaupt wiederum einer symbolischen Perspektivierung, die sich aus dieser ihrer Konstruktion heraus nicht als umfassende Systematik ausweisen kann. Eine Öffnung gegenüber der „konkreten Totalität" der symbolischen Formen ist letztlich nur durch einen praktischen Vollzug möglich: durch den kritischen und komplementierenden Bezug der verschiedenen symbolischen Formen aufeinander, d.i. durch die Perspektivierung etwa der Erkenntnis durch die Kunst,

2 3

P S F I . S . 14. Gegenüber einer dogmatischen Metaphysik führt dann Cassirer als Möglichkeit an: „Der Gefahr eines derartigen Abschlusses vermöchte die philosophische Betrachtung nur dann zu entgehen, wenn es ihr gelänge, einen Standpunkt zu finden, der über all diesen Formen und der doch andererseits nicht schlechthin jenseits von ihnen liegt: - einen Standpunkt, der es ermöglichte, das Ganze derselben mit einem Blicke zu umfassen und der in diesem Blicke doch nichts anderes sichtbar zu machen versuchte, als das rein immanente Verhältnis, das alle diese Formen zueinander [...] haben. Dann entstünde eine philosophische Systematik des Geistes, in der jede besondere Form ihren Sinn rein durch die Stelle, an der sie steht, erhalten würde, in der ihr Gehalt und ihre Bedeutung durch den Reichtum und die Eigenart der Beziehungen und Verflechtungen bezeichnet würde, in welchen sie mit anderen geistigen Energien und schließlich mit der Allheit steht." (PSF I, S. 14.)

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der Religion durch die Technik usw. Dadurch kann eine praktische Einheit entstehen, die die Einheit einer Persönlichkeit ausmacht: einer Persönlichkeit, die sich in allen Dimensionen der symbolischen Formen zu bewegen versucht. Lediglich als Anmerkung bleibt hier festzustellen, daß mit der Verlagerung der Einheit unserer geistigen Welt in die Vollzugswirklichkeit des geistigen Lebens Cassirer jeglicher Form einer Metaphysik ihre innere Unmöglichkeit bescheinigt. Denn wenn Metaphysik als allgemeine Theorie unserer Erfahrungs- oder auch der - wodurch auch immer erschlossenen - Weltwirklichkeit im ganzen durch einen umfassenden Geltungsanspruch definiert wird, dann scheitert sie für Cassirer notwendigerweise an der Unvereinbarkeit ihrer theoretischen Verfassung mit diesem Anspruch. Es kann keine Theorie geben, die einerseits das Ganze unserer Erfahrungs- oder Weltwirklichkeit begreift, weil Theorie als solche - nämlich durch ihr Angewiesensein auf eine symbolische Artikulation - die besonderen Strukturen und also auch Grenzen der jeweiligen symbolischen Konstruktionsprinzipien in sich trägt. Etwas wie auch immer - zum Ausdruck bringen, etwas artikulieren, heißt, zugleich anderes in den Hintergrund oder den Zwischenraum zu rükken, es als Horizont oder Atmosphäre zwar sein zu lassen, aber in einer Unbestimmtheit, in der es zwar ebenfalls ist, aber nicht „etwas" ist. Mit jedem, was wir sagen, erzeugen wir eine Sphäre des Ungesagten. Mit allem, was wir durch unsere Artikulation zur Bestimmtheit seiner Identität bringen, erzeugen wir eine Unbestimmtheit ohne greif- und begreifbare Identität. Mit der Metaphorik der Perspektive und des Sehens, der Theoria im wörtlichen Sinne, gesagt: Metaphysik kann nur als das Sehen Gottes gedacht werden, von dem Nikolaus von Kues spricht,4 kann es also nur als ein alles zugleich und ohne perspektivische oder zeitliche Eingrenzung sehendes Sehen geben, das es nicht geben kann. 1.4 Handlungsformen und Denkformen Die vierte begriffliche Polarität schließlich entwickelt sich zwischen Handlungsformen und Denkformen. Das Sein gründet im Tun: Nicht das bloße Betrachten, sondern das Tun bildet vielmehr den Mittelpunkt, von dem für den Menschen die geistige Organisation der Wirklichkeit ihren Ausgang nimmt. Hier zuerst beginnen sich die Kreise 4

Nikolaus von Kues, Vom Sehen Gottes. In: Ders., Philosophisch-Theologische Schriften. Hg. von Leo Gabriel. Wien [Herder] 1967. Bd. 3, S. 93-219. Vgl. dazu auch die Textauswahl (Kap. I, II, VII-XII) in: Ralf Konersmann (Hg.), Kritik des Sehens. Leipzig [Reclam Verlag] 1997, S. 75-92.

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des Objektiven und Subjektiven, beginnt sich die Welt des Ich von der der Dinge zu scheiden.5 Diese allgemeine Feststellung gilt für Cassirer in allen Bereichen unserer geistigen Existenz. So gründet der Mythos im Ritus, die Religion im Kult und unsere rationale Weltorientierung überhaupt in der tätigen Weltbearbeitung. 1.5 Die neue Tonart der Cassirerschen Philosophie Diese begrifflichen Polaritäten geben gleichsam die Tonart vor, in der der Mythos und die Religion ihre Position finden. Es ist eine neue Tonart - „a new key", wie Susanne Langer sagt6 - , in die die Motive des Neukantianismus nicht nur transponiert werden, sondern in der sie auch eine grundlegende Transformierung erfahren. Cassirers Philosophie der symbolischen Formen - hier verstanden als sein philosophisches Konzept insgesamt - grenzt sich gegenüber Kant und den Kantianern - und dies insbesondere in der Gestalt des Neukantianismus - dadurch ab, daß sie (1) die menschliche Weltorientierung nicht nur als eine Form der Erkenntnis versteht und (2) das menschliche Ausdrucksleben - und zwar sowohl das Ausdruckserleben im Gefühl als auch das Ausdrucksverhalten in seinen konkreten mimischen oder bildhaften Formen - noch vor aller geordneten Anschauung und vor allen ordnenden Begriffen als Fundament unserer Weltorientierung begreift.

2 Der Mythos als Ursprungs- und Übergangsphänomen der Kultur Und damit sind wir endlich beim Mythos in der Philosophie Cassirers. Für Cassirer gewinnt nämlich das menschliche Ausdrucksleben seine ursprüngliche Formung im Mythos. Das mythische Ausdrucksleben liefert den „gemeinsamen Mutterboden", von dem sich alle symbolischen Formen allmählich loslösen.7 Der Mythos ist für Cassirer „sozusagen die Urschicht des Bewußtseins und der tragende Grund für alle seine Leistungen". 8 5 6

7 8

PSF II, S. 187. Susanne K. Langer, Philosophy in a New Key. A Study in the Symbolism of Reason, Rite, and Art. 1942. Deutsche Übersetzung: Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst. Frankfurt am Main [Fischer] 1984. S M , S. 112. AH, S. 85.

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Im Unterschied zu den meisten anderen symbolischen Formen - wie der Sprache, der (wissenschaftlichen) Erkenntnis und der Technik - und am nächsten übrigens noch der Kunst bleibt die Religion in besonderer Weise dem Mythos verhaftet, weil sie Formen der emotionalen Weltorientierung zum Ausdruck bringt. Wie der Mythos - und wiederum die Kunst - rührt sie damit an die Tiefenstruktur der menschlichen Existenz. Denn „alles Denken wie alles sinnliche Anschauen und Wahrnehmen ruht auf einem ursprünglichen Gefühlsgrund."9 Der Mythos ist für Cassirer eine primäre Formung unserer stärksten Gefühle. [E]r ist Gefühl in Bild gewandelt. [...] Was bisher dunkel und undeutlich gefühlt wurde, nimmt nun eine bestimmte Gestalt an; was ein passiver Zustand war, wird ein aktiver Prozeß.10

Im Mythos, so kann man sagen, wird der bloß gefühlten Weltsituation des Menschen, so wie sie sich in seinem emotionalen Erfassen und Erfaßtwerden ereignet, eine expressive Form gegeben. Diese expressive Form ist eine „elementare Ausdrucksbewegung", mit der das Reich der symbolischen Formen, mit der die Kultur als Reich des Geistigen, geboren wird. Jede elementare Ausdrucksbewegung bildet [...] insofern eine erste Grenzscheide der geistigen Entwicklung, als sie noch völlig in der Unmittelbarkeit des sinnlichen Lebens steht und doch andererseits über diese bereits hinausgeht. 11

Dort, wo - wie etwa in der „Tabu-Mana-Formel", in der mythischen Beschwörung, die für Cassirer eine „primäre Interjektion des mythischen Bewußtseins" ist - „die sinnliche Erregung zum erstenmal einen Ausweg und einen Ausdruck sucht, steht der Mensch damit an der Schwelle einer neuen Geistigkeit."12 Die geistige Entwicklung, von der Cassirer hier spricht, ist nicht nur ein Bewußtseinsprozeß, sondern ein Prozeß der symbolischen Formbildung in dinglichen Werken. Cassirer besteht daher darauf, daß auch schon im Mythos - und nicht erst in den symbolischen Formen der Sprache, der Kunst oder der Religion 9 PSF II, S. 118. 10 MSD, S. 60; MS, S. 43. Im Mythos „werden Gefühle nicht einfach gefühlt. Sie werden ,intuiert'; sie werden ,in Bilder gewandelt'." (MSD, S. 66; MS, S. 47: „turned into images".) Im bloßen Ritus dagegen bleiben diese Gefühle noch „dunkle und vage Regungen". (MSD, S. 62, MS, S. 45: „dim and vague feelings".) 11 PSF I, S. 127. 12 PSF II, S. 99.

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Oswald Schwemmer unsere Gefühle nicht in bloße Akte umgewandelt [werden]; sie werden in ,Werke' umgewandelt. Diese Werke verschwinden nicht. Sie sind beharrlich und dauernd. Eine körperliche Reaktion kann uns nur eine schnelle und kurzfristige Erleichterung geben; ein symbolischer Ausdruck kann ein monumenturn aere perennius werden.13

Der Mythos, so kann man zusammenfassen, ist das Ursprungsphänomen der menschlichen Kultur. In ihm vollzieht sich der Übergang vom erlebten Ereignis zur erzeugten Form. In ihm wird der Mensch zum animal symbolicum. Als symbolisches Ursprungsphänomen ist der Mythos zugleich aber auch ein dialektisches Übergangsphänomen. Denn durch den Symbolisierungsprozeß entstehen mit den Symbolen Eigenwelten von Ausdrucksmöglichkeiten, die den Menschen in eine Differenz zu seinem ursprünglichen Ausdrucksleben bringen. Jeder neue Ausdruck wird dadurch im Prinzip zu einer Antwort auf bereits Ausgedrücktes. Indem etwas gesagt wird, setzt man sich in ein Verhältnis zu dem bereits Gesagten. Es entstehen damit die existentiellen Unterscheidungen von dem Geziemenden und dem, was sich nicht geziemt, und darüber hinaus über weitere Unterscheidungen zu der Unterscheidung zwischen dem sich vereinzelnden Ich und dem kollektiven Wir. Durch diese Unterscheidungen verliert der Mythos seine emotionale und expressive Ursprünglichkeit. Der Mythos, wenn er seiner eigenen Bewegungsrichtung folgt, kann nicht länger Mythos bleiben. Darin besteht für Cassirer die „Dialektik des mythischen Bewußtseins". 14 Und in diesem Zusammenhang behandelt Cassirer - zusammen mit der Kunst - das Thema der Religion. Will man den Zusammenhang zwischen Mythos und Religion nicht so sehr in seiner historischen Entwicklung, sondern vornehmlich in seiner systematischen Struktur erfassen, dann empfiehlt es sich, Cassirers eigener Verallgemeinerung zu folgen und in den verschiedenen Formen des Mythos verschiedene Formungen unseres Ausdruckslebens - und zwar unseres elementaren, existentiell bedeutsamen Ausdruckslebens zu sehen. Sowohl der Mythos als auch die Religion sind in einer solchen Perspektive als allgemeine Formen unserer Weltorientierung zu interpretieren. Mein eigener Versuch einer solchen Interpretation der Cassirerschen Sicht auf die Strukturen des Mythos und der Religion wird darin bestehen, jeweils eine Grammatik und eine Semantik des Mythos und der Religion zu erkennen und diese einander gegenüberzustellen. Dazu sind zunächst die elementaren Strukturen der mythischen Weltwahrnehmung und des in ihr sich bildenden Ausdruckslebens, d.i. die Situation des mythischen Bewußtseins, zu erfassen. 13 MSD, S. 65; MS, S. 46f. 14 So der Titel des Vierten (und letzten) Abschnitts in PSF II, S. 281ff.

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3 Die Grundsituation des mythischen Bewußtseins in einer Welt des Ausdruckslebens Vergegenwärtigen wir uns n o c h einmal der im M y t h o s erfaßten Grundsituation des Menschen, d.i. seiner Weltwahrnehmung und -Orientierung an der Schwelle zu seiner kulturellen Entwicklung. 3 . 1 Physiognomische W e l t w a h r n e h m u n g In ihrer ursprünglichsten F o r m - als „primitive" W a h r n e h m u n g , wie Cassirer sagt 1 5 - erfaßt die W a h r n e h m u n g die W e l t nicht als einen „Inbegriff von D i n g e n " , sondern als eine Vielfalt von Ausdrucks-Phänomenen, als eine Mannigfaltigkeit und Fülle ursprünglich ,physiognomischer' Charaktere. Die Welt hat, im ganzen wie im einzelnen, noch ein eigentümliches B e sicht', das in jedem Augenblick als Totalität erfaßbar ist, ohne daß es sich jemals in bloße allgemeine Konfigurationen, in geometrisch-objektive Linien und Umrisse, auflösen ließe. [...] Der Ausdrucks-Sinn haftet [...] an der Wahrnehmung selbst; er wird in ihr erfaßt und unmittelbar ,erfahren'. 16 W o der ,Sinn' der Welt noch als reiner Ausdruckssinn genommen wird, da weist jede Erscheinung in sich selbst einen bestimmten ,Charakter' auf, der aus ihr nicht bloß erschlossen oder gefolgert wird, sondern der ihr unmittelbar zukommt. 17 Das Erfassen von Ausdrucks-Sinn ist eine existentielle Relation. Auf der einen Seite ist es das Betroffenwerden von einer Situation, von einer „ G e s a m t e r s c h e i n u n g " , durch ihren Charakter des Lockenden oder Drohenden, des Vertrauten oder Unheimlichen, des Besänftigenden oder Furchterregenden, der in dieser Erscheinung, rein als solcher und unabhängig von ihrer gegenständlichen Deutung, liegt. 18 Dieses Betroffenwerden ist „die Gewißheit einer lebendigen 'Wirksamkeit, die wir e r f a h r e n " . 1 9 Es ist das Stehen in „physiognomisch" aus15 16 17 18

PSF III, S. 72. PSF III, S. 80. PSF III, S. 85. PSF III, S. 78. Vgl. dazu auch S. 85: „Sie [die Erscheinung, die noch in ihrem reinen Ausdruckssinn genommen wird - ] trägt in sich die Züge des Düsteren oder Heiteren, des Erregenden oder Sänftigenden, des Beruhigenden oder Furchteinflößenden. Als Ausdruckswerte und Ausdrucksmomente haften diese Bestimmungen den erscheinenden Inhalten selbst an; sie werden nicht erst auf dem Umweg über die Subjekte, die wir als hinter den Erscheinungen stehend ansehen, aus ihnen herausgelesen." 19 PSF III, S. 86.

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drucksvollen Wirkungslinien und -feldern, ein - auch im wörtlichen Sinne - Bewegtwerden von ihnen. 3.2 Dramatische Weltgliederung Auf der anderen Seite ist es die Gegenbewegung, die Reaktion, die mit dem Erfassen von Ausdruckssinn verbunden, die in ihm bereits angelegt ist. Unsere existentielle Situation 20 ist, noch vor aller distanzierten Weltwahrnehmung in der Form der Anschauung, ein Bewegtwerden und Bewegen, ein Berührtwerden und Berühren - letztlich ein Ausgesetztsein und ein sich dazu - irgendwie (und oft ratlos) - Verhalten. Ausdruck ist zunächst nichts anderes als ein Erleiden; ist weit mehr ein Ergriffenwerden als ein Ergreifen.21

Und der Mensch ist in dieser elementaren Situation des reinen Ausdruckslebens zwischen den mannigfachen Eindrücken von außen [...] gleichsam geteilt und [...] hin und her gerissen. Jeder von ihnen nimmt mit seinem Dasein das Ganze des menschlichen Bewußtseins in Anspruch und schlägt es in seinen Bann; jeder prägt ihm seine eigene Farbe und Stimmung auf.

Das Ich, das dieser Prägung „zunächst nichts entgegenzusetzen" hat, wird zum Spielball zwischen all den Ausdrucksmomenten, die sich ihm an bestimmten Einzelerscheinungen darbieten, und die es, plötzlich und ohne Widerstand, überfallen.22

„Wo das Leben noch ganz im Phänomen des Ausdrucks verharrt", da ist die „Welt" des Menschen ein Drama, in das er hineingestellt ist, in dem ihm Rollen zugewiesen sind und von ihm übernommen oder abgelegt werden. Die Welt wird ihm „zur Gesamtheit möglicher Ausdruckserlebnisse und gleichsam zu ihrer Bühne und ihrem Schauplatz". 23 3.3 Das Überwältigende des Ungewöhnlichen Damit ist für die mythische Wahrnehmung bereits eine physiognomische und eine dramatische Weltgliederung festgestellt, aber auch das 20 Cassirer nennt die Ausdrucksfunktion „eine wahrhaft allgemeine und gewissermaßen weltumspannende Funktion". PSF III, S. 95. 21 PSF III, S. 88. 22 PSF III, S. 106. 23 PSF III, S. 100.

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überwältigende Ergriffenwerden von dem, was als Ungewöhnliches, aus der Beherrschung des alltäglichen Lebens Hinausfallendes, erfaßt wird. Cassirer sieht es als „die Vorbedingung für alles mythische Denken und alles mythische Gestalten" an, daß solches Ergriffenwerden von einem übermächtig Erscheinenden in einem Augenblick sich - immer wieder ereignet: Wenn das Ich auf der einen Seite ganz einem momentanen Eindruck hingegeben und von ihm .besessen' ist, und wenn auf der anderen Seite die höchste Spannung zwischen ihm selbst und der Außenwelt besteht, wenn das äußere Sein nicht einfach betrachtet und angeschaut wird, sondern wenn es den Menschen jählings und unvermittelt, im Affekt der Furcht oder Hoffnung, im Affekt des Schreckens oder des befriedigten und gelösten Wunsches, überfällt, dann springt gewissermaßen der Funke über: die Spannung löst sich, indem die subjektive Erregung sich objektiviert, indem sie als Gott oder Dämon vor den Menschen hintritt. Hier stehen wir vor jenem mythischreligiösen Urphänomen, das Usener durch den Begriff und Ausdruck des ,Augenblicksgottes' festzuhalten versucht hat.24 Eine Bedingung für dieses Urphänomen ist bereits genannt. Es ist dies seine Ungewöhnlichkeit. Es ist, als ob sich durch die Isolierung des Eindrucks, durch seine Herausgehobenheit aus dem Ganzen der gewöhnlichen, der alltäglichen Erfahrung an ihm neben seiner gewaltigen intensiven Steigerung zugleich eine äußerste Verdichtung geltend machte und als ob kraft dieser Verdichtung nun die objektive Gestalt des Gottes resultierte, als ob sie aus ihr geradezu herausspränge.25

3 . 4 Die mythische Metamorphose In einer tieferen Schicht des mythischen Bewußtseins hat diese Bedingung ihren Grund in dem Charakterzug des mythischen Denkens, den Cassirer die mythische Metamorphose nennt. Die „Ausdruckswerte und Ausdrucksmomente" 2 6 der mythischen Erfahrung - also „die Züge des Düsteren oder Heiteren, des Erregenden oder Sänftigenden, des Beruhigenden oder Furchteinflößenden" 27 - besitzen, wie Cassirer in diesem Zusammenhang immer wieder betont, noch keine Stabilität. Vielmehr herrscht

24 25 26 27

SM, S. 103. SM, S. 104. Ebd. PSF III, S. 85.

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hier die ständige Möglichkeit der „ M e t a m o r p h o s e " , 2 8 des ,,jähe[n] und unvermittelte[n] U m s c h l a g [ s ] " , „als o b das ,Gesicht' der W e l t noch in einem rastlosen W a n d e l begriffen s e i " . 2 9 Es ist diese ständige Möglichkeit des jähen und unvermittelten Umschlags, der die Menschen mit allem Möglichen rechnen läßt, der ihnen das plötzliche Erscheinen des Ungewöhnlichen als ein schreckliches und faszinierendes Ereignis zur ständigen, wenn auch verdeckten Gegenwart ihres Lebens m a c h t . Die mythische M e t a m o r p h o s e definiert die Situation des mythischen Bewußtseins, die conditio humana a m Anfang der Kulturentwicklung.

4

Die Semantik des M y t h o s

Die Semantik des M y t h o s entsteht durch symbolische Projektionen aus dieser Situation heraus. Cassirer folgt bei der Explikation dieser Semantik seinem Schema von R a u m , Zeit, Z a h l und Ich - einem Schema, das er a u c h zur Analyse der anderen symbolischen F o r m e n anwendet. Die R e d e v o n einer symbolischen Projektion nimmt eine M e t a p h e r Susanne L a n g e r s auf. 3 0 M i t ihr soll der konstruktive C h a r a k t e r der Symbolisierung hervorgehoben und zugleich die K o n n o t a t i o n geometrischer O r d 28 Zur „mythischen Metamorphose" vgl. die „klassische" Stelle in PSF III, S. 71f.: „Der Mythos insbesondere zeigt uns eine Welt, die zwar keineswegs ohne Struktur, ohne immanente Gliederung ist, die aber die Gliederung der Wirklichkeit nach ,Dingen' und .Eigenschaften' noch nicht kennt. Hier weisen vielmehr alle Seinsgestaltungen noch eine eigentümliche »Flüssigkeit* auf; sie unterscheiden sich, ohne sich darum voneinander zu scheiden. Eine jede von ihnen ist gewissermaßen in jedem Augenblick bereit, sich in eine andere, scheinbar völlig entgegengesetzte zu wandeln. Die mythische ,Metamorphose' bindet sich an kein logisches Gesetz der ,Identität', - noch findet sie an irgendeiner feststehenden ,Konstanz' der Arten ihre Schranke. Für sie gibt es keine logischen Gattungen, keine Genera in dem Sinne, daß sie durch bestimmte unverrückbare Merkmale voneinander gesondert wären und für immer in dieser Sonderung beharren müßten. Vielmehr verschieben und verflüchtigen sich hier fort und fort all jene Grenzlinien, wie sie unsere empirischen Gattungs- und Artbegriffe zu ziehen pflegen. Ein und dasselbe Wesen geht nicht nur ständig in neue Formen über, sondern es enthält und verknüpft in sich, in ein und demselben Augenblick seiner Existenz, eine Fülle verschiedener, ja entgegengesetzter Seinsgestalten." 29 PSF III, S. 125. Ähnliche Formulierungen finden sich in PSF II, S. 51 („Transsubstantiation", „Verwandlung"), 61 („Metamorphose im Ovidischen Sinne"), 62,249 ( „Umwandlung" statt „ Schöpfung" ); PSF III, S. 83 ( „Der mythische Gestaltwandel zieht auch das „Ich" in seinen Kreis und hebt seine Einheit und Einfachheit auf."), 142 („Alles „Wirkliche" ist hier noch ineinander verwandelbar"). 30 Susanne K. Langer: Mind: An Essay on Human Feeling. Volume I (1967). Baltimore und London (The John Hopkins University Press) 5 1985, S. 67, 73-106, dort insbes. S. 103-105,128, 1 4 6 , 1 6 4 .

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nungsstrukturen genutzt werden: Das Erleben der mythischen Situation wird in Ordnungsverhältnissen dargestellt, die um wiederholbare Identifikationen und Distinktionen bemüht sind. Die Transformation 31 des Erlebens in eine Darstellung geschieht durch die Konstruktion ordnungsstiftender Symbole und erzeugt dadurch eine Welt der Symbole, die von da an als „Projektionsraum" für die Symbolisierung dienen. Allgemein gilt hier: Der Übergang von der Welt des unmittelbaren Sinneseindrucks zur vermittelten Welt der anschaulichen, insbesondere der räumlichen »Vorstellung' beruht darauf, daß sich in der fließend immer gleichen Reihe der Eindrücke die konstanten Verhältnisse, in denen sie stehen und nach welchen sie wiederkehren, allmählich als ein Selbständiges herausheben und sich eben hierdurch von den von Moment zu Moment wechselnden, schlechthin unbeständigen Sinnesinhalten charakteristisch unterscheiden. Diese konstanten Verhältnisse bilden nun das feste Gefüge und gleichsam feste Gerüst der ,Objektivität'.32 4 . 1 Orte des Heiligen und Profanen Eine erste symbolischen Projektion - und dies im wörtlichen Sinne - ist die Auszeichnung des besonderen Ortes, des Ortes der Epiphanie, der Erscheinung des Göttlichen. Wo immer das mythische Denken und das mythisch-religiöse Gefühl einem Inhalt einen besonderen Wertakzent verleiht, [...] da pflegt sich ihm diese qualitative Auszeichnung im Bilde der räumlichen Sonderung darzustellen. Jeder mythisch bedeutsame Inhalt, jedes aus der Sphäre des Gleichgültigen und Alltäglichen herausgehobene Lebensverhältnis, bildet gleichsam einen eigenen Ring des Daseins, ein umhegtes und umfriedetes Seinsgebiet, das sich durch feste Schranken gegen seine Umgebung abscheidet, und das in dieser Abscheidung erst zu einer eigenen, individuell-religiösen Gestalt gelangt.33 Die Grundunterscheidung, die durch diese Ortsauszeichnung entsteht, ist die zwischen dem Heiligen und dem Profanen. 31 Für Susanne Langer ist die symbolische Transformation - die ständige „Bildung von Symbolen", die eine „ursprüngliche Tätigkeit des Menschen" ist und aus dem „Grundbedürfnis [...] des Symbolisierens " entspringt und uns die Umformung des Erlebens in eine symbolische Darstellung erlaubt - die allgemeiner gefaßte und damit grundlegendere Symbolisierungstätigkeit des Menschen. Vgl. dazu Susanne K. Langer, Philosophie auf neuem Wege. A. a. O., S. 34-60, Zitate S. 49. (Erstveröffentlichung der amerikanische Originalausgabe 1942: Philosophy in a New Key. A Study in the Symbolism of Reason, Rite, and Art.) Vgl. dazu auch Susanne K. Langer: Mind: An Essay on Human Feeling. Volume I. A.a.O., S. 177f. 32 PSF II, S. 41. 33 PSF II, S. 128.

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Oswald Schwemmer [Jjeder Punkt, jedes Element besitzt hier gleichsam eine eigene „Tönung". Es haftet an ihm ein besonderer auszeichnender Charakter, der [...] als solcher unmittelbar erlebt wird. [...] [Im mythischen Anschauungsraum] ist jeder Ort und jede Richtung gleichsam mit einem besonderen Akzent versehen - und dieser geht überall auf den eigentlichen mythischen Grundakzent, auf die Scheidung des Profanen und des Heiligen zurück.34

Die Richtung dieser Ortsauszeichnung sieht Cassirer übrigens „überall von dem Gegensatz von Tag und Nacht, von Licht und Dunkel"3S bestimmt. Durch diese räumlichen Akzentuierungen erhält das menschliche Dasein insgesamt - und dies bis zu unseren heutigen „ Orientierungen" eine Akzentuierung, die ein Orientierungsschema für unsere Lebensverhältnisse im ganzen liefert: Der gesamte Reichtum und die gesamte Dynamik der mythischen Lebensformen beruht darauf, daß die ,Akzentuierung' des Daseins, die sich im Begriff des Heiligen ausspricht, sich voll auswirkt und daß sie fortschreitend immer neue Gebiete und Inhalte des Bewußtseins ergreift.36 4 . 2 Ursprungsgeschichten und Zeitgestalten Cassirer verbindet diese räumliche Semantik des mythischen Bewußtseins mit der These, daß die räumliche „Akzentuierung des Daseins" die primäre Orientierung des Menschen ist. Alle Orientierung in der Zeit setzt die Orientierung im Räume voraus [...]. 37 Die Orientierung in der Zeit, von der Cassirer spricht, ist eine Orientierung durch Geschichten. Der echte Mythos beginnt erst dort, wo nicht nur die Anschauung des Universums und seiner einzelnen Teile und Kräfte sich zu bestimmten Bildern, zu den Gestalten von Dämonen und Göttern formt, sondern wo diesen Gestalten ein Hervorgehen, ein Werden, ein Leben in der Zeit zugesprochen wird. [...] Durch seine Geschichte erst wird der Gott konstituiert - wird er aus der Fülle der unpersönlichen Naturgewalten herausgehoben und ihnen als ein eigenes Wesen gegenübergestellt.38 Das Geschehen des Mythos ist ein Geschehen aus einem Ursprung. Der Ursprung zeigt, was etwas oder wer jemand ist. 34 35 36 37 38

PSF II, S. 106; vgl. auch S. 118. PSF II, S. 119. PSF II, S. 100. PSF II, S. 132. PSF II, S. 129.

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Der wahre Charakter des mythischen Seins enthüllt sich erst dort, wo es als Sein des Ursprungs auftritt. Alle Heiligkeit des mythischen Seins geht zuletzt in die des Ursprungs zurück. Sie haftet nicht unmittelbar am Inhalt des Gegebenen, sondern an seiner Herkunft [...] Die Vergangenheit selbst hat kein ,Warum' mehr: sie ist das Warum der Dinge.3' Diese Orientierung ist eine konkrete Orientierung an bestimmten „Zeitgestalten": Für den Mythos gibt es keine Zeit, keine gleichmäßige Dauer und keine regelmäßige Wiederkehr oder Sukzession ,an sich', sondern es gibt immer nur bestimmte inhaltliche Gestaltungen, die ihrerseits bestimmte ,Zeitgestalten', ein Kommen und Gehen, ein rhythmisches Dasein und Werden offenbaren. Hierdurch wird das Ganze der Zeit durch gewisse Grenzpunkte und gleichsam durch bestimmte Taktstriche in sich abgeteilt [...] Insbesondere alles religiöse Tun des Menschen zeigt eine derartige rhythmische Gliederung.40 Die rhythmische Gliederung der Zeit entwickelt sich mit einem „Phasengefühl" 4 1 , das die Zeit „im Bilde des Lebens" 4 2 , und zwar im Bilde von Lebensabschnitten erfaßt. Die religiöse Sonderung der einzelnen Lebensabschnitte, die durch diese Riten bewirkt wird, ist oft so scharf, daß durch sie geradezu die Kontinuität des Lebens aufgehoben wird. Es ist eine weitverbreitete [...] Vorstellung, daß der Mensch, indem er von dem einen Lebenskreis in einen anderen übergeht, in jedem von ihnen als ein anderes Ich erscheint [...] 43 Zugleich entwickeln sich aus diesem Phasengefühl eine rituelle Gliederung der Zeit und bestimmte Zeitformen der Erzählung. 4 . 3 Zahl und mythisches Selbstgefühl Die Semantik der Zahl verknüpft sich im mythischen Bewußtsein mit der Semantik des Ich oder des Selbst.44 Denn die Zahl hat mit der Un39 40 41 42 43 44

PSF II, S. 130. PSF II, S. 133. PSF II, S. 134, 136. PSF II, S. 136. PSF II, S. 134f. „Nicht ausschließlich an der Wahrnehmung der äußeren Dinge oder an der Beobachtung des Ablaufs des äußeren Geschehens reift das Bewußtsein der Zahl heran - sondern eine seiner stärksten Wurzeln liegt in jenen Grundunterscheidungen, zu denen das subjektiv-persönliche Dasein, zu denen das Verhältnis des Ich, Du und Er hinführt." (PSF II, S. 181.) - „Wie unter einer leichten Hülle schimmert häufig unter der spekulativen Dreiheit von Vater, Sohn und Geist noch die natürliche Dreiheit von Vater, Mutter und Kind hindurch [...] jene eigentümliche Magie

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terscheidung von dem Einen zu dem Anderen zu tun. Und dadurch daß das Andere ein Lebendiges, ein mich Berührendes und auf mich Wirkendes, ein physiognomisch Präsentes ist, ist das Andere das schlechthin Unterschiedene, ein Zweites, zu dem ich das Erste bin, oder ein Erstes, zu dem ich das Zweite bin. Dabei ist allerdings zu sehen, daß im Mythos als dem Lebens- und Denkbereich des miteinander verbundenen Lebendigen ein Selbstgefühl im Sinne des Bewußtseins persönlicher Individualität noch nicht entwickelt werden kann. Das allgemeine Lebensgefühl kann sich zum Gemeinschaftsgefühl ausformen, nicht aber dieses Gemeinschaftsgefühl in ein individuelles Selbstgefühl weiterbilden. In den ersten Stadien [des mythischen Bewußtseins und des religiösen Gefühls] [...] finden wir das Selbstgefühl überall noch unmittelbar verschmolzen mit einem bestimmten mythisch-religiösen Gemeinschaftsgefühl. Das Ich fühlt und weiß sich nur, sofern es sich als Glied einer Gemeinschaft faßt, sofern es sich mit anderen zur Einheit einer Sippe, eines Stammes, eines sozialen Verbandes zusammengeschlossen sieht.45

5 Die Identitätsgrammatik des Mythos Unter der Grammatik des Mythos soll das Prinzip bzw. sollen die Prinzipien verstanden werden, die das Mythische am Mythos erzeugen. Versucht man, dieses Mythische durch nur ein Prinzip zu bestimmen, dann kann man ein Identitätsdenken des mythischen Bewußtseins ausmachen, das sich in mehreren Aspekten zeigt. 5.1 Die Identität von Symbol und Symbolisiertem Da ist zum einen die Identität von Symbol und

Symbolisiertem.

Wo wir ein Verhältnis der bloßen ,Repräsentation' sehen, da besteht für den Mythos [...] ein Verhältnis realer Identität. Das ,Bild' stellt die ,Sache' nicht dar - es ist die Sache; es vertritt sie nicht nur, sondern es wirkt gleich ihr, so daß es sie in ihrer unmittelbaren Gegenwart ersetzt. [...] In allem mythischen Tun gibt es einen Moment, in dem sich eine wahrhafte Transsubstantiation - eine Verwandlung des Subjekts dieses Tuns in den Gott oder Dämon, den es darstellt, vollzieht.46 der Zahl, die sie als eine Grundmacht im Reich des Geistes und im Aufbau des Selbstbewußtseins der Menschheit erscheinen läßt. Sie beweist sich als das Bindemittel, durch das die verschiedenen Grundkräfte des Bewußtseins sich zum Ineinander fügen, durch das die Kreise der Empfindung, der Anschauung und des Gefühls sich zu einer Einheit zusammenschließen." (PSF II, S. 182.) 45 PSF II, S. 209. 46 PSF II, S. 51.

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Kurz: [D]er Tänzer ist der Gott, wird zum Gott. 47

5.2 Die Identität von Grund und Begründetem Mit dieser Identität von „Bild" und „Sache" ist ein weiterer Aspekt des Identitätsdenkens verknüpft, die Identität von Grund und Begründetem, von Ursache und Wirkung, nämlich in der ,,bloße[n] Hingabe an den Eindruck selbst und seine jeweilige ,Präsenz'. Dem Bilde der Realität, das auf diese Weise entsteht, fehlt somit gleichsam die Tiefendimension - die Trennung von Vordergrund und Hintergrund, wie sie sich im empirisch-wissenschaftlichen Begriff, in der Scheidung des ,Grundes' vom ,Begründeten', in so charakteristischer Weise vollzieht.49 5.3 Das „Ineinander" der Dinge Und schließlich gehört zu diesem Identitätsdenken das „Ineinander" der Dinge: [Der Mythos ersetzt in bezug auf die Dinge] ihr sinnliches Aus- und Nebeneinander durch eine ihm eigentümliche Form des ,Ineinander'. Das Ganze und seine Teile sind ineinander verwoben, sind gleichsam schicksalsmäßig miteinander verknüpft - und sie bleiben es, auch wenn sie sich rein tatsächlich von einander gelöst haben. [...] Die gesamte ,Phänomenologie der Magie' geht [...] auf diese eine Grundvoraussetzung zurück [...]. 5 0

Dieses „Ineinander" der Dinge läßt die Magie auf einen Zusammenhang durch Sympathie wirken, als die Beschwörung einer durchgängige[n] Verknüpfung [...] zwischen allem, was durch räumliche Nachbarschaft oder durch seine Verbundenheit zu demselben dinglichen Ganzen noch so äußerlich als zusammengehörig' bezeichnet wird.51

Wirken ist in diesem Sinne immer ein Fall von Konkreszenz oder Koinzidenz, von Zusammenwachsen oder Zusammenfallen in der Verknüpftheit des Seins. Aus diesem Identitätsdenken ergibt sich auch der besondere magische Wortgebrauch: 47 48 49 50 51

PSF II, PSF II, PSF II, PSF II, Ebd.

S. S. S. S.

52. 47. 48. 67.

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Oswald Schwemmer [D]as W o r t und der Name bezeichnen und bedeuten nicht, sondern sie sind und wirken. Schon der bloßen sinnlichen Materie, aus der die Sprache sich bildet, schon jeder Äußerung der menschlichen Stimme als solcher wohnt eine eigentümliche Macht über die Dinge inne. 52

Cassirer nennt im Myth of the State die Ersetzung des semantischen durch einen solchen magischen Wortgebrauch eines der Charakteristika für die „Technik des M y t h o s " , die der Nationalsozialismus einsetzte, um das kollektive Bewußtsein manipulieren und möglichst total kontrollieren zu können. 5 3

6 Die Differenzgrammatik der Religion 6.1 Objektivierung Sucht man nach strukturellen Unterschieden zwischen Religion und Mythos, so fällt als erstes die unterschiedliche Grammatik von Religion und Mythos ins Auge. Im Unterschied zum Identitätsdenken des mythischen Bewußtseins weist die Religion wie alle anderen symbolischen Formen, die sich aus dem „Mutterboden" des Mythos allmählich loslösen, als ein charakteristisches Strukturmerkmal eine Differenz zwischen Ich und Wirklichkeit auf. M a n kann die verschiedenen symbolischen Formen durch die besondere Form dieser Differenz geradezu definieren. Allen gemeinsam ist aber, daß sie gegenüber dem Mythos Formen der Rationalität verkörpern. Besteht doch für Cassirer Rationalität im Kern darin, daß mit ihr eine Objektivierung - welcher Form auch immer erreicht wird. Objektivierung bzw. Vergegenständlichung heißt Vermittlung: Das Ich geht nicht mehr in der Gegenwart seines Tuns oder Erlebens, seines Wahrnehmens oder Wollens, seiner Eindrücke und seines Ausdrucks auf, sondern sieht dies alles als etwas, das ihm gegenübersteht und zu dem es sich daher verhalten kann. Durch diese Objektivierung seines unmittelbaren Lebens und Erlebens wird dem Ich die Möglichkeit eröffnet, sich zu verselbständigen und letztlich zu der „freien Persönlichkeit" zu werden, die Cassirer als das Ziel des menschlichen Bildungsprozesses ansieht. 54

52 PSF II, S. 53. 53 MS, S. 368-370; MSD, S. 282-284. Vgl. dazu mein Buch Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne. Berlin [Akademie Verlag] 1997, S. 167. 5 4 „Sie [die freie Persönlichkeit] ist nur dadurch Form, daß sie sich selbst ihre Form gibt, und deshalb dürfen wir in ihr [...] nicht lediglich eine Schranke sehen, sondern wir müssen sie als eine echte und ursprüngliche Kraft erkennen und anerken-

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7 Operative und ideative symbolische Formen Der Prozeß der Objektivierung und damit der Kulturentwicklung läßt sich mit einer Unterscheidung verdeutlichen, die Cassirer selbst nur andeutet, nicht aber auch ausführt. Ich möchte diese Unterscheidung als die zwischen operativen und ideativen symbolischen Formen entwickeln. Die operativen symbolischen Formen entwickeln sich aus einer objektivierenden Handlungsform. Cassirer nennt diese objektivierenden Handlungsformen „Prozesse des Heraus-Stellens", des „Ex-sistere": Die objektive ,Existenz' der Gegenstände (als ,Gegenstände', als selbständiger ,Dinge') beruht auf einem solchen Prozess des Heraus-Stellens, des exsistere[.] - [...] [Es gibt] 3 Grunddimensionen dieses ex-sistere in der menschlichen] Kultur[:] a) Sprache b) Werkzeug c) bildende Kunst[.] 55

Mit den operativen symbolischen Formen wird sozusagen die praktische Grundlage der Objektivierung bzw. der Rationalität geschaffen, die dann in den ideativen symbolischen Formen durch besondere Denk formen interpretiert wird. Beispiele für solche Denkformen sind grundlegende Wirklichkeitsaufteilungen wie die zwischen Gott und Welt in der Religion oder die zwischen gesetzlich Geordnetem und ungeordnet Zufälligem in der (naturwissenschaftlichen) Erkenntnis. Damit diese ideativen symbolischen Formen sich ausbilden können, müssen die operativen symbolischen Formen bzw. die ihnen zugrunde liegenden Handlungsformen bereits entwickelt sein. Religion kann sich also nicht für sich selbst aus dem Mythos zu einer eigenen symbolischen Form ablösen, sondern sie bedarf dazu der Vermittlung von Sprache, Werkzeug und Kunst. 7.1 Wort, Werkzeug, Werk Der dreifachen Vermittlung entspricht eine dreifache Veränderung des mythischen Identitätsdenkens und damit auch der Grammatik des Mythos. Das Wort der Sprache, das Werkzeug der Technik und das Werk der Kunst erzeugen drei Zwischen-Welten, drei Medien, die als nen. Das Allgemeine, das sich uns im Bereich der Kultur, in der Sprache, in der Kunst, in der Religion, in der Philosophie enthüllt, ist daher stets zugleich individuell und universell. Denn in dieser Sphäre läßt sich das Universelle nicht anders als in der Tat der Individuen anschauen, weil es nur in ihr seine Aktualisierung, seine eigentliche Verwirklichung finden kann." (NHBK in EBK, S. 249f.) Vgl. dazu auch in meinem Buch Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne. A.a.O., S. 143-183. 55 ECN 1, S. 257.

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Projektionsflächen der Artikulation und damit des Gestaltens dienen und unsere Artikulation zugleich zu einer neuen, diesen Zwischen-Welten sich einbürgernden Form zwingen. Die religiöse Artikulation wird dadurch zu einer objektivierenden Transformation der mythischen Semantik. Zugleich bleibt sie aber in ihrem Ausdruckssinn - und dies macht ihren besonderen Charakter als eine eigene symbolische Form aus - als eine Artikulation der existentiellen Situation des Menschen, wie sie schon im mythischen Bewußtsein artikuliert wird, der Semantik des Mythos zuinnerst verbunden. 7.2 Die Objektivierung durch das Wort in der Sprache Eine erste grammatische Veränderung gegenüber dem Mythos findet in der Religion durch die Umwandlung der Sprachfunktion statt. Die sprachliche Objektivierung besteht darin, das Wort nicht mehr - wie im magischen Wortgebrauch - unmittelbar mit einer Wirkung zu verknüpfen, sondern es - in einem semantischen Wortgebrauch - als (ausdrükkende, darstellende und rein bedeutende) Bezeichnung zu verwenden. Aus der magischen Beschwörung kann so das religiöse Gebet im Sinne eines Gespräches mit Gott werden. 7.3 Die Objektivierung durch das Werkzeug in der Technik Schwieriger zu fassen ist die grammatische Veränderung, die durch die Objektivierung der Technik herbeigeführt wird. Auch durch die Technik wird eine neue Mittelbarkeit des Denkens erzeugt: Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, daß in dem Übergang zum ersten Werkzeug nicht nur der Keim zu einer neuen Wehbeherrschung liegt, sondern daß hier auch eine Weltwende der Erkenntnis einsetzt. In der Weise des mittelbaren Handelns, die jetzt gewonnen ist, gründet und festigt sich erst jene Art von Mittelbarkeit, die zum Wesen des Denkens gehört. [...] Das Werkzeug [...] stellt sich zwischen den ersten Ansatz des Willens und das Ziel - und es gestattet in dieser Zwischenstellung erst, beide voneinander zu sondern und in die gehörige Distanz zu setzen.56

Im Grund wird damit die semantische Objektivierung der Sprache, so scheint es, noch einmal bestätigt. Tatsächlich sieht Cassirer das Verhältnis aber umgekehrt. Die Technik bestätigt nicht die Mittelbarkeit der Sprache, sondern sie begründet sie überhaupt erst. Die semantische Objektivierung ist die sprachliche Vergegenwärtigung der Mittelbarkeit 56 FT, S. 61.

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unseres Weltverhältnisses, die in der Technik, im Werkzeuggebrauch geschaffen worden ist. 57 Erst durch die Technik wird der magische Wortgebrauch, der Wortzauber und die Beschwörung, überwunden. Denn in dem Augenblick, in dem der Mensch auf die Dinge, statt durch bloßen Bild- oder Namenszauber, durch Werkzeuge einzuwirken sucht, ist für ihn [...] eine geistige Scheidung, eine innere ,Krisis' eingetreten. Die Allmacht des bloßen Wunsches ist jetzt gebrochen: das Tun steht unter bestimmten objektiven Bedingungen, von denen es nicht abweichen kann. [...] Es sondert sich ein fester Kreis von ,Gegenständen' heraus, die eben dadurch bezeichnet sind, daß sie in sich selbst einen eigentümlichen Bestand haben, mit dem sie dem unmittelbaren Verlangen und Begehren ,entgegenstehen'. [...] Aus der Mittelbarkeit des Wirkens resultiert erst die des Seins [...] 58 Und Cassirer pointiert diesen Primat der Technik gegenüber der Sprache auch dadurch, daß er im Werkzeuggebrauch die eigentliche Quelle der geistigen Existenz des Menschen sieht, die ihn vom Tier unterscheidet. Im Werkzeug und seinem Gebrauch [...] wird gewissermaßen zum ersten Male das erstrebte Ziel in die Ferne gerückt. Statt wie gebannt auf dieses Ziel hinzusehen, lernt der Mensch von ihm,abzusehen' - und eben dieses Absehen wird zum Mittel und zur Bedingung seiner Erreichung. Diese Form des Sehens ist es erst, die das ,absichtliche' Tun des Menschen von dem tierischen Instinkt scheidet. Die ,Ab-Sicht' begründet die ,Voraus-Sicht'; begründet die Möglichkeit, statt auf einen unmittelbar gegebenen Sinnenreiz hin zu handeln, die Zielbestimmung auf ein räumlich Abwesendes und zeitlich Entferntes zu richten. Nicht weil das Tier an körperlicher Geschicklichkeit hinter dem Menschen zurücksteht, sondern weil ihm diese eigentümliche Blickrichtung versagt ist, gibt es im Bereich tierischen Daseins keinen eigentlichen Werkzeuggebrauch.59 Mit der Objektivierung der Technik wird die sprachliche Objektivierung praktisch fundiert. Gleichwohl gibt es auch für die Technik ein Phänomen des mythischen Bewußtseins, das sie unmittelbar transformiert: die Magie und die magischen Elemente des Ritus. Aus der Magie wird eine menschliche Vorbereitung auf Gottes Gnade, möglicherweise auch eine Vorleistung oder die Schaffung einer Vorbedingung: die Beachtung der kultischen Vorschriften, das Opfer, die Askese, die gottge57 Tatsächlich zeigt sich hier die bereits erwähnte und von Cassirer immer wieder hervorgehobene Gründung des Seins im Tun. (Vgl. dazu in meinem Buch Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne. A.a.O., S. 27-30.) 58 PSF II, S. 256. 59 FT, S. 61.

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fällige Lebensführung, die guten Werke und ähnliches gehören zu diesen transformierten Handlungsformen. 7.4 Die Objektivierung durch das Werk in der Kunst Eine besondere Rolle für für Cassirer die Kunst meist von der bildenden Plastik. Denn erst durch wickeln.

die religiöse Transformation des Mythos spielt er spricht in diesem Zusammenhang übrigens Kunst und insbesondere von der griechischen die Kunst kann der Mensch ein Ichgefühl ent-

Erst die Kunst ist es gewesen, die, indem sie dem Menschen zu seinem eigenen Bilde verhalf, gewissermaßen auch die spezifische Idee des Menschen als solche entdeckt hat. In der plastischen Darstellung der Götter läßt sich die Entwicklung, die sich hier vollzogen hat, fast Schritt für Schritt verfolgen. [...] Die griechische Plastik [...] vollzieht hier den scharfen Schnitt: sie dringt in der Formung der reinen Menschengestalt zu einer neuen Form des Göttlichen selbst und seines Verhältnisses zum Menschen durch. Und kaum minder stark als die bildende Kunst hat die Dichtung an diesem Prozeß der Vermenschlichung und Individualisierung Anteil.60 In der „Autonomie des Ästhetischen", mit der „die Darstellung der Gestalt [...] zum Selbstzweck" wird, wird „zugleich eine neue Autonomie des Menschlichen erreicht." Der menschliche Leib gelangt in der Beseelung, die ihm durch die künstlerische Formung zu Teil wird, zu einem neuen Sinn und einer neuen Würde. Er allein erscheint jetzt als das reine Medium der Sichtbarkeit des Göttlichen. Das Götterbild trägt fortan nicht mehr in bunter Mischung halb-tierische, halb-menschliche Züge; es kann den Gott, sofern er überhaupt der Verkörperung fähig ist, nicht anders als in menschlicher Form sich offenbaren lassen. [...] Indem die bildende Kunst dem Menschen erst zur vollen Sichtbarkeit des eigenen Leibes verhilft, indem sie diesen Leib in klarem und bestimmtem Umriss herausmeisselt, löst sich damit erst das spezifisch-menschliche Ichgefühl aus der Sphaere des allgemeinen mythischen Lebensgefühls heraus. 61 Und Cassirer weist in diesem Zusammenhang auch auf die vermenschlichende und individualisierende Funktion der zeitlichen Darstellung hin: Und im gleichen Sinne wie die räumliche Begrenzung wirkt hier die zeitliche Grenzsetzung. Erst wenn der Mensch seine Vergangenheit von seiner Gegenwart abscheidet, wenn er beide von einander gesondert und nichtsdestoweni60 PSF II, S. 234. 61 ECN 1, S. 89f.

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ger aufs innigste in einander verwoben erblickt, ersteht ihm in solcher Verknüpfung und Trennung ein Bild geschichtlichen Seins und ein Bild seiner selbst als ,Subjekt' der Geschichte. 62

Die „zeitliche Grenzziehung", d.i. die prägnante Ausformung des vielstimmigen und ineinander verwobenen Geschehens zur einer Geschichte, schafft die „Tiefendimension" der Gründe und Ursachen oder auch nur der Impulse und Motive, die dem Mythos fehlt. Dabei geht die Individualisierung aber über die Sichtbarkeit des Leibes hinaus. Sie führt zum Verständnis einer individuellen Persönlichkeit über dessen Biographie und ist in diesem Sinne eine sekundäre Individualisierung, die auf der primären „Vermenschlichung und Individualisierung" durch die Sichtbarkeit gründet. Nur diese primäre Individualisierung soll hier betrachtet werden. Zwei Dinge kommen in der Kunst für Cassirer zusammen, um den „Prozeß der Vermenschlichung und Individualisierung" 63 zustande kommen zu lassen. Einmal geht es um die Individualisierung durch die sinnliche Qualität der „vollen Sichtbarkeit des eigenen Leibes", 64 durch die „in sich geschlossene Gestalt", durch den „bestimmten plastischen Umriß", der erst „die Gewähr der Vollendung" bietet.65 Damit wird die gestalterische Durchformung, die vollständige Ein-Bildung des Göttlichen in die sinnliche Sphäre des Sichtbaren - oder sonstwie Wahrnehmbaren - zum wesentlichen Moment der Individualisierung erklärt. Denn mit dieser vollständigen „Versinnlichung" des mythischen Sinnes in einem konkreten Hier und Jetzt seiner Darstellung - nicht seiner Anwesenheit! - wird das Göttliche zu einem konkreten Moment in einer konkreten Erfahrungswelt. In dieser individualisierenden Konkretion zeigt sich auch schon das zweite, das vermenschlichende Moment. Denn in die menschliche Erfahrungswelt hineingezogen, verliert das Göttliche im Prinzip den Charakter des Überwältigenden, Jenseitigen und Unbegreiflichen. Oder anders gewendet: Es nimmt nur an dem Überwältigenden, Andersartigen und Unbegreiflichen teil, das wir auch im diesseitigen Leben erleben können. Das sichtbar dargestellte Göttliche ist das Göttliche unter uns, 62 63 64 65

Ebd. PSF II, S. 234. ECN 1, S. 89f. PSF II, S. 236: „Die künstlerische Anschauung aber erblickt im individuellen Dasein nicht sowohl diese Vereinzelung als vielmehr die Besonderung, die Zusammenfassung zu einer in sich geschlossenen Gestalt. Für sie ist erst der bestimmte plastische Umriß die Gewähr der Vollendung. Die Vollendung selbst verlangt die Endlichkeit, so wahr sie feste Bestimmung und Begrenzung verlangt."

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das Göttliche hier und jetzt: allerdings - wie noch zu zeigen sein wird nicht in einem Hier und Jetzt der realen Existenz oder des wirklichen Anwesendseins, sondern im Hier und Jetzt der symbolischen Repräsentation oder der Verweisung. Es ist so die - individualisierende und vermenschlichende - Darstellungsleistung der Kunst, die dem Menschen sein Selbstgefühl im Sinne eines individuellen Ichs finden läßt. Die Objektivierung der Kunst besteht daher darin, das Ich aus seiner Gemeinschaft, letztlich aus der Gemeinschaft alles Lebendigen herausgelöst und es als ein selbständig handelndes Subjekt seiner Welt gegenübergestellt zu haben. Denn das Ich, das eigentliche ,Selbst' des Menschen findet sich erst auf dem Umweg über das göttliche Ich. Indem der Gott aus der Gestalt des bloßen Sondergottes [...] in die Gestalt des persönlichen Gottes übergeht, bedeutet dies einen neuen Schritt auf dem Wege zur Anschauung der freien Subjektivität schlechthin.66

7.5 Die Differenz der Repräsentation Zugleich mit der Differenz zwischen Selbst und Welt wird durch die Kunst auch die Differenz zwischen „Bild" und „Sache" erzeugt und damit das Identitätsdenken des mythischen Bewußtseins endgültig aufgelöst. Denn die vermenschlichende Darstellung des Göttlichen und dadurch die Vergöttlichung des Menschen sind nur möglich im Bewußtsein von Darstellung, von der Repräsentation des Einen durch das Andere. Der Tänzer ist nicht mehr Gott, er stellt ihn dar. Gott ist nicht als oder im Tänzer anwesend. Durch den Tänzer oder den Priester werden wir auf Gott verwiesen. Der Tänzer existiert nicht mehr als Gott, er repräsentiert ihn. Die Situation, die im Mythos artikuliert wird, ist das Eingebundensein in eine Welt lebendiger Ausdrucksereignisse. Einige dieser Ereignisse sind für den mythischen Menschen überwältigend und werden als Erscheinung des Göttlichen erfaßt. Von diesen Ereignissen aus werden die Gliederungen der Welt und des Lebens in ihr entwickelt und ergibt sich die „Akzentuierung des Daseins", die dem mythischen Menschen zu seinen grundlegenden Orientierungen verhilft. In der religiösen Artikulation wird die mythische Unmittelbarkeit aufgehoben. Insbesondere durch die Individualisierung und Vermenschlichung in der Kunst wird aus dem völligen Ergriffen- und Besessenwerden eine Begegnung mit Gott, in der der Mensch durchaus ein eigenständiges Selbst besitzt.

66 PSF II, S. 245.

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Aus dem Göttlichen wird ein Gott: aus der Sphäre wird eine Person, aus dem Es wird ein Du, aus dem Ursprung wird ein Schöpfer,67 aus dem anwesenden Göttlichen wird ein jenseitiger Gott, der nur noch in Boten oder Zeichen anwesend ist. 7.6 Das Bewußtsein des eigenen Tuns und das Selbstgefühl Diese Transformation hat zwei Wurzeln. Eine ist das Bewußtsein des eigenen Tuns und Wirkens, das „die reine Energie des Tuns als solche" erfaßt und sie sich selbst zurechnen kann. Dadurch, daß das Ich sich in der Vermittlung durch das Werkzeug und das Wort überhaupt als etwas erfassen kann, was seiner Welt gegenübersteht, kann es sich nun auch als Autor oder Subjekt seines Tuns begreifen: Das Ich weiß und erfaßt sich jetzt [...] als konkrete, mit sich identische Einheit, die alle verschiedenen Richtungen des Tuns miteinander verknüpft und zusammenhält. 6 8

Die andere Wurzel ist das „Selbstgefühl und Selbstbewußtsein", das der Mensch durch das Werk, über seine Gestaltung der Götterbilder und die Sichtbarmachung seiner selbst gewinnt. Denn der Mensch überträgt nicht einfach seine eigene, fertig-ausgestaltete Persönlichkeit auf den Gott und leiht diesem nicht schlechthin sein eigenes Selbstgefühl und Selbstbewußtsein: sondern die Gestalt seiner Götter ist es, an der er dieses Selbstbewußtsein erst findet. Durch das Medium der Gottesanschauung gelangt er dazu, sich selbst als tätiges Subjekt vom bloßen Inhalt des Tuns und von dessen dinglichem Ertrag loszulösen. 6 '

8 Die religiöse Semantik Diese, das personalisierende und das schöpferische Tun hervorhebende, Transformation hebt die mythische Semantik nicht auf - und wenn, 67 „Das Sein als Ganzes unter die Kategorie der Schöpfung zu stellen, ist eine für den Mythos zunächst unvollziehbare Forderung. Wo immer er von der Entstehung der Dinge, von der Geburt des Kosmos spricht, da faßt er diese Geburt als bloße Umwandlung. Immer wird ein bestimmtes, zumeist durchaus sinnlich vorgestelltes Substrat vorausgesetzt, von dem das Werden ausgeht und an dem es vonstatten geht." (PSF II, 249.) 68 PSF II, S. 246. 69 PSF II, S. 253. Vgl. dazu auch PSF II, S. 267: „[D]ie wachsende Selbständigkeit der Götter ist die Bedingung dafür, daß der Mensch in sich selber, gegenüber der auseinanderfließenden Mannigfaltigkeit der einzelnen sinnlichen Triebe, einen festen Mittelpunkt, eine Einheit des Wollens entdeckt."

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dann nur im Hegeischen Sinne des Wortes - , sondern versetzt sie in eine andere Tonart. Es bleiben die Orte des Heiligen und die Reiche des Profanen, es bleibt die Akzentuierung unseres Daseins durch die Orientierung an solchen Orten, es bleiben die rhythmischen Gliederungen unseres Lebens und die großen Erzählungen, es bleiben schließlich auch die Grundunterscheidungen zwischen dem Selbst und dem Anderen, dem Fremden und dem Eigenen. Was sich aber verändert, ist der Grundcharakter dieser Orte, Orientierungen, Gliederungen, Erzählungen und Unterscheidungen überhaupt. Sie sind nicht mehr einfachhin die Wirklichkeit, sondern sie zeigen etwas an, verweisen auf etwas, das sie nicht schon aus sich heraus sind. Es sind symbolische Orte, die auch anderswo das Heilige anzeigen können. Es sind symbolische Orientierungen, deren Richtung im Raum verändert werden kann, ohne sie selbst zu verändern. Es sind symbolische Gliederungen, deren physische Phasen variiert werden können. Es sind symbolische Erzählungen, die eher wie Gleichnisse und so gut wie nie als Berichte über tatsächlich Geschehenes behandelt werden. Das Göttliche des Mythos wird dadurch zum Gott der Religion, daß es eine symbolische Existenz gewinnt.

9 Kosmische und personale Interpretation des Geschöpflichen Die religiöse Beziehung zwischen Gott und Mensch ist eine Beziehung nicht mehr zwischen Ursache und Hervorgebrachtem, sondern zwischen Schöpfer und Geschöpf. Diese Beziehung ist von einer grundlegenden Ambivalenz durchdrungen. So kann das Geschöpf ein Teil der Schöpfung im Ganzen sein, ein Glied im Kosmos, das in diesem Kosmos immer wieder und überall die Gegenwart des Schöpfers aufspüren kann. Es kann aber auch ein Partner Gottes in der Schöpfung sein, der - als eine Person wie Gott - womöglich für die übrige Schöpfung in der Art eines Verwalters verantwortlich ist - gemäß dem biblischen Auftrag, nicht nur fruchtbar zu sein und sich zu mehren, sondern auch, sich die Erde Untertan zu machen. 70 Die kosmische Interpretation des Geschöpflichen bleibt eingebunden in die sinnliche Welt der Dinge und Bilder, ist welthaltig und von Konkretismen durchsetzt. Sie realisiert sich in einer ästhetischen Weltsicht. Die personale Interpretation des Geschöpflichen löst sich dagegen aus dieser sinnlichen Welt und sieht in der geistigen Welt, wie sie durch die Beziehungen zwischen Personen erzeugt wird, die wahre Wirklichkeit. Diese geistige Welt der Personenverhältnisse artikuliert sich in der 70 Genesis 1, 27f.

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abstrakten Strenge von Anerkennung und Verpflichtung, von Verantwortung und Dienst. Durch die sinnliche Welt der Bilder wird sie eher gestört oder „verunreinigt". Sie realisiert sich in einer ethischen Weltsicht. 1 0 Sakramentalismus und Prophetismus In den historischen Ausformungen der Religion wird die kosmische Interpretation durch „sakramentale" Religionsformen verkörpert, in denen die Dinglichkeit von Zeichen, konkrete Handlungs- oder Ereignismuster und Bilder eine zentrale religiöse Funktion besitzen. In Anlehnung an Cassirers Bemerkung über „den ständigen Kampf zwischen dem geschichtlichen Ursinn der ,Symbole', nach dem sie noch ganz als ,Sakramente' und ,Mysterien' erscheinen und ihrem abgeleiteten, rein ,geistigen' Sinn" 71 kann man in diesen Religionsformen eintnSakramentalismus sehen. Ein solcher Sakramentalismus bewahrt, wie Cassirer dies dem Christentum bescheinigt, eine „mythische ,Bodenständigkeit'". 72 Demgegenüber finden wir in den personalen und ethischen Religionsformen eine Ablehnung dinglicher, konkreter und bildhafter Elemente bis hin zum Bilderverbot. Cassirer analysiert diese Religionsformen als einen Prophetismus, der die sittliche Umkehr fordert und den Menschen aus der Zerstreutheit seines alltäglichen Lebens herausreißen will. Die prophetische Welt, die rein in der religiösen Idee sichtbar ist, ist durch kein bloßes Bild, das immer nur auf die sinnliche Gegenwart geht und in ihr verhaftet bleibt, zu fassen. Das Verbot des Bilderdienstes, das Verbot, sich ein Abbild oder Gleichnis zu machen [...] wird geradezu zum Constituens eben dieses Bewußtseins selbst.73 Weil für die Grundansicht des Prophetismus zwischen Gott und Mensch kein anderes Verhältnis als das geistig-sittliche Verhältnis des ,Ich' zum ,Du' stattfinden kann - darum erscheint nunmehr alles, was nicht dieser Fundamentalbeziehung angehört, religiös entwertet. In dem Augenblick, in dem die religiöse Funktion, weil sie die Welt der reinen Innerlichkeit entdeckt hat, sich von der Welt des Äußeren, des naturhaften Daseins zurückzieht, hat damit dieses Dasein gewissermaßen seine Seele verloren, ist es zur toten ,Sache' herabgesetzt. Und damit wird jedes Bild, das dieser Sphäre entnommen ist, nicht wie bisher zum Ausdruck, sondern schlechthin zum Gegensatz des Geistigen und des Göttlichen.74 71 72 73 74

PSF II, S. 297. Ebd. PSF II, S. 287. PSF II, S. 288.

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11 Das Paradox der religiösen Repräsentation Sakramentalismus und Prophetismus sind, obwohl sie zumindest als dominante Motive historische Ausprägungen - nämlich in der christlichen und in der jüdischen Religion - gefunden haben, im ganzen der Religionen betrachtet weniger klar voneinander abgrenzbare Religionsformen als vielmehr innere Momente der verschiedenen Religionsformen, die einen inneren Konflikt der Religion als solcher deutlich machen: [D]as religiöse Bewußtsein [bleibt] dadurch gekennzeichnet, daß in ihm der Konflikt zwischen dem reinen Sinngehalt, den es in sich faßt, und zwischen dem bildlichen Ausdruck eben dieses Gehalts niemals zur Ruhe kommt, sondern daß er in allen Phasen seiner Entwicklung stets aufs neue hervorbricht. [...] In dem Hinausstreben über die mythische Welt der Bilder und in der unlöslichen Verklammerung und Verhaftung mit eben dieser Welt liegt ein Grundmoment des religiösen Prozesses selbst. Auch die höchste geistige Sublimierung, die die Religion erfährt, bringt diesen Gegensatz nicht zum Verschwinden: sie dient nur dazu, ihn immer schärfer kenntlich zu machen und ihn in seiner immanenten Notwendigkeit zu verstehen7S

Wenn Religion das mythische Bewußtsein transformiert, d.h. die mythisch artikulierte Situation und Semantik bewahren und in eine religiöse Differenzgrammatik zu übersetzen versucht, dann bleibt sie mit der mythischen Welt der Bilder verklammert und verhaftet. Wenn sie andererseits alleine die geistige Welt bildloser Personenverhältnisse artikulieren will, dann müßte sie sich von ihrem eigenen Boden, der mythischen Existenzerfahrung, lösen und sich damit auch als Religion mit irgendeinem Bezug zu Gott oder zur Sphäre des Göttlichen auflösen. Dieser Konflikt ist nicht lösbar. Er zeigt ein Paradox auf, daß ich als das Paradox der religiösen Repräsentation charakterisieren möchte. Die Religion bleibt dadurch mit dem Mythos verklammert und verhaftet, daß es auch in ihr um die Artikulation der im Mythos zum Ausdruck gebrachten Grundsituation des Menschen geht, um die Artikulation des Eingebundenseins in eine Welt des Lebens und der lebendigen Ausdrucksereignisse. Die Lebendigkeit und Tiefe dieser Erfahrung ist gebunden an das Identitätsdenken, an die Unmittelbarkeit, mit der wir in dieser Welt von den Äußerungen des Lebens betroffen und bewegt werden. Auf der anderen Seite besteht das Religiöse der Religion im Unterschied zum Mythischen des Mythos darin, die Identität des

75 PSF II, S. 300f.

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mythischen Seins, des identischen Seins von Tänzer und Gott, aufzulösen und statt dessen die Differenz der Repräsentation, der Repräsentation Gottes durch den Tänzer, aufzutun. Die Verwandlung von Existenz in Repräsentation ist für die Religion konstitutiv und nimmt ihr zugleich die Tiefe der Einwurzelung in den „Gefühlsgrund", von dem Cassirer redet, in die emotionale Basis unserer Existenz. Es ist aber diese emotionale Basis, die der Religion ihren besonderen Status gegenüber allen anderen nicht-mythischen symbolischen Formen verleiht, der ihre zugleich unangefochtene und unnachsichtige Herrschaft über die Gemüter der Gläubigen fundiert. Als Repräsentation ist Religion nicht mehr nur Expression. Als Expression geht sie nicht in der Repräsentation auf. Dieses Paradox gehört zum Wesen der Religion und führt sie immer wieder vor die Frage, ob sie sich selbst aufhebe. Es ist dies nicht nur eine Frage von außen, die sich unter dem Blick ins Herbarium der Religion stellt. Es ist dies eine Frage aus dem Inneren der Religion selbst. Denn die explizierende Repräsentation öffnet die Dimension der kritischen Reflexion, der die emotionale Expression sich anverwandeln muß, wenn ihre Stimme gehört werden will. Was dann noch im Diskurs verbleibt, ist die Religionskritik, nicht aber mehr die Religion. Die emotionale Expression wiederum, die Stimme der im Mythos artikulierten Grundsituation des Menschen, erkennt sich nicht wieder in den kritischen Diskursen der Reflexion. So hat sie denn die Tendenz, zum fundamentalistischen Bekenntnis zu werden und kämpferisch der Religionskritik wie der intellektuellen überhaupt zu begegnen. Die Religionskriege sind noch nicht ausgestanden. Diese Religionskriege können im Kampf der Religionen und der Kulturen enden, aber auch in einem Kampf zwischen Religion und der übrigen Kultur. Denn die Religion, in ihrer Nähe zu den existentiell verwurzelten Gefühlen der Menschen, bleibt - wie gesagt - da, wo sie überhaupt wirksam bleibt, eine der stärksten Kräfte des menschlichen Lebens. Und wo sie sich zur fixen Form kanonisiert, kann sie eine unbarmherzige Herrschaft über die Menschen und ihre Individualität ausüben, die eine totale Hingabe und die Aufgabe allen Eigenseins fordert. Man kann aber auch hoffen, daß der innere Konflikt der Religion immer wieder auch in dem Kampf endet, der die Verkrustungen - sei es im Sakramentalismus, sei es im Prophetismus - auflöst und damit zum Prinzip einer wie immer etikettierten Wiederverlebendigung, nämlich der Formen menschlicher Existenzerfahrung, werden kann.

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Oswald Schwemmer

12 Verzeichnis der Siglen für die zitierten Werke Cassirers AH

ECN 1

FT

MS MSD

NHBK

PSF I

PSF II

PSF III

SM

Axel Hägerström. Eine Studie zur schwedischen Philosophie der Gegenwart. In: Göteborgs Högskolas Ársskrift XLV 1939:1 [Elanders Boktryckeri Aktienbolag] Göteborg 1939. Nachgelassene Manuskripte und Texte. Hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer. Band 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen. Hrsg. von John Michael Krois unter Mitwirkung von Anne Appelbaum, Rainer A. Bast, Klaus Christian Köhnke, Oswald Schwemmer. Hamburg [Felix Meiner Verlag] 1995. Form und Technik. In: Leo Kerstenberg (Hg.): Kunst und Technik. Berlin [Wegweiser Verlag] 1930, S.15-61. Wiederveröffentlicht in Ernst Cassirer, Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 19271933. Hg. von Ernst Wolfgang Orth und John Michael Krois unter Mitwirkung von Josef M. Werle. Hamburg [Felix Meiner Verlag] 1985. S. 39-91. The Myth of the State. New Haven and London [Yale University Press] 1946. Der Mythus des Staates. Die deutsche Übersetzung von Franz Stössl erschien zuerst 1949 (2. Aufl. 1978) und noch ohne den Untertitel (als Band der Erasmus-Bibliothek) in Zürich/München [Artemis Verlag]. 1985 wurde sie mit dem Untertitel Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens (und ohne die Nennung des Übersetzers) neu aufgelegt. Frankfurt am Main [Fischer Taschenbuch Verlag]. Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie. In: Göteborgs Kungl. Vetenskaps- och Vitterhets-Samhälles Handlingar, Femte Följden Ser. A 7 (1939), Nr. 3, S. 1-28. Wiederveröffentlicht in: Ernst Cassirer, Erkenntnis, Begriff, Kultur. Herausgegeben und eingeleitet sowie mit Anmerkungen und Registern versehen von Rainer A. Bast. Hamburg [Felix Meiner Verlag, Philosophische Bibliothek Band 456] 1993. S. 231-261, Anmerkungen S. 296-306. Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache. Darmstadt [Wissenschaftliche Buchgesellschaft] 7 1977 (1. Auflage Berlin 1923). Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denfeew.Darmstadt [WissenschaftlicheBuchgesellschaft] 7 1977(l. Auflage Berlin 1925). Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis. Darmstadt [Wissenschaftliche Buchgesellschaft] "1982 (1. Auflage Berlin 1929). Sprache und Mythos. - Ein Beitrag zum Problem der Götternamen. In: Studien der Bibliothek Warburg 6, Leipzig [B. G. Teubner] 1925. Wiederveröffentlicht in: Ernst Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Darmstadt [Wissenschaftliche Buchgesellschaft] 1983, S. 71-167.

Selbsterfahrung, Dauerreflexion und Religion FRANZ-XAVER KAUFMANN

Soweit ich sehe, bin ich der einzige Soziologe in der Runde der Referenten, und so will ich versuchen, Ihnen einige Aspekte soziologischer Diskurse über Religion nahezubringen. Dabei geht es nicht um Religionssoziologie im Sinne einer empirischen Erforschung religiöser Ideen, Institutionen und Einstellungen in ihrem sozialen Zusammenhang, sondern um jene Diskurse, in denen dasjenige kategorial zu bestimmen versucht wird, was den Gegenstand empirischer Religionssoziologie ausmacht.1 Wenn wir den Soziologen in erster Annäherung als einen systematischen Beobachter sozialer Erscheinungen umschreiben, so handelt es sich bei den sozialen Erscheinungen, die ich hier beobachtend beschreiben möchte, um die Rede von ,Religion'. Dem ist der erste Teil meiner Ausführungen gewidmet. Ich möchte sodann in einem zweiten Teil auf einige Fragen zu sprechen kommen, die mit der Subjektivierung der religiösen Problematik im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung verbunden sind; dafür steht im Titel meines Vortrage das Wort ,Selbsterfahrung'. Und ich möchte schließlich an einen mittlerweile weithin vergessenen Aufsatz von Helmut Schelsky „Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar?" anknüpfen, um soziologisch den Raum für die Thematik abzustecken, mit der wir uns auf dieser Tagung insgesamt befassen wollen. Jeder dieser drei Gedankengänge beleuchtet - so wird sich hoffentlich zeigen - einen unterschiedlichen Aspekt des Problemkreises ,Religion in der Moderne', der uns in dieser ersten Einheit beschäftigen soll.

1

Neuere Überblicke zum Diskussionsstand der Religionssoziologie geben Volker Krech: Religionssoziologie. Bielefeld 1999; Michael N. Ebertz: Forschungsbericht zur Religionssoziologie. In: International Journal of Practical Theology 1 (1997) S. 2 6 8 - 3 0 1 ; und Hartmann Tyrell: Religionssoziologie. In: Geschichte und Gesellschaft 2 2 (1996) S. 4 2 8 - 4 5 7 .

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1. ,Religion' als Phänomen der Moderne Wenn wir umgangssprachlich von .Religion* sprechen, so denken wir in erster Linie an die christlichen Kirchen und die von ihnen repräsentierten konfessionellen oder ökumenischen Traditionen des Christentums. Die Kirchen gelten als ,Ort von Religion' in der deutschen Gesellschaft, und dies nicht nur im räumlichen, sondern auch im kulturellen Sinne. Das Religionsrecht des Staates ist genau genommen ein Staats kirchenrecht, und wie die gegenwärtigen Bemühungen um die Integration des Islam in den Kontext des deutschen Religionsrechts zeigen, besteht die eigentliche Schwierigkeit darin, daß sich der Islam nicht als .Kirche', d.h. in der Form einer einheitlichen Organisation versteht, mit der die staatlichen Stellen verhandeln könnten. Dieses institutionelle Religionsverständnis ist auch auf Weltebene maßgebend, wenn wir von den sogenannten Weltreligionen sprechen. Dieser Begriff entstand, wie die Rede von .Religion' überhaupt, im westlichen Kulturkreis und trägt gewisse Konnotationen des christlichen Vorverständnisses mit sich, nämlich: - den Bezug zum Übernatürlichen oder Heiligen als einer gesonderten Sphäre der Wirklichkeit, der das Profane entgegengesetzt wird; - die Vorstellung, daß eine bestimmte Religion ein sich von anderen Religionen unterscheidendes Glaubenssystem darstelle, und - die Vorstellung, daß man nur einer Religion gleichzeitig angehören könne.2 Dies entspricht aber z.B. keineswegs den ostasiatischen Verhältnissen; in Japan scheint es etwa üblich zu sein, sich mehrfach nach verschiedenen Riten trauen zu lassen, die wir unterschiedlichen Religionen zuordnen. Ein besonders interessanter Fall ist der Hinduismus, der sich aus der Vielzahl indischer Kulte erst unter dem Einfluß des westlichen Religionsverständnisses zu einem zusammenhängenden .System' entwickelt hat. Der allgemeine Religionsbegriff bezieht seine Konnotationen somit aus okzidentalen Religionsdiskursen, die mittelbar vor allem von evangelischer Seite inspiriert sind. Folgen wir diesem vorherrschenden institutionellen Religionsverständnis, so erscheint .Religion' als ein weit in die Geschichte zurückreichendes Phänomen. Selbst wenn wir die Frage offen lassen, ob es in 2

Vgl. hierzu Joachim Matthes: Was ist anders an anderen Religionen? Anmerkungen zur zentristischen Organisation des religionssoziologischen Denkens. In: Religion und Kultur. Sonderheft 33 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Opladen 1993. S. 16-30.

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allen Gesellschaften .Religion' gibt, so scheint zumindest für den abendländischen Kulturkreis die jüdisch-christliche Prägung des Religiösen selbstverständlich. Judentum wie auch Christentum verstehen sich dies unterscheidet sie auch von den übrigen Weltreligionen - als .geschichtliche' Religionen, d.h. sie führen ihre Identität nicht nur auf Mythen, sondern auch auf geschichtliche Ereignisse zurück, die in ihren heiligen Büchern aufgeschrieben sind. Im Horizont der Moderne erscheinen diese Religionen somit als traditionsbestimmte Größen, deren Ursprünge weit in die Vormoderne hineinragen. Demgegenüber ist der vor allem von Ernst Feil herausgearbeitete Sachverhalt zu betonen, daß .Religion' im Sinne eines kategorialen Begriffs für das in verschiedenen Religionen Gemeinsame erst im 18. Jahrhundert aufkommt, also selbst ein Begriff im Horizont der aufklärerischen Moderne ist.3 Erst in dem Maße, als die .religio vera' mit keiner der existierenden Konfessionen mehr vernünftigerweise identifiziert werden konnte, entstand .Religion' zunächst als idealisierender Oberbegriff für das, was angesichts der unter sich zerstrittenen Konfessionskirchen und ihrer Glaubensansprüche vor dem Forum der Vernunft verbindlich bestehen konnte. Während Kant's Religionsbegriff noch den Bezug auf Gott gerade in seiner vernunftkritischen Funktion aufrechtzuerhalten suchte, war darin doch schon die Wende zu einer anthropozentrischen Religionskritik angelegt, welche in der Folge die Religion als bloße Illusion oder als Projektion menschlicher Wünsche .entzauberte'.4 Und es ist dieser säkularisierte Religionsbegriff, welcher in der Folge ohne jeden Bezug auf die Wahrheitsfrage zur fundierenden Kategorie der vergleichenden Religionswissenschaften geworden ist, wodurch jedoch erst recht die Notwendigkeit entstand, Religion zu definieren., d.h. religiöse Phänomene als Gegenstand der Religionswissenschaft von anderen Phänomenen abzugrenzen.

3

4

Vgl. Ernst Feil: Religio. Band 1: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs vom Frühchristentum bis zur Reformation. Göttingen 1986; Band 2: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs zwischen Reformation und Rationalismus (ca. 1540-1620). Göttingen 1997. Ders.: Zur Bestimmungs- und Abgrenzungsproblematik von .Religion'. In: Ethik und Sozialwissenschaften, Band 6 (1995), S. 4 4 1 - 4 5 5 (mit anschließender Diskussion: S. 4 5 5 - 5 1 3 ) . Ferner: Konrad Feiereis: Die Umprägung der natürlichen Theologie in Religionsphilosophie. Ein Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts. Leipzig 1965. Vgl. F. W. Kantzenbach: Religionskritik der Neuzeit. Einführung in ihre Geschichte und Probleme. München 1972; Richard Schaeffler: Immanuel Kant. Kritik und Neubegründung der Religion. In: Religionsphilosophie. Europäische Denker zwischen philosophischer Theologie und Religionskritik. Hrsg. v. Thomas Brose. Würzburg 1998, S. 159-176.

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Bekanntlich hat dies zu einer nicht enden wollenden Diskussion über den Religionsbegriff geführt.5 Dabei lassen sich zwei Definitionsstrategien unterscheiden, eine substantialistische und eine funktionalistische. Substantialistische Definitionen suchen ein oder mehrere phänomenologische Merkmale des Religionsbegriffs anzugeben, also beispielsweise ,das Heilige', die Beziehung zum .Göttlichen', ein ,ozeanisches Gefühl' oder auch ,das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit'. Abgesehen von der Vielfalt der vorgeschlagenen Begriffsmerkmale stellt sich hier das Problem ihrer interkulturellen, ja selbst innerhalb einer Kultur ihrer diachronen Konstanz. Bedeutet, um nur ein Besipiel zu machen, eine zunehmende Entsakralisierung von gemeinhin als .religiös' geltenden Phänomenen, wie wir sie im Zuge der Modernisierung vielerorts beobachten können, den Verlust ihres religiösen Charakters? Ist also konkret gesprochen - ein entsakralisierter Protestantismus gar keine .Religion' mehr? Noch unplausibler sind Versuche, einen allgemeinen Religions begriff auf der Basis emotionaler Phänomene zu gewinnen. Hier ist die Herkunft aus einem protestantisch geprägten, an .Innerlichkeit' orientierten Religionsbegriff besonders offenkundig. Um diesen Problemen zu entgehen, hat sich insbesondere in den Sozialwissenschaften eine funktionalistische Definitionsstrategie entwikkelt. Als .Religion' gilt dann, was eine bestimmte Funktion erfüllt, beispielsweise die Einheit der Welt begründet (kosmisierende Funktion); oder was den gesellschaftlichen Zusammenhalt sichert (sozialintegrative Funktion); oder was richtiges Handeln in außeralltäglichen Situationen ermöglicht (moralische Funktion); oder was das Ertragen von überwältigendem Unrecht oder Leid ermöglicht (Funktion der Kontingenzbewältigung); oder was eine Distanzierung von den Gegebenheiten dieser Welt ermöglicht (prophetische Funktion); oder schließlich - und für die Gegenwart besonders aktuell: was dem individuellen Leben die Angst nimmt, was ihm Sinn verleiht (Funktion der Identitätsstiftung oder Individuation).6 Auch wenn diese postulierten Leistungen oder Wirkungen von Religion meist nicht im Zusammenhang thematisiert werden, so erscheint es doch plausibel, daß im unreflektierten Leitbild von Religion all diese Funktionen zugleich erfüllt werden: .Religion' meint einen kulturellen Komplex, der, indem er die Einheit der Welt begründet, oder aber - im Falle der prophetischen Religionen - die Überwindbar5

6

Vgl. als Überblick C. Elsas (Hrsg.): Religion. Ein Jahrhundert theologischer, philosophischer, soziologischer und psychologischer Interpretationsansätze. München 1975; Falk Wagner: Was ist Religion? Gütersloh 1986. Eine ähnliche Katalogisierung zugeschriebener Funktionen von Religion bei Franz-Xaver Kaufmann: Religion und Modernität. Tübingen 1989, S. 84f.

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keit der gegebenen Verhältnisse verheißt, zugleich moralische Standards legitimiert und damit die Bedingungen des .richtigen' menschlichen Zusammenlebens aufzeigt, unter denen ein jeder oder eine jede den Sinn des Lebens in enttäuschungsfester Weise erfahren kann. Für moderne Gesellschaften läßt sich ein solcher multivalenter kultureller Komplex, der Kosmos, Gesellschaft und Individuum in einen eindeutigen wechselseitigen Bezug stellt, offenbar nicht in auch nur einigermaßen konsensfähiger Weise ausmachen. Auch die von der Aufklärung ausgehenden „Glaubensgeschichten der Moderne" 7 haben im Zuge des Übergangs zur sogenannten Postmoderne ihre Faszination verloren; Francois Lyotard sieht im Ende der weltanschaulichen Großerzählungen geradezu das Merkmal, das Moderne und Postmoderne scheidet.8 Verschiedenste humanwissenschaftliche Theorien konvergieren heute in der Diagnose des Fehlens umfassender Sinnstrukturen und vorgegebener, der menschlichen Entscheidung entzogener normativer Orientierungen, was bald positiv als ,Freiheit', bald kritisch als ,Werteverfall' oder ,Orientierungsverlust' thematisiert wird. Implizit wird jedoch angenommen, es habe früher eine Konstellation gegeben, in der ein solcher kultureller Komplex als ,Religion' existiert habe, und dabei denkt man katholischerseits an das christliche Mittelalter und protestantischerseits an Zeiten größerer Glaubensgewißheit und landeskirchlicher Integration im Horizont der Reformation. Oder vielleicht wäre es richtiger, das kosmisch-integrative Religionsverständnis einem katholisierenden, das prophetisch-weltdistanzierende Religionsverständnis dagegen einem protestantisierenden Vorverständnis zuzuweisen? Wie dem auch sei, nach den religions- und sozialgeschichtlichen Befunden zu urteilen, hat es .Religion' in diesem komplexen Sinne auch in der Vergangenheit nicht gegeben. 9 Die Illusion einer ,umfassenden Ordnung' entspringt unseren archaisierenden Sehnsüchten und einer in den Deutungsmustern vormoderner Kulturen verbreiteten, an der ,Ewigen Wiederkehr des Gleichen' oder am ,Sein des Seienden' orientierten Denkweise, für die die .Vernichtung der konkreten Zeit', die .Statisierung des Werdens' charakteristisch war. Mircea Eliade, der diese Zusammenhänge aufgewiesen hat, betont jedoch gleichzeitig die Sonderstellung des jüdischchristlichen Kulturkreises, der als einziger die Vorstellung der linearen 7 8 9

Vgl. Friedrich H. Tenbruck: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Opladen 1989, S. 126-142. François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, (fr. 1979) Neuausgabe Graz-Wien 1986. Vgl. die Retrospektive auf das abendländische religiöse Denken bei Friedrich H. Tenbruck: Die Religion im Maelstrom der Reflexion. In: Religion und Kultur. a.a.O (FN 2) S. 31-67.

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Zeit und mit ihr der Geschichte entwickelt hat. „Für das Christentum (ist) die Zeit wirklich, weil sie einen Sinn hat: die Erlösung."10 Und so baute, wie Karl Löwith gezeigt hat, die fortschrittsorientierte Geschichtsphilosophie der Aufklärung auf der jüdisch-christlichen Eschatologie auf.11 Diese aber hat alle den sozialen Kosmos legitimierenden Sinnstrukturen stets erneut in Frage gestellt. Nicht von ungefähr verzichtete Max Weber, der die weltdistanzierende Funktion der jüdisch-christlichen Tradition für den abendländischen Sonderweg so sehr betont hat, auf einen elaborierten Religionsbegriff.12 So ist an den gängigen Religionsvorstellungen so gut wie alles schief: Ihren orientierenden Charakter besaß die .Religio vera' seit der Antike nur um den Preis ihrer apologetischen Exklusivität, „welche die Wahrheit der einen ,religio' sich selbst zuschrieb und alle anderen ablehnte, woraus folgt, daß es nicht einigermaßen gleichberechtigte Spezies der einen Gattung ,religio' gab." 13 Soweit die Pluralität der Bekenntnisse überhaupt in den Blick trat, wurden sie bis ins 17. Jahrhundert als .sectae' oder .leges' bezeichnet. .Religion' hatte zudem einen wesentlich engeren Bedeutungsraum im Sinne „einer Sorgfalt für Handlungsweisen Gott gegenüber."14 Ob dieser exklusive Glaube tatsächlich die Wirkungen ausübte, die ein funktionalistischer Religionsbegriff postuliert, ist eine insofern falsch gestellte Frage, als die Differenzierung der Funktionen selbst erst im Horizont komplexer Gesellschaften möglich wurde. Der im kosmisch-integrativen Religionsverständnis postulierte enge Zusammenhang zwischen Kultur und Individuum beruhte in archaischen Gesellschaften wohl nicht primär auf seinem religiösen, sondern auf seinem kleinräumigen Charakter. Im Rahmen weitgehend abgeschlossener sozialer Einheiten sind Kultur und Lebenswelt zwangsläufig weit enger aufeinander bezogen als in umfassenderen und komplexeren Sozialzusammenhängen. Dem soziologischen Beobachter stellt sich angesichts solcher Unklarheiten die Frage, was denn die Faszination des Religionsbegriffs ausmacht, daß er in solche nicht enden wollende und letztlich fruchtlose, weil zu keinerlei Konvergenz führenden Diskussionen geraten ist. Die Antwort wird deutlicher, wenn wir von den bisherigen, ihrer Tendenz

10 Mircea Eliade: Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr. Rowohlt 1966, S. 115. 11 Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. 2. A. Stuttgart 1953. 12 Vgl. Hartmann Tyrell: ,Das Religiöse' in Max Webers Religionssoziologie. In: Saeculum - Jahrbuch für Universalgeschichte 43 (1992) S. 172-230. 13 Feil, Religio, Bd. 2, (FN 3) S. 338. 14 Ebda. S. 336.

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nach objektivistischen Religionsdiskursen zu den subjektivistischen übergehen. Ihr Entstehen ist der Wirksamkeit der Kantischen Kritik der frühaufklärerischen »natürlichen Theologie' zu verdanken. Angesichts der fortgesetzten Demontage der natürlichen Theologie durch den Fortschritt der Wissenschaften wollte Kant,Religion' nicht mehr im Bereich der Erkenntnisgegenstände, sondern im Bereich der Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis verorten. ,Gott' ist kein Gegenstand der Erkenntnis, sondern wie ,Welt' oder ,Ich' „ein Grenzbegriff, dessen inhaltliche Ausfüllung die Vernunft sich selbst abverlangt und vorwegnehmend vor das Auge stellt. Einen solchen Begriff nennt Kant später eine (seil, transzendentale) ,Idee'. ... Ideen geben die Perspektive an, in die wir blicken müssen, wenn wir den Verstandesleistungen ein gemeinsames Ziel geben wollen." 1S Deshalb bleibt nach Kant „für den bloß spekulativen Gebrauch der Vernunft... das höchste Wesen ... ein bloßes, aber doch fehlerfreies Ideal, ein Begriff, welcher die ganze menschliche Erkenntnis schließt und krönet, dessen objektive Realität auf diesem Wege zwar nicht bewiesen, aber auch nicht widerlegt werden kann." 16 Was bei Kant noch als transzendentale Idee erscheint, wird bei Schleiermacher zu „Anschauung und Gefühl V 7 also zu einer persönlichen Erfahrung der ,Privatreligion' (im Sinne Johann Semlers), die jedoch nicht bloß subjektiv ist, „,denn um die Welt anzuschauen und Religion zu haben, muß der Mensch erst die Menschheit gefunden haben.' ... die Menschheit als universales Kommunikationsmedium erlaubt es, die Unendlichkeit und Allgemeinheit der Religion auszusagen und dennoch an den Grundforderungen des individuellen und freien Religionshabens des einzelnen in einem prinzipiellen Sinne festzuhalten." 18 Hier wird deutlich, wie sehr die für die liberale Theologie des Protestantismus in Deutschland maßgeblich gewordene Theologie Schleiermachers auf den Postulaten der Aufklärung aufruht, die sich ein universales Wissen über ,den Menschen' zutraute, das gleichermaßen für die Menschheit als solche wie auch für jeden einzelnen Menschen wahr sein sollte. Metaphysik, Moral und Religion beziehen sich bei Schleiermacher auf denselben Gegenstand, nämlich „das Universum und 15 Schaeffler, a.a.O. (FN 4) S. 167Í. 16 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 641. 17 Friedrich Schleiermacher: Reden über die Religion; hier zitiert nach Trutz Rendtorff: Kirche und Theologie. Gütersloh 1966, S. 124, meine Hinweise beziehen sich auf die Interpretation Rendtorffs, S. 122-139. 18 Rendtorff, ebda. S. 125f.

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das Verhältnis des Menschen zu ihm". Das Spezifische der Religion bezieht sich hier auf die Unmittelbarkeit der individuellen Erfahrung dieses Verhältnisses, welche als „Kommunikation mit dem Unendlichen ausgelegt (wird), in der der objektive und der subjektive Begriff der Religion - zum mindesten der Intention nach - zusammenfallen." 19 Obwohl also der Ort von Religion hier aus der Theologie oder der kirchlichen Institution in das religiöse Subjekt verlagert wird, führt dies noch nicht zur Subjektivierung der Religion, da dem Subjekt grundsätzlich die Fähigkeit einer menschheitlichen Kommunikation zugesprochen wird. Diese Fähigkeit realisiert sich allerdings keineswegs in jedem Individuum, sondern nur bei „den Fähigen"; und es sind eben diese, welche Kirche im eigentlichen Sinne bilden und sich in der Kommunikation ihrer individuellen religiösen Erfahrung und in Auseinandersetzung mit „der Lehre" sich des Inhalts ihrer Religion vergewissern. Die „wahre Kirche" ist also die „Kirche der Fähigen", d.h. die Gemeinschaft der freien Kommunikation derjenigen, die „Religion haben". 2 0 Damit wird die Differenz zum herrschenden Staatskirchentum sowohl unter dem Gesichtspunkt seiner Differenz zur ,wahren Kirche' als auch unter Bezugnahme auf die freien Kommunikationsbedingungen der bürgerlichen Gesellschaft und schließlich im Hinblick auf die unterstellte Perfektibilität des Menchen bestimmt. Die Theologie Schleiermachers bildet den Ausgangspunkt für die Verinnerlichung und Subjektivierung des die religionstheoretischen Diskurse in der Folge prägenden Religionsbegriffs. Das ,Wesen' von Religion läßt sich nicht an den religiösen Institutionen und ihrer Gotteskunde, sondern nur an einer qualifizierten Erfahrung ablesen, die den Rahmen des bloß kognitiv ausgerichteten Vernunftgebrauchs übersteigt. Das gilt gleichermaßen für die Religionstheorie von William James, 21 wie auch für die von Wilhelm Windelband über Max Scheler bis zu Rudolf Otto und Gustav Mensching reichende Theorie des ,Heiligen'. Während jedoch James am grundsätzlich subjektiven Charakter des religiösen Gefühls festhielt, wurde in der deutschen Philosophie der ,Werte' doch stets nach Wegen gesucht, deren objektivierbare Verbindlichkeit zu begründen.22 Diese Versuche haben sich jedoch gegenüber 19 Rendtorff, ebda. S. 124. 20 Vgl. Rendtorff, ebda. S. 131ff. 21 William James: Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Neuausgabe mit einem Vorwort von Peter Sloterdijk Frankfurt a.M. 1997. 22 Vgl. Jürgen Gebhardt. Die Werte. Zum Ursprung eines Schlüsselbegriffs der politisch-sozialen Sprache der Gegenwart in der deutschen Philosophie des späten 19. Jahrhunderts. In: Anodos. Festschrift für Helmut Kuhn. Hrsg. v. Rupert Hofmann u.a. Weinheim 1989, S. 35-54.

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kritizistischen Einwänden nicht durchsetzen können, Heidegger bezeichnet .Werte' gar als positivistischen Ersatz für den Verlust der Metaphysik.23 Neuerdings hat Hans Joas, ausgehend von William James, eine Theorie der,Werte' vorgelegt, welche deren Entstehung in individuellen - oder besser gesagt personalen - „Erfahrungen der Selbstbildung und Selbsttranszendenz" festmacht. 24 Diese Theorie ist geeignet, den sowohl subjektiven als auch verbindlichen Charakter von Werten - und somit auch von religiösen Bindungen - verständlich zu machen. Die Faszination des Religionsbegriffs, so können wir zusammenfassend festhalten, scheint in seinen gleichzeitig idealen, objektivistischen und subjektivistischen Konnotationen begründet zu sein. Vor allem die evangelische Theologie steht seit Schleiermacher vor dem Problem, die intersubjektive Verbindlichkeit der innerlichen Glaubenserfahrung zu begründen und in einen Zusammenhang mit den real existierenden religiösen Vergemeinschaftungsformen und ihren Institutionalisierungen zu bringen. Die katholische Theologie hält dagegen mit dem sie fundierenden Kirchenverständnis an der institutionellen Verkörperung der ,wahren Religion' fest und hat mit dem Einwand zu kämpfen, daß sie dies nicht vor dem Forum der Vernunft und erst recht nicht vor den konkurrierenden Ansprüchen anderer Religionen rechtfertigen könne. Während somit im katholischen Verständnis der Kirchenbegriff die Last einer Verknüpfung von Transzendenz und Immanenz trägt, wird im protestantischen Verhältnis dem Religionsbegriff dasselbe zugemutet. ,Religion ' wurde daher zu einem Zentralbegriff der evangelischen Theologie und zwar im Sinne eines innerlichen, qualitativ an die subjektive Erfahrung gebundenen Sachverhalts, dem jedoch gleichzeitig universelle Bedeutung zugesprochen wird. Gleichzeitig hat sich der Religionsbegriff jedoch als deskriptive Kategorie der empirischen Religionswissenschaften verbreitet und gewinnt hier einen grundsätzlich objektivierbaren Charakter. Da aber auch die evangelisch-theologischen Diskurse über Religion diese verbreiteten - und zudem von Seiten des Katholizismus auch religiös aufgeladenen - institutionellen Religionsdiskurse nicht ignorieren können und zudem selbst die transsubjektive Verbindlichkeit von Religion zu begründen suchen, wird verständlich, weshalb der Religionsbegriff zu einer gleichzeitig unumgänglichen und dennoch kaum bestimmbaren Kategorie der Moderne geworden ist.25

23 Martin Heidegger: Holzwege. 3. A. Frankfurt a. M. 1957, S. 203. 24 Hans Joas: Die Entstehung der Werte. Frankfurt a.M. 1997, S. 255 u. passim. 25 In diesem Sinne bereits Kaufmann, a.a.O. (FN 6) S. 59ff.; ders.: Religion and Modernization in Europe. In: Journal of Institutional and Theoretical Economics 153 (1997) S. 80-96.

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„Das Dauergespräch über Religion lebt nicht vom Interesse an der Religion, sondern vom Interesse an der Reflexion über Religion."26 Vor dem Hintergrund dieser Befunde erscheint mir die Fragestellung dieses Kongresses nach der „Funktion und Universalisierbarkeit der Religion" und nach dem „inneren Zusammenhang von Religion, Theologie und Metaphysik" 27 - provozierend formuliert - ziemlich naiv. Sie setzt nämlich voraus, daß bekannt sei, was es mit ,der Religion' auf sich hat. Ich werde darauf abschließend zurückkommen. 2. Gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Subjektivierung von Religion Die beschriebene Subjektivierung des Religionsverständnisses hat sich aus soziologischer Sicht nicht als ein bloß kulturimmanenter oder gar nur konfessionsspezifischer Prozeß vollzogen, sondern ist zugleich Ausdruck tiefgreifender Veränderungen der Gesellschaftsverhältnisse. Aus wissenssoziologischer Perspektive stehen Veränderungen kultureller Deutungsmuster in mehr oder weniger eindeutig rekonstruierbaren Zusammenhängen mit der kommunikativen Deutung lebensweltlichen Erfahrungen, die ihrerseits von der Dynamik gesellschaftlicher Transformationen abhängig sind. Der Subjektivierung des Religionsverständnisses entsprechen Veränderungen, die in der gegenwärtigen deutschen Soziologie meist mit dem Begriff Individualisierung angesprochen werden. Die gesamtgesellschaftliche Transformation der europäischen Neuzeit, welche ihren Durchbruch in der dreifachen Revolution von Kultur (Aufklärung und Genese der Wissenschaften), der Wirtschaft (Marktvernetzung und Industrialisierung) und der Politik (Staatsentwicklung und Demokratisierung) um die Wende zum 19. Jahrhundert geschafft hat, wird heute meist als ,Modernisierung' bezeichnet. Ihre Anfänge lassen sich bis ins 11. Jahrhundert zurückverfolgen. In knappster Formulierung geht es bei dieser Transformation um das Wachstum und eine zunehmende Vernetzung und Organisierung sozialer Einheiten bei gleichzeitiger Entstehung funktional differenzierter Strukturzusammenhänge, welche ältere Strukturen wie Rang und Stand mehr und mehr ablösen. Während die Individuen in die älteren Sozialzusammenhänge des .ganzen Hauses' oder einer ,Korporation' umfassend eingeordnet 26 Tenbruck, a.a.O. (FN 8) S. 67. 27 Es sind dies Formulierungen aus dem den eingeladenen Referenten zugesandten Exposés „Religion - Metaphysik(kritik) - Theologie im Kontext der Moderne bzw. Postmoderne.

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waren, sich also als Teil eines sozialen Ganzen erfuhren, werden im Zuge der funktionalen Differenzierung vielfältige, mitgliedsartige Zugehörigkeitsverhältnisse in Assoziationen oder Organisationen charakteristisch. Daraus resultiert ein „struktureller Zwang zum Selbstzwang" (N. Elias), ein Druck zur Individualisierung; in den Worten Georg Simmeis, dem wir die früheste und immer noch treffsicherste Analyse der Folgen gesellschaftlicher Modernisierung für die Individuen verdanken: „Je mannigfachere Gruppeninteressen sich in uns treffen und zum Austrag kommen wollen, umso entschiedener wird das Ich sich seiner Einheit bewußt." 28 Aus diesen strukturellen Zwängen erwächst jedoch nicht notwendigerweise eine profiliertere Individuation oder Personalisation der Menschen, die unter diesen Bedingungen heranwachsen. Vielmehr wird das Gewinnen eines personalisierten Selbstverständnisses, das gelegentlich mit dem miß verständlichen, weil allzu statisch klingenden Wort,Identität' bezeichnet wird, zu einem anspruchsvollen Prozeß, dessen Gelingen von günstigen Bedingungen abhängig ist. Vereinfacht formuliert: Die Sozialisationsbedingungen für,Autonomie' oder,Entfremdung', die beiden großen Ausdeutungen des Individualismus im 19. Jahrhundert, sind nach wie vor Ausdruck bestehender sozialer Ungleichheiten; und in dem Maße, als die subkulturellen Stabilisierungen konfessions- und schichtspezifischer Vergemeinschaftungsformen an Prägekraft verloren haben, ist die Gewinnung von ,Lebenssinn' zunehmend zu einer individuellen Aufgabe geworden. Dieses Bewußtsein verbreitet sich auch in der Bevölkerung, wie nicht zuletzt die wachsende Zustimmung zu der Aussage „Das Leben hat keinen Sinn, außer man gibt ihn ihm selbst" zeigt. Als Fernwirkung des innerlichen Religionsverständnisses des Protestantismus erscheint die quasi religiöse Aufladung, um nicht zu sagen „Sakralisierung von Identität"29 im Kontext der Postmoderne. Am konsequentesten wurde dieser Gedanke schon früh von Thomas Luckmann entwickelt, für den der Vorgang der Personwerdung den eigentlich religiösen Prozeß darstellt.30 Nur durch die Aneignung von Kultur kann der 28 Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. 3. A. München u. Lesipzig 1923, S. 313.- Zur komplexen Religionstheorie Simmeis, welche in äußerst differenzierter Weise strukturelle und kulturelle Faktoren aufeinander bezieht, vgl. Volkhard Krech: Georg Simmeis Religionstheorie. Tübingen 1998. 29 Vgl. Hans Mol: Identity and the Sacred. A Scetch for a New Social Scientific Theory of Religion. Oxford 1976. 30 Vgl. zuerst Thomas Luckmann: Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft: Institution, Person und Weltanschauung. Freiburg i. Br. 1963. Überarbeitete Neuauflage u.d.T. Die Unsichtbare Religion. Frankfurt a. M. 1991.

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menschliche Organismus eigene Relevanzstrukturen aufbauen, und diese Entwicklung von Selektions- und Entscheidungsvermögen stellt den Kern der Personwerdung dar. Inwieweit das Individuum sich dabei an dem orientiert, was in einer Gesellschaft - oder in seiner Sozialisationsumgebung - als »Religion' gilt, ist eine zweite Frage; das ist - soziologisch gesprochen - von der gesellschaftlichen Verfassung solcher Religion und der sozialen Situation der Individuen und deren jeweiliger Veränderung abhängig. Präzisieren wir das Problem: Infolge der strukturellen Differenzierungsprozesse und der mit ihnen verbundenen gesellschaftlichen Komplexitätssteigerung erweitern sich grundsätzlich die Handlungsalternativen für die Individuen. Die kulturellen Veränderungen (Liberalisierung, Vervielfältigung möglicher Werte und Leitbilder) lassen diese Optionen auch als Optionenvielfalt für einen wachsenden Anteil der Individuen erfahrbar werden. Der Mensch wird - wie es Sartre ausdrückt - „zur Freiheit verurteilt", er muß „sich selbst erfinden". 31 Was wir als Biographie eines Menschen bezeichnen, wird somit als eine Sequenz von Entscheidungen gedeutet, für die immer weniger zureichende Gründe außerhalb der eigenen Person gefunden werden können. So wird die Person mit ihren im Laufe des bisherigen Lebens aufgebauten Relevanzstrukturen und den darin entwickelten Präferenzen selbst nicht nur zum Träger, sondern auch zum Kriterium des weiteren Entscheidens. „Gut ist, was zu mir paßt!" ,Selbstverwirklichung' wird so zum obersten Wert, Biographie also zur ,Religion', ,Selbsterfahrung' zur religiösen Erfahrung.32 Diese Entwicklung ist - unabhängig von der damit verbundenen Umcodierung der Religionsproblematik - keineswegs unproblematisch. Denn - wie der sprechende Buchtitel „Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende" 33 sagt, der Vorgang der Identitätssuche ist nicht abschließbar; die in expliziter Selbstreferenz aufgebauten Relevanzstrukturen gewinnen nur unter günstigen Bedingungen eine innere Festigkeit, die mit .Autonomie' bezeichnet werden könnte. Für viele wird eine ,Patchwork-Identität' (U. Beck) diagnostiziert, welche nur 3 1 Vgl. Jean Paul Sartre: L'existentialisme est un humanisme. Paris 1 9 5 4 , S. 37f. 32 Für unterschiedliche Interpretationen zu diesem Problemkreis vgl. Biographie und Religion. Zwischen Ritual und Selbstsuche. Hrsg. v. Monika Wohlrab-Sahr. Frankfurt/New York 1995. 33 Vom Ende des Individuums zur Individulität ohne Ende. Hrsg. v. H.-G. Brose und B. Hildenbrand. Opladen 1 9 8 8 . Zu dieser Problematik auch: Franz-Xaver Kaufmann: Selbstreferenz oder Selbstreverenz? Die soziale und religiöse Ambivalenz von Individualisierung. In: Ehrenpromotion Franz-Xaver Kaufmann. Eine Dokumentation. Ruhr Universität Bochum 1 9 9 3 , S. 25-46.

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noch alltägliche, rollen- und situationsspezifische Verläßlichkeiten präsentiert, die jedoch nicht mehr in Ausnahmesituationen trägt, weil sie nicht in der reflexiven Einheit eines Selbsterlebens fundiert ist. Die Aufklärung ging von der Perfektibilität des Menschen aus, und die Suche nach dem,Neuen Menschen', als deren neueste Variante Peter Sloterdijks kürzliche Rede von der Perfektibilität des Menschen durch populationsgenetische Strategien gelten kann, bildet ein immer wieder auftauchendes Thema in der „säkularen Religionsgeschichte der Moderne". 34 Einen .neuen Himmel' und eine ,neue Erde' versprach schon das Christentum; die Hoffnung auf eine , bessere Zukunft' gehört offenbar zum typischen Argumentationsarsenal der sich als historisch verstehenden Glaubensformen. Offenbar haben aber all diese säkularen Hoffnungen bisher getrogen. Auch wenn wir mit guten Gründen von Fortschritten der menschlichen Entwicklung im Zuge der Neuzeit sprechen können - ich erwähne lediglich die sich allmähliche durchsetzende Anerkennung allgemeiner Menschenrechte, die langsame, aber stetige Verbreitung demokratischer Herrschaftsformen und die allgemeine Verlängerung der Lebenserwartung als Indikator wachsender Wohlfahrt - so hat es doch nicht den Anschein, als ob diese überwiegend noch recht regionalen Fortschritte größer seien als das Wachstum der Herausforderungen, welche aus den Umständen dieser Fortschritte resultieren. Die unbeherrschbare Komplexität der heutigen Weltzusammenhänge erscheint den meisten Menschen ebenso geheimnisvoll und hoffnungsvoll/bedrohlich wie die Welt der magischen Kräfte oder der guten und bösen Geister, an die unsere Vorfahren noch vor wenigen Generationen glaubten. In dem Maße jedoch, als im Zuge der Globalisierung die Welt tatsächlich zusammenwächst, verliert sich auch der Glaube, sie im Ganzen begreifen zu können. 35 Neu erscheint jedoch die Individualisierung, um nicht zu sagen die Vereinsamung bei der Orientierung in der Welt. Zum mindesten der repräsentative Mensch der Moderne, also der Großstädter, lebt tendenziell nur in losen sozialen Netzwerken mit weitgehend thematisch spezialisierten Beziehungen, in denen ,das Ganze' der Welt ebensowenig wie die Einheit des Selbst thematisch wird. Um nicht defätistisch mißverstanden zu werden, sei betont, daß die damit einhergehende individuelle Verunsicherung das Ergebnis wachsender Systemsicherheiten ist. 34 Vgl. Gottfried Küenzlen: der Neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne. München 1994. 35 Dazu zentral Emanuel Richter: Der Zerfall der Welteinheit. Vernunft und Globalisierung in der Moderne. Frankfurt/New York 1992.

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Noch nie war, aufs Ganze gesehen, unser Leben so voraussehbar wie unter den Bedingungen wissenschaftlich angeleiteter Technik. Orientierung wird hier ein auf einzelne Themen und Handlungen differenziert abhebendes, stets erneutes Bemühen. Die wachsende Systemsicherheit münzt sich jedoch nicht unmittelbar in Selbstsicherheit um.36 Unterstützung des persönlichen Selbsterlebens setzt dauerhafte,,dialogische' an der Ganzheit der Person orientierte Sozialbeziehungen voraus, wie sie Martin Buber als .dialogische' Sozialbeziehungen beschreibt.37 Freundschaften solcher Qualität waren stets selten; familiale Bindungen scheinen heute am ehesten noch entsprechende Voraussetzungen zu bieten.38 Aber feste familiale Bindungen sind unter großstädtischen Bedingungen auch sehr erschwert. Die wachsende Kinderlosigkeit der nachwachsenden Generationen konzentriert sich - teils ungewollt, teils gewollt - in den Großstädten. Was fehlt diesen repräsentativen Menschen der Moderne, die nicht mehr durch die Stabilität ihrer Lebensbeziehungen in einen sozialräumlichen Kontext eingebunden sind, den das Wort .Heimat' bezeichnet? Wie können sie mit den Herausforderungen produktiv umgehen, welche sich aus dieser Lebensweise ergeben? 3. Dauerreflexion als religiöser Habitus? Fehlt diesen Menschen .Religion'? Oder fehlt ihnen .Metaphysik? Oder gar .Theologie'? Gibt es noch ein wirkliches Interesse oder Bedürfnis, das mit dem durch diese Begriffe Gemeinten abgedeckt werden kann? Ich zitiere noch einmal Friedrich Tenbruck: „Das Dauergespräch über Religion lebt nicht vom Interesse an der Religion, sondern vom Interesse an der Reflexion über Religion." Überblicken wir die vielfältigen modernen Diskurse über Religion, die hier nur angedeutet werden konnten, so wird eine Struktur der Argumentation erkennbar, die unter verschiedenen Bezeichnungen stets drei Größen aufeinander zu vermitteln sucht: Ich oder Mensch, Gesellschaft oder Menschheit, Gott oder Transzendenz, um nur die wichtigsten Namen zu nennen.39 Solche Vermittlung stiftet .Religion', und die36 Vgl. Franz-Xaver Kaufmann: Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. 2. A. Stuttgart 1973, S. 214-227. 3 7 Martin Buber: Ich und Du. 10. A. Heidelberg 1979. 3 8 Vgl. Johannes Huinink: Warum noch Familie? Zur Attraktivität von Partnerschaft und Elternschaft in unserer Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1995. 3 9 Vgl. beispielsweise die jüngste Definition von .Religion' „als eine Kommunikationsform, die auf der Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz basiert.

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ser Satz läßt sich ebenso aktivisch wie passivisch verstehen: wo solche Vermittlung gelingt, geschieht Religion, bzw. Religion bewirkt solche Vermittlung. Aber eben dies scheint heute nicht mehr zu gelingen, zum mindesten nicht in einer kulturtypischen, für die meisten Menschen repräsentativen Weise. Es gibt gegenwärtig offenbar keine religiöse Semantik, die eine solche Vermittlung zwischen der Ganzheit der Welt und der Einheit des individuellen Bewußtseins auf eine breit akzeptierte Weise zu leisten vermöchte. Aber ist das denn für ein gedeihliches, sinnvolles Leben überhaupt notwendig? Ist Religion in diesem Sinne nicht schlicht entbehrlich, weil es sie überhaupt nie als gesellschaftsweites Phänomen gegeben hat? Ist nicht die Vorstellung einer Ganzheit der Welt weit offensichtlicher eine illusionäre Projektion denn die Gottesvorstellung? Das Problem der Einheit des Selbsterlebens ist gewiß ein drängendes für den typischen modernen Menschen, und für die einigermaßen saturierten Intellektuellen unserer Zeit (und solche, die es werden wollen) vielleicht sogar das Drängendste. Wenn wir die höchste Sehnsucht eines Menschen als seine Religion bezeichnen wollen, so mag die Vergewisserung von Ich-Identität, wie die Einheit des Selbsterlebens im Anschluß an psychoanalytische Diskurse meist bezeichnet wird, durchaus für viele Menschen ihre Religion sein. Aber mit dem, was die Traditionen unserer Kultur als ,Religion' bezeichnet haben, hat dies systematisch bestenfalls indirekt zu tun. Und es ist eine eher schädliche Illusion, zu glauben, man könne solche Einheit ohne die Bereitschaft zu verläßlicher, Vertrauen erwekkender Mitmenschlichkeit erreichen, oder in christentümlicher Diktion: ohne die Bereitschaft zur Nächstenliebe, also die Bereitschaft zum engagierten Geben und Empfangen in Ich-Du Beziehungen.40 So komme ich zum Schluß, daß christliche Theologie auf den Unbegriff der Religion verzichten sollte, wenn sie sich ihrer Aufgaben in unserer Zeit vergewissern will. Weniger verbraucht scheint mir der Begriff der Metaphysik, vielleicht gerade deshalb, weil schon die Moderne und erst recht die Postmoderne sich von ihm verabschiedet hat. Allerdings wäre auch hier deutlich zu unterscheiden zwischen den Bereichen der transzendentalen Bestimmungen. Die „Metaphysik der Freiheit", Ihre Funktion besteht darin, Kontingenz zu bewältigen, indem sie Unvertrautes in Vertrautes übersetzt und offene Möglichkeitsspielräume schließt. Religion thematisiert und vermittelt auf symbolische Weise die Differenz von .Individuum' und .Gesellschaft', von endlichem Bewußtsein und grenzüberschreitender, kommunikativ verfaßter Welt." Krech, Religionssoziologie, a.a.O. (FN 1) S. 75. 40 Vgl. die bemerkenswerte interdisziplinäre Diskussion in: Kontinuität der Person: Zum Versprechen und Vertrauen. Hrsg. v. Richard Schenk. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998.

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wie sie Theo Kobusch theologie- und philosophiegeschichtlich zu entwickeln unternommen hat,41 ist etwas Anderes als die Metaphysik der Natur oder der Gesellschaft. Metaphysik als Kosmologie scheint mir unter den Bedingungen der Moderne ein aussichtsloses Unterfangen geworden zu sein. Eine Metaphysik der Freiheit dagegen erscheint angesichts der kausaltheoretisch - technischen Weltauffassungen der Naturwissenschaften und angesichts der gegenwärtig entstehenden Misch formen von Natur- und Geisteswissenschaften ein Gebot der Stunde, wenn der moralische Charakter unseres kulturellen Selbstverständnisses gewahrt bleiben soll. Wo aber bleibt die Theologie, der ich ihren scheinbaren Grundbegriff, die Religion, entziehen möchte? Sie wird, wenn sie vor dem Forum der Vernunft bestehen will, sich dem partikulären Charakter ihres Projektes stellen und sich selbst differenziert in dem kaum mehr kohärenten Feld zwischen christlicher Glaubenstradition, kirchlichen Eigendynamiken, kulturellen, sozio-politischen und sozio-ökonomischen Veränderungen sowie in den zwischen ihnen vermittelnden wissenschaftlichen und öffentlichen Diskursen zu positionieren haben. Auch die Theologie verfügt ja nicht über den kopernikanischen Punkt, von dem aus sie die Welt im Ganzen betrachten, geschweige denn aus den Angeln heben könnte. Wie uns die Kunstgeschichte eindrücklich vor Augen führt, war die Zentralperspektive eine ort- und zeitgebundene Form der Weltwahrnehmung und Weltdarstellung, nämlich in der okzidentalen Kunst vom 15. bis zum 19. Jahrhundert, also in der Zeit der frühen Moderne.42 Die in ihrer Komplexität entfaltete, radikalisierte Moderne und die sie reflektierende Postmoderne erkennt die Zentralperspektive als Illusion, oder - wenn sie denn Gott in Betracht zieht - als die eigentlich göttliche Perspektive, die sich der aufklärerische Impetus zu Unrecht aneignen wollte.43 Prometheus läßt grüßen! Theologie als ausdifferenzierte, zwischen Kirche und Universität prekär institutionalisierte Wissenschaft44 wird einen besonderen, ihr nicht streitig zu machenden Platz in den westlichen Gesellschaften nur inso-

4 1 Theo Kobusch: Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild. Freiburg i. Br. 1993. 4 2 Dazu systematisch Martin Burckhardt: Metamorphosen von Raum und Zeit. Eine Geschichte der Wahrnehmung. Frankfurt am.M./New York 1997. 4 3 Vgl. Franz-Xaver Kaufmann: Der Verlust der Zentralperspektive und die Rehabilitierung des Religiösen. Das Dilemma der Kirchen in der postmodernen Gesellschaft. In: Kirche in unserer Zeit. Hrsg. v. Stephan Pauly. Stuttgart 1999, S. 23-35. 4 4 Vgl. hierzu Franz-Xaver Kaufmann: Theologie zwischen Kirche und Universität. In: Tübinger theologische Quartalsschrift 171 (1991) S. 2 6 5 - 2 7 7 .

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weit sich erhalten können, als sie sich als Interpretin christlicher Gotteskunde versteht. Diese Gotteskunde muß allerdings in den Kontext einer nachchristentiimlichen Kultur vermittelt werden, ein vermutlich komplexes und im Verhältnis zu den kirchlichen Traditionen umweghaftes Vorhaben. Dieses Postulat führt in ein weites Feld, das zu beackern ich den nachfolgenden Referenten unseres Kongresses überlassen möchte. In einer Zeit, da sich die öffentlichen Kirchen weit mehr um Arbeitslosigkeit (so die evangelische) oder die Abwehr weiblicher Anliegen (so die katholische Kirche) kümmern, mag das Ansinnen, die Theologie möge sich, ihrem Namen gemäß, um die Auslegung christlicher Gotteskunde in unserer Zeit weniger befremdlich wirken als in .frömmeren' Zeiten. Denn das wachsende Schweigen (oder auch die gelegentliche Geschwätzigkeit) von Kirchenvertretern hinsichtlich der Gottesfrage scheint mir kein Schweigen im Sinne des Wittgensteinschen Tractatus zu sein,45 sondern Ausdruck einer Geschäftigkeit, die eben eine Eigenart unserer gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Daß daher der Theologie zugleich eine asketische Haltung gegenüber solcher Geschäftigkeit zugemutet wird, ja daß sich solche Theologie leichter im kontemplativen Kontext eines Klosters als in einer modernen Universität betreiben läßt, sei gerne zugestanden. Jede Form der Wissensproduktion braucht ihr spezifisches Milieu, wie neuere wissenschaftssoziologische Forschungen zeigen. Doch nicht die partikulären Bedingungen einer partikulären Praxis seien abschließend hervorgehoben, sondern erneut die Frage nach der Überwindbarkeit solcher Partikularität im Horizont postmoderner Multiperspektivität. Wolfgang Welsch hat mit seinem Begriff der t r a n s versalen Vernunft' hier philosophische Wege geebnet, die zu begehen jedoch mehr als einen Vortrag voraussetzte.46 Ohne schon die Reflexivität der gesellschaftlichen Differenzierungsprozesse voraussetzen zu können, welche den Horizont unserer heutigen Überlegungen bildet, hat jedoch Helmut Schelsky, den ich in mancherlei Hinsicht auch als meinen akademischen Lehrer bezeichnen darf, die veränderte Form des religiösen Habitus im Kontext der Moderne bereits 1957 in einem damals vielfach als provozierend empfundenen und auch heute noch lesenswerten Aufsatz formuliert, an den ich zum Schluß erinnern möchte. Schelsky charakterisierte die Heraufkunft der „wissenschaftlich-industriellen Gesellschaft" durch „Reflexions-, Rationalitäts- und Bewußt45 „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen." Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt a. M. 1964, S. 115. 46 Vgl. Wolfgang Welsch: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt a. M. 1995.

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seinssteigerung", welche auch das „gegenständlich Gewußte der Heilswahrheiten" durch Dauerrreflexion auflöst.47 Dauerreflexion meint dabei nicht das Geschäft eines einzelnen, sondern ist die öffentliche Form des wahrheitsorientierten Umgangs mit der Wirklichkeit geworden. Schelsky postulierte, daß auch religiöse Wahrheiten sich nur im Modus der Dauerreflexion unter den Bedingungen der Moderne vital erhalten können. Er forderte daher die Institutionalisierung von Situationen kommunikativer „Offenheit für die Wahrheiten der anderen" und sah in den kirchlichen Akademien einen hierfür geeigneten Ort. Dauerreflexion als religiöser Habitus bedeutet die „dialektische, selbst- und fremdkommunikative Dauerwachheit und -helligkeit des Bewußtseins als Glaubensleistung."4S Es ist also die spirituelle Wachheit für die Wahrheiten der Anderen, die Überwindung der Ich-Zentriertheit des eigenen Glaubens, der eigentlich religiöse Akt. Und er Schloß mit einer Kaskade von Paradoxien, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte: „Der innere Weg, den diese Institutionalisierungen der Dauerreflexion dem Menschen aufgeben, scheint mir ebenso zwingend zu sein, wie seine Realisierung unwahrscheinlich, nämlich gegen die ihn primär tragenden Weltgesetzlichkeiten der Institution und der Ich-Subjektivität gerichtet. Was wird eigentlich in diesen modernen religiösen Institutionalisierungen angesonnen: Dauerreflexion ohne Handlungsverlust, Weg nach Innen ohne Außenverlust, Ich-Einsamkeit ohne Du-Verlust, Dauerrede, um zu schweigen. Der .Weg' des Glaubens ist aber in jeder Weltsituation das jeweils schlechthin Unwahrscheinliche und Unbeweisbare. Die Religionssoziologie als eine Weltfaktenund Erfahrungswissenschaft kann ihm gegenüber daher nur die .Irrwege' erfassen und als das Wahrscheinliche beweisen."49

Es ist also eine spezifische Art der Dauerreflexion, die dem religiösen Diskurs aufgegeben ist. Sie nimmt ihre Standards aus dem, was die christliche Tradition, auf die der Diskurs sich bezieht, selbst fordert. Insofern geht es um die Korrelation zwischen interpersonaler Prämisse und interpersonaler Praxis des Diskurses. Die Wirklichkeit des eigenen Glaubens erweist sich am Anderen. Das .Laboratorium' der Theologie ist somit die ergebnisoffene Suche der Wahrheit des je Anderen, im Wissen, daß uns ein Abschluß dieser Suche verwehrt ist, daß die Reflexion an kein Ende kommen kann und daß all unser Erkennen „Stückwerk bleibt" (l.Kor.13,9). 47 Helmut Schelsky: Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? In: Zeitschrift für evangelische Ethik 1 (1957) S. 153-174; hier zitiert nach ders.: Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze. Köln 1965, S. 250-275., Zitate S. 256f. 48 Ebda. S. 258, Hervorhebg. von mir. 49 Ebda. S. 273.

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Eben dies ist auch die Konsequenz postmoderner Wirklichkeitsauffassungen. Sie vermitteln die Einsicht, daß wir am Begriff der Wahrheit nur festhalten können, wenn wir von ihrer multiversen und multiperspektivischen Form ausgehen. Meine Wahrheit kann deshalb nie die ganze Wahrheit sein. Und da Wahrheit ohnehin keine Eigenschaft der Wirklichkeit, sondern ein transzendentales Postulat unseres Verhältnisses zur Wirklichkeit ist, erscheint meine eigene Wahrheitsfähigkeit nur insoweit als glaubhaft, als sie die Wahrheitsfähigkeit des Anderen voraussetzt. Diese Wahrheitsfähigkeit ist jedoch kein natürlicher, sondern ein moralischer Tatbestand, ebenso wie die Freiheit des Menschen keine natürliche, sondern eine moralische, d.h. aus der Entwicklung seiner Sitten und seines sittlichen Denkens stammende ist. ,Wahrheit', ,Freiheit' und ,Gott' sind hoch elaborierte Kategorien menschlicher Kultur, deren Verständnis sich einer naturwissenschaftlich-technischen Auffassung des Menschen - von Auschwitz bis zum .Menschenpark' (Sloterdijk) - verschließt. Sie sind ,meta-physisch', d.h. wirklich nur, weil Menschen an sie glauben. Aber die naturwissenschaftliche Auffassung des Menschen wäre selbst ohne menschliche Kultur unmöglich; deshalb ist ihre kulturunabhängige Absolutsetzung ein Widerspruch in sich. In diesem Sinne ist .Metaphysik' - das Denken der Menschlichkeit als Kulturtatsache - konstitutiv auch für das Selbstverständnis des Menschen in der Moderne. Der Mensch wird nur, indem er seine Natürlichkeit transzendiert. Thomas Luckmann nennt dies den eigentlich religiösen Prozeß. Man kann ihn auch denken, ohne von .Religion' zu sprechen. Für die christlichen Theologien bleibt dann die Aufgabe, Menschlichkeit als Kulturtatsache auszulegen „etsi Deus ac Christus daretur". Das Spezifikum des Christenglaubens verlangt spezifischere Diskurse als die Rede von .Religion'.

Religion in der Moderne* WILHELM GRÄB

Der Kongreß fragt nach Religion - Metaphysik(kritik) - Theologie. Damit ist seine Fragestellung eine solche, die im geistig-kulturellen Problemhorizont der Moderne steht. Deshalb zu Recht heute morgen als erster Themenkomplex: Religion in der Moderne. Für die Theologie bedeutet die Moderne denjenigen kulturellen Umbruch, der wesentlich zu den kritischen Neu- und Umbestimmungen im Begriff der Religion, der Metaphysik und der Theologie führte. Seit der Epoche der Aufklärung in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts bezeichnet der Begriff der Religion den anthropologischen Ort der Symbolisierung letzter Daseinsgründe und Handlungszwecke, meint der Begriff der Metaphysik eine solche der menschlichen Freiheit und ist unter der Theologie die Deutungsarbeit am Symbolsystem der christlichen Religion, ihrer biblischen Überlieferungen und dogmatischen Lehrbildungen zu verstehen. Der modernitätsspezifische Fragehorizont des Kongresses wurde in den drei Vorträgen des Vormittags erkennbar. Ich will versuchen, ihn schärfer noch zu akzentuieren, weiterführende Fragen zu formulieren und die Konsequenzen für eine sich zeitdiagnostisch unter den Bedingungen der Moderne formulierende Theologie in abschließenden Thesen zu artikulieren. Klaus Müller machte mit seinen „Erwägungen zum philosophischen Profil von Religion in der Moderne" deutlich, daß dieses philosophische Profil nicht mehr in der Arbeit am Gottesgedanken liegt. Es gilt das Paradigma des Humanen und seines Verhältnisses zur Idee des Unbedingten. Die Religion gibt Antwort auf die Frage nach der Einheit der humanen Subjektivität angesichts der ihr eigentümlichen Weltstellung. Die nachkantische Religionsphilosophie hat ihr Bezugsproblem in der Bearbeitung der antinomischen Verfassung der humanen Subjektivität erkannt. Sie arbeitet sich an den Schnittstellen ab, zwischen Subjekt und Person, zwischen der Subjektivität als allgemeiner Struktur des humanen Selbst- und Weltumgangs und ihrem Vorkommen am Ort der Indi*

(Statement auf dem Bochumer Kongreß vom 4.-7.10.99 „Religion - Metaphysik(kritik) - Theologie)

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viduen. Die Subjektivität ist einerseits die Bedingung der Möglichkeit des Wissenkönnens, daß überhaupt eine sinnhaft erschlossene und gestaltbare Welt für uns ist. Sie kommt andererseits empirisch nur vor in den individuellen Personen, die sich dabei zugleich als jeweils einzelne neben anderen wahrnehmen. Die Person ist das individuelle Allgemeine. Sie ist dies aber auch wiederum nur dann und insofern, als sie sich als solche weiß und entsprechend handelt. Die Realisierung des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses steht unter den allgemeinen Bedingungen des Wissenkönnens. Es ist von der Struktur Subjektivität. Das Vorkommen dieser allgemeinen Struktur, daß es also unter ihren Bedingungen zum Aufbau einer menschen- und lebensdienlichen Kulturwelt kommt, ist an den Vollzug individueller Freiheit, verantwortlichen, personalen Handelns gebunden. Wie aber kann die Freiheit unter den Bedingungen ihrer Realisierung, sofern diese mit Individualisierung einhergeht, frei bleiben? Die Person hat als individuelle andere Personen neben sich. Sie muß also auch deren Freiheitsrecht anerkennen, das Allgemeine der Freiheit, daß sie unbedingt gilt, am Ort des Individuellen, somit immer auch Partikularen, präsent halten. Das ist der neue, humane Ort der Religion. Die Religion sieht das Endliche, Bedingte im Horizont des Unendlichen, Unbedingten. Sie hält somit auch das Wissen um die allgemeine Subjektivität als Bedingung der Möglichkeit einer Welt, die für uns ist, am Ort der individuellen Person präsent. Die Religion verpflichtet so auf die Verantwortung vor dem Allgemeinen in der Realisierung individueller Freiheit. Sie sorgt für wechselseitige Anerkennungsverhältnisse zwischen solchen, die sich als Subjekt (im Horizont des Allgemeinen) wissen und als (individuelle) Person neben anderen Personen wahrnehmen. Jede Person ist ihr - da ebenfalls von der allgemeinen Struktur Subjektivität - zugleich immer auch von unendlichem Wert. Die Religion ist das Bewußtsein des transzendenten, man kann auch sagen, metaphysischen Grundes menschlicher Freiheit. Eher unthematisch blieb in den Ausführungen von Klaus Müller ein Sachverhalt, auf den sich Oswald Schwemmer dann konzentriert hat. Müller betonte zu Recht, daß die Religion das Gegebensein der allgemeinen, konstitutiven Bedingung des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses am Ort des individuellen Selbstbewußtseins artikuliert, das Konstituiertsein des Humanen aus Gründen, die seiner eigenen Verfügungsmacht entzogen sind, wie auch, daß der einzelne sich eben dazu verhalten muß, seine Freiheit also eine notwendige ist. Müller ging jedoch nicht darauf ein, in welcher Form des Wissens die Religion sich zu den letzten Gründen des Daseins und der Freiheit menschlicher Weltgestaltung verhält. Es ist nicht die Form philosophischer Letzt-

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begriindung. Die Religion reduziert sich aber auch nicht auf Moral. Der Religion ist es eigentümlich, sich symbolisierend, also im Medium der Errichtung eines Systems von Sinnzeichen, im Gewand mythischer Erzählungen und in der Gestalt ritueller Vollzüge, zu den Gründen zu verhalten, von denen wir in der Freiheit unseres Verhaltens - auch ihnen gegenüber - uns zugleich schlechthin abhängig wissen. Oswald Schwemmer machte im engen Anschluß an Ernst Cassirer „die symbolische Existenz des Göttlichen" zum Thema. Auch für ihn rückt die Religionsthematik im kulturellen Umbruch zur Moderne an die Stelle der Gottesthematik. Religion hat ihren Ort im Kontext der Bestimmung des Humanen, des Menschen als eines „animal symbolicum" (Cassirer). Das Humanum ist im Begriff der Subjektivität oder der weltschöpferischen, zur Gestalt bringenden, symbolisierenden Tätigkeit des menschlichen Geistes zum Paradigma für die Bestimmung des Verhältnisses zum mythisch verstandenen Göttlichen oder zum religiös verstandenen Gott geworden. Gott ist Thema nur noch unter der Perspektive des menschlichen Verhältnisses zu ihm, des humanen Gottesverhältnisses, des mythischen oder religiösen Bewußtseins - als einer der Weisen menschlichen Selbst- und Weltumgangs. Cassirer hat in seiner „Philosophie der symbolischen Formen" auch einen Begriff davon gegeben, wie das religiöse Bewußtsein sich in der Folge der neuzeitlichen Aufklärung von der mythischen Bildwelt zum religiösen Ursprungsbewußtsein befreit, mit der Vorstellung von göttlichen Mächten seiner mythischen Herkunft aber zugleich verhaftet bleibt. Das religiöse Bewußtsein erfaßt den symbolischen Sinngehalt der überlieferten, mythischen Vorstellungen von einer göttlichen, alles bestimmenden Wirklichkeit. Im Unterschied zum Mythos, welcher der Übermächtigung durch die Bilder und Erzählungen von einer alles bestimmende Wirklichkeit unterliegt, deutet die Religion sie in ihrem personalen, geistig-moralischen Sinn. In der jüdisch-christlichen Tradition hebt diese Wendung vom mythischen Realismus, dem Gebanntsein durch heilige Zeichen, hin zum symbolischen Idealismus, der sie erfaßt in dem, wofür sie Symbol und Gleichnis sind, mit dem Bilderverbot an und dem Prophetismus. Der Prophetismus hat das Gewicht der religiösen Subjektivität und ihres symbolisierenden Handelns entdeckt. Auch die Religion hält sich an Sinnbilder, Symbole vom absoluten Sein, vom Göttlichen. Sie erkennt in ihnen das Ganze von Welt und Leben nach seinem Ursprung und seinem Ziel, ist Bewußtsein für den Sinn des Daseins, somit auch Wissen um die einheitlichen Orientierungsgründe im Handeln. Die Religion macht jedoch keine supranaturalen Seinsbehauptungen. In der Folge der modernen Umformungskrise der

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Kultur und ihrer symbolischen Formen kann die symbolische Existenz des Göttlichen nicht mehr im Verständnis des Gegebenseins einer metaphysische Substanz, eines transzendenten Grundes der Einheit der Wirklichkeit, wahr sein. Die Religion ist Bewußtsein für den Sinn des Daseins. Sie macht existentiale Sinnbehauptungen. Die Wahrheit, für die sie steht, ist eine Sinn- und Beziehungswahrheit. Die symbolische Existenz des Göttlichen, die sie behauptet, ist letztendlich die Existenz der humanen Subjektivität, eine transzendenzoffene Sinneinstellung, die Lebensform der Freiheit. Die Existenzwahrheit der Religion ist jedenfalls eine existentielle Wahrheit und die metaphysische Dimension, die sie hat, meint den weltlich unbedingten Grund einer Freiheit, die nur insofern wahr und wirklich ist als sie auch existentiell in Anspruch genommen, also im moralischen Handeln von Personen verwirklicht wird. Auch für Schwemmer bezieht sich die Religion schließlich vor allem auf diejenigen Fragen, welche die Metaphysik der Freiheit stellt. Auf der Linie Cassirers, der er gefolgt ist, hätte freilich stärker noch der Überlegung nachgegangen werden können, welche Gründe Cassirer dazu bewogen haben, die Kunst als eine symbolische Form ins Auge zu fassen, die sich vom Existenzproblem frei gemacht hat. Die Kunst findet ins freie Spiel der Sinnbilder. Sie wird unter den Bedingungen der Moderne zum eigentlichen Ort für die Realisierung der Freiheit, somit auch - wo man sie nur frei sein läßt - der Bildung einer menschen- und lebensdienlichen Kulturwelt. Franz-Xaver Kaufmann verstärkte die modernitätstheoretische Perspektive noch einmal, indem er hervorhob, daß der kulturelle Umbruch zur Moderne das Christentum in eine bis zur Gegenwart andauernde Umformungskrise gestürzt hat: „Selbsterfahrung, Dauerreflexion und Religion" - so seine Signale. Dabei ist Kaufmann wichtig, zu betonen, daß es nicht eine allgemeine, übergeschichtliche oder archaische Religion ist, sondern das Christentum, das sich im gesamtkulturellen Umbruch zur Moderne subjektiviert und individualisiert, in die gesellschaftlich allgemeinen Sinn- und Wertorientierungen verflüssigt, Eingang gefunden hat in die symbolischen Horizonte des Common Sense und dessen massenmediale Vermittlungen, in die Dauerreflexion von Akademien, Talkrunden und Chatrooms, schließlich verkirchlicht, institutionalisiert, zu einem gesellschaftlichen Teilsystem ausgebaut. Das Christentum hat sich unter den Bedingungen der Moderne sozio-kulturell vervielfältigt. Einmal ist das Christentum zur Individuenreligion geworden. So kommt es vor in der Gestalt subjektiver Lebenseinstellungen, synkretistischer Lebensdeutungen, diskursiver Sinnreflexion, intuitiver moralischer Überzeugungen. Sodann beschreibt es das System von Symbolen, aus

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denen sich die - inzwischen ja auch so genannte - „Medienreligion" nährt, Sinneinstellungen und Lebensformen, die über die populäre Alltagskultur vermittelt werden. Schließlich ist es das System der Dogmen und Glaubenslehren, der symbolischen und rituellen Praxis der Kirchen. Kaufmann fragt, was aus dieser geistig-religiösen Lage für die Theologie folge? Und antwortet überraschend, daß sie die christliche Gotteskunde zu interpretieren haben. Unter den Bedingungen der religiös individualisierten und pluralisierten Moderne dürfte der direkte Rekurs auf die Offenbarung allerdings wenig Überzeugungskraft mit sich führen. Der Theologie obliegt es sehr viel mehr, das zeitgenössische Verlangen nach Selbsterfahrung und die Phänomene religiöser Dauerreflexion nicht mit dem Anspruch auf höhere Offenbarungswahrheit zu bestreiten, sondern mit überzeugenden Hinweisen auf die transpragmatischen Sinnbedingungen unserer Existenz tiefer über sich zu verständigen. Auf diese Weise könnte sie die Vermittlungsfähigkeit des kirchlichen Christentums stärken. Dazu freilich müßte die Theologie sich sehr viel energischer noch der neuzeitlichen Umformungskrise des Christentums, also seiner Anthropologisierung, Subjektivierung und Individualiserung stellen. Es braucht - wie dann auch Kaufmann wieder betont - verstärkte Anstrengungen zur alltagsweltlichen Plausibilisierung der überlieferten christlichen Glaubensvorstellungen und motivkräftige Erfahrungen mit gelebtem Christentum in Kirche und Gemeinde. Beim Versuch, den Ertrag der drei Vorträge zur Religion in der Moderne für ein Konzept von Theologie zu formulieren, das die dringlich gebotene kulturelle Selbstverortung des Christentums leistet, ergeben sich mir drei Schlußfolgerungen, die zur Anregung weiterführender Diskussionen auf diesem Kongreß dienen können. 1. Eine die Religion unter den Bedingungen der Moderne reflektierende und thematisierende Theologie muß diese am Ort des individuellen, symbolisch vermittelten Sinnbewußtseins erkennen. Die Auslegung des religiösen Sinnbewußtseins ist die Aufgabe der Theologie. Ihr grundlegendes Verfahren ist das einer religiösen Phänomenologie und religiösen Kulturhermeneutik. 2. Eine die Religion unter den Bedingungen der Moderne reflektierende und thematisierende Theologie muß die Wahrheit der Religion als existentielle Sinn- und Beziehungswahrheit verteidigen. Sie wird dies auf der Basis nicht substanz-, wohl aber subjektmetaphysischer Argumentationen tun. Dabei begreift sie sich im systematischen Sinn als Religionstheologie.

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3. Eine die Religion unter den Bedingungen der Moderne reflektierende und thematisierende Theologie muß versuchen, die sinnstiftende Kraft der großen, mythischen Erzählungen unter moderngesellschaftlichen Bedingungen zu plausibilisieren. Die Entfaltung einer zeitgenössischen Glaubenslehre wird sich vor allem in der Beantwortung der Frage zu bewähren haben, warum der einzelne sich im funktionalen Getriebe einer total vernetzten, ihn austauschbar machenden Sozialwelt zugleich als freies Individuum, als Person und für die Gestaltung eines guten Lebens verantwortlich wissen kann. In ihrer materialen Durchführung leistet sie eine Hermeneutik religiöser Überlieferungen. Die christliche Glaubenslehre ist religiöse Symbolkunde.

Themenkreis II: Religion und Metaphysik

Worin besteht die Irreduzibilität religiöser Wahrheitsansprüche? Religion und negative Metaphysik THOMAS RENTSCH

I. Die hermeneutische Irreduzibilität Religion ist die Tiefendimension von Rationalität. Diese Behauptung möchte ich im folgenden begründen. Wahr sind Sätze, die sich im Zweifelsfall oder bei Nachfrage argumentativ begründen lassen. Sinnvoll sind praktische Orientierungen, die sich einsichtig machen und rechtfertigen lassen. Solche Sätze und Orientierungen beziehen sich auf die im Prinzip allen vernünftigen Menschen vertraute Wirklichkeit einer gemeinsamen, sprachlich erschlossenen Welt. Die allen gemeinsame Welt, die im Prinzip vernünftig zugänglich ist, ist nichts Statisches, sondern ständig im Wandel begriffen und sehr unterschiedlichen Perspektiven und Interpretationen zugänglich. Alle Dissense und Relativismen, so spannungsvoll sie auch sein mögen, haben nur auf dem Hintergrund dieser gemeinsamen Welt-Wirklichkeit einen Sinn, lassen sich nur auf diesem Hintergrund verstehen. Auch religiöse Wahrheitsansprüche und Orientierungen beziehen sich auf diese gemeinsame menschliche Welt und bewahrheiten sich in ihr oder sie stellen sich als letztlich falsch, als illusionär oder autoritär heraus. Bereits innerhalb der Fülle und Komplexität geschichtlicher Religionsformen lassen sich deshalb im Prinzip authentische und mit anderen Formen von Rationalität vereinbare von defizienten Formen unterscheiden: so steht Glaube neben Irrglaube und Aberglaube, Fundamentalismus und Dogmatismus stehen neben befreienden und deshalb humanen Formen religiöser Praxis, Gott stand und steht gegen viele Götzen, authentische Wunder stehen neben spektakulären Mirakeln, politisch funktionalisierter religiöser Fanatismus steht gegen eine Religion, die in den Anderen in universaler Perspektive Freunde, Brüder und Schwestern sieht. Die Kriterien vernünftiger Religiosität und ihrer Wahrheits- und Geltungsansprüche sind dabei zunächst einmal keine anderen als diejenigen sonstiger Lebensorientierung in der Wirklichkeit einer gemeinsamen Welt. Kurz: Es ging und es geht überall mit rechten Dingen zu, auch

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wenn z.B. alte Traditionen andere sprachliche Weisen der Vergegenwärtigung ihres Welt- und Selbstverständnisses und andere kultische und rituelle Übungen praktizierten. Daß es mit rechten Dingen zuging, ist auch der Grund dafür, daß wir ferne wie auch fremde religiöse Zeugnisse in ihrem internen Wahrheits- und Authentizitätsanspruch verstehen können, ohne diesen Anspruch noch selbst in ihrer Form zu übernehmen und zu vertreten. Wir leben weiß Gott nicht mehr unter dem altgriechischen Götterhimmel. Dennoch wissen wir, je nach Bildungshorizont, etwas anzufangen mit Zeus, Apollon und Dionysos, mit Aphrodite, mit Pan und Poseidon. Diese Götter beziehen sich auf intensive Lebenserfahrung und Lebenswirklichkeit, und wir verstehen den Sinn dieser Gestalten, ihre existentielle Bedeutung, die ganz unabhängig ist von ihrer nur vermeintlich von dieser Bedeutung separierbaren, bloßen „Existenz". Wir können sagen: Die alten Griechen haben sich so ausgedrückt, um das ihnen Wichtige im Leben auf anspruchsvolle Weise zu artikulieren. Auch der scheinbar oft bizarre Götterhimmel des alten Ägypten besetzt ganz verständlich die Stellen existentieller Lebenswirklichkeit; so steht Bastet mit dem Katzenkopf für Fröhlichkeit, Festlichkeit, Liebe und Freude; die Göttin Máat ist die Inkarnation der Wahrheit und Gerechtigkeit - mit ihr wird das Herz der Verstorbenen gewogen; selbst Toëris, dargestellt als aufrecht stehendes trächtiges Nilpferd mit gehörntem Krokodilskopf und Sonnenscheibe, Schwanz und Löwenbeinen, sie ist die Göttin der Frauen, der Wochenstube und der Wöchnerinnen. Als gutmütige Beschützerin hält sie das Lebenszeichen in der Hand und stützt sich auf das Zeichen für Schutz und Beistand. All dies ist eminent vernünftig, verstehbar und sinnvoll als intensiver Ausdruck letzter, grundlegender Lebenswirklichkeiten: Liebe und Freude, Wahrheit und Gerechtigkeit, Fruchtbarkeit und schutzbedürftiges Menschenleben. Die religiöse Sprache bildet somit keine noch über oder unter der normalen Welt I vorhandene Welt II repräsentationalistisch ab. Dies wäre eine vorhandenheitsontologische bzw. vorhandenheitssemantische, metasprachliche Fehldeutung religiöser Rede und Praxis, die leider sehr verbreitet ist. Vernünftig ließe sich sagen: die Rede und die Darstellungsformen von Toëris artikulieren auf emphatische Weise die Wahrheit über die Schwangerschaft, das Wochenbett und die Geburt im alten Ägypten, und damit eingeschlossen die Wahrheit über den angemessenen praktischen Umgang mit diesen Lebenswirklichkeiten par excellence. Auf emphatische Weise; das heißt auch: es wird eine höhere Wahrheit artikuliert, die in ihrem ganzheitlichen Anspruch Faktizität, Normativität und Praxis auf sinnvolle Weise umgreift. Gerade deswegen wird dieser höheren Wahrheit ja auch eine ganz besondere Ausdrucksform und rituelle Sonderpraxis zugeordnet. Denn

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die Schutzgöttin verdichtet die menschliche Lebenswirklichkeit von Schwangerschaft, Empfängnis und Geburt, in der das Faktische, das Normative und das Praktische, kurz: das, was geschieht und das, was wir tun können und tun müssen, untrennbar verbunden sind. Die Ebene der höheren Wahrheit ist deshalb nicht unvernünftig oder gar widervernünftig. Sie übersteigt zunächst einmal die bloß verstandesmäßig objektivierbare Ebene. Es wäre ein Fall von hermeneutischer Blindheit, würde man der Rede und der Praxis, die diese Lebensschutzgöttin Toëris konstituiert und umgibt, vorwerfen, sie stimme ja nicht mit unseren zoologischen Kenntnissen über Krokodile und Nilpferde überein. Das wäre eine grundsätzliche Ebenenverwechslung, denn Wahrheitsansprüche über das konkrete Tierleben im Nil der damaligen Zeit werden mit dieser Rede und Praxis nicht erhoben, wohl jedoch lebenspraktische Wahrheitsansprüche hinsichtlich dessen, was gut ist im Hinblick auf Schwangerschaft, werdende Mütter, Empfängnis und des Berufsethos der altägyptischen Hebammen. Ich nenne diesen Aspekt des Wahrheitsanspruches religiöser Rede mitsamt ihrer sinnkonstitutiven Praxisverwobenheit ihre hermeneutische Irreduzibilität. Das heißt auch: wenn wir diese Rede und Praxis überhaupt verstehen wollen, so müssen wir zunächst einmal ihre interne Logik, mit Wittgenstein, das Sprachspiel begreifen. Gerade deswegen habe ich ein so entlegenes Beispiel gewählt. Ersichtlich ist das Verstehen und Begreifen der internen Logik hier nicht notwendig mit der Übernahme der konkreten kultischen und rituellen Verehrungspraxis einer solchen Gottheit verbunden. Hier ist es anders als mit geläufigen z.B. arithmetischen oder empirischen, z.B. medizinischen Wahrheitsansprüchen, die viel stärker, wenn auch nicht gänzlich kulturunabhängig sind. Es gilt: Je mehr Wahrheitsansprüche mit der gesamten inneren Komplexität einer kulturellen menschlichen Lebensform verbunden sind, desto voraussetzungsreicher ist ihr Verständnis, desto unverzichtbarer ist die Kenntnis ihres praktischen Kontexte. In unserer westlichen Zivilisation werden viele ältere religiöse Lebensformen durch modische, industriell vermarktbare Kulte und Praxen ersetzt. Eine große Gottheit heißt hier „Leben": Leben, life, fitness, wellness, fun, Spaß. Diese Gottheit des unbeschwerten Lebensgenusses, mit den kleineren Göttern der Jugend, des Konsums, der Freizeit, des Urlaubs, der Reisen und der sportlichen Aktivitäten ist zwar sehr mächtig. Sie bestimmt das Lebenssinnverständnis vieler Menschen, und wer würde sich über einen solchen faktischen Polytheismus bzw. Hedonismus ernstlich wundern. (Woran jemand sein Herz hängt, das ist sein Gott, sagt Luther.) Trotzdem vermag die Hedonë letztlich leider nichts gegen Alter, Krankheit und Tod. Dementsprechend erhalten sich auch

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bei den sehr diesseitig polytheistischen Menschen traditionelle Formen der Totenbestattung und der Grabpflege. Deren praktischer Wahrheitsanspruch ist evident. Er wird an folgender Anekdote indirekt greifbar. Bei den Sioux-Indianern wird der Verstorbene mit Speise und Trank versehen, als ob er noch lebte. Ein weißer Amerikaner, vermeintlich besonders aufgeklärt, fragte einmal einen Sioux, den er bei solch frommem Tun beobachtete: „Bildest du dir ein, daß der Tote heraufkommt und dein Essen verzehrt?" Antwort des Indianers: „Ebenso wie du dir einbildest, daß dein Toter an den Blumen riecht, die du auf sein Grab pflanzt!" Der aufgeklärte Amerikaner hatte das religiöse Tun schlicht nicht verstanden. Schlimmer noch: Er sah nicht die Nähe seiner eigenen Praxis zu der von ihm als illusionär mißverstandenen Handlungsweise des Indianers. Angesichts der Totenbestattung und der Grabpflege läßt sich etwas vom irreduziblen Sinn religiöser Einstellungen verdeutlichen. Wo wir, wie man so sagt, eigentlich nichts mehr machen können, handelt es sich (mit Hegel gesprochen) um eine ehrende Fürsorge der Lebenden gegenüber den Toten. Diese ehrende Fürsorge als kulturelle Praxis Hegel spricht von ihr als der „Bewegung des Bewußtseins" der Familie - diese Fürsorge entzieht den Toten der unvernünftigen Macht der bloßen Natur und der ihn entehrenden Verwesung, damit auch sein letztes Sein, dies allgemeine Sein, nicht allein der Natur angehöre und etwas Unvernünftiges bleibe, sondern daß es ein getanes, und das Recht des Bewußtseins im Toten behauptet sei: „Die Blutsverwandtschaft ergänzt also die abstrakte natürliche Bewegung dadurch, daß sie die Bewegung des Bewußtseins hinzufügt, das Werk der Natur unterbricht, und den Blutsverwandten der Zerstörung entreißt, oder besser, weil die Zerstörung, sein Werden zum reinen Sein, notwendig ist, selbst die Tat der Zerstörung über sich nimmt. - Es kommt hiedurch zu Stande, daß auch das tote, das allgemeine Sein ein in sich zurückgekehrtes, tinFürsich sein, oder die kraftlose reine einzelne Einzelheit zur allgemeinen Individualität erhoben wird. Der Tote, da er sein Sein von seinem Tun oder negativen Eins freigelassen, ist die leere Einzelheit, nur ein passives Sein für anderes, aller niedrigen vernunftlosen Individualität und den Kräften abstrakter Stoffe preisgegeben, wovon jene um des Lebens willen, das sie hat, diese um ihrer negativen Natur willen jetzt mächtiger sind als er. Dies ihn entehrende Tun bewußtloser Begierde und abstrakter Wesen hält die Familie von ihm ab, setzt das ihrige an die Stelle, und vermählt den Verwandten dem Schöße der Erde, der elementarischen unvergänglichen Individualität; sie macht ihn hierdurch zum Genossen eines Gemeinwesens, welches vielmehr die Kräfte der einzelnen Stoffe und die niedrigen Lebendigkeiten, die gegen ihn frei werden und ihn zerstören wollten, überwältigt und gebunden hält.

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Diese letzte Pflicht macht also das vollkommene göttliche Gesetz, oder die positive sittliche Handlung gegen den Einzelnen aus." 1 Die Praxis der Bestattung und der ehrenden Fürsorge ist ersichtlich nichts Irrationales, sondern gerade die Ausdehnung praktischer Vernunft im Sinne der Achtung und Anerkennung der personalen Würde des Toten über seine physische Vernichtung hinaus. Wir könnten die Reste ja auch schlicht „entsorgen", uns viel Arbeit ersparen! So, wie der irreduzible Sinn der Schutzgöttin Toëris im Blick auf die jedem Menschen unverfügbare Geburt und die sie umgebende Praxis verständlich wird, so erhalten Bestattung und Grabpflege mit ihren vielen praktischen Weiterungen des ehrenden Gedenkens und der liebevollen Erinnerung ihren Sinn mit Bezug auf unsere Sterblichkeit. Das Irreduzible im emphatischen Wahrheitsanspruch religiöser Rede und Praxis kann philosophisch zunächst als ihr praktischer Wahr-

heitsanspruch im Verbund mit einem transpragmatischen Lebensbezug

bestimmt werden. Das verbindet sie, wie wir noch sehen werden, mit Traditionen europäischer Metaphysik. Es handelt sich darum, daß Vernunftansprüche über unsere technisch-pragmatischen und instrumentellen Handlungsmöglichkeiten hinaus vertieft und erweitert werden. Eine

solche ekstatische Vernunft begreift auch noch ihre eigenen transpragmatischen Sinnbedingungen in das Selbstbewußtsein ihrer kulturel-

len Praxis mit ein. Die transpragmatischen, unsere Handlungsmöglichkeiten nicht nur übersteigenden, sondern auch ermöglichenden und bestimmenden Aspekte unseres Lebens, ζ. B. Geburt und Tod - noch formaler: die zeitliche Endlichkeit unseres Daseins - sind kulturinvariant, die Art und Weise des Umgangs mit ihnen ist in hohem Maße kulturkovariant. In diesem kulturkovarianten Umgang mit den transpragmatischen Sinnbedingungen vernünftigen Lebens zeigt sich der kreative Entwurfcharakter ekstatischer Vernunft. Dieser kreative Entwurfcharakter verbindet die ekstatische religiöse Vernunft seit den Zeiten des Mythos mit Dichtung, Poesie, mit ästhetischen Ausdrucks- und Vergegenwärtigungsformen, von den altägyptischen Sonnenhymnen bis zur islamischen, bildlosen Architektur und bis zur Gestaltungspraxis der Zen-Gärten, um nur einige Beispiele zu nennen. In diesen kulturkovarianten Vergegenwärtigungsformen der transpragmatischen Sinnbedingungen einer menschlichen Welt zeigt sich der ganze Reichtum und die komplexe Binnendifferenziertheit ekstatischer Vernunft. So gliedert sich die endliche Zeitlichkeit des Lebens in die weichenstellenden Phasen der Geburt, der Namengebung, der Reife, der Ehe und Empfängnis, des Umgangs mit dem Altern und den Alten, in Ster1

G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg ' 1 9 5 2 (Meiner), S. 322f.

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ben und Tod. Diese weitgehend invarianten Lebensbedingungen verlangen gleichwohl einen Umgang mit ihnen, einen praktisch vernünftigen Umgang, um es mit Hegel zu sagen. Denn: Verhalten müssen wir uns zu diesen unverfügbaren Bedingungen unseres Lebens, es fragt sich nur, wie. Zu diesen Bedingungen gehören nicht nur die faktischen, sondern auch die praktischen Bedingungen, die z. B. in unserer Tradition als Individualität, moralische Verantwortung und personale Würde bezeichnet werden. Auch zu ihnen können und müssen wir uns noch einmal verhalten: zu unserer Schuld, zu unserer Vergangenheit, zu dem, was wir in unserer endlichen Zeit als unseren Lebenssinn entwerfen. Geburt und Tod, Tag und Nacht, die Sexualität sind „natürliche" Phänomene unseres Lebens. Aber auch sie gibt es nicht „an sich", sondern nur so, wie wir uns, kulturell und sprachlich vermittelt, zu ihnen verhalten. In traditionellen Kulturen war dieses Verhalten in hohem Maße verbindlich institutionalisiert. So verehrten die Kelten spezifische Übergangsphänomene und Doppelaspekte der Wirklichkeit: die blutige Placenta, Morgen- und Abenddämmerung, zweigeschlechtliche, janusköpfige Gottheiten. Ein staunendes, meditatives, verehrendes Verhältnis zu grundlegenden Lebenswirklichkeiten zu kultivieren, zu Wirklichkeiten, die unserem vernünftigen Handeln ermöglichend vorausliegen: Sensibilität für das Unerklärliche unseres Lebens wachzurufen: daß wir geboren wurden, als Frau oder Mann, in eine Welt hinein, in der es Morgen und Abend gibt - auch darin besteht die irreduzible Authentizität vieler religiöser Traditionen und Zeugnisse. Ihre auf solche Wirklichkeiten bezogenen internen Wahrheitsansprüche machen sie hermeneutisch irreduzibel als Zeugnisse ekstatischer Vernunft. Die hermeneutische Irreduzibilität gilt auch dann, wenn die Zeugnisse aus alten oder aus uns ferneren Kulturen stammen und nicht unsere eigenen sind. Ihrer humanen Dignität tut dies keinen Abbruch, wo sie Ausdruck des nicht weiter Erklärlichen, religiös: des Wunders der Existenz sind. Die kulturelle Variabilität religiöser Sprach- und Lebensformen ist groß; die Form und das Gewicht, die jeweilige geschichtliche Lebensformen dem Umgang mit lebenssinnkonstitutiver Wirklichkeit geben, kann sehr unterschiedlich sein. Das hängt von sehr vielen sonstigen Faktoren ab, tangiert aber nicht den Wahrheitsanspruch sich vielfach wandelnder religiöser, ekstatischer, sich für ihre eigenen transpragmatischen Sinnbedingungen öffnender Vernunft. Die bisherigen Analyse führte zu folgendem Ergebnis. In religiöser Praxis, in religiösen Sprach- und Lebensformen bekundet sich die Einsicht in transpragmatische Sinnbedingungen menschlichen Lebens und auch menschlicher Vernunft. Ihr Wahrheitsanspruch besteht also, recht verstanden, nicht in etwas Irrationalem, Nichtvernünftigem oder Un-

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vernünftigem oder gar Widervernünftigem, sondern - in der Perspektive der Sinnbedingungen von Vernunft selbst - in etwas Transrationalem, Übervernünftigem, das keineswegs unvernünftig ist. Wenn die religiöse Rede und Praxis bekennend, bezeugend und betend, rituell und sakramental, meditativ und kongregativ den ungeschuldeten Geschenkcharakter aller Wirklichkeit artikuliert und kultiviert - und zwar unter Einschluß der ethischen und moralischen Wirklichkeit - dann läßt sich solche Praxis als kulturell gestaltete, gelebte Einsicht in die transpragmatischen Sinnbedingungen einer humanen Welt verstehen. Wo sie dies nicht ist - in Fanatismus, Dogmatismus und den vielen Irrationalismen, von denen alle menschliche Praxis durchsetzt ist, wo sie politisch funktionalisiert oder zur Aufrechterhaltung ethisch und politisch verurteilenswerter Verhältnisse instrumentalisiert wird - , da kommt es zu Perversionsformen, die der Kritik umwillen des genuinen Wahrheitsanspruchs von Religion zu unterziehen sind. II. Negative Metaphysik: Die anthropologisch-praktische Irreduzibilität Wir können uns diesem Wahrheitsanspruch auch von einer nicht-religiösen Perspektive aus annähern, nämlich aus der Perspektive der Philosophie. Diese läßt sich seit ihrer antiken Entstehung im Kern und im Wesen durch die Jahrhunderte hindurch als kritische Sinngrenzreflexion und damit als Sinngrundreflexion verstehen. Theologisch redet die Philosophie bei Piaton und Aristoteles bekanntlich lange vor der Entfaltung einer spezifisch christlichen Metaphysik; und weder Kants transzendentale Kritik noch Hegels Dialektik, weder Heideggers Fundamentalontologie noch Wittgensteins sprachkritisch-mystische Grenzziehung sind ohne theologische Kontexte und religiöse Quellen, Hintergründe und Bezüge verstehbar. Philosophie und Religion, Metaphysik und Theologie gehören zusammen zur Einheit der europäischen Vernunftgeschichte. Worin besteht diese Einheit und wie läßt sie sich - möglichst kurz charakterisieren? Ich sehe diese Einheit zentral in negativen praktischen Einsichten angelegt, deren praktische, ethische Bedeutung für unser vernünftiges Welt- und Selbstverständnis, insbesondere auch für unser Freiheitsverständnis entscheidend ist. Dramatisch ließe sich für diesen Zusammenhang an das Diktum Nietzsches anknüpfen, am Beginn des Abendlandes stehe der Tod zweier Männer: Sokrates und Jesus. Die negativ-kritischen praktischen Einsichten, die nach meiner Auffassung für die europäische Vernunftgeschichte konstitutiv sind, sind zentral vorgeprägt im biblischen Bilderverbot, im sokratischen Nichtwissen und

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in der Verkündigung des Kreuzestodes des menschgewordenen Gottes. Das Bilderverbot entfaltet eine insbesondere im Verbund mit der Ethik ungeheure rationalitätskonstitutive, freisetzende und kritische Dynamik. Das sokratische Nichtwissen erst setzt den freien, gemeinsamen und dialogischen Entwurf kommunikativer Rationalitätsformen in Wissenschaft, Recht, Technik und Politik frei. Der Zusammenhang von Metaphysik und Politik bildet sich hier aus. Der Kreuzestod Jesu und das Bleiben der Gemeinde in der Liebe stellt ein einzigartiges religions- und kulturgründendes Ereignis (auch der Befreiung) dar. Auch ohne direkten Religionsbezug geht es in der Philosophie mit Kant um die „Selbsterkenntnis des Verstandes und der Vernunft", die er als anthropologia transcendentalis2 bezeichnet: das heißt, es geht um die selbstreflexiv-kritische Analyse der Sinnbedingungen und Grenzen unseres Denkens, Erkennens und Handelns. Diese Reflexion auf die sinnkonstitutiven Grenzen der menschlichen Welt berührt sich aber immer wieder mit religiösen Erfahrungen und Einsichten. Solche Berührungspunkte lassen sich nach meiner Auffassung systematisch neutral zunächst in Form folgender negativ-praktischer Einsichten fassen: (1.) Es ist zunächst die Einsicht, daß wir das Ganze der Welt nicht erkennen können. Erst recht steht uns das Ganze der Welt handelnd nicht zur Verfügung. Nur partiale Aspekte der Welt sind uns, selbst wiederum nur sehr partial, diskursiv-zeitlich, perspektivisch-räumlich, kurz: durch und durch endlich und zeitlich begrenzt zugänglich. Kantisch und als negative Metaphysik formuliert: Die Welt ist kein Objekt möglicher Erfahrung. (2.) Es ist ferner die Einsicht, daß wir auch uns selbst, unser Wesen, nicht erkennen und nicht zur Gänze objektivieren können. Würden wir es versuchen - und wir tun es auf diskursiv-endliche Weise immer wieder - , so wären es doch wieder wir selbst, die handelnd unobjektivierbarer Grund dieser Objektivationsleistungen sind. Weder uns selbst, noch die Anderen können wir anders denn gebrochen kommunikativ transparent machen. Kantisch und als negative Metaphysik bzw. negative Anthropologie formuliert: Wir selbst und auch unser moralisch-praktisches Wesen sind keine Gegenstände möglicher Erfahrung. (3.) Es ist schließlich die negativ-praktische Einsicht, daß wir auch die praktischen Sinnbedingungen unserer Orientierungspraxis, und das ist insbesondere die Sprache, mit der wir „Höheres" (Wittgenstein), die Ideen bzw. die Transzendentalien, das „Wahre", das „Gute" zumal, zu artikulieren suchen, daß wir über diese idealen Sinnbedingungen unse2

I. Kant, Kants Opus Postumum, hg. A. Buchenau, Berlin 1936, No. 9132.

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rer Weltorientierung nicht pragmatisch und technisch verfügen, obwohl wir sie ständig in Anspruch nehmen und auch in Anspruch nehmen müssen. Wir sind auf vorbildlose Sinnentwürfe angewiesen, obwohl unsere Mittel dazu durch und durch endlich, begrenzt, empirisch und geschichtlich bedingt sind. Diese Negativität der menschlichen Selbst- und 'Welterkenntnis, ihrer faktischen wie praktischen Sinnbedingungen ist ein zentrales systematisches Verbindungsglied von philosophischer und religiöser Vernunft. Aber erst dann, wenn wir den Zusammenhang von Endlichkeit und Ethik, von Negativität und praktischer Vernunft noch deutlicher herausstellen, erst dann können wir auch die praktisch-vernünftige Irreduzibilität religiöser Wahrheitsansprüche noch präziser fassen, ihr den Anschein von Relativität und Beliebigkeit nehmen.3 Was wir theoretisch nicht erkennen können und worüber wir pragmatisch nicht verfügen, dazu können und müssen wir uns dennoch praktisch, in freien Entwürfen, verhalten. Das gilt insbesondere angesichts der genannten drei Bereiche negativ-praktischer Einsichten. In einer negativen Metaphysik können wir die hier ganz formal aufgewiesenen Aspekte auch als die Transzendenz der Welt, die Transzendenz der Anderen, die Transzendenz unserer selbst und des eigenen Lebenssinnes sowie als die Transzendenz des Guten und des Wahren im emphatischen Sinne bezeichnen. Diese Transzendenzen, die eine negative Metaphysik (bzw. anthropologia transscendentalis) formal auszeichnen kann, sind gleichzeitig Möglichkeitsbedingungen einer menschlichen Welt und Praxis. Daß sich historisch gerade die europäische Philosophie- und Theologiegeschichte im Bereich einer negativen bzw. transzendentalen Metaphysik und negativen Theologie tiefgreifend berührt haben und in den großen Entwürfen dieses Jahrhunderts weiter berühren, hat systematisch seinen entscheidenden Grund in diesem Zusammenhang von Negativität und Sinnkonstitution. (Ausführlich wäre dies im europäischen Kontext an der Rezeption der Platonischen Ideenlehre, an der Geschichte der negativen Theologie und der Trinitätstheologie sowie an der Herausbildung der Transzendentalienlehre zu zeigen. Ein früher exemplarischer Autor ist in diesem Zusammenhang ζ. B. PseudoDionysios Areopagita, weil bei ihm die philosophische, die ontologische und die theologische Thematisierung der Transzendenz-Aspekte bereits charakteristisch aufeinander bezogen wird.) Bringen wir diese Überlegungen auf den Punkt: Gerade das, was erkenntnismäßig theoretisch unerkennbar, pragmatisch entzogen und 3

Vgl. Th. Rentsch, Negativität und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2 0 0 0 .

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unverfügbar ist, was wir nicht können und nicht wissen, bildet und eröffnet den endlichen Freiheitsspielraum praktischer Anerkennungsvollzüge der Transzendenz-Aspekte in der Immanenz einer humanen Welt. Dieser Freiheitsspielraum praktischer Anerkennung von Transzendenz (inmitten der Immanenz - wo sonst?) ist der Spielraum, in dem sich religiöse Vernunft (und auch Unvernunft) entfalten kann. Sie setzt, recht verstanden, die negativ-praktischen Einsichten in die sinnkonstitutive Endlichkeit unseres Denkens, Erkennens und Handelns voraus. Trotzdem ist es sinnvoll, religiöse Vernunft auch nach-Kantisch über Kant hinaus als ekstatische zu bestimmen. Denn sie eröffnet sich in praktischer Anerkennung den unverfügbaren Sinnbedingungen unserer Existenz, erweitert und vertieft ein vernünftiges Welt- und Selbstverständnis. Keineswegs ist mit der Erweiterung und Vertiefung der Vernunftperspektive im praktischen Anerkennen des Unerklärlichen ein .Überschwänglichwerden' im Sinne von Aberglaube und Irrationalismus, Dogmatismus und Fundamentalismus notwendigerweise verbunden. Kants Rekonstruktion scheint mir hier zu restriktiv, zu moralistisch enggeführt zu sein. Entscheidend ist, daß die mit den negativ-praktischen Einsichten aufgezeigten Transzendenz-Aspekte im Sinne einer negativen Metaphysik durch religiöse Traditionen meditativ und kongregativ in bestimmte Formen praktischer Anerkennung transformiert werden. Das heißt, sie bilden sich kulturell als kommunikative Lebensformen aus. In diesen kommunikativen Lebensformen werden z.B. in allen Weltreligionen Einstellungen zum Ganzen der Welt als Schöpfung, als nicht weiter erklärbares Wunder aller Wunder, daß überhaupt etwas ist, kultiviert. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das ökologische Bewußtsein unserer dauerhaften Angewiesenheit auf die natürlichen Lebensgrundlagen auf einem kleinen Planeten als Errungenschaft moderner Wissenschaft gefeiert. Mit Erstaunen nimmt man aber wahr, daß die religiöse Vernunft dieses Wissen schon seit mythischen Zeiten artikuliert, daß sie eine praktische Anerkennung der Erde als großem Lebewesen einschließlich ihrer Achtung und Schonung eben ek-statisch einschließt und als Weisheitstradition überliefert hat. Die Kultur der praktischen Anerkennung der Transzendenz der Welt, wie sie in den Schöpfungslehren ihren Ausdruck fand, steht dabei, recht verstanden, nicht in Konkurrenz zu naturwissenschaftlichen, verstandesmäßigen und technischen Weltzugängen des Menschen. Es geht dieser Kultur nicht um die theoretische Welterklärung einzelner innerweltlicher Phänomene - um das, was Verstand und Empirie sinnvoll zu erreichen vermögen. Es geht darum, daß das Ganze der Wirklichkeit auch in ihrer unumstößlichen Faktizität und mitsamt allen Erklärungen - unerklärlich und ein einziges Wunder bleibt. Als Luther gefragt wur-

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de, was Gott vor der Schöpfung getan habe, antwortete er deshalb, Gott sei an die Elbe gegangen, Ruten zu pflücken, um diejenigen damit zu verprügeln, die solche Fragen stellen. Jedenfalls ermöglicht und eröffnet der Aspekt der Transzendenz der Welt und der Unumstößlichkeit der Wirklichkeit sowie der Angewiesenheit allen Lebens auf seine natürlichen Grundlagen ekstatischvernünftige Formen des Schöpfungsverständnisses, des Pantheismus, der Naturmystik und der Weltfrömmigkeit. Als authentische Haltung unterliegt vernünftige Liebe zur Natur keinen entfremdungstheoretischen oder funktionalistischen Depotenzierungen. Ebenso steht es mit der praktischen Anerkennung der unverfügbaren Sinnbedingungen unserer Existenz im Bereich der Mitmenschlichkeit und in unserem Verhältnis zu uns selbst, zur vernünftigen Selbsterkenntnis. Recht verstanden, sind uns die Mitmenschen in ihrer Freundlichkeit und Hilfe, in ihrer Solidarität, Treue, Liebe und Freundschaft pragmatisch nicht verfügbar. Und das macht gerade den transfunktionalen Sinn humaner Gemeinschaft aus. In existentiellen Notsituationen, in Schmerz und Schuld, in Leiden, Sterben und Tod wird dieser interpersonale Transzendenz-Aspekt trotz aller Verrechtlichungen und sozialen Sicherungssysteme auch in den reichsten Gesellschaften des Westens andauernd neu und unüberbietbar evident. Kern ekstatischer Vernunft war und ist hier die Kategorie des Opfers, ihre negativ-praktische Grundeinsicht die, daß ungeschuldete Opfer die humane Welt wesentlich ausmachen und tragen. Die Opfer mitsamt ihrer Leidensgeschichte tragen mithin das, was trotz der heillosen Menschengeschichte der Weltkriege, von Holocaust und Hiroshima, trotz Kosovo und Ost-Timor im vernünftigen Bewußtsein zu behalten ist. Daß es Opfer, Solidarität und die Achtung und Rettung des Anderen als des einzelnen, konkreten Mitmenschen doch inmitten unvorstellbarer Verhältnisse gab und gibt, davon leben auch alle sinnvollen Weiterentwicklungen einer humanen Welt. Daß es solche Weiterentwicklungen geben wird, das ist nicht garantiert und das können wir nicht wissen, sondern das ist unüberbietbar auf Hoffnung gestellt. Ekstatische Vernunft entfaltet sich zeitlich und endlich somit in den Formen des Eingedenkens und der Hoffnung inmitten einer praktisch begriffenen Gegenwart. Ein Leben in der gemeinsamen Hoffnung auf Frieden gehört zu ihrem Kernbereich. Hier wird auch sichtbar, daß angesichts der Negativität der Transzendenz-Aspekte auch Haltungen des Nihilismus, der Resignation und der Verzweiflung verständlich und verbreitet sind. Sie gehören zur Freiheitsdimension religiöser Vernunft. Die einmalige, endliche Ganzheit menschlichen Lebens ist irreduzibel auf technisch herstellbare Verhältnisse und instrumenteil erreichba-

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re Formen von Wissen. Die Unwiederbringlichkeit und Irreversibilität der Vergangenheit, der schwindende Augenblick und die Offenheit und Unbestimmtheit der Zukunft ermöglichen Verantwortung und Schuld, Verfehlung und moralisches Scheitern, das nicht zu tilgen ist. Diese Verschränktheit von Endlichkeit, Unbedingtheit und (moralischem) Sinn bewußt zu machen und kulturell in Formen gelebter kommunikativer Praxis meditativ und kongregativ bewußt zu halten, ist eine spezifische Leistung religiöser Vernunft. Sie vermag für die ethischen Aspekte sozialer Transzendenz zu sensibilisieren. Die Traditionen des ethischen Monotheismus in Judentum, Christentum und Islam stehen auch für diese Kultivierungsleistung, die eine Daueraufgabe der werdenden multikulturellen Weltgesellschaft ist und bleiben wird. Dazu braucht es mehr denn je ein Bewußtsein von der Ferne, der Entzogenheit und der Würde des Anderen und der Achtung des Fremden in seiner Alterität. Die universalistischen Potentiale der religiösen, ekstatischen Vernunft sprechen von den Anderen als Geschöpfen Gottes, als Brüder und Schwestern. Der praktische Wahrheitsanspruch dieser Sprache ist funktionalistischen Depotenzierungen vollends inkommensurabel. Ekstatische religiöse Vernunft öffnet sich schließlich und macht sensibel für die Transzendenz des Augenblicks und für gegenwärtige Tiefe und Fülle der Wirklichkeit, für die Unerschöpflichkeit aller Gegenwart, wie sie in den mystischen Traditionen artikuliert und meditativ kultiviert wurde und wird. Hier hat die religiöse, vernehmende Vernunft auch Verbindung mit ästhetischer Erfahrung. Die meditative religiöse Vernunft öffnet sich ekstatisch der Tiefe und Ferne, der Nähe und der Fülle der unendlichen Gegenwart, wie sie in der Stille und im Innehalten erfahrbar wird, in einer Stille, in der wir davon befreit werden, noch etwas machen zu müssen, und in der trotzdem alles da ist. Ekstatische religiöse Vernunft öffnet der diskursiven Vernunft eine Tiefendimension, die sie nicht zerstört, sondern, recht verstanden, intensiviert, und ohne die sie auf Dauer arm und formal bliebe. Sie macht nämlich empfänglich für die zeitliche Endlichkeit und Fragilität allen Lebens, für die Ferne und Fremdheit der Anderen als Voraussetzung jeder Nähe, für die uneinholbare Tiefe jedes Individuums und für die Fülle des Augenblicks. Sie hält damit ein Bewußtsein von Unendlichkeit und Ewigkeit inmitten der Zeit fest, das zur Vernunftperspektive dazugehört und zur Kritik am Verfehlen humanen Sinns befähigt.

III. Vernunft und Zukunft der Religion Ich fasse zusammen. Religiöse Wahrheitsansprüche lassen sich im Kern als praktische Einsichten in die transpragmatischen Sinnbedingungen

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einer humanen Welt verstehen. Diese Einsichten betreffen die kosmologischen, die natürlichen, die existentiellen und die ethischen Möglichkeitsbedingungen einer humanen Lebenspraxis. Ein Verhalten zu diesen Bedingungen, zu diesen Transzendenz-Aspekten kann kulturell vor allem meditativ und kongregativ entwickelt werden, in einer eigenen Sprache zumal. Die unbestimmte Negativität der Sinnbedingungen wird auf diese Weise kreativ in eine lebbare Praxis transformiert. Insofern ist Religion auch nicht nur ein Beispiel kultureller Sinngebung, sondern deren ausgezeichnetes Paradigma. Der Entwurf von Sprachen und Bildern für die unverfügbaren Sinnbedingungen entspringt letztlich der endlichen Freiheit des Menschen. Die Formen religiöser Vernunft, die sich so kulturell entfalten konnten, stehen nicht in einem Konkurrenzund Depotenzierungsverhältnis zu anderen Modi einer komplex binnendifferenzierten Vernunft, sondern in einem Ergänzungs-, Vertiefungsund ekstatischen Erweiterungsverhältnis. Religion ist die Tiefendimension von Rationalität, einer Tiefendimension, die von funktionalistischen oder entfremdungstheoretischen Depotenzierungen ebensowenig eingeholt wird wie, auf anderer Ebene, große Kunst, Metaphysik und Philosophie. Ein Leben im Bewußtsein der Unerklärlichkeit der Welt, der Unerklärlichkeit des Grundes unserer Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten, im Bewußtsein der unableitbaren Sinnbedingungen von Ethik, endlicher Freiheit und Autonomie und im Bewußtsein der kommunikativen Transzendenz von Sprache als Möglichkeitsbedingung von Sinn - ein solches Leben ist nicht seiner selbst entfremdet, sondern im Gegenteil noch vertraut mit den Sinnbedingungen seiner selbst. Zwei abschließende Fragen: Wie steht es mit argumentativen Verhältnissen innerhalb religiöser Vernunft und mit Blick auf andere Vernunftformen? Und, zweitens, wie steht es, wenn das Gesagte zutrifft, mit der Zukunft der Religion? Zum ersten. Es gibt sowohl vernünftige Kriterien für die religionsinterne, z.B. christliche Verständigung über Wahrheitsansprüche, als auch für die interreligiöse Diskussion. Um dies nur anzudeuten: Zum Beispiel müssen sich vermeintlich privilegierte Zugänge zu dieser Wahrheit, Autoritätsansprüche, kritisieren lassen. Auch der Appell an eine Gefühlsbasis oder die Beanspruchung einer besonderen Eingebung sowie Auslegungsmonopole sind kritikbedürftig. Interreligiöse Diskussionen können z.B. die Gewichtung meditativ-kontemplativer Kultivierung von Transzendenz-Aspekten (Wege der Selbstbefreiung) im Vergleich mit den ethischen Aspekten der Transzendenz (Wege der Liebe) betreffen. Um es interreligiös zu sagen: Es gibt mehrere Wege, der Weg ist das Ziel und alles hat seine Zeit. Schließlich können und müssen sich die religiösen Vernunftaspekte gegen Formen einer Verabsolutierung des

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Vorläufigen wenden, gegen totalitäre Ideologien, gegen Politik als Religionsersatz. Die negativen praktischen Einsichten setzen, recht verstanden, Politik in der säkularisierten Welt frei; aber sie verbieten grundsätzlich, etwas Innerweltliches, Empirisches als ein Absolutes zu setzen. Verschiedentlich wurde deswegen neuerlich zu Recht auf den Zusammenhang von negativer Theologie und Politik hingewiesen (im Sinne einer „leeren Stelle des Sakralen" bei Claude Lefort, bei M. Gauchet und Agnes Heller).4 Religiöse Sinnkritik kann und muß sich gegen überzogene Ansprüche an die begrenzten Möglichkeiten von Politik, Ethik, Recht und Kunst wenden. Sie kann lehren, mit Enttäuschung, Schuld und Leiden, mit unserer unüberwindbaren Begrenztheit zu leben, ohne Zynismus, Resignation oder Verzweiflung das letzte Wort zu lassen. Auch das ist vernünftig. Wie steht es nun, wenn meine These zutrifft, mit der Zukunft der Religion? Nach dem Gesagten gilt, daß der irreduzible Wahrheitsanspruch religiöser Rede und Praxis auch und gerade angesichts von Neuzeit, Aufklärung und Moderne bestehen bleibt. Religiöse Einsichten folgen einer anderen Entwicklungslogik als die Prozesse quantitativer Steigerung; ebenso wird keine Wissenschaft und keine Technik jemals die aufgezeigten transpragmatischen Sinnbedingungen einer humanen Welt ersetzen können. Vor allem gilt es, primitive Bilder von der Weltgeschichte ebenso wie auch zu simple Vernunftkonzeptionen hinter sich zu lassen. Epochen sind keine Großbehälter, in die eine geschichtliche Menschheit auf einer Zeitgeraden hinein- und dann wieder heraustritt. „Vernunft" und „Aufklärung", auch „Fortschritt" sind ja keine Eigennamen von Epochen, sondern Reflexionsbegriffe, die mit unserer Freiheitsgeschichte zu tun haben. Ein Titel wie „Religion nach der Aufklärung" ist daher irreführend. Hier ist nichts „zuende", sondern immer alles, was authentische Geltung beanspruchen kann, von jeder Generation und auch von jedem Einzelnen in seiner konkreten Lebenssituation neu zu entdecken und zu gewinnen oder zu verlieren, und zwar weltweit. Die Vertiefung der Vernunft durch Religion gehört sicher dazu. Sie läßt sich nicht vorwegnehmen, denn die Geschichte unserer vernünftigen Orientierungen ist, Gott sei Dank, nicht abgeschlossen und unabschließbar.

4

Vgl. dazu A. Heller, Politik nach dem Tod Gottes, in: J. Huber/A.M. Müller (Hg.), Instanzen/Perspektiven/Imaginationen (1995) S. 7 5 - 9 4 und Th. Rentsch, Art. „Theologie, negative", in: J. Ritter/K. Gründer (Hg.), Hist. Wörterbuch der Philosophie Bd. 10, Basel 1998, Sp. 1 1 0 2 - 1 1 0 5 .

Der religiöse Glaube als Tugend FRIEDO RICKEN

Wie kann eine moderne Religion, die sich im Wandel weiß, den für sie als Religion konstitutiven Wahrheitsanspruch einlösen? Um Glaubwürdigkeit beanspruchen zu können, so heißt es in der Einladung zu dieser Tagung „muß eine moderne Religion sich vor dem Forum der allgemeinen, durch die moderne Wissenschaft geprägten natürlichen Vernunft verantworten können [...] Kann Religion aber Anspruch auf eine allgemeine Anerkennung erheben, ohne irgendeine Form der Metaphysik zu Hilfe zu nehmen?" Stellt „die Metaphysikkritik auch den universalen Anspruch theologischer Rede grundsätzlich in Frage?" Die Methode, mit der ich an diese Fragen herangehen möchte, ist die Ortsbestimmung des religiösen Glaubens auf der Landkarte unserer Vernunft- oder Wissensformen. Wie verhalten sich religiöse Vernunft, wissenschaftliche Vernunft und Metaphysik? Erst wenn das geklärt ist, kann entschieden werden, ob die Forderung, die Religion müsse sich vor der von der Wissenschaft geprägten Vernunft rechtfertigen, überhaupt sinnvoll ist. Für den Versuch dieser Ortsbestimmung gehe ich aus von einem der Großen der Tradition, der weithin in dem Verdacht steht, das Schicksal der Religion unlöslich an das der Metaphysik gekettet zu haben: von Thomas von Aquin. Anstatt von Religion spreche ich im Folgenden mit Thomas von der theologischen Tugend des Glaubens; ich frage nach der Rationalität des Glaubens und dem Verhältnis von Glaube und Metaphysik bei Thomas von Aquin. Um das sachliche Anliegen meiner Interpretation deutlich zu machen, werde ich abschließend andeuten, wie Thomas Anliegen sich durch Überlegungen von Pascal und Newman weiterführen ließe.

I Die Quästion über die theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe1 folgt in der Prima Secundae den Ausführungen über die antike 1

S.th. I II 6 2 .

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Tugendlehre, die ethischen und dianoetischen Tugenden des Aristoteles und die vier Kardinaltugenden Piatons. Damit sind zwei Fragen gestellt: Was bedeutet es, daß der Glaube eine Tugend ist? Wie verhalten sich die theologischen zu den anderen Tugenden? Nach der aristotelischen Kategorienlehre fällt der Begriff der Tugend unter den der Haltung (εξις; habitus) und dieser wiederum unter den der Qualität. Die Kategorienschrift unterscheidet zwischen Haltung und Zustand (διαθέσω); während Zustände schnell wechseln, ist eine Haltung bleibend und dauerhaft2. Die Metaphysik nennt ein anderes Unterscheidungsmerkmal: Die Haltung ist ein Zustand, nach dem das in diesem Zustand Befindliche sich gut oder schlecht befindet3; der Begriff der Haltung impliziert also zusätzlich zum Begriff des Zustande eine Wertung. Eine gute und eine schlechte Haltung unterscheiden sich nach Thomas durch ihr Verhältnis zur Natur; die gute Haltung entspricht der Natur des Tätigen, während die schlechte nicht mit ihr übereinstimmt4. Tugend als gute Haltung ist die Vollendung eines Vermögens, die zu dessen vollkommener Tätigkeit befähigt5. Sie ist angewiesen auf eine Praxis, die sie lebendig erhält6. Von besonderem Gewicht ist die Haltung des Willens, weil er es ist, der die anderen Vermögen, auch den Intellekt, zu deren Tätigkeit bewegt7. Daß der Glaube eine Tugend ist, bedeutet nach dieser ersten, groben Begriffsbestimmung: Er ist, wie eine Charaktereigenschaft, eine Haltung, die das Leben eines Menschen von Grund auf prägt; er geht tiefer als das Fürwahrhalten einer metaphysischen These, die dem jeweils neuesten Stand der Wissenschaft angeglichen wird. Eine Haltung läßt sich nur in einem langen Prozeß ändern; man kann sie nicht wie eine Meinung, die man einmal vertreten hat, vergessen8. Als Tugend ist die Haltung des Glaubens notwendige Bedingung für ein gelingendes Leben. Daß der Mensch außer den ethischen und dianoetischen Tugenden der aristotelischen Ethik auch die theologischen Tugenden braucht, folgt für Thomas aus seiner Lehre von der zweifachen Glückseligkeit des Menschen9, die wir als eine Phänomenologie der conditio humana lesen können. Thomas übernimmt die These des Aristoteles, daß das Glück des Menschen in der ihm wesensgemäßen Tätigkeit der theoretischen 2 3 4 5 6 7 8 9

Cat.8, 8b25-28 Met. V 20, 1022bl0f. S.th. I II 54,3. S.th.I II 55,1-3. S.th. I II 53,3. S.th. I II 50,5; 56,3. Vgl. Aristoteles NE VI 5,1140b28-30. S.th. I II 65,1.

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und praktischen Vernunft besteht, und er sieht damit wie Aristoteles im Glück eine Aufgabe, welche der Mensch in diesem Leben erfüllen soll und erfüllen kann. Aber das konkrete Glück, das der Mensch so erreichen kann, bleibt hinter dem Begriff des Glücks zurück. Das Glück ist das vollkommene und autarke Gut10, das erstens jedes Übel ausschließt und zweitens alles Verlangen und Sehnen erfüllt. Keines von beidem ist in diesem Leben möglich; viele Übel lassen sich nicht vermeiden, und die Güter sind wie das Leben selbst vergänglich11. Thomas sieht eine Diskrepanz zwischen dem, was der Mensch ersehnt und erstrebt, und dem, was er aus Eigenem erreichen kann. Worauf es mir ankommt, ist die Diskrepanz oder der Bruch in der conditio humana·, auf welche Werte Thomas sich dabei bezieht, ist für meine Argumentation von untergeordneter Bedeutung. Thomas sieht im ersten Kapitel der Aristotelischen Metaphysik das Grundverlangen des Menschen beschrieben: Er will die erste Ursache erkennen, und diese Sehnsucht ist erst erfüllt, wenn er das Wesen Gottes schaut12. Was Thomas hier mit aristotelischen Begriffen beschreibt, ließe sich leicht in die Sprache biblischer Texte oder die Sprache der Mystik übersetzen. Mit einer philosophischen Argumentation zeigt Thomas, daß der Mensch durch seine natürlichen Kräfte dieses Ziel nicht erreichen kann13. Das natürliche Menschenbild, für das hier das aristotelische steht, weist also einen Bruch auf: Der Mensch ist nicht imstande, sein wesentliches Verlangen mit den ihm wesentlichen Fähigkeiten zu erfüllen; seine Vernunftnatur bestimmt ihn für die Schau des Wesens Gottes als seine Vollendung14 und macht ihn zugleich unfähig, sie aus Eigenem zu verwirklichen. Dieser Bruch im natürlichen Menschenbild ist der Ort der theologischen Tugenden. Thomas formuliert ein Sinnpostulat: Das natürliche Verlangen (desiderium naturale) kann nicht unerfüllt bleiben15; der Widerspruch im Wesen des Menschen kann nicht das letzte Wort sein. Diese Sinnvoraussetzung ist der metaphysische Angelpunkt für die Religionsphilosophie des Aquinaten, und diese Metaphysik ist eine Metaphysik der menschlichen Handlung. Thomas geht aus von der Analyse des Aristoteles in den ersten Kapiteln der Nikomachischen Ethik, nach der jede menschliche Handlung ein letztes, vollkommenes, autarkes Gut erstrebt16. Er zeigt, daß ein Leben allein nach den aristo10 11 12 13 14 15 16

„perfectum et sufficiens bonum": S.th. I II 5,3. S.th. 1115,3. S.th. I 12,1. S.th. I 12,4. S.th. 112,1. S.th. I 12,1. S.th. I II 1,5.

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telischen Tugenden dieses Streben nicht erfüllen kann. Dennoch hält er an der idealen Sinnvoraussetzung fest, und er fragt, ob sie auf andere Weise verwirklicht werden kann. Die Antwort gibt die Offenbarung; sie löst den Widerspruch der conditio humana. Die theologische Tugend des Glaubens ist die Haltung, die das gesamte Leben des Menschen, sein Denken, Fühlen und Handeln, nach dieser Antwort ausrichtet. Wie die anderen Tugenden ist sie eine Vollkommenheit oder Vollendung der menschlichen Fähigkeiten, weil sie einen absoluten Sinn erschließt und damit Zuversicht und Halt gibt. Es dürfte schon jetzt klar geworden sein, daß die Rede von den beiden Formen des Glücks und die Unterscheidung zwischen den aristotelischen und den theologischen Tugenden nicht im Sinne eines supranaturalistischen Dualismus verstanden werden darf. Die theologischen Tugenden vollenden die aristotelischen in der Weise, daß sie ihnen eine neue Sinndimension und damit eine neue Motivation schenken. Zwischen den beiden Formen des Glücks besteht nach Thomas das Verhältnis der Ähnlichkeit (similitudo)17 oder der Teilhabe (participatio)18. Offenbarung und menschliche Erfahrung sind nicht durch eine Kluft getrennt. Die Offenbarung ist nicht nur die Antwort auf das desiderium naturale; ihre Verheißungen können vielmehr durch die Erfahrungen des unvollkommenen menschlichen Glücks mit Inhalt gefüllt und in analoger Form vorweggenommen werden. Für das Thema Glaube und Metaphysik liegt eine Folgerung auf der Hand: Die natürliche Gotteserkenntnis im Sinne des Buches Lambda der aristotelischen Metaphysik oder der fünf Wege in der Pars Prima19 kann den Widerspruch der conditio humana nicht auflösen, denn sie ist, wenn sie überhaupt einen Bezug zur Glückseligkeit hat, dem unvollkommenen Glück der aristotelischen Tugenden zuzuordnen. „Objekt der theologischen Tugenden ist Gott selbst, der das letzte Ziel der Dinge ist, so wie er die Erkenntnis unserer Vernunft übersteigt. Objekt der intellektuellen und moralischen Tugenden ist dagegen etwas, was mit der menschlichen Vernunft erfaßt werden kann." 20 Thomas unterscheidet zwischen dem, was an sich (per se) und dem, was per accidens Objekt der Tugend des Glaubens ist. „Objekt des Glaubens an sich ist das, wodurch der Mensch glücklich wird" 21 ; „an sich gehören zum Glauben die Inhalte, die uns direkt auf das ewige Leben hinordnen, z.B.: es sind drei Personen, die 17 18 19 20 21

S.th. S.th. S.th. S.th. S.th.

I II 3,6. I II 3,2 ad 4; 5,3. I 2,3 I II 62,2. II II 2,5.

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Allmacht Gottes, das Geheimnis der Inkarnation Christi" 22 . Es sind vor allem zwei Schriftstellen, auf die Thomas sich in diesem Zusammenhang beruft, Hebr. 11,6 „Wer zu Gott kommen will, der muß glauben, daß er ist und daß er denen, die ihn suchen, ihren Lohn geben wird" 23 und 1 Kor 2,9 „Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist: das Große, das Gott denen bereitet hat, die ihn lieben" 24 . Objekt an sich der Tugend des Glaubens ist also der Gott, welcher den Menschen, der ihn liebt und sucht, in einer Weise beschenken wird, die alles Begreifen des Menschen übersteigt. Objekt an sich ist also, um es in der Fachsprache der Theologie zu formulieren, die Lehre von der Gnade und die Soteriologie, die nur durch die Offenbarung erkannt werden können. Nur sie können den Widerspruch der conditio humana auflösen und dem menschlichen Leben und Handeln einen letzten, unanfechtbaren Sinn verleihen.

II Spätestens seit Piatons Protagoras wird in der antiken Ethik über die Einheit der Tugenden diskutiert. In der entsprechenden Quästion der Prima Secundae fragt Thomas, ob Glaube und Hoffnung ohne die Liebe und ob die Liebe ohne Glaube und Hoffnung sein können 25 . Es geht um das Problem, ob der Akt des Glaubens ausschließlich ein Akt der Vernunft ist oder ob er auch von anderen Vermögen bestimmt wird. Ich gehe aus von der uns leitenden Frage nach der Ortsbestimmung des religiösen Glaubens. In der Quästion der Secunda Secundae über die Tugend des Glaubens fragt Thomas, ob der Glaube die erste unter den Tugenden sei26. Er antwortet mit der Unterscheidung zwischen per se und per accidens. An sich sei der Glaube die erste unter allen Tugenden. Per accidens könne dagegen eine andere Tugend den Vorrang vor dem Glauben haben, und zwar deswegen, weil sie ein Hindernis für den Glauben beseitigen könne; so könne die Tapferkeit eine ungeordnete Furcht, die dem Glauben im Wege stehe, beseitigen, oder die Demut den Stolz, durch den der Intellekt sich weigere, sich der Wahrheit des Glaubens zu unterwerfen. Der Glaube, das wird hier deutlich, ist keine isolierte kognitive Einstellung; er ist vielmehr an andere Haltungen gebun22 23 24 25 26

S.th. S.th. S.th. S.th. S.th.

II II 1,6 ad 1. II II 2,5. I II 62,3. I II 6 5 , 4 und 5. II II 4,7.

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den. Was uns hier jedoch eigentlich interessiert, ist die Begründung dafür, daß an sich gesehen der Glaube die erste unter allen Tugenden ist. Weil beim Handeln das Ziel das Prinzip ist, „so folgt notwendig, daß den theologischen Tugenden, deren Objekt das letzte Ziel ist, vor den anderen Tugenden der Vorrang zukommt. Das letzte Ziel muß aber früher im Intellekt als im Willen sein, weil der Wille sich nur so auf etwas richtet, wie es im Intellekt erfaßt ist. Weil aber das letzte Ziel im Willen durch die Hoffnung und die Liebe, im Intellekt aber durch den Glauben ist, ist der Glaube notwendig die erste unter allen Tugenden; denn die natürliche Erkenntnis kann Gott nicht erreichen, insofern er das Objekt der Glückseligkeit ist, so wie Hoffnung und Liebe sich auf ihn richten"27. Der Glaube als ausschließlich intellektuelle Haltung hat lediglich eine vermittelnde Funktion. Die Tugend hat die Aufgabe, den Menschen auf sein höchstes Gut hinzuordnen. Das höchste Gut aber ist Objekt des Willens und nicht des Intellekts; der Intellekt muß es dem Willen vorstellen, aber nur der Wille kann es als höchstes Gut erstreben. Die Tugend, die ihn dazu befähigt, ist die Liebe (caritas); erst durch sie wird die Tugend des Glaubens vollendet, weil der Glaube nur durch sie sein Ziel erreichen kann. „Der Akt des Glaubens ist hingeordnet auf das Objekt des Willens, welches das Gute ist, als auf sein Ziel. Dieses Gut, welches das Ziel des Glaubens ist, das göttliche Gut, ist aber das der Liebe eigentümliche Objekt. Und deshalb wird die Liebe Form des Glaubens genannt, insofern durch die Liebe der Akt des Glaubens vollendet und geformt wird"28. Erst der durch die Liebe vollendete Glaube, die fides formata, ist eine Tugend, denn erst sie ist Ursprung des guten Handelns, indem sie es auf das letzte Ziel, die Gemeinschaft mit Gott, ausrichtet29. Dagegen ist der Glaube ohne die Liebe, die fides informis, keine Tugend. Die Tugend des Glaubens erfordert die Vollkommenheit zweier Vermögen: des Intellekts und des Willens; bei der fides informis ist zwar die erste, nicht jedoch die zweite gegeben. Thomas verdeutlicht das durch das Verhältnis zwischen ethischer Tugend (virtus moralis) und sittlicher Einsicht (prudentia). Wenn zwar, per impossibile, im begehrenden Seelenvermögen die Tugend der Besonnenheit wäre, dagegen im vernünftigen Seelenvermögen nicht die Tugend der sittlichen Einsicht, dann wäre die Besonnenheit keine Tugend, denn zu einem Akt der Besonnenheit „ist ein Akt der Vernunft und ein Akt des Begehrungsvermögens erforderlich, so wie für einen Akt des Glaubens ein Akt des 2 7 S.th. II II 4 , 7 . 2 8 S.th. II II 4 , 3 . 2 9 S.th. II II 4 , 5 ; vgl. II II 2 3 , 7 .

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Willens und des Intellekts erforderlich ist" 30 . Eine Handlung ist erst dann eine Handlung der Besonnenheit, wenn wir einsehen, daß es richtig ist, so zu handeln, und wenn wir uns dafür entscheiden, so handeln, weil es richtig ist. Entsprechend ist ein Akt des Glaubens erst dann vollkommen oder ein Akt der Tugend, wenn der Wille sich auf den im Glauben, der fides infortnis, erkannten Gott als sein höchstes Gut und das letzte Ziel des Handelns richtet. Die ethische Tugend und die Tugend des Glaubens umfassen beide die Vollkommenheit zweier Vermögen, und es ist zu fragen, wie weit diese Entsprechung reicht. Bei der ethischen Tugend besteht zwischen beiden Vollkommenheiten ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Es kann keine ethische Tugend ohne sittliche Einsicht geben, weil die ethische Tugend die Haltung ist, die zur richtigen Entscheidung befähigt und eine richtige Entscheidung ohne sittliche Einsicht nicht möglich ist. Umgekehrt kann es keine sittliche Einsicht ohne ethische Tugend geben, weil die ethische Tugend das Ziel vorgibt, von dem die sittliche Einsicht in ihrer Überlegung ausgeht31. Liegt eine entsprechende wechselseitige Abhängigkeit auch beim Glauben vor? Ist die Vollkommenheit des Intellekts abhängig von der Vollkommenheit des Willens und umgekehrt? Der Wille kann sich nur auf das richten, was der Intellekt erfaßt hat; seine Vollkommenheit ist also durch die des Intellekts bedingt. Aber ist auch die Vollkommenheit des Intellekts durch die des Willens bedingt? Die Formulierungen des Aquinaten geben darauf keine eindeutige Antwort. Die fides informis habe, wenn auch die Vollkommenheit des Willens fehle, die erforderliche Vollkommenheit von Seiten des Intellekts. Danach liegt ein eindeutiges Fundierungsverhältnis vor; die Vollkommenheit des Intellekts ist nicht durch die des Willens bedingt. Aber Thomas formuliert das in einem vorsichtigen Konjunktiv: „etsi h ab eat perfectionem debitam actus fidei informis ex parte intellectus" 32 ; er schließt die Möglichkeit nicht aus, aber er behauptet sie auch nicht. An einer anderen Stelle33 bezeichnet er die fides infortnis als „einen Anfang" (inchoationem quandam), und er vergleicht sie mit den ethischen Tugenden ohne sittliche Einsicht, die lediglich auf natürlicher Neigung oder auf Gewohnheit beruhen 34 ; dieser Vergleich spricht dafür, daß beim Glauben die Vollkommenheit des Intellekt durch die des Willens bedingt ist. Ich lasse diese Frage zunächst offen, um bei der Analyse des Glaubensaktes auf sie zurückzukommen. 30 31 32 33 34

S.th. II II 4,5. Vgl. S.th. I II 65,1. S.th. II II 4,5. S.th. I II 65,4. Vgl. S.th. I II 65,1.

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Thomas vergleicht die Hinordnung auf die übernatürliche Glückseligkeit durch Glaube und Liebe mit der Hinordnung auf das natürliche Ziel des Menschen3S. Der Begriff, auf den es mir bei diesem Vergleich ankommt, ist der der inclinatio naturalis. Durch sie wird der Mensch auf sein natürliches Glück, die aristotelische θεωρία, hingeordnet. Die natürliche Neigung wird durch die Tugend vollendet. Für die Hinordnung auf das natürliche Ziel bedarf es deshalb der Tugend des Intellekts, welche den Menschen zur Erkenntnis der ersten allgemeinen Prinzipien befähigt, und es bedarf zweitens der Tugend des Willens, durch die dessen natürliche Neigung nach der Vernunfttätigkeit als seinem höchsten Gut vollendet wird. Thomas spricht dem Strebevermögen, das in der richtigen Verfassung ist, eine kognitive Funktion zu36. Durch die von der Tugend vollendete inclinatio naturalis des Willens wird die Vernunfttätigkeit als dessen höchstes Gut erfaßt. Die Reaktion des richtigen Willens auf die Tätigkeit des Intellekts zeigt, und nur sie kann es zeigen, daß diese Tätigkeit sein höchstes Gut ist. Thomas spricht vom finis connaturatisi Die Reaktion des richtigen Willens zeigt, daß die Tätigkeit des Intellekts das Ziel ist, in dem er aufgrund seiner Natur seine vollkommene Erfüllung findet. Für die Hinordnung auf das übernatürliche Ziel brauchen beide Vermögen zusätzlich die theologischen Tugenden. Der Glaube ist der übernatürliche intellectus principiorum; er befähigt, die übernatürlichen Prinzipien, die Glaubensartikel, zu erfassen; die Tugend der Liebe bewirkt, daß was die Glaubensartikel vorstellen geliebt und ersehnt wird37. Durch die caritas erfaßt der Wille das übernatürliche Ziel als connaturatisi als das Ziel, auf das er von seinem Wesen her ausgerichtet ist; er erfährt im Akt der Liebe seine Wesensverwandtschaft (conformitas) mit der in den Glaubensartikeln vorgestellten Sache. Thomas bedient sich hier der Sprache der Mystik: Die Liebe bewirkt eine Art geistlicher Vereinigung, durch welche der Wille gewissermaßen in jenes Ziel verwandelt wird38. 35 S.th. I II 62,3. 36 Vgl. In 1 Ethic. lect.l nr.9: „bonum numeratur inter prima [...] prima autem non possunt notificari per aliqua priora, sed notificantur per posteriora, sicut causae per proprios effectus. Cum autem bonum proprie sit motivum appetitus, describitur bonum per motum appetitus, sicut solet manifestati vis motiva per motum." - Zur kognitiven Funktion des amor vgl. F. Ricken, Aristotelische Interpretationen zum Traktat De passionibus (S.th. I II 22-48) des Thomas von Aquin, in: M. Thurner (Hrsg.), Die Einheit der Person, Stuttgart 1998, 125-140; 138-140. 37 S.th. I II 62,4 ad 3. 38 „ad unionem quandam spiritualem, per quam quodammodo transformatur in ilium finem, quod fit per caritatem": S.th. 1 II 62,3.

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III Die Ausführungen des Thomas über die Einheit der theologischen Tugenden verdienen ein sachliches Interesse, weil sie die Grenzen eines rein rationalen Verständnisses des religiösen Glaubens39 und damit den Unterschied zwischen religiösem Glauben und Metaphysik deutlich machen. Der religiöse Glaube ist eine Ausrichtung des gesamten Lebens, und als solche kann er sich nicht in einer ausschließlich rationalen oder intellektuellen Haltung erschöpfen; er muß ebenso Willen und Gefühl umfassen. Wenn Thomas nicht nur der Vernunft, sondern auch dem Willen und dem Gefühl eine kognitive Leistung zuspricht, so kann er sich dafür auf die Geschichte der christlichen Spiritualität berufen. Die Grenzen der Rationalität, die Thomas dem religiösen Glauben zieht werden noch deutlicher, wenn wir die Gründe betrachten, weshalb Glaube, Hoffnung und Liebe als theologische Tugenden bezeichnet werden. „Diese Prinzipien heißen theologische Tugenden einmal, weil sie Gott zum Objekt haben, insofern wir durch sie in der richtigen Weise auf Gott hingeordnet werden, dann weil sie uns von Gott allein eingegossen werden, und schließlich weil nur in der göttlichen Offenbarung, in der Heiligen Schrift, diese Tugenden überliefert sind"40. Die aristotelischen Tugenden bauen auf der Natur auf; für sie haben wir eine natürliche Eignung; in elementarer Form sind sie uns von Natur aus gegeben. Dagegen sind, wie Thomas es formuliert, die theologischen Tugenden „vollständig von außen"41; im Unterschied zu den aristotelischen Tugenden können sie nicht durch wiederholte Akte erworben, sondern nur durch das Wirken Gottes in uns verursacht werden42. Der Grund für diesen Extrinsezismus ist die Entsprechung zwischen Vermögen und Ziel: Die erworbenen Vollkommenheiten der natürlichen Vermögen können den Menschen nicht auf sein übernatürliches Ziel ausrichten. Dem Extrinsezismus des Glaubens als Tugend entspricht ein Extrinsezismus des Inhalts. Die Vernunft kann dem Menschen sein letztes Ziel nicht vorgeben, weil es alles menschliche Begreifen übersteigt. Aber auch das, was der Mensch durch die Vernunft von Gott erkennen kann, muß Inhalt der Offenbarung sein. Das ergibt sich für Thomas aus der praktischen Funktion des Glaubens. Die Erkenntnis Gottes durch die Ver-

39 Zur Diskussion über die Thomasische analysis fidei in der neueren angelsächsischen Literatur vgl. John I. Jenkins, Knowledge and faith in Thomas Aquinas, Cambridge 1997, 161-210. 40 S.th. I II 62,1. 41 „totaliter ab extrínseco": S.th. I II 63,1. 42 S.th. I II 63,2.

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nunft ist nur wenigen möglich, zu ihr ist ein langer Weg, der viel Zeit beansprucht, und sie ist mit vielen Irrtümern vermischt; sie kann deshalb das existentielle Gewicht, das der Ausrichtung auf das letzte Ziel, von der das gesamte Heil des Menschen abhängt, nicht tragen43. „Damit es also bei den Menschen eine unbezweifelte und sichere Erkenntnis von Gott gäbe, war es notwendig, daß das Göttliche ihnen in der Form des Glaubens überliefert würde, gleichsam von Gott gesprochen, der nicht lügen kann" 44 . Der Verdacht des Fideismus, der sich hier erhebt, wird auch durch die Lehre von den praeambula fidei, wonach „der Glaube die natürliche [Gottes-]Erkenntnis voraussetzt, wie die Gnade die Natur und Vollkommenheit das, was vervollkommnet werden kann", und für die Thomas sich auf R 1,19 beruft45, nicht entkräftet. Sie kann nicht so verstanden werden, als sei die natürliche Erkenntnis Gottes notwendige Voraussetzung des Glaubens, denn auch für die Lehre von den praeambula gilt, was Thomas am Anfang der Pars Prima über die Mängel der natürlichen Gotteserkenntnis ausführt. Er betont deshalb, daß auch die praeambula von denen, welche die Gottes beweise nicht verstehen, geglaubt werden müssen46, und das dürfte auf die meisten Glaubenden zutreffen. Thomas' Analyse des Glaubens scheint also in einen Zirkel zu führen: Aus dem übernatürlichen Charakter des Ziels und den Grenzen und der Schwäche der menschlichen Vernunft ergibt sich, daß der Mensch nur durch die Offenbarung das letzte Ziel seines Lebens und Handelns erkennen kann. Die Schwäche der menschlichen Vernunft kann nur dadurch überwunden werden, daß der Mensch sich auf die Autorität Gottes verläßt, der sich und andere nicht täuschen kann. Der Glaube stimmt einem Satz nur deshalb zu, weil er von Gott offenbart ist47. Aber daß etwas von Gott offenbart ist, ist ebenso wie die Existenz des offenbarenden Gottes wiederum Gegenstand des Glaubens. Wir können von einer Autonomie des religiösen Glaubens sprechen. Die theologische Wissenschaft ist Weisheit im Sinn der aristotelischen Metaphysik, das heißt Wissenschaft von den obersten Ursachen und Gründen48; als solche kann sie keine Wissenschaft über sich haben, die ihre Prinzipien beweist; folglich kann die Philosophie die Glaubensartikel nicht begründen. Was bleibt, ist eine interne Rationalität des Glaubens, 43 44 45 46 47 48

S.th. S.th. S.th. S.th. S.th. S.th.

11,1. II II 2,4. I 2,2 ad 1. I 2,2 ad 1; II II 1,5 ad 3. 11,1. I 1,6; vgl. Aristoteles, Metaph. 11.

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deren Kriterien im Folgenden dargestellt werden sollen. Sind sie stark genug, um den Anspruch der Offenbarung zu rechtfertigen?

IV Zwischen der menschlichen Vernunft und dem Willen zu glauben, so unterscheidet Thomas 4 9 , ist ein zweifaches Verhältnis denkbar. Die Vernunft kann dem Willen zum Glauben vorausgehen: Jemand ist nur bereit zu glauben, wenn die Vernunft ihm dafür die entsprechenden Gründe gibt. Auf diese Weise vermindert die Vernunft das Verdienst des Glaubens. Thomas vergleicht einen solchen Glauben mit einer Handlung, die zwar sittlich richtig, aber durch eine Leidenschaft und nicht durch das Urteil der Vernunft motiviert ist. Wie das sittlich Richtige um seiner selbst willen zu tun ist, so muß der Mensch wegen der Autorität Gottes und nicht wegen der menschlichen Vernunft glauben. Die Vernunft kann dem Willen zu glauben aber auch nachfolgen. Weil der Mensch die auf die Autorität Gottes hin geglaubte Wahrheit liebt, denkt er über die nach und sucht nach Gründen für sie. Eine solche Begründung widerspricht dem Glauben nicht, sondern sie vermehrt sein Verdienst. Thomas zitiert Joh 4,42, wo die Samariter zu der Frau vom Jakobsbrunnen sagen: „Nicht mehr aufgrund deiner Aussage glauben wir". Wenn wir diesem Zitat sein volles Gewicht geben (die Samariter sagen: Wir „wissen": Er ist der Retter der Welt), dann kann die Reflexion des Glaubens, auf den der Mensch sich zunächst ohne Gründe, sondern einzig aufgrund der Autorität der Tradition eingelassen hat, zu einer Einsicht führen, welche den Anspruch, hier handle es sich um eine Offenbarung, bestätigt. Aber das ist, wie Thomas betont, an willensmäßige Voraussetzungen gebunden: den Willen zu glauben und die Liebe, welche die geglaubte Wahrheit „umfängt" und nach Gründen für sie sucht. Ich nenne einige Rationalitätskriterien für eine solche Reflexion auf den Glauben; sie finden sich vor allem in der ersten Quästion der Prima Pars, die fragt, ob und in welchem Sinn die Theologie eine Wissenschaft ist. Die Theologie kann sich der Philosophie bedienen, um ihre eigenen Inhalte zu verdeutlichen und zu entfalten 50 . Sie bedient sich zum Beispiel der Ontologie in der Schöpfungslehre, der Trinitätslehre oder der Christologie. Damit wird der Glaube nicht auf Ontologie oder Metaphysik 49 S.th. II II 2,10. 50 S.th. I 1,5 ad 2.

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reduziert; die Glaubensinhalte werden nicht durch die Ontologie bewiesen. Die Begriffe der Ontologie sind vielmehr ein Hilfsmittel, um die Glaubensartikel zu interpretieren, oder, wie Thomas es formuliert, von dem, was durch die natürliche Vernunft erkannt wird, leichter zu dem hinzuführen, was über der Vernunft ist. Die Brauchbarkeit philosophischer Begriffe und Thesen bemißt sich an diesem Ziel. Die Theologie kann philosophisch argumentieren51, aber diese Argumente beweisen den Glauben nicht. Als philosophische Argumente gehen sie nicht von den obersten Prinzipien der Theologie, den Glaubensartikeln, aus, und deshalb sagt Thomas, sie seien der Theologie „äußerlich". Vom Glauben und der Theologie aus gesehen handelt es sich lediglich um Wahrscheinlichkeitsargumente; ob sie gültig sind oder nicht, ist für die Glaubenszustimmung ohne Folgen. Sie haben die Aufgabe, den Glaubensinhalt durch Analogien zu verdeutlichen, und sie dienen so, im Sinne der patristischen Apologetik, der Vorbereitung auf das Evangelium. Die Vernunft kann einen Zusammenhang zwischen den Glaubensinhalten herstellen. Thomas erläutert die Bedeutung des Wortes ,Glaubensartikel' durch den Vergleich mit den Gliedern eines Körpers, die aufeinander abgestimmt sind52. Die Vernunft kann versuchen, den Zusammenhang zwischen den Artikeln und damit den Glauben als Ganzes zu sehen. Sie kann aus den Glaubensartikeln wie aus den Prinzipien einer Wissenschaft Folgerungen ziehen53. In umgekehrter Richtung kann sie, von den einzelnen Glaubensinhalten ausgehend, fragen, in welcher Beziehung sie zu den Wahrheiten stehen, die an sich und im eigentlichen Sinn Objekt des Glaubens sind, und das sind die Wahrheiten, welche den Menschen auf sein übernatürliches Ziel hinordnen54; sie kann also eine Hierarchie der Wahrheiten aufstellen. Vernunft und Philosophie können den Glauben nicht beweisen; in welchem Sinn können und müssen sie ihn verteidigen? Thomas nennt einmal den Fall, wo die Gegner gewisse Glaubensüberzeugungen miteinander teilen, und er hält hier eine Art transzendentaler Argumentation im Sinn des vierten Buchs der Metaphysik für möglich55: Das Gespräch muß klären, was mit den jeweils geteilten Überzeugungen bereits alles vorausgesetzt wird. Wo es keinerlei gemeinsame glaubensmäßige Grundlage gibt, kann es nur darum gehen, die Einwände gegen den

51 52 53 54

S.th. I 1,8 ad 2. S.th. II II 1,6. S.th. I 1,8. Vgl. S.th. II II 1,6 ad 1; II II 2,5.

55 S.th. 11,8.

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Glauben zu widerlegen56 und zu zeigen, daß was zu glauben vorgelegt wird nicht unmöglich ist57. Glaube und Wissenschaft dürfen einander nicht widersprechen58. Die philosophische Reflexion hat daher die Aufgabe, den Unterschied zwischen einer religiösen und einer naturwissenschaftlichen Sicht der Welt herauszuarbeiten und die Grenzen, welche der Naturwissenschaft von ihrer Fragestellung und Methode her gesetzt sind, aufzuzeigen; sie hätte, was Thomas voraussetzt, zu zeigen, daß die Sprache der Religion sich nicht auf die der Metaphysik oder der Naturwissenschaft reduzieren läßt.

V Daß diese Rationalitätskriterien das existentielle Gewicht, welches der Glaube für das Leben des Menschen hat, nicht tragen können, liegt auf der Hand; wir müssen deshalb fragen, wem, wenn es die Gründe nicht sind, der Glaube als Akt und als Haltung seine Festigkeit verdankt. Der eine Akt des Glaubens ist für Thomas zugleich ein Akt des Intellekts und des Willens; folglich ist die Tugend des Glaubens ein Habitus beider Vermögen59. Kennzeichnend für Thomas' Analyse ist, daß er die intellektuelle Unvollkommenheit des Glaubensaktes betont. Das eine Objekt des Glaubens, so führt er in seiner Interpretation der Augustinischen Formel credere Deo, credere Deum, credere in Deum aus60, kann unter dreifacher Rücksicht betrachtet werden. Eine erste Unterscheidung ergibt sich daraus, daß es Objekt des Intellekts und Objekt des Willens ist. Beim Objekt des Willens ist wiederum zu unterscheiden zwischen dem Materialobjekt, dem geglaubten Inhalt, und dem Formalobjekt, dem Grund, weshalb dieser Inhalt geglaubt wird, und das ist die Tatsache, daß er von Gott, der Veritas prima, offenbart wurde; man kann etwas über Gott (credere Deum) nur in der Weise glauben, daß man Gott glaubt (credere Deo)61. Wo Thomas von der intellektuellen Unvollkommenheit des Glaubensaktes spricht, unterscheidet er nicht zwischen dem Material- und dem Formalobjekt. Mit der Meinung hat der Glaube gemeinsam, daß der Intellekt von seinem Objekt nicht hinreichend zum Akt der Zustim-

56 57 58 59 60 61

S.th. S.th. S.th! S.th. S.th. S.th.

11,8. II II 1,6 ad 2. I 1,6 ad 2. II II 4,2. II II 2,2. II II 1,1.

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mung bewegt wird; vielmehr muß der Wille sich für einen der beiden Wahrheitswerte entscheiden62. Daß das Materialobjekt nicht hinreicht, um den Intellekt zur Zustimmung zu bestimmen, wurde oben bei der Auflistung der Rationalitätskriterien deutlich. Wie steht es um das Formalobjekt: Welche Gründe hat der Glaubende, und wie stark sind sie, anzunehmen, daß die Glaubensartikel von Gott offenbart sind? Thomas nennt die Autorität derer, denen die Offenbarung zuteil wurde63, und wenn wir nach Kriterien für diese Autorität fragen, so werden wir auf Wunder und die Überzeugungskraft der Verkündigung verwiesen64; die Tatsache der Offenbarung muß also aus der Geschichte erkannt werden. Auch diese Gründe reichen nicht aus, den Intellekt zur Zustimmung zu bewegen; der Glaubende hat also kein Wissen, daß der Glaubensinhalt von Gott offenbart ist; das Formalobjekt teilt die Unvollkommenheit des Materialobjekts. „Von denen, die ein und dasselbe Wunder sehen und dieselbe Predigt hören, glauben die einen, und die anderen glauben nicht"65. Die intellektuelle Unvollkommenheit teilt der Glaube mit der Meinung; sie unterscheiden sich durch die Festigkeit der Zustimmung; die Meinung ist mit dem Zweifel und der Furcht, das Kontradiktorium könne wahr sein, verbunden, wogegen der Glaube sich durch seine Sicherheit auszeichnet66. Aber was ist die Ursache dieser Sicherheit? Sie ergibt sich aus einer Entscheidung des Willens, der dem Intellekt die Zustimmung befiehlt. Die Formel credere in Deum beschreibt das Objekt des Glaubens, insofern es den Willen zu diesem Akt bewegt. Der Wille liebt den offenbarenden Gott, der als Veritas prima Garant für die Wahrheit des Offenbarten ist67. Die theologische Tugend der caritas vollendet die natürliche Neigung des Willens68, die auf die Erkenntnis der ersten Ursache als auf sein höchstes Gut gerichtet ist. Was dem Akt des Intellekts fehlt, wird ergänzt durch den Akt des Willens, der die anfanghafte und unvollkommene Erkenntnis des Glaubens ergreift, weil sie seinem desiderium naturale entspricht; in diesem Sinn spricht Thomas von einem „inneren Instinkt des einladenden Gottes"69.

62 63 64 65 66 67 68 69

S.th. II II 1,4; II II 2,1 ad 1. S.th. I 1,8 ad 2. S.th. 11112,9 ad 3; II II 6,1. S.th. II II 6,1. S.th. II II 1,4. S.th. II II 2,2. „naturalis inclinatio voluntatis obsequitur caritati": S.th. I 1,8 ad 2. „interiori instinctu Dei invitantis": S.th. II II 2,9 ad 3.

Der religiöse Glaube als Tugend

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VI Ich fasse meine Thomas-Interpretation in drei Thesen, die von der Fragestellung »Religion und Metaphysik' bestimmt sind, zusammen: 1. Die theologische Tugend des Glaubens ordnet den Menschen auf das letzte Ziel seines Handelns hin; die Religionsphilosophie hat also ihren Ort in der praktischen Philosophie. Religion ist nicht Metaphysik in dem Sinn, daß sie nach der letzten Ursache des Kosmos fragt. Die Artikel des Glaubensbekenntnisses sind als ein Ganzes zu lesen; die Schöpfungslehre darf nicht von der Soteriologie getrennt werden. 2. Im Unterschied zur Metaphysik ist der religiöse Glaube kein ausschließlich intellektuelles oder rationales Phänomen; er enthält als wesentliches Element die Liebe. Thomas spricht ihr in seiner Lehre von der connaturalitas eine kognitive Funktion zu und entgeht damit dem Dilemma zwischen einer rein intellektualistischen und einer voluntaristisch-dezisionistischen Analyse des Glaubens. 3. Der religiöse Glaube ist autonom. Er setzt nicht die Metaphysik als seine Grundlegung voraus, was einen internen Gebrauch der Metaphysik zur Entfaltung der Glaubensartikel nicht ausschließt. Die Autonomie des religiösen Glaubens zeigt sich auch darin, daß das Phänomen des religiösen Glaubens, wie der Begriff der theologischen Tugenden zeigt, nur in der Sprache der Religion oder Theologie beschrieben werden kann. Die Zuordnung des religiösen Glaubens zu den beiden Vermögen Intellekt und Wille ist nur eine Annäherung an, aber keine Beschreibung des Phänomens. Wir benötigen zur Beschreibung des Phänomens die religiöse Sprache, und die Beschreibung in dieser Sprache zeigt, daß das Phänomen des religiösen Glaubens nicht erklärt werden kann.

VII Einige kurze Hinweise auf Pascal und Newman sollen den Ansatz des Thomas verdeutlichen und eine Richtung andeuten, in die er weitergeführt werden könnte. Die Gottesbeweise, so Pascal, haben nicht die Kraft, dem Leben eine bleibende und tragende Ausrichtung zu geben. „Die metaphysischen Gottesbeweise sind so abseits vom Denken der Menschen und so verwickelt, daß sie wenig überzeugen, und sollten sie wirklich einigen nützen, so werden sie nur so lange nützlich sein als man den Beweis vor Augen hat; eine Stunde danach fürchten sie, sich getäuscht zu haben." 7 0 Auch für Pascal ist es die conditio humana, welche 70 Pascal, Pensées Frg. 543 Brunschvicg; Übersetzung von Ewald Wasmuth aus:

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nach dem Heil und einer Offenbarung fragen läßt; an die Stelle des intellektualistischen Menschenbildes des Aristoteles tritt jedoch eine eher paulinische oder augustinische Sicht. In Jesus Christus „und durch ihn kennen wir folglich Gott [...] Aber zugleich kennen wir unser Elend; denn dieser Gott ist nichts als der Erlöser von unserem Elend. Also können wir Gott nur wahrhaft erkennen, wenn wir unsere Verderbtheit kennen" 71 . „Die wahre Natur des Menschen, sein wahres Heil, die wahre Tugend und die wahre Religion; das sind Dinge, deren Kenntnis untrennbar ist." 72 Thomas' Lehre von der kognitiven Funktion der Liebe darf verglichen werden mit Pascals' Begriff des Herzens; beide stehen in der augustinischen Tradition. „Es ist das Herz, das Gott spürt, und nicht die Vernunft. Das ist der Glaube: Gott spürbar im Herzen und nicht in der Vernunft." 73 Wie der „Instinkt" des Glaubens bei Thomas, so ist der „Glaube als Gefühl des Herzens" bei Pascal ein Geschenk Gottes 74 . In kritischer und zugleich zustimmender Auseinandersetzung mit dem Skeptizsimus hebt Pascal das Herz hervor, während er der Vernunft nur eine sekundäre Bedeutung zubilligt: „Gefiele es Gott, daß wir sie [die Vernunft] im Gegenteil niemals nötig hätten und alle Dinge instinktiv und durch das Gefühl erkennten. Die Natur aber hat uns [...] nur wenige Erkenntnisse dieser Art geschenkt; alle anderen können nur durch die Vernunft erworben werden. Und deshalb sind die, denen Gott den Glauben als Gefühl des Herzens gegeben hat, sehr glücklich und völlig rechtmäßig überzeugt." 75 Ein Text von 1841, der den Grundgedanken der Grammar of Assent (1870) enthält und den Newman in ihr zitiert, sieht den Glauben als Grundlage des Handelns und fragt, was sich daraus für dessen kognitiven Charakter ergibt. „Deduktionen haben keine Überzeugungskraft. Das Herz wird gemeinhin nicht durch den Verstand erreicht, sondern durch die Einbildungskraft, auf Grund unmittelbarer Eindrücke, durch das Zeugnis von Tatsachen und Ereignissen, durch Geschichte, durch Beschreibung [...] kein Mensch will der Märtyrer einer Schlußfolgerung sein [...] Ich habe kein Vertrauen zu Philosophen, die nun einmal nicht anders können, als religiös sein [...] Sie haben durch Berechnungen die Lage eines Landes ausfindig gemacht, das sie niemals sahen [...] Das Leben ist nicht lang genug für eine Religion aus Folgerungen [...] Das

71 72 73 74 75

Blaise Pascal - Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées), Heidelberg 1972 7 . Pascal, Pensées Frg. 5 4 7 Brunschvicg. Pascal, Pensées Frg. 4 4 2 Brunschvicg. Pascal, Pensées Frg. 2 7 8 Brunschvicg. S.th. II II 2 , 9 ad 3; Pascal, Pensées Frg. 2 8 2 Brunschvicg. Pascal, Pensées Frg. 2 8 2 Brunschvicg.

Der religiöse Glaube als Tugend

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Leben ist zum Handeln da. Wenn wir für jedes Ding auf einem Beweis bestehen, werden wir niemals zum Handeln kommen: Um zu handeln, muß man etwas voraussetzen, etwas annehmen, und diese Annahme ist der Glaube (faith)."76 Wie bei Thomas ist bei Newman der offenbarende Gott das Formalobjekt des Glaubens. Die Offenbarung wird im Glauben angenommen, weil sie von Gott ist und nicht aus immanenten Gründen; nicht als wahrscheinlich oder teilweise wahr, sondern als absolut sicheres Wissen, weil sie von Ihm kommt, der weder täuschen noch sich täuschen kann. Im Unterschied zu Thomas stellt Newman in aller Ausdrücklichkeit die Frage nach den Gründen, die diesen Anspruch rechtfertigen77. Ich nenne nur einen von ihnen, weil er uns im vorliegenden Zusammenhang besonders interessiert: das Verhältnis der offenbarten zur natürlichen Religion. Newman unterscheidet die natürliche Religion von der „Religion der Philosophie oder Zivilisation". Die offenbarte Religion setzt die natürliche Religion voraus; der Glaube an offenbarte Wahrheiten hängt vom Glauben an natürliche ab78. Wieder werden wir, wie bei Thomas und Pascal, auf die Erfahrung der conditio humana als Fundament des religiösen Glaubens verwiesen. Alle Religion ist ein Segen, aber ihre „breite und tiefe Grundlage ist das Bewußtsein der Sünde und Schuld, und ohne dieses Bewußtsein gibt es für den Menschen, wie er ist, keine echte Religion. Andernfalls ist sie nur etwas Nachgemachtes und Hohles; das ist der Grund, weshalb die sogenannte Religion der Zivilisation und Philosophie eine so große Farce ist" 79 . Die Offenbarung beginnt dort, wo die natürliche Religion versagt. Die natürliche Religion erkennt die Krankheit; das Heilmittel „findet sich in der zentralen Lehre der Offenbarung, dem Mittleramt Christi"80. Das Vernunftvermögen, dem Thomas die Tugend des Glaubens zuschreibt, ist der Intellekt, der Nus des Aristoteles. Auch Newman greift auf Aristoteles zurück, aber die Vernunftform, von der er in seiner Theorie des religiösen Glaubens ausgeht, ist die Aristotelische Phronesis. Während sie bei Aristoteles eine ausschließlich praktische Fähigkeit ist, erweitert Newman sie in seinem Illative Sense zu einer dianoetischen Tugend, die für jegliche Form der Erkenntnis des Kontingenten und 76 J.H. Newman, An Essay in Aid of a Grammar of Assent [1870], New impression, London 1 9 1 7 , 9 2 - 9 5 Übersetzung von Th. Haecker: Entwurf einer Zustimmungslehre, Mainz 1961 (Band VII der ausgewählten Werke von J.H. Kardinal Newman). 77 Newman, Grammar 387. 78 Newman, Grammar 4 1 3 . 79 Newman, Grammar 4 0 0 Übers. Haecker. 80 Newman, Grammar 4 8 7 Übers. Haecker.

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Konkreten zuständig ist81. Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, näher auf den Illative Sense einzugehen. Ich will lediglich auf einige Merkmale der Aristotelischen Phronesis hinweisen, um anzudeuten, was sich aus dem Wechsel vom Nus zur Phronesis für das Verständnis des religiösen Glaubens als Tugend ergibt. Der Gedanke an einen deduktiven Beweis oder eine syllogistische Folgerung wird von vornherein ausgeschlossen. Die Phronesis ist das Vermögen der Zusammenschau von relevanten Gesichtspunkten und des abwägenden Urteils; der Bereich von Newmans Folgerungssinn sind nicht abstrakte Begriffe und Prinzipien, sondern das Konkrete. Damit ist für Newman unter anderem die für die Begründung des Faktums der Offenbarung wichtige Möglichkeit einer Zusammenschau und Deutung historischer Fakten gegeben. Nach Aristoteles kann es keine Phronesis ohne ethische Tugend geben; der nach der Art der Phronesis konzipierte Begriff der Glaubenserkenntnis setzt also ebenso wie der Thomasische Begriff die Vollkommenheit zweier Vermögen voraus; er fordert die Einheit von Vernunft und Gefühl und damit die Kultur der Gefühle durch Gebet und Meditation. Newman zitiert die Nikomachische Ethik: „Junge Leute können Mathematiker und ähnliches sein, aber sie können kein praktisches Urteil besitzen; denn dieses Talent wird angewandt auf individuelle Tatsachen, und diese lernt man nur durch Erfahrung; ein junger Mann hat keine Erfahrung, denn Erfahrung wird erst im Lauf der Jahre gewonnen" 82 . Der Illative Sense „wird geformt und zur Reife gebracht durch Praxis und Erfahrung" 83 . Der Glaube kann auf die persönliche Erfahrung nicht verzichten. Wo es um Gründe für den religiösen Glauben geht, ist deshalb nach Newman, und Thomas würde ihm zustimmen, der Egotismus die wahre Bescheidenheit. „Beim religiösen Suchen kann jeder nur für sich selber sprechen, und für sich selber hat er ein Recht zu sprechen. Seine eigenen Erfahrungen reichen hin für ihn selber, aber für andere kann er nicht sprechen; er kann nicht ein Gesetz aufstellen." 84

81 82 83 84

Newman, Newman, Newman, Newman,

Grammar Grammar Grammar Grammar

353 Anm.l. 414; vgl. Aristoteles, N E VI 8,1142al2-16. 354f. 384f. Übers. Haecker.

Der metaphysische Substanzbegriff in seiner Bedeutung für die Religion EDMUND RUNGGALDIER

Einleitung Religiös gesinnte Menschen - sowohl im Sinne der Großreligionen als auch im Sinne einer diffusen Religiosität, wie sie sich in der esoterischen Szene bemerkbar macht, - hegen zuweilen den Verdacht, ihr religiöser Glaube sei nicht kompatibel mit ihrer sonstigen wissenschaftlich bewährten Weltsicht. Was sie als rational vertretbar ansehen, ist nämlich häufig - zumindest implizit - naturalistisch bestimmt und müsse somit für sie in eine rein naturalistische Ontologie passen. Sie meinen also, daß nur positiv wissenschaftlich Bewährtes oder Begründbares Ergebnis und Ausdruck wahrer Erkenntnis sein können. 1 Ich möchte das anhand des religiösen Strebens nach Einheit sowie der Frage nach dem, was Einheit auf der ontologischen Ebene sei, erläutern. Die ontologische Annahme von Einheiten erweist sich nämlich als nicht kompatibel mit einer faktisch vertretenen rein naturalistischen Ontologie und Metaphysik. Einssein und das entsprechende Streben nach Einheit (unity, oneness) werden vor religiösem Hintergrund in der Regel positiv bewertet: Sie drücken etwas aus, das allgemein als grundlegend und vorteilhaft für die Bewältigung unseres Lebens gilt. Das Streben nach Einheit bringt man auch in Zusammenhang mit der Sehnsucht nach Liebe und wahrer Erkenntnis, und von diesen nimmt man wiederum an, daß sie zu einem einheitlicheren Blick der Wirklichkeit, zu einem einheitlicheren Erfassen dessen, was der Fall ist, führen. Auch in esoterischen Kreisen strebt man nach Einheit: Der in der Meditation sich Übende und Erleuchtete möchte allmählich einsu/erden mit dem All, dem Allumfassenden oder dem Kosmos. Durch verschiede1

Zum neueren Naturalismus siehe: G. Keil und H. Schändelbach (Hg.), Naturalismus. Philosophische Beiträge. Frankfurt 2000; J. Quitterer und E. Runggaldier (Hg.), Der Neue Naturalismus: eine Herausforderung an das christliche Menschenbild. Stuttgart 1999.

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ne meditative Techniken strebt er einen höheren Grad an Einssein mit sich selbst, mit den anderen, ja schließlich mit dem Kosmos an. Was dem Einssein und der Einheit ganz allgemein entgegengesetzt ist, scheint - zumindest unter den genannten Rücksichten - als negativ bewertet zu werden. So beanstandet man z.B. den modernen Individualismus, den Zerfall von Lebensgemeinschaften, die Infragestellung der Familie; man bedauert zuweilen den Verfall der bewährten einheitsstiftenden Strukturen der öffentlichen Gesellschaft. Viele Übel in unserem Leben werden - ob zu Recht oder Unrecht - auf einen Mangel an Einheit zurückgeführt. Einssein bzw. Einswerden sowie Einheit ganz allgemein sind also religiös positiv besetzt. Aber was heißt Einswerden, Einssein, Einheit? Vor dem Hintergrund rein naturalistischer Ontologien können Einheiten nichts Reales sein. Was es eigentlich gibt, seien letztlich nur simples, atomare Bestandteile, also die Menge des Stoffes, aus dem unsere Alltagsdinge bestehen. Die entsprechenden Mengen von simples, die mit unseren Alltagsdingen koinzidieren, sonderten wir Menschen allein aufgrund konventioneller Festsetzungen oder sprachlicher Regelungen aus. Vor dem Hintergrund rein naturalistischer Lebensdeutungen und entsprechender ontologischer Entwürfe kann in der Tat kein religiöser Glaube intellektuell redlich vertreten werden. Ein häufig praktizierter Ausweg besteht nun in einem faktischen, wenn auch nicht immer explizit ausgefalteten Dualismus: Religion und Wissen haben nichts miteinander zu tun! Diese Art von Dualismus wird gestützt - wenn auch auf unterschiedliche Weise - durch Ansichten aus der Kant- und Wittgensteintradition, aus dem emotivistischen Positivismus sowie der konventionalistischen Sprachphilosophie. In diesem Beitrag möchte ich einen nicht-dualistischen Ausweg vorschlagen, indem ich für eine nicht-naturalistische Ontologie plädiere, die Platz hat für den alten klassischen Substanzbegriff (ούσία). Ich meine also, daß eine entsprechend reiche Ontologie es ermöglichen müßte, zum religiösen Streben nach höherer Einheit stehen zu können, ohne intellektuell unredlich zu werden. Statt in den Schwanengesang jener einzustimmen, die an das Ende der Metaphysik glauben und jegliche Substanzontologie als obsolet betrachten, schließe ich mich den aktuellen Metaphysikern analytischer Provenienz an. Diese arbeiten zwar in der Regel an Versuchen, unsere Alltagsontologie zu naturalisieren oder auf eine monistische Basis zu reduzieren. Sie betreiben aber gerade vor dem Hintergrund der analytischen Philosophie Metaphysik, und das scheint mir ein zukunftsweisender Weg zu sein. Für Außenstehende und Journalisten, die die philosophische Diskussion verfolgen, mag dieses neue Aufblühen der Metaphysik gerade im

Der metaphysische Substanzbegriff

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Rahmen der analytischen Philosophie wie ein Bruch aussehen. So schreibt z.B. die Neue Zürcher Zeitung über das internationale Wittgensteinsymposion in Kirchberg am Wechsel im August 1999, Wittgensteins grundsätzliche Kritik an der Metaphysik und sein Bemühen, „dem metaphysischen Unsinn vorzubeugen", wurden diesmal ignoriert: „Statt dessen betonte man die Notwendigkeit der Rückkehr zu Metaphysik und systematischer Philosophie."2 Ich habe vor, auf die neueren Sachverhaltsontologien bzw. auf jene ontologischen Entwürfe, die Sachverhalte entweder direkt oder zumindest indirekt annehmen, aufmerksam zu machen: Sie korrigieren oder ergänzen einerseits rein atomistische bzw. monistische Ontologien und erweisen sich andererseits als kompatibel mit Substanzontologien. Ich greife sodann auf die metaphysische Einheitsproblematik zurück mit der Absicht aufzuweisen, wie der alte Begriff der ουσία bzw. der moderne des „sortais" mit der Frage nach den grundlegenden Einheiten unserer Lebenswelt zusammenhängt, sowie aufzuweisen, daß der entsprechende klassische Einheitsbegriff Gradunterschiede zuläßt und nicht reduzierbar ist. Werden Einheiten nicht reduziert, bieten sie einen ontologisch günstigeren Hintergrund für religiöse Deutungen der Wirklichkeit. Der religiöse Mensch sieht sich dann nicht mehr genötigt, entweder prinzipiell - im Sinne eines Dualismus - zwischen einem rationalen oder kognitiv relevanten und einem a-rationalen Bereich zu trennen oder aber mit dem Verdacht zu leben, intellektuell unredlich zu sein.

Naturalistische atomistische Ontologien Die Ausgangsfrage, welche die von Quine geprägten heutigen Ontologen in der analytischen Tradition beschäftigt, lautet: „Was gibt es eigentlich}"' Besonders brisant sind die heutigen ontologischen Fragestellungen in der Deutung des Menschen und seiner Handlungen: Gibt es Geistiges? Gibt es Freiheit? Quine meint z.B., daß unser Bezogensein auf anderes, d.h. unsere Intentionalität, die charakteristisch für geistige Akte sowie Handlungen ist, reiner Schmuck unserer Alltagsrede sei. Ihr entspreche nichts in der Wirklichkeit, da objektive Aussagen über sie nicht möglich seien. Brisant sind ferner die ontologisch relevanten Fragen nach der Kausalität: Was müssen wir als existent voraussetzen, um kausale Zusammenhänge zu Recht annehmen zu können? Bekannt sind die Diskussion um die mentale Verursachung und die agent-causality

2

Neue Zürcher Zeitung, Feuilleton, 31. 08. 99.

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sowie die Diskussion um die Wirksamkeit wissenschaftlich nicht faßbarer Ursachen wie z.B. jene homöopathischer Arzneimittel. Die vor analytischem Hintergrund entwickelten Ontologien sind zum Großteil monistisch, d.h. sie kennen nur eine Kategorie, und naturalistisch, wenn nicht gar physikalistisch. Im Rahmen derartiger ontologischer Positionen ist die Annahme der Existenz Gottes nicht nur problematisch, sondern sinnlos. Wie angedeutet, führen derartige ontologische Positionen - ob explizit oder lediglich implizit vertreten - zu intellektuellen Problemen für religiöse Vollzüge und Glaubensannahmen sowie zu prinzipiellen Schwierigkeiten in der Deutung des Strebens nach Einheit. Rein monistische Positionen führen aber, wenn konsequent durchdacht, ihrerseits zu großen Problemen. Besonders ihre atomistischen Varianten scheinen Folgen zu zeitigen, die kontra-intuitiv sind. Betrachten wir z.B. zwei ontologische Optionen, die sich daraus entwickelt haben: den Nihilismus und den Universalismus.3 Der Nihilismus besagt, daß es keine ούσίαι, auch keine Dinge und Gegenstände im alltäglichen Sinne gibt, sondern lediglich simples, d.h. letzte atomare Bestandteile der Wirklichkeit. 4 Wenn es nun keine ούσίαι gibt, sondern nur Mengen von einfachen atomaren Bestandteilen, so könne es auch kein Entstehen und Vergehen im eigentlichen Sinne geben. Kommen z.B. neue Lebewesen auf die Welt und gehen andere ein, so gebe es auf der ontologischen Ebene lediglich Verschiebungen von atomaren Bestandteilen. Was geschieht, sei ein Hin- und Herfließen dieser Bestandteile. Die Alltagsdinge und die Lebewesen seien letztlich nur Mengen von simples, die bestimmte RaumZeit-Portionen einnehmen, d.h. sie seien lediglich Ausschnitte aus der Verteilung dieser atomaren Bestandteile im Universum. Der entgegengesetzte extreme Standpunkt ist der Universalismus. Er läuft aber auf dieselben ontologischen Grundannahmen hinaus, weil er ebenfalls letztlich nur atomare simples als wirklich oder real postuliert. Als Universalismus wird dieser entgegengesetzte Standpunkt deshalb bezeichnet, weil er unendlich viele Mengen von simples annimmt, von denen wir Menschen immer nur wenige herausgreifen, nämlich jene, die unseren gängigen Gegenständen entsprechen und mit ihnen koinzidieren. Rein theoretisch gäbe es aber auch gànz unpraktische Mengen von atomaren Bestandteilen, die in der Raum-Zeit weitf erstreut sind. Sie zu den Dingen zu rechnen, ergäbe keinen praktisch-pragmatischen Sinn. Für den Universalismus bedeutet das aber nicht, daß es sie nicht gäbe. Somit kann es vor diesem Hintergrund ebenfalls kein eigentliches Ent3

4

„Nihilismus" ist hier nicht im Sinn des französischen Existentialismus zu verstehen, sondern ontologisch - bezogen auf die Frage nach Substanzen in der aristotelischen Tradition. Siehe dazu: P. van Inwagen, Material Beings. Ithaca/London 1995, 72-80.

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stehen und Vergehen geben. Wenn wir im Alltag sagen, daß etwas Neues entstehe oder etwas uns Bekanntes vergehe, so bedeute das lediglich, daß wir unsere praktisch-pragmatisch bedingte Aufmerksamkeit auf eine andere Menge von simples richten bzw. sie davon abwenden. Die entsprechende Menge selbst habe es aber immer schon gegeben bzw. werde es auch immer geben. Vor dem Hintergrund rein atomistischer Ontologien besteht also unser Alltag aus Illusionen. Was es wirklich gibt, das sagten uns die wissenschaftlich bewährten Ontologien. Was es wirklich gibt, sei rein atomar! Einheiten als Einheiten sind folglich vor diesem Hintergrund als reine Illusion zu deuten. Sachverhaltsontologien hingegen oder Ontologien, die Sachverhalte annehmen, weichen von derartigen atomistischen Positionen ab und können so entfaltet werden, daß sie sich mit aristotelischen Substanzontologien als kompatibel erweisen. Sachverhaltsontologien: Überwindung des naturalistischen Atomismus Sachverhaltsontologien gründen auf der Intuition, daß die ontologische Grundfrage mit dem zusammenhängt, was wir Menschen wahrnehmen, womit wir uns beschäftigen, was uns anspricht und interessiert. Das sind weder simples oder sonstige atomare Bestandteile noch Dinge und Eigenschaften als solche. Was uns interessiert, ist hingegen, daß diese Entitäten in bestimmten Relationen zueinander stehen, in komplexen Situationen oder Gefügen vorkommen, sich auf bestimmte Arten zueinander verhalten usw., d.h. daß bestimmte Sachverhalte bestehen. Daß es bestimmte Sachverhalte gibt, das mache die Realität für uns aus! Beobachten wir z.B. einen Menschen, so beobachten wir, wie er sich gibt, was er sagt oder was er wie tut usw. Oder was uns z.B. sowohl positiv als auch negativ anspricht, ist, daß Menschen sich auf eine gewisse Art und Weise verhalten oder gewisse Neigungen haben usw. Was also mit den genannten Beschreibungen, die mit der Partikel „daß" eingeleitet werden, angegeben wird, subsumiert man in besagten Ontologien unter die Kategorie der Sachverhalte. Die Antwort auf die Frage, was es tatsächlich gibt, lautet demnach: bestehende Sachverhalte. So lehrt z.B. der frühe Wittgenstein: „Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge"5, und „Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten."6 5 6

L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 1.1. L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 2.

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Für die ontologische Annahme von Sachverhalten scheinen auch modernere physikalische Theorien zu sprechen. Wissenschaftler konfrontieren uns nämlich mit Thesen über die Welt und den Kosmos, die ebenfalls voraussetzen, daß die Wirklichkeit keine Summe von fixen simples ist. Der Mikrokosmos, der als Grund dafür postuliert wird, daß es überhaupt Makrogegenstände gibt, sei energetischer Art: Für physikalische Tatsachen sind energetische Beziehungen wie Kräfte der Attraktion und Repulsion ausschlaggebend. Sie seien Grund dafür, daß es überhaupt Kausalität gibt. Physikalische Tatsachen sind also vor diesem Hintergrund bestehende Sachverhalte, die der Physiker durch Hypothesen und Experimente genauer zu bestimmen trachtet. Dafür entwickelt er Modelle wie das uns Laien vertraute von Elektronen und Protonen, aber auch Modelle, die so komplex sind, daß wir Laien damit überfordert sind. Für viele Ontologen sind die Elemente, zwischen denen die Sachverhalte bestehen, allerdings lediglich sogenannte Tropen. Mit „Tropen" sind Bestimmungen oder Eigenschaften gemeint, die konkret sind, d.h. an einer ganz bestimmten Stelle des Raum-Zeit-Gefüges vorkommen bzw. existieren.7 Tropen werden auch für den Makrobereich postuliert, und da sind es die uns vertrauten alltäglichen Eigenschaften wie das Braun meines Tisches, die Höhe meines Stuhles, das Gewicht meines Computers usw. Sachverhaltsontologien stellen zwar eine Überwindung rein atomistischer Deutungen der Wirklichkeit dar; aber auch sie stoßen auf prinzipielle Schwierigkeiten in der Frage nach den Einheiten unserer Lebenswelt, den ούσίαι in der aristotelischen Tradition, d.h. den Lebewesen und in einem übertragenen Sinne auch den sonstigen Dingen. Besonders problematisch sind die rein bündeltheoretischen Versuche, derartige Deutungen vorzunehmen. Die ούσίαι seien demnach nichts anderes als Bündel von Tropen, die sachverhaltsartig zueinander stehen. Derartige Deutungen passen zwar gut in die empiristische Tradition und entsprechen rein konventionalistischen Zugängen zur Frage nach den Einheiten unserer Lebenswelt, stoßen aber ebenfalls an prinzipielle Grenzen. Katzen, Hunde, aber auch Dinge wie Computer, Tische etc. sind im Sinne der Bündeltheorien letztlich gebündelte Mengen von Tropen. Vor esoterischem Hintergrund wären es Bündel von Schwingungsarten, Facetten der Energie; im Sinne unseres Alltags hingegen Bündel von konkreten Qualitäten, Quantitäten und sonstigen Eigenschaften. Ein Dia-

7

Siehe: Ch. Kanzian und E. Runggaldier, Analytische Ontologie (UTB 2059). Paderborn 1998, 66.

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mant wäre demnach nichts anderes als eine Menge besonderer konkreter Fälle von Härte, Durchsichtigkeit, Glanz, Kristallstruktur, Masse, Solidität, Temperatur usw. Die sachverhaltsartig bestimmten Bündel, die unsere Alltagsdinge konstituieren, sind also vor diesem Hintergrund Mengen von Tropen, die in bestimmten Relationen zueinander stehen. Die Ko-Präsenz wäre z.B. eine derartige grundlegende Relation, die zwischen Tropen besteht, die an derselben Stelle präsent sind, die m.a.W. so miteinander zusammenhängen, daß sie denselben Raum einnehmen. Eine ganz bestimmte Temperatur kann an derselben Stelle vorkommen wie eine ganz bestimmte Härte oder eine ganz bestimmte Farbe. Sachverhaltsontologien stellen also eine Überwindung rein atomistischer Ontologien dar, gelten aber vielerorts als inkompatibel mit den alten Substanzontologien in der aristotelischen Tradition. Uns geht es aber um die Frage, inwiefern der alte Substanzbegriff einen Beitrag leisten kann für ein besseres Erfassen und Verstehen dessen, was Einheit bereits auf der ontologischen Ebene besagt. Erinnern wir uns an die philosophischen sowie wissenschaftstheoretischen Hintergründe zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, die zum Begriff des Sachverhalts geführt haben: Sie wenden sich allesamt gegen die klassischen sowie alltäglichen Substanzontologien. Sprechen nun die Argumente, durch welche die Sachverhaltsontologien gestützt werden, für die weit verbreitete Ansicht, die alte aristotelische Substanzontologie sei obsolet bzw. durch die Entwicklung von Sachverhaltsontologien überwunden? Die prinzipielle Trennung von Substanz- und Sachverhaltsontologien sowie ihre Gegenüberstellung erweisen sich bei genauerem Studium als nicht haltbar. Die klassischen Substanzontologien können durchaus so verstanden und aktualisiert werden, daß sie mit Sachverhaltsontologien kompatibel sind - wie ich im nächsten Abschnitt zu zeigen versuchen werde. Gelingt der Versuch, sie als komplementär zu deuten, so können die weltanschaulichen Vorzüge der Substanzontologien beibehalten werden, vornehmlich in der Behandlung der Problematik der Einheit und des Einsseins, ohne daß die Vorzüge von Sachvehaltsontologien preisgegeben werden müßten. Ein geglückter Versuch würde auch die angesprochenen Mängel der rein bündeltheoretischen Deutungen der ούσίαι beheben. Fragen wir aber zunächst nach einigen Anhaltspunkten, die dafür sprechen, daß sich der Versuch lohnt.

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Der Sachverhaltsaspekt in der klassischen Metaphysik Die Bezeichnungen für die einzelnen Kategorien im Corpus Aristotelicum sind - grammatikalisch gesehen - zum Großteil Fragepartikeln wie-rroaov (wie groß? welcher Quantität?), ποιον (wie beschaffen? welcher Qualität?), προς τι (worauf bezogen? Woraufhin?), ττού (wo?), ποτέ (wann?).8 Die Fragen, welche mit diesen kurzen Ausdrücken angedeutet werden, können wir vollständig nur mit Sätzen beantworten, und Sätze drücken Sachverhalte aus. Wenn wir auf Fragen antworten, wie etwas ist, wo es vorkommt, wann es existiert usw., beziehen wir uns auf etwas und prädizieren davon dasjenige, wonach gefragt wurde. Wir behaupten m.a.W., daß bestimmte Sachverhalte bestehen, nämlich daß den Entitäten, auf die wir referieren, bestimmte Akzidentien zukommen. Einige Kategorien der Gruppe der Akzidentien, nämlich die aktiven und passiven Vollzüge sowie Tätigkeiten, werden im Corpus Aristotelicum auch durch Zeitwörter in der Infinitivform angegeben: κεΐσθαι (liegen), εχειν (haben), ττοιεΐν (tun/machen), ττάσχειν (leiden/erleiden)9. Werden nun diese Vollzüge von etwas anderem ausgesagt, so wird ebenfalls das Bestehen eines Sachverhaltes mitbehauptet, des Sachverhalts nämlich, daß einer Sache oder einem Ding etwas zukommt. Wenn wir von einer ουσία Akzidentien prädizieren, so behaupten wir also, daß diese ihr zukommen oder ihr inhärieren. Untersuchen wir diese Redeweise, so leuchtet es ein, daß es auch in der traditionellen Substanzontologie um Untersuchungen geht, die sich auf Sachverhalte oder zumindest Sachverhaltsartiges beziehen. Besonders zu Beginn von De Interpretatione wird hervorgehoben, daß erst die Kombination von όνομα (Subjektausdruck) und ρήμα (Prädikatausdruck) Wahrheit ermöglicht. 10 In den heutigen Ontologien wird die entsprechende Problematik unter dem Stichwort „truth-maker" behandelt: Was sind die Gegebenheiten, welche Aussagen, Behauptungen, Urteile usw. wahr machen bzw. Grund dafür sind, daß sie zu Recht als wahr gelten? Durch die angeschnittene Fragestellung stößt man auf die Postulierung von Tatsachen (facts) oder eben bestehenden Sachverhalten. Aber auch die traditionelle Kategorie der ουσία selbst kann sachverhaltsartig gedeutet werden. Die δευτέρα ουσία (Substanz im zweiten Sinn) wird nämlich als Antwort auf die Frage angegeben, was etwas

8 Aristoteles, Kategorienschrift, l b 26f. 9 Aristoteles, Kategorienschrift, l b 27. 10 Aristoteles, De Interpretatione, 16a l-17a 7.

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sei.11 Sie drückt den Sachverhalt aus, daß eine bestimmte Ολη (Materie) sich so und so, d.h. in einem bestimmten είδος (Form) oder in einer bestimmten φύσις (Natur), aktualisiert hat und eben durch ihre Tätigkeiten, Dispositionen und Fähigkeiten aktuell oder real ist. Dafür verwenden wir heute den englischen Ausdruck „sortal". Das Interesse für die sortais in der analytischen Sprachphilosophie und Ontologie wurde durch Analyse der Prädikation und des sich daraus ergebenden Unterschieds zwischen „ Wds-Prädikationen" und „ WiePrädikationen" geweckt. Durch letztere sagen wir aus, wie etwas ist, durch erstere, was etwas ist. Verstärkt wurde das Interesse sodann durch besondere Probleme, die sich aus der Untersuchung der Eigenart der Ausdrücke für sogenannte natürliche Arten ergaben, vornehmlich für die Arten von Lebewesen. Unter dem Stichwort „sortal" behandelt man heute Probleme der Substanz im zweiten Sinn. Die lange als obsolet gegoltene Frage nach der Substanz wird aber vor sprachanalytischem und ontologischem Hintergrund schon allein insofern neu aufgerollt, als man nach den Anwendungskriterien für sortale Ausdrücke fragt. Dabei stößt man unwillkürlich auf die Frage nach den Identitäts-, Kontinuitäts- und Existenzbedingungen bzw. -kriterien jener Entitäten, die unter diese sortalen Ausdrücke fallen.12 Deuten wir aufgrund dieser kurzen Hinweise die traditionelle thomistisch-aristotelische Kategorienlehre im besagten Sinne sachverhaltsartig, dürfte es uns leichter fallen zu verstehen, inwiefern die konkreten, in Raum und Zeit existierenden ούσίαι einheitliche Aktivitätszentren sind: Ihnen kommen als Einheiten verschiedene Eigenschaften, Dispositionen und Fähigkeiten zu. Rein atomistische, bündeltheoretische, sprachanalytische sowie rein konventionalistische Versuche, diese Einheiten zu deuten, stoßen hingegen - wie aus den bündeltheoretischen Rekonstruktionen ersichtlich wird - auf prinzipielle Schwierigkeiten. Es dürfte aber so auch ersichtlich werden, daß es keine prinzipielle Inkompatibilität gibt zwischen Sachverhaltsontologien einerseits und Substanzontologien andererseits. Wenn das stimmt, so wirkt sich das positiv auf unseren Versuch aus, die Einheitsproblematik auch ontologisch besser in den Griff zu bekommen. Die Einheitsproblematik ist - so sahen wir - von Brisanz für weltanschauliche und religiöse Fragen. Der religiöse Mensch strebt nach Einheit. Wenn aber Einheit auf der ontologischen Ebene keine Rolle spielt, wie es die naturalistischen Ontologien voraussetzen, so geht dieses Stre-

11 Aristoteles, Kategorienschrift, 2a 14ff. 12 Siehe: E.J. Lowe, Kinds of Being. Oxford 1989.

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ben ins Leere. Ist jemand aufgrund seiner metaphysischen Position davon überzeugt, so kann er seinen religiösen Glauben damit nicht in Einklang bringen, es sei denn - wie eingangs angedeutet - , er verfällt einem faktischen Dualismus (von rational und kognitiv Relevantem einerseits und Α-Rationalem andererseits). Das Ziel der Metaphysik in der klassischen Tradition (Aristoteles, Thomas von Aquin, Suárez) besteht zwar in keiner praktischen Anwendung, sondern in der contemplatio veritatis13, im verkostenden Betrachten der Wahrheit über die letzten bzw. ersten Dinge des Lebens sowie die Wirklichkeit als Ganze; das schließt aber nicht aus, daß sie gerade auch als ordnende Wissenschaft nützlich sei: Sie fragt nach jenen Einsichten, die Voraussetzung für die Bewältigung des Lebens und die Pflege der anderen Wissenschaften sind. Aufgabe des Metaphysikers ist es zu ordnen: sapientis est ordinare. Nach klassischer Auffassung ist die Metaphysik nicht nur nützlich, um die Frage zu klären, was wirklich ist, sondern vornehmlich, um einen ordnenden Überblick zu gewinnen über die gesamten Lebensbereiche sowie um die kohärente Bewältigung unseres Lebens zu erleichtern. Wonach nun gefragt werden soll und in der klassischen Metaphysik gefragt wird, ist die Beziehung zwischen der Annahme, daß etwas eine Einheit ist und daß es überhaupt etwas Wirkliches ist. Die Grundthese, mit der uns dazu die klassische Metaphysik konfrontiert, lautet: Einssein ist auf der sachlichen oder ontologischen Ebene letztlich dasselbe wie Wirklichsein. Etwas sei in dem Ausmaß Eines, in dem es Wirkliches ist. Dieser Standpunkt richtet sich gegen den alten Atomismus der antiqui oder der Vorsokratiker - das wären die aktuellen atomistischmonistischen Ontologien in der Quine-Tradition - , aber auch gegen den platonisierenden Standpunkt, nach dem die Einheit etwas Zusätzliches sei, das von außen der jeweiligen ουσία hinzukommen müßte. Wäre dem so, gäbe es nach den Autoren in der aristotelischen Tradition einen regressus in infinitum. Einheit, εν, unum, als allgemeinste Bestimmung Aristoteles entwickelt ein äußerst differenziertes Bild der angesprochenen Problematik, indem er nicht nur die ούσίαι in ihren Einheiten untersucht, sondern auch jene Bestimmungen, die ihnen als solchen zukommen. Zur Klärung dieser Bestimmungen sind die Spannung und 13 Siehe z.B.: Aristoteles, Metaphysik α, 993a 30-993b 22; Suárez, Disputationes Metaphysicae, disp. 1, sect. 4.

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Entgegensetzung zwischen Selbigkeit und Verschiedenheit (ταύτόν, ετερον), zwischen Ähnlichem und Unähnlichem (δμοιον, άνόμοιον) zu berücksichtigen - weiters Gegensätze wie Widersprüche, auch Gegensätze zwischen Früherem und Späterem (πρότερον, ύστερον) oder zwischen Grundlegenderem und Abgeleitetem, zwischen dem, was ontologisch primär ist, und dem, was davon abhängig ist, usw.14Aristoteles fragt also nicht nur danach, was ein Einzelnes in seiner Einheit als Einzelnes ist, sondern auch, was ihm entgegengesetzt ist und worin dieser Gegensatz besteht. Aristoteles geht der Begriffsbestimmung des εν zunächst an verschiedenen Stellen im Buch γ nach, in dem er den Gegenstandsbereich der Metaphysik umschreibt als den des όν, insofern es öv ist. Uns interessiert nun Aristoteles' Hervorhebung, daß iv und όν letztlich ein und dieselbe Sache sind (ταΟτό). Sie stimmen in dem, was sie als solche sind, überein, und sie folgen einander und auseinander.15 Wenn also von etwas gesagt wird, daß es δν ist, so folgt daraus, daß man zu Recht davon auch sagen kann, daß es ein Eines oder eine Einheit ist und daß es etwas ist, das von anderem verschieden ist. Ein Etwas zu sein oder überhaupt etwas zu sein oder zu existieren, sei dasselbe wie, ein Eines bzw. ein eine Einheit Bildendes zu sein. Die hier angeschnittene Lehre findet ihren Ausdruck im scholastischen Prinzip, ens et unum convertuntur, im Prinzip, daß die beiden allgemeinsten Bestimmungen untereinander austauschbar sind. Wenn man von etwas aussagt - so das aristotelische Beispiel - , daß es ein eine Einheit bildender (εΤς) Mensch und daß es ein aktueller oder seiender (όν) Mensch ist, so sagt man dasselbe aus, wie wenn man einfach aussagt, es sei Mensch-, ein Mensch ist nämlich sowohl eine Einheit als auch etwas Aktuelles oder Existierendes: ταύτό yàp εΤς άνθρωπος και ών άνθρωπος και άνθρωπος.16 Alle drei Bestimmungen beziehen sich auf dasselbe. Wenn das stimmt, so folgt daraus, daß etwas, das kein iv, kein Eines oder keine Einheit ist, gar nicht aktuell oder wirklich ist, sowie daß reine Vielfalt oder reine Anhäufungen von Dingen, die keine Einheit bilden, auch kein δν, d.h. weder aktuell noch real sind. Wenn man die Hinzufügungen „ens" und „unum" macht, so beansprucht man auch nach Thomas nicht, eine zusätzliche Natur oder eine weitere Bestimmung auszusagen. Es sei offenkundig, daß das unum-Sein nicht etwas praeter

14 Aristoteles, Metaphysik ß, 995b 18-24. 15 Aristoteles, Metaphysik γ, 1003b 22f. 16 Aristoteles, Metaphysik γ, 1003b 26f.

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ens ist.17 Aber, was der Sache nach Eines ist, kann begrifflich verschieden sein: „Homo", „res", „ens" und „unum" beziehen sich im erwähnten Beispiel zwar alle auf dasselbe, drücken aber verschiedene Gesichtspunkte oder Aspekte desselben aus und besagen so doch Verschiedenes. Wenn von einem Menschen ausgesagt wird, daß er eine res ist, so soll damit ausgesagt sein, daß er ein Etwas ist, dem eine bestimmte Natur zukommt; wenn ausgesagt wird, daß er ein ens ist, so drückt man aus, daß es ihn tatsächlich gibt oder daß er aktuell ist; und wenn schließlich unum von ihm ausgesagt wird, so, daß er ein einheitliches Etwas, d.h. individuum und als solches ungeteilt ist. Hier erläutert Thomas bereits, was mit unum begrifflich ausgedrückt wird, nämlich daß es etwas Ungeteiltes ist. Nach aristotelisch-thomistischer Auffassung ist die Einheit auf der sachlichen Ebene nichts Zusätzliches, das der jeweiligen Entität hinzukäme: Die These, daß die jeweilige Einheit von etwas, das von außen hinzukommt, gestiftet werden müßte, ist falsch. Wenn dem so wäre, müßte man nach der Einheit des die Einheit Stiftenden fragen und wiederum nach der Einheit dieser Einheit, und so gäbe es einen regressus in infinitum.18 Die Einheit ist bereits durch die Realität der jeweiligen Entität aufgrund dessen, was sie ist, gegeben. Daher bedeuten die drei Bestimmungen „res", „ens" und „unum" so schließt Thomas - auf der sachlichen Ebene ganz und gar dasselbe, aber secundum diversas rationes. Heute würden wir sagen, die erwähnten Bestimmungen hätten unterschiedlichen Sinn, aber dieselbe Referenz. Vielfältige Aussageweisen der allgemeinsten Einheit Wenn unum et ens convertuntur, d.h. untereinander austauschbar sind, und wenn ου ττολλαχώξ λέγεται, d.h. δν auf vielfache Weisen oder mit verschiedenen Bedeutungen ausgesagt wird, so gilt das auch für das εν: πολλαχώς τό εν λέγεται.19 Der Ausdruck „εν" kann je nach Kontext vielfältige Bedeutungen haben, die aber alle auf eine grundlegende bezogen sind. Das Buch γ beginnt sinnfälligerweise mit dem Hinweis auf die Lehre der vielfältigen Aussageweisen des öv, die alle von jener grundlegenden abhängig sind, in der man öv von den Substanzen aussagt, nämlich von den Lebewesen. 1 7 Thomas, in Metaphysicorum, L. IV, 1. 2, Nr. 551f. 18 Thomas, S.Th. la, q. 11, a. 1, ad 1. 1 9 Aristoteles, Metaphysik y, 1004a 21f.

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Was nun für das όν gilt, gilt auch für die vielfältigen Bedeutungsweisen von εν: Einheit kommt zwar allen Entitäten zu, aber auf unterschiedliche Weise. Auch Eigenschaften, Tätigkeiten, örtliche und zeitliche Bestimmungen usw. sind jeweils ein εν, aber lediglich in einem übertragenen Sinn. Diese Weisen sind alle bezogen auf eine grundlegende Weise, Einheit zu sein, die typisch für die Lebewesen ist, auf jene Entitäten nämlich, die Aristoteles für die grundlegende Weise, όν zu sein, annimmt. Die Lebewesen bilden Einheiten in einem höheren Ausmaß als alle anderen Einheiten. Was nun die grundlegende Bedeutung von εν? Wie bereits angedeutet: Ungeteiltheit. Das, wovon sie zu Recht ausgesagt wird, kann zwar zusammengesetzt sein; die Teile, aus denen es besteht, müssen aber miteinander zusammenhängen und dementsprechend aufeinander bezogen sein. Es ist klar - sagt Thomas v. Aquin - , daß die Aktualität oder Realität einer jeglichen Sache in ihrer Ungeteiltheit besteht: esse cuiuslibet rei consistit in indivisione, d.h. das Wirklichsein einer Sache besteht in ihrer Ungeteiltheit.20 So wie eine jegliche Sache ihr Wirklichsein zu bewahren sucht, so verteidigt sie auch ihre Einheit: unum quodque sicut custodii suum esse ita custodit suam unitatem. Sie hört nämlich auf zu existieren, sobald sie in ihre Teile zerfällt. Das gilt für grundlegende Substanzen, aber auch für Institutionen und soziale Gebilde. Der Gegensatz zwischen dem Einen und dem Vielen muß also differenziert gesehen werden: Das Eine ergibt sich nicht allein aus einem undifferenzierten Gegensatz zum Vielen. Besonders wichtig ist dabei die Unterscheidung zwischen der Rücksicht der Erkenntnis und jener der Sache: Für Thomas ist es zwar evident, daß für uns Menschen das Viele auf der Ebene der Sinneserkenntnis vor der Einheit kommt und daß die Einheit dementsprechend begrifflich durch Negation der Vielheit bestimmt werden kann. Geht man von der multitudo aus, um über die Teilung oder Trennung die Einheit als Ungeteiltheit zu bestimmen, so folgt aber daraus nicht, daß die Vielheit auch auf der sachlichen Ebene primär sei. Weltanschauliche Relevanz der Deutung des Gegensatzes von unum und multitudo Der Alltagsmensch, vornehmlich der religiös-meditative Mensch, bewertet die Einheit hoch - so sahen wir. Besonders in der Meditation trachtet er danach, mehr Einheit zu erlangen. In Einheit und Harmonie mit sich 2 0 Thomas, S.Th. la, q. 11, a. 1, c.

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selbst und mit anderen Menschen leben möchte aber nicht nur er, sondern jeder gesunde und ausgeglichene Mensch. Der Mensch versucht ganz allgemein, Spannungen, Spaltungen und Trennungen zu überwinden. Der religiös gesinnte Mensch neigt nun dazu, auch die Wirklichkeit als Ganze so zu deuten, daß ihr zugrundeliegendes letztes Prinzip nicht Vieles, sondern Eines ist: Nicht Auseinanderfallen ist das Letzte, sondern die erste und letzte Wurzel all dessen, was es gibt, ist Einheit. Entfaltet wird die entsprechende weltanschauliche Position nicht nur im Neuplatonismus, sondern auch im Aristotelismus. Vor platonischem Hintergrund ist evidentermaßen die Einheit, das εν, primär. Aber auch in der aristotelischen Tradition wird aus der Tatsache, daß für unsere Erkenntnis, vornehmlich für unsere sinnliche Wahrnehmung, das Viele vor dem Einen kommt, nicht gefolgert, daß das Viele auch auf der sachlichen Ebene primär wäre. Alles, was es gibt, wird letztlich auf eine erste grundlegende ούσία zurückgeführt. Die aristotelischen Ausführungen zur höchsten und letzten ούσία finden wir im Buch λ: Sie bilden die Grundlage für die systematische Gotteslehre im Mittelalter und für die scholastischen Traktate De Deo. Der Christliche Gott wurde nämlich mit dieser höchsten Substanz gleichgesetzt. Eine Voraussetzung für die Entfaltung der scholastischen Gotteslehre ist die These, daß es Gradunterschiede oder Intensitätsunterschiede in der Mächtigkeit nicht nur der Aktualität - also in der Ordnung der entia - , sondern auch der Einheit, des unum, gibt. Vor diesem Hintergrund spricht man - wie wir gesehen haben - von Einheiten in einem intensiveren und schwächeren Sinn - in genauer Entsprechung zu dem, was von den Entitäten gilt. Thomas hebt besonders in seinem Metaphysik-Kommentar hervor, daß die im höchsten Ausmaß einheitlichen Entitäten in die Kategorie der Substanz fallen. Auch gewisse Akzidentien können zwar einfach sein. Sind sie aber real, so kommen sie irgendeinem Träger zu und sind somit mit diesem zusammengefügt. Im eigentlichen Sinne Einfaches fällt in die erste Kategorie, und vollkommen Einfaches ist auch nicht aus materia und forma zusammengesetzt.21 Was wären nun solche Dinge aus der Kategorie der Substanz, die weder zeitlich noch räumlich, noch begrifflich aufgeteilt werden können? Vor dem Hintergrund moderner physikalistischer Ontologien gibt es derartige Dinge nicht: Was es gibt, sind für die einen lediglich Elektronen, Protonen sowie andere letzte Bestandteile im Mikrokosmos; für die anderen lediglich Tropen, also individuelle partikuläre Eigenschaf-

21 Thomas, in Metaphysicorum, L. V, 1. 7, Nr. 865.

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ten - sei es im alltäglichen oder im physikalischen Sinn. Die Einheiten, von denen wir im Alltag sprechen, sind im Rahmen besagter monistischer Ontologien nichts anderes als Mengen derartiger Gegebenheiten. Vor dem Hintergrund der aristotelisch-thomistischen Philosophie hingegen kann es sehr wohl eine im höchsten Ausmaß einheitliche Entität geben, die vollkommen einfach und unvergänglich ist. Wenn es Intensitätsunterschiede der Einheit gibt, so drängt sich nämlich die Intuition auf, daß es in der Wirklichkeit irgendeine Entität geben muß, die im höchsten Ausmaß Einheit μάλιστα εν ist, nämlich Gott.11 Wir haben gesehen, daß die heute weit verbreiteten Sachverhaltsontologien einen bloßen Atomismus überwinden und daß auch bündeltheoretische Tropenontologien Varianten kennen, die sachverhaltsartig sind. Aber auch Sachverhaltsontologien bzw. Ontologien, die Sachverhalte annehmen, stoßen auf prinzipielle Schwierigkeiten, wenn sie mit der Frage nach der Einheit der ούσίαι oder unserer Alltagsdinge konfrontiert werden. Vor dem Hintergrund der aristotelischen Metaphysik ist hingegen die Einheit einer jeden Sache bereits mit dem gegeben, was sie ist, d.h. mit ihrem sortal oder ihrer ούσία im zweiten Sinne. Diese Einheit der ούσία ist primär und kann nicht auf grundlegendere Bestandteile reduziert werden. Besonders offenkundig ist das im Falle von uns Menschen·. Wir sind Einheiten, einheitliche Wirkzentren und Subjekte bewußt vollzogener Handlungen. Vor dem Hintergrund von Ontologien also, die einerseits sachverhaltsartig sind, aber andererseits auch Platz haben für derartige grundlegende Einheiten wie die aristotelischen Substanzen, muß das Religiöse nicht schon allein aus ontologischen Gründen in den a-rationalen Bereich verbannt werden: Der religiöse Mensch hat nicht nur die Alternative, entweder für einen zumindest impliziten - defätistischen Dualismus zu plädieren oder aber intellektuell unredlich zu sein.

22 Siehe auch Thomas, S.Th. la, q. 11, a. 4, c.

Metaphysik nach dem Ende der Metaphysik? FRANZ JOSEF W E T Z

So richtig es ist, daß die allenthalben totgesagte spekulative Metaphysik an bestimmten Orten unserer Gesellschaft noch immer weiterlebt, grundsätzlich drängt sich einem der Verdacht auf: Spekulative Metaphysiker sind inzwischen Konkursverwalter in eigener Sache geworden. Denn mit ihren hochtrabenden Ideen können deren Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit nicht mehr Schritt halten. Davon abgesehen ist es trotz aller spekulativen Auf- und Zurüstungen der letzten Jahrzehnte ohnehin verhältnismäßig still um diese alte Disziplin geworden. Ihr Abtreten wird von vielen nicht mehr bedauert, Versuche ihrer Erneuerung nicht einmal bekämpft. Tendenziell interesselos geht die Zeit an ihr vorüber - wenn auch nicht die Autoren dieses Sammelbandes, die den letzten rezenten Exemplaren einer ansonsten weitgehend ausgestorbenen, nur noch in Buchfossilien erhaltenen Art zu gleichen scheinen, weshalb sie auch Onto- oder Theosaurier genannt werden könnten. Deren gemeinsames Bekenntnis heißt zwar Gott, aber die philosophisch-theologischen Wege dorthin sehen so unterschiedlich aus wie die nachdenklichen Spaziergänger darauf. Einen einschlägigen Beleg hierfür bieten die Beiträge von Thomas Rentsch, Friedo Ricken und Edmund Runggaldier.

I. Thomas Rentsch verankert religiöse Wahrheitsansprüche in der existenziellen Grundverfassung des menschlichen Daseins, das für sich betrachtet sorgenreich, notvoll und des Gelingens niemals sicher ist. Darum bleibt es tatsächlich stets auf Schutz, Beistand und Orientierung angewiesen. Darüber hinaus ist das Leben für sich selbst und die Welt für es ein Rätsel. Die eigene Existenz und viele Situationen, in die das Leben gerät, werden vom Einzelnen als dem persönlichen Zugriff entzogen - kurz, als unverfügbar - erlebt. Diese Zustände seien, so Rentsch, irreduzibel und die Religionen die irreduzible Antwort darauf. Nur, stimmt das überhaupt?

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(1) Rentsch beschreitet den Weg Blaise Pascals, der gleichfalls an der Grundverfassung des menschlichen Daseins die Bedingungen religiöser Abschlußdeutungen aufzuzeigen suchte. Im Gegensatz hierzu ließ schon David Hume religiöse Vorstellungen überhaupt erst aus den menschlichen Daseinsbedingungen hervorgehen. Über alles Trennende hinweg stimmten beide dennoch darin überein, daß sie nicht so sehr spekulative Wißbegier und Unwissenheit religiösen Ideen zugrundelegten als vielmehr existenzielle Sorgen, Hoffnungen und Ängste. Allerdings interpretierten sie diese Erkenntnis völlig entgegengesetzt. Während Pascal wie später Rentsch in der existenziellen Grundsituation des Menschen die Notwendigkeit für religiöse Sinndeutungen ausfindig machte, sah Hume wie später Sigmund Freud in deren Zurückführbarkeit auf die Grundverfassung des menschlichen Lebens ein Indiz für ihre Zweifelhaftigkeit: Alle Lehren, die von menschlichen Neigungen begünstigt würden, seien verdächtig, meinten sie. So rechtfertigen bis heute die einen religiöse Phänomene mit dem Hinweis auf die Conditio humana, wohingegen andere mit demselben Hinweis ihre Fragwürdigkeit darzulegen suchen. Hiermit verhält es sich ähnlich wie beim Problem der Theodizee: Während die einen in der Erfahrung des Leidvollen, Sinnwidrigen und Wertirrationalen ein Argument gegen Gott erblicken, ist für die anderen gerade diese Erfahrung ein Grund, an ihn zu glauben. Nun sind in der Tat religiöse Abschlußdeutungen nicht bereits durch den Nachweis widerlegt, daß ihnen menschliche Wünsche und Sehnsüchte zugrundeliegen, die Tatsache aber, daß dies wirklich so ist, macht sie, wie Hume und Freud übereinstimmend betonen, in der Tat verdächtig. Zwar kann man auch jetzt noch bei ihnen Zuflucht suchen und sich dabei auf ihre Unwiderlegbarkeit und Nützlichkeit berufen. Allerdings sollte man gleichfalls Freuds mahnende Worte ernsthaft erwägen: »Man gefalle sich nicht in der Selbsttäuschung, daß man mit solchen Begründungen die Wege des korrekten Denkens geht [...]. Kein vernünftiger Mensch wird sich in anderen Dingen so leichtsinnig benehmen und sich mit so armseligen Begründungen seiner Urteile, seiner Parteinahme zufriedengeben, nur in den höchsten und heiligsten Dingen gestattet er sich das.« 1 Alles in allem steht damit fest: Was Religion rechtfertigen könnte, macht sie zugleich wieder fragwürdig; infolgedessen kann von Irreduzibilität keine Rede sein. Das wird gerade bei der letzten Warumfrage deutlich: »Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?« Näher betrachtet folgt 1

Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion, in: Werkausgabe in zwei Bänden, Frankfurt/M. 1978, S. 349.

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hieraus weder, daß es einen letzten Grund der Welt gibt, noch, daß überhaupt nichts existieren müßte. So tiefschürfend die letzte Warumfrage auch klingt, so vorwitzig und kurzsichtig ist die Unterstellung, daß tatsächlich nichts zu existieren brauchte, nur weil wir die Möglichkeit des Nichtseins von allem denken können. Je länger man hierüber nachdenkt, umso mehr regt sich sogar der Verdacht, daß die letzte Warumfrage nicht das hohe Ansehen verdienen sollte, das sie bis heute noch genießt. Denn die Welt könnte im letzten durchaus grund- und zwecklos da sein. Zugegebenermaßen folgt aus der Tatsache, daß sich ein höchster Weltgrund und letzter Weltzweck unserem Wissen entzieht, nicht zwangsläufig, daß es solche nicht geben könnte; doch folgt umgekehrt aus der Rätselhaftigkeit der Weltexistenz, wie sie die letzte Warumfrage vergegenwärtigt, auch keineswegs, daß es solche geben muß. Am Ende wird es nicht so sehr das „nackte Daß" 2 des Weltalls sein als vielmehr dessen »Wie des Sichzeigens«, 3 dessen Struktur, Entwicklung und Größe sowie die Stellung des Menschen darin, die dem Schöpfungsgedanken eine Plausibilität verleihen oder eben nicht. Um in diesen Fragen überhaupt noch glaubwürdig zu erscheinen, kann man mittlerweile nicht mehr umhin, die Ergebnisse der modernen Wissenschaften zu berücksichtigen. (2) Allerdings neigt Rentsch dazu, die existenzielle Grundsituation des Menschen von den Naturwissenschaften abzukoppeln, ja, die Unerheblichkeit und Unvergleichlichkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse mit der existenzialen Daseinslage hervorzuheben. Das machen fast alle Denker, welche ihre religiösen Abschlußdeutungen an die anthropologische oder existenziale Grundsituation des Menschen rückbinden; gerne schirmen sie diese gegen das naturhafte Universum ab, obgleich wir Menschen doch in das Weltall hineingehören. Vielfach wird in diesem Zusammenhang die These vertreten, daß der Mensch weniger in der Natur als in Situationen lebe. Dazu gehöre auch die Erfahrung der unverfügbaren Kontingenz des eigenen Lebens; niemand existiere bloß aus sich und durch sich selbst. Hierbei wird oft eine klare Gebietstrennung zwischen wissenschaftlicher Sachverhaltserkenntnis auf der einen Seite und existenzieller Selbstverständigung auf der anderen Seite vollzogen. Es herrscht die Meinung vor, daß wissenschaftliche Naturerkenntnis für das existenzielle Wissen weitgehend folgenlos und irrelevant sei, was sich bereits aus der Verschiedenartigkeit der beiden Wissensarten ergebe. Da theoretische Gehalte und existenzielle Bedeu2 3

Vgl. Franz Josef Wetz, Das nackte Daß. Zur Frage der Faktizität, Pfullingen 1990. Vgl. Franz Josef Wetz, Lebenswelt und Weltall. Hermeneutik der unabweislichen Fragen, Pfullingen 1994.

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tungen tendenziell unvergleichlich seien, könnten sie füreinander keine Wichtigkeit haben. Aber selbst wenn dies zutreffen sollte, daß die Welt, wissenschaftlich objektiviert, stumm geworden sei auf die Frage, welche Bedeutung sie habe und welche Stellung der Mensch in ihr einnehme, so wäre es doch falsch zu glauben, daß physikalische, kosmologische und biologische Theorien unerheblich für die letzte Selbstverständigung des Menschen über sich und die Welt seien. Der Mensch - ein schmalnasiges Säugetier mit übergewichtigem Kopf, entstanden aus den stummen Wirbeln einer nicht auf ihn ausgerichteten Natur - lebt am Rande einer durchschnittlichen Spiralgalaxie mit schätzungsweise hundert Milliarden Sonnen, die aus Wasserstoff und Helium bestehen - einer Galaxie, die nur eine von mehr als hundert Milliarden Galaxien ist. Lassen sich religiöse Deutungen mit solchen Vorstellungen tatsächlich problemlos in Einklang bringen? Oder stürzen diese Sichtweisen nicht vielmehr religiösmetaphysische Anschauungen in éine tiefe Plausibilitätskrise? Sind das wirklich bloß belanglose Fragen?

II. Zu dieser Auffassung scheint Friedo Ricken zu neigen, der Religion ähnlich wie Thomas Rentsch - in erster Linie auf die Conditio humana gründet, aber im Gegensatz zu Rentsch nicht außerhalb der Religion beginnt, sondern gleich in ihr. Ausgehend von einem menschlichen Grundverlangen nach Gott als erstem Grund und letztem Ziel aller Dinge beschreibt er, anknüpfend an Aristoteles und Thomas von Aquin, religiösen Glauben als Tugend - als eine den Charakter prägende Haltung, die das Leben von Grund auf bestimmen und formen soll. Erst wo dies der Fall sei, ergreife der Glaube im Sinne eines unbedingten Vertrauens auf Gott den gesamten Menschen; dabei sei für den Gläubigen der Glaube wie alles Leben ein Gottesgeschenk. Streng unterscheidet Ricken zwischen religiösem Glauben, rationaler Metaphysik und wissenschaftlicher Erkenntnis, ohne zu bestreiten, daß die Vernunft mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln den Glauben stützen, verteidigen und interpretieren könne. (1) So einleuchtend seine Ausführungen insgesamt sind, grundsätzlich bleiben sie problematisch, weil sie mit der Annahme eines menschlichen Gottverlangens und der Existenz Gottes bereits das voraussetzen, was eben strittig ist und worüber eigentlich erst diskutiert werden sollte. (2) Außerdem vertraut Ricken bei der Betonung der Verschiedenheit von Religion, Metaphysik und Wissenschaft nahezu blind darauf, daß

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sich diese nicht ins Gehege kommen können, die eine Denkform keinen Aufschluß über die Glaubwürdigkeit der anderen geben kann. Damit begibt er sich in die Nähe von Max Scheler, der gleichfalls die Eigengesetzlichkeiten der religiösen, metaphysischen und wissenschaftlichen Akte des menschlichen Geistes herausarbeitete. Schelers und Rickens strikte Trennung der drei Wissensformen gewinnt ihre Plausibilität daraus, daß Wissenschaft nicht an die Stelle von Religion und Religion nicht an die Stelle von Wissenschaft treten kann, ohne zu unerfüllbaren Erwartungen zu verführen. Mit der Aussage, daß die drei Wissensformen füreinander tendenziell keine Bedeutung haben, schießen aber beide über das Ziel hinaus. Denn nun führt die eigensinnige Entfaltung der drei Wissensformen zu ihrer Abspaltung und Abkapselung voneinander. In der Konsequenz bedeutet das eine Absicherung und Abschirmung der Religion gegen die An- und Einsprüche der modernen Welt mit ihrer gottlosen Philosophie und Wissenschaft. Doch in der modernen Welt läßt sich Religion weder auf einer von ihr abgeschirmten Erfahrungsinsel noch auf dem schwankenden Grund privilegierter Evidenzen des Göttlichen stabilisieren. Daß bestimmte Erfahrungen religiöse Sachverhalte zu ihrem Gegenstand haben, beweist mitnichten, daß diese auch wirklich bestehen. Der Glaube ist der Welt den Nachweis schuldig, daß er nicht an ihren Einwänden vorbei auf ein Höheres vertraut. Theologie und Metaphysik dürfen keine berechtigten Anliegen der Vernunft außer acht lassen oder unterdrücken, an keiner wissenschaftlichen oder sonstigen Erkenntnis vorbeigehen, möchten sie auch heute noch glaubwürdig erscheinen. Eine Theologie und Religionsphilosophie, die meint, es sich leisten zu können, die Einsprüche der modernen Welt und die Ansprüche der modernen Wissenschaften zu vernachlässigen, bekommt dieses Versäumnis sicherlich bald bitter zu spüren.

III. Diese Auffassung scheint Edmund Runggaldier zu teilen, der mit seinen Darlegungen den Nachweis zu erbringen sucht, daß religiöser Glaube kompatibel sei mit der wissenschaftlichen Weltsicht und der analytischen Sprachphilosophie. Er vertritt eine Sachverhaltsontologie, in welche er die traditionelle Substanzontologie zu integrieren sucht. Die Welt setze sich aus Tatsachen zusammen, die der Fall seien, und zu diesen Falltatsachen gehörten Sachen, auf welche dieses oder jenes zutreffe beziehungsweise denen diese oder jene Bestimmung - wie ein Akzidenz der Substanz - zukomme. Das Ganze bilde eine harmonisch geordnete

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Einheit, wobei ein im höchsten Maße einheitliches Seiendes keineswegs ausgeschlossen werden müsse. Ein solches Seiendes lasse sich weder zeitlich noch räumlich oder begrifflich zerlegen; Thomas von Aquin nannte es Gott. Den Hintergrund dieser abstrakten Überlegungen bildet die Hoffnung, daß Einheit und Ordnung das menschliche Leben erleichtern und religiösen Glauben ermöglichen könnten. Darum würden, so Runggaldier, diese Begriffe auch von vielen Menschen hoch geschätzt - eine eher zweifelhafte Annahme, bedenkt man, wieviel heute von Pluralität, Multikulturalität und Differenz die Rede ist. Dennoch besitzt die alte Annahme eine gewisse Plausibilität, daß gerade eine vernünftig geordnete Welt ihren letzten Daseinsgrund nicht in sich selbst hat, weder aus sich noch von sich heraus besteht. Solange die Welt als einheitlicher Ordnungszusammenhang oder geordnete Einheit vorgestellt wurde, schien es nur natürlich, sie auf ein Göttliches zurückzuführen und von diesem her zu erklären. Anders sieht es dagegen aus, wenn man in der Welt keinen einheitlichen Ordnungszusammenhang mehr erkennt, sie, wie beispielsweise Nietzsche, nur noch als Chaos erlebt, dem die traditionellen Werte der Ordnung, Einheit und Gliederung fehlen. Dann wird man vermutlich eher zu der Auffassung gelangen, das Ganze enstamme keinem göttlichen Welturheber. Hiervor schützt sich Runggaldier, indem er mit den Mitteln der sprachanalytischen Philosophie einen ontologischen Einheitszusammenhang entfaltet. (1) Allerdings bleibt in seinen Ausführungen ungeklärt, ob diese Einheitsvorstellungen auch auf die wirkliche Wirklichkeit zutreffen oder nur ein denk- oder sprachnotwendiges Konstrukt sind; mit Schelling gesprochen, scheinen sie eine bloß negative Philosophie darzustellen, die lediglich bestimmt, wie die Welt beschaffen sein könnte, aber keine positive Philosophie, die zusätzlich aufzeigt, daß die Welt auch wirklich so beschaffen wie angenommen ist. Runggaldiers allgemeine Konstruktionen beeindrucken sehr, dennoch drängt sich mit Kant gesprochen der Verdacht auf, daß selbst dieses sprachgenaue Philosophieren nur ein Herumtappen unter bloßen Begriffen ist. Möglicherweise sagen uns seine Konstruktionen, wie wir uns die Verhältnisse denken können, wenn der gewählte Ansatz zu Recht besteht - aber sie sagen uns nicht, daß dieser Ansatz zu Recht besteht. (2) Außerdem befinden sich seine Einheitsüberlegungen in einem zu großem Abstand zu den modernen Naturwissenschaften - der Welt aus Wellen und Korpuskeln, Protonen und Neutronen, dem sich in unermeßliche Weiten hin erstreckenden und von Milliarden auseinanderstrebender Galaxien erfüllten physischen Weltall. Darum drängt sich

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erst gar nicht mehr die Frage auf, wie sich von einem solchen unendlichen Universum aus Wasserstoff und Helium mit dem winzigen Menschen darin - einem vergänglichen Stück um sich selbst bekümmerter Natur - noch sinnvoll sagen läßt, daß das Firmament vom Werk göttlicher Hände kündet, deren Herrlichkeit die Himmel rühmen. Es mag für viele beruhigend sein, daß solche Fragen nicht gestellt werden, intellektuell befriedigend ist es aber nicht. Alles in allem steht somit fest: In einer Zeit, in der nicht einmal mehr das Bedürfnis nach spekulativer Metaphysik durchgehend vorhanden ist, wirken alle Versuche ihrer Erneuerung eher aufgesetzt als überzeugend, zwar interessant, aber fragwürdig. Es wäre ein Narr, wer ein anderes Ergebnis erwartete!

Themenkreis III: Metaphysik und Moderne

Die Wahrheit der Grenze Zu den metaphysischen Implikationen des modernen Wissenschaftsbegriffs WALTER SCHWEIDLER

1. Zum paradoxen Begriff der Metaphysik Der Begriff „Metaphysik" ist im 20. Jahrhundert zu einem philosophischen Grenzbegriff, fast möchte man sagen: Kampfbegriff geworden. Vor allem der logische Positivismus,1 aber auch der spätere Heidegger2 verwenden ihn als Kennzeichnung für den Inbegriff jenes irreführenden Denkens, von dem ihr eigenes Philosophieren sich und uns zu befreien hat. In ursprünglicher Klarheit findet man diese Weise, mit dem Begriff der Metaphysik umzugehen, natürlich in Wittgensteins „Tractatus", dessen paradoxe Ausgangsbestimmung lautet: das Buch wolle „dem Denken eine Grenze ziehen, oder vielmehr: nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken: Denn um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müßten wir beide Seiten dieser Grenze denken können (wir müßten also denken können, was sich nicht denken läßt)." 3

Man kann also nach Wittgenstein die Grenze, die unserem Denken gezogen ist, nicht direkt denken, aber man kann sie indirekt darstellen, nämlich durch eine denkerische Aktivität, die dem Ausdruck unserer Gedanken eine Grenze zieht, das heißt, durch welche die Grenze zwischen sinnvoller und unsinniger Sprache gezogen, nachvollzogen wird. In eben dieser denkerischen Aktivität besteht für Wittgenstein die Philosophie - das heißt, die ihrer selbst bewußt gewordene, dem Unsinn entkommene Philosophie. Wittgensteins Benennung für dasjenige Philosophieren, das dem Unsinn nicht entkommt, das vielmehr gerade in 1 2 3

Programmatisch natürlich Rudolf Carnap: Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, in: Erkenntnis, Band 2 , 1 9 3 2 , 2 1 9 - 2 4 1 , insbes. 220 Beginnend mit der Vorlesung Was ist Metaphysik? von 1929, in: Martin Heidegger: Wegmarken, Frankfurt am Main 1976, 103-121 Ludwig Wittgenstein: Logisch-philosophische Abhandlung (zitiert als „T"), 13. Aufl. Frankfurt am Main 1978, Vorwort

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ihn hinein führt und das die Grenzziehung zwischen sinnvoller und unsinniger Sprache erst notwendig macht, ist „Metaphysik". In dieser Hinsicht steht Philosophie zur Metaphysik analog wie eine Therapie zur Krankheit - eine Analogie allerdings mit einem paradoxen Fluchtpunkt. „Die richtige Methode der Philosophie", so resümiert Wittgenstein am Ende des „Tractatus", wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen läßt, also Sätze der Naturwissenschafft - also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat - , und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, daß er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. Diese Methode ... wäre die einzig streng richtige."4

Der Konjunktiv bringt hier eine Zweideutigkeit zum Ausdruck, die der philosophischen Verteidigung des Sagbaren gegen metaphysischen Unsinn konstitutiv innewohnt: Um sie selbst sein zu können, braucht die Philosophie nicht nur einen ihr voraufgehenden Diskurs, den sie gegen seine metaphysische Beeinträchtigung verteidigt, sondern sie wohnt diesem Diskurs in gewisser Weise doch schon inne: als eine Disposition zu seiner Verteidigung, deren Inhalt durch das Feld ihrer möglichen Manifestation und damit durch den Begriff „Metaphysik" definiert wird. Die Grenzen des Sagbaren - denn für den frühen Wittgenstein ist der naturwissenschaftliche Diskurs ja der Inbegriff dessen, was sich sagen läßt5 — können nur auf eine einzig mögliche Weise zur Sprache kommen, nämlich als die Überwindung des Versuchs, sie zu überschreiten. Da nun aber die Sprache, insofern sie ihrem Wesen gerecht wird, doch nichts anderes ist als der Inbegriff des Sagbaren, gehören die Grenzen der Sprache nur insofern zu ihr, als sie in ihrem Wesen mißverstanden wird. Es gibt ihre Grenzen nur in bezug auf den verfehlten Versuch, sie zu überschreiten; aber wenn das stimmt, dann gilt auch, daß man den Versuch, diese Grenzen zu überschreiten, nur als verfehlt aufweisen kann, indem man sich eben auf sie, diese Grenzen, beruft. Das paradoxe Verhältnis zwischen Metaphysik und Philosophie wohnt also der Denkfigur, die für seine Explikation die zentrale Rolle spielt, der Denkfigur der Grenze zwischen sprachlichem Sinn und Unsinn, selbst inne. Die Analogie zur Beziehung zwischen Krankheit und Therapie wird daher dem Kern des Verhältnisses zwischen Metaphysik und Philosophie nicht gerecht. Die Überwindung metaphysischen Unsinns hat letzten Endes keinen negativen, sondern einen eminent konstruktiven Sinn: Es geht in ihr nicht einfach darum, einen verfehlten Anspruch aus der 4 Τ 6.522 5 Vgl. Τ 4.11

Die Wahrheit der Grenze

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Welt zu schaffen, sondern es geht darum, die verfehlte Weise der Einlösung eines Anspruchs zu überwinden, welcher gleichwohl ohne die diesem verfehlten Versuch seiner Einlösung innewohnende Selbstinterpretation des Philosophierens gar nicht angestrengt würde - und das heißt, es geht letztlich, im Gegenzug gegen seine ihm notwendig innewohnende Fehlinterpretation, um diesen Anspruch selbst. Die metaphysische Versuchung sei, so erklärte Wittgenstein am Ende der „Lecture on Ethics" von 1929/30, „ein Zeugnis eines Drangs im menschlichen Bewußtsein, das ich für meinen Teil nicht anders als hochachten kann und um keinen Preis lächerlich machen würde" 6 .

Wenn diese letzte Verbundenheit im Anliegen tatsächlich besteht, dann erhebt die Philosophie durch den Metaphysikbegriff im Wittgensteinschen Sinne keinen positivistischen oder ideologiekritischen Machtanspruch, sondern sie stellt sich im Gegenteil einer für sie ganz spezifischen und konstitutiven Ohnmacht. Sie identifiziert sich mit einer Erkenntnisbewegung, deren Anfang sie nicht zu setzen, ja auch nicht zu wünschen und in keiner Weise zu intendieren vermag; sie muß die für diesen Anfang konstitutive Zielsetzung vollständig dementieren und überwinden und sich trotzdem, ja gerade darin mit ihr solidarisieren. Das hängt nicht zuletzt mit dem personalen Grundaspekt zusammen, der die ihrem Diskurs eigentümliche Art von Verbindlichkeit erzeugt und der für die vollständige Disjunktion zwischen Philosophie und Wissenschaft, die Wittgenstein im Früh- wie im Spätwerk strikt betont hat, 7 ausschlaggebend ist: Wer „etwas Metaphysisches sagt", kann nicht durch einen anderen darin widerlegt, sondern nur in der Revision seiner eigenen Selbstinterpretation durch sich selbst davon befreit werden. Die denkerische Aktivität, die dem Ausdruck seiner Gedanken eine Grenze zieht, kann immer nur diejenige sein, die er selbst übernimmt und vollzieht. „Wir können", so heißt es in einer Notiz einer Frühversion der „Philosophischen Untersuchungen", nicht den Andern eines Fehlers überführen, es sei denn, daß er diesen Ausdruck als den eigentlichen Ausdruck seines Gefühls anerkennt. Nämlich nur, wenn er ihn als solchen anerkennt, IST es der richtige Ausdruck", und in Klammern dazu: „Psychoanalyse". 8 6 7 8

Ludwig Wittgenstein: Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, Frankfurt am Main 1989, 19 Vgl. Τ 4.111 und Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (zitiert als „PU"), Frankfurt am Main 1971, § 109 Ludwig Wittgenstein: Early Version der PU, Typoskript von 1942 oder 1943, S 139

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Damit aber spitzt sich die Paradoxic des Metaphysikbegriffs noch weiter zu. Die Philosophie läßt uns der Grenze zwischen Sinn und Unsinn genau dann ansichtig werden, wenn wir der innerhalb eines ihr voraufgehenden, im Prinzip von ihr unabhängigen Diskurses entstandenen „metaphysischen" Versuchung Herr werden, diese Grenze zu überschreiten. Was soll es aber heißen, daß wir „sie", diese Grenze, schon vor und jenseits der Philosophie zu überschreiten versuchen, wenn sie doch durch die Philosophie und damit durch unsere Anerkennung erst eigentlich als diese Grenze konstituiert wird? Es muß uns offenbar schon vor und jenseits der Philosophie, in jenem anderen Diskurs, um diese Grenze gehen, sie muß für uns von Bedeutung sein, nur eben nicht als das, was sie ist, als Grenze dieses Diskurses. Sie muß also für uns ganz bewußt in ihm anwesend und zugleich, ohne daß uns das schon bewußt wäre, aus ihm ausgeschlossen sein. Wie ist das zu denken? Nun, wenn wir dies denken wollen, dann müssen wir uns von jenem herkömmlichen Begriff der Metaphysik lösen, den man im Gegensatz zum paradoxen den „enzyklopädischen" nennen könnte. In dieser herkömmlichen Form wird unter Metaphysik derjenige Teil oder diejenige Art der Philosophie verstanden, worin die Prinzipien des Philosophierens selbst thematisch werden und der Gegenstand der Philosophie auf seine letzten Gründe hin zurückverfolgt wird. In der Metaphysik zeigen sich dann die Axiome oder Ausgangspunkte eines Denkers, von denen her man ihn einordnen und gewissermaßen enzyklopädisch klassifizieren kann: als „materialistisch", „idealistisch" etc. Und je nachdem, ob man Metaphysik in diesem Sinn für sich akzeptiert oder nicht, unterscheiden sich dann die Skeptiker und die Dogmatiker, wobei letztere natürlich immer nur ihre Gegner als Dogmatiker klassifizieren. In jedem Fall sucht man - bzw. bestreitet der Skeptiker - die metaphysische Wahrheit jenseits einer Grenze, die den nichtphilosophischen Diskursen gezogen ist; man sucht oder bestreitet, was die anderen Philosophierenden jenseits dieser Grenze ebenfalls suchen. Und wenn man einen nichtphilosophischen Diskurs auf seine metaphysischen Implikationen aufmerksam macht, dann impliziert man damit, daß es für diesen eine Grenze gibt, die er gefälligst respektieren sollte, weil jenseits dieser Grenze die Philosophie - bzw. die skeptische Kritik der Philosophie - zuständig ist. Man nimmt dann für sich einen Gegenstand in Anspruch - oder bestreitet ihn - , dem der nichtphilosophische Diskurs sich zugewandt hat, ohne ihn wirklich beherrschen zu können. Wenn wir dagegen Metaphysik im paradoxen Sinne denken wollen, dann müssen wir auf diese Unterstellung, es gebe eine Wahrheit jenseits der Grenze oder es gebe sie nicht, verzichten und statt dessen die Grenzen nichtphilosophischer Diskurse als Grenzen aufzeigen, in denen sich

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eine Wahrheit zeigt, die es nur und gerade als diese Grenzen gibt. Nur dann gelingt es der Philosophie, einem nichtphilosophischen Diskurs statt als belehrender Konkurrent vielmehr als Partner zu begegnen, der mit ihm ein Anliegen teilt, das es nur gibt, weil man einander braucht und begehrt. Philosophie hat dann die Aufgabe, zu zeigen, daß der vorphilosophische Diskurs die ihm gezogene Grenze sehr wohl als Grenze begreift und daß er sie auch durchaus auf einen Gegenstand bezieht, der ihm legitimerweise zusteht; die metaphysischen Implikationen dieses Diskurses zeigen sich dann nur darin, daß er seine Grenze mit der seines Gegenstandes verwechselt - oder noch vorsichtiger und präziser gesagt, daß er seiner Natur nach beides gar nicht zu trennen vermag, daß beides unvermeidlicherweise ineinander umschlägt und einander überkreuzt, so daß diese Überkreuzung der eigentliche Ort ist, an dem er und die Philosophie für einander offen sind und einander beiwohnen. Das setzt allerdings voraus, daß auch der philosophische Diskurs wiederum eine Grenze einhält: Er muß es schaffen, auf jede „positive" Leistung jenseits der mäeutischen Transformation der metaphysischen Implikationen von Diskursen zu verzichten. Was die Metapher der „Überkreuzung" oder des „Einander Beiwohnens" bedeuten oder worauf sie hindeuten, kann er nicht seinerseits noch einmal klären. Er braucht solche oder welche Metaphern auch immer nur als Instrumente, um sich an seiner Aufgabe selbst zu orientieren und seine Partnerdiskurse über sie aufzuklären. Der paradoxe Metaphysikbegriff hat zur Konsequenz, daß jede philosophische Bemühung, die sich an diese Selbstbegrenzung nicht hält, ihrerseits per definitionem als metaphysische einzustufen ist. Genau dies trifft etwa auf den „logischen Positivismus" zu, der sich doch mit seiner Suche nach dem „empiristischen Sinnkriterium"9 als die Inkarnation der Antimetaphysik verstehen wollte. Die Größe seiner Hauptvertreter bestand auch darin, daß sie die Einsicht in den metaphysischen Charakter ihrer Position nicht als externe Unterstellung, die ihnen von gegnerischen philosophischen Positionen her gemacht wurde, einfach zurückwiesen, sondern daß sie sich mit ihr in langem internem Ringen auseinandersetzten, bis sie schließlich die These von der eindeutigen Abgrenzung wissenschaftlichen von nichtwissenschaftlichem Sprechen aufgrund eines empirischen Sinnkriteriums aufgaben.10 Man sieht an dieser Ent9

Vgl. zu dessen Entwicklung immer noch Carl Gustav Hempel: Probleme und Modifikationen des empiristischen Sinnkriteriums, in: Johannes Sinnreich (Hrsg.): Zur Philosophie der idealen Sprache, München 1972, 104-125 und Willard van Orman Quine: Zwei Dogmen des Empirismus, ebd. 167-194, insbes. 185 ff. 10 Vgl. dazu das Fazit von Wolfgang Stegmüller: Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft, 2. Aufl. Berlin/Heidelberg/New York 1969, 4 5 0 mit der Zurückweisung jedes Versuchs, den Metaphysikbegriff vom Sachgebiet oder der Sprache her zu definie-

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wicklung sehr deutlich, was unter der Überkreuzung zwischen philosophischem und vorphilosophischem Diskurs zu verstehen ist: Die logischen Positivisten sahen sich nach und nach gezwungen, all die Kriterien, die sie innerhalb ihres philosophischen Diskurses als Grenzmarkierungen zwischen empirisch gehaltvollen Begriffen bzw. Sätzen und unsinnigen Sprechweisen entwickelten, so auf die Grundbegriffe und Satzstrukturen des von ihnen ausgezeichneten vorphilosophischen Diskurses - nämlich quantifizierbarer naturwissenschaftlicher Theorien - zu applizieren, daß diese dann selbst jeweils als metaphysisch eingeschätzt werden mußten. So zieht die positivistische Definition metaphysischer Aussagen als solcher, für die gilt, daß „für siekeine empirisch eindeutigen Entscheidungsgrundlagen vorhanden sind", ganze Bereiche der Physik, vor allem die Kosmologie, unfehlbar in den Bereich des angeblich „Metaphysischen" hinein: „Akzeptiert man dieses Kriterium, kommt man in der Tat nicht umhin, einen ansehnlichen Teil der neueren physikalischen Bemühungen um eine Theorie des Weltganzen (z.B. inflationäres Szenario, entkoppelte Linde-Universen, Quantentunnelung, das Parmenideische Universum von Hawking etc.) trotz der von ihnen verwendeten mathematisch-physikalischen Mittel als Metaphysik zu qualifizieren, da weit und breit keine empirisch gehaltvollen Entscheidungsgrundlagen bereitstehen. " 1 1

Fazit: Der Sinnlosigkeitsvorwurf gegen die Metaphysik schlägt, wenn er nicht innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses, sondern nur m dessen Namen rekonstruiert wird, in einen Vorwurf gegen diesen Diskurs um; die metaphysischen Implikationen wandern, wenn man sie nicht freiwillig dort verankert, von selbst in ihn zurück. Wenn es uns gelingt, den paradoxen Metaphysikbegriff zu denken, dann wird uns das zugänglich, was man als das Anliegen bezeichnen kann, in dem die großen originellen Ansätze des 20. Jahrhunderts, ungeachtet ihrer methodologischen und inhaltlichen Differenzen, zuletzt miteinander verbunden gewesen sind: Die Grenzen von Erkenntnisansprüchen philosophisch so zu rekonstruieren, daß sich in ihnen ein unbewußter Berührungspunkt zwischen Philosophie und Wirklichkeit zeigt, der sich, wenn man ihn direkt zum Gegenstand philosophischer Reflexion macht, dieser notwendig entzieht. In dieser Rolle erscheint ren; vgl. im Anschluß daran auch mein Buch Die Überwindung der Metaphysik. Zu einem Ende der neuzeitlichen Philosophie, Stuttgart 1987, 86 f. 11 Paul Burger: Wittgensteinianismus oder Rationale Metaphysik? Zum Status von Aussagen über das Weltganze in der Kosmologie, in: Uwe Justus Wenzel (Hrsg.): Vom Ersten und Letzten. Positionen der Metaphysik in der Gegenwartsphilosophie, Frankfurt am Main 1998, 177-201, 183

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die Metaphysik keineswegs erst bei Wittgenstein oder Heidegger, sondern in einer ganzen Denkbewegung, die von Kants Bezugnahme auf die „dunkel gedachte Metaphysik, die jedem Menschen in seiner Vernunftanlage beiwohnt"12, über Schellings Begriff der „positiven Philosophie", deren Voraussetzung „nicht irgend ein Abstraktes, sondern ein unzweifelhaft Wirkliches"13 sei, und Kierkegaards Rede von der „paradoxen Leidenschaft des Verstandes", die sich ständig an einem Unbekannten stoße, „das zwar da ist, aber auch unbekannt, und insofern nicht da ist" 14 , bis zu Merleau-Pontys Begriff einer Reflexion reicht, die „radikal nur ist als Bewußtsein der Abhängigkeit ihrer selbst von dem unreflektierten Leben, in dem sie erstlich, ständig und letztlich sich situiert"15. In all diesen Denkfiguren ist ein der Philosophie vorgängiges, ihr sinngebendes und dennoch auf sie angewiesenes und sie implizierendes Korrelat benannt, das ihr erst die faktische Voraussetzung verleiht, auf welche sich die sie konstituierende innere Notwendigkeit stützt. 2. Zum modernen Wissenschaftsbegriff Eine entscheidende Bedingung, die wir in jedem Fall berücksichtigen müssen, wenn wir unter der Voraussetzung des paradoxen Metaphysikbegriffs nun die metaphysischen Implikationen des wissenschaftlichen Diskurses zu explizieren versuchen, ist diejenige, die in ihrer ganzen Tiefe erst der späte Heidegger, vor allem in seinen Abhandlungen zu Nietzsche,16 systematisch grundgelegt hat, nämlich der Vergeschichtlichung der Perspektive auf die Metaphysik. Der „wissenschaftliche Diskurs" läßt sich nicht allein auf der logischen Ebene charakterisieren, sondern er 12 Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, in: Kant: Werke in sechs Bänden, hrsg. v. W. Weischedel, Band 4, Darmstadt 1983, A VI 13 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Offenbarung, Band I, in: Ausgewählte Werke, Darmstadt 1974, XIII, 2 4 3 14 Sören Kierkegaard: Philosophische Bissen, Hamburg 1989, 4 3 15 Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1965, 11 16 Martin Heidegger: Nietzsche, Band 2, Stuttgart 1961, vgl. insbes. 360, wonach das „Wesen der Metaphysik ..., daß sie verbergend die Unverborgenheit des Seins birgt und so das Geheimnis der Geschichte des Seins ist,... allererst der Erfahrung des seinsgeschichtlichen Denkens die Durchfahrt in das Freie, als welches die Wahrheit des Seins selbst west," gewähre; die Interpretation der neuzeitlichen Wissenschaft als eines im Heideggerschen Sinne metaphysischen Stadiums der sich eben in Form dieser Stadien entbergend-verbergend vollbringenden Geschichte des Seins prägt auch den Vortrag „Vom Wesen der Technik", in: Martin Heidegger: Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1957

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hat kontingente Voraussetzungen, die sich nur unter der Perspektive seiner diachronen Differenzierung nach einander ablösenden Epochen wie auch seiner synchronen Abhebung gegen andere Diskurse formulieren lassen. In diese geschichtliche und kulturelle Relativierung ist letztendlich sogar der Standpunkt des logischen Positivismus gemündet. „Die" Wissenschaft, so hat Carnap schon 1933 eingeräumt, gibt es gar nicht, sondern es gibt nur „die Wissenschaft unseres Kulturkreises ..., die mit den und den hypothetischen Ansätzen, die dort und dort in der geschichtlichen Entwicklung aufgetreten sind ... an den Protokollsätzen der Wissenschaftler unseres Kulturkreises nachgeprüft wird." 1 7 „Der Physikalismus", so heißt es entsprechend bei Neurath, „ist die Form, in der unser Zeitalter Einheitswissenschaft betreibt." 18

Nur vor diesem Hintergrund kann man in einem systematisch bedeutsamen Sinne vom „modernen Wissenschaftsbegriff" sprechen. Das Wort „modern" ist hier also nicht formal, sondern inhaltlich verstanden, d.h. als Kennzeichnung der Hauptelemente eines Anspruchs, mit dem die Wissenschaft eines bestimmten Zeitalters, nämlich der europäischen „Neuzeit" an ihren Gegenstand herangetreten ist bzw. noch heute herantritt. Ob an die Stelle dieses modernen bereits ein „postmoderner" Wissenschaftsbegriff getreten oder zu treten im Begriff sei, kann für unseren Zweck dahingestellt bleiben. Es geht uns jedenfalls um die metaphysischen Implikationen einer bestimmten geschichtlich-kulturell umgrenzten Zeitgestalt, die wir nicht als logischen Inbegriff sprachlicher oder mathematischer Strukturen, sondern als eine geistige Macht zu begreifen haben, die ihre Identität immer auch erst durch die Projektion gewinnt, mit der sie sich selbst in den Strukturen und nicht zuletzt in den Grenzen ihres Gegenstandes wiederfindet. Die Erörterung ihrer metaphysischen Implikationen muß wesentlich die Rekonstruktion des Begriffs sein, den sie sich von sich selbst macht und durch den sie ihre Eigentümlichkeit gerade deshalb gewinnt, weil sie ihn nicht als den ihr eigentümlichen, sondern als den vermeintlich kontextunabhängigen, „selbstverständlichen" Begriff von Wissenschaftlichkeit versteht. Metaphysische Implikationen sind der Reflex der realitätsstiftenden Kraft solcher sich als „produktives SelbstmißVerständnis" vollziehender Ablenkungsprozesse. Zu den zentralen Elementen des paradoxen Metaphysikbegriffs gehört die Annahme, daß die Philosophie ihre eigene geistige Macht essentiell dieser ablenkenden Kraft, durch die andere 17 Rudolf Carnap, in: Erkenntnis, Band 3, 180 18 Otto Neurath: Physikalismus, in: Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, Wien 1981, 417-421, 421

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geistige Mächte sich im produktiven Mißverständnis ihrer selbst erst konstituieren, verdankt. Wenn wir unter diesen Voraussetzungen den modernen Wissenschaftsbegriff in Hinblick auf seine metaphysischen Implikationen charakterisieren wollen, dann läßt er sich am ehesten als die systematische Explikation eines universalen reduktionistischen Erklärungsanspruchs fassen. Diese Charakterisierung richtet sich im Kern nach der rein wissenschaftslogisch orientierten Rekonstruktion, die im „HempelOppenheim-Modell" der wissenschaftlichen Erklärung formuliert worden ist.19 Der Streit um die sogenannte „Einheitswissenschaft", also um die universale Gültigkeit dieses Modells für alle Wissenschaften, kann in unserem Kontext insofern außer Betracht bleiben, als es sich bei ihm wesentlich um einen Streit um die metaphysischen Implikationen handelt, die wir eben anhand des Modells selbst skizzieren müssen. Es genügt, die drei genannten Hauptelemente des in diesem Modell explizierten Anspruchs in ihren Konsequenzen zu resümieren. Die Frage, worauf der universale reduktionistische Erklärungsanspruch sich bezieht, stellen wir zunächst bewußt nicht. Die Universalität des modernen Wissenschaftsbegriffs ist zumindest in ihrer negativen Formulierung bis heute praktisch unbestritten. Carnaps Postulat, es gebe „keine Frage, deren Beantwortung für die Wissenschaft grundsätzlich unmöglich wäre"20, findet sich in Kanitscheiders „Kosmologie" 21 wieder als das regulative Prinzip: „Die Behauptung von unerklärbaren, der Wissenschaft prinzipiell nicht zugänglichen Vorgängen wird man, soweit es geht, vermeiden."

In diesem „Allzuständigkeitsanspruch" steckt kein „Imperialismus", keine materialistische oder wie auch immer zu qualifizierende Vorentscheidung, sondern die Wissenschaft kann von ihm aus inneren, ihre eigene logische Struktur betreffenden Gründen nicht abgehen. 22 Der Schritt zur modernen Wissenschaft ist wesentlich der Schritt zur Überwindung des Vorurteils gewesen, wonach es qualitativ getrennte Schichten von Vorgängen gebe, etwa die irdischen im Gegensatz zu den himm19 Carl Gustav Hempel: Aspects of Scientific Explanation, New York/London 1965; vgl. dazu Wolfgang Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Band 1,2. Aufl. Berlin/Heidelberg/New York 1983, 113 ff. 20 Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt, 2. Aufl. Hamburg 1961, § 180 21 Bernulf Kanitscheider: Kosmologie. Geschichte und Systematik in philosophischer Perspektive, 2. Aufl. Stuttgart 1991, 444 22 Vgl. ebd. 464

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lischen Bewegungen, die nicht nach einheitlichen Prinzipien zu erklären seien. Der Inbegriff der quantitativen Weltbeschreibung, die mathematisch formulierbaren Naturgesetze, lassen sich als Determinanten der Objektewelt nur behaupten, wenn ihre Gültigkeit unabhängig vom Beobachter und vom Beobachtungsstandpunkt vorausgesetzt wird.23 Damit ist so etwas wie die Annahme einer die Welt teilenden Grenze, jenseits derer diese Gesetze keine Geltung mehr hätten, grundsätzlich ausgeschlossen. Wer eine solche Grenze annehmen wollte, müßte sie ihrerseits noch einmal von einer umfassenderen, doch wieder die ganze Welt umgreifenden Basis her begründen. Die Behauptung, daß es ein bestimmtes Ereignis oder eine Klasse von Ereignissen gebe, die nicht auch unter Naturgesetze subsumierbar seien, könnte nur durch eine Theorie beweisen werden, die den äußersten Bereich der Anwendbarkeit der Naturgesetze festzulegen und darüber hinaus die Gründe aufzudecken vermöchte, aus denen der eine fragliche Wirklichkeitsbereich außerhalb dieses Bereichs liegt. Es müßte sich also um ein System von Erkenntnis handeln, welches das leistet, was heute die Naturgesetze leisten und aus dem sich dann der Inbegriff der Naturgesetze als Grenzfall einer noch umfassenderen Determinationsquelle ableiten ließe. Da dies nicht zu sehen ist, gibt es für eine Behauptung der genannten Art keine Begründung. Wenngleich natürlich niemand für die Naturgesetze in Anspruch nehmen kann, daß sie ein Phänomen vollständig erschöpfen, so bleibt doch umgekehrt die These, daß es irgendein Phänomen gebe, das der naturgesetzlichen Beschreibung vollständig entzogen wäre, rational unhaltbar. Nichts anderes wird ja zum Ausdruck gebracht, wenn wir im Singular vom „Universum" oder „Weltall" sprechen. Und eben in diesen Wörtern steckt die erste Antwort auf die Frage, worauf sich der universale reduktionistische Erklärungsanspruch bezieht: auf „alles". Unsere Überzeugung von dem alle Fakten umfassenden Weltall, von der Einzigkeit des Weltganzen ist keine durch Grenzüberschreitung erdichtete These, sondern ein Reflex des Universalanspruchs gesetzlich strukturierter Naturerkenntnis.24 Der Reduktionismus, also das Programm der weitestmöglichen Zurückführung wissenschaftlicher Ausdrücke auf eine einheitliche Basis, ist zwar in seiner am Anfang des 20. Jahrhunderts virulenten radikalen Form, also als das Carnapsche Programm der umfassenden Reduktion aller erfahrungswissenschaftlichen Begriffe auf eine unhintergehbare Beobachtungsbasis, an den Schwierigkeiten gescheitert, die zur Zulas23 „Aus diesem einen Prinzip ist", so Bertrand Russell: Das ABC der Relativitätstheorie, München 1970, 26, „die ganze Relativitätstheorie entwickelt worden." 24 Vgl. Kanitscheider: Kosmologie, 396

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sung einer Dichotomie zwischen Beobachtungs- und theoretischer Sprache und zur Einführung der Kategorie der „theoretischen Begriffe" geführt haben.25 Doch seine Kehrseite auf der Ebene der wissenschaftlichen Theorien, nämlich das Streben nach größtmöglicher Integration aller Teile des Wissenschaftsgebäudes in einen fundamentalen, sie vereinheitlichenden theoretischen Komplex, ist durchaus aktuell.26 Dabei muß man gar nicht unbedingt an die ontologische Frage nach einer mehr oder weniger utopisch verstandenen „Weltformel" denken; vielmehr entfaltet sich die Reduktionsproblematik bereits in aller Schärfe, wenn es um die Präzisierung des Begriffs der wissenschaftlichen Theorie als solchen geht. Durch Kuhns Theorie der Paradigmen und des Paradigmenwechsels27 ist es klargeworden, daß die entscheidende Größe, von der her wir den Wirklichkeitsbezug wissenschaftlicher Aussagen allein begründen können, nicht der Begriff und auch nicht der Satz, sondern die Theorie, genauer gesagt: die Konkurrenz zwischen Theorien, ist. Letztlich werden nicht sprachliche Ausdrücke, die aus Theorien folgen, an der Erfahrung geprüft, sondern Theorien, die sich in einem Wettbewerb aufgrund ihrer Erklärungs- und Systematisierungsleistungen gegen andere Theorien durchgesetzt haben, bringen als eine Implikation ihrer ontologischen und epistemischen Voraussetzungen ein Weltbild in Geltung, das sich dadurch gewissermaßen als Nutznießer des Erfolgs der Theorie als deren Implikation durchsetzt, ohne daß man direkt jemals zeigen könnte, daß es anderen, von den unterlegenen Theorien implizierten Weltbildern überlegen wäre. Die Verbindung zwischen der Welt und dem, was wir über sie mit wissenschaftlicher Legitimation sagen können, verläuft über den geschichtlichen Faktor der Theorienkonkurrenz und Theorienverdrängung. Es hat in der Folge der Kuhnschen Theorie eine intensive Auseinandersetzung um die Frage gegeben, ob man unter diesen Bedingungen überhaupt noch von einem Erfahrungs- bzw. Wirklichkeitsbezug wissenschaftlicher Theorien sprechen könne oder ob nicht der Begriff „Welt" dadurch völlig relativiert werde. So sehr das Ringen um diese Frage andauert, so dürfte doch feststehen, daß sich von Rationalität der Theorienevolution und damit von objektiven Kriterien der Theorienverdrängung nur dann sprechen läßt, wenn es gelingt, ein befriedigendes Konzept der Reduktion einer Theorie auf eine ihr überlegene zu erarbei25 Vgl. Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Band II, 213 ff. 26 Vgl. z.B. Stephen W. Hawking: Eine kurze Geschichte der Zeit. Die Suche nach der Urkraft des Universums, Reinbek 1991, 195; Richard P. Feynman: QED Die seltsame Theorie des Lichts und der Materie, München/Zürich 1989,18 27 Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1976

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ten, aufgrund dessen die theoretischen Begriffe der überlegenen und der ihr unterlegenen Theorie dergestalt rekonstruierbar sind, daß sich zeigen läßt, daß die überlegene Theorie relativ auf das gegebene empirische Material die gesamte Erklärungs- und Systematisierungsleistung erbringt wie die unterlegene und darüber hinaus noch etwas mehr zu leisten vermag. Das aber hat nun eine weitere Voraussetzung, die schließlich in den Bereich der metaphysischen Implikationen führt. Von der Reduktion einer Theorie auf eine andere kann sinnvollerweise nur die Rede sein, wenn hinsichtlich der Reduktionsleistung Symmetrie ausgeschlossen ist, d.h. wenn wir mit dem Begriff „Welt" ein letztlich einziges und einheitliches Referenzobjekt bezeichnen, aufgrund dessen es ausgeschlossen ist, daß die Verdrängung einer auf es bezogenen Theorie durch eine ihr inhaltlich entgegengesetzte Konkurrenztheorie zugleich ein Erklärungsfortschritt und -rückschritt sein kann.28 Damit aber zeigt sich eine weitere im Wort „Universum" liegende Voraussetzung neben der seiner Einzigkeit: Auch die Überzeugung von der - wie auch immer genau zu rekonstruierenden - Einheitlichkeit des Weltganzen ist Reflex des Erkenntnisanspruchs eines sich als rational verstehenden wissenschaftlichen Diskurses. Ohne diese Grundvoraussetzung hätte man nicht nur, wie Kanitscheider mit Bezug auf die Kosmologie sagt, „anstatt eines Universums, das mit verschiedenen Theorieansätzen angegangen wird, ... einen theorieabhängigen epistemischen Zerfall der Welt in so viele unvergleichbare Objekte vor sich, wie es kosmologische Theorien gibt"29,

sondern man würde, jedenfalls unter Voraussetzung des Kuhnschen Modells der Theorienkonkurrenz, den Begriff der Theorie selbst seines Anspruchs berauben. Faßt man schließlich den Erklärungsanspruch der Wissenschaft, so wie er im Hempel-Oppenheim-Modell präzisiert worden ist, noch einmal direkt ins Auge, so muß man als dessen Implikation über die Voraussetzungen der Einzigkeit und der Einheitlichkeit hinaus noch die einer zeitlichen Homogenität des Gesamtzusammenhanges der empirischen Fakten einräumen. Wir haben, wie die von Goodman ausgegangene Diskussion um das „neue Rätsel der Induktion"30 gezeigt hat, kein allgemein begründbares Kriterium der „Gesetzesartigkeit" von Aussagen. Eine wissenschaftliche Erklärung besteht in der gesetzmäßigen Verknüp28 Vgl. dazu Wolfgang Stegmüller: Rationale Rekonstruktion von Wissenschaft und ihrem Wandel, Stuttgart 1 9 7 9 , 1 6 4

29 Kanitscheider: Kosmologie, 405 30 Nelson Goodman: Tatsache, Fiktion, Voraussage, Frankfurt am Main 1975, 97

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fung eines Ereignisses mit seinen Antezedensdaten. Diese Verknüpfung, also das sie formulierende Naturgesetz, besagt nichts anderes als daß ein Ereignis der Art E immer (bzw. mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit) eintritt, wenn ein Ereignis der Art A vorausgegangen ist. Für die Bildung der relevanten Klassen von Ereignissen gibt es kein anderes Legitimationsprinzip als eben die Beobachtung ihrer regelmäßigen zeitlichen Verknüpfung. Das heißt, wir sind zur Bildung dieser Klassen nur berechtigt, weil und solange wir davon ausgehen können, daß mindestens ein Ereignis der erklärenden Art jedem Ereignis der durch es zu erklärenden Art vorhergegangen sein muß. Das post hoc ist vielleicht nicht die hinreichende, in jedem Fall aber die notwendige Bedingung für das propter hoc, das wir mit unserem Bestreben, die Ereignisse der Welt zu erklären, in Anspruch nehmen. Ein Faktum, das einem anderen vorausgeht, kann von diesem nicht erklärt werden, wenn der Begriff der „Ereignisart" einen nicht willkürlichen Sinn behalten soll. Man kann diese skizzenhafte Charakterisierung des modernen Wissenschaftsbegriffs damit so zusammenfassen, daß sich als Reflex seiner drei Grundelemente, also des universalen reduktionistischen Erklärungsanspruchs, dasjenige zeigt, was er selbst als den Inbegriff seines Anwendungsfeldes verstehen muß: Ein singuläres, einheitliches und sich in homogener Abfolge entwickelndes, also verkürzt gesagt ein „geschlossenes Ganzes" empirisch zugänglicher Tatsachen. Diesen Reflex seiner Grundelemente kann der wissenschaftliche Diskurs, wenn er nicht zu etwas grundsätzlich anderem werden will, als es ihm sein moderner Begriff vorgibt, nicht als eben dies denken. Das heißt, er kann ihn nicht als die konstitutive Grenze denken, entlang derer sich seine innere Notwendigkeit systematisch entfaltet. Sondern er muß sie als die Grenze seines Gegenstandes denken, er muß also sich selbst in den Inbegriff der Fakten hinein projizieren und den Inbegriff seiner eigenen als den der Grenzen dessen denken, worauf er sich bezieht. Er expliziert seine Implikationen als Aufgaben, die er zu bearbeiten hat, und dadurch erst werden diese Implikationen zu metaphysischen. 3. Metaphysische Implikationen Anders als Wittgenstein im „Tractatus" postulierte, kann man die metaphysischen Implikationen des wissenschaftlichen Diskurses nicht auf einen einzigen und abschließenden Nenner bringen und diesen - oder sogar, wie der „Tractatus" ja darüber hinaus noch verhieß,31 unsere 31 Vgl. Τ 4 . 1 1

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gesamte Sprache - dadurch ein für allemal von ihnen befreien. Die „Anschauung der Welt als-begrenztes-Ganzes"32 wohnt unserem wissenschaftlichen Denken in einer Vielfalt von Weisen inne, die der Philosophie eine Aufgabe stellen, die solange aktuell bleiben wird wie der moderne Wissenschaftsbegriff selbst. Man kann diese Weisen allenfalls unter einigen grundlegenden allgemeinen Gesichtspunkten noch einmal zusammenfassen. Dafür sollen in unserem Zusammenhang zwei Hinweise genügen, die man als die Suche nach dem Inbegriff der äußeren Grenzen des Weltganzen sowie der inneren Strukturen der Weltentwicklung benennen kann. a) Der wissenschaftliche Erklärungsanspruch richtet sich, indem er ohne Ausnahme jede Tatsache seiner Kompetenz unterwirft, unweigerlich auf alle Tatsachen, also auf einen Inbegriff von Erklärbarem, dessen Existenz und Eigenart dadurch selbst zu seinem Thema wird. Das „Weltganze ", das wir als den Inbegriff des Erklärbaren ansetzen müssen, drängt sich so als Gegenstand des Erklärungsanspruchs in seinem umfassendsten Sinn auf, aber es entzieht sich ihm zugleich, und zwar nicht aufgrund einer ontologisch zu charakterisierbaren Unzugänglichkeit, sondern aufgrund der inneren Strukturen des wissenschaftlichen Diskurses selbst. Wieder ist die Kosmologie das bevorzugte Opfer an dieser Front: „Viele Gesetzesaussagen, die an sich raumzeitlich unbegrenzt gelten sollen, werden" so erläutert Kanitscheider dies, „problematisch, wenn sie anstatt auf jedes auf alle Teilsysteme angewendet werden." Die Begriffe der gesamten Masseenergie und des Drehimpulses etwa sind, so sein Beispiel, für ein geschlossenes Universum nicht meßbar, weil sie nur in bezug auf eine Bewegung des zu messenden Systems gegenüber einem Außenraum operationalisierbar sind. „Damit werden diese beiden Begriffe, die für die lokale Physik so wichtig sind, gerade durch die Tatsache, daß ein Universum eben alles umfaßt, unanwendbar."33

Im Grunde zeigt sich hier, daß die simple Frage, was jenseits der Grenzen des „Alls" sei oder auch, wo hinein denn das All, wenn es als ein expandierendes gedacht werden muß, expandiere, so leicht nicht abgeschüttelt werden können wird. Das Problem, das wir mit diesen quasi naiven Urfragen berühren, entstammt nicht dem Blick auf die Natur, den uns das Fenster unseres wissenschaftlichen Diskurses erlaubt, sondern es reflektiert den Gestaltwechsel, mit dem uns dieses Fenster zum Spiegel wird, sobald wir es als Fenster von dem, was wir durch es sehen, zu unterscheiden versuchen. Wir können, indem wir die Natur des Fensters besser zu verstehen versuchen, dem Rätsel eine Lösung entgegen32 Τ 6.45 33 Kanitscheider: Kosmologie, 400

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setzen; aber letztendlich beschreiben wir damit nur differenzierter die Bedingungen seiner Eröffnung, doch wir schaffen es nicht aus der Welt. So kann die Unterscheidung zwischen dem Unendlichen und dem Unbegrenzten, die durch die Riemannsche Geometrie als Implikation unserer Kosmologie denkbar wird, uns einen Begriff eines geschlossenen Ganzen geben, der mit sich noch die Erklärung bringt, warum es für uns eine Anschauung dieses geschlossenen Ganzen nicht geben kann.34 Aber sich selbst erklären kann auch dieser Begriff nicht, denn dann müßte er über die Bedingungen unseres Verhältnisses zu dem uns umschließenden Ganzen hinaus die Entstehung der Bedingungen, das heißt eben dieses Ganzen selbst, erklären. Und das kann er nicht, und zwar zuletzt nicht deshalb, weil er als Begriff unzulänglich bleibt, weil also bei seiner Anwendung auf eine Anfangssingularität Aussagen gemacht werden müssen, die uns in Russellsche Antinomien verstricken: „(das Universum ist das Ganze, von dem etwas ausgesagt wird, das Teil seiner selbst sein müßte)" 3 5 ;

nicht ein wie auch immer strukturierter Begriff des Weltganzen verstrickt uns, wenn wir ihn zur Erklärung des Anfangs der von ihm bezeichneten Singularität einsetzen, in Widersprüche. Sondern die Natur, das heißt die logische Struktur des Erklärens selbst macht es undenkbar, daß die Entstehung des Ganzen alles Erklärbaren jemals erklärt werden könnte. Wenn Erklärung in der Ableitung eines Ereignisses aus Antezedensdaten und Gesetzen besteht, welche Klassen von Ereignissen in einen regelmäßigen Zusammenhang setzen, dann könnte das Anfangsereignis, von dem der Inbegriff des zu Erklärenden seinen Ausgang genommen hat, per definitionem nicht aus einem ihm vorhergehenden Antezedensdatum abgeleitet werden. Und ebensowenig ist es denkbar, daß der Inbegriff der Naturgesetze, also der Beziehungen zwischen bestimmten Arten von Ereignissen, jemals erklärt, das heißt aus Gesetzen abgeleitet werden könnte. Wenn man also eine anfangslose und insofern der Erklärung nicht bedürftige Existenzweise des Universums annehmen wollte, müßte man die empirisch sehr unplausible Annahme36 machen, daß die grundlegende Gliederung der Arten der Ereignisse in der Welt von Ewigkeit her unveränderlich festliegt und die Emergenz neuer Strukturen nur als subjektiver Schein für uns besteht. Und selbst 34 Vgl. ebd. 4 3 4 35 Burger: Wittgensteinianismus, 192 36 Vgl. Kanitscheider: Kosmologie, 305: „Für alle Teilstrukturen der Welt liefert die unmittelbare Anschauung den klaren Hinweis, daß diese sich höchstens in einem metastabilen Übergangsstadium befinden können."

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dann wäre das Problem nur auf die letzte Frage verschoben: Auch wenn man sich die Welt so denken könnte, daß sie ohne Anfang existiert, bliebe es immer noch ein durch den Universalanspruch des wissenschaftlichen Diskurses gefordertes Desiderat, die Existenz dieses so gedachten Weltganzen zu erklären. Dies aber, daß also die Frage, warum überhaupt etwas sei und nicht vielmehr nichts, einer wissenschaftlichen Erklärung im Sinne ihres von Hempel und Oppenheim präzisierten Begriffs zugänglich sei, hat nicht zuletzt Hempel selbst als „eine logische Unmöglichkeit" bezeichnet.37 Hempels Interpretation der Grenze, an die wir hier stoßen, daß nämlich die Frage als solche den Rationalitätsbedingungen unseres Denkens widerspräche, ist freilich noch auf dem positivistischen Niveau des frühen Wittgenstein, was Nicholas Rescher zu Recht kritisiert hat.38 Reschers eigener Lösungsvorschlag allerdings, wonach als Antezedensdatum einer wissenschaftlichen Erklärung auch eine nichtdingliche Ursache, nämlich ein teleologisches Prinzip in Frage komme,39 das besagt, daß die Dinge existieren, „weil es so am besten ist" 40 , ist mit dem Wissenschaftsbegriff, dessen Implikationen mit diesem Prinzip ja bewältigt werden sollen, nicht mehr zu vereinbaren. Als Antezedensdatum müßte die Konstellation, aufgrund derer die Existenz der Welt ihrer Nichtexistenz vorzuziehen ist, dieser Existenz selbst in einem Sinne vorangehen, der sich als Abfolge in einem homogenen Zeitkontinuum rekonstruieren läßt. Macht man diese Voraussetzung nicht, so verwendet man den Begriff „Antezedensdatum" in einem Sinne, der jedenfalls nicht derjenige ist, den das Hempel-Oppenheim-Modell expliziert und der folglich auch nicht zur Rekonstruktion des von diesem Modell implizierten Erklärungsanspruchs dienen kann. b) Auf analoge Weise verstrickt der wissenschaftliche Diskurs in metaphysische Implikationen, wenn er versucht, die „inneren" Grenzen aus sich ableiten zu können, denen er seinen Erklärungsanspruch verdankt. Wissenschaftliche Erklärung beruht auf Naturgesetzen, die bestimmte Arten von Ereignissen mit anderen Arten von Ereignissen kausal verknüpfen. Aussagen, die sich auf Naturgesetze stützen, erheben den Anspruch, wahr zu sein. Könnten wir nun die Ursache der Gliederung der Welt in Ereignisarten selbst entdecken, dann hätten wir damit erklärt, warum wir ein wahres Bild der Welt zu schaffen vermögen. 3 7 Carl Gustav Hempel: Science Unlimited, in: Annals of the Japan Association for Philosophy of Science 14 (1973), 2 0 0 3 8 Nicholas Rescher: Die Grenzen der Wissenschaft, Stuttgart 1985, 2 1 3 3 9 Vgl. ebd. 214, 2 1 6 f. 4 0 Ebd. 2 1 7 mit Bezugnahme auf J. Leslie

Die Wahrheit der Grenze

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Könnten wir also im Kontext des universalen reduktionistischen Erklärungsanspruchs eine Theorie entwickeln, die zu erklären vermag, warum die Gliederung der Welt es uns erlaubt, sie in Form von Naturgesetzen nachzuvollziehen, dann hätte diese Theorie damit sich selbst und die gesamte Wissenschaft abgeleitet. Wir könnten Naturgesetze angeben, aus denen sich die Ursache erfolgreicher Induktion und damit der Grund ergibt, aus dem wir die Naturgesetze finden, die wir finden. Quine hat genau dies zum Programm gemacht: „Warum harmoniert unsere angeborene subjektive Gliederung der Qualitäten mit den funktionell relevanten Gruppierungen in der Natur derart gut, daß sich unsere Induktionen meist als richtig erweisen? ... Darwin wirft ein wenig Licht ins Dunkel. Wenn die angeborene Qualitätengliederung der Menschen ein in den Genen verankerter Wesenszug ist, dann wird am ehesten die Gliederung, die die erfolgreichsten Induktionen geleistet hat, durch natürliche Selektion dominiert haben. Kreaturen, die in ihren Induktionen permanent falsch liegen, haben eine tragische, aber lobenswerte Tendenz, zugrunde zu gehen, bevor sie ihre Art reproduzieren." 41

Wahrheit als Wirkung der Evolution, die durch Darwins Theorie erklärt wird: Heißt das, daß sich die Wahrheit von Darwins Theorie damit aus dieser Theorie selbst abgeleitet hat? Quine macht nur die eine Einschränkung, daß der Wahrheitsanspruch der Darwinschen Theorie, wie der aller empirischen Theorien, hypothetisch sei und widerlegt werden könne.42 Aber wie sollte eine Theorie begründet sein, die diese Selbstableitung der Wahrheit aus der Evolution widerlegen könnte? Würde sie darlegen, daß sie dem Überleben unserer Art besser dient als die Darwinsche, würde sie sich widersprechen. Würde sie sich aber anders rechtfertigen als durch diese Bezugnahme auf den durch sie ermöglichten Überlebenserfolg, dann bliebe die Hypothese, daß die Darwinsche Theorie sich ihr schließlich doch überlegen erweisen und unserem Überleben besser dienen werde, durch sie ja unangetastet und also, gemäß der Quineschen Hypothese, wahr. Sobald wir Wahrheit als Wirkung von Ursachen und damit als im Sinne des modernen Wissenschaftsbegriffs erklärbar betrachten, verschluckt der wissenschaftliche Diskurs mit seinen Grenzen gewissermaßen sich selbst. Welche Konsequenz kann man aus dem so skizzierten paradoxen Verhältnis zwischen dem wissenschaftlichen Diskurs und seinen metaphysischen Implikationen ziehen? Bleibt noch Raum für Metaphysik oder nicht? Muß Philosophie sich darauf beschränken, immer wenn 4 1 Willard van Orman Quine: Natürliche Arten, in: Ontologische andere Schriften, Stuttgart 1975, 173 f. 42 Vgl. ebd. 174, 1 7 7

Relativität

und

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einer etwas Metaphysisches sagt, es ihm auszutreiben? Nun, die Antwort wird selbst eine paradoxe sein müssen: Sie muß es - und sie wird gerade dadurch, daß sie es tut, die Metaphysik implizieren. Zwischen Philosophie und Wissenschaft auf der methodologischen Basis des Hempel-Oppenheim-Modells ist keine Luft, die ein Metaphysiker zu atmen vermöchte. Metaphysik kann in wissenschaftliche Theorien immer nur als Implikation eingehen. Kuhns Theorie der wissenschaftlichen Revolutionen ist ein großartiges Beispiel dafür, wie man das, was Quine vergeblich postuliert, in wissenschaftlich adäquater Weise leisten kann. Kuhn hat, ohne darüber zu reden, Darwins Paradigma zu dem seiner eigenen Theorie, der Theorie der Theorienevolution gemacht. Er hat damit genau das respektiert, was eine wissenschaftliche Theorie wahrheitsfähig macht: Den Ausschluß der Reflexion auf den Grund ihres Wahrheitsanspruchs aus dem Bereich des in ihr Formulierbaren. Eine Frage bleibt aber, nämlich die Frage nach den Grenzen der Philosophie selbst. Zwar kann man, etwa im Sinne des späten Wittgenstein, postulieren, daß nicht nur die metaphysischen Implikationen des wissenschaftlichen, sondern die aller mit unseren Lebensformen verwachsenen Diskurse einer philosophischen Therapie zugänglich sind und daß die Philosophie sich eben auf das Geschäft dieser Therapie beschränken muß. Sie kann nicht aus sich heraus. Die Frage ist aber, ob sie nicht in sich geschlossen bleiben und sich trotzdem so mit sich selbst beschäftigen kann, daß sie dadurch indirekt über sich hinausweist. Dann würde sie genau das leisten, was die anderen Diskurse eben deshalb können, weil es sie, die Philosophie, gibt. Wenn sie das produktive Selbstmißverständnis als die Kraft denkt, durch die Diskurse ihren Grund als das von ihnen Ausgeschlossene indirekt in sich zur Wirkung kommen lassen, dann kann sie, vorausgesetzt sie tut es immer im Kontext der Beschreibung ihrer selbst, Fragen aufwerfen wie die, ob man nicht den Träger aller Diskurse, den Menschen, seinerseits als ein sich allein durch das Mißverständnis seiner selbst sich als sich selbst konstituierendes Wesen denken könne oder auch, ob ein konstitutionelles Selbstmißverständnis ohne den Horizont eines ihm in welchem Sinne auch immer voraufgehenden Verständnisses gedacht werden könne. Mit den Intuitionen Wittgensteins wäre das zwar nicht mehr recht zu vereinbaren, aber doch mit denen Kierkegaards, den Wittgenstein immerhin den größten Philosophen des 19. Jahrhunderts genannt hat. Und immerhin steht auch bei Wittgenstein selbst die Aufforderung: „Scheue Dich ja nicht davor, Unsinn zu reden! Nur mußt Du auf Deinen Unsinn lauschen." 43 43 Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen, Frankfurt am Main 1977, 110

Inter Subjektivität und Freiheit Zu den metaphysischen Voraussetzungen des modernen Freiheitsbegriffs THEO KOBUSCH

Im folgenden werde ich die These zu begründen versuchen, daß die Intersubjektivität im Wesen der Freiheit selbst begründet liegt. Zu diesem Zweck soll im ersten Kapitel ein erschließender Blick auf drei wichtige Denkformationen im 20. Jahrhundert geworfen werden, in denen der Begriff und die Problematik der Intersubjektivität thematisch behandelt werden. Im zweiten Kapitel folgt eine Analyse der Hegeischen Freiheitslehre, wo auch historisch der zeitliche Ursprung der Intersubjektivitätsthematik zu liegen scheint. Das dritte Kapitel wird unter Berücksichtigung der Philosophie des H. M. Chalybäus das Verhältnis Gottes als der positiven Liebe zur endlichen Freiheit des Menschen intersubjektivitätstheoretisch beleuchten, ehe dann im vierten Kapitel auf eine Voraussetzung der intersubjektiven Beziehung überhaupt hingewiesen werden soll: die Univozität im Bereich des Moralischen, eine Errungenschaft der neuzeitlichen Philosophie.

I Der Gedanke der Intersubjektivität ist im 20. Jh. in zumindest drei Formationen des Denkens näher ausgeführt worden. Alle drei verstehen sich selbst als kritische Antwort auf den Deutschen Idealismus, der angeblich alle Realität, auch die gesellschaftliche der Intersubjektivität, als durch ein absolutes Subjekt konstituierte ansehe. Gegenüber dem idealistischen Denken hat G. H. Mead im Rahmen einer behavioristischen Sozialpsychologie geltend gemacht, daß das einzelne Selbstbewußtsein in seiner Entstehung bedingt ist durch das ursprüngliche Vergesellschaftetsein der Individuen. Seine Genese verdankt sich einer gattungsgeschichtlichen Entwicklung, in deren Verlauf sich die Vernunft und das Selbstbewußtsein zusammen mit dem in ihnen eingeschlossenen Element der Sprachlichkeit herausbildet. Das Ich ist somit nicht möglicher Ursprung des Bewußtseins, der Sprache und des

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Denkens, so daß es sich dann auch auf soziale Beziehungen einlassen könnte. Vielmehr gibt es schon immer lebendige Formen des Gruppenverhaltens, „before selves come into existence"1. Nach Mead sind die Individuen ursprünglich in einem Aggregat von Gesten vergesellschaftet, wobei die Gruppenaktivität zumindest keiner einheitlichen Regel unterliegt und allmählich eine Strukturierung gewinnt und sich schließlich zu dem Symbolsystem der Sprache, der differenziertesten Weise gestischer Kommunikation, empor entwickelt. Die Individuen aber, die von den instinktgeleiteten Gebärden in den Austausch von symbolischen Zeichen für bestimmte Sachverhalte und schließlich zu bedeutungserfüllten sprachlichen Lautgebärden übergegangen sind, gelangen so - durch die Gesellschaft - „zu intelligentem bewußtem Handeln und zum Bewußtsein ihrer selbst". Mead kann freilich überhaupt nicht erklären, wie aus einer instinktgeleiteten formal determinierten Beziehung zwischen Reiz und Reaktion eine freie personale und in diesem Sinne intersubjektive Beziehung zwischen miteinander sprechenden Subjekten soll hervorgehen können, die symbolische Zeichen mit objektiv gültigem Sinngehalt austauschen und sich einander mitteilen können.2 Die zweite große Denkformation, in der der Gedanke der Intersubjektivität eine tragende Rolle spielt und wohl auch überhaupt erst geprägt wurde, ist die Phänomenologie. In der Phänomenologie wird das Thema der Intersubjektivität geradezu zu einer Zerreißprobe des phänomenologischen Grundgedankens. Nachdem E. Husserl in seiner berühmten fünften „Cartesianischen Meditation" die Konstitution der Intersubjektivität im Ausgang vom transzendentalen Subjekt unternommen hatte, wurde diese Theorie von A. Schütz - der ihr in seinem Frühwerk Der Aufbau der sozialen Welt durchaus noch zugestimmt hatte in seinem Spätwerk kritisiert: Auf diese Weise werde keine „transzendentale Vergemeinschaftung, kein transzendentales Wir begründet"3. Eine transzendentale Begründung des Zwischenmenschlichen ist nach Schütz überhaupt nicht möglich. Die freie Kommunikation zwischen verschiedenen Personen ist ohne Rückgang auf die mundane Sphäre nicht erklärbar. Deswegen muß angenommen werden, daß „Inter-

1 2 3

G. H. Mead, Selected Writings, ed. by A. J. Reck, Indianapolis/New York 1964, 242. Vgl. zur Darstellung der Lehre Meads und ihrer Kritik E. Düsing, Intersubjektivität und Selbstbewußtsein, Köln 1986, bes. 41ff. Vgl. A. Schütz, Gesammelte Aufsätze III, mit einer Einf. v. A. Gurwitsch und einem Vorwort v. H. C. Breda, Den Haag 1971, 110. (Im folgenden zitiert als GA).

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Subjektivität nicht ein innerhalb der transzendentalen Sphäre lösbares Problem der Konstitution, sondern eine Gegebenheit der Lebenswelt ist" 4 . In der Tat ist es die uns in naiver Einstellung gegebene Lebenswelt, die sich als Summe inter subjektiver Beziehungen erweist. „Unsere Alltagswelt ist von vornherein intersubjektive Kulturwelt: intersubjektiv, weil wir als Menschen unter anderen Menschen in ihr leben, mit ihnen verbunden zum gemeinsamen Wirken und Werken, andere verstehend und zu deren Verständnis aufgegeben" 5 . Es scheint, als ob zwei Begriffe des Intersubjektiven bei Husserl wie bei Schütz unterschieden werden müssen. Wenn wir beispielsweise bei Schütz lesen: „Die nach Vollzug der Reduktion in meinem Bewußtseinsleben erfahrene Welt ist eine intersubjektive und das heißt: eine jedermann zugängliche Welt" 6 , dann meint das Intersubjektive nicht mehr als eine objektive Welt in ihrer allgemeinen Geltung für alle Subjekte. Zum anderen aber meint Intersubjektivität das Aufeinanderbezogensein einzelner Subjekte, die als Personen miteinander in Kommunikation treten.7 Wenn das Wort in seiner zweiten, strengen und eigentlichen Bedeutung genommen wird, dann bedeutet dies nach A. Schütz auch sofort, daß die Welt für die natürliche, naive Einstellung des Einzelnen von Anfang an nicht eine Privatwelt des Einzelnen darstellt, sondern eine gemeinsame, die durch unser „vordringliches praktisches Interesse" konstituiert wird. Die intersubjektive Welt ist also jene den Menschen von Anfang an umgebende Lebenswelt, in der er als Handelnder auf andere Handelnde bezogen ist. Daraus ist auch schon zu entnehmen, daß die intersubjektive Welt die Welt der Freiheit ist. In einer dritten Denkformation des 20. Jh. hat sich der Gedanke der intersubjektiven Beziehung als grundlegend erwiesen und damit sogar zu einer revolutionären Erweiterung der Ausgangsbasis geführt: Das ist die Psychologie bzw. die Psychoanalyse. Die frühe Psychoanalyse hatte ihre Aufmerksamkeit fast ausschließlich der psychischen Entwicklung des Kindes, dem Verhältnis zwischen libidinösen Trieben und seiner Ichfähigkeit gewidmet und es damit ganz abstrakt, d.h. isoliert vor jeder Bezugsperson, als unabhängiges Untersuchungsobjekt angesehen. Demgegenüber hat der englische Psychoanalytiker Donald W. Winnicott in seinen Arbeiten deutlich gemacht, daß für den Anfang menschlichen Lebens eine Phase der undifferenzierten Intersubjektivität, der 4 5 6 7

G A III 116. G A I 155. GA 1145. Z u diesen beiden Begriffen des Intersubjektiven vgl. E. Düsing, Intersubjektivität und Selbstbewußtsein, Köln 1986, 115.

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Symbiose anzunehmen ist, für die sich in der empirischen Forschung inzwischen der Begriff der „primären Intersubjektivität" etabliert hat. Wie aus dieser symbiotischen Form der Intersubjektivität, die eine wechselseitige absolute Abhängigkeit impliziert, die inter subjektive Beziehung der Liebe werden kann, in der sich Mutter und Kind trotz gewonnener Selbständigkeit von der Liebe des jeweils anderen abhängig wissen, das ist das Thema der Arbeiten Winnicotts.8 Auf diese Weise hat sich der idealismuskritische Grundgedanke vor dem ursprünglich intersubjektiven Charakter der menschlichen Existenz auch innerhalb der Psychoanalyse gegenüber einer abstrakten Betrachtungsweise der menschlichen Einzelpsyche Bahn gebrochen. A. Honneth hat in diesen psychoanalytischen Untersuchungen Winnicotts eine psychologische Bestätigung der Hegeischen Lehre von der Liebe als einem wechselseitigen Anerkennungsverhältnis gesehen.9

II Die Phänomenologie hat auch darauf hingewiesen, daß die in der natürlichen Einstellung uns allen gemeinsame, intersubjektive Welt Gegenstand unseres praktischen, nicht des theoretischen Interesses ist.10 Dadurch ist die Problematik der Intersubjektivität von vornherein in einen praktischen Zusammenhang gerückt. Was jedoch ist der innere Grund für das Phänomen der praktischen Intersubjektivität? Diese Frage nach dem inneren Grund der Intersubjektivität fällt in die Kompetenz jener philosophischen Disziplin, die im Laufe der Zeit mit verschiedenen Namen bezeichnet wurde, sowohl als Metaphysica moralis wie auch als Philosophia practica universalis oder als Metaphysik der Sitten. Auch Hegels „Rechtsphilosophie" ist ein anderer Name für diese Art der Metaphysik.11 In ihr entwickelt Hegel die Konzeption der „Sittlichkeit", die als eine frühe Theorie der Intersubjektivität verstanden werden muß. M. Theunissen hatte nachgewiesen, daß Hegels Sittlichkeitsbegriff eine Kritik an dem Individualismus der modernen Moralphilosophie überhaupt darstellt. Denn dieser Be8

Vgl. vor allem D. W. Winnicott, Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, Frankfurt a. M. 1986, und ders., Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart 1989. 9 Vgl. A. Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a. M., bes. 153-170. 10 Vgl. A. Schütz, Gesammelte Aufsätze I, mit einer Einf. v. A. Gurwitsch und einem Vorwort v. H. C. Breda, Den Haag 1971, 239. 11 Zur historischen Entwicklung dieser Art der Metaphysik vgl. Th. Kobusch, Die Entdeckung der Person, Darmstadt 2 1996, 93-100.129ff.158.

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griff impliziert die These, daß die Freiheit der Individuen „sich erst in Interaktionen realisiert"12. Freilich sei Hegel bei der konkreten Durchführung der Konzeption der Sittlichkeit in die antike Substanzlehre zurückgefallen.13 Noch entschiedener hat V. Hösle auf die intersubjektiven Prozesse in der Philosophie des objektiven und absoluten Geistes hingewiesen und sogar das ganze Hegeische System unter den Kategorien der Subjektivität und Intersubjektivität - die in einer unversöhnten Spannung zueinander stünden - betrachtet.14 Hegel hat im dritten Teil der Rechtsphilosophie, der die Konzeption der Sittlichkeit entwickelt, deutliche Hinweise gegeben, worin die Sittlichkeit ihren eigentlichen Grund hat. Sittlichkeit ist danach zuerst die Idee der lebendigen Freiheit.15 Auf diese Weise ist die Verbindung der Lehre von der Sittlichkeit mit der Metaphysik des Willens in der „Einleitung" deutlich herausgestellt. Was Hegel durch diese Hinweise sagen will, ist, daß der inter subjektive Charakter des Sittlichen in der Idee der recht verstandenen, in der „Einleitung" entwickelten Idee der Freiheit selbst begründet liegt. Hegels Lehre von der Freiheit ist in mehrfacher Hinsicht als ein Meilenstein in der Entwicklung des philosophischen Bewußtseins anzusehen. Sie ist bei Hegel erstmals als Prinzip der modernen Zeit formuliert. Konstitutiv für den modernen Begriff der Freiheit ist der Unterschied zur Willkür. Noch heute ist es so, wie Hegel selbst es empfand: die gewöhnlichste Vorstellung oder - wie er sagt - „der ewige Mißverstand bei der Freiheit ist der der Willkür. Wenn man sagen hört, die Freiheit überhaupt sei dies, daß man tun könne was man wolle, so kann „solche Vorstellung nur für gänzlichen Mangel an Bildung des Gedankens genommen werden, in welcher sich von dem, was der an und für sich freie Wille, Recht, Sittlichkeit usf. ist, noch keine Ahnung findet." Zwar ist auch die Willkür eine Form der Selbstbestimmung, aber nach Hegel ist sie als solche dem Zufall unterworfen und daher „unvernünftige Freiheit"16. Der Unterschied zwischen Willkür und Freiheit liegt vor allem im Inhalt des Wollens begründet. Was den Unterschied zwischen 12 M. Theunissen, Die verdrängte Intersubjektivität in Hegels Philosophie des Rechts, in: D. Henrich, R.-P. Horstmann, Hegels Philosophie des Rechts. Die Theorie der Rechtsformen und ihre Logik, Stuttgart 1982, 317-381, hier 319. 13 Vgl. ebd. 14 Vgl. W. Hösle, Hegels System, Hamburg 1988, 9. 474f. 15 G. W. F. Hegel, Philosophie des Rechts (Vorl. von 1819/20, hg. von D. Henrich) Frankfurt/M. 1983, 122. 16 Belege bei Th. Kobusch, Die Entdeckung der Person, 161f. Vgl. auch Vorlesungen über die Ästhetik I, Theorie Werkausg. Bd. 13, 136: „Doch Willkür ist nur die unvernünftige Freiheit, das Wählen und Selbstbestimmen nicht der Vernunft des Willens, sondern aus zufälliger Freiheit und deren Abhängigkeit von Sinnlichem und Äußerem."

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Willkür und Freiheit angeht, so kommt alles auf den Inhalt des Wollens an. Was dem Willen sich unmittelbar als Inhalt anbietet, sind die Triebe, Begierden, Neigungen, die den Willen von Natur bestimmen. Die Willkür ist der natürliche Wille, d.h. der Wille der Begierde oder der Neigung, des partikulären Interesses, das das Unmittelbare will, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob es gut oder böse ist. Das, was in der Willkür verwirklicht wird, kann aber nicht die wahre Bestimmung des Willens sein, denn keiner der durch die individuellen Interessen, subjektiven Neigungen und partikulären Triebe vermittelten Inhalte entspricht dem Willen selbst, in keinem hat er sich wirklich selbst, in keinem ist er bei sich, in keinem ist er wirklich frei. Im Gegenteil: „In der Willkür ist das enthalten, daß der Inhalt nicht durch die Natur meines Willens bestimmt ist, der meinige zu sein, sondern durch Zufälligkeit; ich bin also ebenso abhängig von diesem Inhalt, und dies ist der Widerspruch, der in der Willkür liegt." Die Menschen glauben frei zu sein, wenn ihnen erlaubt wird, willkürlich zu handeln, aber gerade die Willkür ist eine Form der Unfreiheit. Wahre Freiheit dagegen ist jene Bestimmung eines Ich, nach der der Wille den ihm angemessenen Inhalt will, das Vernünftige - „die Landstraße, wo jeder geht, wo keiner sich auszeichnet" - die Freiheit selbst. Wahre Freiheit ist im Unterschied zur Willkür nur da, wo die „Freiheit die Freiheit will". Das ist die große These dieser Metaphysik des Willens, daß wahre Freiheit nur da wirklich werden kann, wo Freiheit als allgemeiner Inhalt, d.h. wo Freiheit für alle gewollt wird. Wer sagt, daß das Recht, die allgemeinen Gesetze, die sittlichen Normen sein Wollen beschränke, der meint das Wollen der Willkür, die in der Tat dadurch eingeschränkt wird, aber nicht die Freiheit, die durch das Wollen dieser allgemeinen Inhalt gerade erst realisiert wird. 17 Deswegen ist auch die Vorstellung, meine Freiheit reiche so weit, bis sie durch die Freiheit des anderen eingeschränkt würde, der Wirklichkeit der Freiheit ganz unangemessen. Denn auch diese Vorstellung geht davon aus, daß die Freiheit des Einzelnen an sich unendlich sei und sich auf alle möglichen Inhalte erstrecken könne. In Wirklichkeit beschränkt sich wahre Freiheit selbst, weil sie die Freiheit der anderen nicht als etwas ihr Fremdes, sondern als den ihrem Wollen eigenen Inhalt will. Deswegen ist die Freiheit des anderen nicht etwas, was meine Freiheit beschränkt, sondern vielmehr bereichert. In diesem Sinne hatte Hegel schon früh, in seiner Differenzschrift, Fichtes Position kritisiert, nach der eine Gemeinschaft dadurch zustande komme, daß die Einzelnen ihre Freiheit aufge17 Vgl. auch Vorlesungen über die Ästhetik I, Theorie Werkausg. Bd. 13,136: „Im wahrhaft vernünftig gegliederten Staat sind alle Gesetze und Einrichtungen nichts als eine Realisation der Freiheit und deren wesentlichen Bedeutungen."

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ben. Wahre Freiheit - so kann man den Grundgedanken der Hegeischen Metaphysik des Willens zusammenfassen - ist jene Bestimmung des Willens, nach der er unbedingt und uneingeschränkt die allgemeine Freiheit will, d.h. seine eigene nur im Zusammenhang mit der der Anderen. Oder kurz: Freiheit ist gar nichts anderes als das sich Anderen Mitteilende. Damit ist aber auch klar, worin die historische Bedeutung der Hegeischen Willensmetaphysik besteht: Sie ist die erste Konzeption, in der Freiheit als kommunikative Freiheit verstanden wird. Hegel hat das selbst unmißverständlich ausgedrückt: „So bin ich wahrhaft frei nur dann, wenn auch der andere frei ist und von mir als frei anerkannt wird." 18 Für uns versteht es sich von selbst, meint Hegel, daß die Freiheit diese allgemeine Bestimmung des Menschen ausmacht, so daß jeder Mensch als Mensch unveräußerliche Freiheitsrechte besitzt. Aber „dieses Wissen ist nicht sehr alt". Es ist „durch das Christentum in die Welt gekommen, nach welchem das Individuum als solches einen unendlichen Wert hat, indem es Gegenstand und Zweck der Liebe Gottes ist". Was so durch das Christentum eigentlich bewußt wurde, ist, daß der Mensch an sich zur höchsten Freiheit bestimmt ist, so daß auf diese Weise die Freiheit selbst unabhängig wurde von Geburt, Stand, Bildung usw. Das in der christlichen Welt aufgegangene Bewußtsein schlägt sich nieder in dem „modernen Prinzip", daß der „Mensch als Mensch frei" 19 und somit in Politik, Recht, Gesellschaft und Religion als Subjekt anzusehen ist. Der moderne Charakter dieses Prinzips der kommunikativen Freiheit wird jedoch nicht nur durch die Abgrenzung gegenüber anderen Freiheitskonzepten der idealistischen Philosophie deutlich, sondern auch und besonders im Vergleich zu jenem Prinzip, das die antike Welt beherrschte und auch in vielen Philosophien das heimliche Ideal darstellt: das Prinzip der Autarkie. Nach antikem, d.h. aristotelischem und stoischem Verständnis ist Freiheit und Eudaimonie eines Individuums wie eines Staates im Sinne der Autarkie zu verstehen. Autarkie und Unbedürftigkeit sind seit Euripides auch in der Philosophie wohlbekannte Gottesprädikate und Prädikate eines göttlichen Menschen, der um so freier ist, je unabhängiger er ist. Am deutlichsten ist dieser Freiheitsbegriff im achten Traktat der sechsten Enneade Plotins faßbar mit dem Titel „Der freie Wille und das Wollen des Einen". Plotin entfaltet in diesem Traktat, den H. Krämer „nicht nur für den höchsten Punkt der 18 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie § 431 Z, Sämtliche Werke (hg. v. H. Glockner), 10, 282 (= Theorie Werkausgabe, Bd. 10, 220). 19 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Theorie Werkausgabe, Bd. 18, 127.

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antiken Freiheitsdiskussion, sondern der antiken Philosophie überhaupt hält", seine These, daß das Eine, das sich selbst das Sein gibt, ganz bei sich, aus sich selbst und durch sich selbst und daher in voller Freiheit, Autarkie und Selbstverfügung rein es selbst ist.20 Wenn dieser Traktat also repräsentativ für die antike Freiheitsauffassung steht, wird man konstatieren müssen: Freiheit ist im Verständnis der Antike Unbedürftigkeit, Autarkie, Durch-sich-selbst-Sein. Das moderne Prinzip kommunikativer Freiheit besagt gerade das Gegenteil: Freiheit bedarf anderer Freiheit. Nur vor dem Hintergrund dieses neuzeitlichen Freiheitsbegriffs wird auch ein Prinzip verständlich, das im 19. Jh. zumindest Grundbegriff der französischen Sozialphilosophie war, ehe es zur Grundlage aller demokratischen Staaten weltweit wurde: das Prinzip der Solidarität. Denn dieser Begriff, der im 19. Jh. die Rolle der aus der französischen Revolution bekannten Losung der fraternité übernommen zu haben scheint und von P. Leroux in die Philosophie eingeführt wurde, steht heutzutage für ein im sozialen Rechtsstaat grundsätzlich anerkanntes und verwirklichtes Prinzip, das sich notwendig aus dem Gedanken der kommunikativen Freiheit ergibt.21 Die Unterstützung anderer, das Beistehen in Not, die Hilfe ist ja nur - in Hegeischen Termini - der Willkür ein Hindernis, eine Störung, eine Last. Der wohlverstandenen Freiheit ist die Solidarität ein inhärierendes Element. Daher ist das Reich der Freiheit immer auch die Welt des Sozialen.

III Was Hegel zwar gelegentlich angedeutet, aber nicht ausgeführt hat, das wird innerhalb des sog. spekulativen Theismus und insbesondere im Rahmen der sog. „spekulativen Ethik" durch die Konzeption des Begriffs der Liebe deutlich. Es ist in diesem Sinne auch die Intention der Spekulativen Ethik des H. M .Chalybäus, die Freiheitslehre Hegels in der philosophischen Theologie zu vollenden. „Die Philosophie fängt mit sich selbst an." Das ist der erste Satz der Wissenschaftslehre des Chalybäus, der die Distanz gegenüber einer großen Tradition innerhalb der neuzeitlichen Philosophie andeutet. Denn diese hat auf vielfache Weise versucht, im analyti20 H. Krämer, Der antike Freiheitsbegriff, in: Freiheit. Theoretische und praktische Aspekt des Problems, hg. v. J. Simon, Freiburg 1977, 265ff. 21 Vgl. dazu L. Oeing-Hanhoff, Freiheit und Solidarität. Zur Kritik des liberalistischen und sozialistischen Freiheitsverständnisses, in: G. Pöltner (Hg.): Personale Freiheit und pluralistische Gesellschaft, Wien, Freiburg, Basel 1981, 9-20.

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sehen Rückgang auf das schlechthin Einfache das erste Prinzip zu finden. Sie hat dabei übersehen, daß jener Akt der regressiven Analyse, durch den auf das „reinste Erste" geführt wird, schon einen Grund im menschlichen Gemüt haben muß, „der sich als sein prius erweist". Dieses allem Abstrahieren und Analysieren zugrundeliegende, erste Prinzip ist durch den Begriff der „Philosophie" schon ausgedrückt, insofern das Streben nach Weisheit oder der Wille der Wahrheit gemeint ist. Begreift sich die Philosophie selbst so als den absoluten Willen der Wahrheit, dann geht sie von ihrem eigenen Begriff als ihrem Prinzip aus, und genau dies besagt nach Chalybäus der Satz, daß die Philosophie mit sich anfange.22 Nun kann das Wollen dieses absoluten Wahrheitswillens nicht als die Betätigung einer Macht, die allein die Machtsteigerung zu ihrem objektiven Zweck macht, gedacht werden. Denn in der Kategorie der Macht steckt eine innere Dialektik, die nicht zuläßt, die Macht als Verwirklichung der Freiheit zu denken. Die Macht braucht nämlich, wenn ihr Zweck allein die egoistische Machtvollkommenheit ist, bestimmte Objekte, an denen sie ihre Macht demonstrieren könnte. Ja, insofern der Machtwille alles in der Welt nur als Mittel für seine eigenen Zwecke und zur Durchsetzung eigener Interessen gebraucht, gibt es für ihn keine Schranken. Als dieses Schrankenlose ist der Machtwille die Willkür, die - wie Chalybäus ganz in Übereinstimmung mit Hegel erklärt - von der wahren Freiheit zu unterscheiden ist.23 Je mehr sie als Macht zunimmt, um so abhängiger wird sie doch von den Mitteln zur Macht. In diesem Sinne steckt ein unaufhebbarer Widerspruch im Begriff der absoluten Macht, denn sie wird „stets in dem Maße Ohnmacht, in welchem sie Macht wird". 24 Das aber heißt, daß die höchste Form der Freiheit nicht als absolute Macht, die nichts als Macht will, gedacht werden kann. Was damit negiert wird, ist jedoch nicht das Wollen überhaupt, sondern der Inhalt des Wollens. Chalybäus hat die leichtfertige Gleichsetzung des Willens mit der Macht in Frage gestellt: „Aber der Wille ist eben seinem tieferen Wesen nach nicht bloß Macht, er kann diese Negation vertragen, und ist dennoch als Wille, wenn auch nicht als Macht, sein Wesen ist in seiner Passivität nicht negiert, wenn auch seine Äußerung 22 H. M. Chalybäus, Philosophie und Christentum, Köln 1853, 100; System der speculativen Ethik oder Philosophie der Familie, des Staates und der religiösen Sitte (2 Bde.), Leipzig 1850 (im folgenden abgekürzt als System) § 12,1 89ff. 23 H. M. Chalybäus, System § 17,1, 59: „Die menschliche Freiheit ist niemals ganz schrankenlos und die absolute Schrankenlosigkeit ist's auch nicht, die in ihrem Wesen als Selbstzweck liegt; solches meint nur die Willkür, welche aber in der That nicht die wahre selbstbewußte Freiheit ist." 24 Zum folgenden vgl. Th. Kobusch, Die Entdeckung der Person, 21 Off.

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negiert ist." Der Wille zur Macht, von dem Chalybäus sagt, er sei in sich „absolutistisch und egoistisch"25, ist also nur eine bestimmte Form des Willens. Die Negation der Äußerung der Macht nennt Chalybäus die „Entsagung". Deswegen verwirklicht sich die wahre Freiheit nicht im Machtwillen, sondern in der Entsagung. „Der Wille muß also, um frei zu sein, dem entsagen, es als Macht sein zu wollen."26 Das Machtprinzip wird so in jenem Willen, der die Verwirklichung wahrer Freiheit will, zu einem Moment, zu einem Mittel erniedrigt, mit dem ein objektiver Zweck als Selbstzweck gesetzt werden kann. Deswegen ist die vollendete Freiheit in jenem Wollen zu sehen, das „das Bestehen der endlichen Wesen [...] an und für sich und namentlich den Menschen als Zweck um seiner willen"27 will. Dieses Wollen faßt Chalybäus in der Kategorie der Liebe, die bisher als ethische und wahrhaft geistige Kategorie von der reinen Wissenschaftslehre oder der Metaphysik so gut wie ausgeschlossen war. 28 Chalybäus nennt sie auch die positive oder ponierende Liebe, weil sie nicht mehr wie die abstrakte Liebe der Willkür im Anderen nur sich selbst liebt, sondern „selbstfreie Persönlichkeiten zu ihrem Zweckobjecte hat" und als solche setzt.29 Da nun die Persönlichkeit nichts anderes ist als die hypostasierte Freiheit, können wir sagen, daß die Liebe im Sinne der positiven Liebe das Wollen anderer Freiheit ist. Chalybäus sagt selbst: Die Liebe ist „die Freude an dem Freien, weil es frei ist", oder auch: Sie „ist das Wollen der Freiheit objektiv in den Producten und dieses Wollen ist die wahre Freiheit."30 Wenn nun das philosophierende Subjekt auf diese Weise, d.h. indem es dem Weisheitsstreben in sich auf den Grund geht, seine wesentliche Bestimmung darin erkennt, positiv freie Persönlichkeit zu sein, hat es nach Chalybäus auch die Voraussetzung derselben, die freie schöpferische Persönlichkeit Gottes schon miterkannt, weil sein eigenes Dasein ohne diese nicht möglich ist und ein unpersönliches absolutes Prinzip, das aufgrund von Machtwillkür und zum Zweck des Machterhalts oder der Machtsteigerung tätig ist, die endliche Persönlichkeit nicht wollen und bestehen lassen kann. Deswegen muß nach Chalybäus Gott selbst als jene vollkommene Freiheit im Sinne der Liebe gedacht werden, die selbst andere Freiheit in der Form der Hypostase oder Subsistenz, d.h. andere Persönlichkeiten neben und außer sich, setzen will. Das just ist 25 System § 13 I, 44. 26 H. M. Chalybäus, Ueber die ethischen Kategorien der Metaphysik, in: Zs. für Philos, und spekulat. Theol. 8 (1841) 155-211, hier 189. 2 7 Ueber die ethischen Kategorien, 189. Vgl. Philosophie und Christentum, 138. 28 System § 15 I, 49. 29 System § 213 II, 391. 30 Ueber die ethischen Kategorien, 189.

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- wie Chalybäus kritisch vermerkt - dem Hegeischen System ganz fremd, daß ein Objekt zum wahrhaften Subjektsein für sich, d.h. zur wahrhaften Freiheit vom absoluten Subjekt, entlassen und als solches gesetzt sei, während doch darin das einzig wahre Prinzip der Philosophie liegt.31 Chalybäus bezeichnet diese „Setzung" anderer Freiheit durch die göttliche Liebe sogar als das „eigentlich schöpferische Moment im Absoluten", durch das dem Objekt sowohl aus der eigenen Substanz mitgeteilt wie auch ein neues Bild verliehen wird. 32 Der Setzungscharakter der Liebe und damit das ihr Eigentliche ist nach Chalybäus seiner wahren Bedeutung und systematischen Stellung nach bisher unbeachtet und unbegriffen geblieben. Entweder verwies man sie - wie Kant - in die empirische Psychologie oder gar in die Pathologie der Seele oder faßte sie in Analogie zur physischen Attraktion auf (Schleiermacher) oder man begriff sie - wie Hegel - als bloße „Oszillation" oder „Wechselsynthese", insofern sie als das wechselseitige Aufgeben und Zurückerhalten der Persönlichkeiten angesehen wurde. In Wirklichkeit aber geht es darum, die Liebe als die dem Geist eigentliche Kategorie zu verstehen, denn an diesem Punkt „hängt wesentlich dieses ganze System". Das aber heißt, die Liebe als die richtige dialektische Verbindung des positiven mit dem negativen Moment zu begreifen. Es verrät nur abstrakten Verstand, wenn die „Lobredner der unbedingten Hingabe der Persönlichkeit" (von Fenelon bis Hegel) mit dem Begriff der Liebe die Aufhebung der eigenen Persönlichkeit verbinden. Vielmehr muß das subjektive Prinzip, „will es Anderes schaffen, zugleich sich selbst erhalten". Dieses negative Moment der Liebe muß als negative Bedingung aller „Setzung" anderer Freiheit erhalten werden. Die Selbsterhaltung und Selbstbefriedigung des schöpferischen Prinzips beim Schaffen und Sein des Objekts begründet erst ein Verhältnis der Gegenseitigkeit des Fürsichseins und Füreinanderseins beider. Denkt man die Liebe so als dialektische Verbindung des eigentlich positiven Momentes mit dem negativen, der „Egoität", dann hat das auch unmittelbare Konsequenzen für das rechte Verständnis der Beziehung zwischen Gott und Mensch. Denn dann kann das absolute erste schöpferische Prinzip, die göttliche Liebe selbst, nicht nur den Zweck haben, subjektivitätslose Objekte anzuschauen. Vielmehr muß es auch am Wissen von ihm und der Anerkennung (ihm selbst gegenüber) interessiert sein. Doch auch dies, sich von Anderen anerkannt zu wissen im Sinne einer Rechtspersönlichkeit, kann noch nicht der letzte Endzweck 31 H. M. Chalybäus, Historische Entwicklung der speculativen Philosophie von Kant bis Hegel, Leipzig 5 1860, 356f. 32 H. M. Chalybäus, Entwurf eines Systems der Wissenschaftslehre, Kiel 1846,295.

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des göttlichen Wollens sein. Denn der positiven Liebe ist es nicht nur um das Anerkanntwerden zu tun als vielmehr auch um die Befriedigung, selbst anerkennen zu können, und darum schafft sie Wesen, welche sie, ihren Schöpfer, anerkennen, „denn nur solche kann sie selber als sich wahrhaft ebenbildliche Wahrheit anerkennen, und wiederum kann sie nur dann erst sich von ihnen als vollkommen erkannt wissen, wenn diese sie als die positive Liebe wissen"33. Nie vorher ist die Liebe als intersubjektive Beziehung treffender beschrieben und auch auf das Verhältnis vollkommener zu endlicher Freiheit angewandt worden. Chalybäus hat daher guten Grund, sich von zwei Mißverständnissen ausdrücklich zu distanzieren. So ist einerseits gegen die, die in falscher Demut die Selbstgewißheit des freien Menschen für anmaßlich oder titanisch halten, weil sie Gott herabsetze, nach Chalybäus zu sagen, daß die endliche Freiheit vielmehr „die Signatur der göttlichen freien Macht und schöpferischen Liebe" ist. Andererseits ist gegenüber allen Leugnern der menschlichen Freiheit angesichts göttlicher Allmacht hervorzuheben, daß die mit persönlicher Machtfreiheit ausgestattete Gottheit, d.h. die die Macht als Moment ihrer selbst in sich bergende Liebe, die menschliche Freiheit nicht aufhebt, sondern gerade ermöglicht.34 So kommt auch in der philosophischen Theologie zur Geltung, was Chalybäus als die Grundlage aller intersubjektiven Freiheitstheorien formuliert hat: „Wer Freiheit will, muß Freiheit gestatten."35 Chalybäus hat damit zugleich jene große Tradition der philosophischen Theologie aufgenommen und im Sinne einer intersubjektiven Beziehung modifiziert, die Gott als die Freiheit selbst verstand.36 IV Wenn Intersubjektivität das gegenseitige Bezogensein freier Subjekte, d.h. von Personen als solchen, meint, dessen Notwendigkeit im Charakter wahrer Freiheit selbst begründet liegt, dann muß auch noch ein 33 34 35 36

Vgl. H. M. Chalybäus, Entwurf eines Systems der Wissenschaftslehre, 296-301. System § 2 0 , 1 72. System § 2 1 , 1 77. Zum ersten Mal hat wohl Orígenes Gott als die „ungezeugte Freiheit" bezeichnet. Vgl. dazu Th. Kobusch, Orígenes, der Initiator der christlichen Philosophie, in: Orígenes. Vir ecclesiasticus, hg. v. W. Geerlings/ H. König, Bonn 1995, 27-44, hier 35 ff. Außerdem E. Schockenhoff, Zum Fest der Freiheit, Mainz 1990, 170. Meister Eckhart hat diesen Gedanken der kommunikativen göttlichen Freiheit aufgegriffen. Vgl. dazu Th. Kobusch, Mystik als Metaphysik des moralischen Seins, in: Abendländische Mystik im Mittelalter, hg. v. K. Ruh, Stuttgart 1986, 49-62.

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Gedanke ans Tageslicht des Bewußtseins gehoben werden, der im Begriff der intersubjektiven Beziehung implizit enthalten und somit als Voraussetzung der Lehre von der intersubjektiven Freiheit anzusehen ist. Das ist die Idee von der Univozität der Begriffe im Bereich des Moralischen. Diese entwickelt zu haben ist eine Errungenschaft der neuzeitlichen philosophischen Theologie, die die Gottesvorstellung einer bestimmten mittelalterlichen Tradition als Theorie von einem Willkürgott kritisiert hat. Im Blick auf die Problematik des universalen Heilswillens Gottes wird das ganz deutlich. Die Lehre des Gregor von Rimini von der ewigen Prädestination und Reprobation, die im unerforschlichen Ratschluß begründet sei, steht am Ende einer großen Entwicklung.37 Calvin hat sie in seiner „Religionis Christianae Institutio" übernommen. Danach hat Gott in seinem ewigen Ratschluß die einen zum Heil, die anderen zum Untergang prädestiniert, ganz unabhängig von dem verdienstlichen Handeln oder dem Wollen eines geschaffenen Willens. Die Bosheit Esaus ist nicht der Grund der göttlichen Reprobation, sondern eine Folge derselben. Der göttliche Wille ist ganz unabhängig von jeder moralischen Norm. Die erstmals von Piaton im Euthyphron aufgeworfene Frage, ob das sittlich Gute gut ist, weil die Götter es so wollen oder ob es die Götter wollen, weil es gut ist, wird gegen Piaton und im Sinne des spätscholastischen Voluntarismus beantwortet: „Gottes Wille ist die höchste Richtschnur der Gewißheit: wenn Er etwas will, so ist es eben darum, weil Er es will, für gerecht zu halten." 38 Dieselbe Position ist bisweilen auch in der nominalistischen Diskussion um Wesen und Grenzen der „absoluten Macht" Gottes erkennbar, in der das Abrahamsopfer als Beispiel für die göttliche Anordnung einer Tötung figuriert, so wie Gott auch den Diebstahl und den Ehebruch anordnen kann, ohne doch selbst in den Verdacht zu geraten, der Urheber des Bösen zu sein. Denn er sei als Quelle aller moralischen Normen und Gesetze diesen selbst nicht unterworfen und damit debitor nullius - keinem Rechenschaft schuldig. Zu einem gewissen Teil ist die neuzeitliche philosophische Theologie ein Aufstand gegen die spätscholastische Gottesvorstellung. Was dabei 37 Zum folgenden vgl. Th. Kobusch, Die Universalität des Heils. Zur Auslegungsgeschichte von lTim 2,4, in: Universalität und Toleranz (Festschr. für G. B. Langemeyer) hg. v. N. Klimek, Essen 1989, 85-96. 38 Calvin, Institutio III 23,2 (CR XXX 700). Vgl. auch schon G. Biel, Collectorium circa quatuor libros Sententiarum I, dist. 17, quest. 1, art. 2, cond. 3, hg. v. W. Werbeck/K. Hoffmann, Tübingen 1973, 417,lOf. und ebd. art. 3, Dubium 4 (423,1): „... sed ipsa divina voluntas est regula omnium contingentium. Nec enim, quia aliquid rectum est aut iustum, ideo Deus vult; sed quia Deus vult, ideo iustum et rectum."

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besonders die Kritik der neuzeitlichen Autoren herausgefordert hat, ist die nominalistische These, daß das göttliche Denken und Wollen ganz anderen Kategorien unterworfen sei als das menschliche. Die englischen Deisten, Leibniz, Teile der Aufklärung, Kant, Hegel und andere Autoren des 19. Jh. haben demgegenüber die Univozität besonders im Bereich des Moralischen herausgestellt und betont, daß es im Bereich der Freiheit keine qualitativen Unterschiede geben kann. So erklärt z.B. A. Collins in dem 1713 erschienenen „Discourse of Free-Thinking": „diese in der Schrift genannten Eigenschaften kommen also Gott (nach der Meinung vieler Theologen) nicht im eigentlichen und direkten Sinne zu, sondern nur im uneigentlichen oder, wie die Schulen sagen, analogen Sinne. Aber wenn die Schrift Gott Verstand, Weisheit, Wille, Güte, Heiligkeit, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit beilegt, dann müssen diese Worte im strengen und eigentlichen Sinn, d.h. in ihrer gewöhnlichen Bedeutung verstanden werden.... Wenn wir daher keinen sicheren und festen Begriff von der Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit Gottes hätten, so wäre es ein schlechthin unverständliches Wesen und die Religion, die in der Nachahmung Gottes besteht, wäre völlig verloren." 39 Dieselbe These ist auch bei Thomas Chubb belegbar.40 Am meisten Gewicht jedoch hat sie im Denken von Leibniz, dessen „Theodizee" auf diesem Grundgedanken beruht. Schon in der zusammen mit Molanus verfaßten, aus der Zeit von 1698-1701 stammenden kleinen Schrift „Unvorgreiffliches Bedencken", die die Frage der Gnadenwahl thematisiert, hatte Leibniz die platonische Frage wiederholt, „ob nehmlich der wille Gottes eigentlich das Recht mache, und ob etwas deshalber allein Guth und Recht sey, weil es Gott will, oder ob es Gott deshalben wolle, weil es an sich guth und recht sey". Die erste Meinung haben nach Leibniz bestimmte Reformierte wie Polano oder S. Rutherford vertreten, von denen übrigens fast immer Calvin ausgenommen wird. 41 Diese Meinung

39 Vgl. A. Collins, A Discourse of Free-Thinking, Faksimile N D der Erstausgabe London 1713, hg., übers, und eingeh v. G. Gawlick, Stuttgart Bad-Cannstadt 1965, 50. 40 Vgl. Th. Chubb, An Enquiry concerning Infinite Justice und Infinite Satisfaction, in: A Collection of Tracts on Various Subjects, London 1730,155: „Justice may be administered by a finite or by an infinite being, and it may be administered to a finite or to an infinite being, but still justice is the same in either." 41 Vgl. G. W. Leibniz, Unvorgreiffliches Bedencken ueber eine Schrifft genannt Kurtze Vorstellung..., abgedruckt bei G. Grua Textes Inédites (Paris 1948)1428447, Zitat: 432f. Ebd. 434f. sagt Leibniz zwar noch, daß Calvins Rede von Gott als causa mali „sich schwerlich entschuldigen lasse", aber in der „Theodizee" wird er von allen Angriffen auf die Position bestimmter „Reformierter", die nominalistischen Ursprungs ist, ausgenommen.

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basiert auf dem Grundsatz „stat pro ratione voluntas" (mein bloßer Wille dient mir als Grund).42 Aber dieser Grundsatz ist nach Leibniz der „Wahlspruch eines Tyrannen", der dem christlichen Gott nicht zugeschrieben werden darf, weil sonst „Gott kaum mehr vom Teufel" unterschieden werden kann. Wer wie einige Nominalisten, protestantische und katholische Theologen, annimmt, Gott könne mit absolutem Recht die Unschuldigen verdammen und tue es und die ohne Taufe gestorbenen Kinder fielen den ewigen Flammen anheim, der hat nach Leibniz nicht nur eine recht schwache Vorstellung von der Güte und Gerechtigkeit Gottes, sondern der „verletzt ... den Kern der Religion"43. Die Grundlage dieser falschen Gottesvorstellung ist aber die Ansicht, daß im Bereich des Moralischen eine Analogie der Begriffe bestehe, so als ob Gottes Gerechtigkeit und Güte ganz anderen Regeln unterliege als die entsprechenden Eigenschaften des Menschen. Die Leibnizsche Kritik zielt in ihrem Kern auf diesen entscheidenden Punkt in der traditionellen Gottesvorstellung. Wenn die Rede von der Gerechtigkeit und Güte Gottes einen verbindlichen Sinn haben soll, dann muß der Grund dieser Rede, eben das Wesen der Gerechtigkeit selbst, „Gott und dem Menschen gemeinsam sein". Es kann zwar keinem Zweifel unterliegen, daß es beträchtliche Unterschiede zwischen der vollkommenen Gerechtigkeit Gottes und der unvollkommenen des Menschen gibt, aber „dieser Unterschied ist nur ein gradueller"44. Im Reich der Freiheit oder der Gnade kann es Stufen der Freiheit geben, aber kein prinzipiell oder qualitativ Verschiedenes, das noch frei oder gerecht genannt werden könnte. Bezeichnenderweise wird in diesem Zusammenhang auch öfter auf das Abrahamsopfer als Beispiel für die nominalistische Herausforderung eingegangen. Nach Herbert of Cherbury hätte Abraham als einer, der seine moralischen Urteile von der Vernunft leiten läßt, wissen müssen, daß Mord den Gesetzen Gottes und der Natur widerspricht, so daß der Deus Optimus Maximus niemals der Urheber eines solchen Befehls sein kann und „diese Stimme eher von einem bösen Geist als von Gott kommt". 45 Noch schärfer hat Thomas Morgan die nominalistische Po-

42 Vgl. Unvorgreiffliches Bedencken ... Grua I 433; Theodizee II 182, Gerhardt VI 223. 43 Vgl. das wohl aus der Zeit um 1705 entstanden Fragment der Schrift „Meditationes sur la notion commune de la justice", abgedruckt (ins Deutsche übersetzt) in: G. W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, hg. v. E. Cassirer, Hamburg 1966, Bd. II 506-516, Zitate: 507. 44 Ebd. 45 Herbert of Cherbury, Dialogue between a tutor and his pupil, London 1762, 77f.

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sition, die er bei seinem Lehrer, S. Clark, vorfand, kritisiert. Wenn man annehmen will, Gott habe Abraham den Befehl erteilt, seinen Sohn zu opfern, und es ihm möglich sei, das Natur- und Sittengesetz zu suspendieren, dann wird das gesamte System der Natur und des Handelns erschüttert, dann gibt es kein Recht und Unrecht, kein moralisch Gutes oder Böses mehr für den menschlichen Willen, sondern dies würde erst festgelegt „by mere arbitrary Will and Pleasure". In Deutschland hat Reimarus die deistischen Gedanken verbreitet und mit Blick auf das Beispiel des Abrahamsopfers die absolute und uneingeschränkte Geltung des natürlichen Sittengesetzes gegen die nominalistischen Zumutungen an ein religiöses Bewußtsein eingeklagt. Kant hat die deistisch-aufklärerische Deutung der Geschichte vom Abrahamsopfer in seiner Schrift „Der Streit der Fakultäten" übernommen. 46 Doch hier geht es nicht um eine einheitliche Auslegung einer alttestamentlichen Geschichte. Was im Hintergrund als strittig erscheint, ist nichts Geringeres als das Wesen des Sittlichen selbst. Gegen jene nominalistische Strömung, die die absolute Macht Gottes als den möglichen Einbruch des ganz Anderen in unsere sittliche Welt ansieht, stellt die neuzeitliche Philosophie in der Gestalt der Aufklärung die These auf, daß der Anspruch des Sittlichen absolut, universal und univok ist. Bei Kant kommt diese Grundidee in seiner Konzeption des moralischen Gesetzes zum Ausdruck, das Allgemeingültigkeit für jeden Willen beansprucht und somit Gott und Menschen gemeinsam ist. Selbst noch in H. M. Chalybäus' Theorie von der göttlichen, positiven Liebe im Sinne vollendeter Freiheit wird deutlich, daß sie gegen die nominalistische Lehre von der „absoluten Macht" gerichtet ist.47 So kann es keinen Zweifel geben: Die neuzeitliche Lehre vom allumfassenden, univoken und absoluten Anspruch des Sittlichen hat sich als Kritik an der nominalistischen Vorstellung von der „absoluten Macht" Gottes etabliert. Die Univozität des Moralischen, in deren Konsequenz es liegt, daß alle Glieder des Reiches der Freiheit sich als freie Personen gegenseitig annehmen und wertschätzen, ist aber die notwendige Voraussetzung für das, was wir hier Intersubjektivität genannt haben. Auch die intersubjektive Beziehung zwischen Gott und Mensch ist nur unter dieser Voraussetzung denkbar. Sie ist mit den Mitteln der aristotelischen Philosophie nicht angemessen verstehbar. Denn Aristoteles und die antike Philosophie wußten 4 6 Zur Geschichte der Deutung des Abrahamsopfers vgl. Th. Kobusch, Paradoxon und religiöse Existenz, in: Das Paradox. Historisch-systematischer Problemaufriß, hg. v. P. Geyer/R. Hagenbüchle, Tübingen 1992, 4 5 5 - 4 8 0 , hier 4 6 2 - 4 6 4 . 4 7 System § 2 1 , 1 , 76.

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nicht, daß jeder Mensch „Person" ist, und das bedeutet in der Sprache der neuzeitlichen Philosophie: Wesen der Freiheit.48 Erst in der neuzeitlichen und namentlich in der Leibnizschen Philosophie kam zum Bewußtsein, daß das Verhältnis Gottes zu freien Personen ein anderes ist als das zur übrigen Schöpfung. Nach Leibniz ist Gott für die materiellen Substanzen in der Tat das, was die aristotelische Tradition immer lehrte: die gemeinsame Ursache aller Wesen. In bezug auf die Geister aber, d.h. auch die Personen - und das ist eine Kritik an der Einseitigkeit der aristotelisch-nominalistischen Gotteslehre - müssen wir Gott „mit Willen und moralischen Eigenschaften begabt denken, da er ja selbst ein Geist ist und gleichsam unseresgleichen, ja mit uns in eine Gemeinschaft eintritt, deren Oberhaupt er ist." 49 Der Gedanke von der ontologischen Verschiedenheit der Personenwelt gegenüber der Dingwelt ist auch die Grundlage der Philosophie des H. M. Chalybäus. Durch sie wird bewußt gemacht, daß „sich der Begriff der Freiheit in dem der Person hypostasiert, oder Freiheit nur als Persönlichkeit und nur die Person frei ist". 50 In diesem Sinne ist aber die gesamte spekulative Ethik - im Unterschied zur Hegeischen Rechtsphilosophie - eine Lehre von der Persönlichkeit, insofern sie frei ist, auch gegenüber Gott. So hat der spekulative Theismus nicht ohne Grund die Entdeckung des Begriffs der Persönlichkeit als den großen Fortschritt der neuesten Philosophie angesehen, weil sie sich durch ihn als „Vernunftsystem zum Wesen der Freiheit erweitert" und das Christentum zu sich selbst gebracht habe. Man kann hinzufügen, daß es eigentlich auch die - im Mittelalter zwar vorbereitete, aber erst in der Neuzeit vollzogene - Entdeckung der Person war, die einen angemessenen Begriff der Intersubjektivität zu entwickeln ermöglichte.

4 8 In meinem Buch: Die Entdeckung der Person habe ich diese besondere Bedeutung des Personbegriffs und seine Geschichte herauszuarbeiten versucht. 4 9 Zu Leibniz* Personlehre vgl. Th. Kobusch, Person und Subjektivität. Die Metaphysik der Freiheit und der moderne Subjektivitätsgedanke, in: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, hg. v. R. L. Fetz/R. Hagenbüchle/P. Schulz, Berlin. New York 1998, 743-761, hier 7 5 0 - 7 5 4 . 50 System § 4 2 , 1 150.

Statement zu den Vorträgen von Walter Schweidler und Theo Kobusch REINER WIMMER

1. Zu Walter Schweidler: Wenn ich Schweidler richtig verstehe, möchte er Wittgensteins Vorwurf positiv wenden, dass die Metaphysik die Grenzen des Sagbaren überschreite und deshalb zu Unsinn führe, und zwar unter Bezugnahme auf das Scheitern der neopositivistischen Suche nach einem empirischen Kriterium für die Unterscheidung von sinnvollen und sinnlosen Aussagen. Außerdem möchte Schweidler die Unvermeidlichkeit metaphysischer Implikationen wissenschaftlicher, näherhin «öi«rwissenschaftlicher Theorien behaupten. Dazu dient ihm ein sog. ,paradoxer' Begriff der Metaphysik. Zu fragen ist u.a., worin die Paradoxalität dieses Begriffs und worin jene metaphysischen Implikationen des modernen Naturwissenschaftsbegriffs eigentlich bestehen sollen. Zu fragen ist weiterhin nach dem von Schweidler unterstellten Verhältnis von Philosophie und Metaphysik; denn er unterscheidet beide und setzt auch sie in ein Verhältnis der Paradoxie zueinander. Worin besteht dieser angebliche Unterschied und was heißt es, dass Philosophie und Metaphysik in einem paradoxen Verhältnis zueinander stehen? Der Begriff der Paradoxie ist erläuterungsbedürftig. Des Weiteren erscheint mir der Begriff der Grenze bzw. der Gebrauch, den Schweidler von diesem Begriff zu machen versucht, klärungsbedürftig. Wie ist die Grenze zwischen dem Sagbaren und Unsagbaren anwesend? Schweidler betont sowohl ihre Bewusstheit als auch ihre Unbewusstheit. Wie ist das zu verstehen? Wie kommt diese Grenze zustande? Für Schweidler konstituiert sich diese Grenze durch ihre Anerkennung! Aber diese Auskunft lässt die Grenze als nichts Vorgegebenes, sondern als etwas vom einzelnen Subjekt Abhängiges erscheinen. Ist die Grenze nicht - nach Wittgensteins Ausdrucksweise im Tractatus - „transzendental", d.h. all unserem Denken und sinnvollen Sprechen vorgängig und deshalb in solchem Denken und Sprechen nicht fassbar, nicht objektivierbar?

Statement zu den Vorträgen von W. Schweidler und T. Kobusch

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Schließlich scheint mir, dass zwischen Sinnkriterien und verifikationistischen Entscheidungskriterien zu unterscheiden ist: Mit Sinnkriterien wird über die Bedeutung von Ausdrücken entschieden (,Bedeutung' im Sinne des engl.,sense'); mit Verifikationsverfahren über die Wahrheit von Sätzen oder Theorien, wobei ihre Sinnhaftigkeit schon vorausgesetzt oder unterstellt ist. Zum zweiten und dritten Teil von Schweidlers Vortrag habe ich generell das Problem, dass nicht eigentlich vom Wissenschaftsbegriff ausgegangen wird, um dessen angebliche metaphysische Implikationen es gehen soll, sondern von ideologischen oder weltanschaulichen Weiterungen oder auch Reduktionen und Reduktionismen, die aus den Naturwissenschaften selbst kommen oder von außen an sie herangetragen werden und die dann natürlich leicht als schlechte Metaphysik zu identifizieren sind, so etwa im neopositivistischen Physikalismus oder im gegenwärtig virulenten Biologismus oder Evolutionismus, wie er am Schluss von Schweidlers Vortrag aufgenommen wird. Hier hat die Wissenschaft selbst - meinethalben zusammen mit Philosophie und kritischer, also unideologischer Wissenschaftstheorie - eine ideologie- und metaphysikkritische Aufgabe. Dass auch die Wissenschaftstheorie selber ideologisch werden kann, hat uns der Neopositivismus vorgeführt. Und wenn Schweidler zustimmend Carnap zitiert, der schon 1933 eingeräumt habe, dass es die Wissenschaft nicht gebe, sondern nur die Wissenschaft unseres Kulturkreises, die zu dieser oder jener Zeit an diesem oder jenem Ort aufgetreten sei, so ist dies natürlich in einem Sinne trivial, in anderem Sinne - unter Missachtung der immer noch nützlichen Unterscheidung Reichenbachs zwischen Entdeckungs- und Begründungszusammenhang eines Satzes oder einer Theorie - führt diese Aussage in einen Relativismus, der Wahrheitsansprüche mit einem Zeitindex versieht, Wahrheit also für wandelbar hält und damit den uns geläufigen Wahrheitsbegriff und so auch unseren üblichen Wissenschaftsbegriff aufgibt. Schweidler möchte aber Nietzsches Vergeschichtlichung der Perspektiven der Wissenschaften und der Metaphysik mitmachen und spricht von ihrer „geschichtlichen und kulturellen Relativierung" (S. 176). Hier liegt eine Zweideutigkeit vor, die behoben werden sollte. Schweidler scheint grundsätzlich das neopositivistische Programm einer Einheitswissenschaft zu bejahen. Einheit sei das, was sie suche. Andererseits konstatiert er, dass das physikalistische Paradigma sich nicht etablieren ließ. In diesem Zusammenhang zitiert er von Neurath: „Der Physikalismus ist die Form, in der unser Zeitalter Einheitswissenschaft betreibt" (ebd.). Obwohl Schweidler auch diese Aussage von Neuraths im Sinne besagter „geschichtlicher und kultureller Relati-

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vierung" versteht und obwohl er das Scheitern des neopositivistischen Programms einer Einheitswissenschaft gesteht, macht er sich daran, „die metaphysischen Implikationen einer solchen geschichtlich-kulturell umgrenzten Zeitgestalt" herauszuarbeiten (ebd.). Ich kann ein solches Unternehmen nur als nutzlos ansehen, zumal es dabei ja, wie gesagt, gar nicht um die Erhebung angeblicher metaphysischer Implikationen einer Wissenschaft geht, sondern einer verfehlten Theorie der Naturwissenschaften bzw. einer verfehlten Programmatik für eine solche Theorie. Schweidler meint aber, dass verfehlte Metaphysik sich bei der Naturwissenschaft erst dort einstelle, wo sie ihre eigene Geschichtlichkeit oder Kontextgebundenheit ignoriere. Er resümiert: „Metaphysische Implikationen sind der Reflex der realitätsstiftenden Kraft solcher sich als produktives Selbstmissverständnis' vollziehender Ablenkungsprozesse" (ebd.). Verborgen bleibt mir, worin das Produktive solcher Selbstmissverständnisse bestehen soll, wenn es sich doch hier - ζ. B. im Festhalten am Wahrheitsbegriff für wissenschaftliche Aussagen und Theorien - um schlechte Metaphysik handeln soll. Unklar ist mir auch geblieben, worin der angebliche Universalismus und der angebliche Reduktionismus des Hempel-Oppenheim-Schemas der wissenschaftlichen Erklärung besteht. Sein Universalismus wird mit dem einheitswissenschaftlichen Programm in Verbindung gebracht und dieses seinerseits mit Kosmologie, mit Entwürfen, die Einheit unseres Universums darzustellen und eventuell auch zu erklären. Schweidler sagt: „Unsere Überzeugung [...] von der Einzigkeit des Weltganzen ist [...] ein Reflex des Universalanspruchs gesetzlich strukturierter Naturerkenntnis" (S. 178 ). Meines Erachtens haben wir aber schon alltagsweltlich die Begriffe von der Einheit und Einzigkeit und Ganzheit der Welt. Die Welt ist in diesem Sinne der Inbegriff all dessen, was wir m ihr erfahren können und dann auch zu erklären unternehmen können. Das Wort ,Welt' ist in dieser Verwendung ein Grenzbegriff, kantisch gesprochen: eine transzendentale Idee. Als solche lässt die Welt sich - entgegen Schweidlers Annahme - nicht vergegenständlichen und wissenschaftlich erforschen, weil sie ja den transzendentalen Rahmen abgibt für die Möglichkeit der Erforschung von Sachverhalten in ihr. Das Wort ,Welt' kann natürlich auch andere Bedeutungen haben: die Welt der Bienen, die Welt der Griechen, die Welt der Renaissance, das Weltall als physikalische Gegebenheit - all diese Welten lassen sich natürlich erforschen. Dieser Weltbegriff ist aber kategorial verschieden von dem transzendentalen Weltbegriff Kants und auch Wittgensteins und unserer Lebenswelt. - Auf die Frage nach der Möglichkeit einer physikalischen oder einer philosophischen Kosmologie gehe ich nicht näher ein, weil dazu schon Klärendes in der Debatte über die Vorträge von Kaufmann und Runggaldier gesagt wurde.

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Den Reduktionismus bestimmt Schweidler als „das Programm der weitestmöglichen Zurückfiihrung wissenschaftlicher Ausdrücke auf eine einheitliche Basis" (S. 178). Diese Basis wird im neopositivistischen Programm zunächst als Beobachtungsebene bestimmt, später um die Ebene der theoretischen Begriffe ergänzt. Ich sehe nicht, ob das so bestimmte reduktionistische Programm kritikbedürftig ist - es hängt ja alles ab vom Verständnis des Wortes „weitestmöglich" in der Formulierung „weitestmögliche Zurückführung". Das kann ganz unschuldig gemeint sein im Sinne einer empirisch und begrifflich soliden Verallgemeinerung von Aussagen auf Gesetze oder Theorien oder von Theorien auf grundlegendere Theorien; es kann aber auch die Grenze des hier Zulässigen überschreiten und dann natürlich schlechte Metaphysik erzeugen, etwa in den im Verlauf der Diskussion mehrfach angesprochenen naturalistischen Theorien menschlichen Verhaltens; und in diesem kritischen, pejorativen Sinne wird das Wort ,Reduktionismus' in der philosophischen Debatte gewöhnlich verwandt, oft als Schimpfwort, manchmal auch ungerechtfertigt von Leuten, die den durch ihr spezifisches Formalobjekt wohlbestimmten und wohl eingeschränkten Beschreibungs- und Erklärungsanspruch einer Wissenschaft nicht sehen und akzeptieren wollen. Solche Leute argwöhnen dann metaphysische Implikationen, wo keine sind. - Wenig später spricht Schweidler von der Möglichkeit „der Reduktion einer Theorie auf eine ihr überlegene" (S. 179). Auch dies eine Verwendung des Ausdrucks ,Reduktion', der ganz unschuldig ist und keinerlei metaphysische Implikationen enthält. Wenn man die kategorialen Differenzen zwischen den verschiedenen Weltbegriffen in Rechnung stellt, entfällt meines Erachtens die Paradoxic im Selbstverständnis der Wissenschaft, als ob sie die Grenze der Welt zu überschreiten gezwungen wäre, wenn sie sich doch nur in den Grenzen der Welt - jedenfalls gemäß dem transzendentalen Verständnis dieses Ausdrucks - bewegen kann, welche Grenzen von ihr gar nicht reflektiert oder überschritten werden können und sie deshalb in rechtem Verständnis ihrer selbst auch keine faulen metaphysischen Früchte zeitigt. Mit all dem ist das, was Wittgenstein meint, wenn er davon spricht, dass sich im metaphysischen Unsinn etwas zeigt, was ernst genommen werden muss, noch gar nicht berührt. Wenn Wittgenstein sich selbst dazu ermuntert, Unsinn zu reden und auf diesen Unsinn zu lauschen, dann meint er nicht den schlecht blühenden Unsinn von Metaphysikern, die die Wissenschaften missverstehen, sondern den herrlich blühenden Unsinn von Menschen, die sich mit dem Alltagsverständnis des Lebens und mit den wissenschaftlichen Beschreibungen und Erklärungen nicht zufrieden geben (können), sondern die Welt und sich selbst in einem

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metaphorisch verstandenen, ungegenständlichen Jenseits', eben im Göttlichen gegründet wissen oder gegründet glauben. Es gibt also zweierlei Unsinn in Wittgensteins Verständnis: uninteressanten Unsinn und Unsinn, der existenziell interessiert, weil er auf höchsten Sinn verweist, der freilich weder in menschliche Erfahrung noch in menschliche Sprache gefasst werden kann. Ich bin ausführlicher auf Schweidlers Vortrag eingegangen, weil er mir viel Kritikwürdiges zu enthalten scheint. Ich kann mich in Bezug auf Kobuschs Vortrag glücklicherweise kürzer fassen.

2. Zu Theo Kobusch: Kobusch hält Hegels Philosophie des Absoluten - einerseits gegen die Aufklärungsphilosophie und andererseits gegen Kant gerichtet, der weder Gottes Dasein noch sein Wesen zu erkennen für möglich hält mit dem Geist der Moderne für nicht mehr kompatibel, der von der Erfahrung der Flüchtigkeit kultureller Werte und Erscheinungen imprägniert sei. In den systematischen Teilen seines Vortrags zum Prinzip der Freiheit knüpft Kobusch aber an Hegel und sein Freiheitsverständnis an, um es - in anthropologisch-handlungstheoretischer Abzweckung gegen das banale, aber lebensweltlich verbreitete Verständnis der Freiheit als Willkür und um es - in theologischer Abzweckung - gegen das aristotelisch-scholastische Verständnis der Freiheit Gottes als absolute Unabhängigkeit und Unbezüglichkeit zur Schöpfung zu wenden. Dieses Freiheitsverständnis nennt Kobusch „kommunikativ", weil es sich nicht - ich greife eine gängige Fassung des Begriffs auf - als Freiheit-von, sondern als Freiheit-für, und zwar präzise als Freiheit-für-andere-Freiheit, begreift. Es nimmt die Freiheit des anderen nicht als äußere Grenze, sondern als innere Wesensbestimmung in sich auf. Mit Kobuschs Worten gesagt: „Das ist die große These dieser Metaphysik des Willens" - nämlich der Hegels - , „dass wahre Freiheit nur da wirklich werden kann, w o Freiheit als allgemeiner Inhalt, d.h. w o Freiheit für alle gewollt wird. Wer sagt, dass das Recht, die allgemeinen Gesetze, die sittlichen Normen sein Wollen beschränke, der meint das Wollen der Willkür, die in der Tat dadurch eingeschränkt wird, aber nicht die Freiheit, die durch das Wollen dieses allgemeinen Inhalts gerade erst realisiert wird" (S. 192; Hervorhebungen von mir, R.W.). (Eine philosophiegeschichtlich-interpretatorische Nebenbemerkung: M i r scheint, dass das hier Gemeinte auch Kant in seinem berühmten Grundprinzip des Rechts formuliert, wenn er sagt: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines

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jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann", womit Kant das Recht bestimmt als den „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann" (Metaphysik der Sitten, Rechtslehre Β 33 = Akad. Ausg. VI 230). Vorausgesetzt ist für dieses Verständnis allerdings, dass das Rechtsprinzip als - wie Kant ja auch will - moralisches Prinzip, als moralisch begründeter kategorischer Imperativ aufgefasst wird (vgl. ebd. Β 25 f. = Akad. Ausg. VI 225 f.); denn dann wird die Freiheit des anderen in ihrem Selbstzweckcharakter in den Willen aufgenommen und die wechselseitige Begrenzung der Handlungsmöglichkeiten als zu vernünftiger Freiheit gehörig innerlich bejaht.) Jenes bei Hegel aufgefundene und mit ihm auf das Christentum zurückgeführte Freiheitsverständnis nennt Kobusch „modern". Wir hätten es dann hier mit einem Bestand zu tun, der entgegen einer üblichen und anscheinend auch von Kobusch - jedenfalls zu Beginn seines Vortrage - geteilten Auffassung von der Moderne, in der - mit Nietzsche gesprochen - alle absoluten Werte obsolet geworden sind, dieser Entwertung nicht verfällt. Und wo ihm zuvor Hegels Philosophie des Absoluten, die erneut ein menschliches Wissen von Gott in Anspruch nahm oder jedenfalls in Aussicht stellte, als mit dem Geist der Moderne nicht mehr vereinbar erschien, möchte er nun doch Hegels Konzept der kommunikativen Freiheit auch für den theologischen Bereich übernehmen bzw. es als angemessenen Ausdruck des Verhältnisses Gottes zum Menschen verstehen. Wenn wir aber den Schritt in die Theologie, also in die Gotteserkenntnis trotz aller modernen Skepsis machen (oder wenn wir uns nicht als Philosophen, sondern als Gläubige betrachten und verstehen wollen, was wir glauben: fides quaerens intellectum - und ich selbst bin bereit, auf diese oder jene Weise hier mitzugehen), müssen wir dann nicht gerade Gottes Freiheit (und Gottes Liebe, so wie Kobusch den Begriff der Liebe mit dem der Freiheit verbindet) anders und neu meinethalben auch abgründig - denken, weil Gott ja in absoluter Freiheit und Liebe den Menschen und damit seine Beziehung zu ihm selber schafft, in gerade durch nichts prä judizier bar er Spontaneität, in absolut souveräner und autarker Schaffensmächtigkeit? Spielt hier nicht der Begriff der göttlichen Autarkie und Souveränität doch eine bestimmende Rolle? Gott handelt ja nicht aus Bedürftigkeit! Natürlich ist seine Liebe notwendig, wenn er geschaffen hat, unter der Voraussetzung, dass er geschaffen hat; er kann das von ihm Geschaffene nicht nicht lieben. Aber der patristische, der plotinische oder auch der hegelianische Gedanke einer (physisch oder moralisch oder sonstwie) notwendigen Hervorbringung der Welt und des Menschen durch Gott erscheint mir

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als ein im kritikwürdigen Sinne spekulativer Gedanke. Warum Gott die Welt geschaffen hat, können wir nicht begreifen. Als religiöse Antwort legen sich nur der Dank und der Preis nahe: Laudamus te, benedicimus te, adoramus te, gratias agimus tibi propter magnam gloriam tuam! Wir können auch nicht begreifen, warum uns Gott so geschaffen hat, wie er uns geschaffen hat: als leibliche, als sterbliche, als zum Bösen fähige Wesen. Auch die Theodizeeproblematik hat ja - nach der meiner Ansicht nach richtigen Erkenntnis Kants - keine rationale Lösung. Warum Gott die Welt schuf und warum er sie so schuf, wie er sie schuf, ist unserem endlichen Verstand nicht einsichtig. Jedenfalls führt die definitive Behauptung, die Schöpfung sei in Gottes Wesen begründet und folge notwendig aus ihm, in den (theologischen oder philosophischen) Rationalismus und hebt Gottes Freiheit und seine Unabhängigkeit von der Schöpfung auf.

Themenkreis IV: Die Gottesfrage in der Moderne

Nicht der Philosophen Gott? Denken Gottes zwischen Mythos und Metaphysik1 ULRICH H . J . KÖRTNER

Die neuzeitliche Metaphysik beginnt mit dem Abschied nehmenden Abstand gegen den christlichen Gott. Walter Schulz In memoriam Jörg Salaquarda (1938-1999)

1. Pascals Memorial „,Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs', nicht der Philosophen und Gelehrten." So beginnt das berühmte „Memorial" Blaise Pascals, die Aufzeichnung seiner in der Nacht des 2 3 . November 1 6 5 4 erlebten religiösen Ekstase 2 , in der er von jener Gewißheit des Glaubens überwältigt wurde, die ihm zur Antwort auf die Frage nach dem Grund des Seins und des Denkens wurde. „Gewißheit" ist das entscheidende Wort in diesem denkwürdigen Text. „Gewißheit, Gewißheit, Empfinden: Freude, Friede", lesen wir in der nächsten Zeile. Pascal ist durchdrungen von der freudigen Gewißheit, die Antwort auf die Frage nach dem Ursprung aller Dinge, von der Gewißheit, Gott gefunden zu haben. Aber dieser Gott ist nicht derjenige der Philosophen, sondern der „Gott Jesu Christi", wie es in der folgenden Zeile heißt. Dieser Gott möge, wie Pascal in Anspielung auf das Buch Ruth (1,16) erbittet, fortan auch sein Gott sein: „Deum meum et Deum vestrum. / ,Dein Gott wird mein Gott sein* - Ruth - / Vergessen von der Welt und von allem, außer Gott. / Nur auf den Wegen die das Evangelium lehrt, ist er zu finden." Allein auf diesen Wegen auch kann man den Gott Jesu Christi bzw. diesen selbst 1

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Erstveröffentlichung in: U.Körtner, Der verborgene Gott. Zur Gotteslehre, Neukirchen-Vluyn 2000, S.63-79. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages. Gleichsam als Überschrift steht in Großbuchstaben das Wort „Feuer"! Der Text wird im folgenden zitiert nach der Auswahledition von E.Wasmuth: B.Pascal, Gedanken. Eine Auswahl, übersetzt, hg. u. eingeh v. E.Wasmuth, Stuttgart 1956/ 1979, S.15f. Die Zählung der Fragmente folgt der Ausgabe der Fragmente von L.Brunschwicg. Vgl. auch die vollständige Übertragung der „Pensées" von E.Wasmuth, Heidelberg 5 1954.

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bewahren, wie es in symmetrischer Formulierung am Schluß des Memorial heißt. Zur Begründung führt Pascal zwei Zitate aus dem Johannesevangelium, genauer gesagt aus dem sogenannten hohepriesterlichen Gebet Jesu vor seiner Gefangennahme an. Zunächst zitiert er Joh 17,25: „Gerechter Vater, die Welt kennt dich nicht; ich aber kenne dich." Später folgt Joh 17,3: „Das ist aber das ewige Leben, daß sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen." Eingerahmt von diesen beiden Bibelworten wird nicht allein der Ausbruch ekstatischer Freude, sondern im unmittelbaren Anschluß ein Sündenbekenntnis: „ich habe mich von ihm getrennt. / Dereliquerunt me fontem aquae vivae. / ,Mein Gott, warum hast du mich verlassen.'" Möge ich nicht auf ewig von ihm geschieden sein." In diesem Sündenbekenntnis werden abermals zwei Bibelstellen zitiert, nämlich Jer 2,13 und der Vers Ps 22,2, der in Mk 15,34 Jesus am Kreuz in den Mund gelegt wird. Diesen ruft Pascal zweimal an, abermals seine Sünde bekennend: „Jesus Christus! / Jesus Christus! / Ich habe mich von ihm getrennt, ich habe ihn geflohen, mich losgesagt von ihm, ihn gekreuzigt. / Möge ich nie von ihm geschieden sein." Fassen wir die Aussagen dieses Textes nochmals zusammen. Es handelt sich um ein Bekenntnis, um assertorische und konfessorische Sätze, die Pascal in jener denkwürdigen Nacht niedergeschrieben hat. Der wahre Gott ist nicht der Gott der Philosophen, sondern der biblisch bezeugte Gott Israels, der Gott Jesu Christi. Wer ihn finden will, muß dem Weg folgen, den das Evangelium, die Christusbotschaft des Neuen Testamentes weist. Diesen Gott kann nur finden, wer von ihm gefunden und überwunden wird, d.h. nur durch Buße und Bekehrung hindurch, die auch die Sprache einschließt. Sowenig der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs der Gott der Philosophen ist, so wenig läßt sich von ihm in der Sprache der Philosophen, d.h. aber in der Sprache der Metaphysik reden. Nicht nur der Mensch und seine Seele3, sondern auch das Denken und die Sprache müssen offenbar neu geboren werden. Vom Gott Jesu Christi kann man angemessen nur reden, wenn die Sprache der Bibel zur eigenen wird, wie es in Pascals applikativer Verwendung von Bibelzitaten der Fall ist, nicht in der Sprache der Philosophen und ihrer Metaphysik. Andernfalls entzieht sich Gott, so daß sich die Erfahrung seiner Abwesenheit einstellt. Pascal scheint einen Weg zu weisen aus der neuzeitlichen Krise der Metaphysik, von welcher die Theologie an ihrem Nerv getroffen ist. Die von ihm aufgestellte Alternative zwischen dem Gott der Philosophen und demjenigen der Bibel ist ein durchgängiges Motiv theologischer Metaphysikkritik in der Moderne. Namentlich die sogenannte dialektische

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Theologie hat im 20. Jahrhundert jede Möglichkeit einer philosophischen Theologie heftig bestritten. Für ihre schroffe Ablehnung jeder Form von „natürlicher Theologie" haben sich ihre Vertreter neben Pascal vor allem auf Kierkegaard, Nietzsche und Heidegger berufen, wobei die beiden letztgenannten gerade nicht wie erstere als Apologeten des Christentums, sondern aus der Ablehnung oder mindestens Distanz zu demselben die Tradition philosophischer Theologie als Inbegriff jeglicher Metaphysik kritisiert haben. Im Kontext moderner Metaphysikkritik ist sodann die Theologie der Reformatoren, vor allem die Aristoteleskritik Luthers neu interpretiert und angeeignet worden. Dementsprechend wird die Theologiegeschichte im Banne einer aus vorchristlicher Philosophie erwachsenen Metapyhsik als Irrweg kritisiert, auch wenn dabei die Möglichkeit, den Gott der Bibel und sein Wirken in philosophischen Begriffen zu fassen, nicht immer gänzlich bestritten wird. Die Alternative zwischen dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs und dem Gott der Philosophen kann freilich erkenntnistheoretisch zur vermeintlich historisch nachweisbaren Entgegensetzung von griechischem und hebräischem Denken gesteigert werden.4 Solch eine Antithese führt freilich zu einer billigen Apologetik des Christentums, welche weder dem Problemstand innerhalb der neuzeitlichen Philosophie wie in den Anfängen der dialektischen Theologie noch dem Denken Pascals gerecht wird. Letzterer fungiert nicht selten als bloßer Stichwortgeber für den allzu bequemen Versuch der Selbstimmunisierung der Theologie gegen die Einwände der modernen Religionskritik, als werde von dieser die Tradition philosophischer Theologie und nicht etwa gerade der von Pascal verteidigte Gott der Bibel getroffen. Dabei korrespondiert Pascals Kritik philosophischer Theologie streckenweise einem massiven kirchlichen Positivismus, der zur Zielscheibe moderner Religionskritik geworden ist. Auch wenn es gute Gründe gibt, das Verhältnis zwischen Theologie und Philosophie weniger unter dem Gesichtspunkt der Konvergenzen als demjenigen des Konfliktes zu betrachten5, so ist doch der notwendige Streit, d.h. die fruchtbare Auseinandersetzung etwas anderes als sich auf Pascal berufende Ablehnung oder gar Diffamierung, die sich am Ende die ernst3 4

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In der Zeile vor dem Zitat aus Joh 17,25 stehen die Worte: „Größe der menschlichen Seele". Dagegen wendet sich z.B. W.Pannenberg, Wahrheit, Gewißheit und Glaube, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie (GAufs II), Göttingen 1980, S.226264. Stark in diese Richtung plädiert z.B. O.Bayer, der die Theologie unter Berufung auf Luther ganz allgemein als „Konfliktwissenschaft" charakterisiert. Vgl. O.Bayer, Theologie (HST 1), Gütersloh 1994, S.505.

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hafte Beschäftigung mit der Philosophie glaubt ersparen zu können.6 Gleiches gilt für die grobschlächtige Entgegensetzung von hebräischbiblischem und griechisch-unbiblischem Denken, die dem komplexen historischen Befund im spätantiken Judentum und Urchristentum nicht gerecht wird, wie schon ein flüchtiger Blick auf Philo und die frühchristliche alexandrinische Theologie zeigt. Auch ist der Umstand nicht zu unterschätzen, daß nicht nur die später als Neues Testament kanonisierten Schriften des Urchristentums, sondern auch die für das spätantike Diasporajudentum maßgebliche Septuaginta auf griechisch geschrieben worden sind. Pascals Gegenüberstellung von biblischem Gott und Gott der Philosophen aber ist nichts weniger als der Versuch, den Streit zwischen christlicher Theologie und Philosophie um die Wirklichkeit Gottes friedlich beizulegen. Seine Glaubensentscheidung bzw. seine Bekehrung ist Ergebnis eines intensiven gedanklichen und existentiellen Ringens. Für E.Brunner sind Pascals „Pensées" „bis heute wohl das unerreichte Vorbild der Auseinandersetzung mit dem gebildeten Unglauben"7. Man muß aber wohl hinzufügen, daß sich die „Pensées" auch als Dokument eines Scheiterns lesen lassen. Markiert einerseits das „Memorial" das Ende von Pascals eigenem langen und doch vergeblichen Bemühen um eine philosophische Theologie8, so ist andererseits der in den „Pensées" unternommene Versuch, das Christentum gegenüber der neuzeitlichen Philosophie zu verteidigen, „ein Torso geblieben"9. Gerade weil Pascals Werk als ein Höhepunkt in der Geschichte der christlichen Apologetik gelten kann, verschärft die „Zweideutigkeit" seines Denkens, die darin besteht, einmal mehr die Wahrheit und Wirklichkeit des zu Beweisenden schon vorauszusetzen10, die Aporien nicht nur jeder philosophischen Theologie sondern auch der neuzeitlichen christlichen Theologie. Nochmals anders stellt sich die Lage für P.Tillich dar, der seine ausdrücklich als apologetisch bezeichnete Theologie von Pascals Versuch 6

Vgl. auch EJiingel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 4 1 9 8 2 , S.XIV. 7 E.Brunner, Die christliche Lehre von Gott. Dogmatik, Bd. 1, Z ü r i c h 2 1 9 5 3 , S.108. 8 Vgl. W.Weischedel, Der Abgrund der Endlichkeit und die Grenze der Philosophie. Versuch einer philosophischen Auslegung der „Pensées" des Blaise Pascal, in: ders., Wirklichkeit und Wirklichkeiten. Aufsätze und Vorträge, Berlin 1 9 6 0 , S.20-69. 9 F.Overbeck, Kirchenlexicon. Texte. Ausgewählte Artikel J-Z (Werke und Nachlaß, Bd.5), in Zusammenarbeit mit M.Stauffacher-Schaub hg. v. B.v.Reibnitz, Stuttgart 1 9 9 5 , S.203. 1 0 D.Korsch, Dialektische Theologie nach Karl Barth, Tübingen 1 9 9 6 , S.15ff.

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abgrenzt. Statt zwischen Philosophie und Theologie einen fundamentalen Konflikt zu sehen, behauptet Tillich, daß zwischen beiden eine Synthese möglich ist, bei welcher sie wie Frage und Antwort miteinander korrelieren. Bezeichnenderweise erklärt Tillich am Schluß seiner Abhandlung über „Biblische Religion und die Frage nach dem Sein": „Gegen Pascal sage ich: der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs und der Gott der Philosophen ist der gleiche Gott." 11 Bei solcher Identifikation stellt sich freilich die Frage nach Subjekt und Prädikat bzw. Interpretandum und Interpretament. Ist also der Gott Israels der Gott der Philosophen oder umgekehrt? Findet die philosophische Frage nach Gott, dem Göttlichen oder dem Absoluten im biblischen Gottes- und Offenbarungszeugnis ihre letztgültige Antwort, oder hat umgekehrt der Gott der Bibel lediglich als Konkretion eines universalen Gottesgedankens zu gelten, als partikulare und zugleich zweideutige Manifestation einer universal gültigen Idee? Die gestellten Fragen verkomplizieren sich, sobald die religionsgeschichtliche, die theologiegeschichtliche und die philosophiegeschichtliche Perspektive einbezogen wird. Dann ist nämlich zumindest zu fragen, ob es den Gott der Philosophen abseits seiner Identifikation mit dem Gott des jüdischen bzw. christlichen Monotheismus überhaupt gibt. Umgekehrt stellt sich die Frage nach der Eindeutigkeit der Rede von dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs und seiner Identität mit dem Gott Jesu Christi. Man denke nur an die Bestreitung ihrer Identität durch Markion. Auch zeigen Entwicklung und Kritik der christlichen Trinitätslehre, daß durch die Geschichte des Christentums und seiner Auseinandersetzung mindestens mit dem Judentum, aber auch mit dem Islam, die Gleichsetzung des Gottes Israels mit jenem des Trinitätsdogmas zunächst nur eine Behauptung ist, deren Wahrheit strittig bleibt. Tillichs Identifikation des Gottes der Bibel mit demjenigen der Philosophie bzw. seine Behauptung einer Konvergenz sieht sich sowohl theologischer als auch philosophischer Kritik ausgesetzt. Unter anderem von der Barth-Schule ist Tillich vorgehalten worden, die christliche Rede von Gott in Abhängigkeit von der Philosophie zu bringen.12 Genau gegenteilig hat W.Weischedel Tillich den Vorwurf gemacht, die Philosophie den Fragestellungen der Theologie und ihren unausgewie-

11 P.Tillich, Biblische Religion und die Frage nach dem Sein, in: ders., GW V, hg. v. R.Albrecht, Stuttgart 1964, S.138-184, hier S.184. 12 Zu verschiedenen Gruppen von Einwänden vgl. J.Track, Der theologische Ansatz Paul Tillichs. Eine wissenschaftstheoretische Untersuchung seiner „Systematischen Theologie", Göttingen 1975, S.376ff.

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senen, d.h. letztlich dogmatistischen Prämissen unterwerfen zu wollen.13 Letzteres trifft jedenfalls auf W.Pannenberg zu, welcher im Anschluß an Hegel erklärt, „daß Philosophie geschichtlich immer im Zusammenhang mit Religion stehe und die zuvor in der Religion in Erscheinung getretene Wahrheit auf den Begriff bringe."14 Auch wenn dies nie ohne kritische Wendung gegen die religiöse Tradition geschehe, könne es doch sein, „daß die Möglichkeit, philosophisch von ,Gott' zu reden, den Überstieg über die Vielheit der endlichen Gegebenheiten auf das absolute Eine hin also mit der Gottesvorstellung zu verbinden, an die Religion gebunden bleibt, ebenso wie auf der andern Seite der metaphysische .Gegenentwurf' zum alltäglichen Weltverständnis im,Grundverhältnis' von Ich und Welt nie vollständig dasjenige einzuholen vermag,,wovon es seinen Ausgang nimmt'." 15 Pannenbergs Gedankengang führt zu der doppelten Konsequenz, daß einerseits „der Gott" der Philosophen immer nur der Gott und die Götter der Religion sein können und daß andererseits keine Theologie ohne Metaphysik möglich ist. Folglich bestünde die theologische Aufgabe nicht darin, eine nachmetaphysische christliche Gotteslehre zu entwerfen, sondern im Gegenteil an der Erneuerung der philosophischen Metaphysik mitzuwirken, deren z.B. von Heidegger behauptetes Ende prinzipiell zu bestreiten sei. Auf philosophischer Seite hat sich zwar auch W.Weischedel gegen die Behauptung vom Ende jeglicher Metapyhsik gewehrt und das Recht einer philosophischen Theologie verteidigt. Mit Pannenberg trifft er sich darin, daß er selbst noch unter dem Vorzeichen des modernen Nihilismus vom „Vorrang der Metaphysik im Bereich des Philosophierens" ie überzeugt ist, der nicht dogmatisch behauptet werde, sondern sich ganz einfach aus der Richtung des philosophischen Fragens ergebe. Dieses gehe aber in „Richtung auf das Ganze in allen Teilbereichen und letztlich auf das Ganze überhaupt" 17 . Doch ist es nach Weischedel nun gerade dieses Fragen, welches selbst dazu führt, „das dogmatische Moment in der Metaphysik zu erschüttern"18, d.h. aber auch das Moment dogmatischer Setzungen, ohne welches eine christliche Gotteslehre gar nicht denkbar wäre. So unabweisbar nach Weischedel auch im Zeitalter des Nihilismus die Gottesfrage bleibt, so wenig kann nach seinem Verständnis der Gott der Philosophen, nämlich das Vonwoher radikaler 13 14 15 16 17 18

Vgl. W.Weischedel, Der Gott der Philosophen, Bd. 2, München 1979, S. 87ff. W.Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, Göttingen 1988, S.15. A.a.O. (Anm. 14), S.18. W.Weischedel, Der Gott der Philosophen, Bd.l, München 1979, S.23. Ebd. Ebd.

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Fraglichkeit, noch mit dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs identifiziert werden. Sie stehen zueinander in scharfer Antithese, die Weischedel entscheidend unter Hinweis auf die Gewißheitsproblematik begründet, die uns zu Pascals „Memorial" zurückführt. „Der Glaubende", so Weischedel, ist seines Gottes gewiß. [...] Anders steht es mit dem Philosophierenden. Er kennt keine Gewißheit, in der er fraglos ruhen könnte."19 Weil Philosophieren seinem Wesen nach „radikales Fragen" ist, „stehen Glauben und Philosophieren zueinander in einer wesensmäßigen Gegnerschaft. Unter allen nur möglichen Gesichtspunkten sind sie unvereinbar." 20 Die von Pascal aufgestellte Antithese erfährt also bei Weischedel ihre Bestätigung, freilich mit dem Unterschied, daß letzterer sich dezidiert für den Gott der Philosophen und gegen denjenigen des christlichen Glaubens entscheidet. Einen Schritt weiter geht W.MüllerLauter, der in Zweifel gezogen hat, daß man auf dem von Weischedel eingeschlagenen Weg überhaupt noch zu einem Gottesbegriff gelangen kann, wenn man nicht am Ende doch wieder an einer unausgewiesenen dogmatischen bzw. metaphysischen Prämisse festhalten wolle.21 Das Dilemma neuzeitlicher Theologie besteht darin, daß sie in der abendländischen Metaphysik, von der sie sich zu befreien versucht, ihren eigenen Folgen und Aporien begegnet. Mit W.Schulz gesprochen entspringt die ganze neuzeitliche Metaphysik dem Christentum freilich, „indem sie es zu Ende denkt. Die neuzeitliche Metaphysik beginnt mit dem Abschied nehmenden Abstand gegen den christlichen Gott." 22 Gegen Tillich läßt sich folglich einwenden, daß der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs wohl einst der Gott der Philosophen war, es am Ende einer mit Descartes einsetzenden Entwicklung aber nicht mehr ist. Ob er es aber künftig noch einmal - wie Pannenberg erwartet - sein wird, läßt sich zumindest bezweifeln. Angesichts der verwirrenden Diskussionslage ist es angebracht, an den Ausgangspunkt zurückzukehren und nach Pascals Gründen für seine Gegenüberstellung des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs bzw. des Gottes Jesu Christi und des Philosophengottes zu fragen. 19 W.Weischedel, a.a.O. (Anm. 13), S.58. 2 0 Ebd. 21 W.Müller-Lauter, Zarathustras Schatten hat lange Beine, in: J.Salaquarda (Hg.), Philosophische Theologie im Schatten des Nihilismus, Berlin 1971, S.88-1Ì2. Siehe dazu in dem genannten Sammelband die Entgegnung von W.Weischedel, Von der Fragwürdigkeit einer philosophischen Theologie. Antwort auf einige Kritiker, a.a.O., S. 189-199, sowie J.Salaquarda, Metaphysik und Erfahrung, in: A.Schwatt (Hg.), Denken im Schatten des Nihilismus (FS W.Weischedel), Darmstadt 1975, S.4-25. 22 W.Schulz, Der Gott der neuzeitlichen Metaphysik, Pfullingen 4 1957, S.53.

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2. Auf der Suche nach dem verlorenen Gott Liest man Pascals Fragmente seiner Apologie des Christentums, die postum unter dem Titel „Pensées" veröffentlicht wurden, so erkennt man leicht, daß die im „Memorial" aufgestellte Alternative zwischen dem Gott Israels und demjenigen der Philosophen nicht einfach mit der Antithese von Glauben und Wissen bzw. Vernunft gleichgesetzt werden darf. Sie fällt auch nicht mit derjenigen zwischen Theologie und Philosophie bzw. Metaphysik zusammen, auch wenn Pascal im Anschluß an Paulus betont, daß die Weisheit Gottes oder des Glaubens der Welt als Torheit erscheinen muß. Das Verhältnis des Christentums zur Vernunft wird vielmehr dialektisch auf die Formel „Unterwerfung und Anwendung" gebracht.23 Gut thomistisch lehrt Pascal: „Der Glaube lehrt wohl, was die Sinne nicht lehren, aber niemals das Gegenteil dessen, was diese sehen. Er ist darüber, aber nicht dagegen."24 Die Gewißheit des Glaubens ist eine Sache dessen, was Pascal das Herz nennt. „Das Herz hat seine Ordnung, der Geist hat die seine, die besteht in Grundsätzen und Beweisen. Das Herz hat eine andere. Man beweist nicht, daß man uns lieben solle, durch geordnete Darlegung der Ursache der Liebe, das würde lächerlich sein."25 Das Herz im Sinne Pascals aber ist nicht im modernen Sinne mit Gefühl oder Intuition zu verwechseln, sondern die in der irreduziblen Subjektivität des Menschen erfahrbare Seinsordnung. Die Aussage über die Ordnung des Herzens ist nicht psychologisch, sondern ontologisch, d.h. aber metaphysisch gemeint.26 Daher kann Pascal auch sagen: „Wir erkennen die Wahrheit nicht nur [!] durch die Vernunft, sondern auch [!] durch das Herz" 27 , und hinzufügen: „in der Weise des letzteren kennen wir die ersten Prinzipien", mit denen die unbedingte Gewißheit der Existenz von Raum, Zeit, Bewegung und Zahlen gemeint ist.28 Freilich ist es allein „das Herz, das Gott spürt, und nicht die Vernunft. Das ist der Glaube: Gott spürbar im Herzen und nicht in der Vernunft." 29 Wenn nun Pascal die philosophische Rede von Gott kritisiert, so nicht darum, weil er es überhaupt ablehnen würde, von Gott in philo23 Frgm. 269. 24 Frgm. 265. Vgl. auch Frgm. 520: „Das [im Alten Testament offenbarte] Gesetz [Gottes] hat nicht die Natur aufgehoben, sondern die Natur belehrt; die Gnade hat nicht das Gesetz aufgehoben, sondern das Gesetz zur Ausübung gebracht." 25 Frgm. 30. 26 Vgl. E.Wasmuth, a.a.O. (Anm. 2), S.17. 27 Frgm. 282. 28 Ebd. 29 Frgm. 278.

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sophischen Begriffen zu sprechen, sondern deshalb, weil die Philosophie von der tatsächlichen Situation des Menschen vor Gott absieht, nämlich von seiner Sünde und seinem Elend. Auch lehnt es Pascal nicht grundsätzlich ab, die Wirklichkeit Gottes aus der Natur zu beweisen, wohl aber den Versuch philosophischer Theologie bzw. Metaphysik, dies gegenüber Ungläubigen zu tun. 30 Der Beweis Gottes aus der Natur kann den Glauben lediglich bestätigen, ihn aber nicht begründen. Abgesehen vom Glauben bleibt die Erkenntnis der Natur ambivalent und führt notwendigerweise in den Skeptizismus. Aufgrund der Sünde, genauer gesagt der Erbsünde, ist nämlich jede Verbindung mit Gott aufgehoben und Gott ein verborgener Gott. 31 Ohne die Gewißheit des Glaubens bleibt der Skeptizismus wahr, weil die Menschen ohne Christus weder in erkenntnistheoretischer noch in ethischer Hinsicht wissen, woran sie sind. 32 Die konkrete Situation des Menschen, seine Stellung im Kosmos und diese Feststellung ist wieder ontologisch gemeint - ist gekennzeichnet durch Größe und Elend. „Den Philosophen" - und dabei hat er vor allem die Stoiker und Epikureer, aber auch die Atheisten im Blick33 hält Pascal vor, vom Menschen kein Empfinden zu fordern, das beiden Seinslagen, seiner Größe wie seinem Elend, angemessen wäre. Dies tue allein das Christentum in angemessener Weise, insofern die Regung der Niedrigkeit als Reue, die Regung der Größe aber als Gnade, die auf das Durchschreiten der Niedrigkeit folge, miteinander verbunden würden. Das vorgläubige bzw. ungläubige Sein des Menschen ist freilich nicht auf undialektische Weise durch die gänzliche Abwesenheit Gottes gekennzeichnet, sondern durch ein zweideutiges Wissen um den Verlust Gottes, dessen wahre Ursache dem Menschen vor der Konfrontation mit dem Evangelium von Jesus Christus freilich verborgen bleibt; „denn die Natur ist derart, daß sie überall sowohl im Menschen als außerhalb des Menschen auf einen verlorenen Gott [un Dieu perdu] hinweist und auf eine verderbte Natur." 3 4 Sie „hat Vollkommenheiten, um zu zeigen, daß sie das Bild Gottes ist, und Fehler, um zu zeigen, daß sie nur das Bild 30 Vgl. Frgm. 242. 31 Frgm. 242. Die Wendung vom verborgenen Gott (Deus absconditus) hat Pascal Jes 45,15 (Vulgata) entnommen! Ihr Gebrauch bei Pascal ist von derjenigen bei Luther nochmals zu unterscheiden, der die Verborgenheit Gottes zwar einerseits christologisch, genauer gesagt kreuzestheologisch, andererseits aber in Verbindung mit Gottes Allmacht und Zorn bestimmt. Vgl. M.Luther, WA 18,116ff (De servo arbitrio, 1525). 32 Vgl. Frgm. 432. 33 Siehe z.B. Frgm. 365.465.556. 34 Frgm. 441.

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ist" 35 . Im Zustand des Unglaubens besteht wohl die Möglichkeit der Suche nach Gott bzw. einer negativen Theologie. Redlicherweise kann eine philosophische Theologie aber nicht über den Standpunkt des Skeptizismus hinausgelangen, den Pascal sogar als Mittel gegen den Dogmatismus einer philosophischen Theodizee empfiehlt.36 Der Umstand, daß der Mensch nach Gott bzw. nach dem Glück sucht, zeigt ihm, daß er etwas verloren hat, ohne zu wissen, worum genau es sich eigentlich handelt.37 Eine skeptische Philosophie muß die Frage nach Gott offenhalten.38 Seine Existenz definitiv zu leugnen wäre nicht weniger dogmatisch wie seine philosophische Behauptung: „fände ich gar nichts, was eine Gottheit zeigt, würde ich mich zur Verneinung entscheiden; sähe ich überall die Zeichen eines Schöpfers, so würde ich gläubig in Frieden ruhen. Da ich zu viel sehe, um zu leugnen, und zu wenig, um gewiß zu sein, bin ich beklagenswert"39. Zu positiven Aussagen über Gott aber ist die Philosophie grundsätzlich nicht fähig, da sie sich der Vernunft und nicht der Erkenntnis des Herzens bedient. Die Vernunft aber kann nur Endliches erfassen. „Wenn es einen Gott gibt, ist er unendlich unbegreifbar; da er weder Teile noch Grenzen hat, besteht zwischen ihm und uns keine Gemeinsamkeit. Also sind wir unfähig zu wissen, was er ist, noch ob er ist."40 Bestünde zwischen Gott und Mensch tatsächlich keine ontologische Gemeinsamkeit, stellte sich natürlich die Frage, wie der Mensch dann überhaupt Gott erfahren könnte. Offenbar liegt hier in der Argumentation Pascals eine gewisse Schwierigkeit. Der Aporie, daß in diesem Fall auch der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs nicht erfahrbar wäre, sucht Pascal dadurch zu entgehen, daß er das Herz als ontologische Möglichkeit der Gotteserfahrung bestimmt, deren Wirklichkeit aber ganz von der Selbstmitteilung Gottes abhängig macht. Die Denkfigur der Analogia entis wird also von der endlichen Vernunft auf das Herz als Organ der Liebe übertragen. Das von Gott angerührte Herz erkennt sehr wohl in der Natur das Abbild der Gnade und in den sichtbaren Wundern Abbilder der unsichtbaren.41 In der Folge wird der zunächst radikal gefaßte Gedanke des Verlustes bzw. der Verborgenheit Gottes, der nach Hegel

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Frgm. 580. Vgl. Frgm. 390. Vgl. auch Frgm. 820. Vgl. Frgm. 233: „Also kann man sehr wohl begreifen, daß es einen Gott gibt, ohne zu wissen, was er ist." 39 Frgm. 229. 40 Frgm. 233. 41 Vgl. Frgm. 675.

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denjenigen des Todes Gottes vorwegnimmt42, derart abgeschwächt, daß Gott nur zum Teil verborgen, zum Teil aber enthüllt ist.43 „Alles Wahrnehmbare zeigt weder völlige Abwesenheit noch eine offenbare Gegenwärtigkeit des Göttlichen, wohl aber die Gegenwart eines Gottes, der sich verbirgt." 44 Ist der sich enthüllende Gott nicht über die Reflexion der Vernunft zugänglich, so einzig über das historisch kontingente Zeugnis von seiner Selbstmitteilung, d.h. also über die Religion.45 Auf der Suche nach Gott sieht sich der Mensch freilich mit einer Vielzahl von Religionen konfrontiert, die einander zum Teil erheblich widersprechen. Gegenüber den Religionen vertritt Pascal nun keinen radikal skeptischen Standpunkt, wie er z.B. später in Lessings Ringparabel formuliert wird, sondern unterstellt im Sinne der Tradition, daß es sehr wohl eine und nur eine wahre Religion gibt. 4i Hierbei setzt er allerdings einen philosophischen Allgemeinbegriff von Religion voraus, welcher besagt: „Jede Religion ist falsch, die als Glauben nicht einen Gott als Urgrund aller Dinge verehrt und als Moral nicht einen einzigen Gott als Inhalt aller Dinge liebt." 47 Der Islam scheidet aufgrund innerer Widersprüche aus.48 So bleiben nach Pascal nur das Christentum und das ihm vorausgehende Judentum als mögliche Kandidaten übrig. Einzig das Christentum erfüllt schließlich alle Kriterien der wahren Religion, wogegen das Christus ablehnende Judentum den wahren Sinn seiner eigenen Überlieferung und seiner Geschichte verkenne.

42 Vgl. G. W.F.Hegel, Glauben und Wissen, GW 4, hg. v. H.Buchner u. O.Pöggeler, Hamburg 1968, S.413f. Zur Bedeutung des Pascal-Zitates für Hegel siehe einerseits Chr.Link, Hegels Wort „Gott selbst ist tot" (ThSt 114), Zürich 1974, S.37ff; andererseits E.Jüngel, a.a.O. (Anm. 6), S.87.94. Strittig ist zwischen beiden, ob die von Pascal als „Prophezeiung" auf Christus hin gedeutete Äußerung Plutarchs: „Der große Pan ist tot" (Frgm. 493) mit Pascals Rede vom verlorenen Gott in Zusammenhang zu bringen ist. M.E. ist nur an den Untergang der griechischen Religion als Folge des Christentums gedacht, die doch nicht mit dem Ende jeder Metapyhsik bzw. philosophischen Theologie gleichzusetzen ist. 43 Frgm. 586: „Gäbe es keine Dunkelheit, würde der Mensch seine Verderbtheit nicht empfinden; gäbe es kein Licht, würde der Mensch kein Heilmittel finden. Also ist es nicht nur gerecht, sondern auch nützlich für uns, daß Gott zum Teil verborgen, zum Teil enthüllt ist, da es für die Menschen gleich gefährlich ist, Gott zu kennen, ohne von ihrem Elend zu wissen, wie von ihrem Elend zu wissen, ohne Gott zu kennen." 44 Frgm. 556. 45 Frgm. 620. 46 Vgl. Frgm. 112. 47 Frgm. 487. 48 Frgm. 597.

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Für die Glaubwürdigkeit des vorchristlichen Judentums sprechen Pascal zufolge gewichtige äußere Indizien. Unter Berufung auf Josephus unterstellt er, daß Israel das älteste aller geschichtlich bekannten Völker sei, von einem einzigen Menschen abstamme, einen einzigen Gott anbete, von dem es ein in jeder Hinsicht bewunderungswürdiges Gesetz empfangen haben will, das als das älteste Gesetz der Welt gelten könne und der Gesetzgebung anderer Völker zum Vorbild gedient habe.49 In entsprechender Weise sucht Pascal auch den Beweis für die Glaubwürdigkeit des Evangeliums von Jesus Christus zu führen und seine Übereinstimmung mit der alttestamentlichen Religion aufzuzeigen. So sind der überzeugendste Beweis für Jesus Christus die alttestamentlichen Prophezeiungen, die durch ihn eindeutig erfüllt worden seien.50 Und eine christologische Lektüre des Alten Testamentes löse all seine vermeintlichen Widersprüche auf.51 Auch sonst argumentiert Pascal zum Teil sehr positivistisch, indem er sich auf „die unantastbare Autorität der Religion"52 beruft und im Zusammenhang mit seiner berühmten Wette an die Bereitschaft der Ungläubigen appelliert, sich auf die konkreten Vollzüge der institutionalisierten und gelebten Religion einzulassen in der Zuversicht, auf diesem Wege zu derselben Glaubensgewißheit vorzudringen wie diejenigen, die zuvor diesen Weg beschritten haben.53 Der Beweis des Geistes und der Kraft 54 , den Pascal zugunsten des Christentums führt, scheut sich nicht, auf die heilsame Macht religiöser Gewohnheit zu setzen.55 Pascals Gegenüberstellung des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs bzw. Jesu Christi und des Gottes der Philosophen bleibt folglich problematisch. Sie stützt sich auf vermeintlich historische Indizien, welche der modernen Geschichtsforschung nicht standhalten. Sofern bei solcher Beweisführung der transzendentale Ursprung und der vermeintlich historische Anfang miteinander verquickt werden, muß man von einem mythischen Geschichtsbild sprechen. Auch wird der Gegensatz zwischen dem biblischen Gott und demjenigen der Philosophie bzw. der Metaphysik abgeschwächt, wenn Pascal der philosophischen wie auch der jüdischen Theologie eine teilweise richtige Erkenntnis Gottes zugesteht: „Der Gott der Christen ist nicht einfach ein Gott als Urheber der geo49 Frgm. 619. 50 Frgm. 706. Die atl. Prophezeiungen sind für Pascal „zuverlässige und handgreifliche Beweise" (Frgm. 547). 51 Frgm. 684. 52 Frgm. 434. 53 Frgm. 233. 54 Vgl. I Kor 2,4. 55 Frgm. 252. Wittgenstein hat später in anderem Zusammenhang von „Abrichtung" gesprochen!

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metrischen Wahrheiten und der Ordnung der Elemente; das ist der Teil, den Heiden und Epikureer von ihm hatten. Er ist nicht nur ein Gott, der seine Vorsehung auf das Leben und die Güter der Menschen erstreckt, um denen, die ihn verehren, ein langes und glückliches Leben zu schenken; das ist der Anteil, den die Juden hatten. Sondern der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs, der Gott der Christen ist ein Gott der Liebe und des Trostes, ist ein Gott, der die Seele und das Herz derjenigen erfüllt, die er besitzt, ist ein Gott, der sie im Innern ihr Elend und seine unendliche Barmherzigkeit spüren läßt, der sich in der Tiefe ihrer Seele ihnen vereint und sie mit Demut, Freude, Vertrauen und Liebe erfüllt und sie unfähig macht, ein anderes Ziel zu haben als ihn." 5 6 Wenn auch die philosophische Theologie Gott im Entscheidenden verfehlt, so ist doch der Gott der Christen nach Pascal sehr wohl auch der Urheber und Ursprung aller Dinge, von denen Metaphysik und Naturwissenschaften handeln. Durchaus metaphysisch bzw. ontologisch ist die Feststellung Pascals zu verstehen, es sei „unmöglich, daß Gott das Ziel sei, wenn er nicht der Urgrund ist" 5 7 . Das Verhältnis zwischen christlicher Religion und Metaphysik ist bei Pascal offenbar ein metakritisches. 58 Einerseits operiert Pascal mit einem Allgemeinbegriff der wahren Religion, der metaphysische Voraussetzungen enthält. Andererseits wird die Wahrheit des Christentums und des neutestamentlichen Evangeliums immer schon bei ihm vorausgesetzt, so daß die übrigen Religionen von ihm aus der Kritik unterzogen werden. Einerseits wird jede philosophische Theologie oder Metaphysik, welche die Grenzen des Skeptizismus überschreitet, vom Standpunkt des Glaubens aus kritisiert. Andererseits aber bleibt die christliche Rede von Gott kritisch auf die Metaphysik und ihre für relativ wahr gehaltenen Elemente bezogen. Mindestens als negative Theologie bleibt die Metaphysik in Pascals Apologie des Christentums präsent. Seine Rede vom Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs bewegt sich spannungsvoll und aporetisch zwischen Mythos und Metaphysik. 3. T h e o l o g i e zwischen M y t h o s u n d M e t a p h y s i k Es scheint nun damit eine für die christliche Theologie grundlegende Ortsbestimmung erreicht zu sein, die auch unter neuzeitlichen Bedin56 Frgm. 556. 57 Frgm. 488. 58 Zum Begriff der Metakritik siehe J.G.Hamann, Metakritik über den Purismum der Vernunft (1784), in: ders., Sämtliche Werke III, hg. v. J.Nadler, Wien 1951, S.281-289, sowie im Anschluß daran O.Bayer, a.a.O. (Anm. 4), S.393 u.ö.

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gungen gültig bleibt.59 Allein schon indem sich der christliche Glaube wenn auch erst nach längerem Zögern - das pagan-griechische Wort θεολογία für seine denkerische Verantwortung des Glaubens an den Gott Israels und Jesu Christi übernommen hat, hat es sich auch auf die mit diesem Wort in der griechischen Philosophie verbundenen Fragestellungen eingelassen, sie freilich entscheidend modifiziert.60 Alle christliche Rede von Gott hat im Bekenntnis zur Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazareth ihren sachlichen Grund. Diese ist weder im Sinne einer Metamorphose des Göttlichen zu verstehen, wie es griechischer Mythologie entspräche, noch im Sinne eines bloßen Symbols für die seinem Wesen nach unwandelbare Gottheit. Der christologisch begründete Gedanke der Wandelbarkeit Gottes 61 verhält sich kritisch sowohl gegenüber der Metaphysik als auch gegenüber der Mythologie. Soll sich der biblisch bezeugte Gott, dessen Wirklichkeit primär dadurch zur Sprache zu bringen ist, das von ihm in Entsprechung zur biblischen Überlieferung erzählt wird, auch denken lassen, so bleibt christliche Theologie ebenso auf den metaphysikkritischen Mythos wie auf die mythenkritische Metaphysik bezogen. Spricht der Mythos von dem, was sich niemals wirklich ereignet hat und doch immer ist 62 , so das Evangelium von dem, was sich ein für allemal ereignet haben soll.63 Einerseits ist darum das Evangelium, wie es R.Bultmann genannt hat, zu entmythologisieren.64 Andererseits wird solche Entmythologisierung Elemente des Mythischen beibehalten müssen - und bei Bultmann ist dies in einer glücklichen Inkonsequenz der Fall! 65 - wenn 5 9 Zum folgenden vgl. U.Körtner, Metaphysik und Moderne. Zur Ortsbestimmung christlicher Theologie zwischen Mythos und Metaphysik, NZSTh 4 1 , 1 9 9 9 , S.2252 4 4 . Siehe auch O.Bayer, a.a.O. (Anm. 5), S.21ff; I.U.Dalferth, Jenseits von Mythos und Logos. Die christologische Transformation der Theologie, Freiburg/ Basel/Wien 1993. 60 Vgl. G.Ebeling, Art. Theologie I. Begriffsgeschichtlich, RGG 3 VI, Tübingen 1962, Sp.754-769; W.Weischedel, a.a.O. (Anm. 16), S.39ff.69ff. 61 M.Luther, Vorlesung zum Römerbrief, ad 3,5, hg. v. J.Ficker, Leipzig 1908, Bd. II, S.72: „Deus est mutabilis quam maxime." Siehe dazu v.a. C.H.Ratschow, Von den Wandlungen Gottes, in: ders., Von den Wandlungen Gottes. Beiträge zur Systematischen Theologie, hg. v. Chr.Keller-Wentorf u. M.Repp, Berlin/New York 1986, S.117-139. 6 2 Sallust, De diis et mundo, c.4 (PRE VII A, 1960-1967). 63 Vgl. J.Fischer, Wahrer Gott und wahrer Mensch. Zur bleibenden Aktualität eines alten Bekenntnisses, NZSTh 3 7 , 1 9 9 5 , S.165-204, hier S.182. 6 4 R.Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung [1941], hg. v. E.Jüngel (BEvTh 96), München 1988 6 5 Nämlich insofern, als Bultmann an der Rede vom Handeln Gottes festgehalten hat. Vgl. a.a.O. (Anm. 63), S.50f.55.63f.

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das eigentümliche Wesen des christlichen Glaubens nicht verfehlt werden soll. Um den biblischen Gott denken zu können, bedarf der Glaube der Sprache der Metaphysik, die freilich von dem her, was die Bibel als Wirklichkeit Gottes bezeugt, entscheidend umgeformt, geläutert oder wie es M.Luther gesagt hat - getauft werden muß.66 Luthers Kritik an der (aristotelischen) Metaphysik richtet sich vor allem gegen ihre soteriologische Überfrachtung. Die menschliche Vernunft sei nicht imstande, von sich aus das eschatologische Wesen und den soteriologischen Inhalt des Evangeliums bzw. der göttlichen Zusage (promissio) der Rechtfertigung des Gottlosen zu erfassen. Theologie als soteriologische Deutung der Wirklichkeit, welche die Erlösungsbedürftigkeit der Welt im Lichte der biblisch bezeugten Wirklichkeit der Erlösung beschreibt, überschreitet in der Tat die Grenzen philosophischer Ontologie bzw. bestreitet den heimlichen oder offenen soteriologischen Geltungsanspruch philosophischer Systeme. „Es gibt", wie P.Tillich richtig bemerkt, „keine erlösende Ontologie, aber die Ontologie ist in der Frage nach der Erlösung enthalten."67 Das gilt bei genauerem Hinsehen auch für die Theologie Luthers.68 Hat die Theologie grundsätzlich ihren Ort zwischen Mythos und Metaphysik, sich auf beide kritisch beziehend, so kann sie der neuzeitlichen Krise der Metaphysik nicht dadurch entkommen, daß sie sich ganz in den inzwischen rehabilitierten Mythos69 bzw. in die Ästhetik70 flüchtet. Der Geltungsanspruch des biblischen Evangeliums würde damit jedenfalls klar unterboten. Wer wie manche Vertreter einer philosophischen Postmoderne davon überzeugt ist, die einzige Wahrheit bestehe darin, daß es gar keine universal gültige Wahrheit gibt, sondern bestenfalls Wahrheiten, kann schließlich auch im Gott des Christentums nur noch eine in einen metaphysischen Gedanken aufzuhebende Allegorie menschlicher Existenz erblicken und im übrigen das Lob eines neuen Polytheismus anstimmen.71

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M.Luther, WA 39 I, 231, 16ff. P.Tillich, a.a.O. (Anm. 11), S.183. Vgl. W.Joest, Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967. Siehe v.a. H.Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M. 1979; K.Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985; H.-H.Schmid (Hg.), Mythos und Rationalität, Gütersloh 1988. 70 Vgl. H.Ttmm, Das ästhetische Jahrzehnt. Zur Postmodernisierung der Religion, Gütersloh 1990. 71 Siehe dazu U.Körtner, Zwischen den Zeiten. Studien zur Zukunft der Theologie, Bielefeld 1997, S.45-53.

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So steht die christliche Theologie in einem Dilemma, das sich gegenüber der Situation Pascals weiter verschärft hat. Einerseits bedarf sie der Befreiung aus der babylonischen Gefangenschaft einer Metaphysik, die nicht nur bestenfalls die Gottesfrage skeptisch offenzuhalten vermag, sondern - wie vor allem von M.Heidegger zu lernen ist - die machtförmige Gestalt der modernen technokratischen Zivilisation angenommen hat72, die das Leben auf der Erde zu zerstören droht und den Gottesbezug des Menschen verdunkelt. Andererseits aber wäre das - vor allem im Anschluß an A.Ritschl73 oder auch die dialektische Theologie - von evangelisch-theologischer Seite propagierte Ende der Metaphysik auch das Ende jeder Theologie, die auf dem Gebiet des Denkens damit ernst machen will, das Christus nicht etwa nur irgendeine mögliche, sondern die Wahrheit schlechthin in Person ist. Das Denken des Glaubens würde damit endgültig seine Sprache verlieren und in mystischem Schweigen versinken. Damit wäre aus Pascals Verortung der Glaubensgewißheit im Herzen eine verhängnisvolle Konsequenz gezogen. Die Aufgabe der Theologie ist es vielmehr, nicht zum Ende vernünftigen Denkens, sondern zum Wandel dessen beizutragen, was bislang Metaphysik hieß. Wandel aber heißt im Sinne Pascals nichts geringeres als Bekehrung, nicht nur des Herzens, sondern auch des Denkens. Solche Bekehrung kann sich nur dann ereignen, wenn das Denken des Glaubens neu geboren wird aus der ihm vorausliegenden Sprache der christlichen Glaubensüberlieferung, aus der Sprache der biblischen Texte. Das ist das Wahrheitsmoment des bei Pascal festgestellten Positivismus. Der in der Moderne entstehende gesellschaftliche, religiöse und weltanschauliche Pluralismus ist inzwischen ein prinzipieller geworden. Er läßt sich auch metaphysisch nicht aufheben. Die Geschichte der Metaphysik mündet in der Moderne vielmehr konsequenterweise in einen a-christlichen Polytheismus, nicht in der Rückkehr der Philosophie zum Gott des Christentums. Das Verhältnis der Theologie zur heutigen Metaphysik kann darum nur ein metakritisches und in der Gottesfrage kontroverses sein. Pascals Kritik philosophischer Theologie weist auf eine grundlegende Aporie der Neuzeit hin, die in der Moderne vollends zutage getreten ist. Die vielfältig diskutierte These vom vermeintlichen Ende der Metaphysik wird zwar durch die Widersprüchlichkeit ihrer unterschiedli-

72 Siehe dazu M.Trowitzsch, Technokratie und Geist der Zeit. Beiträge zu einer theologischen Kritik, Tübingen 1988. 73 Vgl. A.Ritschl, Theologie und Metaphysik. Zur Verständigung und Abwehr, Bonn 2 1887.

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chen Begründungen widerlegt bzw. als uneindeutig erwiesen.74 Sie fördert freilich eine grundlegende Aporie metaphysischen Denkens zutage, welche in besonderer Weise die Moderne charakterisiert. Mit dem neuzeitlichen Verlust eines göttlichen Jenseits verschwindet nämlich keineswegs das Verlangen nach Erlösung, nach der Versöhnung einer in sich widersprüchlichen Wirklichkeit, von Geist und Natur. Vielmehr mutiert das diesseitige Leben zur „letzten Gelegenheit" 75 und somit schlechten Unendlichkeit. Die aporetische Grunderfahrung der Moderne besteht gerade darin, daß der Mensch selbst sich und die Wirklichkeit glaubt erlösen zu müssen, ohne es doch zu können. Darum bleiben die eschatologischen Verheißungen der biblischen Tradition, an denen sich immer wieder das menschliche Hoffen wider allen Augenschein entzündet, der Pfahl im Fleisch reiner Diesseitigkeit. Die Menschlichkeit des Menschen, seine Humanität lebt vom Überschuß nicht nur des Denkens, sondern auch des Glaubens, Hoffens und Liebens über alles Handeln.76 Die metaphysische Tradition bleibt aber bestenfalls die formale Anzeige für das unabgegoltene der biblischen Verheißungen. So gewiß der Mensch nicht vom Brot allein lebt, so auch nicht nur von der Stärke seines analytischen und synthetischen Denkens, sondern von der widerständigen „Poesie des Versprechens" 77 . Dieses Bewußtsein wachzuhalten, ist die bleibende Aufgabe der Theologie.

7 4 Siehe dazu J.Salaquarda, Art. Metaphysik III. Ende der Metapyhsik?, TRE 2 2 , Berlin/New York 1 9 9 2 , S.653-660; G.Abel/j.Salaquarda (Hg.), Krisis der Metaphysik, Berlin/New York 1 9 8 9 ; P.Kondylis, Die neuzeitliche Metaphysikkritik, Stuttgart 1 9 9 0 . 75 Vgl. M.Gronemeyer, Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnis und Zeitknappheit, Darmstadt 2 1 9 9 6 . 7 6 Vgl. auch Chr.Türcke, Kassensturz. Zur Lage der Theologie, Lüneburg 2 1 9 9 7 , S . 8 1 - 9 7 . Zu Recht kritisiert Türcke (S.89): „ W o die metaphysische Tradition dazu dient, die Metaphysik zu zertrümmern, w o der Gottesgedanke dazu benutzt wird, den Gedanken eines göttlichen, erlösten Jenseits auszuradieren, da wütet der gesellschaftliche Todestrieb." 7 7 O.Bayer, Poetologische Theologie? Zu einer Poesie des Versprechens, in: U.Körtner (Hg.), Poetologische Theologie. Zur ästhetischen Theorie christlicher Sprachund Lebensformen (Interdisziplinäre Forschung und fächerverbindender Unterricht 2), Ludwigsfelde 1 9 9 9 , S.21-46.

Zur theoretischen Verantwortung der Rede von Gott Kritische Adaption neuzeitlicher Denkvorgaben1 THOMAS PRÖPPER

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Zeit für mein Thema ist knapp, also gehe ich sogleich in medias res. Ich werde zunächst - ausgehend von dem theologischen Grundansatz, den ich vertrete - die beiden wesentlichen philosophischen Aufgaben der Theologie exponieren und kurz das für ihre Bearbeitung favorisierte transzendentale Freiheitsdenken vorstellen, um sodann den Weg ihrer Bearbeitung selbst zu skizzieren, wobei der Schwerpunkt auf die im Titel angekündigte theoretische Verantwortung der christlichen Gottesrede gelegt werden soll. Gleichwohl zielt mein primäres Interesse, das auch die Erörterung der neuzeitlichen Denkvorgaben leiten wird, auf den Nachweis, daß sich wie es aus hermeneutisch-systematischen Gründen ja auch erforderlich ist - tatsächlich beide Aufgaben mit Hilfe desselben philosophischen Denkansatzes einlösen lassen. Der Preis für diese systematische Absicht ist freilich, bezüglich der Ausführung nur einen perspektivischen Umriß markieren zu können - mit zahlreichen offenen Flanken, aber auch (hoffe ich) Anstößen für unsere Diskussion.

1. Die philosophischen Aufgaben der Theologie Nicht selten und zu Recht, meine Damen und Herren, wird angesichts der Verzweigung, wenn nicht sogar Zersplitterung der Theologie und überhaupt der vielen Glaubenswahrheiten nach einem Inbegriff, einer 1

Der folgende Text, den ich (leicht gekürzt) am 6 . 1 0 . 1 9 9 9 im Rahmen des Bochumer Kongresses „Religion -Metaphysik(kritik) - Theologie im Kontext der Moderne bzw. Postmoderne" vorgetragen und dessen Redestil ich unverändert gelassen habe, ist die Neufassung eines unveröffentlichten Vortrage, der am 2 5 . 4 . 1 9 9 8 anläßlich des 6 0 . Geburtstages von Hans Kessler in Frankfurt und am 1 1 . 1 2 . 1 9 9 8 in Graz gehalten wurde. Ich widme ihn Hans Kessler, dessen theologischem Denken ich mich seit vielen Jahren verbunden weiß, in dankbarer Freundschaft.

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Kurzformel des christlichen Glaubens gefragt - und auch die theologische Arbeit selbst (namentlich die Dogmatik, die ich als Hermeneutik des Glaubens verstehe und aus deren Optik ich mein Thema angehe) kommt ohne so etwas wie eine Wesensbestimmung ihrer Sache nicht aus. Mit ihr wird ja nur ins Bewußtsein erhoben und methodisch disziplinierbar, was als faktisches Apriori die dogmatische Arbeit in jedem Fall leitet und sonst eben unkontrolliert wirksam sein würde. Schon Schleiermacher hat dies in seiner Glaubenslehre beherzigt und Ernst Troeltsch die einschlägigen Probleme in bis heute herausfordernder Weise bedacht2. Meine eigene Antwort auf die angesprochene Frage lautet (und ich nenne sie vorweg, weil alles Weitere von ihr abhängt): Der wesentliche Inhalt des Glaubens ist darin zu erkennen, daß der Gott Israels in Verkündigung, Tod und Auferweckung Jesu seine für alle Menschen entschiedene Liebe geschichtlich-endgültig erwiesen und in ihr, d.h. in eins mit ihrer offenbaren Unbedingtheit, sich selbst geoffenbart hat. Daß es die Bedeutung der Geschichte Jesu ausmacht, die Selbstoffenbarung des Gottes der Liebe zu sein - das ist die Grundwahrheit christlicher Theologie. Grundwahrheit nenne ich sie, weil sie als der entscheidende Bestimmungsgrund fungiert, der die Vielzahl der theologischen Einzelaussagen zu einer Wissenschaft verbindet: nicht nur die Einsichten, die sich aus ihr durch sachlogische Reflexionen gewinnen lassen, sondern auch die zahllosen Erkenntnisse (und Fragen), die externer Provenienz sind und synthetisch ihr angefügt werden, so daß zur Dogmatik schließlich alle Einsichten zählen, die sich - um Thomas von Aquin zu modifizieren3 - aus der Betrachtung der Wirklichkeit sub ratione Dei seipsum revelantis ergeben: aus der Beziehung aller uns zugänglichen Wahrheit und Wirklichkeit auf die Wahrheit des in und seit der Geschichte Jesu für uns in seinem Selbstsein bestimmten, uns zugewandten Gottes. 2

Vgl. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube. Bd. 1 (ed. M. Redeker), Berlin 1 9 6 0 , 1 2 5 - 1 5 4 (§§ 20-27); E. Troeltsch, Was heißt „Wesen des Christentums"?: Gesammelte Schriften. Bd. 2, Aalen (Neudruck der 2. Aufl. 1922) 1 9 6 2 , 3 8 6 - 4 5 1 ; zur Funktion der Wesensbestimmung ihres Gegenstandes in der dogmatischen Arbeit Th. Pröpper, Freiheit als philosophisches Prinzip der Dogmatik: E. Schockenhoff/P. Walter (Hg.), Dogma und Glaube. Bausteine für eine theologische Erkenntnislehre, Mainz 1 9 9 3 , 1 6 5 - 1 9 2 , bes. 177-183;G. Essen/Th. Pröpper, Aneignungsprobleme der christologischen Überlieferung. Hermeneutische Vorüberlegungen: R. Laufen (Hg.), Gottes ewiger Sohn. Die Präexistenz Christi, Paderborn 1997, 163-178. Bei Thomas lautet die Bestimmung des Gegenstandes der Theologie: „Omnia autem pertractantur in sacra doctrina sub ratione Dei vel quia sunt ipse Deus; vel quia habent ordinem ad Deum, ut ad principium et finem. Unde sequitur quod Deus vere sit subiectum huius scientiae" (S.th. I, 1,7). 7

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Wesentlich ist nun, daß der genannte Grundbegriff eine Wahrheit erfaßt, die sich Menschen zwar wünschen, vielleicht sogar ausdenken könnten, die aber dennoch - eben weil sie Gottes freies Verhältnis zum Menschen betrifft - ihnen nur von Gott selbst gesagt werden konnte (ja sogar nicht anders, als daß sie Wirklichkeit für sie wurde, ihnen gesagt werden konnte) und die sich, auch nachdem dies geschehen ist, in kein Wissen „aufheben" läßt, das ihnen von sich aus verfügbar oder kraft eigener Vernunft zu verbürgen wäre. Deshalb ist und bleibt der geschichtliche Ursprung des Glaubens auch der ursprüngliche Inhalt und erste Gegenstand des Glaubens und dieser so wesentlich an die Form der Zugänglichkeit seiner Wahrheit (nämlich ihr faktisches Gegebensein) gebunden, wie uns ihr Inhalt (Gottes unbedingte Entschiedenheit für uns) eben nur als der Gehalt eines kontingenten Geschehens (eines menschlich vermittelten Geschehens) eröffnet und wahrnehmbar werden konnte 4 . Gleichwohl - das ist nun die andere Seite - behauptet das Bekenntnis des Glaubens doch Wahrheit, unterscheidet sie also vom subjektiven Akt der Zustimmung zu ihr und macht sich begründungspflichtig für die Geltungsansprüche, die im Vollzug dieser Unterscheidung gesetzt sind: Meine Wahrheit wäre nicht Wahrheit, wenn sie nicht Wahrheit für alle sein könnte. Zum einen gilt es, Rechenschaft über die Begründung der Glaubenswahrheit in eben dem Geschehen zu geben, auf das sie selber zurückweist und dessen wahre Bedeutung sie auszusagen beansprucht. Zum anderen geht es um den Nachweis ihrer Vereinbarkeit mit allem, was sonst noch gewußt wird und als wahr gelten kann. Diese Forderung ergeht dem Menschen bereits ursprünglich aus seiner Vernunft, sofern sie (wie Kant konstatierte5) auf die „höchste Einheit des Denkens", die „systematische Einheit der Verstandeserkenntnisse" und die Klärung ihrer Zusammenstimmung dringt. Sie resultiert ebenso drängend aus dem affirmierten Inhalt des Glaubens selbst: Wenn Gott, die alles bestimmende und begründende Wirklichkeit, sich selbst offenbarte, dann ist dadurch alle übrige Wirklichkeit für die Bewahrheitung dieses Glaubens in Anspruch genommen6. Und wenn 4

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Zur näheren Differenzierung sowie den weitreichenden theologischen (und praktischen) Konsequenzen dieser wesentlichen Entsprechung von Inhalt und Form (Gestalt) der Offenbarung und ihrer Überlieferung s. Th. Pröpper, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie, München 3 1991, 98ff. 122. 208-214. 236ff. KrV Β 355.675; vgl. 361.364.673.693f.699. Daß aufgrund des Wahrheitsanspruchs der Dogmatik - entsprechend der Nominaldefinition Gottes als der alles bestimmenden und begründenden Wirklichkeit - die gesamte endliche Wirklichkeit als Zeugnis für die Gottheit Gottes in Anspruch genommen ist und deshalb die Bewahrheitung ihrer Rede von Gott (wie

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insbesondere, in eins mit Gottes geschichtlicher Selbstbestimmung für uns, die endgültige Bestimmung des Menschen offenbar wurde, dann prätendiert diese Wahrheit eine jeden Menschen angehende, ja unbedingt angehende Bedeutsamkeit, die als solche von seinem Wesen her verständlich und somit ebenfalls expliziert werden muß. Die erste Aufgabe samt den mit ihr anfallenden historisch-methodischen und geschichtstheoretischen Fragen ist jetzt nicht unser Thema und so setze ich die Vertretbarkeit einer affirmativen Antwort auf die quaestio facti einfach voraus7. Anders die zweite und dritte Aufgabenstellung, die (sachlich gesehen) schon vor ihr bearbeitet sein müssen und nur in philosophischer Instanz bearbeitet werden können. Es machte ja wenig Sinn, nach der Wirklichkeit der Selbstoffenbarung Gottes in Jesu Geschichte ernsthaft zu fragen, wenn nicht einmal ihre Möglichkeit aufweisbar wäre. Ohne eine positive Auskunft auf die Frage, ob der Gehalt des Wortes „Gott", das längst dem Sinnlosigkeitsverdacht unterliegt, vernünftig bestimmt8 und zwar so weit bestimmt werden kann, daß Gott als von Welt und Mensch verschiedene Wirklichkeit wenigstens denkbar wird und überdies die so erreichte Minimalbestimmung noch dahin weiterbestimmt werden kann, daß auch Gottes freie Selbstoffenbarung als möglich erscheint, wäre der Glaube mit den Ansprüchen der Vernunft schlechterdings nicht zu vereinen. Aber selbst wenn diese Aufgabe einlösbar ist, bleibt immer noch die dritte: Denn warum sollte eine bloß mögliche Wahrheit, die uns im Grunde nichts angeht (nicht mehr jedenfalls angeht als die Existenz eines noch unentdeckten Planeten), uns überhaupt interessieren, ja sogar beanspruchen können? Also muß in eins mit der theoretischen Möglichkeit der Selbstoffenauch - darf man hinzufügen - die Entfaltung ihrer Bedeutung) den Entwurf eines Verstehensmodells von Welt und Mensch „als in Gott begründet" verlangt, das der Anforderung systematischer Konsistenz unterliegt und sich durch seine Bezugnahme auf das nichttheologische Wissen zu bewähren hat, arbeitet eindrucksvoll heraus W. Pannenberg, Systematische Theologie 1, Göttingen 1988, 58-72. Zur theologischen Unverzichtbarkeit der genannten „Nominaldefinition" Gottes s. ders., Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt 1973, 304f. 7 Zur näheren Bestimmung dieser Aufgabe und ihrer Ausführung s. aber Th. Pröpper, Freiheit als philosophisches Prinzip der Dogmatik (s. Anm. 2), 179ff; ders., „Daß nichts uns scheiden kann von Gottes Liebe ...". Ein Beitrag zum Verständnis der „Endgültigkeit" der Erlösung: A. Angenendt/H. Vorgrimler (Hg.), Sie wandern von Kraft zu Kraft (FS Bischof R. Lettmann), Kevelaer 1993, 301319. 8 Dieses Wort ist ja nicht ein Eigenname oder bloß „Interpretament" einer (womöglich auch rein anthropologisch dechiffrierbaren) Erfahrung, sondern durchaus Ausdruck für einen Gedanken und Begriff, auch wenn dessen Gehalt, der Einzigkeit Gottes entsprechend, nur singulär realisiert ist. Vgl. zur Problematik auch W. Pannenberg, Systematische Theologie 1 (s. Anm. 6), 73-83.

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barung Gottes auch ihre unbedingte Bedeutsamkeit für den Menschen einsichtig werden: daß es (um es mit Kierkegaard zu sagen) seine Auszeichnung ausmacht, wesenhaft Gottes bedürftig zu sein9, genauer noch: wesenhaft eines freien Gottes bedürftig zu sein. Daß beide Aufgaben (der Möglichkeits- und der Bedeutsamkeitsaufweis) tatsächlich untrennbar zusammenhängen und ein in sich kohärentes Denken erfordern, erhellt bereits daraus, daß es den Glauben, so wesentlich er in Gottes Offenbarungshandeln begründet und von seiner Gnade getragen ist, doch realiter nur als menschlichen Akt gibt und ebenso seine Wahrheit stets nur als menschlich verstandene. Und wirklich angeeignet, gegenwärtig vollzogen, tatsächlich bedeutsam wird sie erst sein, wenn sie in Beziehung gebracht ist zu allem, was ein Mensch schon verstanden hat. Sofern nun die Dogmatik dieses dem Glauben eigene Verstehen und die mit ihm vollzogene Synthesis systematisch zu explizieren und sich deshalb der „Zusammenstimmung" der Wege, auf denen sie den kognitiven Gehalt der Glaubenswahrheit und ihren existentiellen Anspruch erschließt, ausdrücklich zu versichern hat, lassen sich die genannten Aufgaben auch als zusammengehörige Anforderungen an das von der Dogmatik für ihre hermeneutische Arbeit beanspruchte Denken exponieren. Denn natürlich muß dieses zunächst einmal in sich selbst konsistent und für die Vernunft als ursprüngliche Instanz wahrer Einsicht vollziehbar sein; zugleich aber muß es der zugesagten Glaubenswahrheit entsprechen, sich für ihr Verstehen als geeignet erweisen - und dies heißt nun: es muß mit ihr kompatibel und dabei einerseits für sein Bestimmtwerden durch sie noch offen sein und sie doch andererseits als unbedingt bedeutsam einsehen können. Nur wo die geschenkte Wahrheit des Glaubens sich einem Denken, das diesen Forderungen gerecht wird, verbindet, kann sie in einer mit dem nichttheologischen Wissen kohärenten, zugleich ihrem Anspruch gemäßen und so ihr Bedeutungspotential getreu realisierenden Weise „verstanden" werden und auch nur dann der Verstehende als Subjekt seines Glaubens wie seines vernünftigen Wissens mit sich identisch sein. Gilt das Gesagte, wirkt allerdings die geläufige Meinung ziemlich naiv, für solche Vermittlung sei jegliches Denken gleich gut geeignet. Auch wenn der boomende hermeneutische Relativismus darüber geflissentlich schweigt: es gibt doch unentwickeltes, sogar falsches, verblendetes Bewußtsein, entfremdetes Denken, deformierte und deformierende Sprache. Bloße Akkomodation ist also der Hermeneutik des Glaubens schon deshalb verwehrt, weil sie nach eigenem Anspruch vernunftge9

S. Kierkegaard, Vier erbauliche Reden 1844, Gütersloh 1981, 5: „Des Gottes zu bedürfen ist des Menschen höchste Vollkommenheit".

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mäß sein will. Und dieser Anspruch reicht weiter, als daß er aufs faktisch Geltende reduzierbar oder mit funktionalen Stimmigkeiten, situativen Plausibilitäten und dergleichen schon abgegolten wäre. In der Regel sucht der Glaube erst noch die ihm adäquate Gestalt der Vernunft, denn was er ihr zu denken gibt, gibt er ihr in einer ab ovo innovativen und zudem (im Falle ihrer Verschlossenheit oder Verkehrung) in einer kritischen, aber dabei doch immer auch aufdeckenden Weise zu denken: eben mit dem Anspruch, noch im bestimmten Widerspruch der ihrerseits wahrheitsverpflichteten Vernunft zu entsprechen10. Aus derselben, vom Glauben bestärkten Vernunftoption erwächst die angstfreie Geduld, die zu verbindlichem Argumentieren befähigt. Ohne diese Bereitschaft jedoch, die den anderen in sein Wahrheitsgewissen freiläßt und auf das hin anspricht, was ihm die eigene Zustimmung ermöglicht, würden Verkündigung und Theologie ihn zwar immer noch anklagen, aber weder kraft ihrer Wahrheit ihn gewinnen noch er selbst (wie es Gerhard Ebeling ausdrückt11) sich „wahr gemacht" finden können. Das transzendentale Freiheitsdenken, für dessen theologische Adaption ich plädiere, empfiehlt sich dafür vor allem, weil es das mit der fortschreitenden Selbstreflexion des neuzeitlichen Denkens erreichte Problemniveau einhält und dem ursprünglichen Vernunftinteresse gerecht wird, das Fragen bis zur Einsicht in ein Unbedingtes zu führen. Angesichts der gegenwärtigen Situation der Vernunft, deren hohe operative Präzision mit einer progressiven Abblendung weitergehender Fragen einhergeht und sich in einer eigentümlichen Bewußtlosigkeit über das, was sie selbst ist und treibt, einspinnt, bietet die Aktualisierung jener Selbstreflexion mit ihrem Rückgang auf die formale Unbedingtheit der Freiheit die Chance, ja inzwischen - je fröhlicher die Vernunft, 10 Sofern die Offenbarung das menschliche Verstehen beansprucht, das seinerseits unter dem Anspruch der wahrheitsverpflichteten Vernunft steht, fällt der Philosophie eine theologiekritische Funktion zu. Umgekehrt ist nicht auszuschließen, daß die Theologie, sofern sie von einer Wahrheitserschließung herkommt, die sie für die unentwickelten Möglichkeiten wie die Entstellungen der Vernunft hellsichtig macht, eine philosophiekritische Kompetenz zuwachsen kann, die sie ihrer Argumentationspflicht jedoch nicht enthebt. Die Argumente wiederum können von Vollzügen abhängen, die zwar menschliche Wesensmöglichkeiten darstellen, aber tatsächlich auch aktualisiert sein müssen, um bestimmte Einsichten eröffnen zu können: Einsichten also, die im höchsten Maß „subjektiv" (an den unvertretbaren Selbstvollzug des Subjekts gebunden) und doch verbindlich sind. Ich komme darauf zurück. 11 Vgl. G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens II, Tübingen 1979, 116ff; ders., Gott und Wort, Tübingen 1966,48ff. Sehr schön, aber voraussetzungsreich auch die Formulierung: „Wort Gottes [...] verifiziert sich selbst, indem es den Menschen verifiziert" (77).

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einst als verbindende Instanz der jeden Menschen beanspruchenden Wahrheit geachtet, zugunsten einer „transversalen Vernunft" 1 2 , die sich flexibel in allen Sprachspielen tummelt, verabschiedet und ebenso Freiheit zwar individuell in Anspruch genommen, in ihrer das moralische Sollen konstituierenden Valenz jedoch nicht beachtet wird - die vielleicht noch einzige Chance für eine Kritik, die nicht nur humanes Interesse, sondern auch einsichtige Geltung beanspruchen kann. Zugleich hängt an ihr die Vermittlung des Glaubens. Denn, so nun meine Generalthese: Ohne den Rekurs auf ein Unbedingtes, das im Menschen selbst vorausgesetzt werden darf, wäre weder die jeden Menschen unbedingt angehende Bedeutung der Selbstoffenbarung Gottes begründet vertretbar noch überhaupt der Gottesgedanke in autonomer Einsicht bestimmbar. Dies ist der Grund dafür, daß ich die Freiheit als zweiten Bestimmungsgrund, nämlich als das philosophische Prinzip der theologischen Hermeneutik ansetze 1 3 (und übrigens der Grund auch dafür, daß sich eine theologisch relevante Interpretation an humanwissenschaftliche Befunde erst anschließen läßt, wenn die einschlägigen Phänomene zuvor als Realität der Freiheit bestimmt worden sind 1 4 ). 12 Vgl. W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 3 1991; ders. (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988. 13 Natürlich muß die theologisch interessierte Aufnahme des Freiheitsdenkens und seiner (angedeuteten) hermeneutischen Leistungen auch zur Wahrung der Ansprüche bereit sein, die aus der Unbedingtheit der Freiheit resultieren, und sie eben deshalb als zweites Prinzip theologischer Hermeneutik (und inhaltlichen BestimmungsgrM»